Der fragende Sokrates 9783110959826, 3110959828


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German Pages 328 [322] Year 1999

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Table of contents :
Frontmatter
Vorwort
Teilnehmer und Teilnehmerinnen
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Frühgriechische Literatur als Antwort
Sokratisches Fragen im Platonischen Dialog
Der Xenophontische Sokrates als Dialektiker
Ein seltsamer Priester und seine Jünger
Bildliche Darstellungen von Sokrates
Paulus und Sokrates
Sokrates im Dickicht der deutschen Aufklärung
Kierkegaards sokratische Masken
Nietzsches Agon mit Sokrates
Vom Sinn des Fragens
Der Philosophische Praktiker — Sokrates von Beruf
„Ich frage mich, ob Sie nicht...?"
Begriffe und Bilder
À propos fragender Sokrates: Alain
Der Talkmaster als moderner Sokrates?
Epilog
Abbildungen
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Der fragende Sokrates
 9783110959826, 3110959828

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Colloquium Rauricum Band 6 Der fragende Sokrates

Colloquia Raurica Die Colloquia Raurica werden alle zwei Jahre vom Collegium Rauricum veranstaltet. Sie finden auf Castelen, dem Landgut der Römer-Stiftung Dr. Rene Clavel in Äugst (Augusta Raurica) bei Basel, statt. Jedes Colloquium behandelt eine aktuelle geisteswissenschaftliche Frage von allgemeinem Interesse aus der Perspektive verschiedener Disziplinen. Den Schwerpunkt bilden dabei Beiträge aus dem Bereich der Altertumswissenschaft. U m möglichst vielseitig abgestützte Erkenntnisse zu gewinnen, erörtern die eingeladenen Fachvertreter das Tagungsthema im gemeinsamen Gespräch. Die Ergebnisse werden in der Schriftenreihe „Colloquia Raurica" publiziert. Das Collegium Rauricum Joachim Latacz Jürgen von Ungern-Sternberg Hansjörg Reinau Peter Blome

Colloquium Rauricum Band 6

Der fragende Sokrates

Herausgegeben von

Karl Pestalozzi

Β. G. Teubner Stuttgart und Leipzig 1999

Gedruckt mit Unterstützung von Herrn und Frau Dr. Dr. h. c. Jakob und Antoinette Frey-Clavel, Basel

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme

Der fragende Sokrates /

hrsg. von Karl Pestalozzi. — Stuttgart ; Leipzig : Teubner, 1999 (Colloquium Rauricum ; Bd. 6) ISBN 3-519-07417-6 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt besonders für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © B. G. Teubner Stuttgart 1999 Printed in Germany Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza

Vorwort Der vorliegende Band enthält die Vorträge, die beim sechsten Colloquium R a u ricum gehalten wurden, das vom 3 . - 7 . September 1997 auf dem Landgut Castelen bei Äugst im Kanton Basel-Landschaft stattfand. Einmal mehr bewies das von der Römerstiftung Dr. Rene Clavel verwaltete prachtvolle Ambiente seine das Zusammen-Reden vielfältig anregende Kraft. Besonderen Anteil am Gelingen hatte auch diesmal Frau Anne-Marie Gunzinger, deren umsichtiger Planung nichts entging und die als guter Geist die Tagung begleitete. Die Organisation der Theaterauffiihrung, ein novum auf Castelen, meisterte sie mit unerschütterbarem Gleichmut und produktiver Begeisterung. Frau Antoinette Frey-Clavel brachte mit ihrer Teilnahme zum Ausdruck, wie sehr ihr das mit ihrem Gatten Dr. Jakob Frey-Clavel zusammen begründete Collegium Rauricum über dessen Tod hinaus am Herzen liegt. Ich danke den Mitgliedern des Collegium Rauricum dafür, daß sie mir die Gestaltung des Colloquium Rauricum Sextum übertragen und meinem Themenvorschlag sogleich zugestimmt haben. Als Neuphilologen war mir ihr Rat und ihre Hilfe in allen altertumswissenschaftlichen Belangen unentbehrlich. Und ebenso schätzte ich es, daß auch unkonventionelle Vorschläge bei ihnen offene Ohren fanden. Im Laufe der Vorbereitung ist mir erneut deutlich geworden, welch einzigartiges Forum für interdisziplinäre und internationale Kontakte die Universität Basel in den Colloquia Raurica auf Castelen zur Verfugung hat; deren Renommee macht es leicht, Referenten und Referentinnen, die man sich wünscht, zu gewinnen. Die Drucklegung dieses Bandes lag wiederum in den bewährten Händen von Herrn Dr. h. c. Heinrich Krämer vom Verlag B. G. Teubner. Ihm und allen, die dazu beigetragen haben, daß das Kolloquium und nun dieser Band zustandekam, sei auf das herzlichste gedankt. Basel, im April 1998

Karl Pestalozzi

Teilnehmer und Teilnehmerinnen 1. Referenten und Referentinnen Prof. Dr. Emil Angehrn, Philosophisches Seminar, Universität Basel, Nadelberg 6/8, CH-4051 Basel PD DDr. Christoph Auffahrt, Abteilung Religionswissenschaft, Universität Tübingen, Correnstraße 12, D-72076 Tübingen Prof. Dr. Peter Blome, Direktor des Antikenmuseums und der Sammlung Ludwig, St. Alban-Graben 5, CH-4010 Basel Prof. Dr. Gottfried Boehm, Kunsthistorisches Seminar, Universität Basel, St. Alban-Graben 16, CH-4051 Basel Prof. Dr. Ernst Heitsch, Seminar fur Klassische Philologie, Universität Regensburg, Mattingerstraße 1, D-93049 Regensburg Prof. Dr. Joachim Latacz, Seminar für Klassische Philologie, Universität Basel, Nadelberg 6, CH-4051 Basel Prof. Dr. Heinrich Löffler, Deutsches Seminar, Universität Basel, Nadelberg 4, CH-4051 Basel Dr. Sabine Mainberger, Wilmersdorfer Straße 13, D-10585 Berlin PD Dr. Andreas Patzer, Seminar für Klassische Philologie, Universität München, Geschwister-Scholl-Platz 1, D-80539 München Prof. Dr. Karl Pestalozzi, Deutsches Seminar, Universität Basel, Nadelberg 4, CH-4051 Basel Prof. Dr. Annemarie Pieper, Philosophisches Seminar, Universität Basel, Nadelberg 6/8, CH-4051 Basel Prof. Dr. Hartmut Raguse, Birsigstraße 139, CH-4054 Basel Prof. Dr. Wilhelm Schmid-Biggemann, Philosophisches Seminar, Freie Universität Berlin, Babelsbergerstraße 14-16, D-10715 Berlin Prof. Dr. Arbogast Schmitt, Seminar für Klassische Philologie, Universität Marburg, Philipps-Universität, Wilhelm Röpke Straße 6, D-35032 Marburg Prof. Dr. Kurt Seelmann, Institut für Rechtswissenschaft, Universität Basel, Maiengasse 51, CH-4056 Basel Prof. Dr. Ekkehard Stegemann, Theologisches Seminar, Universität Basel, Nadelberg 10, CH-4051 Basel

VIII

PD Dr. Urs Thurnherr, Philosophisches Seminar, Universität Basel, Nadelberg 6/8, C H - 4 0 5 1 Basel

2.

Gastspiel

Theater Neumarkt, Zürich: „Phaidon" (nach Piaton) Inszenierung: Stephan Müller Darsteller: Joseph Lorenz, Michael Maassen

3. Collegium Rauricum Prof. Dr. Peter Blome, a. o. Prof. für Klassische Archäologie, Direktor des Antikenmuseums und der Sammlung Ludwig, St. Alban-Graben 5, C H - 4 0 5 1 Basel Prof. Dr. Joachim Latacz, o. Prof. fur Griechische Philologie, Universität Basel, Seminar für Klassische Philologie, Nadelberg 6, C H - 4 0 5 1 Basel Dr. Hansjörg Reinau, Universitätslektor für Didaktik des Lateinunterrichts, Universität Basel, Seminar für Klassische Philologie, Nadelberg 6, C H - 4 0 5 1 Basel Prof. Dr. Jürgen von Ungern-Sternberg, o. Prof. für Alte Geschichte, Universität Basel, Seminar für Alte Geschichte, Heuberg 12, C H - 4 0 5 1 Basel

4. Gäste Regierungsrat Peter Schmid, Vorsteher der Erziehungs- und Kulturdirektion des Kantons Basel-Landschaft, Präsident der Römer-Stiftung Dr. R e n e Clavel, C H 4410 Liestal Frau Antoinette Frey-Clavel, Rebenstraße 48, C H - 4 1 2 5 Riehen Prof. Dr. Andreas Cesana, Prof. für Philosophie und Leiter des Studium generale, Universität Mainz, Mitglied des Direktoriums „Jacob-Burckhardt-Gespräche auf Castelen", Philosophisches Seminar, Universität Mainz, D - 5 5 0 9 9 Mainz Prof. Dr. Jürgen von Ungern-Sternberg, o. Prof. für Alte Geschichte, Seminar für Alte Geschichte, Universität Basel, Mitglied des Collegium Rauricum, Heuberg 12, C H - 4 0 5 1 Basel Prof. Dr. Dr. h. c. mult. German Colon, o. Prof. für Iberoromanische Philologie, Romanisches Seminar, Universität Basel, Mitglied des Direktoriums der „Jacob-Burckhardt-Gespräche auf Castelen", Stapfelberg 7, C H - 4 0 5 4 Basel

IX Dr. Matthias Stauffacher, Verwaltungsdirektor der Universität Basel, Stiftungsrat der Römer-Stiftung Dr. Rene Clavel und Mitglied des Direktoriums der „JacobBurckhardt-Gespräche auf Castelen", Kollegienhaus, Patersplatz 1, CH-4003 Basel Heinrich Krämer, Geschäftsführer des Verlags B. G. Teubner Stuttgart und Leipzig, Industriestraße 15, D-70565 Stuttgart

Inhaltsverzeichnis Karl Pestalozzi Einleitung

1

I Ernst Heitsch Frühgriechische Literatur als Antwort. Aus der Geschichte der Frage

7

Arbogast Schmitt Sokratisches Fragen im Platonischen Dialog

30

Andreas Patzer Der Xenophontische Sokrates als Dialektiker

50

Christoph Auffahrt Ein seltsamer Priester und seine Jünger: Typisches und Charakteristisches im Bühnen-Sokrates des Aristophanes....

77

Peter Blome Bildliche Darstellungen von Sokrates

98

II Ekkehard Stegemann Paulus und Sokrates

115

Wilhelm Schmid-Biggemann Sokrates im Dickicht der deutschen Aufklärung

132

Annemarie Pieper Kierkegaards sokratische Masken

152

Karl Pestalozzi Nietzsches Agon mit Sokrates

165

XII

III Emil Angehrn Vom Sinn des Fragens. Wege nachmetaphysischen Philosophierens

189

Urs Thurnherr Der Philosophische Praktiker - Sokrates von Beruf.

208

Hartmut Raguse „Ich frage mich, ob Sie nicht . . . ?" Der nichtdialogische Charakter des psychoanalytischen Dialogs

226

Gottfried Boehm Begriffe und Bilder. Uber die Grenzen sokratischen Fragens

238

Sabine Mainberger A propos fragender Sokrates: Alain. Vom Schreiben als Lebensform

251

Heinrich Löffler Der Talkmaster als moderner Sokrates? Maieutisches in den Medien-Dialogen

283

Kurt Seelmann Epilog

300

Abbildungen

305

K A R L PESTALOZZI

Einleitung

Der Anstoß, den fragenden Sokrates zum Thema des sechsten Colloquium R a u ricum zu machen, verdankte sich einer szenischen Aufführung des Phaidon (nach Plato) durch das Zürcher Neumarkttheater, das damit im Frühjahr 1995 auch in Basel gastierte. Das darin lebendig vergegenwärtigte Gespräch zwischen Sokrates und seinen Freunden, bevor er den Schierlingsbecher trinkt, dreht sich bekanntlich u m die grundlegenden T h e m e n Sterben, Leib und Seele, Tod, Anamnesis, Unsterblichkeit. Die Fragen darnach bleiben zumeist ohne letzte Antwort, und selbst wenn eine die Unterredner befriedigende sich abzeichnet, liegt sie doch unserem heutigen Denken unendlich fern. Der Faszination beim Zuschauen und Zuhören tat das keinen Abbruch, im Gegenteil. Aus den Dialogen erwuchs allmählich die Einsicht, nicht auf die Antworten k o m m e es letztlich an, sondern auf die Fragen. Sie seien eigentlich der Ort, an dem sich diese großen Wahrheiten offenbaren und über die Zeiten hinweg lebendig bleiben. Dabei schienen diese Wahrheiten in h o h e m Maße in dem zu wurzeln, was Sokrates u n d seine Freunde angesichts der bevorstehenden unwiderruflichen Trennung verband: das insistierende Fragen, Antworten und Gegenfragen bewahrte sie davor, in dumpfe Betrübnis zu verfallen. Aus dem durch die Fragen in Bewegung gehaltenen Hin und Her erwuchs und nährte sich die ernste Heiterkeit, die sogar für M o m e n t e ein gemeinsames Lachen ermöglichte. So erschien dieser platonische Dialog als eine Feier des Fragens, die in Sokrates ihren Mittelpunkt hatte. Als es dann wenig später darum ging, ein Tagungsthema zu finden, das ususgemäß Antike und Moderne verbinden sollte, lag es nahe, den fragenden Sokrates u n d an ihm das Problem der Frage überhaupt zur Diskussion zu stellen. (Es war ein Glücksfall, daß das Gastspiel des Neumarkt-Theaters während des Kolloquiums in der verliesartigen Curia von Augusta Raurica für die Teilnehmenden wiederholt werden konnte, so daß gewissermaßen Anstoß und Ergebnis zusammentrafen.) Worauf einer kommt, was ihm wichtig wird, das gehört nicht ihm allein an; er teilt es mit Zeitgenossen, mit denen er durch das zusammenhängt, was man in Ermangelung einer präziseren Bezeichnung „Zeitgeist" nennt. Sokrates genießt zur Zeit gesteigerte Aufmerksamkeit, wie zahlreiche aktuelle Publikationen über ihn zeigen. Mit der Thematik „Der fragende Sokrates" setzte das Colloquium ihnen gegenüber einen eigenen Akzent. Vor allem wurde damit die Frage sekundär, wer jenseits der Quellen, dank denen wir von ihm wissen, der historische

2

Karl Pestalozzi

Sokrates wirklich gewesen sei. Das Interesse konnte sich darauf richten, wie die verschiedenen Quellen den fragenden Sokrates darstellen und beurteilen, worin sie das Besondere seines Fragens sehen; denn diese Quellen waren es ja, die dem Abendland den fragenden Sokrates übermittelten. Und auf die Nachwirkungen des fragenden Sokrates sollte besondere Aufmerksamkeit gerichtet werden, bis hin zu aktuellsten Erscheinungsformen. Im Sinne einer kritischen Historie sollen sich ja an den Colloquia Raurica Antikes und Modernes wechselseitig erhellen. Anhand der vorliegenden Dokumentation läßt sich nun beurteilen, wieweit das mit dem fragenden Skorates tatsächlich gelungen ist, auch über die Tagung hinaus. Die im folgenden abgedruckten Referate sind in drei Gruppen gegliedert. Die erste Gruppe befaßt sich, nach einer problemgeschichtlichen Hinfuhrung, mit Sokrates, wie ihn die antiken Quellen, Plato, Xenophon und Aristophanes, zeichnen, ferner mit der bildlichen Uberlieferung seiner Physiognomie. — Die zweite Gruppe bilden vier Fallstudien der Wirkungsgeschichte, Sokrates und Paulus, das Sokrates-Verständnis im deutschen 18. Jahrhundert, Kierkegaard und Nietzsche. Leider hatte sich die Absicht, diese Reihe durch französische Beispiele, zum Beispiel Diderot, zu ergänzen, nicht verwirklichen lassen. Aber selbst dann wäre die Auswahl angesichts der Fülle der Zeugnisse notwendig fragmentarisch geblieben. — In den Referaten der dritten Gruppe geht es nicht mehr in erster Linie um die Wirkungsgeschichte des fragenden Sokrates im engeren Sinne. Dieser stellt die Folie dar, vor der die Bedeutung des Fragens in verschiedenen aktuellen Wissenschaften und Lebensgebieten befragt wird. Im Hintergrund steht die Erwartung, es müßte sich zeigen lassen, daß das Somatische Fragen in unterschiedlichsten Metamorphosen weiterlebe, ohne daß man sich noch direkt auf ihn berufe. Dabei sollte insbesondere der Zusammenhang von Fragen und reflektiertem Nichtwissen erörtert werden, wie er mit Sokrates in die Welt getreten war. Auch hier kann es sich beim Vorliegenden lediglich um ausgewählte Beispielfelder handeln. Die empfindlichste Lücke besteht wohl darin, daß so fehlt, was ursprünglich vorgesehen war, das naturwissenschaftliche Fragen. Leider kam es nicht zu einem Brückenschlag aus den Geistes- und Kulturwissenschaften hinaus. Immerhin hat im „Epilog" auch ein Jurist das Wort. In der nun vorliegenden Dokumentation fehlen naturgemäß jene Partien des Kolloquiums, die ihrerseits dialogisch als Gespräche verliefen, die peripatetischen Unterhaltungen und die bei den Mahlzeiten, die Diskussionen nach den Referaten, vor allem das von Joachim Latacz geleitete gemeinsame Interpretieren ausgewählter Passagen aus Piatons Dialog „Laches". Gerne hätte man das Kolloquium insgesamt, seinem Thema entsprechend, dialogischer, kolloquialer angelegt. Doch wer hätte sein Plato sein mögen? So ist es nun an den Leserinnen und Lesern, den Dialog mit dem Vorliegenden aufzunehmen und weiterfuhrende Fragen zu finden.

Einleitung

3

Am Schluß dieser Einleitung kann ein kleines Gedicht von Gottfried Keller stehen, das auf seine Weise die Absolutheit der Frage demonstriert: Du milchjunger Knabe Wie siehst du mich an? Was haben deine Augen Für eine Frage getan! Alle Ratsherrn der Stadt Und alle Weisen der Welt Bleiben stumm auf die Frage, Die deine Augen gestellt! Ein leeres Schneckhäusel Schau, liegt dort im Gras: Da halte dein Ohr dran, Drin brümmelt dir was!

E R N S T HEITSCH

Frühgriechische Literatur als Antwort Aus der Geschichte der Frage I Was ist der Mensch — die Nacht vielleicht geschlafen, doch vom Rasieren wieder schon so müd, noch eh ihn Post und Telephone trafen, ist die Substanz schon leer und ausgeglüht.

Was ist der Mensch? Eine gewichtige Frage, ohne Zweifel. Und natürlich ist Gottfried Benn, den ich soeben zitiert habe, 1 nicht der erste, der sie gestellt hat. Er hat sie, bewußt oder unbewußt, wörtlich von Kant übernommen. Nach Kant läßt sich das Feld der Philosophie auf vier Fragen bringen: „(1) Was kann ich wissen? (2) Was soll ich tun? (3) Was darf ich hoffen? (4) Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen."" Benn steht also mit seiner Frage in erlauchter Tradition. Doch seine Antwort? Sie ist eher unerwartet und, weil sie das Problem auf eine andere Ebene transponiert, geeignet, uns zu desillusionieren und an die Tatsache zu erinnern, daß der Mensch ein mehr als gebrechliches Wesen, daß mit dem „Wesen des Menschen" in der Routine des Alltags meist nicht viel Staat zu machen ist. Doch sicherlich hat Kant genau diesen Aspekt, in den Benn die Frage nun allerdings rückt, nicht im Auge gehabt. Immerhin aber mag Benns Antwort uns daran erinnern, daß — erstens — ein Nachdenken über den Menschen auf sehr verschiedenen Ebenen möglich ist und daß — zweitens — mit der Würde philosophischer Fragen ein gewisses Quantum an ironischer Realistik

1

Aus ,Melancholie'. Hier zitiert nach: Gedichte, Gesammelte Werke III, Wiesbaden 1960,

302. 2

Aus der Einleitung zur Logik, A 24. Hier zitiert nach: Werke in zehn Bänden, hggb. von W. Weischedel, Bd. 5, Darmstadt 1977, 447f. Dazu Kritik der reinen Vernunft Β 833 (Bd. 4, 677).

8

Ernst Heitsch

durchaus verträglich ist. Ich dächte, dafür hätte die Tradition — längst vor Gottfried Benn — durchaus Beispiele. Solche Gespräche im Winter am Feuer zu fuhren geziemt sich, wo man auf weichen Kissen mit vollem Bauche sich ausruht, Süßwein trinkt und dazu zerbeißt die gerösteten Erbsen: ,Sag, wer bist du? Wie heißt dein Vater? Wann bist du geboren? Sag mir, mein Bester, wie alt du warst, da der Perser ins Land kam.'

Diese Verse gehören in die Zeit um 500 v. Chr., schildern die winterliche Behaglichkeit des Symposions und sind, wie sich zeigen läßt, nicht ohne Ironie. Für den vollen Bauch des Zechers verwendet Xenophanes hier ein Wort, bei dem damals wohl jedem alsbald eine berühmte Szene aus der Odyssee einfiel: So „voll" wie hier der am Feuer sich wärmende Symposiast ist dort im Epos der Magen einer geschlachteten Sau, der, voll von Blut und Fett gestopft, zu Wurst bereitet am Feuer gewendet wird. 4 D e m äußeren Anschein nach also spricht bei Xenophanes die Szene von Behaglichkeit: Das wärmende Feuer, das Gefühl der Sättigung, Gefäße mit Wein, das Gespräch kann beginnen. Doch wer die Anspielung auf die epische Wurstbraterei bemerkt, der sieht, daß der Erzähler sich in eine gewisse Distanz zu der von ihm beschriebenen Szenerie begibt. Es ist, als schaute er leicht mokant auf die zufriedene Runde derer, die nun, nachdem das Essen vorüber, im geselligen Teil des Abends sich ihre Geschichten erzählen werden. Denn worum werden diese Geschichten gehen? U m ihre Erinnerungen und damit um das ewig gleiche Thema unter Menschen, die als Emigranten aus der Bahn geworfen worden sind. Damals, in den Jahren 546—544, als die Perser gegen die griechischen Städte an der kleinasiatischen Küste vorgingen, hatten viele ihre Heimat verlassen. Unter ihnen auch Xenophanes. Wie ein Kranker, der sich ruhelos auf dem Bett hin und herwirft, so zieht er nun schon 67 Jahre durch die griechischen Lande; als er das schreibt, 5 ist er 92 Jahre alt. Gewesen ist er u. a. auf Paros, in Unteritalien, auf Sizilien, auf Malta; ob er überhaupt wieder seßhaft geworden ist, wissen wir nicht. Mit vielen anderen war er Opfer der

Xenophanes F 22 (Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, 5. und folgende Auflagen, hggb. von Hermann Diels und Walter Kranz, Berlin 1934ff). Dazu meine kommentierte X e nophanes-Ausgabe, München 1983, 141—143. Die metrische Ubersetzung habe ich, leicht geändert, übernommen von Zoltan Franyo und Peter Glan (Frühgriechische Lyriker I: Die frühen Elegiker, ed. Bruno Snell, Berlin 2. Aufl. 1981, 87). 4 Odyssee 20, 25—27. Die Pointe des Zitats ließe sich übrigens noch ausspinnen. In der Odyssee gehört die gebratene Wurst nicht etwa in eine realistische Szene, sondern in ein Gleichnis, das die nächtliche Unruhe des Helden vor der morgigen Entscheidung malt: So, wie ein Mann die Wurst auf dem Feuer mal auf die eine und dann auf die andere Seite dreht, so wälzt Odysseus sich unruhig auf dem Lager hin und her. Auf diesem Gleichnischarakter beruht die Berühmtheit der Szene! Zu ihr jetzt auch Wolf Hartmut Friedrich, Vom Wohlstand der Gleichnisse (Abh. Akad. Mainz), Stuttgart 1996, 13f. 5 F 8. Dazu mein Kommentar 121—123. 3

Frühgriechische Literatur als Antwort

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Geschichte. In seiner Heimat, in Kolophon, ohne den Einfall der Perser, wäre sein Leben zweifellos in anderen Bahnen verlaufen. Dann aber wäre auch er selbst heute ein anderer. O b er dann allerdings beim Symposion etwas zu erzählen hätte? Vielleicht, jedenfalls aber wohl gänzlich anderes als jetzt. Denn was er inzwischen an zahlreichen Orten erlebt und beobachtet hat, worüber er nachdenkt und wovon die erhaltenen Fragmente deutlich genug Auskunft geben, das gehört alles zu den Folgen seiner Vertreibung. Was für alle Menschen gilt, daß sie das, was sie sind, durch ihre Geschichte geworden sind, gilt für Vertriebene und Heimatlose wie Xenophanes in extremer Weise. Sein Wanderleben bestimmt seine Lebensgeschichte; nach ihr läßt sich fragen. „Wo kommst du her? Wer war dein Vater? Wie alt warst du, als der Perser kam? Was also hast du in den Jahrzehnten getrieben, die seither vergangen sind? Wie also bist du geworden, was du heute bist?" Und diese Geschichte, die nun zu erzählen wäre, dient beim Symposion nicht nur der Information der anderen, sondern der Selbstvergewisserung. Nur durch die Erzählung der eigenen Geschichte kann man anderen Auskunft und vor sich selbst Rechenschaft geben über sich und seinen Charakter. Allerdings, Rückblicke solcher Art, das Erzählen von Geschichten, die Vergewisserung des eigenen Lebens: all das ist möglich nur für den, der damals seine Haut hat retten können. „Hinterher ergötzt ein Mann sich auch an Schmerzen, wenn er gar viel erlitten hat und viel umhergetrieben wurde." Das wußte schon das alte Epos, 6 und das weiß auch Xenophanes. In der Tat, durch den Kontrast schmerzhafter Erinnerungen gewinnt die gegenwärtige Situation des Symposions noch an Behaglichkeit. Nur, wie gesagt, erinnern an Vergangenes und reflektieren darüber, wie alles so gekommen ist, kann eben allein der, der davongekommen ist und nun „mit vollem Bauch" die Annehmlichkeiten der Gegenwart genießt. Mir scheint, es ist nicht zu verkennen, daß Xenophanes leicht amüsiert auf jene Fähigkeit blickt, die dem Menschen ermöglicht, Vergangenheitsklärung zu treiben und so im Rahmen von Erinnerungen auch überstandenen Leiden noch ein intellektuelles Vergnügen abzugewinnen. Geschichten antworten auf Fragen. Und fragen kann der Mensch nach allem und jedem. Doch die Frage aller Fragen ist die Frage nach uns selbst.

II Alles Fragen gründet in einem Gefühl, in einer Erfahrung, in einem Bewußtsein des Unbefriedigtsein, der Irritation, der enttäuschten oder jedenfalls nicht bestätigten Erwartung. 7 In der Frage kristallisiert sich die Tatsache, daß der Mensch nicht auf seine enge, unmittelbare Umwelt beschränkt, nicht auf das ihm gerade

6

Odyssee 15, 398-401.

10

Ernst Heitsch

Gegenwärtige festgelegt ist. In der Frage greift er über den Horizont des ihm von der Gegenwart Gegebenen hinaus, vielleicht zurück auf Vergangenes, vielleicht voraus auf Zukünftiges, vielleicht auch auf Gleichzeitiges, das jenseits seines Gesichtskreises liegt. Die Frage, auch wenn sie keine oder noch keine Antwort findet, öffnet, oder richtiger: verweist auf Bereiche jenseits des unmittelbar Gegebenen. Und sofern sie den Menschen in dieser Weise auf die Existenz von etwas verweist, das ihm gerade nicht unmittelbar gegeben ist, bringt sie ihn zu diesem ihm nicht Gegenwärtigen in eine eigenartige Beziehung und stellt ihn dadurch vor die Tatsache, daß er nicht nur eine Gegenwart, sondern Vergangenheit und Zukunft hat, also in einer Geschichte steht, ein durch Geschichte bestimmtes Wesen ist. Gefragt wird, wo Gegenwärtiges fragwürdig geworden ist. Der Fragende bekennt durch die Frage seine Unwissenheit — keine absolute (dann könnte er nicht fragen), wohl aber eine partikuläre. Die Frage ist strukturiert und gerichtet durch eine Art Vorgriff, der die Form einer gleichsam experimentierenden Annahme hat. Indem der Fragende über seinen Horizont hinausgreift, stellt er das ihm Gegebene — hypothetisch — in einen größeren Zusammenhang; diesen gilt es durch die Frage überhaupt erst zugänglich zu machen. Insofern weiß der Fragende, daß er nicht weiß. Doch dieses Nichtwissen ist verbunden mit einer Uberzeugung — und zwar einer Uberzeugung vielleicht nicht unbedingt davon, daß die Frage eine Antwort findet, wohl aber davon, daß es einen größeren Zusammenhang geben muß, dessen Kenntnis, wenn sie denn gewonnen würde, möglicherweise eine Antwort auch auf die konkrete Frage erlaubte. Wie gesagt, fragen läßt sich nach allem und jedem. Und daher liegt nahe, zunächst einmal einen Katalog möglicher Fragen aufzustellen. Das will ich hier vermeiden. Ich denke, fur unsere Zwecke ist es forderlicher, überblicksweise eine gewisse Klarheit dadurch zu schaffen, daß ich die Fülle möglicher Fragen gliedere nach drei möglichen Intentionen, die wir mit unseren Fragen verfolgen. Ich rechne also mit folgenden Fragetypen: 1) Informationsfragen 2) Fragen nach uns selbst 3) Strategische (oder taktische) Fragen. Zunächst einige Worte zur Erläuterung. Informationsfragen in ihrer einfachsten Form beginnen mit Wörtern wie „Wer, Was, Wann, Wie, Wo, Warum". „Wie

7

Aufschlußreich: Erwin Strauss, Der Mensch als fragendes Wesen. Jahrb. für Psychologie und Psychotherapie 1, 1952, 139—153. Ferner der Artikel ,Frage' (E. Coreth) im ,Handbuch philosophischer Grundbegriffe' (Hggb. von H. Krings, Η. M. Baumgartner, Chr. Wild) Bd. 2, München 1973. Auch H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960 (bes. ,Der hermeneutische Vorrang der Frage': 344—360). Enttäuschend der einschlägige Artikel im .Historischen Wörterbuch der Philosophie'. Uber ,The Logic of Questions' David Harrah in D. Gabbay and F. Guenthner (eds.), Handbook of Philosophical Logic., Vol. II (1984) 715-64.

Frühgriechische Literatur als Antwort

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hoch ist der Eiffelturm? Wann (oder wo) ist er gebaut? Wer hat ihn gebaut?" Ja, auch die Frage nach dem Grund, weshalb er gebaut sei, ist möglich. Und denkbar ist sogar ein Kontext, in dem jemand fragt: „Was ist denn eigentlich der Eiffelturm?" Wir können also mit Blick auf ein und dasselbe Objekt nach völlig verschiedenen Sachverhalten fragen. Nun gibt es unter den Informationsfragen auch solche, die nicht die Form haben „Was ist . . . " , sondern „Was meinen Sie, wenn sie sagen . . . " Normalerweise fragen wir nicht „Was ist das Jüngste Gericht?", sondern „Was meinen wir mit diesem Ausdruck?" — Für die zweite Gruppe, die Fragen nach uns selbst, erinnere ich an Benn und Kant, mit denen ich begonnen habe. Es braucht für den Kenner Bennscher Lyrik keine lange Überlegung, um einzusehen, daß viele seiner Gedichte, auch wenn sie die in ,Melancholie' ausdrücklich gestellte Frage nicht enthalten, doch als Antworten oder Teilantworten auf eben diese Frage zu verstehen sind. Und dasselbe gilt für Kant. Was etwa unter dem Titel ,Kritik der reinen Vernunft' auf vielen hundert Seiten ausgeführt wird, dient keinem anderen Zweck als dem, Antwort zu geben auf die Frage „Was können wir wissen?" Daß übrigens Informationsfragen und Fragen nach uns selbst oft nicht streng zu trennen sind, ist leicht einzusehen und liegt in der Natur der Sache. — Unter strategischen Fragen schließlich möchte ich Fragen verstehen, mit denen wir etwas anderes als ihre unmittelbare Antwort intendieren. „Willst du wohl schweigen?" oder „Haben Sie sich das genau überlegt?" sind solche Fragen. Offenbar sind das verkleidete Imperative oder Ratschläge. Gemeint ist: „Ich würde Ihnen raten, sich noch einmal genau zu überlegen, was Sie da vorhaben". Der Idealtypus aber dieser Art von Fragen kommt zum Ausdruck in Sequenzen wie etwa der folgenden: „Würden Sie zustimmen, daß der wertvollste Besitz einer Gesellschaft ihre Kinder sind? Sollte also für sie und ihre Ausbildung nicht alles getan werden? Doch geschieht das? Fehlen nicht überall Kindergärten? Sind die Schülerzahlen in den Klassen unserer Schulen für einen optimalen Unterricht nicht viel zu hoch? Sind unsere Universitäten nicht überfüllt?" usw. Was mit „Argumentationen" dieser Art bezweckt ist, liegt auf der Hand. Die Methode ist dabei immer dieselbe. Der Fragende beginnt mit Fragen, hinsichtlich deren leicht Konsens zu erreichen ist, und fuhrt dann Schritt für Schritt in eine Richtung, in der schließlich die von ihm von Anfang an intendierte Meinung die zwangsläufige Folgerung zu sein scheint. Alle Demagogik läuft nach diesem Argumentationsschema; aber auch viele Uberredungsversuche im täglichen Leben. Die einzelne Frage und ihre Beantwortung sind dabei auch in den Augen des Fragenden ohne jeden Selbstwert, sie sind nur funktionierendes Glied in einer Kette. In ihr sind die einzelnen Fragen instrumentalisiert zugunsten einer letzten Frage und ihrer Beantwortung. Die fragliche Technik funktioniert übrigens umso erfolgreicher, je besser es gleich zu Beginn gelingt, durch entsprechende Fragen einen Grundkonsens zwischen Fragendem und Gefragtem herzustellen.

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Ernst Heitsch

Ich denke, als Erläuterung der drei Fragetypen kann das genügen. Meine These ist nun, daß — ich will nicht sagen: die gesamte, aber doch - ein nicht unbeträchtlicher Teil der Literatur sich entweder als Antwort auf Fragen des ersten und des zweiten Typs verstehen läßt oder aber durch strategische Fragen (oder richtiger: durch Sequenzen von strategischen Fragen) strukturiert wird. Ich will, was ich meine, jetzt an ganz verschiedenartigen Beispielen aus der frühgriechischen Literatur erläutern.

III Vieles, was in der frühgriechischen Epik erzählt wird, läßt sich als Antwort auf vom Dichter fingierte Informationsfragen verstehen, die sein Publikum stellen könnte. Mit wievielen Schiffen fuhren die Griechen gen Troja? Aus welchen Teilen Griechenlands kamen die Teilnehmer des Unternehmens? Wer waren die Anfuhrer? Was hat jeder von ihnen geleistet? Was ist aus ihnen geworden? Warum hat Hektor, als Achill wieder in den Kampf eingriff, sich nicht rechtzeitig hinter die Stadtmauern zurückgezogen? Manche dieser Fragen erlauben eine knappe Antwort, andere sind nur durch Erzählung einer Geschichte zu beantworten. Doch nicht jede Frage, die naheliegt, findet im Text der Epen auch eine befriedigende Antwort. Weshalb wurde Paris nicht gezwungen, die geraubte Frau zurückzugeben? Und auf manche Fragen geben die Texte überhaupt keine Antwort. Was in aller Welt hat die Trojaner, die sich neun Jahre lang im Schutz ihrer Mauern hatten behaupten können, im zehnten Jahr bewogen, die offene Feldschlacht zu suchen? An und für sich sollte man meinen, der Dichter habe diese naheliegende Frage damit beantwortet, daß die Trojaner vom Ausscheiden Achills aus dem Kampf erfahren und nun eine Chance gesehen hätten, die Belagerer zum Abzug zu zwingen. Doch genau das sagt unser Text nicht. Fragen dieser Art kann nicht nur der heutige Leser an den Text stellen, sondern hat natürlich auch schon der damalige Hörer gestellt. Der Autor aber sah sich gehalten, solche Fragen gleichsam vorwegzunehmen und entweder selbst schon zu beantworten oder aber den Text so zu gestalten, daß das Ausbleiben von Antworten auf naheliegende Fragen nicht auffiel. Letzteres konnte offenbar nur dann gelingen, wenn der Text so suggestiv war, daß Fragen erst gar nicht gestellt wurden. Epische Dichtung ist in weitem Umfang Beantwortung potentieller Informationsfragen. Der Dichter beantwortet, was, wie er meint, das Publikum fragen könnte; oder richtiger: er stellt dar, wovon er meint, daß seine Hörer es wissen möchten. Doch kann er Informationsfragen natürlich auch innerhalb der Dichtung von seinen eigenen Figuren stellen lassen. Die formelhafte Frage „Wer bist du? Und wer war dein Vater?" ist eine solche Informationsfrage innerhalb der epischen Erzählung. 8 Und die berühmteste Antwort gibt Odysseus in dem Augenblick, da der Phaiakenkönig sieht, wie sein Gast dem Vortrag eines Sängers

Frühgriechische Literatur als Antwort

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nur unter Tränen noch folgen kann, und ihn, seinen Gast, nun endlich fragt, wer er denn eigentlich sei. Der aber antwortet mit der Selbstvorstellung „Ich bin Odysseus, der Sohn des Laertes" 9 und erzählt dann die Geschichte des viel U m hergetriebenen, nämlich das, was er in den zehn langen Jahren seiner Irrfahrten seit dem Aufbruch von Troja erlebt hat. Was kann ein Mensch, gegen den sich alles verschworen zu haben scheint, auf dieser Erde und auch noch jenseits ihrer Grenzen alles erleben? Was kann er ertragen? Davon erzählt Odysseus vor Alkinoos. U n d davon erzählt der Dichter der Odyssee seinem Publikum. Von menschlichen Erlebnissen erzählt auch die Ilias, aber es sind Erlebnisse ganz anderer Art, die hier zur Sprache gebracht werden. Verirrte Odysseus sich in den weiten R e g i o n e n der Erde, so verirren die Menschen der Ilias sich in den Weiten ihrer eigenen Seele. Es ist, als wolle der Iliasdichter die Frage „Was ist der Mensch?" u. a. auch dadurch beantworten, daß er traditionelle Konflikte ins Extrem treibt: König und Vasall, ererbte Stellung und persönliche Leistung, Recht und Unrecht, Z o r n und Vernunft, Schuld und Verhängnis. Was kann geschehen, wenn der Inhaber der Amtsgewalt den Aufgaben, die seine Stellung mit sich bringt, nicht gewachsen ist, wenn die Leistungen von anderen erbracht werden müssen? Das erzählt der erste Gesang der Ilias. Was kann geschehen, wenn der berechtigte Z o r n eines Gekränkten über jedes Maß hinausgeht? Die Ilias erzählt davon, wie der Gekränkte nun seinerseits sich ins Unrecht setzt und gerade auch von jenen Gefährten isoliert, die im Grunde auf seiner Seite stehen. Ich denke, es gehört zur Größe der Konzeption, von der unsere Ilias bestimmt wird, daß das Potential menschlicher Konflikte, wie ich sie eben stichwortartig angedeutet habe, in der Opposition Agamemnon - Achill verdichtet und dann in zwei gegenläufigen Entwicklungen zur Darstellung gebracht wird. Zu Beginn hat Agamemnon zwar das R e c h t , das in seiner Position gründet, für sich, doch sonst nichts. O h n e Verständnis für die Bitten eines Vaters u m seine Tochter, ohne Verständnis für die N ö t e und die Stimmung des Heeres, ohne Verständnis für die Ratschläge der Gefährten, ist er nur auf sich selbst bezogen und isoliert von allen anderen. Agamemnon steht zu Beginn der Ilias allein. Achill dagegen weiß sich nicht nur der Sache nach im Recht, sondern er hat auch die Zustimmung des Heeres und die der Gefährten. Seine Empörung über Agamemnons Verhalten ist verständlich und berechtigt. Doch am Ende m u ß er erkennen, seinem Z o r n nicht nur die Solidarität mit den Gefährten, sondern auch noch den Freund geopfert zu haben. Auch er hat gesetzte Grenzen überschritten und sieht sich nun seinerseits vereinsamt. So be-

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Τίς πόθεν εις άνδρών; Ilias 21, 150; Odyssee 1, 170; 7, 238; 10, 325; 14, 187; 15, 264; 19, 105; 24, 297. J. Wackernagel, Vorlesungen über Syntax I, Basel 2. Aufl. 1926, 299f. 9 Od. 9, 19 ε'ίμ' Όδυσεύς Λαερτιάδης. Die Formulierung ist singular. Vgl. aber immerhin II. 21, 154; (6, 225); Od. 6, 196; 24, 304.

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rechtigt anfangs sein Zorn, die Maßlosigkeit treibt schließlich nun ihn in die Isolierung. Allerdings, was Achill verliert, wird fur Agamemnon noch nicht zum Gewinn. Keine R e d e davon, daß Agamemnon in der Rückschau nun etwa doch Recht erhielte und unsere Sympathie gewönne. Der Dichter ist realistischer, illusionsloser. Zwar kann Agamemnon durch seinen Versöhnungsversuch den Beifall des Heeres wiedergewinnen. Doch er selbst bleibt im Grunde seines Wesens stets derselbe und eben der, dessen Denken nur auf seine eigene Person fixiert ist. So erschrickt er zwar über die vermeintlich tödliche Verwundung des Bruders, doch er trauert nicht eigentlich u m ihn, sondern u m sich selbst, dessen Unternehmen nun, da der Bruder gefallen, sinnlos geworden sei. 10 U n d auch dann, wenn er in der Bedrängnis bereit ist für den Versuch, Achill durch fast maßlose Geschenke zu versöhnen, bittet er den Gekränkten nicht etwa u m Verzeihung für das, was er ihm angetan, sondern er meint, Achill solle die königliche Oberhoheit nun endlich anerkennen. 1 1 Was ist der Mensch? Der Iliasdichter gibt keine Antwort. Doch indem er einzelne Charaktere seiner Erzählung in kritische Situationen und unter ungewöhnliche Belastung stellt, zeigt er, was der Mensch gegebenenfalls sein kann, und veranlaßt seine Zuhörer, über die Frage nachzudenken.

IV Ganz anders lauten die Fragen, auf die Hesiod Antwort zu geben sucht. Fragt der homerische Epiker, wie der Mensch sich in extremen Situationen verhält, was er erfährt und was er erleidet, so fragt Hesiod, welche Mächte es eigentlich sind, die menschliches Leben bestimmen. Es ist diese Fragestellung, die ihn in der ,Theogonie leitet, wenn er dort fast katalogartig alle Mächte aufzählt, die seiner Meinung nach zum „Geschlecht der immer seienden Götter" gehören; 1 2 und dieselbe Fragestellung leitet ihn in seinem zweiten Werk, wenn er dort in einem ersten Teil von den Mächten spricht, die gegebenenfalls dafür sorgen, daß die Gesamtgemeinde gedeihen kann, und wenn er im zweiten Teil dieses Werkes zeigt, woran der einzelne sein Leben orientieren muß, wenn er sein Auskommen haben will. Die Mächte, die nach Hesiod Welt und menschliches Leben

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II. 4, 169-182. II. 9, 158—161. Diese Worte, mit denen Agamemnon die materiellen Zusagen seines Angebots vor den Gefährten beendet, wiederholt Odysseus vor Achill wohlweislich nicht, statt dessen appelliert er an Achills Solidarität und Ehrgefühl: II. 9, 300-306. Indem Achill dann in seiner Antwort genau jenes Wort verwendet, das Agamemnon zwar gebraucht, Odysseus aber vor Achill verschwiegen hatte, gibt er zu erkennen, daß er seinen Feldherrn kennt: II. 9, 160 und 392. 12 Th. 33 μακάρων γένος αίέν έόντων, 105 αθανάτων ιερόν γένος αίέν έόντων. 11

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bestimmen, sind von ganz verschiedener Natur: Götter wie Zeus, Athene, Artemis, denen ein fester Kult galt; Götter wie Atlas, Japetos, Typhoeus, die ihren Platz weniger oder gar nicht im Kult, wohl aber im Mythos hatten; göttliche Mächte, die fast nur als Gruppe auftreten, wie die Musen, Nymphen, Chariten, Erinnyen, Kyklopen; Erscheinungen der realen Welt, wie der Himmel, die Nacht, das Meer, Sterne, Berge, Flüsse; und schließlich das, was wir Abstrakta nennen, wie Streit, Kampf, Lüge, Vergessen, Schlaf und Tod. So unterschiedlich diese „Götter" sind, was sie verbindet, ist die Tatsache, daß von ihnen Wirkungen ausgehen, hinter denen der Mensch Mächte zu erkennen glaubte, denen er ausgeliefert ist. Das gilt von Zeus, der mit Blitz und Donner sich Respekt verschafft, und das gilt vom Haß, der einen überwältigt; das gilt von der belebenden Kraft des Flusses, an dem der Bauer wohnt, und das gilt von der entfesselten Gewalt des Meeres, auf dem der Schiffer scheitert. Alle diese Mächte — genannt werden über 250 Namen — läßt Hesiod sich im Rahmen eines Stammbaums entfalten. Obwohl sie also nacheinander in Erscheinung treten und sich nach Generationen ordnen, ist doch der durch das Stemma bedingte temporale Aspekt nicht eigentlich das, worauf es Hesiod ankommt. Wohl gibt es alte und jüngere Götter, doch alle gehören sie zum „Geschlecht der immer seienden Götter"; und vor allem: Die alten Götter treten nicht einfach ab zugunsten der folgenden Generationen. Der Tag folgt auf die Nacht, das Helle entsteht aus dem Dunklen. Aber die dunklen und ungeheuren Mächte bleiben deshalb in der Welt doch weiterhin bedrohlich. Anstelle des Ausdrucks „das Geschlecht der immer seienden Götter" verwendet Hesiod als Bezeichnung für die Gesamtheit aller Mächte auch eine Formulierung, die er aus dem homet 13 rischen Epos übernimmt: „Das, was ist, was sein wird und was war". Und ein Vergleich kann deutlich machen, daß die mit dem genealogischen Stemma eigentlich gegebene zeitliche Abfolge für Hesiod gerade nicht wesentlich ist. Homer hatte von der Fähigkeit des begnadeten Sehers gesprochen, alles und besonders auch das, was er nicht selbst erlebt hat oder was überhaupt erst noch geschehen soll, zu kennen und zu deuten. Bei ihm also meint der Ausdruck das gegenwärtige, vergangene und zukünftige Geschehen. Doch genau das meint Hesiod nicht, wenn er die Formulierung aufgreift. 14 Nicht von dem, was einst geschehen ist, und auch nicht von dem, was dereinst geschehen wird, will er erzählen, sondern nennen will er jene Mächte, die immer, nämlich in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft geherrscht haben und herrschen werden. Wie Hesiod nach den immer seienden Mächten fragt, die zu allen Zeiten die Welt bestimmen, so werden Spätere nach dem Seienden fragen, das hinter der Erscheinungen Flucht das Beständige und Identische in der Welt ist. ί

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Ilias 1, 70 τά τ' έόντα τά τ' έσσόμενα πρό τ' έόντα. T h . (32 und) 38 = Ilias 1, 70.

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Beachtenswert sind schließlich noch zwei weitere Fragen, die Hesiod stellt. Sie sollen nur noch kurz angedeutet werden. Mit der einen beginnt die erkenntniskritische Reflexion der europäischen Philosophie. Sie lautet: „Was ist Wahrheit?" Oder auch: „Wie ist Wahrheit für menschliche Augen von Irrtum zu unterscheiden, der doch wie Wahrheit aussieht?" Die andere Frage lautet etwa: „Wie ist es zu jenen Zuständen gekommen, in denen die Menschen gegenwärtig leben?" Mit ihr beginnt geschichtliches Denken, also der Versuch, die Gegenwart als Ergebnis einer Entwicklung zu begreifen. Die erste Frage und die Antwort, die Hesiod findet, können m. E. angemessen nur verstanden werden, wenn berücksichtigt wird, daß Hesiod sich als von übermenschlichen Mächten berufen und begnadet verstanden hat. Daß seine Überlegungen ihn auf unbegangenen Bahnen zu Einsichten gefuhrt hatten, von denen seine Zeitgenossen bis dahin nichts wußten, das glaubt er deutlich zu sehen. Im Rahmen der ihn bestimmenden Tradition konnte er diese Einsichten allerdings nur als göttliche Gabe verstehen und sah sich, da er kritisch genug war, daher alsbald vor der Notwendigkeit, Stellung zu nehmen zu der Frage, wie es denn dann um den Wahrheitsanspruch anderer Sänger stand, die doch so gänzlich andere Geschichten erzählten. Auch sie beanspruchten ja, von Göttern begabt zu sein, und meinten, in ihren Worten nur zu wiederholen, was ihnen die Musen sagen. 15 Hesiod sah für eine Antwort nur zwei Möglichkeiten. Entweder war der Anspruch der anderen Sänger, im Namen der Musen zu sprechen, nur angemaßt. Eine solche Lösung des Problems hätte offenbar eine saubere Trennung erlaubt: Dort, bei den anderen, im Widerspruch zu ihrem Anspruch nur Erzählung, Dichtung, Erfindung von Menschen; hier, bei Hesiod, Wahrheit, die von den Musen garantiert wird. Oder aber auch die anderen Sänger sind von den Musen begabt, ihr Anspruch ist insofern berechtigt; doch die Musen begaben mit beidem, mit Wahrheit und mit Irrtum, der allerdings wie Wahrheit aussieht. Hesiod gibt diese zweite, in gewissem Sinne bescheidenere Antwort, überzeugt, auch sie den Musen zu verdanken, 16 und zeichnet damit den Weg vor, den die erkenntniskritische Reflexion späterer Zeiten gehen sollte. Denn wenn doch Irrtum wie Wahrheit aussehen kann, welche Möglichkeit, ihn als solchen zu durchschauen, bleibt dann noch für das Denken profanerer Zeiten, sobald man darauf verzichtet, sich selbst in besonderer Weise als mit göttlichem Wissen begabt zu verstehen? Mit der Einsicht Hesiods, daß für menschliche Augen zwischen Wahrheit und Irrtum, der wie Wahrheit aussieht, nicht zu unterscheiden ist, war tatsächlich der Weg zu Skepsis vorgezeichnet, an dessen Ende schon um

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Hier genügt ein Hinweis auf die Anfangsverse von Ilias und Odyssee. Hesiod hört von den Musen u. a.: Th. 27 ιδμεν ψεύδεα πολλά λέγειν έτύμοισιν όμοια, ιδμεν δ', εύτ' έθέλωμεν, άληθέα γηρύσασϋαι.

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500 v. Chr. Xenophanes steht mit seiner Diagnose: „Das Genaue hat freilich kein Mensch gesehen, und es wird auch niemanden geben, der es weiß über die Götter und über alles, was ich sage. Denn wenn es ihm auch im höchsten Grade gelingen sollte, Wirkliches auszusprechen, selbst weiß er es gleichwohl nicht. Für ιy

alles gibt es aber Vermutung". Auf die andere Frage, wie es zu jenen Zuständen gekommen ist, in denen die Menschen heute leben, gibt Hesiod aufFälligerweise keine eindeutige Antwort. Zwar betrachtet er die Gegenwart als Ergebnis von Entwicklungen, die sich durchaus erzählen lassen. Aber die zwei Entwicklungen, von denen er erzählt, sind in ihrer Richtung einander genau konträr. In der ,Theogonie geht die Entwicklung vom Dunkleren zum Helleren, und das Gewalttätige und Ungezähmte wird zurückgedrängt zugunsten von Recht und Ordnung. Zuerst herrscht Uranos, der seine Kinder, die Gaia gebären will, nicht ans Licht läßt und erst entmachtet wird, als es Kronos mit Gaias Hilfe gelingt, ihn zu entmannen. Doch Kronos ist kaum besser als sein Vater und verschlingt seine eigenen Kinder; erst als er sich durch seine Frau täuschen läßt, kann Zeus seinen Vater besiegen. U n d damit endet nun allerdings die Entwicklung. Denn Zeus trifft Maßnahmen, die verhindern, daß auch er von der nächsten Generation überwältigt wird. Er nimmt ältere Mächte in seinen Dienst und garantiert durch Recht und Ordnung Beständigkeit. Ihm und nur ihm gebührt der Titel ,Vater der Menschen und Götter', ein Titel offenbar, der ihm, der doch relativ spät erst aufgetreten war, nur insofern zukommen kann, als tatsächlich er jetzt der Herr geworden ist über eine von ihm geschaffene und garantierte Ordnung. Demgegenüber erzählt H e siods zweites Werk von einer ganz anderen Geschichte. Da lebten die Menschen einst, als Kronos(!) herrschte, in einem goldenen Zeitalter wie Götter, ohne Schmerzen und ohne die Erscheinungen des Alters. U m das silberne Geschlecht steht es dann schon bedeutend schlechter. Das dritte, eherne, ist wild, trotzig, vermessen. Im eisernen schließlich gibt es weder Gerechtigkeit noch Ehrfurcht, regiert allein das Faustrecht; das ist Hesiods Gegenwart, geplagt von Mühsal und Jammer. - Ist nun also die Gegenwart der Endpunkt einer auf- oder aber einer absteigenden Entwicklung? Der Widerspruch der beiden Entwicklungslinien, die Hesiod zeichnet, ist ja evident; und schwerlich läßt er sich harmonisieren. Daß 17

VS 21 Β 34. — Die skeptische Deutung dieses Fragments ist heute — entgegen der seinerzeit einflußreichen Deutung Hermann Frankels (Hermes 60, 1925 — Wege und Formen frühgriechischen Denkens, München 2. Aufl. 1960, 338-349) - nach dem im Rhein. Mus. 109, 1966, 193—235 erschienenen Beitrag wohl allgemein akzeptiert: etwa J. Barnes, T h e Presocratic Philosophers, London 2. Aufl. 1982, 139Γ.; W. R o d , Die Philosophie der Antike 1, M ü n chen 2. Aufl. 1988, 85f.; J. H. Lesher, Xenophanes of Colophon, University of Toronto Press 1992, 166-169; Chr. Schäfer, Xenophanes von Kolophon (Beiträge zur Altertumskunde 77), Stuttgart 1996, 114—130; ferner meine kommentierte Xenophanes-Ausgabe, München 1983, 173—184 und meine Abhandlung Xenophanes und die Anfänge kritischen Denkens (Abh. Akad. Mainz), 1994, 19-23.

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etwa Hesiod selbst ihn nicht gesehen hätte, wird man nicht glauben wollen. D o c h wie er die Frage, die auch schon seinen Zeitgenossen naheliegen mußte, beantwortet hat, darüber können wir n u r m u t m a ß e n .

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Für die folgenden zwei Jahrhunderte beschränke ich mich auf Vorsokratiker und Sophisten. U n d auch hier m u ß ich noch einmal selegieren. Hatte Hesiod von den immer seienden Mächten und von dem gesprochen, was ist, sein wird und gewesen ist, so fragt Parmenides, was das Sein bzw. das Seiende denn eigentlich ist, u n d gewinnt eine Antwort dadurch, daß er Sein durch Erkennen definiert. „Erkennen u n d Sein ist dasselbe", oder in anderer (aber m. E. nicht richtiger) Übersetzung; „Dasselbe kann erkannt werden u n d sein". 1 8 Auf die Probleme, vor die Parmenides uns mit dieser wie mit anderen Äußerungen stellt, gehe ich jetzt besser nicht ein. Genügen darf hier die Beobachtung, daß schon die Zeitgenossen und Nachfolger sich durch ihn provozieren, aber auch faszinieren ließen. Die von Parmenides ins Z e n t r u m seiner Überlegungen gerückte Frage nach d e m Sein wird von ihnen alsbald aufgegriffen und mit u n t e r schiedlichen Argumenten unterschiedlich beantwortet. „Aller Dinge M a ß ist der Mensch, der seienden, daß sie sind, der nicht seienden, daß sie nicht sind". Dieser Satz, mit dem Protagoras eine Schrift begonnen hat, 1 9 ist sicher provokativ gemeint, klingt aber für griechische O h r e n wohl doch nicht ganz so provozierend wie für uns. In χρήματα hört der Grieche mit Selbstverständlichkeit das Verbum χ ρ ή σ θ α ι g e b r a u c h e n , mit etwas umgehen', χρήματα sind also die Dinge, sofern man mit ihnen U m g a n g hat. U n d τά όντα meint nicht einfach das Seiende, sondern das, was gegenwärtig, was wirklich ist, dann auch den Sachverhalt, die Tatsache. Sobald wir diese Bedeutung einsetzen, wird m. E. sofort deutlich, gegen w e n Protagoras sich hier wendet. Nicht das geistige Erkennen, wie Parmenides meint, 2 0 definiert das, was ist, sondern der Mensch und zwar der ganze Mensch. Alles, was ihm widerfährt, was er erlebt, was ihm begegnet, womit er U m g a n g hat, ist für den Menschen gegenwärtig, gehört also für ihn in diesem Sinne zum Seienden. Die von Parmenides vertrete-

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VS 28 Β 3. Verwiesen sei, statt vieler, auf W. R o d (oben Anm. 17) und die ausfuhrliche Erörterung bei J. Wiesner, Parmenides. Der Beginn der Aletheia, Berlin 1996, 139—162. 19 VS 80 Β 1. Dazu auch mein Beitrag Ein Buchtitel des Protagoras, Hermes 97, 1969, 292-296 (= C. J. Classen (Hg.), Sophistik, Darmstadt 1976, 298-305). 20 Übrigens wird die Beziehung auf die Eleaten durch ein bei Eusebios (Praep. ev. 10, 3, 25) erhaltenes Zeugnis des Prophyrios bestätigt, dessen Gewährsmann Prosenes (Peripatetischer Philosoph im 3. Jh. n. Chr., R E Suppl. XV) die Schrift des Protagoras Περί τοΰ οντος noch vor sich hatte.

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ne Position kann sich demgegenüber nur dadurch behaupten, daß sie den M e n 21

sehen willkürlich auf seine geistige Wahrnehmung beschränkt. Während Protagoras auf die Provokation durch Parmenides damit reagierte, daß er Sein anders als Parmenides definiert, sucht Gorgias die von Parmenides entwickelte Lehre insgesamt ad absurdum zu fuhren. N u r Sein gibt es? U n d die Welt, in der wir leben, in der wir beobachten und unsere Erfahrungen machen, das alles sollen nur Meinungen oder Eindrücke sein, die die Menschen haben, weil sie meinen, sich der Alternative ,es ist oder es ist nicht' entziehen zu k ö n nen, also inkonsequent genug sind, mit Sein und Nichtsein zu rechnen, und sich dann allerdings gezwungen sehen, 22 Sein und Nichtsein mal für dasselbe, dann wieder für nicht dasselbe zu halten? Wenn Parmenides meint, das beweisen zu können, dann kann er, Gorgias, mit Hilfe derselben Argumentationstechnik noch ganz andere Behauptungen beweisen, nämlich die folgenden drei: 23 Es gibt nichts. Selbst wenn es etwas gibt, ist es für den Menschen nicht erkennbar. Selbst wenn es erkennbar ist, ist es dem anderen nicht mitteilbar. Die Technik, mit der er das beweisen kann, übernimmt er von Parmenides, indem er ,sein' als Copula und als Dasein - oder das ,ist' der Prädikation und das ,ist' der Existenz — mit Fleiß gegeneinander ausspielt und verwechselt. Ich gebe ein einziges Beispiel. „Wenn das Nichtsein Nichtsein ist, so ist das Nichtseiende u m nichts weniger als das Seiende. Denn das Nichtseiende ist nichtseiend, das Seiende ist seiend. So sind die Dinge und sind nicht". Mit einem ganz anderen Ansatz greift schließlich Piaton im ,Sophistes' die Frage nach dem Seienden auf. Dabei geht es ihm nicht eigentlich darum, „die Ansichten der Vorgänger im einzelnen als falsch zu erweisen. Es geht vielmehr darum, . . . , zu zeigen, daß die Vorgänger vom Seienden so reden, als sei klar, wovon sie redeten, während es in Anbetracht dessen, was sie sagen, alles andere als klar ist, wovon sie eigentlich reden, und daß, wenn man auf ihre Redeweise vom Seienden reflektiert, deutlich wird, daß ganz allgemein etwas an der R e d e weise vom Seienden problematisch ist, daß wir selbst, wenn wir über die Sache 21

Zur Klärung dessen, was Protagoras im Auge hat, läßt sich m. E. mit Gewinn heranziehen, was M. Heidegger in Sein und Zeit in § 16 über „Das Sein des in der Umwelt begegnenden Seienden" ausführt (wenn man sich von der eigenwilligen Terminologie einmal nicht stören läßt). Was dem Menschen in seiner Welt begegnet, sind nicht ,Dinge', deren Seinsart die bloße Vorhandenheit ist, sondern ,Zeug'. „Die Seinsart von Zeug, in der es sich von ihm selbst her offenbart, nennen wir die Zuhandenheit". Da Zeug immer und nur in der je eigenen Umwelt begegnet, gilt etwa: „Der Wald ist Forst, der Berg Steinbruch, der Fluß Wasserkraft, der Wind ist ,in den Segeln'." Das, worauf — nach Protagoras - der Mensch mit seinem Verhalten und Urteilen reagiert, sind nicht die Dinge in ihrer abstrakten Vorhandenheit, sondern das, womit er Umgang hat, was ihm zuhanden ist, die χρήματα. 22 VS 28 Β 6, 8—9 οϊς τό πέλειν τε και ούκ είναι ταύτόν νενόμισται κού ταυτόν. 23 VS 82 Β 3.

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nachzudenken beginnen, nicht mehr so recht wissen, wovon eigentlich die Rede sein soll, wenn man etwas ,seiend' nennt". 2 4

VI Damit, daß Hesiod die Wahrheit problematisierte, hatte er eine Frage gestellt, die nicht mehr zur R u h e kommen sollte. Ich nenne einige charakteristische Antworten. Parmenides hatte, wie oben gesagt, mit Hilfe der Alternative „es ist oder ist nicht" für die These argumentiert, nur Sein sei möglich. Nur diesem Sein, nur der von ihm aufgestellten Alternative und nur der von ihm zugunsten dieses Seins entwickelten Argumentation komme der Charakter der Wahrheit zu. Demgegenüber sei die Welt mit ihren Veränderungen, ihrem Werden und Vergehen, also die Welt, in der wir leben, nur Schein und Eindruck, den wir als Menschen haben. Diese Eindrücke sind nach Parmenides zwar unter bestimmten Voraussetzungen unvermeidlich, aber sie sind nicht richtig, haben nicht den 25

Charakter der Wahrheit. Konsequenz und Rigorosität wäre offenbar das letzte, was man Parmenides absprechen könnte. 24

M . Frede in d e m von T h . Kobusch u n d B. Mojsisch h e r a u s g e g e b e n e n S a m m e l b a n d : Piaton. Seine Dialoge in der Sicht n e u e r F o r s c h u n g e n , D a r m s t a d t 1996, 186. Sokrates sagt bei Piaton im Sophistes 2 4 4 a : „ D a wir nun ratlos sind, so m a c h t ihr uns ausreichend klar, was ihr eigentlich m e i n t , w e n n ihr den Ausdruck ,seiend' gebraucht. D e n n offenbar w i ß t ihr d a r ü b e r seit l a n g e m Bescheid, w i r dagegen glaubten einst, es zu verstehen, jetzt aber sind w i r in Verlegenheit geraten". 25 W i e w e i t bei diesen Ü b e r l e g u n g e n auch die E t y m o l o g i e (ά-λήθεια) eine R o l l e gespielt hat, ist eine o f f e n e Frage. D i e U b e r s e t z u n g des griechischen Wortes, das in den P a r m e n i d e s F r a g m e n t e n siebenmal begegnet, ist jedenfalls problematisch. Wahrheit ist f u r uns ein m ö g l i cher C h a r a k t e r v o n Aussagen, α λ ή θ ε ι α aber ist - nicht n u r f ü r P a r m e n i d e s - ein möglicher C h a r a k t e r auch von D i n g e n ; u n d letzteres hat seinen G r u n d o f f e n b a r in der E t y m o l o g i e des Wortes. W e n n w i r einschlägige F o r m u l i e r u n g e n des h o m e r i s c h e n Epos mit „die W a h r h e i t (oder Wahres) sagen" w i e d e r z u g e b e n pflegen, so ist das in gewissem Sinne zwar sachlich r i c h tig; d o c h eigentlich b e d e u t e t die griechische F o r m u l i e r u n g „etwas sagen, was e i n e m nicht e n t g a n g e n ist u n d / o d e r was m a n nicht vergessen hat". D a h e r läßt sich d e n n auch ursprünglich u n d n o c h bis weit ins 5. J h . mit Hilfe des Adjektivs α λ η θ ή ς nicht von einer „wahren Aussage" sprechen. Das wird erst möglich, als die E t y m o l o g i e nicht m e h r so recht e m p f u n d e n wird. Z u dieser Bedeutungsverblassung t r u g zweifellos bei, daß es z u m A d j e k t i v ά λ η θ ή ς keine n i c h t n e g i e r t e G r u n d f o r m gibt (also w i e i m D e u t s c h e n etwa bei .unversehens'), w ä h r e n d n e b e n d e m Substantiv α λ ή θ ε ι α zwar die n i c h t - n e g i e r t e F o r m λ ή θ η .Vergessen' steht, d o c h m i t einer g e wissen B e d e u t u n g s v e r ä n d e r u n g (im D e u t s c h e n vergleichbar etwa: Verschämtheit — U n v e r schämtheit). Früheste Belege f ü r die V e r b i n d u n g λόγος α λ η θ ή ς sind w o h l H e r o d o t (II 34, 3; V 32) u n d Gorgias VS 82 Β I I a (Palamedes) 26. D o c h n o c h der R e d n e r A n t i p h o n (etwa 4 8 5 - 4 1 1 ) v e r w e n d e t ά λ η θ ή ς dort, w o er vor G e r i c h t daran e r i n n e r n will, es k o m m e im P r o zeß zunächst einmal darauf an, daß das, was geschehen ist, klar u n d deutlich (nämlich ,unverborgen') vor j e d e r m a n n s A u g e n liege (I 6). U n d n o c h Aristoteles sieht sich veranlaßt zu der B e m e r k u n g (m. E. gerade auch g e g e n ü b e r Piaton), daß der O r t der Wahrheit nicht die

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Doch natürlich mußte die ausschließliche Fixierung der αλήθεια auf den „ontologischen" Bereich provozierend wirken. Es war Protagoras, der auf die Herausforderung reagierte und die fragliche These sozusagen auf den Kopf stellte. In dieser Absicht machte er das von Parmenides so exponierte Wort αλήθεια zum Titel einer eigenen Schrift, ließ diese mit dem homo-mensura-Satz beginnen und machte sich dann die Etymologie des Titelwortes für seine eigene Argumentation zunutze. Was der Mensch hört, sieht, empfindet, was sich ihm zeigt, in Erscheinung tritt, fiir ihn Phänomen wird, das und nur das ist für ihn. Was aber in diesem Sinne fiir ihn ist, ihm erscheint und sich zeigt, das ist unverborgen, ά-ληθές. Demzufolge ist άλήθεια nicht etwa eine Qualität von Erkenntnissen, die durch angestrengtes Denken gewonnen werden, ist nicht etwas hinter den Erscheinungen, das erst gesucht werden müßte, sondern ist als Unverborgenheit der sozusagen selbstverständliche Charakter dessen, was dem M e n schen unmittelbar in seiner Welt begegnet, was ihm zugänglich und gegeben, was ihm nicht entgangen ist. Mit anderen Worten: Protagoras, fiir den Beobachtungen zur Sprache und das Programm einer Sprachrichtigkeit (όρθοέπεια) ausdrücklich bezeugt werden, konnte die Etymologie der griechischen Bezeichnung der Wahrheit gewissermaßen als Argument für die Richtigkeit seiner eigenen relativistischen Lehre einsetzen. 26 Aus der Zeit u m 400 v. Chr. besitzen wir schließlich noch eine Schrift, in der ein unbekannter Autor über die Kunst referiert, zu j e d e m T h e m a zwei t

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entgegengesetzte Thesen plausibel zu vertreten. „Was ist das Gute und was ist das Schlechte?" Auf diese Frage antworten die einen „Philosophierenden", wie der Autor berichtet, das Gute sei etwas anderes als das Schlechte, andere dagegen behaupten, es sei ein und dasselbe, sofern eben dasselbe für den einen gut, für den anderen aber schlecht sei, und sofern dasselbe auch für denselben Menschen Dinge seien (Met. Ε 4; 1027b25). Für .Wahrheit' bei Parmenides meine kommentierte Parmenides-Ausgabe, München 3. Aufl. 1995, 9 0 - 9 8 (ich versuche als Ubersetzung ,Evidenz'. Dazu auch U. Hölscher, Parmenides, Frankfurt 2. Aufl. 1986, 126) und Wiesner (oben Anm. 18) 170—177. — Im übrigen war es einer unvoreingenommenen Erörterung jener Schwierigkeiten, die durch Etymologie und Bedeutung von αλήθεια gegeben sind, durchaus abträglich, daß gerade M. Heidegger (doch keineswegs als erster) seinerzeit auf einer Wiedergabe durch ,Unverborgenheit' bestanden hatte. Mancher, der seine Philosophie ablehnte, meinte, nun auch die von ihm vertretene etymologische Deutung des griechischen Wortes ablehnen zu sollen. In diesem Sinne gibt ein Beispiel für Animositäten, die blind machen, W. Kamiah in: KamlahLorenzen, Logische Propädeutik, Mannheim 1967, 128. Demgegenüber hat P. Friedländer seinen in der 2. Aufl. seines Platon-Buches (Berlin 1954) I 233—248 begangenen Fehler dann in der 3. Aufl. (1984) 233—242 korrigiert. Literatur zum Thema (die früheste mir bekannte stammt von Joh. Jac. Reiske i. J. 1773) habe ich zusammengestellt in: Parmenides und die Anfänge der Erkenntniskritik und Logik, Donauwörth 1979, 64 Anm. 5. 26 Ausfuhrlicher hierzu die oben (Anm. 19) genannte Arbeit. 27 Dissoi Logoi VS 90. Dazu Τ. M. Robinson, Contrasting Arguments. An Edition of the Dissoi Logoi, N e w York 1979.

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mal gut, mal aber schlecht sei. Versteht man in diesem Referat ,gut' u n d ,schlecht' im Sinne von nützlich und schädlich - was dem griechischen Sprachgebrauch durchaus entspricht —, so lesen sich die beiden Thesen so: „(a) Das eine ist nützlich, das andere schädlich, (b) Dasselbe ist nützlich und schädlich". Für beide Thesen nun hatten die jeweiligen Vertreter ihre Gründe, und auch über sie berichtet der Autor. D o c h dabei geht dann, was wie ein bloßes Referat über verschiedene M e i n u n g e n begann, unversehens in einen Appell über. D e r Autor will, wie allmählich klar wird, nicht einfach informieren, sondern den Leser veranlassen, Position zu beziehen. Allerdings ist seine G e d a n k e n f ü h r u n g bisweilen etwas abrupt, 2 8 u n d auch die Argumente sind jedenfalls für uns heute 29

nicht gerade überzeugend. Schon allein die Tatsache, daß wir heute zwischen N a m e n und Prädikaten und ferner zwischen ein- und mehrstelligen Prädikaten unterscheiden, macht es uns schwer, den Text auf eine nicht-anachronistische Weise zu verstehen. So wird — nach dem Anonymos — gegen die These a etwa auf folgende Weise argumentiert: „Derselbe Vorgang, nämlich das Zerbrechen eines Topfes, ist für den Besitzer ein Schaden, für den Töpfer aber von Vorteil. O d e r : Dasselbe Geschehen, der Ausgang des Peloponnesischen Krieges, ist für die Spartaner ein Gewinn, für die Athener ein Verlust. Also ist die These a falsch, u n d richtig ist vielmehr die These b ( = Das Nützliche u n d Schädliche sind identisch)". Gegen sie aber sollen dann andererseits Argumente gelten, die in folgendem fiktiven Gespräch vorgebracht werden: „Du, der du behauptest, das G u t e u n d das Schlechte seien identisch, sag mir doch, ob deine Eltern dir Gutes getan haben. — Er wird antworten: O f t und in g r o ß e m Umfang. — Also schuldest du ihnen viel Schlechtes, wenn doch das Gute u n d das Schlechte identisch sind". Spätestens hier wird, wie ich denke, deutlich, daß es dem Autor nicht primär darum geht, als Argumentationskünstler seine Kompetenz zu erweisen, jede der beiden einander widersprechenden Thesen plausibel zu machen, daß er vielmehr beabsichtigt, den Leser bzw. den Gefragten in eine Aporie zu führen. Was besonders klar wird dort, wo er die R e i h e von Fragen und A n t w o r ten in eine Kurzform bringt etwa von dieser Art: „Beantworte mir denn also auch folgendes: Ist es nicht so, daß du Mitleid hast mit den Bettlern, weil es ihnen schlecht geht, u n d sie auch umgekehrt glücklich preist, weil es ihnen gut geht, w e n n doch Gutes u n d Schlechtes identisch sind"? Wer einen solchen Satz formuliert, geht offenbar zunächst von der opinio communis aus, daß A r m u t bedauerlich, also ein Nachteil, also etwas Schlechtes sei, u n d identifiziert dann mit dieser M e i n u n g auch den Gesprächspartner. Indem er dann aber seinen Part28

Insofern ist diese Schrift durchaus vergleichbar der Schrift des unbekannten Oligarchen (Ps.-Xenophon) über den Staat der Athener, deren Gedankenfuhrung ebenfalls bisweilen unbeholfen wirkt. Dazu Hermes 113, 1985, 250-253. 29 Die Argumente, die der Autor referiert, sind denen ähnlich, mit denen die Sophisten Euthydemos und Dionysodoros in Piatons Euthydem den jungen Kleinias verwirren.

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ner auch mit jenen Folgerungen identifiziert, die sich aus der These, schlecht und gut seien in Wahrheit identisch, ergeben, stellt er ihn vor die Tatsache, daß er sich in einen Widerspruch verwickelt hat: Entweder also darf der Gefragte den Bettler in Zukunft nicht mehr bedauern — denn das setzt ja voraus, daß er Armut für etwas Schlechtes hält — oder aber er muß einsehen, daß die Argumentation zugunsten der fraglichen These, schlecht und gut seien identisch, fehlerhaft ist, und daher dieser These den Abschied geben. - Sicher ist der Autor etwas unbeholfen, überspringt auch Schritte, die fur die Argumentation eigentlich notwendig sind. Doch die Intention, von der er sich leiten läßt, ist m. E. genau die, die wir sonst nur bei Sokrates zu finden gewohnt sind. 30 Die Absicht, nicht bloß unverbindlich zu informieren, sondern den Leser für eine Überzeugung zu gewinnen, bestimmt nun entscheidend auch das Kap. 4 über Wahr und Falsch. Es beginnt: „Auch über das Falsche und das Wahre gibt es zwei entgegengesetzte Thesen. Die eine behauptet, die falsche Aussage sei etwas anderes als die wahre; die andere, sie sei mit ihr identisch". Als Argument für die zweite, die Identitätsthese wird zunächst angeführt, daß die wahre und die falsche Aussage aus denselben Wörtern gebildet werden. Dann folgt anscheinend (mit έπειτα eingeleitet) ein zweites Argument, das aber in Wahrheit nicht als eigenes Argument, sondern als Erläuterung des ersten gedacht ist. Denn in der Tat liegt die Frage ja nahe: Wenn wahre und falsche Aussage aus denselben Wörtern gebildet und also identisch sind, ist die Unterscheidung von wahr und falsch dann also willkürlich und überflüssig oder läßt sie sich als sinnvoll und notwendig begründen? Daß die Unterscheidung überflüssig sei, meint nun auch der Autor selbst nicht, der sein erstes Argument für die Identitätsthese vielmehr in der folgenden unerwarteten Weise erläutert: „Eine Aussage, die gemacht wird, ist dann, wenn es so, wie sie lautet, auch geschehen ist, wahr; ist es aber nicht geschehen, ist dieselbe Aussage falsch". Und als Erläuterung ist das an und für sich vorzüglich. Der Autor trifft den Nagel auf den Kopf. Wir drücken, was er meint, nicht viel anders aus, wenn wir sagen: „Ist, was die Aussage behauptet, der Fall, dann ist sie wahr; andernfalls falsch". Dabei ist der Wortlaut der Aussage in den beiden denkbaren Fällen in der Tat identisch. Doch aus dieser Tatsache würden wir, anders als der Autor, nicht schließen wollen, daß dann also wahre

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Eine mögliche Beziehung dieser Schrift zu Sokrates ist erörtert von H. Gomperz, Sophistik und Rhetorik, Leipzig 1912 ( = Darmstadt 1965), 150fF.; dazu W. Kranz, Studien zur antiken Literatur und deren Fortwirken, Heidelberg 1967, 1 2 1 - 2 3 ( = Hermes 72, 1937, 2 3 0 - 3 2 ) . Unberücksichtigt bleibt dieser Aspekt bei J. Barnes, The Presocratic Philosophers, London 2. Aufl. 1982, 516—522 (etwas anders aber 51); A. Graeser, Die Philosophie der Antike 2 (Sophistik und Sokratik, Piaton und Aristoteles), München 2. Aufl. 1993, 6 4 - 7 0 ; W. K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy II, Cambridge 1969, 3 1 6 - 3 1 9 ; G. B. Kerferd, The Sophistic Movement, Cambridge 1981; W. Wieland, Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung I, Stuttgart 1978, 9 1 - 9 3 .

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und falsche Aussage identisch seien. Dadurch, daß der Autor genau diese Unterscheidung von Wortlaut und Aussage nicht macht und die Frage, ob geschehen ist, was behauptet wird, offenbar als etwas betrachtet, was die Aussage selbst (als Wortlaut) gar nichts angeht, kann er fur die Identitätsthese argumentieren. Nachdem er dann die Meinung, die Frage nach wahr und falsch sei nichts, was die Aussage selbst betreffe, durch einige Beispiele gestützt hat, wendet er sich der anderen These zu, in der die Differenz von wahrer und falscher Aussage vertreten wird. Und auch hier wieder argumentiert er zugunsten dieser von ihm favorisierten These auf der Basis eines fingierten Dialogs, den er folgendermaßen zusammenfaßt: „Wenn nämlich jemand die, die behaupten, dieselbe Aussage sei falsch und wahr, fragt, ob diese ihre Behauptung falsch oder wahr sei, dann ergibt sich folgendes: Lautet ihre Antwort ,falsch', dann ist klar, daß es zwei entgegengesetzte Aussagen gibt. Antworten sie aber, ihre Behauptung sei wahr, dann ist dieselbe Behauptung auch falsch" (nämlich nach ihrer eigenen These, daß wahre und falsche Aussagen identisch seien). Falsch also ist die Identitätsthese in jedem Fall, ihre Vertreter selbst mögen sie nun als wahr oder aber als falsch qualifizieren. — Im übrigen aber verdient diese Argumentation auch deshalb Beachtung, weil wir hier, wenn ich recht sehe, den frühesten Beleg haben fur jene später noch oft verwendete Taktik, eine These dadurch zu widerlegen, daß man diese These auf sie selbst anwendet.

VII Den Texten, die ich bisher herangezogen habe, ist — mit Ausnahme der homerischen Epen — das eine gemeinsam, daß die Fragen, um die es ging, echte Fragen sind, die der Autor sich selbst und damit auch den Lesern stellt und die er dann zu beantworten sucht. Mag die Frage im Text ausdrücklich formuliert sein oder aber den Ausführungen nur unausgesprochen zugrunde liegen: Will der Leser verstehen, was der Autor sagen will, hat er zunächst die den Text bestimmende Frage sich zu eigen zu machen. Das nun ist völlig anders in jenen Texten, in denen einem durchschnittlichen Athener des 5. Jhs. das, was wir Literatur nennen, vornehmlich begegnete. Das 5. Jh. ist das Jahrhundert des attischen Dramas. In den Texten, die zum Spiel im Theater gedacht waren, wurden idealtypisch solche Probleme dramatisch gestaltet, die im Mit- und Gegeneinander der Menschen, aber auch in ihren Beziehungen zu den Göttern aufbrechen können. Keine der damaligen Literaturformen spiegelt die geistige Entwicklung und damit die Zunahme des Wissens um den Menschen so genau wieder wie die attische Tragödie. Das Theater wird in diesem Jahrhundert das große Experimentierfeld, auf dem auch jene Möglichkeiten immer neu durchgespielt werden, die der Mensch in seiner Sprache hat.

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Und verfeinert wird dabei auch die Fragetechnik. Es ist ein bestimmter Szenentyp, in dem immer neu erprobt wird, was sich mit Fragen ausrichten läßt, für welche Zwecke sie funktionalisiert werden können. Ich denke vor allem an jene Dialogszenen, in denen die Partner in einzelnen Versen, gelegentlich auch in Halb- und Doppelversen aufeinander reagieren, die sog. Stichomythien. 31 Für sie ist einerseits klar, daß sich die dort gestellten Fragen nicht direkt und unmittelbar an den Zuschauer richten, gefragt und geantwortet wird vielmehr von fiktiven Personen auf der Bühne; ebenso klar aber ist, daß hier für jeden sichtbar vorgeführt wurde, was alles man mit Fragen machen kann. U m das zu verdeutlichen, müssen hier wenige Beispiele aus dem Aias und der Antigone genügen.

Aias, so die Voraussetzung, ist des nachts über die Viehherden hergefallen und hat blutig unter ihnen gewütet. Genaueres aber ist noch nicht bekannt. Odysseus, am Morgen unterwegs, die Sache aufzuklären, trifft auf Athene. Zwischen ihnen beginnt eine Wechselrede; Odysseus fragt, Athene antwortet. Aias, tödlich gekränkt, hatte, wie Odysseus erfährt, an den Schuldigen blutige Rache nehmen wollen. Als er den Hütten seiner Widersacher schon ganz nahe war, hatte Athene eingegriffen, ihn mit Verwirrung geschlagen und seine Wut auf die Herden abgelenkt, unter denen er inzwischen ein sinnloses Strafgericht gehalten hat. Durch die Antworten, die Odysseus erhält (36ff.), wird er - und auch der Zuschauer - schrittweise informiert. Es geht in dieser Stichomythie also um reine Information. Und die hätte natürlich auch in anderer Weise, etwa durch einen Botenbericht oder Götterprolog, gegeben werden können. Unmittelbar darauf (71 ff.) will die Göttin Aias, der in einer Hütte auf eingefangene und angebundene Rinder einschlägt im Glauben, es seien seine Gegner, ins Freie rufen. Sie will ihrem erklärten Liebling Odysseus durch den erbärmlichen Anblick den totalen Triumph gönnen über einen Mann, mit dem er seit langem verfeindet ist. Doch Odysseus ist humaner als diese Göttin. ,,Was tust du, Athene? Niemals! Rufe ihn nicht heraus!" Doch Athene bleibt hartnäkkig. „War er denn nicht dein Feind?" Und: „Gibt es ein süßeres Lachen als das Lachen über den Feind?" „Fürchtest du dich etwa vor ihm in seinem Wahnsinn?" Das sind ihre Fragen, mit denen sie Odysseus für ihr Vorhaben zu gewinnen sucht. Und schließlich gibt er widerstrebend nach. „Ich bleibe. Doch ich wollt, ich wäre fern". In diesem Wechselgespräch nun dienen die Fragen offensichtlich nicht mehr der Gewinnung von Informationen. Es sind reine Suggestivfragen, die, indem sie an angeblich Selbstverständliches erinnern, den An-

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Dazu W. Jens, Die Stichomythie in der frühen griechischen Tragödie, München 1955; E. R . Schwinge, Die Verwendung der Stichomythie in den Dramen des Euripides, Heidelberg 1968.

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geredeten zu beeinflussen suchen. „Wenn doch auch du es für angemessen hältst, über Feinde zu triumphieren, und wenn du keine Angst hast vor Aias, was hindert dich dann, ihn dir anzuschauen?" Solche Fragen zielen nicht auf Antworten, sondern wollen die Einstellung, das Verhalten des Angeredeten ändern. Und als gleich darauf (91 ff.) Aias auf den R u f der Göttin aus der Hütte tritt, setzt Athene ihr erbarmungsloses Spiel fort, indem sie — nun vor den Augen ihres Schützlings Odysseus — ihr Opfer mit jeder Frage weiter noch in seinem Wahn bestärkt. Aias, der die Göttin erkannt hat, dankt ihr zunächst für ihre vermeintliche Hilfe bei der Bestrafung seiner Feinde. Darauf entwickelt sich zwischen den beiden ungleichen Partnern ein Dialog, in dem die Göttin fragt, Aias antwortet. Ich skizziere zunächst nur die Fragen. „Hat dein Speer die Griechen getroffen?" — „Auch die Atriden?" — „Die Männer sind also tot?" „Und wie steht es um den Sohn des Laertes?" — Aias fragt nach: „Du meinst den durchtriebenen Fuchs?" ,Ja, den Odysseus, deinen Widersacher". „Er ist mein liebster Gefangener. Denn sterben soll er noch nicht". „Was hast du mit dem Unglücklichen denn vor?" „Erst schlag ich ihm den Rücken blutig, dann wird er sterben". „Quäle doch nicht den Unglücklichen". „In allem anderen will ich dir nachgeben. Doch ihn erwartet diese Strafe". „Nun, da es dir Vergnügen macht, tue, wie du willst, und zögere nicht". „Ich geh ans Werk. Und du, Göttin, hilf mir, wie hier, so auch in Zukunft". Damit zieht sich Aias zurück. Wenn er später wieder auftritt, ist der Wahn gewichen, und er sieht, was er getan. In der kurzen Dialogszene aber, für deren Ungeheuerlichkeit es im griechischen Theater nur wenig Vergleichbares gibt, sorgen die diabolischen Fragen der Göttin, ihre scheinbaren Einwendungen und ihre schließliche Ermunterung dafür, daß dieser Mann, den vor Troja seine Selbstlosigkeit ausgezeichnet hatte, hier nun nicht einfach bloß als besinnungslos Handelnder erscheint, der nicht weiß, was er tut. Schon das wäre erbärmlich genug, aber vielleicht noch erträglich, sofern dem Zuschauer auf Grund seiner Lebenserfahrung Vergleichbares nicht unbedingt fremd sein muß. Doch hier ist Aias dank der Göttin halb schon wieder bei Besinnung, glaubt genau zu wissen, was ihm gelungen ist und was noch zu tun bleibt, wird in diesem Glauben von der Göttin bestärkt und von ihr geradezu provoziert, laut zu räsonieren und frohlockend sich mit dem, was er getan, zu identifizieren. Erst hier, in der Stichomythie, wird Aias ganz zu dem, was er nach dem Willen der Göttin sein soll, zum hilflosen Opfer. Auch Antigone wird erst durch die Antworten auf Kreons Fragen (441 ff.) zu der Gestalt, als die sie seitdem fortlebt. — Ihre beiden Brüder, Eteokles und Polyneikes, sind gefallen, der eine als Gegner, der andere als Verteidiger ihrer Heimat Theben. Kreon, als König, hat Eteokles in gebührender Weise bestattet, die Bestattung des feindlichen Bruders aber verboten. Antigone, die Schwester der beiden Gefallenen, ist demgegenüber überzeugt, die Pflichten der Blutsverwand-

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ten und die ewigen Gebote der Götter erfüllen zu sollen. Inzwischen hat sie getan, was sie fur geboten hielt. Gefangen und vor Kreon gebracht bejaht sie ohne Zögern dessen drängende Fragen: „Leugnest du, was du getan"? „Hast du gewußt, daß es verboten war"? „Und hast gewagt, das Verbot zu übertreten"? Wenn Antigone sich dafür auf ungeschriebene Gesetze beruft, die allen Vorschriften überlegen seien, mit denen Menschen ihr Zusammenleben meinen regeln zu müssen, so kann Kreon darin nur den Ungehorsam hören. Auch die Behauptung Antigones, sie sei nicht die einzige, die so denke, vielmehr würden auch die Bürger, wenn sie nicht Angst hätten, handeln wie sie, beeindruckt Kreon nicht: „Das denkst nur du". Und als Antigone auf ihrer Meinung beharrt, entwickelt sich eine Wechselrede, in der sich die Fronten endgültig dadurch klären, daß die Kontrahenten zu erkennen geben, die Position des anderen nicht zu verstehen und nicht verstehen zu wollen. Ich versuche das paraphrasierend nachzuzeichnen: Kreon: Antigone: Kreon: Antigone: Kreon: Antigone: Kreon: Antigone: Kreon: Antigone: Kreon: Antigone: Kreon: Antigone: Kreon:

Schämst du dich nicht, anders zu denken als die anderen und zu meinen, als einzige vernünftig zu sein? Ich habe keinen Grund, mich zu schämen, wenn ich den toten Bruder in frommer Weise ehre. Ist nicht auch Eteokles dein Bruder, der im K a m p f gegen Polyneikes fiel? In der Tat, Bruder von denselben Eltern. Wie kannst du dann Polyneikes einen Liebesdienst erweisen, mit dem du in den Augen des Eteokles gegen die Frömmigkeit verstößt? Daß das so ist, wird dir der tote Eteokles nicht bestätigen. Wenn du doch den Frevler genauso ehrst wie ihn. Ja, das tue ich. Denn der Gefallene war nicht Sklave, sondern Bruder. Der unsere Stadt vernichten wollte. Der andere aber setzte sich fur sie ein. Gleichwohl, Hades fordert diese Bräuche. Doch der Schlechte hat nicht denselben Anspruch wie der Gute. Wer weiß, ob das, was du als Grundsatz aufstellst, im Hades als heilige R e g e l gilt? Niemals, auch im Tode nicht, wird der Gegner zum Freund. Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da. Wenn du (nach dem Gesetz des Hades, auf das du dich berufst) lieben mußt, so geh in die Unterwelt und liebe dort.

Notgedrungen verlieren die Antithesen, immer in einen einzigen Vers gepreßt, in der hier versuchten Nachzeichnung der Gesprächsführung ihre schneidende Schärfe. Doch was in dieser Wechselrede geschieht, wird auch so deutlich. Keiner geht auf das Argument des anderen ein; im Grunde reden beide aneinander vorbei. Jeder beharrt auf seinem anfänglichen Standpunkt und steht zu dem Gesetz, nach dem er angetreten: Der eine in der Uberzeugung, der Staat könne nicht bestehen, wenn einmal erlassene Gesetze nicht befolgt werden und zwischen Freund und Feind nicht mehr unterschieden werde, der andere unter Berufung auf Gebote, die, wenngleich ungeschrieben, jede Satzung der Menschen relativieren. Eine Vermittlung scheint nicht möglich und ist von den Sprechern

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auch kaum noch beabsichtigt. Doch was zunächst nur Handeln aus unangefochtener Uberzeugung war, das gerät durch den Widerspruch auf die helle Ebene der bewußten Entscheidung. Erst jetzt, in der Stichomythie, in der das, woran jeder sich als das angeblich Selbstverständliche meinte halten zu können, differenziert und antithetisch in Frage gestellt wird, gewinnen die beiden Kontrahenten ihren wahren Charakter. 32

VIII Die Frage aller Fragen ist die Frage nach uns selbst. Sie bleibt allerdings in der Regel unausgesprochen. Was wir haben, sind die Antworten, die, seitdem Geschichten erzählt oder Handlungen dramatisch gestaltet werden, immer neu versucht worden sind. So läßt sich in der sog. schönen Literatur der Jahrtausende in der Tat erfahren, was der Mensch ist oder gegebenenfalls sein kann. Die Frage aller Fragen läßt sich aber auch direkt thematisieren. Dann wird ausdrücklich nach den Möglichkeiten des Menschen und seinen Fähigkeiten gefragt, nach seinen Aufgaben und seinen Pflichten. U m dem, was er von sich erwarten kann und was von ihm erwartet werden muß, auf die Spur zu kommen, hat er eine eigene Methode und Fragetechnik entwickelt. Und auch diese von spezifischen Fragen eigens provozierten Antworten finden ihren Niederschlag in Texten. Die Literatur ist insofern ein gewaltiges Arsenal von Antworten, die im Laufe der Zeiten versuchsweise gegeben worden sind. Und das Angebot wird ständig erweitert. Doch ob unter den literarisch fixierten Antworten endgültige Antworten zu finden sind, wissen wir nicht. Zweifel, die dann zu weiteren Fragen fuhren, scheinen angebracht. „Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfinden, auch wenn du gehst und jede Straße abwanderst; so tief ist ihr Sinn". Und so wie Heraklit 33 dachte offenbar auch der Platonische Sokrates. Einst gefragt, was er von den Figuren und Erzählungen des Mythos halte, meinte er einer direkten Antwort ausweichen zu sollen, da Fragen dieser Art zwar interessant, aber außerordentlich schwer zu beantworten seien; wofür man im übrigen viel freie Zeit brauche. „Ich aber habe für solche Dinge überhaupt keine Zeit. Und der Grund ist folgender. Noch kann ich nicht, wie die Delphische Inschrift verlangt, mich selbst erkennen. Da scheint es mir lächerlich, wenn ich hier noch ahnungslos bin, mich um Dinge zu kümmern, die mich nichts angehen. Deshalb also lasse ich diese Geschichten auf sich beruhen, folge für sie der allgemeinen Meinung

Diese Technik der antithetischen Stichomythie wird einmal Bedeutung gewinnen in Piatons Kunst der indirekten Charakterisierung seiner Dialogfiguren. Ich denke, der Einfluß der sprachlichen Kunst der attischen Tragiker auf Piatons Kunst der Gesprächsflihrung im schriftlichen Dialog ist auch an diesem Punkt kaum zu überschätzen. 3 3 V S 22 Β 45. 32

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und prüfe, wie gesagt, nicht sie, sondern mich selbst, ob ich etwa ein Ungeheuer bin, komplizierter noch und aufgeblasener als Typhon, oder aber ein zahmeres und einfacheres Geschöpf, dem von Natur aus ein gewissermaßen göttliches und anspruchsloses Leben zukommt". 3 4 Selbst der Meister in der Kunst des Fragens, vor die Frage aller Fragen gestellt, scheint für eine Antwort keine andere Möglichkeit gesehen zu haben als die ironische Resignation.

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Piaton, Phaidros 229e.

ARBOGAST S C H M I T T

Sokratisches Fragen im Platonischen Dialog Der Platonische Dialog nimmt in der europäischen philosophischen Literatur zweifellos eine einzigartige Stellung ein. Zwar sind auch nach Piaton Dialoge zur Darstellung philosophischer Lehre geschrieben worden, etwa von Aristoteles, von Cicero, Augustinus, Giordano Bruno, in all diesen Fällen aber ist die poetische Form Mittel der Darstellung, d. h. sie hat eine primär didaktische oder ästhetische Funktion, sie macht, wie etwa in der typisch aristotelischen Dialogform, im Gespräch von Lehrer und Schüler auf Fragwürdiges und Erklärungsbedürftiges aufmerksam, sorgt für Einprägsamkeit des Gesagten, gibt der Abstraktheit eines Gedankens lebendige Aktualität durch seine Bindung an das Interesse und den Verständnishorizont bestimmter Personen und ihre Lebenssituation. Immer also hat die poetische Form hier eine vermittelnde Aufgabe, sie versteht sich nicht als der angemessene Ausdruck eines bestimmten philosophischen Gedankens selbst. Dies ist, unserem Verständnis von Philosophie entsprechend, das sollte man vielleicht festhalten, auch das von der Sache her zu Erwartende; denn Philosophie unterscheidet sich eben darin von Dichtung, daß sie einen Gedanken in der ihm gemäßen Abstraktheit auf den Begriff zu bringen versucht, ohne ihn in sinnlich konkreter Vermittlung nur implizit zur Anschauung zu bringen. Gerade das aber scheint das Charakteristische der Platonischen Dialoge zu sein. Daß hier die Mimesis lebendigen Gesprächs nicht nur der aktualisierten Vermittlung einer Lehre dient, das wird vielleicht durch nichts deutlicher als durch die typische Leseerfahrung, daß man am Ende der Lektüre eines Platonischen Dialogs nur schwer anzugeben vermag, welche Lehre einem vermittelt worden ist. Tatsächlich ist der Platonische Dialog in einem ganz anderen Maße dichterisch lebendige, unmittelbare Wiedergabe eines aktuellen, wirklichen Gesprächs, durch das man hineingezogen wird in die Bewegung des Fragens und Suchens, von Rede und Gegenrede, aber auch von Neigungen und Abneigungen individuell charakterisierter Personen, als alle anderen Formen poetischer Darstellung von Philosophie nach Piaton. Dieser genuin dichterische Charakter der Platonischen Dialoge hat tatsächlich viele Interpreten — v. a. des 19. Jahrhunderts — verfuhrt, in Piaton vor allem oder gar ausschließlich den Dichter zu sehen. In der jüngeren Forschung ist es vor allem Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff gewesen, der in seiner gro-

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ßen zweibändigen Monographie diesem Piatonbild weite Verbreitung verschafft hat. 1 Gegen diese einseitige Hervorhebung des Nur-Künstlerischen bei Piaton hat man aber sehr bald von philosophischer wie philologischer Seite Einspruch erhoben. Zu nennen sind hier vor allem Julius Stenzel mit seinem wichtigen Aufsatz „Literarische Form und philosophischer Gehalt des platonischen Dialogs"2 und 3 Werner Jaeger. Im Rückgriff auf grundlegende Einsichten, die bereits Schleiermacher in der Vorrede zu seiner Übersetzung des Platonischen Werks 4 (1804ff.) ausgesprochen hatte, ging es ihnen um den Nachweis der philosophischen Bedeutung, die die Dialogform selbst bei Piaton hat. In dem Bemühen, den inneren Zusammenhang zwischen künstlerischer Form und philosophischem Gehalt aufzuweisen, hat die Forschung seither vielfachen Fortschritt gemacht, 5 obwohl man leider sagen muß, daß diese Problemstellung keineswegs so ins Zentrum des Forschungsinteresses gerückt wurde, wie es von der Sache her nötig wäre. Insbesondere in der englischsprachigen Piatonforschung hat man diesem Thema lange wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Außer einigen kleineren Arbeiten hat erst Gosling mit seinem Piatonbuch von 1973 6 den Anschluß an die deutsche und französische Forschung auf diesem Gebiet gesucht. Der Ausgangspunkt für einen sachangemessenen Zugang zum Platonischen Dialog ist ohne Frage die Person des Sokrates. Denn es ist ja nicht das künstlerisch geformte Gespräch überhaupt, dessen Darstellung im Platonischen Dialog angestrebt wird, sondern es ist das Sokratische Gespräch, d. h. die ganz besondere Weise, wie Sokrates Philosophie übte, lehrte und lebte, deren dichterische Nachahmung der Platonische Dialog sein will.

1

S. v. Wilamowitz (1948). S. dagegen die ganz andere Erklärung von Szenerie und Personencharakteristik in den Dialogen Piatons durch die antiken Kommentare, ζ. B. Proklos' Parmenides-Kommentar (Cousin [1962] Spalte 627 ff.) oder s. Hermeias' Phaidros-Kommentar (s. Bernard [1997], S. 9 2 f f ) . Diese antiken Dialogtheorien sind in der neueren Forschung noch nicht ausgewertet. 2 S. Stenzel (1956). 3 S.Jäger (1959), S. 141 ff. 4 S. Schleiermacher (1996), S. 2 5 - 6 8 . 5 Wichtige Stationen sind auf deutscher Seite v. a.: Friedlaender (1964); Krüger (1973); Gadamer (1968); Gundert (1971); Szlezäk (1985) (mit ζ. T. problematischen Thesen); Gaiser (1984); Mittelstraß (1982), S. 138-161; Heitsch (1987); Liebermann (1997), S. 9 9 - 1 2 2 (Liebermanns These, daß es nicht ,das Gespräch', sondern der Logos ist, an dem der Platonische Dialog sich orientiert, ist auch die These des folgenden. Etwas genauer als bei Liebermann soll aber bestimmt werden, was ,Logos' in dieser Verwendung meint.). Grundlegend für das Dialogverständnis in der französischsprachigen Literatur sind immer noch Goldschmidt (1971) u n d Schaerer (1969). 6 Gosling (1973). Z u r Dialogtheorie in der englischsprachigen Forschung s. auch v. a. Sayre (1989), S. 9 3 - 1 0 9 ; Sprague (1967).

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Arbogast Schmitt

Für die ungewöhnliche Verbindung von Dichtung und Philosophie im Platonischen Dialog hat man also zunächst einmal einen historischen Anlaß. Sokrates hat ja bekanntlich nicht eine einzige schriftliche Äußerung gemacht, so daß man sagen kann, der Platonische Dialog sei der Versuch, die spezifische Mündlichkeit des Sokratischen Philosophierens zu bewahren — in dem doppelten Sinne, daß er sie durch schriftliche Fixierung für die Nachwelt aufzubewahren, wie auch den eigentümlichen Charakter dieses Philosophierens in die Schriftlichkeit zu übertragen und in ihr zu wahren suchte. Damit soll freilich keine Aussage über die historische Treue einzelner Platonischer Dialoge gemacht werden. Wie sehr oder wie wenig sich Piaton bei der Abfassung seiner Dialoge an die geschichtliche Wirklichkeit gehalten hat, läßt η

sich nicht genau bestimmen. Daran aber, daß Piaton bei aller möglichen Fiktion einzelner Umstände und Aussagen das, was ihm das Wesentliche der Sokratischen Weise des Philosophierens zu sein schien, in seinen Dialogen zu verwirklichen suchte, kann kaum ein Zweifel sein. Darüber, daß für Piaton zu diesem Wesentlichen auch die Form des Dialogs gehörte, machen die Dialoge selbst, insbesondere der Phaidros, wichtige Aussagen. Besonders aufschlußreich aber ist für uns, daß sich Piaton auch in seinem Siebten Brief,8 also ganz in eigener Sache, ausdrücklich darüber äußert. Dort sagt Piaton, daß er über die „wichtigsten Dinge" (τά μέγιστα), über das, womit es ihm wirklich Ernst sei (περί ών σπουδάζω), niemals eine Schrift verfaßt habe, noch je eine verfassen werde (S. 343 b 7—d 3). Grund dafür ist freilich keine esoterische Tendenz, der Piaton gehuldigt hätte und die ihn, wie bisweilen behauptet wurde, veranlaßt hätte, die zentralen Dogmata seines philosophischen Systems nur in der mündlichen Lehre innerhalb des akademischen Unterrichts vorzutragen, in seinen Dialogen dagegen auf diese Lehre die immer unphilosophische Masse nur in protreptischer Weise hinzuführen. 9 Der Grund dafür ist vielmehr eine Auffassung von der Mitteilbarkeit

7

Einen guten Einblick in die Problemlage der Forschung gibt: Sprague (1967). S. v. a. 341 a 8 - 3 4 4 d 3. 9 Mit dieser Bemerkung soll nicht etwa die Bedeutung der sog. .ungeschriebenen Lehre' Piatons bestritten oder auch nur geschmälert werden. Daß die Platonische Philosophie systematischen Charakter hat, der als ein verbindender Nexus die Stellung der Dialoge zueinander wesentlich bestimmt, und daß dieser systematische Nexus eben der ist, auf den auch die ungeschriebene Lehre Hinweise gibt, kann seit Krämers grundlegender Arbeit kaum mehr in Zweifel gezogen werden (s. Krämer [1959]). Man wird auch nicht übersehen wollen, daß Piaton in den Dialogen tatsächlich nicht alles sagt, sondern ausdrücklich und unausdrücklich Aussparungen macht. Wer sich aber auch nur wenig mit der antiken Platon-Kommentierung und der Tradition der Lehre in der platonischen Akademie beschäftigt hat, wird sich hüten, den Dialogen nur eine werbende Absicht gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit zuzugestehen. Es ist nicht nur der systematische Unterricht der Akademie an jeweils einen bestimmten Dialog gebunden (Theologie nach dem Parmenides, Kosmologie nach dem Timaios, Sprachphiloso8

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philosophischer Wahrheit oder besser: der Wahrheit überhaupt, die, neben der gemeinsamen Beschäftigung mit der Sache im Gespräch, die besondere Form des Platonischen Dialogs als eine Weise erscheinen läßt, in der Einsicht in die Wahrheit vermittelt werden kann. Philosophische Erkenntnis sei, so sagt Piaton, nämlich „auch nicht auf eine Weise mitteilbar wie andere μαθήματα, sondern sie entstehe aus der vielfachen Beschäftigung mit der Sache selbst und dem Zusammenleben mit ihr, „im Nu", wie ein von einem Feuer, das überspringt, entzündetes Licht, in der Seele und wachse von selbst aus sich selbst.10 In dieser Uberzeugung Piatons findet bereits ein wichtiger Grundzug seiner Dialoge eine Erklärung: der Platonische Dialog ist nicht Wiedergabe miteinander geführter Gespräche, sondern immer eines Gesprächs, das unter einer Führung, meist der des Sokrates, geschieht. Diese Führung aber ist nicht die didaktisch methodische Belehrung mit dogmatisch fixierten Inhalten, sondern Führung im Sinne dessen, was Sokrates seine μαιευτική τέχνη, seine Hebammenkunst nennt: der Versuch also, den Gesprächspartner durch richtige Lenkung und Leitung dazu zu bringen, daß er die gesuchte Erkenntnis aus sich selbst findet und fortbildet. Diese im Sokratischen Gespräch im allgemeinen implizit angewandte Methode läßt Piaton Sokrates an zwei berühmten Stellen ausdrücklich beschreiben.

phie nach dem Kratylos usw.), auch die Ergebnisse der Dialoginterpretation, die diese antiken Kommentare vorlegen, sind weit von bloßer Protreptik entfernt. Was Proklos ζ. B. aus der Interpretation des ,Parmenides' gewinnt, ist eine subtile und hochdifFerenzierte Theologie. U n d Proklos möchte seinem eigenen Anspruch nach daran gemessen werden, daß er eine adäquate Auslegung des ,Skopos', der Aussageintentionen des Dialogs selbst gibt. Aus Proklos kann man auch lernen, daß das .Aussparen' der Dialoge nicht einfach die Vorenthaltung eines nur in der mündlichen Lehre mitteilbaren Wissens ist, sondern daß es dabei entweder darum geht, daß der Dialog eine richtige Lenkung des Denkens und nicht Mitteilung vorformulierter Erkenntnisse sein will, oder darum, daß Inhalte, die grundsätzlich nicht mitteilbar sind, weil sie die Endlichkeit der Ratio übersteigen, in negativer Weise als Voraussetzung eben des rationalen Argumentierens selbst aufgewiesen werden. S. Proklos, Parmenides-Kommentar (Cousin (1962)), v. a. Spalte 1004-1006 (die Methoden, die Piaton im Parmenides anwendet) und Spalte 1072— 1092 (Proklos' Abhandlung über Negationen und Erkenntnis durch Negation). Auch das Platonbild, das Plotin in seinen Enneaden entwickelt, stützt sich wesentlich auf die Dialoge. Daß Plotin sich zugleich an das System der ungeschriebenen Lehre hält, bezeugt von einem weiteren Aspekt, daß es nicht nötig ist, eine Kluft zwischen den Dialogen und dem ,esoterischen Piaton' anzusetzen. Z u m exegetischen Umgang der antiken Platoniker mit den Dialogen Piatons s. jetzt auch die erste deutsche Ubersetzung des Kommentars des Hermeias von Alexandrien zu Piatons Phaidros durch Hildegund Bernard. Dort auf S. 23—55 wichtige Ausführungen zur exegetischen Methode des Hermeias (Bernard (1997)). Die Annahme einer Kluft zwischen den aussparenden', nur hinweisenden und in diesem Sinn .offenen' Dialogen und der systematischen Bestimmtheit der ungeschriebenen Lehre verweist auf eine immer noch zu wenig entschiedene Lösung von der ,infinitistischen' Platon-Deutung (trotz Krämer [1988]). 10 S. 7. Brief 341 c 4 - d 2.

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Arbogast Schmitt

Zu Beginn des Theaitetos^^ bezeichnet sich Sokrates als geistigen Geburtshelfer. Der Umgang mit ihm mache, daß die geistig Fruchtbaren Wehen bekommen d. h. also ihrer Zeugungsfähigkeit inne werden und — ohne jemals irgend etwas von ihm gelernt zu haben — allein aus sich selbst viel Schönes entdecken und hervorbringen. Nur die Geburtshilfe dabei leiste er und der Gott, das größte dabei aber sei, daß seine Kunst zu prüfen imstande sei, ob die Seele des jungen Mannes ein bloßes ε'ίδολον, ein Trugbild und Falsches, oder Echtes und Wahres zu gebären im Begriff sei. In welchem Sinne diese μαιευτική τέχνη das j e besondere Geschehen des Gesprächsverlaufes der Dialoge bestimmt, erläutert Sokrates selbst in exemplarischer 12 Absicht im Menon. Die Situation im Menon ist die: Menon, ein junger Adliger, kommt zu Sokrates und möchte von ihm Belehrung darüber, ob die Tugend lehrbar sei oder ausschließlich Sache der Veranlagung. Statt der erbetenen Belehrung gibt Sokrates vor, selbst nicht zu wissen, was Tugend sei, und fordert daher Menon auf, gemeinsam mit ihm zu forschen. Bei dieser gemeinsamen Suche bringt Sokrates Menon dadurch in immer größere Verwirrung, daß er ihn bei allen seinen versuchten Antworten auf Widersprüche hinführt, in denen Menons Thesen zu allgemeinen, auch von Menon akzeptierten Ansichten oder auch untereinander stehen. Darüber wird Menon schließlich — wie j a sehr viele andere Dialogpartner des Sokrates in ähnlicher Situation — böse und vergleicht Sokrates mit einem Zitter13 rochen, der als Lehrer nicht fördere, sondern narkotisiere und erstarren mache. U m diesem Mißverständnis seines Tuns zu begegnen, versucht Sokrates M e non den Sinn seines Vorgehens beispielhaft an der Befragung eines Sklaven zu erläutern. Er stellt diesem die Aufgabe, zu einem gegebenen Quadrat das doppelt so große Quadrat zu finden. Bei dieser Suche ist er dem Sklaven nur durch Fragen, ohne Belehrung, 14 behilflich und bringt ihn dadurch — ganz ähnlich wie zuvor Menon — sehr schnell zu der Uberzeugung, er kenne die gesuchte Lösung. Daher verwickelt Sokrates auch ihn in Widersprüche, bis er den Sklaven zu dem Zugeständnis bringt „ich weiß es nicht". 1 5 Diese Gelegenheit benutzt Sokrates zu einer Nutzanwendung auf Menon: „Siehst du", sagt er zu Menon, „welche Fortschritte er schon dabei macht, das Richtige selbst zu finden? Denn zuerst wußte er zwar auch keineswegs, welches die Seite des achtfüßigen Quadrates ist, wie er es auch jetzt noch nicht weiß: allein er glaubte damals, es zu wissen, und antwortete dreist wie ein Wissender und glaubte nicht, in Verlegenheit zu kommen. Nun aber glaubt er schon in Verlegenheit zu sein, und wie er 11 12 13 14 15

S. S. S. S. S.

Theaitetos Menon 80 Menon 79 ebd. 82 e. ebd. S. 8 4

148 e 6 - 1 5 1 d 3. d 6 - 8 6 c 5. e 8 - 8 0 b 7. a.

Sokratisches Fragen im Platonischen Dialog

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es nicht weiß, so glaubt er es auch nicht zu wissen." Darin gibt Menon dem Sokrates recht und auch darin, daß dem Sklaven dadurch, daß er in Verlegenheit und zum Erstarren gebracht wurde, kein Schaden geschehen sei, sondern im Gegenteil eine grundlegende und überaus wichtige Hilfe zum Auffinden der gesuchten Sache geleistet sei. Denn erst jetzt sei er zu einer wirklichen Suche bereit, während er sich vorher niemals bemüht haben würde, das zu lernen und zu suchen, was er in seiner Ignoranz bereits zu wissen meinte. Das ist die eine, sozusagen didaktische Seite des Platonischen Dialogs: Der kritische, ja scheinbar negative Umgang des Sokrates mit seinen Gesprächspartnern, die immer erneute Verwirrung, Verrätselung und Aufhebung scheinbar bereits gewonnener Einsichten haben ihren Grund nicht in einem absichtlichen Versteckspiel des Sokrates, auch nicht, wie man dies vor allem in existentialistischen Interpretationen lange Zeit behauptete, in der grundsätzlichen Uberzeugung von der aporetischen Natur alles Wissens, im Vorrang der Frage vor der Antwort oder dgl. Sondern dieses Verfahren hat seinen Grund in der Überzeugung, daß Einsicht und Erkenntnis nicht durch dogmatisch fixierte Belehrung vermittelt werden können, sondern nur durch die methodisch richtig geführte Anleitung zum eigenen Suchen. 16 Die Verwirklichung dieser Überzeugung im konkreten Umgang mit dem Gesprächspartner, ist offenbar eine wichtige Triebkraft für Piaton, Dialoge und nicht Lehrschriften zu verfassen, gewesen. In diesem Vorgehen des Sokrates steckt aber nicht nur die Überzeugung, daß der einzelne in seiner besonderen Existenz zur eigenen Aktivität des Denkens bewegt werden muß, sondern auch die, daß er die Fähigkeit und das Vermögen zur Erkenntnis des Wahren in sich selbst hat und, um diesen bereits konkreten Aspekt der Dialogmethode schon mit zu berücksichtigen, daß dieser Weg zum eigenen Finden der Wahrheit über die Erkenntnis von Widersprüchen fuhrt: Der erkannte Widerspruch macht offenbar, daß man etwas nicht weiß, und regt damit überhaupt erst zur Suche an, und er lenkt auch den Blick auf den besonderen Sachaspekt, von dem man nichts oder zu wenig weiß, und macht die Notwendigkeit zu genauerer Differenzierung offenbar. Man gelangt nur durch die Aporie zur Euporie, wie Aristoteles später diese Einsicht Piatons formulieren wird. 17 Diese Absicht aber, den einzelnen durch methodisch richtiges Erinnern (Anamnesis) zum Wissen der Idee und damit zugleich zu einem dadurch ermög-

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Trotz der immer wieder geäußerten Einsicht, daß ein adäquates Dialogverständnis von einem selbständig kritischen Weiterdenken der im Dialoggespräch angelegten Argumentationslogik abhängt, wird fast gar nicht der Versuch gemacht, diese Einsicht in der konkreten Interpretation anzuwenden. Konsequent durchgeführt wird ein solcher Interpretationsansatz aber bei Ernst Heitsch. S. v. a. seine „Überlegungen Piatons im Theaetet" (Heitsch [1988]). Die von mir vertretene Position weicht allerdings dadurch ab, daß sie seltener eine falsche oder irreführende Argumentation bei Piaton feststellt. 17 S. Aristoteles, Metaphysik 995 a 2 4 - b 4.

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lichten guten und glücklichen Leben zu fuhren, bestimmt das Vorgehen des Platonischen Dialogs im eigentlichen Sinn. Damit dies deutlicher werden kann, will ich noch einmal auf die Selbstäußerungen Piatons im Siebten Brief zurückgreifen, weil Piaton dort nicht nur feststellt, daß Einsicht in das Wesen, die Natur der Dinge (φύσις), also die Einsicht in die Ideen, im einzelnen nur angeregt und geweckt, nicht durch fertige Formulierungen übertragen werden kann, er gibt auch den Grund an, warum es so ist, und warum daher dieses so sehr zum Heil der Menschen dienende Wissen (μέγα όφελος) von ihm nicht in einer Lehrschrift dargestellt ist. Dies liegt, im Sinn der Ausführungen des Siebten Briefs, wenn ich es mit einem Satz vorweg zu formulieren versuche, an der Tatsache, daß Wissen dem Menschen immer nur in vermittelter Weise zugänglich ist, so daß jede Belehrung mit dem, was Gadamer richtig die „Dialektik des Bildes" genannt hat, zu kämpfen hat, damit also, daß das Mittel, mit dessen Hilfe wir uns Erkenntnis von etwas zugänglich machen, immer die Tendenz hat, sich selbst in seinem Eigensein vor das zu stellen, was es uns vermitteln soll. Der Zugang zur Erkenntnis einer jeden Sache nämlich, so sagt Piaton, setzt immer dreierlei voraus, durch das sie uns vermittelt wird: ein sinnlich vorstellbares Bild (ειδωλον), das Wort und die Definition; dazu komme viertens die Erkenntnis als solche und als Fünftes die erkennbare und wahrhaft seiende Sache selbst. 18 Die gründliche Kenntnis dieser Weisen der Vermittlung ist nach Piatons Worten die notwendige Voraussetzung für jede echte Einsicht in das wahre Wesen von etwas, da nur dadurch die „Schwäche der Sprache" 1 9 überwunden werden könne. Vielleicht sollte man hier besser übersetzen: die Schwäche jeder artikulierbaren Vermittlung (λόγος), in der eine Sache dargestellt werden kann; denn Piaton findet diese Schwäche zwar tatsächlich am ausgeprägtesten in der schriftlich fixierten Sprache wirksam (eben weil sie, wie Piaton selbst sagt, fixiert, αμετακίνητος ist), aber sie bestimmt doch auch das mündliche Gespräch, auch die Vorstellung oder Wahrnehmung, in der uns etwas anschaulich zu werden vermag, ja sogar das lautlose innerseelische Gespräch des einzelnen mit sich selbst. Dies lehrt, daß das Vorgehen des Platonischen Dialogs noch nicht zureichend erfaßt ist, wenn die Offenheit und Vorläufigkeit des mündlichen Gesprächs der Schriftlichkeit mit ihrer Tendenz zu systematisch dogmatischer Erstarrung entgegengestellt wird. Gewiß sind mit Begriffen wie „Offenheit", „Mündlichkeit" usw. wichtige Eigentümlichkeiten des Platonischen Dialogs getroffen. Aber es geht Piaton nicht u m die Offenheit des Gesprächs als solche, sondern diese ist für ihn lediglich eine Weise, die Erkenntnis der Idee, die ihm keineswegs als

18 19

S. 7. Brief 342 a 7ff. S. ebd. 343 a 1.

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Sokratisches Fragen im Platonischen Dialog

etwas Vorläufiges oder gar immer wieder zu Relativierendes, ständiger Veränderung Unterworfenes gilt, zu ermöglichen, indem sie immer wieder die endlichen Verfestigungen in Wort und Bild, in denen sich uns die Idee darstellt, aufbricht. Was damit gemeint ist, wird vielleicht am deutlichsten aus dem Satz, mit dem Piaton seine Ausführungen über die Mitteilbarkeit der Wahrheit abschließt und in dem er in knappster und prägnantester Formulierung das Wesentliche des sog. elenktischen Gesprächs beschreibt. Er sagt: „Wenn nun das Einzelne, Namen, Begriffsbestimmungen, Anschauungen und Wahrnehmungen in von Wohlwollen geprägten und aller Mißgunst entbehrenden Fragen und Antworten untereinander verglichen und geprüft werden, so leuchtet am Ende Einsicht und geistige Erfassung eines jeden auf, wenn

Das Stichwort für die Lösung der Probleme, die sie schaffen, ist der Descartes entlehnte Begriff der generosite. Er läßt sich kaum übersetzen. Auch „Hochherzigkeit' drückt n u r einen Teil des G e m e i n t e n aus, verbindet man mit dem deutschen Wort doch vielleicht M u t u n d

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Denken. Das Didaktische an den Texten gehört zu dieser Formung und Arbeit des einzelnen an sich; sie setzen auf der Ebene des Schreibens und der Lektüre die Kultur des Selbst fort. U n d diese ist, wie schon in der Antike, durchaus nicht nur individualistisch. Die Propos suchen ihren Leser zur ,Sorge u m sich', und das heißt hier u m seine Freiheit und Menschenwürde zu veranlassen. Insofern sind sie eine Art zu philosophieren und für Philosophie zu werben: für die Selbstgestaltung zur souveränen Existenz. Mit deren exemplarischer Verkörperung in Sokrates hat dieser Philosophiebegriff auch seine politische Dimension.

Druckmedium, Kunst der Prosa und Denken als Zweifeln Als Verfasser der Propos sieht sich Alain umstandslos mit dem für den Druck gesetzten Text konfrontiert: 6 6 Die Typographie enteignet hier den Schreibenden; sie macht Fehler, Unebenheiten, Brüche sichtbar, und diese gelangen direkt an die Öffentlichkeit. Das Geschriebene ist immer nur etwas zu einem Abschluß Gebrachtes, nichts Abgeschlossenes; es hat alle Spuren des quasi-handwerklichen Herstellungsprozesses an sich. Der Druck und die Tatsache der Veröffentlichung aber verleihen ihm Autorität — die Autorität, die das gedruckte Wort per se beansprucht. Alain hat mit seiner Schreibregel das Fließen der Sprache gesucht, aber auf der Objektivierung dieses Flusses bestanden. Schrift bedeutet Fixierung und Druck Öffentlichkeit, Distanz von der Intimität des Handschriftlichen, des Psychomotorischen und Expressiven, des Gestischen und Physiognomischen. In vielen Äußerungen, in seiner .Theorie' der Prosa, in Überlegungen zu Linie und Strich als Komponenten der Zeichnung oder in solchen zum Verhältnis der verschiedenen Künste zueinander, begrüßt er ausdrücklich die mit der Typographie einhergehende Abstraktion, ihren distanzierenden und in diesem Sinn befreienden Effekt. Die Linie gehört - anders als der Strich — zur Geometrie und damit zur Domäne von esprit und raison. Die Prosa ist dieser Domäne näher als die Poesie mit ihrer auf Klang und Rhythmus beruhenden Suggestionskraft. U n d gegen derartige unkontrollierbare Mächte hegt Alain - zwar nicht, sofern Klang und Rhythmus als wesentliche M o m e n t e der Dichtung auftreten, doch sofern die Rhetorik mit solchen und anderen Mitteln bannend wirkt - tiefstes Mißtrauen. Gegen Poesie wie Rhetorik grenzt er die Prosa ab. Ein wichtiger Aspekt dabei ist, daß Prosa für ihn stets heißt, ein Druckbild vor sich zu haben. Prosa gibt es eigentlich nur als stille, ans Visuelle gebundene Lektüre. Ihre besondere Leistung liegt darin — und hier ist Alains Auffassung Piatons Kritik an der m ü n d -

Entschlossenheit, aber wohl nicht die hier wesentlichen Momente Selbstvertrauen und freie Selbstbestimmung. Zur Bedeutung der generosite bei Descartes und Alain vgl. v. a. die Arbeiten von Reboul, Anm. 25 (I, 365-385; II, 262ff.) und 47. 6f> Das Geschriebene erscheint am nächsten Tag.

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lichen Tradition nicht unähnlich —, daß sie „den Singsang des Gedächtnisses" abweist. 68 Als Entfernung vom Psychophysischen sind ihm Schrift und Druck ein willkommenes und das Denken selbst beförderndes Medium; sie sind sogar das genuin ihm zugehörige Instrument, und noch mehr: Das „Schwarz auf Weiß, das Buch" ist für ihn „Modell unserer eigenen Gedanken; bleibende Improvisation; fixierte Freiheit." 69 Auf der anderen Seite bewirken eben die Produktionsmethode der Propos, der O r t der Veröffentlichung und der durch sie bedingte Stil eine Relativierung der Autorität des Gedruckten. Spezifisch fiir Prosa ist nach Alain, daß sie keinerlei Zwang auf den Leser ausübt. „La prose propose et expose", heißt es im Systeme des Beaux-Arts: Sie legt etwas vor und bietet es der Wahrnehmung oder genauen Betrachtung dar; sie schlägt vor und läßt die Entscheidung darüber offen. „ . . . die ganze Kunst der Prosa besteht darin, das Urteil des Lesers in der Schwebe zu lassen, bis die Teile an ihrem Platz sind und sich gegenseitig tragen"; dies ist der „style delie", der schlanke ebenso wie der nicht mehr gebundene Stil. Für Alain drückt die Bezeichnung aus, daß „der Prosaleser frei ist und in natürlicher Art geht, anhält, wann er will, zurückgeht, wann er will. Die Prosa wäre jedoch keine Kunst, wenn sie nicht durch ihr Tempo und ihre Einfalle, ihre unerwarteten Schnitte und ihre paradoxen Geistesblitze den Leser zu diesem Anhalten und zu diesen Rückblicken einlüde, die den Gegenstand des Urteils auf Augenhöhe halten. . . . die Struktur der Prosa zerstreut die Aufmerksamkeit und dehnt sie aus, doch nicht ohne sie immer festzuhalten." 70 Für den Satz 67

Nach Ε. A. Havelocks bekannter These richtet sich Piatons Dichtungskritik vor allem gegen das imitative Prinzip, das den Homerischen Zustand des Denkens bestimme und zu der entsprechenden Art von Erziehung u n d Wissensvermittlung durch rhythmischen mündlichen Vortrag gehöre. Vgl. ζ. B. Preface to Plato, Cambridge, Mass. 1963, 208 ff. Was Alain als Leistung der Typographie schätzt, entspricht dem, was Schrifthistoriker u n d Anthopologen von der W i r k u n g der Schrift generell u n d von ihrer B e d e u t u n g für die klassische griechische Philosophie sagen. Z u r Komplexität u n d Zwiespältigkeit von Piatons Position zwischen alter oraler Kultur u n d n e u e m , von den Möglichkeiten der Schrift profitierendem D e n k e n vgl. auch J. G o o d y / I . Watt: Konsequenzen der Literalität, in: Entstehung und Folgen der Schriftkultur, hrsg. v o n j . G o o d y / I . W a t t / K . Gough, F r a n k f u r t / M . 1986, (63-122), 99. 68 „La prose repousse la m e m o i r e chantante." Propos I, Lire, 9. Febr. 1929, 827; dt.: Lesen, in: Glück, 77. — Z u r Zusammengehörigkeit von Prosa u n d Typographie vgl. auch Systeme, 438ff., zur Verbindung zwischen Z e i c h n u n g u n d Prosa im System der Künste, ebd., 246. 69 „ . . . noir sur blanc, le livre. M o d e l e de nos propres pensees; improvisation qui reste; liberte fixee." Vgl. A n m . 68, Propos I, Lire. 70 „ . . . tout l'art de la prose est de suspendre le j u g e m e n t du lecteur jusqu'ä ce que les parties soient en place et se soutiennent les unes par les autres . . . le lecteur de prose est laisse libre et va son train, s'arrete quand il veut, remonte quand il veut. Toutefois la prose ne serait point u n art, si, par son allure et par ses traits, par ses coupes imprevues et ses eclairs paradoxeaux, elle n'invitait le lecteur a ces arrets et a ces revues qui maintiennent l'objet du j u g e m e n t a hauteur de regard. . . . la structure de la prose disperse et elargit l'attention, mais non sans la retenir toujours." Systeme, 445 f.

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heißt das, daß seine Bewegung immer wieder unterbrochen sein muß, damit die Aufmerksamkeit frei bleibe innezuhalten und zurückzukehren. 71 Damit entspricht die Prosa dem ,wahren Denken': dieses vermute und versuche, ohne sich je zu binden. Proposer und exposer stehen im Gegensatz zur mitreißenden Gewalt der rhetorischen Rede wie zur Macht der gebundenen, poetischen Sprache, sei doch das eigentliche Mittel der Prosa die Analyse; supposer, essaier und ähnliches, dem ,wahren Denken' Zugeordnete aber stehen im Gegensatz zum Beweisen, zum Abrollen von Argumentationsketten, die keinen Ausweg lassen, zu zwingenden Schlüssen. Alain betont immer wieder, Denken habe mit 72

Beweisen nichts zu tun, es heiße vielmehr, Zwang abwehren , und eben auch den der unwiderlegbaren Beweise. „Die Beweise sind wie Fallen, ein unterrichteter Mensch ist ein eingesperrter Mensch; jede Kenntnis fugt einen Gitterstab hinzu." 7 3 Zeuge sind ihm dafür im Grunde alle großen Philosophen, nicht nur Pyrrhon und Montaigne, auch Piaton 74 und Descartes; sie hätten eine Art Gewißheit, bei der der esprit nicht aufgegeben werde. Die Sicherheit, die Beweise geben, ist mit dieser so wenig zu verwechseln wie die Unsicherheit mit dem echten Zweifel. Descartes ζ. Β. bleibe vor den Beweisen zunächst stehen und sage nein, was so viel heiße, wie zu seinem Denken ja sagen. 75 Ein Kronzeuge dafür ist Alain natürlich auch Sokrates, und zwar der skeptische Sokrates, der

Vgl. Systeme, 4 4 2 . „Penser, c'est refuser contrainte." Propos I, Pyrrhon, 11. Juni 1922, 4 1 6 ; dt.: Pyrrhon, in: Glück, 29. Zu Alains Widerstand gegen beweisendes Denken vgl. ζ. B. auch Propos I, Pudeur d'esprit, 22. Nov. 1923, 555ff.; Propos II, Nr. 3 6 6 (s. Anm. 55); Propos II, Nr. 4 4 9 , Sept. 1927; 710fF.; dt.: Die Kunst des Uberzeugens, in: Kunst, 101 fF.; Systeme, 218fF., sowie die in den folgenden Anmerkungen genannten Propos. 7 3 „Les preuves sont c o m m e des pieges, un h o m m e instruit est un h o m m e en cage; chaque connaissance ajoute un barreau." Propos I, Penser et croire, 14. Dez. 1929, 8 9 8 . 7 4 Daß Piaton auch zu diesen freien Geistern gehöre und sich nicht zum alles mögliche beweisenden Sophisten entwickelt habe, verdanke er dem bäurischen Sokrates, dem langsamen Denker, der auf der Suche nach einer anderen Macht gewesen sei als der der Beweise. Vgl. Propos II, Nr. 3 4 3 , 25. Nov. 1922, 5 2 4 . 7 3 Vgl. Propos I, La preuve, 2 8 . Mai 1923, 497; dt.: D e r Beweis, in: Glück, 43. Descartes stelle das Urteil hoch über den Vernunftschluß (vgl. Anm. 72, Propos I, Pyrrhon), und damit den Willen. Man beachte j e d o c h in der R e d e vom Nein zu den Beweisen das ,zunächst'; es handelt sich um ein skeptisches Zögern und Prüfen, um ein Selbst-Denken. — Daß Denken und Beweisen zweierlei sind, klingt nur solange unsinnig, wie man unterstellt, Denken sei identisch mit Logik und verfahre prinzipiell nach dem Vorbild der Mathematik und der (Nat u r w i s s e n s c h a f t e n . Das ist freilich gerade das Erbe des Cartesianismus und vielfach G e g e n stand moderner Philosophiekritik. Auch nach Wittgenstein etwa gibt es in der Philosophie keine Beweise. Die Frage ist natürlich, was man jeweils unter .Beweisen' versteht. Für Alain ist es das Deduzieren von einem unwiderleglichen — als unwiderleglich angenommenen — Prinzip aus. Seine Kritik am beweisenden Denken richtet sich gegen die R h e t o r i k im negativen Sinn, gegen den K a m p f um die Macht des Rechthabens und die Strategien nicht zuletzt des politischen Diskurses, mit dem Anspruch auf Logik und Wissenschaftlichkeit Positionen unangreif71

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Zweifler an allem. „Sokrates untersuchte alles, übte nie Zwang aus und ließ sich nie zwingen. . . . Sokrates . . . war immer bereit wegzugehen, ohne einen Schluß zu ziehen. Hieß das, das Lehren zu verweigern? Lesen Sie den Staat und Sie werden es wissen." Man beachte, wie Alain selbst sich in diesem Beispiel gemäß seinem Vorbild zurückzieht und nur auf die Lektüre verweist. Die im Text dann folgende Feststellung, daß auch im Staat Sokrates' Denken nie ganz dargelegt werde, kommentiert er: Sokrates „weiß, daß der Geist leicht scheu wird; seine Kunst besteht vor allem darin, ihn wegzuwenden, wie Alexander sein Pferd wen76

dete, damit es nicht vor einem Schatten scheute." Der skeptische Sokrates, der in die Aporien führende, gibt keine Antworten; er entzieht sich dieser Erwartung seiner Zuhörer, und eben darin liegt seine Lehre: „Es genügt ihm, wie ich glaube, daß die R e d e über die R e d e stolpert. Es genügt ihm, daß die arrogante und beherrschende Redemaschine knirscht und steckenbleibt. N u n nicht mehr zum Respekt gehalten, macht er, der so gut gehorcht, sich auf und geht." 7 7 Alain bekennt sich immer wieder zur Skepsis nicht als Doktrin, aber als M e thode. Grundsätzlich gehört der skeptische Zweifel zum esprit: „ . . . der Geist, der nicht mehr zweifeln kann, sinkt unter den Geist.". 78 U n d der zum Zweifeln befähigte Geist sei es, der einen eigentlich zum Menschen mache und dem man daher wie nichts sonst verpflichtet sei. So zumindest würde in Alains Vorstellung jemand antworten, wenn „irgendein großer Sophist, will sagen ein Redner, Jurist, Wissenschaftler" Sokrates oder einen Bürger von seiner Einmischung in die Diskussionen über Gerechtigkeit und Glück abzubringen versuchte. Der N o r malbürger läßt sich von der Forderung, erst einmal die entsprechenden Kompetenzen zu erwerben, einschüchtern, während er „nach der Art des Sokrates" entgegnen könnte: „Meine Pflicht gegenüber meinem Geist besteht darin, in meinen Urteilen klarzusehen, und wenn ich darin nicht klarsehe, daran zu zweifeln. Es ist keine Schande zu zweifeln, wenn man es nicht besser kann; . . . Aber umgekehrt wäre es eine Schande, wenn ihr oder ich eine Lehrmeinung für gewiß hielten, die uns nur vorteilhaft oder auch nur wahrscheinlich erschiene. . . .

bar zu machen u n d dogmatisch durchzusetzen. Er scheint j e d o c h diese Kritik auch auf Logik u n d Mathematik ausdehnen zu wollen. D e n k e n hat bei Alain ein unreduzierbares, absolutes Freiheitsmoment, u n d das steht über allem. 76 „Socrate examinait tout, jamais ne f o ^ a i t , et jamais ne se laissait forcer. . . . Socrate . . . etait toujours pret a s'en aller, sans conclure. Etait-ce refus d'instruire? Lisez La Republique et vous le saurez. . . . II sait que l'esprit est ombrageux; son art est d'abord de le tourner, c o m m e Alexandre tournait son cheval, de f a f o n qu'il ne voie aucune ombre effrayante." Vgl. A n m . 57, 1040. 77 „II lui suffit, a ce que j e crois, que le discours butte contre le discours. II lui suffit que la machine ä discours arrogante et gouvernante, grince et soit bloquee. Dispense maintenant de respecter, lui qui obeit si bien, il s'en va." Piaton, 850. 78 , , . . . l'esprit qui n e sait plus d o u t e r descend au-dessous de l'esprit." Propos sur des philosophes, X X I , 2. O k t . 1931, Paris 1961, 55.

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So unwissend, wie ich bin, oder vielmehr, weil ich so unwissend bin, m u ß ich mich an diese Pflicht halten, nichts fur wahr zu erkennen als das, was mir ganz offensichtlich so erscheint. Ich habe gelesen, daß Descartes sich diese R e g e l gegeben hat; u n d ich wage zu sagen, daß sie für mich n o c h besser ist als für ihn. D e n n wie oft habe ich geurteilt, o h n e zu wissen." Sich aber zur Z u s t i m m u n g verleiten zu lassen, etwa durch Autorität, N u t z e n u n d Freundschaft, gliche dem Männchenmachen eines H u n d e s für ein Stück Zucker, „ . . . so ziehe ich vor, ein Mensch zu sein, u n d ich erwarte eure Beweise'." 7 9 Der cartesische Zweifel u n d das sokratische Fragen u n d Nichtwissen, zusammengefaßt zur Pflicht dem ,Geist' gegenüber, konstituieren das menschliche proprium. Das ist die typisch Alainsche Art: Er verfährt eklektisch, synthetisierend, unmittelbar aktualisierend; was Philosophiegeschichte gemacht hat, erscheint als M o m e n t der Gegenwart u n d des alltäglichen Lebens. 8 0 Sokrates, Descartes, der seine Grenzen kennende u n d zugleich selbstbewußte Bürger — aus drei Strichen entsteht in diesem Kurzessay nicht ein Begriff, aber doch ein U m r i ß dessen, was Menschsein u n d Menschenwürde heißen k ö n n e n .

Philosophie in unscheinbarer Form Eine Skizze, ein Bild, vielleicht ein Inbild: Die Propos sind eine Art, indirekt zu schreiben, abgewandt. So schreibt, wer keine Lehrsätze geben will, auf die man sich verläßt, sondern daran erinnern, daß D e n k e n u n d Freiheit sich ereignen müssen. „Das D e n k e n ist frei oder ist überhaupt nicht. Glauben u n d w i e d e r h o len sind kein Denken. M a n m u ß alles untersuchen u n d darf in glücklichen A u genblicken von nichts abhängen." 8 1 Beim Schreiben heißt das Lücken lassen, etwa eine Anekdote erfinden und den Leser die Konsequenz ziehen lassen. Mit diesem Stil hat Alain nicht zuletzt vom Schriftsteller Piaton, von dessen U m w e -

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,,... quelque grand sophiste, ce qui veut dire orateur, juriste, savant . . . ä la maniere de Socrate . . . ,Μοη devoir envers mon propre esprit, c'est de voir clair dans mes jugements, et, si je n'y vois point clair, de douter. Ii n'y a point de honte ä douter si l'on ne peut mieux; . . . Mais il y aurait honte, au contraire, si vous ou moi nous donnions comme certaine une doctrine qui nous parait seulement avantageuse, ou seulement vraisemblable. . . . Si ignorant que je sois, ou plutot parce que j e suis ignorant, il faut que je m'attache ä ce devoir de ne rien reconnaitre pour vrai que ce qui m'apparaitra evidemment etre tel. J'ai lu que Descartes s'etait donne cette regle; et j'ose dire qu'elle est encore meilleure pour moi que pour lui. Car combien de fois ai-je juge sans savoir? . . . je choisis d'etre un homme, et j'attends vos preuves'." S. Anm. 4, Socrate, 289ff.; dt.: Das Vermächtnis . . . , 125ff. 80 Das Propos beginnt mit jenem machtvollen Satz über Sokrates und die Unüberwindlichkeit freien Denkens; vgl. oben 253. 81 „La pensee est libre ou eile n'est pas. Ce n'est pas penser que croire et repeter. II faut tout examiner, et, dans d'heureux moments ne tenir a rien." Vgl. Anm. 57.

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gen, den Mythen und nicht zuletzt den Aussparungen gelernt. Piaton hat die technischen und literarisch-rhetorischen Mittel des Schreibens virtuos genutzt und dieses, obwohl es doch als Medium ungeeignet sei, machtvoll flir die Philosophie eingesetzt. Zu den Möglichkeiten des Schreibens aber gehört auch, daß es sich gegen sich selbst wenden kann. Piaton gibt in seinen Texten, wie bekannt, eine Fülle von Zeichen und Hinweisen, die das Geäußerte als manifeste Aussage brechen, in seiner Geltung einschränken, ironisieren, fiktionalisieren; die Unterredungen hören abrupt auf, das Wichtigste wird ganz fern gerückt oder gar nicht ins Wort gehoben. Seine Dialoge zeugen von einem methodischen Miteinander von Aussprechen und Verschweigen, Zeigen und Vorenthalten — von der Kunst, könnte man sagen, sich mit den Möglichkeiten des Schreibens gegen die Gefahren der Schrift zu wenden. Auch bei Alain handelt es sich in diesem Sinn um ein sich gegen sich selbst wendendes Schreiben; es nutzt die Fixierung durch die Schrift — sie bedeutet Präzision, Entschiedenheit, Festlegung über den Moment hinaus —, und sucht andererseits, dem Charakter des Fertigen und Gültigen zu entgehen, die Fixierung als Monumentalisierung zu unterlaufen. Dabei spielt eine grundlegende Skepsis gegen das Niederschreiben mit: Wenn das Denken nach dem Modell der Geometrie gedacht wird, kann es in einem wie weitgehend auch immer entsinn83

lichten Medium immer nur höchst unzulänglich repräsentiert werden. Die in der Sprache aufbewahrten Ideen aber — gleichsam weniger ideale, und doch universelle Gegenstände — müssen in der Ungebundenheit, die ihnen entspricht, 8 2 Er habe Piatons Digressionen und Parenthesen imitiert. Vgl. Histoire, 80. Piaton allerdings habe diese sowie die Unterbrechungen und Sprünge Sokrates nachgemacht. Vgl. Piaton, 8 6 2 . — Nicht ohne Dramatik schildert Alain auch die Mühe, die die sokratischen Dialoge mit ihren Abwegen und Umwegen bereiten, die Frustration, die Notwendigkeit, immer wieder anzufangen, die Bedeutung des Mutes für ein derartiges Unternehmen: „Vous lisez; vous pesez au passage les preuves socratiques; vous les rassemblez; vous saisissez l'idee; vous la c o n fiez c o m m e un tresor au coffret de la memoire. Mais le diable guette encore par lä. Quand vous ouvrez le coffret de nouveau, vous ne trouvez plus qu'une pincee de cendres; elements dissous et disperses; chaos. II faut tout refaire; il faut s'aider de nouveau de l'art socratique . . . Si le courage manque, tout est dit. . . . ,Tout sera done toujours ä recommencer?' C'est que Socrate demandait en ces termes memes." Propos sur des philosophes, LVII, 1. Aug. 1921, 1 4 8 f . („Sie lesen; Sie erwägen im Vorübergehen die sokratischen Beweise; Sie tragen sie zusammen; Sie begreifen die Idee; Sie vertrauen sie wie einen Schatz dem Schrein des Gedächtnisses an. Aber der Teufel lauert hier noch immer. Wenn Sie den Schrein wieder öffnen, finden Sie nicht mehr als ein Häufchen Asche; aufgelöste und zerstreute Elemente; Chaos. Man muß alles noch einmal machen; man muß sich noch einmal der sokratischen Kunst bedienen . . . Wenn der M u t fehlt, ist alles zu Ende. . . . ,Man wird also mit allem immer wieder neu beginnen müssen?' Das ist es, was Sokrates auf eben diese Weise forderte.") Die Beschreibung selbst geht dabei gleichsam vorwärts und wieder zurück, weist Reprisen auf und Rupturen — wie ihr Gegenstand.

Zu diesem Problem und allgemein zum Verhältnis von Alains Schreiben zur Geometrie vgl. Madsen, a. a. O., 2 6 - 5 2 , 168, 171. 83

Ä propos fragender Sokrates: Alain

281

gehalten werden. N e b e n den genannten Mitteln indirekten Schreibens tragen dazu auch all die Z ü g e bei, die Alains Propos mit musikalischen Improvisationen verbinden: variierende Wiederholungen, dauernde Reprisen von Motiven, manchmal fast formelartige Verbindungen. Diese Z ü g e finden sich auch als Ver84

fahren mündlicher Dichtung und in der als Kunst gepflegten Konversation. Die geschriebene poetische Improvisation wie das geschriebene Gespräch bieten natürlich nur eine Mündlichkeit auf zweiter Stufe: Scheinbar formlose Komposition, Wiederholungen, doch keine wörtlichen, Produktion aus d e m Gedächtnis, freies Zitieren u. a. stehen für Mündliches ein. Ein Massenmedium u n d seine Zwänge — der Druck, die Zeitung, der Zeitdruck, also gerade Dinge, die für die Philosophie Gift zu sein scheinen — leisten bei Alains philosophisch-literarischen Texten entstehungsgeschichtlich, technisch u n d konzeptuell maieutische Dienste. Das gilt für die Propos u n d vermittelt durch sie auch für Alains Bücher. Biographisch geht die Fachphilosophie voraus; auf ihrem H i n t e r g r u n d f o r m t sich die neue Gattung als Mischung aus Philosophie u n d Journalismus; beide hätten sich dann — so zumindest beschreibt es Alain selbst — gegenseitig befruchtet. Er sei dazu bestimmt gewesen, die Z e i tungsmeldung auf die Ebene der Metaphysik zu heben; die Gemeinplätze des Journalismus hätten ihn in die schwierigste Philosophie getrieben, die in W i r k lichkeit die von allen sei. H a b e der journalistische Essay dadurch Gewicht b e k o m m e n , so seien umgekehrt die livres de doctrine durch j e n e n gewissermaßen 86

leichter geworden — und damit erst wirklich Bücher. Deutlicher k ö n n t e Alain nicht sagen, wie es sich mit seiner Einstellung zur geschriebenen Philosophie verhält: Ein wirkliches philosophisches Buch ist erst eines, das ein Schreiben im Zeichen der Schriftskepsis, ein gegen sich selbst gewandtes Schreiben, z u m i n dest in sich a u f g e n o m m e n hat. N o c h weiter gehen Ä u ß e r u n g e n zu einer Sammlung von Propos, die er als im eigentlichen Sinn philosophisch bezeichnet: die unter d e m Titel Minerve ou de la sagesse gesammelten. Sie seien eine E i n f ü h r u n g in die Philosophie, wie er sie eigentlich mit den 81 chapitres sur les 87 passions et l'esprit geschrieben zu haben meinte. Als einfachste E i n f u h r u n g b e / 88 zeichnet er Idees , als schwierige E i n f ü h r u n g j e d o c h Minerve: „Es gibt darin

84

Die N ä h e zu Musik, mündlicher D i c h t u n g u n d die B e d e u t u n g der Improvisation b e schreibt Madsen, a. a. O., 147ff. Er zeigt u. a., wie das gleiche Material in verschiedenen P r o pos in variierter Form verwendet wird. 85 ,J'etais destine . . . a relever l'entrefilet au niveau de la metaphysique"; Histoire, 55. „ . . . les lieux c o m m u n s du journalisme m e l a ^ a i e n t dans la philosophic la plus difficile, qui, dans le fait, est celle de tout le m o n d e . " Ebd., 74. 86 So äußert sich Alain 1946, d. h. er blickt hier aus großer Ferne zurück; vgl. de Sacy, a. a. Ο., X X X V I . 87 Zuerst 1917. 88 Zuerst Paris 1932. Das Buch enthält die Onze chapitres sur Piaton, Studien zu Descartes u n d zu Hegel; in der Auflage von 1939 k o m m t u. a. eine Studie zu C o m t e dazu.

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Sabine Mainberger

einige von den Schwierigkeiten, die man lieber nicht sähe; keine Lebensweisheiten, sondern vielmehr eine Untersuchung wichtiger Begriffe, eine Untersuchung, die der Reflexion Wege eröffnen wird. Diejenigen, die sagen, und sogar schreiben, ich sei kein Philosoph, täuschen sich. Sie werden von meinem vorsichtigen Vorgehen getäuscht, mich an den hon sens zu halten und ihn zu disziplinieren." 89 Hier rangieren die Propos vor den Büchern; sie sind als scheinbar prä- oder paraliterarische Gattung die Maske eines geringeren Anspruchs — ironisch wie Sokrates. Sie und ähnliche Schriften, die kein Buch oder Werk sein wollen, sind in einer Kultur, in der Philosophie nach wissenschaftlichen Prinzipien verfaßt sein muß, eine Art Selbstverkleinerung des Autors und seiner Hervorbringungen, ein Understatement auch der Philosophie: Sie begegnet hier in unscheinbarer Form, an alltäglichen Orten, in vertrauten Formulierungen und Sujets, sie bringt sich in ihnen und von ihnen aus zur Geltung — eben ä propos. Alain verkörpert sicher nur bedingt einen modernen fragenden Sokrates, aber wenn es eine Literatur gibt, die einem solchen entspricht, dann mögen seine Kurzessays dazu gehören. Auf ihre Art sind sie, in eher leisem Ton und ohne das alarmierende Satzzeichen am Ende, Fragen: Zwischenfragen, Fragen, in denen man sich unterbricht, Fragen an einen selbst. Und insofern ist Alains ,somatisches Schreiben' auch ,geschriebene Sokratik'.

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„II s'y trouve de ces difficultes q u ' o n aimerait mieux ne pas voir; n o n pas des conseils de sagesse, mais plutot u n examen des notions qui importent, et qui ouvrira des chemins ä la reflexion. C e u x qui disent, et m e m e ecrivent, que j e ne suis point philosophe, se trompent. Iis sont trompes par la precaution que j'ai eue de rester dans le b o n sens et de le discipliner." D e r Text stammt aus einer W i d m u n g an Μ . Μ . Morre-Lambelin in einem Exemplar von Minerve; ich zitiere ihn nach de Sacy, a. a. Ο., X X X V .

H E I N R I C H LÖFFLER

Der Talkmaster als moderner

Sokrates?

Maieutisches in den Medien-Dialogen

Die These: Sokrates ein Medien-Talkmaster N a c h d e m wir der Gestalt des „fragenden Sokrates" durch die Jahrhunderte hindurch gefolgt sind, soll zuletzt die Frage gestellt werden, wer oder was Sokrates heute wohl wäre. Ursprünglich sollte die Antwort lauten: alles, nur eines gewiß nicht, nämlich Philosoph oder gar Professor der Philosophie. N u n haben wir aber gehört, daß es heute bereits „praktizierende" Philosophen in der Nachfolge des Sokrates' gibt. 1 In den „Dialogen mit Sokrates. Lektüre für Manager" von T o m Voltz ist im Vorwort zu lesen: „Sokrates u n d sein Schüler Piaton sowie dessen Schüler Aristoteles gehörten heute sicherlich zu den bestbezahlten U n t e r n e h mensberatern der Welt." 2 Hier soll nun eine ähnliche Behauptung gewagt werden, daß nämlich Sokrates heutzutage auch Top-Talkmaster in einem der renommierten Fernsehprogramme sein könnte. U n t e r Talkmaster versteht man die Gesprächsleiter oder M o d e r a t o ren von R e d e - , Gesprächs- oder Dialog-Sendungen — eben Talkshows — die in immer noch z u n e h m e n d e m M a ß e die Programme der privaten u n d öffentlichrechtlichen Fernsehanstalten füllen. In dieser Rolle hätte Sokrates h o h e Einschaltquoten und m ü ß t e sich immer wieder mit Konzessionsverletzungsklagen aus konservativeren Kreisen herumschlagen, die versuchen würden, i h m seinen Erfolg bei den j ü n g e r e n Zuschauern als Staatszersetzung auszulegen. Als im Vorgespräch zum „fragenden Sokrates" die Frage aufkam, ob sich in Mediendialogen wohl Sokratisches finden ließe, war die Antwort spontan positiv, wenn auch eher auf Intuition begründet als auf Erkenntnis. D a bisher n o c h niemand auf die Idee g e k o m m e n ist, Mediengespräche mit sokratischen Dialogen in Verbindung zu bringen, ist von selten der Forschung keine Hilfe zu erwarten. Mit Hilfe der Vernunft u n d einiger Erfahrung in der Analyse von Fern-

1

Vgl. den Beitrag von U. Thurnherr in diesem Band. T. Voltz, Dialoge mit Sokrates. Lektüre für Manager, Ölten 1996, S. 11. (mit freundlichem Dank an Annemarie Pieper für diesen Hinweis). 2

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Heinrich Löffler

sehgesprächen soll im folgenden bestätigt werden, was damals nur Vermutung war. Die etwas kühne These von Sokrates als Talkmaster soll demnach anhand gesprächsanalytischer Argumente unterstützt werden. Hier sind vor allem die sogenannten pragmatischen Bedingungen, also die situationellen Umstände, die Personen-Konstellation, die Strategien und Absichten (Intentionen) oder die Stoßrichtung der Argumentation u. a. zu nennen. Solcherart pragmatische und gesprächsstrukturelle Merkmale der sokratischen Dialoge scheinen doch verblüffende Parallelen mit denjenigen bestimmter moderatorenzentrierter Mediengespräche aufzuweisen. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, daß uns Textversionen in Form der platonischen Dialoge überliefert sind, haben wir eine ungefähre Vorstellung von den pragmatischen Bedingungen der Sokratesgespräche. Was in den Dialogen gesagt wurde, können wir jederzeit nachlesen, und dank der gar nicht so seltenen Bemerkungen zur Gesprächs-Situation sowie der zahlreichen metakommunikativen Äußerungen in den Dialogen selbst sind wir auch über die äußeren Umstände, unter denen sie stattgefunden haben, recht gut im Bilde. Bei den modernen Mediendialogen sind wir in Bezug auf die näheren U m stände zwar Zeitzeugen oder gar Teilnehmer, Textversionen haben wir aber normalerweise keine - es sei denn, wir stellten sie selber her in Form von Transkriptionen. Der Aufwand von einer Stunde Schreibarbeit pro Minute Gespräch ist jedoch ziemlich groß und wird meist als nicht lohnend erachtet. Talkshows sind in der Regel nicht zum Mitschreiben und wiederholten Studieren, sondern zum alsbaldigen Konsum bestimmt.

Talkshows und Talkmaster3 U m die erwähnten Gemeinsamkeiten deutlicher zu machen, sollte man sich zunächst mit den Gesprächs„sorten" etwas näher befassen. In den 50er Jahren kamen in den USA die ersten Radio-Talkshows auf, als das Tages- und Abendprogramm durch Gespräche eines Radio-Moderators mit bekannten oder außergewöhnlichen Gästen in die Nacht hinein verlängert wurde. Diese Form der informellen Gespräch gelangte in der Folge einerseits in die Fernsehprogramme und wurde andererseits auch von europäischen Sendern übernommen. Im Fernsehen wurden diese Gespräche dann unentwegt ausgeschmückt und erweitert und gerieten so zur eigentlichen „Show". Der unterhalt-

3

Vgl. hierzu H. Löffler, Talkshows: Entwicklung, Funktion, Präsentationsformen und Texttypen. In: Medienwissenschaft. Ein internationales Handbuch der Medientechnik, M e diengeschichte, Medienkommunikation und Medienästhetik, hrsg. von W. Krank u. a., Berlin, N e w York, Bd. III, Nr. 291. (im Druck)

Der Talkmaster als moderner Sokrates?

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same Rahmen bekam ein Eigenleben, die Showelemente rückten zusammen mit dem Show-„Master" zunehmend in den Mittelpunkt. Nicht von ungefähr erhielten die einzelnen Shows oft den Namen ihres Entertainers. Später nannte man dieses Genre „Info-tainment" als eine Mischung aus Information und E n tertainment. Daß im Rahmen solcher Shows mit Unterhaltungscharakter auch interessante Gespräche geführt werden können, oft mit aufklärerischen oder erzieherischen Absichten, wurde von der Öffentlichkeit zwar lange übersehen, lag aber durchaus in der Absicht der Macher und wird zur Zeit geradezu bewußt gepflegt. 4 In den deutschsprachigen Programmen hatte es in den siebziger Jahren zunächst ganz seriös angefangen. Günther Gaus interviewte bekannte Leute in den Sendungen „Zur Person" oder „Hand aufs Herz". Eine andere Reihe hieß „Heute abend" und bestand aus Gesprächen, in denen sich der Gastgeber Joachim Fuchsberger am Kamin oder an einem kleinen Tisch mit interessanten Leuten über Themen unterhielt, welche die Menschen bewegten. „Zeugen des Jahrhunderts" war eine weitere Reihe dieser Art, die heute beispielsweise mit „Sternstunde Philosophie" vertreten ist. Da sich solche Gespräche ohne zusätzliche Show-Teile als attraktiv erwiesen hatten, wurden sie zunehmend in andere Shows als Einlage eingebaut, etwa in Sportschauen sowie seit einiger Zeit auch in Nachrichtensendungen und Tagesschauen. Das Gespräch als spontan-oraler Bestandteil der redaktionell formulierten Nachrichten dient einerseits der Authentisierung der Nachrichten und Informationen, wird andererseits aber auch als eine eigene Form der Unterhaltung angesehen. Offensichtlich macht es Spaß, anderen Leuten zuzuhören, die sich mit einem Gegenüber oder in größerem Kreis unterhalten, ob sie sich nun streiten, herumalbern oder ernsthaftere Probleme erörtern — gerade so, als ob man in einer Jass- oder Skatrunde den Spielern über die Schultern schauen kann und manches dabei erfährt, j a vielleicht sogar die Spielregeln lernt. Seit kurzem werden selbst politische Magazine („Zack"/„Privatfernsehen" von Küppersbusch; „Hauser und Kienzle") als Jux-Shows aufgezogen. Man geht davon aus, daß diese Form den Seh-Erwartungen einer bestimmten Fernsehgeneration entgegenkommt. Allerdings ist mit der Anbiederung an einfache Unterhaltungsbedürfnisse die Gefahr der Kurzlebigkeit oder gar des Scheiterns groß: „Zack" und „Privatfernsehen" haben als politische Show-Magazine das erste Jahr wegen zu geringer Sehbeteiligung nicht überlebt. Für die privaten Fernsehsender, welche ganz auf Werbefinanzierung angewiesen sind und deshalb fur jede Sendung hohe Einschaltquoten erreichen müssen, erweisen sich Gesprächssendungen hingegen als Dauerläufer, allerdings vor-

Man vergleiche die zahlreichen Selbstaussagen bei M. Steinbrecher/M. Weiske, Die Talkshow. 2 0 Jahre zwischen Klatsch und News. Tips und Hintergründe (Reihe Praktischer J o u r nalismus Bd. 19), München 1992. 4

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nehmlich die anspruchsloseren. Sie sind billig zu produzieren, da lediglich das Honorar des Moderators oder Talkmaster und die Spesen der Gäste zu bezahlen sind. Die Einschaltquoten sind in der Regel konstant hoch. Entgegen der landläufigen Meinung erhalten die Studio-Zuschauer jeweils kein Honorar, im Gegenteil, es werden Einlaßkarten auf Bestellung ausgegeben. Offensichtlich besteht ein großes Bedürfnis, bei solchen Gesprächen als Studio-Zuschauer live dabeizusein, oder zumindest vor dem häuslichen Fernsehgerät zu verfolgen, wie Menschen über menschliche Probleme miteinander reden. Das ganze ist derart im Fluß, daß sich noch kaum jemand daran gewagt hat, Talkshows genauer zu analysieren oder gar zu klassifizieren. Eine Ubersicht aus dem Jahre 1991 über Talkshows und eine mögliche Einteilung nach Art der Inszenierung oder der Ambitionen (Intentionen) — bezeichnenderweise von zwei Journalisten, nicht von eigentlichen Medien-Wissenschaftlern unternommen — zählte in den deutschsprachigen Programmen noch 30 solche Shows pro Woche. Als ich 1996 für ein Medien-Handbuch den Artikel „Talkshows" schreiben sollte,6 stieß ich in dem Programmheft, das die Nordwestschweiz abdeckt, bereits auf 60 Talkshows in einer Woche, ebenfalls nur in deutschsprachigen Programmen. 7 Dabei konnten nur solche berücksichtigt werden, deren Titel sie bereits als Talkshows erkennen ließen. In der Woche Nr. 36 (August/September) des Jahres 1997 sind in demselben Programmheft bereits 110 Talkshows angekündigt, obwohl einige der bekannteren Talkmaster zu dieser Zeit noch in den Ferien weilten.

Versuch einer Typologie der Talkshows Angesicht dieser rapide steigenden Zahl tut sich die Forschung zur Talkshow nicht nur schwer mit Definitionen, auch die Versuche einer Typologie belassen es bei der Beschreibung allgemeiner und distinktiver Merkmale. Die Vielfalt ist so groß, daß man jeden der Merkmalbereiche wie Personal (Gastgeber, Gäste, Publikum), Thematik, (Unterhaltungs-)Strategie, Programm-Einbettung usw. zur Grundlage einer Typologie machen könnte. Steinbrecher/Weiske schlagen als Ergebnis einer Umfrage zum Selbstverständnis der Redaktionen, Produzenten, Moderatoren und Fernsehanstalten, also der „Produzenten" im weiteren Sinne, folgende Einteilung vor:8

Steinbrecher/Weiske (s. Anm. 4), S. 12. Löffler (s. Anm. 3). 7 Vgl. auch die insgesamt 83 wiederkehrenden Rede-Sendungen mit jeweils unterschiedlichen Realisierungen, die von Kessler gezählt wurden (Th. Kessler, Maul- und Plauderseuche. In: Focus 4, 1996, S. 160). 8 Steinbrecher/Weiske (s. Anm. 4), S. 2 4 - 4 8 . 3 6

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1. Promi-Talk mit einem oder mehreren Prominenten im Mittelpunkt 2. Themen-Talk mit einem vorgegebenen Thema und Gästen, die dazu etwas zu sagen haben oder davon betroffen sind 3. Konfro-Talk zu einem Thema, das zwischen Gastgeber und Gast oder unter den Gästen kontrovers diskutiert wird 4. Porträt-Talk zur Vorstellung eines Gastes als Person mit Innenleben, Intimsphäre, Biographie etc. 5. Confessio-Talk

Nr. 1 und 4 sind auf die Gäste bezogen, Nr. 2 auf die Thematik und Nr. 3 auf den Verlauf. Daneben gibt es noch den „Confessio-Talk", vor allem beim Promi- und Porträt-Talk, sowie Verschränkungen zwischen allen Typen. So kann sich Konfro-Talk auf Themen und Personen beziehen und umgekehrt. Allen Typen gemeinsam ist die inszenierte „Schau", die Virtualität des „Scheingesprächs" und der „Zwang zur Zwanglosigkeit". 9 Eine konsistente Typologie hat noch niemand vorgelegt — und schon gar nicht hat sich jemand gefragt, was an welchen Talkshows denn nun sokratisch sei. Die sokratischen Dialoge, soweit es die aporetischen Definitionsdialoge sind, wären wohl unter die Themen-Talks zu rechnen. Aber auch Konfro- und Confessio-Talks sowie Mischformen, ja selbst Promi-Talks wären darunter, wenn man an die meist prominenten Gesprächspartner denkt.

Die „Themen-Talks" als mögliche sokratische Dialoge Ein Vergleich setzt vergleichbare Typen voraus. In unserem Falle wären dies die Themen-Talks. Bei gut zwei Dutzend der Talkshows der Woche vom 30. 8. bis 5. 9. 97, die bereits im voraus ihr Thema nennen, fällt es jedoch einigermaßen schwer, sie als sokratische Gespräche zu bezeichnen. Ein paar Beispiele mögen dies bezeugen: Mo 1.9.97 ARD: Fliege: Das war der größte Irrtum meines Sat 1: K e r n e r : Du bist ein Träumer

Lebens!

Vera am Mittag: Stammtisch — nur was für Maulhelden RTL:

S o n j a : Du läßt mich immer auf dich warten Bärbel Schäfer: Heute sage ich dir, daß ich dich liebe Ilona C h r i s t e n : Der deutsche Schlager lebt!

Hans Meiser: Mit Promis im Bett

9

H. Burger, Das Gespräch in den Massenmedien, Berlin, N e w York, 1991, S. 168ff., E. W. B. Hess-Lüttich, Schau-Gespräche, Freitagnacht: Dialogsorten öffentlicher Kommunikation und das Exempel einer Talkshow. In: H. Löffler (Hrsg.), Dialoganalyse IV, Referate der 4. Arbeitstagung Basel 1992, 2 Teile (Beiträge zur Dialogforschung 4/5), Tübingen 1993, II, 5. 164.

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H e i n r i c h Löffler Di 2.9.91 ARD: Fliege: Was ich erlebe, geht auf keine Kuhhaut: Tierärzte erzählen Sat 1: Kerner: Warum laßt ihr mich nicht abtreiben Vera am Mittag: Nacktmodelle — Kapital Körper Sonja: Grotesk — Männer in Frauenberufen Pro7: Arabella Kiesbauer: Wer dick ist, ist selber schuld RTL: Bärbel Schäfer: Ich will endlich dicker werden Ilona Christen: Sommer auf Rädern Hans Meiser: Romeo und Julia: Gebt unserer Liebe eine Chance VOX: Wilde Ehen. Wolfgang Link fühlt Pärchen auf den Z a h n SF1: D e r Club: Literaturclub: Seamus Deane: Im Dunkeln lesen

Die angekündigten T h e m e n erinnern eher an Schlagzeilen von Illustrierten und Boulevardzeitungen als an Sokratische Dialoge. Tatsächlich haben sie wie die Boulevard-Presse die Funktion, täglich u m ein neues Laufpublikum zu werben oder Zuschauer von den seriöseren öffentlich-rechtlichen Programmen zu den privaten Unterhaltungsprogrammen hinüberzulocken. Die angekündigten Titel sind nicht als begriffliche Abstraktionen formuliert, sie b e n e n n e n vielmehr k o n krete Fälle. Talkshows sind im allgemeinen induktiv angelegt. Es fiele j e d o c h nicht schwer, den Boulevard-Schlagzeilen abstraktere Titel zuzuweisen wie „Schönheit" oder „Ehrlichkeit", „Attraktivität", „Peinlichkeit des Namens", „Verbotene Liebe" etc. U m g e k e h r t hätte der platonische Dialog „Laches" als Talkshow heute vielleicht folgende Titel: „Wie ich auf der Flucht Sieger blieb" oder: „Braucht der Taucher Courage, wenn er in den B r u n n e n steigt? — Sokrates im Gespräch mit Fahrerflüchtigen u n d Polizeitauchern — heute abend live bei Fliege im A R D " . So könnte man selbst den trivialen Talkshows bei verändertem Titel etwas „Somatisches" abgewinnen. In besonderem M a ß e gilt dies indessen bei den „seriöseren" Gesprächsformen im Fernsehen. W i e schon erwähnt setzen einige Talkshows m e h r auf Talk als auf Show und strahlen bereits durch die Wahl der Personen und der Sitzordnung eine gewisse „sokratische Seriosität" aus. Im Schweizer Fernsehen wären z . B . das „Vis-ä-Vis" von Frank A. Meyer oder der „Zischtigsclub" t0 zu nennen. In dieser Sendung diskutieren in zwangloser R u n d e Betroffene und Experten zu T h e m e n wie Abtreibung, Frauen in der Politik, Spielsucht, Vergangenheitsbewältigung u. a. m. Geleitet oder moderiert wird das Clubgespräch von einem freundlichen und k o m p e t e n t e n Gastgeber, 11 der die sokratischen oder nichtsokratischen Fragen stellt. Fernseh-Clubgespräche sind wenig inszeniert u n d vermitteln den Ein-

10

Er w u r d e am 2. September 1997 z u m 500. Mal gesendet. Es handelt sich dabei u m eine N a c h a h m u n g des i m O R F vor über 20 Jahren von Peter H u e m e r unter d e m N a m e n C l u b 2 eingeführten wöchentlichen Clubgesprächs. 11 Die Clubgespräche sind von allen Fernsehgesprächen am besten untersucht: A. Linke, Gespräche im Fernsehen, Eine diskursanalytische U n t e r s u c h u n g (Zürcher Germanistische Stu-

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druck, daß sie auch ohne laufende Kameras so stattfinden würden. Im Gegensatz dazu müssen andere seriöse Themen-Talkshows schon eher zu den offenkundig inszenierten Fernsehgesprächen gerechnet werden. Beispiele sind „Boulevard Bio", wo zu einem Thema wie „Väter und Söhne" oder „Prominenz" jeweils Gäste eingeladen werden, die aus biographischer Betroffenheit Interessantes zu sagen haben, das „Literarische Quartett" mit Marcel Reich-Ranicki, Hellmut Karaseck und Sigrid Löffler oder der „Literatur-Club" im Schweizer Fernsehen. Bei manchen Fernsehgesprächen werden Stichworte wie Spielbälle in die Runde geworfen, wobei es den Beteiligten überlassen bleibt, was sie damit anfangen wollen. Bei anderen behält der Moderator die Fäden in der Hand und leitet fragend das ein- bis zweistündige Gespräch, wobei es phasenweise sehr sokratisch zu- und hergehen kann. Als Taktik wird sowohl die „Entlarvung" angeblichen Wissens von Politikern und Experten (Elenchtik) angewendet als auch das maieutische Fragen, welches die Antwort suggeriert. Die gemeinsame Aporie kommt ebenfalls vor und ist beim „Literarischen Quartett" von Marcel Reich-Ranicki schon zu einem Schluß-Slogan geworden, wenn der Moderator den Epilog aus Brechts Der gute Mensch von Sezuan zitiert, wo ein Spieler vor den Vorhang tritt und sagt: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen — den Vorhang zu und alle Fragen offen". 1 2

Vergleich der Talkshows mit sokratischen Dialogen Es sind vor allem die pragmatischen Bedingungen, welche gewissen Talkshows und den sokratischen Dialogen gemeinsam sind und sie somit vergleichbar machen, also die Grund-Konstellation, der genaue Ort, der Zeitpunkt, die Personenzahl, die sachlichen, personellen und textlichen Prämissen, der äußere Verlauf, die Strategie und die Einbettung in einen größeren Kontext. Im Falle von Sokrates können wir uns die konkrete Situation etwa so vorstellen: Er steht zur Hauptverkehrszeit auf dem Markt zu Athen oder im Lykeion, umringt von bekannten und weniger bekannten Persönlichkeiten, mit denen er in ein Gespräch verwickelt ist. Passanten bleiben stehen, bilden um diese Gruppe einen äußeren Kreis und hören zu. Sie haben offensichtlich Zeit und Freude an politischen und philosophischen Disputen (Politisieren galt bei den Griechen als Bürgertugend). Die ansonsten nicht mundfaulen oder unsicheren Gesprächspartner des stadtbekannten Hinterfragers und professionellen „Nichtwissen" beginnen allmählich zu

dien 1), Bern, Frankfurt, N e w York 1985; U. Frei-Borer, Das Clubgespräch im Fernsehen. Eine gesprächslinguistische Untersuchung zu den Regeln des Gelingens, Bern, Frankfurt 1992. 1 2 B. Brecht, D e r gute Mensch von Sezuan. In: Berthold Brecht, Werke, Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 6, hrsg. von G. Hecht u. a., Berlin u. Weimar 1989, S. 2 7 8 .

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zögern und werden einsilbig: Es ist fur die Umstehenden unterhaltsam zu erleben, wie diese Herren verunsichert werden, sie schmunzeln vielleicht darüber oder werden selber nachdenklich, wenn diese vermeintlichen Experten zugeben müssen, daß sie mit ihrem Latein oder Griechisch am Ende sind und man wohl ganz neu anfangen und alles nochmals überdenken muß. Schon das bloße Z u h ö ren macht offensichtlich Spaß und bringt neue Ideen und Erkenntnisse. Ringsu m fragt man sich bereits, ob die jungen Leute hier auf dem Markt nicht mehr lernen als bei den teuren Privat-Lehrern. Daß eine solche Szene nicht frei erfunden ist, zeigt ζ. B. der Eingang zum Dialog „Euthydemos": Kriton: Wer war doch der, Sokrates, mit dem du gestern im Lykeion Gespräch führtest? Wahrlich, eine so große Menge Menschen stand um euch her, daß, als ich auch hinzuging, um zu hören, ich nichts deutlich verstehen konnte. Doch beugte ich mich über, um wenigstens zu sehen, da dünkte es mich ein Fremder zu sein, mit dem du sprachest, Wer war es doch? Sokrates: Welchen magst du nur meinen? Denn nicht einer, sondern zwei waren es. Kriton: Der, den ich meine, saß der dritte von dir zu Rechten, und zwischen euch saß des Axiochos Jüngling. Der schien mir gar sehr aufgenommen zu haben, ο Sokrates, und den Jahren nach wohl nicht sehr unterschieden von meinem Kritobulos; aber der ist nur schmächtig, jener aber ganz vollständig und von gar hübschem Ansehen. Sokrates: Der also, ο Kriton, nach welchem du fragst, ist Euthydemos, und der neben mir zur Linken saß, sein Bruder Dionysodoros, der auch seinen Teil hat am Gespräch. Kriton: Ich kenne keinen von beiden, Sokrates. Sokrates: Es sind auch wieder ganz neue Sophisten, wie du leicht denken kannst. Kriton: Woher denn? Und was für Weisheit bringen sie? Sokrates: [...] Was aber ihre Weisheit betrifft, nach der du fragst, ο Kriton, so ist es zu verwundern, was für Alleswisser sie sind." 13

Der sokratische Disput findet also, pragmatisch gesehen, in einer öffentlichen Situation statt, auf dem Markt. Als Personen sind beteiligt der Frager oder Gesprächsleiter, ein paar bekannte Persönlichkeiten der öffentlichen Meinung (Stars und Prominente), das Thema ist von allgemeinem Interesse. Öffentlichkeit bedeutet auch Publikum, denn schließlich soll die eigentliche Erkenntnis und die wahre Weisheit allen Bürgern zugute k o m m e n (wenn es hier auch nur die männlichen Athener gewesen sind). Das Missionarische, das Ethische oder das pädagogische Feuer gehören mit dazu, wie man immer wieder hört. Was man richtig weiß, m u ß man auch umsetzen, zunächst indem man es anderen mitteilt und sie in die Lage versetzt, dem überprüften Wissen gemäß rational zu handeln.

13

Piaton, Euthydemos 271 ab. In: Piaton, Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hrsg. von G. Eigler, Deutsche Ubersetzung von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1990, Bd. II, S. l l l f .

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Die pragmatischen Merkmale der modernen Talkshows sind nun fast dieselben: Der Agora entsprechen heute die Radio- und Fernseh-Studios mit ihren Tischchen, Schranken, Tresen, Bänken, Zuschauerreihen etc. Nicht zufällig heißen diese Shows manchmal „Arena" oder finden im „Schloß" oder im „Turm" statt. Das Lykeion könnte sich heute ζ. B. im Studio der Messehallen am Funkturm wiederfinden. Der Moderator oder Präsentator der Nachrichten unterhält sich mit einem oder mehreren Gästen über ein Thema. Ein Publikum ist im Studio um die Gesprächsgruppe herum gruppiert, ein zweites Publikum sitzt zuhause vor dem Bildschirm oder am Radio (früher). So wie man in Athen vielleicht nur kurz stehen blieb, kann man sich heute auch im Vorbeizappen ein wenig bei diesem oder jenem Talk verweilen oder sich auch gezielt nach Programmheft einschalten. Den damaligen Prominenten entsprechen heute ebenfalls Prominente: Stars aus Politik, Unterhaltung, Wirtschaft und Wissenschaft oder einfach nur interessante Leute als Betroffene. Dem fragenden Sokrates kommt heute der Gesprächsleiter oder Gastgeber gleich. Zur pragmatischen Einbettung der Dialoge gehört auch der didaktische N u t zen solcher Veranstaltungen über den Augenblick hinaus. Die Frage nach dem idealen Lehrer für die eigene Ausbildung und vor allem diejenige der jungen Leute, wie sie im „Laches" und in anderen Dialogen gestellt wird 14 , ist heute noch praktisch dieselbe: Wo lernen Kinder und Erwachsene mehr — in der Schule, in Abendkursen der Volksbildung oder gar vor dem Bildschirm bei den neuen Lehrern der Nation? Noch sind die meisten allerdings der Ansicht, der Ort des Lernens sei die Schule und nicht das Fernsehen. Bezeichnenderweise war es im Sommer während der Schulferienzeit nicht möglich, „Sokrates-Talkshows" aufzunehmen — in den Ferien und auch sonntags gibt es diese nicht. Anscheinend sind die Talkmaster eben doch die Schulmeister der Nation, die magistri Germaniae oder Europae, die ihre verdienten Ferien brauchen. Dafür spricht ebenfalls, daß die bekanntesten Shows wie „Die Harald Schmidt Show", „Willemsens Woche" oder auch „la classe" im französischen Programm Antenne deux (a2) in einer Art von Sprechzimmer oder Schulsaal stattfinden. Vorbild ist wohl die amerikanische David Letterman-Show. Der Talkmaster sitzt an seinem Lehrerpult, freundlich seinem Gast zugewandt, der sich auf dem „Besucherstuhl" niedergelassen hat. Der Master dominiert die Situation. Er interviewt seine Kunden und Gäste, verteilt Noten und heischt Applaus beim Publikum. Der „pädagogische Zeigefinger", der sich hinter dem bewußt inszenierten Klamauk verbirgt, läßt sich nur aus einer gewissen, ebenso bewußt eingesetzten Förmlichkeit und Studio-Seriosität erahnen.

14

Piaton, Laches 200c. In: Piaton, Werke (s. Anm. 13), I, S. 283.

292

Heinrich Löffler

Nicht nur die Situation erinnert an sokratische Gespräche, auch der weitere Verlauf und die Taktik zeigen verblüffende Parallelen. Der Elenchtik würde heute die journalistische Entlarvungstechnik entsprechen, wie sie im sogenannten „Spiegel-Interview" zu einer eigenen Stilform entwickelt wurde und in den politischen Talkshows teilweise angewendet wird. Dabei spielen suggestive Fragen oder solche mit versteckten (agonischen) Prämissen eine bestimmte Rolle. Letztere enthalten eine implizite Unterstellung, die vermutlich der Meinung des Befragten entgegensteht: Richter: „Wann haben Sie aufgehört, ihre Frau zu schlagen?". Die Aufgabe des Befragten ist es, die Unterstellungen zuerst zu korrigieren, sonst gesteht er sie implizit ein. Also: „Ich habe meine Frau überhaupt nicht geschlagen". Solche Techniken werden häufig bei politischen Interviews zu brisanten Themen angewandt, die ζ. B. während einer Nachrichten-Schau eingeblendet werden. 15 Auch die sokratische Aporie findet sich in den Medien-Dialogen. Wie Sokrates seinen selbstsicheren Gesprächspartnern, den „Alleswissern" (s. o.) als (ironisch) Unwissender entgegentritt und diese zu logischen Argumenten zwingt, bis sie sich allmählich selbst widersprechen, werden in den Talkshows vor allem Politiker von „sokratischen" Moderatoren an ihre Grenzen gefuhrt. Das „sichere" Wissen soll verunsichert werden. Während Sokrates sich selbst jedoch in „sokratischer Ironie" als unwissend bezeichnet, vermitteln Journalisten-Moderatoren gerne den Eindruck, daß sie jederzeit besser informiert sind. Doch gibt es auch die journalistische Unwissenheitsfrage. Aus der gemeinsamen Unwissenheit oder der Aporie heraus fuhrt nach Sokrates das sichere Wissen, das wir in uns haben. Es muß nur auf die rechte Weise, mit Hilfe der Hebammenkunst oder Maieutik, ans Licht gezogen werden. Bei manchen sokratischen Dialogen bleibt trotz maieutischem Vorgehen am Ende aber doch die Aporie — vielleicht als Herausforderung an den Leser? Wie es in den „aporetischen" Dialogen meistens um die Klärung eines zentralen Begriffs geht: Was ist Tapferkeit? Was ist .. ,?16, so geht es in den thematischen Medien-Talkshows im Grunde ebenfalls um die Was ist-Frage. Während bei den Promi-Polit-Gesprächen schon einmal die Aporie oder das Vorführen der Inkompetenz der Fachleute das Ziel des Gespräches sein kann, stehen bei den Themen-Talks die Personen im Vordergrund. Sie haben als Betroffene (lebende Exempel), als Experten (Wissenschaftler, Journalisten) oder als Handelnde (Lehrer, Politiker, Richter) zur Sache etwas zu sagen. Der Moderator versucht dabei, das Expertenwissen oder die BetrofFenheitsaussagen zum richtigen Zeitpunkt herauszulocken und in sein Themen-Konzept einzubauen. So wäre also

15

Z u m Spiegel-Interview und überhaupt der Funktion von Interview-Inserts: Η. Burger, Sprache der Massenmedien, Berlin 1984, S. 57—87. 16 Vgl. den Beitrag von A. Patzer in diesem Band.

Der Talkmaster als moderner Sokrates?

293

auch in manchen Talkshows cum grano salis so etwas wie Hebammenkunst zu beobachten. Die guten Talkmaster sind auf ihr Thema bestens vorbereitet und wissen meist mehr als ihre Gäste. Vor allem wissen sie auch, warum sie gerade diese Leute zu einem bestimmten Thema eingeladen haben. Da in der Regel die Gespräche nicht geprobt, sondern nur grob vorbesprochen werden, steht für den Master zwar fest, zu welchen Schwerpunkten oder Aspekten er Fragen stellen oder wem er in einer Gästerunde jeweils das Wort erteilen wird, die einzelnen Gesprächsbeiträge kann er aber im voraus nicht kennen. Die Fragekunst besteht nun darin, die anderen so antworten zu lassen, daß sich aus den verschiedenen Antworten ein roter Faden oder ein sinnvoller Themenverlauf ergibt. Im Laufe des G e sprächs versucht der Moderator, die Partner vor den Karren seines Konzeptes zu spannen, sie sagen zu lassen, was er selbst sagen würde, wenn es seine Sache wäre. Wenn die Antwort nicht seiner Erwartung entspricht, weist er sie zurück, oder er wechselt das Thema bzw. seine Strategie. Das Ziel ist wie bei Sokrates, die Umstehenden auf unterhaltsame Weise nachdenklich zu stimmen. Politiker werden manchmal in die Aporie ihrer beschränkten Kompetenz gefuhrt. Wenn bei schwierigen und kontroversen T h e men (Abtreibung, die Schweiz im Zweiten Weltkrieg) oder auch bei der Präsentation von literarischen Neuerscheinungen am Ende gewollt oder ungewollt alles offen bleibt und weitere Diskussionen gefordert werden, so ist das durchaus mit der sokratischen Aporie vergleichbar und wäre wiederum treffend mit dem Epilog aus Brechts Der gute Mensch von Sezuan zu ergänzen: „Der einzige Ausweg war aus diesem Ungemach/Sie selber dächten auf der Stelle nach/ Auf welche Weis dem guten Menschen man/Zu einem guten Ende helfen kann. Wie bei Sokrates das Nichtwissen ironisches „Kleintun" ist, so kann auch der Talkmaster seine Vorbereitetheit hinter einer Echtheitsbeteuerung verstecken: „Ich frage Sie, ich weiß es nicht" (häufig bei Alfred Biolek in „Boulevard Bio"). Dies widerspricht nicht der Tatsache, daß dieser Nichtwissende am besten vorbereitet ist. Dennoch oder gerade deswegen kann er tatsächlich auch echte Fragen stellen. Die Parallelen zwischen Talkshows und sokratischen Dialogen sind also doch offenkundig. Sie dürfen jedoch nicht zu direkt verstanden werden. Die modernen Dialoge sind in ihrer natürlichen oder gespielten Spontaneität wohl zu kompliziert, und die Argumentation, die Überfuhrung der Alleswisser, das taktische oder tatsächliche Nichtwissen und die Aporie haben zu komplexe Formen und Gestalten, als daß man sie einfach mit den sokratischen Urformen gleichsetzen könnte. Was verblüfft, sind die strukturellen Ähnlichkeiten.

17

Brecht, D e r gute Mensch von Sezuan (s. Anm. 2), S. 2 7 9 .

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Heinrich Löffler

Der folgende Ausschnitt aus der Transkription einer „seriösen" Talkshow soll im thematischen und strategischen Verlauf analoge sokratische Strukturen nachweisen (s. Kommentar in der rechten Spalte). „Begegnungen" Adolf Muschg im Gespräch mit Peter Huemer Thema: Die Schweiz und der Nationalsozialismus 3sat/ZDF 10. Juli 1997 Name

Huemer

Muschg

Huemer

Text

Nonverbales

Sokratisches

[Muschg wird von einem OffSprecher vorgestellt] Guten Abend Adolf Muschg. Vor einigen Wochen hat eine österreichische Zeitung gemeldet, die Swissair habe Schokoladenriegel in Goldbarrenform aus ihren Flugzeugen verbannt, weil einige Passagiere dieses Dessert als geschmacklos bezeichnet haben. Ich fand diese Geschichte komisch. Sie auch? Ich hab nie einen Goldbarren in der Swissair bekommen oder gesehen. Z u m ersten Mal habe ich diese Goldbarren made in Switzerland glaube ich in Rejkjaviik oder auf Island in einem dieser großen Supermärkte auf dem Flughafen gesehen. Es ist einfach dieser Goldbarren gehört nicht zu meinem Einzugsgebiet. Also mich dürfen sie nicht fragen. Ich krieg nur diese kleinen Taler heute als ich nach Berlin fuhr. Ah ja. Also das Thema der Verstrickung der Schweiz in dem Nationalsozialismus seit mehr als einem Jahr im Lande selbst heftig diskutiert und umstritten das Ausland schaut jetzt einmal vor allem zu, ausgenommen die Medien

Muschg geht über den „Markt", steht auf einer Bühne und sitzt dann einem Gesprächspartner gegenüber

„AGORA"Situation Anekdot. Detail/Ironie

Rückweisung/ Ausweichen Rückweisen der Ironie

Thema wird präzisiert: Persönl. Befreiung aus der Verstrikkung

295

Der Talkmaster als moderner Sokrates?

Name

Muschg

Text besonders die amerikanischen aber auch der BBC-Film der jetzt vor kurzem gelaufen ist. Sie selber haben gesagt, sie fühlen sich befreit, als alles herausgekommen ist, warum? Ich glaube, es ist ein bißchen so, wie wenn ein Mensch lange genug geschwindelt oder sich was vorgemacht hat und nun erlebt er, daß er die Wahrheit riskieren kann. Er hat Partner die ihm zuhören, er entdeckt, daß die Angst, die er hatte, er falle sozusagen bei allem durch und es gebe gar keinen Boden mehr, der ihn auffange, daß die - äh — unbegründet ist. Was bei dem Individuum möglich ist, nämlich daß er seine, er oder sie, die ganze Geschichte akzeptieren kann, die ganze Geschichte, müßte eigentlich auch bei einem Volk, der ganzen Nation möglich sein. Und die Schweiz hat eine unglaublich reiche und vielseitige Geschichte. Ich habe mich immer gefragt, wie die Schweiz eigentlich dazu kommt, immer nur von ihrer kulturellen Vielfalt zu reden, womit sie meint, hier werde Rätoromanisch gesprochen, Italienisch und Französisch, nicht nur Deutsch. Warum kann man nicht nur von der geschichtlichen Vielfalt auch reden bei uns, und daß zur Vielfalt halt auch der Schatten gehört, das gehört zur Person, das gehört zu einer geschichtlichen Größe, auch einer kleinen Größe.

Nonverbales

Sokratisches

2. Versuch der Ablenkung von sich auf das Volk

296

Heinrich Löffler

Name

Text

Huemer

Ich möchte bei diesem Terminus der Befreiung noch bleiben. Was sie als Befreiung bezeichnet haben, hat ein mittlerweile doch wesentlicher werdender Widersacher von Ihnen, nämlich der schweizerische Nationalrat Blocher als Landesverrat bezeichnet und hat Sie da gleich in eine literarische Kette eingebaut von Landesverrätern beginnend mit Conrad Ferdinand Meyer, Gottfried Keller über einen Schweizer Nazidichter, und daneben Adolf Muschg, nun die Kette, sieht man von dem Nazidichter ab, wäre an sich literarisch ehrenvoll . . . Ja, und daß Conrad Ferdinand Meyer und Keller überhaupt zitiert werden müssen, zeigt ja, wie absurd die Logik ist. Ich glaube, eine Gruppe hat immer zwei Möglichkeiten, einen Menschen auszugrenzen und ein unliebsames Mitglied auszugrenzen: man betrachtet ihn als Fremden, das passiert, wenn s der Teufel will mit den Juden, das passiert mit den Zigeunern, den Homosexuellen — auch mit den Frauen. Das sind die andern. Oder wenn's die eigenen sind, dann müssen die Verräter sein. Es gibt ja dann eigentlich keine andere Bezeichnung. Und ich bin nun zum Glück seit mindestens dreihundert Jahren belegt in der Schweiz mit meiner Familie und zwar in bäuerlicher Gegend — und zwar länger als Herr Blocher — also muß man mich auf Grund —

Muschg

Nonverbales

Sokratisches Insistieren auf Terminus persönl. „Befreiung" — Änderung der FrageStrategie: Landesverrat?

Eingehen auf den persönlichen Aspekt/ Neuer Versuch der Ablenkung auf die genealogische Legitimation

D e r Talkmaster als m o d e r n e r Sokrates?

Name

Text

Huemer

Wobei wir uns völlig einig sind, daß das kein Kriterium der Auseinandersetzung ist — Nein, nein, äh — ich glaube es spielt bei dieser Geschichte — die hat eine, sagen wir einmal eine öffentliche Dimension und sie hat ja auch eine intime Dimension. Ich glaube, ein Mensch, der sich in der Schweiz durchsetzt, wie sich Herr Blocher durchsetzen mußte, der ist eigentlich dann gezwungen, bestimmte Widersprüche äh aus seiner Landschaft und seiner Geschichte zu verbannen. Ich habe kürzlich entdeckt — äh, äh, daß Herrn Blochers Großvater, ebenfalls ein Geistlicher, ein Vorkämpfer für die deutsche Sprache in der Schweiz war und für die deutsche Kultur. Ich füge hinzu, er war kein Nazi, er hat unter den Nazis gelitten, das ist keine Unterstellung jetzt, aber es hat mir dann plötzlich erklärt, erklä-erklärlicher gemacht, warum einer, der in Deutschland verlegt ist, was den meisten Schweizer Autoren passiert, wenn sie Glück haben, daß — natürlich, daß so einer als Verräter gehandelt werden kann, das kann eigentlich nur in einem Denken stattfinden, äh, das sagt, dieses Feld, da ich es nicht besetzen kann, mir gegenüber, muß ich ausgrenzen, das heißt, ich es sozusagen zum Feindesland

Muschg

Nonverbales

297 Sokratisches Rückweisung d. Antwort Erneuter Versuch der Ablenkung auf die Genealogie des Gegners

Huemer: Hm, Huemer: H m

(Signalisierung von Widerspruch)

Huemer: ja

(Anmeldung von Wortübernahme)

Muschg: Handbewegung

Will am Wort bleiben

298

Heinrich Löffler

Name

Text

Huemer

Gut! Jetzt interessiert mich eigentlich weniger die Behauptung von Herrn Blocher als vielmehr die Reaktion darauf. Es gab ganzseitige Inserate mit Zitaten aus der Blocherrede in allen großen schweizerischen Zeitungen, die Frankfurter Rundschau, da hab ich's in der Vorwoche gelesen, hat empört darüber berichtet, daß das die Zeitungen nicht zurückgewiesen hätten. Das ist auschließlich gegen Sie gerichtet gewesen — als Landesverräter - in vielerlei Varianten abgestuft und es gab auch ein doch ziemlich weitreichendes, behauptet die Frankfurter Rundschau, Schweigen der Intellektuellen in dem Zusammenhang. Ich glaub . . .

Muschg

Huemer

Muschg

Siiiie sind an den Pranger gestellt worden Jaja, ich gesteh auch, daß mich die Rede Blochers — in Bern nicht sehr getroffen hat. Da war waren die Intellektuellen - , unter anderem auch ich einer in einem Panorama. Zuerst ging es j a darum, eine bestimmte Schweizergeschichte zu rekonstruieren im Zweiten Weltkrieg . . .

Nonverbales

Sokratisches Abbruch/ Umformulierung/Präzisierung der Frage

Ausholende Handbewegung

spricht langsam und bedeutsam

überlegt einen Augenblick

Versuch z. Abschwächung Frage —> Feststellung Eingeständnis des Dilemmas

Vorläufige Ergebnisse Nicht alles konnte an diesem kleinen Textausschnitt gezeigt werden. Manche Feststellung entspringt zusätzlicher Beobachtung von Fernsehgesprächen aller Art über viele Jahre hin. In den „seriösen" Fernseh-Talkshows gibt es offensichtliche

Der Talkmaster als moderner Sokrates?

299

Parallelen zu den sokratischen Gesprächen, die sich zunächst in der öffentlichen Agora-Situation, dem Publikum als Zuschauer, den Themen von allgemeinem Interesse und den Befragten von hohem Bekanntheitsgrad zeigen. Außerdem werden manche Experten als vermeintliche Besserwisser „entlarvt", wobei der Moderator (Sokrates), der auf das Thema gründlich vorbereitet ist, den vermeintlich unwissenden klugen Frager spielt. Er lockt aus dem Befragten die Expertenmeinung heraus, die er dank seiner Vorbereitetheit und seinem Denk-Vorsprung auch selber formulieren könnte. Daher hilft er mit beim Formulieren des Gedankens seines Gegenübers, das die Aussage dann bestätigen oder modifizieren darf. Auch die Stichwörter kommen vom Moderator, der den Anteil am vorgezeichneten Argumentationsgang auf die Gesprächsteilnehmer verteilt, indem er gezielte Fragen stellt oder metadialogisch auf den Themenverlauf hinweist. Themen und Probleme werden so personalisiert. Immer wieder werden Beifallskundgebungen oder betroffene Gesichter eingeblendet, so daß das Studio-Publikum dem häuslichen Publikum als Identifikationshilfe und Vermittlungsinstanz stets präsent ist. Damit schaffen die Talkshows neben den sokratischen Anklängen noch so etwas wie die Wiedererstehung der alten forensischen Kommunikationskultur. Trotz Lärm und Ablenkung durch Show-Elemente kann man selbst bei Boulevard-Themen noch manch Hintergründiges ausmachen. In vermehrtem Maße gilt dies für die „seriösen" Talkshows. Wie das Transkriptionsbeispiel zeigt, weist der Gesprächsverlauf manches „sokratische" Merkmal auf, das man unter die bekannten Stichwörter Ironie, Elenchtik oder Aporie subsumieren könnte. Trotz der unübersehbaren Parallelen hat die Analogie ihre Grenzen. Die m o dernen Talkmaster werden es jedoch bestimmt nicht ungern hören, wenn man sie in Sokrates' Nähe rückt. Sokrates andererseits, könnte man ihn fragen, hätte vermutlich auch nichts dagegen, daß er hier als Talkmaster und anderswo als 18 Unternehmensberater zur Darstellung gelangt.

18

Vgl. Voltz (Anm. 2).

K U R T SEELMANN

Epilog Der fragende Sokrates wurde zunächst über den Zweck seines Fragens befragt. Zwei Möglichkeiten boten sich an: Das sokratische Fragen fragt nach Wahrheiten, die nur im M o d u s des Fragens zuhause sind; Antworten, soweit es sie überhaupt gibt, bestehen dann in nichts anderem als in der Tradition des Fragens. Die Gegenthese hielt dem entgegen, das sokratische Fragen sei der Weg, den Dialogpartner zur Wahrheit zu fuhren; Fragen sei der einzige Weg, Einsicht in Wahrheit zu vermitteln. Sokrates d e m Skeptiker steht so Sokrates der Didaktiker gegenüber. So sehr sich beide Positionen in der Zwecksetzung unterscheiden, so sehr sind sie doch beide mit weiteren Zwecksetzungen vereinbar: Skeptiker wie Didaktiker k ö n n e n davon ausgehen, Fragen sei eine Anleitung zum eigenen Suchen. Sie können aber auch beide behaupten, nur das Verwickeln in Widersprüche führe zum Weiterfragen, zum Differenzieren. Genauer betrachtet lassen sich die skeptische wie die dialektische Position weiter differenzieren. Skeptisches Fragen kann bedeuten, daß man durch das Fragen schlicht auf die Unlösbarkeit eines Problems hinweist. Es kann damit aber auch, u m einiges schwächer in der Behauptung, gesagt werden, es gebe T h e m e n , die man zwar besprechen müsse, die sich aber nicht endgültig klären ließen. Auch die Aussage, daß schließlich j e d e Antwort wieder Fragen zeitige, läßt sich im Sinne dieses abgemilderten Skeptizismus verstehen. Beim didaktischen Fragen ist ebenfalls zu differenzieren: D e r Didaktiker kann so vorgehen, daß er im Spiel von Frage u n d Antwort das Ergebnis schon fast vollständig herbeiführt, daß also der Dialogpartner seinerseits nur noch den letzten Schritt zu tun hat. D e r didaktisch Fragende mag sich aber auch darauf beschränken, einen bloßen Anstoß zu geben, durch seine Frage eine längere Bewegung in Gang zu setzen, an deren Ende dann erst das Wissen steht. N u r eine Variante davon ist die Vorstellung, Fragen ließen den anderen zu sich selbst als existierendem Individuum k o m m e n , etwa indem er durch Insichgehen zu R ü c k e r i n n e r u n g e n gelange. Die Entscheidung, ob der platonische Dialog durch skeptisches oder didaktisches Fragen in Gang gehalten wird, ist nicht unabhängig von der weiteren Frage, wer eigentlich die Dialogpartner sind. D e n Dialog zwischen Sokrates und seinen Gesprächspartnern mag man für einen skeptischen halten, sofern er in Aporien endet. M a n kann aber durchaus zu einem anderen Ergebnis gelangen, wenn man denselben Dialog als einen zwischen Piaton u n d dem Leser des sokra-

Epilog

301

tischen Dialogs interpretiert: Die Aporie wird dann schnell zur Scheinaporie, die lediglich dem Leser selbst den letzten Schritt der Argumentation abverlangt. Historische Situationseinschätzungen ganz praktischer Art können gleichfalls die Entscheidung beeinflussen: Ist der Dialog nur als Werbung um philosophisch Interessierte gedacht, als eine Werbung im Konkurrenzkampf zwischen Piaton und Isokrates, so vermag die Aporie zur Scheinaporie dadurch zu werden, daß der Dialog Interessierte lediglich anlockt und die Lösung nur vorläufig, bis zum weiteren Gespräch, offen läßt. Alle bisherigen Erwägungen beruhten auf der Voraussetzung, daß wir in der semantischen Dimension nach dem Zweck des sokratischen Fragens fragen. Der Zweck des Fragens kann aber auch von vornherein in der pragmatischen Dimension erfragt werden. Fragen könnte dann dem Zweck zugeordnet werden, Denken als soziale Tätigkeit zu entfalten, etwa im Sinne der kierkegaardschen Unterscheidung, wonach Fragen Menschen vereinen, Antworten sie aber trennen. Auch die Erwägung, der Dialog wirke herrschaftsbeschränkend, weil Fragen sich der eigenen Totalisierung widersetzten, wäre eine Zwecksetzung in der pragmatischen Dimension. Wie ist nach all diesen Erwägungen das sokratische Fragen in die Fragentrias „Informationsfrage", „Frage nach uns selbst" und „strategische oder taktische Frage", einzuordnen? In der sokratischen Frage erscheinen alle drei Frageformen: Sie ist Informationsfrage, aber eben als Frage nach uns selbst, und sie verfolgt mit ihrer pragmatischen Dimension, ob sie auf semantischer Ebene skeptisch oder didaktisch wirkt, immer auch einen strategischen oder taktischen Zweck. War das Vorausgegangene nur eine Reihe von Fragen nach dem antiken Sokrates, und schließen sich Fallstudien zur Wirkungsgeschichte erst daran an? Nein, wir hatten es schon bis hierher mit einer Fallstudie zur Wirkungsgeschichte zu tun. Es war ein Disput in der Tradition der Aufklärungsphilosophie, die zwischen Skepsis und Didaktik unterscheidet. Mag sein, daß die Philosophie der Aufklärung keine fragende, sondern eine predigende Philosophie war. Mag auch sein, daß Sokrates darin keine entscheidende Rolle spielte, sieht man einmal von Hamann ab. Ihr Thema war aber der Disput darüber, welche Funktion Philosophie hat: die der Skepsis oder die der Belehrung. Wer also nach dem Zweck sokratischen Fragens fragt und seiner Antwort die Dichotomie von Skepsis und Didaktik zugrundelegt, denkt in Kategorien aufklärerischen Philosophierens. Für Paulus, der im Nimbus des Sokrates auftritt, war die Dichotomie ohne Bedeutung, war Skepsis keine tragfähige Option. Für Kierkegaard aber war die Dichotomie gegenwärtig; er steht, gerade in seiner Auseinandersetzung mit Hegel, am Ende eines aufklärerischen Diskurses, in welchem sich die beiden Möglichkeiten einander annähern, dafür aber personell differenzieren. Kierkegaards Sokrates und Kierkegaards Christus bringen den Menschen zu einer individuellen Existenz, der eine, weil er mit seinem Nichtwissen die Erinnerung an das individuelle Wissen evoziert, der andere, weil er mit seinem Wissen das Leben in der totalen Unwahrheit thematisiert.

302

Kurt Seelmann

Erst mit Nietzsche ändert sich die Frage nach dem fragenden Sokrates fundamental. Jetzt geht es nicht mehr darum, welchen Zweck das sokratische Fragen hat. Nietzsche will vielmehr wissen, ob man überhaupt sokratisch fragen oder den Instinkt vorziehen soll. Dies ist für ihn eine wirkliche Frage, deren Antwort er sich nicht sicher ist. In einer ersten Phase ist Sokrates für ihn der Wissende, der durch seine Fragen aus dem Instinkt herausführt und dessen Fragen befragt werden müssen, damit man im Medium der Musik zum Instinkt zurückgelangt. In Nietzsches zweiter Phase ist Sokrates der Ausnahmegrieche, der Kämpfer gegen den Instinkt als Missionar des Skeptizismus. In der dritten Phase wird Sokrates ein Exempel an Falschheit, er ist einer, der sich am Instinkt orientiert, aber die Vernunft vorschiebt. Die Kontroverse also ändert sich. Nicht mehr geht es darum, ob der Fragende schon eine Antwort hat, sondern sein Fragen ist zu befragen, zu „hinterfragen". Das Hinterfragen des Fragens taucht als Interpretationsmuster ebenso beim Dekonstruieren und in der Psychoanalyse auf. Dekonstruktion weiß sich mit der Hermeneutik darin einig, daß alles Interpretieren und Interpretationskonstrukt ist. Die Gerichtetheit des Fragens auf feste Antworten wird ersetzt durch ein Spiel der Interpretationen - nichts hat den nichtrelationalen Charakter, nach dem die Metaphysik sucht. Dekonstruktion geht aber auch weiter als Hermeneutik, und in ihrem Selbstverständnis grenzt sie sich gerade gegen Hermeneutik besonders heftig ab. Letztlich besteht der Unterschied darin, daß die Dekonstruktion auch hinter das hermeneutische Fragen zurückgeht, daß auch die Frage ihre eindeutige Gestalt verliert. Nicht nur, was die Antwort ist, steht nicht fest, selbst was das Problem ist, liegt für den Dekonstruktivisten nicht auf der Hand. Dies ist gerade jenes letztlich an Nietzsche orientierte Infragestellen auch des Fragens. Ein ganz ähnliches Phänomen begegnet in der Psychoanalyse. Bekanntlich arbeitet der Psychoanalytiker in der freudschen Tradition nicht mit einem symmetrischen Gespräch, sondern läßt, gerade auch durch seine professionelle Zurückhaltung, die sich dem Analysanden aufdrängenden Fragen diesen selber beantworten, verlangt ihm einen analytischen Monolog ab. Die Tugend des Analytikers liegt im Schweigen, damit die Phantasie nicht beeinträchtigt wird. Wo er zu diesem inneren Monolog des Analysanden hinzutritt, tut er dies als Dritter, als Kommentator. Fragen des Analysanden an den Analytiker sind „Kinderfragen", von denen sich der Analysand gerade emanzipieren soll. Es geht im Ergebnis um ein Lebenkönnen ohne Antworten, ein Lebenkönnen gerade unter der Voraussetzung, daß es Antworten nicht gibt und daß Fragen, wie Kinder sie ihren Eltern stellen, für das Leben letztlich keinen Sinn ergeben. Ein dritter Bereich sperrt sich den Wissensfragen: die Kunst. Fragen an Bilder sind keine sokratischen Fragen — daß Piaton die Kunst an den Rand seiner Ordnung drängt — genau wie Hegel dies tut — ist kein Zufall. Geht es in der Philosophie um Wissensfragen, so in der Kunst um abgetane Möglichkeiten im Kontinuum der Wahrscheinlichkeiten. Darin liegt, dies sei zuletzt in einem Exkurs

Epilog

303

noch kurz benannt, eine gewisse Parallele zur juristischen Tätigkeit, einer Tätigkeit, die nicht ohne Grund als „ars" boni et aequi bezeichnet worden ist. Auch dem Recht geht es um ein Kontinuum an Wahrscheinlichkeiten, wenngleich es, anders als die Kunst, aus ihnen ein festes Ergebnis herausgreifen muß. Wissensfragen freilich sind es nur vordergründig, die das Recht stellt. Man erkennt dies an zwei fur das Recht typischen Arten der Befragung: an Fragen, welche die Justizorgane dem Einzelnen stellen, und an der Befragung, der sich der Jurist bei der Lösung eines Falles selbst unterzieht. Der Einzelne, sei er etwa Angeklagter oder Zeuge, wird zum Fall befragt, wird befragt nach empirischen Daten, und alles sieht so aus, als wären diese Fragen wirklich auf Wissen und Wahrheit gerichtet. Doch schon praktisch kann dies gar nicht der Fall sein, zu kurz ist die zur Verfügung stehende Zeit für die Beantwortung, zu wichtige Gründe gibt es in der Freiheit und Menschenwürde der Beteiligten, die einer endgültigen Klärung der Fragen entgegenstehen. Was man braucht, ist ein gemeinsam getragenes Konstrukt, mit dem am Ende alle Beteiligten leben können. Vor der Einführung des Inquisitionsverfahrens im 13. Jahrhundert hat man im Recht ohnehin wenig gefragt, und auch die Inquisition hatte letztlich eine pragmatische Bedeutung: sie sollte verhindern, daß Taten mangels Kläger gar nicht aufgegriffen werden können. Das scheint noch in ihren inhumansten Erscheinungsformen, etwa in der Erzwingung eines Geständnisses in Hexenprozessen, durch. Wenn wir heute offen sogar über Absprachen im Strafverfahren sprechen, wenn es Gegenstand der Einigung ist, was man gesteht und was daraus folgt, so wird dieser pragmatische Aspekt, anders als früher, nur ausdrücklich affirmiert. Nicht anders ist es bei denjenigen Fragen, die der Jurist sich selbst stellt. Ob Praktiker oder Wissenschaftler, seit Bologna arbeitet er mit Fragen (quaestiones), sucht einander widersprechende gängige Antworten zu harmonisieren durch Differenzierung nach Hinsichten, entscheidet sich nach Gründen, die fast immer auch durch andere Gründe ersetzt werden und so zu anderen Ergebnissen leiten könnten. Kelsen hat dies in unserem Jahrhundert dahingehend radikalisiert, daß diese Entscheidung zwischen den Möglichkeiten gar nicht mehr der Jurist als Jurist treffe, sondern der Rechtspolitiker. Der Jurist zeigt mit seinen Fragen nur die Möglichkeiten, gibt aber nicht die Antworten. Der Jurist also als fragender Sokrates? Sicherlich nicht im Sinne jener aufklärerischen Dichotomie von Skeptizismus und Didaktik. Der Jurist weiß, daß er auch ohne Antworten nicht skeptisch zu sein braucht und daß die Fragen keiner Belehrung, sondern einer Befriedung dienen. So gesehen war der Jurist immer schon ein Sokrates nach Nietzsche. Der fragende Sokrates — aus welcher anderen Zeit könnten wir ihn sehen als aus unserer, in der wir unsere Fragen und unsere Schemata des Denkens ihm unterlegen. Dann fragen wir im Sinne der Aufklärung, ob er Skeptiker oder Didaktiker ist, oder wir hinterfragen solche Fragen, indem wir nach dem Sinn des Fragens fragen.

305

ί

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Abb. 1 (Blome). Büste des Sokrates, Typus A. Neapel, Nationalmuseum, Inv. 6129

306

StM

Abb. 3 (Blome). Bildnis des Sokrates, Typus A. Toulouse, Musee S t . - R a y m o n d , Inv. 30911

308

Abb. 4 (Blome). Bildnis des Sokrates, Typus Α auf einer antiken, jedoch nicht zugehörigen Herme. Vatikan, Musensaal, Inv. 314

Abb. 5 (Blome). Bildnis des Sokrates, Typus Β auf einer modernen Herme. Paris, Louvre, Inv. Ma 59

310

Abb. 6 (Blome). Bildnis des Sokrates, Typus B. R o m , Nationalmuseum, Inv. 1236

Abb. 7 (Blome). Statuette des Sokrates. London, British Museum, Inv. 1925.11-18.1

Abb. 8 (Boehm). RafFael, Schule von Athen, Stanza della Segnatura, 1509/10, R o m (Vatikan)

Abb. 9 (Boehm). RafFael, Schule von Athen, Detail (Sokrates)

313

Abb. 10 (Boehm). Jacques Louis David, Sokrates im Gefängnis, u m g e b e n von seinen Schülern, den Schirlingsbecher leerend, 1787, Metropolitan M u s e u m of Art, N e w York

Abb. 11 (Boehm). Anselm Feuerbach, Gastmahl des Piaton, 1869, Karlsruhe, Kunsthalle

314

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