Der Kirchenhistoriker Sokrates: Untersuchungen zu Geschichtsdarstellung, Methode und Person 9783666551765, 3525551762, 9783525551769


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German Pages [380] Year 1997

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Der Kirchenhistoriker Sokrates: Untersuchungen zu Geschichtsdarstellung, Methode und Person
 9783666551765, 3525551762, 9783525551769

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V&R

Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Herausgegeben von Adolf Martin Ritter

Band 68

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1997

Der Kirchenhistoriker Sokrates Untersuchungen zu Geschichtsdarstellung, Methode und Person

von Martin Wallraff

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1997

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Wallraff, Martin: Der Kirchenhistoriker Sokrates: Untersuchungen zu Geschichtsdarstellung, Methode und Person / von Martin Wallraff. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1997 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte; Bd. 68) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-525-55176-2

© 1997 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.

Vorwort Kirchengeschichte wurde in der Spätantike nicht nur von Euseb geschrieben. Obgleich diese Einsicht nicht neu ist, stehen die nacheusebianischen Autoren immer noch zu sehr im Schatten. Die vorliegende Untersuchung möchte dazu beitragen, zumindest einen dieser Autoren aus dem Schatten ins Licht zu führen. Die Frage nach dem Status der Kirchengeschichte als theologischer Disziplin wird dabei nicht beantwortet, ja kaum einmal direkt gestellt, doch steht sie im Hintergrund der Untersuchung und gibt - wenigstens teilweise - ihren theologischen „Sitz im Leben" an. Die Arbeit wurde im März 1996 abgeschlossen; sie lag der theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg vor und wurde im Wintersemester 1996/97 als Dissertation angenommen. Ich habe versucht, neue Literatur, die mir seither bekannt wurde, einzuarbeiten. Es geht in diesem Buch gelegentlich um topische Aussagen in Proömien; dabei wird auch behauptet, daß solche Aussagen trotz ihres topischen Charakters ernst gemeint und Ausdruck eines inneren Bedürfnisses sein können. In diesem Sinne möchte ich die folgenden Dankesworte verstanden wissen. Zwei „Doktorvätern" verdankt die Arbeit ihr Entstehen: Prof. Dr. Adolf Martin Ritter (Heidelberg), der mich seit den Tagen meines Studiums vieles gelehrt, mich ermutigt und wissenschaftlich gefördert hat, der im Promotionsverfahren das Erstgutachten erstellt und die Arbeit schließlich in die Reihe „Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte" aufgenomen hat, und Prof. Dr. Friedhelm Winkelmann (Berlin), der mir den Anstoß zur Beschäftigung mit diesem Thema gegeben hat und meine Arbeit von Anfang bis zum Schluß begleitet und mit seinem kompetenten Rat unterstützt hat. Durch beide hat dieses Buch und habe ich persönlich mehr gewonnen, als sich in kurzen Worten sagen läßt. Ein besonderer Glücksfall war es, daß die kritische Edition der Kirchengeschichte des Sokrates vor dem Abschluß stand, als ich meine Arbeit begann; sie hat 1995 die Neue Folge der „Griechischen Christlichen Schriftsteller" würdig eröffnet. Ein noch größerer Glücksfall war es, daß der Herausgeber Prof. Dr. Günther Christian Hansen (Berlin) hieß. Ich danke ihm für seine stille und selbstverständliche Hilfsbereitschaft, für sein Entgegenkommen, mich schon vor der Publikation an den Ergebnissen seiner Arbeit teilhaben zu lassen, und für seine Geduld mit den Fragen eines philologischen greenhorns. Mein Dank gilt weiterhin Prof. Dr. Gottfried Seebaß (Heidelberg), der das Zweitgutachten erstellte. Wertvolle und hilfreiche Hinweise verdanke ich Prof. Dr. Wolfram Kinzig (Bonn) und Dr. Lionel Wickham (Cambridge). Priv.-Doz. Dr. Hart-

6

Vorwort

mut Leppin (Hannover) hat die Arbeit im Zuge der Drucklegung seiner eigenen Untersuchung zu den Kirchenhistorikern durchgelesen; von seiner qualifizierten Kritik habe ich profitiert. An der Mühe des Korrekturlesens beteiligten sich HansChristoph Meier (Heidelberg) und Dr. Jörg Lauster (Gauting); ersterer half auch mit gelegentlichen Hinweisen in bezug auf das Syrische. Dr. Torsten Meißner (Cambridge) stand mit gräzistischem Rat stets zur Verfügung; ihm verdanke ich auch die Initiation in die arcana des Armenischen. Der Arbeit - und ihrem zügigen Abschluß - ist es sehr zugute gekommen, daß sie entstanden ist unter den nahezu idealen Arbeitsbedingungen und in der zugleich anregenden und angenehmen Atmosphäre, -wie sie in Cambridge herrschen. Daß ich ohne finanzielle Sorgen dort arbeiten konnte, verdanke ich verschiedenen Institutionen: „meinem" College Peterhouse, der Studienstiftung des deutschen Volkes, der British Academy sowie der evangelisch-lutherischen Landeskirche in Bayern; letzterer bin ich auch für einen namhaften Zuschuß zu den Druckkosten zu Dank verpflichtet. Wenn ich zum Schluß erwähne, daß auch mein Vater Teile des Manuskripts Korrektur gelesen hat, so ist damit ein kaum nennenswerter Teil der Dankesschuld meinen Eltern gegenüber abgetragen. Statt weiterer Worte widme ich ihnen dieses Buch. Bonn, im April 1997

Martin Wallraff

Inhalt 1. Einleitung 1.1. Thema und Aufbau der Untersuchung 1.2. Forschungsgeschichtlicher Überblick

9 9 13

2. Die Darstellung der Geschichte 2.1. Kirchen-und dogmengeschichtliche Entwicklungen 2.1.1. Begrifflichkeit für Kirche und Kirchenparteien 2.1.2. Die Anfange des arianischen Streites und das Konzil von Nikaia 2.1.3. Johannes Chrysostomos 2.1.4. Kirchliche „Zeitgeschichte" 2.2. Pagane Kultur, Religion und Bildung 2.3. Kaiser und Politik 2.4. Gruppen der Gesellschaft

29 29 29 41 55 75 83 99 110

3. Die historiographische Methode 3.1. Gattung des Werkes 3.2. Komposition und Aufbau 3.2.1. Buch-und Kapiteleinteilung 3.2.2. Erste und zweite Bearbeitung 3.2.3. Proömien und Exkurse 3.3. Umgang mit den Quellen 3.4. Stil und Darstellungsweise

135 135 145 145 163 172 185 194

4. Der Verfasser und seine „Weltanschauung" 4.1. Biographie, Bildungshintergrund und soziale Stellung 4.2. Kirchlich-theologische Position 4.2.1. Theologische Leitbilder 4.2.2. Stellung zum Novatianismus 4.3. Geschichtsverständnis

209 209 221 222 235 257

5. Zusammenfassung: Der Kirchenhistoriker in seiner Zeit

291

Literatur 1. Quellen 2. Hilfsmittel 3. Sekundärliteratur

299 301 317 318

Register 1. Stellen 2. Begriffe und Personen

345 345 373

1. E i n l e i t u n g

1.1. Thema und Aufbau der Untersuchung In seinem „Grundriß Historik" unterteilt Johann Gustav D R O Y S E N das historische Material in die Gruppe der „Überreste" und in die der „Quellen". Dabei versteht er unter Überresten das, „was aus jener Gegenwart, deren Verständnis wir suchen, unmittelbar noch übrig ist", während mit Quellen das gemeint ist, „was davon in die Vorstellung der Menschen übergegangen und so umgeformt überliefert ist" 1 . Diese grundlegende Unterscheidung ist der Sache nach bis heute als gültige und unaufgebbare Voraussetzung kritischer Geschichtsforschung anerkannt, wenn es sich auch terminologisch als günstiger erwiesen hat, den Begriff „Quellen" als übergeordnete Kategorie zu verwenden und bei den beiden Untergruppen von „Überresten" und „Tradition" (BERNHEIM) oder von „Unwillkürlicher" und „Willkürlicher Überlieferung" (MIKOLETZKY) ZU sprechen 2 . Ein klassisches Beispiel für die zweite Gruppe ist Geschichtsschreibung: Texte, die in der bewußten Absicht abgefaßt sind, vergangene Ereignisse zu überliefern, damit sie nicht der Vergessenheit anheimfallen 3 . Dort sind „die Vergangenheiten, wie menschliches Verständnis sie aufgefaßt und ausgesprochen, als Erinnerung geformt hat, überliefert" 4 . Dennoch liegt es auf der Hand, daß solche willkürliche Überlieferung immer auch unwillkürlich Informationen über ihren Autor und seine eigene Zeit und Denkweise transportiert. Daher spielen „Geschichtswerke als Produkte ihrer Zeit" 5 auch unter den Überresten eine wichtige Rolle. Je nach der

1 DROYSEN, Historik [3.5.] 400 (in der ersten vollständigen handschriftlichen Fassung v o n 1857 oder 1858; die entsprechende Stelle in der letzten Druckfassung von 1882: S. 426). V g l . auch LEYHS Rekonstruktion der Vorlesungen von 1857: S. 70 f.

Über die A r t der Zitation und B e z u g n a h m e auf das Literaturverzeichnis, die verwendeten Abkürzungen, die Schreibweise der Eigennamen etc. geben die einleitenden B e m e r k u n g e n z u m Literaturverzeichnis S. 299 ff. Auskunft. 2 BERNHEIM, Lehrbuch [3.5.] 255-259 und MIKOLETZKY, Quellenkunde [3.5.] 212 f., vgl. VON BRANDT, Werkzeug [3.5.] 52-56. A u ß e r d e m hat sich die v o n DROYSEN als Z w i s c h e n f o r m eingeführte G r u p p e der „ D e n k m ä l e r " nicht durchsetzen können; die Unterteilung in zwei G r u p p e n ist ausreichend. 3 Es ist an H e r o d o t , den „Vater der Geschichtsschreibung", zu erinnern, der in seinem Proö m i u m klassisch formuliert hat: ,,ίστορίης άττόδειξις ηδί, ώς μ ή τ £ τ α γ ε ν ό μ ε ν α ίξ α ν θ ρ ώ π ω ν τ ω χ ρ ό ν ω έ ξ ί τ η λ α γ ε ν η τ α ι , μ ή τ ε έ ρ γ α μ ε γ ά λ α τ ε και θ α υ μ α σ τ ά ... ά κ λ ε α γ έ ν η τ α ι " (i,pr); diese W e n d u n g wird v o n Sokrates in 1,18,15 w i e d e r a u f g e n o m m e n . 4

DROYSEN, Historik [3.5.] 401 (1857/58) bzw. ähnlich S. 427 (1882).

5

DROYSEN, Historik [3.5.] 400 (1857/58) bzw. S. 426 (1882)., vgl. auch S. 71 (Vorlesungen).

10

1. Einleitung

Weise, in der er betrachtet und ausgewertet wird, gehört also ein und derselbe Text entweder der Gruppe der Überreste oder der der Traditionen an. Um ein möglichst sachgemäßes Verständnis und eine möglichst umfassende Auswertung der durch einen solchen Text gegebenen Information zu erreichen, müssen sich beide Betrachtungsweisen gegenseitig ergänzen, dabei aber methodisch deutlich voneinander geschieden werden. Ziel der vorliegenden Studie ist es, die „Kirchengeschichte" des Sokrates6 in diesem Sinne als Überrest zu interpretieren und auszuwerten. Das Interesse richtet sich also nicht in erster Linie auf die historischen Ereignisse, von denen das Werk Kenntnis übermitteln möchte, sondern auf die hinter der Darstellung stehende Person des Verfassers, die ihrerseits mit ihrer Biographie und Denkweise, ihrem sozialen und geistigen Umfeld als Teil der historischen Realität verstanden werden soll. Eine solche Fragestellung muß das Werk insofern „gegen den Strich", das heißt gegen die Intention des Autors lesen, als dessen Absicht ja nicht hauptsächlich darin lag, von sich selbst Kunde zu geben. Dennoch ist die Fragestellung nicht nur legitim (aus den erwähnten prinzipiellen Gründen), sondern im Falle dieses speziellen Werkes auch vielversprechend. Es handelt sich um ein vollständig erhaltenes, eigenständiges Geschichtswerk beachtlicher Länge, dessen Wert als „Tradition", also als Quelle unserer Kenntnis der Kirchengeschichte des vierten und fünften Jahrhunderts, sehr hoch zu veranschlagen ist. Die Forschung hat diesen Wert seit langem erkannt und stützt sich etwa für die Rekonstruktion des arianischen Streites, die Regierungszeit Julians oder die Ereignisse um Johannes Chrysostomos auf Sokrates als eine der wichtigsten Quellen. Es wäre erstaunlich, wenn einem solchen Werk nicht auch in konzeptioneller Hinsicht, etwa im Blick auf das Geschichtsverständnis oder den theologischen Hintergrund, einige Bedeutung zukäme, zumal Sokrates auch explizite Reflexionen vor allem zu Fragen der historiographischen Theorie anstellt. Wenn diese Aspekte in der Forschung bislang nicht die ihnen gebührende Würdigung erfahren haben 7 , so läßt sich dafür eine Reihe von Gründen angeben, die zur Erklärung, nicht jedoch zur Rechtfertigung dieses Sachverhaltes beitragen: etwa die Tatsache, daß sich Sokrates bis zum gewissen Grad selbst in den Schatten des großen Euseb, des „Vaters der Kirchengeschichtsschreibung", stellt und auch in der Apperzeption der Forschung nie aus diesem Schatten herausgekommen ist; weiterhin die Tatsache, daß die Kirchengeschichtswerke des Sozomenos und des Theodoret dem geschilderten Zeitraum nach und in der Gesamtanlage Sokrates so ähnlich sind, daß der Blick auf die Verschiedenheiten der Autoren und ihrer historiographischen Konzeptionen verstellt wurde; ferner das Fehlen einer regelrechten 6 Der Kirchenhistoriker Sokrates ist hauptsächlich mit dem Beinamen Scholastikos bekannt. Dieser Beiname wird in der vorliegenden Arbeit - ebenso wie in der neuen Edition von HANSEN [i.i.] - nicht mehr verwendet, weil er keine hinreichende Grundlage in der Überlieferung hat, s. S. 215 f. 7 Siehe die ausführlichere Darstellung der Forschungsgeschichte im Abschnitt 1.2. Dort werden auch die folgenden Aussagen näher ausgeführt und begründet.

1.1. Thema und Aufbau der Untersuchung

11

G e s c h i c h t s t h e o l o g i e , w i e sie i m W e s t e n in Augustins De civitate Dei vorliegt ( w o b e i gleichzeitig die bis in die j ü n g s t e Vergangenheit herrschende, w e i t g e h e n d e Reduktion der kirchengeschichtlichen Forschung a u f d o g m e n g e s c h i c h t l i c h e Fragestellung e n z u b e d e n k e n ist); schließlich die ebenfalls bis in die j ü n g e r e V e r g a n g e n h e i t vertretene A u f f a s s u n g , d a ß es sich bei Sokrates' W e r k u m eine Q u e l l e n k o m p i l a t i o n v o n geringer Eigenständigkeit handelt. Bis a u f den letzten P u n k t (der h e u t e aber meist nicht m e h r so g e s e h e n wird) sollten indessen alle diese A s p e k t e - recht verstanden - a u f Fragestellungen f ü h r e n , die das Interesse an Sokrates e h e r steigern als m i n d e r n : Sein W e r k ist die erste eigenständige, erhaltene F o r t s e t z u n g des Euseb. W e l c h e s Licht v e r m a g es a u f die epochale K o n z e p t i o n des g r o ß e n „Vaters" z u werfen? D i e Existenz v o n fast gleichzeitigen Parallelautoren ist ein b e s o n d e r e r Glücksfall. W o g e h t Sokrates charakteristisch andere W e g e als S o z o m e n o s u n d T h e o d o r e t ? D a s Fehlen einer expliziten G e s c h i c h t s t h e o l o g i e i m O s t e n verlangt n a c h einer E r k l ä r u n g . W e l c h e G r ü n d e in der geschichtlichen E n t w i c k l u n g u n d in der theoretischen Reflexion darauf lassen sich angeben? W a s b e d e u t e t das f ü r das G e s c h i c k der G a t t u n g Kirchengeschichte i m b e s o n d e r e n u n d f ü r das christliche G e s c h i c h t s d e n k e n i m allgemeinen? D i e Fragestellung m u ß durch einige B e m e r k u n g e n n o c h g e n a u e r profiliert werden, w o b e i sich z u g l e i c h eine E r l ä u t e r u n g der g e w ä h l t e n G l i e d e r u n g ergibt. W e n n gesagt w u r d e , daß d u r c h die Interpretation der „ K i r c h e n g e s c h i c h t e " als „ Ü b e r r e s t " das Interesse der U n t e r s u c h u n g a u f die hinter d e m W e r k stehende Person gerichtet wird, so lassen sich hier d e n n o c h Person und W e r k n o c h w e n i g e r als in anderen vergleichbaren Fällen v o n e i n a n d e r trennen; denn erstens ist uns v o n Sokrates nur dieses eine W e r k erhalten, u n d z w e i t e n s fehlt es so gut w i e völlig an weiteren, davon u n a b h ä n g i g e n Q u e l l e n ü b e r seine Person. Die Analyse der

Kirchenge-

schichte m u ß also i m Z e n t r u m stehen. W ü r d e sich die U n t e r s u c h u n g j e d o c h innerhalb dieses W e r k e s a u f diejenigen Passagen beschränken, in d e n e n Sokrates explizit ü b e r seine Biographie, sein historiographisches K o n z e p t o d e r sein theologisches D e n k e n A u s k u n f t gibt, so b e g ä b e sie sich w i c h t i g e r Erkenntnismöglichkeiten. V i e l m e h r sind a u c h implizite I n f o r m a t i o n e n z u n u t z e n , u n d z w a r s o w o h l in b e z u g a u f d e n Inhalt der geschichtlichen D a r s t e l l u n g als auch hinsichtlich der historiographischen M e t h o d e . M i t diesen b e i d e n A s p e k t e n ist die A u f g a b e n s t e l l u n g der ersten beiden Hauptkapitel gegeben. W e n n die Einleitung durch d e n forschungsgeschichtlichen Überblick (1.2.) z u Ende g e f ü h r t ist, folgt das Kapitel ü b e r die Darstellung der G e s c h i c h t e b e i Sokrates (2.), in d e m sein W e r k e t w a in der Weise untersucht wird, w i e es in e i n e m K o m m e n t a r z u g e s c h e h e n hätte. D e r m e t h o d i s c h e Unterschied z u e i n e m K o m m e n t a r klassischer A r t ist j e d o c h der, daß das G e s c h i c h t s w e r k dort als „ T r a d i t i o n " i m Sinne der o b i g e n U n t e r s c h e i d u n g analysiert w e r d e n m ü ß t e ; das Interesse gälte also den darin b e s c h r i e b e n e n Ereignissen, u n d es w ä r e A u f g a b e der wissenschaftlichen Kritik, innerhalb der Geschichtsdarstellung den historischen K e r n v o n der Überform u n g u n d Stilisierung durch d e n Historiker z u scheiden. Diese S c h e i d u n g m u ß nach M ö g l i c h k e i t a u c h hier d u r c h g e f ü h r t w e r d e n , d o c h richtet sich das A u g e n m e r k

12

1. Einleitung

nicht auf den historischen Kern des Ereignisses selbst - es geht nicht darum zu „sagen, wie es eigentlich gewesen"8 - , sondern auf den Eigenanteil des Sokrates, eben die Überformung und Stilisierung durch den Historiker. Da die historischen Ereignisse selbst vergangen, das heißt grundsätzlich nicht mehr direkt faßbar sind, muß Sokrates' Bericht auf dem Hintergrund und im Vergleich zu den anderen verfügbaren Quellen gelesen werden, wobei mit Hilfe der vorliegenden Forschungsergebnisse der Quellenkritik sorgfältig zwischen solchen Quellen zu unterschieden ist, die Sokrates kannte und benutzte (möglicherweise mit charakteristischen Modifikationen), und solchen, die er nicht kannte, die aber die Ereignisse von einer anderen Seite beleuchten und so seine spezifische Sichtweise genauer einzuschätzen helfen. Das Kapitel wird nicht nach Art eines Kommentars das gesamte Werk der Reihe nach durcharbeiten, sondern querschnittartig einige wichtige Themenbereiche verfolgen, zum einen, weil eine Gesamtanalyse (so lehrreich und wünschenswert sie auch wäre) den Umfang der Untersuchung bei weitem sprengen würde9, zum anderen auch deshalb, weil die für die systematische Fragestellung wichtigen Punkte auf diese Weise deutlicher hervortreten. Im zweiten Hauptkapitel wird nach dem Profil des Sokrates hinsichtlich der historiographischen Methode (3.) gefragt. Genauere Kenntnis der Methode, etwa seiner Kompositionstechnik oder seines Umgangs mit den Quellen, kann nicht nur dazu beitragen, manche seiner Eigenarten in der Darstellung der Geschichte zu erklären oder zu beleuchten, sondern hat insofern auch eigenständigen Wert, als das Selbstverständnis und die Denkleistung des Sokrates im Wie der Darstellung mindestens ebenso wie im Was zum Ausdruck kommen. Das gilt auch deshalb um so mehr, weil Sokrates noch keine festen Gattungs- und Stilgesetze für die Kirchengeschichtsschreibung vorfand, sondern seinen Weg selbst finden mußte in dem Feld, das von dem übermächtig-einflußreichen „Vater der Kirchengeschichtsschreibung" einerseits und den Vorgaben und Traditionen der Profanhistoriographie andererseits umschrieben wird. Das Vergleichsmaterial, das zu diesem Zweck herangezogen werden muß, sind daher nicht die Parallelquellen zu den gleichen Ereignissen unabhängig von ihrer Gattung, sondern die spätantiken Vertreter der Gattungen Geschichtsschreibung und Kirchengeschichtsschreibung unabhängig von den beschriebenen Gegenständen. Aus Gründen der besseren Vergleichbarkeit liegt dabei der Schwerpunkt auf Texten des oströmischen Bereichs. Erst auf der Grundlage der inhaltlichen und methodischen Analyse des Werkes kann im dritten Hauptkapitel der Versuch unternommen werden, das Profil seines Verfassers herauszuarbeiten (4.), also die Person des Sokrates als Teil der historischen Realität in den Blick zu nehmen. Das Kapitel setzt mit den klassischen Einleitungsfragen (Lebensdaten, Biographie etc.) ein, die damit nicht die übliche Stellung

8

So die berühmte Formulierung von Leopold RANKE, zitiert nach HARDTWIG, Studium

[3-5·] 45· 9 Eine Übersetzung mit durchlaufendem Kommentar wird derzeit von Martin GEORGE und Heinz-Günther NESSELRATH vorbereitet, s. S. 27.

13

1.2. F o r s c h u n g s g e s c h i c h t l i c h e r Ü b e r b l i c k

g a n z z u B e g i n n der A r b e i t erhalten 1 0 . Diese A n o r d n u n g hat d e n Vorteil, d a ß die o h n e h i n spärlichen b i o g r a p h i s c h e n I n f o r m a t i o n e n in den K o n t e x t dessen gestellt w e r d e n k ö n n e n , w a s m i t Hilfe der Ergebnisse des V o r a n g e g a n g e n e n ü b e r d e n Bildungshintergrund D a r ü b e r hinaus

und

richtet

die soziale Stellung des A u t o r s gesagt w e r d e n

kann.

sich das Interesse erstens a u f die kirchlich-theologische

Position, die v o n einer einseitig d o g m e n g e s c h i c h t l i c h e n Perspektive z u befreien, aber g l e i c h w o h l als eigenständiges Z e u g n i s t h e o l o g i s c h e n D e n k e n s ernst z u nehm e n ist, u n d z w e i t e n s a u f das in d e m W e r k z u m A u s d r u c k k o m m e n d e Geschichtsverständnis. Besonders diese letztgenannte Fragestellung ist in der F o r s c h u n g bis j e t z t nicht a n g e m e s s e n berücksichtigt w o r d e n , stellt aber einen sehr w i c h t i g e n u n d vielversprechenden A n s a t z dar; d e n n w e i l es i m O s t e n nicht z u r E n t w i c k l u n g einer expliziten G e s c h i c h t s t h e o l o g i e k a m , stehen dort die Kirchenhistoriker fast k o n k u r renzlos als H a u p t q u e l l e f ü r das christliche G e s c h i c h t s d e n k e n z u r V e r f ü g u n g . Einzelne ideen- u n d begriffsgeschichtliche D u r c h b l i c k e erleichtern hier das Verständnis, d o c h der B e z u g s r a h m e n f ü r die G e s a m t w ü r d i g u n g der Person u n d des Denkens unseres A u t o r s m ü s s e n die Texte und Q u e l l e n aus Sokrates' eigener Z e i t u n d L e b e n s u m w e l t sein, also aus d e m Konstantinopel T h e o d o s i o s ' II. U m bei der Einb e t t u n g in diesen K o n t e x t ein m ö g l i c h s t geschlossenes Bild z u erhalten, soll sie in e i n e m z u s a m m e n f a s s e n d e n Schlußkapitel v o r g e n o m m e n w e r d e n (5.). Ein Ausblick auf

die E n t w i c k l u n g des christlichen Geschichtsdenkens

u n d der

Kirchenge-

schichtsschreibung in der Spätantike bildet den A b s c h l u ß .

1.2. Forschungsgeschichtlicher Überblick S c h o n w e n i g e Jahre n a c h ihrer A b f a s s u n g w u r d e die Kirchengeschichte des Sokrates v o n S o z o m e n o s z u r H a u p t g r u n d l a g e seiner eigenen D a r s t e l l u n g

gemacht.

D a m i t b e g i n n t die Rezeptionsgeschichte des Werkes, die seither nicht abgerissen ist. V o n A n f a n g an u n d bis h e u t e hat Sokrates' W e r k das Bild der Kirche v o n ihrer Geschichte w e s e n t l i c h m i t b e s t i m m t . Innerhalb dieses Prozesses einen Einschnitt f ü r d e n B e g i n n der Forschungsgeschichte z u suchen, ist n o t w e n d i g e r w e i s e mit einer g e w i s s e n W i l l k ü r verbunden. A m ehesten bietet sich d a f ü r das D a t u m der editio princeps v o m Jahre 1544 an, durch die der griechische Sokrates-Text i m W e s t e n allgemein z u g ä n g l i c h w u r d e 1 1 (obgleich Sokrates a u c h v o r h e r schon, das g a n z e

10

F ü r e i n e erste O r i e n t i e r u n g k a n n ELTESTER, Sokrates [3.1.] g e l e s e n w e r d e n .

11

D i e g e n a u e n b i b l i o g r a p h i s c h e n A n g a b e n z u d e n E d i t i o n e n u n d Ü b e r s e t z u n g e n finden sich

i m A b s c h n i t t [1.1.] des L i t e r a t u r v e r z e i c h n i s s e s , d e r z u m F o l g e n d e n stets z u v e r g l e i c h e n ist. Insbes o n d e r e die v e r s c h i e d e n e n N a c h d r u c k e der E d i t i o n e n u n d die Ü b e r s e t z u n g e n w e r d e n h i e r aus R a u m g r ü n d e n in d e r R e g e l n i c h t e i g e n s b e s p r o c h e n , o b g l e i c h sie f ü r die F o r s c h u n g s - u n d R e z e p t i o n s g e s c h i c h t e n i c h t o h n e B e d e u t u n g sind. V g l . d a z u a u ß e r d e m die A n g a b e n b e i HANSEN,

SOZO-

mcnus [1.2.] XXXVI11-XLIV u n d HANSEN [1.1.] XL-XLIII. Z u r F o r s c h u n g s g e s c h i c h t e i m 16. J a h r h u n d e r t v g l . m i t m e h r D e t a i l WALLRAFF, Rezeption

[3.5.]; d o r t a u c h z u ESTIENNES A u s g a b e , die d u r c h ihre

14

1. Einleitung

Mittelalter hindurch und vor allem in der entscheidenden Phase der Reformation, präsent und wirkmächtig gewesen ist, nämlich auf dem Wege über die lateinische Historia tripartita des Cassiodor). Innerhalb der Forschungsgeschichte lassen sich wiederum nicht ohne Willkür und nicht ohne Überschneidungen - drei Phasen unterscheiden, von denen allerdings die jeweils spätere die frühere nicht ersetzt und ablöst, sondern auf sie aufbaut und sie ergänzt. Die erste Phase bestand (und besteht) in der möglichst vollständigen Auswertung des von Sokrates gebotenen historischen Materials. Die Voraussetzungen dafür waren geschaffen durch die beiden ersten Übersetzungen des von Robert E S T I E N N E 1544 gedruckten griechischen Textes. Aus der Feder des protestantischen Theologen Wolfgang M U S C U L U S 1 2 erschien 1549 eine lateinische Übersetzung. Das katholische Gegenstück dazu stellte die 1569 postum gedruckte Version des Bischofs von Chichester John CHRISTOPHERSON dar, der 1558 für seinen katholischen Glauben den Märtyrertod erlitten hatte 13 . Er legte nicht nur eine Übersetzung von beachtlicher Qualität vor, sondern verbesserte auch den griechischen Text, der in ESTIENNES Ausgabe in fehlerhafter Gestalt und auf schlechter handschriftlicher Grundlage vorlag, durch Kollation weiterer Handschriften und durch Konjekturen 14 . Diese beiden Übersetzungen wurden die Basis für die monumentalen Kirchengeschichtsdarstellungen des 16. Jahrhunderts, die „Magdeburger Zenturien" auf protestantischer und die „Annales ecclesiastici" des Cesare BARONIO auf katholischer Seite. Selbstverständlich bildet Sokrates (zusammen mit den beiden anderen „Synoptikern" Sozomenos und Theodoret)'in beiden Darstellungen eine Hauptquelle für die Ereignisse des vierten und der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts. Dabei geht es freilich meist um die Auswertung von Einzelnachrichten, und nur ausnahmsweise und etwas unsystematisch kommt die Gesamttendenz des Werkes und die Person des Verfassers in den Blick - am ehesten, wenn es um die Frage geht, ob Sokrates wohl Novatianer gewesen sei (so BARONIO) oder nicht (so die Zenturiatoren) 15 . Einen Meilenstein in mehr als einer Hinsicht bedeutete die Arbeit von Henri (1603-1676)IÄ. Der Pariser Jesuitenschüler und gelehrte Privatier widmete

VALOIS

typographische Gestalt berühmt wurde (Kap. 1). In ihr verwendete ESTIENNE zum ersten Mal die Drucktypen „les Grecs du Roi", vgl. die Reproduktion in dem genannten Aufsatz. 12

Z u r Biographie vgl. STRASSER, Musculus [3.5.]. Z u r Biographie vgl. COOPER, Christopherson [3.5.]. 14 Seine Lesarten sind mitgeteilt in der Ausgabe von Suffridus PETRUS (Köln 1581); von textkritischem Interesse ist auch der Nachdruck von Johannes CURTERIUS (Paris 1571) mit zusätzlichen 13

V a r i a n t e n , v g l . H A N S E N , Sozomenus 15

[ 1 . 2 . ] XXXIX-XLI u n d H A N S E N [ 1 . 1 . ] XL f.

Vgl. WALLRAFF, Rezeption [3.5.] Kap. 3.2. und 3.3.

16 Hauptquelle für die Biographie des Gelehrten ist die Lebensbeschreibung seines Bruders Adrien, die zuerst 1677 in Paris veröffentlicht worden ist, und zwar als Beigabe zu einem Nachdruck der von VALOIS erstellten lateinischen Übersetzungen der Kirchengeschichtswerke [1.1.]. 1740 ist sie von Peter BURMANN [3.5.] in seiner Ausgabe der kleineren Schriften VALOIS' noch einmal abgedruckt worden. A u f ihr basieren die folgenden Informationen - und alle modernen Artikel in Nachschlagewerken und Handbüchern, unter denen besonders die von SICARD [3.5.] und AMANN [3.5.] hervorzuheben sind. Es wäre lohnend, diese Gelehrtenbiographie einmal auf etwas breiterer

1.2. Forschungsgeschichtlicher Überblick

15

sein Lebenswerk der Erforschung der spätantiken Kirchengeschichtswerke, wobei er mit großen materiellen und gesundheitlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Seine Augen waren zeitweise so schwach, daß er sich zum Lesen und Schreiben eines Gehilfen bedienen mußte. Erst durch eine Staroperation im Jahre 1662 17 und durch eine finanzielle Zuwendung vom französischen König im folgenden Jahr wurde ihm die Fortsetzung seiner Arbeit (sowie eine Eheschließung) möglich. In drei umfangreichen Foliobänden legte er für alle erhaltenen Kirchengeschichtswerke eine kritische Neuedition mit lateinischer Übersetzung und umfassendem Kommentar vor 18 . Die von ihm konstituierten Texte waren nicht nur eine deutliche Verbesserung gegenüber dem bisher Vorhandenen, sondern sollten auch bis zum Erscheinen der kritischen Editionen in der Reihe „Die Griechischen Christlichen Schriftsteller" im 20. Jahrhundert maßgeblich bleiben 19 . Seine Übersetzungen und Kommentare stellen vielfach bis heute nicht überholte Leistungen dar. Im Falle des Sokrates (erschienen 1668) ist VALOIS' lateinische Übersetzung sicherlich nach wie vor die zuverlässigste, die zum Verständnis schwieriger Stellen herangezogen werden kann. Sein umfassender Kommentar, der das gesamte Werk bespricht, ist schon deshalb unüberholt, weil er immer noch der einzige seiner Art ist. Mit enormer Gelehrsamkeit hat VALOIS zur Klärung vieler Einzelprobleme beigetragen. Darüber hinaus hat er aber auch in seiner Einleitung versucht, eine Gesamtwürdigung der Person des Sokrates und seines Werkes zu geben; in mehr als einem Punkt hat er darin die bis heute gültige Forschungsmeinung ausgesprochen20. VALOIS' Werk wurde mehrfach nachgedruckt; zu erwähnen ist besonders die Ausgabe von William R E A D I N G mit etwas erweitertem Kommentar (Cambridge 1720) 21 , die Aufnahme in M I G N E S Patrologia Graeca (Bd. 67, Paris 1859) gefunden hat. Robert HUSSEY, der die bis in die jüngste Zeit maßgebliche Edition (Oxford 1853) besorgte, wird die Paragrapheneinteilung des Werkes verdankt, die sich bei der Zitation

Basis zu erarbeiten und dabei insbesondere das Umfeld VALOIS', der unter anderen mit H u g o GROTIUS, Jacques SIRMOND und Dionysius PETAVIUS U m g a n g pflegte (zu den beiden letztgenannten vgl. die bei BURMANN abgedruckten Nachrufe), näher in den Blick zu nehmen. Dabei würde auch auf seine (ablehnende) Haltung gegenüber dem Jansenismus Licht fallen. 17 Die Formulierung „cataractum ab utroque oculo ejus amovit" in der Lebensbeschreibung (s. vorige Anm.) läßt deutlich erkennen, daß es sich u m einen grauen Star handelte, der damals nur „geheilt" werden konnte, indem die Linse mit einer Nadel in den Glaskörper im Inneren des Auges gestoßen wurde. Diese Operation hatte bei VALOIS nur bei einem Auge Erfolg. 18 1659-1673; schon 1636 war eine Edition des Ammianus Marcellinus erschienen, die 1681 von seinem Bruder (und Biographen) Adrien nochmals in neuer Bearbeitung herausgegeben wurde. Ferner hat sich von Henri VALOIS eine Reihe von Gelegenheitsschriften erhalten, die 1740 - lange nach seinem Tod - von Peter BURMANN [3.5.] gesammelt veröffentlicht wurden. " Z u m Sokrates- und Sozomenos-Text vgl. HANSEN [1.1.] XLI f. und HANSEN, Sozomenus [1.2.] XLII f . 20 21

Beispiele s. unten S. 209 f., 215 und 235. Die zusätzlichen Beiträge stammen großenteils von William LOWTH (1660-1732, vgl.

VENABLES, Lowth

[3.5.]) s o w i e v o n R E A D I N G s e l b s t (1674-1744, v g l . T E D D E R , Reading

meist weniger wertvoll als die Ausführungen von VALOIS.

[3.5.]). S i e s i n d

16

1. Einleitung

bewährt hat 2 2 ; doch stellt der von ihm gebotene Text keinen grundlegenden Fortschritt gegenüber VALOIS dar 2 3 . Die zweite Phase der Forschung wird durch die Quellenkritik des 19. Jahrhunderts bezeichnet. M a n hatte erkannt, daß man einen Autor auf das von ihm verwendete Quellenmaterial hin untersuchen muß, u m die Glaubwürdigkeit historischer Nachrichten im einzelnen und des Autors insgesamt besser beurteilen zu können 2 4 . Diese Einsicht wandte Friedrich A . HOLZHAUSEN in seiner Göttinger Dissertation von 1825 zuerst auf die drei synoptischen Kirchengeschichtswerke an, allerdings nur mit begrenztem Erfolg, weil er die Abhängigkeitsverhältnisse der drei Autoren untereinander falsch einschätzte (obgleich VALOIS schon das Richtige erkannt hatte) 2 5 . Erst 1885 brachte L u d w i g JEEP mit seinen „Quellenuntersuchung e n " hier mehr Klarheit 26 . Seine Ergebnisse wurden aufgenommen, häufig präzisiert und gelegentlich korrigiert durch die in Greifswald von Otto SEECK betreute Dissertation von Franz GEPPERT, die 1898 im Druck erschien und übrigens bis 1997 die einzige Monographie über Sokrates darstellte 27 . Diese Arbeit hat im großen und ganzen geleistet, w a s im Rahmen des Paradigmas der Quellenkritik zu leisten ist, und bleibt insofern unentbehrlich. N u r in Einzelheiten sind die von GEPPERT erarbeiteten Resultate im Laufe des nachfolgenden Jahrhunderts noch revidiert und ergänzt worden 2 8 . Dennoch ist gegenüber GEPPERT und der quellenkritischen For-

22 Robert HUSSEY (1801-1856) war der erste Professor für Kirchengeschichte an der Universität Oxford; zu seiner Biographie vgl. GREENHILL, Hussey [3.5.] sowie das „Advertisment", das sein Schwager Jacob LEY der zweiten Ausgabe (1863) von HUSSEY, Rúe [3.5.] voranstellte (S. v-xxvii). Die Paragrapheneinteilung findet sich zum ersten Mal in einem 1844 in Oxford erschienenen anonymen Nachdruck von READINGS Ausgabe. Dieser Nachdruck stammt auch schon von HUSSEY, denn er wird in der von LEY zusammengestellten Publikationsliste unter seinen Werken aufgeführt (S. xxvi). Aus derselben Quelle ergibt sich auch, daß HUSSEY 1844 mit seinen Studenten Sokrates las („List of Lectures remaining in ms.", S. xxiii f.). Ohne Zweifel ließ er zu diesem Zweck den Nachdruck veranstalten. In den folgenden Jahren baute er seine Sokrates-Studien zu einer eigenen Textrezension aus. Unglücklicherweise hat William BRIGHT, der HUSSEYS Text 1878 (2I893) nachdruckte, die Paragrapheneinteilung wieder fortgelassen. Nach BRIGHTS Ausgabe ist die Kirchengeschichte in den Thesaurus Linguae Graecae [2.] (seit 1992, Version # D ) aufgenommen. 23 Vgl. HANSEN [1.1.] XLII und die sehr kritischen Bemerkungen von NOLTE [3.1.] in seiner Rezension zu HUSSEY. In der Edition sind VALOIS' Kommentar und Übersetzung vollständig abgedruckt; sie werden hier wegen der leichteren Zugänglichkeit danach zitiert. 24 Die Erkenntnis war im Prinzip natürlich auch VALOIS nicht fremd; sie ist von ihm aber nicht zur Grundlage einer systematischen Analyse gemacht worden. 25 HOLZHAUSEN, Commentatici [3.2.]. 26 JEEP, Quellenuntersuchungen [3.2.], zu Sokrates besonders S. 105-154. 27 Der erste Teil erschien als Dissertationsdruck in Naumburg 1898; im gleichen Jahr wurde die vollständige Arbeit in der von N. BONWETSCH und R. SEEBERG herausgegebenen Reihe „Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche" publiziert (GEPPERT, Quellen [3.1.]). Vgl. dazu auch die (manchmal überkritische) Rezension von E. PREUSCHEN [3.1.]. 28 Die wichtigste Neuerkenntnis ist die von GLAS, Kirchengeschichte [3.2.] initiierte und von WINKELMANN, Untersuchungen [3.2.] zu einem (vorläufigen) Abschluß gebrachte Erschließung des verlorenen Werkes des Gelasios von Kaisareia (vgl. HANSEN [1.1.] XLV-XLVIII zu seiner Bedeutung als Quelle für Sokrates). Außerdem hat HAUSCHILD, Synodalaktensammlung [3.4.] dazu beigetragen, das gleichfalls verlorene Werk des Sabinos von Herakleia realistischer einzuschätzen (vgl. dazu

1.2. Forschungsgeschichtlicher Überblick

17

schung insgesamt der grundsätzliche Vorbehalt anzubringen, daß sie das Werk des Sokrates zu sehr als rein kompilatorische Leistung zu verstehen suchen. Es ist weder sinnvoll noch möglich, das ganze Werk „flächendeckend" auf Quellen zu verteilen29. Dieses Unternehmen findet seine Grenze nicht nur an unserer mangelnden Kenntnis eventueller Quellenschriften, sondern wird vor allem der Eigenständigkeit des Autors Sokrates nicht gerecht. Teilweise von der gleichen Perspektive geprägt sind die drei wichtigen Artikel von Adolf HARNACK, Gerhard LOESCHCKE und Walther ELTESTER. Alle drei sind in erster Linie daran interessiert, zu einer realistischen Einschätzung der Glaubwürdigkeit des Sokrates zu gelangen. In dieser Hinsicht bekommt der Kirchenhistoriker recht gute Noten, wobei aber seine Selbständigkeit und sein geistiger Eigenanteil sehr niedrig veranschlagt werden30. Diese Sichtweise erklärt sich teilweise auch aus der zu einseitig dogmengeschichtlichen Perspektive, aus der Sokrates in der Tat als unbedeutend erscheinen mußte. Dennoch gebührt vor allem ELTESTER das Verdienst, die Ergebnisse der bisherigen Forschung in einem konsistenten Bild zusammengefaßt zu haben, wie es seither in so umfassender Art nicht wieder geschehen ist31.

HANSEN L). Die B e n u t z u n g des Libanios hat HANSEN LII n e u analysiert. Weitere Einzelprobleme h a b e n PÉRICHON, Eutrope [3.1.] u n d BIHAIN, Source [3.1.] behandelt. 19 Das ist die Absicht der Z u s a m m e n s t e l l u n g bei GEPPERT, Quellen [3.1.] 112-132. Darin erschein e n die A u s k ü n f t e „Selbständig" oder „Mündliche Überlieferung" n u r als N o t l ö s u n g e n f ü r den Fall, daß sich keine schriftliche Quelle finden läßt. (Ähnliches gilt auch f ü r die hypothetische S a m m l u n g v o n „Kaiser-Biographien", GEPPERT 69-75.) Es wird nicht deutlich, daß Sokrates auch dort, w o er b e k a n n t e Quellen nutzt, meist recht selbständig verfährt. Die Art seiner Quellenverw e n d u n g wird nirgends analysiert. 30 Das negativste Urteil s t a m m t von LOESCHCKE, Sokrates [3.1.] 486: „ D a ß von e i n e m M a n n e von der Art des Sokrates t r o t z allen g u t e n Willens ... nichts Bedeutendes zu e r w a r t e n war, ist fast selbstverständlich. ... Nach schriftlichen Quellen Geschichte schreiben k o n n t e er nicht." Anders dagegen ELTESTER, Sokrates [3.1.] 899, der b e t o n t , „daß Sokrates sich u m sein Ziel, die W a h r h e i t unparteiisch z u schreiben ehrlich u n d nicht o h n e Erfolg b e m ü h t . ... T r o t z d e m fehlt eine großzügige Auffassung der E n t w i c k l u n g vollständig." Wie eine Synthese beider liest sich HARNACK, Sokrates [3.1.] 413 (der j e d o c h als erster geschrieben hat): Es ist „offenbar, daß diese K[irchen]G[eschichte] als Ganzes u n d als schriftstellerische Leistung v o n e i n e m u n t e r g e o r d n e t e n W e r t e ist. ... Indessen bei diesem Urteil ü b e r Sokrates stehen zu bleiben, wäre d o c h höchst unbillig. Er hat einen g r o ß e n Vorzug, u m dessen willen m a n Vieles nachsehen kann: er ist ein ehrlicher Schriftsteller u n d er ist gewillt gewesen, unparteiisch zu urteilen. ... Es ergibt sich also ..., d a ß m a n seiner Gelehrsamkeit u n d Sachkenntnis wenig, seiner Aufrichtigkeit u n d s e i n e m g u t e n Willen viel z u t r a u e n darf." HARNACKS Artikel, den m a n bis h e u t e mit g r o ß e m G e w i n n liest, ist zu U n r e c h t durch die N e u a u f l a g e der RE der Vergessenheit anheimgefallen. Allerdings zeigt sich n e b e n einer intuitiv-kongenialen Vertrautheit mit der Zeit u n d den L e b e n s u m s t ä n d e n des Sokrates eine auch sonst f ü r HARNACK typische V o r e i n g e n o m m e n h e i t g e g e n ü b e r d e m christlichen Osten, die u n n ö t i g u n d störend wirkt. So g e h ö r e n die B e m e r k u n g e n z u m theologie- u n d zeitgeschichtlichen Hint e r g r u n d der Synoptiker (403 f.) bis h e u t e z u m Besten, was z u m T h e m a geschrieben w o r d e n ist; einen m e r k w ü r d i g e n Kontrast dazu bildet die Rede von „der passiven Art der Religiosität im O r i e n t " (410) o d e r v o m „Friedensbedürfnis des Orientalen" (411). 31 U n t e r den zahlreichen weiteren Artikeln in H a n d b ü c h e r n u n d Nachschlagewerken (s. Literaturverzeichnis [3.1.]) ist als substantiellster Beitrag der Abschnitt bei BARDENHEWER, Geschichte [3.4.] 4,137-141 h e r v o r z u h e b e n . Ausschließlich an der Glaubwürdigkeit des Sokrates ist der k n a p p e K o m m e n t a r v o n STEFANIDES, Διορθώσεις [3.1.] interessiert.

18

1. Einleitung

Ein neuer Horizont eröffnete sich, als die Forschung in einer dritten Phase ihr Interesse dem historiographischen Konzept des Sokrates zuzuwenden begann und damit den Blick frei machte für die geistige Leistung und Eigenständigkeit des Autors. Die Ansätze dafür finden sich schon in Ferdinand Christian BAURS „Epochen der kirchlichen Geschichtsschreibung" von 185232. Darin wird insbesondere das kirchengeschichtliche Werk des Euseb ausführlich besprochen, wodurch der Grund gelegt war für eine ebenso produktive wie kontroverse Debatte, die bis heute nicht abgeschlossen ist 33 . Auch die Fortsetzer des Euseb werden behandelt, doch verschwinden sie beinahe gänzlich im Schatten des überragenden „Vaters der Kirchengeschichtsschreibung"34. Unterschiede zwischen den synoptischen Autoren Sokrates, Sozomenos und Theodoret kommen wegen des „größtenteils identischen und analogen Inhalt[s] ihrer Werke" kaum in den Blick. Für BAUR sind „die drei Geschichtschreiber ... gleichsam nur einer" 35 . Einige Werke, die sich auf dem von BAUR gewiesenen Weg mit der Geschichte der kirchlichen Historiographie bzw. des christlichen Geschichtsdenkens beschäftigen, erwähnen Sokrates mehr oder minder ausführlich 36 , doch sollte es bis in das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts dauern, bis Sokrates und seine Parallelautoren zum Gegenstand eigenständiger Untersuchungen gemacht wurden. Nachdem ein Aufsatz von Glanville DOWNEY schon 1965 den Anfang gemacht hatte 37 , hat sich seit Mitte der 70er Jahre das erwachende Forschungsinteresse in einer stetig zunehmenden Zahl von Veröffentlichungen niedergeschlagen. Robert Austin MARKUS ging 1975 der Frage nach, inwieweit das historiographische Konzept des Euseb auch für die Nachfolger unter veränderten historischen Umständen noch tragfähig war 38 . Friedhelm WINKELMANN behandelte 32 Im Prinzip folgt auch dieses Werk dem „Glaubwürdigkeitsparadigma"; das zeigt schon die Anlage als Prolegomena zur eigentlichen historischen Darstellung (vgl. auch die programmatischen Ausführungen bei BAUR, Epochen [3.2.] 1). Dennoch weist es sich durch seinen Umfang und seinen in sich geschlossenen Aufbau als eigenständiges und originelles Unternehmen aus. BAUR macht in der Vorrede auch deutlich, daß er sich des damit gewonnen Neuansatzes bewußt ist (S. M). Vgl. zu BAURS Bedeutung für die Kirchengeschichte SCHOLDER, Baur [3.5.]; MEIJERING, Baur

[3.5·]· 33

BAUR, Epochen [3.2.] 9-25; schon in der Studie BAUR, Eusebius [3.2.] von 1834 hatte sich der Tübinger Theologe mit dem historiographischen Konzept des Euseb (im Vergleich zu dem des Herodot) beschäftigt. Einige Stimmen (sowie Literaturangaben) aus den Forschungskontroversen um Euseb finden sich bei WINKELMANN, Euseb [3.2.] 9 f. 34 BAUR, Epochen [3.2.] 25-34. Der Ehrenname „Vater der Kirchengeschichtsschreibung" für Euseb wird auf S. 9 verwendet; doch stammt er nicht von BAUR, wie immer wieder zu lesen ist (etwa bei MARKUS, History [3.2.] 1 und TIMPE, Kirchengeschichte [3.2.] 199, Anm. 2), sondern ist viel älter. BAUR selbst läßt in seiner Studie Eusebius [3.2.] 4, in der der Beiname schon im Titel steht, deutlich erkennen, daß er hier auf eine allgemein übliche Bennenung zurückgreift: „... Eusebii Caesariensis meminisse, quem ... historiae ecclesiasticae parentem omnes ferunt". In der Tat finden sich schon im 16. Jahrhundert Belege dafür. 35 BAUR, Epochen [3.2.] 27. BAUR geht noch davon aus, daß die drei unabhängig voneinander schrieben; dann muß die Parallelität in der Tat noch auffälliger wirken. 36

N I G G , Kirchengeschichtsschreibung

[ 3 . 2 . ] 2 7 - 2 9 ; FOAKES J A C K S O N , History

[3.2.] 71-82;

MILBURN,

Interpretations [3.2.] 144 f.; ZIMMERMANN, Ecclesia [3.2.] 27 f.; MEINHOLD, Geschichte [3.2.] 1,113-120. 37 DOWNEY, Perspective [3.2.]. 58 MARKUS, History [3.2.].

1.2. Forschungsgeschichtlicher Überblick

19

1976 in einer grundlegenden Überblicksdarstellung die „Kirchengeschichtswerke im oströmischen Reich" und vertiefte einzelne Aspekte in Spezialuntersuchungen39. Mit der Studie „The First Christian Histories" unternahm Glenn F. CHESNUT 1977 erstmals den Versuch, im Rahmen einer Monographie neben Euseb auch die Kirchenhistoriker Sokrates, Sozomenos, Theodoret und Euagrios als eigenständige Schriftsteller ernst zu nehmen und auf ihre historiographische Methode, ihre Geschichtsauffassung und ihr theologisches Profil hin zu untersuchen40. Gerade weil es sich um einen so wichtigen und vielversprechenden Ansatz handelt, ist es bedauerlich, daß in der Durchführung viele Aspekte nicht zu überzeugen vermögen. Obgleich Sokrates unter den Eusebnachfolgern am ausführlichsten und differenziertesten behandelt wird, operiert CHESNUT in dem betreffenden Kapitel, zu dem 1975 schon eine Vorarbeit erschienen war41, zu sehr mit ungesicherten Pauschalurteilen und zieht oftmals auf zu schwacher Quellengrundlage zu weitreichende und gewagte Schlüsse42. Auch grundsätzlich berechtigte und wichtige Punkte werden nicht deutlich genug herausgearbeitet und begründet. 1978 befaßte sich eine Tagung in Erice (Sizilien) mit der spätantiken Kirchengeschichtsschreibung. Unter den 1980 publizierten Beiträgen ist vor allem die Analyse der Proömien bei den Kirchenhistorikern von Mario MAZZA hervorzuheben, durch die die Eigenständigkeit und Verschiedenheit der einzelnen Autoren hinsichtlich ihrer historiographischen Theorie beleuchtet wird43. Eine Reihe von Spezialuntersuchungen vermochte in der Folgezeit, verschiedene Einzelaspekte zu klären. Angelo FERRARINI untersuchte 1981 die mündlichen Traditionen in Sokrates' Kirchengeschichte44. Alanna EMMETT NOBBS befaßte sich 1986 mit den Exkursen bei

39

WINKELMANN, Kirchengeschichtswerke (BySl) [3.2.], zu Sokrates S. 173-175. Vorangegangen war schon 1971 Geschichtstheorie [3.2.]; weiterhin: Probleme [3.2.]; Rolle [3.2.]; Bewertung [3.2.]. Vgl. außerdem die quellenkundliche Einführung Kirchengeschichtswerke (Quellen) [3.2.] und die übergreifende Darstellung Historiographie [3.3.] (zu Sokrates Sp. 758 f.). Indirekt mit Sokrates verknüpft sind ferner die grundlegenden Arbeiten zu Gelasios von Kaisareia: Untersuchungen [3.2.]; Charakter [3.2.]; Quellen [3.2.]. 40 CHESNUT, Histories [3.2.], 1986 in zweiter Auflage erschienen. 41 CHESNUT, Kairos [3.1.] ( = Histories [3.2.] 175-198). In dem Buch wird Sokrates recht eingehend in Kapitel 8 (S. 175-198) besprochen, während Sozomenos, Theodoret und Euagrios sich gemeinsam mit einem Kapitel kaum größeren Umfanges begnügen müssen (S. 199-230) und auf diese Weise deutlich zu kurz abgehandelt werden. 4 2 Vor allem der Identifikationsvorschlag für den rätselhaften Auftraggeber der Kirchengeschichte Theodoros ist zu schwach begründet und hat in der weiteren Diskussion eher zur Verwirrung als zur Klärung der Sachlage beigetragen, s. unten S. 219. Weitere Aspekte werden im Fortgang der Untersuchung zur Sprache kommen. Daß das Buch in eine Forschungslücke stieß, zeigt die verhältnismäßig große Zahl von (allerdings nicht durchweg positiven) Rezensionen, vgl.

v. a. d i e j e n i g e n v o n BENKO, COYLE, HINSON, MARKUS, NORRIS, PLEKET, THÜMMEL u n d WINKELMANN

[3.2.] sowie die kritischen Bemerkungen von LEPPIN, Constantin [3.2.] 19 f. 43 MAZZA, Teoria [3.2.]. Der Aufsatz ist 1986 leicht überarbeitet noch einmal gedruckt worden (Storico [3.2.]). Vom gleichen Verfasser vgl. weiterhin die Arbeit über die Darstellung Konstantins in der Kirchengeschichtsschreibung: MAZZA, Costantino [3.2.]. 44 FERRARINI, Tradizioni [3.1.]. Zwei weitere Aufsätze des Verfassers betreffen mehr die Rezeptionsgeschichte des Sokrates: Eresia [3.5.] und Socrates [3.5.].

20

1. Einleitung

den „Synoptikern" 45 . Pauline A L L E N legte Aufsätze über die Bedeutung der klassisch-griechischen Bildung (1987), der Kriege (1989) und der Häresien (1990) bei diesen Autoren vor 46 . In seinem 1993 veröffentlichten Vortrag auf der elften internationalen Patristiktagung in Oxford 1991 stellte J. H. W G. LIEBESCHUETZ die Frage, wie die Kirchenhistoriker zu ihrer eigenen Zeit stehen47. 1994 publizierte Ivan 48 KRIVUSIN eine Studie über die Bewertung des Volkes bei den Kirchenhistorikern . Der jüngste Aufsatz von Elio D O V E R E über den Zusammenhang des Codex Theodosianus mit dem Werk des Sokrates (1994) wird leider durch den weitgehenden Anschluß an die ungesicherten Theorien von CHESNUT weitgehend wertlos 49 . Außerdem sind in jüngster Zeit zwei wichtige Monographien entstanden, die beide bislang nicht publiziert sind. Theresa URBAINCZYK reichte 1992 an der Universität Birmingham eine Ph.D.-thesis mit dem Titel „Socrates Scholasticus: Historian of Church and State" ein. Die zentrale These der Arbeit, die sich schon im Titel andeutet, ist die Auffassung, daß Sokrates den kirchlichen und den staatlichen Bereich in Parallele sieht und Einheit statt Spaltung in beiden Bereichen anstrebt. Trotz wertvoller Beobachtungen zu diesem Themenbereich im einzelnen, läßt dieser Versuch, das Werk des Sokrates auf eine Formel zu bringen, nicht nur viele Aspekte unberücksichtigt, sondern ist auch von vornherein deshalb problematisch, weil eine solche Parallelisierung dem Denken des Sokrates insgesamt nicht gerecht wird 50 . Außerdem vermag die Durchführung in vielen Punkten nicht zu überzeugen. Parallelquellen zu Sokrates und Ergebnisse der bisherigen Forschung werden nur partiell verarbeitet 51 ; die Darstellung kommt über weite Strecken nicht über Paraphrasen des Sokrates-Textes hinaus. 45

E M M E T T N O B B S , Histories

[3.2.].

46

ALLEN, Aspects [3.2.]; War [3.2.]; Use [3.2.]. 47 LIEBESCHUETZ, Historians [3.2.]. 48 KRIVUSIN, HcmopM [3.2.], speziell zu Sokrates S. 20-48. 49 DOVERE, Stabilizzazione [3.1.], teilweise wieder aufgenommen in DOVERE, lus [3.4.]. 50 URBAINCZYK muß sich darum bei der Suche nach Analogien gelegentlich sehr weit vom Textbefund entfernen. So versucht sie etwa in ihrem Schlußkapitel (Socrates [3.1.] 223-234) zu zeigen, daß es Ähnlichkeiten in der Darstellung der „enemies of unity" im kirchlichen und staatlichen Bereich, nämlich von Häretikern und Usurpatoren, gibt. Doch kann man ihr nicht mehr zugestehen, als daß Sokrates beide Gruppen eher negativ bewertet (s. unten S. 108, Anm. 386). 51 Es seien nur einige Arbeiten unmittelbar zu Sokrates genannt, die im Literaturverzeichnis fehlen: HARNACK, Sokrates [3.1.]; LOESCHCKE, Sokrates [3.1.]; ZIMMERMANN, Ecclesia [3.2.]; MAZZA, Teoria [3.2.]; EMMETT NOBBS, Histories [3.2.]. Auch die aufgeführten Arbeiten sind oft nicht genügend berücksichtigt (z. B. ELTESTER, Sokrates [3.1.]). In dem Abschnitt über Johannes Chrysostomos (S. 170-177) wird das Zeugnis des Palladlos nur knapp erwähnt, aber kaum verwendet, um Sokrates' Darstellung zu kontrollieren. In bezug auf die Synagoge des Sabinos von Herakleia geht URBAINCZYK 47 von veralteten Vorgaben aus, weil ihr der Beitrag von HAUSCHILD, Synodalaktensammlung [3.4.] unbekannt ist. Der Problematik um Gelasios von Kaisareia werden die Bemerkungen S. 59 in keiner Weise gerecht. Kurz vor Abschluß des Manuskripts wurde mir bekannt, daß die Arbeit Anfang 1997 bei University of Michigan Press erschienen ist. Leider war es vor der Drucklegung nicht mehr möglich, das Buch zu beschaffen, so daß nach dem Typoskript der Dissertation zitiert werden muß. Ich danke Dr. Theresa URBAINCZYK (Dublin), daß sie mir ihre Arbeit noch vor der Publikation zur Verfügung gestellt hat.

1.2. Forschungsgeschichtlicher Überblick

21

Hartmut L E P P I N legte 1995 der Freien Universität Berlin eine Habilitationsschrift mit dem Titel „Von Constantin dem Großen zu Theodosius II. Das christliche Kaisertum bei den Kirchenhistorikern Socrates, Sozomenus und Theodoret" vor (publiziert 1996). Diese drei Autoren sollen nicht - wie bisher meist geschehen wegen ihrer Ähnlichkeit als Parallelerscheinungen gewürdigt, sondern gerade auf ihre charakteristischen Unterschiede hin befragt werden. Dabei fordert die umfassende und gründliche Untersuchung auch über ihr eigentliches Thema, den politischen Bereich, hinaus interessante Erkenntnisse über die Kirchengeschichtswerke zutage, etwa zum zeitgeschichtlichen Kontext, zur Datierung und zur Komposition52. Weil L E P P I N sich nicht mehr dem „Glaubwürdigkeitsparadigma" der älteren Forschung verpflichtet sieht, kann er dabei etwa die literarische Leistung des Theodoret bei der stilisierenden Aufarbeitung und gedanklichen Durchdringung der Geschichte positiv würdigen 53 . In bezug auf Sokrates hält er allerdings an der geläufigen Sicht eines Autors mit geringen literarischen Ansprüchen fest 54 . Es läßt sich also besonders in den letzten ca. 15 Jahren ein deutlich wachsendes Forschungsinteresse an Sokrates konstatieren. Dieses Interesse richtet sich auch und gerade auf Sokrates als eigenständigen Autor, versucht somit sein Werk als „Überrest" zu interpretieren. Daneben läuft die Auswertung des Werkes als historische Quelle („Tradition") weiter und hat in den letzten Jahren schöne Erfolge erzielen können 55 (während die Analyse der Quellen zu einem gewissen Abschluß gelangt ist). So erfreulich diese Zunahme des Interesses ist, so unverständlich ist es, daß es erst so spät eingesetzt hat. Die Grundlagen für eine derartige Fragestellung waren durch die theoretische Reflexion auf die historische Erkenntnismethode spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts gelegt. Längst hat die Forschung diese Einsichten nicht nur auf die Geschichtsschreiber der klassischen Zeit angewandt, sondern auch auf die Profanhistoriker der Spätantike. Über Ammianus Marcellinus56, die Scriptores Historiae Augustae57 und Zosimos 58 ist eine kaum noch überschaubare 52

F ü r S o k r a t e s vgl. v. a. LEPPIN, Constantin

53

V g l . v. a. LEPPIN, Constantin

[3.2.] 10-13; 227-243; 274-279.

[3.2.] 253-259.

54 Aus diesem Grunde hält es LEPPIN (Constantin [3.2.] 283, Anm. 1) für gerechtfertigt, zwar die Werke des Sozomenos und des Theodoret, nicht aber das des Sokrates eigens auf ihre Komposition hin zu untersuchen. Durch diese Entscheidung finden jedoch einige für das Thema der Arbeit bedeutsame Eigenarten des Sokrates keine hinreichende Berücksichtigung (s. ζ. B. unten S. 284, Anm. 327). 5 5 Um nur einige Beispiele für neuere historische Untersuchungen zu nennen, bei denen die Analyse der Kirchengeschichte des Sokrates eine wichtige Rolle spielt: CURTÍ, Scisma [3.4.];

CALTABIANO, A s s a s s i n i o [3.4.]; HEATHER, Crossing versy [3.4.]; BARNES, Athanasius

[3.4.]; BORGEHAMMAR, Cross [3.4.]; CLARK,

Contro-

[3.4.] v. a. 200-204.

56 ROSEN, Ammianus [3.3.] 183-221 führt in seinem Literaturbericht allein bis 1982 über 400 Titel auf. Unter den seither erschienenen Publikationen seien nur EMMETT, Books [3.3.]; MATTHEWS,

Empire

[3.3.]; RICHTER, Funktion

[3.3.]; KAUTT-BENDER, Vielfalt

[3.3.]; HENGST, Digressions

[3.3.]

genannt. Außerdem ist jüngst das Kommentarwerk von SZIDAT, Kommentar [3.3.] mit Bd. 3 zum Abschluß gelangt; vgl. dort den Forschungsbericht S. 11-14 sowie das umfangreiche Literaturverzeichnis S. 245-270. 57 Bis 1990 vgl. die von LIPPOLD, Historia [3.3.] 723 gesammelte Literatur. Neueres findet sich in der kritischen Neuausgabe in der Reihe „Collection des Universités de France", deren Erscheinen

22

1. Einleitung

Literatur entstanden, ja selbst die nur in traurigen Bruchstücken erhaltenen Autoren Eunapios von Sardes und Olympiodoros sind zum Gegenstand eingehender Untersuchungen gemacht worden 59 . Der damit verbundene Erkenntnisgewinn ist beachtlich. Im christlichen Bereich erfreut sich, wie schon gesagt, Euseb seit langem großen Interesses, doch ohne daß seine Nachfolger vergleichbare Zuwendung erfahren hätten60. Erst sehr allmählich werden Sokrates und Sozomenos aus dem zwillingshaften Nebeneinander gelöst, das den Blick auf ihre Unterschiede und Eigentümlichkeiten nachhaltig verstellt hat. Der naheliegende und zweifellos instruktive Vergleich zwischen den beiden hat erst dann Sinn, wenn jeder für sich ernst genommen und gründlich untersucht ist. Wegen der Abhängigkeitsverhältnisse und aus chronologischen Gründen kommt dabei Sokrates die Priorität zu. Eine umfassende Analyse seines Werkes als „Überrest" im Sinne von J . G. D R O Y S E N ist bis jetzt nicht erfolgt. Last, but not least ist als jüngster und grundlegender Forschungsbeitrag die von Günther Christian H A N S E N besorgte kritische Neuausgabe der Kirchengeschichte des Sokrates in der Reihe „Die griechischen christlichen Schriftsteller" zu erwähnen 61 . Schon auf ihrer Sitzung am 12. April 1902 hatte die Kirchenväterkommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften kritische Editionen aller griechischen Kirchenhistoriker in ihr Programm aufgenommen 62 . Mit großem Abstand der letzte Schritt zur Verwirklichung dieses Planes ist nun die 1995 erschienene Sokrates-Ausgabe. Die Gründe für die lange Verzögerung dieses von der wissenschaftlichen Welt seit vielen Jahren dringend erwarteten Projektes sind vielfältiger Natur. Neben persönlichen Motiven und wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungen (in denen sich die bewegten Zeitläufte spiegeln) liegt ein wichtiger Grund zweifellos auch in der Sache selbst, genauer gesagt in der komplizierten Überliefe rungslage des Sokrates-Textes. Anders als bei Sozomenos und Theodoret sind nicht nur die griechische Überlieferung (sowie die lateinische Übersetzung in Cassiodors

1992 begonnen hat [1.4.] und in der substantiellen Einleitung zur neuen Übersetzung (1994) von CHASTAGNOL [1.4.].

* Einen Literaturquerschnitt gibt VEH, Zosimos [1.4.] 24-29. BLOCKLEY, Historians [3.3.] hat zu beiden (sowie zu Priskos und Malchos) Editionen und Untersuchungen vorgelegt und die Literatur bis 1983 aufgearbeitet (1,175-182 und 2,483). Vgl. seit5

59

h e r BALDWIN, Eunapios [3.3.] u n d Olympiodoros [3.3.] sowie BALDINI, Ricerche [3.3.] 13-18 (zu Euna-

pios) und GILLETT, Date [3.3.] (zu Olympiodoros). 60 Lediglich Euagrios ist 1981 eine monographische Untersuchung durch Pauline ALLEN (Evagrius [3.2.]) zuteil geworden, die dem methodischen Ansatz nach der vorliegenden Studie verwandt ist. Leider m u ß sie in der Durchführung als nicht durchweg gelungen gelten, vgl. die Rezensionen

von

WICKHAM u n d

WINKELMANN [3.2.] (weitere

Rezensionen

von

CAMELOT,

CAMERON, MARKUS, NAUTIN [3.2.]). 61

Z u m F o l g e n d e n v g l . a u c h d i e R e z e n s i o n e n v o n CHADWICK [3.1.], HALL [3.1.] u n d WALLRAFF

[3.1.]. 62 Das ergibt sich aus dem von HARNACK geführten Protokollbuch, vgl. REBENICH, Wissenschaft ('997) [3-5·] Vs mit Anm. 194. Zur weiteren Geschichte des Editionsprojekts vgl. die Angaben im Vorwort bei HANSEN [1.1.] v.

23

1.2. Forschungsgeschichtlicher Überblick

Historia tripartita) aufzuarbeiten 63 , sondern auch Übersetzungen ins Syrische und ins Armenische, von denen besonders letzterer große textkritische Bedeutung zukommt. Aufgrund der reichen Erfahrung von Günther Christian HANSEN64 liegt nun eine ausgezeichnete und allen Ansprüchen genügende Edition vor, die eine neue und feste Grundlage für die wissenschaftliche Analyse der Kirchengeschichte des Sokrates schafft. Die griechischen Handschriften, die bisher nicht vollständig und nicht hinreichend zuverlässig kollationiert waren, sind in der neuen Edition gründlich untersucht und für die Textkonstitution verwendet worden 65 . H A N S E N S Hauptverdienst ist es jedoch, die alten Übersetzungen, die in den früheren Ausgaben noch gar nicht zur Textkritik herangezogen worden waren, kritisch geprüft und ausgewertet zu haben 66 . Für das Armenische hat er sich dabei der Hilfe der Armenologin Manja S. S I R I N J A N (Erevan) bedient, die sich seit längerem mit der Erforschung des armenischen Sokrates-Textes beschäftigt 67 . Die textkritische Bewertung dieser wertvollen Übersetzung ist aus einer Reihe von Gründen besonders problematisch. Als Verständnishintergrund dazu soll kurz die Geschichte der Erforschung dieses Textes skizziert werden, von der hier noch nicht die Rede war, obgleich es sich um einen wichtigen und vielversprechenden Zweig der Forschung handelt.

" Z u Handschriften u n d Überlieferung des S o z o m e n o s u n d des T h e o d o r e t vgl. HANSEN, Sozomenus [1.2.] ix-xxxiii u n d PARMENTIER, Theodoret [1.2.] IX-XL. Bei T h e o d o r e t sind allerdings auch (verhältnismäßig kleine) F r a g m e n t e einer syrischen Übersetzung erhalten, die M. A. KUGENER f ü r PARMENTIERS E d i t i o n a u s g e w e r t e t h a t , v g l . PARMENTIER XVII f. 64

HANSEN w a r schon an der 1960 erschienenen Sozomenos-Edition maßgeblich beteiligt; 1971 besorgte er die Ausgabe des T h e o d o r a s Anagnostes. Beide Werke erschienen 1995 gleichzeitig mit Sokrates in überarbeiteten Neuausgaben. 65 Die beiden H a u p t z e u g e n , die Laurentiani 69,5 u n d 70,7 (F u n d M), lagen auch schon den E d i t i o n e n v o n VALOIS [ 1 . 1 . ] u n d HUSSEY [ 1 . 1 . ] z u g r u n d e , j e d o c h i n u n s y s t e m a t i s c h e r u n d

unzuver-

lässiger Weise, ebenso der im Marcianus gr. 344 überlieferte erste Teil des T h e o d o r a s Anagnostes (T). Zusätzlich hat HANSEN d e n eigenwilligen Athoscodex Xeropotamou 226 (A, „ein C h a m ä l e o n unter den Handschriften", HANSEN [1.1.] xxii) eingearbeitet u n d eine Reihe von weiteren Handschriften auf ihre Abhängigkeit von den H a u p t z e u g e n hin untersucht. Z u d e n Handschriften u n d z u m Wert der Überlieferung vgl. HANSEN IX-XXIV. Einen Hinweis auf den in der Edition nicht berücksichtigten, allerdings textkritisch irrelevanten Codex Dresdensis A 85 trägt HANSEN, Handschrift [3.1.] nach. 66 Für die syrische Übersetzung, die verstreut in m e h r e r e n F r a g m e n t e n überliefert ist, k o n n t e dabei auf keinerlei Vorarbeiten zurückgegriffen w e r d e n - w e d e r auf eine Edition noch auf Forschungsergebnisse. (Sogar wichtige Handschriften w u r d e n erst 1987 entdeckt, vgl. ALLAN, Fragments [3.1.].) Gleichwohl ist ihr textkritischer Wert hoch zu veranschlagen, vgl. HANSEN [1.1.] xxxiXXXIII. Wichtige B e m e r k u n g e n zur syrischen Überlieferung finden sich jetzt auch bei WITAKOWSKI, Sources (Second Part) [3.2.] 183 f. Längst b e k a n n t w a r natürlich die lateinische Ü b e r s e t z u n g des Epiphanius im A u f t r a g des Cassiodor; doch ist seit VALOIS durch die kritische Edition dieser Historia tripartita

(1952, JACOB/HANSLIK [1.2.]) u n d v e r s c h i e d e n e U n t e r s u c h u n g e n e r h e b l i c h e r

Erkenntnis-

gewinn erzielt w o r d e n , der f ü r die Textkritik zu berücksichtigen ist, vgl. HANSEN XXIV f. 67 Sie hat nicht n u r „Hilfe b e i m Vergleich der altarmenischen Version an vielen H u n d e r t e n von Einzelstellen" geleistet (HANSEN [1.1.] xxv, Anm. 4), sondern auch den Abschnitt ü b e r Datierung, Verfasserschaft u n d literarische Eigenart der armenischen Übersetzung zur Einleitung der Edition beigesteuert (S. xxv-xxvm). Z u ihren weiteren Arbeiten s. u n t e n bei A n m . 74.

24

1. Einleitung

In d e n H a n d s c h r i f t e n sind z w e i Fassungen unterschiedlicher L ä n g e überliefert, der s o g e n a n n t e „ G r o ß e " u n d der „Kleine Sokrates". Beide Fassungen liegen i m D r u c k vor, n ä m l i c h in einer 1897 v o n M e s r o p V TÊR-MOVSÊSEAN b e s o r g t e n Edition 6 8 , die sich allerdings i m wesentlichen a u f eine einzige Handschrift stützt, o b gleich deren m e h r e r e b e k a n n t sind 6 9 . K u r z darauf erschien eine „Kollation des g e d r u c k t e n Sokrates u n d (einer) Jerusalemer H a n d s c h r i f t " m i t zusätzlichen arten 7 0 . D e r f ü r die Textkritik allein

fruchtbare

Les-

„ G r o ß e Sokrates" ist 1914/15 v o n

Frederick C . CONYBEARE m i t d e m griechischen Text verglichen w o r d e n ; die w i c h tigsten Varianten sind f ü r d e n des A r m e n i s c h e n u n k u n d i g e n Leser durch englische Ü b e r s e t z u n g e n z u g ä n g l i c h g e m a c h t 7 1 . Paul PEETERS b e m ü h t e sich 1934, a u s g e h e n d v o n den K o l o p h o n e n der Jerusalemer Handschrift, u m die D a t i e r u n g s - u n d Verfasserfrage des „ G r o ß e n Sokrates" u n d u m genauere A u s s a g e n über seinen Sitz i m L e b e n 7 2 . Einige armenische A u t o r e n w i d m e t e n sich der inner-armenischen Wirk u n g s g e s c h i c h t e des Werkes, insbesondere d e m Verhältnis z u M o s e s v o n C h o r e n 7 3 . Seit 1982 ist M a n j a S. SIRINJAN durch eine Reihe v o n V e r ö f f e n t l i c h u n g e n hervorgetreten, in d e n e n sie verschiedene A s p e k t e der a r m e n i s c h e n Ü b e r l i e f e r u n g z u klären versucht 7 4 . Z u den Ergebnissen g e h ö r t n e b e n den Beiträgen z u r E d i t i o n u n d Textkritik die

Frühdatierung

des „ G r o ß e n

Sokrates"

auf

die

erste

Hälfte

des

sechsten Jahrhunderts 7 5 u n d seine E i n o r d n u n g in die philhellenische Schule 7 6 .

68 Das Buch ist sehr selten. D a r u m sei hier auf z w e i Bibliotheken hingewiesen, in denen es vorhanden ist: Biblioteca Apostolica Vaticana, R o m , und Bayerische Staatsbibliothek, M ü n c h e n . N e b e n d e m „ G r o ß e n " u n d d e m „Kleinen Sokrates", die jeweils synoptisch auf einer Seite (oben u n d unten) abgedruckt sind (S. 1-690), enthält die Edition die armenische Ü b e r s e t z u n g der Vita Silvestri, die in den Handschriften z u s a m m e n mit Sokrates überliefert ist (S. 691-799), sowie die ausführliche neuarmenische Einleitung (S. II ÁU). 6 ' SIRINJAN (in: HANSEN [1.1.] xxvi) spricht v o n „einer einzigen, bei w e i t e m nicht der besten Handschrift"; daneben sind auch weitere Handschriften berücksichtigt, j e d o c h in unbefriedigender Weise, vgl. PEETERS, Version [3.1.] 311 und PÉRICHON, Edition [3.1.] 116. Z u r Handschriftenlage s. unten A n m . 77. 70 D e r erste Teil mit den Lesarten z u Buch 1 w u r d e schon 1897 in Valarsapat g e d r u c k t (SAHAK/ MESROP, Baldatowt'iwn [3.1.], vorhanden in der Bibliothek des armenischen Patriarchats Jerusalem und in der Biblioteca Apostolica Vaticana, Rom), die vollständige Kollation dann 1898 in Jerusalem (SAHAK, Baldatowt'iwn [3.1.], vorhanden in Jerusalem und in der Library of Congress, Washington). Es handelt sich u m die Handschrift Nr. 2014 (13./14. Jh.), vgl. BOGHARIAN, Catalogue [2.] 7,30-32. 71 CONYBEARE, Emendations [3.1.] (Buch 1-3); Collation [3.1.] (Buch 4-7). D e r zweite Aufsatz befindet sich in d e m Zeitschriftenband von 1918, doch ist der ihn enthaltende Faszikel schon 1915 erschienen. 72 PEETERS, Venion [3.1.]. In m a n c h m a l etwas spekulativer Weise entwirft er das Bild eines a m Ende des siebten Jahrhunderts in G e o r g i e n arbeitenden Übersetzers (s. auch unten A n m . 78). 7 3 Diese zumeist in den Mechitharisten-Zeitschriften Handes Amsorya (Wien) u n d Bazmavep (Venedig) erschienenen Beiträge sind bei THOMSON, Bibliography [2.] 83 f. verzeichnet. Ich habe daher darauf verzichtet, sie hier i m Literaturverzeichnis aufzuführen. 74

PedaKifu»

[3.1.]; SnaneHue

[3.1.]; Ricerche

(—

Tpyd) [3.1.]; B e i t r a g z u r E i n l e i t u n g i n : HANSEN

[1.1.] xxv-xxviii; Notes [3.1.] 75

SiRiNjAN, Ricerche [3.1.] 166, viel vorsichtiger in: HANSEN [1.1.] xxvm.

76

V g l . ν a. δIRINJAN, Notes [3.1.], s o w i e in: HANSEN [1.1.] x x v i f.

1.2. Forschungsgeschichtlicher Überblick

25

Bei Durchsicht dieser Forschungsliteratur wird deutlich, daß viele wichtige Fragen entweder nicht hinreichend geklärt oder noch nicht einmal gestellt sind (von einem Konsens der Forschung gar nicht zu reden). Es gibt keine vollständige und präzise Auflistung der Handschriften (geschweige denn eine Untersuchung ihres Alters und Wertes und ihrer Abhängigkeitsverhältnisse)77. Datierung und Verfasserschaft des „Großen" und des „Kleinen Sokrates" sowie das Verhältnis der beiden Fassungen zueinander sind gleichfalls unklar78. Schließlich fehlt es an einer

77

D i e v a g e n I n f o r m a t i o n e n b e i CONYBEARE, Emendations

[3.1.] 208, PEETERS, Version [3.1.] 311

und PERICH ON, Édition [3.1.] 116 gehen sämtlich auf die Angaben in der Praefatio von TÊRMOVSÊSEAN [1.1.] hb-LC

z u r ü c k . D i e M i t t e i l u n g e n b e i SIRINJAN, PedaKHun [3.1.] 231 f., Ricerche

[3.1.]

156 und in: HANSEN [1.1.] xxvi gehen etwas darüber hinaus, sind aber ebenfalls bei weitem nicht erschöpfend. — Nur der Handschriftenbestand des armenischen Patriarchats in Jerusalem ist bislang durch einen umfassenden Katalog erschlossen (BOGHARIAN, Catalogue [2.]). Daraus ergibt sich, daß unter den dortigen Handschriften nur eine, nämlich der von Bischof SAHAK kollationierte Codex 2014, den „Großen Sokrates" enthält (s. Anm. 70). Vier weitere Handschriften überliefern den „Kleinen Sokrates" (960, 999, 1117, 2781). Ich danke Erzbischof BOGHARIAN f f ü r seine Auskünfte über diese Handschriften. Die Findeliste z u m Bestand im Matenadaran (Erevan) ist zu knapp, u m sicheren Aufschluß darüber zu gewinnen, w o der „Kleine" und w o der „Große Sokrates" vorliegt oder w o es sich überhaupt nur u m Exzerpte aus einem der beiden handelt (EGANYAN, Kamanoe [2.]). Schon 1907 machte SAHAKEAN, Sokrati [3.1.] auf eine weitere Handschrift, den Codex 1806 der Venezianer Mechitharisten, aufmerksam, doch ist dieser Hinweis, soweit ich sehe, bisher nirgends beachtet worden. Auch hier ist noch keine Kontrolle an einem gedruckten Katalog möglich. 78 Entscheidend f ü r diese Fragen sind zwei Kolophone in den Handschriften, die das D a t u m 696 und die Person des P'ilon Tirakac'i als Urheber nennen (zuerst bei TÊR-MOVSÊSEAN [1.1.] d a s z w e i t e a u c h b e i SAHAK, Baldatowt'iwn

[3.1.] 87, d a n a c h a b g e d r u c k t b e i PEETERS, Version [3.1.]

312 f. mit französischer u n d bei SIRINJAN, PedaKuux [3.1.] 231 f. mit russischer Übersetzung). Es ist jedoch umstritten, ob diese Angaben auf den „Großen Sokrates" (so PEETERS) oder den „Kleinen Sokrates" (so SIRINJAN, auch in: HANSEN [1.1.] xxvii) zu beziehen sind. In ersterem Falle sind dadurch Datierungs- und Verfasserfrage gelöst, und es m u ß nur noch genauer untersucht werden, wer der Verfasser war, w o und mit welchen Anliegen er gearbeitet hat (PEETERS, S. oben Anm. 72). Andernfalls gibt das Jahr 696 lediglich einen terminus ante quem, so daß Datierungen v o m Ende des f ü n f t e n Jahrhunderts (so CONYBEARE zitiert bei SIRINJAN, Ρεόακμωι 232) über die erste Hälfte des sechsten Jahrhunderts (so SIRINJAN, Ricerche [3.1.] 166) bis z u m Ende des siebten Jahrhunderts möglich sind. Die Fragen nach Person, Ort und Anliegen des Verfassers sind dann ganz offen (SIRINJAN in: HANSEN XXVIII denkt aufgrund der philologischen Nähe z u m Griechischen an einen Konstantinopolitaner Übersetzer). Über den „Kleinen Sokrates" ist zwar so viel klar, daß er eine etwas kürzere, im Armenischen leichter veständliche und insgesamt „erbaulichere" Fassung darstellt, aber Datierung u n d Verfasserfrage wären noch genauer zu prüfen. Er scheint eine Umarbeitung des „Großen Sokrates" zu sein (so SIRINJAN, Ricerche 157 und in: HANSEN XXVII f.) und nicht davon unabhängig auf das griechische Original zurückzugehen. — Z u r Klärung des Problems der Kolophone wäre ihre Stellung und Überlieferung in den Handschriften näher zu untersuchen. In den von mir geprüften Jerusalemer Handschriften stehen die Texte nur in der Hs. 2014 des „Großen Sokrates", nicht jedoch in den Hss. 960, 999, 1117, 2781 des „Kleinen Sokrates". Das erste Kolophon steht dort merkwürdigerweise zu Beginn der Handschrift (allerdings ist die Seite stark beschädigt, der ergänzte Text bei BOGHARIAN, Catalogue [2.] 7,31), das zweite an seinem offenbar ursprünglichen Platz zwischen Sokrates und der Vita Silvestri (S. 456 der Hs., vgl. BOGHARIAN 3 2 ) .

26

1. Einleitung

genauen Bestimmung der Intentionen und Tendenzen für beide Fassungen 79 . Dennoch ist so viel deutlich, daß eine eingehende Untersuchung dieser Fragen weit über die Textkritik des griechischen Sokrates hinaus von großer Bedeutung für die armenische Literatur- und Kirchengeschichte wäre. Um auf die Textkritik zurückzulenken: Zwei wichtige Feststellungen, die HANSEN und SIRINJAN herausgearbeitet bzw. bestätigt haben, dürfen als hinreichend gesichert gelten. Erstens: Der armenische Übersetzer (des „Großen Sokrates", um den es hier allein geht) hatte einen wesentlich besseren griechischen Text vor sich, als er sich in den Handschriften erhalten hat80. Zweitens: Seine Übersetzungsweise versucht, dem Original bis in Syntax und Wortstellung hinein sklavisch treu zu sein - bis an die Grenze der Verständlichkeit im Armenischen 81 . Der textkritische Wert des Armeniers ist also sehr hoch zu veranschlagen. Er wird andererseits jedoch durch folgende Punkte begrenzt. Erstens: Ungeachtet seiner sonstigen Zuverlässigkeit hat der Armenier nachweislich eigenmächtige Einfügungen, Kürzungen und Änderungen unterschiedlicher Absicht und Tendenz vorgenommen 82 . Zweitens: Trotz der extrem treuen Wiedergabe des Originals, wie sie für die philhellenische Schule typisch ist83, handelt es sich um eine Übersetzung; das bedeutet, daß insbesondere bei Fragen der Wortstellung, beim Gebrauch (oder Nichtgebrauch) von Partikeln und Konjunktionen wie μεν, δε, καί, η etc. und bei Personal-, Possessivund Demonstrativpronomen der Rückschluß auf das Original mit Unsicherheiten behaftet bleibt 84 . Drittens: Beim gegenwärtigen Stand der Forschung stellen sich der Auswertung große Probleme entgegen. Nicht nur bietet die Edition von TÊRMOVSÊSEAN (zusammen mit den von Bischof SAHAK beigebrachten Lesarten) einen verhältnismäßig unsicheren Text, sondern die Arbeitsweise des Übersetzers ist auch nicht hinreichend geklärt (was nötig wäre, um seine Eingriffe in den Text zu-

79 SIRINJAN, Ricerche [3.1.] 155 f. (und in: HANSEN [1.1.] xxvn) sieht in Sokrates' Werk eine gewisse Affinität z u m Monophysitismus und sucht, dadurch das Interesse der Armenier an dem Werk zu erklären. O b die z u m Beleg dieser These angeführten Stellen 7,32,13 und 6,7 dafür ausreichen, scheint mir fraglich zu sein. Dennoch ist es gut denkbar, daß die „Toleranz" des Sokrates das Werk für philhellenische, antichalkedonensische Armenier interessant gemacht hat. 80 Davon waren schon PREUSCHEN, Rez. zu GEPPERT [3.1.], CONYBEARE, Emendations [3.1.] 208 und PEETERS, Version [3.1.] 311 ausgegangen. Diese Einschätzung ist von HANSEN [1.1.] xxvm f. vor allem durch den Nachweis zahlreicher Übereinstimmungen mit Theodoros Anagnostes eindrucksvoll bestätigt worden, vgl. auch SIRINJAN, Snanenue [3.1.]. 81 So schon PEETERS, Version [3.1.] 311, jetzt mit detaillierteren Nachweisen SIRINJAN, 3naHeHue [3.1.]; Notes [3.1.] und in: HANSEN [1.1.] xxvi f. 82 Vgl. die Zusammenstellung der Interpolationen bei HANSEN [1.1.] xxxi, w o 389,16 z u z u f ü g e n ist. Auch bei den von HANSEN XXIX unter der Rubrik „unentbehrliche oder jedenfalls bereichernde Zusätze z u m griechischen Text" gesammelten Stellen sind einige, deren Beurteilung zumindest problematisch ist. Hinzu k o m m e n Textauslassungen sowie „eine lange Liste v o n Mißverständnissen und Verwechslungen griechischer W ö r t e r " (HANSEN XXX f.). 83 Z u r philhellenischen Schule vgl. die bei SIRINJAN, Notes [3.1.] 79, A n m . 1 angegebene Literatur. Bei diesem T h e m a harren allerdings viele Fragen noch einer tiefergehenden Klärung. 84 Wichtige allgemeine Hinweise über die Grenzen der textkritischen Aussagekraft derartiger armenischer Übersetzungen gibt RHODES, Limitations [3.5.].

1.2. Forschungsgeschichtlicher Überblick

27

treffend beurteilen zu können). Dazu wäre es auch wichtig zu wissen, wann und wo er gearbeitet hat. Aus diesen Feststellungen ergeben sich m. E. folgende Regeln zur Textkritik, die manchmal zu einer etwas von H A N S E N abweichenden Bewertung führen. Erstens: Der Armenier hat immer dann großen Wert, wenn er mit irgendeinem anderen Zeugen zusammengeht. Zweitens: Für sich allein sollte er nur dann den Ausschlag geben, wenn die sonstige Überlieferung entweder unverständlich oder in sich gespalten ist. H A N S E N nimmt in einzelnen Fällen Zufügungen zum griechischen Text oder Streichungen allein aufgrund des Armeniers vor, die mir als nicht hinreichend gesichert erscheinen85. Im übrigen ist der Wert seiner Edition dadurch nicht gemindert, denn die fraglichen Passagen stehen fast stets in ( . . . ) bzw. { . . . } im Text (und nicht nur im Apparat), so daß die kritische und eigenständige Urteilsbildung des Lesers ermöglicht (und herausgefordert) wird. Für die vorliegende Studie wie auch für alle künftige Arbeit an Sokrates ist es ein kaum zu überschätzender Vorteil, daß es nun endlich möglich ist, sich ein zuverlässiges und realistisches Bild von Überlieferung und Gestalt des Sokrates-Textes zu machen. Zum Abschluß des Durchgangs durch die Forschungsgeschichte ein Ausblick auf die Zukunft: An der Universität Bern bereiten derzeit der Kirchenhistoriker Martin G E O R G E und der Klassische Philologe Heinz-Günther N E S S E L R A T H eine kommentierte Übersetzungsausgabe des Sokrates auf der Basis des von H A N S E N erarbeiteten Textes vor 86 . Damit wird nicht nur zum ersten Mal die Kirchengeschichte ins Deutsche übertragen und so einem weiteren Leserkreis zugänglich gemacht, sondern auch der erste und bisher einzige Kommentar, der des Henri VALOIS von 1668, durch ein Werk auf dem heutigen Stand der Forschung abgelöst.

85

Beispiele für m. E. ungerechtfertigte Zusätze: HANSEN [1.1.] 45,7; 69,8; 80,9 (s. unten S. 265,

A n m . 252); 207,3; 210,19; 211,3; 215,6.8; 252,1-7; 283,15 (vgl. 284,7!); 283,19.23.24; 284,10; 302,1; 344,7 ( t r o t z Cass.!); 356,20; 357,23; 366,32; 376,26 f.; 381,3.5.7. U n g e r e c h t f e r t i g t e T i l g u n g e n : 4,2; 5,8; 21,2225; 95,24; 233,29; 257,22; 277,20; 356,20; 379,24; 390,27 f.; 391,19. 86

Briefliche Mitteilung von Prof. Dr. M. GEORGE vom 6.12.95, vgl. auch HANSEN [1.1.] xun.

2. Die Darstellung der Geschichte

2.1. Kirchen- und dogmengeschichtliche Entwicklungen Unter den thematischen Querschnitten dieses Kapitels nehmen - wie bei einer Kirchengeschichte nicht anders zu erwarten - die Entwicklungen im kirchlichen Bereich den breitesten Raum ein. Auch innerhalb dieses Bereichs kann und soll hier keine vollständige Analyse vorgelegt werden (das wäre Aufgabe eines Kommentars). Nach einem Eingangsabschnitt zur Begrifflichkeit (2.1.1.) werden exemplarisch drei Themenbereiche untersucht. Bei der Auswahl liegt der Schwerpunkt auf den hinteren Teilen des Werkes (Buch 6, Johannes Chrysostomos: 2.1.3. und Buch 7, Kirchliche „Zeitgeschichte": 2.1.4.), erstens weil Sokrates dort selbständiger arbeitet, so daß sich sein Profil deutlicher erkennen läßt, und zweitens weil gerade in diesem Bereich sein Bericht für unsere Kenntnis der Ereignisse besonders wichtig ist. Zusätzlich wird ein wichtiger Themenkomplex vom Anfang des Werkes analysiert (Die Anfänge des arianischen Streites und das Konzil von Nikaia: 2.1.2.), um die Arbeitsweise des Kirchenhistorikers auch dort studieren zu können, wo er nicht aus erster Hand berichtet, sondern sein Bild aus (großenteils erhaltenen) schriftlichen Quellen zusammensetzt. Für den weiteren Verlauf des arianischen Streites ist im übrigen auf die von T. D. B A R N E S jüngst vorgelegte Analyse von Sokrates' Buch 2 zu verweisen 1 .

2.1.1. Begrifflichkeit für Kirche und Kirchenparteien Schon im Titel εκκλησιαστική ιστορία wird deutlich, daß das Werk des Sokrates es wesentlich mit der Kirche zu tun hat. Was genau das heißen soll, ist indessen nichts weniger als unproblematisch. Kann man den Titel überhaupt von der εκκλησία im Singular ableiten oder wäre es zu Sokrates' Zeit nicht eher angemessen, von einer Pluralität von Kirchen zu sprechen? Und wenn man den Plural verwendet, sind dann die verschiedenen Kirchenparteien oder die einzelnen Ortskirchen mit ihren je unterschiedlichen Traditionen gemeint? Oder konkrete Gemeinden mit ihren Kirchbauten? Wo verlaufen die Grenzen der εκκλησία? Wer gehört dazu und wer nicht? Es lohnt sich also, der Frage nachzugehen, was genau Sokrates

1

BARNES, Athanasius

[3.4.] 200-208.

2. Die Darstellung der Geschichte

30

mit dem Wort εκκλησία meint 2 . Das weite semantische Feld, das von εκκλησία bezeichnet wird, überschneidet sich an manchen Stellen mit dem anderer Begriffe, etwa αϊρεσις, θρησκεία, -ττίστις, ευκτήριος τόττος/οίκος. Auch deren Verwendung bei Sokrates ist zu untersuchen. Schließlich kann man auch den umgekehrten Weg gehen und von der Sache zu den Begriffen zurückfragen, also: Mit welchen Worten werden Kirchbauten, Ortsgemeinden, kirchliche Parteiungen, Häresien usw. bezeichnet? Angesichts des überaus weiten Bedeutungsspektrums von εκκλησία 3 überrascht es nicht, daß das Wort bei Sokrates sehr häufig belegt ist: Einschließlich des abgeleiteten Adjektives εκκλησιαστικός kommt es in Sokrates' Text 46omal vor - nicht gerechnet die von ihm zitierten Urkunden. Dabei lassen sich in etwa fünf Hauptbedeutungen ausmachen: 1. Die Kirche als Institution im allgemeinen („Christenheit", etwa im Gegensatz zum Staat); 2. Eine bestimmte kirchliche Partei (im Gegensatz zu anderen kirchlichen oder häretischen Gruppen); 3. Ortskirche im Sinne eines Bischofssitzes; 4. Einzelgemeinde (innerhalb einer Diözese); 5. Kirchengebäude. Selbstverständlich sind die Bedeutungen nicht immer scharf gegeneinander abgegrenzt, und es dürfte nicht selten beabsichtigt sein, wenn an manchen Stellen mehrere Bedeutungen anklingen. Um mit der dritten, einigermaßen scharf umgrenzten Bedeutung zu beginnen: In diesem Sinne begegnet εκκλησία in den zahlreichen Nachrichten über Besetzungen von Bischofsämtern, Tod und Nachfolge wichtiger Bischöfe usw., besonders zur Bezeichnung der großen und bedeutenden Ortskirchen wie Alexandrien, Antiochien, Rom und Konstantinopel 4 . In den meisten dieser Fälle steht das Wort 2

Eine methodische Vorbemerkung: Es wird im folgenden differenziert zwischen Sokrates'

Text und den von ihm als wörtliches Zitat kenntlich gemachten Passagen (Urkunden etc.), die nicht herangezogen werden, u m den spezifischen Sprachgebrauch unseres Autors zu studieren. Es wird jedoch nur in Einzelfallen bei den von Sokrates selbst formulierten Textteilen auf seine Quellen zurückgegangen; zu diesem Verfahren berechtigt die Beobachtung, daß Sokrates sich bei aller Zuverlässigkeit beim U m g a n g mit seinen Quellen durchaus die Freiheit nimmt, Formulierungen im einzelnen in seinem Sinne abzuändern, will sagen: Er schreibt die Quellen nicht sklavisch aus, sondern prägt durchgehend seinen persönlichen Stempel auf (zu seiner A r t der Quellenverwendung im einzelnen s. unten S. 185 ff.). 3

Für die Einordnung des Befundes bei Sokrates in den allgemeinen patristischen Sprachge-

brauch ergibt sich die Schwierigkeit, daß es an einer Studie zu diesem T h e m a bislang fehlt. W ä h rend die neutestamentlich-nachapostolische Zeit in dieser Hinsicht sehr intensiv erforscht ist (vgl. neben den Artikeln ε κ κ λ η σ ί α bei BAUER/ALAND [2.] und im ThWNT

die allermeisten Einträge bei

SIEBEN, Voces [2.] s. v.), ist für die hier interessierende Zeit nur auf das ausführliche L e m m a bei LAMPE [2.] 429-433 als erste Orientierungshilfe zu verweisen (der Artikel von LINTON, Ekklesia

[3.4.]

ist w e n i g ergiebig). 4

Ζ . B. 1,9,16; 1,24,8; 2,15,3; 4,1,14; 5,3,1; 7,9,1; 7,11,1 f. und viel öfter; das Wort „Patriarchat" wird

nicht verwendet; zur Stellung der genannten großen Bischofssitze (den späteren Patriarchaten) s. unten S. 114 f.

2.1. Kirchen- und dogmengeschichtliche Entwicklungen

31

im Singular, gelegentlich aber auch im Plural. Wenn nicht einfach mehrere Bischofssitze gemeint sind, könnte man vermuten, daß an die einzelnen Kirchengebäude in einer größeren Stadt oder Provinz gedacht ist. Das m a g gelegentlich so sein 5 , doch häufig macht diese Pluralverwendung deutlich, daß im fünften Jahrhundert die bischöflich geleitete Gemeinde längst nicht mehr die kleinste kirchliche Organisationseinheit war, sondern daß faktisch der Bischof - zumal in den großen Städten - Leiter einer Vielzahl von έκκλησίαι war, hier also im Sinne von Einzelgemeinden (Bedeutung 4). Der Bischof von Konstantinopel kann als ττροεστώς τ ω ν εκκλησιών (Pl.!) bezeichnet werden 6 ; seine Aufgabe ist die κ η δ ε μ ο ν ί α 7 und die δ ι δ α σ κ α λ ί α τ ω ν εκκλησιών 8 . Die Versammlungsräume dieser Einzelgemeinden können ebenfalls als εκκλησ ί α bezeichnet werden - oder auch als ευκτήριος τόττος oder οίκος 9 . Bei größeren, monumentalen Kirchbauten wird ε κ κ λ η σ ί α vorgezogen, wobei freilich von ευκτήριος οίκος die Assoziation „Kapelle" oder „Hauskirche" fernzuhalten ist; auch mit diesem W o r t werden durchaus massive Kirchbauten benannt 1 0 . Andere Worte zur Bezeichnung von Kirchbauten verwendet Sokrates nicht 1 1 ; insbesondere das W o r t ν α ό ς bezeichnet ausschließlich pagane Heiligtümer oder den jüdischen

5

6

V g l . e t w a 1 , 2 7 , 1 3 ; 2 , 1 5 , 5 ; 6 , 8 , 2 ; 6,14,6; 7,28,3.

2,6,2; 4,9,3; 7,17,1; die beiden letztgenannten Stellen beziehen sich auf den novatianischen Bischof der Hauptstadt. Darum ist es wenig wahrscheinlich, daß bei dieser Redeweise schon an die überregionale Leitungsfunktion des späteren (großkirchlichen) Patriarchats gedacht ist (so auch VOGT, Coetus [3.4.] 239). In 2,18,7 IST der Ausdruck auf einen anderen Bischofssitz bezogen (Sirmium). 7 6,11,13 (beide Spalten); vgl. auch 4,26,11. 8 6,10,9; vgl. auch 6,11,4. In 7,12,8 ist in einem ganz ähnlichen Ausdruck von den novatianischen Gemeinden Konstantinopels die Rede. ' Diese Benennung ist seit Euseb bei den Christen geläufig, vgl. MOHRMANN, Dénominations [3.4.] 212; besonders in der Vita Constantini ist der Ausdruck oft belegt, vgl. das Wortregister s. v. ευκτήριος, sowie VOELKL, Kirchenbauten [3.4.] 56 f. und BARTEUNK, Maison [3.4.] 112-116; zur weiteren Entwicklung des Begriffs ebd. 116-118. 10 Die Ausdrücke εύκτηριον (8 Belege), ευκτήριος τόττος (I2) und ευκτήριος οΐκος (17) werden ohne großen Bedeutungsunterschied gebraucht (allerdings wird ε. οΐκος vorgezogen, wenn es um den Bauvorgang selbst geht). Die großen Kirchen Konstantinopels (Hagia Sophia, Apostelkirche) heißen durchweg εκκλησία, doch die Grabeskirche in Jerusalem (1,17,7; 1,28,1) oder die von Konstantin erbaute Kirche in Mamre (1,18,6) können ευκτήριος οΐκος genannt werden, obgleich beide groß und sehr monumental waren (was Sokrates allerdings womöglich nicht so umittelbar klar war wie bei den Konstantinopolitaner Kirchen, die er aus eigener Anschauung kannte). Umgekehrt muß es sich bei der Novatianer-έκκλησία in 2,38,17-25 um eine recht windige Konstruktion gehandelt haben, wenn der ganze Bau von der Gemeinde selbst in relativ kurzer Zeit transferiert werden konnte. 11 Allenfalls wäre das gelegentlich verwendete μαρτύριον (ζ. Β. 4,Ι8; 6,6,12.23; 6,12,2) zu nennen, das freilich nicht einfach Kirche heißt, sondern spezifisch für eine Märtyrergedenkstätte steht. Nicht belegt sind insbesondere κυριακόν, οΐκος θεού, βασιλική ττροσευκτήριον; vgl. zu diesen an sich durchaus üblichen Benennungen MOHRMANN, Dénominations [3.4.] 220-227. Zumal die drei letztgenannten Ausdrücke verwendet auch Euseb recht häufig, vgl. VOELKL, Kirchenbauten [3.4.] 54-60 u n d BARTELINK, Maison

[3.4.] 1 0 4 - 1 1 2 .

32

2. Die Darstellung der Geschichte

Tempel in Jerusalem 1 2 . Bei den Bauten spielt es für die Terminologie keine Rolle, welcher Partei die Kirche gehört 1 3 . Anders, wenn εκκλησία als Abstraktbegriff gebraucht wird: Die Bedeutungsvarianten Nr. ι und 2 sind häufig schwer gegeneinander abzugrenzen. Oft steht εκκλησία - zumal im Singular - , wenn keine besondere Kirchenpartei gemeint ist, sondern einfach eine Sammelbezeichnung für die Christen überhaupt, etwa im Gegensatz zum Staat oder zum Heidentum. Hier wären auch die Spuren eines im engeren Sinne theologischen Sprachgebrauches bei Sokrates einzuordnen, wenn er beispielsweise von der διαίρεσις oder der τ α ρ α χ ή τ η ς εκκλησίας spricht 14 , beides nicht unbedingt auf eine bestimmte Gruppierung oder Institution bezogen. Doch sehr häufig steht εκκλησία ohne weitere Erklärung, um eine bestimmte Kirchenpartei zu bezeichnen, nämlich in den allermeisten Fällen die der Homousianer; sie sind gemeint, wenn von οί τ η ς εκκλησίας die Rede ist 15 . Allerdings ist das Wort keineswegs dieser Gruppe vorbehalten. Mit entsprechender Näherbestimmung oder, wenn es sich aus dem Zusammenhang klar ergibt, auch ohne eine solche kann häufig von der novatianischen εκκλησία gesprochen werden 1 6 , mitunter auch von der arianischen oder makedonianischen

εκκλησία 1 7 . Während

Sokrates'

Stellung zu den Novatianern noch eigens untersucht werden muß, ist es von vornherein klar, daß er den Arianern oder Makedonianern ablehnend gegenübersteht. Es ist also bemerkenswert, daß er ihnen den εκκλησία-Status zuerkennt. In solchen Fällen dürfte das έκκλησία-Sein schlicht an der Existenz einer Institution, eines Verwaltungsapparates, von Kirchenbauten und vielleicht auch an einem gewissen Maß an Anerkennung von staatlicher Seite hängen.

12 Der Bezug auf christliche Kirchen ist ansonsten gut belegt, vgl. LAMPE [2.] s. v. und bei Euseb: VOELKL, Kirchenbauten [3.4.] 52-54; das Wort wird auch von Sozomenos so gebraucht (vgl. Wortregister s. v.). Bei Sokrates wird es auf pagane Tempel bezogen in 1,3,1; 1,17,2; 1,18,1 f.; 3,1,39; 3,15,2; 4,24,17; 5,16,1; auf den Jerusalemer Tempel mehrfach in 3,20. Einzige Ausnahme bildet 7,33,4, w o ναός die Kirche meint - in A u f n a h m e des im folgenden wörtlich zitierten Verses. 13 In den Fällen, in denen nichts weiter erklärt wird, handelt es sich natürlich u m Kirchen der jeweils vorherrschenden Kirchenpartei, die eben die Kirchbauten besitzt, also meist der nizänischen, u m die Mitte des vierten Jahrhunderts der arianischen Partei. Sehr häufig wird aber auch von έκκλησίαι oder ευκτήριοι χόττοι der Novatianer berichtet (2,38,13.28; 3,11,3; 4,9,2.6; 5,20,6; 5,21,4.8.17; 6,11,13 (re. Sp.); 6,19,7; 6,22,9; 7,7,5; 7,9,2; 7,11,2 f.; 7,39,2-9). An einer Stelle kann sogar eine Synagoge ευκτήριος χόττος heißen (7,13,15). 14 τ α ρ α χ ή bzw. τ α ρ ά τ τ ε ι ν mit εκκλησία im Singular: 1,8,4; 2,6,4; 3,6,3; 4,13,3.6; 5,22,58; 6,11,12 (re. Sp.); 7,32,4; 7,40,4; mit Plural s. A n m . 19; zur Interpretation der f ü r Sokrates typischen Wendung s. bei A n m . 19 und S. 116. διαίρεσις bzw. διαιρεΤν: 1,18,15; 5,io,11.15; 5.20,2; 5,22,81; 7,25,2; 7,32,5· 15 2,21,5; 4,15,4 (in Abgrenzung gegen die Arianer); 2,38,5.25 f. (in Abgrenzung gegen die Novatianer); vgl. auch 1,23,5. In 6,4,2 und 6,15,11 wird der Ausdruck im Sinne von „Kleriker" verwendet. 16 Von der novatianischen εκκλησία ist die Rede in 1,13,1 f.; 4,9,3.5; 4,28,1.19; 5,14.8; 5,21,1.5.14; 7,5,2; 7,12,10 f.; 7,17,1; 7,46,1. Wohlgemerkt: An diesen Stellen geht es nicht u m einen novatianischen Kirchenbau, sondern u m die Bezeichnung der Kirchengemeinschaft als solcher! 17 Ein eindeutiger Bezug des Wortes εκκλησία auf die Arianer liegt in 2,35,13; 4,14,2; 7,6,9 vor; f ü r die Makedonianer ist 7,31,4 singular. Für beide Gruppierungen sind die Worte θρησκεία oder αϊρεσις viel häufiger; siehe dazu gleich im folgenden.

2.1. Kirchen- und dogmengeschichtliche Entwicklungen

33

Auf diesem Hintergrund werden manche Wendungen interessant, in denen Sokrates das Wort in anscheinend recht unreflektierter Weise in den Plural setzt. In welchem Sinne ist der Plural in den von Sokrates gern und häufig verwendeten Ausdrücken τ α τ ω ν εκκλησιών („die kirchlichen Angelegenheiten") 18 oder τ α ρ α χ ή τ ω ν εκκλησιών (bzw. τ α ρ ά τ τ ε ι ν τ ά ς εκκλησίας) 19 zu verstehen? Die nächstliegende und sicher mitgemeinte Konnotation ist zweifellos „Ortskirchen", doch es gibt einige Stellen, an denen der Plural eindeutig im Sinne von „kirchliche Parteien" gemeint sein muß. Das ist etwa der Fall, wenn die „Vorsteher der Kirchen" versuchen, den neuen Kaiser Jovian für sich zu gewinnen 20 , oder - noch deutlicher - , wenn im Zusammenhang des von Theodosios I. veranstalteten Religionsgesprächs von der „die Kirchen trennenden Streitfrage" die Rede ist 21 . So wird man in der Annahme nicht fehlgehen, daß auch bei den erwähnten Lieblingsausdrücken des Sokrates diese Bedeutung zumindest mitschwingt. Dieser Befund ist deshalb bemerkenswert, weil er dem theologischen Anspruch der Einheit der Kirche und faktisch auch dem Sprachgebrauch der patristischen Literatur zuwiderläuft 22 . Bei Sokrates ist εκκλησία nicht ein theologisches Prädikat, das per definitionem nur einer einzigen kirchlichen Gruppierung zukommen kann, sondern das Wort kann in allgemeinen Pluralformulierungen auch zur Bezeichnung einer Pluralität von Kirchenparteien dienen. Daß der Ausdruck in concreto dann doch ganz überwiegend für die - aus der Sicht des Autors - „guten" Parteien verwendet wird, zeigt freilich, daß damit dennoch eine positive Wertung verbunden ist. Vor der Behandlung der entsprechenden Negativbegriffe ist auf einige besondere Wendungen hinzuweisen, die Sokrates gerne in Zusammenhang mit εκκλησία gebraucht. Auffällig ist die Kombination mit dem Verb κρατεΤν bzw. dem Adjektiv εγκρατής, wenn etwa die homousianische Kirchenpartei als „oi ... νυν τ ώ ν εκκλησιών κρατούντες" bezeichnet wird (5,19,4). Dabei ist der Plural von εκκλησία etwas häufiger belegt als der Singular 23 . In den meisten Fällen wird dadurch die faktische Verfügungsgewalt über Kirchbauten zum Ausdruck gebracht, oft mit deutlich negativem Unterton („sich der Kirchen bemächtigen, an sich

18

1.33,2; 3,24.1; 3.26,4; 4,2,1; 4,4,1; 5,pr,9; 7,25,1; 7,37,19; 7,48,6 (gelegentlich auch in der Form τ α π ρ ά γ μ α τ α τ ω ν Εκκλησιών); in ähnlichem Sinne: ,,τά χριστιανών", 3,25,1. 19 1,8,2; 1,23,5; 2,40,21; 4,11,7; 7,34,14· Die Wendung ist auch mit εκκλησία im Singular häufig, s. Anm. 14; zur Interpretation s. auch unten S. 116. 2 0 „Ή-ροεστώτες τ ώ ν εκκλησιών", 3,24,1. 2 1 „ τ ο χ ω ρ ί ο ν τ ά ς εκκλησίας ζήτημα", 5,ι°,7; gleich anschließend wird als Ziel der Synode der Gegenbegriff benannt: „ομοφωνία ταΤς έκκλησίαις". Weitere Stellen, an denen der Plural von εκκλησία in erster Linie kirchliche Parteien meint: 2,15,8; 2,38,3; 6,pr,7. Auch der gleich noch näher zu besprechende Ausdruck ,,ή κ ρ α τ ο ύ σ α εκκλησία" (5,22,56) ist nur dann sinnvoll, wenn er eine bestimmte Partei - im Gegensatz zu anderen - meint. 2 2 Zumindest soweit man das nach LAMPE [2.] 429 f. beurteilen kann. Eine eingehendere Untersuchung gerade dieser Frage wäre allerdings sehr wünschenswert. Zur Vorstellung von der Einheit der Kirche im allgemeinen vgl. VON CAMPENHAUSEN, Einheit [3.4.]. 2 3 Der Ausdruck begegnet insgesamt 23mal, davon 14 Plural- und 9 Singularformulierungen. Die Stellen sind alle in den folgenden Anm. aufgeführt.

34

2. Die Darstellung der Geschichte

reißen")24. Darum kann in ganz ähnlicher Weise auch gesagt werden κρατείν τ ω ν ευκτήριων τόττων (ο'ι'κων)25. Davon abgeleitet kann die Wendung aber auch einfach dazu dienen, diejenige Kirchenpartei zu bezeichnen, die sich gerade „an der Macht" befindet, also sich staatlicher Unterstützung erfreut. Auch hier ist der kritische Unterton nicht zu überhören; es ist geradezu die Standardformulierung für die Herrschaft über die Kirche durch arianische Bischöfe um die Mitte des vierten Jahrhunderts 26 . Allerdings treten als Subjekt des κρατείν nicht nur die Arianer auf, sondern gelegentlich auch die anderen Parteien, Homousianer und Makedonianer 27 , bemerkenswerterweise aber nie die Novatianer28. Eine mögliche Erklärung könnte darin liegen, daß die Novatianer eben nie die politisch Begünstigten waren und aus diesem Grunde nie die Herrschaft über die Kirchen innehatten (im Sinne der großen Innenstadtkirchen; sehr wohl aber hatten sie überhaupt Kirchen - und wurden in diesem Besitz auch relativ ungestört gelassen). Darüber hinaus könnte natürlich auch Sokrates' eigene Stellung zu dieser Gruppierung eine Rolle spielen29. Hier ist auch die Rede von der κ ρ α τ ο ύ σ α εκκλησία (5,22,56) einzuordnen, die ja nur dann sinnvoll ist, wenn die „herrschende Kirche" im Gegensatz zu anderen Kirchen steht, deren έκκλησία-Sein damit nicht bestritten ist. Ähnlich wird - im staatlich-profanen Bereich - mit oi κρατούντες die Schicht der politisch Einflußreichen bezeichnet 30 . Der positive oder zumindest neutrale Gegenbegriff zu κρατείν lautet ττροϊστάναι (oder als Substantiv ττροεστώς); mit diesem Wort wird häufig der (legitime) bischöfliche Vorsitz einer Kirche bezeichnet 31 . Da diese Ausdrucksweise bei Sokrates keineswegs originell ist, sondern allgemeinem Sprachgebrauch entspricht32, lohnt eine eingehendere Untersuchung nicht. Es sei nur bemerkt, daß das Ίτροϊστάναι von Bischöfen aller Parteien ausgesagt werden kann 33 . Weiterhin ist ein Negativbefund im Zusammenhang mit εκκλησία zu bemerken: Es ist höchst auffällig, daß Sokrates die Qualifikation der εκκλησία als „katholisch" vermeidet. Obgleich die Wendung ή καθολική εκκλησία sehr geläu-

24

2,16,15; 2,27,1; 3,9,4; 5,3,2; 7,3,9; in 5,13,5 ist der A u s d r u c k w o h l nicht kritisch g e m e i n t .

25

4,1,17; 5,7,10; 5,10,28. 1,24,9; 2,11,6; 2,26,6; 2,45,10.16.18; 3,9,3; 4,1,16; 4,13,7; 4,22,3; 4,36,6; 5,3,1 f.4. H o m o u s i a n e r : 1,23,3; 3,24,3; 4,13,5; 5,13,5; 5,19,4; 6,1,2; 7,3,9; 7,9,2; 7,11,1; v g l . a u c h 5,10,28;

26 27

Makedonios bzw. Makedonianer: 2,16,15; 2,27,1; vgl. auch 4,1,17. 28 Etwas anders liegt der Fall in 7,12,5; dort ist der Ausdruck auf den schismatischen Novatianerpriester Sabbatios bezogen, der versucht, die Kirchen(-bauten) der novatianischen Gemeinde an sich zu reißen. 2 ' S. dazu unten den Abschnitt 4.2.2. 30

6,4,4; 6,5,9; 6,18,3; 7,29,1.11; 7,31,4.

31

Neben den oben in Anm. 6 und 20 angeführten Stellen vgl. 1,37,3; 2,26,7.9; 2,29,1; 2,30,44;

2,34,8; 2,39,19; 3,7,5; 3,24,1; 5,22,61; 6,11,2; 7,11,1; 7,37,6; 7,40,1; ä h n l i c h 1,6,35.

Vgl. LAMPE [2.] s. ν. ττροΐστημι, Bedeutung B. 6. b. v. Die Bischöfe der Arianer stehen allerdings meist einer θρησκεία oder αϊρεσις vor, nicht einer εκκλησία; s. dazu gleich im folgenden. 32

33

2.1. Kirchen- und dogmengeschichtliche Entwicklungen

35

fig war und in den von Sokrates zitierten Urkunden ziemlich häufig auftaucht 34 , kommt sie in den von ihm selbständig formulierten Texten kein einziges Mal vor. Auch unabhängig von εκκλησία ist das Wort καθολικός nur dreimal belegt, davon nur einmal in einem explizit ekklesiologischen Zusammenhang: In 5,21,14 stellt Sokrates die Praxis der kleinasiatischen Novatianer (wie auf der Synode von Pazos artikuliert) dem καθολικός κανών gegenüber. Damit dürfte aber nicht einfach die großkirchliche Praxis gemeint sein, sondern die übereinstimmende Regelung der Großkirche (seit Nikaia) und der Novatianer im Westen und in Konstantinopel35. Somit diente das Wort καθολικός hier nicht zur Bezeichnung der Großkirche im konfessionell-ausgrenzenden Sinne, sondern der „allgemein"-kirchlichen Praxis 36 . Der Befund hinsichtlich des Wortes ορθόδοξος ist ebenfalls weitgehend negativ. Nur an zwei Stellen begegnet die Wendung ή ορθόδοξος εκκλησία 37 ; das Nomen ορθοδοξία ist an keiner Stelle sicher belegt 38 . Natürlich stellt sich die Frage, wie die katholische bzw. orthodoxe Kirche dort bezeichnet wird, wo das Wort εκκλησία allein nicht genügt, sondern einer näheren Bestimmung bedarf. Von der κρατ ο ύ σ α εκκλησία war schon die Rede; ansonsten kommt der Ausdruck oi τ ο όμοούσιον φρονούντες in Betracht, der gleich noch genauer zu behandeln ist. Hier sei nur als ein Erklärungsansatz die Vermutung geäußert, daß Sokrates den Ausdruck Homousianer statt katholische oder orthodoxe Kirche wählt, um die Novatianer mit einzuschließen. Häufig im Zusammenhang mit εκκλησία ist das Substantiv κανών, also etwa εκκλησιαστικός κανών oder κανών της εκκλησίας. Damit wird eine allgemein rezipierte Regelung der Kirche bezeichnet, meist allerdings in einem etwas diffusen

34

1,6,4.27; 1,8,30.45; 1,9,7 f-32-39; 1,26,3.5; 2,18,6; 2,19,6 f.; 2,23,45.49; 2,30,9; 2,37,31.54.61.81; 2,40,17; 4,12,10.17; an den folgenden Stellen kommt das Adjektiv καθολικός ohne Bezug auf εκκλησία in Urkunden vor: 2,30,37; 2,37,i8.42.44(2x).48; 4,12,11 f.25.32.36. Z u m patristischen Sprachgebrauch vgl. LAMPE [2.] s. ν. κ α θ ο λ ι κ ό ς . 35

Vgl. auch §15; zu dieser Problematik insgesamt vgl. WALLRAFF, Geschichte [3.4.] IV Die Stelle 6,14,3, an der Johannes Chrysostomos eine καθολική διάγνωσις seines Falles fordert, kann mindestens ebenso gut im unspezifisch-profangriechischen Sinne von „allgemein" wie im ekklesiologischen Sinne von „die ganze ( - katholische) Kirche umfassend" verstanden werden. Der dritte Beleg ist 7,32,11, w o der „katholische" 1. Johannesbrief zitiert wird. 37 1,22,8 und 7,3,2. Von besonderem Interesse ist die zweite Stelle, an der Sokrates behauptet, militante Verfolgungen seien in der orthodoxen Kirche nicht üblich. Mithin steht hier nicht der wörtliche Sinn „rechtgläubig" im Vordergrund, sondern das Wort dient dazu, eine bestimmte kirchliche Gruppierung (eben die orthodoxe, d. h. dem Zusammenhang nach: homousianische Kirche) zu bezeichnen. 38 In 1,23,1 korrigiert HANSEN [1.1.] das im griechischen Text überlieferte ορθοδοξία aufgrund der armenischen Übersetzung zu αλήθεια (und beruft sich dabei mit Recht auf den sonstigen Sprachgebrauch des Sokrates, vgl. App. z. St.). Allerdings ist hier - neben der allgemeinen Problematik solcher Korrekturen (s. S. 27) - auf das Wortspiel mit κακοδοξία hinzuweisen, das m. E. ein wichtiges Argument für die Richtigkeit von ορθοδοξία darstellt. — In den von Sokrates zitierten Urkunden kommt „orthodox" (ähnlich wie „katholisch") nicht ganz selten vor: 3,25,12; 4,12,10.19. 22.28.34. Übrigens ist auch das Adjektiv έτερόδοξος nur einmal belegt (4,13,2). 36

2. Die Darstellung der Geschichte

36

Sinne („kirchliche Sitte und Gebrauch") 39 , nur gelegentlich im technischen Sinne einer offiziellen, von einer Synode sanktionierten, rechtlichen Bestimmung 40 . Neben εκκλησία gebraucht Sokrates eine Reihe weiterer Ausdrücke, um Kirchen und kirchliche Gemeinschaften zu bezeichnen. Man könnte vermuten, daß als Gegenbegriff zu εκκλησία das Wort αϊρεσις41 verwendet wird, um die „falschen" Glaubensgemeinschaften zu kennzeichnen. Das Wort ist in der Tat nicht selten belegt, der semantische Befund ist jedoch differenzierter. Neben wenigen Stellen, an denen αϊρεσις ohne jede kirchlich-religiöse Konnotation ganz einfach „(Aus-)Wahl" heißt42, wird das Wort durchweg auf christliche Glaubensgemeinschaften bezogen, erstaunlich selten jedoch auf eine einzelne Gruppierung. Vielmehr steht das Wort häufig im Plural und bezeichnet „alle kirchlichen Parteien" oder „die anderen kirchlichen Parteien", in letzterem Falle sind die „anderen" meist aus homousianischer (bzw. novatianischer) Perspektive gesehen 43 . Daneben gibt es auch eine Reihe von Fällen, in denen die αιρέσεις offensichtlich die Homousianer mit umfassen44. In der Singularverwendung und bei Bezug auf eine einzelne Partei spricht Sokrates von Arianern, Makedonianern und anderen45, nie jedoch von den Homousianern oder von den Novatianern 46 . Ebenso ist das Wort nie auf philosophische, jüdische oder pagane Lehren und Gemeinschaften bezogen. Den profan-griechischen Bedeutungsgehalt von „Lehrmeinung, Denkrichtung" hat das Wort schon ganz verloren und ist zum christlichen terminus technicus geworden 47 . Gleichwohl ist die im christlichen Bereich alsbald deutlich hervortretende negative Konno-

39

2,16,14; 2,37,26; 2,40,41; 3,5,2; 4,28,1; 5,19,2; in 1,17,12 muß so etwas wie ein amtskirchliches Register gemeint sein. Das Wort κανών (ohne εκκλησία oder Εκκλησιαστικός) kommt noch ö f t e r vor, v g l . das W o r t r e g i s t e r b e i HANSEN [1.1.] 483. 40 2,8,4; 2,17,7; 7.35,2; 7,36,1; überhaupt zeigt sich bei Sokrates kein besonderes Interesse an kirchenrechtlichen Angelegenheiten - anders als bei Sozomenos; s. unten S. 216. 41 Neben dem Eintrag bei LAMPE [2.] s. ν. αϊρεσις ist hier auf die gründliche Untersuchung von BROX, Häresie [3.4.] zu verweisen, besonders Sp. 259-264, vgl. außerdem WINKELMANN, Aspekte [3.4.] 93-103. 42 2,22,4; 2,23,1; 3,22,2; vgl. auch 4,6,8. 43 1,6,41; 2,30,46; 2,37,26; 4,29,1; 5,19,3; 5,24,10; 7,29,10; 7,41,6. 44 5,10,2; 7,17,8 (mit §15!); in 4,28,12 ist die Rede von den „anderen" αιρέσεις - aus novatianischer Perspektive; zu 7,46 s. unten bei Anm. 49. 45 Am häufigsten ist der Bezug auf die Arianer: 2,37,26; 3,6,3; 4,6,4; 5,12,7; 5,23,12 (Psathyrianer). Sabinos wird standardmäßig als ό της Μακεδονίου αίρέσεως ττροεστώς bezeichnet; 1,9,28; 2,15,8; 2,17,10; ansonsten αϊρεσις mit Bezug auf die Makedonianer nur in 5,8,2. Andere Gruppierungen: 1,27,7 (Melitianer); 2,18,7 (Photinianer); 2,46,1.7 (Apolinaristen); 3,9,6 (Lukiferianer); 6,9,4 (Manichäer). ' 6 Das Fehlen eines eindeutigen Bezuges auf die Novatianer ist deshalb um so bemerkenswerter, weil er in 6,22,15 im Munde des Johannes Chrysostomos in deutlich negativer Sinngebung bezeugt ist: Er wirft dem Novatianerbischof Sisinnios vor, ein αιρετικός zu sein. Z u der Stelle 6,19,7 s. unten S. 73, Anm. 215. 47 Das entspricht der allgemeinen Entwicklung im griechischen Sprachgebrauch, vgl. BROX, Häresie [3.4.] 256-259 und WINKELMANN, Aspekte [3.4.] 100-103, zur Verwendung im paganen Bereich vgl. GLUCKER, Antiochus [3.4.] 166-192. Z u der für die christliche Terminologie grundlegenden ep. 188 des Basileios von Kaisareia s. gleich im folgenden Anm. 75.

2.1. Kirchen- und dogmengeschichtliche Entwicklungen

37

tation („falsche Lehre, Abfall von der Wahrheit")48 bei Sokrates nicht sehr ausgeprägt. Und wo eine solche Negativbewertung anklingt, liegt der Vorwurf meist weniger in der falschen Lehre als vielmehr in der Tatsache, daß hier überhaupt die Kirche gespalten ist; αϊρεσις rückt oft ganz nah an διαίρεσις heran. Besonders charakteristisch und sicher von programmatischer Bedeutung für Sokrates' gesamte Konzeption ist die Schilderung von der Beisetzung des angesehenen Novatianerbischofs Paulos von Konstantinopel ganz am Ende des Werkes. Bei dieser Gelegenheit bilden „alle die verschiedenen αιρέσεις in gewisser Weise eine einzige εκκλησία." 49 . So ist der Unterschied von αϊρεσ\ς und εκκλησία nicht der von falscher und wahrer Lehre, sondern der von Gespaltenheit und Eintracht. Häufiger als αϊρεσις benutzt Sokrates zur Benennung einer einzelnen kirchlichen Gruppierung das Wort θρησκεία50 - was einen höchst ungewöhnlichen und auffalligen Gebrauch des Wortes darstellt51. Die übliche Hauptbedeutung ist der des deutschen Wortes „Religion" sehr nahe. Mit θρησκεία können die verschiedenen Religionsgemeinschaften bezeichnet werden, etwa Heiden, Juden, Christen. Sokrates verwendet das Wort auch nicht selten in dieser Weise 52 . Häufiger jedoch ist der Bezug auf einzelne Untergruppen des Christentums. Für Bischöfe der arianischen Partei etwa ist der Standardausdruck ó της 'Αρειανής θρησκείας ττροεστώς 53 . Neben den Arianern wird θρησκεία auch auf die Makedonianer 54 , Melitianer 55 , Manichäer56 bezogen, gelegentlich auch auf die Novatianer 57 . Außerdem kommt auch die Pluralverwendung im Sinne von „alle kirchlichen Parteien" oder „die anderen kirchlichen Parteien" vor 58 . In diesen Fällen (nicht aber im Singular) 48

So besonders klar bei Epiphanios von Salamis. Allerdings ist der Gebrauch des Begriffes bei ihm nicht sehr konsequent. Ebenso diffus ist leider die Diskussion dieses Sachverhaltes bei MOUTSOULAS, Häresie [3.4.], RIGGI, Hairesis [3.4.] und YOUNG, Epiphanius [3.4.]; vgl. zuletzt PouRKiER, Hérésiologie [3.4.] 84-94. 49 ,,ος τ η ε α υ τ ο ύ έκκομιδή π ά σ α ς -τάς διαφόρους αιρέσεις χρόττον τ ι ν ά μ ί α ν έκκλησίαν ε ί ρ γ ά σ α τ ο " , 7,46,2. Andere Stellen, an denen die Nähe von αΥρεσις zu διαίρεσις deutlich wird: 1,27,1 (Areios bringt αϊρεσις in die alexandrinische Kirche); 5,10,10 (die Diskussionen machen die αιρέσεις noch zerstrittener). 50 Das Wort ist mit 71 Belegen insgesamt deutlich häufiger verwendet als αϊρεσις (39 Belege, zusätzlich 9mal das Adjektiv αιρετικός). Auffalligerweise ist θρησκεία besonders in den hinteren Büchern, in denen Sokrates weniger von schriftlichen Quellen abhängt, sehr häufig. " Die Bedeutung ist bei LAMPE [2.] s. v. nicht belegt. Vgl. zu θρησκεία außerdem die Untersuchung von VAN HERTEN, Θρησκεία [3.4.] 2-27, v. a. 21-27 sowie 96, derzufolge das Wort im christlichen Gebrauch bedeutet: 1. Verehrung von Engeln, Bildern, heidnischen Göttern etc. 2. christlicher Gottesdienst, äußere Frömmigkeitsübung. 52 Im Sinne von Heidentum: 1,2,3; 1,18,1; 3,1,15.(39); 3,14,7; 3,19,4; 3,22,8; 3,23,3; 5,16,13; 6,18,19; Christentum: 1,18,4; 3,1,18; 4,36,8; 5,17,5; Religion im allgemeinen: 3,1,56; 5,17,2; 5,23,10; 6,9,5. 53 3,9,3; 4,1,6; 4,12,40; 4,21,2; 4,35,4; 5,3,4; 5,12,6; 7,6,1 f.; weitere Stellen, an denen θρησκεία auf die Arianer bezogen ist: 2,12,5; 2,14; 4,21,1; 4,33,5; 5,7,4; 5,12,8; 7,6,5 (Psathyrianer); 7,6,7.9. 54 4,1,17; 4,2,2; 7,3,1.5. " 1,27,18; 1,32,3. 56 1,22,15; 6,9,4. 57 1,10,1; 2,38,11 (s. jedoch App.); 4,28,18; in 2,38,30 ist wohl eher religiöser Eifer im allgemeinen gemeint. 58 3,25,1; 4,6,1; 5,2,1; 5,4,2; 5,10,6.17.19.22.29; 5,22,30.57; 5,24,8; 6,22,23.

2. Die Darstellung der Geschichte

38

können auch die Homousianer mit eingeschlossen sein59. Auch wenn Sokrates' ablehnende Haltung den Arianern gegenüber (erst recht natürlich gegenüber den Manichäern) deutlich ist, scheint doch in dem Wort θρησκεία kein negativer Sinn enthalten zu sein. Besonders in der Pluralverwendung kann es oft so gut wie synonym zu εκκλησία in dem oben beschriebenen Sinn von kirchlicher Partei benutzt werden60. Ja, man könnte geradezu vermuten, daß Sokrates den in diesem Zusammenhang ungewöhnlichen Ausdruck θρησκεία wählt, um das negativ konnotierte αϊρεσις in den Fällen zu vermeiden, wo das im christlich-theologischen Gebrauch zu eindeutig festgelegte εκκλησία nicht gut verwendet werden konnte. Eine weitere, von Sokrates häufig gebrauchte Wendung fügt sich gut zu dieser Beobachtung: Um überhaupt jede Bewertung zu vermeiden, werden die kirchlichen Parteien oft einfach mit dem Namen ihres Gründers bzw. Vordenkers oder mit ihrem theologischen „Schlüsselwort" bezeichnet - wie das ja bis heute in der Dogmengeschichtsschreibung üblich ist (ζ. B. Eunomianer, Anhomöer etc.). Das geschieht meist in der Form ,,οί τ α ... φρονοΰντες", für die Arianer also etwa: „oi τ α Αρείου φρονοΰντες" 61 ; entsprechende Ausdrücke sind für die Anhänger des Makedonios62, Akakios 63 und Aetios 64 belegt. Dagegen bezeichnet der Ausdruck „oi ττερί ..." (ζ. Β. ,,οί ττερί Εϋσεβιον") eher die sich real um eine bestimmte Persönlichkeit scharende Partei, was nicht notwendig einer eigenen bekenntnismäßigen Gruppierung entsprechen muß 65 . Ganz besonders häufig ist der Ausdruck „oi τι) όμοούσιον φρονουντες" für die Homousianer 66 . Der Gebrauch des Wortes homousios als „Schibboleth der Orthodoxie" 67 , also als konfessionelles Kennwort, hatte sich in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts durchgesetzt68 und war zu Sokrates' Zeit längst geläufig, ja, er war eigentlich schon wieder außer Mode 5 9 Das ist etwa der Fall beim Bericht über das von Kaiser Theodosios I. veranstaltete Religionsgespräch 5,10; explizit gesagt wird es in 6,22,23: Sisinnios wird von allen θρησκεία.! geliebt, besonders von d e m (homousianischen) Bischof Attikos. 6 0 Ganz deutlich ist es in 3,24,1 und 3,25,1, w o dieselben Personen einmal mit ττροεστώτες τ ω ν εκκλησιών und einmal mit ττροεατώτες τ ω ν θρησκειών bezeichnet werden. tìl 1,6,40; 2,7,2; 2,11,1; 5,11,4.

62

5,9,2; 5,10,24; 7,3,3. 2,40,18. 64 2,45,11; außerdem für die „klassischen" Häretiker Sabellios und Paulos von Samosata: 1,24,1.4; 1,36,6; 2,9,9; 2,29,4. 6 5 Euseb von Nikomedien: 1,6,40; 1,23,1.3; 1,27,2.6.9.11; 2,2,1.11; 2,8,6; Athanasios: 2,20,2.6; Akakios: 2,40,4 f.31.37.42.46; 2,41,2.5.21; Makedonios: 2,45,8 (vgl. App.); 3,10,4; Eleusios von Kyzikos: 4,4,5; 4,7,3; Sabbatios: 5,21,10; Nestorios: 7,34,8; und viel öfter. 66 2,6,5; 2,15,8; 2,27,3; 2,38,16.39; 2,44,6; 2,45,7.11; 3,1,44; 3,10,12; 4,1,16; 4,2,5; 4,12,1; 4,17,2; 4,22,4; 4,32,2; 4,35,2; 5,4,4; 5,11,4; 6,8,4; vgl. auch 2,6,4. In 2,45,7 ist die im Apparat mitgeteilte Lesart der Handschriften vorzuziehen. 63

67

RITTER, Dogma [3.4.] 169.

Es ist hier nicht nötig, auf die komplizierte (Vor-)Geschichte dieses Begriffs einzugehen. Es sei nur auf die Monographie von DINSEN, Homoousios [3.4.] bes. S. 176-184 sowie auf den Artikel Homousios von C. STEAD [3.4.] (mit reichen Literaturangaben) verwiesen. Beide interessieren sich allerdings weniger für das „Nachleben" des Begriffs im 5. Jahrhundert (bei STEAD nur Sp. 429 f.); vgl. dazu die Angaben bei LAMPE [2.] s. v. ab Bedeutung II. B. 3. 68

2.1. Kirchen- und dogmengeschichtliche Entwicklungen

39

gekommen, denn die dogmatischen Auseinandersetzungen in der Mitte des fünften Jahrhunderts hatten sich anderen Fragen zugewandt 69 . Das Bemerkenswerte bei Sokrates ist die Tatsache, daß durch die Verwendung dieses Wortes oftmals die Novatianer explizit miteinbezogen werden sollen. Sokrates wird nicht müde zu betonen, daß diese Partei trotz ihrer Trennung von der Großkirche gerade in dieser entscheidenden dogmatischen Frage von Anfang an voll zum nizänischen Glauben stand 70 . So bezeichnet der Ausdruck ol τ ο όμοούσιον φρονούντες nicht selten die homousianische Großkirche und die Novatianer gemeinsam 7 1 . Ähnliches gilt für den gleichfalls häufigen Ausdruck ή ττίστις τ ο υ ομοουσίου 7 2 bzw. für die Anhänger dieses Bekenntnisses, ol της τ ο υ ομοουσίου ττίστεως 73 . Ganz wie für eine partikulare Partei kann auch für die Christen im allgemeinen gesagt werden: ol φρονούντες τ ά Χριστού 7 4 , sozusagen die Christus-Partei. Der geläufigere Ausdruck ist natürlich oi Χριστιανοί, ähnlich wie auch für die einzelnen Parteien meist einfach Ναυατιανοί, 'Αρειανοί, Μακεδονιανοί etc. gesagt wird. Allerdings kann eine solche Benennung nur von einem Eigennamen gebildet werden; darum gibt es für die Homousianer keinen vergleichbar einfachen Ausdruck. Zum Schluß sind noch einige seltenere Ausdrücke zur Benennung kirchlicher Parteien zu erwähnen. Bei dem Wort τταρασυναγωγη handelt es sich um einen bei Basileios von Kaisareia zuerst belegten Neologismus, mit dem eine Art Vorstufe zum Schisma bzw. zur Häresie bezeichnet wird 75 . In diesem Sinne verwendet auch 6 9 D a r u m wird der Gebrauch des Wortes in den letzten beiden Büchern auch seltener, vgl. aber die in Anm. 72 angeführten Stellen. 7 0 Das wird besonders durch den Bericht von dem Novatianerpriester Akesios auf dem Konzil von Nikaia betont (1,10), vgl. dazu unten S. 51. 71

B e s o n d e r s d e u t l i c h i n 2,38,5; 4,9,1; 5,19,3. M a n b e a c h t e a u c h 5,10,24, w o d e r o r t h o d o x e N e k -

tarios und der novatianische Agelios friedlich-schiedlich nebeneinander als die beiden -π-ροεστώτες τ η ς ομοουσίου πίστεως genannt werden. Sowohl inhaltlich interessant als auch textkritisch problematisch ist die Stelle 5,14,7. Dort bezeichnen zwei der drei griechischen Handschriften (F und A) die Novatianer allein als οί τ ο όμοούσιον φρονούντες. HANSEN [1.1.] entscheidet sich jedoch unter Berufung auf Cassiodor und den Armenier für die Lesart der Handschrift M (,,Ναυατιανούς τ η αυτού ττίστει τταραττλήσια φρονοΰντας..."). Diese Entscheidung ist angesichts der Bezeugung vermutlich berechtigt, doch wird man immerhin bedenken müssen, daß die von F und A überlieferte Lesart leicht Anstoß erregt haben kann. Mit Sicherheit der Fall war das bei dem Armenier, der sich direkt im Anschluß zu einem ,,tendenziöse[n] Zusatz gegen die Novatianer" veranlaßt sah (HANSEN im App., der Zusatz in Übersetzung bei CONYBEARE, Collation [3.1.] 58). Wer aus diesem Grunde den Text von F und A vorzieht, müßte jedoch annehmen, daß die Änderung in der sonstigen Überlieferung sehr früh erfolgt ist - wie die Übereinstimmung des griechischen, lateinischen und armenischen Zeugen zeigt. 72

1,8,34; 1.23,3; 2 . 2 , 1 ; 2.6,6; 2,8,2; 3,24,2; 4,1,14; 4,12,3.38 f.; 4,24,18; 4,26,17; 4,37,2; 5,3,3; 5,6,3;

5,10,24; 5,23,11; 6,13,9; 6,18,11; 7,3,6.9; 7,31,5. 73

2,16,9; 4 . 1 4 , 4 ; 5 , 7 , u ; 5,8,3; 5,10,31.

74

1,17,2; 1,27,11 ( v e r n e i n t ) ; 7,15,6.

7 5 In der für die Terminologie des Basileios grundlegenden ep. 188 werden Definitionen für die Begriffe π α ρ α σ υ ν α γ ω γ ή , σ χ ί σ μ α und αϊρεσις vorgetragen (1,8-24). Der Brief ist an Amphilochios von Ikonion gerichtet und der Kontext ist die Frage der Taufanerkennung beim Übertritt von Angehörigen anderer christlicher Kirchen. Basileios vertritt dabei eine verhältnismäßig libe-

40

2. Die Darstellung der Geschichte

Sokrates den Ausdruck gelegentlich, allerdings nicht das Nomen, sondern das davon abgeleitete Verb τταρασυνάγειν. Dabei ist in erster Linie - ganz der wörtlichen Bedeutung entsprechend - an eine gottesdienstliche Versammlung neben und in Opposition zu einer bestimmten Kirche gedacht. Aus dieser Nebenversammlung entsteht dann leicht eine neue „konfessionelle" Gruppierung, eine αϊρεσις76, so etwa im Falle des Novatianerpresbyters Sabbatios77. In der Terminologie des Basileios steht zwischen παρασυναγωγή und αϊρεσις als weitere begriffliche Abstufung das σχίσμα 7 8 . Bei der offensichtlichen Wichtigkeit des Motivs der kirchlichen Spaltung in Sokrates' Denken muß es überraschen, daß er dieses Wort so gut wie nicht verwendet79. Statt dessen benutzt er recht häufig das Wort διαίρεσις in ähnlichem Sinne80. Falls der Sprachgebrauch des Basileios allgemein - oder zumindest dem Sokrates - geläufig gewesen sein sollte, liegt es nahe zu vermuten, daß er das Wort σχίσμα meidet, weil die konkrete Gruppierung, an die Basileios bei diesem Begriff denkt, offenbar die Novatianer waren81. Damit sind die wichtigsten von Sokrates verwendeten Termini zur Bezeichnung kirchlicher Parteien und Gruppen behandelt. Als Ergebnis läßt sich festhalten, daß die Terminologie relativ arm ist, und zwar in zweifacher Hinsicht. Erstens ist die Zahl der verwendeten Wörter gering. Nicht nur fehlen ausgefallenere oder bildhafte Wendungen zur Bezeichnung der Kirche82, sondern auch unter den geläufirale Position, insofern auch die Taufe von Schismatikern anerkannt werden kann (nicht aber die von Häretikern). Allerdings hält er sich in seinem sonstigen Schrifttum nicht immer ganz streng an die hier vorgetragenen Definitionen, vgl. GIRARDI, Nozione [3.4.] 51-57. 7 6 Auf diese Weise entsteht durch Theophronios eine neue Untergruppierung der Eunomian e r (5,24,3), die „ E u n o m i o t h e o p h r o n i a n e r " (5,24,5)! V g l . a u c h 4,29,3.

77 5,21,19; 7,5,3. Man kann also sagen, daß bei Sokrates ein (seltenes) Beispiel für den Gebrauch von -τταρασυναγωγή (bzw. des zugehörigen Verbs) im Sinne des Basileios vorliegt, insofern nämlich als das Wort nicht ganz deckungsgleich mit αϊρεσις gebraucht wird. Die ep. 188 des Basileios ist zwar als epistula canonica I in die Tradition der orthodoxen Kirche eingegangen, doch trotz ihres hohen Ansehens folgt die kirchliche Terminologie der feinen Differenzierung dieses Textes im allgemeinen nicht, vgl. GIRARDI, Nozione [3.4.] 74-77, ferner WINKELMANN, Aspekte [3.4.] 100 f. Insofern sind die Belege bei Sokrates bemerkenswert und wären bei GIRARDI hinzuzufügen. Auf jeden Fall ist das Wort so selten (vgl. LAMPE [2.] s. v.), daß man Vertrautheit mit dem basilianischen Sprachgebrauch bei Sokrates annehmen kann (wenn auch vielleicht nicht unbedingt mit der ep. 188). 7 8 Text s. Anm. 81. Im allgemeinen war in patristischer Zeit ganz einfach eine Spaltung mit diesem Wort gemeint - also ganz ähnlich dem Lehnwort Schisma im Deutschen, vgl. BROX, Häre-

sie [3.4.] 275-277 u n d WINKELMANN, Aspekte

[3.4.] 99 ff.

79

N u r in 2,37,5; 2,39,15; 5,10,10 b e l e g t .

80

5,10,11.15; 5,22,81 f.; 5,23,1.6.13; 6,7,27; 7,25,2; 7,32,5; 7,33,5; b e s o n d e r s charakteristisch

und

inhaltlich tragend ist die Stelle 5,20,2 f., vgl. dazu unten S. 245 f. Ähnlich auch χωρισμός της εκκλησίας: 5,21,14. 8 1 Die Definition in ep. 188,1,20 f. lautet; „σχίσμα δε τ ο ττερ! της μετανοίας διαφόρως εχειν ττρός τους άττό της εκκλησίας." Zum Bezug dieser Formulierung auf die Novatianer vgl. auch

GIRARDI, Nozione

[3.4.] 55.

Man vergleiche etwa mit der Vielzahl von Ausdrücken für die Kirche bei Euseb, wie sie FARINA, Impero [3.2.] 281-295 aufführt, oder mit dem Phantasiereichtum, den Theodoret aufwen82

2.1. Kirchen- und dogmengeschichtliche Entwicklungen

41

gen werden einige so gut wie nicht benutzt (καθολικός, ορθόδοξος, σχίσμα). Zweitens läßt sich bei den verwendeten Termini feststellen, daß sie keine allzu große semantische Bandbreite aufweisen. Das gilt zumal für das wichtigste Wort εκκλησία, das zwar in einer Reihe von unterschiedlichen Bedeutungen belegt ist, von dem aber auch ein großer Teil des möglichen semantischen Spektrums fehlt. Insbesondere finden sich nur geringe Spuren eines im engeren Sinne theologischen Gebrauches 83 . Auch sonst kommen kaum theologische Epitheta für die Kirche vor. Die Ursache dafür wie auch für die terminologische Armut insgesamt dürfte aber nur zum Teil in der mangelnden Bildung unseres Autors zu suchen sein84. Denn gerade der Gebrauch des Wortes θρησκεία zeigt, daß er auch eine abseits vom Üblichen liegende Ausdrucksweise zu benutzen weiß, und das gewiß mit Absicht. Der Grund für die Verwendung dieses neutralen Ausdrucks wie auch überhaupt für die Nüchternheit der Terminologie liegt in der Zurückhaltung beim Urteil über dogmatisch-theologische Fragen. Diese absichtliche Zurückhaltung wird auch explizit und programmatisch gefordert 85 . Der angenehme Nebeneffekt der nüchternen Ausdrucksweise ist relative Präzision. Es ist nur in wenigen Fällen nötig zu rätseln, was oder wer eigentlich gemeint ist.

2.1.2. Die Anfänge des arianischen Streites und das Konzil von Nikaia Die ersten, im engeren Sinne kirchengeschichtlichen Ereignisse, von denen Sokrates berichtet, sind die Anfänge des arianischen Streites und das Konzil von Nikaia. Der Bericht darüber bildet einen in sich geschlossenen Block, der nicht durch Informationen über andere Ereignisse durchbrochen wird ( 1 , 5 bis 1 , 1 5 ) . Nach vorne und nach hinten ist er durch Nachrichten aus dem politischen Bereich klar abgegrenzt. Dennoch handelt es sich keineswegs um eine homogene und in sich geschlossene Größe. Es ist ja auch von vornherein zu erwarten und bestätigt sich bei einem genaueren Blick in den Text, daß sich gerade bei einem für das Selbstverständnis der Alten Kirche so zentralen Ereignis wie dem Konzil von Nikaia im Laufe der gut 100 Jahre, die zwischen Sokrates und den Ereignissen liegen, mancherlei unterschiedliche Traditionen gebildet haben - unterschiedlich sowohl im det, um immer neue Bezeichnungen für die arianische Pest, Verderbnis, Krankheit etc. etc. zu finden

( v g l . e t w a T h e o d . 1,8,17 f-l 1,9,1; 1,11,7; 1,16,6; 1,18,9; 1,21,4; 1,22,2; 1,26,1; 2,2,5; 2,3,1; 2,4,4;

2,5,1.4; 2,10,2; 2,12,1; 2,15,6; 2,18,1 f.; 2,21,2; 2,23,9; 2,24,3.6; 2,26,3; 2,31,3.9; 3,4,3; 3,12,1; 4,6,5; 4,12,4; 4,15,1.7; 4,19,10; 4,27,1-4; 4,37,I; 5,2,3; 5,3,1; 5,4,7; 5,6,3; 5,13,1; 5,30,1; 5,32,2; 5,35,5). 83 Vergeblich sucht man bei Sokrates etwa die εκκλησία als „Braut Christi", die himmlische oder präexistente εκκλησία usw.; von den 15 bei LAMPE [2.] s. ν. εκκλησία aufgeführten Bedeutungsvarianten finden sich bei Sokrates höchstens zwei oder drei (nämlich die Bedeutungen Α, Ν und in Ansätzen H). Für einen spezifisch theologischen Sprachgebrauch könnte man allenfalls eine Stelle wie 1,27,11 anführen, wo von der εκκλησία του Χριστού die Rede ist. 84 Zu Sokrates' Ausdrucksweise und den damit verbundenen Absichten im allgemeinen s. unten S. 194 ff. 85 ,,ού γ α ρ δ ό γ μ α τ α πρόκειται γυμνά^ειν ήμίν" 1,22,14; s. auch unten Abschnitt 4.2.1.

42

2. Die Darstellung der Geschichte

Hinblick auf die Tendenz (pro- oder antinizänisch) als auch auf die Gattung (Kirchengeschichtswerke, Urkundensammlungen, dogmatische Kampfschriften) -, die Sokrates zusammenarbeiten konnte und mußte, sofern er sich ein eigenständiges Bild von den Vorgängen zu machen gewillt war. Der uns vorliegende Text zeigt in der Tat deutliche Spuren dieses Verarbeitungsprozesses. Obgleich es hier nicht in erster Linie um die Analyse der Quellen des Sokrates geht, tritt sein Eigenanteil an dem stetig anwachsenden Traditionsgeflecht doch erst dann deutlich hervor, wenn man die Fäden der von ihm aufgenommenen Traditionsstränge so weit wie möglich zu entwirren versucht. Der weitaus größte Teil des Materials folgt schriftlichen Quellen; diese sind uns zum Teil bekannt, doch nicht alle. Die unbekannten sind die Kirchengeschichte des Gelasios von Kaisareia, die Synagoge des Sabinos von Herakleia und verschiedene Urkundensammlungen. Kritische Rekonstruktionsarbeit der Forschung hat hier in einige Probleme Klarheit zu bringen vermocht86, doch die Gleichung hat zu viele Unbekannte, als daß man hoffen könnte, sie jemals ganz eindeutig und vollständig lösen zu können87. Zusätzlich kompliziert sich die Angelegenheit dadurch, daß wir es mit der zweiten Bearbeitung der Kirchengeschichte zu tun haben. Gerade in dem hier interessierenden Abschnitt dürfte Sokrates besonders viel umgearbeitet haben, doch ist es schwierig, präzisere Aussagen zu machen oder gar die Erstfassung zu rekonstruieren88. Immerhin kann soviel gesagt werden, daß Sokrates im Gesamtaufriß seines Berichtes Rufin, genauer: wohl meist Gelasios von Kaisareia, folgt. Dieses Grund-

86 Das gilt insbesondere für das Werk des Gelasios von Kaisareia, auf dessen Rekonstruktion viel Fleiß und Scharfsinn verwendet worden ist, vgl. die die früheren Bemühungen zusammenfassende und weiterführende Arbeit von WINKELMANN, Untersuchungen [3.2.]. Freilich bleiben auch hier noch viele offene Fragen. In bezug auf Sabinos hat HAUSCHILD, Synodalaktensammlung [3.4.] 105 und 117 ff. (ihm folgend auch HANSEN [1.1.] L) sehr berechtigte Zweifel an den unbedenklich-

o p t i m i s t i s c h e n Z u w e i s u n g e n v o n GEPPERT, Quellen

[3.1.] 89-107, BATIFFOL, Sozomène

[3.2.] u n d

SCHOO, Quellen [3.2.] 95-134 angemeldet, ohne daß freilich das Problem durch HAUSCHILDS Arbeit als endgültig gelöst angesehen werden könnte (s. Anm. 98 und 120; LÖHR, Beobachtungen [3.4.] trägt zur Rekonstruktion des Werkes nichts Wesentliches bei). Vollends aussichtslos ist die Situation im Hinblick auf die Urkundensammlungen. Es wird von Sokrates mehrfach selbst bezeugt (1,6,41; 1,23,6; vgl. auch 1,9,66), daß allerlei Sammlungen unterschiedlicher Tendenz im Umlauf waren, über deren genaue Gestalt wir uns aber keine Vorstellung mehr machen können. Zum Synodikon des Athanasios s. unten bei Anm. 129. 87 Die Zusammenstellung bei GEPPERT, Quellen [3.1.] 113-115 ist dazu geeignet, über diesen Sachverhalt hinwegzutäuschen. Die Kürzel „Syn." (= Synodikon), „Sab." (= Sabinos) und „Aux." (= Auxanon) können vielfach durch Fragezeichen ersetzt werden. Der Wunsch, bei der Quellenzuweisung Vollständigkeit zu erzielen, gehört zu den problematischen Aspekten der Arbeit von GEPPERT, S. oben S. 16. Auch die gleich noch näher zu besprechende Geschichte von der Bekehrung eines Philosophen auf dem Konzil von Nikaia ist ein Beispiel dafür (s. S. 46). 88 Die Kapitel 1,8 und 1,9 sind durch die Einfügung umfangreicher Urkunden mit Abstand die längsten in dem gesamten Werk des Sokrates. Schon dieser disproportionierte Aufbau macht es wahrscheinlich, daß hier Erweiterungen der zweiten Bearbeitung vorliegen (vgl. auch die Aussage über die Einfügung von Urkunden in 2,1,4 u n d unten S. 163 ff).

2.1. Kirchen- und dogmengeschichtliche Entwicklungen

43

gerüst wird (teilweise sicherlich erst in der zweiten Bearbeitung) angereichert und modifiziert durch • Berichte aus Eusebs Vita Constantini, • zahlreiche Urkunden (über deren Herkunft oft schwer Sicheres auszumachen ist), • Berichte aus uns unbekannten Quellen, • mündliche Erzählungen des Presbyters Auxanon. Die Schriften des Athanasios, die doch einen der Hauptgründe für die Neubearbeitung darstellten (2,1,3), spielen übrigens hier so gut wie keine Rolle89. Vor einer genaueren Analyse einzelner Stücke lohnt es, die Abgrenzung des Berichts nach vorne noch einmal näher ins Auge zu fassen, denn dabei kommen wesentliche Züge der Interpretation zum Vorschein. Unmittelbar vor der Erzählung vom Beginn des arianischen Streites berichtet Sokrates vom Sieg Konstantins über Licinius. Der Übergang lautet nun folgendermaßen: „Als Konstantin die Macht über das ganze [Reich] erlangt hatte und zum Alleinherrscher und Kaiser ausgerufen worden war, bemühte er sich gleich wieder, die [Angelegenheiten] der Christen zu fördern, und zwar auf verschiedene Arten. So befand sich durch ihn das Christentum in tiefem Frieden. Aber auf diesen Frieden folgt ein innerchristlicher Krieg." 90 Die Vorstellung vom tiefen Frieden, der dem arianischen Streit vorausging, hat das Bild der Kirchengeschichte nachhaltig beeinflußt und ist erst in der Neuzeit als das entlarvt worden, was es ist, nämlich als historische Fiktion 91 . Der Sieg über Licinius hat mit den Auseinandersetzungen um den alexandrinichen Presbyter Areios nur insofern zu tun, als Konstantin nun Gelegenheit hatte, den schon länger virulenten und immer weitere Kreise ziehenden Konflikt zu einer Angelegenheit der kaiserlichen Religionspolitik und damit des ganzen Reiches zu machen. Der geschichtstheologische Sinn der Fiktion vom Friedenszustand ist 89

Insbesondere läßt sich nicht erweisen, daß Sokrates das Werk De decretis Nicaenae synodi in Händen hatte, vgl. GEPPERT, Quellen [3.1.] 29 f.; HANSEN [1.1.] L, Anm. 1. 90 „ Κ ω ν σ τ α ν τ ί ν ο ς τ ο ί ν υ ν π ά ν τ ω ν γενόμενος εγκρατής α υ τ ο κ ρ ά τ ω ρ τ ε βασιλεύς αναδειχθείς τ ά Χ ρ ι σ τ ι α ν ώ ν αδθις αίίξειν έσττούδα^εν, έττοίει τε τ ο ύ τ ο διαφόροις τρόττοις· κα! ήν έν βαθείςι ειρήνη τ α τ ο υ Χ ρ ι σ τ ι α ν ι σ μ ο ύ δι' α ύ τ ό ν . ά λ λ ά δή τ ή ν τ η λ ι κ α ύ τ η ν είρήνην εμφύλιος τ ω ν Χ ρ ι σ τ ι α ν ώ ν πόλεμος διαδεχεται." ι,4,5 f91 Der Versuch, die verschiedenen von den Quellen bezeugten Synoden und Briefe im Zusammenhang mit dem Streit um Areios in der kurzen Zeit zwischen dem Sieg des Konstantin über Licinius und dem Konzil im Mai 325 unterzubringen, führt in unüberwindliche Schwierigkeiten, selbst wenn man den Sieg Konstantins schon im Herbst 323 ansetzt (obgleich der Quellenbefund eindeutig für das Jahr 324 spricht, OPITZ, Zeitfolge [3.4.] 132-142). Während sich SCHWARTZ, Dokumente [3.4.] 165-168 noch damit abmühte, das Unmögliche möglich bzw. plausibel zu machen, hat OPITZ, Zeitfolge 149 (wie schon vorher TILLEMONT, Mémoires [3.4.] 6,737-740 und SEECK, Untersuchungen [3.4.] 3-7) bei seiner im Prinzip bis heute anerkannten Rekonstruktion der Ereignisse den gordischen Knoten „gelöst", indem er den Beginn des Streites etwa auf das Jahr 318, also jedenfalls vor den Sieg Konstantins über Licinius, ansetzte. Diese grundsätzliche Erkenntnis ist seither nicht ernsthaft bezweifelt worden, auch wenn die Lösungsvorschläge für verschiedene Einzelprobleme mit Unsicherheiten behaftet bleiben und darum immer wieder diskutiert werden (TELFER, Controversy [3.4.] mit SCHNEEMELCHER, Chronologie [3.4.] 395 f.; SIMONETTI, Crisi [3.4.] 26-41; RITTER, Arianismus [3.4.] 699; WILLIAMS, Anus [3.4 ] 48-94 mit LOOSE, Chronologie [3.4.]; HANSON, Search [3.4.] 129-138).

2. Die Darstellung der Geschichte

44

leicht z u e r k e n n e n . Z u m einen w i r k t das s c h w a r z e S c h a f A r e i o s a u f e i n e m m ö g lichst hellen H i n t e r g r u n d u m so s c h w ä r z e r , z u m a n d e r e n k a n n die R o l l e des Kaisers K o n s t a n t i n a u f diese W e i s e ins rechte L i c h t g e r ü c k t w e r d e n : E r ist f ü r die Kirc h e G a r a n t des Friedens; in d e n f o l g e n d e n V e r w i r r u n g e n ist es das Z i e l , diesen u r s p r ü n g l i c h e n F r i e d e n w i e d e r h e r z u s t e l l e n . D i e s e V o r s t e l l u n g findet sich s c h o n bei E u s e b in d e r Vita Constantini92.

S o k r a t e s ü b e r n i m m t sie aus G e l a s i o s v o n Kaisareia,

d e m er hier bis in die F o r m u l i e r u n g hinein f o l g t 9 3 . D o c h er h a t diesen G e d a n k e n nicht interesselos a b g e s c h r i e b e n . D i e pointierte G e g e n ü b e r s t e l l u n g v o n ε ι ρ ή ν η u n d ε μ φ ύ λ ι ο ς τ ω ν Χ ρ ι σ τ ι α ν ώ ν π ό λ ε μ ο ς in §6 ist sein eigener, v e r s t ä r k e n d e r Z u s a t z 9 4 . D i e darin z u m A u s d r u c k k o m m e n d e E i n s c h ä t z u n g des arianischen Streites als inneren

K o n f l i k t des C h r i s t e n t u m s steht i m G e g e n s a t z e t w a z u r I n t e r p r e t a t i o n

des

T h e o d o r e t 9 5 u n d m u ß i m R a h m e n d e r g e s a m t e n D a r s t e l l u n g des S o k r a t e s g e w ü r digt w e r d e n (s. S. 255 ff.). D e r v o n Gelasios vorgegebene Erzählstrang wird gleich nach der

Erwähnung

des „ t i e f e n F r i e d e n s " w i e d e r verlassen. D e r Bericht v o m B e g i n n d e r Streitigkeiten u m A r e i o s in A l e x a n d r i e n (1,5) f o l g t n u r in d e n allerersten W o r t e n G e l a s i o s b z w . R u f i n u n d w e i c h t alsbald in charakteristischer W e i s e d a v o n ab. W ä h r e n d

dort

A r e i o s , dessen C h a r a k t e r s c h w a r z in s c h w a r z g e m a l t w i r d , g l e i c h s a m aus h e i t e r e m

9 2 In vit. Const. 2,61 ist damit allerdings nicht direkt eine Verfälschung der Chronologie verbunden. Im Anschluß an die lange Schilderung der segensreichen Entwicklung der Kirche nach dem Sieg Konstantins über Licinius (2,20-60) teilt Euseb mit: Während Konstantin „sich darüber freute, verbreitete sich ein Gerücht von beträchtlichen Unruhen, die die Kirchen ergriffen haben" (2,61,2). Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß der Konflikt schon eine längere Vorgeschichte gehabt hat (über die Euseb keine weiteren Einzelheiten berichtet). Anders bei Gelasios von Kaisareia, s. die folgende Anm. 93 „... και ην έν βαθεία ειρήνη τ α τ ο υ Χ ρ ι σ τ ι α ν ι σ μ ο ύ δι' α ύ τ ό ν " , 1,4,5 nach Gelasios, frg. 9 (vit. Metr. 6,30 f. = Gel. Kyz. 2,1,1 [31,7 f.]). Was bei Euseb tendenziös, aber sachlich noch korrekt war, gibt bei Gelasios durch die ausführlichere Dokumentation der Anfange des Streites in Alexandrien (firg. 10), die unmöglich in der Zeit eines knappen Jahres unterzubringen sind (s. Anm. 91), ein historisch falsches Bild (OPITZ, Zeitfolge [3.4.] 148 f. setzt die von Gelasios angeführte Urk. 4b auf das Jahr 319 an). — Sozomenos übernimmt zwar nicht die Formulierung vom tiefen Frieden, schließt sich aber der Sache nach an das von seinen Vorgängern vermittelte Geschichtsbild an (vgl. 1,15,1), j a er verstärkt es noch dadurch, daß er zwischen den Sieg über Licinius und den Beginn des arianischen Streites einen längeren Abschnitt über die positive Entwicklung der Kirche, insbesondere des Mönchtums, in dieser Zeit einschiebt (1,8-14). 9 4 Die Formulierung mag durch Rufin inspiriert sein: „prosperitas rerum nostrarum domestica contentione turbatur", 10,1 (960,4). Daß auch Gelasios etwas Ähnliches hatte, kann nicht ausgeschlossen werden, denn der Kyzikener, der wichtigste Zeuge, bricht genau an dieser Stelle ab (2,1,1 f.); ob die Fragmente 9 und 10 ursprünglich so direkt aufeinander folgten wie in vit. Metr. (6,28-7,1 und 7,2 ff.), ist schwer zu sagen. Dennoch muß die konkrete Formulierung Sokrates zugeschrieben werden, denn die Übertragung der Bürgerkriegsterminologie auf den Bereich der Kirche ist typisch für ihn, vgl. die S. 109, Anm. 390 gegebenen Stellen und dazu unten S. 255 ff. 9 5 In Theod. 1,2,5-7 wird so drastisch wie möglich das Bild des boshaften und neidischen Teufels gemalt, der durch heimtückische Pläne das friedliche Schiff der Kirche bedroht. Daß eine solche Schilderung nicht viel mit der historischen Realität zu tun hat, braucht kaum eigens betont zu werden. Euseb, der Zeitgenosse der fraglichen Ereignisse war und bekanntlich selbst nicht unbeteiligt, gibt ein realistischeres Bild, obgleich ihm im Prinzip Gedankenverbindungen der hier von Theodoret vorgebrachten Art durchaus nicht fremd waren, vgl. z. B. Eus. 4,7,1 f.

2.1. Kirchen- und dogmengeschichtliche Entwicklungen

45

H i m m e l m i t e i n e r völlig n e u e n u n d u n e r h ö r t e n H ä r e s i e d e n s c h ö n e n F r i e d e n s t ö r t , ist S o k r a t e s ' B e r i c h t n ü c h t e r n e r , realistischer u n d v o r a l l e m e r s t a u n l i c h Areiosfreundlich. I m G e g e n s a t z z u d e n a n d e r e n u n s v o r l i e g e n d e n Q u e l l e n ü b e r

den

B e g i n n des Streites ist h i e r eigentlich B i s c h o f A l e x a n d e r d e r j e n i g e , d e r d e n Streit b e g i n n t - o d e r z u m i n d e s t e i n e n A n l a ß d a f ü r bietet. Areios, ü b e r d e n in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g kein n e g a t i v e s W o r t fallt (es heißt n u r : e r ist „nicht frei v o n dialektis c h e r D e b a t t i e r l u s t " 9 6 ) , sieht in d e r L e h r e des Bischofs die G e f a h r des Sabellianism u s u n d v e r s u c h t , i h r m i t seiner e i g e n e n L e h r e z u b e g e g n e n . B e s o n d e r s die d o g m a t i s c h e n F o r m u l i e r u n g e n z u r B e s c h r e i b u n g d e r L e h r e n des A l e x a n d e r u n d des A r e i o s w e r d e n s c h w e r l i c h a u f S o k r a t e s selbst z u r ü c k z u f ü h r e n s e i n 9 7 . D a ß w i r die Q u e l l e n i c h t k e n n e n , ist g e r a d e a n g e s i c h t s d e r A r e i o s - f r e u n d l i c h e n T e n d e n z n i c h t allzu e r s t a u n l i c h . D i e s e T e n d e n z gibt allerdings A n l a ß z u d e r V e r m u t u n g , d a ß die Synagoge

des Sabinos v o n H e r a k l e i a die Quelle g e w e s e n sein k ö n n t e , eine T h e s e

freilich, die ü b e r d e n S t a t u s d e r V e r m u t u n g n i c h t h i n a u s k o m m e n d ü r f t e 9 8 .

Wie

d e m a u c h sei - die h i e r ü b e r l i e f e r t e F a s s u n g m u ß S o k r a t e s v e r t r a u e n s w ü r d i g e r als die des G e l a s i o s v o r g e k o m m e n sein. D e r m o d e r n e H i s t o r i k e r h a t allen G r u n d , sich d i e s e m U r t e i l a n z u s c h l i e ß e n , z u m a l die v o n S o k r a t e s ü b e r l i e f e r t e Version

eine

g e w i s s e U n t e r s t ü t z u n g d u r c h d e n B r i e f des A r e i o s a n d e n „Syllukianisten" E u s e b v o n N i k o m e d i e n e r f a h r t 9 9 . A u c h i m Vergleich m i t d e n e r g i e b i g e r e n D a r s t e l l u n g e n

,,ούκ άμοιρος διαλεκτικής λέσχης", 1,5,2. Alexander „... φιλοτιμότερον ττερί τ η ς άγιας τριάδος, έν τριάδι μονάδα είναι φιλοσοφών, έθεολόγει." 1,5,ι. Areios ,,φησιν ει ό ττατήρ έγεννησεν τον υίόν, άρχήν υπάρξεως εχει ό γεννηθείς, καί έκ τ ο ύ τ ο υ δηλον οτι ήν οτε ούκ ήν ό υιός, ακολουθεί τε έξ άνάγκης έξ ούκ όντων εχει ν αυτόν τ η ν ύττόστασι ν. " 1,5,2. " Es liegt - leider - in der Natur der Sache, daß die Sabinos-Frage ein Ratespiel ist und bleiben muß. HAUSCHILD, Synodalaktensammlung [3.4.] führt das Kapitel 1,5 nicht auf Sabinos zurück, wohl weil er (zu Recht) gegenüber der älteren Forschung betont, daß es zu undifferenziert sei, dem Sabinos einfach eine arianische Tendenz zu unterstellen (S. 106). Aus 2,15,10 ergebe sich vielmehr, daß er antiarianisch eingestellt sei (S. 107). Das ist richtig, doch ist hier noch genauer zu differenzieren: Aus der genannten Stelle ergibt sich, daß er gegen die „Arianer" ist, womit gemeint ist: gegen die Homöer. Daraus ergibt sich aber nicht, daß er in der Anfangsphase des Streites gegen Areios selbst eingestellt ist. Im Gegenteil folgt aus seiner klar bezeugten antinizänischen, positiv gesagt: eusebianischen Position (so auch HAUSCHILD 107; etwas anders, aber wenig überzeugend LÖHR, Beobachtungen [3.4.] 387), daß er hier eher fìir Areios eingenommen gewesen sein dürfte (gegen HAUSCHILD 117). Dazu würde die Tendenz des Kapitels 1,5 gut passen. Da er ausführlich über die nizänische Synode berichtet haben muß (1,8,25; 1,9,28), wäre es nicht verwunderlich, wenn er auch einen kurzen Bericht über die Vorgeschichte des Streites gebracht hätte. Mit Recht spricht dagegen HAUSCHILD den „unparteiische(n) ... Bericht" (HANSEN, Sozomenus [1.2.] LVII) bei Soz. 1,15 der „Partei-Schrift" (HAUSCHILD 117) des Sabinos ab. 99 Urk. 1. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß Sokrates den Brief gekannt hat. Auf jeden Fall wäre er als Quelle zur Erklärung der Formulierungen in 1,5 (s. Anm. 97) nicht hinreichend (gegen GEPPERT, Quellen [3.1.] 102), denn erstens ist dort die Lehre des Alexander anders geschildert (§2 [2,1-3]) und zweitens stimmt die Beschreibung der Lehre des Areios zwar ungefähr, aber nicht im Detail der Formulierung überein (§4 f. [2,10-3,6], vgl. Sok. 1,5,2). In diesem Falle aber ist das Detail der Formulierung entscheidend, denn Sokrates hat sich gerade in solchen Fällen kaum auf seine eigenen theologischen Fähigkeiten verlassen, sondern (vernünftigerweise) diese schwierigen Formeln präzis aus seinen Vorlagen übernommen, s. dazu unten S. 192 f. Was der Brief mit 96 97

2. Die Darstellung der Geschichte

46

des Epiphanios von Salamis und des Sozomenos (die beide aus anderen Quellen als Sokrates schöpfen) verdient die Fassung des Sokrates zumindest auch gehört zu werden 1 0 0 . Beim Bericht von der weiteren Ausbreitung des Konfliktes und vor allem v o m Konzil in Nikaia übernimmt Sokrates zwar den größten Teil des von Gelasios bzw. Rufin gebotenen Materials, geht aber recht frei und selbständig damit um. Das wird schon in der Anordnung deutlich: Während bei Rufin 1 0 1 der Bericht v o m Konzil im wesentlichen aus einigen narrativen Textstücken mehr oder minder anekdotischen Gepräges besteht, denen dann gleichsam anhangsweise die Texte des Symbols und der Kanones nachgeschoben werden 1 0 2 , kehrt sich das Verhältnis bei Sokrates nahezu um: Die eigentliche Darstellung des Konzils und seiner Vorgeschichte wird von einer Reihe teilweise sehr umfangreicher Urkunden getragen, auf die einige anekdotenhafte Episoden folgen 1 0 3 . Auch innerhalb der übernommenen Texte nimmt Sokrates durchaus charakteristische Veränderungen vor. Besonders deutlich ist das zu sehen bei der Geschichte von der Bekehrung eines Philosophen auf dem Konzil (1,8,14-16). Sokrates verkürzt seine Quelle nicht nur erheblich, sondern er verändert auch den Skopos der Geschichte. In der Vorlage steht ein einzelner Homologet einem einzelnen Philosophen gegenüber. Durch eine einfache Rede im christlichen Geiste, die FormulieSokrates' Darstellung gemeinsam hat, ist der wichtige Punkt, daß Areios seine Auffassung in Reaktion auf eine seiner Meinung nach unhaltbare Lehre des Alexander entwickelt hat. 100 Das Bild der Ereignisse in den modernen Darstellungen beruht im wesentlichen auf Soz. 1,15 und Epiphanios, panar. 69,3-5 (vgl· OPITZ, Zeitfolge [3.4.] 146 ff. und ihm folgend Standardwerke w i e LIETZMANN, Geschichte

[3.4.] 3 , 9 3 - 1 0 1 ; RITTER, Dogma

[3.4.] 144 f.; LORENZ, Osten

[3.4.] C127-C129).

Doch gerade was die Rolle des Alexander betrifft, kann Sokrates eine interessante Ergänzung darstellen, zumal sich Sozomenos und Epiphanios genau an diesem Punkt widersprechen. (Nach Epiph., panar. 69,3,5-7 [155,8-15] lädt Alexander den Areios vor und schließt ihn, nachdem dieser auf seiner Lehre beharrt, kurzerhand aus der Kirche aus; bei Soz. 1,15,4 erscheint Alexander eher als schwankender und unentschlossener Richter zwischen zwei extremen Parteien.) 101 Was die Reihenfolge der Textstücke betrifft, befinden wir uns nur bei Rufin auf völlig sicherem Boden. Soweit wir erkennen können, bestand aber in dieser Hinsicht keine wesentliche Differenz zwischen Rufin und seiner griechischen Vorlage. In der von WINKELMANN, Charakter [3.2.] vorgeschlagenen Anordnung läge der einzige Unterschied in der Reihenfolge der Fragmente 12 und 13; gerade diese beiden Fragmente können jedoch mindestens ebenso gut in umgekehrter Reihenfolge in Gelasios' Werk gestanden haben: Immerhin steht hier das Zeugnis des Rufin, der Vita Metrophanis et Alexandri und des Sokrates geschlossen gegen das des Kyzikeners (wobei freilich gerade Sokrates hier nicht als starkes Argument gelten kann). 102 In Ruf. 10,5 (965,14f.) wird das Konzil für geschlossen erklärt („... concilium diremptum est"); erst danach folgen die Dokumente (10,6). 103 Die Kapitel 1,8 und 1,9, die den eigentlichen Kern der Konzilsperikope darstellen, sind, wie schon erwähnt, aufgrund der langen Urkunden die umfangreichsten im ganzen Werk (dort auch das Symbol: 1,8,28-30). In 1,10-13 folgen dann einige narrative Stücke; den Konzilsverhandlungen nachgestellt werden bei Sokrates - anders als bei Rufin - insbesondere die Geschichten von Paphnutios und Spyridon (1,11.12). Der Verweis auf diese Geschichten in 1,8,12 (aufgenommen in 1,11,1) zeigt, daß Sokrates die Umstellung bewußt und absichtlich von seiner Quelle abweichend vornimmt. Die Geschichten von der Verbrennung der libelli (1,8,17-19) und von der Bekehrung eines Philosophen (1,8,14-16) gehören aus inhaltlichen Gründen ins Vorfeld des Konzils und bleiben bei Sokrates auch in dieser Stellung.

2.1. Kirchen- und dogmengeschichtliche Entwicklungen

47

rungen aus Glaubensbekenntnissen aufnimmt, überzeugt er den Philosophen, bekehrt ihn z u m christlichen Glauben und führt ihn sogleich zur Taufe 1 0 4 . Anders bei Sokrates: Dort ist nicht die Rede von einem einzelnen, heidnischen Philosophen, sondern etwas diffus von den διαλεκτικοί, die sich Sokrates vermutlich sogar als Christen vorstellt 1 0 5 . Die Rede des Homologeten wendet sich gegen die Dialektik als solche und setzt ihr die schlichte Erkenntnis des christlichen Glaubens entgegen 1 0 6 . Das Resultat ist keine Taufe eines Heiden, sondern die Ruhigstellung der Dialektiker. So wird aus einer individuellen Bekehrungsgeschichte die Ablehnung einer hermeneutischen Methode - eine Verschiebung, in der sich sicherlich auch die veränderten Zeitumstände widerspiegeln. Bei den anderen hier in Frage kommenden Texten zeigt sich die auch sonst zu beobachtende Neigung des Sokrates, seine Quellen zu kürzen und nüchterner wiederzugeben 1 0 7 . Die Vita Constantini des Euseb liefert Sokrates neben verschiedenen Urkunden vor allem einen theologisch wichtigen Punkt: Die Bedeutung des Konzils bestand nicht nur in seiner dogmatischen Abgrenzung gegen die Arianer, sondern auch in der endgültigen Lösung der problematischen Frage des Ostertermins 1 0 8 . Dabei betont Sokrates über seine Quelle hinaus, daß der Westen - und damit scheint er hier merkwürdigerweise zu meinen: der größere und wichtigere Teil der Kirche schon lange die jetzt verbindlich gemachte Regelung praktizierte (1,8,2).

1i.n; 4>4.ι; 4,20,ι; 4,36,7; 5.Pr>3 f-6; 5. 2 . 2 ; 5>M,w> 5.26,1; τ ά τ ω ν εκκλησιών: s. S. 33. Anm. 18. 3< " 3,2.6,4; 4.4.1; 5,pr,3 f. 388

3,0

1,4,6; 1,23,5; 2,12,6; 2,25,6; 2,27,1.7; 2,34,5; 4.35.3·

Von den schon behandelten Fällen abgesehen (Biographie Julians, 3,1; Enkomion auf Theodosios II., 7,22) wäre am ehesten an Vorgänge wie den Gainasaufstand (6,6) oder die Perserkriege unter Theodosios II. (7,18-21) zu denken. 391

110

2. Die Darstellung der Geschichte

Bereich, dem das Hauptinteresse gilt, durchweg als subsidiär anzusehen. In dieser Hinsicht besteht ein charakteristischer Unterschied nicht so sehr zu den etwa gleichzeitigen Kirchenhistorikern (obgleich es auch ihnen gegenüber interessante Akzentverschiebungen gibt) 392 , sondern vor allem zu dem deutlich späteren Euagrios. Dessen Werk entpuppt sich besonders gegen Ende als eine reine Kaisergeschichte mit nur oberflächlichen kirchlichen Interessen393. Der damit eingetretene Verlust an spezifisch theologischem Gepräge der Kirchengeschichtsschreibung mag zum Verschwinden der Gattung in der späteren byzantinischen Zeit beigetragen haben. Bei Sokrates kann man (etwa im Vergleich zu Euseb) erste Anzeichen und Vorboten dieser Entwicklung bemerken; doch ist es wichtig festzuhalten, daß er insgesamt ein feines Gespür für die Grenzziehung und durch die Reflexionen in 5,pr auch ein explizites Problembewußtsein an den Tag legt.

2.4. Gruppen der Gesellschaft In den spätantiken Großstädten gab es ein überaus differenziertes Gesellschaftssystem. Konstantinopel hatte sich gerade in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts, also in der Zeit, in der Sokrates schrieb, zu einer blühenden Metropole entwickelt 394 . Es ist daher sinnvoll zu fragen, wie sich das gesellschaftliche Leben in seinem Werk widerspiegelt. Welche Gruppen der Gesellschaft erscheinen überhaupt in seinem Horizont? Wie werden sie dargestellt? Wie verhält sich diese Darstellung zu dem, was wir aus anderen Quellen wissen? So interessant es wäre, Sokrates systematisch als Quelle für die frühbyzantinische Sozialgeschichte auszuwerten 395 , muß doch auch in diesem Kapitel die andere Fragerichtung im Vordergrund stehen: Was ergibt sich aus der Untersuchung solcher Fragen für das Gesamtprofil der Kirchengeschichte und ihres Autors? Schließlich war auch Sokrates selbst ein Mitglied der byzantinischen Gesellschaft, und die Resultate der Untersuchung können möglicherweise dazu beitragen, seinen Platz darin näher zu

392 Damit stimmt grundsätzlich auch LEPPIN, Constantin [3.2.] 27-30 überein; der Zielsetzung seiner Arbeit entsprechend, versucht er jedoch gerade die unterschiedlichen Akzentsetzungen herauszuarbeiten, zu Sokrates vgl. besonders S. 227-243. 393 Vgl. ALLEN, Evagrius [3.2.] 65 f.; 243 f. und die verdeutlichenden Bemerkungen von

WICKHAM, Rez. zu ALLEN [3.2.] 496. 394

Zur Sozialstruktur der Stadt vgl. neben der umfassenden Analyse von DAGRON, Naissance

[3.4.] ν. a. JONES, Empire [3.4.] 688 f.; BECK, Konstantinopel [3.4.] (behandelt allerdings ü b e r w i e g e n d

einen etwas späteren Zeitraum); TINNEFELD, Gesellschaft [3.4.] 174-176; CHASTAGNOL, Evolution [3.4.] 332-334; DEMANDT, Spätantike [3.4.] 391-399. Konstantinopel war eigentlich erst seit Theodosios I. wirklich zur Haupt- und Residenzstadt geworden (DACRON 85 f.). 395 Weder Sokrates noch einer der anderen Kirchenhistoriker ist bisher in dieser Hinsicht angemessen untersucht, obgleich es sich um einen vielversprechenden Ansatz handelt. Eine solche Arbeit wäre daher ein dringendes Desiderat.

2.4. Gruppen der Gesellschaft

111

bestimmen (s. Abschnitt 4.1.). Außerdem können sich nähere Informationen über die Motivation zur Abfassung des Werkes und seinen „Sitz im Leben" ergeben. Es ist nicht weiter erstaunlich, daß in einer Darstellung der Kirchengeschichte besonders der Klerus396 breiten Raum einnimmt. Sehr wohl aber ist die kritische Tendenz bemerkenswert, mit der bei Sokrates speziell der höhere Klerus, also die Bischöfe, dargestellt werden. Programmatisch erklärt er im Proömium zum sechsten Buch: „Die kirchlichen Eiferer werden es mißbilligen, daß wir die Bischöfe nicht als sehr fromm oder heilig oder dergleichen bezeichnen." 397 Im Unterschied zu anderen programmatischen Äußerungen in den Proömien handelt es sich hier gewiß nicht um eine topische Aussage; es gibt keine vergleichbaren Parallelaussagen in anderen Kirchengeschichtswerken. Auch wenn der konkrete Bezug dieser Stelle, wie oben (S. 74) gezeigt, hauptsächlich in den Ereignissen im Zusammenhang mit dem umstrittenen Bischof Johannes Chrysostomos zu sehen ist, hält sich Sokrates auch sonst an dieses Prinzip. Von Lobhudelei und übertriebener Verherrlichung der Bischöfe ist seine Darstellung weit entfernt. Im Proömium zum fünften Buch findet sich eine ähnlich kritische Aussage: Die Kirchengeschichte beschäftigt sich „mit der Streitsucht (φιλονεικία) der Bischöfe und ihren Intrigen untereinander" 398 . Die φιλονεικία kann geradezu als Leitmotiv bei der Darstellung des höheren Klerus gesehen werden. Es fehlt auch nicht an konkreten Beispielfällen für die bischöfliche Zanksucht. Das antiochenische Schisma sei etwa nicht auf theologische Gründe zurückzuführen, sondern ausschließlich auf persönliche Animositäten der Bischöfe untereinander (5,9,5). Ahnlich werden auch die Streitigkeiten um Johannes Chrysostomos als völlig überflüssige und dem Christentum schädliche Auseinandersetzungen innerhalb des Klerus gebrandmarkt (6,6,41 f.). Die Bischöfe setzen sich gegenseitig ab und spiegeln nur oberflächlich dogmatische Gründe vor (1,24,1). Oder sie machen sich bei ihren Fehden nicht einmal dort, wo eigentlich theologische Differenzen vorhanden wären, die Mühe, sich auf diese Differenzpunkte zu berufen, um ihr rein machtpolitisch motiviertes Gezänk zu ummanteln 3 ". Die „Hofbischöfe" Valens und Ursakios haben überhaupt keine theologische Überzeugung und schlagen sich stets auf die Seite dessen, der gerade am längeren Hebel sitzt400. In liturgischen Angelegenheiten herrscht ein desperates Durcheinander unter den verschiedenen Ortskirchen und Sekten. Sokrates hat über die Erklärung für 3,6 Der Klerus im frühen Byzanz ist - gerade unter sozialgeschichtlichen Gesichtspunkten keineswegs so gründlich untersucht, wie es der Bedeutung des Themas entspräche. Vgl. DAGRON, Naissance [3.4.] 488-517; JONES, Empire [3.4.] 873-929; BECK, Konstantinopel [3.4.] 25-29; DEMANDT, Spätantike [3.4.] 444-448. 397 ,,οί μεν τ ω ν εκκλησιών ^ηλωταί κ α τ α γ ν ώ σ ο ν τ α ι , öxt μή τους έτπσκόττους λεγομεν θεοφιλέστατους ή ά γ ι ω τ ά τ ο υ ς η τ α τ ο ι α ύ τ α . " β,ρτ,γ. 3 " „... τ η φιλονεικία τ ω ν έτπσκόττων καί οΤς κ α τ αλλήλων έτύρευσαν", 5,pr,2. 3 " „¡στε'ον δε οτι ούδετεροι δια θρησκείαν, ά λ λ α &Γ ίτερας ττροφάσεις τ α ς καθαιρε'σεις ττεττοίηνται. διακρινόμενοι γ α ρ οία ττερί ττίστεως έν τ ω καθαιρεΤν αλλήλους τ η ν αλλήλων ττίστιν ού διεμεμφοντο." 2,42,2, vgl. auch 5,23,10. 400

2,37,13; Ähnliches wird auch über die Akakianer gesagt, 3,25,6.

112

2. Die Darstellung der Geschichte

diesen Mißstand keinen Zweifel: „Schuld an diesen Mißhelligkeiten sind, wie ich meine, die jeweiligen Bischöfe." 401 Die Bischöfe der verschiedenen Parteiungen sind außerstande, ihre Konflikte selbst zu lösen, und sind auf ein Machtwort der Kaisers angewiesen - so geschehen beim fehlgeschlagenen Unionskonzil unter Theodosios I. (5,10,26). Sokrates' Mißbilligung richtet sich dabei nicht auf das Eingreifen des Kaisers in die inneren Angelegenheiten der Kirche (das ist ihm wohl eine Selbstverständlichkeit), sondern auf die Uneinigkeit und Machtbesessenheit der Bischöfe. Die Vermischung des staatlichen mit dem kirchlichen Bereich wird, wenn überhaupt, auf Seiten der Kirche als problematisch empfunden. Der Fehler liegt bei den Bischöfen, denen jedes Mittel recht ist, um ihre Macht zu erhalten bzw. zu vergrößern. Nach dem Tode Julians etwa wittern alle Parteien ihre Chance und versuchen, die Gunst des neuen Kaisers Jovian zu gewinnen 402 . Den für antike Maßstäbe unerhörtesten Vorwurf stellt eine fast beiläufige Bemerkung zu Beginn des zweiten Buches dar. Sokrates möchte, um den Anforderungen seines Auftraggebers Theodoros zu genügen, in die zweite Bearbeitung auch diejenigen Schriftstücke einarbeiten, „die die Bischöfe auf den verschiedenen Synoden verabschiedet haben, wobei sie den Glauben allmählich veränderten", oder gar: „verfälschten" 403 ! Der Vorwurf des νεωτερισμός kommt praktisch dem Häresievorwurf gleich und geht hart an die Grenze dessen, was für orthodoxchristliche Ohren noch erträglich war 404 . Wenn der rätselhafte Auftraggeber Theodoros überhaupt Kleriker war, ist es schwer vorstellbar, daß er der orthodoxen Kirche angehört hat (s. S. 218). Auch vor seinen eigenen Zeitgenossen macht Sokrates mit seiner scharfen Kritik nicht Halt: Mit Papst Coelestin (422-432) verkommt auch der römische Bischofsthron, wie schon vorher der alexandrinische (mit Kyrill), zu reiner Willkürherr401 „AYTIOI γ α ρ , ώς η γ ο ύ μ α ι , τ η ς τ ο ι α ύ τ η ς διαφωνίας ο! κ α τ ά καιρόν τ ω ν εκκλησιών ττροεστώτες", 5,22,61. Mit ττροεστώτες τ ω ν εκκλησιών sind im Sprachgebrauch des Sokrates Bischöfe gemeint, s. S. 34. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, daß dem Kontext nach die Novatianer von der Kritik mitbetroffen sind (§60). 402

3,24.!; 3.25,1, v g l . a u c h 2,42,2.

403

,,ίττειδή δε π ρ ο ς σήν χ ά ρ ι ν , ώ ιερέ τ ο υ θεού άνθρωπε Θεόδωρε, καί τ ο ύ τ ο εδει ττοιήσαι, ώ σ τ ε μ η άγνοεΤν κα! ο σ α ... κ α τ ά διαφόρους συνόδους οί επίσκοποι τ η ν π ί σ τ ι ν κ α τ α 3 ρ α χ ύ μεταποιοΟντες έξίδωκαν, δια τ ο ύ τ ο , ο σ α α ν α γ κ α ί α ή γ η σ ά μ ε θ α , έν τ η δ ε τ η μ ε τ ά τ α Ο τ α υπαγορεύσει μετατεθείκαμεν." 2,1,6. Diese Aussagen haben einen Bezug auf das Folgende, denn im zweiten Buch hat Sokrates von der „Arianisierung" der Kirche zu berichten. Bezeichnenderweise k o m m t dabei noch einmal die W e n d u n g μεταποιείν τ ή ν ττίστιν vor, nämlich u m zu beschreiben, wie die Eusebianer den Glauben verändern und so allmählich das Nizänum außer Kraft setzen (2,10,2). Es ist deutlich, daß diese Wendung f ü r Sokrates hier extrem negativ konnotiert ist. Die Übersetzung mit „verfälschen" ist also nicht zu stark. Andererseits geht es auch nicht an, den Bezug dieser Stelle ausschließlich in den „häretischen" Synoden unter Konstantios zu sehen (ebensowenig wie die direkt zuvor genannten Kaiserbriefe sich nur auf diesen Herrscher beziehen). Vielmehr zeigt sich hier eine grundsätzliche Skepsis gegenüber d e m ausufernden Synodalbetrieb des vierten Jahrhunderts, wie sie auch an anderen Stellen z u m Ausdruck k o m m t ( e t w a 2,40,21). 404

Man denke etwa an Euseb, der in seinem P r o ö m i u m alle Häresie auf νεωτεροπού'α

z u r ü c k f ü h r t ( E u s . 1,1,1 [6,7]), v g l . d a z u GRANT, Eusebius

[3.2.] 84.

2.4. Gruppen der Gesellschaft

113

schaft. Z u r Begründung f ü r dieses scharfe Verdikt verweist Sokrates darauf, daß man nun nicht einmal mehr vor der Verfolgung der eigenen Gesinnungsgenossen zurückschreckt - und meint damit die Novatianer 405 . Dem zu Sokrates' Zeit wohl noch amtierenden Kyrill von Alexandrien 406 wird auch die Ermordung der Philosophin Hypatia angelastet und scharf kritisiert: „Morde und Kämpfe und dergleichen stehen nämlich denen, die Christus im Sinn haben, nicht gut an." 4 0 7 So außerordentlich deutliche Worte überraschen bei einem Autor, der sonst eher nüchtern-zurückhaltend in seinem Urteil ist. Das lädt dazu ein, weiter zu fragen, worauf genau diese harte Kritik bezogen und wodurch sie begründet ist. In den angeführten Beispielen wurde schon deutlich, daß sie sich nicht speziell gegen den Klerus einer bestimmten Parteiung oder Kirche richtet408, auch nicht gegen eine bestimmte theologische Lehrmeinung bzw. Häresie. Dabei ist es nicht die Art, wie Bischöfe in ihr Amt gelangen, die bei Sokrates besonderes Mißfallen erregt. Gerade in seiner eigenen Zeit, also seit Theodosios I., häuften sich die Fälle, in denen die staatliche Macht bei der Auswahl der Kandidaten für das bischöfliche Amt entscheidenden Einfluß nahm. Daran scheint Sokrates nichts auszusetzen zu haben; jedenfalls berichtet er häufig neutral und ohne besondere Kritik über derartige Vorgänge 409 . Gelegentlich spricht auch das Kirchenvolk das entscheidende Wort, aber wiederum läßt Sokrates nicht erkennen, daß er das für grundsätzlich verfehlt oder grundsätzlich angemessen hielte (s. unten S. 122 f.). Im vierten und fünften Jahrhundert geschah es nicht selten, daß Männer aus den höchsten Gesellschaftsschichten ein Bischofsamt übernahmen, mitunter aus einer glänzenden staatlichen Karriere heraus, daher mit guten „Führungsqualitäten", aber ohne besondere theologische Qualifikation. Sokrates berichtet von einer Reihe solcher Fälle, doch scheint er darin kein Problem zu sehen - eher im Gegenteil: Mit einem gewissen Stolz berichtet er ganz am Ende seines Werkes, wie es Bischof Proklos gelungen ist, den ehemaligen Präfekten von Illyrien und aussichtsreichen Kandidaten f ü r das Amt des praefectus praetorio orientis Thalassios für das

405

7,11,4 f.; Kyrill: 7,7,5. Konstantinopel wird allerdings (vorsichtigerweise) explizit von der Kritik ausgenommen (7,11,6); dort durften sich die Novatianer ungehindert entfalten. 4 0 6 Z u r Frage der Datierung und inwieweit Kyrill dafür eine Rolle spielen könnte s. unten S. 211, A n m . 14. 4 0 7 , , ά λ λ ό τ ρ ι ο ν γ α ρ τταντΕλώς τ ω ν φ ρ ο ν ο ύ ν τ ω ν τ α Χ ρ ι σ τ ο ύ φόνοι κ α ί μ ά χ α \ κ α ι τ α τ ο ύ τ ο ι ς τ τ α ρ α τ τ λ η σ ι α . " 7.15.6. 4 0 8 Allerdings fallt auf, daß in keinem der angeführten Fälle novatianische Kleriker kritisiert werden. 4 0 5 Beispiele sind die Einsetzungen der Bischöfe Johannes Chrysostomos (6,2,2-4.9 f.) und Nestorios (,,έδόκει τ ο ΐ ς κρατοΟσι"; 7,29,1), an denen Sokrates manches kritisiert, aber eben nicht die Art ihrer Wahl. Vgl. weiterhin die Wahl des Proklos (7,40,3 f.). Die Einsetzung des Bischofs Kyrill von Alexandrien gegen den Willen der politischen Machthaber (7,7,3 f.) zeigt dasselbe von der anderen Seite, denn Sokrates hält diese Wahl offensichtlich f ü r einen Fehlgriff. A m ehesten bei der Wahl des Bischofs Maximianos (7,35,2) gegen den Willen des Volkes ist bei Sokrates ein kritischer Unterton zu bemerken (s. unten S. 122, Anm. 472). Die negative Darstellung des Makedonios, Bischof von des ϊτταρχος' Gnaden (2,16,14), ist auf das insgesamt schlechte Betragen dieses Würdenträgers zurückzuführen.

114

2. Die Darstellung der Geschichte

bischöfliche Amt von Kaisareia in Kappadokien zu gewinnen, besser gesagt: ihn zu überrumpeln und hinterrücks zu ordinieren. „Die Angelegenheiten der Kirche nahmen auf diese Weise eine günstige Entwicklung" 410 , folgert Sokrates und beschließt damit seine Kirchengeschichte. Eine ähnliche Tendenz ist bei den Berichten von der Bischofswahl des Ambrosius und des Nektarios zu bemerken; beide kamen aus einer glänzenden Beamtenlaufbahn 411 . Auch daß es den Novatianern gelungen ist, den erfolgreichen Karrierebeamten Chrysanthos als Bischof der Hauptstadt zu gewinnen, erfüllt Sokrates sichtlich mit Stolz412. In keinem dieser Fälle wird dagegen die mangelnde theologische Bildung des Kandidaten kritisiert. Weiterhin stellt sich die Frage, wie Sokrates zu der sich entwickelnden überregionalen Leitungsfunktion des Konstantinopolitaner Bischofs (und der anderen Patriarchen) steht, bzw. ob an dieser Stelle für ihn ein Ansatzpunkt der Kritik liegt. Zu der Zeit, in der Sokrates schrieb, war die Entwicklung zur späteren patriarchalen Amtsstruktur schon recht weit fortgeschritten 413 . Nicht nur hatten die Synoden von Nikaia und Konstantinopel die kirchenrechtliche Gundlage dafür geschaffen 414 , sondern durch tatkräftige und kirchenpolitisch geschickte Amtsträger auf dem an sich verhältnismäßig jungen thronos von Konstantinopel hatte dieser auch faktisch seinen Einfluß auf das Hinterland erheblich ausdehnen können 415 . Sokrates berichtet über einige Fälle, in denen der Bischof der Hauptstadt in Kleinasien kirchenleitende Funktionen wahrnahm, wenn auch nicht immer mit großem Erfolg416. Besonderer Nachdruck oder auch kritische Distanzierung ist in keinem dieser Fälle zu verspüren. Daß sich unabhängig von konkreten rechtlichen Machtansprüchen ein Vorrang der Bischofssitze von Rom, Alexandrien, Antiochien, Jerusalem und Konstantinopel entwickelt hatte, spiegelt sich bei Sokrates in den oft zu Beginn eines neuen Buches eingefügten Überblicken über die kirchlichen Verhältnisse wider. Dort werden die momentanen Inhaber dieser fünf wichtigen thronoi aufgezählt, wobei stets Rom an , , τ ά μεν κ α τ ά τ ά ς Εκκλησίας ο ϋ τ ω ττροεκοτττΕν." 7,48,6. Ambrosius: 4,30; Sokrates' Bewertung k o m m t v. a. in §8 z u m Ausdruck. Nektarios: 5,8,12. 412 7,12,1-4 und v. a. §8. Chrysanthos war zuletzt Statthalter v o n Britannien g e w e s e n und machte sich H o f f n u n g e n auf das A m t des ετταρχος von Konstantinopel. 410 411

413

V g l . H E R M A N , Chalkedon

A N D R E S E N , Kirchen

[ 3 . 4 . ] 4 7 2 - 4 7 4 ; BECK, Kirche

[ 3 . 4 . ] 374-379; DAGRON, Naissance

[ 3 . 4 . ] 2 7 - 3 2 ; JONES, Empire

[3.4.] 890-892;

[ 3 . 4 . ] 4 5 4 - 4 8 7 ; LANDAU, Kirchenverfassungen

[3.4.]

115 f. (weitere Lit. S. 156); DEMANDT, Spätantike [3.4.] 448. 414 Kanon 6 v o n Nikaia 325 (JOANNOU, Canons [1.3.] 1, 28,15-29,3), in d e m Konstantinopel selbstverständlich n o c h nicht erwähnt ist, begründete die überregionale Hierarchie der Kirche. In Kanon 3 v o n Konstantinopel 381 (JOANNOU 1, 47,21-48,3) wurde d e m „neuen R o m " Ehrenvorrechte gleich nach d e m „alten" eingeräumt. N u r kurze Zeit nach Sokrates wurde die Rechtsstellung des Konstantinopolitaner Patriarchen auf d e m Chalcedonense i m sog. Kanon 28 (JOANNOU 1, 90,1893,3) festgeklopft, vgl. dazu HERMAN, Chalkedon [3.4.] 463-472. 415

V g l . D A C R O N , Naissance

416

6 , 1 1 , 8 - 1 1 ; 7 , 2 5 , 4 - 8 . 1 6 ; 7 , 2 8 , 1 ; 7 , 3 7 , 2 . 6 f.; 7 , 4 8 , 1 - 5 . I n 7 , 2 8 , 2 ä u ß e r t S o k r a t e s s o g a r d i e A u f f a s s u n g ,

[3.4.] 461-473.

ein Gesetz schreibe vor, daß der Bischof von Konstantinopel der Wahl eines Bischofs in Kyzikos z u s t i m m e n müsse. Ein solches Gesetz ist aber nicht bekannt. — Es ist nicht weiter erstaunlich, daß die Frage des Verhältnisses des Metropolitanbischofs zu seinem Hinterland nur in b e z u g auf den Konstantinopolitaner Bischof in Sokrates' Horizont erscheint.

2.4. Gruppen der Gesellschaft

115

erster und Konstantinopel an letzter Stelle steht 417 , eine „Bescheidenheit", die für einen Konstantinopolitaner Autor in der Mitte des fünften Jahrhunderts gewiß nicht selbstverständlich ist. In bezug auf die Terminologie erweist sich Sokrates eher als konservativ. Den Titel „Metropolit", der sich für die Bischöfe von Provinzhauptstädten immer mehr einbürgerte, verwendet er überhaupt nicht. Lediglich an zwei Stellen wird eine solche Bischofsstadt μητρόπολις genannt 418 . Nicht einmal die Bezeichnung „Erzbischof (άρχιεττίσκοττος)", die für die Inhaber der wichtigsten Bischofssitze üblich war 419 , ist bei Sokrates belegt. Interessant ist der Befund hinsichtlich des Titels „Patriarch". Dieser Titel fing erst im Laufe des fünften Jahrhunderts an, populär zu werden 420 . Sokrates ist einer der ersten, der ihn im technischen Sinne gebraucht. Bei der Wiedergabe des zweiten Kanons des Konzils von Konstantinopel 381 nennt er in Abweichung vom Originaltext des Kanons die Bischöfe mit überregionaler Leitungsfunktion „Patriarchen" 421 . Es besteht kein Grund daran zu zweifeln, daß es sich hier um den originalen Sprachgebrauch unseres Autors handelt, denn auch wenn er das Wort sonst sehr selten verwendet, ist es doch im Prinzip bei ihm belegt 422 . Für einen Autor, der nur wenige Jahre vor dem Konzil von Chalkedon schreibt, ist Sokrates dennoch sehr zurückhaltend mit Ausdrücken, die die Sonderstellung der Patriarchen zum Ausdruck bringen. Er beschränkt sich fast ausschließlich auf die althergebrachte Bezeichnung έτπ'σκοττος423. Insgesamt kann man also sagen, daß er der faktischen Entwicklung der Ämterstruktur in angemessener Weise Rechnung trägt, ohne allerdings tieferes Interesse dafür aufzubringen. Durch seine leicht anachronistische Terminologie zeigt er eher, daß ihm an der Machtsteigerung des Bischofs der Hauptstadt nicht besonders gelegen ist. Ebenso läßt sich nicht erkennen, daß Sokrates dem immer komplexer werdenden kirchlichen Verwaltungsapparat besonderes Interesse entgegenbrächte. Der Leser bekommt keinen Einblick in die Amtsstuben des Patriarchats; nur ganz gelegentlich tritt ein Kleriker aus der unmittelbaren Umgebung des Bischofs auf und

4 1 7 Ansonsten variiert die Reihenfolge etwas: Rom - Alex. - Ant. -Jer. - K'pel (4,1,14-16); Rom - Ant. - Alex. - K'pel (5,3,1-4); Rom - Alex. - Jer. - Ant. - K'pel (6,1,2). Vgl. dazu GAHBAUER, Pentarchietheorie [3.4.] 75 f., der jedoch nur die letztgenannte Stelle berücksichtigt. 418 7,36,9 (Korinth) und 2,36,3 (Alba); in 2,16,6 wird Thessaloniki als μηχρόττολις bezeichnet, doch in rein profanem Sinn. 419

420

V g l . LAMPE [2.] s. v. u n d GAHBAUER, Pentarchietheorie

[3.4.] 54-56.

Hauptsächlich im Gefolge des Konzils von Chalkedon, vgl. GAHBAUER, Pentarchietheorie

[3.4.] 51-58. 4 2 1 „ττατριάρχας κατέστησαν διανειμάμενοι τάς έτταρχίας" 5,8,14- Vermutlich bringt er den Kanon 2 des Konzils (JOANNOU, Canons [1.3.] 1, 46,14-47,18) mit dem Gesetz cod. Theod. 16,1,3 vom 30. Juli 381 durcheinander (womit aber der Gebrauch des Titels Patriarch nicht erklärt ist),

vgl. RITTER, Konzil [3.4.] 91, A n m . 1 sowie RAUSCHEN, Jahrbücher [3.4.] 479-481, zur Interpretation auch GAHBAUER, Pentarchietheorie [3.4.] 55 und PERI, Pentarchia [3.4.] 251-253 (dessen Herleitung des

Titels aus der jüdischen Tradition, S. 254-260, jedoch nicht überzeugt). 422

5,8,15; 7,31,2.

423

Gelegentlich steht auch das ebenfalls unprätentiöse ττροεστώς, s. S. 34.

116

2. Die Darstellung der Geschichte

erscheint dann eher in negativem Licht 424 . Auch von den immer differenzierteren Amtsbezeichnungen der verschiedenen Klerikerränge ist bei Sokrates nichts zu lesen 425 . Überhaupt ist festzuhalten, daß der niedere Klerus eine recht unwichtige Rolle spielt. Wenn er vorkommt, dann meist als Kollektivbegriff und in Verbindung mit den Laien, dem einfachen Kirchenvolk426. Es kann keine Rede davon sein, daß Sokrates für den niederen Klerus oder Kleriker im Verwaltungsapparat des Patriarchats Partei ergriffe und Presbyter und Diakone auf Kosten der Bischöfe in ein besseres Licht rückte. Ähnliches gilt für das Kirchenvolk und die Mönche 427 . Die scharfe Kritik am höheren Klerus findet kein zusätzliches Erklärungsmotiv. Es bleibt bei dem zentralen Vorwurf der Streitsucht (φιλονεικία), der immer und immer wieder erhoben wird. Es lohnt sich also, noch einmal genauer zu fragen, was genau Sokrates mit φιλονεικία meint und woran er den Vorwurf festmacht. Die sehr häufig belegte Vokabel 428 bezeichnet fast stets Streitigkeiten unter Bischöfen. Diese Streitigkeiten haben gelegentlich theologische Anlässe 429 , meist jedoch geht es um machtpolitische Fragen, nicht selten die Besetzung von frei gewordenen Bischofsthronen 430 . Manchmal wird auch gar kein konkreter Grund angegeben; die φιλονεικία erscheint dann als Charaktereigenschaft 431 oder auch fast hypostasiert und mit einer gewissen Eigendynamik 432 . Ein typischer Fall ist der Bericht vom erneuten Aufbrechen des arianischen Streites unmittelbar nach dem Tode Konstantins. Am Hof des Kaisers Konstantios II. kommen dogmatische Diskussionen auf; wie an einem Funken entzündet sich an diesem ζ ή τ η μ α die φιλονεικία; der ausbrechende Streit richtet riesigen Schaden an (2,2,9). An dieser Stelle wie auch sonst öfter tritt in Verbindung mit der φιλονεικία der Begriff τ α ρ α χ ή (bzw. τ α ρ ά τ τ ε ι ν ) auf, der schon in Verbindung mit der kirchlichen Terminologie des Sokrates aufgefallen war (s. S. 32 f.): Mit diesem Begriff pflegt der Kirchenhistoriker den Unruhezustand der Kirche zu bezeichnen, der häufig zur Spaltung führt 433 . Darin liegt nun die eigentliche Gefahr, die mit der φιλονεικία verbunden ist: Letztlich führt die Streitsucht zur Spaltung. Das ist besonders deutlich beim Bericht vom Auseinanderbrechen der Synode von Seleukeia 359 zu sehen. Die 424 Das ist etwa der Fall bei Sarapion, dem Diakon des Johannes Chrysostomos, 6,4,2; 6,11,12 ff.; 6,15,15; 6,17,12. 425 Lediglich άρχι&ιάκονος ist einmal belegt (7,7,2); vgl. zur Entwicklung des Amtsapparates DARROUZÈS, Recherches [3.4.] 11-50; JONES, Empire [3.4.] 904-910. 426 Formelhalft begegnen „κληρικοί καί λαϊκοί" (oder ähnlich) in 2,23,14; 2,23,44; 4,29,6; 6,2,3; 7,3,6; 7,32,3; etwas anders 7,25,19 und 7,34,15. 427 S. dazu die Analyse der Darstellung dieser Gruppen gleich im folgenden. 428 Einschließlich der Ableitungen φιλονε\κεΤν und φιλόνεικος kommt das Wort 49mal vor; zum Vergleich: i2mal bei Theodoret (in der Kirchengeschichte). Bei Sozomenos ist es kein einziges Mal belegt! Dieser auffällige Befund kann eigentlich nur so erklärt werden, daß Sozomenos das Lieblingswort seines Vorgängers bewußt vermieden hat. 429 Etwa 1,6,31; 5,23,3 ff. 430 4,30,1 (Mailand); 7,26,1 (Konstantinopel). 431 Die Akakianer haben einen ,,φιλόνεικος χρόττος", 3,25,6. 432 2,39,13; 3,9,5; 5,5,1; 7,31,6. 433 Etwa 1,23,5; weitere Stellen oben S. 32, Anm. 14 und S. 33, Anm. 19.

2.4. Gruppen der Gesellschaft

117

Bischöfe waren sich nicht einig darüber, ob der Lebenswandel der Angeklagten zum Gegenstand der Beratungen zu machen sei oder nicht; die unklaren Weisungen des Kaisers erschwerten die Lage. „Als nun darüber φιλονεικία aufkam, entstand ein Schisma unter den Anwesenden, und das war der Anlaß für die Spaltung der Synode von Seleukeia in zwei Parteien." 434 Umgekehrt ist Sokrates davon überzeugt, daß die Berufung auf das nizänische Konzil dazu genügt hätte, die φιλονεικία zu überwinden und das Schisma zu verhindern (2,40,21). Der Gegenbegriff zur φιλονεικία lautet darum ομόνοια, womit der anzustrebende Friedenszustand der Kirche bezeichnet wird 435 . Der höhere Klerus tritt in Sokrates' Darstellung fast durchweg nicht als Garant dieser ομόνοια auf, sondern - im Gegenteil als ihr grundsätzlich widerstreitend. Gerade aus den daraus resultierenden Verwicklungen gewinnt die Kirchengeschichte ihren Stoff. In völlig anderem Sinne als für Euseb sind also auch für Sokrates die Bischöfe konstitutiv für seine Geschichtsschreibung. Während Euseb durch die διαδοχαί auf den wichtigsten Bischofssitzen gerade die Einheit und Unverletzlichkeit der Kirche beweisen möchte 436 , sind es bei Sokrates die Bischöfe, die den Frieden der Kirche gefährden und die ihre Einheit immer wieder aufs Spiel setzen. Auf diese Weise schaffen sie dem Kirchenhistoriker sein Material. „Wenn Friede herrscht, fehlt es den Geschichtsschreibern an Stoff" 4 3 7 Doch resignierend bemerkt Sokrates: „Das Sprichwort sagt: Dem Säufer geht der Wein nicht aus - ebensowenig dem Streitsüchtigen der Kampf." 438 Das Mönch tum 439 , die nächste hier zu besprechende Gruppe, gehört zwar dem kirchlichen Bereich zu und, so möchte man meinen, damit auch zum Gegenstandsbereich einer Kirchengeschichte, doch lebten die Mönche - speziell in Konstantinopel - stets in kritischer Distanz zur „Amtskirche" 440 . Gerade darum könnte man erwarten, daß Sokrates ihnen besonderes Interesse und Sympathie entgegenbringt. Davon kann jedoch keine Rede sein (so daß sich auch hier kein zusätzliches Motiv für die Kritik am Klerus ergibt). Zunächst ist auffällig, welch eine geringe 434 „TTEpi T O U T O U οδν τ η ς φιλονεικίας γινομένης σ χ ί σ μ α εις τους τταρόντας έχώρησεν, και α υ τ ή γέγονεν ττροφάσεως ά ρ χ ή τ ο υ καί τ η ν έν Σελευκεία σύνοδον εις Suo μέρη διαιρεθηναι."

2,39.15·

3.^5.4; 5.5.5Í S. dazu S. 255 ff. Eus. 1,1,1.4; 3.37; 5,6,5 (Zitat aus Irenaus); vgl. zu dieser für Euseb zentralen Vorstellung RUHBACH, Apologetik [3.2.] 144-148; ABRAMOWSKI, διαδοχή [3.2.] (Euseb übernimmt und reinterpretiert den Terminus von Hegesipp); GRANT, Eusebius [3.2.] 45-59; TETZ, Christenvolk [3.2.] 38-46; TWOMEY, Thronos [3.2.] 20-34; WINKELMANN, Euseb [3.2.] 106 f. 437 „ειρήνης γ α ρ οϋσης ύττόθεσιν oi ίστοριογραφεΤν έθέλοντες οϋχ εξουσιν." 7.48,7. vgl. auch 1,18,15. 438 „ ά λ λ α φιλοίνοις, ώς φησίν ή τταροιμία, οίνος ού λείττει ούδέ φιλονείκω μ ά χ η . " 7,31,6. 4 3 ' Die umfangreiche Literatur z u m Mönchtum in der Alten Kirche wird durch VON LILIENFELD, Mönchtum [3.4.] 187-189 erschlossen. Gute Überblicksdarstellungen ebd. S. 152-166 sowie LIETZMANN, Geschichte [3.4.] 4,116-192: BECK, Kirche [3.4.] 120-140; FRANK, Geschichte [3.4.] 20-34; LORENZ, Osten [3.4.] C227-C241; speziell zur Sozialgeschichte vgl. JONES, Empire [3.4.] 929-933; TINNEFELD, Gesellschaft [3.4.] 342-351; DEMANDT, Spätantike [3.4.] 455-461. 4 4 0 Für das Konstantinopolitaner Mönchtum ist die glänzende Untersuchung von DAGRON, Moines [3.4.] grundlegend, hier bes. S. 275 f. (Verhältnis z u m Klerus); vgl. auch ders., Naissance [3.4.] bes. S. 509-517 und BECK, Konstantinopel [3.4.] 29-32. 435 436

2. Die Darstellung der Geschichte

118

Rolle das Mönchtum in der Kirchengeschichte überhaupt spielt441. Doch auch wo das Phänomen in Erscheinung tritt, wird keineswegs der kritische Abstand zum Klerus lobend hervorgehoben. Das Charakteristische an der Darstellung des Mönchtums ist vielmehr der distanziert-theoretische Zugang. Es ist aus anderen Quellen hinreichend bekannt, daß es seit der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts in Konstantinopel ein ausgesprochen urban geprägtes, eigenständiges und für die christliche „Szene" durchaus bedeutsames Mönchtum gab 442 . Nur wenige Jahre nach der Abfassung von Sokrates' Kirchengeschichte versuchte das Konzil von Chalkedon, dieses Mönchtum in seine Schranken zu weisen bzw. fester an die kirchlichen Institutionen zu binden 443 . Das in der Hauptstadt florierende Mönchsleben speiste sich aus dem Hinterland und dürfte auf der sozialen Leiter überwiegend recht niedrig anzusetzen sein 444 . Doch in allen wichtigen kirchenpolitischen Auseinandersetzungen der zweiten Hälfte des vierten und der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts hatte das Mönchtum ein gewichtiges Wort mitzureden. Von alledem hätte man nicht die geringste Kenntnis, wäre man auf den Hauptstädter Sokrates als einzige Quelle angewiesen. Wohlgemerkt: Sokrates kritisiert nicht etwa das Mönchtum in seiner Heimatstadt oder distanziert sich davon, sondern es wird schlicht mit keiner Silbe erwähnt. Besonders auffallig ist das vor allem bei den großen Auseinandersetzungen um die Bischöfe Gregor von Nazianz, Johannes Chrysostomos und Nestorios. In allen diesen Fällen haben Mönche nachweislich eine wichtige Rolle gespielt und den Ausgang des Streites entscheidend beeinflußt. Bei Sokrates treten sie in allen drei Fällen nicht in Erscheinung445. Dabei ist es nicht etwa so, daß dem Kirchenhistoriker die Existenz des Phänomens gänzlich entgangen wäre. Obgleich er insgesamt über die Verhältnisse in Alexandrien und Ägypten nicht so gut Bescheid weiß wie über die seiner Heimatstadt Konstantinopel, versäumt er es nicht, auf die Bedeutung der Mönche bei Streitigkeiten dort gebührend hinzuweisen446. Diese Bedeutung ist in der Tat kaum 441

Das ist schon verschiedenen Kommentatoren aufgefallen: HARNACK, Sokrates [3.1.] 411;

DAGRON, Moines 442

[3.4.] 238; LIEBESCHUETZ, Historians

Vgl. DACRON, Moines

[3.2.] 160; LEPPIN, Constantin

[3.2.] 233 f.

[3.4.] 253-257 und die Analyse der Quellen ebd. S. 230-246.

4 4 3 Nur in Kanon 23 (JOANNOU, Canons [1.3.] 1, 87,5-25) wird Konstantinopel direkt erwähnt; doch der Sache nach beziehen sich auch die Kanones 4, 8, 18 und 24 (JOANNOU 1, 72,14-74,2; 75,19-

76,13; 83,23-84,9; 88,4-12) a u f die Situation in der Hauptstadt; vgl. UEDING, Kanones sowie DAGRON, Moines

[3.4.] 600-620

[3.4.] 272-275.

4 4 4 Vgl. DAGRON, Naissance [3.4.] 513 (in dem Abschnitt „Le monde des pauvres et des moines"). 4 4 5 Gregor von Nazianz bezeugt selbst die Beteiligung von Mönchen: Ep. 77, v. a. §1 (66,10 f.), dasselbe wohl gemeint in De vita sua 665, vgl. DAGRON, Moines [3.4.] 262 sowie TINNEFELD, Gesellschaft [3.4.] 343 f.; bei Sokrates dagegen verlautet nichts dergleichen (5,7). Zu Johannes Chrysostomos s. oben S. 72, bes. Anm. 213. Vor allem bei Nestorios ist es sehr auffallig, daß Sokrates erstens nichts von dessen „monastischer Vorbelastung" erwähnt, obgleich er einige Informationen über seine Herkunft bringt (7,29,2 f.), und zweitens auch nicht von der massiven Einflußnahme monastischer „Kampfgruppen" auf den Verlauf der Synode in Ephesos spricht (7,34). Diese ist aber durch andere Quellen gut bezeugt, nicht zuletzt durch Nestorios selbst, Hb. Her

239 f. NAU, vgl. DAGRON 266-268. 446

6,7; 7,14 f.

2.4. Gruppen der Gesellschaft

119

zu überschätzen und entspricht der historischen Realität, soweit sie uns aus anderen Quellen erkennbar ist447. Auch wenn die Mönche als „Schlägertruppen" der Patriarchen Theophil und Kyrill eine eher unrühmliche Rolle spielten (die von Sokrates auch keineswegs beschönigt wird) 448 , ist seine Darstellung des ägyptischen Mönchtums insgesamt doch von großer Bewunderung getragen 449 . Das wird besonders im vierten Buch deutlich, wo er die Verfolgungen durch den vom Kaiser eingesetzten arianischen Bischof Lukios zum Anlaß nimmt, einen längeren Exkurs über das Mönchtum einzuschalten (4,23). Darin gibt er einige Geschichten über ägyptische Wüstenväter wieder und zitiert vor allem ausgiebig Euagrios Pontikos, den großen Theoretiker des Mönchtums. Bei den Mönchsgeschichten wird deutlich, daß Sokrates hier entgegen seiner sonst eher nüchternen Art durchaus den narrativen Wert derartiger Traditionen erkannte. Die Lust am Spektakulären, Ausgefallenen, Unglaublichen, die sicher die Verbreitung dieser Erzählstücke sehr begünstigt hat, ist auch bei Sokrates zu verspüren, wenn er auch vor den allerkrausesten Histörchen zurückschreckt. Daß seine Kenntnisse auf eigener Anschauung basieren könnten, legt sich an keiner Stelle nahe 450 . Ein Teil seines Materials stammt aus Rufin, doch darüber hinaus hat er sich auch Zugang zu einigen der kursierenden Sammlungen von Mönchsgeschichten und -apophthegmen zu verschaffen gewußt 451 . Explizit verweist er auf die Sammlung des Palladlos (womit übrigens die Historia Lausiaca in der uns vorliegenden Gestalt nicht gemeint sein kann) und empfiehlt sie seinen Lesern 452 . Diese ausdrückliche Empfehlung mag überraschen, wenn man bedenkt, daß Sokrates bei der Bewertung des umstrittenen Bischofs Johannes Chrysostomos dem Palladlos diametral entgegengesetzt war (s. oben S. 75). Doch kannte er dessen Dialogus ja nicht, und in bezug auf das Mönchtum war Palladlos durch seinen Lehrer Euagrios Pontikos bestens empfohlen. Für Euagrios hatte Sokrates ein genuines Interesse; mit seinem Schrifttum war er offenbar gut vertraut. Er gibt ein ausführliches Werkeverzeichnis des Mönchstheologen 453 und zititert längere Passagen aus dem Practictis und dem Gnosticus. Besonders bei dem Zitat aus dem Practicus wird aber auch deutlich, daß sein Inter447

V g l . BACHT, Rolle [3.4.] 294-297 s o w i e f e r n e r JONES, Empire [3.4.] 930 f.; TINNBFELD, Gesell-

schaft [3.4.] 345-347; DEMANDT, Spätantike

[3.4.] 457.

In 7 , 1 4 vgl. v. a. §10. 4 4 9 Besonders klar in 4,23,14 („άνδρες θεοφιλείς κα! έν τ η άσκέσει διαττρεψαντες κα! άττοστολικόν βίον βιώσαντες"), 4.23.77 („άνδρες θαυμαστοί και θεοφιλείς") und 4.24>ι8 („θαυμάσιοι ... άνδρες"). 4 5 0 Im Gegenteil zeigt 7.17,3. daß er die ägyptischen Wüstenväter nicht aus eigener Anschauung kennt. 451 4,23,14; auch die Vita Antonii des Athanasios kannte er, 4,23,12 (in 1,21 dagegen nur das Referat aus Rufin). 44S

452

4,23,78; v g l . d a z u GEPPERT, Quellen

[3.1.] 79 f. u n d HANSEN [1.1.] LIII ( „ M i t d e r

Historia

Lausiaca des Palladlos ... hat er nur punktuelle Berührungen."). 453 4,23,36-38; zu Euagrios Pontikos im allgemeinen (Biographie, Werk) vgl. GUILLAUMONT, Evagrius [3.4.] mit weiterer Literatur, zu Sokrates' Verhältnis zu ihm im besonderen s. unten S. 230 ff.

120

2. Die Darstellung der Geschichte

esse für den theoretischen Hintergrund des Mönchtums nicht allzu tief ging: Aus dem durchaus anspruchsvollen theoretischen Traktat greift er genau diejenige Passage heraus, in der nur recht harmlose Mönchsgeschichten erzählt werden 454 . Dennoch wird der Grund für Sokrates' auffällig positives Verhältnis zu Euagrios weniger dessen spezifisch monastisches Anliegen gewesen sein als vielmehr seine theologische Lehre im allgemeinen. Dabei wiederum liegt es nahe, eine Verbindung zu Sokrates' ausgeprägter Origenes-Verehrung zu sehen, denn Euagrios war bekanntlich ein großer Origenist455. In jedem Falle ist es Euagrios Pontikos, der für Sokrates das Ideal des Mönchtums schlechthin entwickelt hat. Dieses Ideal stellt für ihn eine wichtige Bezugsgröße dar. Immer wieder werden hochstehende Persönlichkeiten an diesem Ideal gemessen, am deutlichsten der Novatianerbischof Paulos, von dem Sokrates sagt: „Ich bin zu der Auffassung gekommen, daß dieser Mann so ist, wie Euagrios sagt, daß die Mönche in der Wüste sein sollen." 456 Auch sonst zählen monastische Tugenden durchaus zu den besten Eigenschaften, die Sokrates an einem Bischof herauszustellen weiß, ja, sogar dem Kaiser Theodosios II. wird bescheinigt, daß „er den Kaiserpalast nicht viel anders als ein Kloster einrichtete" 457 . Die Bischöfe Attikos, Maximianos, Silvanos und Markianos führen einen ασκητικός βίος 458 . Auffällig ist dagegen, daß Sokrates wenig in dieser Richtung über die großen Bischöfe Basileios von Kaisareia und Gregor von Nazianz zu sagen weiß. Beide beschäftigen den Kirchenhistoriker ausführlich (4,26), doch der Leser erhält kaum eine Vorstellung davon, daß sie das Mönchtum in Kleinasien entscheidend geprägt haben 459 . Sehr wohl werden die monastischen Bestrebungen des Eustathios von Sebaste geschildert, doch im Tone deutlicher Mißbilligung; die Synode von Gangra hat bei ihrer Verurteilung des Eustathios Sokrates eindeutig auf ihrer Seite460. Offensicht-

454

S o k . 4,23,40-59 =

E u a g r i o s , Practicas

§91-99 (vgl. GUILLAUMONT [1.3.] in d e r E i n l e i t u n g

S. 304 f.). Die Stelle aus dem Gnosticus ist theoretischer, aber angesichts des fragmentarischen Erhaltungszustandes des Werkes ist es schwer zu beurteilen, wie sinnvoll sie ausgewählt ist; Sok. 4,23,61-71 = Gnosticus, frg. 45-48, aus dem gleichen Werk auch die in der folgenden Anm. genannte Stelle. Zur Art der Zitation vgl. GUILLAUMONT 48. 4 5 5 Diese Verbindung wird von Sokrates allerdings an keiner Stelle ausdrücklich angesprochen, dürfte ihm aber bewußt gewesen sein, s. unten S. 230 f.; zu seinem Verhältnis zu Orígenes vgl. 6,13; 6,17,7; 7,45,5 und dazu S. 227 ff. 4 5 6 „τοιούτον γαρ αύτόν εγώ κατέλαβαν οντά, οϊους ό Εύάγριός φησιν δεΐν είναι χους tv ταΐς έρήμοις διατρίβοντας μοναχούς." 7,17,3, vgl. auch 7,46,5· 4 5 7 ,,ούκ άλλοιότερα δε άσκητηρίου κατέστησε τ α βασίλεια." 7, 2 ^.4· 4 5 8 In der Reihenfolge der Nennung: 6,20,3; 7,35,3; 7,37.i; 7,46,9 (Markianos, der Novatianerbischof!). 4 5 9 Ganz knapp heißt es lediglich in 4,26,7, daß sie einen μονήρης βίος gewählt haben (vgl. auch §26); von Basileios wird außerdem kurz mitgeteilt, er habe Klöster gegründet (§12). 460 2,43,2-6. Die Mißbilligung wird besonders in §2 deutlich: Das Treiben des Eustathios ist ,,τταρά τους εκκλησιαστικούς τύττους". Das von Sokrates angedeutete Datum der Synode (nach 359) ist falsch; das μετά ταύτα ist wohl aus der Quelle übernommen und jetzt im Text falsch bezogen (vgl. HANSEN [1.1.] im App., zur korrekten Datierung zuletzt BARNES, Date [3.4.]: mindestens 355 oder noch früher).

2.4. Gruppen der Gesellschaft

121

lieh entspricht diese Ausprägung des Mönchtums nicht Sokrates' Vorstellung von der ägyptischen Idealgestalt. Der erste Eindruck, daß Sokrates überhaupt kein Interesse für das Mönchtum aufbringt, muß also revidiert bzw. differenziert werden 461 . In der Tat nimmt er keinen Bezug darauf als soziale Realität seiner unmittelbaren Lebensumgebung. Der Grund dafür ist aber sicherlich nicht grundsätzliche Gegnerschaft, denn erstens gibt es keine kritischen Äußerungen (das Mönchtum tritt einfach gar nicht in Erscheinung) und zweitens steht dem die deutliche Hochachtung entgegen, die er in der Theorie für das Mönchtum und seine Lebensideale aufbringt. Diese Hochachtung speist sich jedoch kaum aus eigener Erfahrung und bezieht sich in erster Linie auf die Wüstenmönche Ägyptens. Auf diesem Hintergrund kann das auffällige Schweigen über das Konstantinopolitaner Mönchtum eigentlich nur so erklärt werden, daß Sokrates der sozialen Schicht, in der das Mönchtum wurzelte, ziemlich fern stand, so daß es in seiner Umgebung keine allzu große Rolle spielte. Ganz entgangen sein kann es ihm dennoch nicht, denn aus anderen Quellen wissen wir immerhin so viel, daß es in Konstantinopel eine Realität war, die schon allein im Straßenbild in Erscheinung trat 462 . Doch vermutlich paßten diese Eindrücke vom Urbanen „Mönchspöbel" 463 so wenig zu dem theoretischen Idealbild, das sich der Kirchenhistoriker gebildet hatte, daß er einfach nichts damit anzufangen wußte 464 . Immerhin konnte er sich auch darauf herausreden, daß das Mönchtum seiner Meinung nach nicht zum Gegenstand einer Kirchengeschichte im engeren Sinne gehörte 465 . In dieser Frage gingen die Meinungen auseinander: Während Sozomenos eigens und vermutlich direkt gegen Sokrates gerichtet betonte, daß er sich in seinem Werk auch ausführlich mit dem Mönchtum befassen möchte 466 , hat Theodoret die Auffassung des Sokrates geteilt, denn obgleich auch ihm das Mönchtum ein wichtiges Thema war, behandelte er es in seiner Kirchengeschichte nur am Rande und widmete ihm statt dessen ein eigenes Werk 467 . Die Unsicherheit 461

Ebenso die in Anm. 441 genannte Forschungsliteratur. Vgl. D A G R O N , Maines [3.4.] 256 f. 463 D A G R O N , Naissance [3.4.] 513 („plèbe monastique"). 464 Es muß offenbleiben, ob sich Sokrates auch an den heterodoxen Ursprüngen des Konstantinopolitaner Mönchtums, die D A G R O N , Moines [3.4.] 246-253 herausstellt, gestoßen hat. Angesichts seiner sonst eher weitherzigen Haltung ist damit aber nicht unbedingt zu rechnen. 465 „... ιδίας έργον έσχίν υποθέσεως", 4, 2 3,i4l freilich ist das keine Entschuldigung für die omissio der kirchenpolitischen Rolle der Mönche. 466 ,,ούκ άνοίκειον δε είναι της εκκλησιαστικής ιστορίας έν τηδε τ η τ φ α γ μ α τ ε ί α διεξελθεΐν κα! τίνες ττοτέ ή σ α ν οί ώσττερ πατέρες κα! είσηγηταί γενόμενοι τ ω ν καλουμένων μ ο ν α χ ώ ν και οί μ ε τ ' αύτούς κ α τ ά διαδοχάς ών ι'σμεν η άκηκόαμεν εύδοκιμήσαντες." Soz. 1,1,18. Das Mönchtum spielt auch tatsächlich in der Durchführung seines Werkes eine wichtige Rolle: 1,12-14; 3,14; 6,20.27-34. In diesen längeren Exkursen wird allerdings nicht von den Mönchen in der Hauptstadt gehandelt. Sie kommen aber in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen durchaus vor (anders als bei Sokrates). 407 Die sog. Historia religiosa, nach eigener Aussage zu benennen als „φιλόθεος ι σ τ ο ρ ί α " oder „ α σ κ η τ ι κ ή π ο λ ι τ ε ί α " (pr,io,i f.). In der (später verfaßten) Kirchengeschichte verweist Theodoret öfter auf die Mönchsgeschichte, und zwar stets mit dem Titel „φιλόθεος ιστορία": 1,7,4; 3°,3; 3,24,Ι; 4,25,6; 4,27,2; 4,28,2. Z u Entstehung und Kontext der Schrift vgl. jetzt L E P P I N , Kontext [3.4.]. 462

122

2. Die Darstellung der Geschichte

an diesem Punkt ist verständlich, denn die gemeinsame eusebianische Tradition, in der alle Kirchenhistoriker standen, bot auf diese Frage keine Antwort, weil zu Eusebs Zeiten das Mönchtum ja noch in den allerersten Anfängen steckte und in der Kirchengeschichte nicht erwähnt wurde 468 . Auf der anderen Seite hatten sich im Laufe des vierten Jahrhunderts Sammlungen von Mönchsgeschichten als eigene Gattung eingebürgert, an die Sokrates seine Leser verweisen konnte469. Bleiben aus dem kirchlichen Bereich die Laien, das Kirchenvolk an der „Basis", in den Gemeinden. Eine allzu große Rolle spielt diese Gruppe bei Sokrates nicht, doch gelegentlich tritt sie kollekiv als handelndes Subjekt auf. Besonders bei Bischofswahlen hat die Gemeinde manchmal entscheidenden Einfluß. Das ist bekanntlich der Fall bei der Wahl des Ambrosius von Mailand - der einzigen Bischofswahl aus dem Westen, die Sokrates ausführlich beschreibt, wobei die Angelegenheit allerdings insofern unproblematisch ist, als der Kandidat auch von den Bischöfen sofort akzeptiert wird und es also nicht zu einem Konflikt kommt 470 . Wo doch ein solcher Konflikt entsteht, ist der Ausgang unterschiedlich. Im Fall des (orthodoxen) Sisinnios von Konstantinopel können sich die Laien durchsetzen, offensichtlich mit dem Beifall des Sokrates 471 . Umgekehrt wird Maximianos von den politischen Machthabern gegen den Willen des Volkes zum Bischof der Hauptstadt eingesetzt, womit Sokrates nicht ganz zufrieden zu sein scheint472. Ohne erkennbare Wertung wird berichtet, wie es dem Kirchenvolk von Kyzikos gelingt, den von Konstantinopel aus eingesetzten Kandidaten zu verweigern und einen eigenen durchzusetzen 473 . Bei den Novatianern kommt es bei einem solchen Konflikt zu einem Kompromiß: Der sterbende Bischof Agelios möchte Sisinnios als Nachfolger, das Volk dagegen Markianos. Agelios gibt nach und weiht den Markianos, allerdings unter der Bedingung, daß danach Sisinnios an die Reihe kommt 474 . Auch der Novatianerbischof Chrysanthos kommt auf Drängen des Kirchenvolkes

Ähnliches gilt auch für Rufin, der neben seiner Kirchengeschichte auch eine Historia monachorum verfaßt (bzw. übersetzt) hat, doch dürfte Sokrates von diesem Werk (ebenso wie von dem des Theodoret) nichts gewußt haben. 468 Lediglich auf die Schilderung von Philos Therapeuten in Eus. 2,17 konnte sich Soz. 1,12,9-11 bei seinem Bericht von den Anfangen des christlichen Mönchtums (natürlich zu Unrecht) berufen. 469 4,23,78 verweist auf Palladlos' Historia Lausiaca. 470 4,30,3 f. Die Bischöfe akzeptieren den Kandidaten: §5. 471 7,26. Dies ist an und für sich die Stelle, an der Sokrates am deutlichsten für die Laien Partei ergreift. Jedoch ist es möglich, daß diese Parteinahme eher durch seine Gegnerschaft gegen Philipp von Side, der sich bei der Wahl nicht durchsetzen konnte, motiviert ist. Die Einwände gegen Philipp werden im folgenden Kap. (7,27) ausführlich dargelegt. Philipp muß in seinem Geschichtswerk die Rolle der Laien scharf kritisiert haben (7,26,5). 472 7,35,2.. Daß Sokrates nicht zufrieden ist, ergibt sich schon aus Wendungen wie „τίνες τ ω ν μ ε γ ά λ α δυνάμενων έκώλυσαν" oder „τον λαόν ήσυχά^ειν ήνάγκα^εν", aber noch deutlicher aus dem Vergleich mit der Wahl des nächsten Bischofs Proklos: Der Kaiser entscheidet sich für diesen Kandidaten, um ein ähnliches Desaster zu vermeiden (7,40,3 f.). 473 7,28,1 f. Es ist nicht bekannt, was der hier genannte νόμος ist. 474 5,21,3 f.; die Abmachung wird auch eingehalten: 6,1,8.

2.4. Gruppen der Gesellschaft

123

in sein Amt 475 . In manchen Fällen ist die Erwähnung des Volkes recht beiläufig und wohl eher topisch zu verstehen476. Das Verhältnis der Gemeinde zu ihrem Bischof ist auch angesprochen, wenn berichtet wird, wie sich das Kirchenvolk von Kyzikos hinter seinen Bischof Eleusios stellt und trotz dessen Schwäche am nizänischen Glauben festhält (4,6). Umgekehrt vertreiben die Alexandriner den arianischen Bischof Lukios und setzen Petros dafür ein 477 . In der Streitgeschichte um Johannes Chrysostomos hat das Volk ebenfalls entscheidenden Anteil. Der umstrittene Bischof ist besonders beim Kirchenvolk beliebt; darin liegt ein wichtiger Faktor bei seiner Rückkehr aus dem ersten Exil 478 . Wie die ausführliche Analyse ergab, teilt Sokrates hier allerdings den Standpunkt der Laien keineswegs (s. S. 70 ff.). In etwas besserem Licht erscheint dagegen gelegentlich der λαός der novatianischen Gemeinde 479 . Sehr positiv vermerkt Sokrates, daß Bischof Silvanos die Rechtspflege nicht von korrupten Klerikern wahrnehmen läßt, sondern selbst in die Hand nimmt und sich dabei von einem Laien unterstützen läßt (7,37,17). Insgesamt sind es also nicht allzu viele Episoden, in denen das Kirchenvolk eine entscheidende Rolle spielt. Auch wenn diese Rolle mitunter durchaus positiv gewürdigt wird, kann man daraus schwerlich ein ausgesprochen laikales Bewußtsein des Sokrates ableiten. Innerhalb des kirchlichen Bereichs gilt sein Hauptinteresse - bei aller Kritik - den Bischöfen. Nicht sehr viel zu sagen ist auch über die Juden. Sokrates berichtet einige Konfliktgeschichten, Fälle, in denen es zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Juden kam 480 . Doch obgleich etwa in Alexandrien auf christlicher Seite der Patriarch Kyrill stand, der bei Sokrates kein hohes Ansehen genießt, kann sich die Gegenseite nicht auf seine Kosten profilieren: Auch die Rolle der Juden in dem Konflikt ist eher unrühmlich 481 . In einer beiläufigen Bemerkung in dieser Geschichte wird deutlich, daß Sokrates bei seinen Lesern keine eingehenden

475

7,12,1-4; Sokrates hält das für eine gute Wahl: §8. So bei der Wahl des Nektarios (5,8,12) und des Johannes Chrysostomos (6,2,3, s. S. 62, Anm. 162). 476

477

4,37,2. Allerdings gilt es zu bedenken, daß der entscheidende Anstoß für den Bischofswechsel der Umschwung der politischen Großwetterlage ist. 478 Beliebtheit des Johannes beim Volk: 6,4,8 f. und 6,15,18 f.; das Volk bewirkt die Rückkehr des Bischofs: 6,16,1.5. 479

Vgl. neben den bei Anm. 474 und 475 erwähnten Episoden v. a. 2,38,14-26. Bei diesem Bericht kommt besondere Sympathie zum Ausdruck: Sokrates bewundert ,,^ηλος καί σττου&ή" des novatianischen Kirchenvolkes (§17). 480 7 Al (Alexandrien); 7,16 (Imma in Syrien, vgl. zu der Episode HANSEN, Zeugnis [3.4.], dessen Rekonstruktionsvorschlag zur Gestalt des Ortsnamens mir allerdings weniger überzeugend erscheint als der ältere von DE BOOR, Sokrates [3.1.]); in 2,33 stehen die Juden in Palästina der Staatsmacht gegenüber. Daß nicht von derartigen Konflikten in Konstantinopel berichtet wird, dürfte daran liegen, daß sie sich dort seltener ereigneten; es scheint lediglich die bei DAGRON, Naissance [3.4.] 259 f. geschilderte Episode bekannt zu sein. 481 7.13, vgl. v. a. §5: „'Ιουδαίοι ... ¿.ei μεν πολέμιοι ττανταχοΰ τοις ΧρισχιανοΤς καθεστώτες", ferner §4.11.

124

2. Die Darstellung der Geschichte

Kenntnisse über das Judentum voraussetzt und wohl auch selbst nicht über solche verfügt. Er erklärt, daß bei den Juden mit „Synagoge" das Bethaus bezeichnet wird (7,13,15). Das Thema „Konversion zum Christentum" ist Gegenstand einiger weiterer Geschichten, in denen wiederum die Juden nicht besonders gut abschneiden. Es wird ein jüdischer „Taufbetrüger" entlarvt, der sich nur um des Geldes willen in verschiedenen christlichen Kirchen taufen läßt ( 7 , 1 7 ) . Ein anderer Jude meint es durchaus ernst mit der Taufe und wird sogar durch sie von einer Krankheit geheilt, doch obwohl viele Heiden dies Wunder zum Anlaß nehmen, sich gleichfalls taufen zu lassen, bleiben die anderen Juden verstockt ( 7 , 4 , 5 ) . Ganz naiv mutet die Geschichte von einem Scharlatan an, der die Juden auf Kreta in einem neuen Exodus durch das Meer führen möchte. Das Mißlingen dieses Unternehmens bringt viele Juden zum Christentum (7,38). In dem Bericht von den Versuchen, unter Julian den Jerusalemer Tempel wieder aufzubauen, betont Sokrates über seine Vorlage Rufin hinaus die Verstocktheit der Juden, die sich nicht einmal durch ganz offensichtliche Zeichen zum wahren Glauben bekehren lassen482. Mit dieser insgesamt wenig einfühlsamen, wenn auch nicht direkt feindseligen Haltung gegenüber den Juden dürfte Sokrates ungefähr im Trend des Zeitgeistes liegen 483 . Scharf wird seine Ablehnung dort, wo es um die Feier des Osterfestes „mit den Juden" geht 484 . Diese Ablehnung ist aber weniger direkt auf die Juden bezogen, sondern auf dem Hintergrund seiner Stellung im sabbatianischen Schisma, d. h. in dem innernovatianischen Konflikt um den Termin des Osterfestes zu sehen. Wie sich bei genauerer Analyse zeigt, ist unter der Feier „mit den Juden" nicht einmal der eigentliche jüdische Termin zu verstehen, sondern eine bestimmte christliche Kalendertradition 485 . Dennoch macht Sokrates aus seiner Abneigung gegen alles „Judaisieren" im Christentum kein Hehl486. Besonders im Vergleich zu Euseb zeigt sich, daß die Juden selbst keine eigenständige Rolle als theologisches Gegenüber spielen. Eusebs Judenbild ist keineswegs freundlicher, doch haben sie

482

Dazu bemüht Sokrates sogar „den Apostel", also Paulus (3,20,15, vgl. R m 11,7.25 und

2 Kor 3,14) - was als solches schon eine Besonderheit darstellt (s. S. 214, A n m . 27). Allerdings sollte man die Verschärfung gegenüber Rufin (10,38-40, hier bes. 10,40 [998,22 f.]) nicht überbewerten, denn an anderen Stellen mildert Sokrates auch ab (ζ. B. fordert das Erdbeben in Sok. 3,20,8 keine Opfer, anders Ruf. 10,39 [998,7 f·]), und insgesamt ist er an dem ganzen Vorgang viel weniger interessiert als Sozomenos (5,22) und deutlich zurückhaltender als Theodoret (3,20), dessen Erzählung mit den wichtigsten Topoi antijüdischer Polemik angereichert ist. Vgl. zu der ganzen Angelegenheit STEMBERGER, Juden

[3.4.] 163-174; dort auch die anderen Quellen (und weitere

Sekundärliteratur) für das aufsehenerregende Ereignis. 483

Vgl. JONES, Empire [3.4.] 944-950; TINNEFELD, Gesellschaft [3.4.] 293-317; DEMANDT, Spätantike

[3.4.] 430-437. 484

„ . . . ώς και 'Ιουδαίοι τ τ α ρ α τ η ρ ο ΰ σ ι ν " , 5,21,13, vgl. auch §15; 4,28,17; 5,22,19-22; 7,5,2.

485

Vgl. WALLRAFF, Geschichte [3.4.] IV

486

Der lange Exkurs über liturgische Fragen in 5,22 hat darin seinen wesentlichen Skopus, s.

unten S. 249 f. Besonders in §1-12.72-80 kommt das Anliegen klar z u m Ausdruck.

2.4. Gruppen der Gesellschaft

125

bei ihm eine feste (geschichts-)theologische Funktion, die bei Sokrates in dieser Form fehlt 487 . Die Situation der Kirche in der Gesellschaft hatte sich bis zur Mitte des fünften Jahrhunderts derart entwickelt - und Sokrates ist sich dessen auch bewußt und betont es explizit - , daß der Bereich der Kirche eng mit dem profanen Bereich verflochten war und daß darum Kirchengeschichtsschreibung wichtigen Entwicklungen in der staatlich-politischen Welt Rechnung tragen mußte488. Wie in Abschnitt 2.3. gezeigt, setzt Sokrates diese Einsicht um, indem er ausführlich von Kaisern und Usurpatoren, von Kriegen und politischen Entwicklungen berichtet. Es wäre daher naheliegend zu vermuten, daß auch die führenden Gesellschaftsschichten eine bedeutende Rolle spielen, der Senat, die Aristokratie, der kaiserliche Hof und Verwaltungsapparat. Jedoch ist sein Interesse - oder vielleicht eher: seine Kenntnis - über diesen Teil der Gesellschaft erstaunlich gering. Senatoren begegnen nur gelegentlich in einem Kollektivplural489; einzelne Personen aus dem Senatorenstand kommen so gut wie nicht vor 490 . Der Leser erfahrt zwar häufig die Namen der jeweils amtierenden Konsuln, aber nur deshalb, weil Sokrates diese Angabe zur Datierung zu verwenden pflegt 491 . Über diese technische Nennung hinaus gewinnt ein Inhaber dieses hochangesehenen Amtes selten Farbe492. Der Präfekt von Konstantinopel spielt zwar wegen der enormen Bedeutung seines Amtes in einigen der von Sokrates berichteten Geschichten eine Rolle, doch kaum einmal so, daß die Person des Amtsinhabers genauer in den Blick genommen würde 493 . An keiner Stelle gelingt es, einen Blick hinter die Kulissen des überaus differenzierten staatlichen Verwaltungsapparates oder in die Einrichtungen der Rechtspflege zu wer-

487 Diese Funktion wird schon in dem programmatischen Proömium angesprochen (1,1,2), vgl. zu Eusebs Judenbild GRANT, Eusebius [3.2.] 97-113. Sozomenos steht hier deutlich in der eusebianischen Tradition; er eröffnet seine Kirchengeschichte mit dem breit ausgeführten „Verstockungsmotiv", 1,1,1-8. 488 489

5,pr; s. dazu oben S. 99 f. und unten S. 283 ff. 2,30,43; 2,32,1; 3,26,3; 6,22,20; 7,10,4; 7,48,3; der Senat als Gremium bzw. als Bau: 3,1,54;

6,18,18. 490 Von Bischof Nektarios wird gesagt, er sei aus einem σ υ γ κ λ η τ ι κ ό ν γένος (5,8,12); Symmachus ist der „πρώτος ... τ η ς έν Ρώμη σ υ γ κ λ ή τ ο υ " (5,14,5), ähnlich auch Saturninos und Aurelianos (6,6,9). 491

S. unten S. 155 f. zur Datierungstechnik.

A m ehesten ist das der Fall bei dem praepositus sacri cubiculi Eutropios, von dem Sokrates bemerkt, er sei der erste Eunuch gewesen, dem die Konsulatswürde verliehen worden sei (6,5,3); von seiner damnatio memoriae wird 6,5,7 berichtet. Weitere beiläufige Erwähnungen von Personen in konsularischem Rang: 1,28,2; 1,29,2; 1,31,4; 4,30,2 (Ambrosius); 5,11,3; 5,14,4 (Symmachus); 5,23,12; 6,6,9; 6,6,39 f·; 7,12,2. In 3,26,2 wird die Sitte angesprochen, daß der Kaiser beim Regierungsantritt den ersten Konsulat selbst übernimmt. Zur Bedeutung des Konsulats im allgemeinen vgl. DEMANDT, Spätantike [3.4.] 282-284. 492

493 Eine unselige Rolle spielte Philippos bei der gewaltsamen Einsetzung des Makedonios als Bischof von Konstantinopel, 2,16. Optatos verfolgte die Johanniten, 6,18,19. Beiläufige Erwähnungen: Klearchos, 4,8,8; Eutychianos, 6,2,11.

126

2. Die Darstellung der Geschichte

fen 494 . Von den Vorgängen und Machtstrukturen bei Hofe weiß Sokrates gleichfalls nicht viel zu berichten; allenfalls im Tone leichter Verachtung spricht er gelegentlich von den Hofschranzen und Eunuchen, mit denen der Kaiser umgeben ist495. Auf diesem Hintergrund klingt es glaubhaft (und nicht nur topisch), wenn Sokrates zu Beginn seines kleinen Enkomions auf den gerade regierenden Kaiser Theodosios II. versichert, er habe niemals den Versuch unternommen, sich am kaiserlichen Hofe bekannt und beliebt zu machen4915. Ahnlich ist der Befund in bezug auf die Leitung des Heeres. Auch wenn öfter einmal von militärischen Operationen die Rede ist, erscheinen die Spitzen der Hierarchie nur knapp und rein funktional, meist nicht einmal mit Nennung des Namens, geschweige denn mit weiterer Charakterisierung oder Anteilnahme 497 . Auch in der Terminologie drückt sich keine nähere Kenntnis militärischer Dienstgrade und Strukturen aus498. Ganz verkehrt wäre es aber, daraus schließen zu wollen, daß Sokrates' Interesse statt dessen den einfachen Soldaten galt. Soldaten im allgemeinen, als „Sammelbezeichnung", kommen recht häufig vor, doch kaum in der Weise, daß beim Leser besonderes Mitgefühl oder Sympathie erweckt würde. Neben der eigentlichen Aufgabe der Soldaten, nämlich der Verteidigung des Reiches nach außen, die aber bei Sokrates nicht im Mittelpunkt steht, erscheinen Soldaten vor allem in zwei typischen Situationen: Erstens bei der Ausrufung eines neuen Kaisers bzw. Usurpators sowie bei dessen Absetzung oder Tötung 499 und zweitens, wenn es darum geht, einen Bischof gegen den Widerstand der Bevölkerung ein- oder abzusetzen500. Beide Situationen sind nicht dazu angetan, großes Wohlwollen für den Berufsstand hervorzurufen. Besonders die zweite erregt manchmal sehr deutlich das Mißfallen des Kirchenhistorikers, zumal es sich meist um Aktionen zugunsten arianischer Bischöfe handelt, die mitunter mit schrecklichem Blutvergießen verbunden sind 501 . 4 1 " Vgl. zu diesem wichtigen Bereich JONES, Empire [3.4.] 470-522; CHASTAGNOL, Evolution [3.4.] 159-205; DEMANDT, Spätantike [3.4.] 250 f. 495 Der Eunuch und praepositus sacri cubiculi Eusebios ist es, der am Hof des Konstantios den Arianismus einschleppt und erst die anderen Eunuchen und schließlich den Kaiser selbst und das ganze Reich mit der Irrlehre ansteckt (2,2,5-9). Auch wenn die Säuberungsaktion des Kaisers Julian bei Hofe (3,1,46-53) nicht überall ein positives Echo hervorrief (§53), ist doch unverkennbar, daß Sokrates keinerlei Mitgefühl für die geschaßten Eunuchen, Barbiere und Köche aufbringt. Weitere beiläufige Erwähnungen: 2,37,9; 3,1,9; 5,25,4; 6,2,10; 6,5,3; 6,8,8; 6,16,6. 4,6 „εγώ δε οϋτε τ ω βασιλεΪ γνωρισθήναι σττουδά^ων... ", y,22,1. 497 Beiläufige Erwähnungen: 2,11,1.3; 2,25,11; 2,28,23; 2,32,1.6.11; 3,1,27.32; 4,5.3; 4,24,3; 7,18,9-11.25; 7,20,3 f.; 7,22,21; 7,23,4.6.9; mit Namensnennung: 2,13,1.6; 2,39,6; 3,22,3; 4,36,12; 5,11,7; 5,23,12; 5,25,13; 6,6,2; 7,7,3; 7,20,8. 498 Verwendet werden die Begriffe σ τ ρ α τ η γ ό ς , σ τ ρ α τ η λ ά τ η ς , ηγούμενος τ ω ν σ τ ρ α τ ι ω τ ώ ν (die wichtigsten Belege in der vorigen Anm.) sowie σ τ ρ α τ ι ώ τ η ς für die einfachen Soldaten (Belege in den folgenden beiden Anm.). Singular ist die Erwähnung der Prätorianer in 1,2,1. 499 1,2,1; 2,5; 2,15,1; 2,25,3 f. 9; 2,28,16; 2,32,3; 3,1,8.35; 3,21,13; 3,22,1.4.9; 4,1,1; 4,31,7; 5,25,8.15; 6,1,5. 500 1,28,3; 1,11; 2,13,3; 2,16,7-16; 2,27,3; 4,15,2; 4,21,4; 4,22,5; 4,24,3 f. 501 So bei der Einsetzung der arianischen Bischöfe Gregor (2,11) und Lukios (4,21; vgl. auch 4,24) in Alexandrien. Auch das Gerangel um Makedonios in Konstantinopel bietet ein abstoßendes Schauspiel (2,16,7-16). Bei dem militärischen Vorgehen gegen die Novatianer in Mantinion

2.4. Gruppen der Gesellschaft:

127

Was für das militärische „Fußvolk" gilt, gilt im Prinzip auch für die niederen Schichten der Gesellschaft im allgemeinen, das einfache Volk, die Händler, Handwerker, Bauern, Sklaven 502 . Wenn darüber noch etwas eingehender zu handeln ist, so deshalb, weil man nach manchen theoretischen Aussagen des Sokrates das Gegenteil erwarten könnte. Im Proömium zum 6. Buch nennt er als wichtige Zielgruppe seines Werkes die ίδιώται, die einfachen Leute, und stellt die allgemeine Verständlichkeit auch und gerade für die Ungebildeten als wichtige Leitidee seiner Art der Geschichtsschreibung dar 503 . Doch unabhängig von der Frage, inwieweit dieses Ziel als erreicht zu gelten hat, ist festzustellen, daß in der Geschichtsdarstellung selbst das einfache Volk keine herausgehobene Rolle spielt, daß also keine besonderen Identifikationsmöglichkeiten und Anknüpfungspunkte für Leser aus dieser Zielgruppe bestehen. Neben dem, was oben (S. 122 f.) speziell über das Kirchenvolk gesagt worden ist, sind nur wenige weitere Aussagen anzuführen. Die Volksmassen auf den Straßen, die leicht in Unruhe zu versetzen, leicht in ihrer Parteinahme zu beeinflussen und letztlich doch nur auf Unterhaltung aus sind, können nicht ganz ausgeblendet werden, doch Sokrates billigt ihr Verhalten nicht. Vor allem der δήμος von Alexandrien neigt zu Unruhe und Aufruhr. „Wenn sich irgendein Anlaß findet, kommt es zu unerträglichen Untaten; ohne Blutvergießen geht es nicht ab." 504 Besonders wenig Verständnis hat Sokrates, wenn der Anlaß - in seinen Augen - völlig unsinnig ist, etwa „das in allen Städten auftretende Übel, nämlich die Parteibildungen für Tänzer" 505 . Überhaupt ist die Lust an Zirkusdarbietungen und öffentlicher Unterhaltung verwerflich, und Kaiser Theodosios II. tut gut daran, das Volk statt dessen zum Beten anzuhalten: „Kommt, laßt uns das Vergnügen verlassen und in die Kirche gehen und Dankgebete zu Gott hinaufsenden... So sprach er, und das Schauspiel hörte auf und wurde nicht mehr beachtet; Dankpsalmen singend, zogen alle mit ihm mitten durch die Pferderennbahn zur Kirche Gottes. Und die ganze Stadt wurde eine einzige Kirche." 506 Wie geht es zwar nicht u m eine Bischofseinsetzung, aber dennoch ist Sokrates' Abscheu unverkennbar (2,38,29-32). 502

V g l . DACRON, Naissance

Evolution

[3.4.] 297-364 u n d TINNEFELD, Gesellschaft

[3.4.] 1 2 1 - 1 4 6 ; CHASTAGNOL,

[3.4.] 304-322.

6,pr,4 f. sowie 3 , 1 , 4 und 7,27,5. Diese Aussagen werden allerdings etwas relativiert durch wo Sokrates Julian vorhält, er habe sich in seinen Schriften zu sehr an den Bedürfnissen der einfachen Leute orientiert. 504 ,,εί Sc ττοτε καί ττροφάσεως έτηλάβηται, εις α φ ό ρ η τ α καταστρεφει κακά' δ ί χ α γ α ρ α ί μ α τ ο ς ού π α ύ ε τ α ι τ η ς όρμης." 7,13,2· Vgl. ferner 2,13,3; 3,2,6 f.; 6 , 1 6 , 1 (Unruhen des Volkes). Die Neigung der Alexandriner zu blutigen Ausschreitungen wird auch von anderen Quellen bezeugt, vgl. etwa Ammianus Marcellinus, rer. 22,11,4. 505 „... Sia. τ ο έτπττ-ολάζον άττάσαις ταΤς ττόλεσι κακόν, φημ! δη τ ο σ-π-ουδά^ειν ττερί τους ό ρ χ η σ τ ά ς " , 7,13,3506 ,.δεΟρο ... τταρέντες τ η ν τερ-^ιν έττί τ ο ν εύκτηριον οΤκον γενόμενοι ευχαριστήριους εΰχάς τ ω Θεω άναττεμψωμεν... τ α ύ τ α εϊρητο, καί τ α μεν τ η ς θεας ττετταυτό τε καί ήμελητο, δ\ά μέσου δε τ ο υ ίτπτοδρόμου ττάντες συμφώνως α μ α α ύ τ ω εύχαριστηρίως ψ ά λ λ ο ν τ ε ς , έττί τ η ν έκκλησίαν τ ο υ θεού έττορεύοντο, κα! ολη μεν ή ττόλις μία εκκλησία έγίνετο." 7,23,11 f.; eine ähnliche Szene auch schon in 7,22,16: „Besser ist es, wenn alle gemeinsam zu Gott beten und nicht auf das Schauspiel achten." Vgl. auch §12. 503

3,23,37,

128

2. Die Darstellung der Geschichte

auch immer man den Realitätsgehalt eines solchen Berichtes einschätzen mag Sokrates hat offensichtlich Gefallen an diesem Vorgang. Daß die Antiochener sich über einen Kaiser lustig machen, empfindet Sokrates als ungehörig, obgleich der Kaiser Julian heißt und auch bei Sokrates nicht sehr beliebt ist 507 . Die einzige Stelle, an der das einfache Volk positiv und produktiv in den Geschichtsablauf eingreift, ist die Selbstverteidigungsaktion der Konstantinopolitaner beim Ansturm der Goten nach der Niederlage bei Adrianopel. In dieser Situation gemeinschaftlicher Notwehr steht der Hauptstädter Sokrates selbstverständlich doch auf Seiten des Volkes 508 . Ein genauerer Einblick in Lebensart und Alltagsleben der einfachen Bevölkerung wird so gut wie nicht geboten. Eine merkwürdige Volksszene in 5,18 (Verbot krimineller Aktivitäten in Rom durch Theodosios I.) ist in dieser Hinsicht singulär; obgleich keine Quelle dafür bekannt ist, dürfte sie kaum direkt auf Sokrates zurückgehen, zumal die Episode in Rom spielt. Händler und Handwerker treten fast überhaupt nicht in Erscheinung 509 . Aus der Tatsache, daß Sokrates einmal mit einem paphlagonischen Bauern gesprochen hat (2,38,32), ist gewiß keine enge Verbundenheit mit dieser Gruppe im allgemeinen zu erschließen. Im Gegenteil zeigen die abwertenden Aussagen über die ακέραιοι und άττλούστεροι, die sich aus άγροικική ττρόληψις von dem schismatischen Novatianer Sabbatios verführen lassen, wie wenig Sympathie Sokrates für diese einfachen Leute aufbringt 510 . Daß es in der Konstantinopolitaner Gesellschaft überhaupt Sklaven gegeben hat, kann der Leser der Kirchengeschichte fast nur aus einer einzigen, allerdings bedeutsamen Szene erschließen. Unmittelbar vor dem (ungut verlaufenen) Konzil von Ephesos wird über einen Sklavenaufstand berichtet, der mit einem Blutbad in einer Kirche endete. Daß Sokrates dem Vorgang so schicksalsschwere Bedeutung beimißt, ist aber eher mit seiner Vorliebe für Parallelentwicklungen und verborgene Zusammenhänge verschiedener Bereiche zu erklären als mit besonderer Anteilnahme für die Sklaven 511 . Die bestehende Gesellschaftsordnung an diesem Punkt in Frage zu stellen, lag dem Kirchenhistoriker ganz fern, wie eine Bemerkung über Eustathios von Sebaste zeigt, dem vorgeworfen wird, er mache Sklaven ihren Herren abspenstig 512 .

507 3,17,4; das Verhalten wird mit ύβρις beschrieben. Vgl. jedoch zu Sokrates' Julian-Bild oben S. 100 ff. 508 4,38 und 5,1. Man vergleiche die Szene im Hippodrom in 4,38,4 mit der gerade beschriebenen in 7,23,11 f.! 509 Vgl. lediglich die ganz beiläufigen Erwähnungen in 1,19,9; 3,17,3; 7,18,4; 7,38,8. 5 1 0 5,21,18; 7,5,5.9; zur Soziologie der Sabbatios-Bewegung und Sokrates' Stellung dazu vgl. WALLRAFF, Geschichte [3.4.] IV 511 7,33- In §5 wird der Vorgang auf das kommende Schisma und das Geschick des Nestorios bezogen. Z u der Bedeutung solcher Parallelisierungen s. unten S. 160 ff. Beiläufige Erwähnung von Sklaven außerdem in 1,29,2; 6,pr,9; 7,10,5. Z u r Sklaverei im allgemeinen vgl. DEMANDT, Spätantike [3.4.] 288-296. 5 1 2 2,43,4, die Synode von Gangra referierend.

2.4. Gruppen der Gesellschaft

129

Abschließend ist eine wichtige Gruppe der Gesellschaft zu besprechen, an deren Beurteilung besonders interessante Grundpositionen deutlich werden, nämlich die Barbaren. Mit diesem Stichwort ist sowohl eine kirchliche als auch eine politische, sowohl eine innere als auch eine äußere Angelegenheit der frühbyzantinischen Gesellschaft bezeichnet 513 . Sokrates muß dieser Realität Rechnung tragen und tut es in charakteristischer Weise. Die pointiert vorgetragene Aussage des Sozomenos, daß auch die kirchlichen Verhältnisse bei den Persern und Barbaren Gegenstand der Kirchengeschichte sein sollten, enthält implizit ein kritisch-abgrenzendes Moment, das sich möglicherweise gegen Sokrates und dessen Vorstellung von Kirchengeschichtsschreibung richtet514. Doch wäre diese Kritik nicht ganz berechtigt, denn Sokrates interessiert sich gerade in kirchlicher Hinsicht durchaus für die Vorgänge bei den Barbaren. Ausführlich berichtet er von der Verbreitung des Christentums in Äthiopien515, Georgien 516 und Persien517 sowie bei den Goten 518 , Sarazenen 519 und 513

Vgl. JONES, Empire [3.4.] 238-265; DEMANDT, Spätantike

zu den (West-)Goten CHRYSOS, Βυξάν-ηον

[3.4.] 117-123 und 315-321, sowie speziell

[3.4.]; WOLFRAM, Geschichte [3.4.] 137-206; ALBERT, Goten

[3.4.]· 514 1,1,18; bei der an der gleichen Stelle vorgetragenen Meinung über die Bedeutung des Mönchtums für die Kirchengeschichtsschreibung ist die Kritik an Sokrates deutlich, s. S. 121, Anm. 466. HARNACK, Sokrates [3.1.] 419 und ELTESTER, Sozomenos [3.2.] 1244 haben auch die Aussage über die Barbaren als gegen Sokrates gerichtet verstanden. 515 1,19. Quelle ist Ruf. 10,9 f. oder Gel. Kais.,^rg. 21. Zur äthiopischen Überlieferung der Bekehrungsgeschichte vgl. DOMBROWSKI, Frumentius [3.4.]; Gesamtprüfung des vorliegenden Materials und weitere Literatur bei BRAKMANN, Axomu [3.4.] 745-747 sowie ders., ΕΡΓΟΝ [3.4.] 51-67. 516 i,20. Hier hat Sokrates (zumindest auch, neben Ruf. 10,11) Gel. Kais., ^rg. 21 verwendet, vgl. HANSEN [1.1.] XLV und im Apparat zu 1,20,16. Die georgische Überlieferung ist gut aufgearbeitet durch VON LILIENFELD, Amt [3.4.] 225 f. und die umfassende Analyse von LORDKIPANIDSE, Iberia [3.4.] 41-51, vgl. auch ASSFALG, Georgien [3.4.] 390 sowie BRAUND, Georgia [3.4.] 246-254. 517 7,8; vgl. WIESEHÖFER, Persien [3.4.] 268-273 zur Christianisierung Persiens. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß im Sprachgebrauch des Sokrates ebenso wie in dem der Spätantike im allgemeinen die Perser nicht zu den Barbaren zählen. Es ist also, streng genommen, nicht ganz korrekt, sie im Abschnitt über die Barbaren mit zu behandeln. 518 4,33. Diesem Vorgang hat die Forschung besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht, vgl. THOMPSON, Visigoths [3.4.] 78-132; CHRYSOS, Βυζάντιον [3.4.] 109-124; WOLFRAM, Geschichte [3.4.] 83-97; SCHÄFERDIEK, Zeit [3.4.]; RUBIN, Conversion [3.4.]; HEATHER, Crossing [3.4.] (vgl. auch ders., Goths [3.4.] 122-142). Die Diskussion dreht sich um die Frage, wie der Bericht des Sokrates mit den anderen Quellen für die Vorgänge und ihr Umfeld (eine Übersicht bei HEATHER 290 f.) in Einklang zu bringen ist und was daraus für die Datierung folgt. Durch die gründlich abwägende Untersuchung von HEATHER hat sich als vorläufiges Ergebnis herauskristallisiert, daß in Sokrates' Darstellung unterschiedliche Ereignisfolgen miteinander verquickt sind und dadurch der chronologische Zusammenhang entstellt ist (HEATHER 296 f.). Die Bekehrung hat nicht, wie man nach Sokrates' Schilderung meinen müßte, direkt im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg 367-369 stattgefunden (der auch bei Ammianus, rer. 27,5 bezeugt ist, so etwa CHRYSOS 121-123), auch nicht in der ersten Hälfte der 70er Jahre (nach Korrektur der auffälligsten Inkonsistenzen bei Sokrates, so SCHÄFERDIEK 97 und ihm folgend RUBIN 53), sondern wahrscheinlich 376 (HEATHER 315 f.; THOMPSONS viel späterer Ansatz [S. 78-93] hat keine Anhänger gefunden). Die Haltung des Sokrates zu derartigen Konversionsvorgängen liefert, wie sich zeigen wird (s. bei Anm. 526), ein gewisses Motiv für die irreführende Darstellung, so daß HEATHERS Rekonstruktion auch von dieser Seite gestützt wird. 5,9

4,36; vgl. dazu die sorgfältige Analyse von SHAHÎD, Byzantium [3.4.] 138-202.

130

2. Die Darstellung der Geschichte

Burgundern 520 . An derartigen Missions- und Bekehrungsgeschichten bringt auch Sozomenos nicht sehr viel mehr Material. Allerdings knüpft er gelegentlich an derartige Berichte weitergehende kulturgeschichtliche und ethnologische Ausführungen 521 . Exkurse über solche Fragen waren in der gesamten antiken historiographischen Tradition christlicher wie paganer Couleur sehr beliebt und konnten stets auf das Interesse der Leser rechnen 522 . Sokrates bietet nichts dergleichen - sei es aus seiner auch sonst zu beobachtenden nüchternen Art heraus, sei es aus kulturellem Überlegenheitsgefühl des Hauptstädters oder auch schlicht aus Mangel an Kenntnissen (der allerdings andere Autoren keineswegs von langen und phantasievollen Exkursen abgehalten hat). Anders als etwa Theodoret knüpft Sokrates an die Bekehrungs- und Missionsgeschichten zwar keine triumphalistischen Bemerkungen, die zum Ausdruck bringen, wie überlegen die römische Kultur im allgemeinen und die christliche Religion im besonderen sind, doch wird auch bei ihm deutlich, daß er die Verbreitung des Christentums positiv bewertet, nämlich durch das kompositionstechnische Mittel der Einfügung in positive Sinnzusammenhänge, etwa die allgemein prosperierende Entwicklung der Kirche unter Konstantin 523 . Die Geschichten selbst stammen zwar aus unterschiedlichen Quellen, lassen aber doch ein gemeinsames Grundmuster erkennen. In der Regel wird der Führer bzw. König des betreffenden Volkes durch ein Wunder von der Kraft und Wirksamkeit des christlichen Glaubens überzeugt; daraufhin bekehrt er sich und bringt sein ganzes Volk zum Christentum. Schließlich wird ein christlicher Klerus eingerichtet und mit dem Bau von Kirchen begonnen 524 . Eine von diesem Schema etwas abweichende Geschichte, nämlich der Bericht von der Bekehrung der Burgunder, wirft ein interessantes Licht auf Sokrates' 520

7,30. Die andere wichtige Quelle hierzu ist Orosius, hist. 7,32,11-13. Ein gewisses Mißtrauen gegen diese beiden Belege für ein katholisches Christentum bei den Burgundern resultiert aus der Tatsache, daß in späterer Zeit für die Burgunder eindeutig das arianische Bekenntnis belegt ist. Dennoch hat sich in der neueren Forschung die Auffassung durchgesetzt, daß dem Bericht des Sokrates in seinen Grundzügen Glauben zu schenken ist, vgl. THOMPSON, History [3.4.] 66 f.; SCHÄFERDIEK, Germanenmission

[3.4.] 508-510, b e s . 509.

Sozomenos hat zusätzlich nur ein allgemeines Kapitel über Barbarenmission (2,6) sowie den allerdings sehr langen Exkurs über die Bekehrung der Perser (2,8-14). Die Bekehrung der Sarazenen nimmt er zum Anlaß für einen ethnologischen Exkurs (6,38). Überhaupt erscheinen bei Sozomenos die Barbaren differenzierter; er macht sich die Mühe, viele verschiedene Völker bei ihren Stammesnamen zu nennen, vgl. die Übersicht bei WINKELMANN, Bewertung [3.2.] 223, Anm. 23 (mit Vergleich zu dem in dieser Hinsicht viel ärmeren Sokrates: Sozomenos erwähnt folgende Völker, die bei Sokrates nicht vorkommen: Gallier, Kelten, Vandalen, Skiren und Sueben, s. jeweils die Nachweise im Register bei HANSEN, Sozomenus [1.2.] 431-480). 522 Vgl. etwa die Exkurse bei Ammianus Marcellinus, rer. 22,8; 31,2 und Philost. 3,6-11; 9,17 sowie die unten S. 179, Anm. 160 gegebene Sekundärliteratur. 523 In diesem Zusammenhang stehen die Bekehrungsgeschichten Äthiopiens und Georgiens (1,19 f.), zur Komposition dieses Abschnitts siehe oben S. 54. Z u m Umfeld der Goten- und Sarazenenbekehrung s. gleich im folgenden. 524 Die Bekehrungsberichte über Äthiopien, Georgien und Persien entsprechen diesem Schema; der über die Sarazenen nur ungefähr. 521

2.4. G r u p p e n der Gesellschaft

131

pragmatische Haltung zu diesen Vorgängen. Nicht im eigentlichen Sinne ein Wunder ist es, das die Burgunder zum Christentum bringt, sondern die Beobachtung, daß der Christengott sich bei den Römern in militärischer Hinsicht bewährt hat, so daß es sich lohnt, sich ebenfalls zu ihm zu bekennen. Die Rechung geht auf: Die Burgunder lassen sich taufen und erringen daraufhin gleichfalls bedeutende militärische Erfolge gegen die Hunnen 525 . Ein ähnliches Denkmuster läßt sich bei der kompositionellen Einbindung der Gotenbekehrung erkennen 526 . Diese klassisch-römische Zugehensweise erfahrt bei Sokrates auch durch die zahlreichen und bedrohlichen Barbareneinfälle der jüngsten Zeit keine grundsätzliche Brechung. Von solchen Einfällen wird durchaus berichtet; neben den Geschichten von der Verbreitung des Christentums bei den Barbaren kommen die Fremdvölker hauptsächlich dann ins Gesichtsfeld des Kirchenhistorikers, wenn sie dem römischen Reich gefährlich werden. Doch es ist schwer zu sagen, ob sich Sokrates über die Tragweite und das Ausmaß der Gefahr ganz im klaren war. Von der Einnahme Roms durch die Westgoten im Jahre 410, die zumindest in der westlichen Reichshälfte auch den letzten Träumer aus dem Schlaf der Sicherheit gerissen hat, berichtet er nur in knapp-lakonischen Worten 527 . Das mag durch die große geographische Entfernung und die östliche Perspektive des Konstantinopolitaners hinreichend erklärt werden; doch auch die verheerende Niederlage des Kaisers Valens bei Adrianopel im Jahre 378, sozusagen direkt vor seiner Haustür, scheint Sokrates nicht in ihrer ganzen Tragweite wahrgenommen zu haben, ja, er versucht sogar, ihre Bedeutung eher herunterzuspielen. Den alarmierenden Satz in seiner Vorlage Rufin: „Diese Schlacht war der Anfang des Übels für das römische Reich damals und für alle späteren Zeiten" schwächt er deutlich ab und spricht nur von einem Mißgeschick „ιτρός ολίγον" 5 2 8 . Daß die Übergriffe der Barbaren überhaupt als bedrohlich empfunden wurden, wird wiederum am ehesten durch kompositionstechnische Mittel deutlich. Ent525

7.30, v. a. §§3-6. Ein vergleichbarer Fall w i r d in 1,18,4 geschildert: D o r t weist Sokrates eigens

d a r a u f hin, d a ß K o n s t a n t i n a u f g r u n d seines christlichen Bekenntnisses die Barbaren besiegen k o n n t e ; diese b e k e h r e n sich daraufhin a u c h z u m C h r i s t e n t u m (über die Q u e l l e n vit. Const. 4,5 u n d Ruf. 10,8 [971,4-7] hinaus). 526

D a ß die B e k e h r u n g der G o t e n als direkte Folge des militärischen Erfolges der R ö m e r

nördlich der D o n a u erscheint (4,33,3 f.), ist der A n a l y s e v o n HEATHER, Crossing [3.4.] 296 f. z u f o l g e Resultat der redaktionellen A r b e i t des Sokrates u n d entspricht nicht d e m tatsächlichen H e r g a n g . 527

7,10; v g l . DEMOUGEOT, Unité [3.4.] 441-485; dies., Formation [3.4.] 2,451-464 u n d DEMANDT,

Spätantike

[3.4.] 145 f. (mit d e n w e i t e r e n Q u e l l e n ) s o w i e z u r N a c h w i r k u n g ders., Fall [3.4.] 44-70

u n d VITTINGHOFF, Selbstverständnis

[3.3.]. Im W e s t e n ist b e k a n n t l i c h u n t e r d i e s e m E i n d r u c k das

g r ö ß t e g e s c h i c h t s t h e o l o g i s c h e W e r k der A l t e n Kirche entstanden, Augustine De civitate Dei, und, in dessen G e f o l g e , das G e s c h i c h t s w e r k des Orosius. 528

Ruf. 11,13 (1020,4 f ) : ..quae p u g n a initium mali R o m a n o i m p e r i o tunc et deinceps f u i t . " Sok.

4,34,6. Selbstverständlich berichtet Sokrates durchaus v o n den V o r g ä n g e n , sogar recht ausführlich (4,34.38), d o c h m a n g e w i n n t erstens keinen E i n d r u c k v o n der S c h w e r e der N i e d e r l a g e (nur der T o d des Kaisers scheint z u interessieren, 4,38,7-10) und z w e i t e n s erfährt m a n nichts v o n den Kons e q u e n z e n : d a ß n ä m l i c h seither die D o n a u g r e n z e nicht m e h r gehalten w e r d e n k o n n t e und das r ö m i s c h e Reich i m m e r w i e d e r f ü r Barbareneinfälle o f f e n stand, vgl. DEMOUGEOT, Formation [3.4.] 2,140-153, DEMANDT, Spätantike [3.4.] 123 f., s o w i e ausführlich HEATHER, Goths [3.4.] 143-156.

132

2. Die Darstellung der Geschichte

sprechend der explizit vorgetragenen Geschichtstheorie von der συμπάθεια, der Übereinstimmung und Parallelentwicklung von unterschiedlichen Bereichen, treten Aktionen der Barbaren öfter in Parallele zu ungünstigen Entwicklungen in der Kirche - ähnlich wie Erdbeben und Überschwemmungen 529 . Doch auch in diesen Fällen sind die Vorgänge um die Barbaren mehr Illustration des eigentlichen Unglücks als in sich selbst ein bedrohliches Unglück. Nun ist es allerdings auffällig, daß die συμττάθεια-Theorie direkt im Anschluß an die Niederlage bei Adrianopel vorgetragen wird. Es ist schwer, einen Satz wie „Als Strafe entstehen die Übel" 530 an dieser Stelle nicht darauf zu beziehen oder die Ausführungen über den Zusammenhang von öffentlichen und kirchlichen Fehlentwicklungen nicht mit der militärischen Niederlage des Kaisers Valens, der die „rechtgläubigen" Christen verfolgt hat, in Verbindung zu bringen. Doch anders als etwa bei Theodoret 531 wird ein solcher Zusammenhang nicht explizit hergestellt, und auch durch die kompositorische Abfolge der Ereignisse wird einem solchen Verständnis in keiner Weise Vorschub geleistet. Im Gegenteil sind die im Umfeld geschilderten kirchlichen Ereignisse durchweg positiv: Das Nachlassen der Verfolgung der (wahren) Christen (4,32 und 35), die Bekehrung der Goten (4,33)53Z, die Bekehrung der Sarazenen (4,36), die Rückkehr des Bischofs Petros von Alexandrien aus dem Exil (4,37) und schließlich das völlige Aufhören der Verfolgung unter Gratian (5,2). Natürlich ist nicht auszuschließen, daß gerade das bewußte (krampfhafte?) Vermeiden eines negativen Ereigniszusammenhangs in Kombination mit der sonst kaum zu erklärenden Stellung des Theorieabschnittes zu Beginn des fünften Buches Ausdruck unterschwelligen Unbehagens ist, doch überschreiten solche Gedanken leicht die Grenze zur Überinterpretation des Textes. Die politische Bedeutung der Auseinandersetzung mit den Barbaren wird von Sokrates also eher unter- als überschätzt. Erst recht neigt er nicht dazu, eine theologisch-apokalyptische Überhöhung des Phänomens vorzunehmen, wie sie in der

529 2,10,21; 2,25,5; 6,6,41 f.; 7,33 (s. dazu oben bei Anm. 511). Ähnlich, aber mit positivem Ereigniszusammenhang: 1,18,4; 2,13,4; 5,10,3- Möglichst vollständig sind die in Frage kommenden Stellen unten S. 160 ff. aufgeführt und beschrieben. Die συμττάθεια-ΤΙιεοΓίε wird in 5,pr,3-6 entwikkelt; s. dazu ausführlich S. 283 ff., vgl. auch C h e s n u t , Histories [3.2.] 194-198. 550 „τιμωρίας δε ενεκεν έτπφερεσθαι τ α κακά", 5,ΡΓ,5· 531 ,,οϋτω μεν οδν έκεΤνος κάν τ ω τταρόντι 3·ω ττοινήν ετισεν ύττέρ ών έττλημμέλησεν." Theod. 4.36,2. 552 Daß Sokrates gerade bei diesem Bericht redaktionell stark eingegriffen hat - bis hin zur (bewußten?) Verfälschung - , hat H e a t h e r , Crossing [3.4.] gezeigt (s. dazu oben Anm. 518 und 526). Insbesondere gibt es keinen zwingenden Grund, warum der vielbeachtete Bericht von der Bibelübersetzung durch Ulfila (4,33,6-9) gerade hier stehen muß. Mit Recht hat S c h ä f e r d i e k , Zeit [3.4.] 93 bemerkt, daß der Anschluß mit „ τ ό τ ε St καί" Zeichen für eine „redaktionelle Fuge" ist (s. unten S. 155 f. zu Sokrates' redaktioneller Technik) und nicht als Datierungshinweis zu werten. Sokrates hat das für ihn eindeutig positiv konnotierte Ereignis (daran kann insbesondere in §9 kein Zweifel bestehen) an diese Stelle gesetzt, weil es thematisch zu der Bekehrungsgeschichte gehört und diese in ihrer Tragweite betont.

2.4. Gruppen der Gesellschaft

133

christlichen Literatur der Zeit in verschiedenen Varianten geläufig war 533 . Referierend gibt er lediglich eine vielbeachtete Predigt des Bischofs Proklos wieder, in der dieser die Gog/Magog-Perikope aus Ezechiel (Ez38f.) auf den jüngsten Sieg des Kaisers Theodosios II. über die Barbaren bezog. Sokrates schreibt, diese Predigt habe große Bewunderung erregt, und er teilt diese Bewunderung offenbar auch selbst - wohl weil durch die Predigt gewissermaßen kirchenamtlich bestätigt wurde, daß die Niederlage der Barbaren von Gott gewollt und gewirkt war und endgültige Qualität hatte 534 . In theologisch schlichterer Form kommt dieses Bewußtsein auch in Sokrates' eigener Bewertung der Vorgänge zum Ausdruck: Durch die Niederlage „gerieten die Barbaren in große Furcht - nicht so sehr deshalb, weil sie es gewagt hatten, die Waffen gegen das tapfere Volk der Römer zu erheben, sondern mehr noch, weil sie erfahren hatten, daß es von einem starken Gott unterstützt wurde" 535 . Auf dem Hintergrund dieses kulturellen wie theologischen Überlegenheitsgefühls hat es Sokrates nicht nötig, Ausfälligkeiten gegen die Barbaren vorzubringen. An keiner Stelle kommt offene Feindseligkeit zum Ausdruck. Auch mit der Tatsache, daß gerade im Inneren des Reiches und der oströmischen Gesellschaft immer mehr Barbaren entscheidende Positionen einnahmen, hat das kosmopolitische Selbstbewußtsein des Hauptstädters keine Schwierigkeiten. Selbst die schwere, durch den gotischen Heerführer Gainas ausgelöste Krise im Jahre 400, die in Konstantinopel zu harten Auseinandersetzungen mit den zahlreichen Barbaren in der Stadt geführt hatte, schildert Sokrates recht nüchtern und ohne Anfeindungen 536 . Wenige Sätze später kann er unvoreingenommen von dem Goten Fravitta berichten, dem gleich danach wegen seiner Verdienste um das römische Gemeinwesen die Konsulwürde verliehen wurde 537 . Aus dem arianischen Bekenntnis der Goten in

533

V g l . WINKELMANN, Bewertung

[3.2.] 222-225; SPEYER/OPELT, Barbar [3.4.] 861-866. E i n s c h r ä n -

kend ist allerdings zu bemerken, daß das (auch theologische) Gespür für die Barbarengefahr im Osten nicht so stark war wie im Westen. 534 VGL z u CJER Erzählung WINKELMANN, Bewertung [3.2.] 225 f. Unwahrscheinlich scheint mir zu sein, daß die von Proklos erregte Bewunderung damit zusammenhängt, daß er den EzechielText auf die Hunnen statt auf die Goten bezog (so ein Interpretationsvorschlag von WINKELMANN 226). Für Sokrates stand dieser Aspekt sicher nicht im Vordergrund, denn der unvorbelastete Leser erfahrt gar nicht ohne weiteres, daß es hier um die Hunnen geht; das muß vielmehr aus dem Namen Ruas (,,'Ρούγας" bei Sok. 7,43,3) erschlossen werden; vgl. CROKE, Evidence [3.4.] 349358 zu den historischen Ereignissen, die den Hintergrund für diese Predigt bildeten. 535 ,,καί τ ο ύ τ ο εις δέος μεγιστον τους βαρβάρους κατέστησεν, ού τοσούτον οτι ττρός έθνος γενναΐον τ ο Ρωμαίων οττλα άνταίρίΐν ¿τόλμησαν, ά λ λ ' οτι ττλέον ύττό ισχυρού θεού βοηθούμενους έφεύρισκον." 7.43.4· Vgl. auch die oben bei Anm. 525 angeführte Stelle 7,30,3 sowie 4,31,4536 6,6, v. a. §17-35. Dieser Bericht geht auf die verlorene Γαϊνία des Eusebios Scholastikos zurück (vgl. §36 und dazu oben S. 58). ALBERT, Goten [3.4.] 81-83 hat gezeigt, daß die Vorstellung der älteren Forschung, in Konstantinopel habe es eine anti- und eine progermanische Partei gegeben, nicht zu halten ist. Von einer solchen Parteibildung ist auch bei Sokrates keine Rede; es besteht kein Anlaß anzunehmen, daß er hier wesentlich von der Sichtweise seiner Vorlage und der der meisten Konstantinopolitaner abwich. 537

6,6,39 f·, v g l . d a z u ALBERT, Goten [3.4.] 83-85.

134

2. Die Darstellung der Geschichte

Konstantinopel macht Sokrates zwar kein Hehl, aber es wird auch nicht ansatzweise zum Vorwurf hochstilisiert538. Insgesamt ist also Sokrates' Haltung zu den Barbaren von jener merkwürdigen Mischung von kosmopolitischer Offenheit, kulturell-theologischem Überlegenheitsgefühl und politischer Kurzsichtigkeit geprägt, die für die höheren Schichten in Konstantinopel typisch gewesen sein dürfte. Die Untersuchung der Darstellung der verschiedenen Gruppen der Gesellschaft bei Sokrates hat einige überraschende Ergebnisse erbracht, aber auch viele interessante Fragen offen gelassen. Sozialgeschichtliche Fragestellungen sind Fragestellungen des 20. Jahrhunderts. Wie allen antiken Geschichtsschreibern kam es Sokrates nicht darauf an, ein möglichst vollständiges und umfassendes Bild der Gesellschaft, in der er lebte, zu entwerfen. Vielmehr erscheinen soziale Gegebenheiten nur dort, wo, und in dem Maße, wie sie für den eigentlichen Stoff den Hintergrund abgeben. Gerade dieser relativ unreflektierte Zugang bringt es aber auch mit sich, daß die Art und Weise, in der die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft erscheinen, stark vom persönlichen biographischen Horizont des Autors geprägt ist. Darin liegt ein Teil der Berechtigung der sozialgeschichtlichen Fragestellung in der vorliegenden Untersuchung, denn die Auswertung der Ergebnisse dieser Fragestellung mag dazu beitragen, die Gestalt des Kirchenhistorikers Sokrates aus dem sie umgebenden Dunkel zu lösen (s. Abschnitt 4.1.).

538

4.33.4 f-l 5.2.3.8-11, vgl. ferner 6,5,8.

3. Die historiographische Methode

3.1. Gattung des Werkes Welcher Gattung das Werk des Sokrates zuzuordnen ist, scheint auf den ersten Blick so klar zu sein, daß es kaum zusätzlicher Worte über diese Frage bedarf. Selbst wenn man die Angabe des Titels, daß es sich um eine ε κ κ λ η σ ι α σ τ ι κ ή Ι σ τ ο ρ ί α handelt, nicht unbedingt auf den Autor selbst zurückführen möchte 1 , wird doch an hinreichend vielen Stellen auch im Text deutlich, daß Sokrates sich als Vertreter dieser von Euseb inaugurierten Gattung versteht 2 . Die Problematik dieses Tatbestandes ist jedoch schon durch die Erwähnung des Namens Euseb gegeben: Während aus heutiger Perspektive Kirchengeschichte zu schreiben als etwas Selbstverständliches

und

keiner

Rechtfertigung

Bedürftiges

erscheint,

konnte

sich

Sokrates zu seiner Zeit wirklich nur auf dieses eine Vorbild berufen. Euseb selbst hatte in seiner Vorrede den Anspruch erhoben, der erste auf seinem Gebiet zu sein,

1

Generell kümmerten sich antike Autoren meist nicht darum, ihren Werken bei der Publikation feste Titel mitzugeben. Wo sich solche dennoch etabliert haben, stammen sie oft von Schülern oder Abschreibern; auch sind Schwankungen in den Handschriften häufig, vgl. NACHMANSON, Buchtitel [3.4.] 26-33. I n Falle des Sokrates ist hierin dennoch kein besonderes Problem zu erblikken, denn erstens ist der Titel in den Handschriften sehr gut bezeugt (allerdings mit einer Unsicherheit in der Wortstellung, vgl. den Apparat bei HANSEN [1.1.] zum Titel) und zweitens genügen die in der nächsten Anm. genannten Stellen als Beleg für die Überschrift - auch wenn sie vielleicht nicht als Titel im technischen Sinne vom Autor selbst stammt. 2 Sokrates bezeichnet das eigene Unternehmen als Εκκλησιαστική ιστορία: 5,pr,i.6; 6,pr,i, ähnlich in 1,22,14 („ιστορία γεγονότων περί τάς εκκλησίας πραγμάτων"). Ansonsten kommt εκκλησιαστική ιστορία nur entweder in bezug auf Euseb (1,22,2; 5,22,17; 7,36,3) oder auf Rufin (2,1,1; 3,19,8) vor. Uneinheitlich ist Sokrates' Gebrauch des Terminus χριστιανική Ιστορία: Während er in 7,27,2.4 bei der Kritik an Philipp von Side ausdrücklich auf den Unterschied zur Gattung Kirchengeschichte, als deren Vertreter er sich selbst fühlt, abhebt, bezieht er in 3,1,4 den Ausdruck auf sein eigenes Werk. Vielleicht kann man den scheinbaren Widerspruch lösen, indem man den genauen Wortlaut in 3,1,4 berücksichtigt. Die Formulierung „χριστιανικής δ' οί/σης της ιστορίας...", also: „weil die Geschichtsdarstellung eine christliche ist..." verwendet ja streng genommen nicht den in 7,27,4 als Gattungsbezeichnung verwendeten und kritisierten terminus technicus χριστιανική ιστορία. — Unter der umfangreichen Sekundärliteratur zu Euseb sind vor allem folgende Arbeiten zu nennen, die sich näher mit dem Gattungscharakter der Kirchengeschichte beschäftigen: BAUR, Epochen [3.2.] 9-26; OVERBECK, Anfänge [3.2.] 5-13 und 33-64; SCHWARTZ, Kirchengeschichte [3.2.] 113-124; MOMIGLIANO, Historiography [3.3.] 89-94; TIMPE, Kirchengeschichte [3.2.]; WINKELMANN, Euseb [3.2.] 105-126.

136

3. Die historiographische Methode

Begründer einer neuen Gattung - ein bis heute unbestrittener Anspruch 3 . In dem Jahrhundert nach Abschluß dieser Pionierleistung hatte es z w a r Anknüpfungen daran gegeben, aber es ist fraglich, inwieweit es sich dabei u m eigenständige Werke handelte. Mit Sicherheit nicht als eigenständige Kirchengeschichte ist die Arbeit des Rufin anzusprechen, der Eusebs Kirchengeschichte ins Lateinische übersetzt und bei dieser Gelegenheit mit einer Fortsetzung bis zum Jahr 395 versehen hatte 4 . Problematisch ist die Frage, wie in dieser Hinsicht das Werk des Gelasios von Kaisareia zu beurteilen ist, da es nur in Fragmenten auf uns gekommen ist 5 . Z w a r könnten die erhaltenen Informationen über das Proömium Anlaß zu der Vermutung geben, daß es sich gleichfalls nur u m eine A r t Anhang zu Euseb handelte, der nicht zur selbständigen Überlieferung gedacht war 6 ; doch gegen diese Auffassung spricht, daß die Fragmente 2-8 recht ausführlich vom Aufstieg Konstantins bis z u m Sieg über Licinius handeln, mithin von einem Vorgang, der bei Euseb, wenn auch knapper, in der Endfassung der Kirchengeschichte schon geschildert w a r 7 . In bezug 3 „έττεί καί ττρώτοι νυν τ η ς ύττοθεσεως ίτπβάντϊς οΤά τ ί ν α Ερήμην καί άτριβη levai όδόν έγχΕίρουμεν...", ι,ι,3; vgl. dazu TIMPE, Kirchengeschichte [3.2..] 171 sowie zuletzt PERRONE, Eusebius [3.2.] 525-528, der diesen Anspruch am Werk des Euseb mißt. 4 Rufin beschreibt im Proömium sein eigenes Unternehmen so: „decimum vero vel undecimum librum nos conscripsimus ... et eos velut duos pisciculos supra scriptis panibus addidimus." (952,9-12). Zu seiner Art der Anknüpfung vgl. NAUTIN, Continuation [3.2.] 165 f. 5 Vgl. dazu die grundlegenden Arbeiten von WINKELMANN, Untersuchungen [3.2.] (mit Verweis auf die ältere Literatur) und Charakter [3.2.], denen seither nicht grundsätzlich widersprochen worden ist. SCHAMP, Gélose [3.2.] trägt nichts wesentliches Neues bei. 6 So die kürzlich von NAUTIN, Continuation [3.2.] vorgetragene These (zustimmend HANSEN [1.1.] xLV, Anm. 2). Über das Proömium unterrichtet Photios, cod. 89 sowie der Verfasser der sogenannten kirchengeschichtlichen Epitome, der unter anderem das Werk des Gelasios exzerpiert hat (ediert von G. C. HANSEN in: Theodores Anagnostes [1.2.] 158, Nr. 1; über die Epitome im allgemeinen vgl. HANSEN ebd. xxxvn-xxxix). Beide Texte zitiert und diskutiert NAUTIN (S. 163 und 174; eine Gegenüberstellung S. 178). 7 Die meisten dieser Fragmente sind auch in der genannten Epitome bezeugt (HANSEN, Theodoras [1.2.] 158 f., mit etwas mehr „Umgebungstext" jetzt auch bei NAUTIN, Continuation [3.2.] 174176); sie sind also nicht nur indirekt aus anderen Zeugnissen zu erschließen, so daß die Zuweisung an Gelasios unzweifelhaft ist (vgl. die Angaben zur gesamten Überlieferung bei WINKELMANN, Untersuchungen [3.2.] 117 f.; einige der Texte im Wortlaut bei NAUTIN 178-182). Obgleich NAUTIN diese Fragmente ausführlich bespricht, geht er leider nicht auf das Problem der Überschneidung mit Euseb ein, das ein entscheidendes Gegenargument gegen seine These darstellt. Diese ließe sich eventuell dennoch durch die Annahme retten, daß dem Gelasios eine ältere Ausgabe des Eusebschen Werkes vorlag (s. Anm. 15 mit Literatur über die verschiedenen Ausgaben). Dagegen spricht allerdings, daß die in der Epitome direkt vorhergehenden Euseb-Exzerpte mit Eus. 10,9,4 ff· enden (HANSEN, Theodoras [1.2.] xxxvm); dem Epitomator hat also ein Exemplar der Ausgabe letzter Hand vorgelegen, das noch den Sieg Konstantins über Licinius mitumfaßte. Das muß aber nicht unbedingt etwas über den Euseb des Gelasios besagen: Er könnte dennoch an eine frühere, d. h. kürzere Ausgabe angeknüpft oder auch absichtlich etwas fortgelassen haben (es genügt aber nicht anzunehmen, daß er wie Rufin nur die Kirchweihrede zu Tyros weggelassen hat, so NAUTIN, Théodore [3.2.] 229 f., Anm. 29). Dem Epitomator ist die Überschneidung auch aufgefallen, denn er charakterisiert das Werk des Gelasios als ιστορία „των μετά Εύσέβιον καί ών ούκ ϊγραψεν ό Εύσέβιος" (158,2 f. HANSEN) - anders als Photios, der nur von ,,τά μετά τ η ν έκκλησιαστικήν ίστορίαν Εύσεβίου του Παμφίλου" (cod. 89 [673,29-31 BEKKER]) spricht. Das Problem kann und muß hier nicht endgültig gelöst werden.

3.1. Gattung des Werkes

137

auf Sokrates wird die ganze Frage dadurch noch zusätzlich kompliziert, daß er das Werk des Gelasios zwar gekannt haben muß (denn er hat es nachweislich als Quelle verwendet), es aber gegen seine sonstige Gewohnheit und im Unterschied zu Rufin nicht ausdrücklich erwähnt 8 . Man wird annehmen dürfen, daß er es - aus welchem Grunde auch immer - nicht für ein eigenständiges und bedeutendes Kirchengeschichtswerk hielt. Höchstwahrscheinlich nicht gekannt hat Sokrates die erste sicher bezeugte eigenständige Kirchengeschichte nach Euseb, nämlich das Werk des Eunomianers Philostorgios 9 . Es kann daher hier zunächst unberücksichtigt bleiben. Es ist also festzuhalten, daß die Entscheidung für die Gattung Kirchengeschichte nicht etwa eine Entscheidung für eine gut eingeführte, klar umschriebene und allgemein verständliche Gattung war, sondern Anknüpfung an ein einzelnes Werk und dessen keineswegs unumstrittenen Autor 10 - und insofern ein Wagnis. Damit war eine Reihe von schwierigen Fragen verbunden, etwa: Hat Kirchengeschichte grundsätzlich mit Jesus Christus einzusetzen oder hat sie auch dann selbständige Daseinsberechtigung, wenn sie einfach eine Fortschreibung des großen Vorgängers bietet? Wie ist den geänderten zeitgeschichtlichen Umständen Rechnung zu tragen, insbesondere den durch die Christianisierung des Reiches entstandenen quasivolkskirchlichen Verhältnissen? In welcher Weise sind die Kaiser und die staatliche Politik einzubeziehen? Welche Rolle spielt das inzwischen aufgekommene Mönchtum? Zur Erfassung des Gattungscharakters der Kirchengeschichte des Sokrates gilt es daher zunächst, die Art der Anknüpfung an Euseb näher zu untersuchen. Diese Anknüpfung thematisiert Sokrates schon in den ersten Worten seines Werkes. Weil in der Antike Bücher häufig nicht mit Überschriften, sondern nach ihren Anfangsworten zitiert wurden, wählte man diese Worte mit Bedacht11. Aus diesem Grunde, aber sicher auch in programmatischer Absicht beginnt Sokrates β

Zur Benutzung des Gelasios als Quelle vgl. HANSEN [1.1.] XLV-XLVIII. Gerade die Erwähnung

R u f i n s (1,12,8; 1,15,1.4; 1,19,14; 1,20,20; 2,1,1-4; 3,19,8; 4,24,8; 4,26,25) m a c h t d e u t l i c h , d a ß a u c h d i e

These von NAUTIN das Schweigen über Gelasios nicht erklären kann, denn Rufins Werk ist in jedem Fall kein eigenständiges Werk. Siehe die ausführlichere Diskussion dieser Frage unten S. 186 ff. ' Zumindest finden sich keine erkennbaren Spuren der Bekanntschaft mit Philostorgios' Werk bei Sokrates. In den Quellenanalysen von GEPPERT, Quellen [3.1.] u n d HANSEN [1.1.] XLIII-LV taucht

darum der Eunomianer gar nicht auf. Beiläufige Bemerkungen wie die von JEEP, Quellenuntersuchungen [3.2.] 116 f. und BIDEZ, Phihstorgius [1.2.] cxxxiv vermögen nicht vom Gegenteil zu überzeugen, weil sie nicht auf Sokrates-Stellen fußen, die mehr als die theoretische Möglichkeit einer solchen Bekanntschaft zeigen. Im übrigen hat GILLET, Date [3.3.] 7 f. m. E. überzeugend argumentiert, daß die Datierung des Philostorgios durch BIDEZ CXXXII f. auf recht schwachen Beinen steht. Die Prioritätsfrage im Verhältnis zu den Synoptikern kann also als offen gelten. 10 Z u m Ruf des Euseb im vierten und fünften Jahrhundert, der von einer eigentümlichen Mischung von Hochachtung vor dem Gelehrten und Verachtung gegenüber dem (angeblichen) Arianer geprägt war, vgl. WINKELMANN, Beurteilung [3.2.] 93-97. Nur auf diesem Hintergrund ist Sokrates' „Apologie" des Euseb nötig und verständlich (Sok. 2,21, s. dazu unten S. 225 f.). 11 Vgl. NACHMANSON, Buchtitel [3.4.] 37-52. Deshalb geht Lukian in seinem theoretischen Traktat über Geschichtsschreibung besonders ausführlich auf die Gestaltung des Anfangs ein (hist, conscr. 15-19 und 52-55).

138

3. Die historiographische Methode

mit: „Euseb, [der Schüler] des Pamphilos, hat die Kirchengeschichte in insgesamt zehn Büchern dargestellt..." 12 Damit gibt er jedem Leser sofort zu erkennen, in welche Tradition er sich stellen möchte. Indem er gleich im Anschluß besonders auf den Endpunkt der Darstellung des Euseb abhebt, deutet Sokrates bereits seine Intention an, nicht etwa eine Neudarstellung oder Überarbeitung des von Euseb Beschriebenen vorzulegen, sondern eine Fortsetzung. Das Bedürfnis, sich gegenüber dem Vorgänger kritisch abzugrenzen, um das eigene Unternehmen zu rechtfertigen, besteht dadurch von vornherein nicht. Sehr wohl besteht aber ein solches Bedürfnis in bezug auf das andere große Werk historischen Inhalts von Euseb, die Vita Constantini. Sokrates erwähnt es im nächsten Satz - nicht ohne kritischen Unterton. Der enkomiastische Stil sei für eine historische Darstellung nicht befriedigend; etwa den arianischen Streit habe Euseb darin nicht in angemessener Weise berücksichtigt (§2)13. Nun stellt Sokrates sein eigenes Vorhaben vor: Er möchte darstellen, was von der Zeit Konstantins bis zu seiner eigenen Zeit in bezug auf die Kirchen geschehen ist (§3). Bevor auf die Tragweite dieser nur scheinbar naheliegenden und selbstverständlichen Konzeption eingegangen wird, sind einige Schwierigkeiten bei der genauen Analyse des Textes zu erläutern. Sokrates beschreibt den Gegenstand seiner Arbeit als „ τ α έξ εκείνου μέχρι τ ω ν τηδε ττερί τ ά ς εκκλησίας γενόμενα" (§3). Was genau ist mit έξ εκείνου gemeint? Auf welchen Zeitpunkt ist der Ausdruck zu beziehen? Direkt zuvor wurde die Vita Constantini genannt, doch kann der Bezug darauf jedenfalls nicht so gemeint sein, daß Sokrates eine Fortsetzung dieses Werkes beabsichtigt, denn faktisch beschreibt ja sein erstes Buch den von der Vita abgedeckten Zeitraum. Im Fortgang wird deutlich, daß Sokrates dort „den Anfang machen möchte, wo jener [sc. Euseb] aufgehört hat", was ohne Zweifel auf die Kirchengeschichte zu beziehen ist. Also wäre das έξ εκείνου zurückzubeziehen auf den ersten 12 1,1,1. Da im folgenden die ersten drei Sätze des Werkes interpretiert werden, wird hier deren vollständiger Text abgedruckt: „(1) Εύσέβιος ό Παμφίλου έν ολοις δέκα βιβλίοις τ η ν έκκλησιαστικήν ίστορίαν έκθέμενος κατέτταυσεν εις τους χρόνους τ ο υ βασιλέως Κωνσταντίνου, έν οΐς και ό π α ρ ά τ ο υ Διοκλητιανού κ α τ ά Χριστιανών γενόμενος διωγμός άπεπαύσ α τ ο . (2) γράφων δε ό αυτός εις τ ο ν βίον Κ ω ν σ τ α ν τ ί ν ο υ τ ω ν κ α τ ' "Αρειον μερικώς μνήμην πεποίηται, τ ώ ν επαίνων τ ο υ βασιλέως κα! της πανηγυρικής ύψηγορίας τ ώ ν λόγων μάλλον ώς έν έγκωμίω φροντίσας ήπερ τ ο υ ακριβώς περιλαβείν τ ά γενόμενα. (3) ήμεϊς δέ ττροθέμενοι σ υ γ γ ρ ά ψ α ι τ ά έξ έκείνου μέχρι τ ώ ν τήδε ττερί τ ά ς έκκλησίας γενόμενα της υποθέσεως άρχήν έξ ών έκεΤνος άπέλιπεν ποιησόμεθα, ού φράσεως ογκου φροντί^οντες, αλλ' οσα ή εγγράφως εϋρομεν ή τταρά τ ώ ν ί σ τ ο ρ η σ ά ν τ ω ν ήκούσαμεν διηγούμενοι." 13 Das Moment kritischer Abgrenzung ist nicht so stark, wie es vielleicht auf den ersten Blick wirken mag. Wenn man das Partizip „φροντίσας" kausal auflöst („weil er bedacht war auf..."), zeigt sich, daß die lückenhafte Behandlung des arianischen Streites einfach durch die Stilgesetze für ein Enkomion zu erklären ist. Durch den Kontext, insbesondere durch die Wendung „oü φράσεως ογκου φροντί^οντες" in §3, wird jedoch deutlich, daß Sokrates sehr wohl meint, daß die Ereignisse nach einer anderen Darstellung als in Eusebs Enkomion verlangen. Die Kritik bleibt gewiß auch deshalb so zurückhaltend, weil Sokrates' Verhältnis zu Euseb insgesamt von großer Verehrung geprägt ist - nicht nur was den Historiker, sondern vor allem was den Theologen Euseb betrifft (s. unten S. 224). Vgl. auch WINKELMANN, Beurteilung [3.2.] 110 zu dieser Stelle: „Ein leichter Tadel selbst bei dem Eusebius wohlgesonnenen Socrates ist nicht zu verkennen."

3.1. Gattung des Werkes

139

Satz, in dem es um die Kirchengeschichte geht; doch die Schwierigkeit löst sich dadurch nicht ganz. Denn auch hier stellt sich das Problem, daß Sokrates faktisch keinen genauen Anschluß herstellt. Während die Kirchengeschichte in ihrer Endfassung noch den Sieg Konstantins über Licinius im Jahr 324 beschreibt, setzt Sokrates im Jahr 305 bzw. 306 ein. Streng genommen ist aus diesem Grunde auch schon die Aussage im ersten Satz des Sokrates, daß Eusebs Werk schließe „zur Z e i t des Kaisers Konstantin, zu der auch die von Diokletian gegen die Christen betriebene Verfolgung aufhörte" (§1), nicht ganz richtig. N u n könnte man vermuten, daß Sokrates eben nicht die Endfassung vorlag, sondern eine frühere, in der das Ende der Verfolgung wirklich am Schluß stand 14 . Dagegen spricht jedoch die Information, daß laut Sokrates Eusebs Werk zehn Bücher umfaßte. N a c h allem, was wir über die verschiedenen Fassungen der Kirchengeschichte wissen, w a r das erst bei der vorletzten und letzten Ausgabe der Fall, die etwa im Jahr 317, mithin nach dem Sieg Konstantins über Maxentius und deutlich nach dem Ende der diokletianischen Verfolgung, anzusetzen sind 1 5 . A m besten löst sich das Problem, wenn man das έξ εκείνου nicht ganz präzis auf einen der vorher genannten Zeitpunkte bezieht, sondern etwas allgemeiner als „seit der Zeit Konstantins" versteht 16 , denn Sokrates

14

So CANFORA, Storia [3.4.] 622.

Es war die aufsehenerregende Entdeckung von SCHWARTZ bei seiner Euseb-Edition, daß sich in den Abweichungen der handschriftlichen Überlieferung der Kirchengeschichte nicht nur Fehler von Redaktoren oder Abschreibern widerspiegeln, sondern Spuren der verschiedenen im Umlauf ls

befindlichen (!) Ausgaben des Werkes (Eusebius [1.2.] XLVII-LXI, Eusebios

[3.2.] 542-548, KRAFT,

Eusebius [1.2.] 75 f.). Diese Einsicht ist im Grundsatz nicht angefochten worden (und auch nicht anfechtbar), obgleich seine Rekonstruktion der Editionsgeschichte en detail durchaus diskutiert wurde und wird (HARNACK, Chronologie [3.4.] 2,112-115 [noch ohne Kenntnis SCHWARTZ']; LAQUEUR, Eusebius [3.2.] v. a. 212-223; LAWLOR/OULTON, Eusebius [1.2.] 2-11; EMONDS, Auflage [3.4.] 37-41; BARDY, Eusèbe [1.2.] 4,121-131; WALLACE-HADRILL, Eusebius [3.2.] 39-58; CHESNUT, Histories [3.2.] 113-135; BARNES, Editions [3.2.]; ders., Constantine [3.2.] 126-147; GRANT, Eusebius [3.2.] 10-21; TWOMEY, Thronos [3.2.] 13-16 und 138-220; GÖDECKE, Geschichte [3.2.] 19-22; LOUTH, Date [3.2.]; WINKELMANN, Enseb

[3.2.] 188-191). Die Diskussion bezieht sich jedoch weniger auf die letzten beiden Ausgaben, deren Spuren in die handschriftliche Überlieferung hineinragen, sondern mehr auf die vorherige Entwicklung, die sich aus den literarischen Brüchen im Text erschließen läßt. SCHWARTZ' Einsicht, daß die Kirchengeschichte erst mit der Zufügung der Kirchweihrede in Tyros auf 10 Bücher kam (Eusebius [1.2.] LI-LV und LIX; Eusebios [3.2.] 548), ist kaum zu bestreiten, wenngleich die genaue Datierung dieser Bearbeitung etwas unterschiedlich angesetzt wird (SCHWARTZ: ca. 317; WALLACEHADRILL 57: n a c h 318; BARNES, Editions

200 f. und GRANT 13: ca. 315).

16

SCHEIDWEILER, Kirchengeschichte [3.2.] 300, Anm. 1 gibt keine nähere Begründung für seine Ansicht, daß „das έζ εκείνου des 3. Satzes ... auf den διωγμός des ersten" geht (ähnlich noch einmal in ders., Bedeutung [3.2.] 96). Ebensowenig scheint mir sicher zu sein, daß „τα έξ εκείνου ... an den Verfasser der Kirchengeschichte §1" anknüpft (HANSEN [1.1.] XLVIII). Beides ist grammatisch natürlich möglich (der Verfasser der Kirchengeschichte ist übrigens auch in §2 Subjekt), aber inhaltlich, wie gerade gezeigt, mit Schwierigkeiten verbunden. Der Sprachgebrauch des Sokrates zwingt auch nicht dazu, solch einen genauen Bezug zu suchen - eher im Gegenteil. Die Wendung έξ εκείνου kommt relativ häufig vor (insgesamt 8mal), und zwar stets im Sinne von „seither" (1,20,6; 2,35,14; 6,18,15; 7,7,4; 7,30,6; 7,39,9.10), o h n e daß unbedingt ein g r a m m a t i s c h

exakter

Bezugspunkt auszumachen wäre. Gemeint ist also ,,έξ εκείνου του χρόνου"; VALOIS [1.1.] 1,2 hat Recht, wenn er hier übersetzt: „ab illis temporibus". Sokrates selbst beschreibt an anderer Stelle seinen Anfangspunkt mit „curò των Κωνσταντίνου χρόνων" (6,pr,i). Die Frage ist deshalb von

140

3. Die historiographische Methode

macht im folgenden deutlich, daß seine Art seiner Anknüpfung an Euseb zumindest in chronologischer Hinsicht keine sklavisch exakte sein will, sondern versucht, den Anfangspunkt so z u setzen, daß er im Gesamtgefüge des eigenen Werkes sinnvoll ist. Aus diesem Grunde gibt er für den genauen Zeitpunkt des Beginns seiner Darstellung eine inhaltliche Begründung, wenn er nämlich sagt, daß die Bekehrung Konstantins am Anfang stehen müsse 1 7 . Außerdem paßt der Beginn auch deshalb in das Gefüge des Werkes, weil auf diese Weise das erste Buch ebenso wie die anderen mit dem Regierungsantritt eines Kaisers beginnt 1 8 . So wichtig die Anknüpf u n g an Euseb für das Verständnis von Sokrates' Kirchengeschichte ist, so deutlich wird doch von Anfang an klargestellt, daß es sich bei dem Werk u m eine eigenständige und in sich geschlossene Größe handelt. Wenigstens kurz soll auf eine weitere Besonderheit in Sokrates' Beschreibung seines Gegenstandes hingewiesen werden. In der Kirchengeschichte geht es u m die Ereignisse „ττερ! τ ά ς εκκλησίας", also in b e z u g auf die Kirchen (im Plural) 19 . Nach der Untersuchung über die Terminologie für Kirche und Kirchenparteien (S. 29 ff.), ist deutlich, daß Sokrates hier zumindest auch an eine Pluralität von verschiedenen kirchlichen Gruppierungen denkt. Die Gattungsbezeichnung ε κ κ λ η σ ι α σ τ ι κ ή Ι σ τ ο ρ ί α läßt keine Schlüsse über den Numerus zu, doch unterliegt es keinem Zweifel, daß für Euseb der Gegenstand der Kirchengeschichte die Kirche im Singular ist - schon aus dem einfachen Grunde, daß es für ihn nur eine Kirche gibt und geben kann 20 . Es ist noch einmal etwas grundsätzlicher auf das Konzept des Fortsetzens des Vorgängers zurückzukommen. So unspektakulär und selbstverständlich dieses Ansinnen auf den ersten Blick erscheinen mag, so fundamental sind die damit verbundenen Konsequenzen. Seit der Apostelgeschichte war das christliche Geschichtsdenken stets von dem Motiv des Rückgangs z u den Ursprüngen gekennzeichnet. Mit den Ursprüngen kann entweder Jesus Christus als der Stifter der Kireiniger Bedeutung, weil SCHEIDWEILER (und ihm folgend HANSEN) aus seiner Beobachtung weitreichende Schlüsse zieht: Wegen des Bezugs von §3 auf §1 sei der §2, d. h. die Erwähnung der Vita Constantini, als sekundäre Einfügung in das Proömium zu bewerten. U m die Frage entscheiden zu können, sind noch weitere Anhaltspunkte in §3 einzubeziehen. Das ,,έξ ών εκείνος άττελιττεν" geht zwar inhaltlich, wie gerade gesagt, eindeutig auf §1 zurück, doch ist nicht zu sehen, w a r u m dieser inhaltliche Bezug durch den dazwischen stehenden §2 gestört sein sollte. Dagegen nimmt die Wendung ,,ού φράσεως ογκου ψροντί^οντες" die Kritik am enkomiastischen Stil der Vita Constantini im vorhergehenden Satz auf und würde ohne ihn in der Luft hängen. Die Hypothese von SCHEIDWEILER ist also nicht überzeugend. Entsprechend kann sie auch nicht als Argument dafür ins Feld geführt werden, daß Sokrates die Vita Constantini erst zur zweiten Bearbeitung seines Werkes kennengelernt hat (darauf zielt die Argumentation bei SCHEIDWEILER und HANSEN; z u dieser Frage s. unten S. 168 ff.). 17 „ K a i έττΕίδη ττρός τ ό ττροκείμενον σ υ λ λ α μ β ά ν ε τ α ι ήμΪν μνημονεΰσαι, τ ί ν α τρόττον ό βασιλεύς Κ ω ν σ τ α ν τ ί ν ο ς έτη τ ο χριστιανί^ειν έλήλυθεν, μικρά ττερ! τ ο ύ τ ο υ ώς οΤόν τε μνημονεύσωμεν." ι,ι,4· 18 S. die Untersuchung der Bucheinteilung unten S. 145 ff. 19 1,1,3; in 1,18,15 und 1,22,14 kehrt fast die gleiche Formulierung in ähnlichen Zusammenhängen wieder. 20 Vgl. TIMPE, Kirchengeschichte [3.2.] 183 f.

3.1. Gattung des Werkes

141

che gemeint sein (so in der Apostelgeschichte und in Eusebs Kirchengeschichte) oder der Anfang der Heilsgeschichte überhaupt, also Adam oder Abraham (so in der chronographischen Tradition einschließlich Euseb) 21 . Trotz der Verschiedenheit dieser beiden möglichen Einsatzpunkte ist in beiden Fällen damit ein apologetisches Motiv verbunden, im ersten Fall in Form des Nachweises der ununterbrochenen (bischöflichen oder lehrmäßigen) Sukzession mehr mit antihäretischer Stoßrichtung, im zweiten Fall in Form des Altersbeweises mehr mit antiheidnischer Stoßrichtung. Durch das Konzept der Fortschreibung eines bestehenden Geschichtswerkes und den dadurch geübten Verzicht auf den Rückgang zu den Ursprüngen begibt sich Sokrates der Möglichkeit zu irgendeiner derartigen Argumentation und Geschichtsinterpretation. Dieser Verzicht stellt etwas grundsätzlich Neues im christlichen Geschichtsdenken dar. Die Konsequenzen auch für das Selbstverständnis der Gattung Kirchengeschichte sind enorm, denn durch das Wegfallen des apologetischen Arguments entfällt ein wichtiges Motiv zur Kirchengeschichtsschreibung. Es wird zu untersuchen sein, was an dessen Stelle tritt. Außerdem impliziert die Idee des Fortschreibens ein Geschichtsverständnis eines prinzipiell unbegrenzten Kontinuums. So ist es kein Wunder, daß der Gedanke eines τέλος der Geschichte überhaupt nicht in Sokrates' Denkhorizont vorkommt, geschweige denn irgendwelche Vorstellungen von Eschatologie oder Apokalyptik 22 . Es ist kaum anzunehmen, daß Sokrates sich dieser fundamentalen Tragweite seines Plans bewußt war. Für ihn dürfte sich das Konzept des Fortsetzens als etwas ganz Selbstverständliches dargestellt haben. Das führt zu der Frage, woher dieses Konzept stammt. Da es im christlichen Bereich, wie gerade gesagt, dafür keinerlei Vorbild gab (vielleicht abgesehen von Gelasios von Kaisareia), bietet es sich an, die profane Historiographie zu untersuchen. Dort kam es in der Tat häufig vor, daß ein Geschichtsschreiber an einen anderen anknüpfte und dessen Werk fortführte. Vor allem im griechischen Bereich war die historia perpetua ein verbreitetes Konzept. Poseidonios von Apameia und Strabon von Amaseia schlossen an Polybios an (der seinerseits in der Nachfolge des Timaios von Tauromenion stand) 23 , Ammianus Marcellinus setzte die Annalen des Tacitus fort 2 4 , Marius Maximus knüpfte mit

21

Zu Formen des frühchristlichen Geschichtsdenkens im allgemeinen vgl. VON CAMPEN-

HAUSEN, Entstehung

[3.2.].

Allenfalls könnte man an den am Schluß des Werkes erwähnten Frieden (7,48,7) denken, der jedoch einen recht oberflächlichen und selbstverständlich völlig innerweltlichen und vorläufigen Zielpunkt darstellt. 25 Poseidonios: FGrHist 87 Τ ι; Strabon: FGrHist 9 1 Τ ζ; Polybios, hist. 1,5,1. 14 Obgleich der erste Teil der res gestae nicht erhalten ist, bezeugt der Schluß des Werkes (31,16,9) eindeutig, daß der Anfang beim Regierungsbeginn des Nerva lag, also genau dort, wo Tacitus' historíae aufhörten. Gegen WILSHIRE, Ammianus [3.3.] 227, demzufolge es sich dabei lediglich um eine „coincidence" handelt, ist festzuhalten, daß es auch sonst genügend Anklänge und Anlehnungen an Tacitus gibt (noch einmal gründlich geprüft von NEUMANN, Taciteisches [3.3.] 213225, mit Verweis auf die umfangreiche Forschungsliteratur), um eine regelrechte Fortsetzungsintention zumindest nicht unwahrscheinlich erscheinen zu lassen (so auch NEUMANN 12). 11

142

3. Die historiographische Methode

seinen Kaiserbiographien an Sueton an 25 , ja, zuweilen bildeten sich auf diese Weise ganze Ketten. So setzte Eunapios von Sardes das Werk des Dexippos fort und wurde seinerseits von Olympiodoros fortgesetzt, dieser wiederum von Priskos und dieser von Malchos 26 . Ähnlich in etwas späterer Zeit: An Prokop Schloß sich Agathias an, an diesen Menandros und an diesen wiederum Theophylaktos Simokattes 27 . Andererseits darf die Menge der angeführten Beispiele nicht darüber hinwegtäuschen, daß es daneben auch im profanen Bereich das Motiv des Rückgangs zu den Ursprüngen gab. Die Ursprünge sind dann natürlich nicht christlich verstanden, sondern beziehen sich entweder auf die Entstehung der Welt, so eher im griechischen Bereich etwa bei Diodoros von Agyrion, Nikolaos von Damaskos und Dexippos, oder auf die Gründung Roms bzw. die Aeneaslegende, so eher im römischen Bereich 28 . In dem prominentesten Beispiel aus klassischer Zeit, dem Werk des Livius, kommt dieses Programm schon im Titel Ab urbe condita zum Ausdruck. Es wurde in der Spätantike besonders über die Epitome des Florus wirkmächtig 29 . Weitere Beispiele aus späterer Zeit sind die römischen Geschichten des Cassius Dio und des Appianos von Alexandrien, die Historia nova des Zosimos, das Breviarium des Festus sowie das Breviarium ab urbe condita des Eutrop; das letztgenannte Werk war Sokrates nachweislich bekannt 30 . Der Rückgang zu den Ursprüngen hindert auch in diesen Fällen nicht, daß die Zeitgeschichte meist ganz im Vordergrund steht und ungleich ausführlicher abgehandelt wird als die vielen Jahrhunderte zuvor 31 . Ahnlich wie im christlichen Bereich kann der Rückgang zu den Ursprüngen unter Umständen mehr zu einer apologetischen Pflichtübung geraten. Auf diesem Hintergrund wird die Konzeption des Sokrates zwar verständlich, aber nicht selbstverständlich. Das zeigt auch der Vergleich mit seinen Parallel-

2 5 Dabei handelt es sich nicht im strengen Sinne u m Geschichtsschreibung; s. jedoch zur zunehmenden Annäherung der beiden Gattungen unten S. 151 f. 26 Mit Recht hat allerdings BLOCKLEY, Historians [3.3.] 1,86 darauf hingewiesen, daß diese Kette, die sich in den Handbüchern fest etabliert hat (vgl. z. B. CHRIST/SCHMID, Geschichte [3.4.] 10341037; HUNGER, Literatur [3.4.] 1,279), sich nicht ohne weiteres am Quellenbefund verifizieren läßt. In den erhaltenen Fragmenten bezieht sich keiner der genannten Autoren explizit auf einen Vorgänger (außer Eunapios [/rg. 1] auf Dexippos), und die Werke schließen chronologisch nicht ganz genau aneinander an - wiederum mit der Einschränkung des fragmentarischen Erhaltungszustandes. Dennoch bleibt die Abfolge der Werke auffallig und es ist zumindest nicht unwahrscheinlich, daß die Geschichtsschreiber die Werke ihrer Vorgänger kannten (vgl. BLOCKLEY 1,86). Nur mit diesem Vorbehalt ist also von einer „Kette" zu sprechen (so auch CESA, Tendenze [3.3.] 109, Anm. 7). 27 Im Falle dieser - überwiegend erhaltenen - Historiographen ist an der „Kette" nicht zu zweifeln (sie ist auch teilweise durch explizite Anknüpfungen gesichert), vgl. HUNGER, Literatur

[3.4.] 1,303; 309; 313 u n d CESA, Tendenze 28

V g l . ViTTiNGHOFF, Selbstverständnis

[3.3.] 110. [3.3.] 542 ff.

Vgl. DIHLE, Literatur [3.4·] 238 f. 30 Vgl. GEPPERT, Quellen [3.1.] 67-69 und HANSEN [1.1.] LI. Sokrates benutzte sowohl das lateinische Original als auch die griechische Übersetzung des Paianios, vgl. PÉRICHON, Eutrope [3.1.]. 31 Bei Zosimos etwa ist die ..Protologie" umfangsmäßig völlig verkümmert. Die Kapitel 1,1-7 bringen in äußerster Knappheit einen Abriß der Geschichte von den Anfängen bis Kaiser Septimius Severus. Daß sie dennoch nicht einfach fortgelassen wird, zeigt ihre programmatische Bedeutung. 29

3.1. Gattung des Werkes

143

Schriftstellern. W ä h r e n d Philostorgios u n d T h e o d o r e t u n a b h ä n g i g v o n Sokrates u n d v o n e i n a n d e r eine i m G r u n d g e d a n k e n ähnliche E u s e b f o r t s e t z u n g verfaßten, also ebenfalls m i t der Z e i t Konstantins b e g a n n e n und damit a u f d e n R ü c k g a n g z u den U r s p r ü n g e n verzichteten 3 2 , scheint S o z o m e n o s , o b g l e i c h (oder g e r a d e weil) i h m das W e r k des Sokrates vorlag, diese K o n z e p t i o n als defizient e m p f u n d e n z u haben. Z w a r b e g i n n t a u c h seine D a r s t e l l u n g mit der B e k e h r u n g Konstantins, d o c h in seinem ausführlichen P r o ö m i u m holt er w e i t aus und setzt mit den ChristusP r o p h e z e i u n g e n bei d e n alttestamentlichen E r z v ä t e r n u n d P r o p h e t e n ein, k o m m t dann a u f die G e s c h i c k e der Kirche seit ihrer E n t s t e h u n g z u sprechen und b e k u n d e t die Absicht, die Ereignisse ,,äir' ά ρ χ ή ς " (i,i,i2) z u schildern. D a j e d o c h die Ereignisse v o n der H i m m e l f a h r t Christi bis z u r N i e d e r w e r f u n g des Licinius (also eine g a n z präzise u n d z u t r e f f e n d e E i n g r e n z u n g des bei Euseb beschriebenen Z e i t r a u m s ) schon zufriedenstellende Darstellungen g e f u n d e n hätten, v o r allem bei Euseb, habe er sich damit b e g n ü g t , die Ereignisse dieser Z e i t knapp in z w e i B ü c h e r n zusamm e n z u f a s s e n 3 3 . D i e s e b e i d e n B ü c h e r sind z w a r nicht in seiner Kirchengeschichte enthalten u n d a u c h ü b e r h a u p t nicht überliefert, d o c h hier k o m m t es d a r a u f an, daß der R ü c k g a n g z u d e n U r s p r ü n g e n f ü r S o z o m e n o s im Prinzip ein Bedürfnis war, auch w e n n er das M o t i v nicht sehr breit ausführt und daraus nicht viel apologetisches Kapital schlägt 3 4 . In der nicht sehr g l a n z v o l l e n w e i t e r e n Karriere der G a t t u n g Kirchengeschichte setzte sich j e d o c h das Motiv des „ D e n - V o r g ä n g e r - F o r t s e t z e n s " durch. E u a g r i o s verfaßte Ende des sechsten Jahrhunderts eine F o r t s e t z u n g der Synoptiker bis in seine eigene Z e i t 3 5 . Ein interessanter Fall ist T h e o d o r o s Anagnostes, der A n f a n g des sechsten Jahrhundert gleichfalls eine F o r t s e t z u n g der Synoptiker vorlegte; d o c h da ihn das N e b e n e i n a n d e r dieser W e r k e störte, faßte er sie z u e i n e m einzigen z u s a m m e n . S o m i t w a r durch Euseb, diese Historia tripartita des T h e o d o r o s u n d seine e i g e n e Fortsetzung eine regelrechte „ K e t t e " hergestellt 3 6 .

32 In den erhaltenen Fragmenten des Philostorgios ist von dem Wunsch, Euseb fortsetzen zu wollen, nicht ausdrücklich die Rede. Dennoch kann ein solcher Wunsch aufgrund der Bezugnahme auf Euseb (Philost. 1,2) und des Berichtszeitraumes des Werkes (ab Konstantin) eindeutig erschlossen werden. Theodoret äußert sich zu dem Anschluß an Euseb in 1,1,4. Rufin entzog sich dieser Problematik, indem er nicht den Anspruch erhob, ein eigenständiges Werk zu verfassen, sondern nur einen Anhang an Euseb (s. Anm. 4). Wie sich Gelasios von Kaisareia in dieser Hinsicht verhielt, ist unklar (s. Anm. 7). 33 ,,λογισάμενος δε ώς καί άλλοι τ α ύ τ η ς έττειράθησαν μέχρι τ ω ν κ α τ ' αυτούς χρόνων, ... ο σ α μεν τ ω ν εις ήμάς έλθόντων ταΤς έκκληαίαις συνέβη μ ε τ ά τ η ν εις ουρανούς ανοδον τ ο υ Χ ρ ί σ τ ο υ μέχρι τ η ς Λικινίου καθαιρέσεως, έτπτεμόμενος έττραγματευσάμην έν βιβλίοις δύο."

1,1,12. 34 Dennoch ist es kein Zufall, daß Sozomenos gerade in diesem Zusammenhang das apologetische Motiv von der Verstocktheit der Juden anbringt (1,1,1-8). 35 Euagr. i,pr bekundet die Fortsetzungsabsicht, vgl. auch 5,24 (217,29-218,11). 36 Vgl. das Proömium des Theodoros Anagnostes, in dem er die Anlage seines Werkes schildert (HANSEN, Theodoros [1.2.] 1, wieder abgedruckt mit französischer Übersetzung bei NAUTIN, Théodore [3.2.] 234 f.). NAUTIN hat zu zeigen versucht, daß Theodoros' Gesamtwerk nicht nur aus den beiden genannten Bestandteilen zusammengesetzt war, sondern auch den durch Gelasios von Kaisareia erweiterten Euseb mit umfaßte und auf diese Weise eine Gesamtdarstellung der Kirchengeschichte seit den Ursprüngen bot. Diese These überzeugt jedoch nicht. Neben der

144

3. Die historiographische Methode

Vielleicht hat der Verzicht auf den Rückgang zu den Ursprüngen insofern zum Verschwinden der Gattung Kirchengeschichte beigetragen, als die Differenz zur Profanhistoriographie und damit die Existenzberechtigung der Gattung auf Dauer nicht mehr deutlich genug war 37 . Bei Sokrates fallt etwa im Vergleich zu Sozomenos auf, daß er es nicht für nötig hält, seinem Werk ein ausführliches und kunstvoll gestaltetes Proömium voranzuschicken. In den wenigen Sätzen vor Beginn der eigentlichen historischen Darstellung wird nur knapp in der beschriebenen Weise über die Anknüpfung an Euseb gesprochen. Es ist nicht so, daß Sokrates zu den in Proömien üblichen Topoi nichts zu sagen hätte, etwa zum Sinn und Gegenstand der Geschichtsschreibung, zu den Quellen, dem beabsichtigten Stil usw., doch finden sich diese Aussagen nicht im bewundernden Bezugnahme auf Euseb im Proömium des Theodoros (HANSEN I,U-I6) kann NAUTIN als einziges Argument dafür eine entfernte Ähnlichkeit der Gesamtüberschrift der (auch Euseb umfassenden) kirchengeschichtlichen Epitome (vgl. HANSEN XXXVII) mit einer Formulierung in Theodoros' Proömium geltend machen: Während hier Theodoros seine Tätigkeit als ,,συναγαγείν" bezeichnet (HANSEN 1,7), begegnet dort die Benennung „ σ υ ν α γ ω γ ή " (NAUTIN 214; 217; 228). Einer Reihe von möglichen Gegenargumenten begegnet NAUTIN entweder durch komplizierte und z u spekulative Hilfskonstruktionen oder er erwähnt sie einfach nicht. So ist die Hypothese zur Erklärung der Stellung des Proömiums am Anfang der Historia tripartita (statt am Anfang des angeblichen Gesamtwerkes), daß das Werk in zwei tomoi vorlag (NAUTIN 233), zu gekünstelt. Gegen das handschriftliche Zeugnis der Epitome zu postulieren, daß das erste Buch der eigenen Fortsetzung des Theodoros mit ,,βιβλίον ττεμτττον" überschrieben gewesen sein muß (Hs.: ,,βιβλίον -πρώτον", HANSEN 96,3), entbehrt der Grundlage (NAUTIN 232). Die Ausscheidung der in der Epitome gleichfalls exzerpierten Kirchengeschichte des Johannes Diakrinomenos (NAUTIN 226-228) ist nicht hinreichend begründet (vgl. HANSEN 232). Der gewichtigste Einwand taucht bei NAUTIN gar nicht auf: Schon die Vorstellung, daß Euseb und Gelasios als ein durchlaufendes Werk gelten konnten (so NAUTIN, Continuation [3.2.]) hat die chronologische Überschneidung der beiden Werke als entscheidendes Argument gegen sich (s. Anm. 7). N o c h viel mehr gilt ein solches Argument für den Anschluß der Historia tripartita an Gelasios. Auch wenn der Endpunkt der Darstellung des Gelasios nicht genau bekannt ist (vgl. WINKELMANN, Untersuchungen [3.2.] 104-106), hat sich mit Sicherheit eine bedeutende Überschneidung ergeben. Fast das gesamte Werk des Gelasios behandelt den auch von Sokrates abgedeckten Zeitraum. Theodoros hätte also entweder Gelasios fortlassen oder in seine Kompilation mit einarbeiten müssen. Ferner berücksichtigt NAUTIN die bei HANSEN IX abgedruckten Testimonia nicht. Es bleibt daher dabei, daß Theodoros' Werk nur die Historia tripartita und seine eigene Fortsetzung umfaßte. Der Gedanke einer Kette bis z u den Anfängen war in gewissem Sinne natürlich dennoch intendiert und k o m m t durch die Erwähnung Eusebs im Proömium z u m Ausdruck. Doch Theodoros hat diesen Gedanken nicht durch die physische Zusammenführung in ein Werk konkretisiert. 37 In mehrfacher Hinsicht einen Sonderfall stellt das späte Werk des Nikephoros Kallistos Xanthopoulos dar. Er verfaßte im 14. Jahrhundert noch einmal ein Kirchengeschichtswerk, das wenigstens dem theoretischen Anspruch nach die ganze Geschichte der Kirche bis zu seiner Zeit zur Darstellung bringen sollte. In seinerm Proömium (1,1, vgl. dazu GENTZ/WINKELMANN, Kirchengeschichte [3.2.] 20-23), das nach dem Vorbild des Diodoros von Agyrion gestaltet ist, wird als Motiv dafür aber kein theologisches (oder apologetisches) Anliegen z u m Ausdruck gebracht, sondern nur der Wunsch, durch die Zusammenstellung der verschiedenen Werke die Stilunterschiede zwischen den einzelnen Autoren auszugleichen und auf diese Weise das Lesen z u erleichtern. Das zugrundeliegende Geschichtsverständnis ist also gleichfalls das einer „Kette", von der auch ganz buchstäblich die Rede ist: „... τ η ν δε κ α τ ά λ η ψ ι ν , EU μ ά λ α έφεττομενην τ η ς φράσεως τ ω τ α υ τ ω , οΐόν τ ί ν α σειράν ττάσιν έφεξης άρμο^ομενην, θαυμασίως τε έτπττλεκομένην καί δ ι α τ ρ έ χ ο υ σ α ν " (PG 145,609e).

3.2. Komposition und Aufbau

145

Proömium zum Gesamtwerk, sondern verstreut in Proömien zu einzelnen Büchern innerhalb des Werkes. Deren kompositionelle Funktion und Stellung ist noch näher zu untersuchen (s. S. 172 ff), doch zunächst ergibt sich der Eindruck, daß sich Sokrates, obgleich er ein eigenständiges Werk der Gattung εκκλησιαστική Ιστορία vorlegt, ganz bescheiden in den Schatten des Begründers dieser Gattung stellt. Mit der Absichtserklärung, den großen Euseb fortsetzen zu wollen, meint er, seinen Lesern einen hinreichenden Verständnishintergrund zur Lektüre seines Werkes eröffnet zu haben. Die Knappheit des Proömiums stellt im übrigen keineswegs eine Abweichung von den Stilgesetzen der antiken Historiographie dar 38 . Auffällig ist allenfalls, daß Sokrates nicht etwa seinen eigenen Namen an den Anfang stellt oder überhaupt im Proömium erwähnt wie andere Geschichtsschreiber in archaisierendem Anschluß an Herodot und Thukydides 39 , sondern den seines Vorbildes Euseb 40 . Freilich hat sich gezeigt, daß schon die schlichte Absicht, Kirchengeschichte fortschreiben zu wollen, eine grundlegende Änderung gegenüber der Konzeption des Euseb mit sich bringt. Der Verzicht auf den Rückgang zu den Ursprüngen bedeutet letztlich den Verzicht auf ein geschlossenes christliches Geschichtsbild. An einem solchen Geschichtsbild scheint aber für Sokrates die Gattungsbezeichnung εκκλησιαστική ιστορία nicht zu hängen. In den folgenden Abschnitten geht es darum zu fragen, welche anderen Charakteristika des „Archetyps" von Sokrates übernommen oder nicht übernommen werden und damit unter Umständen der Gattung als dauerndes Kennzeichen erhalten bleiben oder verloren gehen.

3.2. Komposition und Aufbau

3.2.1. Buch- und Kapiteleinteilung Die Makrostruktur der Kirchengeschichte des Sokrates ist klar und leicht durchschaubar. Das Werk besteht aus sieben Büchern; das Gliederungsprinzip sind die

Vgl. E a r l , Prologue-form [3.3.] 841-844 und die Ratschläge, die Lukian, his t. cotiser. 52-55 zur Gestaltung des Proömiums gibt. Auf jeden Fall wurde vom Beginn eines historiographischen Werkes erwartet, daß es sofort Auskunft: über die Gattung der Schrift und nach Möglichkeit das behandelte Thema gibt. Diesen Anforderungen genügt Sokrates ohne weiteres. 39 Beispiele dafür bei Lieberich, Studien [3.3.] 1,48 und E a r l , Prologue-form [3.3.] 843, übrigens auch der späte (14. Jh.) Kirchenhistoriker Nikephoros Kallistos Xanthopoulos (1,1; PG i45,6o4a). Es sei noch am Rande bemerkt, daß Sokrates seinen eigenen Namen auch an keiner anderen Stelle in seinem Werk nennt. 40 Ebenso verfuhr später Euagrios Scholastikos. Zosimos nennt ganz zu Beginn seines Werkes (hist, ι,ι,ι) den Namen seines Vorbildes Polybios. 38

3. Die historiographische Methode

146

Regierungszeiten der Kaiser. Jedes Buch behandelt die Zeit eines Kaisers der östlichen Reichshälfte. Daraus ergibt sich folgende Einteilung: Buch

1 2 3 4 5 6 7 Gesamt

Kaiser

Zeitraum

Konstantin Konstantios Julian (und Jovian) Valens Theodosios I. Arkadios Theodosios II.

306-337 => 31 Jahre (31J.)41 337-361 => 24 Jahre (25 J.) 361-364 => 3 Jahre (2J., 3 Vi M.) 364-378 14 Jahre (16 J.) 379-395 => 16 Jahre (16 J., 8 M.) 395-408 => 13 Jahre (12 J„ 6 M.) 408-439 => 31 Jahre (32 J.) 306-439 => 133 Jahre (140 J.)42

Anteil am Gesamt

23% 24% 11% 11 % 9% 10% 12% 100 %

Die Übersicht zeigt, daß der Aufbau aus sieben Büchern insgesamt recht ausgewogen ist. Sokrates hat offenbar darauf geachtet, daß die Unterschiede in der Länge zwischen den verschiedenen Büchern nicht allzu groß werden - zumindest, was die Bücher 3-7 betrifft. Doch die ersten beiden Bücher fallen aus dem Rahmen; sie sind mehr als doppelt so lang wie die fünf übrigen. Diese Disproportion findet ihre Erklärung durch die Entstehungsgeschichte des Werkes: Sokrates schreibt selbst, daß er im Rahmen seiner Neubearbeitung der Kirchengeschichte die ersten beiden Bücher vollständig „neu diktiert" und dabei mit umfangreichem Urkundenmaterial angereichert habe 43 . Diese Aussage bestätigt ein Blick auf die uns vorliegende Endgestalt des Werkes: Im Vergleich zu den hinteren Büchern sind die wörtlich angeführten Urkunden in den ersten beiden Büchern besonders zahlreich und lang. Es ist also davon auszugehen, daß der Aufbau der ersten Bearbeitung noch ausgewogener war und alle Bücher etwa gleiche Länge hatten (s. S. 163 ff). Buch 3 stellt insofern eine kleine Abweichung vom Gliederungssystem dar, als dort die Regierungszeit von zwei Kaisern beschrieben wird, nämlich Julian und Jovian. Diese Abweichung ist aber keinesfalls auf einen Systemzwang zurückzu41 Sokrates datiert das Ende eines jeden Buches jeweils korrekt durch Angabe der Konsuln. Zusätzlich gibt er die Länge des beschriebenen Zeitraumes an (hier jeweils in Klammern). Diese Angaben sind normalerweise ebenfalls richtig; wo sie um eins über der modernen Berechnung liegen, ist die Erklärung am ehesten die, daß Sokrates nach antiker Manier Anfangs- und Endjahr mitrechnet. Ein Zusammenhang mit den merkwürdig fehlerhaften Olympiadenangaben (s. unten S. 156 f.) ist im allgemeinen nicht zu erkennen. Aus diesem Grunde scheint es mir unwahrscheinlich zu sein, daß die Abweichung von zwei Jahren bei Buch 4 darauf zurückgeht (so Hansen [1.1.] im App. zu 4,38,11); vermutlich hat Sokrates hier (versehentlich?) die kurze Regentschaft des Jovian noch mitgerechnet und vom Tode Julians 363 an gezählt. 42 Bei der Umfangsangabe für das Gesamtwerk in 7,48,8 ist der Fehler besonders groß. Er ist nicht durch die Abweichungen bei den Angaben zu den einzelnen Büchern zu erklären; summiert man diese, ergibt sich ein Wert von 135 Jahren und 5V2 Monaten. Das Richtige läßt sich auch nicht aus den Olympiadenjahren ableiten (weder aus den fehlerhaften bei Sokrates noch aus den korrigierten, vgl. Hansen [1.1.] im App. z. St.). Auch hier wird die Erklärung am ehesten darin liegen, daß Sokrates jeweils Anfangs- und Endjahr mitrechnet, also sechs Jahre an den Buchgrenzen doppelt zählt und zusätzlich das Anfangs- bzw. Endjahr der Gesamtdarstellung mitberücksichtigt. 43 2,1,4-6 („το ττρώτον και τ ο δεύτερον βιβλίον άνωθεν ύτταγορευσαι", §4, s. dazu unten Anm. m ) .

3.2. Komposition und Aufbau

147

führen, um eine Gesamtzahl von sieben Büchern aufrechterhalten zu können, wie das etwa in der Universalgeschichte des Orosius der Fall sein dürfte 44 . Vielmehr ist es wegen der Kürze der Regierungszeit des Jovian (nur acht Monate) sachlich gerechtfertigt, ihm nicht ein eigenes Buch zu widmen, sondern die Ereignisse unter seiner Regentschaft auf wenigen Seiten im Anschluß an den Vorgänger abzuhandeln (3,22.-26). Darüber hinaus fallt das Buch auch deshalb auf, weil es etwa ebenso lang ist wie die anderen Bücher, obgleich darin ein Zeitraum von nur drei Jahren besprochen wird. Diese Ausführlichkeit ist aber nicht nur aus dem Wunsch nach ausgewogener Darstellung zu erklären, sondern auch von der Sache her sinnvoll. Die kurze Regierungszeit des Julian stellt einen tiefen Einschnitt in der Kirchengeschichte dar, der mit guten Gründen bis heute umfangreiche Zuwendung von Seiten der Historiker erfahren hat. Auffalliger ist eine andere Beobachtung, die sich aus der Gliederungsübersicht ergibt: Obgleich das letzte Buch im Vergleich zu den vorhergehenden einen etwa doppelt so langen Zeitraum beschreibt, ist es nur unwesentlich länger. Das ist darum auffällig, weil viele antike und spätantike Geschichtswerke dazu neigen, gegen Ende ausführlicher zu werden, also dort, w o die Zeitgeschichte behandelt wird, Begebenheiten, die der Autor entweder selbst erlebt hat oder für die er sich auf Augenzeugenberichte stützen konnte 45 . Das ist bei Sokrates nicht der Fall -

44

So die m. E. überzeugende These von CORSINI, Introduzione [3.2.] 138 f.: Auch wenn Orosius sich nicht explizit über die Zahl sieben äußert, bleibt doch zu erklären, warum er in seinem exordium die Geschichte in drei Perioden aufteilt (hist. 1 , 1 , 1 4 ) , dann aber in der Durchführung sieben Bücher schreibt, wobei das letzte mit Abstand am umfangreichsten ist (s. folgende Anm.) und die (angebliche) Friedenszeit seit dem Erscheinen Christi behandelt. Die Vermutung von CORSINI, daß hier die Vorstellung von der Ruhe des siebten Schöpfungstag im Hintergrund steht, ist einleuchtend und hat in hist. 6 , 2 2 , 9 - 1 1 einen gewissen Anhalt am Text. Für Sokrates kommt eine derartige Interpretation der Zahl sieben nicht in Betracht, wie überhaupt solche Zahlensymbolik dem nüchternen Kirchenhistoriker eher fernlag. Das schließt natürlich nicht aus, daß er an der „runden" Zahl sieben Gefallen hatte. Daß dieser Zahl aber keine entscheidende Bedeutung zukam, zeigt auch das Beispiel des Sozomenos, der die ersten beiden Bücher in je zwei aufteilte und den gleichen Stoff in neun Büchern präsentierte (s. Anm. 67). 45 Einige Beispiele: Bei Orosius macht Buch 7 etwa ein Drittel des Gesamtumfanges aus. Von den insgesamt 31 Büchern des Ammianus Marcellinus, in denen ein Zeitraum von 282 Jahren geschildert wird, befassen sich mehr als die Hälfte (nämlich 17) mit den letzten 24 Jahren, also der Zeit, die der Autor selbst erlebt hat. Dieser Ausweitung war sich Ammianus auch bewußt; er rechtfertigt sie ausdrücklich zu Beginn des 15. Buches (rer. 1 5 , 1 , 1 ) : „residua ... limatius absolvemus, nihil obtrectatores longi (ut putant) operis formidantes." Die genaue Gliederung des von Eunapios von Sardes verfaßten Geschichtswerkes ist nicht mehr zu erkennen; doch immerhin läßt sich aus fig. 15,1-3 eindeutig entnehmen, daß das erste Buch in geraffter Form die Geschichte vom Tod Claudius' II. bis zur Erhebung Julians zum Caesar enthielt (270 bis 355), während die übrigen 13 Bücher sehr viel ausführlicher die Ereignisse bis 404 beschrieben (eine hypothetische Gliederungsrekonstruktion bei BLOCKLEY, Historians [3.3.] 1,7 f.). Von den zehn Büchern der Kirchengeschichte Eusebs handeln in der Endgestalt die letzten drei von den letzten zwanzig Jahren, die der Autor selbst miterlebt hatte. Allerdings ist in diesem Fall die stufenweise Entstehungsgeschichte des Werkes mitzuberücksichtigen (s. Anm. 15). Sehr deutlich ist das Phänomen auch bei Zosimos: Obgleich er dem Anspruch nach die Geschichte seit dem Trojanischen Krieg, faktisch die der

148

3. Die historiographische Methode

eher im Gegenteil 4 6 . Dennoch zeigt der Stoffreichtum des Buches, daß Sokrates nicht um Inhalte verlegen war. Die maßvolle Länge des Buches ist also eher als Indiz für die sorgfältige Planung der Anlage des Gesamtwerkes zu sehen 4 7 . Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Einteilung in die sieben Bücher auf Sokrates selbst zurückzuführen ist 48 . Daß sie mit besonderer Sorgfalt geschah und echte Gliederungseinschnitte markiert, ergibt sich auch aus der kompositionstechnischen Betonung dieser Einschnitte durch Datierungsangaben. A m Ende eines jeden Buches findet sich eine exakte Datumsangabe, und zwar in besonders feierlicher Form 4 9 : Es wird der Tod des betreffenden Kaisers geschildert und auf den T a g genau datiert (natürlich nicht am Ende von Buch 7); der üblichen Jahresangabe durch die N a m e n der Konsuln wird die archaisierende Form der Olympiadenzählung zugesetzt 5 0 . Eine derartige Angabe findet sich (mit einer Ausnahme) nur an

römischen Kaiserzeit bis 410 behandelt, befassen sich allein drei der sechs Bücher mit den letzten 50 Jahren (wobei die Darstellung auch innerhalb derselben nach hinten hin ausführlicher wird), vgl. PASCHOUD, Zosimos [3.3.] 802-810. Aus dem Proömium des Ephoros von Kyme hat sich sogar eine methodische Äußerung zu diesem Thema erhalten (FGrH 70 F 9). 44 Bei Theoderet ist die Tendenz zur Verknappung nach hinten hin noch deutlicher als bei Sokrates; seine Schilderung hört auch schon ein Stück vor der eigenen Zeit ganz auf. Doch das Motiv dafür ist in diesem Falle klar: Theodoret möchte sich nicht die Finger verbrennen; schließlich spielte er selbst in den jüngsten Auseinandersetzungen eine bedeutende Rolle. Davon läßt er - gewiß absichtlich - in seiner Kirchengeschichte nichts anklinger (vgl. PARMENTIER, Theodoret [1.2.] cu). Bei Sokrates spielt ein derartiges Motiv selbstverständlich keine Rolle. Etwas anders liegen die Dinge bei Sozomenos: Dessen letztes Buch ist ein Torso geblieben - möglicherweise durch den frühzeitigen Tod des Verfassers (so die Vermutung von HANSEN, Sozomenus [1.2.] LXVI f.). 47

Nur am Rande sei bemerkt, daß technische Gegebenheiten wie die Länge einer Rolle keinen Grund für Sokrates' relativ gleichmäßige Bucheinteilung darstellen dürften. Die Kirchengeschichte war sicherlich von Anfang an in einem Codex geschrieben, denn „der Sieg des Codex war im 5. und 6. Jahrhundert bereits entschieden" (HUNGER, Schreiben [3.4.] 26), vgl. auch ROBERTS/ SKEAT, Birth [3.4.] 35-44. 48 Das ergibt sich schon allein aus der häufigen expliziten Bezugnahme auf die Bucheinteilung durch Sokrates selbst, neben den chronographischen Notizen zum Ende eines jeden Buches (s. die folgende Anm.): 2,1,2.4.7; 2,20,13; 2,25,2; 2,34,5; 2,38,11; 3,10,5; 5,pr,i; 6,pr,i.6; 6,1,2; 7,48,7 f. Merkwürdigerweise ist die Benennung in allen diesen Fällen βιβλίον, während sie in den Schlußnotizen der Bücher grundsätzlich βίβλος ist. In den Überschriften der Bücher setzen die Handschriften überwiegend βιβλίον, gelegentlich aber auch τόμος oder λόγος (beide Ausdrücke gebraucht Sokrates in diesem Zusammenhang nicht) oder einfach nur die Nummer. Daraus wird man nicht mehr schließen können, als daß diese Überschriften auf keine alte Überlieferung zurückgehen oder jedenfalls als nicht zum Text gehörig empfunden wurden. 49 1,40,3; 2,47,4-6; 3,26,5 f. (ausnahmsweise ohne Olympiadenjahr); 4,38,7.11; 5,26,4-6; 6,23,7; 7,48,8; als Beispiel sei der Schluß von Buch 5 (Tod Theodosios' I.) im Wortlaut zitiert: ,,έτελεύτησεν έν ύττατεία Όλυβρίου κα! Προβίνου τ η έττ-τακαιδεκάτη τ ο 5 Ίαννουαρίου μηνός, τ ο ύ τ ο &È ην πρώτον έτος της διακοσιοστης ένενηκοστής τετάρτης όλυμτπάδος. ε'^ησεν δε ό βασιλεύς Θεοδόσιος έτη ξ', έβασίλευσεν δε ετη ις'. ττεριεχει ή βίβλος χρόνον ετών ιςΛ μηνών η'." 50 Zum Hintergrund dieser Art der Datierung s. unten S. 156 f.

3.2. Komposition und Aufbau

149

diesen Stellen sowie am Beginn des Gesamtwerkes 51 . Zusätzlich wird an den Buchschlüssen jeweils explizit angegeben, wie lange der betreffende Kaiser gelebt hat, wie lange er regiert hat und wie lange der in dem Buch beschriebene Zeitraum ist; am Ende des Gesamtwerkes wird auch der gesamte erfaßte Zeitraum benannt 52 . Dieses Schema wird so starr durchgehalten, daß es etwa zu einer Doppelung des Todes Konstantins kommt. Zunächst wird davon im Zusammenhang der Geschichtserzählung (Taufe - Testament - Tod - Beisetzung) berichtet (1,39.5), dann wird - nach dem Bericht von der Beisetzung - im Rahmen der ausführlichen Datierungsnotiz ganz am Ende des Buches noch einmal der Tod des Kaisers mit seinem genauen Datum mitgeteilt (1,40,3). Ähnlich wird Julians Weg zur Macht zweimal geschildert, einmal im Zusammenhang des Todes seines Vorgängers am Ende von Buch 2 (2,47,1 f.) und einmal - ausführlicher - in dem biographischen Abschnitt zu Beginn von Buch 3 (3,1,25-42). Häufig wird das Enddatum eines Buches darüber hinaus zu Beginn des jeweils folgenden Buches noch einmal wiederholt 53 . Zusätzlich werden drei (oder sogar vier) der sechs Einschnitte zwischen den sieben Büchern durch Proömien bzw. proömienartige Texte herausgehoben 54 . Gerade die Tatsache, daß die Einteilung in die sieben Bücher für die Komposition des Gesamtwerkes eine so überragende Rolle spielt und so ausgewogen und konsequent durchgeführt ist, legt die Frage nahe, wie es zu dieser Gliederung kommt oder, anders gesagt, woher das entscheidende Gliederungsprinzip, nämlich die Regierungszeiten der Kaiser, stammt. Eine Ableitung aus der Tradition der Kirchengeschichtssschreibung ist jedenfalls nicht oder nur in sehr beschränktem Maße möglich. Für die Kirchengeschichte des Euseb spielt die politische Geschichte sowieso eine untergeordnete Rolle, und darum stellen die Regierungszeiten der Kaiser auch kein wichtiges Gliederungsprinzip dar 55 . Lediglich am Ende, wo es um 51 1,2,1. Die Ausnahme ist der in 7,20,13 geschilderte Friedensschluß zwischen Römern und Persern; ein besonderer inhaltlicher oder kompositioneller Grund für die feierliche Datierung an dieser Stelle ist nicht erkennbar. 5 2 Eine ähnliche Angabe über den Gesamtumfang findet sich am Schluß von Theodorets Kirchengeschichte (5,40,3). Sozomenos, dessen letztes Buch unvollendet geblieben ist, teilt am Anfang den Zeitraum mit, den er beschreiben möchte (pr,I9). Diodoros von Agyrion verfahrt ebenso (bibl. hist. 1,5,1) und gibt eine interessante Erklärung dafür: Durch die Umfangsangabe möchte er dem Leser die Kontrolle über die Vollständigkeit des ihm vorliegenden Exemplars geben und so das Werk gegen Plagiatoren schützen (1,5,2, vgl. auch die Schlußbemerkung 40,8). 53

3,1,1; 4,1,1; 6,1,1; 7,1,1.

" Proömien im eigentlichen Sinne finden sich zu Beginn der Bücher 2, 5 und 6; auch die knappe Bemerkung in 3,1,3 f. kann der Sache nach als proömienartig bezeichnet werden. Zur kompositionstechnischen Funktion dieser Texte s. unten S. 172 ff. 5 5 Vgl. GRANT, Eusebius [3.2.] 29 f. Völlig unerfindlich ist, wie ALLEN, Evagrius [3.2.] 52 schreiben kann: „Eusebius' work is divided into books which begin and terminate with the accession and death of emperors, and within a particular book, for example Book III, which covers the reigns of Vespasian, Domitian and Trajan, there are rigid divisions." Ein Blick allein in das Inhaltsverzeichnis (auch einer beliebigen englischen Übersetzung) des Euseb hätte zeigen können, daß von einer solchen Struktur nicht im entferntesten die Rede sein kann. Entsprechend verkehrt sind die anschließenden Ausführungen.

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3. Die historiographische Methode

die diokletianische Verfolgung und deren Überwindung durch die Religionspolitik Konstantins (und zunächst des Licinius) geht, ist es von der Sache her gerechtfertigt, ja geradezu unvermeidlich, daß der Umschwung der kaiserlichen Politik auch einen Einschnitt in die Kirchengeschichte darstellt. So behandeln in der Endgestalt des Werkes die Bücher 8 und 9 die Verfolgungszeit bis zum Sieg Konstantins und Licinius', während Buch 10 den endgültigen Triumph der Kirche unter Konstantin breit ausmalt. Doch erstens kann hier keine Rede davon sein, daß der Regierungswechsel als solcher einen Gliederungseinschnitt bedeutete; vielmehr steht die Entwicklung der Kirche ganz im Vordergrund. Zweitens sind die fraglichen Einschnitte in engem Zusammenhang mit dem stufenweisen Wachstum des Werkes zu sehen56. Eher könnte man bei Rufins Fortsetzung des Eusebschen Werkes in zwei Büchern ein Vorbild für Sokrates' Gliederungsprinzip suchen. Denn dort koinzidiert die Grenze zwischen den beiden Büchern mit dem Ende der Regierungszeitjulians, und das Gesamtwerk schließt mit dem Tod Theodosios' I. Doch besonderer Nachdruck liegt nicht auf diesem Prinzip: Der Tod Julians steht nicht genau am Ende des ersten Buches 57 . Obgleich das Buch in etwa mit der Zeit Konstantins beginnt, setzt Rufin nicht mit einer darauf bezogenen politischen Nachricht, sondern mit dem Beginn des arianischen Streites ein58. Andere kirchenhistorisch relevante Herrscherwechsel wie der von Konstantin zu Konstantios oder der von Valens zu Theodosios I. bilden keine besonderen Einschnitte59. Bei den nur fragmentarisch erhaltenen Werken von Gelasios von Kaisareia und Philostorgios ist es unmöglich, sich ein genaues Urteil über die Gliederung zu bilden, doch dürften für letzteren die Regierungszeiten der Kaiser eine wichtige Rolle gespielt haben, allerdings - soweit man das noch erkennen kann - waren sie wohl nicht das einzige und wichtigste Gliederungsprinzip60. 56

Dieser Hintergründe wird sich Sokrates allerdings nicht bewußt gewesen sein. Ihm lag zweifellos die Endgestalt in zehn Büchern vor, s. oben S. 139, dort auch Literaturangaben zur modernen Rekonstruktion der Editionsgeschichte. 57 10,37 (997,6-io); danach folgt noch recht ausführlich der Bericht vom gescheiterten Versuch, den Jerusalemer Tempel wieder aufzubauen. se 10,1. Allerdings wäre es auch nicht sinnvoll gewesen, den Regierungsantritt Konstantins noch einmal zu schildern, denn davon hatte Euseb, an den sich Rufin anschließt, ja schon berichtet.

" Das gilt jedoch nur in formaler Hinsicht! Inhaltlich wird etwa der Wechsel vom (guten) Konstantin zum (bösen) Konstantios von Rufin (10,12) viel stärker herausgearbeitet als von Sokrates, s. S. 53 f. 60 Das Werk war in 12 Bücher unterteilt, deren Abgrenzung auch noch in den Exzerpten des Photios deutlich wird. Jedoch ist nicht unbedingt damit zu rechnen, daß die Exzerpte jeweils genau Anfang und Ende der Bücher umfassen. Unter diesem Vorbehalt ist folgendes zu beobachten: Der Einschnitt zwischen Buch 2 und 3 entspricht dem Wechsel von Konstantin zu Konstantios; Buch 7 behandelt die Regierung Julians; der Übergang von Buch 9 zu 10 entspricht in etwa dem von Valens zu Theodosios I. In anderen Fällen korrespondieren jedoch auch politisch wichtige Wechsel nicht mit Buchgrenzen (ζ. B. Regierungsantritt von Valentinian und Valens, 8,8; von Arkadios und Honorius, 11,3; von Theodosios II., 12,7). Im übrigen bedeutet natürlich die Aufteilung in 12 Bücher bei einem Geschichtswerk, das die Zeit von Konstantin bis Theodosios II. umfaßt, daß es mehr Buchgrenzen als Regierungswechsel gibt. Also müssen noch zusätzliche

3.2. Komposition und Aufbau

151

Die Wurzel für das Gliederungssystem des Sokrates ist eher im profanen Bereich zu suchen. Seit dem zweiten Jahrhundert hatten sich Kaiserbiographien als eigene Gattung entwickelt (im Gefolge der Sammlung des Sueton). Diese Gattung übte einen immer stärkeren Einfluß auch auf die Historiographie im engeren Sinne aus. Es war von der Sache her gerechtfertigt, um nicht zu sagen: erzwungen, daß Person und Politik der Kaiser bei der Beschreibung der Geschichtsabläufe eine entscheidende Rolle spielten. Diese „biographische Neuorientierung der Historiographie" 61 ist bei allen Geschichtsschreibern der Spätantike zu verspüren - gleich ob sie sich von ihrer mehr klassisch orientierten Theorie her gegen das Eindringen dieser fremden Gattung wehren wie Ammianus Marcellinus62, oder ob sie den Umschwung auch theoretisch reflektieren und billigen wie Herodianos oder Eunapios63. Die Regierungswechsel bilden bei allen gleichermaßen entscheidende Gliederungsmerkmale 64 . Sokrates jedenfalls konnte zu seiner Zeit schon ohne weiteres auf das Verständnis der Leser in diesem Punkte rechnen. Was neu war und der Begründung bedurfte, war die Tatsache, daß gerade in einer Kirchengeschichte von den Kaisern überhaupt so ausführlich gesprochen werden mußte. Dafür rechtfertigte sich Sokrates explizit, indem er auf die in seiner Zeit gegebene Interdependenz des staatlichen und des kirchlichen Bereichs hinwies 65 . Sobald über diesen Punkt Einverständnis erzielt war, war die Gliederung nach Regierungszeiten der Kaiser auf dem Hintergrund der historiographischen Tradition der Zeit unproblematisch. Sokrates hatte es nicht mehr nötig, sich gegen den Vorwurf der Vermischung mit der Gattung Kaiserbiographie, zu wehren - ein Vorwurf, der auch nicht gut gegen ihn erhoben werden konnte, denn trotz der „kaiserzentrierten" Gliede-

Gliederungsmerkmale ins Spiel kommen; es sind dies bei Philostorgios, soweit erkennbar, hauptsächlich die Geschicke des Eunomios und seiner Anhänger. Ein Einfluß auf Sokrates kommt sowieso kaum in Betracht, weil es keinerlei Indizien dafür gibt, daß er das etwas früher entstandene Werk des Eunomianers kannte (s. oben Anm. 9). Bei Gelasios, den Sokrates sicher kannte und als Quelle nutzte, erlaubt der heutige Erhaltungszustand des Werkes leider gar keine Aussage über die Gliederung, vgl. WINKELMANN, Charakter [3.2.] 348-356. 61

DIHLE, Literatur [3.4.] 356; zu dem Prozeß insgesamt vgl. auch ders., Entstehung [3.3.] 64-80

u n d CESA, Tendenze

[3.3.] 120.

In rer. 26,1,1; 28,4,14 polemisiert Ammianus gegen die Kaiserbiographen, namentlich Marius Maximus. 63 In Herodianos' Proömium heißt es: „... κατά χρόνους και δυναστείας διηγήσομαΓ (ι,1,6). Eunapios, frg. 1,87-89: „··· τ ο δε κατά χρόνους, ο'ιτοΤς βασιλεύσι περιγράφονται, κρίνας άληθεστερον. άναγνώσεται γουν τις οτι τ α ύ τ α έττί τούδε του βασιλέως η τούδε έττράττετο." Dieses Fragment stellt den Beginn des Gesamtwerkes dar und hat ebenfalls den Charakter eines Proömiums. 64 Für Ammian hat das ROSEN, Ammianus [3.3.] 76 gezeigt, für Herodianos vgl. die Gliederungsübersicht bei LENDLE, Einfìihrung [3.3.] 256. In bezug auf Eunapios sind genaue Aussagen über die Gliederung des Gesamtwerkes angesichts des fragmentarischen Erhaltungszustandes problematisch (vgl. jedoch die hypothetische Rekonstruktion bei BLOCKLEY, Historians [3.3.] 1,7 f.), aber es gibt keinen Grund zu bezweifeln, daß Eunapios das im Zitat der vorigen Anm. programmatisch Geforderte auch umgesetzt hat. Auch bei Zosimos fallen die Grenzen der Bücher 3/4 und 4/5 mit Kaiserwechseln zusammen. 62

45

5,Pr,3 f·, s. dazu unten S. 283 ff.

152

3. Die historiographische Methode

rung läßt sich nicht behaupten, daß er inhaltlich den Charakteristika der Kaiserbiographien nahestünde, also Charakterstudien, biographische Details sowie ausführliche Berichterstattung über Vorgänge bei Hofe und Geschehnisse „hinter den Kulissen" böte 6 6 . Daß die von Sokrates gewählte Gliederung sachlich angemessen war, ja, daß es im Grunde g e n o m m e n keine ernsthafte Alternative dazu gab, zeigt auch die Tatsache, daß seine Einteilung Schule gemacht hat. Sozomenos übernahm das System fast unverändert 6 7 , und Theodoret kam (vermutlich unabhängig von Sokrates) wenig später auf eine ganz ähnliche Einteilung 68 . Theodoras Anagnostes und Cassiodor hielten bei ihren Kompilationen der drei Synoptiker grundsätzlich an deren Gliederungsprinzip fest 69 , und auch Euagrios unterteilte seine Kirchengeschichte nach den Regierungszeiten der Kaiser 70 . Selbst die bislang jüngste Darstellung der Kirchengeschichte des vierten Jahrhunderts (von Rudolf LORENZ, 1992) gliedert den Stoff in genau der gleichen Weise wie Sokrates, ähnlich die klassische Darstellung

66

S. oben S. 108 ff. sowie die theoretische Aussage 1,18,14. Sozomenos bemerkte, daß die ersten beiden Bücher in der von Sokrates veröffentlichten Endgestalt überproportional lang waren und spaltete sie darum in je zwei Bücher auf, so daß eine Gesamtzahl von neun Büchern entstand (vgl. die Gliederungsübersicht in pr,19-21). Dadurch ist zwar das bei Sokrates streng durchgehaltene System durchbrochen, doch grundsätzlich kein anderes Gliederungsprinzip ins Spiel gebracht (zumal die Grenze von Buch 3 und 4 mit dem Tod des Konstans zusammenfällt). Es wäre Sozomenos übrigens zuzutrauen, daß er Gefallen an der Nähe zu Herodot hatte, dessen Werk seit hellenistischer Zeit in neun Bücher unterteilt zu werden pflegte, die nach den neun Musen benannt wurden. Die gegenüber Sokrates ausgewogenere Aufteilung in den ersten Büchern wird in Sozomenos' sechstem Buch gestört, das durch die weitschweifigen Mönchsgeschichten unverhältnismäßig lang geworden ist. Buch 9 fällt zu kurz aus, denn es ist unvollendet geblieben. 68 Die Kirchengeschichte des Theodoret besteht aus fünf Büchern, von denen die ersten vier beinahe genauso abgegrenzt sind wie die entsprechenden bei Sokrates (bis auf die Tatsache, daß Jovian im vierten statt im dritten Buch behandelt wird). Da das Werk ohnehin nur die Zeit bis 425 beschreibt und außerdem nach hinten hin immer weniger ausführlich wird (s. Anm. 46), ist die ganze Zeit vom Tod des Valens an im fünften Buch behandelt. Bei Theodoret wird die Bucheinteilung sogar an einer Stelle explizit begründet; am Ende des dritten Buches über die Regierungszeit Julians heißt es, die Regierung eines gottlosen Kaisers solle nicht mit der eines frommen in einem Buch vereinigt werden (3,28,3). Wenn man mit HANSEN [1.1.] xxv f. der Auffassung ist, daß Theodoret Sokrates gekannt hat, kann man diese Stelle auch als verdeckte Polemik gegen das abweichende Verfahren des Vorgängers verstehen (HANSEN XXV). 69 Allerdings gliedert Cassiodor feiner (den Gesamtstoff in 12 Büchern: gegenüber Sozomenos je ein zusätzliches Buch für die Regierungszeiten Konstantins, Valens' und Theodosios' II.) und Theodoros gröber (in vier Bücher, die Überschriften sind teils im erhaltenen Text der ersten beiden Bücher, teils in der kirchengeschichtlichen Epitome überliefert, 1,3; 27,7; 56,1; 75,20 HANSEN, vgl. NAUTIN, Théodore [3.2.] 231). Die genaue Bucheinteilung der nur in der Epitome überlieferten eigenen Fortsetzung des Theodoros ist nicht bekannt. Aus Analogie mit den anderen Kirchengeschichtswerken hat PAPADOPOULOS-KERAMEUS (zitiert bei HANSEN, Theodoros [1.2.] xxv«) Bucheinschnitte nach den Regierungszeiten der Kaisers konjiziert (wiedergegeben in 67

HANSENS Edition 103,21; 112,10; 125,24, vgl. NAUTIN 232). 70 Buch 1: Theodosios II.; Buch 2: Markianos, Leon I., Leon II.; Buch 3: Zenon, Basiliskos, Anastasios I.; Buch 4; Justin I., Justinian; Buch 5: Justin II., Tiberios I.; Buch 6: Maurikios.

3.2. Komposition und Aufbau

153

von Hans LIETZMANN 71 . ES braucht kaum eigens betont zu werden, daß das von Sokrates inaugurierte Gliederungssystem auch eine theologische Neuerung gegenüber Euseb darstellt. Nicht mehr die δ ι α δ ο χ α ί τ ω ν ιερών ά τ τ ο σ χ ό λ ω ν 7 2 geben das chronologische Gerüst der Kirchengeschichte ab, sondern die Regierungszeiten der Kaiser. Als fernen Nachhall des Eusebschen Erbes kann man allenfalls die Neigung des Sokrates ansehen, jeweils an den Anfang eines Buches ein Kapitel mit einem Überblick über die Inhaber der wichtigsten Bischofssitze zu stellen 73 . Innerhalb der einzelnen Bücher ist das Werk des Sokrates in Kapitel gegliedert. Diese zweite Gliederungsebene spielt jedoch in der Struktur des Werkes keine vergleichbar bedeutende Rolle, ja, aus dem inneren Befund ergibt sich nicht einmal mit völliger Eindeutigkeit, daß diese Einteilung vom Verfasser der Kirchengeschichte selbst stammt. Die in den älteren Ausgaben abgedruckten Kapitelüberschriften, durch die die Einteilung besonders augenfällig wird, stammen sicher nicht von Sokrates und sind daher mit Recht in der Ausgabe von HANSEN fortgelassen 74 . Bei Verweisen innerhalb seines Werkes macht Sokrates von der Kapiteleinteilung niemals Gebrauch und läßt auch dort, w o die formalen und inhaltlichen Einschnitte ziemlich deutlich sind, nicht explizit erkennen, daß es sich um Kapitelgrenzen handelt. Dennoch dürfte die Einteilung v o m Verfasser herrühren. Dafür spricht im wesentlichen folgende Beobachtung: Die Länge der Kapitel variiert zwar

71 Die ersten fünf Kapitel in LORENZ' Darstellung der Kirchengeschichte des vierten Jahrhunderts (Osten [3.4.]) decken sich exakt mit den ersten fünf Büchern bei Sokrates; LORENZ fügt noch zwei thematisch ausgerichtete Kapitel über Kirchenverfassung und Gemeindeleben sowie über das Mönchtum hinzu - entsprechend den Exkursen in der antiken Historiographie (bei Sokrates: 4,23 über das Mönchtum und 5,2a über Kirchenverfassung und Gemeindeleben). LIETZMANN, Geschichte [3.4.] gliedert etwas feiner und kann dadurch spezifisch kirchengeschichtliche Gesichtspunkte stärker berücksichtigen. Dennoch zeigt ein Blick in die Inhaltsverzeichnisse der Bände 3 und 4 unmittelbar die Verwandtschaft mit der an den Kaisern orientierten Gliederung des Sokrates. Es gibt eine lange Tradition derartiger Einteilung in der neuzeitlichen Kirchengeschichtsschreibung: Schon die Annales ecclesiastici des BARONIO gliedern ähnlich; die Bände 3, 4 und 5 entsprechen genau Sokrates' Büchern 1-2, 3-5 und 6-7. 72 Eus. 1,1,1; besonders TETZ, Christenvolk [3.2.] 38 f. hat den durch die διαδοχαί gegebenen Aspekt der Chronologie in den Vordergrund gestellt. 73 4,1,14-16; 5,3; 6,1,2; s. dazu oben S. 114. 74 Vgl. die Begründung bei HANSEN [1.1.] LX. Am deutlichsten verrät sich die Hand eines Späteren in der Überschrift zu 7,34, wo die erste Synode zu Ephesos 431 genannt wird (wohl im Gegensatz zur zweiten 449). ELTESTER, Sokrates [3.1.] 894 hatte (im Anschluß an eine Vermutung von SCHWARTZ, Eusebius [1.2.] cui) die Echtheit der Kephalaia verteidigt - mit dem Hinweis auf den Stil, der Eigentümlichkeiten des Sokrates aufweise. Es ist zweifellos richtig, daß sich in den Überschriften gehäuft Vorzugsvokabeln des Kirchenhistorikers finden (ELTESTER macht auf τ α ρ α χα! aufmerksam [zu 1,7; 1,37; 2,38; 3,13; 4,13; 5,13; 6,6]; es wäre auch φιλονεικία [zu 1,5; 1,6] zu nennen). Dennoch wird man daraus nicht mehr entnehmen können, als daß diese Überschriften von jemandem stammen, der sich gut in Sokrates eingelesen hatte bzw. einfühlsam Wörter aus dem Text in die Überschriften übernahm. Doch es finden sich auch Beispiele für einen Sprachgebrauch, der dem Kirchenhistoriker ganz fremd ist (etwa häufig der Begriff „orthodox" [zu 4,1.9.14.37; 5,2.6], s. dazu S. 35).

154

3. Die historiographische Methode

stark, aber mit weitem Abstand am längsten sind die Kapitel 1,8 und i,9 7 5 . Diese außergewöhnliche Länge entsteht durch die umfangreichen Urkunden, die sicherlich erst zur zweiten Bearbeitung eingefügt worden sind. Eine spätere Kapitelaufteilung hätte diese überlangen Kapitel gewiß unterteilt; also wird die Einteilung auf die erste Fassung und damit auf den Autor selbst zurückgehen. Diese Einschätzung wird durch äußere Zeugnisse unterstützt: Schon sehr früh finden sich Testimonien, die Sokrates mit Buch und Kapitelzahl zitieren, zuerst bei Severos von Antiochien 76 , später auch bei Johannes von Damaskos 7 7 . Von besonderem Interesse ist eine Stelle in einem Brief des Georg von Arabien (um 700), an der dieser zu chronologischen Z w e c k e n die datierten Schlußnotizen der Bücher 1-4 mit Kapitelzahl zitiert; daraus ergibt sich, daß die Kapitelzählung seines (wohl syrischen) SokratesExemplars etwas von den erhaltenen Handschriften (und den modernen Editionen) abwich 7 8 . Im übrigen ist die Aufteilung in Kapitel nichts Ungewöhnliches und findet sich ähnlich auch bei anderen Autoren der Zeit 7 9 . A u f der inhaltlichen und formalen Ebene findet sich eine Reihe von strukturierenden Elementen. Die Kapitelgrenzen sind - auch wenn sie nicht explizit kenntlich gemacht werden - sehr häufig auf folgende Weise markiert: Z u m Kapitelende steht ein rekapitulierender Satz mit μεν; es folgt zur Eröffnung des neuen Kapitels ein überschriftartig vorausweisender Satz mit 8t. Ein typisches Beispiel: ,,ττερί μεν Br) τ ο ύ τ ω ν τ ο σ α υ τ α ειρήσθω· λεκτεον δε κ α ί . . . " 8 0 Die beiden Sätze haben nicht immer so eindeutig rekapitulierende bzw. überschriftartige Funktion, doch wird die μεν - δέ-Struktur mit erstaunlicher Gleichförmigkeit fast stets befolgt 8 1 . Auch 75

Mit 269 (1,8) bzw. 338 (1,9) Druckzeilen sind beide Kapitel deutlich länger selbst als die längsten Exkurse (s. die Zusammenstellung unten S. 180). 76 Liber contra impium grammaticum 3,39 (6,245, Übers. 6,180) zitiert Sok. 1,12. 77 Or. imag. 3,71 (174,1 f.) zitiert Sok. 1,18. 78 Text S. 113 LAGARDE (Übers. S. 47 RYSSEL). Zitiert werden 1,40; 2,45 (47); 3,16 (21); 3,20 (26); 4.35 (38), in Klammern jeweils die heutige Numerierung. Daraus wird verständlich, daß gerade bei den in den vorigen Anm. genannten Zitaten aus Buch 1 keine Abweichungen auftreten. Zu Autor und Einleitungsfragen vgl. ORTIZ DE URBINA, Patrologia [2.] 183 f. 79 Es besteht kein ernsthafter Zweifel darüber, daß die in den Handschriften bezeugten Kapiteleinteilungen etwa bei Euseb, Sozomenos oder Theodoret alt sind und vermutlich auf die Autoren selbst zurückgehen. 80 3,17,10. Besonders der erste Teil ist sehr häufig, beinahe stereotyp in dieser Weise mit ειρήσθω oder λελέχθω formuliert; im zweiten Teil ist die inhaltliche und sprachliche Bandbreite etwas größer. 81 Auf diese auch bei Sozomenos zu findende Struktur hat zuerst A. PRIMMER [3.2.] in seiner Rezension zu BIDEZ/HANSEN, Sozomenus [1.2.] hingewiesen (S. 352). In der Sokrates-Edition hat HANSEN diesen Hinweis für die Absatzgliederung sehr konsequent in der Weise berücksichtigt, daß stets vor dem μεν-Satz ein neuer Absatz beginnt (während in den bisherigen Ausgaben häufig, aber nicht konsequent die Absatz- und damit die Kapitelgrenze zwischen den beiden Gliedern lag), vgl. HANSEN, Sozomenus [1.2.] 526. Ob dieses Verfahren den Intentionen des Verfassers ganz gerecht wird, ist fraglich, denn so deutlich das μεν- und das δε-Glied sprachlich aufeinander bezogen sind, so deutlich gehört in der Regel semantisch das erste Glied noch zum Vorhergehenden. Daraus ergibt sich für den modernen Editor ein Dilemma, das nicht gänzlich befriedigend zu lösen ist. (Vermutlich war der Text ursprünglich fortlaufend geschrieben, und die Kapitelgrenzen waren nur durch Zahlen am Rande markiert.)

3.2. K o m p o s i t i o n u n d A u f b a u

155

inhaltlich stellen die Kapitelgrenzen in den meisten Fällen einen Einschnitt dar; sie markieren häufig einen Wechsel des Schauplatzes, der Protagonisten, der Zeit oder der Art des Geschehens. So besteht die Kirchengeschichte aus zahlreichen relativ selbständigen und oftmals nicht allzu langen narrativen Einheiten. Allerdings variiert die Länge dieser Einheiten stark, von wenigen Zeilen bis zu mehreren Seiten; als typisch sind Abschnitte von etwa zwei bis drei Druckseiten anzusehen. Für die etwas disparate Abfolge der Erzähleinheiten ist das von Sokrates streng befolgte Prinzip der chronologischen Anordnung verantwortlich. Aus diesem Grunde finden sich beim Übergang von einem Kapitel zum nächsten häufig Ausdrücke wie „τότε", ,,ύττό τ ο ν α ύ τ ο ν χρόνον", „ μ ε τ ά τ α ύ τ α " 8 2 , die aber in keinem Fall zu pressen, sondern mehr als redaktionelle Formeln anzusprechen sind, die der generellen Absicht, chronologisch zu strukturieren, Ausdruck geben. Diese Absicht führt mitunter zur Aufteilung inhaltlich aufeinander bezogener Berichte auf verschiedene Stellen des Werkes. Die sachliche Zusammengehörigkeit bringt Sokrates sehr häufig durch Bemerkungen wie „ώς ύστερον λέξομεν" oder „ώς μοι καί ττρότερον ε'ι'ρηται" zum Ausdruck 83 . Auf diese Weise ist die ganze Kirchengeschichte von einem imposanten System von Voraus- und Rückverweisen durchzogen, das mit enormer Konsequenz und Strenge durchgeführt ist: Trotz ihrer großen Menge hängt kein einziger der Verweise in der Luft 84 . Daran ist zu erkennen, wie sorgfältig und gründlich Sokrates sein Werk strukturiert und ausgearbeitet hat. Das chronologische Aufbauprinzip wird zwar nicht explizit in den Abschnitten zur historiographischen Theorie vorgetragen, ergibt sich aber indirekt sehr deutlich aus der Abgrenzung gegen die historiographischen Werke Rufins und des Philipp von Side. In beiden Fällen bildet der Vorwurf, chronologisch nicht genau " „TOTE": 2,9,1; 2,10,1; 2,27,1; 2,29,1; 2,36,1; 2,46,1; 3,8,1; 3,12,1; 3,17,10; 3,19,1; 3,26,1; 4,6,1; 4,12,1; 4,36,1; 5,5,1; 5,7,1; 5,9,1; 7,21,1; „Ü-JTO τ ο ν α ύ τ ο ν χ ρ ό ν ο ν " ( o d e r ähnlich): 1,20,1; 2,6,1; 2,28,1; 2,37,97; 3,2,1; 4,19,1; 4,25,1; 4,28,19; 4,30,1; 5,6,2; 5,11,1; 5,13,1; 5,15,1; 5,19,1; 7,2,8; 7,8,1; 7,9,1; 7,10,1; 7,13,1; 7,48,1; „ μ ε τ ά τ α ύ τ α " : ι,ΐ5,ι; 1,18,1; 1,39,1; 4,31,1. *' W e i t e r e t y p i s c h e F o r m u l i e r u n g : ,,ττερί μ ε ν ο υ ν τ ο ύ τ ο υ κ α τ ά χ ώ ρ α ν έ ρ ο ΰ μ ε ν " ( v o r a l l e m a m K a p i t e l e n d e ) ; Belege in d e r f o l g e n d e n A n m . 84 V o r a u s v e r w e i s e : 1,8,12 (-> 1,11 f., in 1,11,1 explizit a u f g e n o m m e n ! ) ; 1,8,34 (-» 1,14); 1,14,7 (-> 1,25,10 ff.); 1,23,4 (-> 1,25,6); 1,24,3 (-» 2,9); 1,37,1 (-> 2,20,12 f.); 2,4 (-> 2,11); 2,19,1 (-> 2,29); 2,34,5 (-> B u c h 3); 2,36,1 (-> 4,7); 2,38,1 (-> 2,39); 2,38,44 (-> 2,42,3); 2,43,2 (-» 2,44); 2,45,8 (-> 4,4); 3,7,24 (-» 4,23,34 ff·); 4,7.15 (-> 443,1); 4,8,7 (-+ 4,34); 4,12,1 (-> 4,26); 4,13,7 (-> 4,21); 4,28,19 (-> 5,21); 4,31,19 (-> 5,2,2; 6,1,1); 5,12,8 (-> 5,23); 5,11,1 (-> 5,15); 5,21,19 (-> 7,12,6); 6,21,1 (-> 7,2); 7,5,10 (-> 7,12,5); 7,6,10 (-> 7,12); 7,8,20 (-> 7,18,4); 7,28,3 (-» 7,35,2; 7,40); a u f d a s ( m e h r o d e r m i n d e r ) u n m i t t e l b a r F o l g e n d e m i t „ π ρ ο ϊ ό ν τ ε ς δ η λ ώ σ ο μ ε ν " : 2,37,6; 3,16,7; 6,6,ι; 6,14,12. R i i c k v e r w e i s e : 1,8,13 (-> 1,6,2); 2,17,10 (-> 1,8,24 f.; 1,9,28; 2,15,8); 2,20,8 (-> 1,7,1); 2,20,13 (-> 1,36); 2,25,2 (-> 1,38,12 f.); 2,25,4 (-» 2,5; 2,15,1); 2,29,2 (-> 2,14); 2,35,3 (-> 1,38,1-4); 2,37,13 (-> 2,24,4-6); 2,38,11 (-> 1,10,4; 1,13,2 f.); 2,45,11 (-> 2,44,6); 3,5,1 (-> 2,36,3); 3,6,3 (-* 2,44,6); 3,7,12 (-> 1,7,1; 2,20,8; 2,29,3.31); 3,10,5 (-> 2,39,19-21); 3,16,1 (-> 2,46); 4,6,3 (-> 2,38,4; 3,10,4); 4,7,4 (-> 2,35); 5,7,9 (-> 4,37,2 f.); 5,9,1 (-> 2,26,6); 5,20,6 (-> 5,10,27 f.); 5,21,1 (-> 4,9,3; 5,12,4); 5,21,7 (—> 4,28,17); 6,1,2 (—• 5,8,12); 6,9,7 (—* 5,15); 6,11,12 (re. Sp.) (—> 6,4,2 f.); 6,19,4 (—> 6,15,9); 6,21,2 (-> 6,3,13); 7,5,2 (-> 5,21,6-19); 7,8,3 (-» 6,15,10); 7,11,6 (-» 5,10,27; 5,20,6); a u f d a s ( m e h r o d e r m i n d e r ) u n m i t t e l b a r V o r a n g e h e n d e m i t „ μ ι κ ρ ό ν ε μ π ρ ο σ θ ε ν " : 1,39,4; 2,40,18.42; 2,44,1; 5,8,h; 5,22,81.

156

3. Die historiographische Methode

genug gewesen zu sein, einen wesentlichen Kritikpunkt85. Um chronologische Präzision zu erreichen, bedient sich Sokrates eines Mittels, das nach antiken Maßstäben nicht so selbstverständlich war wie aus moderner Sicht: Er bemüht sich, Ereignisse, soweit möglich, exakt zu datieren. Im Regelfall geschieht das durch Angabe der Konsuln, in besonders feierlichen Fällen, nämlich am Ende eines jeden Buches beim Tod eines Kaisers, zusätzlich, wie erwähnt, durch das Olympiadenjahr und den genauen Tag. Bei beiden Datierungsmethoden stellt sich erstens die Frage, aus welcher Quelle Sokrates die konkreten Angaben bezieht, und zweitens, auf welchem Traditionshintergrund die Einfügung solcher Angaben zu sehen ist. Für die Konsulatsjahre ist die erste Frage leicht zu beantworten. Sokrates hat offenbar ein Exemplar der Konstantinopolitaner Stadtchronik benutzt, aus dem er nicht nur die Namen der Konsuln, sondern auch die übrigen darin enthaltenen Informationen so gut wie ausnahmslos in sein Geschichtswerk übernahm 86 . Schwieriger ist die Frage nach der Quelle der Olympiadenjahre; denn in den erhaltenen Rezensionen der Stadtchronik sind solche Angaben nicht enthalten 87 . Das ist auch deshalb wenig erstaunlich, weil die olympischen Wettkämpfe unter Theodosios I. eingestellt worden waren 88 ; die Zählung wurde zwar weitergeführt und zur Datierung verwendet, doch Theodosios II. schaffte sie für die offizielle Chronographie ab 89 . Wie kommt also Sokrates zu seinen Angaben? Theoretisch könnte er sie natürlich nach dem heutzutage in solchen Fällen angewandten Verfahren einfach arithmetisch errechnet haben. Das ist aber schon deshalb unwahrscheinlich, weil ihm gar

8 5 Über Rufin schreibt Sokrates, er habe sich nicht an die genaue chronologische Abfolge gehalten (2,1,1); an Philipp von Side bemängelt er, daß er zwischen den Zeiten des Kaisers Theodosios und des Athanasios hin und her springe (7,27,6 f.). 86

Vgl. GEPPERT, Quellen

[3.1.] 32-46; HANSEN [1.1.] LI f. Ü b e r die „Stadtchroniken" hat sich in

jüngster Zeit eine Kontroverse zwischen B. CROKE und R. W BURGESS entsponnen. Während BURGESS, Hydatius [1.3.] 175-186 die Existenz offizieller Chroniken bestreitet und nur von privat geführten Konsulnlisten ausgeht, hält CROKE, Chronicles [3.3.] 182-198 im Anschluß an die ältere deutsche Forschung (vgl. etwa SEECK, Chronica [3.3.]) am Konzept der öffentlichen „Stadtchroniken" nach Art der römischen fasti consulares fest (jetzt auch wieder in Marcellinus [1.4.] xxiv). Wenn auch hier dieser Begriff verwendet wird, so hauptsächlich aus dem praktischen Grunde, daß dadurch die dringend erforderliche terminologische Differenzierung zwischen solchen nur um dürre Notizen erweiterten Konsulnlisten und christlichen Chroniken mit höherem wissenschaftlichen und theologischen Anspruch möglich wird. Diese (eigentlich evidente) Differenzierung ist erst von BURGESS, Hydatius [1.3.] 178 f. mit der nötigen Klarheit herausgearbeitet worden. Vielleicht wäre die Kontroverse um die „Stadtchroniken" durch eine weitere Differenzierung zwischen offiziellen fasti consulares (die sich in reiner Form nicht erhalten haben) und etwas erweiterten Privatchroniken zu lösen. 8 7 Der Hauptzeuge sind die sog. Consularia Constantinopolitana, die in der gleichen Handschrift wie die Chronik des Hydatius überliefert sind und bisher dem gleichen Autor zugeschrieben wurden (was jedoch von BURGESS, Hydatius [1.3.] 199-202 als zu schwach begründet erwiesen ist). Relativ eng verwandt sind Prosper Tiro und Marcellinus Comes; bei keinem von ihnen finden sich Olympiadenangaben. Die Chronik des Hieronymus und das Chronicon Paschale gehören trotz inhaltlicher Gemeinsamkeiten einer anderen Gattung an (s. vorige Anm.). 88

Vgl. GRUMEL, Chronologie

[3.3.] 2 1 1 f.

Vgl. Johannes Lydos, de mensibus 4,103 (143,8 f.): „Θεοδόσιος ό μικρός νεωτερίζων x ò της 'Ολυμπιάδος έκ των χρόνων άττήλει^εν όνομα." 89

3.2. Komposition und Aufbau

157

nicht ohne weiteres ein numerisches Maß für die Jahre zur Verfügung stand (er datiert ja nach Konsuln). Außerdem müßte er sehr schlecht gerechnet haben, denn die Angaben sind teilweise falsch, um zwei oder drei Jahre zu hoch oder zu tief 50 . Er wird sie also in Tabellen nachgeschlagen haben, und zwar entweder falsch nachgeschlagen (was ohne weiteres passieren kann, da man bei komplizierten chronographischen Tabellen leicht die Zeile verliert) oder schon falsch vorgefunden haben (was ebenfalls gut denkbar ist, denn da keine offiziellen Tafeln mehr geführt wurden, waren Fehler praktisch unkorrigierbar und kamen in der späteren byzantinischen Chronographie auch entsprechend häufig vor 91 ). Eine mögliche Quelle wären christliche chronographische Werke in der Art der Chronik des Euseb, doch läßt sich sonst keine Spur der Benutzung solcher Werke nachweisen - weder im Blick auf historische Einzelinformationen noch hinsichtlich der traditionell mit dieser Gattung verknüpften Theologoumena, also etwa das Interesse am Altersbeweis oder chiliastische Endzeitberechnungen (bzw. die Ablehnung und Widerlegung derselben wie bei Euseb)92. Was auch immer die konkrete Quelle gewesen sein mag - es bleibt die (interessantere) Frage nach dem traditionsgeschichtlichen Hintergrund, sowohl für die Konsuln- als auch für die Olympiadenangaben. Beide waren der klassischen griechischen Historiographie fremd, aber seit der hellenistischen Zeit verbreitet93. An solchen Vorbildern orientiert sich Sokrates, nicht wie die meisten seiner Zeitgenossen an den „Klassikern" Herodot und Thukydides. Obgleich auch die zeitgenössischen Geschichtsschreiber ihre Werke im großen und ganzen chronologisch gliedern, vermeiden sie exakte Datumsangaben mit Konsuln oder Olympiaden bis hin zu dem Extremfall des Eunapios von Sardes, der sich in seinem Proömium sogar ausdrücklich gegen genaue chronologische Angaben ausspricht94. Auch Euseb, der ja von der Chronographie her zur Kirchengeschichtsschreibung kam und sein Werk durchaus als Vertiefung und Erweiterung der Chronik versteht (1,1,6), bringt in seiner Kirchengeschichte relativ wenig genaue Datierungsangaben 90 GEPPERT, Quellen [3.1.] 44 f. stellt den genauen Befund vor, weiß aber - ebenso wie HANSEN [1.1.] LI f. - keine r u n d u m befriedigende Erklärung für die merkwürdigen Abweichungen. 91

V g l . GRUMEL, Chronologie

92

V g l . d a z u GELZER, Sextus [3.2.] 1,24-26; WINKELMANN, Euseb [3.2.] 88-104. S e l b s t v e r s t ä n d l i c h

[3.3.] 212.

war die Olympiadenrechnung kein ausschließliches Proprium christlicher chronographischer Werke (vgl. MOSSHAMMER, Chronicle [3.2.] 138-146 u n d 157-168 zur paganen Quelle der Olympio-

nikenliste bei Euseb), doch scheint das Interesse an wissenschaftlicher Chronographie in der Spätantike bei Christen besonders ausgeprägt gewesen zu sein. 93 Die Konsulnangaben waren in der annalistischen römischen Geschichtsschreibung gang und gäbe und in der Folge auch bei griechischen Autoren wie Cassius Dio, Diodoros von Agyrion, Appianos von Alexandrien und Herodianos zu finden (zu den Ursprüngen des Systems v g l . BICKERMAN, Chronology

[3.3.] 69 f.; SAMUEL, Chronology

[3.3.] 249 f.; 253-255). D i e O l y m p i a d e n -

rechnung hatte sich seit dem dritten vorchristlichen Jahrhundert eingebürgert und fand bald E i n g a n g i n d i e H i s t o r i o g r a p h i e (vgl. BICKERMAN 75-77; SAMUEL 189-194; MOSSHAMMER,

Chronicle

[3.2.] 86-88.). So datieren Polybios, Dionysios von Halikarnassos, Diodoros von Agyrion und Flavius Josephus nach diesem System. 94

fil· 1>3°"9° ( ' n kritischer Abgrenzung gegen Dexippos).

158

3. Die historiographische Methode

und niemals solche mit Angabe der Konsuln oder des Olympiadenjahrs. Im Grunde geben ihm die διαδοχα! der Bischöfe das Gerüst; wenn genaue Daten nötig sind, gibt er die Regierungsjahre der Kaiser an95. Auch im Vergleich zu den späteren Kirchengeschichtswerken steht Sokrates allein. Rufin ist mit Datierungen noch sparsamer als Euseb 96 . Die wenigen Datumsangaben (mit Konsuln) bei Sozomenos stammen meist aus Sokrates97; Olympiadenjahre gibt er grundsätzlich nicht an. Bei Theodoret spielen Datierungen so gut wie gar keine Rolle. Eineinhalb Jahrhunderte später zeigt auch Euagrios, daß Kirchengeschichte durchaus mit spärlichen Datierungen auskommt 98 . Gerade auf diesem Hintergrund muß also die außergewöhnliche Pedanterie des Sokrates auffallen, so angenehm sie auch für den modernen Historiker ist und so sehr sie auch Vorbilder in der älteren profanhistoriographischen Tradition hat. Mit Datierungen in solcher Dichte und Gewissenhaftigkeit steht Sokrates als Geschichtsschreiber jedenfalls allein. In seiner Verfahrensweise spiegelt sich die Anregung der älteren Vorbilder und weitgehendes Interesse an der Gattung der Chronik (wenngleich auch nicht notwendigerweise christlicher Couleur). In der späteren byzantinischen Tradition hat Sokrates in gewisser Weise Nachfolge gefunden, allerdings nicht dergestalt, daß die Historiographie sich der Chronographie geöffnet hätte, wie das bei Sokrates zu beobachten ist, sondern eher umgekehrt, daß nämlich Chroniken allerlei bemerkenswerte und interessante Erzählstücke aufnahmen und auf diese Weise zur allgemein beliebten Erbauungsund Unterhaltungsliteratur wurden. Es ist vielleicht kein Zufall, daß gerade Autoren solcher Werke gerne aus Sokrates geschöpft haben99. Dennoch darf auch die programmatisch geäußerte Absicht, für einfache Leute verständlich zu schreiben (s. unten S. 194 ff.), keinesfalls dazu verleiten, Sokrates als direkten Vorläufer dieser Traditionslinie zu sehen 100 . 95 Ζ. B. 3,7,3; 3,14; 3,15; 3,18,4; 3,34; 4,4; 4,10; 5,22; 8,2,4. Für den chronographischen Sachverstand ist eine Stelle wie 1,9,4 bezeichnend, wo er versucht, Josephus einen Fehler nachzuweisen. 96 Dennoch erklärt auch Rufin in seinem Proömium, chronologisch vorgehen zu wollen: „cetera vero, quae usque ad praesens tempus per ordinem subsecuta sunt... addidimus" (957,2-5). 97 Die einzigen Stellen sind Soz. pr,i9; 1,2,1; 3,12,7; 3,19,6; 4,6,6; 4,17,10; 4,22,1; 4,26,1; 7,5,7; 7,12,2; 7,29,4; 8,4,21; 9,1,1; mit drei Ausnahmen (pr,i9; 1,2,1; 3,19,6) stammen alle aus Sokrates. Zur Neigung des Sozomenos, systematisch Datierungsangaben aus Sokrates wegzulassen, auch wenn er den gesamten Zusammenhang übernimmt, vgl. SCHOO, Quellen [3.2.] 11, Anm. 3. 98 Vgl. ALLEN, Evagrius [3.2.] 54. Euagrios datiert entweder nach Regierungsjahren der Kaiser (4,5 [155,2.7-31]; 5,17 [212,15]; 6,24 [240,23 f.]) oder nach der antiochenischen Ära (2,12 [63,16-25]; 3,33 [131,22-25]; 4,1 [153,7-9]; 4,4 [155.15 f·]; 6,8 [227,2-4]). Diese Angaben geschehen allerdings manchmal mit ermüdender Umständlichkeit. 99

Das gilt etwa für Johannes von Antiochien (Anfang 5. Jh.), vgl. HANSEN [1.1.] xxxvn; Ps.Dionysios von Tel-Mahrë (Ende 8. Jh.), vgl. WITAKOWSKI, Chronicle [3.2.] 131 f.; Theophanes (nach 810), Georgios Monachos (Mitte 9. Jh.) und andere auf dem Weg über Theodoras Anagnostes, vgl. HANSEN, Theodoras [1.2.] xxix-xxxn. 100 SCHWARTZ' Auffassung, daß „Sokrates' formlose Erzählung schon zu der auf Plan und künstlerische Gruppierung verzichtenden mittelalterlichen Chronik hinübergleitet" (Kirchengeschichte [3.2.] 127) verkennt die gattungsgeschichtliche Herkunft der sogenannten byzantinischen Mönchschroniken (zur Kritik an der unglücklichen Benennung vgl. BECK, Mönchschronik [3.2.]). Es

3.2. Komposition und Aufbau

159

Trotz seiner Pedanterie in der Chronologie ist es bei der Art von Sokrates' Berichterstattung unvermeidlich, daß viele der beschriebenen Ereignisse nicht genau datiert werden können und sollen. Beispielsweise ist es wenig sinnvoll zu fragen, ob Äthiopien oder Georgien zuerst missioniert wurde (1,19 f.; in beiden Fällen läßt der Bericht des Sokrates keinen Zweifel, daß es sich um langjährige Prozesse handelt), oder ob erst das Bußpriesteramt in Konstantinopel abgeschafft wurde oder erst Theodosios I. die Kriminalität in Rom bekämpfte (5,18 f.). Auch wenn man die regelrechten Exkurse einmal beiseite läßt, behandeln viele Kapitel allmähliche oder längere Entwicklungen, die nicht genau im chronologischen Raster unterzubringen sind. Die beiden auffälligsten Beispiele sind die biographischen Rückblenden zu Beginn der Bücher 3 und 6, in denen jeweils die Auseinandersetzung mit einer Persönlichkeit im Zentrum steht (Kaiser Julian und Johannes Chrysostomos), deren „Vorgeschichte" das Buch eröffnet 101 . Es bleibt also ein gewisser Freiheitsgrad bei der Anordnung des Stoffes, und so stellt sich die Frage, ob außer der Chronologie noch andere Gliederungsgesichtspunkte eine Rolle für die Abfolge der Erzähleinheiten spielen. Vor allem in den vorderen Büchern übt natürlich die in den Quellen vorgefundene Anordnung eine gewisse Schwerkraft aus, die Sokrates nur in besonders wichtigen Fällen überwindet. In anderen Fällen bewahrt er die Reihenfolge der Quelle oder ordnet sachlich Zusammengehöriges hintereinander, weist seine Leser aber eigens darauf hin, daß streng chronologisch eigentlich eine andere Anordnung erforderlich wäre 102 . Wenn sich öfter gewisse thematische Blöcke abzeichnen, so bauen diese meist auch auf Vorgaben der Quellen auf, doch Sokrates scheint diese Vorgaben gern zu übernehmen und baut sie gelegentlich noch aus. Das ist etwa der Fall bei den segensreichen Entwicklungen unter Konstantin in 1,15-21 oder der Reihe von biographisch ausgerichteten Kapiteln in 4,23-28. Entsprechend werden solche thematischen Blöcke in den hinteren Büchern nicht häufiger, wo Sokrates oftmals aus mündlichen Quellen oder eigener Erinnerung schöpft und die Möglichkeit hätte, nach eigenem Gutdünken zu strukturieren. Am ehesten liegt in 5,20-24 eine solche Zusammenstellung vor, nämlich zum Thema „Spaltungen bei den verschiedenen kirchlichen Gruppierungen" 103 . Während in Buch 6 die fortlaufende Erzählung von Johannes Chrysostomos einen roten Faden bildet 104 , ist besonders das letzte

handelt sich nicht u m eine chronikal überformte Weiterentwicklung der Gattung Kirchengeschichte, sondern vielmehr u m eine Verflachung der ursprünglich anspruchsvollen und streng wissenschaftlichen Gattung Chronik (zur Unterscheidung von Chronistik und Historiographie v g l . HUNGER, Literatur

[3.4.] 1 , 2 5 2 - 2 5 4 s o w i e e b d . 1,257-278 z u r C h a r a k t e r i s i e r u n g d e r

„Chroniken

als Trivialliteratur"). 101 3,1 und 6,3; in 3,1,5 wird eigens auf den Rückgriff hingewiesen. 102

B e s p i e l e f ü r d e r a r t i g e V o r g r i f f e : 1,13,11; 2,38,23-25; 3,10,1-3; 4,8,7-9; f ü r R ü c k b l e n d e n : 4,25,9-11;

6,21,3-6; 7,41,1-3. Dabei handelt es sich aber durchweg u m verhältnismäßig kleine Textstücke (anders als die beiden in der vorigen Anm. genannten Fälle). 1 0 3 Der Reihe nach werden Novatianer, Arianer, Eunomianer und Makedonianer behandelt (wenn auch in sehr unterschiedlicher Ausführlichkeit), s. dazu unten S. 245 f. 10 ·' Dabei steht möglicherweise eine durchlaufende Quelle im Hintergrund, s. oben S. 57 ff.

160

3. Die historiographische Methode

Buch ein ziemlich disparates Sammelsurium unterschiedlichster Nachrichten, die gar nicht oder nur oberflächlich durch Stichwortanknüpfungen miteinander verbunden sind. Nur grob zeichnen sich thematische Zusammenstellungen ab 105 . Gerade wo Nachrichten aus dem kirchlichen und dem staatlichen Bereich scheinbar ganz unverbunden und unmotiviert nebeneinander stehen, liegt die Frage nahe, ob nicht doch eine verborgene Kompositionsabsicht des Verfassers im Hintergrund steht, weist doch Sokrates selbst auf den inneren Strukturzusammenhang der beiden Bereiche hin: Es sei zu erkennen, „wie bei einer Unruhe im staatlichen Bereich aus einer gewissen συμττάθεια heraus auch die Angelegenheiten der Kirchen in Unruhe geraten. Wenn man nämlich genau darauf achtet, wird man feststellen, daß Fehlentwicklungen im öffentlichen Leben und Unbill in den Kirchen miteinander verbunden sind." 106 In einzelnen konkreten Fällen wird ein solcher Zusammenhang sogar explizit behauptet, in anderen legt sich die Vorstellung nahe. Es sei daher im folgenden eine Auflistung derjenigen Stellen gegeben, die für eine solche Verknüpfung in Frage kommen, und zwar nicht in der Reihenfolge ihres Vorkommens, sondern geordnet nach der Deutlichkeit der kompositorischen Absicht, also beginnend mit den Fällen, in denen eine solche Absicht ausdrücklich bekundet wird 107 . 4,2-7: Der deutlichste und elaborierteste Fall. In unmittelbarer Abfolge werden beschrieben: Die Verfolgung der Homousianer durch Valens, die Usurpation des Prokopios, ein schweres Erdbeben, eine große Überschwemmung, die Synode in Lampsakos, die Niederschlagung des Usurpators, die gewaltsame Durchsetzung der kaiserlichen Religionspolitik und die Einsetzung des Eunomios zum Bischof von Kyzikos 108 . Sokrates weist eigens auf die Parallelität dieser Ereignisse hin (4,4,i)·

2,25-28: Die Geschehnisse werden als eine große Peripetie stilisiert. Nachdem die Dinge zunächst einen guten Gang nehmen (Rückberufung des Athanasios und anderer homousianischer Bischöfe aus dem Exil, 2,22-24), kommt es zu Unruhen im staatlichen Bereich: Tod des Dalmatius und des Konstantin II. (nur als Rückverweis; chronologisch hier unpassend), erneutes Aufflammen des Perser105

Etwa 7,13-15 (Konflikte in Alexandrien) und 7 , 1 8 - 2 1 (Militärische Auseinandersetzungen mit den Persern). 106 „... οττως τ ω ν δημοσίων τ α ρ α τ τ ο μ ε ν ω ν ώς εκ τίνος συμπαθείας καί τ α τ ω ν εκκλησιών έ τ α ρ ά τ τ ε τ ο . ει γ ά ρ τις παρατηρήσει, σ υ ν α κ μ ά σ α ν τ α εύρήσει τ ά τε δημόσια κακά κα! τ ά τ ω ν εκκλησιών δυσχερή." 5,pr,3 f. 107 Zu der Auflistung ist zu sagen, daß sie nicht den Zweck verfolgt, die von Sokrates gewählte Anordnung kritisch mit den ihm vorliegenden Quellen einerseits, dem Bild des modernen Historikers von den Ereignissen andererseits zu vergleichen. Die meisten Abschnitte werden an anderer Stelle ausführlicher besprochen; darauf wird ggf. verwiesen. Die Analyse der συμττάθεια-Vorstellung und damit gewissermaßen die Gesamtauswertung des hier vorgestellten Materials wird unten im Abschnitt 4.3. zum Geschichtsverständnis des Sokrates erfolgen (S. 283 ff.). Hier geht es nur um die kompositioneile Struktur. 108 Das letztgenannte Ereignis (4,7,1-3) hat in Wirklichkeit wohl schon unter Konstantios stattgefunden, vgl. Philost. 5,3; Soz. 4,25,6; Theod. 2 , 2 7 , 2 1 .

3.2. Komposition und Aufbau

161

krieges, Usurpation des Magnentius und Vetranio, Tod des Konstans; dann auch im kirchlichen Bereich: gewaltsame Vertreibung der Bischöfe Athanasios von Alexandrien, Paulos von Konstantinopel und anderer; Ausschreitungen der arianischen Bischöfe in Konstantinopel und Alexandrien. Ausdrücklich wird auf die Koinzidenz und den Zusammenhang der Ereignisse hingewiesen („σύρροια" 2,26,1, auch 2,25,1.6; 2,26,5). 2,10: Der Bericht von der Kirchweihsynode in Antiochien wird am Ende des Kapitels (§21 f.) durch den Einfall der Franken und ein großes Erdbeben in Antiochien „untermalt" 109 . Die folgenden gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Bischofsthrone in Alexandrien und Konstantinopel (2,11 f.) schließen gut an. 5,6.10: Auf die militärischen Erfolge Theodosios' I. wird absichtsvoll zweimal im Zusammenhang seiner religionspolitischen Aktivitäten hingewiesen, bei seiner (homousianischen) Taufe (5,6,2) und bei der Einberufung des „Religionsgesprächs" (5,10,3 f.); im zweiten Fall wird die religiöse Haltung sogar ausdrücklich als Grund für die Siege über die Barbaren in Anspruch genommen. 5,12-14: Während Theodosios I. mit der Niederschlagung des Usurpators Maximus beschäftigt ist, kommt es in Konstantinopel zu Unruhen durch die Arianer (in 5,13,1 wird auf die Koinzidenz hingewiesen). 1,17-21: Im Anschluß an Kreuzauffindung und Bau der Grabeskirche in Jerusalem werden die religionspolitischen Maßnahmen Konstantins geschildert; zur gleichen Zeit kann der Kaiser militärische Erfolge gegen Sauromaten und Goten erringen (1,18,4); es folgen Kirchbauaktivitäten sowie die Bekehrung der Äthiopier und Georgier (1,19 f.). Der letzte Satz von 1,21 weist auf den Zusammenhang hin. 6,6: Der Aufstand des Gainas wird in Beziehung gesetzt zu den Streitigkeiten um Johannes Chrysostomos direkt im Anschluß (§41 f.). 3,26,4: Die positive Entwicklung sowohl der kirchlichen als auch der öffentlichen Angelegenheiten wird auf die gute Politik des Kaisers Jovian zurückgeführt, allerdings ohne daß daraus eine regelrechte Ereignisfolge entwickelt würde. 7,32-34: In den Bericht von der Entstehung (7,32) und Verurteilung (7,34) der nestorianischen Häresie ist die Geschichte vom Sklavenaufstand und Blutbad in der Hagia Sophia (7,33) eingeschoben, die zu den Unruhen um Nestorios in Bezug gesetzt wird (7,33,5, man beachte auch das Stichwort έτπσυμβαίνω in §1).

109 An dieser Stelle nimmt Sokrates eine auffällige Änderung gegenüber seiner Quelle (der „Stadtchronik") vor: Während dort das Erdbeben „ad Orientem ... praeter Antiochiam" (com. Const, ann. 341; Hieronymus, chron. ann. 340 [235e] spricht nur von „multae Orientis urbes") auftritt, schreibt Sokrates „ μ ά λ ι σ τ α &È Αντιόχεια ... έσείετο" (2,io,22). Dazu HANSEN [1.1.] LI, Anm. 7: „Nur ein Mißverständnis (Geppert 34) oder bewußte Änderung, um eine (freilich sehr fragwürdige) Bestrafung der Stadt für die Synodalbeschlüsse anzudeuten?" Als dritte Möglichkeit wäre m. E. auch zu erwägen, daß Sokrates hier den korrekten und die Consularia den falschen Chroniktext überliefern, denn es wäre merkwürdig, bei einem Erdbeben nicht das Epizentrum mitzuteilen, sondern einen Ort, der nicht betroffen war (so auch BURGESS, Hydatius [1.3.] im App. z. St.; er schlägt unter Berufung auf Sokrates vor, praeter in praesertim zu emendieren).

162

3. Die historiographische M e t h o d e

7,io f.: Direkt im Anschluß an den Bericht von der Eroberung Roms durch Alarich wird der Niedergang der kirchlichen Kultur in Rom und Alexandrien beschrieben. 2,34,5 f.: Ein Zusammenhang zwischen der unseligen Geschichte von Gallos und den folgenden kirchlichen Schwierigkeiten wird angedeutet. 5,25: Der Anschluß der Usurpation des Eugenios an die Spaltungen bei verschiedenen christlichen Gruppierungen (5,20-24) könnte absichtsvoll hergestellt sein (5,24,11!). 2,13,1-4: Es könnte eine Parallelisierung der gewaltsamen Abwehr der vom Kaiser gewünschten Absetzung des Paulos von Konstantinopel mit der Niederschlagung der Franken beabsichtigt sein. Vor allem bei den vier zuletzt genannten Fällen kann man sicherlich darüber streiten, ob ein Ereigniszusammenhang im Sinne der συμττάθεια intendiert ist oder nicht. Beachtenswert ist in der Auflistung, daß die hergestellten Zusammenhänge überwiegend negativer Art sind (wie auch in dem zitierten Proömiumstext postuliert). Nachteilige Entwicklungen im kirchlichen Bereich werden von solchen im staatlichen Bereich begleitet. In den schlimmsten Fällen kommen noch Katastrophen in einem dritten Bereich hinzu, nämlich in der Natur: Erdbeben und Überschwemmungen. Da es aus Sokrates' Sicht um die kirchlichen Angelegenheiten unter den Kaisern Konstantios und Valens besonders schlecht bestellt war, ist es nicht erstaunlich, daß die markantesten Fälle in der obigen Liste aus den Büchern 2 und 4 stammen. Bezeichnenderweise wird jedoch in der Regierungszeit Julians keine einzige auch nur entfernt vergleichbare Ereignisverkettung beschrieben. Im übrigen gibt es auch Fälle, in denen sich Sokrates solchen Zusammenhängen verweigert, obgleich sie sich geradezu aufdrängen, und zwar: 6,19: Nach der Vertreibung des Johannes Chrysostomos aus Konstantinopel koinzidieren das Leiden des Bischofs Kyrinos von Chalkedon, schwere Hagelunwetter und der Tod der Kaiserin Eudoxia. Sokrates ist sich des auffälligen Zusammenhanges bewußt, qualifiziert ihn aber als damals umlaufendes Gerede ab (§8, s. S. 71). 2,28,21 f.: Mit der Kreuzesvision unter Konstantios (vergleichbar der des Konstantin) kann Sokrates im Zusammenhang der Usurpation des Magnentius und Vetranio und der Ernennung des Gallos zum Caesar nicht viel anfangen - vor allem weil direkt zuvor der große Umschwung zum Schlechten geschildert wurde (s. oben). Die Kreuzesvision wird daher nur sehr knapp und (absichtlich?) unklar in den Text eingeflickt 110 .

110

D e n aus der Chronik von Konstantinopel ü b e r n o m m e n e n Bericht (Nachweise bei HANSEN

[1.1.] i m App. z. St.) meinte Sokrates wohl nicht g a n z weglassen zu können, z u m einen weil er die Nachrichten der C h r o n i k i m allgemeinen recht vollständig wiederzugeben pflegt (vgl. GEPPERT, Quellen [3.1.] 40-46), z u m anderen aber vor allem deshalb, weil das Ereignis für sehr wichtig gehalten wurde; es hat einen tiefen Eindruck auf die Zeitgenossen g e m a c h t und ein e n o r m e s E c h o in den erhaltenen Quellen hinterlassen (außer der Chronik: Soz. 4,5; Philost. 3,26; Kyrill von Jerusalem, ep. Const, imp. 12-24). Unklar ist die Stelle bei Sokrates deshalb, weil nicht deutlich wird, ob

3.2. Komposition und Aufbau

163

2,39,2: Daß ein Erdbeben die Synode von Seleukeia daran hindert, wie ursprünglich geplant, in Nikomedien zusammenzutreten, wird beiläufig erwähnt, aber nicht weiter kommentiert. Diese letztgenannten Beispiele sollen demonstrieren, daß die Anordnung des Stoffes nach dem Prinzip der συμπάθεια bei Sokrates keine „fixe Idee" ist, der alles und jedes untergeordnet wird und die auch Geschichtsklitterungen größeren Ausmaßes rechtfertigt. Wenn sich ein solcher Zusammenhang anbietet, dann wird er gerne hergestellt. Wenn das nicht der Fall ist oder ein solcher Zusammenhang zwar naheliegt, aber den Intentionen des Kirchenhistorikers nicht entspricht, dann werden die Tatsachen nicht in seinem Sinne verdreht. Im großen und ganzen bleibt es dabei, daß das wichtigste Gliederungsprinzip die Chronologie ist. In einigen Fällen spielt der συμ-π-άθεια-Gedanke eine Rolle; doch in sehr vielen Fällen ist nicht ohne weiteres ein besonderer Grund für die gewählte Anordnung der Kapitel erkennbar. Ob man in dieser Erklärungslücke lieber Zufall oder mangelnde Sorgfalt des Autors oder für uns nicht (mehr) verständliche Intentionen am Werke sieht, bleibt bis zum gewissen Grad Geschmackssache. Weitgehend unabhängig von dem chronologischen Grundgerüst zeichnen sich aber zwei besondere Kapitelsorten ab, deren kompositorische Einbindung noch eigens untersucht werden muß, nämlich Proömien und Exkurse. Da insbesondere die Stellung der Proömien eng mit dem Problem der beiden Bearbeitungen des Werkes verknüpft ist, muß zuvor davon gesprochen werden.

3.2.2. Erste und zweite Bearbeitung Sokrates informiert zu Beginn des zweiten Buches darüber, daß sein Werk in der uns vorliegenden Gestalt die zweite Bearbeitung darstellt, wörtlich: das zweite Diktat („ύτταγόρευσις", 2,1,5 f.). Was genau man sich darunter vorzustellen hat, insbesondere, ob auch schon die erste Fassung publiziert war, ist nicht ganz klar, denn das Wort ύτταγόρευσις ist kein geläufiger Terminus im antiken Buchproduktionsprozeß 111 . Daß Sokrates nicht von εκδοσις spricht, dem üblichen Begriff für das αύτού in §22 auf Konstantios oder auf Gallos zu beziehen ist (der Sache nach muß Gallos gemeint sein, doch das αύτού in §23 geht wieder auf Konstantios zurück); der ganze Satz durchbricht den Zusammenhang von §21 und §23 und ist daher von HANSEN in Klammern gesetzt worden. Zum historischen Hergang vgl. VOGT, Berichte [3.4.] 596-604; CHANTRAINE, Kreuzesvision [3.4.]. 111 LIDDELL/SCOTT [2.] s. v. verzeichnet nicht einmal die Bedeutung „Diktat". Bei LAMPE [2.] s. v. ist sie mit drei Origenes-Stellen belegt; ein technischer Sinn im Zusammenhang der Buchproduktion kommt jedoch an diesen Stellen nicht in den Blick. Gleiches gilt für die wenigen Belege von ύτταγόρει/σις in dieser Bedeutung im Thesaurus Linguae Graecae [2.]. Für die Bedeutung „edition" gibt LAMPE nur die Sokrates-Stelle an. Der genaue Sinn ist also schwer zu ermitteln. Etwas zusätzliche Aufklärung kann man sich von zwei anderen Stellen erhoffen, an denen Sokrates das Wort (in anderem Zusammenhang) gebraucht: In 2,31,4 geht es um den greisen Hosius von Cordoba, der ,,ταΤς ... έκδοθείσαις ύτταγορεύσίσι και συνέθετο και ύττεγραψεν". Der Zusatz έκδοθείσαις ist offenbar nötig, um klarzustellen, daß es sich um ein veröffentlichtes

164

3. Die historiographische Methode

ein zur allgemeinen Verbreitung bestimmtes Dokument, kann man als Hinweis darauf werten, daß die Erstfassung noch nicht im Umlauf w a r 1 1 2 . Es gibt auch keinerlei Beleg dafür, daß irgendeinem der verhältnismäßig zahlreichen byzantinischen Autoren, die die Kirchengeschichte des Sokrates benutzt haben, eine andere Fassung als die uns erhaltene vorlag 1 1 3 . Sicherlich muß der Auftraggeber Theodoras den ersten E n t w u r f gesehen haben, denn er hat Kritik daran geübt und W ü n sche für die Neubearbeitung geäußert. Doch vermutlich handelte es sich eben wirklich nur u m einen E n t w u r f für den Auftraggeber, der darüber hinaus nicht weiter kursierte 1 1 4 . Von einer zweiten „Ausgabe" oder gar „ A u f l a g e " sollte man daher besser nicht sprechen (anders als bei den verschiedenen Bearbeitungsstufen der Kirchengeschichte des Euseb). Z u r Bestimmung von A r t und U m f a n g der Neubearbeitung hat man sich primär auf die expliziten Aussagen des Verfassers zu stützen. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, welche Beobachtungen am Text damit in Verbindung gebracht werden können. Sokrates spricht in 2,1 ausführlich über die Neubearbeitung; daraus lassen sich folgende Informationen entnehmen:

Schriftstück handelt. In 2,40,6, wo kein derartiger Zusatz steht, bezeichnet ύτταγόρευσις ein bislang noch geheimgehaltenes, also nicht veröffentlichtes Dokument; doch allzu viel ist auf diesen Befund nicht zu geben, denn einige Zeilen später wird das gleiche Dokument als εκδοσις bezeichnet. 112 So HANSEN [1.1.] XLIII, Anm. 1; zu Gebrauch und Bedeutung von ϊκδοσις vgl. VAN GRONINGEN, ΕΚΔΟΣΙΣ [3.4.]. Ein Beispiel für ein Werk in zwei (publizierten) Fassungen ist das Geschichtswerk des Eunapios von Sardes (Photios, cod. 77), vgl. dazu die Hypothese von CHALMERS, ΕΚΔΟΣΙΣ [3.3.] und - dagegen - BLOCKLEY, Historians [3.3.] 1,2 f.; BALDINI, Ricerche [3.3.] 75-117. Photios, cod. 98 (84b,35 BEKKER) spricht auch bei Zosimos von einer „véci ϊκδοσις", doch handelt es sich dabei vermutlich um einen Irrtum (vgl. PASCHOUD, Zosimos [3.3.] 800 f.). Zu Sokrates vgl. auch EMONDS, Auflage [3.4.] 372 f. Zum Publikationsprozeß im allgemeinen vgl. BARDY, Editions [3.4.]; MARROU, Technique [3.4.]; VAN DER VALK, Edition [3.4.]. 113 Die nur beiläufig von HANSEN, Sozomenus [1.2.] LXII geäußerte Vermutung, daß das bei Theodoros Anagnostes der Fall gewesen sein könnte, ist anhand der von HANSEN, Theodoros [1.2.] XIII vorgelegten Umfangsangaben über die Historia tripartita schnell zu falsifizieren. Das Werk enthält etwa drei Viertel des Sokrates-Textes der Bücher 1 und 2, darunter fast zur Gänze die überlangen Kapitel 1,8 und 1,9 mit ihren zahlreichen Urkunden, von denen wir sicher annehmen können, daß sie überwiegend erst zur Neubearbeitung hinzugekommen sind. — Zu WINKELMANNS These, Gelasios von Kyzikos habe Sokrates in der ersten Bearbeitung verwendet, s. unten S. 168 f. LOESCHCKE, Sokrates [3.1.] 482 möchte aus der Doppelfassung von 6,11 schließen, daß die erste Bearbeitung im Umlauf war; doch siehe dazu gleich im folgenden. 114 Ein gewichtiges Argument gegen diese Sicht ist die Vermutung von URBAINCZYK, Socrates [3.1.] 68, derzufolge die expliziten und ausführlichen Informationen, die Sokrates in 2,1 über die Neubearbeitung gibt, gerade die Aufgabe hatten, „to disown earlier versions which perhaps were still circulating. In other words, he was alerting his audience to the fact that this was the revised version, not one that was around last year." Diesen Gedanken kann man jedoch auch dann festhalten, wenn man nicht mit einer regelrechten Veröffentlichung der ersten Fassung rechnet, denn es war in der Antike geläufig, daß Bücher vorab an Freunde oder Auftraggeber weitergegeben wurden und von ihnen abgeschrieben wurden (vgl. EMONDS, Auflage [3.4.] 17 f.: „private Veröffentlichung"). Sokrates würde somit die „offizielle" Endfassung durch 2,1 gegen solche Exemplare autorisieren.

3.2. Komposition und Aufbau

165

1. Grund der Neubearbeitung: Entdeckung von Schriften des Athanasios, Einsicht in die Defizienz des Rufin, Wünsche des Auftraggebers Theodoros. 2. Umfang der Neubearbeitung: die ersten beiden Bücher. 3. Charakter der Neubearbeitung: Korrektur der Chronologie, Einfügung von Originalurkunden und Briefen. Es bedürfte starker Argumente, um zu erweisen, daß diese Auskünfte falsch sind und die Neubearbeitung sich durch andere Eigenschaften auszeichnete. Z u m Umfang der Bearbeitung kann man sich etwa fragen, ob sich nicht doch auch nach dem zweiten Buch noch Spuren einer Neufassung finden. Eine solche Spur hat man im Kapitel 6,11 vermutet, das in den Handschriften in zwei Versionen unterschiedlicher Länge und Tendenz überliefert ist. Es ist natürlich naheliegend, diesen Tatbestand so zu deuten, daß die eine Fassung der ersten, die andere der zweiten Bearbeitung zugehört 1 1 5 . Doch abgesehen davon, daß nicht klar ist, welche Fassung zu welcher Bearbeitung gehören sollte, stellen sich bei näherem Hinsehen zusätzliche Schwierigkeiten in den Weg: Von einer Einfügung von Originaldokumenten kann in beiden Versionen keine Rede sein; ebensowenig wird irgendeine chronologische Klärung oder Korrektur vorgenommen. Nimmt man hinzu, daß es im sechsten Buch (und vermutlich überhaupt außerhalb der ersten Bücher) keine andere Stelle gibt, für die sich auch nur einigermaßen wahrscheinlich machen läßt, daß sie der Neubearbeitung zugehört, so wird deutlich, daß das Rätsel des Kapitels 6,11 auf eine andere Weise gelöst werden muß. Es kann also faute de mieux bei der oben (S. 65 f.) vorgetragenen Hypothese eines im Laufe der Überlieferung hineingewachsenen Quellenbruchstücks bleiben. Außerhalb der ersten beiden Bücher gibt es nur wenige weitere Stellen, an denen zu diskutieren ist, ob sie in der jetzigen Form auf die Neubearbeitung zurückgehen könnten. Die Auskunft, daß Sokrates das Schrifttum des Athanasios erst zur zweiten Bearbeitung kennengelernt hat, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Stellen außerhalb der ersten beiden Bücher, an denen solche Schriften verwendet sind. Am auffälligsten sind die langen Auszüge aus der Apologia de fuga sua in 3,8. Die Einfügung an dieser Stelle ist schlecht motiviert, und vor allem ist leicht zu sehen, daß das nachfolgende Kapitel 3,9 nahtlos an 3,7 anschließt und darauf Bezug nimmt 1 1 6 . Hier an einen Eingriff bei der Neubearbeitung zu denken, ist auch deshalb plausibel, weil die Stelle ja nur knapp nach Ende des zweiten Buches liegt. Die Aussage, daß nur die ersten beiden Bücher neu diktiert werden mußten, wäre demnach eher 115

GEPPERT, Quellen

[3.1.] 5 f.; LOESCHCKE, Sokrates

[3.1.] 482; BARDENHEWER, Geschichte

[3.4.]

4,138; ELTESTER, Sokrates [3.1.] 900. D i e k o m p l i z i e r t e n Ü b e r l i e f e r u n g s v e r h ä l t n i s s e s c h i l d e r t HANSEN

[1.1.] Lviii f. eingehend. 1 1 6 Man beachte den schwach motivierten Anschluß in 3,8,1: „Αθανάσιος SE καί τ ο ν riepì τ η ς φυγής άττολογητικόν λ ό γ ο ν π ά λ α ι ττεττονημένον α ύ τ ω έττ! τ ω ν π α ρ ό ν τ ω ν τ ό τ ε δΐίξηλθΕν." Ob diese redaktionelle Bemerkung ohne weiteres für die Datierung der Athanasios-Schrift fruchtbar gemacht werden kann, scheint mir zweifelhaft (gegen GEPPERT, Quellen [3.1.] 29, zurückhaltend auch SZYMUSIAK, Athanase [1.3.] 42, Anm. 3). 3,9,1 knüpft an die in 3,7 beschriebene Synode von Alexandrien an (allerdings ist der Z u s a m m e n h a n g durch den Exkurs in 3,7,16-24 ohnehin unterbrochen - wenn auch in thematisch passender Weise).

166

3. Die historiographische Methode

als ungenau denn als falsch zu bezeichnen 117 . Die Charakterisierung der nachträglich rezipierten Athanasios-Schriften als solche, „in denen dieser das ihm zugefügte Leid beklagt und [schreibt], wie er durch die Verleumdung der Eusebianer verbannt wurde" 1 1 8 , paßt auch genau auf die Apologia de fuga sua. Anders liegen die Dinge bei der Benutzung der Antonios-Vita im Kapitel über das Mönchtum 4,23. Da Sokrates in 1,21 über diese Schrift in Anschluß an und Abhängigkeit von Rufin spricht, könnte man schließen, daß er sie in der ersten Bearbeitung nicht kannte 119 . Doch die Erwähnung in 4,23,12 und das Zitat in 4,23,15 f. geben in keiner Weise den Eindruck einer nachträglichen Einfügung. Im übrigen spricht Sokrates in 2,1 nur von kirchenpolitischen Schriften des Athanasios, also nicht von Schriften erbaulichen Inhalts. Es ist auch ohne weiteres denkbar, daß er die Rufin-Notiz über die Vita Antonii übernahm und nicht weiter ausbaute, obgleich ihm die Schrift im Prinzip bekannt und zugänglich war. Er ist ja der Auffassung, daß Kirchengeschichte sich grundsätzlich nicht mit Mönchsgeschichte(n) zu befassen habe. In dem Exkurs über das Mönchtum hat dann eine solche Abschweifung eher ihren Platz als im Fortgang der geschichtlichen Darstellung 120 . Rätselhaft bleiben zwei Stellen im sechsten Buch, an denen Sokrates auf oi κ α τ ά 'Αρειανών λόγοι verweist und sogar daraus zitiert 121 . In beiden Fällen wird Athanasios als Gewährsmann für die theologische Hochschätzung des Orígenes in Anspruch genommen, doch lassen sich die Aussagen nicht mit den (erhaltenen) Orationes contra Arianos oder einem anderen Werk des alexandrinischen Bischofs in Verbindung bringen 122 . Unabhängig von diesem Problem gibt es aber keine Indizien, die dazu berechtigen, die fraglichen Stellen erst der zweiten Bearbeitung zuzuweisen. Weiterhin kann man fragen, welchen Umfang die erste Bearbeitung gehabt hat. Der jetzige Beginn von Buch 6 wirkt wie der Epilog einer abgeschlossenen Kirchengeschichtsdarstellung, so daß man vermuten könnte, die erste Fassung habe ähnlich wie Rufins Werk nur die Zeit bis Theodosios I. umfaßt. Ob es überhaupt eine solche Fassung gab, ist in anderem Zusammenhang zu diskutieren (S. 175 ff.); daß sie nicht mit der in 2,1 beschriebenen ersten ύτταγόρευσις zu identifizieren ist, ergibt sich klar aus 2,1,2, wo von sieben Büchern der ersten Bearbeitung die Rede

117 Es ist auch zu bedenken, daß das Proömium zum zweiten Buch nach der Umarbeitung von Buch 1 und vor der von Buch 2 abgefaßt ist (das ergibt sich aus 2,1,7); zu diesem Zeitpunkt überblickte Sokrates möglicherweise noch nicht ganz genau, bis zu welchem Punkt Eingriffe nötig sein würden. 118 „... εν οΐς τ ά καθ' εαυτόν οδύρεται ττάθη και οττως δια τ ή ν διαβολήν τ ω ν ττερί Εύσέβιον ίξωρίσθη", 2,ι,3·

So GEPPERT, Quellen [3.1.] 6 f. und HANSEN [1.1.] L. 120

Zur Stellung zum Mönchtum und zum „Mönchskapitel" 4,23 s. oben S. 117. 6,9,13; 6,13,9 f. (mit wörtlichem Zitat). 122 Vgl. GEPPERT, Quellen [3.1.] 29. OPITZ, Untersuchungen [3.4.] 152, Anm. 3 hat bei seinem Identifikationsvorschlag mit De decretis Nicaenae synodi nur die erste der in der vorigen Anm. genannten Stellen berücksichtigt, nicht aber das wörtliche Zitat in der zweiten; dieses Zitat findet sich jedoch nicht in De decretis. 121

3.2. Komposition und Aufbau

167

ist. In Anbetracht der streng durchgehaltenen Bucheinteilung nach den Regierungszeiten der Kaiser ist also davon auszugehen, daß auch schon die erste Bearbeitung bis in die Zeit Theodosios' II. ging. Sollte es eine Fassung nur bis Theodosios I. gegeben haben, so müßte sie unabhängig von dieser ersten Bearbeitung und zeitlich vor ihr bestanden haben. Damit ist natürlich noch nicht gesagt, wo genau das Ende der Darstellung im siebten Buch bei seiner Erstfassung lag. Im Text dieses Buches ist kein so deutlicher Bruch zu verspüren, daß mit Grund vermutet werden könnte, an dieser Stelle habe sich ursprünglich ein Endpunkt befunden. Die leicht überdurchschnittliche Länge des Buches kann nicht als Indiz für eine Verlängerung bzw. Anfügung neuer Ereignisse gewertet werden; sie findet ihre Erklärung leicht durch die verhältnismäßig lange Regierungszeit Theodosios' II. und durch die Tatsache, daß es sich um den von Sokrates selbst erlebten Zeitraum handelt 123 . Auch hätte Sokrates es wahrscheinlich nicht unterlassen, dort, wo er die Leser über die Neubearbeitung unterrichtet, (oder auch an der betreffenden Stelle am Schluß des Werkes) darauf hinzuweisen, daß im siebten Buch eine Erweiterung vorgenommen worden ist. Vermutlich wird also schon die Erstfassung ihren Endpunkt im Jahr 439 gehabt haben und die Neubearbeitung sehr bald danach erfolgt sein, so daß sie keine Aktualisierung bzw. Fortschreibung erforderlich machte und wirklich nur Eingriffe in die ersten beiden Bücher bedeutete 124 . Was das Ausmaß der Neubearbeitung betrifft, so können die oben (S. 145 ff.) angestellten Überlegungen über die Länge der Bücher eine Vorstellung vermitteln. Die signifikante Überlänge der ersten beiden Bücher bestätigt zum einen die Auffassung, daß wirklich nur (oder fast nur) sie Gegenstand der Überarbeitung waren. Zum anderen gibt sie Anlaß zu der Vermutung, daß der sonst sehr ausgewogene Aufbau ursprünglich auch für die ersten beiden Bücher galt. Das bedeutet, daß sie bei der erweiternden Bearbeitung jeweils auf etwa das doppelte ihres ursprünglichen Umfangs angewachsen sind. Dieser beachtliche Zuwachs wird plausibel, wenn man bedenkt, daß in der überlieferten Endfassung etwa 37% der Textmenge in Buch 1 Urkunden sind und 35% in Buch 2. Welche Stücke genau innerhalb dieser Bücher bei der Umarbeitung hinzugekommen sind oder geändert wurden, läßt sich im einzelnen oft schwer entscheiden. Wenn man die wörtlichen Zitate aus den kirchenpolitischen Schriften des Athanasios der Bearbeitung zuweist, befindet man sich noch auf einigermaßen gesichertem Boden. Sicherlich geht auch ein Großteil der Urkunden und Briefe ohne besondere Quellenangabe darauf zurück; doch alle derartigen Texte grundsätzlich der Erstfassung abzusprechen, geht entschieden zu weit. Dafür sind solche

Auf diesem Hintergrund ist das Buch sogar eher auffallig kurz, s. oben. S. 147. Diese Argumentation setzt voraus, daß der Endpunkt der Darstellung auch gleichzeitig der Abfassungszeitpunkt war. Dafür spricht in der Tat Vieles (s. S. 210 f.); doch auch andernfalls bleibt bestehen, daß Sokrates, soweit erkennbar, bei der Neubearbeitung keinen Anlaß zu einer Umgestaltung des Schlusses gesehen hat. 123 124

3. Die historiographische Methode

168

Einschübe auch in den hinteren Büchern zu häufig 125 . Besonders schwierig ist die Frage, ob sich noch für andere Quellen als die in 2,1,3 genannten Athanasios-Schriften wahrscheinlich machen läßt, daß sie erst zur zweiten Bearbeitung herangezogen wurden. Konkret stellt sich diese Frage im Hinblick auf die Vita Constantini des Euseb, die Synagoge des Sabinos von Herakleia und die Kirchengeschichte des Gelasios von Kaisareia. Aufgrund der Forschungen von F. S C H E I D W E I L E R und F. W I N K E L M A N N hat sich ein vorläufiger Konsens darüber ergeben, daß Sokrates die Vita Constantini erst zur Neubearbeitung kennengelernt hat. Diese Sicht gründet im wesentlichen auf zwei Argumenten: 1. Die explizite Erwähnung der Vita Constantini in 1,1,2 stört dort den Zusammenhang und ist darum sekundär eingefügt 126 . 2. Gelasios von Kyzikos, der Sokrates' Werk'kannte, nicht aber die Vita Constantini, schöpfte seine Zitate der Vita nicht aus Sokrates, sondern aus Gelasios von Kaisareia, obgleich dieser weniger und schlechtere Zitate enthielt. Also hatte er einen Sokrates-Text ohne Zitate der Euseb-Schrift vor sich; dies war die erste Bearbeitung 127 . Bei genauer Prüfung erweisen sich beide Argumente als nicht stichhaltig. Zu 1.: Die Analyse des Proömiums 1,1 hat gezeigt, daß der Bezug des ,,έξ εκείνου" in §3 auf den „διωγμός" in §1, durch den sich angeblich der sekundäre Charakter des §2 verrät, keineswegs eindeutig ist, sondern daß im Gegenteil das ,,ού φράσεως ογκου φροντί^οντες" in §3 den fraglichen §2 voraussetzt 128 . Die Erwähnung der Vita Con-

125

V g l . 3,3,4-25; 3 , 1 0 , 7 - 1 0 ; 3 , 2 5 , 1 0 - 1 8 ; 4 , 7 , 1 3 f.; 4 , 1 2 , 1 0 - 2 0 . 2 2 - 3 7 ; 4 , 2 3 , 4 0 - 5 9 . 6 1 - 7 1 ; 6 , 1 4 , 6 f.; 7,25,5-8;

7,36,6 f. Auch die Zitate in dogmatischer Funktion entstammen sicherlich der ersten Bearbeitung, doch sind sie dem Charakter nach etwas anders (s. S. 192 f., dort auch die Belege). 126

SCHEIDWEILER, Kirchengeschichte

[3.2.] 300, A n m . 1; ders., Bedeutung

[3.2.] 96 und, ihm

f o l g e n d , HANSEN [ 1 . 1 . ] XLVIII. 1 2 7 Diese Argumentation ist in teilweise etwas undurchsichtiger Darstellung von SCHEIDWEILER, Kirchengeschichte [3.2.]; ders., Bedeutung [3.2.]; ders., Verdoppelung [3.4.] entwickelt und von WINKELMANN, Quellen [3.2.]; ders., Untersuchungen [3.2.] modifizierend ausgebaut worden. Den Hintergrund bilden außerdem LOESCHCKES Quellenuntersuchungen zu Gelasios von Kyzikos (in der Einleitung zur Edition). Die einzelnen Schritte: Gelasios von Kyzikos kannte die Vita Constantini nicht (LOESCHCKE XXX-XXXVIII; WINKELMANN, Quellen 105; ders., Textbezeugung [3.2.] 86-88). Er kannte Sokrates (LOESCHCKE XXIX; Quellen 117) und auch Gelasios von Kaisareia (Kirchengeschichte 281; Bedeutung 75; Verdoppelung 98; Untersuchungen 22-25 und 46 f.). Die Stellen aus der Vita Constantini bei ihm stammen aber nicht aus Sokrates, sondern aus Gelasios (Quellen 106-116). Der Grund liegt darin, daß er die erste Bearbeitung des Sokrates vor sich hatte, in der dieser noch nichts von der Vita wußte (Quellen 111 f., 126 und 130; Untersuchungen 26 und 39-41; dagegen weniger entschieden in Textbezeugung 74). — Sowohl bei SCHEIDWEILER als auch bei WINKELMANN ist bei dieser Argumentation das erkenntnisleitende Interesse im Auge zu behalten. Beiden geht es darum, möglichst klare und eindeutige Kriterien für die Rekonstruktion der Kirchengeschichte des Gelasios von Kaisareia zu gewinnen. Dafür ist es natürlich von Vorteil, wenn sicher ausgeschlossen werden kann, daß Gelasios von Kyzikos die Passagen aus der Vita Constantini dem Werk des Sokrates entnommen hat, denn dann bleibt als Quelle nur der andere Gelasios. Bei SCHEIDWEILER ist zusätzlich zu berücksichtigen, daß er zu zeigen versucht, daß die Vita Constantini erst um 430 in Umlauf gekommen, d. h. überhaupt erst entstanden ist (Kirchengeschichte 300). Dieser Versuch kann inzwischen als gescheitert gelten, vgl. WINKELMANN, Geschichte [3.2.] 218-226. 128

S. o b e n S. 139, A n m . 16. Das von SCHEIDWEILER, Kirchengeschichte

[3.2.] 300, A n m . 1 und

Bedeutung [3.2.] 96 hier zusätzlich angeführte Argument, daß Euseb von Sokrates erst in 1,8,34

169

3.2. Komposition und Aufbau

stantini ist also organischer Bestandteil des Proömiums des Gesamtwerkes und war somit sicher auch schon in der ersten Bearbeitung enthalten. Dazu kommt folgende Erwägung: Es ist ohnehin etwas merkwürdig und durchaus erklärungsbedürftig, warum Sokrates die Rechtfertigung für die Neubearbeitung nicht an den Anfang des Gesamtwerkes, sondern an den Beginn des zweiten Buches gesetzt hat (s. dazu gleich im folgenden S. 173 f.). Wenn er aber nun einmal so verfahren ist, gibt es keinen Grund, warum er die Kritik an Rufin zwar dort geäußert, für die Kritik an Euseb aber dennoch einen Eingriff in das Proömium der ersten Buches vorgenommen haben sollte. Zu 2.: Das Argument fußt auf der Mc/tt-Verwendung des Sokrates durch Gelasios von Kyzikos bei bestimmten Zitaten; es handelt sich also im Grunde um ein argumentum e silentio. Daß sich daraus keine weitreichenden Schlüsse ziehen lassen, braucht kaum eigens betont zu werden. Es lassen sich vielerlei Gründe denken, warum Gelasios die fraglichen Texte lieber aus dem Werk seines Namensvetters entnahm als aus Sokrates, zumal die auffallige Beobachtung hinzukommt, daß er alle seine Quellen irgendwann einmal explizit erwähnt - mit Ausnahme des Sokrates 129 . Um nur zwei Möglichkeiten zu benennen: Er könnte erst relativ spät im Verlauf seiner Recherchen auf Sokrates gestoßen sein und nur noch das Wichtigste eingearbeitet haben, oder - vielleicht plausibler - er könnte Sokrates' Werk irgendwie für anrüchig oder häretisch (z. B. novatianisch) gehalten und darum so sparsam wie möglich verwendet und gar nicht erwähnt haben. Die Erklärung mit der Erstfassung setzt außerdem voraus, daß dieselbe überhaupt im Umlauf war. Das ist jedoch, wie oben dargelegt, eher unwahrscheinlich. In jedem Falle wäre Gelasios von Kyzikos der einzige Beleg für die Verwendung dieser Fassung. Es bedürfte stärkerer Argumente dafür als nur die Nicht-Übernahme von P a s s a g e n a u s d e r Vita

Constantini.

Schon bisher haben sich also im Gegenteil einige positive Argumente dafür ergeben, daß Eusebs Konstantinschrift von Sokrates auch in der ersten Bearbeitung herangezogen wurde. Es gibt weitere: An drei Stellen zitiert Sokrates die Schrift nicht in historischem, sondern in dogmatischem Zusammenhang; er führt also die Autorität des Euseb ins Feld, um eine bestimmte theologische Aussage zu stützen 130 . Um Verifizierbarkeit zu gewährleisten und sich abzusichern, gibt er beregelrecht „vorgestellt" wird, obgleich schon vorher die Vita Constantini zitiert wurde (1,7,2; 1,8,4.20.27), überzeugt nicht, denn es ist ein Unterschied, ob Euseb nur als Quelle genutzt wird, oder ob er als Protagonist i m Ablauf der Ereignisse selbst auftritt (das ist in der Tat in 1,8,34 z u m ersten Mal der Fall). Außerdem müßte SCHEIDWEILER annehmen, daß dann auch der Beginn von Sokrates' Werk (1,1,1) erst bei der Neubearbeitung die jetzige Gestalt a n g e n o m m e n hat, und damit würde das Argument der nachträglichen Einfügung v o n §2 vollends obsolet. 129

V g l . WINKELMANN, Untersuchungen

130

2,21,3 ( = vit. Const. 3,13,2); 5 , 2 2 , 2 5 - 2 7 ( = vit. Canst.

[3.2.] 26. 3,19,1); 7,32,15 f. ( = vit.

Const.

3,43,1 f.). D i e

ersten beiden Stellen sind v o n Sokrates schon an früherer Stelle in s e i n e m Werk mit m e h r Kontext zitiert w o r d e n (1,8,21-23; 1,9,32-46). HANSEN [1.1.] XLVIII f. schließt aus dieser Doppelung, daß das jeweils erste Zitat nicht direkt aus der Vita ü b e r n o m m e n ist, sondern durch eine Urkundens a m m l u n g bzw. Gelasios von Kaisareia vermittelt. Das ist natürlich möglich, doch genügt die bloße Tatsache der D o p p e l u n g zur Begründung m. E. nicht. Sokrates kann o h n e weiteres einen Ausschnitt aus e i n e m in historischem Z u s a m m e n h a n g zitierten Text in dogmatischem Zusam-

170

3. Die historiographische Methode

greiflicherweise in diesen Fällen eine explizite Quellenangabe. Zwei dieser Stellen stehen nicht in den ersten beiden Büchern, sondern in Buch 5 bzw. 7, die vermutlich gar nicht überarbeitet wurden. Wollte man daran festhalten, daß die Vita Constantini bei der ersten Bearbeitung noch nicht verwendet wurde, so müßte man annehmen, daß die fraglichen Stellen erst nachträglich eingearbeitet wurden. Das Gekünstelte und Erzwungene einer solchen Annahme wird sofort deutlich, wenn man sich vor Augen führt, wie organisch die betreffenden Zitate in den Argumentationsgang eingebunden sind 131 . Weiterhin paßt die von Sokrates selbst gegebene Beschreibung des nachgetragenen Materials allenfalls auf einen Teil dessen, was aus der Vita Constantini stammt (oder stammen könnte), nämlich in erster Linie die Urkunden. Es wird aber auch einiges an narrativen Texten übernommen; insbesondere in dem längeren Abschnitt 1,16-18, in dem die segensreichen Auswirkungen der konstantinischen Religionspolitik beschrieben werden, sind Berichte aus Rufin und solche aus der Konstantinschrift so eng miteinander verwoben, daß es schwer fallt, sich den einen Teil nachträglich eingearbeitet vorzustellen 132 . Alles zusammengenommen, spricht also vieles dafür und sehr wenig dagegen, daß Sokrates die Vita Constantini auch schon in der ersten Bearbeitung gekannt und verwendet hat. Aussagen sowohl über die Synagoge des Sabinos als auch über die Kirchengeschichte des Gelasios von Kaisareia müssen mit einer gewissen Unsicherheit behaftet bleiben, da beide Werke verloren sind und nur teilweise (in letzterem Fall aber recht weitgehend) rekonstruiert werden können 133 . Dennoch zeichnet sich ziemlich deutlich ab, daß Sokrates beide Werke schon in der ersten Bearbeitung kannte, aber Sabinos erst zur Neufassung verstärkt nutzte, Gelasios hingegen dabei „beiseite gestellt" hat 134 . Gerade die Stellen, an denen Sokrates eindeutig aus Gela-

menhang noch einmal wiederholt haben - auch ohne „einen Hinweis, daß er den vollständigen Wortlaut schon ... angeführt hat" (HANSEN XLVIII). 131 WINKELMANN [1.3.] im App. zu vit. Const. 3,19,1 behilft sich mit der nicht minder problematischen Annahme, daß der Quellennachweis in Sok. 5,22,24 erst „in der 2. Aufl. zugefügt" sei. 132 Auch die Annahme der Materialvermittlung durch Gelasios von Kaisareia kommt nicht in Betracht - zumindest nicht für 1,16,4, w o Sokrates die Vita Constantini ausdrücklich erwähnt und auf sehr ähnliche Weise wie in 1,1,2 charakterisiert. Auch diese Stelle für sekundär zu halten, würde in große Schwierigkeiten führen. 133 Während man sich vom Werk des Gelasios bis zum gewissen Grad ein zuverlässiges Bild machen kann (vgl. WINKELMANN, Untersuchungen [3.2.]; ders., Charakter [3.2.]; NAUTIN, Continuation [3.2.]), ist bei Sabinos eher von Spurensuche als von Rekonstruktion zu sprechen, vgl. zuletzt HAUSCHILD, Synodalaktensammlung [3.4.] und LOHR, Beobachtungen [3.4.]. 134 So SCHEIDWEILER, Bedeutung [3.2.] 95, dem WINKELMANN, Untersuchungen [3.2.] 26 f. folgt. Aus der Benutzung des Gelasios in der ersten Bearbeitung folgert WINKELMANN jedoch m. E. ohne zureichenden Grund, daß Rufin nicht daneben auch schon benutzt worden sein kann. Daher muß er die explizite Aussage in 2,1,2 für falsch erklären. Als Motiv für diese Falschaussage gibt er an (S. 27): „Mit seinen Lateinkenntnissen konnte sich ein Grieche gut brüsten." Es scheint mir jedoch schwer vorstellbar zu sein, daß Sokrates, wenn es ihm darum zu tun gewesen wäre, sich mit seinen Lateinkenntnissen zu brüsten, ausgerechnet eine so kritische Aussage wie 2,1,1 über Rufin gemacht hätte. Im übrigen spricht auch nichts dagegen, daß Sokrates in der ersten Bearbeitung den griechischen Gelasios und den lateinischen Rufin nebeneinander benutzt hat. Daß er nur den letztgenannten ausdrücklich erwähnt, kann verschiedene Gründe haben; vermut-

3.2. Komposition und Aufbau

171

sios schöpft, sind zentral für das narrative Gerüst seines Werkes 135 . Nach allem, was wir über Tendenz und Anlage der gelasianischen Kirchengeschichte wissen, ist es auch nicht sehr wahrscheinlich, daß Sokrates, nachdem er einmal die Mängel des Rufin bemerkt hatte, sich veranlaßt gefühlt hätte, verstärkt auf Gelasios zurückzugreifen. Aus dessen Werk wäre kaum ein Verbesserung der Fehler des Rufin zu gewinnen gewesen, eher im Gegenteil 136 . Hinzu kommt, daß die Spuren der Gelasios-Benutzung deutlich über die ersten beiden Bücher hinausreichen 137 . Anders bei Sabinos: Das wenige, was wir über Art und Anlage seiner Synagoge ausmachen können (daß es sich nämlich um eine Urkundensammlung mit dogmatisch-polemischen Absichten handelte) 138 , legt nahe, daß er bei der Umarbeitung als Quelle durchaus eine Rolle gespielt haben könnte. Die Charakterisierung des Werkes in 1,8,25 (,,ών διάφοροι σύνοδοι εγγράφως έξέδωκαν") paßt genau zu der Auskunft über die Einarbeitung von ,,οσα ... κ α τ ά διαφόρους συνόδους oi έτπσκοτΓοι ... έξεδωκαν" bei der Neufassung 139 . In der Tat werden einige der Urkunden in den ersten beiden Büchern aus seinem Werk stammen 140 . Daß Sokrates die Synagoge überhaupt erst zur zweiten Bearbeitung kennengelernt hat, ist trotzdem nicht anzunehmen; denn erstens reicht die Benutzung deutlich über die ersten beiden Bücher hinaus 141 und zweitens scheint Sabinos - auch abgesehen von den wörtlichen zitierten Urkunden - in narrativen Zusammenhängen benutzt zu sein, die für die Komposition des Gesamtwerkes so grundlegend sind, daß sie nicht ohne weiteres als nachträgliche Einfügung ausgeschieden werden können 142 . Zusammenfassend läßt sich über die beiden Bearbeitungsstufen der Kirchengeschichte des Sokrates sagen, daß sich zwar bei weitem nicht genug über sie ermitteln läßt, um eine - sei es auch noch so hypothetische - Rekonstruktion der Erstfassung wagen zu können. Es sind jedoch eine Reihe von relativ gesicherten Aussagen möglich, die ein Bild von Art und Umfang der Umarbeitung zu zeichnen erlauben. Die Untersuchung hat ergeben, daß es im großen und ganzen keinen Grund gibt, an den von Sokrates selbst gemachten Aussagen zu zweifeln. Der erste Entwurf umfaßte schon sieben Bücher und beschrieb die Zeit bis in die Regierung Theodolich hielt er - so wie die kritische Forschung bis in unser Jahrhundert hinein - das Werk des Gelasios für eine Übersetzung des Rufin (s. S. 186 fF.). 135 1,2-5 nach Gel. Kais.,yrg. 5-10; 1,7,1; 1,8,4-12 nach frg. 10; 1,11,1 f. nach frg. 12; 1,17,1-6 nach frg. 20; 1,37 nach/rg. 33 f.; 1,39,4; 2,2,3-7 nach frg. 34; 2,23,33-38 nach frg. 38; 3,14,1-6 nach frg. 40. 136

V g l . WINKELMANN, Charakter

137

V g l . HANSEN [1.1.] XLVII.

138

V g l . HAUSCHILD, Synodalaktensamtnlung

139

[3.2.] 366-374 u n d 382-385. [3.4.] 106 f.

2,1,6, vgl. auch 2,1,4 (Nennung von Briefen); vgl. HANSEN [1.1.] L.

140 Sicher zu erweisen ist das allerdings nur in einem einzigen Fall: 2,40,8-17 (vgl. die explizite Angabe 2,39,8). Im Falle von 2,10,9-18 lassen sich begründete Vermutungen anstellen (vgl. HAUSCHILD, Synodalaktensamtnlung [3.4.] 114 f.). 1,8,35-54 dürfte nicht aus Sabinos stammen (gegen

HAUSCHILD 108, s. oben S. 49, Anm. 120). 141 142

Vgl. neben den in der folgenden Anm. genannten Stellen auch 3,10,4-11; 3,25,2-18; 4,12. Das gilt vor allem für die Berichte über die Synoden von Seleukeia 359 (2,39,5-22; 2,40,1-48)

und Lampsakos 364 (4,2,2 f.; 4,4,2-4). Auch die polemischen Bemerkungen in 4,12,41 und 4,22,1

dürften auf die Erstfassung zurückgehen (schwerer zu beurteilen sind 1,8,25 f. und 1,9,28).

172

3. Die historiographische Methode

sios' II. hinein, wahrscheinlich auch schon bis z u m Jahr 439, d e m Endpunkt der Darstellung in ihrer jetzigen Form. Für die Annahme, daß die Überarbeitung wesentlich m e h r als n u r die ersten beiden Bücher betraf, gibt es keinen G r u n d . Diese beiden Bücher stützten sich in ihrer Erstfassung im wesentlichen auf Rufin bzw. Gelasios von Kaisareia sowie (in Buch 1) die Vita Constantini des Euseb u n d hatten etwa die Hälfte des heutigen Umfangs. Da der Z u w a c h s sich großenteils über die zahlreichen U r k u n d e n erklärt, ist davon auszugehen, daß das narrative Grundgerüst im g r o ß e n u n d ganzen schon vorhanden war. Allerdings wird die Einsicht in die chronologischen I r r t ü m e r des Rufin n o c h Umstellungen bewirkt haben. Vermutlich e n t s t a m m t auch die Kapiteleinteilung schon der Erstfassung. In der zweiten Bearbeitung k a m zusätzliches Material durch Zitate u n d U r k u n d e n aus den kirchenpolitischen Schriften des Athanasios sowie aus der Synagoge des Sabinos u n d weiteren U r k u n d e n s a m m l u n g e n hinzu. Der Charakter des Werkes änderte sich dadurch beträchtlich, weil der Erzählzusammenhang gestört w u r d e u n d das dokumentarische Element in den Vordergrund trat. Die Tendenz änderte sich trotz m a n c h e r sachlichen Gewinne im einzelnen nicht grundlegend, weil auch Rufins Darstellung schon von der athanasianischen Perspektive geprägt war; doch einige Vergröberungen u n d Verfälschungen k o n n t e n auf diese Weise beseitigt werden. Z u erwarten, daß die Defizite u n d Einseitigkeiten des athanasianischen Geschichtsbildes in den Blick k a m e n , hieße von einem Konstantinopolitaner Autor in der Mitte des f ü n f t e n Jahrhunderts zu viel verlangen, denn das stilisierte Bild der Ereignisse, das der alexandrinische Bischof in Umlauf gebracht hatte, beherrschte bereits weithin die Szene.

3.2.3. P r o ö m i e n u n d Exkurse Auf d e m H i n t e r g r u n d dieser Erkenntnisse ist n u n auf die Frage z u r ü c k z u k o m m e n , wie sich im R a h m e n der Gesamtkomposition des Werkes die Stellung der Proö m i e n verstehen läßt. Es w u r d e schon gesagt, daß das H a u p t p r o ö m i u m des Werkes zu Beginn des ersten Buches relativ kurz u n d bescheiden ist - bescheiden in d e m Sinne, daß Sokrates n u r die A n k n ü p f u n g an Euseb thematisiert u n d sich selbst u n d seine eigenen historiographischen Ideale ganz z u r ü c k n i m m t . D e n n o c h finden sich einige klassische Topoi in P r o ö m i e n anderer Bücher sowie in proömienartigen Tjexten verstreut im Gesamtwerk. Die Stellen, an denen diese Texte stehen, wirken auf den ersten Blick etwas willkürlich. Hier zunächst eine Übersicht über die fraglichen Texte jeweils mit einem Stichwort z u m Inhalt: Proömien 1,1 2,1 5,pr

A n k n ü p f u n g an Euseb B e g r ü n d u n g u n d Charakterisierung der zweiten Bearbeitung Verhältnis von Profan- u n d Kirchengeschichte

3.2. K o m p o s i t i o n und Aufbau

6,pr

173

Ideal schlichten Stiles Kritische Darstellung der Bischöfe und der Kaiser Wahrheits- und Autopsieideal

Proömienartige Texte 1,18,14-16 1,22,14 3,1,3 f. 5,19,10 7,48,6 f.

Abgrenzung von Kaiserbiographie Spaltungen der Kirche als Gegenstand der Kirchengeschichtsschreibung Begrenzung auf Tatsachenbericht Ideal schlichten Stiles Wahrheits- und Autopsieideal Friede als Ende der Kirchengeschichte

Die genaue inhaltliche Würdigung muß einem späteren Abschnitt (4.3. Geschichtsverständnis) vorbehalten bleiben; hier ist für jeden dieser Texte z u fragen, ob sich kompositionstechnische Bezüge und Gründe für die Positionierung erkennen lassen. Zunächst die eigentlichen Proömien: Von dem Vorwort des ersten Buches war schon ausführlich die Rede (S. 137 ff.); außerdem ist die Stellung an der Spitze des Gesamtwerkes keiner weiteren Begründung bedürftig. Dagegen ist auf den ersten Blick unverständlich, w a r u m die Mitteilungen über die Neubearbeitung weder am Anfang noch am Ende des neu bearbeiteten Abschnitts (also der ersten beiden Bücher) stehen, sondern genau in seiner Mitte. Es läßt sich über diese Frage nur spekulieren; allerdings sind durchaus Gründe für die Anordnung denkbar. Etwa so: Sokrates wollte bei der Neubearbeitung die lakonisch schlichte Anfangspassage seines Werkes nicht stören; vielleicht sah er zunächst auch keinen Anlaß dazu, da er selbst nicht übersah, wie tiefgreifend die Änderungen werden würden. Nach der Arbeit am ersten Buch merkte er, daß der Charakter sich doch deutlich verschob, und er nutzte die erste sich bietende Gelegenheit, seinen Lesern darüber Rechenschaft abzulegen und eine Erklärung für den auffällig verschiedenen Charakter der ersten beiden Bücher abzugeben. An die Spitze des Gesamtwerkes hätten diese Ausführungen auch deshalb nicht gut gepaßt, weil sie nur am Rande (§3) Punkte ansprechen, die üblicherweise in Proömien ihren Platz finden. In jedem Fall ist deutlich, daß der Anfang des zweiten Buches wirklich nach Abschluß der Umarbeitung des ersten Buches und vor Beginn der Umgestaltung des zweiten Buches abgefaßt ist. Die darin genannten Gründe für die Neubearbeitung beziehen sich auch mehr auf den zurückliegenden als auf den nachfolgenden Textabschnitt 143 . Es ist allerdings zuzugeben, daß kein besonderer Grund zu erkennen ist, w a r u m die Erklärung nicht am Ende des gesamten neu „diktierten" Abschnitts steht. Die einzigen im strengen Sinne als Proömien anzusprechenden Texte sind die Eröffnungen der Bücher 5 und 6. In diesen Texten k o m m t am deutlichsten das spezifische Profil des Sokrates z u m Ausdruck, seine historiographischen, kirchlichen und stilistischen Vorstellungen. Gerade darum ist die Frage naheliegend, wie die

143 §7 blickt zurück auf die N e u f a s s u n g von Buch 1 und voraus auf die von Buch 2. Die in §1, 3 und 5 genannten T h e m e n gehören eher in das erste Buch.

174

3. Die historiographische Methode

scheinbar etwas 'willkürliche Position dieser Ausführungen motiviert ist. Es lassen sich Gründe auf

verschiedenen Ebenen finden. Zunächst gibt es inhaltliche

Bezüge: Das Proömium z u m sechsten Buch eröffnet den Bericht über die Vorgänge u m Johannes Chrysostomos. Die verhältnismäßig kritische Haltung des Sokrates zu diesem umstrittenen Bischof, mit der er sich in seiner Zeit schon in der Minderheit befand, bildet den Hintergrund für die Aussagen im Proömium, in denen er seine kritische Darstellung wichtiger Bischöfe rechtfertigt, auch wenn es den kirchlichen Eiferern mißfällt 1 4 4 . Etwas weniger evident ist ein solcher Bezug beim Proömium des fünften Buches, in dem das Verhältnis von Kirchen- und Profangeschichte diskutiert und ausführlich begründet wird, w a r u m in der Kirchengeschichte auch von Kriegen und den Taten der Kaiser die Rede sein muß. D o c h auch hier wird es kein Zufall sein, daß diese Ausführungen genau beim Regierungswechsel von Valens zu Theodosios I. stehen und damit an dem Punkt, an dem so deutlich wie an kaum einem anderen seit der Zeit Konstantins die Abhängigkeit der Geschicke der Kirche von der Religionspolitik der jeweiligen Kaiser deutlich wird. Auch wird man kaum umhin können, die Sätze über das Einflechten von Kriegen auf dem Hintergrund der direkt zuvor beschriebenen Niederlage des Valens gegen die Goten bei Adrianopel 378 zu lesen (s. S. 131 f.) 1 4 5 . Dieses Verständnis gewinnt an Wahrscheinlichkeit, wenn man der Deutung eines armenischen Glossators folgt, der die Aussage 5,pr,io. auf Valens bezogen wissen möchte: „Auch den nicht christlichen [Kaiser] haben w i r erwähnt, weil er die Kirchen in Unruhe versetzte." 1 4 6

144

6,pr,7, s. die ausführliche Analyse oben S. 55 ff, der Text S. 74 bei Anm. 222. Weniger wahrscheinlich erscheint mir, daß „der Anlaß solcher Bemerkungen [sc. 5,pr und 6,pr] ... die Kritik, die die ersten vier Bücher hervorgerufen hatten," war (WINKELMANN, Kirchengeschichtswerke [BySl] [3.2.] 173). Dann müßte man annehmen, daß entweder Buch 1-4 als erste Fassung oder die Bücher einzeln je nach Entstehen veröffentlicht wurden. Für beides gibt es keinerlei Anzeichen. (Dagegen spricht das ausgefeilte Verweissytem, das das ganze Werk durchzieht, s. Anm. 84.) Eher wäre es denkbar, daß die Bücher 1-5 einmal eine Erstfassung bildeten (s. das Folgende), doch auch in diesem Fall paßt der Charakter von 6,pr nicht zu der Vorstellung: Sokrates nimmt dort ja nicht das schon Geschriebene in Schutz, sondern rechtfertigt sich vorab für das Kommende. Das wird - auch unabhängig von der konkreten Verbindung mit Johannes Chrysostomos - in 6,pr,6 sehr deutlich. Allenfalls könnte man sich vorstellen, daß 5,pr nach Fertigstellung des Gesamtwerkes bei der Neubearbeitung eingefügt worden ist und auf Kritik etwa des Auftraggebers Theodoras - reagiert. Doch gibt es für diese Sicht keine weiteren Argumente; auch wäre die Stellung des Textes dadurch nicht erklärt. 144 ,,ού μην ά λ λ α του où χριστιανοΟ μνήμην ττεττοιήμεθα, διότι τάς εκκλησίας έτάραξεν." Wohl von der gleichen Hand wie der Text ist dazu an den Rand der Handschrift 2014 des armenischen Patriarchats in Jerusalem geschrieben: „Er spricht von Valens und den anderen bösen uiuÇ L ¡luij^ng ^lupuujtuin-uig)", S. 279 der Hs. (bei SAHAK, Baldatowt'iwn [3.1.] 57, Anm. 1 nicht ganz korrekt). Diese Deutung setzt allerdings voraus, daß man der Textgestalt des Armeniers folgt (του ού χριστιανού, n¿ ¿p/tumnhÇfjii) - und nicht wie HANSEN [1.1.] dem von Paul SPECK ohne jede handschriftliche Grundlage konjizierten 'Ιουλιανού. Auf jeden Fall ist die griechische Überlieferung nicht intakt (das του χριστιανισμού der Hss. ergibt keinen Sinn; die Korrektur του αρειανισμού in einer Hs. ist eine schlechte Notlösung). Abgesehen davon, daß man zu ganz freien Konjekturen nur dann greifen sollte, wenn wirklich keiner der überlieferten Lesarten irgendein Sinn abzugewinnen ist, scheint mir hier auch der kompositioneile Zusammenhang für den Text des Armeniers zu sprechen (von Julian ist dagegen im Umfeld dieses 145

3.2. Komposition und Aufbau

175

Weiterhin ist die Stellung dieser Texte auch durch die historiographische Methode motiviert. Besonders das Proömium zu Buch 6, das sich durch eine Reihe unterschiedlicher, aber durchweg die historiographische Theorie betreffender Motive auszeichnet, markiert einen gewissen Methodenwechsel. Anders als in der „Quellenkunde" für die ersten Bücher in 2,1,2-6, wo naturgemäß von schriftlichen Quellen die Rede ist, will sich Sokrates ab jetzt verstärkt auf Selbsterlebtes und Augenzeugenberichte stützen. Das ist möglich, weil nun die Schilderung der Ereignisse ,,ήμετερας ηλικίας" (6,pr,6) folgt, der zeitgeschichtliche Abschnitt. Der Übergang zur Zeitgeschichte stellt einen ganz natürlichen Einschnitt dar und ebenso natürlich ist es, daß er durch ein Proömium mit Auskünften zur Methodik markiert wird. Das Proömium zu Buch 6 stellt nach Länge, Motivfülle und Aufbau die tiefste Inzision im Gesamtwerk dar 147 . Es besteht aus zwei Teilen (§1-5 und 6-10), deren erster auf die fünf vorhergehenden Bücher zurückblickt und „sich zunächst eher wie ein Epilog zu der abgeschlossenen Kirchengeschichte anläßt" 148 . Dennoch muß man hier nicht an eine Erstfassung der Kirchengeschichte denken, die (wie Rufins Werk) nur die Zeit bis zum Tode Theodosios' I. umfaßte 149 . Das zeigt ein Vergleich mit anderen historiographischen Werken. Es war ganz und gar nichts Ungewöhnliches, daß Geschichtsschreiber den Übergang zur Zeitgeschichte zum Anlaß nahmen, um sich noch einmal in der ersten Person zu Wort zu melden und methodische Reflexionen vorzutragen. Solche Proömien sind typischerweise durch zwei Motive gekennzeichnet: Erstens eine Betrachtung des Zurückliegenden etwa mit Angabe des Berichtszeitraums und der Quellen, zweitens ein Vorausblick auf das Kommende mit Hinweisen auf die eigene Stellung zur Zeitgeschichte, die dafür verwendeten Quellen und die damit verbundenen Gefahren. Derartige Texte finden sich bei so unterschiedlichen Autoren wie Cassius Dio, Ammianus Marcellinus, Eunapios von Sardes, Euseb, Euagrios und Ps.-Dionysios von Tel-Mahrê 150 , Proömiums nirgends die Rede). Auch CHADWICK, Rez. zu HANSEN [3.1.] 326 spricht sich für diese Lesart aus. Schwierig bleibt die Stelle allemal: So mag man gerade die Tatsache, daß der armenische Abschreiber die Stelle für erklärungsbedürftig hielt (in der Handschrift finden sich sonst so gut wie keine Randbemerkungen), als Hinweis darauf werten, daß auch die armenische Textgestalt als problematisch empfunden wurde. Im übrigen kann der Satz auf Julian bezogen werden, selbst wenn man dem Armenier folgt: Eher ihm als Valens würde Sokrates das Christ-Sein völlig abgesprochen haben. 147 Auch die Tatsache, daß der Auftraggeber Theodoras direkt angeredet wird, zeichnet diesen Text aus (§1, sonst nur in 2,1,6 zur Begründung der Neubearbeitung und 7,48,7 am Schluß des Gesamtwerkes). 148

HANSEN [1.1.] LVII.

149

HANSEN [1.1.] LVII f. spielt mit diesem Gedanken. URBAINCZYK, Socrates [3.1.] 73 f. referiert die

Auffassung, entscheidet sich aber dagegen. In jedem Fall ist festzuhalten, daß eine solche Fassung nichts mit der in 2,1 beschriebenen Neubearbeitung zu tun haben kann, s. oben S. 163 ff. 150 Cassius Dio, hist. Ram. 72,18,3 begründet größere Ausführlichkeit beim zeitgeschichtlichen Teil. Über die genaue kompositorische Stellung des Stückes ist wegen des fragmentarischen Erhaltungszustandes der hinteren Bücher nichts mehr auszumachen, vgl. SCHWARTZ, Cassius [3.3.] 405. Eunapios, fig. 15 (zu Beginn von Buch 2) blickt kurz zurück auf das Vorhergehende und spricht dann ausführlich über das Verfahren bei der anschließenden Zeitgeschichte, vgl. dazu BALDINI, Ricerche [3.3.] 82-90. Euagr. 5,24 bietet umgekehrt einen langen Rückblick mit sehr detail-

176

3. Die historiographische Methode

wobei der Schwerpunkt teils mehr auf dem ersten, teils mehr auf dem zweiten Motiv liegt. Die zeitlich und inhaltlich Sokrates am nächsten stehende Parallele liegt bei Ammianus Marcellinus vor. Ganz ähnlich wie Sokrates gibt er zu Beginn des zeitgeschichtlichen Abschnittes der Befürchtung Ausdruck, daß seine Darstellung der Kaiser Anstoß erregen könnte, und beruft sich auf die „Gesetze der Geschichte" und das Ideal der historischen Wahrheit 1 5 1 . Dennoch besteht hier kein Grund, an eine „Fortsetzungsnaht" zu denken. Anders und schwieriger liegen die Dinge bei Eusebs Proömium z u m achten Buch seiner Kirchengeschichte. Dieser Text zeigt trozt seiner Kürze die beiden genannten Motive sehr deutlich; er besteht wie Sokrates' 6,pr aus einem rückblickenden (präteritalen) und einem vorwärtsgewandten (futurischen) Teil. A n dieser Stelle liegt allerdings möglicherweise eine Naht zu einer Erweiterung v o r 1 5 2 . Die Parallele bei Sokrates muß jedoch nicht auf die gleiche Weise erklärt werden. Vielmehr wäre es denkbar, daß Sokrates sich hier bewußt an Euseb orientiert hat, denn es ist eine auffällige Analogie in der Verteilung der Proömien zu beobachten. Eusebs Kirchengeschichte hat in ihrer Endfas-

lierter „Quellenkunde" und nur einen knappen Ausblick auf das folgende letzte Buch. Ps.-Dionysios spricht zu Beginn des vierten Teils seiner Chronik (2,145,17-147,21 CHABOT, Übers. 1 f. CHABOT) ebenfalls zuerst über seine Quellen für die zurückliegenden Teile und konstatiert dann den Mangel an Quellen für das noch Fehlende, um damit die Schwächen des eigenen Werkes zu entschuldigen, vgl. WITAKOWSKI, Chronicle [3.2.] 125; ders., Sources (Third Part) [3.2.] 252. Z u Ammianus Marcellinus und Euseb s. die folgenden Anm. 151 rer. 26,1,1 f. blickt nur kurz zurück und leitet dann mit den erwähnten Motiven zur Zeitgeschichte über, vgl. ROSEN, Ammianus [3.3.] 137-139; ähnlichen Charakter hat auch 15,1,1. 152 SCHWARTZ hatte bei seiner Rekonstruktion der verschiedenen Redaktionsstufen des Werkes an dieser Stelle keinen Einschnitt angesetzt, sondern angenommen, daß schon die erste Ausgabe auch das achte Buch mitumfaßte (Eusebius [1.2.] LV f. und Eusebios [3.2.] 541 f.; ihm folgen LAWLOR/ OULTON [1.2.] 4 f. und jüngst wieder LOUTH, Date [3.2.] 121-123). Dagegen neigt die neuere Forschung im Anschluß an LAQUEUR (Eusebius [3.2.] 16-26 und 210-212) überwiegend dazu, in diesem Buch schon die erste Erweiterung zu erblicken (BARNES, Editions [3.2.] 199-201; GRANT, Eusebius [3.2.] 10-21; TWOMEY, Thronos [3.2.] 13-16 und 140-154; WINKELMANN, Euseb [3.2.] 189). Diese Sicht muß allerdings mit der Schwierigkeit fertig werden, daß sich im Gesamtproömium ein deutlicher Bezug auf 8,pr findet (,,τά χ ' έτη τούτοις και καθ' ήμάς αυτούς μαρτύρια και τ η ν έτπ ττάσιν ϊλεω καί εύμενή τοΰ σωτηρος ήμών άντίληψιν", 1,1,2 [6,14 f.]: die Ereignisse ,,καθ' ήμάς"!), der ähnlich in 8,16,1 noch einmal wiederkehrt. Zur Lösung des Problems wird entweder versucht, die fragliche Passage in 1,1 als nachträglich eingefügt zu erweisen (LAQUEUR 210-212; BARNES 201), oder wahrscheinlich zu machen, daß das ganze Proömium in seiner heutigen Gestalt erst einer späteren Fassung zugehört (GRANT 13-16). Ohne auf die komplexe Diskussion genauer eingehen zu wollen (weitere Literatur oben S. 139, Anm. 15), bleibt doch festzuhalten, daß 8,pr (samt 7,32,32) für jede der Rekonstruktionshypothesen einen „Problemtext" darstellt. Die Tatsache, daß Euseb hier den Übergang zur Zeitgeschichte explizit markiert, sollte jedenfalls für sich alleine genommen kein Argument für einen literarhistorischen Bruch darstellen. Obgleich diese Einsicht SCHWARTZ' Theorie entgegenkommt, sperrt er sich aufgrund seiner Vorstellung vom Charakter des Eusebschen Werkes (vgl. ζ. B. Kirchengeschichte [3.2.] 115 f.) dagegen: „Das [sc. der Stoff von Buch 8] ist allerdings Zeitgeschichte; aber wie das ganze Werk keine Geschichtserzählung im eigentlichen Sinne ist, so ist auch dieser Schlußteil keine Geschichte der Gegenwart" (Eusebios [3·ΐ·] 541)·

3.2. Komposition und Aufbau

177

sung Proömien zu den Büchern i, 2, 5, 7 und 8 1 5 3 . Dabei spricht 2,pr über die Quellen, 5,pr über die Einbeziehung von Kriegen und 8,pr über den Übergang zur Zeitgeschichte, also sehr ähnlich zu 2,1, 5,pr und 6,pr bei Sokrates. Darin könnte auch ein (zugegebenermaßen schwaches) Motiv für die Stellung des Proömiums zu Buch 5 liegen, für die sonst wenig Gründe erkennbar sind. Der Hinweis auf die inhaltlichen Bezüge und die allgemeine Feststellung, daß es durchaus üblich war, methodische Proömien an verschiedenen Stellen im Werk unterzubringen, müssen hier genügen. Außerdem ist die kompositionelle Bedeutung des Textes im Vergleich zum Proömium des folgenden Buches geringer: Es ist etwas kürzer, behandelt nur ein Thema und stellt keinen so markanten Gliederungseinschnitt dar. Noch geringere Bedeutung im Gesamtaufbau des Werkes haben die oben als „proömienartig" bezeichneten Texte. Obgleich sie alle inhaltlich in irgendeiner Weise Themen aufgreifen, die für Proömien typisch sind und überwiegend auch in den eigentlichen Proömien zur Sprache kommen, sind sie nach Länge und kompositioneller Funktion sehr unterschiedlich. In seiner Funktion evident und keiner Rechtfertigung bedürftig ist ein Text wie 7,48,6 f. Er steht als Epilog am Ende der Kirchengeschichte und gibt für dieses Ende ein Motiv, das auch anderswo schon angeklungen war: der Friedenszustand der kirchlichen und politischen Angelegenheiten. So klar allerdings die kompositorische Intention ist, so wenig ist die Aussage inhaltlich durch das Vorhergehende gedeckt. Man kann kaum behaupten, daß die unmittelbar zuvor geschilderte Ordination des Thalassios zum Bischof von Kaisareia in Kappadokien eine hinreichende Basis für die Rede vom großen Frieden abgäbe. Eher wäre daran zu denken, daß die Versöhnung mit den Johanniten im Gefolge der Rückführung der Gebeine des umstrittenen Bischofs (7,45,2-4) und vor allem die für Sokrates offenbar sehr wichtige Demonstration kirchlicher Einheit anläßlich der Beisetzung des Novatianerbischofs Paulos im Hintergrund stehen 154 . Dennoch wirkt die Rede vom Frieden am Schluß des Werkes ziemlich allgemein und diffus und nicht unbedingt wie ein Ausdruck faktisch gegebener Verhältnisse, zumal streng genommen der Friede nicht behauptet, sondern gewünscht wird 155 . In anderen Fällen sind proömienartige Aussagen deutlich durch inhaltliche Bezüge zum Umfeld motiviert. So, wenn Sokrates zu Beginn des dritten Buches, in dem es ausführlich um Kaiser Julian geht, sich noch einmal explizit auf die im Gesamtproömium geäußerte Abgrenzung vom panegyrischen Stil beruft. Von Julian ist ausführlich zu sprechen, weil er für die Kirche wichtig war, doch hat es nicht in Form des Enkomions zu geschehen 156 . In 5,19,10 hat die Berufung auf das

1 5 3 Bei dem Gebet in 10,1,1 handelt es sich nicht im strengen Sinne um ein Proömium. Sokrates hatte zweifellos die Endfassung des Werkes vor sich (s. S. 139), und es ist davon auszugehen, daß ihm die stufenweise Entstehungsgeschichte nicht bewußt war. 154 7,46,1-3, s. oben S. 79 f. 155 ,,έν ειρήνη διάγειν τ ά ς τ τ α ν τ α χ ο ύ εκκλησίας και ττόλεις καί έθνη εύχόμεθα." 7,48,6, s. dazu auch unten S. 211. 156

3,1.3 f·, v gl· 1,1.2·· Problematisch ist der Bezug der Stelle 5,pr,io, s. oben Anm. 146.

178

3. Die historiographische Methode

in der Geschichtsschreibung klassische Wahrheits- und Autopsieideal die Funktion, eine nach Sokrates' Ansicht offenbar umstrittene oder zumindest anstößige Geschichte zu rechtfertigen bzw. zu stützen. Es geht in dem Kapitel um die Abschaffung des Bußpriesteramtes in Konstantinopel aufgrund einer Skandalgeschichte. Diese für die Großkirche nicht eben rühmliche Episode stützt Sokrates durch Berufung auf einen Augenzeugen (den Presbyter Eudaimon), und er rechtfertigt seinen Bericht durch das Ideal der Wahrheit, der er als Historiker unbedingt verpflichtet sei. Auch die Passage in 1,22, in der sich Sokrates ausdrücklich auf einen reinen Tatsachenbericht über die Angelegenheiten der Kirche beschränkt und auf jede wertende Deutung verzichtet, schließt an den vorhergehenden Exkurs über die aus der Sicht des Kirchenhistorikers besonders gefahrliche und abstoßende Häresie des Manichäismus an; die sich dabei aufdrängende Frage, wie Gott solche Abscheulichkeiten zulassen kann, will Sokrates nicht thematisieren. (Allerdings kann man sich fragen kann, was wiederum den Exkurs an dieser Stelle rechtfertigt, s. im folgenden.) A m schwierigsten ist die Frage zu beantworten, warum die relativ langen Ausführungen zur historiographischen Theorie in 1,18,14-16 an dieser Stelle stehen. Während die Abgrenzung von Kaiserbiographie bzw. Enkomion (§14) noch einigermaßen an die zuvor geschilderten Aktivitäten des Kaisers Konstantin anschließt und sich inhaltlich mit den schon besprochenen Texten 1,1,2 f. und 3,1,3 berührt, haben die Sätze über Spaltungen der Kirche als Gegenstand der Kirchengeschichtsschreibung (§15 f.) keinen offensichtlichen Bezug zum Umfeld, obgleich auch sie inhaltlich zu anderen Äußerungen im Werk passen. Dabei sind sie von einer auffälligen Feierlichkeit und für Sokrates sonst keineswegs typischen Umständlichkeit. Insbesondere das seit Herodot klassische Motiv, daß Geschichtsschreibung die Geschehnisse schriftlich festhalten und auf diese Weise vor der Vergessenheit bewahren soll, erwartet man eher in einem Proömium; es wirkt mitten im ersten Buch befremdlich. Diese Beobachtungen nähren die Vermutung, daß der Passus nicht an seiner ursprünglichen Stelle steht, zumal zu Beginn des Abschnitts der überlieferte Text nicht intakt zu sein scheint 157 . Wenn dem so sein sollte, ist es naheliegend, weiter zu vermuten, daß er bei der Neubearbeitung an diese Stelle gekommen ist. Spekulationen über den ursprünglichen Ort (vielleicht als Proömium des zweiten Buches, das dann durch die Auskünfte über die Neubearbeitung ersetzt wurde?) sind kaum sinnvoll begründbar. Daß der Text gerade an diese Stelle geraten ist, erhält besonders dann einige Plausibilität, wenn man den Bezug der ersten Sätze (§14) nicht nur auf die unmittelbar vorher beschriebenen Umbenennungen von Ortschaften sieht (§13), sondern etwas weiter auf den längeren Abschnitt, in dem die segensreichen Maßnahmen Konstantins im Anschluß an die Vita Constantini geschildert werden 158 . Im Unterschied und in Abgrenzung zu dieHansen [1.1.] l v i und im Apparat z. St. 1,16-18. Es ist auch zu beachten, daß Sokrates am Ende von 1,16,4 eine Formulierung gebraucht, wie sie sonst für den Beginn von Exkursen typisch ist (s. gleich im folgenden). 1,18,14-16 kann dann als die etwas entfaltete Abschlußbemerkung des Exkurses betrachtet werden. 157

158

3.2. Komposition und Aufbau

179

ser Quellenschrift möchte Sokrates nicht allzu ausführlich darüber handeln, nicht weil es nicht wichtig wäre, sondern weil er das Thema als nicht zur Kirchengeschichte gehörig empfindet159. Neben den Proömien und proömienartigen Stellen hebt sich im Fluß der chronologischen Berichterstattung eine weitere Textsorte ab, nämlich die Exkurse. Es gehörte zum guten Ton einer gefälligen Geschichtsdarstellung in der Antike, allerlei Exkurse ethnographischen, geographischen oder gar naturkundlichen oder astronomischen Inhalts in die Darstellung einzustreuen und auf diese Weise zur Unterhaltung und Bildung der Leser beizutragen160. Sokrates erweist sich in dieser Hinsicht als sehr nüchtern; derartige Abschweifungen fehlen in seinem Werk fast völlig. Selbst in den Berichten von der Bekehrung fremder Völker, die doch förmlich dazu einladen, ethnographische Nachrichten einzuflechten, ist ein besonderes Interesse dieser Art nicht erkennbar161. Doch interessanterweise läßt er in einer theoretischen Äußerung erkennen, daß er nicht etwa aus Unbildung oder aus mangelnder Kenntnis der historiographischen Stilgesetze darauf verzichtet; vielmehr kennt er den Usus der Geschichtsschreiber durchaus und lehnt ihn ausdrücklich ab. Über die „christliche Geschichte" des Philipp von Side schreibt er, sie enthalte Äußerungen über vielerlei verschiedene Sachgebiete, geometrische, astronomische, arithmetische und musikalische Betrachtungen sowie Beschreibungen von Inseln, Bergen, Bäumen und anderem. Der Autor wolle durch derartige Abschweifungen seine umfassende Bildung beweisen, doch in Wirklichkeit werde das unhandliche Werk dadurch völlig nutzlos, und zwar sowohl für die Gebildeten als auch für die einfachen Leute 162 . Daraus resultiert - hier allerdings nicht explizit ausgesprochen 155 Gerade hier läßt Sokrates viel von der Quelle gebotenes Material aus, s. unten S. 190 f. Unwahrscheinlich scheint es mir zu sein, daß der „versprengte Text ... versehentlich an diese Stelle geraten" ist (HANSEN [1.1.] LVII). Dazu sind die kompositionstechnischen Bezüge zum Umfeld zu deutlich. 160 Vgl. CANTER, Excursus [3.3.] mit reichem Material, bes. S. 246 f. zu den bevorzugten Themen („Geography and ethnology are favorite subjects") und Intentionen („both instruction and entertainment") sowie MATUSCHEK, Exkurs [3.3.], ferner PIGHI, Discorsi [3.3.] 3-25; zur theoretischen Reflexion über das Thema in der Antike vgl. Lukian, hist, cotiser. 57 und Quintilian (dazu MATUSCHEK 129). Besonders häufig sind die Exkurse bei Ammianus Marcellinus untersucht worden, da sie in seinem Werk sowohl inhaltlich als auch kompositionstechnisch eine sehr wichtige Rolle spielen, vgl. PIGHI bes. 29-31 und 77-81 (manchmal etwas zu schematisch); CANTER 244 (Stellenangaben!); CICHOCKA, Konzeption [3.3.] bes. 334-340 (sehr sorgfaltige formgeschichtliche

Analyse); SABBAH, Méthode

[3.3.] 525-528; ROSEN, Ammianus

[3.3.] 79-86; EMMETT, Introductions

[3.3.];

dies., Books [3.3.]; RICHTER, Funktion [3.3.] (wertvolle Untersuchung der inhaltlich-funktionalen Aspekte); KAUTT-BENDER, Vielfalt [3.3.] 335-377; DEN HENGST, Digressions [3.3.]. Z u den Kirchengeschichtswerken vgl. EMMETT NOBBS, Histories [3.2.]; zu Eunapios vgl. BLOCKLEY, Historians [3.3.]

i , u f.; zu Olympiodoros vgl. ebd. 1,35 f.; zu Priskos vgl. ebd. 1,61 f. 161 Es findet sich ein Reihe solcher Geschichten: 1,19 (Äthiopier); 1,20 (Georgier); 4,33 (Goten); 4,36 (Sarazenen); 7,8 (Perser); 7,30 (Burgunder), s. dazu S. 129 f. Lediglich in 4,28,9-11 macht Sokrates eine ethnographisch interessierte Bemerkung. Sozomenos neigt eher dazu, solche Gelegenheiten zu exkursartigen Ausführungen zu nutzen, s. Anm. 177. 162 ,,ττολλάς δε συνείσφερε* ϋλας εις αύτήν, δεικνύναι βουλόμενος μή άττείρως εχειν εαυτόν τ ω ν φιλοσόφων τταιδευμάτων. διό καί συνεχώς γεωμετρικών τ ε και αστρονομικών καί αριθμητικών καί μουσικών θεωρημάτων ττοιεΤται μνήμην, εκφράσεις τ ε λέγων νήσων καί

180

3. Die historiographische Methode

- die Forderung, daß Exkurse in einer Kirchengeschichte nur dann statthaft sind, wenn sie einen sinnvollen Bezug auf die eigentliche historische Darstellung haben, oder - in der Terminologie der antiken Historiographie gesagt - , wenn sie „nützlich (χρήσιμοι)" sind163. Sokrates hält sich an dieses Prinzip, denn wenn seine Kirchengeschichte auch keine Exkurse der klassischen Art enthält, so doch nicht wenige Abschnitte, die inhaltlich und chronologisch aus dem Rahmen der Erzählung herausfallen. Es folgt eine tabellarische Zusammenstellung dieser Exkurse. Dabei ist zunächst als einziges Kriterium dafür, was als Exkurs zu gelten hat, die bewußte Abweichung von der Chronologie zugrunde gelegt; es sind also alle längeren Passagen zusammengestellt, von denen anzunehmen ist oder ausdrücklich gesagt wird, daß sie nicht in der üblichen chronologischen Abfolge stehen sollen 164 . Es wird sich zeigen, daß genau diese Abschnitte sich auch durch weitere inhaltliche und formale Kriterien vom Kontext abheben. Zur Orientierung ist jeweils ein Maß für die Länge beigegeben. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12)

1,22 2,21 3,7,16-24 3,16 3,23 4,23 4,27 4,28,1-15 5,22 6,13 7,36 7,37,1-18 Gesamt

Manichäismus Verteidigung des Euseb Begriffe Ousia und Hypostasis Klassische Bildung Widerlegung des Libanios Mönchtum Gregorios Thaumatourgos Entstehung des Novatianismus Liturgische Fragen Verteidigung des Orígenes Bischofstranslationen Silvanos von Troas

63 91 23 78 172 215 22 41 235 29 47 43 1059

Zeilen Z. Z. Z. Z. Z. Z. Z. Z. Z. Z. Z. Z. = 9,5%

ορίων καί δένδρων καί άλλων τινών εύχελων, δΓ ών καί χαύνην χήν ττραγμαχείαν είργάσ α τ ο . διό καί, ώς νομίζω, άχρεΤον αύχήν καί ίδιώχαις καί εύτταιδεύχοις ττεττοίηκεν." 7,27,4 f·, vgl. auch 6,pr,4 f. 161 Z u dieser Kategorie in der klassischen Geschichtsschreibung vgl. die theoretischen Ausführungen von Lukian, his t. conscr. 57 (über Exkurse): „... xoG χρησίμου καί σαφούς ένεκα" (ι6ο,5) und §9 (im allgemeinen): ,,'εν γ α ρ έργον ίσχορίας καί χελος, x ò χρήσιμον" (106,4), speziell zu Ammianus Marcellinus vgl. EMMETT, Introductions [3.3.] 18 f.; auch für Euseb war dieser Begriff sehr wichtig, vgl. GRANT, Eusebius [3.2.] 23. 164 Explizit auf die Durchbrechung der Chronologie hingewiesen wird an folgenden Stellen: 1,22,1.15 (1); 4,23,80 (6); 4,27,1 (7), in Klammern jeweils die Numerierung der Exkurse in der Tabelle gleich im Anschluß; diese Numerierung wird auch im folgenden verwendet. Nicht aufgenommen sind die beiden biographischen Rückblenden über Julian (3,1) und Johannes Chrysostomos (6,3), die zwar chronologisch hinter die zuvor beschriebenen Ereignisse zurückgreifen, aber organisch zum weiteren Bericht überleiten. Selbstverständlich sind auch solche Abschnitte nicht aufgenommen, in denen die Chronologie irrtümlich durchbrochen ist.

3.2. Komposition und Aufbau

181

Was an dieser Zusammenstellung zunächst auffallt, ist der erstaunlich hohe Gesamtumfang der Exkurse. Trotz der oben konstatierten nüchternen Einstellung widmet Sokrates etwa ein Zehntel seines gesamten Werkes der Auseinandersetzung mit Fragen, die aus dem chronologischen Grundgerüst herausfallen. Mit diesem Wert bleibt er allerdings noch deutlich hinter profanen Historiographen seiner Zeit zurück, etwa Ammianus Marcellinus, für den eine Vergleichszahl vorliegt: In dessen Werk entfallen ca. 17% des Umfangs auf Exkurse 165 . Doch erstaunlich hoch ist der Anteil nicht im Vergleich zu Ammianus Marcellinus, den Sokrates nicht kannte, sondern zu Euseb, den er kannte und in dessen Nachfolge er sich bewußt stellte. Kirchengeschichte, wie sie von Euseb geprägt war, umfaßte keine Exkurse oder Abschweifungen, sondern orientierte sich streng an der historischen Darstellung 166 . Betrachtet man die aufgeführten Abschnitte in formaler Hinsicht, so ergibt sich, daß sie durch typische und stereotyp wiederkehrende Anfangs- und Schlußformulierungen abgegrenzt werden. Als Beispiel für die Einleitung eines Exkurses sei der Beginn des Mönchskapitels (6) angeführt: ,,οΰδεν κωλύει ττερί α υ τ ώ ν βραχέα διεξελθείν" (4,23,1). Häufig sind auch Formulierungen in der ersten Person, etwa (9): „ " Ο δε ήμΤν ύττοτπτΓτει ττερί τ ο υ Π ά σ χ α , ουκ ακαιρον, ώς η γ ο ύ μ α ι , δια βραχέων εϊττεΐν."167 A m Ende eines solchen Abschnitts wird zum einen bemerkt, daß hier der Exkurs zu Ende geht, und zum anderen, daß nun der Faden der Geschichtsdarstellung wieder aufgenommen wird (oder zumindest erfolgt eine von beiden Bemerkungen). Recht ausführlich etwa am Ende des wichtigen und langen Exkurses zu liturgischen Fragen (9): „ ' Α λ λ ά ττερί μεν τ ο ύ τ ω ν έξαρκείν ηγούμαι·

165 CICHOCKA, Konzeption [3.3 ] 338, wobei die Exkurse bei Ammianus sicherlich außergewöhnlich zahlreich und lang sind. 1 6 6 Natürlich fehlt es auch bei Euseb nicht an Berichten, die weit ausholen oder langatmig wirken. D o c h dieser Eindruck entsteht eher aufgrund von langen Zitaten und Dokumenten als aufgrund von persönlichen Räsonnements des Verfassers. Auch wo die historische Erzählung selbst einmal sehr breit wird (etwa bei der Biographie des Orígenes in Buch 6 oder beim Bericht über die Märtyrer in 8,4-13), kann kein Zweifel bestehen, daß der Faden der Darstellung im Prinzip nicht unterbrochen ist. Eine gewisse Sonderstellung hat die lange Kirchweihrede zu Tyros (10,4), die jedoch nicht als historiographischer Exkurs anzusprechen ist, sondern der Gattung nach als ekphrasis. Sie gehört gewissermaßen als Selbstzitat in die Reihe der Urkunden und Dokumente in der Kirchengeschichte. Im Fehlen von Exkursen liegt ein grundsätzlicher Unterschied zur Profanhistoriographie, auf den in der Sekundärliteratur bis jetzt noch nicht genügend hingewiesen worden ist. Eduard SCHWARTZ, der solche Unterschiede besonders deutlich herausgearbeitet hat, war an dieser Stelle befangen, weil er gerade die Disparatheit des in der Kirchengeschichte gebotenen Materials zu erweisen suchte (vgl. Kirchengeschichte [3.2.] 117 ff.). 167

5,22,1. D i e E i n g a n g s f o r m u l i e r u n g e n d e r a n d e r e n E x k u r s e : 1,22,3 (1); 2,21,1 (2); 3,7,16 (3);

3,16,9 (4); 3,22,13 (5); 6,13,1 (10); 7,36,1 (11); 7,36,23 (12). K e i n e d e r a r t i g e n A n f ä n g e finden sich b e i N r .

(7) und (8). In fast allen Fällen begegnet das Motiv der Kürze („βραχέα"); außerdem ist die Wendung ,,ούκ ακαιρον η γ ο ύ μ α ι " sehr häufig. Die erste Person wird (inkonsistent) sowohl im Singular als auch im Plural verwendet. Sokrates' Formulierungen sind verhältnismäßig stereotyp etwa im Vergleich zu A m m i a n u s Marcellinus, der eine größere Variabilität aufweist; die dabei vorkommenden Motive sind jedoch ähnlich - und auch überhaupt in der antiken Historiographie g e l ä u f i g , v g l . EMMETT, Introductions

[3.3.] 16-21.

182

3. Die historiographische Methode

έτταναδράμωμεν δε εις τ ο ττροκείμενον, ου μικρόν εμττροσθεν ττεττοιήμεθα μνήμην" (5,22,81). Hier ist auch der Ort, um darauf hinzuweisen, daß der Exkurs „nützlich" war und daher im Rahmen der Gesamtdarstellung gerechtfertigt, etwa (12): ,,τά μεν οδν ττερί ΣιλβανοΟ εί καί έν τταρεκβάσει εϊρηται, άλλ' οΰκ άχρείως ηγούμαι μνήμην α ύ τ ώ ν γεγονέναι. έττανέλθωμεν δε οθεν έξεβημεν." 168 Das hier verwendete Wort τταρεκβασις kommt in diesen Zusammenhängen öfter vor und ist für Sokrates ein terminus technicus für „Exkurse" 169 . Schon diese deutliche formale Abgrenzung der Exkurse betont ihre kompositorische Bedeutung. Wie steht es nun in inhaltlicher Hinsicht? Es lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Arten unterscheiden, nämlich erstens Darstellungen historischen Inhalts, die lediglich aus dem chronologischen Rahmen herausfallen, und zweitens argumentative Stücke, die eine bestimmte theologische These verteidigen und belegen. Zur ersten Gruppe gehören die Darlegungen über den Manichäismus (1), wichtige Mönche (6), den Theologen Gregorios Thaumatourgos (7), die Entstehung des Novatianismus (8) und den Bischof Silvanos von Troas (12). Die zweite, interessantere Gruppe verteidigt folgende Thesen: daß Euseb (2) und Orígenes (10) rechtgläubig waren, daß es bedenklich ist, den Terminus οΰσία auf die Gottheit anzuwenden (3), daß klassische Bildung für Christen gut und nützlich ist (4), daß Libanios' Vorwürfe gegen das Christentum ungerechtfertigt sind (5), daß der Ostertermin ein Adiaphoron ist (9) und daß der Übergang eines Bischofs auf einen anderen Thronos rechtens ist (11). Man sieht, daß es sich in keinem dieser Fälle um einen absichtslosen Exkurs handelt, der nur der Unterhaltung und Bildung der Leser dient. In allen Fällen steht eine konkrete Gegenposition im Hintergrund, die meist auch benannt wird. Das beschriebene Einleitungsschema wird dann derart erweitert, daß die Gegenposition mit έττειδή vorangestellt wird, also etwa: „Da es einige unternommen haben, auch ihm, nämlich Euseb, [dem Schüler] des Pamphilos, vorzuwerfen, er zeige in seinen Veröffentlichungen eine arianisierende Ten-

168 7,37,18. Die Schlußformulierungen der anderen Exkurse: 1,22,15 (1); 2,21,24 (2); 3,7,24 (3); 3,17,1 (4); 3,23,61 (5); 4,23,80 (6); 4,28,1 (7); 6,13,12 (10); 7,36,22 (n), kein derartiger Schluß bei Nr. (8). Auch hierbei unterscheidet sich Sokrates nicht wesentlich von Ammianus Marcellinus und anderen profanen Geschichtsschreibern, vgl. EMMETT, Introductions [3.3.] 21-25. Auffällig ist insgesamt, daß Sokrates bei der Kenntlichmachung der Exkurse sehr gewissenhaft ist. Lediglich die Ausführungen über die Entstehungsgeschichte des Novatianismus (8) haben weder Eingangs- noch Schlußbemerkung - sicherlich ein Indiz dafür, daß Sokrates den Exkurs eigentlich als integralen Bestandteil der Geschichtsdarstellung versteht und zum Verständnis der Ereignisse um die Synode von Pazos für unverzichtbar hält. Mit Recht weist EMMETT 28-32 darauf hin, daß die Kennzeichnung der Exkurse nicht etwa Zeichen schlechten Stiles ist (gegen CANTER, Excursus [3.3.] 245 f.). 169 Die weiteren Belege: 2,21,24; 3,7,24; 3,23,48.61. Terminologisch erweist er sich damit ebenfalls als der profanen Tradition verbunden; das Wort wird auch von Geschichtsschreibern wie Polybios, Diodoros von Agyrion und Dionysios von Halikarnassos in diesem Sinne verwendet, vgl. die Belege bei CANTER, Excursus [3.3.] 245 und LIDDEIA/SCOTT [2.] s. v. II. Hingegen wird das Wort von den Kirchenhistorikern Euseb, Sozomenos und Theodoret nicht gebraucht.

3.2. Komposition und Aufbau

183

denz, halte ich es nicht für unangebracht, kurz über ihn zu sprechen." 170 Der Exkurs hat dann die Aufgabe, die skizzierte Position zu entkräften. Dabei strukturiert Sokrates klar und verfallt nicht in weitläufiges Geplauder 171 . Die Argumentationstechnik, deren er sich dabei bedient, ist meist eine Art Zitat-Patchwork von anerkannten Autoritäten. Insofern ist er einer der ersten Vertreter einer theologischen Argumentationsweise, die in der ersten Hälfte des fünften Jahrhundert entstand und in den Auseinandersetzungen nach Chalkedon zu weiter Verbreitung in der ausufernden Florilegienliteratur gelangen sollte. Es liegt auf der Hand, daß sich in der Berufung auf allgemein anerkannte Größen auch ein bestimmtes Geschichtsverständnis spiegelt - eine Hochschätzung der „Alten", die noch ausführlicher zu besprechen ist (s. S. 272 ff). Hinsichtlich der Komposition des Gesamtwerkes ist festzuhalten, daß die Exkurse keineswegs willkürliche Abschweifungen sind, sondern bewußt eingeschaltete Ergänzungen, die eine wohldefinierte Aussageabsicht verfolgen. Das gilt auf jeden Fall für die zweite, inhaltlich gewichtigere Gruppe. Deren Stellung ist stets deutlich durch bestimmte aktuelle Diskussionen motiviert, nämlich die arianischen (2) oder origenistischen (10) Streitigkeiten, die kontroverse Bewertung von Julians Schulgesetz (4), die antichristliche Polemik des Libanios (5), der Osterstreit bei den Novatianern (9) und die Wahl des Proklos zum Bischof von Konstantinopel (11). Bei der ersten genannten Gruppe, den historischen Exkursen, ist die Anknüpfung und kompositorische Funktion gelegentlich etwas weniger klar nachvollziehbar. Relativ deutlich ist der Sinn der Ausführungen über die Entstehung und Verbreitung des Novatianismus (8), die den Verständnishintergrund für den Bericht über die Synode von Pazos liefern sollen. Daß der (in jedem Falle unverzichtbare) Exkurs über die ruhmvollen und bewunderungswürdigen Taten der Wüstenväter (6) gerade im Zusammenhang der Christenverfolgungen unter Valens steht, ist gleichfalls verständlich. In zwei Fällen hat man den Eindruck, daß nur eine ganz oberflächliche Art von Stichwortverknüpfung den Exkurs rechtfertigt, nämlich bei Gregorios Thaumatourgos (7) wegen des zuvor genannten Gregor von Nazianz (Namensgleichheit!) und bei Silvanos von Troas (12), der einfach am Schluß der Liste von Bischofstranslationen (11) vorkommt. Im letzteren Falle müßte man allerdings kaum von einem Exkurs sprechen, wenn Sokrates ihn formal nicht als solchen gekennzeichnet hätte, denn das Erzählstück hebt sich chronologisch und inhaltlich nur wenig vom Kontext in Buch 7 ab 172 . Unklar bleibt, was die Ausfüh1 7 0 „'Επειδή δέ τίνες επεχείρησαν καί αύτον λοιδορησαι, φημί δή τ ο ν Π α μ φ ί λ ο υ Εύσεβιον, ώς άρειανί^οντα έν οΤς λόγοις έξέδωκεν, μικρά και ττερί αυτού είττείν ούκ ακαιρον ηγούμαι. " 2,2ΐ,ι (2), ebenso 3,22,13 (5); 6,13,1 (10); 7,36.1 (11), ähnlich auch 3,16,8 (4). Diese Art der Einführung von Exkursen ist in der profanhistoriographischen Tradition nicht geläufig (vgl. CANTER, Excursus [3.3.] 245; Emmett, Introductions [3.3.] 19-21) - und kann es auch nicht sein, denn dort haben Exkurse nicht die Funktion der argumentativen Auseinandersetzung mit einer Gegenposition. 1 7 1 Die Exkurse (2), (4), (5), (9) und (10) werden an anderer Stelle genauer untersucht, s. S. 225, 89 ff., 91 f., 249 f. und 229. 1 7 2 Die Geschichte spielt unter dem Episkopat des Attikos von Konstantinopel (406-425), das weiter vorne im siebten Buch (bis 7,25) behandelt worden war. Inhaltlich fällt das Kapitel mit

184

3. Die historiographische Methode

rangen über den Manichäismus (1) erstens überhaupt und zweitens an dieser Stelle hervorruft 1 7 3 . Das Thema wird auch später nicht wieder aufgenommen. Blickt man auf das Gesamtbild der Verteilung der Exkurse, so ergibt sich ein bis z u m gewissen Grad vermutlich beabsichtigter Eindruck von Ausgewogenheit. Auch wenn von einem zwanghaft durchgehaltenen System sicherlich keine Rede sein kann, wird es dem Verfasser der Kirchengeschichte doch zupaß gekommen sein, daß in jedem Buch mindestens ein Exkurs zu stehen kam. Aus sachlichen und formalen Gründen traf es sich auch gut, daß im dritten Buch besonders viele und lange Abschweifungen stehen, geht es doch dort u m die Regierungszeit Julians, die in ihrer zeitlichen Ausdehnung besonders kurz war, dafür aber besonders reich an kontroversem Diskussionsstoff 174 . Sokrates' Art der Exkursverwendung läßt sich als eine selbständige und fruchtbare Kombination der von Euseb vorgegebenen Tradition der Kirchengeschichtsschreibung und profanhistoriographischen Traditionen begreifen. Es wurde bereits gesagt, daß Sokrates schon allein quantitativ in der Mitte zwischen diesen beiden Polen steht. Doch bietet er nicht einfach einen geistlosen Kompromiß, sondern eine produktive Zusammenarbeitung. Aus der profanhistoriographischen Tradition übernahm er den Grundsatz, daß überhaupt Exkurse eingebaut werden u n d daß sie so angeordnet und in die historische Darstellung eingewoben werden, daß sie das Lesen erleichtern und auflockern und dabei gleichzeitig „nützlich" sind. Von Euseb übernahm er die Devise, vom Thema nicht zu weit abzuschweifen und vor allem niemals zweckfreies Bildungs- und Unterhaltungsgeplauder zu betreiben, sondern stets auf eine theologisch-inhaltliche Aussageabsicht zu achten. Daraus ergibt sich, daß der Charakter der Exkurse bei Sokrates grundsätzlich anders ist als in der profanen Geschichtsschreibung. Daß gerade in diesem Punkt seine Verfahrensweise alles andere als selbstverständlich war, zeigt das Beispiel der anderen Kirchenhistoriker, die sich in diesem Punkt sehr unterschiedlich verhalten. Während Rufin in seiner Euseb-Fortsetzung im großen und ganzen der Richtlinie des Meisters folgte und sich lediglich für die ekphrasis über das Sarapeion eine Abschweifung gestattete 175 , verfiel Philostorgios in das entgegengesetzte Extrem. Soweit aus den erhaltenen Fragmenten erkennbar, hatte er großen Gefallen an ausladenden ethnographischen und geographischen Exkursen, die inhaltlich nicht deutlich an die eigentliche Geschichtsdarstellung gebunden waren 1 7 6 . Daß das verlorene Werk des Philipp von Side in dieser Hinsicht womöglich noch mehr bot, erhellt aus der oben

seinem anekdotenhaften Charakter ohnehin nicht aus dem Rahmen. Dennoch gibt Sokrates durch die R a h m u n g (7,36,23; 7,37,18) und die explizite Bezeichnung als τταρέκβασις (7,37,I8) eindeutig zu erkennen, daß er das Kapitel als Exkurs verstanden wissen möchte. 173 Die Informationen s t a m m e n aus den Acta Archelai des Hegemonios. Merkwürdig ist außerdem, daß der Exkurs mit ziemlich deutlicher Kritik an der ungenügenden Darstellung bei Eus. 7,31 motiviert wird (1,22,2 f.), s. unten S. 224 f. 174 Nicht zuletzt durch diesen Kunstgriff erreicht Sokrates, daß das dritte Buch auf etwa den gleichen U m f a n g k o m m t wie die anderen Bücher, s. oben S. 147. 175

R u f . 1 1 , 2 3 , v g l . d a z u THELAMON, Païens

176

Vgl. BIDEZ, Philostorgius [1.2.] cix-cxi mit Stellenangaben.

[3.2.] 1 6 5 - 1 7 7 .

3.3. Umgang mit den Quellen

185

angeführten Charakterisierung durch Sokrates (7,27,4, s. S. 179). Sozomenos ist vergleichsweise maßvoll, doch auch er ist stärker als Sokrates der profanhistoriographischen Tradition verpflichtet. Sein ethnographisches Interesse ist ausgeprägter; allerdings gerät auch bei ihm der kirchliche Kontext nie ganz aus dem Blick 177 . Besonders interessant sind die Exkurse, die er von Sokrates übernimmt, dabei aber ihrer theologischen Aussageabsicht beraubt, so daß der straffe Aufbau verloren geht 178 . Auch hat Sozomenos - anders als sein Vorgänger - Interesse am genus der stilistisch ausgefeilten ekphrasis179. Theodoret hingegen erweist sich auch in dieser Hinsicht als der treueste Schüler Eusebs: Seine Kirchengeschichte bringt gar keine Exkurse im engeren Sinne; sie ist ganz der theologisch aufbereiteten Geschichtsdarstellung verpflichtet 180 .

3.3. Umgang mit den Quellen Die Frage, wo Sokrates sich auf welche Quellen stützt, kann im großen und ganzen als von der älteren Forschung geklärt gelten - zumindest soweit das der Erhaltungszustand des Materials zuläßt 181 . Damit mag für die Beurteilung des inhaltlichen Gehaltes einzelner Berichte das Wesentliche geleistet sein, für die Bewertung der historischen Methode des Sokrates ist dadurch jedoch nur eine zwar notwendige, aber keineswegs hinreichende Voraussetzung geschaffen. In dieser Perspektive macht die Einsicht, daß ein bestimmter Bericht auf einer bekannten und erhaltenen Quelle fußt, diesen Text keineswegs wertlos, sondern führt zu wichtigen weiteren Fragen: Wie verändert Sokrates bei seiner Übernahme die sprachliche Gestalt, die inhaltliche Aussage und die kompositorische Funktion des Stückes? Welche Tendenzen in seiner eigenen Darstellung kommen dabei zum Ausdruck? Bei Quellen, die er über längere Strecken ausschreibt, ist es auch sinnvoll zu fragen: Welche Stücke werden nicht übernommen? Aus welchem Grund? Warum entscheidet sich Sokrates bei konkurrierenden Parallelquellen für eine bestimmte Fassung? Wie geht er mit Urkunden um? Gibt er sie wörtlich (evtl. gekürzt) oder als Regest bzw. Paraphrase wieder? Die Antworten auf solche Fragen 1 7 7 Es ist vor allem auf die Berichte von der Mission fremder Völker zu verweisen, die im Vergleich zu Sokrates eine größere Rolle spielen und breiter ausgeführt werden: 2,6-15; 2,24; 6,37. In gewisser Weise gehören auch die ausführlichen Berichte über Mönche in verschiedenen Gegenden in diesen Zusammenhang: 3,14; 6,28-34. Vgl. auch Emmett Nobbs, Histories [3.2.] 8 f. 178 Besonders deutlich ist das im Falle des Exkurses zu liturgischen Fragen Soz. 7,18 f. nach Sok. 5,22 zu sehen, s. unten S. 249, Anm. 173. 1 7 9 Vgl. die ekphrasis des Heiligtums von Daphne 5,19,4-11. Hansen, Sozomenus [1.2.] x l v i i rechnet die Stelle zu den stilistisch „recht gequält anmutenden rhetorischen Höhepunkten". 1 8 0 Vgl. Emmett Nobbs, Histories [3.2.] 10. 181 Wichtige Hinweise hat schon Valois [1.1.] in seinem Kommentar gegeben; die grundlegenden Arbeiten sind die von Jeep, Quellenuntersuchungen [3.2.] 105-137 und Geppert, Quellen [3.1.], zusammengefaßt und in einzelnen Punkten vertieft und ergänzt von Hansen [1.1.] xliii-lv.

186

3. Die historiographische Methode

sind indirekt auch für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Bedeutung, weil sie helfen, Sokrates' Vorgehensweise dort einzuschätzen, w o Quellen nicht bekannt oder nicht erhalten sind. Es bietet sich an, diese Untersuchung bei derjenigen Quelle einzusetzen, der mengenmäßig am meisten entnommen ist, nämlich Rufin. Dessen Werk, auf das sich Sokrates mehrfach ausdrücklich beruft 182 , ist vollständig erhalten. In diesem Falle verursacht also der Mangel an erhaltenem Material kein Problem - in gewissem Sinne eher im Gegenteil die Tatsache, daß zusätzlich zu Rufin auch das weitgehend parallele Werk des Gelasios von Kaisareia in Fragmenten zu großen Teilen erhalten ist. Das Nebeneinander dieser beiden Werke und Sokrates' Verhältnis zu ihnen hat in der Forschung für Verwirrung gesorgt. Immerhin ist inzwischen so viel klar, daß die beiden einfachsten Hypothesen nicht zu halten sind: Weder hat Sokrates ausschließlich mit dem lateinischen Rufin gearbeitet, wie man nach seinen eigenen Aussagen annehmen müßte 183 , noch ausschließlich mit dessen griechischer Vorlage Gelasios, so daß man ihm bei der Berufung auf Rufin bewußte Irreführung vorwerfen muß 1 8 4 . Es lassen sich vielmehr eindeutige Beweise sowohl für die Benutzung des Rufin als auch des Gelasios finden185. Damit stellt sich jedoch erstens die Frage, wann der eine und wann der andere benutzt wird (und aus welchen Gründen), und zweitens, warum Rufin öfter als Quelle genannt wird, Gelasios hingegen nie. Der sicheren Beantwortung dieser Fragen steht der fragmentarische Erhaltungszustand des Gelasianischen Werkes entgegen. Dennoch sind einige wichtige Aussagen möglich. Zunächst ist deutlich, daß die Benutzung des Gelasios früher anfängt als die des Rufin: Sokrates verwendet ihn schon für die Begebenheiten vor Beginn des arianischen Streites, die bei Rufin noch gar nicht geschildert sind 186 . Zumindest an dieser Stelle muß es Sokrates also aufgefallen sein, daß Gelasios und Rufin keineswegs deckungsgleich waren. Im weiteren Fortgang, w o die beiden Werke in der Tat weitgehend parallel laufen, hat Sokrates mit beiden gearbeitet, möglicherweise mit einer gewissen Präferenz für Gelasios. Oft ist es allerdings schwer zu entscheiden, welches die Vorlage war; gelegentlich scheint Sokrates auch innerhalb ein und derselben Geschichte beide Quellen herangezogen zu haben 187 .

1,12,8; 1,15,1.4; 1,19,14; 1,20,20; 2,1,1 f.4; 3,19,8; 4,24,8; 4,26,25. Das war die Forschungsmeinung vor dem Bekanntwerden des Gelasios, vgl. GEPPERT, Quellen [3.1.] 19-23, an der jedoch zunächst auch A. GLAS, der „Entdecker" des Gelasios, festhielt (Kirchengeschichte [3.2.] 79-82), ihm folgend auch ELTESTER, Sokrates [3.1.] 897. 184 SCHEIDWEILER, Bedeutung [3.2.] 95 und WINKELMANN, Untersuchungen [3.2.] 25-27 nehmen an, daß Sokrates sich in seiner Erstfassung ausschließlich auf Gelasios gestützt habe und erst bei der Neubearbeitung die Verweise auf Rufin eingefügt und dessen lateinischen Text benutzt habe; s. dazu oben S. 170, A n m . 134. 183

183

185 Vgl. HANSEN [1.1.] XLIII-XLVIII; beide wurden zweifellos auch schon in der ersten Bearbeitung verwendet, s. oben S. 163 ff. 186

In 1,2-4 i s t G e l . K a i s , , f r g . 5-10 b e n u t z t , v g l . HANSEN [1.1.] XLVI ( m i t A n m . 3!).

Das ist wohl der Fall bei den Berichten von der Kreuzauffindung (1,17) und von der Bekehrung Georgiens (1,20), vgl. HANSEN [1.1.] im App. und XLV. 187

187

3.3. Umgang mit den Quellen

Rufin erhält jedoch dann eindeutig den Vorzug, wenn er den Anspruch erhebt, Informationen aus erster Hand zu bieten. In diesen Fällen weist Sokrates stets explizit darauf hin, daß seine Information von Rufin stammt und daß dieser einen Anspruch auf Augenzeugenschaft erhebt 188 . Ein solcher Hinweis steht auch dann, wenn sich Gelasios ebenfalls auf Augenzeugen beruft 189 . Bei solchen konkurrierenden Ansprüchen schenkte Sokrates also Rufin mehr Glauben als Gelasios, und das bedeutet: Er muß Rufin für das Original und Gelasios für eine Übersetzung gehalten haben. Damit dürfte auch die Frage, warum Gelasios nie genannt wird, im wesentlichen beantwortet sein. Ausdrücklich kommt diese Auffassung im Proömium zum zweiten Buch zum Ausdruck, wo die Rede ist von „Rufin, der die Kirchengeschichte auf lateinisch verfaßte" 190 . Falls man nicht annehmen will, daß Sokrates seine Leser hier bewußt und absichtlich (aber mit welcher Absicht?) irreführen will, kann er so nur formuliert haben, wenn er Rufin für den eigenständigen Autor des lateinischen Kirchengeschichtswerks hielt. Da er natürlich die Ähnlichkeit des Gelasios bemerkt hat, wird er diesen für eine (allerdings erweiternde) Übersetzung gehalten haben 191 . Diese Art der Quellenverwendung gewinnt auch dadurch an Plausibilität, daß sich ein weiterer ähnlich gelagerter Fall nachweisen läßt. Das Breviarium ab urbe condita des Eutrop wurde von Sokrates nicht nur in seiner lateinischen Originalgestalt, sondern auch in der griechischen Übersetzung des Paianios verwendet (allerdings in keiner der beiden Fassungen ausdrücklich zitiert) 192 . Es läßt sich also der Schluß ziehen, daß Sokrates zwar des Lateinischen mächtig war, aber daneben,

188

Das ist der Fall an folgenden Stellen:

1,12,8

(Ruf.

10,5 [963,21

f.]);

1,15,1.4

(Ruf.

10,15

[980,20 f.]); 1,19,14 ( R u f . 10,10 [973,21-23]); 1,20,20 ( R u f . 10,11 [976,18-22]); 3,19,8 ( R u f . 10,37 [996,27 f.]); 4,24,8

(Ruf. 11,4 [1005,2-4]); 4,26,25 (Ruf. 11,9 [1017,9-12]). Damit weist Sokrates an sieben der insgesamt zehn Stellen, an denen sich Rufin auf Information aus erster Hand beruft, ausdrücklich auf diesen hin (diese Stellen sind vollständig aufgeführt bei WINKELMANN, Untersuchungen [3.2.] 73-75). Bei den übrigen drei handelt es sich u m Anfang und Ende von Ruf. 10,8, einem Kapitel über die Wüstenväter, das Sokrates insgesamt nicht übernimmt, sowie u m eine Bemerkung zu Didymos dem Blinden (Ruf. 11,7 [1013,10-14]), über den Sokrates nur in lockerem Anschluß an Rufin bericht e t (4,25).

Gelasios bot an den ersten vier der in der vorigen Anm. genannten Stellen einen Parallelbericht (frg. 12, 27, 21), doch enthält der für uns faßbare griechische Text nur bei der dritten und vierten Stelle eine Berufung auf Augenzeugen (Bekehrung der Äthiopier und Georgier: 1,19.20; Gel. Kais.,yrg. 21 [Gel. Kyz. 3,9,17; 3,10,21]). 1.0 ,,'ΡουφΪνος ό TT) 'Ρωμαίων γ λ ώ χ χ η χ ή ν έκκλησιασχικήν ίσχορίαν σ υ ν χ ά ξ α ς . . . ' , 2,ι,ι; fast wortgleich auch 3,19.8; vgl. ferner 1,15,4: ,,'ΡουφΤνος ... έν χοΤς σ υ ν χ ά γ μ α σ ι ν έαυχοΰ". 1.1 NAUTIN, Continuation [3.2.] hat zu zeigen versucht, daß „sich die Kirchengeschichte des Gelasios als eine Art Eusebius continuatus darstellte" (HANSEN [1.1.] XLVI). Auch wenn dieser Versuch gelungen wäre (s. jedoch oben S. 136, Anm. 7), wäre Sokrates' Schweigen über Gelasios nicht erklärt (anders HANSEN XLVI): Rufin war in jedem Falle nichts anderes als ein Eusebius continuatus und wird dennoch von Sokrates als eigenständige Autorität angeführt (und kritisiert). 192 Das hat PÉRICHON, Eutrope [3.1.] nachgewiesen, vgl. auch HANSEN [1.1.] LI.

188

3. Die historiographische Methode

wo es ohne Schwierigkeiten möglich war, auch gerne einen Text in seiner griechischen Muttersprache heranzog 193 . Wichtiger als die Sprachenfrage ist die Art und Weise, in der Sokrates das von Rufin bzw. Gelasios übernommene Material verarbeitet. Auch wenn er gelegentlich längere Passagen oder einzelne Formulierungen direkt übernimmt, geht er insgesamt recht frei und selbständig mit seiner Vorlage um. Ein interessantes Beispiel ist die Geschichte von den Kinderspielen des Athanasios, in denen sich die Berufung zum bischöflichen Amt ankündigt 194 . Auffalligerweise steht hier zweimal der Verweis auf die Quelle Rufin, sowohl am Anfang als auch am Ende des Berichtes. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Sokrates dadurch nicht nur historische Gewissenhaftigkeit zeigen und die Autorität des Berichtes unterstreichen, sondern bis zum gewissen Grad auch die Verantwortung für den Inhalt abwälzen will. „In seinen Schriften hat Rufin dies über Athanasios berichtet. Daß so etwas geschieht, ist nicht unwahrscheinlich; denn derartige Begebenheiten findet man öfter." 195 Mit dieser Bemerkung will Sokrates sich eher selbst Mut zusprechen als seine Leser überzeugen. Dabei ist die Geschichte in seiner Wiedergabe ohnehin schon viel knapper und nüchterner als bei Rufin. Es fehlt nicht nur die breit ausgeführte Szenerie am Strand, sondern vor allem die eigentliche Pointe, nämlich die von Athanasios spielerisch vollzogene Taufe, deren Gültigkeit von Bischof Alexander sofort anerkannt wird. Ein gewisses Mißtrauen scheint Sokrates Rufin auch schon bei der ersten Bearbeitung entgegengebracht zu haben. Diese Tendenz bestätigt sich auch an anderen Stellen. Gerade bei Wundergeschichten verzichtet Sokrates oft auf schmückendes Beiwerk seiner Vorlage; das mirakulöse Ereignis selbst wird meist nicht aufgebauscht, sondern eher etwas nüchterner referiert 196 . Dialogische Partien werden knapp zusammengefaßt und höchstens als indirekte Rede 193 Man sollte ihm deshalb aber nicht unbedingt schlechte Lateinkenntnisse vorwerfen (obgleich sich die Verwendung des lateinischen Textes gerade an den Mißverständnissen zeigen läßt). Auch wenn er die Fremdsprache einigermaßen sicher beherrschte, ist es normal, daß ihm die Lektüre in der Muttersprache leichter fiel. Für ein sicheres Urteil über seine Sprachkenntnisse reicht das vorhandene Material nicht aus. 194 1,15 nach Ruf. 10,15, vgl. dazu Hansen [1.1.] xliii f. 195 „ τ α ύ τ α μεν ό ΡουφΓνος ττερί Αθανασίου έν τοις σ υ ν τ ά γ μ α σ ι ν εαυτού εϊρηκεν ούκ άττεικός δε γενέσθαι· καί γ α ρ ττολλά τ ο ι α ύ τ α γενόμενα πολλάκις έφεύρηται." ι,ΐ5,4· 196 Einige Beispiele: Die Bekehrungsgeschichte auf dem Konzil von Nikaia (Sok. 1,8,14-16) endet bei Rufin zusätzlich mit der Taufe (10,3 [963,1-9]). Die Wunder des Paphnutios führt Rufin bzw. Gelasios breit aus (Ruf. 10,4 [963,12-16]; Gel. Kais., firg, 12 [Gel. Kyz. 2,9,2; vit. Metr. 14,3-7]), Sokrates erwähnt sie nur summarisch (1,11,1). Der Georgierkönig legt vor seiner Bekehrung ein regelrechtes Gelübde ab (Ruf. 10,11 [975,8-12]), das bei Sokrates (1,20,11) fehlt. Der Jüngling, der dem Bekenner Theodoras in seinen qualvollen Torturen beisteht, wischt bei Rufin den Schweiß mit einem ganz weißen Tuch ab und kühlt mit Wasser (10,37 [997,3-6]) - Details, die bei Sokrates (3,19,9) fehlen. Bei dem fehlgeschlagenen Versuch der Juden, den Jerusalemer Tempel wieder aufzubauen, fordert das Erdbeben bei Sokrates (3,20,8) im Gegensatz zu Rufin (10,39 [998,7 f· ]) keine Opfer. Die wundersame Bekehrungsgeschichte auf der einsamen Insel ist bei Rufin nicht nur dramatischer (der Tempel wird ganz abgerissen, Ruf. 11,4 [1008,6-9], bei Sok. 4,24,17 nur umgebaut zur Kirche), sondern auch erfolgreicher (die Mönche werden aus dem Exil zurückgeholt, Ruf. 11,4 [1008,11-14], nicht bei Sok.).

3.3. Umgang mit den Quellen

189

wiedergegeben 1 9 7 . Einzelne Zusätze in der genauen Formulierung zeugen nicht von einer generellen Neigung zur steigernden Übertreibung, sondern sind eher auf Mißverständnisse oder unsorgfáltige Lektüre des Originals zurückzuführen 1 9 8 . Trotz der Kürzungen und Änderungen geht die Skepsis nicht so weit, daß Sokrates das von Rufin gebotene Material über größere Strecken ganz beiseite ließe. Im Gegenteil ist fast das gesamte Werk des Rufin in irgendeiner Weise bei Sokrates verarbeitet, wenn sich auch in den hinteren Büchern die Tendenz zeigt, seine Berichte durch zusätzliche Informationen aus anderen Quellen anzureichern oder zu ersetzen. A u f diese Weise bestätigt sich die Aussage des Sokrates: „ W i r sind zunächst ganz Rufin gefolgt und haben das erste und zweite Buch der Geschichte im Anschluß an ihn geschrieben; vom dritten bis zum siebten Buch haben wir einiges aus Rufin genommen und einiges aus verschiedenen anderen [Quellen] zusammengestellt." 1 9 9 Gerade wegen der beinahe vollständigen Einarbeitung des Rufin lassen sich auch aus der Nicht-Übernahme durch Sokrates interessante Schlüsse ziehen. Der wichtigste derartige Abschnitt betrifft die Geschicke des Athanasios und somit wiederum einen Punkt, den Sokrates explizit an Rufin kritisiert (2,1,1). Für dieses T h e m a zieht er die Selbstdarstellung des Athanasios vor, ohne allerdings auf Rufin gänzlich verzichten zu wollen 200 . Eine relativ kurze Passage betrifft die persönliche Frömmigkeit Konstantins. Daß Sokrates sie nicht übernimmt, hängt

197 Diese Eigenart ist sehr auffallig: Selten beläßt Sokrates direkte Rede aus seiner Vorlage. Um nur einige Beispiele zu nennen: Bei der Bekehrung des Philosophen auf dem Konzil von Nikaia sprechen bei Rufin beide Parteien (10,3 [962,18-963,8]), bei Sokrates nur der Bekenner in indirekter Rede (1,8,14-16). Die Rede Konstantins bei der Verbrennung der Anklageschriften (Ruf. 10,2 [961,10-19]) referiert Sokrates nur knapp (1,8,18 f.). Das Gebet des Bischofs Makarios bei der Kreuzauffindung (Ruf. 10,7 f. [970,4-14]) fehlt bei Sokrates (1,17,6). Athanasios fragt nach der Eignung des Frumentios für das Bischofsamt - nur bei Rufin (10,10 [973,14 f.], anders Sok. 1,19,12). Die Georgierkönigin lehnt bei Rufin Geschenke für die Sklavin in direkter Rede ab (10,11 [974,28975,2], vgl. Gel. Kais., frg. 21 [Gel. Kyz. 3,10,8]), bei Sokrates die Sklavin selbst in indirekter Rede (1,20,9). Die kämpferische Parole des Athanasios bei seiner Flucht unter Julian (Ruf. 10,35 [995.1820]; Gel. Kais.,^rg. 40 [vit. Ath. 243c) fehlt bei Sokrates (3,14,3), ebenso der provozierende Psalmengesang der Christen bei der Babylasprozession (Ruf. 10,36 [996,10 f.]; Sok. 3,18,3). Die pathetische Rede des Statthalters von Edessa vor dem Kaiser (Ruf. 11,5 [1010,5-7]) gibt Sokrates sachlicher und in indirekter Rede wieder (4,18,9). Die von Dämonen besessene Tochter des heidnischen Priesters redet bei Sokrates (4,24,15) viel kürzer als bei Rufin (11,4 [1008,1-4]). 198 Beispiele gibt Hansen [1.1.] xliv f.; sie genügen jedoch m. E. nicht für das allgemeine Urteil: „Häufiger als Streichungen sind Zusätze, die Sokrates in seine Bearbeitung Rufins einfügt." Die Mahnung des Spyridon an die Viehräuber gibt Sokrates in etwas anderer Gestalt wieder (,,έκ δικαίων ττόνων..., μή μην έξ αδικίας", 1,12,4, statt „melius prece quam furto", Ruf. 10,5 [964,4]), doch ist das kein steigernder Zusatz, sondern lediglich eine ungeschickte Übersetzung. Schon eher ist das der Fall, wenn Spyridon wunderbarerweise nicht die Stimme seiner toten Tochter hört, sondern sie ihm statt dessen erscheint (Ruf. 10,5 [964,12-14]; Sok. 1,12,7), doch ist hier daran zu erinnern, daß Sokrates insgesamt dazu neigt, direkte Rede zu vermeiden (s. vorige Anm.). " * „ημείς ouv ττρότερον Ρουφίνω άκολουθήσαντες τ ο πρώτον καί τ ο δεύτερον της ιστορίας βιβλίον η έκείνω έδόκει συνεγράψαμεν, curò δέ του τρίτου αχρ\ του έβδομου βιβλίου τ α μέν τταρά Ρουφίνου λαβόντες, τ α δέ έκ διαφόρων συναγαγόντες..." 2,1,2. 2 0 0 Ruf. 10,18 f., s. dazu unten bei Anm. 209.

190

3. Die historiographische Methode

mit seiner auch sonst zu Kaisers etwas realistischer kurzes Kapitel über das Sokrates durch eine etwas anderen Quellen 202 .

beobachtenden Tendenz zusammen, das Bild dieses und nüchterner zu zeichnen als Rufin 201 . Ein ebenfalls Mönchtum in Ägypten und Mesopotamien ersetzt ausführlichere Sammlung von Mönchsgeschichten aus

In der zweiten Hälfte von Rufins zweitem Buch (ab ca. 11,16) wird die Auswertung durch Sokrates insgesamt dünner; für die Nicht-Übernahme müssen daher nicht mehr in jedem Einzelfall besondere Gründe gesucht werden. Dennoch sind solche deutlich erkennbar etwa bei dem sehr langen Bericht über die Auseinandersetzungen der alexandrinischen Christen mit den Heiden. Hier verfügte Sokrates durch die grammatikoi Helladios und Ammonios über Gewährsmänner, die selbst beteiligt und Augenzeugen der Ereignisse waren. Trotz deren eindeutig paganem Standpunkt zog er ihren Bericht dem des Rufin vor (den er aber natürlich gekannt haben muß) 203 . Ein besonders interessanter Fall ist die Geschichte von der Kirchenbuße des Kaisers Theodosios I., die nicht nur bei Rufin, sondern in der gesamten Kirchengeschichtsschreibung einen tiefen Eindruck hinterlassen hat 204 . Sokrates' Schweigen darüber ist sehr auffällig; ein Grund dafür mögen inhaltlich-theologische Bedenken gegenüber dieser Bußpraxis gewesen sein (s. S. 255). Weitaus weniger vollständig, aber immer noch genug, um interessante Rückschlüsse zu erlauben, wertet Sokrates die Vita Constantini des Euseb aus. Auch dieser Quelle stand er nicht vorbehaltlos gegenüber; von der kritischen Bemerkung ganz zu Beginn der Kirchengeschichte (1,1,2) war schon ausführlich die Rede (S. 137 ff.). Es zeigt sich, daß Sokrates im praktischen Umgang mit dieser Quelle genau den beiden dort geäußerten Punkten Rechnung trägt: Euseb habe sich zu wenig mit dem arianischen Streit und zu viel mit der Person des Kaisers beschäftigt. Entsprechend werden die Informationen zum Beginn des arianischen Streites (einschließlich des nizänischen Konzils) besonders gründlich ausgewertet 205 . Nur in stark geraffter Form werden die religionspolitischen Aktivitäten Konstantins (Zurückdrängung des Heidentums, Kirchenbau, Häretikergesetzgebung) geschildert 206 . Abschnitte zur politischen und militärischen Entwicklung sowie zur Persönlichkeit Konstantins werden überhaupt nicht übernommen 2 0 7 . Es

Ruf. 10,8 (971,7-12); zu Sokrates Konstantinbild s. oben S. 103 ff. Ruf. 11,8; Sok 4,23, zu den Quellen vgl. Hansen [1.1.] un. 203 Ruf. 11,23-30; Sok. 5,16 f. Daß Sokrates sich bewußt gegen den Bericht des Rufin entschieden hat, wird man aus der Bemerkung 5,17,7 entnehmen können, die wie eine versteckte Kritik an dessen Interpretation wirkt; zu der Angelegenheit s. auch oben S. 95 f. 204 Ruf. 11,18; vgl. auch Soz. 7,25,1-7 und - besonders ausführlich - Theod. 5,16,6 f.; 5,17; 5,18,1-18. 205 vit. Const. 2,61-64.69-73; 3,5-14.17-20 hat Sokrates weitgehend übernommen, vgl. hierzu und zum folgenden die Übersicht bei Geppert, Quellen [3.1.] 23 f. 206 Der lange Abschnitt vit. Const. 2,20-60 fehlt bei Sokrates fast ganz; aus vit. Const. 3,22-58; 4,14-39 verarbeitet Sokrates nur weniges in 1,16-18. Die Bemerkung 1,16,4 zeigt, daß er den Text kannte, doch meinte er, daß derartige Berichte nicht in eine Kirchengeschichte gehören (1,18,14). 201

202

207

Es handelt sich etwa um vit. Corust. 1,1-25; 2,4-19; 4,1-13 (nur Sok. 1,18,4).

3.3. U m g a n g mit den Quellen

191

scheint auch, als habe Sokrates bei der ersten Bearbeitung in Zweifelsfällen die Fassung des Gelasios/Rufin für glaubwürdiger gehalten als die des Euseb 208 . Die Beobachtungen über Sokrates' Umgangsweise mit seinen Hauptquellen bestätigen sich auch im Blick auf die weniger wichtigen Quellen, soweit sie erhalten sind und daher ein Urteil ermöglichen. Verfälschungen oder phantasievolle Übertreibungen sind nicht typisch für Sokrates, sehr wohl allerdings kommen Verwechslungen und Mißverständnisse vor. Besonders wenn es gilt, sich aus mehreren unterschiedlichen Quellen ein konsistentes Bild der Ereignisse zu schaffen, verfahrt Sokrates oft etwas unbeholfen und bringt auf diese Weise Fehler in die Darstellung. Das ist besonders gut zu sehen bei dem Versuch, den Bericht des Rufin über die Geschicke des Athanasios aufgrund der Selbstzeugnisse des alexandrinischen Bischofs zu korrigieren 209 . Daß Sokrates auch dort ähnlich verfuhr, wo seine Quellen nicht erhalten sind, ist von vornherein zu vermuten und kann in einzelnen Fällen auch durch sorgfältige Analyse des Textes plausibel gemacht werden 210 . Grundsätzlich das gleiche gilt für die mündlichen Quellen, die vor allem im letzten Buch eine große Rolle spielen 211 . Deren Bedeutung für unsere Kenntnis der historischen Zusammenhänge ist besonders groß, weil es sich häufig um die ersten bzw. die einzigen Zeugnisse handelt. Da komplizierte und unübersichtliche Ereignisverkettungen dort nicht vorkommen, sondern weithin einzelne, in sich geschlossene narrative Einheiten das Bild beherrschen, ist anzunehmen, daß den Nachrichten des Sokrates meist Vertrauen zu schenken ist. Freilich dürfte sich in der Auswahl des Stoffes - wie es bei Zeitgeschichte kaum anders sein kann - besonders die persönliche Perspektive des Berichterstatters niederschlagen 212 . Die Einfügung von Urkunden im originalen Wortlaut gehört zu den gegenüber der historiographischen Tradition der Antike auffälligsten Besonderheiten der Kirchengeschichte des Euseb; es ist eine weitreichende und bis heute -wirksame Neuerung 213 . Unter den Nachfolgern des Euseb ist Sokrates derjenige, bei dem dieses Element am deutlichsten hervortritt - über weite Strecken sogar in noch beherrschenderer Stellung und größerem Umfang als bei Euseb. Das gilt vor allem für die ersten beiden Bücher, in denen das Urkundenmaterial allerdings, wie im vorigen Abschnitt gezeigt (S. 163 ff.), im wesentlichen der überarbeiteten Fassung zuzu2 0 8 Etwa b e i m Bericht über Helena in Jerusalem und den Bau der Grabeskirche 1,17 folgt er Rufin 10,7 f· bzw. Gelasios, frg. 20, den er nur gelegentlich u m Z ü g e aus vit. Const. 3,25-47 erweitert. Dieses Verfahren ist verständlich, wenn man bedenkt, daß Sokrates schon bei der Erstfassung seines Werkes der Vita Constantini skeptisch gegenüberstand (1,1,2; 1,16,4), doch die Unzuverlässigkeit des Rufin erst bei der Neubearbeitung bemerkte (2,1), s. oben S. 163 ff.

209 V g l . GEPPERT, Quellen [3.1.] 13 f.; HANSEN [I.I.] XLVI f. 210 211

Das gilt etwa für den Bericht über Johannes Chrysostomos, s. oben S. 55 ff. Vgl. GEPPERT, Quellen [3.1.] 15 f. sowie die eingehendere Untersuchung von FERRARINI, Tra-

dizioni [3.1.]. 2 1 2 Auf diese Weise wird es etwa zu erklären sein, daß im siebten Buch besonders ausführlich über die Novatianer berichtet wird oder daß Ereignisse in Konstantinopel eine große Rolle spielen, s. S. 7 7 ff. 213

V g l . SCHWARTZ, Kirchengeschichte

[3.2.] 115 f.; MOMIGLIANO, Historiography

KELMANN, Probleme [3.2.] 195-201; TIMPE, Kirchengeschichte

[3.2.] 1 8 8 f.

[3.3.] 9 1 f.; W I N -

192

3. Die historiographische Methode

schreiben ist. Sokrates macht deutlich, daß dieser Punkt nicht zu seinem ursprünglichen Konzept gehört, sondern eine Änderung auf den expliziten Wunsch seines Auftraggebers Theodoras hin darstellt. Es ist bezeichnend, daß gerade der (vermutlich) kirchliche Auftraggeber auf die Einarbeitung dieses Elements Wert legt 214 . Dennoch fanden sich auch schon in der Erstfassung wörtlich zitierte Dokumente und Urkunden, allerdings meist sehr viel geringeren Umfangs und wohl auch etwas anderer Funktion. Die Urkunden lassen sich nämlich ihrer Funktion nach in zwei Gruppen unterteilen, die vermutlich mit den beiden Bearbeitungsstufen in Verbindung zu bringen sind. Erstens haben die Urkunden dokumentarische Funktion; das heißt, sie dienen dazu, bestimmte historische Entwicklungen besonders authentisch und daher besonders glaubwürdig zu schildern, indem die Protagonisten selbst (etwa in Briefen) zu Wort kommen. Zweitens begegnen Urkunden in apologetisch-dogmatischer Funktion, das heißt als „Quellenbelege" für gewisse vom Verfasser vertretene historische oder theologische Thesen. In diesem Falle sind die Zitate meist viel kürzer, und sie entstammen nicht unbedingt einer Schrift, deren Entstehungssituation mit der gerade geschilderten historischen Lage zusammenhängt. Derartige Urkundenzitate kommen nicht nur in den ersten beiden Büchern, sondern verstreut im gesamten Werk vor; sie sind integraler Bestandteil der Denk- und Argumentationsweise des Sokrates, so daß an eine nachträgliche Einarbeitung nicht zu denken ist 215 . Diese Zitate sind kaum länger als ein paar Zeilen; der Haupteinwand, der gegen die Urkunden vom Standpunkt der klassischen Historiographie geltend gemacht werden konnte und den Sokrates auch selbst vorbringt, daß sie nämlich „den Leser unwillig machen, weil die Geschichtsdarstellung zu weitschweifig wird" 216 , entfällt daher. Wegen ihrer Kürze und weil die Zitate meist längeren Traktaten (und nicht kurzen Briefen oder Synodalbeschlüssen) entnommen sind, besteht die Hauptleistung des Historikers in der angemessenen Auswahl und Abgrenzung des Textes. Sokrates ist darum ehrlich bemüht 217 . Insofern leitet seine Verfahrensweise hinüber zur im fünften Jahrhundert beginnenden Florilegienliteratur, die schnell zu großer Beliebtheit und Verbreitung kam 2 1 8 . Anders bei Urkunden in der ersten, der dokumentarischen Funktion: Sie begegnen gehäuft in den ersten beiden Büchern und entstammen wohl meist der Neube-

214

1,1,5 f·; zur Person des Theodoros s. S. 218 f.

215

2,21,3.7-12.14-21; 3,7,23; 3,23,1 f.; 5,22,5 f.25-27.69; 6,13,10; 7,32,15 f. Bei d e n m e i s t e n d i e s e r Stel-

len handelt es sich um Exkurse. 2 1 6 „... ύττερ του μή ττολυστίχου γινομένης της ιστορίας οκνηρούς τους άναγινώσκοντας άτηργάσασθαι." 2,1,5· 2 1 7 Wie gelungen die Auswahl ist, ist im Einzelfall zu diskutieren (s. etwa zu Euagrios oben S. 120, Anm. 454). Hier ist jedoch entscheidend, daß Sokrates sich überhaupt um solche Zitate bemüht - anders als Sozomenos und Theodoret, bei denen Zitate in derartig argumentativer Funktion keine vergleichbare Rolle spielen. Bei Theodoret gilt das natürlich nur für die Kirchengeschichte; sein Eranistes ist geradezu das Paradebeispiel für eine Zitatensammlung mit theologischer Argumentationsabsicht. 218 Vgl. zu dieser Entwicklung CHADWICK, Florilegium [3.4.] 1157 f.; MÜHLENBERG, Flonlegien [3.4.] 216 f. sowie speziell zu Sokrates unten S. 277 ff.

193

3.3. Umgang mit den Quellen

arbeitung219. Sie sind bedeutend länger, nicht selten mehrere Druckseiten, und geben oft Dokumente in ihrer gesamten Länge wieder, in der Regel Briefe oder Synodalbeschlüsse. Sokrates hat sie Brief- und Aktensammlungen entnommen, die damals von den verschiedenen kirchlichen Parteien angelegt und in Umlauf gebracht wurden; sie sind gut bezeugt, aber nicht erhalten 220 . Daß der Auftraggeber gerade bei den komplizierten dogmatischen Auseinandersetzungen in der ersten Hälfte des vierten Jahrhundert Wert auf solche Dokumentation legte, hat seinen Grund sicherlich darin, daß es dabei derart auf Details der Formulierung ankam, daß kaum ein anderes Verfahren dazu geeignet war, ein realistisches Bild der Ereignisse zu vermitteln, als „κατά λεξιν" die wichtigsten Dokumente zu zitieren und auf diese Weise die Kontrahenten selbst zu Worte kommen zu lassen. Weder die apologetische noch die dokumentarische Funktion von Urkunden ist gegenüber Euseb völlig neu (wenn sich auch die Unterscheidung dort nicht so klar durchführen läßt). Dennoch lassen sich bei Sokrates Akzentverschiebungen konstatieren. Der dokumentarische Aspekt ist bei Euseb meist mit einem ausgeprägten literaturgeschichtlichen Interesse verbunden221. Dieses Interesse spielt bei Sokrates eine untergeordnete Rolle; statt dessen kann eher von einem dogmenhistorischen Anliegen gesprochen werden 222 . Diese Verschiebung ist zum Teil in der Natur der Sache begründet, denn Euseb war noch nicht mit einer solchen Fülle von Synodalakten konfrontiert, in denen um einzelne Formulierungen gestritten wurde. Zum Teil äußert sich aber auch die unterschiedliche Denkweise der beiden Historiker, denn wo Euseb auf dogmenhistorische Sachverhalte eingeht, geschieht es mit mehr eigener Parteinahme als bei Sokrates - nicht nur dokumentarisch, sondern auch apologetisch 223 . Ahnliches läßt sich auch für die Urkunden dort behaupten, wo sie zum Beleg einer eigenen These dienen sollen. Während bei Sokrates die Berufung auf Autoritäten dazu dient, die eigene Position zu entlasten, gewissermaßen die Verantwortung abzuwälzen, verwendet Euseb Urkunden eher zur Unterstützung, nicht zum Ersatz der Sachargumente 224 .

2 1 9 Manche Kapitel bestehen zum sehr großen Teil aus Urkunden (etwa die langen Kapitel i,8 und 1,9); zur Neubearbeitung s. oben S. 163 ff. 2 2 0 Wenig genug, wenn auch relativ am meisten ist über die Synagoge des Sabinos von Herakleia bekannt, vgl. HAUSCHILD, Synodalaktensammlung [3.4.]. Doch Sokrates hat noch weitere derartige Sammlungen benutzt, vgl. 1,6,41; 1,9,66; 1,23,6; einige Urkunden hat er auch der Vita Constantini entnommen. 221

Vgl. SCHWARTZ, Kirchengeschichte

[3.2.] 118-121; GRANT, Eusebius

[3.2.] 63-72; WINKELMANN,

Euseb [3.2.] 111. 2 2 2 Nur in den Ausführungen über Euagrios Pontikos (4,23,34-76 mit Schriftenverzeichnis §35-38) und über Didymos den Blinden (4,25,6 f.) kommt ein gewisses literarhistorisches Interesse zum Ausdruck. Vor allem bei der Synodalgeschichte des vierten Jahrhunderts (die etwa große Teile von Buch 2 ausmacht) steht dagegen - notgedrungen - der dogmenhistorische Aspekt im Vordergrund. 223

Vgl. RUHBACH, Apologetik

[3.2.] 132-134 und 150-161; GRANT, Eusebius

[3.2.] 84-96.

Als Beispiel betrachte man etwa, wie Euseb sein „Leben Jesu" in 1,5-11 mit Josephus-Zitaten versieht. 224

194

3. Die historiographische Methode

Abschließend sei die positive Aussage des Henri VALOIS ZU Sokrates' Umgangsweise mit seinen Quellen zitiert: „Neque vero historiam suam negligenter ac supine conscripsit" 225 . Dieses Lob wird von einem Großteil der modernen Forschung geteilt, auch dort, wo Sokrates insgesamt eher negativ beurteilt wird 226 . Das Lob ist verständlich und berechtigt aufgrund der Übereinstimmung der Verfahrensweise des Sokrates mit Maximen der modernen Historiographie. Sokrates gibt seine Quellen in der Regel explizit an; er übt begründete und sachliche Kritik an ihnen 227 . Er reflektiert das Verhältnis von primären und sekundären Quellen sowie von schriftlicher und mündlicher Überlieferung 228 . Wichtige Dokumente zitiert er im Wortlaut. Trotz gelegentlicher Mißverständnisse gibt er seine Quellen im großen und ganzen korrekt und nüchtern wieder. Diese Eigenschaften machen seine Kirchengeschichte für die Auswertung als historische Quelle sehr wertvoll. Doch es wäre nicht verwunderlich, wenn einige dieser Aspekte in der Spätantike auf Unverständnis und Kritik gestoßen wären. So ist es nicht auszuschließen, daß Sozomenos gerade daran Anstoß nahm und sich deshalb dazu angeregt fühlte, eine eigene Darstellung zu verfassen, die der des Sokrates nach Anlage und Berichtzeitraum so ähnlich war und sich über weite Strecken auf sie stützte, ohne sie jedoch zu nennen. Es ist jedenfalls auffällig, daß sich die Kirchengeschichte des Sozomenos gerade an diesen Punkten deutlich von der des Vorgängers unterscheidet229.

3.4. Stil und Darstellungsweise Mehrfach äußert Sokrates, daß er sich „nicht besonders um die Ausdrucksweise bemüht habe", daß er es „nicht auf ausgefeilten Stil abgesehen" habe, oder daß man „prunkvolle Ausdrucksweise nicht von ihm erwarten möge" 2 3 0 . Diese Aussagen entfaltet er ausführlich im Proömium zum sechsten Buch und macht dabei deutlich, daß sie nicht etwa als Eingeständnis stilistischer Unfähigkeit zu verstehen sind, sondern als Ausdruck bewußter Gestaltungsabsicht: Wir haben uns „nicht besonders um die Ausdrucksweise bemüht, weil wir zu dem Schluß gekommen sind, daß wir vielleicht, wenn wir nach wohlgesetzten Worten suchten, unser Ziel verfehlten. Und auch wenn wir es erreichen sollten, könnten wir dennoch die

225

VALOIS [ I . I . ] i x .

226

Vgl. HARNACK, Sokrates [3.1.] 413; GEPPERT, Quellen [3.1.] 10-16; LOESCHCKE, Sokrates [3.1.] 482 f.; BARDENHEWER, Geschichte [3.4.] 138 f.; ELTESTER, Sokrates [3.1.] 898 f.; LABATE, Socrates [3.1.] 785. 227 Vgl. GEPPERT, Quellen [3.1.] 10-14. 228 2,1,3; 6,pr,9 f. 229 Vgl. SCHOO, Quellen [3.2.] 13-17; ELTESTER, Sozomenos [3.2.] 1244-1247; HANSEN, Sozomenus [1.2.] XLIV-XLVII. 230 6,pr,2 (s. folgende Anm.); ,,ού φράσεως ογκου φροντί^οντες", ι,ι,3; ,,μηδίίς ... έτπίητείτω κόμττον φράσεως", 3>1>3·

3.4. Stil und Darstellungsweise

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Dinge nicht in der Art schreiben, wie sie von den alten Schriftstellern dargestellt worden sind, wodurch sie, wie man meinen könnte, die Tatsachen vergrößern oder verkleinern. Außerdem wird diese Schrift der Menge und den einfachen Leuten nichts nützen, da sie nur die Tatsachen kennenlernen wollen und nicht die wohlgesetzten Worte bewundern. Damit nun nicht das Werk für beide nutzlos werde: für die Gebildeten, weil es nicht wert ist, mit der alten Ausdruckskraft verglichen zu werden, und für die einfachen Leute, weil sie den Tatsachen nicht mehr folgen können, die unter dem ausgefeilten Stil verborgen sind, darum haben wir uns einer einfacheren, aber, wie wir meinen, deutlicheren Ausdrucksweise bedient." 231 In diesem zentralen Text geraten zwei Orientierungspunkte für Sokrates' Verfahrensweise in den Blick. Erstens die Bezugnahme auf die „Alten" (gemeint sind wohl die Historiographen der klassischen Zeit): Offensichtlich gilt für Sokrates ganz selbstverständlich und ohne weitere Erklärung der Grundsatz, daß sie Maßstab und Richtschnur guten Stiles sind. Die Beteuerung der eigenen Unfähigkeit, es ihnen gleich zu tun, ist ein in dieser oder ähnlicher Form sehr häufiger Bescheidenheitstopos 232 , dem inhaltlich hier keine besondere Bedeutung zukommt, der aber die Distanz zu den Alten und damit ihre Autorität unterstreicht. Sehr auffällig ist es daher, daß dieser Anerkennung in Stilfragen ein Moment kritischer Abgrenzung in inhaltlicher Hinsicht gegenübersteht, in dem Vorwurf nämlich, daß sie willkürlich Dinge über- oder untertrieben. Hier äußert sich das auch sonst bezeugte Ideal des Sokrates, möglichst nüchtern zu berichten 233 , das an dieser Stelle besonders ernst zu nehmen ist, weil es nicht in die übliche Topik gehört 234 . Zweitens wird das Ideal der Allgemeinverständlichkeit als Orientierungspunkt angegeben. Sokrates möchte so schreiben, daß das Werk auch für die ττολλοί und die ίδιώται von Nutzen ist. Auch hier liegt der Verdacht nahe, daß es sich um eine topische Aussage handelt. Um in dieser Hinsicht den Hintergrund auszuleuchten, kann man sich zunächst an die Hinweise halten, die Sokrates selbst gibt. Zu Beginn des dritten Buches motiviert er die Schlichtheit des Stiles mit dem christlichen Cha2 3 1 „... ήμάς μή έσττουδακέναι ττερί τήν φράσιν, έννοήσαντας ώς, εί σττουδάσαιμεν καλλιλεξία χρήσασθαι, ϊσως μέν κα! άττοττεσούμεθα του σκοπού. εί δέ καί έπιτευξόμεθα, ού τοιαύτα πάντως δυνησόμεθα γράφειν, οία τοίς παλαιοίς συγγραφεΟσιν εϊρηται, δι' ών αυξειν τε κα! χείρονα ποιεΤν νομίζοιτο αν τις τ α πράγματα. επειτα δέ κα! ουδαμώς οικοδομήσει τους ττολλούς καί ίδιώτας ό λόγος, οϊ τ α ττράγματα βούλονται μόνον είδεναι, ού τ η ν λέξιν ώς καλώς συγκειμενην θαυμάσαι. ϊνα μή οδν άμφοτέροις άνόνητος ή πραγματεία γενηται, τοΤς μέν εύτταιδεύτοις, οτι μή άξία τ η παλαιά φράσει συγκρίνεσθαι, τοΤς δε ίδιώταις, οτ\ μή δύνανται ίφικε'σθαι τών πραγμάτων καλυπτομένων ύπό της κομψείας τ ο υ λόγου, τήν σαφεστε'ραν μέν δοκοΰσαν, ταπεινοτέραν δέ φράσιν έπετηδεύσαμεν." ό,ρτ,ζ-ζ. 2 3 2 Vgl. HAGENBICHLER, Bescheidenheitstopos [3 4 ] Η94', zahlreiche Beispiele bei BRUHN, Specimen [3.4.] 6-2.3. Zur Bedeutung der „Alten" im Denken des Sokrates im allgemeinen s. unten S. 2 7 2 ff. 233 2,1,5; die Aussage ist auf die erste Bearbeitung bezogen, doch ist keine Rede davon, daß sich daran bei der Neubearbeitung etwas geändert habe. 234 HERKOMMER, Topoi [3.4.] 110-112 hat gezeigt, daß es üblich war, sich in den Proömien von unmittelbaren Vorgängern kritisch abzusetzen, nicht von den (als weit entfernt empfundenen) Alten.

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3. Die historiographische Methode

rakter seines Werkes: „ D a die Geschichtsdarstellung eine christliche ist, soll die Ausdrucksweise u m ihrer Zuverlässigkeit willen auch weiterhin bescheiden und zurückhaltend sein; das ist auch am Anfang so angekündigt w o r d e n . " 2 3 5 Mit den Stichworten τ α π ε ι ν ό ς und σ α φ ή ς , die auch schon in 6,pr,5 begegneten, ist in der Tat ein im Christentum geläufiger Topos der Stilistik angesprochen: Christliche Rede soll einfach und klar verständlich sein. Die Wurzeln dieses Topos liegen z u m einen natürlich in der theologischen Wertschätzung der χαττεινότης im allgemeinen 2 3 6 , z u m anderen aber läßt sich speziell für die Stilistik die Linie zurückverfolgen bis zu den Apologeten, die vor der Aufgabe standen, erklären zu müssen, w a r u m die Evangelientexte mit so hohem soteriologischen Anspruch, aber gleichzeitig in so bescheidener Sprachgestalt auftraten 2 3 7 . Ausgehend von der apologetischen Argumentation gegen diesen Einwand, entwickelten sich Schlichtheit und Bescheidenheit zu einem allgemeinen christlichen Stilideal. Das Streben danach wurde zu einem Topos, der im vierten und fünften Jahrhundert weit verbreitet w a r 2 3 8 . A u f diesem Hintergrund ist es durchaus plausibel, wenn Sokrates sein Stilideal mit dem christlichen Charakter seiner Schrift begründet. Die stilistische Orientierung an der Menge und den einfachen Leuten ist aber nicht nur auf dem Hintergrund christlicher Motive zu sehen. Ein weiterer Hinweis 235 „Χριστιανικής γ α ρ οϋσης της ιστορίας δια σαφήνειαν ταπεινός καί χαμαί^ηλος πρόεισιν ό λόγος, καί τ ο ύ τ ο έξ άρχής έπηγγείλατο." 3,1,4; der Verweis (,,έξ άρχής") bezieht sich auf 1,1,3. 23