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German Pages 107 [116] Year 1969
W. W. Holdheim Der Justizirrtum als literarische Problematik
W. Wolfgang Holdheim
Der Justizirrtum als literarische Problematik Vergleichende Analyse eines erzählerischen Themas
Walter de Gruyter & Co. Berlin 1969
Archiv-Nr. 47 83 691 © 1969 by Walter de Gruyter Λ Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner • Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Str. 13 Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischera Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Paul Funk, Berlin 30
Dem Andenken meines Vaters, der die Literatur so liebte
Inhaltsverzeichnis
I. Bestimmung des Themas
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II. Das Modell: Die Brüder Karamasoff
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1. Ort und Bedeutung des Prozesses im Roman a) Die Gerichtsverhandlung als Bedeutungspol des Buches
10 ....
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b) Die innerprozessuale Polarität
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2. Der Nihilismus Fetjukowitschs
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a) Die Kritik der Erkenntnis
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b) Die Untergrabung der Moral
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c) Die Entwertung der Ästhetik
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3. Die Gebrochenheit der ästhetischen Kategorien
30
a) Die zweifelhafte Struktur
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b) Das kontingente Schicksal
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c) Schuldlosigkeit und Sdiuld
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4. Der religiöse Bereich
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III. Erste Variation: Der Fremde
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1. Die Perspektive
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a) Fundamentale Obereinstimmungen der beiden Prozesse
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b) Allgemeine Unterschiede
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2. Erster Teil: die Bedeutung der Sinnlosigkeit a) Der realistische Irrtum
49 49
b) Das Wesen der Stilisierung
52
c) Zusammenfassung
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3. Zweiter Teil: die Sinnlosigkeit der Bedeutung
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a) Die Verschiebung des Gesichtspunktes
59
b) Die Grenzen dieser Verschiebung und das entdramatisierte Drama
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4. Die Fragwürdigkeit des Tragischen
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a) Die versuchte Assimilierung des Tragischen
68
b) Die Spaltung der tragischen Kategorien: Zufall und Spontaneität
69
c) Die Spaltung der tragischen Kategorien: Schicksal und Kontingenz, Schuldlosigkeit und Schuld
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d) Tragik und Groteske
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IV. Zweite Variation: Die Panne
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1. Der Ort der Panne in Dürrenmatts Werk
81
2. Der Prozeß als dramatisches Spiel
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a) Die Redramatisierung des Stoffes
85
b) Die Welt der Villa
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c) Die Herrsdiaft des Einfalls
94
d) Die Zweideutigkeit der modernen Schuld
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e) Schlußbemerkungen
Bibliographie
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I. Bestimmung des Themas Einer der faszinierendsten literarischen Stoffe ist der des Verbrechens und des Gerichts. Es ist zugleich einer der reichhaltigsten — eine wahre Fundgrube für den Kommentator, wo er so recht nach Herzenslust aus dem vollen schöpfen kann. Das ist kein Thema mehr, eher schon ein jeder genauen Klassifizierung sich entziehendes Themenbündel, ein riesiger Assoziationskomplex, in dem die disparatesten Sinnbereidie enthalten sind und die verschiedensten Anliegen zur Geltung kommen. Um Morde oder auch Justizmorde kann es sich drehen, um Prozesse, Richter und Henker, um Sdiuld und Sühne, um formale Rechtspflege oder menschliche (bzw. kosmische) Gerechtigkeit. Die diesbezügliche Literatur geht von der populärsten bis zur subtilsten, vom zeitgebundensten politischen Engagement bis zur reinen Belletristik. Sie kann vollkommen in der Buchstäblichkeit steckenbleiben, andererseits aber eine Vielfalt von Bedeutungsschichten aufweisen und sich schließlich in die tiefsten Lagen religiöser Problematik eingraben. Ihr Kreis umfaßt Realismus sowie Uberrealismus oder Parodie; er reicht von der Darstellung geschichtlichen Gerichtswesens über die Kritik an zeitgenössischen Zuständen und Institutionen bis zur (positiven oder negativen) Utopie. Nur embarras de richesse hält uns davon zurück, hier Dutzende von Namen anzuführen, welche auch noch die historische Universalität einer sich von der ältesten Literatur ununterbrochen bis zur neuesten fortsetzenden Thematik belegen würden. Ganz emphatisch bis zur neuesten, denn gerade das moderne Schrifttum hat eine bisher beispiellose Ausbreitung des Stoffes mit sich gebracht. Schon darum obliegt es dem Kritiker, sich intensiv 1 Holdheim, Justizirrtum
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damit zu befassen. Die Fruchtbarkeit des Gegenstandes birgt jedoch Gefahren, welche nur die strengste Denkdisziplin vermeiden kann. Man kann leicht im Formlosen versinken, wie man in einem Dschungel stecken bleibt, wenn man sich seiner Machete nicht bedient. Genauer ausgedrückt läuft man Gefahr, entweder in einen impressionistisdien Kommentar abzugleiten oder gar eine ganze Literaturgeschichte zu schreiben. Beide Unternehmungen mögen respektabel sein, sind aber (wie wir glauben) nicht dasjenige, dessen der Stoff zu seiner Erhellung am meisten bedarf. Unser Anliegen jedenfalls ist intensiv-deuterisch und nicht kommentatorisch; es geht uns um Vertiefung, nicht um Breite; nicht Allgemein-Literaturgesdiichtliches erstreben wir, sondern präzise Formulierung und systematische Analyse. Vorbedingung ist eine klare Problemstellung, d. h. eine energische Eindämmung der Thematik, die letztere überhaupt erst für die Deutung urbar macht. Zugestandenermaßen ist dies eine Definition des nicht ganz Definierbaren — eine Klassifizierung dessen, was wir soeben noch als unklassifizierbar bezeichneten. Das ist aber lediglich eine Form der fundamentalen Paradoxie, über die sich der Kritiker hinwegsetzen muß, weil sie aller Kritik inhäriert: der Notwendigkeit nämlich, das nichtbegriffliche Wesen der Literatur in begriffliches Denken zu übersetzen. Unter den vielen möglichen Blickrichtungen müssen wir also eine wählen, der analytisch etwas abzugewinnen ist1 — ein genau bestimmtes Thema oder Teilthema, 1
Hildegard Emmel (Das Gericht in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bern 1963) tut das nicht und erklärt gleich zu Anfang: „Es ist noch nicht einmal einheitlich zu definieren, was Gericht sei; weder zu Beginn noch am Ende der Untersuchung ist eine Festlegung möglich" (S. 6). Das ist die konsequente Folge der literaturhistorischen Methode, für die ihr Buch als Modellfall gelten kann. Sie behauptet, die Vielheit der Bedeutungen und der Gesichtspunkte entspreche dem Wesen des Problems, das die modernen Schriftsteller mit dem Gerichtsthema gestalten: es sei nicht im Ganzen, höchstens im Einzelfall zu lösen. Das mag wahr sein — aber dann ist es eben die Aufgabe der Deutung, die Struktur gerade jener Unlösbarkeit zu untersuchen und die Dialektik dieser Fragmentierung herauszuarbeiten. Der Interpret muß selbst die Verwirrung gedanklich zu erfassen suchen, er kann sie nicht einfach widerspiegeln. Natürlich hat auch Hildegard Emmels Studie ein Ordnungsprinzip, eben das literaturgeschichtliche: die Kapitel entsprechen
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dem man systematisch beikommen kann und das zugleich bedeutend genug ist, um über sich selbst hinauszuweisen. Das ist die beste Art, Bedeutungen zu enthüllen und Beziehungen herzustellen, die solch einem komplexen Literaturaspekt zur Klärung verhelfen können. Das Ideal wäre eine ganze Anzahl kritischer Studien über streng definierte (sich überschneidende und einander anfüllende) Themen, wodurch die globale Thematik von verschiedenen Seiten beleuchtet werden könnte. In der vorliegenden Arbeit, die eine dieser Studien liefern will, handelt es sich also als erstes um die Festigung und Umgrenzung eines günstigen Themas. Wir gehen bestimmt nicht fehl, wenn wir zunächst das Phänomen des Verbrechens ins Auge fassen. Es ist von jeher einer der beliebtesten Stoffe der Weltliteratur, ein geeignetes Symbol des Chaos — nicht nur des gesellschaftlichen, sondern auch des moralischen, metaphysischen, kosmischen. Schon das sophokleische Theben kann vor der Entdeckung des Mörders nicht zur Ruhe kommen, und bei Shakespeare ist etwas faul im Staate Dänemark. Das sind allerdings extreme Beispiele, doch gerade diese Tatsache macht es bemerkenswert, daß beide von der psychoanalytischen Kritik mit Recht als Formen des „ödipus"-Motivs betrachtet worden sind. Man braucht aber beileibe nicht dieser kritischen Methode zu frönen, um von der Bedeutung des Vatermordmotivs durchdrungen zu sein; bereits Aristoteles weist in der Poetik auf seine tragische Wirksamkeit hin. Die Psychoanalyse macht viel von der emotionalen Intensität des Themas verständlich, ist aber zu sehr an die genaue Ödipus-Struktur gebunden, welche sie oft beim geringder zeitlichen Sequenz der Blickpunkte, „die sidi von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ändern" (S. 5). Doch erstens ist die Untersuchung nicht komplett und zweitens wird die Chronologie gelegentlich nicht berücksiditigt; beides bedeutet eine erhebliche aber unvermeidliche Schwächung einer Methode, die sidi bei solch einem Thema allerdings kaum konsequent durchführen läßt. Am ernstesten ist jedoch die Äußerlichkeit des Strukturierungsprinzips selbst, die sich ζ. B. darin zeigt, daß Hofmannsthal und Kafka im ersten Kapitel unter einen Hut gebracht werden (eigentlich nur, weil sie ungefähr Zeitgenossen waren). Vom Werke selbst her gesehen, stünde Kafka doch bestimmt dem Protagonisten des letzten Kapitels (Dürrenmatt) bedeutend näher! 1*
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Bestimmung des Themas
sten Anlaß durch übersubtile Interpretationen und Umkonstruktionen herzustellen sucht. Was nun, wenn eine Tochter die Mörderin ist, oder wenn es sich um einen Muttermord handelt — auch ein altes Tabu, das in der Literatur zu großer Prominenz gelangt ist. Außerdem sollte man sich nicht verpflichtet fühlen, die begehrte Mutter wenn nötig mit dem Mikroskop zu sudien. Der Inzest hilft, aber mit oder ohne Blutschande ist der Elternmord durchweg das Verbrechen k a t exochen. I n der Orestie wie im König ödipus,
im
Lear sowie im Vater Goriot ist er die Missetat, welche die Weltordnung aus den Fugen reißt. Schon die Erwähnung eines Balzacschen Werkes zeigt die Fortdauer auch dieser Thematik in der modernen Literatur. Ja, das Verbrecherische in allen seinen Formen rückt auf eine Weise in den Vordergrund, die vorher ihresgleichen wohl nicht hatte. Zuerst erscheint der etwas theatralische Typus des interessanten Vereinzelten, des romantischen Rebellen; „Ihr Lord Byron hat in der äußersten Verzweiflung der Poesie die Leidenschaften des Verbrechens besungen", sagt jemand anderswo bei Balzac2. Dann wird der Verbrecher (ohne übrigens seine romantischen Merkmale immer aufzugeben) zur realistischen Figur, zum Symbol einer dynamischen aber entwurzelten Gesellschaft, in der alle Werte in Frage stehen. Daneben spitzt sich die verbrecherische Unordnung mehr und mehr zum philosophischen Problem zu: sie wird zur ideologisch gestellten und dramatisch inkarnierten Frage nach Mitteln und Zwecken, nach den Grenzen der Moral. Rastignac und Vautrin müssen sich damit auseinandersetzen, Puschkins Hermann und Dostojewskis Raskolnikoff, ja schon der alte Faust — und auch Stendhals Helden stehen gern jenseits von Gut und Böse. Im 20. Jahrhundert gar wird das Verbrechertum oft ins Uberlebensgroße, fast Mythische, 3
Im Chagrinleder, während der Orgie bei Taillefer. Siehe La Peau de chagrin, S. 59 der Garnier-Ausgabe. Alle Übersetzungen aus dem Französischen und Englischen sind unsere eigenen und basieren auf Ausgaben in der Originalsprache. Allgemein bekannte literarische Werke, von denen deutsche Übersetzungen vorliegen, werden jedoch im Text unter ihrem deutschen Titel angeführt.
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Mabusehafte gesteigert, und der häufige Versuch, die alten Mythen für moderne Problematik und sogar für realistische Darstellung zu gewinnen, ist dieser Erscheinung nahe verwandt. Es ist klar, daß audi dieses Motiv für die hier erstrebte eingehende Analyse noch zu ergiebig wäre, selbst wenn man sich (wie wir es tun wollen) auf die moderne Literatur beschränkt. Das Gleiche gilt für den Versuch der Beseitigung des Verbrechens, der Aufhebung des Chaos — ein Thema, das ja in irgendeiner Form fast notwendig mit dem vorigen verbunden ist. Handlicher wird die Sache, wenn wir diesen Versuch auf das Moment des intellektuellen Verstehens limitieren. Nicht nur um die Wiederherstellung der Ordnung soll es gehen, sondern vor allem auch um die Rekonstruktion und das verstandesmäßige Erfassen des Geschehenen. Nicht Gesetz und Gerechtigkeit sollen in erster Linie im Blickpunkt stehen, sondern die Deutung der Wirklichkeit durch die Vernunft. Die tonangebende Figur wird weniger der Richter oder der Henker als der Detektiv oder Staatsanwalt. Damit sind die beiden in Frage kommenden Literaturarten schon bezeichnet: die Darstellung eines Prozesses und der Kriminalroman. Was letzteren betrifft, so ist seine moderne Blüte (von Poe und Conan Doyle bis zu den schablonenhaften Massenprodukten unserer Zeit) nach den obigen Ausführungen nicht verwunderlich. Selbst jetzt ist er noch nicht überall zum populären „Krimi" entartet. Autoren wie Chesterton, Graham Greene und manchmal Simenon trachten ihm oft erfolgreich literarischen Wert abzugewinnen. Ein weiterer Beweis für die Wesentlichkeit dieses Genres liegt darin, daß ein Robbe-Grillet in Les Gommes versucht, es (allerdings halbparodistisch) mit dem ödipusthema zu verschmelzen, das umgekehrt schon in seiner sophokleischen Form halbwegs zwischen dem Kriminalroman und der Prozeßgeschichte steht. Die verführerischen dramatischen, ja tragischen Möglichkeiten der Gattung sind durch diesen Hinweis hinlänglich angedeutet. Wie kommt es, daß sie so schnell zur Schablone wird? Wohl daher, daß sie durch eine gewisse ihr innewohnende Eindimensionalität oft dazu gebracht wird, sich die Dinge leicht zu machen. Ein genialer De-
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tektiv bewältigt die Ereignisse durch die Kraft seines Geistes: das ist die reine Formel des Kriminalromans. Ellery Queen nennt seine Kreationen „Deduktionsprobleme", und Sherlock Holmes geht nicht anders zu Werke. — Dr. Watson ist nur eine komische Folie, ein Jasager, der einem echten Dialog mit seinem überlegenen Freunde auf keine Weise gewachsen wäre. Nun wird zwar die Gerichtsszene oft zu einem ähnlichen Cliche: der arme Staatsanwalt in den Perry Mason-Büchern und -Fernsehstücken ist auch nicht viel mehr als ein Dr. Watson, der sich seinem klugen Gegner unvermeidlich zu beugen hat. Aber der Grund ist eben, daß Werke dieser Art ihre wesentlichen Potentialitäten nur auf die äußerlichste Art ausnützen. Im Grunde hat der Verteidiger hier die eindeutig klärende Rolle des Detektivs übernommen, und die Form der Gerichtsverhandlung verhüllt die Substanz des Kriminalromans. Im Prinzip impliziert das Prozeßthema eine komplexere Struktur, worin das Moment des Konfliktes die primäre Rolle spielt. Man streitet urn die Deutung der Ereignisse: die Deduktion wird zur Dialektik. Natürlich enthält auch ein guter Kriminalroman Konflikt und Spannung, aber der Akzent fällt gänzlich anders. Der Riß liegt dort zwischen dem deutenden Geist des Detektivs und dem sturen Widerstand der Fakten, der auch zum aktiven Widerstand des Bösewichts werden kann. Diese Struktur ist im Wesen melodramatisch, im Gegensatz zu der einer gerichtlichen Kontroverse, wo die Tatsachen ein für allemal gegeben und rein deuterischer Tätigkeit zugänglich sind. Hier ist der verstehende Geist als solcher in sich zerteilt, als ob er sich einer Wirklichkeit gegenübersehe, die durch die Unilinearität kartesianischer Logik nicht bewältigt werden kann. Diese Verinnerlichung des Konflikts führt zu einer reineren, intensiveren Dramatik im klassischen Sinne. Die Handlungseinheit ist dem Kriminalroman genau so wie der Gerichtsszene zu eigen, aber die Spannung ist bei letzterer nicht von äußerlichen Geschehnissen bestimmt. Als „Analysis" des Schongeschehenen fügt sie sich aufs leichteste der Konzentration von Ort und Zeit. Die dramatischen Potentialitäten des Themas werden zur Genüge durch seine
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häufige Verwertung auf der Bühne bewiesen, vom Altertum bis zur Neuzeit, in der Komödie wie in der Tragödie, und manchmal werden sogar Auszüge aus wirklichen Prozessen in literarische Stücke übertragen3. Es ist kaum erstaunlich, daß Emil Staiger den Prozeß als Inbegriff des „dramatischen Stils" überhaupt betrachten kann. Wie das Gericht habe das Drama eine wesentlich „problematische" Struktur. Es sei ganz auf ein Denouement (d. h. auf die Lösung eines Problems) gerichtet, und seine Form sei konsequent von diesem Endzweck bestimmt (Problem heißt „das Vorgeworfene"). Der Dramatiker gleiche dem Richter, der die Fakten im Hinblick auf die Lösung auswählt und so die Wirklichkeit vereinfacht und strukturiert. Seine Aufgabe sei nicht die Darstellung sondern die Beurteilung des Lebens, und das Gegenständliche sei nur dazu da, damit er es begrifflich erfassen und in Zusammenhang bringen kann4. Fügen wir noch hinzu, daß ja das Wort „Prozeß" soviel wie „Fortschreiten" (also „Handlung" oder „Drama") bedeutet und das Thema ohne Mühe der aristotelischen Forderung nach einer übersichtlichen, in sich geschlossenen Aktion entsprechen kann. Die Eumeniden sind wohl die literarische Urform des Prozeßmotivs. Natürlich kann man darin vornehmlich den Widerstreit 3
So der Frankfurter Auschwitzprozeß in Peter Weiss* Ermittlung (die allerdings mehr ein lyrisches oder antilyrisches „Oratorium" ist) und der Zolaprozeß in Roger Martin du Gards dramatisch dargestelltem Frühroman Jean Barois. Die interessanteste Gerichtsverhandlung in der Komödie bleibt die in Kleists Zerbrochenem Krug — einem Stück, das nicht zu Unrecht als komische Auswertung der ödipusstruktur betrachtet worden ist. Goethe schrieb am 28. August 1807 darüber an Riemer: „Das Talent des Verfassers, so lebendig er auch darzustellen vermag, neigt sich doch mehr gegen das Dialektische hin, wie es sich denn in dieser stationären Prozeßform auf das Wunderbarste manifestiert hat" (zitiert im Zweiten Teil von Kleists Sämtlichen Werken, W. Spemann Verlag, Berlin und Stuttgart, S. X). Das ist als Kritik gedacht und hängt mit dem ursprünglichen Mißerfolg des von Goethe in Weimar inszenierten Stückes zusammen; in der Komödie war man eben an die Präponderanz äußerlicher Geschehnisse gewöhnt. In der Tragödie hätte Goethe das „Stationäre", „Dialektische" nicht gerügt. Man hat heute gelernt, über Kleists Stück anders zu urteilen.
4
Emil Staiger, Grundbegriffe S. 175—181, 206—210.
der Poetik, 5. Auflage (Zürich, 1961), besonders
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zwischen zwei Gesetzen, zwei Auffassungen der Gerechtigkeit betonen — eine andere und gleich interessante Perspektive, welche auch die Antigone beherrscht und in Melvilles genialer Novelle Billy Budd einen modernen Höhepunkt erreicht. Für uns steht jedoch das Lösungsmoment im Mittelpunkt, und gerade der Vergleich mit der äschyleischen Tragödie ist geeignet, die von uns gewählte Thematik deutlich zu illustrieren. Der griechische Dichter sucht Harmonie und Ordnung, wir aber auch die Deutung der Ereignisse. Während bei ihm nur die Gerechtigkeit in Frage steht, wird bei uns die Wirklichkeit selbst fragwürdig und droht sich der Verständlidikeit zu entziehen. Die dialektische Zweiteilung des wahrheitssuchenden Geistes wird zum Spiegel der Zerrissenheit, das dramatische „Problem" zur typisch modernen Problematik. Kein Wunder, daß die Rechnung nur noch scheinbar aufgeht: das bei Äschylos befriedigende Denouement entartet bei uns zur falschen Lösung — zur Mißdeutung und zum Justizirrtum. Noch auf andere, später zu erwähnende Weise zeigt sich der Gegensatz zwischen moderner Disharmonie und antiker Harmonisierung. Hier sei nur noch darauf hingewiesen, daß Äschylos' Dichtung (sowie auch der für uns besonders wichtige König ödipus des Sophokles) passenderweise ein Drama ist, während die in dieser Studie zu besprechenden Werke trotz des hochdramatischen Themas alle (übrigens auf verschiedene Art) der erzählerischen Literatur angehören — eine Tatsache, die im Laufe der Untersuchung natürlich selbst einer eingehenden Erklärung bedarf. Natürlich handelt es sich hier um einen idealen Modellfall, der in der Praxis verschieden und nicht immer rein zum Ausdruck kommt. Es muß jedoch hervorgehoben werden, daß unser normatives Muster sich auf ein reales Vorbild stützt — nämlich auf die Brüder Karamasoff, die also gewissermaßen als klassische Form sowie als geschichtliche Urform des Themas gelten können. Die folgenden Ausführungen sind als erstes der Vertiefung dieses Modells gewidmet, danach den literarisch und philosophisch bedeutsamen Abwandlungen, die sich später in Camus' Erzählung Der Fremde und in Dürrenmatts Panne ergeben. Wir glauben, daß diese ver-
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gleichende Analyse aus der im Vorigen umrissenen Thematik das Letzte an literarischer Bedeutung herausholen kann. Bevor wir uns unserer Aufgabe völlig widmen, sei jedoch ein früherer Roman noch kurz erwähnt. Schon in Stendhals Rot und Schwarz fungiert eine Gerichtsszene als dramatische Lösung eines erzählerischen Werkes. Allerdings ist sie nur wenig entwickelt und gilt nicht der Klärung undurchsichtiger Umstände, die uns in erster Linie interessiert: Stendhals Prozeß ist nicht viel mehr als ein Racheakt der Bourgeoisie gegen den Emporkömmling Julien Sorel. Doch sind gewisse Nebenmotive, auf die wir später stoßen werden, bereits auf frappante Weise angeschlagen. Bei allen Unterschieden gleicht die Atmosphäre im Gerichtssaal etwas derjenigen beim Prozeß Dmitrijs, wo das weibliche Publikum ebenfalls den Freispruch wünscht, die Jury aber unerwarteterweise das strengste Urteil fällt. Wie im Fremden sieht man die Prozedur durch die Augen des Angeklagten als lächerliche Zeremonie. Viel wichtiger ist, daß schon ein freier und spontaner Akt zur Verhandlung steht, der einer logischen Erklärung nicht zugänglich ist (obgleich man solch eine Erklärung hier noch nicht versucht): Juliens Verbrechen ist bekanntlich der ursprüngliche acte gratuit in der modernen Literatur. Er ist auch ein klarer (wenn auch nicht buchstäblicher) Versuch des Muttermordes, also Elternmordes. Und endlich ist Julien, obwohl er die Tat begangen hat, im Sinne der Anklage nicht eigentlich schuldig und wird überhaupt aus den falschen Motiven verurteilt — verkörpert also einen Fall von schuldloser Schuld und wird (weil er sein Schicksal bewußt auf sich nimmt) zum tragischen Helden. Das sind alles Konstanten unserer Thematik, die Stendhals Buch zum geeigneten Präludium dieser Untersuchung machen. Sieht es doch fast so aus, als strebe der Autor bei der Behandlung seines Stoffes schon über die gesellschaftlichrealistische Sphäre hinaus, in der er dann schließlich noch befangen bleibt.
II. Das Modell: Die Brüder Karamasoff 1. Ort und Bedeutung des Prozesses im Roman a) Die Gerichtsverhandlung als Bedeutungspol des Budies Proust hat mit Recht geschrieben, Dostojewskis ganzes Werk lasse sich unter dem Titel „Geschichte eines Verbrechens" zusammenfassen. Daher ist es geradezu symbolisch, daß fast am Ende seines letzten und größten Romans eine Gerichtssitzung steht, die also gewissermaßen den Abschluß seiner schriftstellerischen Tätigkeit darstellt. Umso erstaunlicher ist es, daß die zentrale Bedeutung dieser Szene unseres Wissens nie voll gewürdigt worden ist. Obwohl schon Meier-Gräfe sie als architektonisches Gegenstück zur volkreichen Anfangsszene im Kloster erkannte, war er doch letzten Endes bemüht, ihre Wichtigkeit herabzusetzen. Die Intimität, nicht die Öffentlichkeit war für ihn das wahre Element des Buches, und er war nicht weit davon entfernt, in diesem ganzen Prozeß eine journalistische Abschweifung des Amateurkriminologen Dostojewski zu sehen. Ihm zufolge habe der Autor „den Ton möglichst leicht" nehmen wollen, und die Materie habe sich „fast gegen den Willen des Dichters erhitzt" 5 . Im Grunde hat sich seitdem nicht viel geändert. Die Auffassung dieses frühen Kommentators widerspiegelt die hartnäckige Tendenz, bei dem russischen Schriftsteller das Formale zugunsten von philosophischen und psychologischen Betrachtungen zu vernachlässigen. Zwar hat sich jetzt sogar die Dosto6
Siehe Julius Meier-Graefe, Dostojewski S. 477—478, 465.
der Dichter (Berlin, 1926), besonders
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jewski-Kritik entschlossen, Strukturelemente mitunter ernst zu nehmen, aber das Gericht in den Brüdern Karamasoff hat nur in geringem Maße davon profitiert. Die Interpreten ignorieren es immer noch oder gehen nach einer kurzen Würdigung seiner meisterhaften Technik daran vorbei®. Dabei läßt sich die symmetrische Gegenüberstellung der Mönchszelle und des Gerichtssaals gar nicht überschätzen. Sie bildet die fundamentale Polarität, die Achse eines Romans, der trotz seiner Komplexität strengster formaler Beherrschung unterworfen ist. Am Anfang sowie am Ende finden wir eine alle Volksklassen umfassende Massenszene, einen Querschnitt durch die russische Gesellschaft. Die einführende Ubersicht entspricht der Schlußrekapitulation. Handlungsmäßig steht die nicht zu verhindernde Verknüpfung einer fehlerhaften Wiederherstellung der Ordnung gegenüber, die mißlungene Versöhnung dem falschen Denouement. Aber nicht nur in Struktur und Handlung ist dieser Gegensatz inmitten der Entsprechung wirksam, er reicht tief in die Thematik und die gedankliche Substanz des Werkes hinein. So drückt er offenbar den Kontrast zwischen dem alten und dem neuen Rußland, den traditionellen Werten und dem Geschworenengericht der Reformzeit aus, und darüber hinaus die Konfrontation geistlicher und weltlicher Autorität überhaupt. Letztere verkörpert sich (mehr noch als im Gerichtspräsidenten oder der Jury) in der Konstellation Verteidiger— Staatsanwalt, erstere natürlich im Pater Sossima. Das rein gesellschaftlich-realistische Niveau wird damit durchbrochen. Hier sind weltanschauliche Differenzen im Spiel — zwei grundverschiedene Arten, der Wirklichkeit beizukommen. Sossima (wie Fürst Myschkin im Idioten) bringt durch seine bloße Gegenwart die Wahrheit in der Seele der anderen an den Tag; die Juristen können 9
Die beste Besprechung, die wir haben entdecken können, befindet sich am Ende von Ralph E. Matlaws Monographie The Brothers Karamazov ('s-Gravenhage, 1957), S. 43—44. Matlow betont kurz „die Vereinigung disparater Elemente" und spricht von „einer der brillantesten Rekapitulationen, die je konstruiert worden sind", erschöpft aber damit natürlich weder die strukturelle noch die thematische Bedeutung des Prozesses.
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nur darüber spekulieren. Sossima sieht sogar die Zukunft intuitiv voraus; die beiden Logiker können nicht einmal die Vergangenheit rekonstruieren. Das ruhige Verstehen des Geistlichen sticht grell von dem endlosen Gerede der Intellektuellen ab. Das erinnert an die Konfrontation des Großinquisitors mit Jesus, sowie Iwans mit Aljoscha — wie ja auch der Kniefall des Startzen vor Dmitrij (jene schweigende Geste der verständnisvollen Caritas) an Aljoschas und Christus' Bruderkuß gemahnt. Und damit sind wir bis zum philosophischen Mittelpunkt des Buches vorgedrungen. Die von uns betonte formale Polarität widerspiegelt nichts Geringeres als die Problematik des Pro und Kontra, den Gegensatz zwischen intuitiver und rationaler Erkenntnis, Glauben und Wissenwollen. Das Kloster ist die mystische Weisheit; der Prozeß ist die „euklidische" Vernunft.
b) Die innerprozessuale Polarität Es ist für die Vernachlässigung der Gerichtsszene bezeichnend, daß audi die sie beherrschenden Gestalten (die selbstverständlich vorher keine große Rolle spielen) die Kritik nur wenig beschäftigt haben. Verteidiger und Staatsanwalt gelten als Nebenfiguren und werden leicht gänzlich übersehen. Dabei verdienen schon ihre Charakterisierungen und ihr etwas rätselhaftes gegenseitiges Verhältnis eine nähere Betrachtung. Die Basis ist dramatischer Kontrast: der berühmte Verteidiger Fetjukowitsch ist der selbstsichere Besucher aus der Großstadt, der (eigentlich nur stellvertretende) Staatsanwalt Hippolyt Kirillowitsch dagegen eine vergessene und oft zurückgesetzte Lokalfigur. Doch läßt sich der Gegensatz nicht so schematisch festlegen. Er spielt auf verschiedenen Ebenen, denn beide Gegner sind von romanhafter Komplexität, und ihre Beurteilung gar ist widersprüchlich bis zur Gespaltenheit. Hippolyt Kirillowitsch ist im Grunde sympathischer. Er gilt als anständiger Mensch, und seine offenkundige Aufrichtigkeit sticht wohltuend von der skeptischen Kälte und der kniffreichen Wendigkeit des Moskauer An-
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waits ab. Er glaubt wirklich an seine Deutung der Ereignisse, und seine Entrüstung nach dem gegnerischen Plädoyer ist nicht gespielt. Außerdem ist er als Schwindsüchtiger dem Tode nah, was ihn fast zur tragischen Figur machen könnte. Statt dessen ist er eine jämmerliche Gestalt, und dies trotz seines gerichtlichen Erfolges, der ja immerhin Fetjukowitschs Überlegenheit in Frage stellen sollte. Man hält ihn für einen humorlosen und verbitterten Menschen, der seine eigenen Talente überschätzt. Keiner nimmt ihn ernst, und selbst im Lob, daß man ihm manchmal zollt, liegt immer ein gehöriger Schuß Geringschätzung. Er ist ein Pantoffelheld, der es zu Hause oft nicht aushalten kann und die Reaktion seiner Dmitrij-freundlichen Frau fürchtet. Auch sind seine Motive letzten Endes doch nicht ganz rein. Als typische Ressentimentfigur rächt er sich sowohl an Fetjukowitsch (unter dessen Erfolgen er schon in Moskau gelitten hatte) wie an Iwan (dem er öfters in intellektuellen Argumenten unterlegen war). Was den Verteidiger betrifft, so ist er eine moralisch zweifelhafte Gestalt. Seine Arroganz verträgt sich schlecht mit einer (allerdings halbironisch) einschmeichelnden Attitüde, die in mechanisch-marionettenhaften Rückenkrümmungen unangenehm, ja fast clownhaft sichtbar wird. Er scheint an nichts zu glauben, bleibt ungreifbar und distant, und sein Spiel mit allen Möglichkeiten wirkt tief unehrlich. Dazu kommt noch, daß „Fetjuko witsch" soviel wie „Dummkopf" heißt und auch der polnische Klang des Namens bei Dostojewski ja wahrhaftig keine Empfehlung ist. Man könnte also versucht sein, ihn auch intellektuell zu unterschätzen und bestenfalls als seichten Virtuosen zu betrachten7. Ein größerer Irrtum wäre jedoch kaum denkbar. Er ist beileibe kein Dummkopf, ja unsere ganze 7
Bei Matlaw (ebd.) zeigt sich deutlich diese Kombination von intellektueller Untersdiätzung und moralischer Verurteilung. Fetjukowitsdi sei „flach" (25), er sei „nur ein Wortvirtuos", der „lediglich versucht, die Beweislast der von seinem Gegner angeführten Zitate zu entstellen, oder sich auf literarische Clid^s und auf die biblischen Zitate verläßt, die er für jeden Notfall bereithält" (19). Er sei „ein käufliches Gewissen", und obgleich er (man fragt sich nach alledem wirklich wie!) das Verbrechen und seine Motivierung vollkommen rekonstruiere, sei es ohne innere Oberzeugung und nur als tour de force (44).
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Analyse wird gezwungenermaßen ein Loblied auf seine gedankliche Schärfe und Tiefe sein. Dostojewskis Namengebung ist überhaupt zu oft ironisch, um kritiklos buchstäblich genommen zu werden. Liegt nicht dem Namen des Untersuchungsrichters Neljudoff (eines harmlosen und freundlichen jungen Menschen, der in allen Gesellschaften ein beliebter Gast ist) die Wurzel eines Wortes zugrunde, das etwa „mürrisch", „ungesellig" oder „menschenfeindlich" bedeutet? Selbst ein Dostojewski würde unwichtigen Gestalten nicht die eingehende Behandlung widmen, die hier den beiden Anwälten zuteil wird. Ihre Vielschichtigkeit, ja Widersprüchlichkeit wird noch dadurch verstärkt, daß sich der Autor zu ihrer Beschreibung einer durchaus perspektivischen Technik bedient. Wir sehen sie durch die öffentliche Meinung reflektiert, durch die Zuschauer in den Verhandlungspausen — vor allem aber durch die Augen eines Erzählers, der selbst ein subjektiver Zuschauer ist. Diese Technik ist selbst ein Symptom, das schon durch den Gegensatz zum Verfahren des Schriftstellers in anderen Teilen des Buches ostensibel zur Geltung kommt. Zwar erscheint schon vorher mitunter ein nicht ganz allwissender Beobachter, so zum Beispiel in den einführenden Bemerkungen über den Ursprung der Familie Karamasoff und später in den spekulativen Kommentaren zur schnellen Zersetzung des verstorbenen Sossima. Diese Einschiebungen können jedoch die allgemeine Vorherrschaft eines göttlich privilegierten Autors nicht beeinträchtigen, der überall anwesend ist und uns einen großen Teil der Handlung in direkten Dialogen szenisch vorführt. Schon bei der Voruntersuchung rückt dahingegen der stadtansässige Chronist, der die gängigen Auffassungen über „unseren Hippolyt Kirillowitsch" wiedergibt und kritisch kommentiert, in den Vordergrund. Ganz auffällig wird seine Anwesenheit in der Verhandlungsszene, die sich doch eigentlich besonders zur objektiv dargestellten Rede und Gegenrede eignen sollte. Der Dialog ist allerdings da und seine dramatischen Möglichkeiten werden ausgenutzt, doch wird er mehr von Zusammenfassungen und Kommentaren unterbrochen als etwa das große Gespräch zwischen Iwan und Aljoscha. Dazu kommt, daß
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dieser Beobachter fast aggressiv seine Mängel betont: er gebe nur seine Eindrücke und Erinnerungen wieder, die vielleicht an der Hauptsache vorbeigingen; vieles habe er ungenau gehört, anderes vergessen8. Das geht über die Konvention der journalistischen Berichterstattung hinaus. Es ist ironische Selbstbeschränkung, die eine tiefe Ambivalenz ausdrückt und die Fragwürdigkeit der ganzen Prozedur sowie ihrer beiden Hauptvertreter zu unterstreichen scheint — ein demonstrativ zur Schau getragener Perspektivismus, welcher einen Sachbestand widerspiegelt, der objektiver Darstellung nicht zugänglich ist. Noch eines muß uns bei den beiden Juristen frappieren. Von allen wichtigen, mehr als vorübergehend auftretenden Personen im Roman ist Hippolyt Kirillowitsch die einzige, von der wir lediglich den Vor- und Vaternamen wissen — Fetjukowitsch dahingegen die einzige, von der uns nichts als der Familienname bekannt ist. Dieser Kontrast ist mit auffälliger Konsequenz durchgeführt. Es genügt nicht, anzunehmen, daß er nur die Fremdheit des einen und die Wohlbekanntheit des anderen betonen soll; beide Eigenschaften erscheinen auch anderswo ohne ähnliche Folgen. Handelt es sich hier überhaupt ausschließlich um einen Kontrast? Hat es nicht ganz den Anschein, als sei jeder für sich irgendwie nur eine Hälfte und als hätten sie nur zusammen einen vollständigen Namen? Sie stellen zwei Seiten derselben Medaille dar — eine Einheit, die der Dualität zugrunde liegt. Wir haben schon angedeutet, was diese in sich gespaltene Ganzheit ist: die rationale Erkenntnis, die „euklidische" Vernunft — ein Hauptthema also, das sich wie ein roter Faden durch das Buch hindurchzieht und von einer Reihe von Gestalten in allen Schattierungen verkörpert wird. Da ist natürlich vor allem Iwan, der Ungläubige par excellence, der seine Gedanken gequält bis zum Äußersten treibt. Seine Karikatur, der Zauberlehrling Smerdjäkoff, setzt diese Ideen hemmungslos in die Tat um, während der flache Publizist Rakitin sie in oberflächlicher Form schlank8
Siehe F. M. Dostojewski, Die Brüder Karamasoff (München, 1919), S. 1352, 1360. Künftige Hinweise auf diese Ausgabe im Text.
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weg in den Dienst seines Arrivismus stellt. Der jugendliche Koljä Krassotkin plappert die liberalen Thesen nach, ohne sie wirklich zu verstehen, und der verwestlichte Fortschrittler Miussoff hängt ihnen an, ohne sich ihrer letzten Konsequenzen bewußt zu werden. Das ist eine Abstufung, die vom unbedingten Nihilismus bis zum beschränkten Liberalismus geht, von Iwan bis Miussoff — von Nietzsches „tollem Menschen" bis zu jenen Mördern Gottes, deren eigene Tat noch nicht zu ihnen durchgedrungen ist8. Die Anwälte rekapitulieren diese Polarität und stellen sie auf dialektisch zugespitzte Weise dar. Der Staatsanwalt, der einem Miussoff intellektuell nahesteht, erntet Applaus mit seiner von Rakitin erborgten, modisch liberalen Deutung der Familie Karamasoff. Der Verteidiger kann mit allen Deutungen spielen, wie ja auch Iwan imstande ist, sich auf sämtliche Standpunkte (selbst den des Kirchenrechts) zu stellen. Hippolyt Kirillowitsch ist die Vernunft, welche noch konstruieren zu können glaubt, Fetjukowitsch die Vernunft als zersetzende und ins Leere stoßende Skepsis. Leicht hätten sie zu bloßen Allegorien erstarren können, aber das Vorhergehende zeigt hinlänglich, wie weit Dostojewski in ihrer romanhaften Konkretisierung gegangen ist. Das Allgemeine verschmilzt bei ihnen mit dem Partikularen, und viele ihrer Eigenschaften sind realistisch glaubhafte Ausstrahlungen oder Entsprechungen ihrer abstrakten Bedeutung. Der Gegensatz, den sie inkarnieren und zur Vollkommenheit entwickeln, ist übrigens in Dostojewskis Werk nicht neu. Er erinnert an denjenigen zwischen dem „Kristallpalast" und dem „unterirdischen" Bewußtsein in den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, und mehr noch an die Konfrontation des liberalen Vaters und des nihilistischen Sohnes in den Dämonen. Und noch eine andere, neuere Romansituation beschwört er herauf: das Verhältnis zwischen Naphta und Settembrini im Zauberberg. „Seine Form ist Logik, aber sein Wesen ist Verwirrung", könnte man über Fetjukowitsch wie über Naphta sagen10. Und wie die beiden „Drehorgelmänner" Thomas 9 10
Die fröhliche Wissenschaft, 125. Thomas Mann, Der Zauberberg (Berlin, 1928), Band II, S. 111. merkung kommt von Settembrini.
D i e Be-
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Manns vor der unartikulierten majestätischen Monolithik Peeperkorns nicht bestehen können, genau so sticht die interprozessuale Polarität bei Dostojewski — die Zerrissenheit der Vernunft — nachteilig von der Ungebrochenheit des Paters Sossima ab.
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a) Die Kritik der Erkenntnis Wie sieht nun der Kampf zwischen den Parteien aus? Den Mordfall zum Anlaß nehmend, dreht er sich um das Problem der Erkenntnis selbst. Hippolyt Kirillowitsch setzt die objektive Deutbarkeit der Ereignisse, die rationale Erkennbarkeit der Realitär voraus. Er huldigt einem kausalen Determinismus, wie er damals (zur Zeit Zolas und Claude Bernards) im Schwange war. Von diesem Ausgangspunkte her demonstriert er, daß Dmitrijs Vorgeschichte unfehlbar zum Verbrechen führen mußte. Dann webt er aus Indizienbeweisen und psychologischen Beobachtungen ein logisch kohärentes Gebilde zusammen, an dessen Spitze der Vatermord mit dem rational verständlichen Motiv des Raubes steht. Schon in der Voruntersuchung hatte sich Dmitrij gegen dieses unerbittliche Gedankensystem aufgelehnt, in dem alles wie in einem Schweizer Uhrwerk zusammenpaßt. Für Dmitrij sind die Tatsachen unwichtig, da sie dem inneren Gefühle seiner Unschuld widersprechen11. Dieser Rückzug auf die innere Wahrheit, diese Spaltung zwischen Subjektivität und äußerer Wirklichkeit kommt von Rousseau her, der ja sogar in seinen Confessions die Fakten oft nicht mit der intuitiven Kenntnis des eigenen Wesens vereinbaren konnte. Solch ein typisch romantischer Protest bleibt aber wirkungslos, da er jeweils nur private Bedeutung hat. Weit tiefschürfender und folgenschwerer ist die Kritik eines Fetjukowitsch, worin der denkende Geist sich selber untergräbt. Ge" Siehe z. B. S. 931—932, und später während der Verhandlung S. 1235. 2 Holdheim, Justizirrtum
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wisse Unstimmigkeiten kommen dem sorgfältigen Leser im Plädoyer des Anklägers sciion ohne Hilfe des Moskauer Juristen zu Bewußtsein. „ . . . Lassen wir einmal die Psychologie beiseite", sagt Hippolyt Kirillowitsch, „lassen wir auch die medizinische Wissenschaft und selbst die Logik beiseite, wenden wir uns nur den Tatsachen zu, einzig und allein den Tatsachen, und sehen wir jetzt einmal, was uns diese Tatsachen sagen" (1466). Doch bereits die nächsten Sätze sind voll von logisdier und psychologischer Spekulation, die ironischerweise darin gipfelt, daß der Redner den wahren Tatbestand als unmöglich verwirft. Kein Wunder: es gibt eben keine selbstredenden Tatsachen, keine Deutung ohne Deuter — und das ist der Ansatzpunkt des Verteidigers. Er teilt das Problem streng systematisch in die Frage der äußeren und der inneren Wahrheit, des Faktums und der Psychologie. Es gibt keine „reine" Tatsache, sie ist immer durch ein subjektives Bewußtsein reflektiert. Grigorij sah (irrtümlicherweise, wie wir wissen) die Haustür offen; war er betrunken oder unterlag er einer Sinnestäuschung? Selbst das Bestehen der „geraubten" 3000 Rubel ist problematisch, wir wissen von ihnen nur durch den inzwischen verstorbenen Smerdjäkoff. Das Verbergen der fehlenden 1500 Rubel ist nichts als ein Axiom in einem Gedankensystem. Und wenn schon das einzelne Faktum fragwürdig ist, wie steht es dann erst mit der Tatsachenverkettung? Sie besteht als solche überhaupt nicht, ist immer nur Deutung, perspektivische Auswahl aus dem Chaos der Wirklichkeit. Fetjukowitschs Ausführungen erinnern uns hier an nicht Geringeres als die Kritik des Kausalitätsbegriffs bei David Hume! Was nun gar die Psychologie betrifft, so ist sie (wie schon der Untersuchungsrichter Porfirij in Schuld und Sühne wußte) ein zweischneidiges Schwert; Fetjukowitschs gebraucht das berühmte Bild des „Stockes mit zwei Enden", bei dem es nur darauf ankomme, wie man sich seiner bediene. Das ist nicht mehr romantischer Subjektivismus wie bei Dmitrij, das ist universaler Relativismus, Zweifel an der Möglichkeit des Erkennens. Jede Erkenntnis ist individuelle Spekulation, die im Grunde durch jede x-beliebige andere ersetzt werden kann. Hier liegt die Erklärung, warum der Verteidiger mit allen Möglichkeiten spielt. Darum
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streift er die Wahrheit, ohne dabei stehenzubleiben. Daher kann er auch, ohne sich zu widersprechen, die Existenz der 3000 Rubel annehmen, die er kurz zuvor in Frage gestellt hatte. Alle seine Deutungen sind bewußt unbeweisbare Hypothesen, demonstrativ ironische Konstruktionen: es ist eben „interessant zu konstatieren, was dabei herauskommt" (1519). Fetjukowitsdis „Unaufrichtigkeit" ist die Folge einer streng konsequenten intellektuellen Position, der jede ernste Deutung widersprechen würde. Er hat keine Wahrheit zu bieten, er sagt: nichts ist wahr — oder vielleicht fragt er mit Pontius Pilatus: was ist Wahrheit? b) Die Untergrabung der Moral Für die gerichtliche Aufgabe Fetjukowitsdis wäre eine positive Perspektive allerdings wirksamer, und die Fortsetzung seiner Rede nun gar ist vom Standpunkt der Verteidigung geradezu ruinös. Er geht nämlich so weit, Dmitrijs Täterschaft anzunehmen. Zwar beteuert er wiederholt, es handle sich nur um eine unglaubwürdige Hypothese, was er sich als Verteidiger schon schuldig ist. Welchen Eindruck muß aber schon die bloße Annahme bei den Geschworenen hinterlassen, noch dazu zum Abschluß des Plädoyers! Auch manche Kritiker haben sich diesem Eindruck nicht entziehen können, und er hat zu der Meinung beigetragen, der berühmte Anwalt glaube eigentlich an Dmitrijs Schuld und versuche mit hohlen Sophismen darüber hinwegzutäuschen. Dann verstünde er (und Dostojewski) sein Handwerk aber schlecht! Man hat Fetjukowitsdis Logik radikal mißdeutet: sie ist eben nicht rhetorisch, sondern ideologisch bestimmt. Ihr erstes Ziel ist weniger der Freispruch als die Entwertung aller Werte. Trotz seiner Geschicklichkeit in der Kompromittierung einzelner Zeugen ist er nicht so sehr Verteidiger wie Philosoph. In dieser manchmal zutage tretenden Diskrepanz zwischen seinem Wesen und seiner Rolle (d. h. zwischen der intellektuellen und der erzählerischen Substanz des Werkes) liegt die einzige, allerdings wohl unvermeidliche Schwäche der Geriditsszene. 2*
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Was ist der Grund für Fetjukowitschs unvorsichtige Schlußhypothese? Sie dient der rationalistisdien Untergrabung des Vatermordtabus. Die Vaterschaft sei nicht einfach eine mythisch-biologische Tatsache; man müsse sich ihrer würdig erweisen; man sei kein Vater, wenn man sich wie der alte Fedor aufführe. Von einem „Vatermord" könne also keineswegs die Rede sein. Der Akzent liegt auf den „guten Werken", das niditeuklidische Tabu weicht einer Moral der tätigen Nächstenliebe — ein deutlich aufklärerischer Standpunkt, den Fetjukowitsch durch eine ausgesprochen voltairianische Deutung des Christentums verstärkt13. Ist das nun wirklich sein letztes Wort? Die düstere, emotional überladene Atmosphäre des Romans, mit seinem vielfach abgestuften Vaterschaftssymbolismus und seinen zahlreichen inzestuösen Andeutungen, geht doch wohl weit über die engen Grenzen eines Vernunftglaubens hinaus13. Durch das ganze Buch gellt der fassungslose, instinktive Schrei des alten Polizeimeisters: „Vatermörder"! Wir haben eine wahre Umkehrung der Eumenidert. Bei Äsdiylos wird das Kosmisch-Metaphysische vom Menschlich-Rechtlichen assimiliert, bei Dostojewski kann es vom menschlichen Gericht nicht mehr bewältigt werden. In der alten Tragödie wird das von den Furien vertretene Instinktmäßig-Tabuhafte durch eine rationale Moral überwunden und in sie eingebaut, im modernen Roman bricht es inmitten der „aufgela
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Daher seine vielen Bibelzitate an dieser Stelle. Für die Gleichstellung von Christentum, Vernunft und Mensdienliebe, s. besonders S. 1547—1548. Christus wird „der gekreuzigte Menschenfreund" genannt (S. 1544). Es gibt wenigstens drei Vaterfiguren im Roman: Fedor, Sossima und der Großinquisitor. Die psychoanalytische Literatur über die Karamasoff ist, wie zu erwarten, reichhaltig. Vor allem muß natürlich Freuds „Dostojewski und die Vatertötung" erwähnt werden (in Siegmund Freud, Gesammelte Werke, Bd. XIV, London 1948, S. 397—418). Interessant ist auch Harry Slochowers „Incest in the Brothers Karamazov" (The American Imago, vol. 16, 1959, S. 127—145), worin ein von Freud vernachlässigtes Inzestmotiv herausgestellt wird. Die Vernachlässigung wird selbst psychoanalytisch erklärt. Wir wollen aber hier auf Slochowers sehr intelligenten Artikel nicht näher eingehen, weil wir uns verpflichtet fühlen würden, ihn dabei seinerseits zu psychoanalysieren — was auch uns der Gefahr einer Psychoanalyse aussetzen würde, vor der wir allerdings wahrscheinlich sowieso nicht sicher sind.
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klärten" Zivilisation wieder hervor. Kein Zweifel, in den Brüdern Karamasoff ist die Vatertötung das Verbrechen per se, die unreduzierbare Missetat. Bleibt Fetjukowitsch demgegenüber tatsächlich in einem fazilen, eher einem Miussoff gemäßen Moralismus stecken? Wohl kaum, er steht auch hier auf seiten Iwans, des wahren Vaterund Gottesmörders. Seine Argumente gegen Fedors Vaterschaft sind letzten Endes ein getreues Echo von Iwans Argumenten gegen Gott, deren gedankliches Resultat die falsche Vaterschaft des Großinquisitors ist. Am Anfang steht die euklidische Moral (der ja auch Iwans Rebellion zuerst entspringt), am Ende die Verwerfung jeder Moral. „Alles ist erlaubt": es ist lediglich seine Rolle als Verteidiger, die es Fetjukowitsch verbietet, diese von Iwan formulierte Konsequenz klar zu ziehen. Sie ist darum nicht minder in seiner Logik implizite. Daher die unbeschreibliche Aufregung Hippolyt Kirillowitschs, der die extremen Folgen seines eigenen Liberalismus abweist und sich in seiner Entgegnung dazu hinreißen läßt, die Rechtgläubigkeit zu verteidigen! „Nichts ist wahr" sagt Fetjukowitsch eigentlich in der ersten Hälfte seiner Rede, und in der zweiten: „alles ist erlaubt". Wir erkennen die Formel des modernen Nihilismus, die Friedrich Nietzsche bald (in Anlehnung an eine extremistische Moslemsekte der Kreuzfahrerzeit) mit schallender Stimme verkünden wird.
c) Die Entwertung der Ästhetik So devaluiert der Philosoph Fetjukowitsch nacheinander systematisch die Wahrheit und die Moral. Wie hält er es mit der Schönheit, dem dritten Elemente der platonischen Trias? Eine besonders ironisch-aggressive Abwertung der Ästhetik zieht sich durch seine Ausführungen hindurch. Mit auffallendem Sarkasmus kommt er immer wieder auf Hippolyts Liebe zu „künstlerischem Spiel" zurück, auf sein Bedürfnis nach „künstlerischem Schaffen", auf seine Tendenz, „einen Fall zu einem ganzen Roman auszuspinnen" (1507). Nun ist es wahr, daß der Ankläger literarische Anspielungen liebt.
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Zu Anfang wie zu Ende seines Plädoyers entwickelt er wirkungsvoll Gogols Bild von der wild dahinjagenden Troika, und anderswo bringt er einen gut gewählten Hinweis auf Hamlet14. Und seine pathetische Beschreibung von Dmitrijs Gemütszustand in Mokroje ist (in Fetjukowitschs Worten) „schön bis zum Entsetzen" (1528). Doch handelt es sich bisher lediglich um rhetorische Floskeln, welche den Vortrag und nicht die Substanz seines Falles betreffen. Die Kritik des Verteidigers geht viel weiter: in seiner wesenhaften Struktur selbst sei das Gebilde des Staatsanwalts eine „Dichtung", ein „Roman". Widerspricht eine solche Auffassung nicht den wissenschaftlich-deterministischen Ansprüchen, die Hippolyt Kirillowitsch stellt und zu erfüllen glaubt? Keineswegs: Notwendigkeit ist nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine künstlerische Forderung. Verwechslung ist hier leicht. Auch Hippolyts Lehrer Zola war ein Künstler, der ein Forscher zu sein glaubte. Das zeigt er deutlich in dem am 1. Juli 1871 geschriebenen Vorwort zu den Rougon-Macquart, wo er erklärt, der Fall des französischen Kaiserreichs liefere ihm den Abschluß, den sein Werk verlangte. Hippolyt Kirillowitsch braucht die Schuld Dmitrijs wie Zola den Sturz Louis-Napoleons, aber nicht jeder hat das Glück, daß ihm die Wirklichkeit seine künstlerisch notwendige Lösung verschafft. So muß er sie sich denn selber fabrizieren. Uberhaupt steht die einführende Charakteristik von Hippolyt Kirillowitschs Plädoyer in einem komplexen Verhältnis zu dem Roman, innerhalb dessen sie sich befindet. Sie ist eine naturalistische Interpretation des Werkes im Werke selbst, das ja wirklich wie die Rougon-Macquart die Geschichte einer Familie ist, die (um mit Zola zu reden) „als Charakteristikum die Ausschweifung der Begierden hat, den großen Wirbel unseres Zeitalters, das sich auf die Genüsse stürzt". Fedor ist ein zeitgenössischer Vater, die drei Söhne sind (ganz wie Hippolyt es ausführt) erblich belastet und stellen die drei M
• • · Dort gibt es Hamlets, bei uns aber vorläufig noch Karamasoffs!" (S. 1483). Matlaw sieht darin einen Hinweis auf die zahlreichen bewußten Parallelen mit Shakespeare, die er im Detail bespricht (aaO., S. 7—9). Für die beiden Erwähnungen der Troika siehe S. 1434, 1497—1498.
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typischen russischen Alternativen dar: den Europäismus, die Suche nach dem Volklichen und die leidenschaftliche Unmittelbarkeit. Und nicht nur eine akzeptable Deutung ist die Charakteristik des Staatsanwalts, sie ist auch ein artistisches Gegenstück zum Ersten Buch des Romans. Letzteres heißt „Die Geschichte einer Familie" und ist (im Gegensatz zu Dostojewskis üblicher Tendenz, in medias res zu beginnen) ähnlich wie Das Glück der Familie Rougon die episch breit angelegte Einführung in ein Werk, das auch im Detail manchen naturalistischen Zug aufweist15. Die Charakteristik ist jedoch kein bloßes Echo des Ersten Buches, sondern eine Radikalisierung und Weiterführung seiner Tendenzen. Die „Geschichte einer Familie" ist rein beschreibend, ihr Erzähler ist der nicht-ganz-allwissende Chronist; Hippolyt Kirillowitsch ist selbstsicher, eindeutig interpretierend, er zieht das Fazit. Und schließlich sind seine Bemerkungen auch noch das Vorwort zu der von ihm rekonstruierten Geschichte Dmitrijs — zu seinem eigenen „Roman" also, welcher dem größeren Werke parallel läuft und es ebenfalls auf eine verfälschende Eindeutigkeit reduziert. Wir haben nicht nur eine Interpretation des Werkes im Werke, wir haben sogar einen Roman innerhalb des Romans, der sich damit ironisch in Frage stellt. Ein ironischer Roman! Das ist ein Begriff, den man mit neueren Schriftstellern wie etwa Thomas Mann oder Gide verbindet, und auch mit älteren wie Sterne — nicht aber mit Dostojewski, den man in dieser Hinsicht ganz dem „Realismus" des 19. Jahrhunderts mit seiner mimetischen Ernsthaftigkeit zuzurechnen pflegt. Dabei vergißt man leicht, daß die Verspottung des „schönen Scheins", die Untergrabung der Buchpsydiologie und der wohlgedeichselten Ge13
Siehe Matlaw (aaO., S. 34—36) und Renato Poggioli, The Phoenix and the Spider (Cambridge, Mass., 1957), S. 27 (in „Dostoevski, or Reality and Myth"). Dostojewskis Roman erschien in der Zeitschrift Russkij Vestnik in den Jahren 1879—1880 — zu einer Zeit also, als acht der zwanzig Bände der Rougon-Macquart erschienen waren. Claude Bernards Introduction ci l'Etude de la Medecine experimentelle war 1865 veröffentlicht worden. Andere Einflüsse sind wahrscheinlich Aksakoffs Familienchronik (1856) und Tolstois Krieg und Frieden (1862—69). Für das obige Zitat aus dem Vorwort der Serie Zolas s. La Fortune des Rougon (Paris, 1909), S. 1.
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schichte schon ein Hauptanliegen der Aufzeichnungen aus dem Kellerloch war. In den Brüdern Karamasoff erreicht nun diese antiliterarische Tendenz einen neuen, wenn auch subtileren Gipfelpunkt. Das Werk wimmelt von Andeutungen, die in diese Richtung weisen. Hippolyts Rede ist nicht die einzige „Dichtung" im Roman: da ist noch die (künstlerisch schwache) Hagiographie des Paters Sossima und vor allem ihr berühmter Widerpart, die Legende des Großinquisitors. Iwan, ihr Erzähler, beginnt wie Dostojewski und Hippolyt mit einem Vorwort, das seine Geschichte örtlich und zeitlich genau bestimmt — und vor allem auch literaturhistorisch, da es sich ja um ein älteres und dem modernen Geschmack fremdes Genre handelt. Dabei erregt sein akutes literarisches Bewußtsein die Aufmerksamkeit, sowie sein Spott über den „zeitgenössischen Realismus", der (wie er sagt) seinen Zuhörer Aljoscha so verwöhnt habe, daß dieser nichts Phantastisches mehr ertragen könne (500). Später pocht ausgerechnet der Teufel spöttisch auf seinen Hang zum „Realismus", und sein Erscheinen im realistischen Roman der Brüder Karamasoff ist ja an sich schon ein ironisches Ereignis. Bei einer Ironisierung des Realismus bleibt das Werk aber keineswegs stehen: es zielt auf eine Infragestellung der Literatur überhaupt. Iwan scheint sich seines Literatentums förmlich zu schämen. Verschiedentlich behandelt er sein Werk mit suspekter Frivolität als etwas rein Zufälliges, nicht ernst zu Nehmendes, als das „sinnlose Poem eines einfältigen Studenten, der nie in seinem Leben auch nur zwei Verse hat schreiben können" (528). Er betont, daß er es nicht niedergeschrieben habe. Wenn der Teufel ihn an sein literarisches Produkt erinnert, errötet er vor Scham und Ärger: der Scham eines überbewußten Kellerlochbewohners, der sich der schönen Lüge hingegeben hat16. Doch kann er dem Schreiben nicht entgehen. Nach jener heftigen Szene im Dritten Buch, worin Dmitrij den Vater verprü18
Siehe S. 1335—1336 und 491—492. Vielleicht denkt Dostojewski auch an die antiliterarisdien Theorien nihilistischer Kritiker wie Tsdiernischewski und vor allem Pisareif, aber dann baut er sie gründlidi in sein eigenes Bezugssystem ein. Diese flachen Theorien können die Gedankengänge eines Iwan Karamasoff natürlich nidit erschöpfen.
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gelt, findet Aljoscha seinen intellektuellen Bruder an der Hoftür sitzend und in seinem Notizbuch schreibend (279). Als Vertreter des Geistes lebt er nicht, sondern steht abseits und notiert — wie Tonio Kröger. Sein Gegensatz Dmitrij verkörpert das irrationale, unmittelbare Leben. Diesen ärgert es bezeichnenderweise, daß man bei der Voruntersuchung seine Aussagen und so sein Leben gewissermaßen in etwas Feststehendes verwandelt. Daß auch er mitunter schreibt, wird ihm zum Verhängnis; es ist tief ironisdi, daß ausgerechnet ein von ihm selbst verfaßter Drohbrief ihn überführt. Er hat ihn nur geschrieben, wie Fetjukowitsch hervorhebt, und zwar in der Trunkenheit (1523,1524); es war eine konsequenzlos lächerliche Handlung, eigentlich so etwas wie ein acte gratuit. Schreiben heißt aber: ein für allemal auf dem Papier fixieren — und wenn sich dann alles „nach dem schwarz auf weiß Geschriebenen buchstäblich" erfüllt (1526), dann wird das Lächerliche zum Fatalen und Dmitrijs irrationales Toben erscheint als planmäßige Konstruktion. So wird der Widersacher des Geistes unversehens zum Romancier, dessen Dichtung man auf sein Leben zurückprojiziert. Der Staatsanwalt spinnt diese Dichtung aus und bringt sie zur Vollendung. Und es ist der die Tätigkeit seines Gegners angreifende Fetjukowitsch, durch den die anti-ästhetischen Tendenzen des Buches zu bewußter Formulierung kommen. Versuchen wir, die Kriterien seines Urteils genau zu bestimmen. Das augenfälligste ist natürlich das Element der Fiktion, der Erfindung; jedesmal, wenn er von „Roman" oder „Dichtung" spricht, deutet er an, Hippolyt lasse seiner Einbildungskraft freien Lauf. Diese auf der Hand liegende Kritik geht übrigens tiefer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Wir sehen das deutlich an einer wichtigen Stelle seines Plädoyers. Es handelt sich hier um die 1500 Rubel, die Hälfte der gestohlenen 3000, die Dmitrij nicht ausgegeben hat. Wo sind sie geblieben? Dmitrij war in der Stadt ständig unter Beobachtung und kann sie dort also nicht verborgen haben: Das ist audi der Grund, warum der Ankläger auf der Annahme bestand, daß das Geld irgendwo im Dorfe Mokroje in einem Winkel der Herberge versteckt sei. Warum nicht gar in den Kellern des Udolfsdien Schlosses, meine Herren! Ist diese Voraussetzung etwa nicht phantastisch, nidit roman-
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tisch? Und, beachten Sie wohl, sobald nur diese eine Annahme, daß sie in Mokroje versteckt sein können, unmöglich wird, so — fliegt die ganze Beschuldigung der Beraubung in die Luft, denn wo können diese anderthalb Tausend sonst geblieben sein? (1517)
Das Poetisch-Einbildungsreiche der Voraussetzung wird mit Worten wie „phantastisch" und „romantisch" unterstrichen, ja übertrieben, und sogar mit dem „romantisme noir" in Verbindung gebracht. So wird die Willkür der Erfindung betont. Andererseits wird hervorgehoben, daß diese selbe Annahme eine notwendige Forderung sei, ein wahres Axiom in einem Gedankensystem. Das Verbergen (ja das Bestehen) des Betrages ist eine logisch-poetisdie Konstruktion. Zwischen der „romantischen" Imagination und dem gedanklichen Postulat, dem Schönen und dem Wahren, besteht eine prästabilierte Harmonie. Die pointierte Formulierung Fetjukowitschs enthüllt und unterstreicht das Paradoxe einer solchen Einheit; sie hebt ironisch zugleich die Notwendigkeit der Willkür und die Gratuität des Notwendigen hervor. Hippolyts Kirillowitschs ganzes kohärentes Bezugssystem wird somit auch spezifisch als ein künstlerisches erkannt, und Fetjukowitschs Kritik der Ästhetik läuft seiner Erkenntniskritik parallel. Letztere richtet sich gegen die Tatsachenverkettung und die kausale Psychologie, jene zweifelhaften Instrumente zum Erfassen der äußeren und der inneren Wahrheit; erstere bewegt sich innerhalb derselben Kategorien. „Ja, die Psychologie kann selbst die ernstesten Männer verleiten, Romane zu dichten, mag es audi ganz unfreiwillig geschehen" (1511): sie führt zur Diditung, und wie ein Romancier verwirft der Ankläger alles, was nicht in das konsequente Charakterbild des von ihm erfundenen Dmitrij paßt. Und die Fakten? „In der Wirklichkeit können tausend Dinge vorübergehend auftaudien, die selbst der feinsten Beobachtung eines Romanschriftstellers entgehen würden" (1527). Das Leben ist unendlich reichhaltiger, komplizierter und vor allem unzusammenhängender als das vereinfachende, ästhetisch auswählende und artistisch konzentrierende Kunstwerk. „Es liest sich wie eine Parodie auf den alten Roman und seine Geschichtsschreibung mit schon fertigen Figuren, die einen
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Charakter mit seinen Gesetzen voraussetzt und ihn einer bestechenden, aber falschen Kausalität gemäß eine Rolle spielen läßt"": diese Bemerkung von Gerda Zeltner-Neukomm, welche sich eigentlidi auf das Gericht in Camus' Fremden bezieht, trifft (bis auf den Terminus „Parodie", der hier vielleicht zu stark ist) audi schon auf den Prozeß in den Brüder/h· Karamasoff zu. Die vom Staatsanwalt skizzierten, künstlich vereinfachten Bilder vom Menschen und vom Ablauf der Gesdiehnisse, von der subjektiven und objektiven Wirklichkeit — was sind sie anderes als die beiden aristotelischen Grundelemente des Dramas, die der traditionelle Roman übernommen hat: der Charakter und die Intrige? Und wenn der Verteidiger die ästhetische Abgeschlossenheit dieser Gebilde an den Pranger stellt, dann nimmt er schon die Kritik eines Andre Gide voraus, der sich seinerseits in seinen Argumenten zur Erneuerung der Romanform übrigens bezeichnenderweise auf Dostojewskis Beispiel berufen wird. Es mag paradox erscheinen, daß ausgerechnet der so als Romancier entlarvte Hippolyt Kirillowitsch die Beschuldigung umdreht. In seiner Erwiderung bezichtigt er den Gegner nicht nur der Wahrheitsverdrehung und des Immoralismus, sondern auch der Künstlichkeit. Fetjukowitschs Rede sei ein Roman, sogar ein doppelter, „es fehlte ja nur noch, daß er ihn in Versen vorgetragen hätte"18. Ist das ausschließlich seiner Fassungslosigkeit zuzuschreiben? Kaum: auch der Vorsitzende instruiert die Geschworenen unter anderem, „unparteiisch" zu sein und sich nicht von den „ schönen Worten" der Verteidigung beeinflussen zu lassen (1562)! Diese offene Parteinahme, welche für unser Rechtsgefühl den ganzen Prozeß ungültig madien sollte, beweist jedenfalls, daß auch anderen der Verteidiger (mehr als der Staatsanwalt) als Schönredner erscheint. Oberflächlich gesehen ist das nicht ganz erklärlich. Zu Beginn von Fetjukowitschs 17
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Gerda Zeltner-Neukomm, Das Wagnis des französischen Gegenwartsromans (Reinbek bei Hamburg, I960), S. 70. S. 1556. Es ist pikant, daß Hippolyt Kirillowitsch hier unbewußt Dmitrij selbst zitiert, der in der Voruntersuchung erklärt hatte, er verstehe, daß man seine Verteidigung als eine Dichtung in Versen betrachten könne (S. 956).
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Auftreten erfahren wir, er spreche „ohne den geringsten Ansatz zur Schönrednerei" und „vielleicht weniger regelrecht als Hippolyt Kirillowitsch, vielleicht sogar grammatikalisch nicht ganz korrekt, dafür aber auch nicht in so langen Sätzen und eigentlich sogar treffender" (1503). Zwar schwingt audi er sich bald zum Pathos auf, wie seine Rolle es ja wohl auch verlangt, aber doch in geringerem Maße als der Ankläger. Warum dann dieser unerwartete Eindruck? Die Erklärung liegt in Hippolyt Kirillowitschs Anschuldigung beschlossen: Fedor Pawlowitsch zerreißt, während er die Geliebte erwartet, das Kuvert und wirft es auf den Fußboden. Es wird sogar gesagt, was er bei dieser unbegreiflichen Prozedur geredet habe. Ist das keine Dichtung? . . . Der schwachsinnige Idiot Smerdjäkoff wird uns als irgendein Byronscher Held geschildert, der sidi an der Gesellschaft für seine illegitime Geburt rächt —• oder ist das kein Poem im Byronschen Geschmack? Und der Sohn, der beim Vater eingedrungen ist, ihn erschlägt, und auch wieder nicht erschlägt, der ist ja mehr als ein Romanheld, ist selbst ein lebendiges Poem, ist eine Sphinx, die Rätsel aufgibt, welche sie freilich selbst niemals lösen wird (1556)
Er hat mehr recht, als er denkt — nur anders. Der Mensch ist allerdings eine Sphinx und kein leichtverständlicher Romanheld: dies zu zeigen, war einer der Zwecke von Fetjukowitschs Experimentieren mit vielen widersprüchlichen Deutungen, das der Sprecher hier erregt verurteilt. Hippolyt sieht ganz richtig, daß die Konstruktionen des Verteidigers in letzter Instanz künstlerisch-willkürlicher Art sind. Seine Beschränkung liegt darin, daß er seine eigene Konstruktion nicht als gleichermaßen ästhetisch erkennt. Zwei Romandichter stehen sich gegenüber: das ist die letzte Bedeutung der Konfrontation im Karamasoffsdien Prozeß. Die ganze Gerichtsverhandlung ist ja ein Schauspiel — mit einem klatschsüchtigen Publikum, das sich amüsieren und rühren lassen will und in den Pausen das Geschehene nach ästhetischen mehr als ethischen Gesichtspunkten kommentiert. Worin unterscheiden sich die beiden Künstler? Der eine glaubt von ganzem Herzen an seine Schöpfung. Sie ist sein „letzter Schwanengesang", „das Chef-d'oeuvre seines ganzen Lebens", sein Meisterwerk vor dem nahen Tode (1429); er
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ist im vollsten Sinne existentiell engagiert. Nicht aber der andere mit seinen spielerischen Kreationen, die er unverbindlich wechselt wie ein Schauspieler, der frei von Rolle zu Rolle und von Maske zu Maske geht. Auf seine eigene Weise ist er ein nicht sehr entfernter Vorläufer von Gides Protos und Thomas Manns Felix Krull, jenen histrionisdi enthüllenden Zerrspiegeln ihrer Welt. Wie sie beide macht er das Wesen des Künstlertums anschaulich, wie sie demonstriert er die Willkür der ästhetischen Notwendigkeit, das Maskenhafte und existentiell Negative jeder artistischen Tätigkeit. Dies geht schließlich über eine Kritik der modernen Romanform weit hinaus, es ist eine Zusammenfassung von Fetjukowitsdis ganzem Nihilismus. Moral und Wahrheit sind künstlerische Gebilde, und alle Kunst ist (um Nietzsche noch einmal zu zitieren) „harmlose Falschmünzerei"19: das ist der Kern von Fetjukowitsdis Kritik des Hippolyt. Wenn letzterer sich in dem ihm vorgehaltenen Spiegel nicht erkennt und seine eigene Falschmünzerei für bare Münze nimmt, so liegt das nicht an seiner moralischen Überlegenheit, sondern an seiner intellektuellen Inferiorität. Der Verteidiger fällt seiner Rolle nicht zum Opfer, er ist einfach bewußter als sein Gegenüber: hier liegt der Unterschied, und hier allein. Die Welt muß diesen Unterschied aber moralisch und erkenntnismäßig umdeuten, weil sie die furchtbare Einsicht des Moskauer Juristen nicht ertragen kann. Für sie ist Hippolyt Kirillowitsch mindestens der authentische Künstler, Fetjukowitsch jedoch der unauthentische — bisweilen amüsant, jedoch nicht ernst zu nehmen. Ja, vielleicht hat der Verteidiger sogar bedingt recht: Kunst ist Spiel, sie ist per definitionem das Nichternstzunehmende, Belustigende. Das trennt sie dann aber von Moral und Wahrheit, in denen der Ernst des Lebens beschlossen liegt. Dann ist Hippolyt Kirillowitsch also doch kein Artist, er ist der authentische Mensch schlechthin. Seine Deutung ist nicht künstlerische Willkür, sie ist Erkenntnis. So denkt im Grunde das ganze Publikum. Wenn viele den Freispruch erwarten und sogar erwünschen, dann stellen sie sich eben auf einen nichtmorali19
„Die Zeit der harmlosen Falschmünzerei ist zu Ende" (Morgenröte, 551).
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sehen, limitiert ästhetischen Standpunkt: Schuld und Täterschaft interessieren sie nicht, der technischen Virtuosität des Sdiauspielers Fetjukowitsch gebührt die Palme. Die Vertreter des Gesetzes aber wählen den Emst, die Wahrheit und die Moral. 3. Die Gebrochenheit der ästhetischen Kategorien a) Die zweifelhafte Struktur Unbewußt wählen die Vertreter des Gesetzes natürlich auch die Ästhetik, und zwar in noch anderer als der bisher angedeuteten Weise: ihr Urteil bringt das allgemeine Denouement. Als ästhetischer Abschluß realisiert der Prozeß aufs vollste seine dramatischen Potentialitäten. Er durchformt und konzentriert das Vorhergehende, unterwirft es einer strengen Handlungseinheit und bringt so alles zur fugenlosen Abgeschlossenheit. Sein Verlauf — so die Entwicklung der Handlung aus sich selbst heraus, ohne deus ex machina; der jähe ironische Umschlag zur Katastrophe durch Iwans Aussage, die ja eigentlich eine schon eingetretene Besserung von Dmitrijs Aussichten besiegeln sollte — ist der sophokleischen Dramatik des Aristoteles durchaus gemäß. Wir wissen aber, daß diese Erhellung der Ereignisse irreführt und daß die innerlich konsequente Lösung ins Leere stößt. Wir kennen nämlich den wahren Sachverhalt, den man uns ja in den ersten elf Büchern detailliert berichtet hat. Die Dualität von Wirklichkeit und Wirklichkeitsdeutung bedingt eine Zweiteilung des Werkes, das Prozeßdrama allein könnte sie nicht voll zur Geltung bringen. Da das Geschehen und seine Analysis auseinanderklaffen, bedürfen sie (anders als im König ödipus) der Gegenüberstellung20. ϊ0
Dagegen: „Der ödipus ist gleichsam nur eine tragische Analysis. Alles ist schon da, und es wird nur herausgewickelt. Das kann in der kleinsten Handlung und in einem sehr kleinen Zeitmoment geschehen, wenn die Begebenheiten auch noch so compliciert und von Umständen abhängig waren" (Schiller an Goethe, 2. Oktober 1797; zitiert in Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas, Frankfurt am Main 1964, S. 22). Es ist deutlich, daß die komplizierten Umstände in den Karamasoff so primäre Bedeutung angenommen
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Es handelt sich hier um eine nichtaristotelische, absolute Form der Ironie: nicht um die Unbewußtheit oder Fehlhandlung eines einzelnen Helden, die innerhalb des dramatischen Ablaufs selbst aufgezeigt und berichtigt werden könnte, sondern um die Fehlerhaftigkeit der dramatischen Ordnungsform als solcher. Es ist keine dramatische Ironie mehr, sondern eine epische — in dem Sinne, daß die lückenlose Endorganisierung als Ganzes von unserer episch erworbenen Allwissenheit korrigiert wird. So wird es klar, warum sich unser Thema in der erzählerischen Literatur angesiedelt hat. Die Zweiteilung des Werkes hat genrehaften (oder besser, im Sinne Staigers, stilhaften) Charakter: das Drama vervollständigt eine epische Masse, von der es gleichzeitig in Frage gestellt wird. Außerdem ist es auch innerhalb seiner selbst durch den schon erwähnten Chronisten erzählerisch gebrochen (sehr deutlich zum Beispiel durch die rahmensprengende Einbeziehung des Publikums) und subjektiv relativiert. Das volle Ausmaß der ironischen, autokritischen Tendenz in Dostojewskis Roman ist somit offenbar. Er ist ein Kunstwerk, das sich selbst untergräbt, indem es sich bei seiner verfälschenden ästhetischen Formalisierung auf frischer Tat ertappen läßt. b) Das kontingente Schicksal Wir haben also eine epische Abschwächung der trotzdem noch triumphierenden dramatischen Struktur. Es gibt noch andere eng mit dem Drama verbundene ästhetische Kategorien, die nur gebrochen zum Ausdruck kommen. So gleicht das Buch einer Tragödie, wo der Held von einem unerbittlichen Schicksal ereilt wird. Was ist bei näherem Hinsehen aber dieses „Fatum"? Weder die Macht überpersönlicher Götter noch die kausale Wirkung unpersönlicher, biologisch-gesellschaftlicher Kräfte: es ist ein schwaches Individuum namens Smerdjäkoff. Hier liegt die abgründigste, wohl ganz einzigartige Ironie des Werkes. Wie Hippolyt Kirillowitsch, nur schon vorher, hat Smerdjäkoff das System erkannt, das Dmitrij unabhaben, daß sie nicht mehr in der kleinsten Handlung und in einem sehr kleinen Zeitmoment herausgewi(kelt werden können.
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wendbar zum Verbrechen trieb. Er hat die Folgen vorausgesehen, die Wirkungen berechnet, und lediglich dafür gesorgt, daß die unmittelbaren Umstände dem Zustandekommen des Notwendigen günstig waren. Als die Rechnung dann nicht aufging und das Opfer unerwarteterweise seine Rolle nicht zu Ende spielte, hat er nur den coup de pouce gegeben, der die leicht verdrehte wissenschaftlichästhetische Logik zum korrekten Ablauf brachte. Kein Wunder, daß der Indizienbeweis unwiderlegbar ist! War in anderer Beziehung Fetjukowitsch ein Vorläufer des Protos, so ist es hierin der Diener Smerdjäkoff. Audi Gides beunruhigende Gestalt retuschiert einen acte gratuit und stellt ihn damit in ein verständliches und deutbares Bezugssystem. Zwar ist das Unvorhergesehene in den Verliesen des Vatikans Lafcadios grundloser Mord des Amedee Fleurissoire, in den Brüdern Karamasoff dahingegen gerade das Ausbleiben eines erwarteten und wohlbegründeten Mordes. Der Unterschied ist sekundär. Alles bei Dmitrij (sein Charakter, seine Motive, seine Worte und Taten) hatte auf die kommende Vatertötung hingewiesen; er warzuFedor gelaufen, um sie auszuführen; im letzten Augenblick jedoch unterließ er sie. Wie konnte dieser Riß in der logischen Abfolge der Ereignisse entstehen? Dmitrij selbst kann ihn nur einem Gebet seiner Mutter oder einem „lichten Geist" zuschreiben (955) — einem Wunder also, das die Naturgesetze suspendiert. Kam dieses Wunder von außen oder von innen? Spontaneität oder Zufall: Dmitrijs Nichthandlung ist im vollsten Sinne ein acte gratuit. Wie steht es nun aber mit der Tat des Dieners; ist sie eindeutig erklärlich und voraussehbar? Hippolyt Kirillowitsch bestreitet es; ihm geht es jedoch um die Demonstration von Smerdjäkoffs Unschuld, und wir wissen ja, was wir von seinen Konstruktionen zu halten haben. Fetjukowitsch seinerseits beweist, daß Smerdjäkoff ein idealer Mörder wäre, aber seine „Beweise" sind alle nur dialektische Spielereien. Wir müssen die Antwort in der Erzählung selbst suchen, und hier frappiert es, daß der Knecht in jeder Hinsicht als Dmitrijs Gegenstück erscheint. Er sagte nie etwas gegen Fedor; im Gegenteil, letzterer verließ sich blindlings auf ihn. Er ist beileibe
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kein leidenschaftlicher Mensch; sein Element ist eher das Denken, das aber bei ihm so verzerrt ist, daß er als zurückgeblieben gilt. Er ist körperlich schwach, krank und feige; Dmitrij nennt ihn bei der Voruntersuchung „ein Huhn", „die Quintessenz aller Feigheiten in der Welt zusammengenommen", und behauptet, dies sei keine Tat für ihn (961). Hat er Motive? Manche Kritiker weisen auf den Raub der 3000 Rubel hin, aber den hätte ja der ursprüngliche Plan ausgeschlossen; er findet nur statt, um Dmitrij verdächtig zu machen, und SmerdjäkofF gibt keine Kopeke von dem Gelde aus. Allerdings erhofft er von Iwan eine Pension. Trotzdem fühlen wir, daß Erklärungen dieser Art an der Oberfläche bleiben. Rächt der Knecht sich für seine Illegimität? Hier kommen wir den Dingen wohl schon näher, denn er ist eine typische Ressentimentfigur — doch ist auch dieser Grund noch zu präzis. Smerdjäkoffs Motivierung ist letzten Endes keine rationale, berechenbare, klar zu umschreibende. Sie läßt sich vielleicht nicht einmal individuell festlegen, da er gewissermaßen nur der Exekutor des Gesamthasses aller Brüder ist. Sie wurzelt in den infra-individuellen Tiefenbereichen, die Iwan andeutet, wenn er vor Gericht den berühmten Ausspruch tut: „Wer wünscht denn nicht den Tod des Vaters? . . ( 1 4 1 4 ) . Bereiche, die das Gericht nicht anerkennt und die jenseits aller gangbaren Psychologie, jenseits jedes ethisch erfaßbaren und logisch brauchbaren Motivbegriffs liegen. Der Kontrast mit Dmitrij ist eine künstlerische Unterstreichung dieser Unerklärlichkeit. Dmitrij ist der Mörder, Smerdjäkoff der Nichtmörder kat exochen; wie die Nichttat des ersteren, so ist die Tat des letzteren (soweit es dergleichen gibt) ein acte
gratuit.
Diese Analyse enthüllt die wesenhafte Struktur jener Ironie, die sich schon unmittelbar-impressionistisch darin zeigt, daß ein Halbidiot Gott spielt und die Wirklichkeit retuschiert. Eine unerwartete Handlung (der Nichtmord) unterbricht den Ablauf des Verhängnisses, eine zweite stellt ihn wieder her. Zwei Ausbrüche unbegründeter Willkür kreieren Notwendigkeit, indem sie einander aufheben: das gleicht der Kombination der beiden Negativa, die ein Positivum ergibt. 3 Holdheim, Justizirrtum
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Ein Hinweis auf Aristoteles mag helfen, die volle Bedeutung solch einer Dialektik herauszustellen. Im 9. Kapitel seiner Poetik lobt dieser besonders jene Schicksalswendungen und Begebenheiten, die unvorhergesehen sind und doch zugleich ursädilich konsequent. Sein Kriterium ist ästhetisch: solche Ereignisse erwecken beim Zuschauer am stärksten Furcht und Mitleid; die unausgesprochenen (und wohl unbewußten) Voraussetzungen gehen jedoch weit über jede Rhetorik hinaus. Sie reflektieren ein Weltbild, in dem Einzigartiges und Gesetzmäßiges zusammenfallen, in dem ÜberraschendUnerwartetes mit natürlichen Abläufen nicht im Widerspruch steht. Diese Konvergenz geht viel tiefer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Das Unerwartet-Einzigartige kann etwas sein, was uns von außen plötzlich „zufällt", oder auch ein spontaner Ausdruck der Subjektivität (denken wir an die Zweideutigkeit von Dmitrijs Handlung). Jedenfalls sind partikulare Antriebe und Ereignisse eins mit allgemeinen Zusammenhängen, die Freiheit mit der Notwendigkeit. Es ist allein schon ein Symptom moderner Zerrissenheit, daß diese Synthese von Gegensätzen uns paradox erscheint. Wir stoßen hier auf einen Tatbestand, zu dessen Erhellung ein genialer Aufsatz von Kierkegaard beitragen kann. Obwohl sich das Individuum bei den alten Griechen frei bewegte (so führt der dänische Philosoph aus), ruhte es doch in substantiellen Bestimmungen wie Staat, Familie, Schicksal und war nicht subjektiv in sich reflektiert. Daher sind die Aktionen des tragischen Helden zugleich auch Begebenheiten, und sein Untergang ist „keine Folge bloß seiner Handlung, sondern zugleich ein Leiden". Die Einheit von Tat und Ereignis, actio und passio ist keine mühsam herbeigeführte Vereinigung, sondern eine gegebene Identität, welche eben die ästhetische Kategorie des Tragischen ausmacht21. In der Moderne nun ist diese ursprüngliche Einheit zerspalten. Die Relativität der Pole, welche ihre Verschmelzung ermöglichte, ist verschwunden und jeder 21
Sören Kierkegaard, „Der Widerschein des antiken Tragischen in dem modernen Tragischen", in Gesammelte Werke, übersetzt von Emanuel Hirsch (Düsseldorf, 1964), Bd. 1, s. besonders S. 153—154. Der Aufsatz befindet sich in EntwederlOder.
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strebt für sich nach Absolutheit. Das Substantielle wird zum absolut Allgemeinen und Unpersönlichen, zur reinen Objektivität, zum blinden Determinismus. Das Subjektive und Unerwartete wird zum irreduzibel Partikularen, zur puren Kontingenz, zur schieren Willkür. Zufall und Fügung klaffen auseinander, und das Verhängnis wirkt sich nicht mehr durch das freie Tun des Helden aus. Extreme Symptome sind einerseits die naturalistische Erdrückung des Menschen durch objektive Gesetzmäßigkeiten, andererseits die Verherrlichung der bezuglosen individuellen Tat, der Autonomie und Willkür des romantischen Ich. Es ist eine allgemein weltanschauliche Krisis, die hier in der Literatur ihren Niederschlag findet und die sich auch auf anderen Gebieten zeigt: so in der Entfremdung von Subjekt und Objekt, Mensch und Welt, welche die ganze neuere Philosophie beschäftigt; in dem ewigen Hin und Her zwischen abstrakter Ordnung und Chaos, allesumfassender Systematik und konkreter Existenz. Die moderne Kunst selbst ist in letzter Instanz ein Versuch, die Spaltung zu überwinden und mittels der Freiheit des individuellen Geistes eine Ordnung zu errichten. Wie Fetjukowitsch demonstriert hat, führt diese notwendige Willkür aber nur zu einer willkürlichen Notwendigkeit. Der rein äußerliche Charakter solch einer Synthese wird nun durch die Struktur des Karamasoffschen Verbrechens innerhalb der Ästhetik selbst offenbar. In der alten Tragödie besteht eine vollkommen reibungslose Identität zwischen dem sowohl „zufälligen" wie „spontanen" Mord des Laios und der vorbestimmten Vatertötung. Bei Dostojewski dagegen droht die Tragödie in ihre Komponenten auseinanderzufallen und wird nur indirekt-ironisch davor gerettet: das „Schicksal" wird ein Ergebnis widerstreitender Akzidenzien, die Notwendigkeit das negative Produkt einer doppelten Kontingenz. c) Schuldlosigkeit und Schuld Diese förmliche Zerlegung einer ästhetischen Kategorie erscheint auch mit anschaulicher Klarheit in dem Phänomen der tragischen 3*
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Schuld, das wie ein Irrlicht durch die Brüder Karamasoff geistert. Das Problem ist dem obigen nahe verwandt. Ebenso wie die Handlung in der griechischen Tragödie ein Mittelding zwischen Handeln und Leiden ist (schreibt Kierkegaard), so ist die Verschuldung ein Mittelding zwischen Schuld und Schuldlosigkeit. Die hamartia ist substantiell bestimmte Erbschuld, und trotzdem hat das Individuum nicht nur passiv sondern auch aktiv an ihr teil; das vorbestimmte Schicksal geht Hand in Hand mit der tragischen Verfehlung. Gerade diese Zweideutigkeit ist ästhetisch. Wird die Verantwortung rein subjektiv gesehen, dann sind wir im Bereich des Ethischen: die Sünde ist kein ästhetisches Element. Ist das Individuum dahingegen völlig schuldlos, „so ist das tragische Interesse aufgehoben, denn alsdann ist der tragische Konflikt entnervt" 22 . Wie stehen die Dinge nun bei Dmitrij? Er ist „unschuldig", denn er hat nicht gemordet, aber er wird „schuldig" befunden: so betrachtet, sind die beiden Pole rein faktuell und oberflächlich, die tragische Doppelstruktur ist äußerlich und formal. Allerdings dürfen wir dabei nicht stehenbleiben. Es liegt doch eine Schuld vor, nämlich die Karamasoffsche Erbschuld, womit wir dem Begriff des Tragisch-Substantiellen schon näher zu kommen scheinen; und ihr unwiderstehlicher Druck führt schließlich doch zu der vorausgesehenen Gewalttat, wenn auch nur in stellvertretender Form: der Angriff auf den alten Diener Grigorij ist deutlich ein symbolischer Vatermord. Ein symbolischer ist aber kein richtiger, und außerdem stirbt Grigorij nicht. Ist es nicht ganz so, als ob das Tragische nur qualifiziert und gebrochen zum Ausbruch zu kommen wage? Und selbst wenn es realer und schrecklicher wäre, dann könnte dieses Verbrechen kaum als aktiver Ausdruck einer tragischen Verfehlung gelten. Es ist die Explosion eines willenlosen Menschen, der ein Spielball äußerer Kräfte und Ereignisse ist. Dieser Dimitrij, der 22
Ebd., besonders S. 154—155 und 171. Es muß erwähnt werden, daß Kierkegaard die antitragische moderne Tendenz lediglich im Ethischen sieht, in der Autonomie und Alleinverantwortlichkeit des Helden. Er schreibt zu früh, um die entgegengesetzten naturalistisch-deterministischen Strömungen in Betracht zu ziehen.
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später die Schuld auf sich nehmen will und dann doch nicht dazu fähig ist, dessen Kampf gegen das Fatum es so sehr an Größe und Beharrlichkeit gebricht, kann überhaupt nicht den Rang eines tragischen Helden für sich beanspruchen. Trotz seines gelegentlichen leidenschaftlichen Aufbegehrens ist er ein passives Opfer, das von den Umständen erdrückt wird; das Element des Leidens ist bei ihm primär. Er ist ein naturalistischer Antiheld, seine „Erbschuld" wirkt nicht tragisch sondern mechanistisch; an ihm können wir feststellen, daß der psycho-physische Determinismus nur ein problematischer Ersatz für das antike Verhängnis ist. Iwan, nicht Dmitrij, scheint der „tragische Held" zu sein. Seine Verblendung, seine fortschreitende ahnende Suche nach dem Mörder (wobei er endlich sich selbst entdeckt), sein Zusammenbruch: all das erinnert stark an ödipus. Seine Schuld ist sowohl substantiell fundiert wie individuell ausgeprägt. Doch ist er zu aktiv sowie zu passiv, sowohl zu schuldig wie zu schuldlos. Einerseits ist der Vatermord ein von ihm so aktiv betriebener und ideologisch bewußt reflektierter Plan, daß er schon in die Kategorie des Ethisch-Bösen fällt. Andererseits ist dieser intellektuelle Mörder sich (zur gleichen Zeit!) über seine Rolle nicht im klaren. Durch das Individuum selbst geht ein Riß, der so radikal ist, daß er jede Dialektik auflöst und jede ästhetische Einheit der Gegensätze unmöglich macht. Das der Antike völlig fremde Phänomen der Persönlichkeitsspaltung wird hier zum Symptom der Zersplitterung der tragischen Elemente. Während ödipus' Opfer ein selbstübersteigernder Willensakt war, in dem er sein ganzes Leben zusammenfassend auf sich nahm, ist Iwans Zusammenbruch denn audi nur die Besiegelung seiner inneren Zersetzung. Darin liegt keine tragische Größe. Auch steht Iwan ja nicht im Zentrum und wird bei der Gerichtsverhandlung einfach abgeschoben. Außerdem ist er nicht der tatsächliche Mörder. Um seine Tat zu vervollständigen, bedarf es des Dieners Smerdjäkoff, der selbst auf rein äußerliche Weise „schuldlos schuldig" und bestimmt kein Heros ist. Ja, sogar Aljoscha, dieses Bild der Unschuld, soll (weil er den Mord vielleicht hätte verhindern können) als nicht ganz schuldlos betrachtet werden, obwohl dies — wie überhaupt so
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manches bei Aljoscha — nicht sehr klar zum Ausdruck kommt. Jedenfalls hat man den Eindruck, alle Karamasoffs müßten sich zusammentun, um einen tragischen Helden zustande zu bringen. Die Vielfalt von Heldentumsanwärtern, verbunden mit der Fragmentierung der tragischen Struktur bei jedem einzelnen, gibt ein anschauliches Bild von dem Tatbestand, den wir mit „Gebrochenheit" bezeichneten. Die Addition von teilästhetischen und nicht-mehrästhetischen Splittern ergibt keine geschlossene ästhetische Konstruktion. 4. Der religiöse Bereich „Nun, dann hat der Teufel den Vater erschlagen!" (963). Dieser ratlose Ausbruch Dmitrijs bei der Voruntersuchung trifft in mehr als einer Hinsicht ins Schwarze. Der Teufel, das ist ja das Schlechte in Iwan, das ihm schließlich als Parasit verkleidet gegenübertritt. Der Teufel ist wohl auch der wahre Mörder Smerdjäkoff, der gleichfalls gewissermaßen ein Doppelgänger Iwans ist. Aber der Böse ist mehr als eine halb realistische, halb halluzianatorische Figur: er ist die echte Inkarnation einer metaphysischen Macht. Nicht in demselben Sinne wie die schon stark ästhetisierten Götter der alten Tragödie; er gleicht nur wenig jenem Apollo-Loxias, der in den Eumeniden für den Muttermord des Orest verantwortlich ist. Er weist auf eine andere Sphäre hin, die christlich-religiöse, die sich jeder Ästhetisierung entzieht und alles Tragische übersteigt. Das ist ein Fingerzeig, den wir nicht übersehen dürfen. Kommt die im Vorhergehenden aufgezeigte Zersplitterung etwa daher, daß unsere Perspektive die falsche war? Fügt das, was ästhetisch gesehen der Fragmentierung anheimzufallen droht, sich vom religiösen Standpunkt aus vielleicht zu höherer Einheit zusammen? Dann soll die Karamasoffsehe Erblichkeit gar nicht als tragische Erbschuld gelten, dann ist sie Ausdruck und Symbol der Erbsünde. So betrachtet, scheint allerdings alles klarer zu werden. Alle Söhne haben an der Sünde teil, und alle werden gestraft. Smerjäkoff begeht Selbstmord und Iwan verfällt dem Wahnsinn, denn die Strafe des Ge-
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wissens (wie Sossima bereits wußte) ist schlimmer als die des Gerichts23. Dmitrij aber wird des Mordes überführt. Bei ihm nun gerade sind die Hinweise auf die religiöse Sphäre besonders stark. Er behauptet zwar, am Blute seines Vaters unschuldig zu sein (wobei seine Worte wie ein Echo derer des Pontius Pilatus klingen), bekennt sich aber in der Tiefe seines Herzens schuldig (930). Selbst sein Gefühl der faktuellen Unschuld droht zu verfliegen, wenn er sich auskleiden muß (979), da nackt ja alle Menschen schuldig sind. Sossima lehrt, daß jeder für jeden verantwortlich sei, und so will Dmitrij denn das Leid auf sich nehmen. Dieser Entschluß ist mit seinem Traum über das leidende „Kindichen" verbunden und dadurch mit dem reichhaltigen Kinderthema, das in den Brüdern Karamasoff eine so große Rolle spielt und besonders um den Mönch Aljoscha gravitiert. Und es ist eigentlich dieses Thema, das mit „Iljuschas Beerdigung" im Epilog das Buch in seiner vorhandenen Form (nach der falschen Lösung des Prozesses) zu einem zweiten Abschluß bringt. Dies ist ein harmonisch gefärbtes Ende, ein Punkt der Ruhe und Milde, der erreicht wird, nachdem der Zwiespalt der Sünde aufs vollste ausgekostet worden ist: ein Zustand, der (wieder Kierkegaard zufolge) fürs Religiöse charakteristisch ist — im Gegensatz zum Ästhetischen, dessen Milde diesen Zwiespalt nicht völlig zur Geltung kommen läßt und das im Relativ-Zweideutigen verbleibt24. Ja, selbst das Urteil wäre von dieser Warte gesehen nicht mehr falsch. Das Religiöse geht nicht nur über die Ästhetik, sondern auch über alle euklidische Erkenntnis und Ethik hinaus. Dmitrij ist schuldig, und seine Schuld liegt jenseits aller oberflächlich-juridischen Bestimmungen, jenseits des Begriffes tatsächlicher Täterschaft. Die Geschworenen, einfache Bauern, wissen das und unterscheiden sich dadurch scharf von dem mondänen Publikum. Ihr Ausspruch zeigt den tiefen religiösen Instinkt des russischen Volkes, der sich von verflachenden Neuerungen (zu denen ironischerweise auch die Einführung der Jury gehört) nicht beeinflussen läßt. 23 24
Siehe Budi II, Kapitel 5. Siehe Kierkegaard, aaO., S. 156—157.
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So etwa sähe die religiöse Deutung aus. Sie bringt uns zu unserem strukturellen Ausgangspunkt zurück. Als Achse des Buches erkannten wir die Gegenüberstellung von Mönchszelle und Geriditssaal, von Intuition und euklidischer Erkenntnis, und auch (wie wir jetzt wissen) von Religion und Ästhetik. Wir haben die Mönchszelle lange vernachlässigt. Enthält sie den Schlüssel zur endgültigen Deutung? Ist Fetjukowitsch mit all seiner gedanklichen Tiefe schließlich doch ein Dummkopf; ist es der Geist Sossimas, der triumphiert? Daß bewußt diese Absicht besteht, unterliegt keinem Zweifel; die Frage ist, ob sie gelingt. Die religiös-publizistische Tendenz Dostojewskis ist ja selbst in seinen Romanen so stark, daß er lange (allzu lange!) fast ausschließlich von dieser Seite her gedeutet worden ist. Es kann hier nicht unser Zweck sein, das Wesen und die Qualität seiner seltsam aus Populismus, Orthodoxie und Rousseauistischem Humanitarismus zusammengeschusterten Religiosität im allgemeinen genauer zu untersuchen. Uns geht es darum, festzustellen, ob das Religiöse sich in den Brüdern Karamasoff wirklich als überwölbende, einheitliche Deutung durchsetzt. Sdion die Nichtbeendigung des Buches, mit der dadurch bewirkten Verkümmerung der Geschichte Aljoschas, weist auf das Gegenteil hin. Sie läßt sich nicht nur rein äußerlich durch den Tod des Autors erklären, sondern ist Symptom einer Gebrochenheit und Fragwürdigkeit auch des Religiösen, die sich ebenfalls in seinen soeben zitierten Ausdrucksformen äußert. So erscheint das Kinderthema im ganzen Buch forciert, breitgetreten und übermäßig sentimentalisiert. Iljuschas Beerdigung ist weder eine wirkliche Lösung noch ein echter Ausdruck des Religiösen. Keiner der wahren Schuldigen und Gequälten tröstet sich da im Bewußtsein seiner Sünde mit der Hoffnung auf Erlösung; die vorherrschende Milde und Harmonie entspringt in keiner Weise der finsteren Karamasoffsehen Substanz des Buches; die Szene ist nichts als eine von außen auferlegte idyllische Verhübschung der Atmosphäre. Vergessen wir weiter nicht, daß der Sossima des Anfangs ja trotz seiner augenscheinlichen Überlegenheit die Versöhnung nicht zustande bringt. Und verkörpert sein Geist sich wirklich am Ende in den Geschworenen, zeigen sie tiefere Weisheit oder sind
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sie einfach dickschädelige Bauern? Dem Beobachter zufolge sehen sie primitiv aus, doch machen ihre Gesichter „einen ganz sonderbar tiefen und fast drohenden Eindruck" (1362). Zweideutiger kann man nicht sein, und auch auf das Urteil soll sich diese Ambiguität wohl erstrecken. Trotzdem liegt der Akzent hier stark auf dem euklidischen Aspekt. Dafür sorgt schon der ganze Verlauf des Prozesses, der sowohl die rationale wie die emotionale Überzeugungskraft trotz aller Kunstgriffe Fetjukowitschs doch überwiegend auf die Seite der Anklage bringt. Nicht von der seelischen Sünde Dmitrijs, sondern von seiner konkreten Täterschaft wird die Jury letzten Endes überzeugt. Der Urteilsspruch ist eindeutig: der Angeklagte habe vorsätzlich, um des Raubes willen gemordet. Das klingt nicht wie tiefere religiöse Einsicht, das klingt (in Übereinstimmung mit dem Titel des Zwölften Buches) wie ein gewöhnlicher „Justizirrtum". Die hier herausgestellte Zwiespältigkeit charakterisiert Dostojewskis ganzes Werk, das im wahrsten Sinne eine Welt des „Pro und Kontra" darstellt. Es befindet sich in einer ständigen paradoxen Spannung zwischen Realismus und Mystizismus, materieller und mirakulöser Bedeutung, immanenter und transzendenter Wirklichkeit25. Trubetzkoy zufolge ist dies eine Eigenschaft des in den Karamasoff seinen Höhepunkt erreichenden „polyphonenRomans", in dem alle Weltanschauungen nur gleichberechtigte Charakterisierungsmittel der handelnden Personen sind und eine gedankliche Synthese nicht erstrebt wird26. Und es ist wahr: das Kunstwerk darf (ja muß vielleicht) ideologisch in der Schwebe bleiben; ein ästhetischer Abschluß ist keine philosophische Schlußfolgerung. Damit allein wäre jedoch schon der Beweis geliefert, daß der Autor in erster Linie Künstler ist. Trubetzkoy selbst führt aus, daß die Polyphonie bei Dostojewski unbewußt war und daß er Tendenzromane zu schreiben glaubte. Nolens volens steht der russische Romanschriftsteller auf seiten seines Iwan und seines Fetjukowitsch! Und 25 26
Vgl. Poggioli, aaO., S. 29—32. Vgl. N. S. Trubetzkoy, Dostoevskij sonders S. 14—15, 145—156.
als Künstler (VGravenhage, 1964), be-
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nicht nur des Legendendichters und des Schauspielers. O f t ist bemerkt worden, wie schlecht die Religion in Dostojewskis Werken künstlerisch abschneidet und wie schwach seine bewußten weltanschaulichen Uberzeugungen vertreten sind. Dies hat es Georg Lukacs ermöglicht, Dostojewskis publizistischen Konservatismus nicht zu Unrecht seinem radikalen Künstlertum entgegenzusetzen27. Die Konfrontation von Kloster und Gerichtssaal, dieser strukturelle Kern der Brüder Karamasoff, ist also auch ein schematisches Bild von Dostojewskis fundamentaler Ambivalenz — von einem Zwiespalt, bei dem der Gerichtssaal trotz all seiner Fragwürdigkeit stets überwiegt. Halten wir zum Abschluß vor allem fest, daß die Gerichtsverhandlung nicht nur die Erkenntnis und die Ethik ausdrückt und zugleich in Frage stellt, sondern in letzter Instanz das Künstlerische selbst. Seine tragischen Kategorien lassen sich schließlich doch nicht durch religiöse wegerklären; hier wie auch in den sogleich zu besprechenden Variationen auf unser Thema sind sie wirklich da und streben verzweifelt nach ungebrochenem Ausdruck. Und der Karamasoffsche Prozeß als Ganzes ist der wahre artistische Abschluß eines großen Buches und einer großen Laufbahn — ein Abschluß, dem es eher nützt als schadet, daß er sich selbst problematisch geworden ist.
27
Georg Lukics, „Dostojewski)", in Der russische Realismus in der Weltliteratur (Berlin, 1953), besonders S. 173—174. Natürlich zeigt Lukacs nur einen Aspekt des Problems.
III. Erste Variation: Der Fremde 1. Die
Perspektive
a) Fundamentale Ubereinstimmungen der beiden Prozesse Das Buch, dem wir uns jetzt zuwenden, ist im Gegensatz zum vorigen ein Frühwerk. Doch gilt Camus' 1942 erschienene Erzählung Der Fremde, welche ihn mit einem Schlage berühmt machte, immer noch mit Recht als seine größte Leistung. Trotz seiner Kürze ist das Werk von einer außerordentlichen, wenn auch nicht unmittelbar ins Auge springenden Komplexität. So ist denn auch kein Mangel an Interpretationen — meist philosophischen, gottlob aber auch ästhetischen. Dabei ist die Frage der literarischen Modelle, die dem Buch Pate gestanden haben, ausgiebig behandelt worden. Die offensichtliche Einwirkung amerikanischer „Neurealisten" wie Steinbeck und Hemingway ist keinem Kritiker entgangen. Der Name Kafka ist nie fern, wenn Camus' Erzählung besprochen wird. Darüber hinaus hat Sartre in seinem immer noch grundlegenden Essay „Explication de L'Etranger" bereits 1943 den Zusammenhang mit älteren Traditionen (besonders den Satirikern des achtzehnten Jahrhunderts) sowie die den bewußten Modernismus des Werkes zuweilen durchbrechende Affinität mit den klassischen französischen Moralisten erkannt. Wie steht es nun aber mit Dostojewski? Es wäre ungerecht, sich zu beklagen, daß der russische Schriftsteller in der Camus-Literatur ignoriert worden sei. Manches ist über das Verhältnis zwischen den beiden geschrieben worden. Daß Be-
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Erste Variation: Der Fremde
Ziehungen vorlagen, ließ sich ja wohl auch kaum verkennen. Im Mythos von Sisyphos, dem philosophischen Pendant zum Fremden, widmete der französische Autor Dostojewski ein ganzes Kapitel, und auch später ist er häufig auf ihn zurückgekommen. Vor allem Kirilloff (aus den Dämonen) faszinierte Camus als Beispiel eines echt absurden Helden. Zwar beziditigte er Dostojewski selbst (wie u. a. audi Kierkegaard, Kafka und Schestoff) des „existentiellen Sprunges", der Unterwerfung unter die Absurdität der Welt; zwar träumte er von einer Literatur, die der Düsterkeit und Exzessivität des Russen gegenüber wieder die mediterranen Werte des Maßes und der leuchtenden Klarheit vertreten sollte; doch blieb Dostojewskis Werk bis zum Ende eine seiner Grunderfahrungen, mit der er sich immer wieder auseinandersetzen mußte. Vergessen wir nicht, daß er die Dämonen für die Bühne bearbeitete. Man hat wichtige Ubereinstimmungen bei den beiden Autoren feststellen können. Das theologische Vatermordmotiv (Iwans euklidische Revolte gegen einen Gott, der Kinder leiden und sterben läßt) ist eines der Fundamente von Camus' zweitem philosophischen Hauptwerk Der Mensch in der Revolte und spielt eine große Rolle in der Pest, während die Parallelen zwischen dem Antihelden der Erzählung Der Fall und dem Dostojewskischen Kellerlochbewohner unverkennbar sind und noch vertieft werden sollten28. Auch im Fremden hat man Spuren Dostojewskis entdeckt; so hat man zum Beispiel Meursault mit RaskolnikofF verglichen. Es ist aber unseres Wissens nie genügend hervorgehoben worden, wieviel dieses Werk schon äußerlich mit den Brüdern Karamasojf gemein hat. Natürlich mußte die Doppelstruktur der Erzählung (erst der Mord, dann die Prozeßdeutung) an Dostojewskis letzten Roman erinnern — und wenn Meursault erklärt, daß „alle gesunden Lebe2S
Über letztere vgl. u. a. Jacques Madaule in „Camus et Dostoievsky" (La Table ronde, Februar 1960, besonders S. 132). Eine gute Zusammenfassung der bisher festgestellten Parallelen zwischen Camus und Dostojewski befindet sich in F. O. van Gennep, Albert Camus. Een Studie van zijn ethische denken (Amsterdam, 1966), S. 54—56. Van Genneps Buch enthält auf S. 325 (Anmerkung 22) einen Hinweis auf die Studien, welche Dostojewskis Einfluß auf Camus besprochen haben.
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wesen mehr oder weniger den Tod der von ihnen Geliebten herbeigewünscht" hätten, dann drängt sich Iwan Karamasoffs Bild förmlich auf 29 . Die Korrespondenzen gehen aber viel weiter. Hier wie dort geht eine wichtige Voruntersuchung dem Gerichtsverfahren voraus. Meursault tötet zwar nicht seinen Vater, sondern einen wildfremden Araber; seine Tat wird jedodi vom Gericht und der öffentlichen Meinung in einen Muttermord verwandelt und schließlich vom Staatsanwalt ausdrücklich mit einer am nächsten Tage zur Verhandlung stehenden Vatertötung identifiziert (144). Das fast gewaltsam herbeigeführte Vatermordmotiv ist zweifellos ein Überbleibsel von La Mort heureuse, der ersten Version von Camus' Erzählung; könnte es auch ein Echo der Karamasoff sein? Es gibt der Parallelen ja noch mehr — zum Beispiel die (hier künstlich von der Presse erzeugte) Sensationsatmosphäre im Gerichtssaal, und audi die rein ästhetische Reaktion des Publikums (hier ist es vor allem diejenige der anwesenden Anwälte, die dem Verteidiger zu seinem Plädoyer gratulieren). „Das ist das Bild dieses Prozesses", ruft letzterer einmal aus. „Alles ist wahr und nichts ist wahr!" (130): klingt das nicht wie ein allerdings recht schwaches Echo Fetjukowitschs? Und wenn der Ankläger die volle Schuld Meursaults darlegen will, „zuerst in der blendenden Helle der Tatsachen und sodann in der düsteren Beleuchtung, welche die Psychologie dieser verbrecherischen Seele mir verschafft" (man beachte den kunstvollen Kontrast der Illuminationen!), dann redet er wie ein alter ego Hippolyt Kirillowitschs. Da muß sogar der Angeklagte zugeben, daß die Ausführungen seines Gegners „plausibel" seien (141). Die Psychologie erweist sich übrigens auch hier als ein Stock mit zwei Enden: beide Anwälte beugen sich ausdrücklich über die Seele des Opfers und der eine findet ein Nichts, der andere einen anständigen Menschen (143, 147). Angesichts dieser zahlreichen Hinweise muß wohl auch der Interpret, genau so wie Hippolyt Kirillowitsch und ohne Furcht vor ^ Siehe Van Gennep, ebd., S. 54. Das Camus-Zitat steht auf S. 94 der Gallimard-Ausgabe von l'Etranger (Paris, 1942), die hier auch weiterhin benutzt •werden wird.
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einem etwaigen kritisdien Fetjukowitsch, das deuterische Prinzip der Tatsachenverkettung für sich in Anspruch nehmen. Manche der oben erwähnten Ubereinstimmungen mögen zufällig sein oder einfach auf der Ähnlichkeit der Situationen beruhen, aber die Kombination von allen ballt sich unverkennbar zur erdrückenden Beweislast für den direkten Einfluß der Brüder Karamasoff auf den Fremden zusammen. Nun geht es uns hier freilich nicht um Einflüsse, doch können sie ein wichtiger Fingerzeig für tiefere Bezüge sein. Wir treiben keine positivistische Kritik, aber wo diese Methode unserer Sache helfen kann, wird ihr Beitrag gern gesehen und dankend quittiert. Wie kommt es nun, daß diese doch so augenscheinlichen Fingerzeige nie zum wichtigen Bestandteil (geschweige denn zum Ausgangspunkt) einer Interpretation gemacht worden sind? Das kann nur daran liegen, daß man sie für rein äußerlich gehalten hat. Die Atmosphäre des Fremden ist meilenweit von der des Dostojewskiromans entfernt, während die philosophischen Zusammenhänge auf zu tiefer Ebene liegen, um von der üblichen (das Werk als Ganzes selten berücksichtigenden) philosophischen „Kritik" erfaßt zu werden. Trotzdem hätten die formalen Parallelen genügen sollen, die Aufmerksamkeit zu erwecken. Die Gegenüberstellung eines Mordes und seiner gerichtlichen Mißdeutung, unterbaut mit spezifischen Hinweisen auf den Roman, der als Modellfall dieser Form und Thematik gelten darf: das kann kein oberflächliches und zu vernachlässigendes Faktum sein. Niemand wird heutzutage mehr bezweifeln, daß die Struktur eines Werkes den Zugang zum Kern seiner literarischen und gedanklichen Problematik eröffnet; wir hoffen es im vorigen Teil unserer Studie nochmals erwiesen zu haben. Natürlich gibt es wichtige Unterschiede zwischen Camus' Buch und seinem Vorgänger; gottlob, denn Epigonentum würde uns nicht interessieren. Aber die strukturellen Ubereinstimmungen versehen uns mit einer deuterischen Perspektive, innerhalb derer selbst die Divergenzen sich bewegen und bedeutsam werden. Mit einer Perspektive auch, welche die bisherigen oft widersprüchlichen Inter-
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pretationen des Buches keineswegs ignoriert, sie aber vielleicht transzendieren kann, indem sie manches daraus in einen neuen Zusammemhang stellt. b) Allgemeine Unterschiede Der Verschiedenheiten gibt es freilich viele. Sie fangen schon damit an, daß Der Fremde eine Icherzählung ist, wodurch die epische Erzählform hervorgehoben und universalisiert wird, jede „epische Breite" aber fehlt. Außerdem ist die entscheidende strukturelle Gegenüberstellung hier noch reiner ausgeprägt. In den Brüdern Karamasoff waren elf Bücher den Ereignissen gewidmet und nur das zwölfte dem Gericht; die eigentlich auch schon zu letzterem gehörende Voruntersuchung war als Neuntes Buch in die Vorgeschichte eingebaut. Bei Camus haben wir zwei völlig symmetrische Teile, wovon der erste ganz von der im Morde kulminierenden Handlung, der zweite vom Prozeß mit allem Drum und Dran beherrscht wird. Dieser Unterschied ist mehr als eine Konzentrierung, er widerspiegelt eine Verschiebung der formalen Polarität. Streng genommen ist der Prozeß bei Dostojewski ja nur ein Abschluß; nicht die Fülle der Geschehnisse, sondern die religiöse Sphäre ist sein strukturell ausgearbeitetes Gegenstück. Bei Camus ist die religiöse Sphäre (die vom Untersuchungsrichter und vom Kaplan verkörpert wird) dahingegen von der verfälschenden ethisch-gerichtlichen assimiliert. Camus' Atheismus steht hier der Religiosität Dostojewskis gegenüber. Vergessen wir jedoch nicht, daß es dem Mystizismus des russischen Autors nicht gelingt, sich ungebrochen als positive Alternative zur euklidischen Gerichtlichkeit durchzusetzen. Die Gegenüberstellung der Mönchszelle und des Gerichtssaals hat daher etwas Unüberzeugendes oder (besser) Nicht-Endgültiges. Sie verdeckt nur ungenügend den wahren Kontrast: den zwischen der Realität und ihrer Mißdeutung. Bei Dostojewski besteht also eine Divergenz zwischen formaler und tieferer Polarität, die noch einmal den Widerspruch zwischen religiösem Wunschtraum und skeptischem Künstlertum reflektiert. Bei Camus wird diese Unstimmigkeit be-
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richtigt, und die formale Polarisierung fällt gänzlich mit der thematisch vorherrschenden zusammen. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß Der Fremde dem Hauptwerk des großen Russen etwa überlegen sei. Eine gewisse Vielschichtigkeit und Dezentralisierung, ja Verwirrung gehört ja wohl zum Genre des Romans. Vielleicht konnte nur in einem knapperen, dafür aber auch viel weniger ambitiösen Werk die grundlegende Polarität in so pointierter, in strukturell konzentrierter und daher thematisch unkomplizierterer Form herausgearbeitet werden. Es kommt hinzu, daß die Gegenüberstellung in Camus' recit auch qualitativ radikaler ist. Schon ein oberflächlicher Leser fühlt, daß mit den beiden Teilen des Buches zwei total unvereinbare Welten aufeinanderstoßen: die Welt der Wahrheit (und der Absurdität) und die Scheinwelt gesellschaftlicher Werte und Erklärungen. Natürlich muß dieser erste Eindruck qualifiziert werden. Zu viele Leser und sogar Kritiker sind dabei stehengeblieben — aber diese Tatsache allein deutet schon auf die unmittelbare Anschaulichkeit des Bruches hin. Der Unterschied zwischen den beiden Autoren zeigt sich besonders klar auf dem Gebiete der künstlerischen Darstellung. Bei aller technischen Komplexität, bei aller tieferen Problematik hat Dostojewskis Roman noch die erzählerische Unmittelbarkeit der realistischen Literatur des vorigen Jahrhunderts. Man braucht in seine Tiefen nicht unbedingt hinabzusteigen; er kann ganz kursiv als spannende Geschichte gelesen werden und ist auf diesem Niveau durchaus verständlich. Beim Fremden ist das bekanntlich durchaus nicht so. Noch nicht einmal provisorisch kann man dieses Werk, das eine ideologische Problematik in seinen Darstellungsformen zu verkörpern sucht, im Sinne erzählerischer Selbstverständlichkeit auffassen. Die Erzähltechnik ist von einer echt modernen Hintergründigkeit, welche die Deutung zugleich herausfordert und erschwert. Das gilt für beide Teile und auch für das Verhältnis zwischen ihnen, das nur durch eine sorgfältige Interpretation voll erfaßt werden kann. Die Gerichtsszene ist hier nicht nur thematisch und formal, sondern auch darstellungstechnisch besonders eng mit ihrer Vorgeschichte verbunden. Mit dieser müssen wir uns daher zunächst befassen. Der
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Prozeß selbst ist übrigens nie so vernachlässigt worden wie in den Brüdern Karamasoff; sdion sein rein quantitatives Gewicht innerhalb der Erzählung schloß das aus. Trotzdem ist u. E. seine Bedeutung in ihrer ganzen Nuanciertheit nicht erkannt worden. Dazu fehlte eben die kritische Perspektive, die jetzt im Detail angewendet werden soll.
2. Erster Teil: die Bedeutung der Sinnlosigkeit a) Der realistische Irrtum Es ist ein sdilagender Beweis für die Unsicherheit der Kritik Camus' Erzählung gegenüber, daß man sich nicht einmal hat entscheiden können, wie ihr Protagonist überhaupt zu bewerten sei. Wir finden sogar die Auffassung, Meursault sei nichts weiter als ein typischer Mann des Volkes — ein normaler einfacher Mensch, der die nötigen Gefühle schon habe und sie lediglich nicht ausdrücken könne. Dabei wird übersehen, daß Meursault immerhin einmal studiert hat, und daß er mitunter so gut redet und eine solche (ungenügend unterdrückte) Subtilität durchschimmern läßt, daß Nathalie Sarraute ihn als versteckten Nachfahren der klassischen französischen Helden verspotten kann30! Doch lohnt es sich kaum, diese Trivialisierung im Detail zu bekämpfen. Sie wird hier nur erwähnt, weil sie der stärkste Ausdruck eines Gesichtspunktes ist, der gleich zu Anfang widerlegt werden muß: nämlich des realistischen. Damit meinen wir weniger die amerikanischen „Neurealisten", deren unartikulierte Antihelden ja wirklich Vorbilder (wenn auch stark modifizierte) für Meursault geworden sind. Wir denken an „Realismus" als Allgemeinbegriff — an die Tendenz nämlich, die Roman30
Vgl. Nathalie Sarraute, L'Ere du soupqon (Paris, 1956), S. 18—20 (in „De Dostoi'evski ä Kafka"). Die Deutung Meursaults als populären Helden befindet sich u. a. bei Brian T. Fitch, „Narrateur et narration dans l'Etranger d'Albert Camus" (Archives des Lettres modernes, 1960, 6, III, no. 34), S. 31—39. Fitch beruft sich dabei auf Roger Quilliot.
4 Holdheim, Justizirrtum
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figur Camus' als durchaus glaubwürdige, menschlich ernst zu nehmende und gesellschaftlich fundierte Gestalt zu betrachten. Wahrscheinlich hat der kleinbürgerliche Beruf Meursaults dabei mitgespielt. Wenn wir den Begriff des „Realismus" noch etwas weiter fassen, indem wir die gesellschaftliche Fundierung beiseite lassen und nur das Kriterium der Glaubwürdigkeit beibehalten, dann ist auch Robert Champignys Interpretation (eine der originellsten) ein Beispiel des realistischen Irrtums. Ihr zufolge ist Meursault ein Heide, d. h. ein wahrer und natürlicher Mensch, inmitten einer im Grunde verfälschten Gesellschaft. Er ist ein Unschuldiger in einer vom christlichen Sündenbegriff geprägten Welt, ein Anhänger der „nächsten Dinge" in einem Zeitalter des romantischen Subjektivismus. Moralische Urteile, seelische Tiefen, psychologische Komplexitäten, christliche Werte, romantische Innerlichkeit: das sind alles Aspekte der Antiphysis, Verzerrungen der Wirklichkeit. Es sind Ausdrucksformen einer theatralischen Gesellschaft, die einen der Physis nahen echten Menschen nicht dulden kann und ihn daher in einem theatralischen Gerichtsverfahren eliminiert31. Die von Champigny angeführten Beispiele, die von ihm vorgebrachten Argumente sind Punkt für Punkt von oft frappanter Angemessenheit. Sie können jedoch die Tatsache nicht ändern, daß dem unbevorurteilten Leser Meursaults „Heidentum" als ein seltsam verkrampftes erscheint. Der Heide mag einfacher sein als der von Christentum und Romantik belastete Mensch, aber ist er auf so aggressiv-demonstrative Weise allen Innenlebens bar? Ist die fast nachtwandlerische Gleichgültigkeit Meursaults wirklich der epikureischen Weisheit gleichzusetzen? Und vor allem: schließt Natur31
Robert Champigny, Sur un heros paien (Paris, 1959). Champigny erklärt auch, Meursault sei wie ein Kind, nicht wie ein Jüngling (was ihn zum Romantiker machen würde). Es ist amüsant, daß ein anderer Kritiker (Rene Girard) dahingegen Meursault als typisches Beispiel der „juvenile delinquency" betrachtet — einer Lebenshaltung, die er als späte Romantik bezeichnet. Auch dies ist übrigens eine realistische Deutung. Siehe „Camus's Stranger Retried", in Publications of the Modern Language Association, L X X I X , 5 (Dez. 1964), besonders S. 531.
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nähe radikal alles Gesellschaftliche aus? Uns scheint, das Merkmal des Heidentums ist ganz im Gegenteil eine harmonische Einheit von Mensch, Natur und Kultur. Die programmatische Disqualifizierung der Gesellschaftlichkeit erinnert eher an Rousseaus „Rückkehr zur Natur". Fügen wir hinzu, daß auch das sich schon im Titel von Camus' Erzählung ankündigende Thema der Vereinzelung typisch romantisch ist, und daß die Feindseligkeit gegen alles „Theatralische" stark rousseauistisch anmutet. Champignys Deutung sieht selbst wie ein romantischer Wunschtraum aus! Außerdem ist ein heidnischer Büroangestellter, gelinde gesagt, eine eigenartige Erscheinung. Da ist Melvilles Billy Budd ein besseres Beispiel eines in die Moderne versetzten und an ihren Regeln zerbrechenden Naturmenschen, obgleich auch er viel vom modernen Wunschtraum des „edlen Wilden" hat. Wenn er überzeugender wirkt, so kommt das daher, daß sein Leben sich im relativen gesellschaftlichen Vakuum der MeerschifFahrt abspielt — in einer Bezugslosigkeit also, die ihn andererseits wieder als halbmythische Figur erscheinen läßt. Meursault ist nicht halbmythisch, er ist einfach unglaubwürdig. Ein Nichtchrist ist noch kein Heide, ein Nichttheatraliker nicht ipso facto authentisch. Indifferenz ist keine Weisheit, Anti-Abstraktion nicht Konkretheit. Die Eigenschaften von Camus' Protagonisten sind rein negativ. Er ist höchstens das theoretisch konstruierte Vexierbild eines Heiden — gewissermaßen eine praktische Demonstration, daß Heidentum heutzutage nicht mehr möglich ist. Die Hauptfigur des Fremden ist somit weder ein Volksheld noch ein Heide. Sie ist überhaupt nicht „lebenswahr". Camus hat keineswegs versucht, bei ihrer Charakterisierung die Illusion der Wirklichkeit hervorzurufen. Meursault ist eine rein hypothetische Gestalt, er ist im Sinne des Nichtrealismus stilisiert32. 82
4 *•
Vgl. Gerda Zeltner-Neukomm über die modernen Romanfiguren „ohne Tiefe", zu denen sie Meursault zählt: „In soldier Stilisierung sind die hier betrachteten Romangestalten audi schon nicht mehr ,einfadie' und genaue Abbilder der Tatsädilichkeit . . . Sie muten viel eher wie rein hypothetische Vorschläge an . . ( a a O . , S. 58).
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b) Das Wesen der Stilisierung Seltsamerweise ist gerade das Faktum der Stilisierung im Fremden abgestritten worden. Für Roland Barthes ist das "Werk durch eine „neutrale Schreibweise" gekennzeichnet (einen „Stil der Abwesenheit, der fast einer idealen Abwesenheit des Stils" gleichkommt), — eine ecriture also, die mit allem erkennbar Literarischen und Romanhaften bricht, die menschliche Problematik nackt und unverfärbt zeigt und so den Schriftsteller „ein für allemal" zum ehrlichen Menschen macht33. Schon die Vielfalt der literarischen Vorläufer des Buches macht einen solchen Gesichtspunkt höchst unwahrscheinlich. Vergessen wir jedoch diese Quellen. Vergessen wir sogar die lyrischen Ausbrüche an gewissen Stellen des Buches und konzentrieren wir uns ganz auf die trockene Aussage, wie sie besonders im Ersten Teil vorherrscht. Selbst hier ist der aliterarische Standpunkt unhaltbar, wie M.-G. Barrier in einer ausgezeichneten Studie beweist. Er bespricht im Detail, wie traditionell literarische und typisch romanhafte Konstruktionen durch die Beimischung ungewohnter Stilelemente aktiv „neutralisiert" werden, so daß eine flüchtige Lektüre den Eindruck der Stillosigkeit erwecken mag34. Es braucht wohl kaum betont zu werden, daß diese Neutralisierung eine hochliterarische Prozedur ist, deren künstlerischer Illusionismus schwerlich als Beweis für die endgültige „Ehrlichkeit" des Autors aufgefaßt werden kann. Das erscheint ganz klar bei den beiden Hauptelementen der Erzähltechnik: der Parataxe und der Abwesenheit jeder Werthierarchie. Letztere ist in Wirklichkeit ein bewußtes Auswahlprinzip, eine Vorliebe für das Konkrete und schein33
Roland Barthes, Le Degre Zero de ΐecriture (Paris, 1953), S. 109—111. Barthes macht einen sehr ungewöhnlichen, abstrakten und (ehrlich gesagt) höchst unklaren Unterschied zwischen „Schreibweise" (ecriture) und „Stil", der uns aber hier nicht zu beschäftigen braucht. Für uns genügt es, daß in seiner Perspektive Camus' Erzählung sowohl nichtliterarisch wie nichtstilistisch ist.
34
M.-G. Barrier, L'Art du Recit dans l'Etranger (Paris, 1962). Diese Studie ist vielleicht die beste und ganz bestimmt die präziseste, die über Camus' Erzählung erschienen ist.
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bar Unwesentliche, die wir schon von Hemingway her kennen und die natürlich ein Höhepunkt der Stilisierung ist. Dasselbe gilt für die völlig akausale Nebeneinanderstellung der Geschehnisse, die schon im Mittelpunkt von Sartres Interpretation des Fremden stand. Der unausbleibliche Effekt ist ein Gefühl der Absurdität. Das Absurde kann aber komische Formen annehmen. So führt Sartre die parataktische Technik (er nennt sie „analytisch", da sie eine Unterdrückung synthetischer Sinnzusammenhänge darstellt) ganz richtig auf Autoren wie Swift und Voltaire zurück. „Herrn Camus' Erzählung ist analytisch und humoristisch", schreibt er, ohne aber auf eine naheliegende und wichtige Frage einzugehen: warum fehlt dann die humoristische Wirkung35? Die Antwort liegt in der sehr speziellen Behandlung, die Camus hier der Icherzählung angedeihen läßt. Es ist übrigens besonders naiv, wenn man (wie es geschehen ist) im Gebrauch dieser Form einen modernen Versuch sehen will, etwa die „bürgerliche" Formalisierung des Romans zu vermeiden und die unverfälschte Wirklichkeit wiederzugeben38. Schon die Romantiker benutzten die Ichform, um den Eindruck des unmittelbaren und lebenswahren Bekenntnisses zu erwecken, begründeten aber dabei paradoxerweise eines der stilisiertesten literarischen Genren; der Fremde, wie viele neuere französische Werke, ist noch ein Nachfahr dieses romantischen recit. Das Buch exemplifiziert dazu noch ein technisches Problem, das in der modernen Literatur (ζ. B. in Gides recits) stark in den Vordergrund gerückt ist und vornehmlich von der angelsächsischen 33
36
Das Zitat steht in Sartres „Explication de l'Etrangerin Situations I (Paris, 1947), S. 116. Auf die dadurch aufgeworfene Frage sind wir schon anderswo eingegangen (vgl. unser Buch Theory and Practice of the Novel. A Study ort Andre Gide, Genf 1968, S. 176 ff.). Wir untersuchen sie hier in größerem Detail und aus neuer Perspektive. Vgl. z. B. Pierre Descaves, „Albert Camus et le R o m a n " {La Table ronde, Febr. 1960, S. 4 7 — 6 0 ) . Für ihn ist der Roman im Gegensatz zum recit die Gattung, die dem Leben fälschlicherweise eine ausgeprägte F o r m zu geben trachtet. Dieser Gesichtspunkt ist im Widerstreit mit der gesamten französischen Romantheorie des zwanzigsten Jahrhunderts, von der Praxis ganz zu schweigen. Allerdings scheint Descaves von Bestseller-Romanen zu reden, aber damit madit er sich die Sache doch wohl etwas leicht.
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Romankritik (unter dem Einfluß der Theorie und Praxis von Henry James) untersucht wurde: der subjektive Gesichtspunkt, durch den die Ereignisse reflektiert werden, erweist sich als unzuverlässig. Hier liegt übrigens der entscheidende Irrtum Champignys: indem er sich ausschließlich und bewußt auf Meursaults Standpunkt stellt, ignoriert er die Distanz zwischen dem Erzähler und dem Leser, die eine der grundlegenden literarischen Gegebenheiten des Werkes ιοί·37
ist . Nun ist es bekannt, daß die Technik des flawed reflector zu gewissen Schwierigkeiten führen kann. Der Autor, der sich jeden „zuverlässigen Kommentar" entsagt, kann die genaue Distanz zwischen Leser und Erzähler oft nicht kontrollieren. Es fällt ihm leicht, seinen Reflektor ganz allgemein-gefühlsmäßig zu diskreditieren — dafür aber umso schwerer, auf präzisere Weise anzudeuten, wo die Limitationen des letzteren liegen, inwieweit man sich mit ihm identifizieren darf und worin man ihm mißtrauen muß. Die Widersprüdilichkeit der kritischen Bewertungen des Fremden scheint darauf zu weisen, daß das Werk dieser Art der Verwirrung Vorschub leistet38. Trotzdem sollte das unserer Meinung nach nicht so sein. In dem der Ermordung vorhergehenden Ersten Teil des Buches, der uns 37
33
Das erklärt das Ernstnehmen von Meursaults verzerrtem Heidentum. Champigny warnt allerdings im Vorwort, daß er das Buch nicht als literarisches Werk bespreche, sondern als Lebensdokument, Erzählung eines wirklichen Menschen. Wie kann man sich aber kurzerhand entschließen, ein Kunstwerk nicht als Kunstwerk zu betrachten? Übrigens kommt Champigny der Wahrheit auch nicht viel näher, wenn er im Nachwort seinen innerfiktionalen Standort verläßt. Er erklärt dazu, der Autor habe sich von seinem Helden durchaus nicht distanziert und stehe ihm in keiner Weise ironisch gegenüber (aaO., S. 201—202), was einfach nicht wahr ist. Es gibt keine ausdrücklichen verläßlichen Urteile über Meursault — aber Ironie ist gottlob nicht notwendigerweise so faustdick, daß sie dergleichen braucht. Gerade in der neuesten Literatur hat die Disqualifizierung des Erzählers subtilere Formen angenommen. Der Fremde ist eines von vielen Beispielen. In The Rhetoric of Fiction (Chicago, 1961) bespricht der amerikanische Romantheoretiker Wayne C. Booth diese Probleme im Detail (s. Kapitel X , X I und X I I ) . Er erwähnt übrigens den Fremden als ein Werk, das zur Verwirrung führen müsse und dessen Bedeutung wahrscheinlich nur mit Hilfe von Camus' spekulativen Schriften festgelegt werden könne (S. 296—297). Viele Kritiker sind dieser Meinung, die wir aber nicht teilen.
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vorläufig beschäftigt, drängt sich jedenfalls eine ganz bestimmte Reaktion dem Leser förmlich auf: nämlich das Bewußtsein einer intellektuellen und emotionalen Entfernung vom Erzähler, die so groß ist, daß sie gar keiner nuancierten Kontrolle mehr bedarf. Camus erreicht diesen Effekt durch einen Kunstgriff, auf den man verschiedentlich hingewiesen hat. Derjenige, der hier „ich" sagt, erlebt und beschreibt die Dinge wie eine Kamera, die rein äußerliche Impressionen einfach (man hat gesagt: auf behaviouristische Weise) registriert. Nun sind die erste Person Singular im Sprachgebrauch und die Icherzählung in der Literaturgeschichte geheiligte Tempel der Introspektion, traditionelle Ausdrucksformen der Subjektivität. Wir haben also einen radikalen, ja schockierenden Umschlag des zu Erwartenden in sein Gegenteil. Einen Umschlag, nicht nur eine Neutralisierung altgewohnter Konstruktionen — was dazu führt, daß das Buch selbst bei kursiver Lektüre geradezu befremdend erscheint. Es wäre ein Fehler, Meursault als „objektive" Persönlichkeit zu bezeichnen, denn diese Bestimmung läßt das paradoxe, dialektische Moment außer acht. Camus' Erzählung ist keine Nichtromantik, sie ist eine Romantik mit umgekehrtem Verzeichen; Meursault ist eine umgestülpte Subjektivität, worin sein Unterschied vom Helden eines Steinbeck liegt. Er bleibt ein Subjekt, aber ein entpsychologisiertes und daher verstümmeltes — eine veräußerlichte und verdinglichte Innerlichkeit. Er ist ein zersplittertes Ich, das sich jeder dynamischen Selbstschöpfung und jeder aktiven Sinngebung der Zeitlichkeit (und damit seiner Essenz) in wörtlichsten Sinne „entäußert" hat; kurz ein pour-soi, das sich wie ein en-soi benimmt. Seine „Objektivität" erscheint als subjektives Manko: er stellt sich als radikal „fehlerhafter Reflektor" dar. Die Frage, warum Camus' „analytischer Stil" nicht humoristisch wirkt, kann jetzt leicht beantwortet werden. In Voltaires Erzählungen identifizieren wir uns mit einem Helden, der die Vernunft oder den gesunden Menschenverstand verkörpert und sich mit einer unvernünftigen Wirklichkeit herumschlägt. Wie groß audi Zadigs Mißgeschick sein mag, es drückt nur eine kontingente, daher ver-
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besserliche und in letzter Instanz auf die leichte Schulter zu nehmende Sinnlosigkeit aus: ist nicht Zadig selbst die personifizierte Garantie eines gegebenen Sinnes? Innerhalb des Fremden ist ein solcher Sinn nicht mehr zu entdecken. Mit Meursault kann man sich nicht identifizieren; genau so wenig allerdings mit der Wirklichkeit, in der er sich bewegt. Seine Unfähigkeit, ihr einen Sinn zu geben, enthüllt und unterstreicht ihre Sinnlosigkeit; durch die Technik des behaviouristischen Registrierens verschmilzt die subjektive Fehlerhaftigkeit des Protagonisten mit der objektiven Wesenheit seiner Welt. Meursault ist vollkommen eins mit seiner Umgebung, sein „analytisches" Ich bildet einen monolithischen Block mit seiner analytischen Welt. Der Riß liegt nicht mehr (wie bei Voltaire) zwischen diesen beiden, sondern zwischen ihrer unmenschlichen Einheit und der verletzten Rationalität des Lesers. Der kleine Schock der bedingten Sinnlosigkeit wird zum Skandal der absoluten, die spielerische Distanz der Komik zur vollkommenen Verfremdung. Damit sind wir auf ein Modewort gestoßen, das heutzutage auf allen Gebieten sein Wesen treibt — gottlob auch auf dem der Literaturtheorie. Greifen wir auf den Ursprung des literarischen Begriffs zurück. Für die russischen Formalisten der zwanziger Jahre, besonders Viktor Sklovskij, ist bedeutsamerweise die Verfremdung (ostranenie) der literarische Effekt kat exochen, ja die Essenz der „Literarischkeit" (literaturnost'). Worin besteht sie? Worte werden aus ihrer stereotypen semantischen Serie in eine unerwartete versetzt, Gegenstände und Handlungen werden aus ihrem altgewohnten Zusammenhang herausgeholt und einem anderen einverleibt. So werden sie dem banalisierenden Automatismus des täglichen Lebens entrissen und gelangen zu neuer Frische und Sichtbarkeit. Die Theorie ist brillant und verführerisch. Sie kann vieles im sogenannten nouveau roman erklären, besonders die Experimente Robbe-Grillets. Sie paßt auch zum Fremden, aber hier stoßen wir nochmals auf einen verblüffenden Umschlag, der an Kafka gemahnt. Was macht der analytische Stil verfremdend sichtbar? Die Absurdität des Lebens, gut, aber das ist schon eine Verallgemeine-
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rung. Was sich hier als erstes aufdrängt, ist eine sofort erkennbare Wirklichkeit: der Automatismus des täglichen Lebens selbst. Es ist nämlich gar nicht wahr, daß Meursault der Physis nahe steht, der Gesellschaft aber fern. Er ist ganz und gar Büroangestellter, er steckt vollständig in den gesellschaftlichen Funktionen drin. Nur ihre Sinngebung ist ihm fremd, denn seinem Bewußtsein fehlt das pour-autrui genauso wie das pour-soi; auch hierin ist er ein verkrüppeltes Ich. (Sklovskij würde mit der den frühen Formalisten eigenen, hier nicht ganz unangebrachten Überbetonung des rein Literarischen sagen, er kranke an einem stilistischen Kunstgriff seines Autors.) So werden die zwischenmenschlichen Beziehungen zu rein veräußerlichten Formen, das gesellschaftliche Leben zu einer ewigen Wiederholung des Gleichen. Die Verfremdung ist nicht eine Entbanalisierung, sondern eine Überbanalisierung des Alltäglichen. Das Nichtliterarische per se wird als solches distanziert, ästhetisiert, literarisiert39. Die Stilisierung begnügt sich nicht damit, einzelne Inhalte dem verhüllenden Automatismus zu entreißen: sie macht letzteren als Ganzes sichtbar. Und diese Sichtbarwerdung nimmt sogar „menschliche" Gestalt an. Sie verkörpert sich in der marionettenhaften Frau, „der kleinen Automatin", deren absurd zielbewußtes Auftreten Meursault in einem Restaurant beobachtet und die als Symbol des Ersten Teiles gelten kann. 39
In seiner hochinteressanten rezenten Studie des Romans oder Hat Literatur Zukunft? (Neuwied und Berlin, 1968) stellt Reinhard Baumgart bei vielen zeitgenössischen Schriftstellern ein ähnliches Phänomen der Entfremdung des Banalen fest (s. besonders S. 66, 76—77, 79). Er scheint darin jedoch einen krassen Widerspruch zu jeder traditionellen Ästhetik zu sehen, während es sich doch ganz im Gegenteil zunächst um einen Versuch der Ästhetisierung des bisher völlig Außerästhetischen handelt — um eine überraschende Neuanwendung von Distanzierungseffekten, die dem Ästhetischen immer eigen waren. Für die formalistische Theorie der Entfremdung s. Viktor Sklovskij, „Kunst als Kunstgriff" und „Der Aufbau der Erzählung und des Romans" (in Theorie der Prosa, herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Gisela Drohla, Frankfurt/Main 1966). Vgl. auch Victor Erlich, Russian Formalism. History — Doctrine ('s-Gravenhage, 1965), S. 76, 176 ff.
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c) Zusammenfassung Ziehen wir das Fazit aus den vorhergehenden Analysen. Wir begannen damit, daß wir den „realistischen Irrtum" widerlegten. Natürlich ist das eine Frage der Definition, und man kann auch die hier umrissene Darstellung der Wirklichkeit als „Realismus" bezeichnen — insofern nämlich, als sie vielleicht verborgene Wahrheiten des modernen Lebens enthüllt. In diesem Sinne spricht Günther Anders von Kafkas Realismus: „ . . . Kafka ver-rückt das scheinbar normale Aussehen unserer verrückten Welt, um ihre Verrücktheit sichtbar zu machen"40. Auch Robbe-Grillet betrachtet sich ja bekanntlich als „Realisten". Mit solch einem Gesichtspunkt ist uns aber nicht gedient. Definitionen sind Hilfsmittel zur Klärung bestimmter Tatbestände, und wir braudien eine (übrigens ganz allgemein gehaltene und nicht weiter vertiefte) Bestimmung des Realismus, die uns hier weiter bringen kann. Als erstes muß festgestellt werden, daß einerseits trotz aller Banalität und andererseits trotz aller modernen Katastrophen das tägliche Leben für den darin Eingespannten immer noch seinen synthetischen Sinn in sich trägt; Sartre sagt nichts anderes, wenn er auf die Künstlichkeit von Camus' analytischer Darstellung hinweist. Andererseits hat auch das literarische Werk, als Wortgebilde und ästhetisches Ganzes, seine inhärente Bedeutung. Von „Realismus" wollen wir reden, wenn diese beiden Sinngebungen zusammenzufallen trachten — d. h. wenn die ästhetische Eigenbedeutung des Werkes dem impliziten Sinn der (sich in einer unmittelbar erkennbaren Welt mit glaubwürdigen Gestalten entwickelnden) Gesdiichte parallel läuft oder damit verschmilzt. Wir erkannten die Brüder Karamasoff in diesem Sinne noch als realistisch. Bei Camus klaffen die beiden Elemente auseinander. Ja, nicht nur das: es ist, als ob sie es darauf anlegten, sich gegenseitig zu unterminieren. Die literarische Stilisierung ist nichtrealistisch, sie zerstört den gegebenen Sinn des Lebens. Andererseits versucht das Werk, sich durch Neutralisierungen und über41
Günther Anders, Kafka, Pro und Contra (München, 1951), S. 9.
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raschende Effektumkehrungen gewissermaßen als nichtliterarisch auszugeben. Diese „Entliterarisierung" ist jedoch selbst ein hochliterarisches Verfahren. Ihr Höhepunkt ist der Triumph der Alltäglichkeit, aber letztere ist nicht realistisch sondern verfremdet: das absolut Unliterarische wird zur Kulmination des Literarischen überhaupt. Und so fällt die metaphysische Entfremdung mit der ästhetischen Verfremdung zusammen. Das philosophisch Negative wird zum künstlerisch Positiven: es ist in letzter Instanz der Verfremdungseffekt, jener Inbegriff literarischer Bedeutsamkeit, der die Bedeutung der Welt in Frage stellt. Robbe-Grillet hat ganz richtig erkannt, daß die Absurdität selbst eine Kategorie des Bedeutungsvollen ist41. Der Erste Teil des Fremden hat die Bedeutung der Sinnlosigkeit.
3. Zweiter Teil: die Sinnlosigkeit der Bedeutung a) Die Verschiebung des Gesichtspunktes Wir kommen zur Gerichtsverhandlung, die den Zweiten Teil des Werkes dominiert. Sie widerspiegelt, systematisiert und konzentriert den Schock des gesellschaftlich fühlenden Menschen angesichts der Verdinglichung Meursaults. Schon im Ersten Teil hatte sich dieser Schock in gewissen befremdeten Reaktionen andeutungsweise kundgetan. Es muß in diesem Zusammenhang auf zwei einander anfüllende traditionelle Verfremdungseffekte hingewiesen werden. Bei der Naditwache für seine verstorbene Mutter ist es Meursault, als säßen die gleichfalls anwesenden Bewohner des Altersheims da, um ihn zu richten (19). Beim Prozeß dahingegen erscheinen ihm die Geschworenen wie Passagiere auf einer Straßen41
In „Une Voie pour le Roman futur (1956); s. Pour un nouveau Roman (Paris, 1963), S. 18. Robbe-Grillet gibt sich aber Illusionen hin, wenn er meint, seinerseits Objekte in ihrem bloßen Dasein — außerhalb jeder Deutungskategorie — sprachlich beschreiben zu können.
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bahnbank (119). Die Verschränkung des Alltäglich-Gesellschaftlichen mit dem Gerichtlichen könnte nicht klarer hervorgehoben werden. Letzteres ist hier viel enger gefaßt, viel beschränkter als in den Brüdern Karamasoff: es ist nur noch das vollkommen Banale, das nichts außerhalb der Konvention Liegendes mehr verstehen oder dulden kann. Der Leser kann sich diesem Eindruck verachtungswürdiger Beschränktheit kaum entziehen, und auch die Kritik hat sich ihm fast ausnahmslos unterworfen, ohne sich darüber klar zu werden, daß er nicht ganz unproblematisch ist. Untersuchen wir zunächst, wie dieser Eindruck zustande kommt. Einfach dadurch, daß wir die „Wahrheit" wissen? Nein, denn die kennen wir auch in Dostojewskis Roman, dessen Prozeß alles andere als lächerlich erscheint. Es ist vor allem die Darstellungsweise, welche die Reaktion des Lesers erklärt. In dieser Verhandlung gibt es keinen klugen Skeptiker, keinen Fetjukowitsch. Natürlich ist er auch nicht nötig: der Nihilismus ist in die Geschichte eingebaut und braucht nicht ideologisch entwickelt zu werden — die Absurdität ist sein erzählerisches Äquivalent. Aber die Unscheinbarkeit des Verteidigers hat doch noch tiefere Bedeutsamkeit, besonders da sie der Mittelmäßigkeit des Anklägers entspricht. Die beiden bieten uns keine echte Analyse mehr, nur noch Rhetorik; ihr Werkzeug ist weniger die Vernunft als die Konvention, ihr Deuten nicht viel mehr als Klassifizieren. Trotz ihres geräuschvollen Auftretens bleiben sie seltsam statisch. Da beide dasselbe stereotype Wertsystem vertreten, innerhalb dessen sie lediglich verschiedene Etikette für den Verbrecher wählen, besteht zwischen ihnen kein wirklicher Kontrast. Das drückt sich auch in ihren Persönlichkeiten aus, deren schemenhafte Undifferenziertheit scharf von der komplexen, sorgfältig ausgearbeiteten Gegensätzlichkeit der Dostojewskischen Juristen absticht. Hier gibt es keinen richtigen Zusammenstoß, der Dynamik und dramatische Spannung erzeugen könnte. Uberhaupt ist die leichte epische Brechung und subjektive Relativierung des Dramatischen, die wir im Karamasoffschen Prozeß feststellen konnten, hier radikalisiert — ja fast verabsolutiert. Wir betrachten alles durch die Augen Meursaults, dem der ganze Vorgang absurd bis
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zur Komik erscheint. Wie durch einen Schleier sehen wir die Juristen mit ihren weitausholenden Gesten, hören ihre großen und leeren Worte: dieser Prozeß ist ein Meisterstück der Parodie. Der Gebrauch der indirekten Rede wirkt entdramatisierend, und die befremdende Wirkung wird noch durch das Paradoxon verstärkt, daß der Reflektor (um dessen Leben es ja geht) wie ein außenstehender Beobachter reagiert42. Das Befremden des Lesers ist stark genug, um jene gespannte Anteilnahme an den Ereignissen auszuschließen, deren ein dramatischer Effekt unbedingt bedarf. Wieder haben wir also, wie im Ersten Teil, den Kunstgriff der Verfremdung, aber diesmal aus ganz anderer Perspektive. Wir sehen die Welt nicht nur durch die Augen des Erzählers, wir stellen uns jetzt auch völlig (oder fast völlig) auf seinen Standpunkt. „Es gelingt Camus", schreibt Barrier ganz richtig, „den Leser zu seinem Komplicen zu machen"43. Der Gesichtspunkt des Lesers hat sich radikal verschoben. Es gilt zu analysieren, wie das möglich war. "
4;i
In seiner Erzählung Ende einer Dienstfahrt (Köln-Berlin, 1966) bedient sich auch Heinrich Boll der indirekten Rede, um einen Prozeß zu entdramatisieren; allerdings geht es ihm mehr darum, ironische Distanz zu schaffen. Auch im Ersten Teil des Fremden wird dieser Kunstgriff mitunter gebraucht, um Meursaults Nichtverstehen subjektiver Reaktionen zu zeigen: so ζ. B. bei seiner Beschreibung des Verhaltens der vom Fußballspiel zurückkehrenden jungen Leute: „Sie brüllten und sangen aus vollem Halse, daß ihr Klub nicht untergehen würde" (S. 37). Das Beispiel der Erzählungen Kleists beweist übrigens, daß die indirekte Rede durchaus nicht entdramatisierend zu wirken braucht. Es wäre interessant, die widersprüchlichen Effekte dieser Technik näher zu untersuchen. Die Subjektivität der Darstellung des Meursaultschen Prozesses tritt noch klarer zutage, wenn wir Camus' Werk mit dem rezenten Film l'Etranger von Luchino Visconti vergleichen. Die Gerichtsszene ist vielleicht die einzige mißlungene in der sonst ausgezeichneten Filmversion, und zwar deshalb, weil sie „objektiv" und dennoch im parodistischen Stil des Buches gezeigt wird. Wir sehen sie nicht durch die Augen Marcello Mastroiannis (des Darstellers von Meursault); letzterer ist lediglich einer der Anwesenden. Dadurch wird nur der Eindruck der Unglaubwürdigkeit erweckt. Es wäre allerdings schwer, in einem Film den richtigen Effekt zu erzielen. Barrier, ebd., S. 74. In den vorhergehenden Seiten bespricht Barrier in größerem Detail die Kunstgriffe, die der Autor anwendet, um den Leser zu seinem Komplicen zu machen. Leider sieht auch er nicht klar die Verschiebung des Gesichtspunktes, die wir hier herauszustellen versuchen.
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Was ist geschehen? Meursault bildet keinen Block mehr mit seiner Umgebung; der Riß besteht jetzt (wie in Voltaires contes) zwischen der Welt und seinem Ich, mit dem wir uns neuerdings identifizieren. Diese Identifizierung setzt voraus, daß der Protagonist zu einer wirklichen Subjektivität geworden ist. Und so ist es; wie könnte es ihn audi sonst erstaunen, daß die Gerichtszeremonie sich gewissermaßen außerhalb seiner abspielt und daß der Verteidiger in seinem Namen die Ichform gebraucht? Um es genauer auszudrücken, ist Meursault noch dabei, ein bewußtes Ich zu werden — eine Entwicklung, welche durch die besagte Ausschließung beschleunigt wird. Seine Evolution setzt mit dem Mord ein, entfaltet sich durch den ganzen zweiten Teil hindurch und kulminiert am Ende des Buches. Eines ihrer Hauptmerkmale ist das Entstehen eines Zeitbewußtseins. Dieses beginnt mit dem fatalen Revolverschuß, festigt sich in der Reaktion gegen die erzwungene Zeitlosigkeit der Gefängniszelle und erreicht seinen Höhepunkt im Protest gegen die durch das Todesurteil bedingte Zukunftslosigkeit. Das ist nichts Geringeres als das Entstehen eines pour-soi, dessen Essenz ja die Zeitlichkeit (d. h. die Projektion einer Zukunft) ist. Audi das wachsende Gefühl des Ausgeschlossenseins, das sich am Ende in bitterem Trotz gegen die anderen äußert, ist ein Zeichen, daß die defekte Ichhaftigkeit sich vervollständigt: die rebellierende Affirmation des Andersseins ist eine Kategorie des pour-autrui. Erst in der Szene mit dem Kaplan wird Meursault völlig zum bewußten Individuum (und zum „absurden Helden" im Sinne des Mythos von Sisyphos). Heben wir hervor, daß seine Entwicklung sichtbare Gestalt annimmt. Zwei Zuschauer gibt es während des Prozesses, die ihn durchweg intensiv anschauen und deren gemeinsamer Gegenwart er sich besonders wieder nach den Plädoyers bewußt wird: die „kleine Automatin" und ein junger Journalist, dessen verständnisvoller Blick ihm wie sein eigener erscheint (122, 123, 149, 151). Automatismus und absurdes Bewußtsein: das sind die Personifizierungen des Ersten und des Zweiten Teils, der beiden polaren Zeitpunkte von Meursaults Leben. Es ist Meursaults neue, zur Zeit der Gerichtsverhandlung schon in genügendem Maße erworbene ichhafte Fülle, welche die
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veränderte Haltung des Lesers ermöglicht. Dieser macht die Entwicklung des Erzählers mit. Während die stets gleichbleibende formale Blickrichtung (der Gebrauch der Ichform) ursprünglich dem implizierten Gesichtspunkt (der urteilenden Reaktion des Lesers) entgegengesetzt war, fallen die beiden nun zusammen. Das ist die radikale Verschiebung der Perspektive, ohne deren Verständnis das ganze Buch in letzter Instanz unbegreiflich bleiben muß. Im Nichterkennen dieses tour de force liegt u. E. der Grund aller Verwirrungen, zu denen Der Fremde Anlaß gegeben hat. Man hat vor allem die Tendenz gehabt, den automatischen Reflektor des Anfangs von dem bewußten, sympathischen, „realistischeren" des Endes her zu deuten. Mehr als alles andere ist es wohl die Unveränderlichkeit des formalen Zentrums, die viele Leser und Kritiker veranlaßt hat, Camus so auf den Leim zu gehen. Dazu kommt vielleicht die Kühnheit der Verschiebung, die ja eine förmliche Umkehrung ist, und schließlich doch auch (zusammen mit diesen anderen Elementen) unser Wissen, daß die gerichtliche Deutung des Geschehens falsch ist. So vergessen wir ganz, daß Meursault letzten Endes ein Mörder ist. Ja, wir vergessen, daß der sich im Prozeß verkörpernde Schock der Gesellschaft immerhin ein Echo desselben Verfremdungsgefühls ist, das uns bei der Lektüre des Ersten Teils beschlich — ein allerdings verfehlter Ausdruck derselben verletzten Rationalität.
b) Die Grenzen dieser Verschiebung und das entdramatisierte Drama Damit ist schon angedeutet, daß unser Gesichtspunkt auch während des Prozesses sich doch nicht ganz mit dem des Angeklagten deckt. Ihm ist die Zeremonie einfach nicht verständlich; wir aber verstehen sie sehr wohl und wissen, daß es ihr darum geht, Sinn zu schaffen — daß sie Ordnung bringen will (ja bringt!)*4. Dies wird 44
Carl A. Viggiani hat also nur sehr bedingt redit, wenn er schreibt, das Gericht sei „eine Parabel des universalen und ewigen Urteilsspruchs, der über die Mensdien gefällt worden ist. Dieser ist die äußerste den Menschen an-
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beim Vergleich mit einem Buche augenfällig, das bei keiner Besprechung des Gerichtsthemas in der modernen Literatur übergangen werden darf. Der Einfluß von Kafkas Welt auf die Meursaults ist unleugbar und kann an wenigstens einer Stelle sogar mit ziemlicher Sicherheit positivistisch belegt werden45. Worauf beruht aber die eigentüm-
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getane Ungerechtigkeit, und wie die Unlogik der Gerichtsepisode ist er unbegreiflich" („Camus' l'Etranger", in Publications of the Modern Language Association, LXXI, 5, Dezember 1956, S. 885). Dieses Urteil ist ein typisches Beispiel dafür, was geschieht, wenn man ein Werk von außen her (in diesem Falle natürlich von der Philosophie des Mythos von Sisyphos aus) deutet. Ohne Zweifel ist es wahr, daß das Todesurteil zum Symbol der Absurdität wird, die ja für Camus bekanntlich im Tode ihren stärksten Ausdruck findet. Die Art, wie das Todesurteil erreicht wird, ist jedoch alles andere als unlogisch und unverständlich. Der Ausspruch des Richters ist ganz im Gegenteil das Resultat einer verfehlten Verständlichkeit. Darin liegt ja gerade die Ironie! Wenn Meursault sich die Vollstreckung des Todesurteils ausmalt („man wurde diskret getötet, mit etwas Schamhaftigkeit und großer Genauigkeit", S. 158), dann denkt er offensichtlich an die Exekution von Josef K. und an seine letzten Worte: „,Wie ein Hund', sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben" (Franz Kafka, Der Prozeß, New York 1946, S. 239). Es gibt eine vergleichende Studie von Kafkas Prozeß und Camus' Fremden: Phillip H. Rhein, The Urge to Live (Chapel Hill, Ν. C., 1964). Sie behandelt viele Aspekte (Thematik, Darstellungstechnik, Stil) recht befriedigend, ist aber im allgemeinen so stark mit den Übereinstimmungen zwischen den beiden Werken beschäftigt, daß sie die Verschiedenheiten nicht genügend berücksichtigt. Das ist vielleicht auch der Grund dafür, daß es darin erstaunlicherweise zu keinem eingehenden und spezifischen Vergleich zwischen den beiden Gerichten kommt, obgleich doch dieses Thema entweder den Ausgangspunkt oder die Krönung solch einer Monographie bilden müßte. Die Prozesse werden natürlich oft erwähnt, aber nie als solche analysiert; ihr Wesen bleibt unklar, ihre Tendenzen verschwimmen, und man weiß schließlich nicht genau, was sie zu bedeuten haben und wie sie zueinander stehen. Man hat am Ende das vage Gefühl, daß sie eher vergleichbar seien. Audi Viggiani (aaO.) identifiziert die beiden Prozesse, und Gerda ZeltnerNeukomm schreibt: „Später kam KAFKA und umgab das Gericht in seinem ,Prozeß' mit einem metaphysischen Zweifel, der nicht mehr weiß, ob ein Göttliches oder ein Nichts dahinter steht. Bei CAMUS ist dieser Zweifel endlich der eindeutig negativen Gewißheit gewichen" (aaO., S. 71). Von ihrer Warte aus läßt sich das verteidigen, aber ihre Sicht ist so allgemein, so global, daß die Modalitäten von Camus' Werk (und mit ihnen schließlich auch vieles von seiner letzten Bedeutung) verloren gehen. All dies beweist, daß eine Analyse von unserer Perspektive aus überfällig war.
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lidie, ja erschreckende Wirkung seines Romans Der Prozeß? Doch wohl darauf, daß wir hier das Funktionieren des Gerichts, ja die Anklage selbst wirklich nicht verstehen. Das Gericht ist ein außerordentliches, kein gewöhnliches. Ist es sinnlos oder hat es einen höheren Sinn, der uns entgeht? Wie wir es bewerten, ist fast gleichgültig: zusammen mit Josef K. sehen wir uns einem Dunklen, absolut Unklaren, unabänderlich Absurden gegenüber, das sich allen menschlich-rationalen Begriffen entzieht. In anderen Worten: Kafka stellt das Prozeßthema auf den Kopf. Er gebraucht es in einer Weise, die in krassem Gegensatz zu seinen innersten Potentialitäten sowie auch zu seinen literaturhistorischen Traditionen steht. Dieser Prozeß „prozediert" nicht, sondern tritt eigentlich auf der Stelle; er ist keiner wirklichen Zeitabfolge unterworfen und weist keine erkennbare Entwicklung auf. Sein Aufbau ist statisch-episodenhaft, und die Urteilsvollstreckung erscheint als ein willkürlicher Abschluß, der ebenso hätte vorverlegt, hinausgeschoben oder ganz weggelassen werden können. Dazu sind die ursächlichen Zusammenhänge hier invertiert, so daß es die Anklage ist, welche zur Schuld führt. In alledem zeigt sich die fundamentale Unzeitlichkeit der Kafkaschen Welt, die Günther Anders hervorgehoben hat48. Der unerwartete, fast naturwidrige Gebrauch des an sich tief dramatischen, zeitlichen, deuterischen Prozeßstoffes macht die undramatische Opazität dieser Welt mit einer Schärfe sichtbar, die nur durch solch eine kühne Inszenierung des Paradoxen erreicht werden konnte. Wir sehen sofort, daß Camus' Prozeß ganz anders ist. Er will klären und das Absurde erhellen, wenn auch die Vernunft sich nicht in ihrem besten Lichte zeigt und dem zu Deutenden (dem unerklärlichen Faktum des Mordes) vorsichtig aus dem Wege geht, um sich auf seine Vorgeschichte zu konzentrieren. Ursache und Wirkung, Schuld und Anklage bleiben in ihrer üblichen Reihenfolge bestehen 49
AaO., besonders S. 34—36 und 53—55. Uber die Zeit bei Kafka s. auch Gesine Frey, Der Raum und die Figuren in Franz Kafkas Roman „Der Prozeß" (Marburg, 1965), besonders das letzte Kapitel.
5 Holdheim, Justizirrtum
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— nur sind Schuld und Ursache zweifelhaft. Die Verhandlung ist und rekonstruiert eine klare Sukzession, ja gerade darin liegt ihr Fehler: sie deutet die parataktische Episodenhaftigkeit von Meursaults Handlungen zur hypotaktisch sich entfaltenden Einheit um; im fragmentierten Nebeneinander seines Lebens sieht sie ein bedeutsames Nacheinander; die sinnlose Wiederholung des Immergleichen wird für sie zur folgerichtig im Verbrechen kulminierenden zeitlichen Linearität. Das ist nicht die Konzeption Kafkas, das ist ihr Gegenteil! Der Prozeß Meursaults ist zwar entdramatisiert, aber Entdramatisierung ist keineswegs dasselbe wie Nichtdramatik. Wir könnten sie eher als eine Dramatik mit negativem Vorzeichen bezeichnen. Genauer gesagt, verschwindet bei Camus das intensive, nicht aber das strukturelle Moment des Dramatischen; die Spannung ist abwesend, nicht die Form47. Das Drama wird nicht wie bei 47
„Der Vorgang ist einfach und zwingend", schreibt Dieter Wellershoff. »Man unterstellt einen inneren Zusammenhang aller Ereignisse — die Einheit der Person — und deutet sie perspektivisch im Hinblick auf den tödlichen Schuß. Es wird vorausgesetzt, daß dies der Bezugspunkt sei, von dem her alles zu verstehen ist, der Schwerpunkt, auf den die Ereignisse zueilten" (Der Gleichgültige, Köln-Berlin 1963, S. 58). Das ist vollkommen richtig, nur sollte hinzugefügt werden, daß dieses perspektivische Deuten von einem Endpunkt her eben der Inbegriff der dramatischen Formalisierung ist. Und wenn der Schuß als solcher nicht weiter analysiert wird (nur der Untersuchungsrichter interessiert sich dafür), dann ist auch das ein dramatisches Verfahren — und ein kausales, denn die kausale Erklärung ist genetisch. Dramatik und Kausalität setzen eben eine Welt voraus, in der Phänomene durch ihre kohärente Vorgeschichte erklärt werden können. Eine ganz ausgezeichnete Erzählung von Hans Erich Nossack, Unmögliche Beweisaufnahme, steht in mancher Hinsidit (trotz ihrer radikal anderen Atmosphäre) zwichen Camus' und Kafkas Behandlung des Prozeßthemas, obwohl näher bei Camus. Das Gericht versucht hier klärend und progressierend vorzugehen; beides mißlingt jedoch. Das Faktum bleibt unverständlich, und das Fortschreiten bleibt rein äußerlich; in Wirklichkeit haben wir eine endlose zirkuläre Besprechung immer derselben Probleme und Tatbestände. Die Erzählung findet denn auch keinen Absdiluß, sondern bricht in medias res einfach ab. Der Vergleich könnte natürlich viel weiter durchgeführt werden, und Nossacks Werk müßte bei einer Ausbreitung des Themas eine wichtige Rolle spielen; hier bleibe es beim bloßen Hinweis. Siehe Hans Erich Nossack, Spirale: Roman einer schlaflosen Nacht (Frankfurt, 1956).
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Kafka zerstört, wird aber auch nicht (wie in den Brüdern Karamasaoff) lediglich in Frage gestellt: es wird qualitativ degradiert. Der Erste Teil des Fremden war eine stilisierende {7&erbanalisierung; der Zweite dahingegen ist eine gewaltsame dramatische Entbanalisierung des Geschehens, die sich aber ironischerweise selbst als banal entpuppt. Noch einmal bringt das Gericht den formalen Abschluß, noch einmal führt es zum Triumph des Wahren, Guten, Schönen; aber dieser ist nichts weiter als der Sieg einer stereotypen metaphysischen, ethischen und vor allem künstlerischen Konvention. Die obigen Ausführungen legen noch eine Frage nahe. Im Gegensatz zum Ersten Teil, und wie bei Voltaire, trennt der Verfremdungseffekt jetzt den Protagonisten von seiner Welt, die ihm (wie wir sagten) „absurd bis zur Komik" erscheint. Bedeutet dies, daß die humoristische Methode nun audi zu einer humoristischen Wirkung führt? Nicht ganz. Die Parodie der Gerichtsverhandlung steht wahrer Komik viel näher als das tägliche Leben Meursaults in Algier. Sie streift das Komische oft, erreicht es auch mitunter, ist aber doch als Ganzes nicht echt „komisch". Das verhindert jener Rest von Distanz zwischen dem Leser und dem Erzähler, den ersterer zu vergessen droht, der aber halbbewußt doch noch bestehen bleibt. Ja wir könnten sagen, daß diese Distanz sich gerade im unvollständigen Durchbruch der Komik kundtut. Denn Candide oder Zadig, die festen Bezugspunkte des traditionellen Satirikers, verkörpern immerhin die Rationalität, welche das Sinnlose demaskiert. Unser Bezugspunkt Meursault repräsentiert umgekehrt das Sinnlose, das den Versuch einer Sinngebung devaluiert. Er ist das Absurde, uns eigentlich Fremde und schließlich doch nicht ganz Assimilierbare, welches paradoxerweise das Nichtabsurde absurd erscheinen läßt. Der Erste Teil von Camus' Werk hatte die Bedeutung der Sinnlosigkeit; der Zweite impliziert die Sinnlosigkeit der Bedeutung.
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4. Die Fragwürdigkeit des Tragischen a) Die versuchte Assimilierung des Tragischen Bisher haben wir (nicht anders als das Gericht) den Mord selbst weitgehend ignoriert. Natürlich kann es dabei nicht bleiben. Nicht nur steht die Tötungsszene formal (Ende des Ersten Teils) sowie erzählerisch im Mittelpunkt der Geschichte, ihre Darstellung bricht auch auffallend mit dem bis dahin vorherrschenden Stil der trockenen Konstatierung. Die plötzlich auftauchende poetische Suada, der Einbruch der Metaphern — allein schon diese Erscheinungen sollen es greifbar machen, daß jetzt etwas Grundlegendes vor sich geht. Am wichtigsten sind die Bilder und Themen, welche das Verbrechen zum Verhängnis stempeln sollen. Wir wissen, daß Camus das Einbauen archetypischer Mythen und tragischer Formen ins alltägliche moderne Leben als eine Hauptaufgabe der zeitgenössischen Literatur betrachtete. Der Fremde bleibt sein frappantester Versuch in dieser Richtung. Programmatischer als in den Brüdern Karamasoff erscheinen hier die mit dem Drama so eng verbundenen tragischen Kategorien, und audi vielleicht noch reiner, weil sie nicht mit christlich-religiösen Tendenzen durchsetzt sind. Die ganze Atmosphäre am Strand wirkt auf sie hin. Da ist der Druck der Sonne, die den Apollo-Loxias symbolisieren soll und damit das göttliche Schicksal, das unentrinnbar zur Katastrophe drängt. Da ist die Zufälligkeit der Begegnung mit dem Opfer, welche an das Treffen zwischen ödipus und Laios erinnert und so übrigens eine weitere Verbindung mit dem Vatermordthema nahelegt. Und wenn dem Protagonisten im Augenblick der Tat der Schweiß in die Augen rinnt, dann ist das ein klarer Hinweis auf das Phänomen der tragischen Verblendung. Vor allem aber ist die ganze Erzählung ein offensichtlicher Versuch, aus Meursault einen schuldlos Schuldigen zu machen. Angesichts dieser vieldiskutierten Schuldfrage regt sich nun aber auch der erste Zweifel, ob es Camus gelungen ist, hier eine wirkliche Tragödie zu verwirklichen. Durch den ganzen Ersten Teil hin-
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durch fühlt sidi Meursault den anderen gegenüber unsicher; „in jedem Fall", schreibt er einmal, „ist man immer ein wenig schuldig" (33). Schuldig? Im Original steht fautif — ein Ausdruck, der eher die Mitte zwischen „fehlerhaft" und „schuldig" hält. Sein Substantivum, faute, wiederholt sich immer wieder. Kein Gefühl der Sündhaftigkeit soll es ausdrücken, sondern das dunkle Bewußtsein eines tragischen Fehlers. Was verursacht aber diese stetige Ahnung? Die Unfähigkeit, psychologisch-zwischenmenschliche Bezüge richtig zu erfassen —das Fehlen der Kategorie des pour-autrui. Meursaults chronische Verfehlung ist eine konstitutionelle Fehlerhaftigkeit seines Ich. Kann diese Anspruch auf tragische Würde erheben, trägt sie die Zweideutigkeit der tragischen Schuld in sich? Wohl kaum: unsere Analyse wird erweisen, daß auch hier wieder die Pole auseinanderfallen; die Ambiguität ist eine versteckte Dualität. Überhaupt nimmt die Spaltung der tragischen Kategorien im Fremden extreme Formen an. Fassen wir noch einmal die Elemente eines tragischen Geschehens zusammen, wie wir sie im DostojewskiAbschnitt definiert haben. Da ist als erstes die Notwendigkeit, welche sich mit unentrinnbarer Folgerichtigkeit in einer Realität auswirkt, die dadurch zu einem kohärenten systematischen Ganzen wird. Den anderen Pol bildet die Kontingenz, das Unerwartete, das jäh und außerhalb jedes Zusammenhanges in die Wirklichkeit einbricht. Das Kontingente kann seinerseits von außen oder von innen kommen, es kann Zufall oder Einfall sein — eine irreduzible Willkür der Ereignisse oder ein Ausdruck der spontanen Freiheit des Individuums. Diese drei Komponenten sind in der alten Tragödie ideal zu vollkommener Einheit verschmolzen; sehen wir, wie sie bei Camus zerrissen sind. b) Die Spaltung der tragischen Kategorien: Zufall und Spontaneität Man hat den Mord des Arabers mit Recht einen acte gratmt genannt. Damit stoßen wir erneut auf Die Verliese des Vatikans, denen wir schon bei der Dostojewski-Analyse wertvolle Fingerzeige ver-
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dankten. Ja, auch der Einfluß unseres „Präludiums" Rot und Schwarz auf Gides im Jahre 1914 erschienenes Buch bezeugt, wie sehr letzteres auf der Linie unserer Untersuchung liegt. Eigentlich ist das erstaunlich, da diese so tie ein durchaus komisches Werk ist und auch keinen Prozeß enthält. Es ist aber ein imaginärer Prozeß in ihr implizite, der ganz in unser Schema hereinpaßt: Protos (der ja wirklich verhaftet wird) würde darin für den Mord Fleurissoires verurteilt und der wahre Täter Lafcadio ginge frei aus, sogar wenn er bekennen sollte. Wenn diese explizite Lösung unterbleibt, dann ist es eben, weil der Autor den Stoff mit leichter Hand behandelt und weil es ihm nicht ums Dramatische, noch weniger ums Tragische geht48. Die Tatsache, daß sein Werk trotzdem so wichtige Parallelen mit den hier besprochenen enthält, ist vielleicht allein schon dazu angetan, die Echtheit der Tragik in letzteren in Zweifel zu ziehen. Wie dem auch sei: man kann Meursaults Tat schwerlich erwähnen, ohne an diejenige Lafcadios zu denken. Der acte gratuit ist natürlich der extreme Grenzfall der Kontingenz — nur fragt sich, welcher Kontingenz. So blieb es ungewiß, ob Dmitrijs Unterlassen des Vatermordes eine Wirkung des Zufalls oder ein Ausdruck der Freiheit war. Bei Gide im allgemeinen und in den Verliesen des Vatikans im besonderen kann kein Zweifel bestehen: die bezuglose Handlung soll ein Ausbruch der Freiheit des Individuums sein, ein spontanes Hervorquellen seiner inneren Substanz. Außerdem wird sie positiv gewertet. Gides Werk gehört der irrationalistischen Strömung an, die das erste Viertel unseres Jahrhunderts weitgehend beherrschte. In den Verliesen wird jedoch die Möglichkeit und Echtheit einer solchen Handlung ironisch in Frage gestellt. Lafcadio macht seine Tat vom Zählen zufällig auftauchender Lichter abhängig, so daß es schließlich auch hier unentschieden bleibt, ob sie ein reiner Einfall oder purer Zufall ist. Dazu kommt noch, daß Protos die Kontingenz des Mordes in ein syste48
Womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß nicht eine stark ironisch behandelte Gerichtsverhandlung möglich wäre. Aber im Grunde wäre diese überflüssig, da die Mißdeutung der Wirklichkeit hier schon genügend in die Handlung selbst eingebaut ist.
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matisches Gewebe verwandelt, von dem er selbst umstrickt wird4". So sind die drei Grundelemente des tragischen Geschehens hier anwesend, aber in einer untragischen, frivolen Widersprüchlichkeit, die ihrer klaren Trennung und Formulierung äußerst zuträglich ist. Der Fremde hat beileibe nichts Frivoles. Da herrscht blutiger Ernst, und Meursaults Tat kann beim besten Willen nicht positiv gewertet werden. Vor allem kommt das Buch dem Tragischen näher, weil der Akzent mehr auf der passio liegt. Ja, eigentlich sagen wir damit viel zu wenig. Hier scheint es keine Spontaneität mehr zu geben, nur noch Erleiden. Wie könnte es bei einem passiven, unechten Ich audi anders sein? Meursault wird einfach erdrückt. Wodurch? Durch die kosmische Macht der Sonne. „Der Zufall" habe alles verschuldet, sagt Raymond vor Gericht; Meursault: „die Sonne"; und sein Freund Celeste sagt aus: „das ist ein Unglück" (135, 146, 131). Die Sonne ist die von außen einbrechende Kontingenz; Meursaults acte gratuit ist in seiner Grundkonzeption, in striktem Gegensatz zu dem Lafcadios, der reine Zufall. Wie bringt Camus unter diesen Umständen den Mord zustande? Mit großer Virtuosität beschreibt er, wie die Zeit stehenbleibt und alles in eins verschmilzt: Meursault selbst, der flammende Himmel, das Meer, der Sand des Strandes, der Glanz des Revolvers und der des Messers, das der Araber gezogen hat. Die Atmosphäre erinnert stark an Valerys Cimetiere marin. Die Vollendung des Verschmelzungsprozesses löst den Schuß aus. So wenigstens ist es beabsichtigt, doch stellt sich die Frage, ob dergleichen überhaupt möglich ist. Wie kann der allgemeinen Erstarrung eine Tat entspringen, wie entstünde Aktion aus purer Passivität? Untersuchen wir den fraglichen Passus: Dann hat alles geschwankt. Das Meer hat einen schweren und glühenden Hauch von sich gegeben. Mir hat geschienen, daß der Himmel sich in seinem ganzen Umfang öffnete, um Feuer herabregnen zu lassen. Mein ganzes Wesen hat sich angespannt und ich habe meine Hand auf dem Revolver zu49
Diese Bemerkungen sind natürlich aus der hier vorherrschenden Perspektive heraus geschrieben. Bei näherer Analyse ist das Verhältnis zwischen Kontingenz und Systematik in den Verliesen des Vatikans viel komplizierter. Siehe Verfasser, aaO., Teil II, Kapitel 4.
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sammengezogen. Der Abzug hat nachgegeben, ich habe den glatten Bauch des Kolbens berührt und da, in jenem zugleich scharfen und betäubenden Ton, hat alles angefangen . . . Ich habe verstanden, daß ich das Gleichgewicht des Tages zerstört hatte . . . (88)
Der Schuß wird nicht genannt, nur paraphrasiert, und seine Ursache wird fast passiv beschrieben („der Abzug hat nachgegeben"). Das soll uns aber nicht täuschen: es handelt sich um etwas Spontanes, Aktives. Der Revolver geht schließlich nicht von selbst los; da ist jemand, der ihn abfeuert. Wer ist das — die umgebende Natur, welche sich nur eines willenlosen Meursault bedient? Das scheinen die Worte und Bilder anzudeuten, die der Tat unmittelbar vorausgehen und eine neue Atmosphäre der Bewegung heraufbeschwören („alles hat geschwankt", der „glühende Hauch", der sich öffnende Himmel, der Feuerregen). Hier werden wir am meisten an Le Cimetiere marin erinnert. Die Konzeption ist aber grundlegend anders. In Valerys Gedicht versucht das menschliche Bewußtsein umsonst, im Zeitlos-Dinglichen aufzugehen. Meursault jedoch ist ganz im Gegenteil ein Objekt unter Objekten, das seine Verdinglichung abschüttelt. Denn schließlich ist er es, der Veränderung einführt: „ich hatte das Gleichgewicht des Tages zerstört". Die plötzliche Beweglichkeit des Meeres und des Himmels ist ein objective correlative, eine Projektion seines Gemütszustandes auf die Natur. Objective correlatives setzen voraus, daß es auch ein Subjekt gibt: Meursault fängt in dieser Szene an, ein Ich zu werden. Das objektiv formulierte „Alles hat angefangen" bezeichnet in Wirklichkeit das Entstehen seiner subjektiven Zeitlichkeit. Zum Druck der Sonne kommt die individuelle Freiheit nun doch hinzu. Camus* stilistische Kunstgriffe sollten nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese beiden Elemente getrennt sind. Nicht nur getrennt: sie sind sogar widerstreitend, so daß es nur bedingt und indirekt wahr ist, wenn Meursault später behauptet, er habe „der Sonne wegen" gemordet. Kurz vorher war er ja schon auf den Araber zugeschritten, um sich der Sonne zu entledigen. Orest tötete auf Befehl des Loxias; Meursault tut es aus spontanem Protest gegen des Gottes Macht. So kommt seine Handlung schließlich doch der von Lafcadio nahe, genau so
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wie letztere in ihr Gegenteil umzuschlagen droht. Actio und passio stellen sich fälschlich als Einheit dar; das Subjektiv-Spontane richtet sich gegen das Kosmisch-Zufallende und geht nicht mit ihm Hand in Hand. c) Die Spaltung der tragischen Kategorien: Schicksal und Kontingenz, Schuldlosigkeit und Schuld Immerhin könnte man in dieser Struktur den Kampf des Menschen gegen das Schicksal sehen. Dazu sind aber die beiden Pole nicht genügend entwickelt. Dies bedeutet hier nicht etwa, daß Subjekt und Objekt, das Individuelle und das Substantielle wieder relativ genug sind, um eine gemeinsame Begegnungsebene zu haben. Die Elemente sind weiterhin von moderner absoluter Gegensätzlichkeit; nur ist jedes für sich an dieser Stelle noch defekt und rudimentär. Am deutlichsten kommt das bei Meursaults Ich zum Ausdruck. Seine Auflehnung ist ja nur ein Anfang; obgleich er den ersten Schritt der Bewußtwerdung unternommen hat, ist er doch nodi eine defekte Subjektivität. Wie wir bereits erwähnten, ist seine Entwicklung erst am Ende des Buches vollendet; erst dann wird auch das „Tragische" vollständig. Dies wird wieder mit vielen Hinweisen angedeutet. So erinnert Meursaults Versicherung, daß er glücklich sei, an das „Alles ist gut" der griechischen Tragödie50. Mehr: wenn er sich „bereit" erklärt, „alles wieder zu durchleben" (171), dann ist das nichts Geringeres als ein Ausdruck des amor fati, der für Nietzsche Höhepunkt und Prüfstein des tragischen Bewußtseins ist. Und wenn er zum Abschluß trotzig den H a ß der anderen am Tage seiner Hinrichtung herausfordert, so soll er wohl ödipus gleichen, der sein ganzes Leben auf sich nimmt, indem er sich in aller Öffentlichkeit opfert. M
Vgl. Viggiani, aaO., S. 886. Viggiani bespricht in aufsdilußreidier Weise, welche die tragischen Urbilder von Meursault sind (Odipus, Sisyphus und Christus — letzterer nichtchristlich gedeutet).
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Aber auch der von der Sonne symbolisierte objektive Pol des Geschehens ist in der Mordszene noch unvollständig. Was Meursault am Ende auf sich nimmt, ist sein Schicksal — und Schicksal ist vor allem audi Notwendigkeit, nicht nur von außen kommende Kontingenz. Nun versucht Camus bewußt, wie wir schon wissen, die Sonne zum Ausdruck des Fatums zu machen. Von Anfang an, seit der Beerdigung seiner Mutter, begleitet sie Meursault auf seinem Wege, bis sie am Strande zu absoluter Herrschaft gelangt. Das Moment des Unentrinnbaren wird bei ihrer Erwähnung stark betont; schon beim Begräbnis ahnt der in der glühenden Hitze laufende Leidtragende, daß sie ihm keinen Ausweg läßt („es gab keinem Wege, bis sie am Strande zu absoluter Herrschaft gelangt. Das und drückt den wahren Geist des Ersten Teils nicht aus. Die Ausweglosigkeit der Sonne ist nicht mehr als eine Begleiterscheinung — ein rein deskriptives und eigentliches unabhängiges Moment, das den Ereignissen in Meursaults Leben beigegeben oder auch aufgezwängt wird, ohne wirklich mit ihnen zu verschmelzen. Es ist ja gerade die betonte Zusammenhanglosigkeit, die das Charakteristikum dieses Lebens darstellt. Nur diese kann die Sonne wirklich reflektieren. Sie ist schließlich doch nur Symbol des Kontingenten — Spiegel eines Geschehens, in dem alles bloßer Zufall ist. Der Mord ist also nicht eigentlich fatal. Was er nicht ist, das wird er aber später. Das Element der schicksalhaften Kohärenz wird nachträglich hinzugebracht, und zwar ironischerweise durch die Gerichtsverhandlung, welche Meursaults Leben ja als systematische Entwicklung deutet. Erst jetzt können wir voll abmessen, wie tief der Prozeß mit der ästhetischen Substanz des Buches verflochten ist. Er konstituiert nicht nur das thematische Gleichgewicht und bringt nicht nur den formalen Abschluß: dieses verachtete und parodierte Gericht macht tatsächlich Meursault erst zum tragischen Helden. Diese lächerliche, konventionelle, banale Gesellschaft entbanalisiert letzten Endes doch sein Leben (wenn auch nicht auf die von ihr angestrebte Weise) und verwandelt Zufall in Schicksal, hasard in destinee. Erst sie vervollständigt das Werk der Sonne, die übrigens auch während des Prozesses weiterscheint, um die solare Schicksals-
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Symbolik wahrscheinlicher zu machen. Es wird Meursault mit Schrecken klar, daß das so willkürlich ausgesprochene Todesurteil (dieses, und nicht die Sonne!) wirklich die ganze Ausweglosigkeit des Verhängnisses hat. Seine letzten Worte sind denn auch ein leidenschaftlicher Protest gegen die anderen, die Gesellschaft, wie seine Tat eine noch halb instinktive Auflehnung gegen die Sonne war. Warum jedoch dieser Protest? Weil der Mensch nicht Schicksal spielen soll. Wir erkennen hier die Basis von Camus' „Moral der Revolte", die in in der Pest und im Menschen in der Revolte weiter entwickeln wird. Das Wort „Moral" ist symptomatisch und bedeutsam. In letzter Instanz ist das Kriterium ethisch, nicht ästhetisch: mehr als ein tragischer Held ist Meursault schließlich ein Rebell gegen die Ungerechtigkeit des Menschen und der Welt. Gerade darum ist es befremdend und tadelnswert, daß er den von ihm verschuldeten Tod eines Menschen ganz übergeht. Übergangen zu werden und eigentlich überflüssig zu sein, ist überhaupt das Los des Opfers in dieser „Tragödie". Laios war ödipus' wahrer Vater und hatte am Kreuzwege mit ihm gekämpft, auf daß der Erbfluch erfüllt werden möge. Orest hatte seine Mutter auf Apollos Befehl getötet, um den Vater zu rächen. Die Tat am algerischen Strande hat jedoch wirklich nichts mit dem armen Araber zu tun. Er ist nur ganz äußerlich in den Ablauf der Ereignisse eingebaut; im kritischen Augenblick ist er zufällig da. Seine Ermordung mag absurd sein, tragisch ist sie nicht; sie ähnelt der Instinkthandlung eines Kindes. Das bringt uns noch einmal zum Problem der schuldlosen Schuld zurück. Warum bleiben die beiden Pole auch dieses Phänomens getrennt? Weil es darauf ankommt, auf welchen Standpunkt wir uns stellen. Der Meursault des Anfangs ist schuldlos, weil er immer nodi ein verstümmeltes Ich ist, das es zu keiner vollwertigen Handlung bringen kann. Derjenige des Endes ist schuldig, weil er trotz seiner moralischen Orientierung jede Verantwortung abweist. Meursault ist entweder unzurechnungsfähig oder veranwortungslos; unser Kriterium ist entweder psychopathologisch oder ethisch. Eine Verschmelzung dieser beiden ist unmöglich, und keines hat ästhetische Substanz.
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Erste Variation: Der Fremde
Die tragischen Kategorien in Camus' Erzählung sind wahrlich radikal zersplittert. Es ist, als hätten sie mühsam zusammengetragen und zusammengezwängt werden müssen — ein Unternehmen, das nur mit zeitlupenhafter Allmählichkeit vor sich ging. Der Aufbau dieser Tragödie stellt sich als eine graduelle Verflechtung streng separater Elemente dar: der langsamen Entfaltung eines Ich, der Aktion der Gesellschaft und einer solaren Metaphorik, die dem Ganzen etwas gewaltsam aufgestempelt wird. Nur das Faktum dieser allgemeinen Zerspaltung erklärt die rätselhaften letzten Sätze des Ersten Teiles, die auf den bereits zitierten Mord unmittelbar folgen: Dann habe ich nodi viermal auf einen regungslosen Körper geschossen, in den die Kugeln sidi unmerklich eingruben. Und es war wie vier kurze Sdiläge [quatre coups brefs], die idi an das Tor des Unglücks tat. (88)
Warum hat Meursault weiter geschossen, warum zwischen dem ersten Schuß und den folgenden gewartet? Der Untersuchungsrichter will es verzweifelt wissen und erhält keine Antwort, und der Kritik ist es nur wenig besser ergangen. Das liegt wohl daran, daß dieser Passus die Domäne der erzählerischen Mitteilung fast ganz verlassen hat und sich auf der Ebene des Symbolischen bewegt, die wenigstens dem ans Faktuelle gebundenen Magistraten verzeihlicherweise unzugänglich ist. Der vorhergehende erste Schuß war noch nichts weiter als das Unerwartete, Kontingente — die als äußerer Zufall maskierte spontane Reaktion. Die anderen, hier erwähnten sind ein Vorgefühl (besser noch: ein Symbol) des Kommenden, das Meursaults Leben zur Vollendung bringen wird. Quatre coups: das Wort kann auch „Schüsse" bedeuten; der Erzähler spricht also schon von Schüssen — im ersten Schuß hatte er nur einen „scharfen und betäubenden Ton" erkannt. Von Schüssen oder Schlägen: „vier kurze Schläge, die ich an das Tor des Unglücks tat" — das ist die Ankündigung des Verhängnisses, wie etwa die Torschläge des Orest in Äschylos' Choepboren. Warum vier Schläge? Denken wir an Beethovens Schicksalssymphonie! Und die Pause zwischen dem scharfen Ton und den vier Schüssen zeigt die Spaltung zwischen Kontingenz und Schicksal, die Zerrissenheit von Meursaults tragischer Welt.
D i e Fragwürdigkeit des Tragischen
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d) Tragik und Groteske Noch in anderer (nämlich stilistischer) Hinsicht erscheint Der Fremde fragmentiert, und zwar schon bei kursiver Lektüre. Es wurde erwähnt, daß in der Szene des tragischen (oder noch-nichtganz-tragischen) Mordes eine neue poetische Metaphorik den analytischen Stil jäh verdrängt. Ähnliches geschieht im Zweiten Teil, wo die parodistische Darstellung des gesellschaftlichen Verfahrens schließlich der poetischen Redegewandtheit weicht, mit der Meursault seine tragische Philosophie verkündet. Das Ganze hat global gesehen etwas Äußerliches, Gewaltsames. Ist es nicht so, als werde am Ende jedes Teiles ein ernster dichterischer Abschluß der undichterischen Komik aufgedrängt? „Komik" ist allerdings wohl nicht das rechte Wort. Wir wiesen nach, daß die an sich humoristische Darstellungsmethode von Meursaults täglichem Leben eine verfremdende, verdinglichende Wirkung hat. Es gibt einen stilistischen Begriff, der diese Prozedur genau bezeichnet: der ganze Erste Teil vor der Strandszene ist ein Modellfall des Grotesken in der modernen Literatur. Wolfgang Kayser definiert das Groteske geradezu als „die entfremdete Welt" und betrachtet es als eine Form der Tragikomik — eines melange des genres also, der nur ein spezifischer Aspekt einer allgemeinen Tendenz zur Vermischung gegensätzlicher Bereiche ist. Diese Vermischung zeigt sich im Fremden aufs klarste. So deutet die Geschichte des alten Salamano und seines Hundes kurz die Vermengung des Menschlichen und des Tierischen an, die fast eine der historischen Konstanten dieser Stilart ist. Vor allem aber herrscht die unheimliche Konfusion des Menschlichen mit dem Dinghaften vor. „Das Mechanische verfremdet sich, indem es Leben gewinnt; das Menschliche, wenn es sein Leben verliert" 51 : trifft dieser Satz Kaysers nicht ganz auf Meursaults Leben in Algier zu? Und mehr noch auf das Symbol dieses Lebens, die „kleine Automatin", welche in ihrer 51
Wolfgang Kayser, Das Groteske (Oldenburg und Hamburg, 1957), S. 197. D a s vorige Zitat steht auf S. 198.
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Erste Variation: Der Fremde
pseudo-vitalen Marionettenhaftigkeit geradezu ein Prototyp der Groteske ist? Was die Prozeßszene mit allem Drum und Dran betrifft, so stellten wir sie unter die Rubrik der Parodie. Der Streitfall, ob die Parodie auch als Groteske betrachtet werden könne, ist für unsere Zwecke eine unerhebliche Definitionsfrage; doch neigen wir in unserem Zusammenhang zu einer bejahenden Antwort, weil sie im Zweiten Teil des Fremden (obgleich sie dem Komischen schon näher kommt) immer noch tragikomisch ist52. Bei Dostojewski spielt das Groteske oft eine wichtige Rolle, besonders in den Dämonen;
in den Brüdern Karamasoff
bleibt es je-
doch marginal. Es erscheint hauptsächlich am Anfang in der Charakterisierung des alten Fedor und ist nicht mehr als eine Art ins Unheimliche abgleitendes comic relief. Bei Camus jedoch ist diese Stilform mit dem Wesen und der Struktur des Werkes eng verwoben. Jeder der beiden Teile ist eine Abart des Grotesken, welcher der tragische Ernst am Ende aufgestempelt wird. Es ist ein außerordentlicher Glücksfall, daß der nächste von uns zu besprechende Schriftsteller zu der endgültigen Deutung dieser Struktur beitragen kann. Die Tragödie (so erklärt Friedrich Dürrenmatt in seinem aus dem Jahre 1954 stammenden Vortrag „Theaterprobleme") gehöre der Vergangenheit an, denn sie setze eine gestaltete Welt voraus, deren gegebene Distanz sie durch Vergegenwärtigung verringere. Unsere Welt hingegen sei gestaltlos, sie erfordere die distanzschaffende und so das Chaotische zur Form bringende Komödie. Dabei 52
Reinhold Grimm („Parodie und Groteske im Werk Dürrenmatts'', S. 94—95 in Der unbequeme Dürrenmatt, Basel/Stuttgart 1962) kritisiert Kaysers Begriff sbestimmung des Grotesken als zu eng. Das Groteske sei nidit nur (wie bei Kayser) Bannung des Dämonischen, sondern audi vitale Lust am Parodieren. Diese beiden Formen entsprechen mehr oder weniger den zwei Teilen des Fremden, nur ist es zweifelhaft, ob sie bei Camus als resp. „dämonisch" und „vital" bezeichnet werden können. Die Wahrheit ist, daß jeder Autor seine eigene Atmosphäre hat; Grimms Definitionen sind stark auf Dürrenmatt eingestellt. Aber wir übernehmen im Folgenden mit Dank die Verbindung, welche Grimm zwischen den beiden Typen und den von Dürrenmatt selbst formulierten Kategorien des Gestaltlosen und des Vorgeformten hergestellt hat.
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sei darauf hingewiesen, daß Dürrenmatt unter „Komödie" auch und vor allem die Groteske versteht, die er als „sinnliches Paradox" definiert, als „die Gestalt nämlich einer Ungestalt, das Gesicht einer gesichtslosen Welt"53. Natürlich denkt ein Autor vornehmlich an sein eigenes Schaffen, und was dem Schweizer Dramatiker hier vorschwebt, hätte wohl in der Praxis nur wenig mit dem Ersten Teil des Fremden gemein. Trotzdem trifft seine Beschreibung auf Camus' verdinglichende Groteske zu — auf diese Stilisierung des Banalen und Sinnlosen, in der die metaphysische Verfremdung distanzschaffend zur ästhetischen wird. Andererseits schreibt Dürrenmatt: „Unsere ungeformte, ungestaltete Gegenwart ist dadurch gekennzeichnet, daß sie von Gestalten, von Geformtem umstellt ist, die unsere Zeit zu einem bloßen Resultat, weniger noch, zu einem Übergangsstadium machen . . . a54 . Damit weist er auf das erdrückende Gewicht sich überlebender traditioneller Formen hin, das Thomas Manns Komponisten Adrian Leverkühn zum Teufelspakte trieb. Zum Teufelspakt und zur Parodie, und wenigstens auf letzterem Wege folgt ihm Dürrenmatt — und der Autor des Fremden, dessen Zweiter Teil ja eine parodistische Darstellung herkömmlicher Formen ist. Die Formung des Gestaltlosen und die Nachformung des Allzugestalteten: eine präzisere Formel für die beiden Arten der Groteske bei Camus ließe sich nicht finden! Wie steht es aber mit dem Tragischen? Dürrenmatt erklärt, es sei „immer noch möglich, auch wenn die reine Tragödie nicht mehr möglich ist. Wir können das Tragische aus der Komöde heraus erzielen, hervorbringen als einen schrecklichen Moment, als einen sich öffnenden Abgrund . . D i e griechischen Mythen jedoch seien „für uns, da wir sie nicht mehr erleben, sondern begutachten, erforschen, sie eben als Mythen erkennen und damit vernichten, Mumien geworden . . ,55. Ist Camus' Experimentieren mit der Tragik, trotz seiner Konzentration auf die 63
64 66
Friedrich Dürrenmatt, Theater-Schriften und Reden (Zürich, 1966), S. 122. Auch die beiden vorhergehenden Seiten von Dürrenmatts Studie sind wichtig. Ebd., S. 126. Zwei Seiten später präkonisiert er dann die Parodie. Ebd., S. 122—123, 127.
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Erste Variation: Der Fremde
Moderne, doch noch zu sehr auf diese toten Mythen eingestellt? Sein Versuch einer nichtparodistischen Wiederassimilierung des Tragischen sieht wie die mißlungene Wiedererweckung einer einst gegebenen, aber nicht mehr aktiven Bedeutung aus, wie die Aufoktroyierung in sich zerrissener alter Formen. Die Tragödie wird nicht blitzartig aus der Komödie (lies: Groteske) heraus erzielt, sie wird ihr sorgfältig auferlegt. Die Stilreinheit der beiden Abschlüsse ist an die vorhergehende Stilmischung angehängt — wie eine Bedeutung, welche es nicht mehr gibt. Doch wäre es falsch, diesen Tatbestand einfach als künstlerischen Echec des Autors zu werten. Selbst Dostojewski wandelte ja auf diesen Wegen. Sehen wir darin lieber ein Symptom der Fragwürdigkeit des Künstlerischen überhaupt in unserer Zeit. Auch Dürrenmatt will schließlich das Tragische noch einmal „hervorbringen"; das Folgende soll untersuchen, inwieweit ihm das wenigstens in einem seiner Werke gelingt.
IV. Zweite Variation: Die Panne 1. Der Ort der Panne in Dürrenmatts
Werk
Bei Dürrenmatt finden wir keine Anzeichen, daß er in irgendeiner Weise von Dostojewskis oder Camus5 Prozeß „beeinflußt" worden wäre. Wir brauchen sie auch nicht. Schon seine oben zitierten Äußerungen zeigen, wie nahe sein ureigenes Denken der von uns hier untersuchten Thematik steht. Ein Blick auf sein literarisches Werk macht das noch klarer. Recht und Unrecht, Gesetz und Verbrechen, Schuld und Sühne — das sind Themen, die von Anfang an in den verschiedensten Abwandlungen immer wieder in seinen (meist dramatischen) Schriften erscheinen. Zu einer vollen Gerichtsszene kam es allerdings bisher nur in der zuerst 1956 gedruckten Panne66, einem seiner relativ wenigen erzählerischen Werke. Das Beispiel ist aber von besonderer Bedeutsamkeit — und zwar nicht nur, weil es sich um eine von Dürrenmatts vollkommensten künstlerischen Schöpfungen handelt. „Kaum ein Thema ist so sehr das unsrige wie gerade das der Panne", schreibt Elisabeth BrockSulzer. „Aber kaum ein Thema ist audi so sehr fähig, seine innere Verwandtschaft mit den großen Themen Europas aufzuzeigen" 87 . Es kommt hinzu, daß diese Erzählung im Werk des Autors einen besonders wichtigen, gewissermaßen strategischen Platz einnimmt. 50
67
Unverständlicherweise erkennt Hildegard Emmel das nicht. Sie bespricht die Panne als Beispiel des „Selbstgerichts" (aaO., S. 1 6 6 — 1 6 7 ) — eine Rubrik, die natürlich nicht falsch ist, aber viel zu eng, um die Bedeutung des Werkes auch nur annähernd zu erfassen. Elisabeth Brock-Sulzer, Friedrich Dürrenmatt. Stationen seines Werkes (Zürich, 1964), S. 218.
6 Holdheim, Justizirrtum
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Zweite Variation: Die Panne
„Wie besteht der Künstler in einer Welt der Bildung, der Alphabeten? Eine Frage, die mich bedrückt, auf die ich noch keine Antwort weiß. Vielleicht am besten, indem er Kriminalromane schreibt, Kunst da tut, wo sie niemand vermutet. Die Literatur muß so leicht werden, daß sie auf der Waage der heutigen Literaturkritik nichts mehr wiegt: Nur so wird sie wieder gewichtig"58. Diese Schlußworte der „Theaterprobleme" klingen wie eine paradoxe, edit Dürrenmattsche, halb scherzhafte Boutade. Doch hatte der Autor zur Zeit dieses Vortrags schon mit der Veröffentlichung eben soldier Kriminalromane begonnen. Zwar war es zunächst nur Brotarbeit; trotzdem haben alle diese Werke nicht nur literarischen Wert, sondern auch jenes Schweben zwischen Leichtigkeit und Schwere, das hier verlangt wird. Letzteres gilt übrigens auch für die Panne, die zusammen mit drei Kriminalromanen das Gros von Dürrenmatts epischem Werk bildet. Die Kriminalgeschichte und der Prozeß: das sind gerade die beiden Formen, deren Parallelität wir bei unserer einführenden Themabestimmung hervorhoben. Und es erstaunt uns nach alledem kaum noch, wenn wir feststellen können, daß Dürrenmatts Behandlung beider Themen mit haarscharfer Genauigkeit auf die von uns umrissene Problematik abzielt: die Deutung, Mißdeutung und daher Fragwürdigkeit der Realität. „Der Kriminalist hat die Pflicht, die Wirklichkeit in Frage zu stellen"59: dieser Ausspruch des Kommissars (Verzeihung: Kommissärs) Bärlach hätte zum Epigraphen unserer Studie werden können, wenn diese sich mit der Kriminal- anstatt mit der Gerichtsliteratur befaßt hätte. Es ist bedeutsam, daß in der Person Bärlachs (des Helden der beiden ersten Kriminalromane) die Figur des Detektivs mit der des Richters verschmilzt und daß Matthäi (der Held des letzten) Jurist ist — während umgekehrt der Staatsanwalt in der Panne sich auch als genialer Detektiv entpuppt. Uberhaupt bringt uns schon die Lektüre der drei „Krimis" sofort in eine Begriffswelt hinein, die der uns hier beschäftigenden Sphäre von Dostojewski, CaM 69
Friedrich Dürrenmatt, Theater-Schriften und Reden, S. 131. Friedrich Dürrenmatt, Der Verdacht (Einsiedeln, Zürich, Köln, 1953), S. 56.
Der Ort der Panne in Dürrenmatts Werk
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mus und Gide verblüffend ähnelt. D a gibt es strenge Indizienbeweise, Monumente der sinnvollen Notwendigkeit, die von der immer drohenden Gratuität des Geschehens durchkreuzt werden — vom Einfall und vom Zufall, von der inneren und äußeren Kontingenz. Gastmann in Der Richter und sein Henker (dem ersten der drei Werke) ist eine Kreatur des Chaos, eine Verkörperung der Freiheit des Nichts. Eine Wette machte ihn zum Verbrecher. Aus Übermut und bloßer Laune sowohl des Guten wie des Bösen fähig, ist er eine ausgesprochene Lafcadio-Figur. Emmenberger (im als nächstes folgenden Verdacht) ist ein philosophischerer Vertreter des Bösen, doch auch seine Verbrechen sind Äußerungen einer chaotischen Freiheit. Negavitierte actes gratuits sind seine Folterungen, ins Furchtbare umgechlagene „vollkommene" Augenblicke, in denen die reine und unberechtigte Kontingenz sich ihrer bewußt wird: ähnelt er nicht dem Caligula Camus'? Und die Tat im Versprechen (ein Lustmord, der sich schon ipso facto der Berechnung zu entziehen droht) bleibt ungesühnt, weil der Schuldige durch einen dummen Zufall ums Leben kommt. Die Vernunft kann dieser Wirklichkeit immer schwerer beikommen. Bärlach (wie später Matthäi) repräsentiert die Verstehbarkeit des Geschehens. Seine Kombinationen im Richter sind sehr präzis, und die Realität erweist sich im großen Ganzen als recht manipulierbar: insofern ist das Buch noch ein „gelungener" Kriminalroman. Doch ist es bezeichnend, daß der Kommissar den Fall gewissermaßen unoffiziell löst (er hat Krankenurlaub, und seine tödliche Krankheit ist natürlich symbolisch zu werten) und daß er Gastmann sowie den Mörder nur regelwidrig zur Strecke bringen kann. Im Verdacht bleiben Bärlachs Deduktionen weiterhin richtig. Ja, sogar der Verbrecher wird vorübergehend zum Dedektiv und bedient sich erfolgreich der deduktiven Vernunft, um die Mitwisserschaft des Arztes Hungertobel an seiner wahren Identität festzustellen. Bärlachs endgültiger Erfolg wird hier jedoch noch zweifelhafter. Diesmal ist er gänzlich verkrüppelt, pensioniert und dem Tode nahe. Er ist denn auch seinem Feinde vollkommen ausgeliefert, und es bedarf eines deus ex machina (des geheimnisvollen „Richters aus eigenen Gesetzen" Gulliver), um ihn 6*
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zu retten. Das Ende hat mit einem Kriminalroman nichts mehr zu tun60. Was Matthäis Spekulationen im Versprechen betrifft, so sind sie geradezu genial, wodurch das Ende der Geschichte noch antiklimaktischer wird. Uberhaupt ist Matthäi eine extreme Konstruktion — ein reiner Intellektueller, der alles Menschliche von sich fernhält und die Welt wie ein Techniker verstandesmäßig beherrschen will. So wird er der Prototyp des Kriminalisten und das Buch (wie Dürrenmatt selbst im Nachwort sagt) „eine Kritik an einer der typischsten Gestalten des neunzehnten Jahrhunderts"®1. Der Detektiv ist hier ein Held, der auf der Suche nach dem Absoluten alle Grenzen überschreitet und den Zufall nicht anerkennt — ein tragischer Held, wie es scheint, dessen Hybris durch geistige Umnachtung gestraft wird62. So können wir durch Dürrenmatts Kriminalromane hindurch chronologisch verfolgen, wie die Deutung und Beherrschung der Ereignisse in zunehmendem Maße unmöglich wird. Diese philosophische Problematik ist gleichzeitig eine bewußt literarische, wie wir es von Dostojewski und Camus her schon gewöhnt sind. Das ist bereits im Richter ganz klar angedeutet. Da ist ein Schriftsteller, der in einem Gespräch mit Bärlach den Gedanken ausspricht, daß Gastmann nur ein Bild „unserer Träume" sei. „Unserer" heißt vor allem seiner und Bärlachs, aber das bleibt sich gleich: auch der Schriftsteller ist ja ihm zufolge „eine Art Polizist", dessen Beruf es ist, „den Menschen auf die Finger zu sehen"63. Der Autor steigt in sein Werk hinein und gibt indirekt zu, es erfunden zu haben: ein typischer Fall selbstkritischer Literatur. Er gleicht dem Kriminalisten, weil auch er aus den separaten Gegebenheiten des Lebens eine zusamenhängende Geschichte machen muß. So wird der Kri60
81 62
63
Vgl. Brock-Sulzer, aaO., S. 193. Ein „Richter aus eigenen Gesetzen" wird der halbmythische Jude Gulliver auf S. 40 des Verdachts genannt. Friedrich Dürrenmatt, Das Versprechen (Zürich, 1958), S. 244. Elisabeth Brock-Sulzer (aaO., S. 202) betont das tragische Wesen Matthäis und sieht in ihm audi ein Beispiel eines schuldlos Schuldigen, da ja das Denken ein eingeborenes Gesetz des Menschen sei. Friedrich Dürrenmatt, Der Richter und sein Henker (Reinbek bei Hamburg, 1955), S. 104, 101.
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minalroman zum Paradigma des Romans überhaupt, und die allmähliche Auflösung der Gattung bei Dürrenmatt ist eine radikale Infragestellung der Schriftstellerei. Die Rahmenerzählung des Versprechens ist ein noch frappanteres Beispiel ironischer Literatur. Der Autor hält einen Vortrag über die Kunst, Kriminalromane zu schreiben (wobei das Wort „Kunst" beachtet werden muß). Am gleichen Abend spricht Emil Staiger über den späten Goethe — ein Gegensatz und eine Koinzidenz, wodurch zugleich die „Leichtigkeit" des Kriminalgenres und seine echte „Literarischkeit" hervorgehoben wird. Nach der Rede trifft der Autor einen Kriminalisten, der ihm die Geschichte als wahre Begebenheit erzählt — um zu beweisen, daß die Wirklichkeit den Anforderungen und Gesetzen der Erzählkunst nicht entspricht. Die Entwicklungslinie von Dürrenmatts Kriminalromanen stößt ins Leere. Der letzte ist eine Nichtgeschichte, wie sein Untertitel anzeigt: „Requiem auf den Kriminalroman". Und demgegenüber steht nun als auffallender (bestimmt gewollter) Kontrast Dürrenmatts einzige volle Auswertung des verwandten Prozeßthemas mit dem Untertitel: „Eine noch mögliche Geschichte". Aus dieser Perspektive heraus müssen wir die Panne sehen; ihr zentraler Ort in Dürrenmatts Werk bedarf keines weiteren Belegs.
2. Der Prozeß als dramatisches Spiel a) Die Redramatisierung des Stoffes Ein Vortrag über die Kunst des Kriminalromans . . . Dürrenmatt hält ja überhaupt viele Vorträge. Er versäumt keine Gelegenheit, sich über die Literaturwissenschaftler und Theoretiker zu mokieren; umso pikanter ist es, daß er unaufhörlich soviel intelligent Theoretisches von sich gibt. Gerade in der Panne ist das augenfällig. Ihr geht ein Vorwort über die Situation des Schriftstellers in unserer Zeit voran, das aber trotz seines theoretischen Charakters or-
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ganisch zur Erzählung gehört. Die Begriffswelt dieses Exkurses ist wieder die unsrige. Wie ist eine Geschichte heutzutage noch möglich? Die Welt ist formlos, anscheinend ungestaltbar; Notwendigkeit und Zufall sind getrennt. Im Zeitalter der Atombombe und der Elektronik lauert das Schicksal hinter den Kulissen: der Mensch ist ein Spielball von Gewalten, die so maßlos und erdrückend sind, daß künstlerische Formung sie nicht mehr erfassen kann. Im Reiche des Menschlichen dagegen herrscht der Alltag, die pure Kontingenz. Da „droht kein Gott mehr, keine Gerechtigkeit, kein Fatum wie in der fünften Symphonie, sondern Verkehrsunfälle, Deichbrüche infolge Fehlkonstruktionen" usw. „In diese Welt der Pannen führt unser Weg, an dessen staubigem Rande nebst Reklamewänden für Ballyschuhe, Studebaker, Ice-creme und den Gedenksteinen der Verunfallten, sich noch einige mögliche Geschichten ergeben, indem aus einem Dutzendgesicht die Menschheit blickt, Pech sich ohne Absicht ins Allgemeine weitert, Gericht und Gerechtigkeit sichtbar werden, vielleicht audi Gnade, zufällig aufgefangen, widergespiegelt vom Monokel eines Betrunkenen"64. Damit werden der Sinn und viele Themen der Erzählung vorweggenommen, die so gewissermaßen zur Illustrierung des Gesagten wird. Umgekehrt (und wohl genauer ausgedrückt) verdichtet sich hier die generelle Ausführung unmerklich zur konkreten Geschichte („Unfall, harmlos zwar, Panne auch hier": so fängt sie an). Wir haben die Panne, das Symbol des bloßen Zufalls; auch der Mörder im Versprechenfielja einem Verkehrsunfall zum Opfer. Vor allem befinden wir uns schon in der Szene des Anfangs: auf der Autostraße in ihrer vulgären kommerziellen Alltäglichkeit. Wir sind bereits in der Welt des studebakerfahrenden Textilreisenden Alfredo Traps. Die Welt dieses „Zeitgenossen" (15) ist hoffnungslos banal. Alles dreht sich um die fünf Prozent, die er erhäschen könnte. Ein typisches Produkt der Konjunktur, steht er mitten im rauhen Geschäftsleben und ist stolz, daß er sich darin mit Hilfe seiner EllFriedrich Dürrenmatt, Die Panne (Zürich, 1959), S. 11—12. Künftige Referenzen im Text.
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bogen emporgearbeitet hat. Auf Intellektuelle glaubt er herabblicken zu dürfen. Sein recht ausgebreitetes Liebesleben ist ein genaues Abbild seines allgemeinen Wandels: es gibt gelegentliche Ehebrüche, vor allem mit Dienstmädchen, die Geschäftsreisende vorübergehend zu würdigen wissen. „Wenn mir mit Weibern etwas Außereheliches passiert", gesteht er mit gemachter und doch unbewußt naiver Bescheidenheit, „so nur zufälligerweise und ohne Ambition" (38). Nichts Romantisch-Außerordentliches liegt darin, nichts Ambitiöses. Der Zufall herrscht, seine Geliebten sind (wie das Französische es treffend ausdrückt) des bonnes fortunes. Uns muß auffallen, daß all dies sich nur in seinen Worten und Gedanken zeigt. Durch ihn selbst hören wir von seinem „alltäglichen . . . , kommunen Leben" (39), welches ja auch die Geschichte seines Aufstiegs umfaßt. Sein Alltag wird nicht unmittelbar dargestellt, in bedeutsamem und folgendschwerem Gegensatz zu dem Meursaults. Das Banale, Ungestalte wird nicht, wie im Fremden, etwa durch Uberbanalisierung doch gestaltet — es wird gewissermaßen als Folie nachträglich heraufbeschworen. Distanz ist zeitlich gegeben und wird nicht durch Stilisierung erreicht. Das Nichtliterarische wird nicht paradoxerweise literarisiert, es bleibt am Rande der Literatur — während umgekehrt letztere, dem Vorwort getreu, „am staubigen Rande" des gewöhnlichen Lebens auftaucht. Das hat die wichtige formale Folge, daß der Prozeß das ganze Buch ausfüllt. Dürrenmatts Werk bricht mit der Doppelstruktur der beiden vorhergehenden Versionen unseres Themas. Die Dualität von Geschehen und Analysis ist verschwunden, nur die Analysis ist geblieben. Dostojewski und Camus konfrontieren eine (ideal epische) Darstellung der Fakten mit ihrer (ideal dramatischen) Deutung und Mißdeutung; bei Dürrenmatt (wie im ödipus) ist wieder „alles... schon da, und es wird nur herausgewickelt"®5. Am Ende unserer Untersuchung finden wir eine radikale Redramatisierung des Stoffes, eine Rückkehr zu traditionellen Formen. Die Panne ist fast ein Modellfall der Novelle, dieser durchformtesten Untergattung des Erzähle05
Schiller; s. Anmerkung 20.
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rischen, in der sich alles auf einen frappanten Höhepunkt zubewegt und die daher dem Drama am nächsten kommt. Dieser dramatische Charakter zeigt sich schon darin, daß Dürrenmatt selbst die Novelle später in ein Hörspiel umgearbeitet hat, und ein anderer Schriftsteller sogar in ein Theaterstück6®. Die Dramatisierung beschränkt sich nicht auf die globale Struktur des Werkes. Wenden wir uns der Analysis zu. Hier haben wir alles, was zu einem Prozeß gehört: einen Richter, einen Staatsanwalt, einen Verteidiger und sogar einen Henker. Der Angeklagte ist natürlich Traps. Die einzige zusätzliche Person ist die Haushälterin, welche man sich vielleicht als Gerichtsdienerin vorstellen könnte. Schon diese Konzentrierung auf das Unerläßliche, diese Exklusion des Publikums jenseits der Rampe ist durchaus theaterhaft-dramatisch. Außerdem erscheint das Benehmen der Beteiligten nicht mehr ridikül, wie bei Camus: hier herrscht wieder die Virtuosität der Vernunft. Im Gegensatz zu den Brüdern Karamasojf ist jedoch der Staatsanwalt der Überlegene. Dabei tut der Verteidiger, was er kann: Dieser Durchschnittsmensch [Traps] sei gänzlidi unvorbereitet einem raffinierten Staatsanwalt in die Hände gefallen. Sein instinktives Walten und Schalten in der Textilbranche, sein Privatleben, all die Abenteuer eines Daseins, das sidi aus Geschäftsreisen, aus dem Kampf um den Brotkorb und aus mehr oder weniger harmlosen Vergnügungen zusammengesetzt habe, sei nun durchleuchtet, durdiforscht, seziert worden, unzusammenhängende Tatsachen seien zusammengeknüpft, ein logischer Plan ins Ganze geschmuggelt, Vorfälle als Ursachen von Handlungen dargestellt worden, die auch gut hätten anders geschehen können, Zufall hätte man in Absicht, Gedankenlosigkeit in Vorsatz verdreht, so daß schließlich zwangsläufig dem Verhör ein Mörder entsprungen sei wie dem Zylinder des Zauberers ein Kaninchen.
(108—109) Er spricht ganz im Sinne Fetjukowitsdis; und wie der Moskauer Anwalt hat er recht. Doch verschwindet er neben dem Ankläger 60
Das Hörspiel datiert von 1961 und wir werden darauf zurückkommen. Das Werk wurde in den Vereinigten Staaten für die Bühne adaptiert und in New York aufgeführt — unter dem Titel The Deadly Game, wie wir von einem Zuschauer erfuhren. Wir haben über diese Bühnenversion sonst nichts weiter ausfindig machen können. Gottlob ist sie für uns sowieso weniger wichtig, weil sie nidit von Dürrenmatt stammt.
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mit seiner genialen Kombinationsgabe. Es ist bezeichnend, daß sein Plädoyer uns gänzlich in der entdramatisierenden indirekten Rede dargeboten wird, während das direkte Zitat in der Anklagerede überwiegt. Was kann auch ein Verteidiger tun, dessen Klient sich auf die Seite der Anklage stellt und ihn mit ärgerlichen Zwischenrufen unterbricht? So triumphiert in Dürrenmatts Novelle die deutende Konstruktion nicht nur de facto, sondern auch qualitativ. Der Dutzendmensch wird eindeutig zum Schwerverbrecher. Seinen Chef Gygax soll er umgebracht haben — ist das nicht so etwas wie ein Vatermord? Und wenn wir sein Verhältnis mit Gygaxens Frau in Anschlag bringen wollen, dann ist sogar das Inzestthema nicht allzu fern . . . Die dramatische Spannung wird durch die Unterlegenheit des Verteidigers nicht sehr gemindert. Einen Unterlegenen gibt es eigentlich immer, und wir sind auf die Resultate des Verhörs doch neugierig. Auch die Tatsache, daß alles nur ein Gesellschaftsspiel ist, tut der Intensität des Geschehens keinen ernsten Abbruch. Ja, der ganze Prozeß ist nur ein Spiel; die Konstruktion des Staatsanwalts beansprucht nie, mehr als eine Hypothese im Sinne Fetjukowitschs zu sein. Eine Stimmung der Heiterkeit herrscht vor. Das Verhör ist eigentlich ein Bankett. Das Gericht ist ein spezielles, fingiertes, kein gewöhnliches: Kafkas Formel wird hier ins Spielerische verwandelt. Es tagt denn auch nicht in schmutzigen Mietskasernen, sondern in einer schönen Villa, am Rande der Straße und der modernen Welt. b) Die Welt der Villa Eigentlich ist die Marginalität des Hauses eher zeitlich als geographisch. Innerhalb unserer ungestalteten Periode ist es eine Enklave der Vergangenheit; darauf weist schon das hohe Alter der pensionierten Herren hin, die dort ihre früheren Berufe spielen. Außer Pilet, dem Henker, sind sie alle vornehm und haben Lebensart — in krassem Gegensatz zu ihrem zeitgenössischen Besucher, dem Emporkömmling Alfredo Traps. Sie sind gebildet und zitieren
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die Klassiker. Den griechischen Gott Hephaistos kennen sie, nicht aber den von Traps vertretenen neuen Kunststoff Hephaiston. Die Einrichtung der Villa ist altmodisch und solide. Die Bilder an den Wänden stellen Szenen aus der nationalen Geschichte dar. Die Vorliebe der Herren fürs Geschichtliche äußert sich auch darin, daß sie gern die großen historischen Prozesse durchnehmen. Die Mahlzeit mit ihren vielen erlesenen Speisen und Weinen ist ein wahres Festessen, „ein Menü wie aus dem vorigen Jahrhundert, da die Menschen noch zu essen wagten" (45). Wir sind in einer verschollenen patrizischen Welt, die noch eine gegebene Form und Distanz hat — eine Distanz, die sich uns und Traps gegenüber als zeitliche darstellt. Ist sie das aber wirklich, repräsentiert das Haus des Richters vergangene Zeiten? Eher den Traum einer Vergangenheit, die niemals ganz so war. So wie hier haben diese Juristen ihren Beruf bestimmt nie ausgeübt, „ohne Rücksicht auf die lumpigen Gesetzbücher und Paragraphen" (51). Niemand fällt im wirklichen Leben so mit seiner Tätigkeit zusammen. Sogar ihre Namen (wie „Zorn" und „Kummer") drücken letztere aus: die Bewohner des Hauses bewegen sich in einer Welt der Essenz. Nicht Individuen sind sie, sondern Typen, ein für allemal in ihrer Wesenhaftigkeit erstarrt und ins Gigantische erhoben. Erstarrt, ja versteinert: wie so oft bei Dürrenmatt ist das Alter hier keine zeitliche Dimension mehr, sondern eine Verkörperung der Zeitlosigkeit67. Diese Alten haben sich (wörtlich genommen) überlebt und sind dem Werden entzogen. Dem Werden und dem Tode, denn ihr Spiel hat sie von ihren Krankheiten geheilt. So vermutete man einst Krebs beim Richter, die Krankheit jener anderen alten Richterfigur Bärlach; doch im 67
Die klarste Parallele in Dürrenmatts Werk ist das Drama 5ei«cb der alten Dame. Dort ist es jedoch umgekehrt die zeitlose Welt einer ins Groteske abgewandelten Tragödie, die in der Gestalt der Ciaire Zachanassian von außen ins alltägliche Leben einbricht. Außerdem hat diese alte Dame beileibe nichts Spielerisches. In Gides Icherzählung Isabelle finden wir (wenn auch in ganz anderem Zusammenhang) eine der Villa des Richters nicht unähnliche Enklave, worin ein grotesk petrifiziertes Alter herrscht.
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Hause des Gerichtsspiels kann die Justiz nicht kranken. Krebs ist ein Zufall, eine Panne; Pannen gibt es hier aber nicht68. Was ist das nun für eine ideale zufallslose Welt, wo Sein und Wesen sich zeitlos decken, wo (im Gegensatz zur Domäne von Dürrenmatts Frank V) „die Gerechtigkeit rentiert"? Natürlich die der Kunst. Eine „private Justiz" vertreten die Herren (57): das ist wie die Konstruktion des Künstlers, der aus seiner „privaten" Imagination heraus und in seiner individuellen Schöpfung die Welt zur Perfektion gestaltet. Die Wirklichkeit ist ihm nur Rohmaterial zur Assimilierung, Idealisierung, Essenzialisierung; daher sehen die vier Alten Traps wie einen „speziellen Leckerbissen" an (39). Die Gleichsetzung des Kulinarischen (das natürlich das Ästhetische überhaupt symbolisiert) und des Gerichtlichen ist bei Dürrenmatt nichts Neues, obgleich es in dieser Erzählung seinen Höhepunkt erreicht. Wir verstehen jetzt, warum sich Bärlach im Richter mit dem Autor dreiviertel Stunden lang über Kochkunst unterhält. Nicht nur ist der Schriftsteller eine Art Polizist; letzterer ist umgekehrt auch ein Künstler. Desgleichen der Jurist im Bereich der Panne. Die Distanz zwischen der Villa und unserem Leben ist letzten Endes doch nicht relativ zeitlich, sie ist absolut. Es ist die Entfernung zwischen Essenz und Existenz, worin sich das typisch moderne Bewußtsein der Diskrepanz zwischen Kunst und Leben ausdrückt. Doch hat es mit dem Villenbereich einen Haken; trotz aller Idealität ist er nicht bare Schönheit und Symmetrie. Die alten Herren sind „verschmiert und verwahrlost", wenn ihre Kleidung auch von bester Qualität ist (25). Traps sieht zu weite Gehröcke und falsch geknöpfte Westen. Der Verteidiger, ein Herr mit einem altmodischen Zwicker, trägt ein Nachthemd unter dem Anzug. Der 88
Gerade der Riditer stellt in seiner Urteilsverkündung diese Beziehung ausdrücklich heraus: „Was beim Bürger, beim Durchschnittsmensch [j/'c] als Zufall in Erscheinung trete, bei einem Unfälle, oder als bloße Notwendigkeit der Natur, als Krankheit, als Verstopfung eines Blutgefäßes durch einen Embolus, als ein malignes Gewädis . . . " usw. (S. 115). „Notwendigkeit der Natur" ist nicht als Notwendigkeit im ästhetischen Sinne zu deuten; sie ist hier mit dem „Zufall" gleichbedeutend. Wir sehen deutlich, daß audi Gygaxens zum Mord umgedeuteter Herzinfarkt in diese Kategorie gehört.
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Staatsanwalt trägt ein vorsintflutliches Monokel und zwei verschiedene Socken; er gleicht einem „verwitterten barocken Monument" (88). Das ganze Patriziertum hat einen Riß. Audi das Haus hat etwas Museales; es ist mit Möbeln genau so überladen wie der Tisch mit Käsesorten, Fleischgerichten, Weinen. Man wird an den Laden des Antiquars und an Taillefers Bankett in Balzacs Chagrinleder erinnert, jene Symbole einer alexandrinischen Spätkultur. Diese rein quantitative Aufhäufung ist nicht mehr Form sondern drohende Formlosigkeit, ein typisches Kennzeichen der Dekadenz. Man fragt sich überhaupt, ob es den Hausbewohnern nicht eher darum geht, viel als gut zu essen. Die Mahlzeit ist eine Orgie, die an Bärlachs Galgenmahl mit seinem Opfer Tschanz gemahnt. (Eine vergleichende Studie kulinarischer Orgien in der Literatur, von Petronius via Rabelais und Balzac bis Dürrenmatt und vielleicht Marguerite Duras, wäre übrigens erwünscht). Mit Traps staunen wir über diese „Vitalität und Gefräßigkeit" (77). Vitalität? Das Wort gibt bei näherem Hinsehen doch zu denken. Eher haben wir hier mit Statuen zu tun, welche die Funktionen des Lebens gierig und übertrieben imitieren — mit gigantischen Pervertierungen Peeperkorns aus dem Zauberberg. Es ist mit anderen Worten das Groteske, das diesen neuen „Zauberberg" beherrscht. Das wird an zahlreichen Stellen offenbar. So spricht der Autor von den „kauzigen" Gastgebern, die den Raum „wie ungeheure Raben" füllen (24—25), und von ihren „starren, vogelartigen Augen" (39). Der Richter redet geradezu von seiner „grotesken, schrulligen, pensionierten Gerechtigkeit" (114). Einmal wirft er „laut meckernd und fauchend" mit den Händen „die abenteuerlichsten Schattenbilder an die Wand", „Ziegen, Fledermäuse, Teufel und Waldschrate"69. Auch vorher schon hatte manches Traps erschreckt. Doch selbst das Gruseln, das ihn manchmal befällt, ist letzten Endes Spielerei. Im Ganzen dominiert das Komische, nicht das Dämonisch-Unheimliche; das Signum dieser Groteske ist eine übermütige (wenn auch etwas gespenstische) Heiterkeit. Und ihre 09
S. 69. Grimm (aaO., S. 80) zitiert diesen Passus als klares Beispiel der Groteske im Sinne Kaysers.
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Funktion ist ganz anders als im Ersten Teil des Fremden. Dort war sie wirklich die paradoxe Gestaltung des Gestaltlosen und eigentlich Ungestaltbaren, „das Gesicht einer gesichtslosen Welt". In der Panne ist sie im Gegenteil die Gesichtslosigkeit, welche durch das Gesicht hindurchschimmert — die Ungestalt, die dem scheinbar Gestalteten zugrunde liegt. Sie zeigt die Brüchigkeit der noch gegebenen Form und Distanz — das Uberlebte in dem, was sich als Lebendes gebärdet. Sie dient einem ähnlichen Zweck wie die parodistische Entwertung des Dramatischen in der Prozeßszene Camus'. Die Funktion mag dieselbe sein, nicht aber die Methode. Das Groteske in der Panne ist nicht Nachformung, sondern Deformierung des Vorgeformten; es kommt von innen, nicht von außen. Es verkörpert eine künstlerische Idealität, die sich nicht mehr ernst nehmen kann und sich aus sich selbst heraus zerstört. Dies wird im Verlauf der Verhörsorgie vollends deutlich. Die Lebensart löst sich zusehends auf; man schmatzt, schlürft, leckt sich die Finger und wird immer betrunkener. Schließlich verschwindet alle Distanz, wenn man sich umarmt, küßt und Brüderschaft trinkt. Eine zwiespältige Entwicklung geht vor sich; der konstruierende Prozeß ist gleichzeitig ein zerstörender. Je strenger die Anwesenden das Leben des Textilreisenden zur geschlossenen Form umdeuten, umso mehr geht ihnen selbst die „gute Form" verloren: ein ironischer Widerspruch, der noch einmal das Spielerische des Prozesses und seine innere Brüchigkeit unterstreicht. Gestaltung und Auflösung erreichen zusammen ihren Höhepunkt: im Augenblick, wo sich die Beweiskette schließt, bricht völliges Pandämonium los (88) — und bei der genau fundierten Urteilsverkündung kann der Richter nur noch lallen. Wie steht es nun aber mit dieser Fundierung des Urteils? Wenn wie sie mit den Urteilen in den vorher besprochenen Werken vergleichen, dann stellen wir eine noch weitergehende Aushöhlung fest. In Dostojewskis Roman und Camus* Erzählung wird die Rekonstruktion immerhin als der wahre und moralisch zu wertende Werdegang des Opfers betrachtet, obwohl sich der ästhetische Zusammenhang letzten Endes (ohne Absicht des Gerichts!) als primär
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entpuppte. In der Panne wird letzterer bewußt und exklusiv. Nicht nur ist das Gericht kein echtes: die Wahrheit wird nicht mehr gesucht. Der Riditer weiß sehr wohl, daß Traps nicht vorsätzlich gemordet hat, und verurteilt ihn nur aus Gefälligkeit zum Tode. Und moralische Kriterien liegen den Juristen schon völlig fern; hatten sie nicht bei einer vorigen Gelegenheit die pikanten Erzählungen eines Zuhälters mit voyeuristischem Wohlgefallen genossen? Bei ihnen zählt nur noch die Ästhetik, oder genauer gesagt der Ästhetizismus. In ihren Händen verwandelt sich Alfredo Traps in eine ruchlose Renaissancefigur jenseits von Gut und Böse, in einen malerischen Helden aus der Welt eines Burckhardt oder C. F. Meyer. Er ist „ein vom Schicksal Begünstigter und mit einem Verbrechen Begnadeter", sein Verbrechen hat vollkommene philosophische und technische Schönheit, und mit der Todesstrafe wird er belohnt (76 —77, 79, 103). Die Umwertung aller Werte ist eine bewußte Ästhetisierung in dieser Welt des künstlerischen Spiels. c) Die Herrschaft des Einfalls Hier wird nur gespielt — aber Traps kann das nicht zugeben. Gebannt hört er „seine stolze, kühne, einsame Wahrheit" (96). Er erkennt sein Leben als ein Kunstwerk, das der Verteidiger nicht ins Banale zurückverwandeln darf; den ambitionslosen Schlendrian seines Alltagswandelns kann er nicht mehr akzeptieren. So macht er denn zum Schrecken seiner Gastgeber Ernst aus ihrem Spiel und erhängt sich in dem hohen Augenblick, wo seine Existenz zur Essenz geworden ist. Wie bei Camus wird das Tragische dem Tragikomischen, die Stilreinheit der Stilmischung am Ende aufgestempelt. Ist diese Entwicklung hier glatter, echter, überzeugender? Hat sich die Ästhetik hier noch einmal an ihrem eigenen Schöpf hochgezogen? Das Tragische macht einen weniger komponierten Eindruck als im Fremden: es wirkt rapider, geschlossener, frappanter. Hat Traps das „Schicksal" ergriffen, von dem er angeblidi begünstigt ist? Hat er den von Dürrenmatt geforderten „schrecklichen Moment" herbeigeführt, in dem wahre Tragik aus der Komödie erwächst?
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Die Beschreibung des Selbstmordes stellt dies subtil in Zweifel. Der Schluß ist wirkungsvoll: wir sind schockiert, wenn wir den Textilreisenden im Fensterrahmen hängen sehen. Doch Schock ist nicht immer Tragik — besonders hier nicht, wo wir die Leiche zusammen mit den alten Herren entdecken und unsere Reaktion schnell in die ihrige verwandelt wird. Das Buch endet mit den Worten des Staatsanwalts, der „recht schmerzlich" ausruft: „Alfredo, mein guter Alfredo! Was hast du dir denn um Gotteswillen gedacht? Du verteufelst uns ja den schönsten Herrenabend" (120). Die Antiklimax folgt der Klimax auf dem Fuße. „Schön", „Herrenabend": wir werden in die Welt des schönen Spiels zurückversetzt; „recht schmerzlich": das Pathos wird gelindert, ja ironisch neutralisiert. Elisabeth Brock-Sulzer ist der Meinung, die Ausdrücke „um Gotteswillen" und „verteufeln" brächten trotz ihrer Abgenutztheit das Göttliche und das Dämonisdie ins Spiel70; uns scheinen sie im Gegenteil das Metaphysische zu beschwören und zu verharmlosen. Wir sprachen von „Stilreinheit", aber in Wirklichkeit wird die groteske Stilmisdiung nach dem „stilreinen" Selbstmord wieder eingeführt. Diese bewußte Untergrabung des Effekts ist nicht ein Ausdruck purer Perversität von seiten des Autors. Sie unterstreicht die Fragwürdigkeit der Tragödie, die sich hier abgespielt hat. Wie er sich auch reckt und streckt, kann der Fin-de-siäcle-Ästhetizismus nicht mit den attischen Tragikern wetteifern. Untersuchen wir Trapsens Handlung genauer. Er war betrunken, als er sie beging: die Trunkenheit symbolisiert die spontane Bezugslosigkeit, mit der er das ihm zufällig dargebotene Bezugssystem ergreift. Es fragt sich, ob ein isolierter „Moment" überhaupt einen echten inneren Zusammenhang erfassen, verkitten und überwölben kann. Der Verteidiger erklärt ganz richtig, sein das Todesurteil fordernder Klient habe auch eine „geistige Panne" erlitten (110). Die äußere Panne wird in eine innere, der erlittene Zufall in den aktiven Einfall verwandelt. Wieder stellt sich das Problem, wie Kontingenz zur Notwen70
Vgl. Brock-Sulzer, aaO., S. 222. Grimm (aaO., S. 78—79) sieht hier klarer: der Selbstmord wird ins Groteske verzerrt.
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digkeit werden kann. Entspringt letztere einem spontanen Willensakt, einem acte gratuit; kann wahre Tragik aus einem Einfall entstehen? Diese Frage dürfen wir auch (und a fortiori) an den Autor richten, um dessen Einfalle qua Autor es sich ja letzten Endes handelt. Uns will scheinen, daß er das Schicksal doch etwas gewaltsam hinter der Kulisse hervorgeholt und menschlich wieder genießbar und verdaulich gemacht hat. Wir wählen unsere Epitheta mit Vorbedacht, da ja der Schriftsteller ein kulinarischer Künstler ist. Er ist auch ein „privater" Jurist, und Dürrenmatt privatisiert in seiner Novelle auf die Tragik hin. Er ist sich übrigens des Problems akut bewußt und hat es theoretisch formuliert. Er sieht sich als Nachfolger des alten attischen Lustspiels, des Aristophanes. Dessen Kennzeichen ist ihm eben die spontane Erfindung, der „Einfall", der die tägliche Wirklichkeit zur Komödie (oder, wie er sagt, zur Groteske) gestaltet71. Wie wir schon wissen, soll daraus das Tragische hervorgehen. Ist das möglich? Der griechische Tragiker arbeitete mit einem vorgegebenen Stoff; kann künstlerische Willkür ihn ersetzen, bleibt sie nicht rettungslos einer untragischen Kontingenz verfallen? Dürrenmatt geht in einem bekannten theoretischen Aufsatz auf das Problem näher ein. Für den spontanen Einfall findet er die geistreiche Formel „hypotheses fingo" und definiert seine Dramatik (zu der die Panne ja im Grunde auch gehört) als Arbeit über erfundene Modelle, die allen Realismus ignoriert. Als Parallele zu dieser künstlerischen Darstellung von möglichen Welten nennt er die Mathematik, wenn sie „lediglich begrifflich konzipierte und womöglich überhaupt nur hypothetisch in Betracht gezogene Strukturen" aufstellt 12 . Der Ursprung ist axiomatisdi und fiktiv, aber die darauf basierte Konstruktion ist der striktesten inneren Konsequenz unterworfen und keiner weiteren Willkür zugänglich. Wir werden an den „strengen Satz" erinnert, durch den Thomas Manns Adrian Leverkühn aus dem nachromantischen Subjektivismus heraus zu neuer Objektivität gelangen wollte. Die Frage ist hier, ob n 72
Vgl. „Anmerkung zur Komödie", in Theater-Schriften und Reden, S. 132—137. Ebd., S. 184, 185 (in der „Standortbestimmung zu .Frank V'").
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der Satz wirklich streng genug ist, und ob diese hypothetische Notwendigkeit zu einer wahrhaft tragischen werden kann. Dürrenmatt selbst hat uns einen wertvollen Fingerzeig geliefert, der darauf hinweist, daß es nicht so ist. Um seine Bedeutung voll zu würdigen, müssen wir noch einmal kurz auf das Ende (oder vorläufige Ende) seiner Kriminalserie zurückkommen. Wir erkannten Das Versprechen als Gegenstück zur Panne13, müssen aber bei näherer Untersuchung feststellen, daß dieser durch die Untertitel bezeichnete Kontrast an der Oberfläche bleibt. Ein „Requiem" soll der Kriminalroman sein, und der erzählende Kriminalist besteht darauf, daß die Pointe in ihrer schäbigen Zufälligkeit künstlerisch unverwendbar sei. Natürlich ist das unwahr. Gerade dadurch, daß er diese Pointe unter Protest verwendet, rundet der Autor die Geschichte ironisch zum Ganzen. Viel wichtiger ist, daß der Erzähler vor der Erwähnung des „wirklichen" Endes eine Reihe anderer denkbarer Lösungen aufzählt. Die „Schlußfolgerung" dieser fingierten Hypothese bleibt dem Künstler anheimgestellt, sie ist genau so axiomatisch wie ihre Basis; mit der mathematischen Notwendigkeit scheint es nicht weit her zu sein. Nicht die Unmöglichkeit der Geschichte, sondern die Fülle ihrer willkürlichen Möglichkeiten: das ist die letzte Bedeutung von Dürrenmatts letztem Kriminalroman. Genau dasselbe gilt für die „noch mögliche Geschichte", und der Autor zeigt es durch ein ähnliches Experiment. Der einzige Unterschied ist, daß dies nicht innerhalb des Werkes selbst geschieht. Wir finden die Demonstration in der späteren Hörspielfassung der Panne, welche einen diametral entgegengesetzten Abschluß hat: Traps erwacht am nächsten Morgen, fällt prompt in seine ursprüngTS
Das zeigt sich auch beim Vergleich der beiden Protagonisten. Matthäi ist der konsequente Mensch, der am Zufall zusdianden wird; Traps der Alltagsmensch, der den Durchbruch zur Konsequenz im Zufall sucht. Sie sind zwei Gegenpole innerhalb derselben Problematik. Wir nannten Matthäi einen tragischen Helden; ist er das aber wirklich? Er taucht in die Banalität ein, die der Traps des Schlusses immerhin um jeden Preis vermeiden will: ein schwachsinniger Garagist bei Chur ist kein ö d i p u s auf Kolonos. Eine zweifelhafte Tragik hier wie dort; auf tieferer Ebene scheinen die Gegensätze sich zu treffen.
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liehe Mentalität zurück und entfernt sich mit dem reparierten Studebaker. Auch hier gibt es also verschiedene noch mögliche Geschichten, auch hier herrscht bis zuletzt der künstlerische Einfall. Wir stehen immer noch auf dem Boden der Gratuität. Dagegen ließe sich einwenden, daß eine der Lösungen die beste bleibt. Es ist aber immer strittig, welche die beste ist. Die meisten Leser werden wohl die Novelle ihres überraschenden Schlußefiektes wegen dem Hörspiel vorziehen; das verleiht jedoch diesem Schlußeffekt nicht die Ausschließlichkeit, welche das Zeichen der wahrhaft tragischen Notwendigkeit ist. „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht", schreibt Dürrenmatt, „wenn sie ihre schlimmst-mögliche Wendung genommen hat"74. Das Kriterium leuchtet ein und scheint echt tragisch; welche der Versionen nimmt aber diese Wendung? Das kommt wieder ganz auf den Standpunkt an. Man kann durchaus die Meinung vertreten, daß der Rückfall ins Banale den Höhepunkt des Schlimmen darstellt. Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu konstatieren, daß das Hörspiel als Ganzes dem Furchtbaren näher kommt. Die Atmosphäre ist viel unheimlicher. Man hört den wilden Schrei eines Verurteilten, der als Gast im Hause geblieben ist. Der Hausherr hat eine Sammlung von alten Folterinstrumenten, und in Alfredos Zimmer befindet sidi sogar eine Guillotine. Diese Zusätze werden durch die Anforderungen des neuen Genres nicht erklärt. Sie widerspiegeln eine vollkommene Akzentverlagerung, die im Verhör selbst am klarsten zum Ausdruck kommt. Im Hörspiel ist das Vorgehen des Staatsanwalts viel weniger spielerisch-spekulativ. Er treibt Traps wirklich durch ein regelrechtes Kreuzverhör in die Enge. Letzterer applaudiert der Be74
Punkt 3 der „21 Punkte zu den Physikern" (Theater-Schriften und Reden, S. 193). Punkt 4: „Die schlimmst-mögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein". Zufall für den Helden und für den Leser, der die Geschichte nodi nicht kennt. Nicht aber Zufall (oder lieber Einfall) für den Autor, der ja streng an die Forderung der „schlimmst-möglichen Wendung" gebunden ist. Das ist noch einmal die paradoxe Konsequenz, die sich aus der Formel „hypotheses fingo" ergibt und deren Fragwürdigkeit (wie wir zu zeigen versuchen) in der Panne demonstriert wird.
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weisführung hier nicht: er verteidigt sich zuerst verzweifelt, wird dann nachdenklich und gesteht schließlich zerknirscht seine Schuld, von der er überzeugt worden ist. Moralisch überzeugt und nicht ästhetisch: hier ist es nur der Verteidiger, der seinem Klienten (ganz zu Unredit!) das Motiv des Sichinteressantmachenwollens unterschiebt. Diese Fassung ist viel ernster als die erzählerische. Trotzdem ist es der „ästhetische" Traps, der sich erhängt, während der schuldbewußte sein früheres Treiben wieder aufnimmt! Dies ergibt eine Vermischung der Effekte und der Möglichkeiten, welche aller tragischen Eindeutigkeit widerspricht. Der Autor kann die Kontingenz des Einfalls genau so wenig überwinden wie sein Held; seine hypothetische Notwendigkeit hat keine tragische Schwere, sie bleibt genau so willkürlich wie Trapsens acte gratuit.
d) Die Zweideutigkeit der modernen Schuld Wir sprachen soeben von „tragischer Eindeutigkeit". Der Begriff bezieht sich auf die innere Konsequenz der Entwicklung, auf die Einheit des Stils und die Geschlossenheit der Struktur; nicht anwendbar ist er, wie wir wissen, auf das Phänomen der tragischen Schuld. Da herrscht eine typische Ambiguität. Und wenn wir das doppelte Paradoxon der beiden Lösungen der Panne näher analysieren, so finden wir auch hier als letzte Erklärung eine Zweideutigkeit von Schuldlosigkeit und Schuld. Kehrt Dürrenmatt in dieser Hinsicht schließlich doch zur antiken Tragödie zurück? Seine theoretischen Bemerkungen können diese Frage erhellen. Die schuldlose Schuld ist für ihn allerdings wieder ein gegebenes Faktum, eine Kategorie des modernen Lebens; doch hat sie nichts Tragisches mehr: Die Tragödie setzt Schuld, Not, Maß, Obersicht, Verantwortung voraus. In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Sdiuldigen und audi keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. Es geht wirklich ohne jeden. Alles wird mitgerissen und bleibt in irgendeinem Redien hängen. Wir sind 7a
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zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. Das ist unser Pech, nidit unsere Sdiuld: Sdiuld gibt es nur noch als persönliche Leistung, als religiöse Tat . . . 75
Die Implikation ist richtig, aber sie ist nicht präzis formuliert und nicht zu Ende gedacht. „Sdiuld" wird zu einseitig ethisch definiert und der Tragödie zu ausschließlich zugeschrieben. Letztere setzt ja nicht nur Schuld voraus, sondern auch persönliche Unschuld; audi ödipus und Orest haben „Pech" und sind in die Sünden ihrer Vorväter gebettet. Umgekehrt ist die moderne Kollektivschuld ja audi „Schuld", der alten Erbschuld äußerlich verwandt. Was Dürrenmatt hier eigentlich beschreibt, ähnelt jener Konvergenz der Gegenpole, jener Zweideutigkeit des Schuldbegriffs, wodurch sich die tragische Lebensauffassung Kierkegaard zufolge charakterisiert. Trotzdem hat dieser Tatbestand mit dem von Kierkegaard beschriebenen nicht mehr viel gemein. Der qualitative Unterschied ist enorm. Die antike Kategorie wurde dadurch ermöglicht, daß Individualität und Substantialität noch nicht zu einander ausschließenden Extremen entwickelt waren. So konnten Subjekt und Objekt, Tun und Tunlassen, Verantwortung und Unschuld zu organischer Einheit verschmelzen. Die schuldlose Schuld der Alten ist eine ästhetisch zwischen den Polen schwebende positive Erfahrung. Die moderne Kategorie dagegen ist negativ. Sie ist ein Produkt des Nichtmehr anstatt des Nochnicht. Die gegensätzlichen Begriffe sind voll entwickelt, werden aber nidit mehr voll erfahren. Tun und Leiden, Verantwortung und Unverantwortlichkeit können daher ihre Exklusivität verlieren und sidi zu einer gewissen negativen, passiven Einheit vermischen (besser noch: verwischen). Die schuldlose Schuld der Moderne ist nicht ein Schweben, sondern ein Verschwimmen. Sie ist nichts als Unfähigkeit, die Pole noch voll zu realisieren — entweder schuldlos oder schuldig zu sein. Diese Zweideutigkeit steht nicht unter dem Zeichen der Ästhetik, sondern unter dem der Durchschnittlichkeit. Das zeigt sich deutlich in der Panne. Traps spricht gern davon, seinen Rivalen „den Hals umzudrehen" (20); er mußte Gygax (wie er schon früh zugibt) „auf die Seite schaffen", 75
Ebd., S. 122 (in dem Aufsatz „Theaterprobleme").
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er hatte ihm „das Messer an die Kehle zu setzen und zuzustoßen" (46—47). Diese stereotypen, im Geschäftsleben recht gebräuchlichen Redensarten bringen Modus und Gehalt der Schuld in dieser Welt mit großer Präzision zum Ausdruck: sie bedeuten wenig, ohne geradezu bedeutungslos zu sein; sie sind weder harmlos noch wirklich verrucht. Das ganze Gerichtsspiel besteht im Grunde daraus, sie wörtlich zu nehmen. Dabei sind sich die alten Herren der nichtmehr-ästhetischen Ambiguität des Lebens außerhalb der Villa wohl bewußt. Einerseits glauben sie nicht an Unschuld und erklären einen Menschen ohne Verbrechen zu einer Seltenheit. Andererseits weiß der Verteidiger, daß Trapsens Leben aus lauter kleinen Verschuldungen besteht, die sich zur großen Schuld nicht runden können (107) — und der Riditer bezeichnet den „Mord" als natürliche Folge der allgemeinen „Gedankenlosigkeit der Welt" (113). Die beiden Lösungen der Panne enthüllen ironisch diese kraftlose moderne Ambiguität: das Hörspiel zeigt die Schuld der Schuldlosigkeit, die Novelle dahingegen die Schuldlosigkeit der Schuld. Wenn wir sie zusammen betrachten, steckt also in ihrer respektiven Behandlung des Stoffes eine demonstrative Logik, wobei die beiden Versionen einander supplementieren. Das Spiel erfordert zur Herstellung des infra-ästhetischen Gleichgewichts ein ernstes Ende, der schuldige Ernst die antiklimaktische Rückkehr zur Banalität. Diese Logik bleibt jedoch der Kontingenz unterworfen. Die beiden Lösungen sind in letzter Instanz vollkommen auswechselbar. Man kann die eine oder die andere wählen, und audi beide: die Willkür des Künstlers entspricht der Gratuität des Schuldbegriffs. Anders ausgedrückt: die moderne Zweideutigkeit von Schuldlosigkeit und Schuld ist nicht mehr eine positive Koinzidenz, die für jeden gegebenen Stoff ein für allemal zur innerlich notwendigen (und daher eindeutigen) tragischen Perfektion gebracht werden könnte. Sie ist eine Mixtur verschwommener Halbheiten, die nur durch verschiedene willkürliche Interpretationen, durch eine Kombination kontrastierender Einfälle künstlerisch noch voll erfaßt werden kann. Die Ambiguität der Substanz führt hier auch zur Zweideutigkeit, ja Vieldeutigkeit des Ausdrucks. So entstehen denn die beiden Vari7a*
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anten der Panne, die eine „komisch" im Konzept, die andere „tragisch"; aber keine ist rein in ihrem Genre, mit dem Prinzip der Stileinheit ist es vorbei. Die Zweiheit der Interpretationen stellt die innere Zerrissenheit der modernen „schuldlosen Schuld" anschaulich dar. Diese Anschaulichkeit ist aber schon Stilisierung, denn die Zerrissenheit ist eine potentielle, überdeckte, die in Wirklichkeit nicht mehr zum Ausdruck kommt. Jede der Deutungen ist eine Überdeutung, die hypothetische Gestaltung einer Realität, deren qualliges und verwischtes Wesen sich eigentlich nicht mehr gestalten läßt. Daher füllen die beiden Tafeln von Dürrenmatts Diptychon sich nicht nur an: in letzter Instanz heben sie einander auf.
e) Schlußbemerkungen So kommen wir zum Ende einer Analyse, in der wir versuchten, eine besonders bedeutsame Thematik in allen ihren Aspekten aufzurollen und durch drei sukzessive Behandlungen hindurch zu verfolgen. Das meiste ist in großem Detail bereits gesagt; einige vereinfachende Rekapitulationen und Schlußbemerkungen mögen dazu dienen, das Bild zu vervollständigen und die Entwicklung verallgemeinernd zu illustrieren. Wir sprachen von einer „Mißdeutung" der Wirklichkeit, und eines der wichtigsten Entwicklungsmomente ist die wachsende Intensität, die dieser Terminus in den drei besprochenen Werken gewinnt. In den Brüdern Karamasojf wird ein Mord begangen und man überführt den falschen Täter — trotz seiner intellektuellen Vertiefung ist der Fall noch von einer gewissen faktuellen Eindeutigkeit. Im Fremden ist der Täter bekannt, aber die Interpretation seiner Handlung verzerrt die gegebenen Tatsachen: nicht das Wer sondern das Warum steht in Frage, das Geschehen selbst ist in seinem Wesen fragwürdig — ein extremerer Fall der Unverständlichkeit. In der Panne gar geht es um das Ob. Hat überhaupt ein Mord stattgefunden? Die Mißdeutung wird zur Uberdeutung, ja Erfin-
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dung. Zuerst irrt man sich, danach lügt man (wenn auch unbewußt), am Ende wird nur noch fabuliert: wir gehen von der Fragwürdigkeit der Logik bis zum Triumph der logischen Imagination. Im ersten Werke ist die Wirklichkeit schwer deutbar, im zweiten undeutbar; im letzten leistet sie einer willkürlichen Interpretationswut Vorschub, weil sie jenseits aller Deutbarkeit liegt. Das zeigt sich auch darin, wie ihre Darstellung sich entwickelt: in den Karamasojf ist das vorgerichtliche Leben noch eine „interessante" Geschichte in der realistischen Tradition; im Fremden wird es zur ästhetisch überspitzten Banalität; in der Panne schließlich zu einer trivialen Alltäglichkeit, die sich direkt gar nicht mehr darstellen läßt. Verbunden damit ist die Rolle der Gesellschaft. Bei Dostojewski und Camus kann diese das Verbrechen nicht mehr assimilieren und kann nur noch durch seine Verfälschung die Ordnung wiederherstellen; bei Dürrenmatt ist sie selbst zum Chaos geworden, und Assimilationsversuche finden nur noch an ihrem staubigen Rande statt. Wir sind wahrlich am Gegenpol der Eumeniden! Die soeben skizzierte Evolution gewinnt noch größere Bedeutung, wenn wir ihr Verhältnis zum Begriff des Justizirrtums (das den Titel dieser Arbeit geliefert hat) ins Auge fassen. Ein „Justizirrtum" ist immerhin eine „Mißdeutung", gewöhnlichen Auffassungen nach sollten sich die beiden Konzepte decken; in unserem Schema jedoch gehen sie lediglich im ersten der drei Werke Hand in Hand. Danach streben sie in ihrer Entwicklung auseinander. Je mehr sich das Mißdeutungsmotiv intensiviert, umso weniger kann man von einem „Justizirrtum" reden — eine Tatsache, welche allein schon die Bedingtheit des rein Juristischen zeigt und darauf hinweist, daß es hier Ausdruck und Symbol für weitere und tiefere Bezüge ist. Nur in den Brüdern Karamasoff irrt man sich (wie schon gesagt), nur dort liegt ein „Justizirrtum" im eigentlichen Sinne vor. Im Fremden ist noch etwas davon übrig, denn Meursault wird für ein falsches Verbrechen (den imaginären Muttermord) verurteilt und bekommt eine für sein wirkliches Delikt zu hohe Strafe; doch fühlen wir wohl, daß wir mit dieser technischen Feststellung das Hauptsächliche nur streifen. Es handelt sich nicht mehr um den
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bloßen (wenn auch philosophisch durchleuchteten) „Irrtum" eines Gerichts, sondern um die radikale Unzulänglichkeit des ganzen Gerichtsbegriffs. Die Panne endlich zeigt nicht mehr nur die Unzulänglichkeit, sondern die vollständige Selbstentäußerung des Gerichts. Es wird zum Gerichtsspiel, das heißt zu etwas anderem: zur Spielerei, zur Kunst. In dieser neuen Gestalt kann es noch einmal recht erfolgreich sein: das falsche (?) Urteil ist eine gelungene Konstruktion. Die Brüder Karamasoff vertiefen den Begriff des gerichtlichen Irrtums, Der Fremde transzendiert ihn, Die Panne verwandelt ihn in künstlerische Phantasie. So wird dieser zusehends sich seines spezifischen Charakters entäußernde Justizirrtum, der die Fragwürdigkeit des Geschehens so anschaulich darstellt, auch und vor allem zur literarischen Problematik. Er war es ja eigentlich von Anfang an. Die Novelle des Schweizers zieht hier das Fazit, indem sie einen in den vorhergehenden Werken enthaltenen Keim voll entwickelt. Schon bei Dostojewski und Camus bilden Gericht und Urteil einen gelungenen (zugleich aber zweifelhaften) künstlerischen Abschluß. Bei Dürrenmatt wird dieser Erfolg des Literarischen ausdrücklich und ausschließlich, wird aber dabei auch wieder ironisch in Frage gestellt. Ja, selbst die Reihenfolge der besprochenen Werke weist, wenn wir sie vom Standpunkt der Gattung betrachten, einen höchst problematischen „Fortschritt" auf. Die Thematik hat uns nacheinander zu einem Roman, einer Icherzählung und einer Novelle geführt und ist somit zu einer Studie in nuce aller Grundformen der modernen Erzählkunst geworden. Die Sequenz deutet auf einen wachsenden Drang zur Knappheit und künstlerischen Durchformung hin — auf einen Versuch, der modernen Vielfältigkeit artistisch Herr zu werden. Diese Evolution steht jedoch in krassem Gegensatz zur gleichzeitig wachsenden Mißdeutungstendenz derselben Werke. Schon darin liegt eine ironische Entwertung des Unterfangens, Wirklichkeit überhaupt noch literarisch zu erfassen. Der Enderfolg ist auch der Endechec: nur im Spiel wird das Ziel erreicht. So sind wir denn am Ende weit von der alten Tragödie entfernt, obwohl wir paradoxerweise den Kreis schließen, indem wir
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zur dramatischen Form zurückkehren. Dieselbe Beschränkung gilt für den Inhalt, dem ja gleichfalls die antike Tragödie Pate stand. Jener Traps, der zu seinem Erstaunen seine eigene Schuld entdeckt, hat immerhin einiges mit ödipus gemein. Aber nur äußerlich, denn sein Selbstmord ist der Selbstaufopferung des Thebaners wohl kaum vergleichbar. Sein Opfer ist auch nicht die von Dürrenmatt erträumte „religiöse Tat", wodurch er seine Schuld auf sich nimmt, das Tragische wiedererweckt und zum Helden wird7®. Seine Schuld bleibt zweifelhaft, und er nimmt sie nicht auf sich: er entdeckt sie als Attrappe hinter der Kulisse und zerrt sie fröhlich auf die Bühne. Seine Tat trägt das Signum des Ästhetizismus, nicht der Religion. Er ist ein Held der großen Geste, höchstens (wie Nietzsche es den „großen Menschen" seiner Zeit vorwarf) ein Affe seines Ideals. Es ist sein Doppelgänger, der Traps des Hörspiels, welcher Schuld wirklich anerkennt, doch dieser bleibt ein Anti-Held. Die Novelle ist es, nicht das Hörspiel, die den Weg zurück zur Tragödie sucht. Doch sie findet ihn nicht wirklich, der Kreis schließt sich nur scheinbar: der Selbstmörder Alfredo Traps ist bestenfalls ein verspielter ödipus.
TB
Wie es die vorwiegende Deutung von Traps will, die ihn dabei gewöhnlich mit III im Besuch der alten Dame vergleicht.
BIBLIOGRAPHIE
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Die Sprache Max Frischs in der Spannung zwischen Mundart und Schriftsprache. Von W A L T E R SCHENKER. Groß-Oktav. Etwa 190 Seiten. 1969. Ganzleinen etwa DM 32,— (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, Neue Folge)
Hugo von Hofmannsthal Grundlagen zum Verständnis seines Werkes. Von E R V I N KOBEL. Groß-Oktav. Etwa 275 Seiten. 1969. Ganzleinen etwa DM 30,—
Die Sieben Todsünden in der mittelenglischen erbaulichen Literatur Von H A N N O DM 28,—
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(Britannica et Americana, Bd. 17; Cram, de Gruyter & Co., Hamburg)
Philosophie der Dichtung Weltstellung und Gegenständlichkeit des poetischen Gedankens. Von GERD WOLANDT. Groß-Oktav. X, 210 Seiten. 1965. Ganzleinen DM 32,—
Arcadia Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft. In Verbindung mit ROGER BAUER, ERIK LUNDING, OSKAR SEIDLIN. Herausgegeben von H O R S T RÜDIGER. Groß-Oktav. Jährlich 1 Band mit 3 Heften. Etwa 336 Seiten. 1968: Band 3. Pro Jahrgang DM 42,—
Walter de Gruyter & Co · Berlin 30