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German Pages 356 Year 2004
BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT F Ü R R O M A N I S C H E P H I L O L O G I E BEGRÜNDET VON GUSTAV GRÖBER HERAUSGEGEBEN VON GÜNTER HOLTUS
Band 318
ROGER FRIEDLEIN
Der Dialog bei Ramon Llull Literarische Gestaltung als apologetische Strategie
MAX NIEMEYER VERLAG T Ü B I N G E N 2004
Diese Arbeit entstand mit einem Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes und wurde gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Im Gedenken an Brigitte Schlieben-Lange
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-52318-2
ISSN 0084-5396
© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2004 http:/'/www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Guide-Druck G m b H , Tübingen Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach
Danksagungen
Diese Arbeit wurde im Februar 2001 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin als Inauguraldissertation angenommen und erscheint hier in leichter Überarbeitung und Aktualisierung. Möglich wurde sie durch das lebhafte Interesse, die Gesprächsbereitschaft und vielfältige Hilfe seitens meines Doktorvaters, Professor Dr. Sebastian Neumcister. Ihm gilt mein herzlicher Dank. Konzeptionelle Unterstützung und eine Vielzahl hilfreicher Hinweise fand ich darüber hinaus bei Professor Dr. Dietrich Briesemeister und Professor Dr. Klaus W. Hempfer, denen ich gleichermaßen herzlich danke. Das Raimundus-Lullus-Institut der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau hat mir wichtige Texte von Llull zur Verfügung gestellt und dadurch sehr geholfen. Hierfür danke ich insbesondere Dr. Fernando Domínguez. Dr. Jordi Gayà (Schola Lulliana / Palma de Mallorca) stellte mir freundlicherweise eine seiner Arbeiten lange vor ihrer Veröffentlichung zur Verfügung. Darüber hinaus war mir bei der Texterschließung die Hilfe von Privatdozent Dr. Wolfgang Maaz sowie von Dr. Angelika Lozar vom Seminar für Mittellateinische Philologie der Freien Universität Berlin sehr wertvoll. In einem frühen Stadium der Arbeit gab mir Dr. Otfried Lieberknecht nützliche Anregungen. Später war mir die Zusammenarbeit mit Dr. Anita Traninger (Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Wien) Hilfe und Vergnügen. D e s weiteren bin ich einer Reihe von Bibliotheken zum Dank verpflichtet, die mir Zugang zu ihren Handschriften- und Rarabeständen gewährt haben: der Biblioteca de Catalunya, der Biblioteca de la Universität de Barcelona, der Biblioteca Nacional in Madrid, der Real Biblioteca del Monasterio in San Lorenzo del Escorial, der Biblioteca Nacional in Lissabon sowie der Biblioteca Geral da Universidade de Coimbra. Die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin genehmigte darüber hinaus freundlicherweise die Reproduktionen im Anhang. Ein ganz besonderer Dank soll Margit Kern und Sarah Bosch gelten: Sie haben das Dissertationsmanuskript und die Bibliographie kritisch und kenntnisreich durchgesehen und mich in vielerlei Hinsicht unterstützt. Dörte Säße stand mir zudem in technischen Fragen bei. D i e Studienstiftung des Deutschen Volkes hat diese Dissertation durch ein Promotionsstipendium großzügig gefördert. Ihr und meinem Vertrauensdozenten Professor Dr. Reiner Haussherr danke ich dafür herzlich. Die V
Deutsche Forschungsgemeinschaft ermöglichte den Druck der Arbeit mit einem Kostenzuschuß, Professor Dr. Günter Holtus und der Max Niemeyer Verlag nahmen sie wohlwollend in die Traditionsreihe der Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie auf. Schließlich danke ich meinen Eltern für ihr aufrichtiges Interesse und ihre Unterstützung mit Herz und Hand. Roger Friedlein
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im Sommer 2003
Inhalt
Danksagungen
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I.
Einführung 1.1 Der Dialog im Mittelalter 1.1.1 Frühchristliche Dialogtraditionen 1.1.2 Felder der mediävistischen Dialogforschung 1.1.3 Ein Dialogkonzept für das Mittelalter I.i.3.1 Mündlichkeit und Schriftlichkeit L1.3.2 Eingrenzungskriterien 1.2 Ramon Llull und der Dialog 1.2. ι Kulturelle und literarische Kontexte 1.2.2 Ars tulliana und Frage-Antwort-Form 1.2.3 Dialogkonzepte der Llullforschung 1.2.4 Untersuchungsziel
ι 2 2 8 14 15 18 27 29 36 47 56
II.
Der Llibre del gentil II. ι Religionsdisputationen und Missionsinitiativen als soziokultureller Kontext 11.2 Das Religionsgespräch zwischen christlich-jüdischer Polemik und iberoromanischer Weisheitsliteratur 11.3 Strukturierungstechniken im Dienste des ordo 11.4 Figurenpräsenz und Abstraktion 11.5 Strategien der Wertung im Dialog 11.6 Wahrheit zwischen Offenbarung und Ars tulliana
59 60 64 72 82 88 97
III. Der Liber Tartari III. ι Europäische Mongolenpolitik und Llullsche Stellungnahme . . 111.2 Dialog als Spiegel der Trinität 111.3 Das Buchmotiv zwischen liber creaturae und mise en abyme 111.4 Buch und Richter im Llullschen Dialog
99 101 108
IV. Der Autor als Figur IV.i Ichdarstellung im Prolog IV.2 Ramon als Figur: Von den Prologen zum Desconhort
139 141 148 VII
117 128
IV.3
IV.4
V.
Die Consolatio Venetorum IV.3.1 Politischer Kontext und literarische Abstraktion . . IV.3.2 Tröstungsdialoge in boethianischer Tradition IV.3.3 Ira als Komponente der Figurenzeichnung Der Desconhort IV.4.1 Das autobiographische Ich IV.4.2 Ira im Desconhort·. Das moralische Ich
151 157 166 169 180 188 189
Die Oracions i contemplations de l'enteniment V. ι Soliloquientradition und Kontemplation in den Oracions i contemplations V.2 Personifikationen als Ichdarstellung V.3 Exkurs: Personifikationen im Llibre de sancta Maria
205
VI.
Die Disputatio Fidei et Intellectus VI.i Gesprächskohärenz und Gesprächskonstellation VI.2 Der Dialog als gattungspoetische Stellungnahme VI.3 Mechanisierung der Dialogproduktion
223 227 234 240
VII.
Der Llullsche Dialog als Modell VII.i Kennzeichen Llullscher Dialoge VII.2 Ausblick: Der Dialog im iberoromanischen Lullismus des Mittelalters
243 243
207 214 218
248
Anhang 1: Llullsches Dialogkorpus
259
Anhang 2: Textedition Consolatio Venetorum
287
Anhang 3: Illuminationen zum L. del gentil
313
Bibliographische Angaben
319
Register
343
VIII
I. Einführung
D e r Dialog als literarisches Genre ist in der mittelalterlichen Literatur zahlreich vertreten, und R a m o n Llulls D i a l o g e bilden ein Kernstück dieser Tradition. Keiner der beiden Sachverhalte gehört jedoch zum allgemeinen Wissensstand der Romanistik, denn erst in jüngster Zeit wurde damit begonnen, den Dialog zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen in der Mediävistik zu machen und Llulls Bedeutung für die Geschichte der Gattung zu beschreiben. D e r G r u n d f ü r diese V e r s p ä t u n g liegt, was Llull betrifft, g e w i ß im Gewicht der A r s lulliana oder A r s magna und im Lullismus, der als europaweit bis in das 18. Jahrhundert nicht nur in der Philosophie präsente Denkrichtung Llull als literarischen A u t o r überschattet. R a m o n Llull (Ciutat de Mallorca 1232-1316) wird zwar gemeinhin als Gründerfigur der katalanischen Literatur geführt, doch wurde bislang außerhalb seines eigenen Sprachgebiets nur selten der Versuch u n t e r n o m m e n , Llulls umfangreiches Œ u v r e aus literaturwissenschaftlicher Perspektive zu untersuchen und zu zeigen, in welchen Traditionen es verankert ist. Was andererseits den Dialog betrifft, so ist seine systematische Beschreibung als literarische Gattung für das Mittelalter noch nicht weit vorangeschritten, und es fehlen grundlegende Beschreibungsmodelle sowie monographische Untersuchungen für die zahlreichen a priori in Frage kommenden Texte. Angesichts der Tatsache, daß die herausragenden Beispiele der G a t t u n g aus der A n t i k e - die D i a l o g e von Piaton, Cicero und Lukian - im Mittelalter vollständig oder weitgehend unbekannt blieben, wird einführend zunächst der Texthorizont zu behandeln sein, den statt der klassischen A n t i k e die christliche Spätantike dem Mittelalter zur V e r f ü g u n g stellt und v o r d e m Llulls D i a l o g e zu sehen sind. D a r a n soll sich die Frage anschließen, welche Texttypen in der mediävistischen Forschung bislang mit dem Stichwort Dialog in Verbindung gebracht werden und wie v o r diesem Hintergrund ein D i a l o g k o n z e p t insbesondere für die Korpuseingrenzung bei Llull gefaßt werden kann. Daran anschließend werden in einem zweiten Teil dieser E i n f ü h r u n g Llull und die in der Llullforschung benutzten D i a l o g k o n z e p t e vorgestellt.
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I.i
D e r D i a l o g im Mittelalter
I.i.i Frühchristliche Dialogtraditionen Wie an der als Pionierleistung anzusehenden, umfangreichen Untersuchung zum Dialog von R. Hirzel (1895) ersichtlich ist, wurden die frühchristlichen Dialoge in der frühen Forschung vor dem Hintergrund ihrer Platonischen und Ciceronischen Vorgänger untersucht. In seiner diachronischen Darstellung schreibt Hirzel zunächst eine Geschichte der griechischen Dialogliteratur aus der Perspektive ihrer Entwicklung hin zu den Platonischen Dialogen, um danach die engere oder weitere Zugehörigkeit eines Textes zur Gattung Dialog von seiner Ähnlichkeit mit einem Modell abhängig zu machen, dessen «Wesen» er gerecht werden muß. So heißt es in bezug auf die (nachplatonischen) Lukianischen Dialoge einerseits und auf vorplatonische Dramen andererseits: «[Sie] stellen beide dieses Wesen nicht rein dar, die Lucianischen Dialoge nicht, weil sie der Zeit des Verfalls angehören, in der sich das Dialogische mit dem Dramatischen mischte, und die ältesten Dramen nicht, weil diese embryonische Bildungen sind; jene also, weil in ihnen das Wesen nicht mehr, diese, weil es in ihnen noch nicht rein zur Erscheinung kommt» (Hirzel 1895,1,200, Herv. im Orig.).
Schon mit den nicht überlieferten Aristotelischen Dialogen setzt für Hirzel der Verfall der Gattung ein. Die Dialoge Ciceros gelten ihm dagegen in ihrer Wiederannäherung an das Platonische Modell als Wiederbelebung, während alle späteren im wesentlichen als epigonal verstanden werden. Hirzeis Ansatz, den diachronischen Verlauf teleologisch als ansteigende Entwicklung hin zu einem qualitativen Höhepunkt bei Piaton und über ihn hinaus als Epigonentum zu beschreiben, ist in ähnlicher Weise weiterhin zu finden. Er hinterläßt Spuren in den beiden nichtsdestoweniger grundlegenden Studien von M. Hoffmann (1966) und B.Voss (1970), die sich erstmals eingehender mit den Dialogen der christlichen Spätantike befassen. Beide beurteilen die frühchristlichen Dialoge nach den Maßgaben der antiken philosophischen und müssen daher wie Hirzel zu dem Schluß kommen, die Gattung befinde sich in der christlichen Spätantike im Verfallszustand - Hoffmann verwendet dafür die Bilder «Erstarrung» und «Sklerose» - , denn «aus der Wahrheitssuche wird die Offenbarungskatechese». 1 In einer ähnlichen Wertung sind für Voss die Dialoge von Augustinus unter den frühchristlichen nicht nur durch ihre im Verhältnis gesehen große Zahl, sondern insbesondere durch die Darstellung der im Autor widerstreitenden Auffassungen herausragend: «Ist schließlich wirkliche Erfüllung der Dialogform erst dort als vorhanden anzuerkennen, wo sie Ausdruck geistigen Ringens ist, dessen Ergebnis erst am Ende feststeht, so fällt der Höhepunkt der Gattung [des frühchristlichen Dialogs] mit dem dialogischen Werk Augustins zusammen» (Voss 1970, 349).
Hoffmann 1966, 162.
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Zweifelsohne sind die Dialoge von Augustinus, die unter den frühchristlichen am stärksten an diejenigen Ciceros anknüpfen, in der literarischen Rezeptionsperspektive des 20. Jahrhunderts neben denjenigen Piatons und Ciceros die attraktivsten. Dennoch muß die Abbildung psychischer Prozesse des Autors, sollte sie überhaupt jemals im Zentrum literarischer Dialoge gestanden haben, keineswegs zwangsläufig ein Gütemerkmal für diese Texte sein. Zu einer angemesseneren Beschreibung des frühchristlichen Dialogs gelangt P. Schmidt (1977), indem er die idealtyporientierte Perspektive aufgibt, die lateinischen frühchristlichen Dialoge von den antiken abkoppelt und einer internen typologischen Klassifizierung nach funktionalen Gesichtspunkten unterzieht, die zwar kein einheitliches Kriterium etabliert, sich aber in pragmatischer Hinsicht als sehr hilfreich erweist. Er weitet den bei Voss und Hoffmann mit dem 5. Jahrhundert endenden Untersuchungszeitraum bis zum Ende des 7. Jahrhunderts aus, schließt die griechischen Dialoge vorerst aus und entwirft eine Typologie, die den Kontroversdialog, den philosophischen, didaktischen, hagiographischen und selbstbetrachtenden Dialog umfaßt. Kontroversdialoge, in denen zwei oder mehrere Angehörige verschiedener Religionen oder, wie in den meisten Fällen, ein Römisch-Katholischer gegen einen Vertreter einer anderen christlichen Kirche argumentieren, bilden die größte Klasse, in die Schmidt 26 Dialoge aus der frühchristlichen lateinischen Literatur einordnet. Unmittelbare Vorläufer in der antiken Literatur sind für diesen Typ nicht auszumachen. Als zweiter Typ steht daneben der philosophische Dialog. Das halbe Dutzend frühchristlicher Vertreter dieses Typs setzt sich ausschließlich aus Augustinischen Dialogen zusammen, unter denen insbesondere die frühen, sogenannten Cassiciacumdialoge (nach dem Landgut, auf dem die Gespräche stattgefunden haben sollen) Parallelen zu den Ciceronischen Dialogen aufweisen. Dem Typ des didaktischen Dialogs, in dem Lehrer- und Schülerposition eindeutig vergeben sind, ordnet Schmidt sechs Beispiele zu.2 Während die beiden letzteren, der philosophische und der didaktische Dialog, am ehesten als Fortführungen antiker Traditionen zu verstehen sind, müssen die hagiographischen und selbstbetrachtenden Dialoge wiederum als eigenständig christliche Entwicklungen gelten. Zwar fallen darunter nur die dialogischen Heiligenviten von Sulpicius Severus und Gregor dem Großen bzw. Augustinus' Soliloquia,
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Cf. in diesem Zusammenhang auch die Artikelreihe von G. Bardy (1932-1933) zur Frage-Antwort-Technik. Anhand eines gemischt formal-inhaltlichen Kriteriums stellt er die griechischen und lateinischen bibelexegetischen Texte bis zur Karolingerzeit zusammen, die in Frage-Antwort-Form gehalten sind. Seine Auswahl berücksichtigt allerdings nicht, ob die Fragen und Antworten von Sprecherfiguren vorgetragen werden oder nicht; sie überschneidet sich daher mit den didaktischen Dialogen nur teilweise. Ein exegetischer Dialog in Frage-Antwort-Form ist z. B. die Expositio mystica in parabolis Salomonis et Ecclesiasten von Salonius aus dem Gallien des 5. Jahrhunderts (PL 53, col. 967-1012), während die Lateingrammatik von Donat, die Ars minor, die gelegentlich als dialogisch erwähnt wird, wegen der fehlenden Sprecherfiguren nicht zum Dialog als Gattung zu rechnen ist.
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Boethius' Consolatio Philosophiae und Isidors Synonyma de lamentatione animae peccatricis,3 doch die rezeptionsgeschichtliche Bedeutung dieser Texte rechtfertigt diese Einteilung nachträglich. Das Vorgehen, Dialoge zunächst typologisch zu sortieren, um so die Grundlage für eine später einzunehmende diachronische Perspektive zu legen, erscheint auch für die mittelalterliche Fortsetzung der frühchristlichen Literatur sinnvoll. Bevor Schmidts Typologie allerdings als gültig für die Gesamtheit der alten Tradition verstanden wird, muß die zeitliche und thematische Eingrenzung des zu untersuchenden Materials betrachtet werden, die den Arbeiten zum frühchristlichen Dialog zugrunde liegt, vor allem bezüglich der Consolatio Philosophiae. Hirzel hatte den Boethianischen Dialog des Ich mit der Philosophie als randständige Erscheinung in der Dialogliteratur gesehen. Er widmet ihr eine knappe Seite seines Kompendiums, während bei Hoffmann und Voss der Untersuchungszeitraum so gewählt ist, daß auf die beiden Boethianischen Dialoge - zur Consolatio Philosophiae kommen die didaktischen In Isagogen Porphyrii commenta4 - bloß vorausblickend hingewiesen wird. Voss macht daneben auch aus inhaltlichen Gründen die Trennung von den frühchristlichen Dialogen stark: «Von einem Christen geschrieben, ohne jede Verbindung mit dem christlichen Dialog vor ihnen, sind sie, wenn nicht unchristlich, so doch untheologisch, ungeistlich und aus ganz anderen Traditionen geschrieben» (Voss 1970,351).
Bei Schmidt schließlich erhält die Consolatio Philosophiae, deren Dialogform innerhalb des frühchristlichen Dialogkorpus am besten untersucht ist,5 als typenprägender Text einen zentralen Platz. Die In Isagogen Porphyrii commenta werden im Gegensatz dazu aus der inhaltlichen Vorgabe der christlichen Thematik heraus sowohl bei Hoffmann und Voss als auch bei Schmidt zusammen mit einer Reihe weiterer weltlicher didaktischer Dialoge ausgeklammert.6 Neben der Consolatio Philosophiae gibt es Personifikationen als Sprecher in weiteren
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Auf die Verwandtschaft der Soliloquia von Augustinus (allerdings auch seiner Cassiciacumdialoge) mit der Consolatio Philosophiae verweist bereits E. Silk (1939), der die Personifikation der Philosophie bereits bei Augustinus findet. Hirzel 1895,11,363 erwähnt versehentlich zwei Dialoge von Boethius zur Logik. Tatsächlich ist jedoch nur der erste der beiden Porphyriuskommentare (editio prima) ein Dialog ( C S E L 48, 1-132). K. Reichenberger (1954) untersucht die einzelnen Textelemente auf ihr Verhältnis zu anderen Gattungen und stellt eine Parallele zwischen den fünf Büchern der Consolatio Philosophiae und den fünf rhetorischen Ausarbeitungsschritten der forensischen Rede fest. Z u den Arbeiten von E. Rhein (1963) und S. Lerer (1985) cf. Kap. IV, Anm. 75. In B. Pabsts Kompendium zum Prosimetrum wird die Bedeutung von Vers und Prosa für den argumentativen Fortgang des Textes untersucht: D i e Funktion der Metren liegt dabei im Kommentar der jeweils voranstehenden Prosa, nicht in der eigentlichen Fortführung der Argumentation (Pabst 1994, 187-195). Cf. auch zur Figur der Philosophie Courcelle 1967 und 1970. Unter den spätantiken, nicht explizit christlichen Dialogen, die ausnahmslos dem didaktischen Typ zuzurechnen sind, nennt Schmidt eine Reihe von Beispielen (Schmidt 1977.173)·
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spätantiken Prosimetren, die zu einem breiter angelegten Panorama des antiken und spätantiken Dialogs dazugehören, was insbesondere für Martianus Capellas De nuptiis Mercurii et Philologiae gilt. Dieser Text wird von einem sehr knapp gehaltenen narrativen Rahmen gefaßt, der im Hauptteil nicht wieder aufgenommen, aber am Ende des Textes geschlossen wird. Er besteht aus drei Redebeiträgen eines in der Figur des Vaters auftretenden Ich-Erzählers und seines Sohns Martianus, die eine lange Erzählung des Vaters und damit den Hauptteil des Textes einleiten. 7 In den ersten beiden Büchern berichtet er zunächst über eine Götterversammlung und die von ihr gutgeheißene Hochzeit Merkurs mit der Philologie. Die folgenden sieben Bücher bestehen aus langen Reden von jeweils einer der Dienerinnen Merkurs, der Sieben freien Künste, die auf der Götterversammlung auftreten. Zunächst geht es um ihre äußerliche Erscheinung, dann legen sie inhaltliche Aspekte der Wissenschaften dar, die sie bezeichnen. A m Ende wird der äußere narrative Rahmen geschlossen, indem der Ich-Erzähler sich wieder an seinen Sohn Martianus wendet und das Ende seiner Geschichte verkündet. Der Aufbau von De nuptiis Mercurii et Philologiae als in einem Dialog erzählter Dialog ist genauso bemerkenswert wie die aus mittelalterlicher Sicht eminent wichtige Figurenkonstellation eines Ich-Erzählers, der auf eine Reihe von Personifikationen oder mythologischen Gestalten trifft. Eine überzeugende gattungsmäßige Einordnung von De nuptiis Mercurii et Philologiae und ähnlicher Texte 8 steht bislang aus und ist durchaus problematisch. Während diese Beispiele aus der Untersuchung des frühchristlichen Dialogs pragmatisch über das inhaltliche Kriterium ausgeschlossen werden können, verliert das Merkmal der christlichen Ausrichtung bei ihren mittelalterlichen Nachfolgern seine Distinktivität, da sie alle in einem vollständig christlichen Zusammenhang stehen. Im Fall von De nuptiis Mercurii et Philologiae stellt sich das Problem, daß es sich erstens von Traktaten fundamental durch seine
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Bisher wurde die Gesprächskonstellation von De nuptiis Mercurii et Philologiae weithin so verstanden, daß in dem Ich-Erzähler, einem alten Mann, dessen Name nicht genannt wird, Martianus Capeila zu erkennen sei. Der dialoginterne Adressat, dem die Hochzeit erzählt wird, heißt dagegen ebenfalls Martianus, woraus gefolgert wurde: «This appears to be not only the author's name but also that of his son» (R. Johnson in Stahl 1971-77, II, 4); cf. auch «das einleitende Gespräch Martians mit seinem Sohn» (Pabst 1994, 109, ähnlich 136). Es steht jedoch nichts der Lesart entgegen, daß der belehrte Sohn statt des Vaters als persona auctoris zu verstehen ist, dem der lehrende Vater als Ich-Erzähler (der selbstverständlich nicht auf den empirischen Martianus Capella bezogen werden muß) die Geschichte der mythologischen Hochzeit berichtet. - Die Konstitution des Textes in Figurenrede ist zwar durchaus auf Aufmerksamkeit gestoßen, hat aber dazu verführt, ihn mißverständlich mit dramatischem Vokabular zu beschreiben; cf. Lemoine 1972. Z u beachten sind etwa Fulgentius' Mitologiae, wo der lange Vorspann des ersten Buchs als ein Gespräch des Ich mit Kalliope organisiert ist. Die mythologischen Erzählungen selbst sind im ersten Buch noch als Rede Kalliopes ausgewiesen, in den folgenden beiden Büchern erscheinen die Sprecherfiguren jedoch nicht mehr. Daneben ist auch Fulgentius' Expositio virgilianae continentiae ein Dialog des Ich mit Vergil.
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Sprecherfiguren unterscheidet, zweitens im Vergleich zu eigentlichen Erzähltexten über weite Strecken eine nur rudimentäre Handlung entwickelt und sich drittens einer Einordnung als Dialog widersetzt, weil die Figuren durch ihre ausschließlich auf sie selbst bezogenen, umfangreichen Reden einen sehr geringen Interaktionsgrad aufweisen. Dieses Merkmal steht insbesondere einem Verständnis des Dialogs diametral entgegen, das an den Platonischen Dialogen gewachsen ist und den Dialog als Textsorte des dialektischen Erschließens von Wahrheit verstehen will. Will man diese idealtyporientierte Perspektive aufgeben, wie es sich beim frühchristlichen Dialog als sinnvoll erwiesen hat, müssen Texte, die im Mittelalter die von De nuptiis Mercurii et Philologiae inaugurierte Tradition fortschreiben, neben den von Schmidt inventarisierten Typen in die Beschreibung des Dialogs einbezogen werden. 9 Aus der Sicht der für die Rezeption bedeutenden Traditionen ergibt sich, zusammenfassend gesehen, für die klassisch antiken Dialoge ein anderes Bild als für die frühchristlichen. Für die drei vorchristlichen Dialogtraditionen geht man von einer relativen Homogenität der Texte untereinander aus und benennt sie weithin nach den Autoren, die sie begründen: Piaton, Cicero und Lukian. 1 0 Ein ähnlicher Ansatz läßt sich für die christliche Spätantike schwerlich weiterverfolgen, da die beiden zentralen Namen Augustinus und Boethius jeweils für mehrere Texte mit ganz unterschiedlichen Merkmalen stehen, die keineswegs zwei einheitliche Traditionen ausbilden. Insbesondere die Augustinischen Dialoge entziehen sich einer gemeinsamen Einordnung: Die Cassiciacumgruppe steht in antiker Tradition, die kontroversen Dialoge gehören zu einem mit dem Christentum neu entstandenen Texttyp, und die Soliloquia wirken selbst typenprägend und begründen eine eigene Tradition. Da das Gesamtspektrum alter Dialogtypen dem Mittelalter ohnehin nur potentiell zur Verfügung steht, scheint es aus mediävistischer Sicht nicht notwendig, die beiden Ordnungsansätze der Forschung zu synthetisieren. So blieben die
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Die gattungsmäßige Einordnung des Textes, von dem diese Tradition ausgeht, wird dadurch erschwert, daß der Begriff satura in der Anfangs- und der Schlußpassage von De nuptiis Mercurii et Philologiae den Text der möglicherweise mit dem Dialog konkurrierenden Gattung der menippeischen Satire zuweist. Diese in der Forschung umstrittene Bezeichnung geht jedoch mit dem Ende der Spätantike verloren. Einführend in diese Problematik cf. Pabst 1994,11-84. Diese aus pragmatischer Sicht äußerst hilfreiche Klassifikation wird etwa in den Standardwerken zum italienischen Dialog des Quattrocento und Cinquecento verwendet: D. Marsh (1980), der im ersten Kapitel seiner Studie eine Skizze der Dialogentwicklung von der Antike bis zur Renaissance wagt, sieht im Quattrocento, genau wie V. Cox (1992) in bezug auf das folgende Jahrhundert, überwiegend Dialoge ciceronianischen Typs. Marsh nennt zusätzlich zu den drei geläufigen antiken Traditionen den symposialen Dialog im Anschluß an Xenophon und Piaton als eigenen Dialogtyp (Marsh 1980, 6s.). Diese Typologie nach Referenzautoren, wie sie sich eingebürgert hat, scheint dennoch einer Überprüfung unter stärker textlichen Gesichtspunkten wert, sobald man berücksichtigt, daß etwa - um bei Schmidts Typologie zu bleiben - Ciceros philosophischer Dialog De oratore und die didaktischen Tusculanae disputationes zwei gänzlich unterschiedlichen Texttypen angehören.
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Lukianischen Dialoge im Mittelalter zur Gänze unbekannt. 1 1 Unter den Platonischen Dialogen treten zu einem seit jeher bekannten Timaios-Fragment im Hochmittelalter einzelne weitere Übersetzungen (so Menon und Phaidon im 12. Jahrhundert), 1 2 doch erlangen sie nicht dieselbe Wirkungsbreite und vor allem nicht den Status als Modelltexte für zeitgenössische Dialoge, wie es vom Frühhumanismus an geschieht. Die im Gegensatz dazu äußerst umfangreiche Präsenz und Zitierung der Schriften Ciceros im Mittelalter bringt es dennoch ebenfalls nicht zwangsläufig mit sich, daß deshalb die Dialoge Ciceros als solche eine bedeutende Rezeption erfahren hätten. Ciceros Rhetorik und Philosophie wird viel mehr durch «Spolien, durch Zitate, Exzerpte, Kommentare seiner Schriften, als durch diese selbst» 13 wahrgenommen. Selbst wenn Zitate unmittelbar auf die Dialoge Ciceros zurückgehen, macht dies Alkuins Dialogas oder Disputatio de rhetorica et virtutibus, Isidors Synonyma de lamentatione animae peccatricis oder Andreas Capellanus' De amore - sollten sie auch Dialoge sein - keineswegs zu Dialogen ciceronianischen Typs.' 4 Eine Liste mit charakteristischen Merkmalen, welche alle diese Texte miteinander teilen, dürfte schwerlich zu erstellen sein. Für die Iberische Halbinsel - und womöglich mit darüber hinausreichender Gültigkeit - wurde die Bezeichnung ciceronianisch nach der Spätantike frühestens für Bernat Metges Lo somni von 1399 wieder erwogen, wie es der Patriarch der modernen katalanischen Literaturwissenschaft, Antoni Rubio i Lluch, erstmals schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts tat. In der Wiedereinführung des ciceronianischen Dialogtyps sieht Rubio i Lluch gerade Metges Hauptverdienst: «El mèrit cabdal de l'escriptor és, l'haver estât l'autor del primer diàleg ciceronià de les lletres ibériques. Tot en ell és profundament ciceronià i tot ho aprengué, sens dubte, En Bernat Metge, per conducte del Petrarca del qui [sic] es confessava tan entusiàsticament enamorat» (Rubió i Lluch 1 9 1 7 / 1 8 , 7 7 ) . 1 5
Rubio i Lluchs Einschätzung, in deren Umkreis sich eine lange Auseinandersetzung entwickelt hat,' 6 müßte heute relativierender formuliert werden, doch 11
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Aus der breiten Forschungsliteratur zur Lukianrezeption cf. zum spanischen 15. Jahrhundert Zappala 1990,97-108 und Marsh 1998. H. Meinhardt in L M A 7, col. I i . W. Rüegg in L M A 2, col. 2066. Die Beispiele stammen, ohne daß dort die irrige Schlußfolgerung gezogen wäre, von W. Rüegg ( L M A 2, col. 2063-2072). - Problematischer ist das Vorgehen von A . Michel (1984): Unter influence du dialogue cicéronien faßt er gleichermaßen den Inhalt von Alkuins Dialog De inventione, die Methode der Autoritätenkonfrontation in den quaestiones disputatae von Thomas von Aquin und die literarische Form der humanistischen Dialoge, eine Einebnung, die zumindest Verwirrung stiftet. M. de Riquer erkennt bereits in Metges fragmentarisch gebliebener Apologia den Versuch, an die antike Ciceronische (und die Petrarkische) Dialogtradition erstmals in einer romanischen Volkssprache wiederanzuknüpfen: «Por primera vez un escritor compone en lengua vulgar un tratado grave en forma de diálogo filosófico, enlazando indirectamente con la tradición de los diálogos platónicos y directamente con los de Cicerón y Petrarca» (Riquer 1959,77). Metges in der katalanischen Literatur epochemachender Dialog Lo somni wurde
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genügt es im Hinblick auf das iberoromanische Mittelalter bis mindestens zu Bernât Metge folgendes zusammenfassend festzustellen: D a keine der drei Dialogtraditionen, die von der Forschung übereinstimmend in der klassischen Antike gesehen werden, im Mittelalter wirksam wird, muß der einzelne mittelalterliche Dialog zunächst vor dem Hintergrund der frühchristlichen Dialoge untersucht werden: Relevant sind hierbei die in der genannten Typologie unter dem kontroversen und didaktischen Typ gefaßten Dialoge, dazu die selbstbetrachtenden Dialoge in ihrer augustinischen und boethianischen Ausprägung sowie schließlich die auf Martianus Capeila zurückgehende Tradition. 17 In einem zweiten Schritt sind die darauf aufbauenden mittelalterlichen Weiter- und Eigenentwicklungen als mögliche Modelle oder zum Vergleich einzubeziehen.
I.I.2 Felder der mediävistischen Dialogforschung Die Sekundärliteratur zum Dialog im Mittelalter bildet keine Reihe von aufeinander bezogenen Arbeiten, sondern befaßt sich mit disparaten Parzellen der mittelalterlichen dialogischen Literatur; gerade durch diesen Umstand deutet sich deren Weite aber bereits an. Einen Überblick über den Textbestand bieten zunächst zwei Lexikonartikel. 18 Prosadialoge spiritueller Thematik sammelt der substantielle Eintrag von E. Bertaud (1957) im Dictionnaire de spiritualité, der trotz der Vernachlässigung der Volkssprachen im Mittelalter durch seine weite Auslegung des Begriffs «dialogue spirituel» die immer noch umfassendste Materialschau erarbeitet. D e r Artikel «Dialog» im Lexikon des Mittelalters (1986) dagegen unterscheidet ein sehr weitgestecktes Dialogkonzept, das auch das Drama, dialogische Elemente in der Liturgie und in epischen Formen sowie teilweise mündliche Dialoge im schulischen und universitären Unterrichtsbetrieb nicht ausschließt, von einem engeren Konzept, das in getrennten Sparten
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außerhalb Kataloniens bislang wenig und in seiner Eigenschaft als Dialog überhaupt nicht beachtet, obwohl gerade die Studie von L. Badia (1984a) eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten für die Dialogforschung bietet. In der katalanischen Literaturwissenschaft dagegen wird u. a. in bezug auf Metge in einer umstrittenen Begriffsprägung von einem frühen humanisme català gesprochen. Die grundlegenden Beiträge zur Bildung dieses forschungsgeschichtlichen Konzepts analysiert L. Badia (1980). Der von Schmidt angesetzte Typ des hagiographischen Dialogs spielt im iberoromanischen Mittelalter keine Rolle. Z w a r sind die Libri dialogorum von Gregor dem Großen weithin verbreitet und werden in die iberoromanischen Volkssprachen übersetzt (die älteste der drei Übersetzungen ist die katalanische, die um die Wende zum 14. Jahrhundert entsteht); es entstehen jedoch keine zeitgenössischen hagiographischen Dialoge. Einführend zu den drei frühchristlichen hagiographischen Dialogen von Gregor dem Großen Sulpicius und Palladius sowie zu ihrer Abhängigkeit vom klassischen Biographieschema cf. Coleman-Norton 1926. Daneben verspricht das Habilitationsvorhaben von Frau Dr. Carmen Cardelle de Hartmann (München), die an einem Korpus des lateinischen Dialogs von 1200 bis 1400 arbeitet, eine noch breitere Basis für die Untersuchung des mittelalterlichen Dialogs zur Verfügung zu stellen.
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Prosadialoge und Dialogdichtung erfaßt. D e r analytische Teil des Artikels geht vor allem auf die Breite des Figurenspektrums der Dialoge ein. Der die romanischen Literaturen betreffende Abschnitt entspricht für die Prosa in seiner Anlage grosso modo Schmidts Typologie des frühchristlichen Dialogs und erwähnt Beispiele für didaktische, philosophische und selbstreflektierende Dialoge aus dem Mittelalter. A n der systematischen Stelle des frühchristlichen Kontroversdialogs werden hier dagegen nicht die eigentlichen mittelalterlichen Kontroversdialoge genannt, wie sie in der Mediävistik häufig unter der Bezeichnung «Religionsgespräche» erforscht werden (ihre romanischen Vertreter bleiben unerwähnt); vielmehr treten an ihre Stelle die «Streitgespräche bzw. Streitgedichte», die im Abschnitt zum Versdialog nochmals auftauchen, hier wiederum zusammen mit der dem Dialog «verwandten» Tenzone, «eine Art Dialog auf D i s t a n z » . S c h l i e ß l i c h sind auch dramatische Texte erwähnt. Die Literaturangaben beweisen, daß es der nur sporadisch vorhandenen Forschungsliteratur geschuldet ist, wenn dieser Überblick Fragen offen lassen muß. 20 Einen großen Fortschritt bedeutet das von Mischa von Perger im jüngst erschienenen Sammelband von K. Jacobi (1999) erstellte Repertorium des lateinischen Dialogs von der Spätantike bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, in das Dialoge von mehr als 160 Autoren Aufnahme fanden. Auch volkssprachliche Dialoge werden hier fallweise berücksichtigt; verwehrt wurde die Aufnahme dagegen solchen Dialogen, in denen ausschließlich personifizierte Sprecher vorkommen. Diese und einige weitere Einschränkungen - etwa die Begrenzung auf Dialoge philosophisch-theologischer Thematik - lassen erwarten, daß im mittelalterlichen Dialogkorpus noch Neuaufnahmen zu verzeichnen sein werden. Andererseits dürfte die Stabilisierung des Gattungskonzepts, wie sie in der Dialogforschung abzusehen ist, auch dazu führen, daß bei einzelnen bisher weithin als Dialogen angesprochenen Texten diese Klassifizierung überdacht werden muß. Zwei der soeben genannten Teilbereiche, nämlich die Trobadordichtung in Gestalt der Tenzone sowie die mittellateinischen und romanischen Debatten, sind bisher auf das größte Forschungsinteresse gestoßen. Es wird unmittelbar deutlich, daß beide, wenn überhaupt, in einem nur sehr losen Zusammenhang mit den genannten alten Dialogtraditionen stehen können. In Tenzonen und jocs partits, den beiden Varianten der dialogischen Trobadordichtung, werden zu einer gleichbleibenden Melodie strophenweise abwechselnd die Aussagen
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A . Vitale-Brovarone in L M A 3, col. 956-958, Zitat col. 957s. Daneben untersuchen die Einträge «Agonistik», «Altercatio», «Debatte», «Dialog», «Diskussion» und «Disputation» im Historischen Wörterbuch der Rhetorik in unterschiedlicher Gewichtung mündliche und schriftliche A s p e k t e der genannten Lemmata und bieten weiterführende Hinweise auf die Geschichte des Dialogs, keiner davon entfaltet das Panorama der Texte jedoch so weit wie die beiden erstgenannten Artikel. - In ihrem Juan de Lucena gewidmeten Artikel nennt A . Vian (1991) für den mittelalterlichen Dialog sechs große, zeitlich und typologisch gemischt abgesteckte Bereiche, in denen im Mittelalter Dialoge auftreten. Cf. auch die Zusammenstellung apologetischer Dialoge bei Zöckler 1893 und den Lexikonartikel Bardy 1957.
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zweier Trobadors wiedergegeben. In Tenzonen werden dabei freie Streitthemen behandelt, während sich die Sprecher im joc partit oder partimen in einer in der Anfangsstrophe ausgemachten Rollenverteilung zu einer festgelegten, dilemmatischen Streitfrage äußern. Man geht in textgenetischer Hinsicht überwiegend von der «Echtheit» der Gedichte aus, in dem Sinne, daß es sich bei den überlieferten Texten um die spätere Aufzeichnung einer spontanen Aufführung durch zwei Trobadors handelt. 21 D i e Existenz einer Reihe von fingierten Tenzonen mit nicht-menschlichen Sprechern zeigt allerdings, daß dieser Textursprung nicht ohne Ausnahme ist. 22 Unabhängig von der Textgenese ist allen dialogischen Trobadorgedichten die agonale Ausrichtung gemeinsam. Ziel der Auseinandersetzung ist in erster Linie der Wettbewerb der Dichter oder der textinterne Wettbewerb der Sprecherfiguren bezüglich ihrer rhetorisch-argumentativen Virtuosität. Die inhaltliche Entscheidung der vorgelegten Fragen scheint dagegen nicht das Hauptanliegen der Wettstreite zu sein. Diese Einschätzung läßt sich bedenkenlos auf die in der Fortführung der Trobadordichtung auf der Iberischen Halbinsel gepflegten demandes i respostes und preguntas y respuestas erweitern.^ Die dialogische Trobadordichtung unterscheidet sich damit gleich in mehreren Punkten fundamental von den oben beschriebenen älteren Dialogtraditionen; besonders aber durch ihre Konzeption als spielerischer Wettstreit in einer musikbegleiteten Aufführung. 2 4 Im Rahmen der okzitanischen Versdichtung ist noch an eine andere, seltenere und viel weniger beachtete Gattung zu denken, in der dialogische Ausgangssituationen eine wichtige Rolle spielen: Die okzitanischen ensenhamens, teilweise über tausend Verse lange Gedichte aus dem Bereich der didaktischen Literatur, beginnen in ihrer Mehrzahl mit einer Version des Begegnungsmotivs mit anschließendem Lehrgespräch, in dem das Ich die Rolle des Lehrers übernimmt. Dieser erteilt - meist nach einem Natureingang - einem wißbegierigen Spielmann, Knappen oder einer jungen Frau Unterricht über standesgemäßes Verhalten. Der Dialogcharakter tritt hier allerdings nach der Exposition gewöhnlich in den Hintergrund, so daß diese Langgedichte meist nicht als Dialoge angesprochen werden. 25 Einen zweiten Schwerpunkt der Forschung unter der gelegentlich erscheinenden Rubrik Dialog bilden die in der mittellateinischen Philologie unter
Neumeister 1969, 24-27. Fingierte Streitgedichte sind auch durch die einschlägige Stelle in den poetologischen Leys d'amors belegt: «Encaras devetz saber que en aytals dictatz ques fan per diversas personas o z en los quais hom fenh que sian diversas personas [...]» (Bartsch 1875, col. 375, Hervorhebung von R. F.). 23 Z u r dialogischen Cancionerodichtung und ihrem umstrittenen Verhältnis zu den vorgängigen Tenzonen cf. L e Gentil 1949-53,1,459-519, Cummins 1963 und 1965 sowie Potvin 1989, 133-164. 24 Daß es dennoch Berührungspunkte mit dem Dialog als Gattung geben kann, wird in Kap. IV bezüglich des Desconhort aufgewiesen. 25 Monson 1981 und Sansone 1977. Fünf der neun Ensenhamens in Monsons Studie weisen eine dialogische Ausgangskonstellation auf. 21
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dem Begriff altercationes zusammengefaßten Texte, deren Gegenstücke in den Literaturgeschichten der Volkssprachen uneinheitliche Bezeichnungen führen. Man findet u. a. die Bezeichnungen mlat. certamen und conflictus, frz. / kat. debat, kat. / span, disputa, frz. desputoison, span, denuesto und ital. contrasto. Für die entsprechenden Texte aus der arabischen Literatur hat sich im Deutschen der treffende Begriff «Rangstreitdichtung» eingebürgert. 26 Unter diesen verschiedenen Bezeichnungen erscheint «Debatte» aus gesamtromanischer Sicht am geeignetsten. Es handelt sich um Auseinandersetzungen in Versform, seltener in Prosa, in denen als Sprecherfiguren ein Paar von unmittelbaren Gegensätzen, Sachen, menschlichen Figuren oder personifizierten Begriffen wie z.B. Sommer und Winter auftritt. Ein Korpus für die mittellateinische Literatur ist bereits seit langem vorhanden, während es für die Iberoromania erst kürzlich im Bereich der altspanischen Literatur zusammengestellt wurde. 27 In der Auseinandersetzung geht es im typischen Fall nicht um eigendynamische argumentative Zusammenhänge, sondern um eine Reihe von Aspekten der angeblichen Höherwertigkeit des jeweiligen Sprechers an sich bzw. des Konzepts, das dieser repräsentiert. Daher koinzidieren normalerweise der Titel, das Thema und die Namen der Sprecherfiguren von Debatten miteinander. Der Regelmäßigkeit dieser Konstellation stehen große Unterschiede in der Thematik bzw. den Figuren, in der formalen Realisierung, im Ernsthaftigkeitsgrad sowie in der geographischen und chronologischen Herkunft der Texte gegenüber. D i e Gattung ist für Llull nicht ohne Bedeutung und wird an späterer Stelle ausführlicher vorgestellt. 28 Der religiöse Rangstreit dagegen ist dann nicht mehr der Debatte zuzurechnen und bildet eine eigene Textsorte, wenn er sich näher auf dogmatische Argumentationen einläßt. Religionsdialoge machen den dritten Bereich aus, in dem in der Mediävistik der Dialogbegriff benutzt wird. Für sie ist an erster Stelle auf das sehr breite Angebot der einschlägigen Sekundärliteratur zur christlich-jüdischen, daneben zur christlich-islamischen Religionspolemik zurückzugreifen. Die seit Tertullian und Augustinus in großer Fülle entstandenen Texte wurden von judaistischer und theologischer Seite inventarisiert und analysiert 29 Insbesondere wurden
Wagner 1963. - Aus pragmatischen Gründen erscheint es nicht sinnvoll, die Bezeichnungen Debatte bzw. mlat. altercatici auch für andere Textgruppen zu verwenden, wie es im Eintrag «Altercatio» im Historischen Wörterbuch der Rhetorik (Cizek 1992) geschieht, selbst wenn diese Bezeichnungen gelegentlich in den Texten selbst auftreten. 27 Cf. H.Walther (1920, im Nachdruck 1984 mit umfangreichen bibliographischen Nachträgen von P.G.Schmidt) bzw. Martínez Torrejón 1995. Cf. insbesondere die jüngst erschienene Studie und Edition des spanischen Korpus bei Franchini 2001. 28 Cf. Kap.VI.2. 29 B e i H. Schreckenberg (1982-94) sind lexikonartig eine große Anzahl verschiedenster christlicher Texte zur jüdischen Thematik verzeichnet. Für vergleichbare Zusammenstellungen cf. Blumenkranz 1963, Rengstorf 1968, Cohen 1982 sowie Dahan 1990. J. Riera i Sans (1989) stellt die katalanischsprachige antijüdische Literatur vor, während bei K. Schubert (1977) auch Hinweise auf die dialogische Polemik von jüdischer Seite gegeben werden. 26
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als wichtigste Manifestationen der jüdisch-christlichen Auseinandersetzung die Religionsgespräche oder besser Zwangsdisputationen von Paris, Tortosa und insbesondere die von Barcelona (1263) untersucht. Über die historische Aufarbeitung hinaus wurde dabei die Frage gestellt, ob die zu den Gesprächen überlieferten Texte stärker dokumentarisch oder literarisch seien.30 Unabhängig von ihrem Dialogcharakter wurden religionspolemische Texte, die in der Mehrzahl von der christlichen Seite stammen, in der Sekundärliteratur insbesondere bezüglich der historischen Entwicklung der Argumentationsstrategien untersucht. 31 Inzwischen haben mehrere Sammelbände zum mittelalterlichen Religionsgespräch im Spannungsfeld von Islam, Judentum und Christentum das methodische und das Textspektrum beträchtlich bereichert, 32 aber keineswegs zu einer einheitlichen Terminologie geführt, so daß ζ. B. Religionsgespräch (span, diálogo religioso) als Bezeichnung von mündlichen oder schriftlichen Phänomenen ambivalent bleibt. Aus textwissenschaftlicher Sicht wäre hier eine rigorosere Trennung wünschenswert. Auch kann die Beschränkung der Forschung auf die Auseinandersetzung zwischen den drei monotheistischen Religionen unter Ausschluß der Konflikte zwischen den christlichen Kirchen oder zwischen unterschiedlichen dogmatischen Richtungen innerhalb einer Religion nur aus pragmatischen Erwägungen heraus gerechtfertigt werden. Neben den drei genannten Themengebieten der mediävistischen Dialogforschung - Trobadorlyrik, Debatten und Religionsgespräche - sind in jüngster Zeit erste Publikationen hinzugekommen, die den Prosadialog in der mittelalterlichen theologisch-philosophischen Fachliteratur unabhängig von mündlichen Religionsgesprächen erschließen. Insbesondere sind dies die grundlegenden Untersuchungen von P. von Moos (1989, 1991 und 1998a / b) sowie der bereits genannte Sammelband Gespräche lesen von K. Jacobi (1999). Daneben befaßt sich ein jüngst erschienener Aufsatz von C. Cardelle de Hartmann (2001) mit dem lateinischen Religionsdialog als Textsorte, wobei eine Typologie mit den Klassen des didaktischen, philosophischen und dramatischen Dialogs vorgeschlagen und durch historische Aspekte ergänzt wird, indem die Texttypen in ihren Entstehungs- und Verwendungskontext eingeordnet werden. Sowohl Jacobi als auch Cardelle de Hartmann sehen den Dialog im Mittelalter aufgrund mangelnder gemeinsamer Merkmale ausdrücklich nicht als Gattung
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Für die Editionen des lateinischen Berichts und des hebräischen Dialogs zur Disputation von Barcelona cf. Kap. II, Anm. 11 und 12. Unter den jüngeren Publikationen zu den christlich-jüdischen Zwangsdisputationen ist insbesondere auf R. Chazan (1989 und 1992) zu verweisen, der die ältere Forschungsliteratur erschließt. Für die christliche Seite cf. Funkenstein 1971, Chazan 1983 und Cohen 1992, für die jüdische Roth 1986. Lewis / Niewöhner 1992, Valle 1992, Santiago-Otero 1994 sowie Mediaevalia 1994 und Limor 1996. Viele Beiträge dieser Bände führen die in den drei vorherigen Fußnoten genannten Forschungen weiter. Die christlich-islamische Polemik des Mittelalters ist in der Bibliographie von L. Hagemann (1979 und 1980) erfaßt. 12
im Sinne einer zeitgenössisch präsenten kommunikativen Konvention. 33 Von zumindest a posteriori feststellbaren gemeinsamen Zügen, die über den Dialog als universalen Ausdrucksmodus hinausgehen, muß allerdings zur Erstellung von Textkorpora, wie sie beide Arbeiten aufweisen, zwangsläufig zumindest implizit ausgegangen werden. Trotz des Verzichts auf eine gattungstheoretische Eingrenzung des Dialogkonzepts wird in den genannten Arbeiten der lateinische Dialog vor allem in der theologisch-philosophischen Literatur des Mittelalters erstmals unter vorwiegend textwissenschaftlichen Gesichtspunkten untersucht. Im Prinzip sind die drei genannten Bereiche dialogischer Literatur im Mittelalter klar voneinander unterscheidbar. Selbstverständlich lassen sich aber auch Texte nachweisen, die aus mehreren Traditionen schöpfen. Als Beispiel hierfür mag der Debat del cor amb el cos 34 gelten: Es handelt sich um ein elfstrophiges Streitgedicht mit Tornada, in dem sich Cors und Cor strophenweise abwechseln. Der Körper klagt über die unerfüllte Liebe zu einer Frau und über die Verschlagenheit des weiblichen Geschlechts. Er lehnt höfische Tugenden für sich als nutzlos ab und rät zur Suche nach einer wohlgesonneneren Frau. Das Herz weist die Frauenkritik mehrfach zurück, beharrt auf seiner Macht über den Körper und fordert ihn auf, die Dame weiter anzuflehen. In der Tornada wird die Dame unter dem senyal «Carvoncles bells» darum gebeten, den Streit zu richten. Während das Sprecherpaar typisch für die Debatte ist, weist der Text daneben auch typische Merkmale der fingierten Tenzone auf. Auch die Debatte und der Religionsdialog können auf ähnliche Weise miteinander verbunden werden. Die Forschungstraditionen zu den drei Bereichen bleiben jedoch zurecht getrennt, da Einzelfälle von Mischungen erst vor dem Hintergrund ihrer unterschiedlichen Bezüge beschreibbar werden. In diesem Forschungsüberblick fällt auf, daß der Dialogbegriff in der Mediävistik über ein breiteres Einsatzspektrum verfügt als in der Forschung zu anderen Epochen. Dort bezeichnet er in weitgehendem Konsens eine literarische Gattung, deren Textkorpus homogener wirkt, weil es offenbar - wie etwa in der italienischen Renaissance - durch ein stärkeres Gattungsbewußtsein seiner Autoren geprägt ist und seit dem 16. Jahrhundert auch vor dem Hintergrund
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«Die einzelnen Dialoge sind nicht Fälle einer Gattung, nicht Wiederholungen und nicht einmal Abwandlungen eines bestimmten Musters» (Jacobi 1999,10) bzw. «El diàlogo no es un género con algunas características comunes a todas las obras, una temática similar, relacionado con una situación de lectura o un público determinados, sino un modo de expresión de aplicación universal» (Cardelle de Hartmann 2001, 103). E r ist in drei Handschriften überliefert, in denen er einem ansonsten unbekannten Autor namens Pestrana zugeschrieben wird. Dieser könnte allerdings mit dem Grammatiker Juan Pastrana, der um die Wende zum 16. Jahrhundert lebte, identisch sein (Ed. bei Arqués 1993, zur Zuschreibung ib. 67 und 69). - Hier wie im folgenden verweisen Kurzangaben mit «Ed. bei» auf die Sekundärbibliographie im Anhang dieser Arbeit, während Angaben, bei denen nach «Ed.» unmittelbar der Verfassername folgt, im Verzeichnis der Primärtexte aufgeführt sind.
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einer eigenen präzeptiven Literatur entsteht. In der Mediävistik wird Dialog dagegen für textliche Phänomene in großer medialer Spannbreite verwendet. Sie reicht von mündlichen Manifestationen und ihrer Dokumentation (Zwangsdisputation) über die zur wiederholten mündlichen und musikalischen Aufführung vorgesehenen Texte (Tenzonen) bis hin zu den rein schriftlichen Debatten und philosophischen Dialogen. Im gleichen Maß variieren die Inhalte, die formale Realisation und der Sitz im Leben dieser «Dialoge». Um die Operativität des Dialogbegriffs zu gewährleisten, wird es daher notwendig, dieses Spektrum einzuschränken und für die Anwendung auf Ramon Llull und die Llullschen Dialoge zuzuspitzen.
I.1.3 Ein Dialogkonzept für das Mittelalter In älteren Untersuchungen zum Dialog steht häufig die Suche nach der «Echtheit» als Qualitätsmerkmal des Dialogs im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Gemeint sein kann damit zunächst die Wahrhaftigkeit bei der vermeintlichen Verschriftlichung eines vorgängigen mündlichen Gesprächs. Tatsächlich gründet sich das positive Urteil, das R. Hirzel (1895) am Ausgangspunkt der Dialogforschung über die Modellhaftigkeit der Platonischen Dialoge gefällt hatte, auf diese angebliche Wahrhaftigkeit in der Verschriftlichung, die die Platonischen Dialoge suggerieren, und die schon den nicht überlieferten Aristotelischen Dialogen abgehe, weil sie in ihrer nachweislichen Aufteilung in Teilbücher eine stärkere Bearbeitung durch den vermeintlich ein Gespräch aufzeichnenden Autor aufweisen würden. Hinzu kommt die Vorstellung, in Piatons Dialogen Abbildungen spontaner, von Individuen gemeinsam erfahrener Erkenntnisprozesse sehen zu können. Gefordert wurde also vom Dialog idealiter, ein reales Gespräch wiederzugeben, in dem die Teilnehmer theoretische Probleme erörtern und im Verlauf sowohl des Gesprächs als auch des schriftlichen Dialogs einen gemeinsam erarbeiteten Erkenntnisgewinn davontragen. Die Teilnehmer des Idealdialogs werden damit als unvoreingenommene, unabhängige Erkenntnissubjekte gesetzt, die durch gedankliche Zusammenarbeit und Austausch zu gemeinsamen Urteilen gelangen, welche mit möglichst geringem Umsetzungsverlust in das schriftliche Medium überführt werden sollen. Dieser Auffassung ist ein für die mittelalterliche Literatur und möglicherweise darüber hinaus gültiger Einwand entgegenzuhalten. Wie für jegliche schriftlich niedergelegte Literatur gilt auch für den Dialog, daß Spontaneität für die Konzeption und das Verfassen nicht experimenteller Texte eine vernachlässigbar kleine Rolle spielt. Nur vor einem genieästhetischen gedanklichen Hintergrund könnte die Spontaneität bei der Textproduktion ein allgemeingültiger Bewertungsmaßstab sein. Allenfalls sollte die Frage gestellt werden, welche Bedeutung der Fiktion von Spontaneität mit Hilfe literarischer Rekurse zukommt und welche Rekurse sie erzeugen. Sich dem mittelalterlichen Dialog unbefangener zu nähern heißt, auf idealtypische Dialogmodelle insbesondere dialektischen Zuschnitts, wie sie am Platonischen Dialog gewachsen sind, zu verzichten. Daher sollte man davon
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absehen, Dialoge, in denen etwa in einer Lehrer-Schüler-Konstellation nur einer der Sprecher einen Wissenszuwachs erfährt oder in denen bei kontroverser Sprecherkonstellation einer der beiden Sprecher schließlich vollends überzeugt wird oder beide unverändert auf ihrer Meinung beharren, von vorneherein niedriger zu bewerten und ihren Dialogcharakter als «oberflächlich» oder «vorgetäuscht» in Zweifel zu ziehen. Dialog würde somit vorschnell und fälschlich mit Dialektik identifiziert. 35 Auch die pragmatisch motivierte Erwägung von P. von Moos, sich einstweilen angesichts der schwer überschaubaren Verbreitung von Dialogen im mittelalterlichen Schrifttum auf die «echten, im weitesten Sinne dialektischen»36 zu beschränken, birgt die Gefahr, mit den nicht dialektischen Dialogen gerade die Eigenentwicklungen des Mittelalters im Spektrum der Gattung zu vernachlässigen. Vielmehr muß es darum gehen, die den mittelalterlichen Dialogen zugrunde liegenden Bauprinzipien zu beschreiben. Den Maßstab sollten dabei nicht als Ideal gesetzte Modelle, sondern die zeitgenössisch konkurrierenden Textsorten abgeben.
I.1.3.1 Mündlichkeit und Schriftlichkeit D e r Dialog als Textsorte steht grundsätzlich im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, indem er im schriftlichen Medium eine mündliche Kommunikationssituation simuliert. Aus mentalitätsgeschichtlicher Perspektive wirft diese Spannung die Frage auf, ob die Fiktion von Mündlichkeit im Dialog Rückschlüsse auf die Stellung von Oralität und Skripturalität in der mittelalterlichen Kultur erlaubt. P. Zumthors bedeutende Beiträge zu dieser Fragestellung unterstreichen die zentrale Bedeutung der Mündlichkeit für weite Bereiche der mittelalterlichen Literatur. Zumthor legt seinen Betrachtungen die Unterscheidung von fünf Arten von Zugriffen (opérations) zugrunde, die das Werk (œuvre) in seiner Geschichte erfahren kann: production, transmission, réception, conservation und répétition 37 Sie können alle, wie etwa in schriftlosen Gesellschaften, durchgängig im Modus der Mündlichkeit gehalten sein - dem Beobachter sind sie in diesem Fall nur in der Gegenwart oder mittelbar durch zeitgenössische Äußerungen über sie zugänglich. Genauso können sie durchgängig schriftlich sein, oder es können sich Wechsel der Medialität in die eine oder andere Richtung ergeben. Insbesondere ist Zumthor an solcher mittelalterlicher Literatur interessiert, deren Rezeption im Rahmen einer mündlichen Aufführung (performance) stattfand:
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In Fällen, wo darüber hinaus die Instanzen Autor und Text nicht prinzipiell getrennt werden, überträgt sich in einem psychologisierenden Interpretationsansatz diese Wertung der Texte in unzulässiger Weise auf die intellektuellen Fähigkeiten der Autoren: Über Hieronymus kann es dann ζ. B. heißen, er sei «zu einem unszenischen Dialog [...] nicht in der Lage, weil er weder wirklich zuhören noch ernsthaft mit einem Problem ringen konnte» (Voss 1970,196). M o o s 1989, 169. Zumthor 1984,40.
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«La performance, c'est l'action complexe par laquelle un message poétique est simultanément transmis et perçu, ici et maintenant. Locuteur, destinataire(s), circonstances (que le texte, par ailleurs, à l'aide de moyens linguistiques, les représente ou non) se trouvent concrètement confrontés, indiscutibles. Dans la performance se recoupent les deux axes de la communication sociale: celui qui joint le locuteur à l'auteur; et celui sur quoi s'unissent situation et tradition» (Zumthor 1984,32).
Chanson de geste und chanson de toile sind dabei Gattungsbeispiele, bei denen der (mündlichen) Performanz eine ebenfalls mündliche transmission voraufging, während die mündliche Darbietung etwa beim roman courtois und grand chant courtois einen Medialitätswechsel mit sich bringt, denn beide Gattungen liegen vor der Performanz bereits schriftlich vor. Aus heutigem Blickwinkel entsteht jedoch durch ihre spätere Verschriftlichung auch bei ursprünglich rein mündlichen Gattungen wie der chanson de geste ein Spannungsfeld zwischen den beiden medialen Modi. Zumthors zentrales Interesse liegt in den Elementen, durch die in der Performanz aus der sprachlichen Abfolge des Textes das «Werk» wird: Stimmodulation, Gestik, äußere Umstände der Aufführung u. a. m.38 Durch Zumthors Ausführungen wurde die Tatsache, daß mittelalterliche Literatur weitgehend als poésie vocale, also in ihrer Bestimmtheit für die Performanz zu sehen ist, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Problematisch bleibt dabei allerdings, daß das Interesse an mündlichen Phänomenen schlechterdings als umfassendes Analysemodell für die uns vorliegenden schriftlichen Texte dienen kann, die nur residuale Hinweise auf die vorgängige Performanz bieten können.3^ Zumthors Unterscheidung von poésie orale, oder besser poésie vocale, und poésie écrite (also Texten, die der Adressat selbst liest und nicht in ihrer mündlichen Performanz rezipiert) scheidet die mittelalterliche Literatur in zwei Bereiche, für die die dialogische Konstitution der Texte nicht von Bedeutung ist. Dialoge als Texte mit mehreren Sprechern unterscheiden sich in dieser Konzeption von Mündlichkeit und Schriftlichkeit nicht prinzipiell von monologischen, da sich beide entweder als poésie vocale in der mündlichen Aufführung realisieren oder eine rein schriftliche Existenz haben können. Für Zumthors Fragestellung sind daher selbstverständlich unter den dialogischen Gattungen insbesondere die Tenzonen von Interesse, allerdings eben nicht wegen ihrer dialogischen Konstitution, sondern wegen ihrer Performanz. Andere Typen dialogischer Literatur finden dagegen qua Dialog keine spezielle Berücksichtigung. Im Kapitel Dialogue et spectacle von Zumthors Essai de poétique médiévale heißt es:
Œuvre ist somit «la totalité des facteurs de la performance - tout ce qui est poétiquement communiqué, hic et nunc: mots et phrases, sonorités, rythmes, éléments visuels» (Zumthor 1984,38). •W Zumthor (1983) untersucht an aktueller oraler Literatur die Bedingungen, denen ihre Performanz im allgemeinen unterliegt und skizziert die Möglichkeit, an mittelalterliche Texte Fragestellungen der Mündlichkeit heranzutragen und Spuren einstiger Performanz im überlieferten Text zu suchen (Zumthor 1984, 25-30). Es bleibt jedoch auffällig, daß sich eingehendere Einzeluntersuchungen bei Zumthor nicht finden. 38
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«Je ne considère pas ici le dialogue assumé par un récit, ni même les nombreux débats introduits par le type-cadre de la Rencontre; mais le dialogue autonome, dans lequel se résorbe la totalité du texte, et qui constitue une forme de discours particulière [...] D'Alain de Chartier à Jean Molinet, le débat semble n'être plus qu'un type-cadre: sa fonction est purement textuelle et n'a rien à voir avec quelque forme que ce soit de spectacle» (Zumthor 1972,429s.).
Folglich werden Dialoge, für die keine ursprüngliche Realisation im Mündlichen belegt ist, in Zumthors typologischem Gliederungsvorschlag für die gesamte mittelalterliche Literatur nicht eigens berücksichtigt. 40 Zumthors Mündlichkeits- / Schriftlichkeitskonzept ist daher nur auf einen kleinen Teilbereich der mittelalterlichen dialogischen Literatur anwendbar - die Tenzonen - , und auch auf diese nicht wegen ihres Dialogcharakters. Bezugnehmend auf die Textgenese könnte darüber hinaus auch in anderen dialogischen Texten, sofern sie aus realen Gesprächen hervorgegangen sind, nach residualen oralsprachlichen Komponenten gesucht werden, insbesondere natürlich bei protokollarischen Aufzeichnungen, etwa von Gerichtsprozessen. Im Einzelfall ist dies auch bei universitären Disputationen zu erwägen. Determinante Aussagen zu dieser Frage treffen jedoch auf die methodisch kaum überwindbare Schwierigkeit, historische Mündlichkeit zu rekonstruieren, 41 so daß es häufig unentscheidbar bleiben dürfte, ob die Darstellung von Oralität im Dialog einer historischen Realität entspricht, ob ihr Vorhandensein aus der Textgenese erklärbar ist oder ob es sich um einen bewußt zu mimetischen Zwecken eingesetzten fiktionalen Rekurs handelt. Bei Hirzel (1895) hatte als grundlegendes Merkmal für den Dialog noch zu gelten, daß der vom Autor ausgearbeitete Text zumindest bei den idealtypischen Dialogen auf wenigstens zwei gedankliche Urheber zurückgehen müsse. Dialog ist daher für Hirzel wesentlich die Interaktion zweier historischer Personen und nicht deren Fiktion; literarische Elemente sind als übergelagertes Stratum zu begreifen und rein fiktionale Dialoge als zweitklassige Nachahmung der eigentlichen Gattungsvertreter. Die Entstehung von Dialogen aus mündlichen Kommunikationssituationen heraus ist jedoch keineswegs ohne weiteres gegeben und, wie im analytischen Teil deutlich werden wird, in den meisten Fällen kaum plausibel. Genausowenig kennzeichnet Dialoge eine mündliche Rezeption in szenischer Aufführung, wenngleich sie, genau wie die Genese aus dem Mündlichen, in Ausnahmefällen denkbar 1st.42 Tatsächlich dürfte jedoch die
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Zumthor 1972, 182s. Über «den kulturgeschichtlichen Versuch, eine mentale Form oder regulative Idee> des Gesprächs, eine ungeschriebene, aber gewohnheitsmäßig angewandte des Mittelalters zu rekonstruieren» und seine methodische Problematik berichtet P. von Moos (1991,302). Cf. auch Moos 1998b, 239s. Aufführungen von Dialogen kommen offenbar nur in äußerst untypischen Randbereichen der Rezeption vor. Z u denken wäre dabei an das Hersagen eines auswendig gelernten dialogischen Katechismus zwischen Lehrer und Schüler, an schulische Aufführungen von Dialogen zu Unterrichtszwecken sowie an einzelne Theaterinszenierungen insbesondere Platonischer Dialoge in jüngster Zeit, wie z. B. Iago Pericots Inszenierung El Banquet im Teatre Romea (Barcelona 1990). Dialogtexte an sich
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übergroße Mehrheit mittelalterlicher und anderer Dialoge zu einem durchweg schriftlichen Genre gehören und als solches zu behandeln sein, so daß Zumthors an der Mündlichkeit orientierte Ausführungen für den Dialog als Gattung kaum einschlägig werden. Jene dialogisch konstituierten Texte, für die dies nicht zutrifft - insbesondere die Tenzonen und jocs partits der Trobadorlyrik - , erfordern gerade aus diesem Grund eine eigene Gattungsbeschreibung. Nach den vorangegangenen Überlegungen erscheint es zwingend notwendig, terminologische Unterscheidungen einzuführen, ähnlich wie sie P. von Moos vorschlägt: Er stellt dem im historischen Bereich nur konjektural erschließbaren, immer mündlichen Gespräch den immer schriftlichen Dialog gegenüber. Der Begriff «Gespräch» kann und wird im folgenden in bezug auf Schriftlichkeit deshalb immer nur dann angewendet, wenn das dargestellte Gespräch als Element eines narrativen Zusammenhangs gemeint ist, das Mündlichkeit im schriftlichen Modus simuliert. Darüber hinaus ist der Dialog als Gattung vom Dialog als «medialem Formprinzip»43 zu unterscheiden, wie es sich in der Literaturwissenschaft inzwischen allgemein durchgesetzt hat.44 Als Formprinzip oder Redeform ist Dialog in der Narrativik und auch in der Lyrik - im Drama ohnehin - allgegenwärtig. 45 Dialog bezeichnet also ein literarisches Gestaltungsprinzip und eine Gattung literarischer Texte, Gespräch dagegen einen mündlichen Kommunikationsvorgang und seine schriftliche Fiktion - im folgenden dürfte durch den Kontext immer ausgeschlossen sein, daß eine eventuell verkürzte Redeweise in bezug auf diese Dopplung Verwirrung stiftet.
1.1.3.2 Eingrenzungskriterien Die Erstellung eines Textkorpus, das es erlauben würde, die Weiterentwicklung der alten Dialogtraditionen im Mittelalter als ganze zu interpretieren oder auch nur zu beschreiben, in welchen typischen Formen der Dialog dort auftritt und welche thematischen Bereiche er berührt, muß erhebliche Widerstände überwinden. A b g e s e h e n von dem Aufwand, den die zeitliche und sprachliche Spannbreite mit sich bringt, bedürften insbesondere randständige Dialogformen einer erneuten Überprüfung für den mittelalterlichen Kontext, so daß eine
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lassen jedoch in aller Regel keinerlei Hinweise auf eine Konzeption zur szenischen Aufführung erkennen. Zwar ist das Vorlesen oder laute Lesen einzelner Rezipienten selbstverständlich möglich, doch bleiben Dialoge ein in und für die Schriftlichkeit konzipiertes Genre. Moos 1998b, 235. Cf. die Beiträge von E. Hess-Lüttich (Dialog als Redeform) und Th. Fries / K. Weimar (Dialog als Gattung) im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (Hess-Lüttich
1997)· 45 Auch die darauf folgenden Ausführungen bei von Moos können als grundlegend gelten: Insbesondere wird die metaphorische und zuweilen diffuse Verwendung des Begriffs «dialogisch» angegriffen. Eine noch umfassendere Klärung der Begrifflichkeit leistet K. W. Hempfer (2002), der u. a. Bachtins Begriff des Dialogischen als Instrumentarium zur Beschreibung von Dialog als Gattung verwirft. 18
Vielzahl heterogener Texte Berücksichtigung finden müßte. Erschwerend wirkt, daß Dialog als Selbstbezeichnung von Texten schon in der römischen Antike nicht durchgängig verwendet wird und ohnehin die meisten Dialoge gänzlich ohne eine spezifische Selbstbezeichnung auskommen.'' 6 Wie M. Zappala (1989) in seinem begriffsgeschichtlichen Aufsatz darlegt, überschneidet sich dialogus begrifflich in der Antike einerseits mit colloquium und disputatio dialéctica, andererseits in der Rhetorik insbesondere mit sermocinatio,4? In der frühchristlichen und frühmittelalterlichen Literatur erweitert sich das Spektrum der verwendeten Begriffe beträchtlich, wobei die rhetorische Literatur keine Systematisierungsvorschläge macht. 48 In der mittellateinischen Literatur gerät dialogus als Gattungsbezeichnung nie vollständig außer Benutzung, 49 und auch falsche Neubildungen wie trialogus oder tetralogus50 lassen sich nachweisen, während die Übernahme in die iberoromanischen Volkssprachen nicht vor dem 15. Jahrhundert belegt ist.51 Da weitgehend andere Termini bevorzugt werden oder Hinweise auf die Textsorte ganz fehlen, kann der Überlieferungsbefund unter dem Titel dialogus auch für ein provisorisches Textkorpus nicht genutzt werden. In der fehlenden oder uneinheitlichen Selbstbezeichnung spiegelt sich das kaum entwickelte Gattungsbewußtsein, 5 2 das mittelalterliche Autoren bezüglich ihrer Prosatexte weithin kennzeichnet. Eine klassifizierende Beschreibung der Texte im Zusammenspiel von zeitgenössischen und heutigen Ordnungskriterien wird dadurch aber keineswegs unmöglich und bleibt für
Cicero bezeichnet in De oratore den Gesamttext nur als libri (1,22), während er in eindeutiger Trennung disputatio (1,23) und insbesondere sermo (1,27 und passim) für die fingierte Mündlichkeit reserviert: «ut eum sermonem, quem illi quondam inter se de his rebus habuissent, mandarem litteris» (II, 7) / «das Gespräch, das jene Männer einmal miteinander über dieses Thema führten, aufzuzeichnen». Cf. auch «Instituenti mihi, Quinte frater, eum sermonem referre et mandare huic tertio libro» (III, 1) / «Als ich begann, mein Bruder Quintus, den Vortrag aufzuzeichnen und in diesem dritten Buche festzuhalten» (beide Übers. H. Merklin). 47 Sermocinatio bezeichnet zwar in einem allgemeineren Sinn die direkte oder indirekte Personenrede als Stilmittel der Rede, wird von Quintilian aber auch als lateinisches Gegenstück zu διάλογος angeboten; cf. Institutio oratoria 5,14,27. 48 Zappala 1989,48s. Zum Begriffsspektrum auch Vian 1991,64. 49 Seit der Karolingerzeit mit Alkuins Dialogus de rhetorica et virtutibus ist die Bezeichnung dialogus immer wieder vorzufinden (als beispielhafte Repräsentanten aus den folgenden Jahrhunderten seien angeführt Rather von Veronas D. confessionalis, Petrus Damianis D. inter ludaeum et Christianum, Eberhard von Y p e r n s D. Ratii, Caesarius von Heisterbachs D. miraculorum oder Nicolau Eimerics D. in lullistas). Allerdings ist einschränkend hinzuzufügen, daß die frühen Jahrhunderte wegen der allgemein geringen Zahl überlieferter Texte keine große Nachweisdichte bieten und daß für die Erstellung einer Begriffsgeschichte schwer abschätzbare Eingriffe durch die Textüberlieferung zu berücksichtigen sind. Z u m Buchtitel Dialogus cf. Lehmann 1962,44s. 46
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5' 52
Beispiele für diese und ähnliche Wortbildungen liefert P. Lehmann (1962,45-47). Zappala 1989,43. M . Föcking (2002, 76-84) konstatiert eine Bedeutungsverengung des Wortes im Mittelalter auf den einen Dialog von Gregor dem Großen speziell und gleichzeitig eine Erweiterung auf jedes Gespräch zweier Partner.
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eine textübergreifende Untersuchung auch unabdingbar.^ Es ist daher auf mittlere Sicht ein Desiderat für die Forschung, mittelalterliche Dialoge in Einzeluntersuchungen zu erschließen und aus «dem bunten Gemisch mittelalterlicher Dialogarten» 5 4 eine typologisch-funktionale oder auf Traditionslinien fußende Gliederung zu erstellen. Auf diese A r t der Beschreibung zu verzichten, hieße, der Fehleinschätzung Vorschub zu leisten, im Mittelalter sei der Dialog nicht vertreten und werde erst vom Renaissancehumanismus «wiederentdeckt». 55 Um ein operatives Dialogkonzept für das Mittelalter und insbesondere für Llull abzustecken, läßt sich der Kernbereich der Gattung in Nachfolge der spätantiken Tradition zunächst im Gebiet der religiösen und theologischen Texte vermuten - ein Bereich, dem freilich ohnehin das Gros der überlieferten Texte angehört. Die bedeutendsten mittelalterlichen Dialoge und gleichzeitig die, deren Status als Dialog keine Zweifel aufwirft, gehören hierher: Dialoge mit christlich-jüdischer Thematik wie die von Abaelard, Petrus Alfonsi oder Gilbert Crispin, die Dialoge von Anselm von Canterbury, Eberhard von Ypern oder Ramon Llull. Die von P. Schmidt beschriebenen Typen des frühchristlichen Dialogs werden dabei in unterschiedlicher Intensität weiterhin gepflegt. Nimmt man die nicht speziell religiöse Fachdidaktik hinzu (wie die Dialoge von Alkuin zu grammatischen und rhetorischen oder Guillaume de Conches' Dragmaticon zu naturwissenschaftlichen Fragen), so scheint der Kernbereich des Dialogs in Nachfolge der spätantiken Traditionen umrissen. Ähnlich wie in der Spätantike lassen sich auch im Mittelalter Randbereiche der Gattung Dialog erkennen, in denen der Status der Texte geklärt werden muß. Die Grenzziehung ist mindestens in zwei großen Bereichen besonders zu problematisieren: a) Narrativik: Auf die Problematik der spätantik entstehenden allegorischen Dichtung in prosimetrischer oder in Versform wurde bereits verwiesen. Das Vorhandensein von Personifikationen als sprechende und / oder handelnde Instanzen hat dabei nichts damit zu tun, ob es sich um einen Dialog handelt oder nicht. 56 Daher läßt sich in spätantiker Zeit Boethius' Consolatio philosophiae als Dialog des Ich mit der personifizierten Philosophia klassifizieren, während Prudentius' Psychomachia als Verserzählung einzuordnen ist. Wenngleich der narrative Gehalt des letzteren Textes gering und das Gewicht der Reden von personifizierten Sprecherfiguren in ihm groß ist, steht hier die Erzählung der
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Hempfer 1973,125-127. Moos 1998b, 252. Gómez Moreno 1994, 206s. Dagegen Vian 1991,61s. Hinter dem von K. Jacobi (1999,11) zunächst geäußerten - wenngleich überwundenen - Zweifel, ob Texte mit Personifikationen zu den Dialogen gerechnet werden sollen, steht die Konzeption, Dialoge seien als literarische Form mit der «dialogischen» Auffindung von Wahrheit im Gespräch identifizierbar, die schlechterdings in Auseinandersetzung mit einer als Veritas oder Ratio ausgewiesenen Wesenheit nicht möglich ist.
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Kampfhandlungen stärker im Vordergrund als die argumentative Entfaltung. D i e Psychomachia als Dialog zu bezeichnen, wäre daher verfehlt. Seit dem frühen Mittelalter werden jedoch die Vorlagen von Boethius und Prudentius gleichermaßen als M o d e l l herangezogen, vermischt und weiterentwickelt. A u s dieser gemeinsamen Tradition schöpfen so einerseits ζ. B. Kolloquien personifizierter Tugenden und / oder Laster mit minimaler Narrativität wie der pseudoaugustinische Liber vitiorum et virtutum oder das Kolloquium der Kardinaltugenden von Daude de Pradas. 57 Dasselbe gilt jedoch andererseits für stark narrativ geprägte Texte wie Petrus Compostellanus' Consolatio Rationis oder Bernat Metges Llibre de Fortuna i Prudència. Leichter lösbar ist das Problem der Systematisierung in bezug auf einzelne dialogisch aufgebaute Versnovellen - mit den ältesten Beispielen unter den okzitanischen nòvas - und bei den späteren novelas sentimentales in Prosa, die vom Dialog schwer unterscheidbar sein können, wenn sie einzig aus einer Folge langer Reden bestehen. Auf dem Gebiet der narrativen Sammlungen sind sowohl für Exemplasammlungen wie auch für die späteren Novellensammlungen formale Abgrenzungskriterien zum Dialog zu nennen, da diese Texte gelegentlich über einen dialogähnlichen situativen Rahmen mit mehreren Sprecherfiguren verfügen. b) Traktatliteratur: Die patristische Literatur kennt stark affektiv geprägte Texte für den meditativen Gebrauch, die einen oralen Duktus aufweisen, da sich hier Ausrufe, A p o s t r o p h e n und Interventionen von nichtpersönlichen Instanzen wie der Seele oder der Gemeinschaft der Juden in direkter oder indirekter Rede abwechseln, sich aber nicht stringent artikuliert durch den Text ziehen. Solche Texte werden wegen dieses Duktus' gelegentlich als Dialoge bezeichnet. U m einen in dieser Hinsicht problematischen Text handelt es sich bei den Synonyma de lamentatione animae peccatricis Isidors von Sevilla, ähnliches gilt für Soliloquien, die sich offensichtlich auf den Augustinischen Text mit diesem Titel beziehen, von dort aber nicht die durchgängige Konstitution zweier Sprecherpositionen übernehmen. D a n e b e n entsteht in der späteren theologischen Literatur die scholastische Textform der Sentenzensammlung, später der quaestio disputata. Diese sind durch das A b w ä g e n inhaltlich konkurrierender oder konträrer Positionen im Hinblick auf eine Ausgangsfrage gekennzeichnet. D i e widersprüchlichen Standpunkte der Autoritäten dazu werden kontrastiv dargelegt oder zitiert, um dann einer meist relativierenden Lösung in Form einer Distinktion von Bedeutungsaspekten zugeführt zu werden. Die Darreichungsform im Frage- und Antwortschema bzw. die Artikulation in einander widersprechenden Positionen legt es nahe, auch in solchen Texten Parallelen zum D i a l o g zu sehen, so daß auch hier Abgrenzungskriterien formuliert werden müssen. Dazu scheinen im wesentlichen drei Kriterien von Belang, die im folgenden kurz diskutiert werden.
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PL 40, col. 1091-1106 bzw. Ed. bei Stickney 1879. 21
a) Personenrede und situativer Kontext Zwischen den beiden genannten Bereichen sowie der lyrischen dialogischen Dichtung und dem im Untersuchungszeitraum nur sehr vereinzelt vorhandenen Drama situiert sich der Dialog als eine nicht für die mündliche Performanz im Sinne Zumthors vorgesehene Form, in der miteinander in sprachliche Interaktion tretende Figuren eingesetzt werden. Dieser Einsatz von Figuren, mithin die Personenrede im Gegensatz zur Autorrede eines monologischen Ich, gehört zu den wenigen Kriterien, die auch in der mittelalterlichen theoretischen Literatur zur Einordnung von Texten Verwendung finden. Bis zu den italienischen Dialogpoetiken im 16. Jahrhundert gibt es keine eigens dem Dialog gewidmete theoretische Literatur, so daß die Unterscheidung von Personen- und Autorrede, wie P. von Moos zeigt, seit ihrer antiken Formulierung Bestand hat und keine konkurrierenden Terminologien entstehen. Personen- und Autorrede liegen als Kategorien der Einteilung der Dichtung in der Aristotelischen Poetik zugrunde, sie finden sich aber auch in den Platonischen Aussagen zur dichterischen Mimesis. 58 In einzelnen mittelalterlichen Äußerungen zur Einteilung von Dichtung im Rahmen des Grammatikunterrichts werden das in Personenrede gehaltene genus dramaticum vom in Autorrede gehaltenen genus enarrativum oder im Sinn entsprechende Begriffspaare als characteres tractandi voneinander unterschieden. Dazu kommt das genus mixtum als abwechselnde Benutzung von beiden. Diese Unterscheidung der beiden Aussagemodi wirkt jedoch nicht eigentlich gattungsbegründend, sondern beschreibt eine grundsätzliche linguistische Konstante, deren formbestimmende Wirkung auf die tatsächliche Literaturproduktion, zumal in der Prosa, eher zweifelhaft scheint. 59 Personenrede dennoch als erstes maßgebliches Kriterium für den Dialog anzusetzen, führt bei einigermaßen strenger Auslegung insbesondere im Grenzbereich zur Traktatliteratur zu überzeugenden Ergebnissen. Von Personenrede kann nämlich nur die Rede sein, wenn die argumentativen Positionen von mindestens zwei eindeutig benannten, einzelnen Sprecherfiguren vorgebracht werden, die zumindest im Ansatz in Zeit und Raum eingebunden sind, so daß der Text eine Darstellungsebene aufweist. Die verwendete Sprache kann dabei durch den Versuch geprägt sein, Oralität zu simulieren, dies ist aber keineswegs ein zwingend notwendiges Merkmal von in Personenrede gehaltenen Texten. Texte, die an die einzige Stimme eines Ich gebunden bleiben - was gelegentliche Anführungen von Antworten, Gegenmeinungen oder Zitaten in direkter oder indirekter Rede nicht ausschließt - gehören dagegen trotz möglicher Oralitätsmerkmale nicht zur Gattung Dialog. Wie der Dialog stehen solche Texte im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, bilden jedoch getrennt von ihm den literarischen Monolog, der wahrscheinlich völlig anderen Regeln unterworfen ist.60 Zur Illustration dieser Unterscheidung
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Moos 1998b, 243s. und 255. Moos 1998b, 244-247.
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Die Simulation von Mündlichkeit im (literarischen) Monolog und im Traktat genauer 22
können die Augustinischen Soliloquia herangezogen werden. Sie erfüllen trotz ihres Titels aufgrund der Personenrede das Hauptkriterium des Dialogs. Das Ich läßt in der Exposition zwar offen, ob der Dialogpartner eine von ihm getrennte Wesenheit sei oder nicht, und es spielt im weiteren mit der Paradoxie, allein zu sein und dennoch mäeutisch in Frage und Antwort zur Wahrheit zu gelangen. 61 Sprachlich sind jedoch in Soliloquia I, ι, ι eindeutig zwei Sprecherpositionen und Figuren markiert: «Ait mihi subito sive ego ipse sive alius quis, extrinsecus sive intrinsecus, nescio; nam hoc ipsum est quod magnopere scire molior, ait ergo mihi R(atio): Ecce, fac te invenisse aliquid» (Ed. Augustinus 1986, 3).
In der Tradition der Augustinischen Soliloquia stehen dagegen auch Texte, die dieses Merkmal nicht aufweisen, so z. B. die pseudoaugustinischen Soliloquia animae ad Deum des 13. Jahrhunderts und ihre volkssprachlichen Versionen. 62 Von einem klagenden und selbstanklagenden Ich wird hier Gott angesprochen, doch eine Antwort Gottes - wie sie in Dialogen durchaus vorkommt - bleibt aus. Es liegt also ein literarischer Monolog der Untergattung Gebet vor: «Conegua't, senyor conescedor meu, conega't, virtut de la mia anima, demostra't a mi, consolador meu. Veie't, lum dels meus ulls. Vine, guoyg del meu sperit. Veja tu, alegría del meu cor. Am-te, vida de la mia anima. Appareise a mi, amor mia. Gran solaç meu [...]» (zit. nach Bertini 1936, 11).
Um schließlich aus der Konstitution zweier Sprecherpositionen auch zwei Figuren werden zu lassen, muß zusätzlich zu ihrer bloßen Benennung hinzukommen, daß sie zumindest der Möglichkeit nach in einem situativen Kontext stehen, mithin in Zeit und Raum verankert sind. Dabei ist zu beachten, daß dieser Kontext auf zweierlei Art vermittelt werden kann. Es kann ein Erzähler eingesetzt sein, wie bei folgendem Llullschen Dialogbeginn, bei dem der situative Kontext einer Landstraße benannt wird: «dues dones (l'una havia nom Lausor, l'altra Oració) s'encontraren en un gran carni», oder die Figuren selbst vermitteln die Kontextinformation, wie es später in demselben Dialog bezüglich der Magerkeit und Blässe einer der Sprecherinnen geschieht: «Lausor dix: - Oració, vos ¿d'on venits ni on anats? ¿E per qué sots tan magra, tan descolorida?»6^ Damit wird deutlich, daß das Vorhandensein eines Erzählers zwar die allgemein übliche
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zu beleuchten, wäre insbesondere für die mittelalterliche, auch volkssprachliche Frömmigkeitsliteratur wünschenswert, speziell im Hinblick auf die Traktatpoetik, aber auch die Affektivitätsgeschichte. Cf. Soliloquia II, 7. In Augustinus' Retractationes 1,4,1 heißt es dazu in paradoxer Formulierung: «me interrogans mihique respondens, tanquam duo essemus ratio et ego, cum solus essem» (Ed. Augustinus 1984,13). D e r pseudoaugustinische lateinische Text findet sich als Soliloquia animae ad Deum in PL 40, col. 863-898. Unter den iberoromanischen Übersetzungen liegt bisher nur die von M. A . Valle Cintra (Cintra 1957) edierte portugiesische Version in moderner Ausgabe vor. Z u r katalanischen Version cf. das Resümee bei G. Bertini (1936), zur spanischen cf. Ms. 473, Biblioteca Nacional de Madrid, fol. 284 r.-3i9 v. Beide Zitate stammen aus dem Llibre de sancta Maria, O E 1,1156.
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Unterteilung von Dialogen in diegetische und mimetische 64 begründet, aber keineswegs Bedingung dafür ist, daß ein Dialog eine Handlungsebene hat. Auch rein mimetische Dialoge etablieren eine solche, sobald sie die minimale Voraussetzung erfüllen, daß sie als ein in mindestens zwei argumentative Positionen gegliederter Text diese Positionen mit Namen benennen (und sei es bloß mit einzelnen Buchstaben als Abkürzung) und die Fiktion etablieren, daß die so benannten Figuren sprechen. In den meisten Fällen wird diese Simulation von Mündlichkeit durch Schilderungen des Äußeren der Figuren vermittelt. Oraler Sprachduktus ist, wie wir gesehen haben, kein hinreichendes Merkmal zur Konstitution eines Dialogs. Dagegen genügt die gegenseitige Ansprache oder zumindest explizite Bezogenheit der Aussagen aufeinander als gesprochene Aussagen als Minimalbedingung, um mit diesen Sprechhandlungen einen Raum zu konstituieren, in dem die Figuren Körperlichkeit gewinnen und interagieren können. 65 Denkbar ist dabei im Einzelfall, daß auch eine Abfolge mehrerer getrennter Gespräche einen Dialog ausmachen kann. Die Weiterentwicklung und Zuspitzung eines der wenigen zeitgenössisch mittelalterlichen Kriterien zur Klassifikation von Texten erweist sich somit als operativ für eine Eingrenzung der Gattung Dialog auf formalsprachlicher Ebene. b) Argumentativität Das Merkmal der Personenrede und der Existenz eines situativen Kontexts teilt der Dialog selbstverständlich mit der Narrativik, seien es einzelne Erzählungen oder Novellensammlungen. So beginnt in den Novas del papagai unmittelbar nach der narrativen Exposition in einem Garten ein Gespräch (parlamen) zwischen einer Dame und einem Papagei, welcher sie als Sendbote des verliebten Ritters Antiphanor überzeugt, diesen zu erhören. Im weiteren Verlauf legt der Vogel nach weiteren Rücksprachen mit dem Ritter und der Dame ein Feuer, um die Wächter der Dame abzulenken und das Rendez-vous der beiden Liebenden zu ermöglichen, zu dem es schließlich auch kommt. Dialogpartien zwischen den drei Protagonisten machen den weitaus größten Teil dieser Verserzählung aus. Entscheidend wirkt hier jedoch, daß diese in deutlicher Abhängigkeit zum narrativen Zusammenhang stehen, in den sie eingebettet sind. Die unter den Gesprächspartnern ausgetauschten Informationen dienen in der Hauptsache dem Vorantrieb der Handlung, während die auf ein theore-
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Sobald die Figurenaussagen zumindest durch ein verbum dicendi eingeleitet werden, spricht man vom «diegetischen Dialog» (wie im zitierten Beispiel), während im sog. mimetischen Dialog die Äußerungen nur von der Indikation des Figurennamens mit Doppelpunkt begleitet werden. Auch das Begriffspaar narrativ / dramatisch wurde zur Beschreibung desselben Sachverhalts benutzt. D a ß sie auf diese Körperlichkeit auch durchaus verzichten können, beweist die im Mittelalter und darüber hinaus häufige Form des Frage-Antwort-Dialogs, bei dem die Sprecherpositionen im reduziertesten Fall einzig durch die Abkürzungen M(agister) und D(iscipulus) bezeichnet sind. Solche zuweilen sehr formularischen Texte müssen zumindest peripher einbezogen werden.
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tisches Thema orientierte Konfrontation von Argumenten zweitrangig bleibt. In Erzähltexten wie den Novas del papagai liegt der Kern des Textes im narrativen Kontext der Dialogpassagen. In Novellensammlungen liegt er dagegen in den ebenfalls narrativen Abläufen, die die einzelnen Sprecher darlegen. Auch wenn okzitanische novas rimadas und die späteren prosimetrischen oder vollständig in Prosa verfaßten Novellen und Novellensammlungen keineswegs ohne lehrhaft-moralische oder erbauliche Passagen auskommen, so verbindet die beiden Sorten von Erzähltexten dennoch in Opposition zum Dialog, daß in ihnen ernsthafte Erörterung nicht im Vordergrund steht. Ihre Sprecher tauschen sich nicht in erster Linie über einen argumentativen Zusammenhang aus, sondern schildern vorwiegend narrative Abläufe oder treiben sie durch ihre Aussagen selbst voran. Dagegen dient im Dialog die Darstellungsebene dazu, für die Interventionen der Figuren ein situatives Umfeld zu schaffen, auf welches sich ihre Aussagen beziehen können und das diese in vielfältiger Weise relativieren oder nuancieren kann, wie in den folgenden Textanalysen deutlich werden wird. Für die Interpretation des Gesamttextes kann die Berücksichtigung dieses Kontextes unentbehrlich sein - auch dies wird noch zu zeigen sein -, doch liegt der textliche Schwerpunkt eines Dialogs auf der argumentativen Interaktion seiner Figuren: Die Darstellungsebene bleibt funktional zur Argumentation. Zur Definition von «Argumentativität» scheint es für den Zweck der genannten Unterscheidung ausreichend, die Definition des Arguments von Cicero zu übernehmen, in der ein Argument (in der Übersetzung von H. G. Zekl) als ein vernünftiger Satz verstanden wird, der einen angezweifelten Sachverhalt absichern soll.66 Argumentativität impliziert dabei einen gegenseitigen Bezug der Sprecher aufeinander und ein gemeinsames Thema. Sie bedingt nicht die Existenz widerstreitender Standpunkte zu diesem gemeinsamen Thema, sehr wohl dagegen den gegenseitigen Bezug der Aussagen darauf. c) Ernsthaftigkeit Über diese formalsprachlichen Aspekte hinaus erweist es sich speziell für mittelalterliche Dialoge als sinnvoll, für den inhaltlichen Bereich ein weiteres Kriterium zu berücksichtigen, das mittelalterliche literaturtheoretische Äußerungen bereitstellen, und das, wenn es erfüllt wird, zwar ebenfalls nicht an sich gattungskonstitutiv wirkt, das aber zugespitzt wie die Personenrede eine engere, am mittelalterlichen Verständnis orientierte Eingrenzung der Gattung Dialog erlaubt. Im Gegensatz zum bisher Gesagten handelt es sich dabei nicht um ein konstitutives und über alle Epochen hinweg gültiges Merkmal von Dialogen, sondern um ein mittelalterliches Spezifikum, das die Konturen des Dialogs als
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Cicero: Topica II, 8: «Itaque licet definire locum esse argumenti sedem, argumentum autem rationem, quae rei dubiae faciat fidem» / «Man kann also folgendermaßen definieren: ist der , der einen soll» (Übers. H. G. Zekl). 25
Textsorte schärft. Ganz unabhängig von dieser Zielsetzung hatte P. Zumthor (1975) herausgearbeitet, wie mittelalterliche Texte im zeitgenössischen Kontext der wertenden Zuordnung zu nugae einerseits oder doctrina andererseits unterzogen werden. 6 ? Nugae werden dabei weniger ernsthafte, im Extremfall burleske Texte genannt, die dem unterhaltsamen, wenn auch nicht unbedingt anspruchslosen Zeitvertreib dienen und in denen häufig der Sorge um die literarische Form eine größere Bedeutung zukommt als den im Text behandelten Fragestellungen. D e m Bereich von doctrina werden im Gegensatz dazu die im religiösen oder wissenschaftlichen Sinne lehrreichen und auf Erkenntnis und Gotteslob zielenden Texte zugeordnet, deren Inhalte letztlich heilsrelevant sind. Diese Dichotomie ist gleichermaßen auf die Intentionalität wie auf die Rezeption der Texte anwendbar. Sie trennt die beiden Begriffe, die nach der Horazischen Auffassung die Dichtung ausmachen, und es ist nicht ohne Verlust der analytischen Schärfe möglich, das mittelalterliche Begriffspaar in einer Übersetzung zu aktualisieren und dabei auf seine religiöse und moralische Grundierung zu verzichten. Heute verwendete Gegensatzpaare wie Ernsthaftigkeit vs. Komizität oder Didaktik vs. Unterhaltung führen nicht zu vollständig deckungsgleichen Ergebnissen. So sind z. B. Trobadorkanzonen wegen ihrer Thematik aus der höfischen Liebeskasuistik vollständig den nugae zuzuordnen - sie sind jedoch keineswegs als komisch und auch nicht ausschließlich als unterhaltend einzustufen. Wenn «der Unterhaltung dienende» Texte aus dem Dialogkonzept ausgeschlossen werden und eine Beschränkung auf «ernsthafte» eingeführt wird, so geschieht dies vor dem Hintergrund des mittelalterlichen Begriffs der nugae. Das Kriterium der Ernsthaftigkeit für mittelalterliche Dialoge soll dann als erfüllt gelten, wenn die fraglichen Texte in ihrem zeitgenössischen Kontext dem Bereich der doctrina zugeordnet wurden. Zusammenfassend läßt sich für diese Arbeit folgendes Dialogkonzept benennen: Dialoge sind zunächst als schriftlicher und nicht zur szenischen Aufführung vorgesehener Texttyp bestimmt. In textgenetischer Hinsicht können mündliche Gespräche als Entstehungsanlaß eine Rolle spielen, Texte mit ausschließlichem Protokollcharakter bleiben jedoch ausgeschlossen. Dialoge haben zumindest im Ansatz eine situative Dimension, in die sich die Aussagen einer begrenzten Anzahl von Sprecherfiguren einbetten und den Dialog insofern von den monologischen Gattungen und deren ausschließlich autor- / erzählersprachlicher Rede unterscheidet. Entscheidend ist somit zunächst die Sprechsituation eines Textes. D e r situative Kontext im Sinne von hinter den sprachlichen Interventionen der Figuren stehender Szenerie oder begleitender Handlung kann durch einen Erzähler, gegebenenfalls durch die Aussagen der Figuren vermittelt werden; er kann schwach ausgeprägt sein oder gegen Null tendieren, darf aber im Gegenteil nicht den Schwerpunkt des Textes ausmachen, der vielmehr in der argumentativen Interaktion der Figuren liegen muß. Diese Interaktion erfolgt
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Zumthor 1975, 165.
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weitgehend oder vollständig in direkter Rede und erlaubt die Fixierung von argumentativ behandelten Themen. Es ist dabei unerheblich, ob die Dialogpartner streitend aufeinander eingehen oder im Einklang ihrer Meinungen sprechen. Beim Gesamttext handelt es sich um eine nach zeitgenössischen Kriterien ernsthafte, jedenfalls nicht burleske Auseinandersetzung mit den behandelten Themen. Inwieweit Dialoge in diesem weiten Gattungskonzept an antike, spätantike oder patristische Traditionen anknüpfen und an welche, und inwieweit dies in bewußtem Rekurs auf solche Gattungstraditionen geschieht, ist in diesem Zusammenhang - womöglich im Gegensatz zu Dialogkonzepten für spätere Epochen - weder für die mittelalterlichen Autoren noch für die zunächst notwendige Korpuseingrenzung entscheidend, sondern wird erst in der Einzelanalyse aktuell.
1.2 R a m o n Llull und d e r D i a l o g B e i der Durchsicht der mittelalterlichen iberoromanischen Literaturen auf der Suche nach Texten, die den Kriterien Personenrede, Argumentativität und Ernsthaftigkeit entsprechen, zeigt sich schon bald, daß Ramon Llull (Ciutat de Mallorca 1232-1316) zur mittelalterlichen Dialogliteratur einen kapitalen Beitrag geleistet hat. Von keinem Autor des iberoromanischen Mittelalters sind auch nur annähernd so viele Dialoge überliefert wie von Llull, nämlich gut zwei Dutzend, verteilt auf die Sprachen Katalanisch und Latein. Die Bedeutung und der Umfang der Textproduktion Llulls betrifft allerdings nicht nur die Dialoge, sondern die Gesamtheit seiner überlieferten Texte, von denen über 250 erhalten sind. Die systematische editorische Erschließung dieses Korpus hatte mit I. Salzingers großer Mainzer Llulledition 68 im 18. Jahrhundert begonnen. Salzinger wählt überwiegend Traktate zur Ars tulliana aus, ediert darüber hinaus aber auch einige Dialoge. Die Aktivität einer Reihe mallorquinischer Philologen des 19. Jahrhunderts 69 mündet in die seit 1906 erschienene Ausgabe der katalanischen Werke. 70 In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts schließlich
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Sie wird allgemein als Moguntina bezeichnet: Raymundus Lullus: Opera [ = M O G , 8 vol.], Mainz 1721-1742, Nachdruck Frankfurt 1965. Bei Zitaten aus dieser Edition werden Schriftattribute wie Kursiva und Majuskelsatz nicht wiedergegeben, wogegen die von Salzinger verwendete Akzentuierung des Lateinischen beibehalten wird. Die angegebenen Seitenzahlen finden sich nur im Neudruck von 1965, während die Erstausgabe der M O G keine durchgehende Paginierung hat. Während A d o l f Helfferich 1858 die erste romanistische A r b e i t im deutschen Sprachraum über Llull und die katalanische Literatur verfaßt, beginnt mit der Editionsarbeit von Jeroni Rosselló 1859 auf Mallorca die philologische Beschäftigung mit Llull. Wesentliche Impulse gaben ihr auch Josep Quadrado (1996a / b) und die zur Sechshundertjahrfeier der Gründung von Llulls Missionarskioster Miramar organisierte Hommage (Homenage 1877). Die Edition wurde von Mateu Obrador begonnen und von verschiedenen Herausgebern weitergeführt: Obres de Ramon Lull [ = O R L , 21 vol.], Palma de Mallorca 1906-1950.
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b e g i n n t , e b e n f a l l s a u f M a l l o r c a , die u m f a n g r e i c h s t e E d i t i o n d e r l a t e i n i s c h e n S c h r i f t e n Llulls, d i e d a s R a i m u n d u s - L u l l u s - I n s t i t u t in F r e i b u r g i m B r e i s g a u i m R a h m e n des Corpus
Christianorum
w e i t e r f ü h r t u n d die in j ü n g s t e r Z e i t d u r c h
ein neues E d i t i o n s p r o j e k t der katalanischen W e r k e unter der O b h u t des Ramon
Llull
Patronat
ergänzt wird.71 Unter den modernen Katalogen der Llullschen
S c h r i f t e n sind i n s b e s o n d e r e d i e bei P l a t z e c k ( 1 9 6 2 - 1 9 6 4 ) u n d B o n n e r in d e n Obres
selectes72
g e d r u c k t e n z u n e n n e n , d a n e b e n das W e r k v e r z e i c h n i s , d a s d e r
lateinischen G e s a m t e d i t i o n ( R O L ) z u g r u n d e liegt und s u k z e s s i v e v e r ö f f e n t l i c h t wird. D i e Siglen des K a t a l o g s von A . B o n n e r b e r u h e n auf einer Einteilung v o n L l u l l s D e n k e n in z w e i H a u p t p h a s e n . Z u r f r ü h e s t e n P e r i o d e , n o c h v o r der ersten Formulierung der Llullschen Erkenntnismethode, gehören nach d i e s e r E i n t e i l u n g d r e i v e r m u t l i c h v o r 1274 e n t s t a n d e n e T e x t e , n ä m l i c h L l u l l s G a z ä l r - Ü b e r s e t z u n g e n ( I . i a / b ) u n d d e r Llibre
de contemplado
d e r ersten t h e o r e t i s c h e n S y s t e m a t i s i e r u n g in d e r Ars compendiosa veritatem
(I.2).73 M i t inveniendi
( I I . A . i ) b e g i n n t 1 2 7 4 d i e z w e i t e , b i s 1283 r e i c h e n d e P e r i o d e . I h r
f o l g t e i n e d u r c h d i e Art demostrativa
( I I . B . i ) d o m i n i e r t e P h a s e bis 1289. B e i d e
z u s a m m e n n e n n t B o n n e r die etapa quaternària,
w e i l in ihr die V i e r z a h l a u s d e r
E l e m e n t e n l e h r e d i e L l u l l s c h e K o s m o l o g i e p r ä g t . 7 4 Z w i s c h e n 1290 u n d 1308 verliert die E l e m e n t e n l e h r e in Llulls T h e o r i e n z u g u n s t e n v o n D r e i e r s t r u k t u r e n in A n a l o g i e z u r g ö t t l i c h e n D r e i f a l t i g k e i t a n B e d e u t u n g , so d a ß v o n d e r
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etapa
Bei Zitaten aus O R L muß die Setzung von Apostrophen und Ellisionspunkten der heute geläufigen Editionspraxis angepaßt werden, da in O R L an diesen Stellen halbe Wortabstände benutzt werden, die aus typographischen Gründen nicht zitierfähig sind. Auch Majuskelsatz einzelner Wörter wird nicht übernommen. Raimundus Lullus: Opera Latina [ = R O L , bisher 21 vol.], Palma de Mallorca 1959-1967 [vol. i-5],Turnhout 1978- [ab vol. 6]. - Nova Edició de les Obres de Ramon Llull [ = N E O R L , bisher 4 vol.], Palma de Mallorca 1990- . OS 2,539-589. Für jene Schriften Llulls, die sowohl in katalanischer als auch lateinischer Version überliefert sind, geht man in der Regel davon aus, daß die volkssprachliche die ältere ist. Die meisten der lateinischen Versionen entstehen noch zu Lebzeiten Llulls, einige stammen erst aus der frühen Neuzeit. Sobald ein Werk mit dem lateinischen Titel benannt ist, bedeutet dies, daß diese Version die einzige überlieferte ist; ansonsten wird der katalanische Name benutzt. Die hier verwendeten Titel richten sich nach Bonners Katalog. Neben den im Anhang 1 verzeichneten Editionen der Dialoge werden die zusätzlich in dieser Arbeit benutzten Llullausgaben im Abkürzungsverzeichnis und dem Verzeichnis der Primärtexte bibliographisch nachgewiesen. Titel- und Namensschreibung wird, wie in der katalanistischen Forschungsliteratur üblich, orthographisch modernisiert; genauso wird in uneigentlichen Zitaten verfahren. Personennamen erscheinen kursiviert, sobald in den Texten auftretende Figuren gemeint sind, so daß z. B. Ramon vom empirischen Ramon Llull unterschieden ist. Die Bedeutung der Elementenlehre bei Llull hat erstmals E Yates in den fünfziger Jahren untersucht; cf. ihre gesammelten Arbeiten zu Llull (Yates 1985). In der zweiten ihrer grundlegenden Studien unternimmt sie einen Beschreibungsversuch für die verschiedenen Stadien der A r s lulliana. Auf der Fortführung dieser Untersuchungen durch R. Pring-Mill beruht Bonners Phaseneinteilung (Pring-Mill 1957 oder 1991, 115-160). D e n neuesten Stand zur Erforschung der Entwicklungsstadien der A r s lulliana liefern seitens der Philosophie J. Rubio (1997) und J. Ruiz Simon (1999). 28
ternària gesprochen wird. Ihre grundlegenden Texte sind die Ars inventativa veritatis (III.i) und die Ars generalis ultima (III.80) mit ihrer Zusammenfassung, der Art breu (III.85). Nach 1308 befaßt sich Llull weniger mit systematischen Entwürfen als mit ihrer Anwendung auf punktuelle theologische Probleme, so daß Bonner von der etapa post-Art spricht, zu der über einhundert teilweise sehr kurze Schriften gehören. Ihre Siglen beginnen mit der Kennziffer IV. 75 Die Editionen, die dieses Textkorpus seit der frühen Neuzeit erfahren hat, sind gemeinsam mit der Llullforschung in die Bibliographien von Rogent / Duran 1927 (für den Zeitraum von 1480 bis 1868), Brummer 1991 (erfaßt 1870-1973) und Salleras 1986 (erfaßt 1974-1984) eingegangen und werden fortlaufend in der Zeitschrift Studia Lulliana ergänzt. Seit kurzem stehen sowohl die Werkkataloge zu Llull als auch die Titel der Sekundärliteratur in einer komfortablen Datenbank zur Verfügung. 76
1.2. ι Kulturelle und literarische Kontexte Die historische Figur Llulls verleitet dazu, ihn als singulare Erscheinung mißzuverstehen. Die unübersehbare Originalität der Ars lulliana, aber auch seine Selbstaussagen leisten dieser Einschätzung Vorschub. Zwar hebt Llull, «Doctor illuminatus», in den Prologen seiner Werke in der Regel nicht die Gottgegebenheit seiner Erkenntnismethode als zentrale Eigenschaft hervor, sondern unterstreicht weniger überraschende Vorzüge wie ihre Kürze, Nützlichkeit und Universalität. Dagegen werden die Neuheit und die göttliche Enthüllung von Llulls Kenntnissen vorwiegend in autobiographischen und narrativen Zusammenhängen thematisiert. In der literarischen Selbststilisierung zu Llulls Illuminationserlebnis auf dem Berg Randa verdichtet, werden sie so zu einem Hauptelement der Ikonographie des seliggesprochenen Mallorquiners. 77 Die Neuheit der Ars lulliana hebt Llull insbesondere bezüglich ihrer auf die einzelnen Fachwissenschaften angewandten Versionen hervor, in deren Titeln
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Im folgenden werden bei Titelnennungen nur dann die Siglen aus Bonners Katalog angegeben, wenn der betroffene Titel leicht verwechselbar ist oder zu einem sehr seltenen Text gehört. Die Base de Dades Ramon Llull (Llull D B ) , die vom Departament de Filologia Catalana der Universität de Barcelona betrieben wird, entstand unter der Leitung von Anthony Bonner und ist unter der Adresse http://orbita.bib.ub.es/llull im Internet einzusehen. Neben den 71 im Volltext eingelesenen historischen Werkkatalogen und einem Incipit- / Explicitkatalog sind hier die knapp eintausend Handschriften, die Editionen sowie die Forschungsliteratur auf der Grundlage der genannten Bibliographien verzeichnet. In den Prologen kommt die Eigenschaft der Neuheit bezeichnenderweise nur in der autobiographisch lesbaren Einleitungserzählung zur Disputatio eremitae et Raimundi vor: «Raymundus Parisiis studens [...] multum doluit, & potissimè super hoc, quòd ipse per Àrtem Generalem, quam Dominus Deus illi dederat pro illustrandis tenebris hujus mundi, Rempublicam Ecclesiae Christi nondum potuerit promovere» ( M O G 4, 225). Darüber hinaus wird die göttliche Provenienz der Ars lulliana z. B. im Cant de Ramon, im Desconhort und in der Vita coaetanea thematisiert.
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immer wieder novus auftaucht. 78 Llulls Aussagen scheinen durch die Werke selbst bestätigt zu werden, in denen Verweise auf Autoritäten, auf Bezugstexte anderer Autoren oder auf Lektüren äußerst selten zu finden sind.79 Diese fehlende Relationierung mit anderen Texten erklärt sich nicht nur intern aus der vorgeblich göttlichen Provenienz seiner Erkenntnis, sondern ist eine Auswirkung von Llulls rationalistischem Denkansatz, in dem Autoritätenbeweise nicht als stichhaltig gelten und daher auf Zitate verzichtet werden kann. Eine weitere Schwierigkeit für die Kontextualisierung Llulls besteht darin, daß für sie ein kulturgeographischer Rahmen abgesteckt werden muß, der über die seinerzeit im Entstehen begriffene katalanische Literatur hinausreicht. Erste Anhaltspunkte gibt der vergleichsweise ausführlich in der Vita coaetanecfi0 dokumentierte Verlauf von Llulls Leben. Llull gehört zur ersten Generation von auf Mallorca geborenen Christen nach der Eroberung (1229) vom katalanischen Festland aus. Seine zweite Lebenshälfte (und nur auf diese, die mit dem stilisierten Konversionserlebnis beginnt, geht die Vita coaetanea näher ein) ist gekennzeichnet durch seine Reisetätigkeit, die sich vorwiegend auf die von den verschiedenen Linien des Hauses Barcelona beherrschten Gebiete im westlichen Mittelmeerraum erstreckt: Von seinem Geburtsort Mallorca abgesehen, verbringt Llull lange Zeitspannen in Barcelona, Montpellier und Sizilien. Platzeck definiert diesen als den geographischen Bezugsrahmen Llulls: «Lull steht trotz seiner vielen Wanderungen ganz im katalanisch-aragonesischen Geschichtsraum. Auch seine religiös-politischen Ideale fügen sich völlig in die politisch-religiöse Sehweise des aragonischen Königshauses ein. Von dort her müssen die geschichtlichen Daten zum Wirken Lulls gesammelt werden» (Platzeck 1962-64, 1,4)·
Über diesen Bereich hinaus sollten drei Reisen nach Paris dazu dienen, die Ars tulliana an der Sorbonne zu lancieren und Unterstützung aus dem Königshaus einzuwerben. Ähnliches gilt für Llulls Teilnahme am Konzil von Vienne und seine Aufenthalte an der päpstlichen Kurie. In den Stadtrepubliken Genua und Pisa sowie in Neapel verbringt Llull mehrere Jahre. Schließlich wurden neben einer wenig dokumentierten Reise in das östliche Mittelmeer insbesondere seine drei Missionsreisen nach Tunis und Bugäya (Bougie) berühmt.8'
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Cf. Titel wie Tractatus novus de astronomia (III.29), Liber de geometria nova (III.39), Rhetorica nova (III.50), Lògica nova (III.56), Metaphysica nova (IV.21) und Liber novus physicorum (IV.22). J. und T. Carreras Artau (1939-43,1,268-69) liefern eine Liste der ausdrücklichen Verweise auf andere Autoren. Cf. R O L 8, 259-309, die katalanische Version Vida coetània aus dem 15. Jahrhundert in O E ι, 3 1 - 5 4 sowie die deutsche Übertragung von E. Platzeck (1964). Als biographische Einführungen zu Ramon Llull eignen sich neben den Standardwerken aus den sechziger Jahren (Batllori i960, Platzeck 1962-64 und Llinarès 1963) die jüngeren Arbeiten von A . Bonner (1988), L. Badia (1995) sowie die biographische Skizze bei J. Hösle (1998).
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Vor diesem lebensgeschichtlichen Hintergrund darf der kulturelle Referenzbereich für Llull - wie auch allgemein für das katalanische Sprachgebiet bis ins 15. Jahrhundert - nicht primär in den iberoromanischen Nachbarliteraturen gesucht werden. Trotz der politischen Umorientierung hin zur Süd- und Mittelmeerexpansion nach dem Verlust des Großteils der katalanisch-aragonischen Besitzungen nördlich der Pyrenäen im Jahr 1213 bleibt der Krone von Aragon mit Montpellier eine der wichtigsten Städte im okzitanischen Sprachgebiet erhalten. 82 Im literarischen Bereich wird die enge Verbindung des okzitanischen Sprachraums mit dem katalanischen an der Trobadorlyrik und den Poetiken und Grammatiken aus ihrem Umfeld augenfällig, die von Autoren aus beiden Sprachgebieten unterschiedslos in der Trobadorkoiné verfaßt werden. Bekanntlich bleibt in Katalonien ein sich immer stärker katalanisierendes Okzitanisch, wie schon bei Llull, die Sprache der Versdichtung bis ins 15. Jahrhundert. In der Prosa leistet Llull selbst einen eigenständigen und einmaligen Beitrag zur Entwicklung des schriftlichen Katalanisch, 83 doch weisen die zeitgenössischen okzitanischen Übersetzungen des Blanquerna und der Doctrina pueril, an denen Llull möglicherweise selbst mitgewirkt hat, sowie etliche in unterschiedlichem Grad okzitanisierte Manuskripte seiner Prosa darauf hin, wie eng die beiden Sprachräume zu Llulls Lebzeiten miteinander verflochten sind. Nach L. Badia hat man bis ins späte Mittelalter von einem symbiotischen Verhältnis auszugehen. 84 D a ß dieser gemeinsame volkssprachliche Bereich den ursprünglichen kulturellen Hintergrund Llulls ausmacht, unterstreicht die Vita coaetanea, wenn sie beschreibt, wie Llull vor seiner Christuserscheinung, dem sogenannten Konversionserlebnis, selbst Liebeslyrik verfaßt habe. 85 Später äußert er sich gegen die weltlichen Inhalte der Trobadorlyrik und gegen den Lebenswandel insbesondere der Spielleute in hochpolemischem Ton. Der Angriff gegen joglars, trobadors und die sündhafte und konfliktschürende Wirkung von Dichtung, Gesang und Tanz auf die öffentliche Moral und Politik nimmt das ganze Kap. 118 des L. de contemplado ein und ist in seiner Schärfe kaum zu übertreffen: «los joglars són los pus enujosos hòmens, e-ls pus proxòvols, e-ls pus mentiders e-ls
Zum Status von Montpellier cf. J. Gayà in R O L 20, IX-XII. Das Verhältnis Llulls zum okzitanischen Sprachraum ist Thema des Sammelbands Cahiers de Fanjeaux 22 (1987), während die spezielle Bedeutung Montpelliers für Llull bei L. Badia (1988/1992, 141-143) resümiert wird. 83 S. Philipp-Sattel (1996,78s.) stellt fest, daß Llull trotz des ihm traditionell zugebilligten Gründerstatus für die katalanische Literatur auf die spätere Sprachentwicklung nicht denselben Einfluß hatte wie die Sprache der königlichen Kanzlei. 84 L. Badia (1988) fordert anhand der genannten Handschriften eine solche neue Sicht auf den okzitanisch-katalanischen Kulturraum im Mittelalter (hier auch zum okzitanischen Blanquernaroman, ib. 163-166). 85 «Raimundus senescallus mensae regis Maioricarum, dum iuuenis adhuc in uanis cantilenis seu carminibus componendis et aliis lasciuiis saeculi deditus esset nimis, sedebat nocte quadam iuxta lectum suum, paratus ad dictandum et scribendum in suo uulgari unam cantilenam de quadam domina, quam tunc amore fatuo diligebat» ( R O L 8, 272; kat. Übers. O E 1,34s.). 82
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pus reprenedors que neguns hòmens qui sien en tot lo món». 86 Er führt seine eigene Konversion v o m Heuchler und Verleumder zum wahren Spielmann an und fordert, die Spielmannskunst wieder ihrem ursprünglichen Z w e c k im Gottes- und Marienlob sowie der Didaktik zuzuführen. 8 ? Im narrativen Zusammenhang illustriert Llull diese Vorstellung an der Figur eines Spielmanns, des joglar de Valor im Schlußkapitel des Blanquernaromans; darüber hinaus verfaßt er selbst gelegentlich Marien- und didaktische Dichtung. 8 8 Textbelege seiner früheren Dichtung nach der A r t der Trobadors fehlen zwar, doch rekurriert Llull auch nach seiner Konversion noch auf die Trobadorlyrik, wie noch zu zeigen sein wird. 8 ? Mit zunehmendem Lebensalter und seinem wachsenden europäischen Aktionsradius nimmt Llulls volkssprachliche Textproduktion zugunsten der lateinischen ab. Parallel dazu verlieren stärker literarisch geprägte Texte gegenüber theoretischen an Gewicht. Trotz dieser biographischen und funktionalen Gewichtung und dem weiter gültigen Prestigeunterschied zwischen Volks- und Gelehrtensprache läßt sich bei Llull keine prinzipielle Zuordnung des Katalanischen und Lateinischen zu literarischen bzw. theoretischen Texten feststellen.? 0 Llull unternimmt im Gegenteil ausdrücklich Anstrengungen, um das Schriftkatalanische für die Anforderungen der in seinem Sinne verstandenen Philosophie und Wissenschaft weiterzuentwickeln. Z u diesem Z w e c k legt er in wissenschaftlich ausgerichteten Texten Glossare der in der A r s tulliana notwendigen Neologismen an. 91 Wissenschaftliche Texte in der Volkssprache dienen für Llull einerseits zur Weiterbildung von Laien und andererseits zur Erweiterung der Sprachkenntnis der bloß lateinisch Gebildeten: «La entenció per que nos esta amancia posam en vulgar, es per ço que los homens qui no saben latí pusquen aver art e doctrina com sapien ligar lur volentat a amar ab b o n a amor, e encara, c o m sapien aver sciencia a conèxer Verität; e encara, per ço, la posam en vulgar, que ls homens qui saben latí ajen doctrina e manera com de les paraules latines sapien devallar a parlar bellament en vulgar, usant dels vocables d'està art, car molts homens son qui de la sciencia en latí no saben transportar en vulgar per defalliment de vocables, los quais per esta art aver poran» (Art amativa, O R L 17,7).
O E 2 , 357. «Com lo vostre servidor [...], ça enrera fais loador e mintent maldeïdor, [...] d'aqui avant proposa, Sènyer, que sia vertader joglar» ( O E 2,358). 88 Ed. Llull 1958. Z u m Verhältnis von Llulls Lyrik zur höfischen Liebe cf. Molas 1955. Cf. Kap. IV.4 zur Tenzone. •j" S. Philipp-Sattel unterstreicht das Sprachbewußtsein Llulls und weist darauf hin, daß Llull die zu seinen Lebzeiten erstmals auftauchende und im 14. Jahrhundert üblich gewordene Benennung der romanischen Volkssprachen mit ihren eigenen N a m e n im Gegensatz zu Jofre de Foixà und Ramon Muntaner noch nicht verwendet, sondern die A l l g e m e i n b e g r i f f e romanç oder vulgar vorzieht (Philipp-Sattel 1996, 21 f. und 86 87
53-57)·
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Ein solches Glossar ist die Taula d'està art ( I l l . i i a ) , die in den meisten Handschriften neben der Tabula generalis erscheint, jedoch im A n h a n g der Art amativa ( O R L 17, 389-398) ediert wurde; cf. dazu A . Bonner in O S 2,554.
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Im Einklang mit dieser Aussage liegen heute die wichtigsten theoretischen Texte zur Ars lulliana tatsächlich auch in der katalanischen (Ur)version vor. Dennoch zeichnet Llull im Blanquernaroman die Utopie einer weltumfassenden christlichen Einheitsgesellschaft, als deren einzige Sprache er Latein nennt. Llulls gleichzeitige eigene Praxis konstrastiert jedoch scharf mit diesem fiktionalen Entwurf.92 So weist er mehrfach auf seine unzureichenden Lateinkenntnisse hin und bittet gelegentlich um die Übersetzung einiger seiner katalanischen Schriften ins Lateinische, ζ. B. in den Cent noms de Déu: «Soplec dones al sant Payre Apostoli e als seynors cardenals que l fassen posar en latí en bel dictât, car yo no li sabría posar, per so car ignor gramática» ( O R L 19,79).
Die genannte Selbstaussage wörtlich zu nehmen und nicht als Bescheidenheitsformel zu verstehen, dürfte angesichts der kaum überschaubaren Menge lateinisch überlieferter Texte Llulls und angesichts eines auf der lateinischen Sprache beruhenden Bildungssystems gänzlich undenkbar sein. Auch Llulls Lehrbuch für Kinder, die Doctrina pueril, empfiehlt zwar einen muttersprachlichen Primärunterricht, in dem jedoch schrittweise zum Latein übergegangen werden soll. Es kommt dazu, daß sich die zitierte Stelle auf das Verfassen von Versen auf lateinisch bezieht, wofür tatsächlich über die geläufige Sprachkompetenz hinausgehende Fähigkeiten anzusetzen sein dürften. Festzuhalten ist daneben, daß Llulls lateinische Schriften eng an die romanische Syntax angelehnt sind und sich nicht eben durch Komplexität auf rein sprachlicher Ebene auszeichnen. Trotz seiner ursprünglichen Bindung an den Dominikanerorden und der späteren Entscheidung für die Franziskaner^ bleibt Llull Zeit seines Lebens Laie. Seine Ausbildung findet außerhalb der universitären Welt und offenbar weitgehend autodidaktisch statt. Nach Angabe der Vita coaetanea hatte Llull nach seinem Konversionserlebnis ein Studium an der Sorbonne erwogen, wovon ihn der katalanische General des Dominikanerordens, Ramon de Penyafort, persönlich abbringt.94 Die einzige Universität innerhalb der Kronländer von Aragon ist bis zur Gründung des Estudi General von Lleida (1300) die von Montpellier. 95 Dort hält sich Llull zwar einige Jahre lang auf und verfaßt Schriften zur Medizin, offenbar jedoch ohne an der Universität tätig zu werden.^6 Sein Verhältnis zur Pariser Universität ist nach anfänglich unumwundener Ablehnung seiner Lehre seitens der magistri auch später stärker durch Petitionen Llulls als durch die episodisch bleibende eigene Lehrtätigkeit geprägt. 97 Für R. Imbach
Badia 1991 / 92. Cf. die Abschnitte 20-25 der Vita coaetanea ( R O L 8, 284-289 und O E 1, 42-44) zur biographischen Dimension dieser für Llull krisenhaften Neuorientierung um der bei den Franziskanern besser akzeptierten A r s lulliana willen. 94 R O L 8, 278 und O E 2,37. 95 Z u den mittelalterlichen katalanischen Universitätsgründungen cf. Claramunt 1994. 96 J. G a y à in R O L 20, X V I - X V I I I . 97 Thomas L e Myésier, Lehrender an der Sorbonne und persönlicher Schüler Llulls, wird erst nach d e m Tod seines L e h r e r s der erste große Repräsentant des europäischen Lullismus, cf. Hillgarth 1971. 92 93
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zählt Llull daher zu den Hauptvertretern der Laien in der Philosophie des Mittelalters!98 Diese Einordnung beruht nicht auf einem von der lateinischen und universitären Tradition unabhängigen laikalen Denken Llulls, sondern auf einer philosophischen Produktion und ihrer fachwissenschaftlichen Anwendung, die, von einem Laien verfaßt, zumindest auch für Laien entsteht. Daß Llull mit der Vielzahl seiner Schriften ein universelles Publikum zu erreichen sucht, das auch Fürsten, Ritter, Kaufleute, Frauen und Kinder einschließt, geht aus den Vorworten seiner Werke hervor. Den vorsichtigen Bemerkungen von E. Ruhe folgend, kann darüber hinaus ohnehin nicht von einem klar abzugrenzenden Laien- und Klerikerpublikum ausgegangen werden.^ Von diesem volkssprachlichen und lateinischen Bildungshorizont ausgehend zielen Llulls Anstrengungen insbesondere auf den arabisch-islamischen Bereich. Sie sind dokumentiert in den hinlänglich bekannten Episoden um Llulls Arabischstudium, die in der Vita coaetanea sowie in den berühmten Miniaturen in einer von Le Myésiers Llullanthologien, dem Breviculum, überliefert sind. Dazu kommen Llulls Selbstaussagen, in denen er immer wieder sein jahrelanges Studium und späteres schriftliches und mündliches Beherrschen des Arabischen unterstreicht und sich gelegentlich arabicus Christianus nennt. 100 Arabische Versionen der Schriften Llulls werden in den Prologen mehrfach als bereits existierende Ursprungsversionen oder noch zu erstellende Übersetzungen erwähnt, sind jedoch nicht überliefert. Obgleich diese Bemerkungen mehrfach und unmißverständlich vorliegen, sind bekanntlich bisher keine solchen arabischen Versionen aufgetaucht. Im allgemeinen wird jedoch nicht bestritten, daß diese erstaunlichen Angaben der Wirklichkeit entsprechen; Versuche, die Stellen im Einzelfall anders zu erklären, konnten bislang nicht überzeugen. 101 Dagegen existieren als älteste Llullsche Texte seine zwei freien Übersetzungen von Gazälls Maqäsid al-faläsifa in katalanischen Vers und lateinische Prosa. 102
Imbach 1989. 99 Ruhe 1987,55s. 100 Die Formulierung «sunt experti aliqui arabici christiani; unus inter quos possum dici» ( R O L 9,256) fällt im L. define, während im Prolog der Disputatio Raimundi Christiani et Homeri Saraceni die Figur eines «homo christianus arabicus, cuius nomen erat Raimundus» ( R O L 22, 172) eingeführt wird; cf. dazu Urvoy 1994. - Die umfassende Materialsammlung von S. Garcías Palou (1981) verzeichnet die biographischen Episoden und die Vielzahl der Textstellen in Llulls Werk, in denen der Islam und die arabische Sprache eine Rolle spielen. Z u Llulls praktischer Arabischkenntnis cf. Lohr 1984, 57-61, während F. Domínguez (1993) die Verdrängung des Arabischen durch die katalanischen Eroberer auf Mallorca beleuchtet. Darüber hinaus steht auch in arabischer Sprache ein einführender Artikel zu Llulls Verhältnis zur islamischen Welt zur Verfügung (Weischer 1969). 101 In bezug auf den L. de contemplado und den L. del gentil cf. Llinarès 1980. R. Brummer kommt in neueren Beiträgen entgegen seiner früheren Darstellung (Brummer 1969) zur Schlußfolgerung, Llull habe nicht auf arabisch geschrieben und es handle sich um Herkunftsfiktionen, cf. Brummer 1985 (dazu Rez. A . Bonner, E L 29 [1989], 252s.) und Brummer 1988. 102 Ed. bei Rubio i Balaguer 1985 bzw. Lohr 1967; cf. auch Lohr 1984, 86-88. 1)8
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Arabische Fachterminologie benutzt Llull bis auf zwei Ausnahmen nicht,10·3 gibt aber in unterschiedlichen Zusammenhängen an, arabische Kulturelemente übernommen zu haben. Dies gilt etwa für seine Neologismen, die sich an der arabischen Morphologie orientieren. Die Suche nach arabischen Texten, deren Kenntnis sich aus den Llullschen ableiten ließe, hat für die Religionspolemik und die kosmologischen Grundlagen konkrete Ergebnisse gebracht, 104 doch kommt der Arabist D. Urvoy zum vorsichtigen Schluß, bei Llulls Rezeption der arabischen Philosophie handle es sich um «[des] échos assez vagues», und er findet die gelungene Formulierung, Llull bediene sich gewisser kultureller Anleihen, um seine Lehre «en fonction de l'interlocuteur musulman» zu konzipieren. 1 ^ Im literarischen Bereich sind für den L. d'amie i amat und den L. de les bèsties, die Llull als Teilbücher in seine beiden großen Romane einfügt, solche Anleihen wohl nicht von der Hand zu weisen. 106 Auf diesen Beobachtungen beruhen Urteile über Llulls Verhältnis zum Islam. A. Castro, der das iberische Mittelalter als Epoche des kulturellen Austauschs und des Zusammenlebens der Religionen skizziert, führt Llull als vom Islam Geprägten in seinen Entwurf ein. Dieser Einschätzung wurde allerdings scharf widersprochen, insbesondere wohl auch deshalb, weil Castro Llull für seinen Entwurf eines spanischen Nationalcharakters vereinnahmt. 107 Trotz der exzeptionellen Kenntnisse Llulls wäre es ein grobes Mißverständnis, ihn als «Arabisierten» zu begreifen. Seine Annäherung an das Arabische und die Muslime ist utilitaristisch unter dem Gesichtspunkt der Mission zu verstehen. Islamisch-arabische Kulturanleihen gehorchen dem Wunsch, Texte den Vorstellungen der Muslime anzupassen, um so ihre christliche Missionseffizienz zu steigern. So nehmen etwa die Cent noms de Déu die islamische Vorstellung der 99 Namen Gottes auf, um zu beweisen, daß der von Llull angeblich gefundene einhundertste Name nicht die Allwissenheit oder, wie im islamischen Volksglauben verankert, den sofortigen Eintritt ins Paradies ermögliche. Genauso kennt Llull die unübertreffliche sprachliche Schönheit der Koranverse, die jeglichen Dichter lähmt, der sie zu übertreffen sucht (ic gäz)· Er nennt sie jedoch nur angesichts seines eigenen Werkes, das er noch schöner wähnt, um so die Unrichtigkeit der islamischen Vorstellung
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Es handelt sich um die Wörter rams (ramz, Symbol) im L. de contemplado (OE 1, 1181) und hujuden muclach (al-wugüd al-mutlaq, absolutes Wesen) in der Disputano Raimundi Christiani et Homeri Saraceni (ROL 22,196). Cf. Lohr 1968 und, darauf aufbauend, Burman 1991 sowie Lohr 1984, 69-79 u n d Bonner 1994a. Urvoy 1981, 136 bzw. 137. Von D. Urvoy stammt auch die weiterhin umfassendste Monographie zum islamischen Hintergrund des Llullschen Denkens, cf. Urvoy 1980. Der L. d'amie i amat nimmt in seinem Prolog ausdrücklich auf mystische suflsche Aphorismen Bezug, während sich der L. de les bêsties an die indisch-arabische Fabelsammlung Kaiila wa-Dimna von Ibn Muqaffä c anlehnt. Den arabischen Bezugsrahmen des L. d'amie i amat untersucht S. Galmés de Fuentes (1999). Cf. Castro 1948, 268-282; dagegen Sugranyes 1962 / 67. Eher zurückhaltend äußert sich auch A. Schimmel (1953 / 54).
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nachzuweisen. D i e Llullsche Literarästhetik, wie sie seinen Dialogen und theoretischen Äußerungen zur Rhetorik zugrunde liegt, scheint dagegen nicht mit arabischen Vorbildern in Verbindung gebracht werden zu können. 1 0 8 Aus unterschiedlichen Gründen darf keiner der drei genannten kulturellen Zusammenhänge Llulls vernachlässigt werden. A u s einem katalanischen und okzitanischen Lebenszusammenhang heraus, weitgehend außerhalb der Universität und laikal, verspricht sich Llull, durch seine propagandistischen Anstrengungen zugunsten und mit Hilfe der A r s lulliana Einfluß auf die Gelehrten und Fürsten im Machtbereich der Krone von A r a g o n , in Frankreich und in Italien zu nehmen, um damit sein wesentliches Anliegen, die Einheit des Glaubens und der Kirche sowie insbesondere die Mission der Muslime, zu befördern.
1.2.2
A r s lulliana und Frage-Antwort-Form
D i e A r s lulliana 10 ^ ist das Zentrum des Llullschen Denkens und die inhaltliche Konstante der Llullschen Dialoge. In den Hauptwerken, die die Phasen von Llulls Œuvre markieren, und in einer Vielzahl weiterer Texte sind Erläuterung und Anwendung der A r s lulliana das Thema, und in beinahe allen anderen ist sie implizit präsent. Sie ist kein statisches, sondern ein evolvierendes System, das im Laufe von Llulls Textproduktion wichtige Veränderungen erfährt. Für den europäischen Lullismus ist allerdings die von Llull selbst als endgültig bezeichnete Version in der Ars generalis ultima die maßgebliche. Die A r s lulliana stellt sich als eine allgemeingültige Erkenntnismethode dar, die auf einer in ihrem spätesten Stadium neungliedrigen Reihe von göttlichen Eigenschaften, den dignitats (lat. dignitates), beruht: bonea, granea, eternitat,poder, saviea, volentat, vertut, Verität und gloria. Diese göttlichen Eigenschaften manifestieren sich auf den ebenfalls neun Stufen der Existenz, den sogenannten subiecta (Déu, ángel, eel, home, imaginativa, sensitiva, vegetativa, elementativa und instrumentativa). In der Kombination ihrer Wirkung determinieren die Dignitates alles Seiende. Vor diesem kosmologischen Hintergrund ist die A r s lulliana nach A . Bonner ein relationales System, untrennbar von der relationalen Ontologie, auf der es fußt, und untrennbar von der A r s combinatoria, die benutzt wird, um die analogistisch gefaßte Realität zu erforschen und Beweise für die Glaubensartikel zu finden: «Aquí crec que arribam al moll de la diferèneia entre la predicado aristotèlica (i escolàstica), que estudia el llenguatge, cercant maneres de formalitzar-lo, a fi d'investigar restructura de les proposicions, i les relacions lui-lianes que estudien la realitat (platònica) a fi d'investigar les seves estructures ontologiques» (Bonner 1994b, 65). 108 109
Zum Verhältnis Llulls zur Weisheitsliteratur arabischer Provenienz cf. Kap. II.2. Kat. art lul liana. Die insbesondere bezüglich der späteren Rezeption meist bevorzugte lateinische Bezeichnung ars magna benennt die Llullsche Kunst in der auf der Ars generalis ultima beruhenden, «endgültigen» Version.
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Als Elemente dieses relationalen Systems treten zu den Dignitates und Subjecta die Reihe der «relativen Prinzipien» diferência, concordança, contrarietat, començament, mitjà,fi, majoritat, igualtat und minoritat sowie Neunerreihen von Fragepronomina, Tugenden und Lastern (zu den sieben kanonischen kommen paciència und pie tat bzw. falsía und inconstància hinzu). Zur graphischen Darstellung der Begriffsreihen benutzt Llull Baumstrukturen und insbesondere eine Serie geometrischer Figuren, in denen die Begriffe eingetragen werden. Die Abkürzung der neungliedrigen Begriffsreihen mit Hilfe der Buchstaben Β bis Κ und ihre Darstellung in diesen kombinatorischen Figuren, von denen die auf drei konzentrischen, drehbaren Kreisen beruhende quarta figura die berühmteste wurde, gewinnen im europäischen Lullismus überragende Bedeutung. 110 Llull selbst ordnet ihnen eine vorrangig utilitäre, insbesondere didaktische und mnemotechnische Funktion zu: «Ratio autem, quare praedictae Figurae sint positae in hac Arte, stat in hoc, ut sensus apprehendat situm & dispositionem illarum, ut in ilia apprehensione imaginatio sit speculum, in quo intellectus attingat dispositionem Figurarum Principiorum hujus Artis & ejus Discursivum & Investigativum Modum» (Ari inventiva veritatis, M O G 5, 2).
Zweck dieses relationalen Systems ist es, Fragen und Antworten kombinatorisch zu generieren, die alles Wißbare erfassen. 1 1 1 Innerhalb dieser universalen Anwendbarkeit der Ars lulliana nehmen die christlichen Glaubensmysterien Trinität und Inkarnation sowie die weiteren Glaubensartikel eine besondere Stellung ein. Sie sollen mit unwiderlegbaren Vernunftgründen (raons necessàries) rational bewiesen werden. Llull wendet sich dabei ausdrücklich gegen die Position Gregors des Großen, der Glaube verliere durch den Beweis sein Verdienst; vielmehr soll durch Erfahrung und Beweis der Glaube gestärkt werden, ein Vorgehen, das Llull im Prolog zum L. de convenientia fidei et intellectus in obiecto mit Christi Aufforderung an den ungläubigen Thomas rechtfertigt, zur Bestärkung seines Glaubens die Hand in die Passionswunden zu legen (Joh. 20,24-29). In einer der wenigen namentlichen Autornennungen verweist Llull an dieser Stelle auf Augustinus und De Trinitate sowie auf Thomas von Aquin und die Summa contra gentiles als Beispiele für verdienstvolle Beweise des Glaubens. Glaube und Verstand verschränken sich in Llulls Vorgehen dergestalt, daß der Glaube gleichzeitig Objekt und Voraussetzung der vernunftgemäßen Beweisführung wird: «Et ideo ego, qui sum verus Catholicus, non intendo probare Artículos contra Fidem sed mediante Fide; cùm sinè ipsa non possem probare; nam Articuli sunt per superiùs, & meus Intellectus est per inferiùs, et Fides est habitus, cum quo Intellectus ascendit supra suas vires» (Liber de convenientia Fidei et Intellectus, M O G 4, 572). 1 1 2 110 1,1 112
Cf. die Abb. bei Friedlein / Traninger 2001. Zu den kombinatorischen und universalistischen Aspekten der Ars lulliana cf. Eco 1994,65-83. Die von Llull offensiv vertretene Auffassung der Beweisbarkeit der Glaubensmysterien stand insbesondere im Zentrum des Jahrhunderte währenden Streits um seine Orthodoxie im Zusammenhang mit seiner Kanonisierung, cf. Madre 1973.
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D e r Überzeugungskraft einer solchen rationalen Beweisführung müßten sich nach Ansicht Llulls Muslime, Juden, Heiden und schismatische Christen zwangsläufig ergeben, so daß die Religionen in der eigentlichen Bestimmung des Menschen konvergieren, die ihm mit der Schöpfung verliehen wurde, nämlich Erkenntnis und Lob Gottes: «La entensió per que aquesta siencia es atrobada, es principalment per amar D e u e conèxer, e per destruyr les errós e los sismàtics qui son en lo mon, e per raó de pública utilitat; e secundariament per que aquesta siencia es atrobada, es per so que los particulars no conegutz sien en la sua Universalität atrobats e conegutz, com sia so que siencia sia de coses generals e no d'especials» (Taula general, O R L 16, 299).
Llull hat sich darüber hinaus immer wieder um die Anpassung seiner Methode an die Artes liberales und andere Fachwissenschaften bemüht. Seine Traktate zur Rhetorik, Logik, Astronomie oder Geometrie, zur Rechtswissenschaft und Medizin sowie zur politischen Entscheidungsfindung schöpfen zwar auch aus dem Traditionswissen dieser Wissenschaften, widersetzen sich jedoch weitgehend einer Einordnung in deren Geschichte. Sie sind mit der Llullschen Methode homologisierbar und werden damit vorrangig «Llullsch», in dem Sinne, daß die jeweils fachspezifische Modifikation der Ars lulliana im Vordergrund steht und das objektbezogene Wissen der jeweiligen Disziplin nur am Rande berührt wird. Im allgemeinen beruht die Handhabung der Ars lulliana in allen ihren Entwicklungsstufen und fachlichen Ausprägungen auf der Relationierung der unzählbaren Vielfalt der partikulären Phänomene mit den zahlenmäßig beschränkten Kombinationsmöglichkeiten mehrerer Sets von Universalien, den oben genannten Begriffsreihen. Dieses Aufdecken von Entsprechungen kann in beiderlei Richtung erfolgen, wie folgende Stelle aus der Ars compendiosa medicinae deutlich macht: «Scientia est de universalibus, ex quibus sciatur fieri descensus ad particularia [...]; ideo Ars ista inventa est, ut Medicus artificialiter sciat in principiis universalibus invenire particularia, & de particularibus ad universalia ascendere» (Ed. Llull 1987, 86).
In der genannten absteigenden Erkenntnisrichtung können mit Hilfe der Begriffe aus der Ars lulliana auf kombinatorische Weise wahre Propositionen erzeugt werden. So wird in einem einfachen Beispiel für die Kombination Β {bonitas), C {magnitudo), E (potestas) folgende Proposition generiert: «BCE. Illa Bonitas, quae est potens in essentia Magnitudinis, est bonificane & magnificane». 1 ' 3 In umgekehrter Erkenntnisrichtung kann aus den Phänomenen auf die sie bestimmenden Termini der Ars lulliana rückgeschlossen werden. 1 1 4 Im Prolog zur Lectura super figuras Artis demonstrativae (II.B.10) hat Llull ein
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Ars inventiva veritatis, M O G 5, 14. «Tertia autem distinctio dividitur in XIII. quaestiones, quae sunt via & exemplum, quo per artem scitur dari solutio infinitis quaestionibus, & in quibus traditur modus plenariae investigationis, per quam investigantibus quodvis particulare in universalibus revelatur» {Ars inveniendi particularia in universalibus, M O G 3, 453).
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Stück Selbstexegese hinterlassen, indem er der Schrift einen accessus voranstellte, also eine schematisierte Art des Vorworts, wie sie in mittelalterlichen Handschriften zur Einführung in das nachstehende Werk und seinen Autor üblich ist - im Normalfall also ein kurzer Kommentar von anderer Hand. 1 1 5 Der Prolog zur Lectura folgt dem sogenannten aristotelischen Accessusschema und geht auf die vier causae der Ars, nämlich auctor, materia, forma und finis ein. A l s materia werden die Figuren und Termini der A r s lulliana definiert, als forma der Abstieg von den Universalia zu den Particularia, bei dem die Seele begriffskombinatorische Operationen durchführt. Der Zweck (finis) der Ars liegt in der Bestätigung der Wahrheit und der Widerlegung des Falschen, «necessaria veritatis affirmatio vel falsitatis negatio». 116 Dieser logische Zirkel weist bereits auf die Entwicklung voraus, die die Ars lulliana im europäischen Lullismus erfahren sollte, wo ihre ursprünglich affichierte Funktion, nicht Verstandenes zu erklären, der topischen Funktion weicht, Argumente zugunsten des bereits Gewußten zur Verfügung zu stellen. Um jedoch mit Hilfe der Ars lulliana wahre Aussagen zu den Phänomenen zu treffen, ist es nötig, diese Phänomene und überhaupt alles potentiell Wißbare zu parzellieren und in einzelne Fragen zu fassen. Der Llullsche Erkenntnisweg verläuft immer über einzelne Fragen und Antworten. Expositorische Erläuterungen mit komplexeren Argumentationsgängen beziehen sich, wo sie vorkommen, auf eine einzelne Ausgangsfrage, welche in der Argumentation ggf. erneut aufgegriffen wird, um sie mit einer anderen Methodik, aber gleichem Ergebnis nochmals zu behandeln. Statt über das Ausgangsthema hinaus verketteter Schlußfolgerungen finden sich typischerweise schier endlose Reihen von kurzen Einzelfragen. Grob skizziert läßt sich ein typischer Traktat der Ars lulliana so beschreiben: Auf das Alphabet der Abkürzungen sowie die Figuren und die Begriffsreihen folgen Anwendungsbeispiele in Form kombinatorisch generierter oder konventionell formulierter Fragen - mit oder ohne Antworten. Zur Beantwortung konventionell gestellter Fragen müssen über die bereits in der Frage vorkommenden Llullschen Termini hinaus mit Hilfe der kombinatorischen Figuren weitere Begriffe gefunden werden, aus denen die Antwort zu formulieren ist. Die Anordnung der bis zu mehreren Tausend Fragen kann den berührten Fachgebieten oder Seinsebenen folgen oder sich nach den Universalien richten, die in den behandelten Fragen aktuell sind. Die Ars lulliana bietet somit durch ihr flexibles und hocheffizientes Instrumentarium eine Argumentationshilfe, die im frühneuzeitlichen Lullismus im rhetorisch-topischen Sinne zur Anwendung kam. 11 ? Von Llull selbst scheint dagegen trotz der generierten Überfülle von Propositionen, deren Verifikation im Einzelfall dem Artisten überlassen bleibt, der Anspruch niemals aufgegeben
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Cf. ausführlicher zu diesem Prolog Seite 143-145. Lectura artis demonstrativae, M O G 3, 206. Die jüngst erschienene Studie von A . Traninger (2001) beschreibt die Funktionsweise der Ars lulliana und - darauf aufbauend - ihre Benutzung als Topik für die frühneuzeitliche Rhetorik erstmals umfassend.
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worden zu sein, nicht nur eine Bedeutungsmaschine, sondern eine metaphysisch verankerte Methode der Wahrheitsfindung zu bieten. Angesichts der grundsätzlich im Frage- und Antwortschema funktionierenden Ars tulliana stellt sich die Frage, inwieweit diese Struktur mit dem Dialog als literarischer Form in Verbindung steht. Zunächst sind Fragereihen mit oder ohne Antwort als Gestaltungsprinzip eine kulturelle Konstante, die sich bereits in den alten Hochkulturen findet.118 Eine in diesem Zusammenhang besonders relevante Parallele bildet jedoch eine Textfamilie, deren älteste Vertreter mindestens aus karolingischer Zeit stammen. Es handelt sich um eine Reihe von genetisch unterschiedlich eng verwandten Frage-Antwort-Folgen, die so gestaltet sind, daß eine Serie von Fragen an eine weise Person gestellt und von ihr beantwortet wird. Die älteste Gruppe bilden die unter Joca monachorum bekannten Texte. Sie bestehen in ihren unterschiedlichen Fassungen 1 *9 jeweils aus einer Reihe von Fragen und Antworten, die ohne Einleitung oder narrative Einschübe und ohne Sprecherfiguren aufeinanderfolgen. Die Antworten bestehen häufig aus einem einzigen Wort. Gefragt wird nach biblischem Faktenwissen, wobei der abgefragte Stoff keinen Kanon von Grundlagenwissen bildet, sondern eher Kuriosa zusammenträgt. Nach diesen wird unmittelbar gefragt und auf dunkle Formulierungen wird verzichtet, so daß die Fragen fast nie rätselartig wirken. Übereinstimmend in der Form, doch mit anderen Inhalten präsentiert sich Alkuins Disputatio Pippini cum Albino. Die Fragen, die Pippinus hier an Albinus stellt und die überwiegend dem Schema «Quid est...?» folgen, werden mit teils eher banalen oder faktischen, teils eher ingeniösen Definitionen beantwortet. 120 Frage-Antwort-Dialoge sind in Form von Übersetzungen oder freien Bearbeitungen auch auf der Iberischen Halbinsel vertreten; sie entstehen etwa zeitgleich zu Llulls Schriften: a) Die Texte unter dem Namen Adrian und Epictitus gehen in der Gestaltung einen Schritt weiter als die karolingischen Beispiele, indem die Sprecherfiguren Adrianus und Epictitus in einer allerdings sehr knappen Einleitung vorgestellt werden. Statt Epictitus wird meist eine verkürzte Namensform benutzt oder die Figur einfach als weises Kind eingeführt. Adrian und Epictitus wurde in mehrere romanische Volkssprachen übertragen, einmal in einer wörtlichen Übersetzung, zum anderen in einer davon unabhängigen Version, in der Fragen aus anderen Quellen hinzukommen. Letztere wird gewöhnlich Enfant sage genannt. 121 Beide sind wohl zuerst auf okzitanisch entstanden; W. Suchier hält wegen der Überlieferungsgegebenheiten dagegen
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Für Hinweise auf das altindische Rigveda und das altpersische Avesta cf. das 6. Kap. von Huizinga 1939 /1949, insbesondere 173-175 und 184-186; für Griechenland cf. Bardy 1932-33,210-212. Die maßgeblichen Arbeiten dazu stammen von W. Suchier; cf. insbesondere seine Ed. mehrerer Versionen der Joca monachorum (Suchier 1955). PL 101, col. 975-980. Ed. zweier lateinischer und mehrerer volkssprachlicher Versionen bei Suchier 1910.
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die katalanische Fassung des Enfant sage122 für die ursprünglichste. Auf spanisch sind sowohl eine selbständige Version des lateinischen Adrian und Epictitus als auch drei Fragmente des Enfant sage erhalten. I2 3 Eine noch viel größere Verbreitung erfährt das Fragenmaterial allerdings, nachdem es in einem anderen Text aufgegangen ist: Als die Geschichte der Sklavin Tawaddud oder TDdur aus den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht vermutlich im 13. Jahrhundert als Historia de la doncella Teodor aus dem Arabischen ins Spanische übertragen wird, werden ihr die Fragen aus Adrian und Epictitus als ein Kapitel eingefügt. 124 b) Ein weiterer, kurzer Fragedialog, in dem die narrative Einleitung größeren Raum einnimmt als in Adrian und Epictitus, ist unter dem Namen Historia de Segundo bekannt: I25 Der Philosoph Segundo kehrt nach langer Ausbildung unerkannt nach Hause zurück und will die Sittsamkeit seiner Mutter auf die Probe stellen. Diese willigt ein, die Nacht neben ihm zu verbringen, und verstirbt, nachdem sich der Sohn zu erkennen gibt. Darauf fällt er in ununterbrochenes Schweigen. Seines großen Wissens wegen wird er darauf dem Kaiser Adrian vorgeführt, weigert sich jedoch sogar angesichts der ihm angedrohten Hinrichtung zu sprechen. Dieser Standhaftigkeit verdankt er es, dem Kaiser schriftlich auf eine Reihe von «¿Qué es...?»-Fragen mit zum Teil ingeniösen Definitionen antworten zu dürfen, von denen einige mit Alkuins Disputatio Pippini cum Albino übereinstimmen. Danach endet der Text unvermittelt. c) Die dritte Familie von Fragedialogen, die Lucidarien, geht von dem um 1100 entstandenen Elucidarium von Honorius Augustodunensis aus. 126 Dieses behandelt in einem akroamatischen Frage-Antwort-Dialog in mehreren
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Ed. bei Pagès 1891. Das erhaltene Ms. ordnet Suchier in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts ein. Ed. bei Bizzarri 1995a. Zu den handschriftlichen Fassungen kommt 1540 ein Druck aus Burgos. Cf. Mettmann 1962 sowie zum arabischen Vorbild den Eintrag «Tawaddud» in der Enzyklopädie des Islam. Nach der Ed. bei Knust 1879, 498-506, wo das Verhältnis des Textes zur Version im Speculum historíale von Vincent von Beauvais, zu einer griechischen und zu einer arabischen (der wohl ursprünglichen) Fassung untersucht wird (ib. 602-612), erschien jüngst eine Neuedition von H. Bizzarri (2000) unter dem Titel Vida de Segundo, in deren Einleitung die Textgeschichte aufgearbeitet ist. Ed. und Studie bei Lefèvre 1954. In der Einführung bei R. Hilsenbeck (1990) - die einen informativen Überblick der bis dato zu Lehrdialogen erschienenen Literatur aufweist - werden Dialog als Gattung, als Redeform und als mündliche Manifestation nicht grundsätzlich unterschieden, so daß im Prinzip in der Untersuchung auch Texte berücksichtigt werden müßten, die eine nur «implizite» Dialogform aufweisen. Die lateinischen Texte, die danach als Hauptquellen für die Lucidarienliteratur untersucht werden, sind dagegen Dialoge im engen Sinn. Zum Forschungsstand zur Lucidarienliteratur cf. die Angaben bei Ruhe 1993, 26, Anm. 1, sowie bei Luff 1999, 20, Anm. 1-3. Eine Textedition einer der altfranzösischen Fassungen des Elucidarium ist jüngst aus der Hand von M.Türk (2000) erschienen.
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hundert Fragen im ersten Teil grundlegende Elemente der Heilsgeschichte, im zweiten moraltheologische Fragen und im dritten die Eschatologie. Das Elucidarium wurde in die wichtigsten westeuropäischen Volkssprachen übersetzt (u. a. gibt es eine okzitanische Fassung), 127 während aus dem 13. Jahrhundert von der Iberischen Halbinsel ein spanischer Lucidarlo (1293) 128 erhalten ist, der mit dem lateinischen nur entfernt verwandt ist. Dazu kommt ein weiterer spanischer Lucidarlo, der sich viel stärker an der lateinischen Vorlage orientiert, bislang jedoch erst aus einer 1429 datierten Handschrift bekannt ist. 129 Im Prolog des alten Lucidarlo, den König Sancho IV. firmiert, wird bereits der Konflikt zwischen den zwei Arten der Erkenntnis thematisiert, nämlich por thologia und por naturas. Die Schülerfigur leitet darauf den Dialog mit der Überlegung ein, wie das vom Lehrer bisher vermittelte theologische Wissen mit dem in den Schulen gelehrten naturwissenschaftlichen vereinbar sei. Wie schon von der Autorstimme im Vorwort werden auch von der Lehrerfigur den beiden Methoden verschiedene Erkenntnisbereiche zugewiesen, so daß auf manche Fragen por thologia und auf andere por naturas geantwortet wird. Als Rechtfertigung für dieses Vorgehen wird angeführt, daß Gott die irdischen Abläufe unter die Gesetze der Natur gestellt habe, während andere Abläufe zeitlich davor oder räumlich über diesen geschehen, so daß sie einer anderen Methode bedürften. Neben den heilsgeschichtlichen und eschatologischen Themen, die das Elucidarium von Honorius kennzeichnen und die hier ebenfalls behandelt werden, sind auch Fragen aus dem naturwissenschaftlichen Bereich zahlreich. Ein durchgängiges Ordnungsprinzip ist im spanischen Lucidarlo nicht auszumachen, obwohl einzelne Blöcke von thematisch verwandten Fragen erkennbar sind. Im katalanischen Sprachgebiet sind mehrere Erwähnungen von Schriften des Namens Elucidarium und Lucidari überliefert, bei denen es sich sowohl um Bearbeitungen des Dialogs von Honorius als auch um eigenständige Schriften gehandelt haben kann.' 30 Die breite Rezeption des ursprünglichen Elucidarium ist jedenfalls durch Nicolau Eimeric bezeugt, der im Prolog zu seiner (nicht dialogischen) Streitschrift gegen Honorius, dem Elucidarius elucidarli, angibt, das Werk, dessen häretischen Charakter er nachzuweisen sucht, sei weit verbreitet und werde viel gelehrt. 131
,2 7
Ed. bei Reynaud 1889. Ed. bei Kinkade 1968 und Rez. Metzeltin 1972. 129 Ein Textvergleich, der die Nähe bzw. Distanz der beiden spanischen Lucidarien zum lateinischen illustriert, findet sich in der Einleitung zur Erstedition des späteren Lucidarlo bei M . T ü r k (1993,77s.). Z u r Datierung cf. ib. 90. '3" Metzeltin 1972, 191Í 1 1 1 Eimerics Elucidarius elucidarli wurde von Y. Lefèvre (1954, 479-521) ediert. In seinem Vorwort schreibt der Inquisitor aus Girona im Jahr 1393: «[...] liber praedictus, Elucidarium dictus, est liber multum antiquatus, liber multum publicatus, liber in librariis communibus positus, liber cunctis expositus» (Lefèvre 1954, 485). 128
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d) Die im Zusammenhang mit Llull bedeutendste und auch umfangreichste Bearbeitung des Fragenmaterials aus dem Elucidarium geschieht im Livre de Sidrac, des sicher wichtigsten Fragedialogs im 13. Jahrhundert. Inzwischen wurden sowohl die Lucidarien als auch die zahlreichen Versionen des Buchs von Sidrac erfaßt und in mehreren Fassungen ediert. Es ist nunmehr allgemein anerkannt, daß als ursprüngliche Fassung die französische zu gelten hat.' 3 2 Die katalanische Version, der Llibre de Sidrac, ist nur eine der zahlreichen europäischen Übersetzungen des noch in der frühen Neuzeit vielgelesenen Werks - allein zwischen i486 und 1531 sind elf französische Editionen zu verzeichnen. 133 Die Editio princeps trägt den Titel La fontaine de toutes sciences du philosophe Sydrach (Paris i486). In der breit angelegten Rahmenerzählung des Dialogs wird der Weise Sidrac an den persischen Hof gerufen, weil ein vom König Boctus unternommener Turmbau immer wieder auf mysteriöse Weise mißlingt. Nachdem sich Sidrac mit dem König auf eine Indienreise begeben hat, zerschmettert er dort mit göttlicher Hilfe Götterbilder der Perser. Auf den Auftrag eines gottgesandten Engels veranlaßt Sidrac die Aufstellung dreier Gefäße mit Wasser, in denen Boctus die Trinität erblickt und sich zum dreieinigen Gott bekehrt. Im Anschluß daran disputieren vier Weise mit Sidrac und fordern ihn auf, zum Gottesbeweis einen Giftbecher auszutrinken, was er tatsächlich überlebt. Nun beginnt der König, eine Reihe von Fragen zu stellen: In der katalanischen Fassung sind es über fünfhundert, in manchen anderen Fassungen über eintausend. Nach ihrer Beantwortung durch Sidrac gelingt - nunmehr im Namen Gottes - der Turmbau und weite Landstriche bekehren sich zum Christentum, womit der Text endet. 1 3 4 Die ersten der vom König gestellten Fragen zielen auf biblisch-kosmologische Kenntnisse, wobei nicht punktuelle Information abgefragt, sondern in den Antworten ein über die einzelne Frage hinausreichender Deutungszusammenhang entfaltet wird. Zwar bilden die Fragen überwiegend thematische Gruppen, indem sie etwa aus der Moraltheologie und praktischen Moral, Physiologie, Kosmologie
•32 Wins 1993,38s. •33 Vorgängig ist eine große Anzahl französischer Handschriften vorhanden; B.Weisel (1993) führt 53 Stück auf; dazu kommen die zahlreichen Bearbeitungen in anderen Sprachen. Z u r Druckgeschichte cf. Minervini 1982, XXII s., Marichal 1994 und Weisel 1993. Moderne Editionen gab es bislang von einem Abschnitt der okzitanischen Fassung bei K. Bartsch (Bartsch 1875, col. 309-314), von der italienischen Fassung bei A . Bartoli (1868) und von der katalanischen bei V. Minervini (1982); vorgängig dazu die äußerst seltene Teiledition von Gabriel Llabrés, die er als Separatum seiner Revista Catalana 1892 veröffentlichte. Dazu kommt nun die kritische Edition der französischen Fassung durch E. Ruhe (2000). Es sind zwei katalanische Mss. bekannt: Oxford Bodleian Library, canon, ital. 147, fol. 1-82 (14. Jahrhundert) und Biblioteca de Catalunya, ms. 1031, fol. 109-139 (15. Jahrhundert). •34 Mit der Bekehrung endet das katalanische Ms. in Oxford, während andere Fassungen, z. B. die bei Bartoli 1868 edierte italienische, den Tod der beiden Sprecher und den anschließenden Rückfall der Völker in den Götterglauben folgen lassen.
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und verschiedenen Naturwissenschaften wie der Mineralogie, Astronomie 1 3 5 und Heilkräuterkunde, schließlich der Geschichte und Eschatologie stammen. D o c h diese Blöcke sind nicht strikt voneinander getrennt, sondern gehen ineinander über und erlauben immer wieder zusammenhanglos eingestreute Fragen zu anderen Wissensbereichen. 136 Grundsätzlich verlangt der König in seinen Fragen nach Belehrung; er stellt mithin keine Rätselfragen, deren A n t w o r t ihm schon bekannt wäre. Wenngleich der ernsthafte Charakter des Dialogs durchweg erhalten bleibt, fällt dennoch auf, daß das Erfragte häufig einer gewissen Kuriosität nicht entbehrt. Es handelt sich um kleinteilig und disparat strukturiertes Wissen, dessen E r w e r b vergnüglich von der Hand geht: Warum gibt es Rot- und Weißwein? Warum ziehen Magnete Eisen an? Wieviele A r t e n Vögel gibt es? Wie stillt man Nasenbluten? Die Erläuterungen sind mehr oder weniger weitschweifig gehalten, reduzieren sich j e d o c h niemals auf einen kurzen Satz oder ein einzelnes Wort, wie es oftmals in den anderen Frage- oder Rätseldialogen 1 3 7 der Fall ist. D e r Llibre de Sidrac ist wegen der Fülle von Information und der zahlreichen abgedeckten Wissensgebiete als mittelalterliche Enzyklopädie verstanden worden.' 3 8 Vor dem Hintergrund dieser Leseerwartung wird deutlich, warum die frühen Romanisten das Werk durchweg so harsch ablehnen mußten. Noch Langlois schimpft den Autor «aveuglement conservateur [...], égoïste, cynique, grossier» I39 und kreidet ihm vor allem den Mangel an Seriosität und wissenschaftlichem Interesse an. Neben dem durchaus enzyklopädischen Umfang des L. de Sidrac darf jedoch nicht unterschlagen werden, daß der Stoff in seiner Kuriosität und narrativen Rahmung kurzweilig dargeboten wird. Offenbar zielt der L. de Sidrac damit nicht auf kondensierte Systematik, sondern auf eine anspruchsvolle Form von Unterhaltung, die das Interesse der Leser- oder Zuhörerschaft wachhält und womöglich den L e r n e f f e k t steigert. D i e paratextuellen Rubriken am Textanfang verzeichnen die Fragen vollständig und erlauben so, schnell zu den bevorzugten T h e m e n vorzustoßen. Es wäre damit möglich, um eine denkbare Rezeptionsweise zu
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Der astronomische Teil hebt sich deutlich ab, da hier ein vormals selbständiger Traktat eingeflochten ist, in dem sich die Frageform vorübergehend verliert. Ch. Meier geht auf die Ordnungsprinzipien der mittelalterlichen Enzyklopädik ein, bezieht allerdings Texte in Frage-Antwort-Form nicht ausdrücklich in die Untersuchung ein (2002, 512-519, vorher 1984,478-483). Rätseldialoge sind von der Iberischen Halbinsel im Gegensatz zum Rest Europas nicht bekannt. Neben der älteren Forschungsliteratur (Renan 1893 und Langlois 1926-1928 /1970, III, 198-275) ist auf Marichal 1955, 205-222 und 1994 sowie auf die Einführung bei Minervini 1982 hinzuweisen. Unter den jüngsten Beiträgen sind insbesondere die drei Aufsätze zum L. de Sidrac im Sammelband von H. Brunner und N. R.Wolf (1993) einschlägig. Die Untersuchung von R. Luff (1999, 159-213) zu den Prologen in der mittelalterlichen Wissensliteratur läßt Autorprologe und narrative Einleitungen von Dialogen ununterschieden. In bezug auf den L. de Sidrac werden hier «kaum neue [...] Erkenntnisse erzielt» (ib. 211). Langlois 1926-1928/ 1970,111,214. 44
skizzieren, die Zuhörer im Sinne eines Quiz mit bestimmten, ausgewählten Fragenkomplexen unterhaltsam und belehrend abzufragen. In diesem Zusammenhang ist eine Mischung aus Wissensfragen im strengen Sinn und Fragen nach Kuriosa erlaubt, wenn nicht gar geboten. Zudem können durch die abwechslungsreiche Themenfolge auch längere Passagen in einem Stück vorgetragen werden. Als gemeinsames Kennzeichen der aufgeführten Texte läßt sich festhalten, daß - vom Sonderfall der Historia de la doncella Teodor abgesehen - das in den Antworten vermittelte Faktenwissen den textlichen Schwerpunkt ausmacht. In den umfangreicheren Frage-Antwort-Dialogen decken einzelne Blöcke von Fragen gelegentlich ein zusammenhängendes Fachgebiet ab, wobei die Reihenfolge grob die kosmologische Hierarchie abbildet, indem zuerst Fragen zu Gott, den Engeln, der Schöpfung gestellt werden, während Fragen zum Menschen und anderen Geschöpfen, zu den Naturwissenschaften, den artes mechanicae und zur Geschichte eher am Ende stehen. Keinesfalls erreicht die Fragenabfolge jedoch einen solchen Kohäsionsgrad, daß sich eine über die einzelnen Antworten hinausreichende Argumentation entfalten würde; vielmehr bleibt jede Frage-Antwort-Sequenz im Prinzip in sich abgeschlossen. In den meisten der genannten Texte sind Bezüge zwischen den behandelten Fragen und dem situativen Kontext schwerlich zu erkennen. Im L. de Sidrac kommt eine gewisse Verbindung zwischen den Fragen und der Handlung darin zum Ausdruck, daß solche Fragen, die sich z. B. auf Jesus, auf den Islam, die Mongolen oder die Eschatologie beziehen, im Futur gestellt werden, denn der Prolog gibt an, die Rahmenhandlung und das Gespräch hätten gut acht Jahrhunderte nach der Sintflut 140 und somit noch in alttestamentlicher Zeit stattgefunden. Dennoch bleibt die Verbindung von Handlungs- und Argumentenebene äußerst lose. 141
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In der katalanischen Fassung ist von 943 Jahren, in anderen von 847 Jahren die Rede. Das Frage-Antwort-Schema ist selbstverständlich auch in spezieller fachbezogenen Texten zu finden. Sowohl die Ars minor von Donat als auch die Ars grammatica des Kirchenvaters Julian von Toledo (Ed. bei Maestre Yenes 1973) sowie die spätere hispanische Standardgrammatik des 15. Jahrhunderts, der Thesaurus pauperum von Juan Pastrana, sind in Frage-Antwort-Form gehalten (Casas Horns 1949). Sie verzichten jedoch auf die Benennung von Sprecherfiguren, so daß sich Fragen und Antworten ohne Einleitungsformeln abwechseln. D e m quadrivischen Bereich ist dagegen der okzitanische Comput en vers (2. Hälfte des 13. Jahrhunderts, Ed. bei Brunei 1924) zuzuordnen, ein kurzer Dialog zwischen zwei Klosterprioren über die kalendarische Berechnung kirchlicher Feste. In der Theologie kommt das Antikeimenon von Julian von Toledo wiederum ganz ohne Sprecherfiguren aus, da die Fragen zum Bibeltext nur durch Interrogano und Resportsio eingeleitet werden. In einem anonymen Dialog aus einem Cordobeser Ms. des 10. Jahrhunderts wird auf ähnliche Art (Interrogo / Respondit) nach philosophischen Grundbegriffen gefragt (Ed. bei Leclercq 1949), während J. Casas Horns (i960) ein Fragedialogfragment zu vorwiegend liturgischen Fragen und K. Künstle (1900) zwei angeblich hispanische Fragedialoge ediert. Cf. auch das kurze Fragment mit dem Sprecher Berenguer Ros aus einem Salamantiner Ms. (Perarnau 1985a). - Neben diesen zweitrangigen Texten
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Um zu der eingangs formulierten Problemstellung zurückzukehren, ob Llull die auf Fragestrukturen beruhende Ars lulliana mit Frage-Antwort-Dialogen des soeben beschriebenen Typs verbunden hat, sollten mehrere Merkmale dieser Texte in Betracht gezogen werden. Zunächst ist festzuhalten, daß die genannten Texte vor dem Hintergrund der oben aufgemachten Dialogkriterien allenfalls als randständiger Sonderfall des Dialogs aufgefaßt werden können, da sie das Kriterium der Argumentativität weitgehend nicht erfüllen. Nicht zufällig werden sie in der Forschung sowohl im Rahmen der mittelalterlichen «Enzyklopädik» als auch der dialogischen Gattung angesprochen. Im Bewußtsein dieser Kautel und angesichts der Forschungstradition soll aber der Begriff Frage-Antwort-Dialog hier beibehalten werden. Als wesentliche Kennzeichen - nun des L. de Sidrac im konkreten - können seine Motivik, die enzyklopädische, umfassende Anlage, die schöpfungshierarchische Materialanordnung, die Figurenkonstellation und natürlich die Frage-Antwort-Struktur gelten, und diese Punkte lassen sich als einzelne alle in Texten Llulls wiederfinden. Motive wie Reisen auf Berge, Religionsgespräche unter Weisen oder Konversionen zum Christentum, die im L. de Sidrac mit überirdischen oder märchenhaften Elementen angereichert sind, setzt Llull gleichermaßen ein. Wie L. Badia feststellt, besteht aufgrund solcher Parallelen eine große Ähnlichkeit zwischen Llullschen literarischen Texten und dem okzitanischen Barlaamroman. 142 Diese Gemeinschaft läßt sich ohne Bedenken um den L. de Sidrac erweitern, der den literarischen Texten Llulls so ähnlich ist wie kaum ein anderer. Die Parallelen beruhen jedoch auf einem gemeinsamen Motivfundus, der keineswegs dialogspezifisch ist. Eine enzyklopädische Anlage, dazu mit schöpfungshierarchischer Anordnung, ist sowohl in Llulls riesigen Fragesammlungen wie auch in seinem Fèlixroman augenfällig, konstituiert aber an sich noch keinen Dialog wie den L. de Sidrac.143 Auch die fürstenspiegelartige Figurenkonstellation im L. de Sidrac sucht man bei Llull nicht vergebens. In der Ars consilii (IV.109) verwendet er sie im siebten Kapitel, wo ein König einhundert Fragen an einen Ratgeber stellt 144 - wegen der auf ein einziges Kapitel beschränkten Gesprächsform ist der Text als ganzer jedoch nicht als Dialog zu bezeichnen. Damit ergibt sich folgende Schlußfolgerung: Insgesamt mag die Ars lulliana als Methode durchaus als eine durch Texte wie den L. de Sidrac angeregte Form der Systematisierung und Automatisierung von
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bleibt mit dem Dragmaticon philosophiae von Guillaume de Conches aus der Schule von Chartres ein Frage-Antwort-Dialog über hauptsächlich naturwissenschaftliche Fragen zwischen Duc und Filòsof zu erwähnen. Er ist im 13. Jahrhundert in Katalonien nachzuweisen (Badia 1985/86, 141), seine katalanische Übersetzung, die einzige in eine Volkssprache, kann aber erst nach 1338 entstanden sein (cf. die Einführung zur Ed. von L. Badia und J. Pujol bei Badia 1997). Badia 1990. Zur Gattungszugehörigkeit des Félix cf. Seite 55. Z u den Einleitungen der Fragen und Antworten kommen hier, wenngleich sie nicht ganz so stereotyp gehalten sind wie im L. de Sidrac, keine weiteren Kontextelemente hinzu.
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Frage-Antwort-Sequenzen aufgefaßt werden. 145 Auch lassen sich die einzelnen literarischen Charakteristika des okzitanischen Frage-Antwort-Dialogs in unterschiedlichen Llullschen Schriften wiederfinden. Niemals jedoch gehen sie bei Llull die spezifische Komplexion ein, die sie im L. de Sidrac haben. Das Stellen und Lösen von Wissensfragen, für das die Ars tulliana eine Formulierungshilfe bietet, nimmt bei Llull niemals die Form eines Frage-Antwort-Dialogs zwischen zwei Sprechern an, wie ihn die literarische Tradition kennt. Der Dialog als Vertextungsprinzip scheint bei Llull daher aus einer anderen Notwendigkeit hervorzugehen als aus dem Frage-Antwort-Prinzip.
I.2.3 Dialogkonzepte der Llullforschung Die begriffliche Spannbreite von Dialog zur Bezeichnung kommunikativer Prozesse verschiedener Art zeichnete H.-R. Jauß bereits 1982 für eine Reihe von Fachrichtungen nach. Im Bereich der literarischen Hermeneutik bezeichnet er mit Dialog die Auseinandersetzung des Rezipienten mit der Alterität des literarischen Textes, eine Auseinandersetzung, die in einer als Wechselbewegung zwischen dem Text und dem Ich beschreibbaren, voranschreitenden Sinnkonstitution besteht. Dialog bezeichnet hier mithin keinen Vorgang aus der gesprochenen Sprache, sondern wird metaphorisch benutzt. Es bietet sich daher an, für diese dialogische Konzeption des literarischen Sinnkonstituierungsprozesses statt Dialog den Begriff Dialogizität einzusetzen, den Jauß selbst auch gelegentlich benutzt. In theologischen Zusammenhängen wird nach Jauß der Dialogbegriff auf die Kommunikation zwischen Gott und dem Menschen angewendet, aber auch auf die sprachliche Interaktion unter den Gläubigen, mit Nichtgläubigen sowie insbesondere zwischen priesterlichem Lehrer und Schüler. In dieser von Jauß dargestellten theologischen Begriffsverwendung spielt die Unterscheidung zwischen dem katechetisch-missionarischen, mündlichen Gespräch und seiner Fiktion im schriftlichen Dialog keine Rolle. Die Problematik, daß die hermeneutische und die theologische Begriffsverwendung von Dialog - darüber hinaus untersucht Jauß noch eine Reihe weiterer Beispiele - auf völlig differente Ebenen von Kommunikation zielen, wird kaum durch eine terminologische Auffächerung eingeholt werden können. Dies dürfte für die Zwecke dieser Arbeit auch nicht notwendig sein, solange die Verwendung des Dialogbegriffs auf dem engeren Gebiet der Llullforschung und des Dialogs im Mittelalter überschaubar bleibt. Zunächst ist dabei auffällig, daß in bezug auf Llull der Dialogbegriff überwiegend seitens der Theologie und dort zur Beschreibung von Llulls Verhältnis zu anderen Religionen benutzt wird. In der Mehrzahl der Arbeiten, die Llulls Verhältnis zum Islam untersuchen, geschieht dies aus der Perspektive des Missionsgedankens, mit dem Llull so eng
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So sind in Texten wie den Quaestiones per Artem demonstrativam solubiles (II.B.19)
die behandelten Fragen streng nach den Subjecta der Llullschen Kosmologie angeordnet. 47
verbunden zu sein scheint, daß R. Sugranyes (1954) «Docteur des missions» als zweiten Ehrennamen Llulls neben dem traditionellen «Doctor illuminatus» lanciert. Die missionstheologischen Arbeiten zu Llull befassen sich vorwiegend mit seinen teilweise widersprüchlichen Aussagen zu den konkurrierenden Missionsstrategien, nämlich der Frage, ob armes espirituals, also die Missionspredigt, oder armes sensuals, also Kreuzzug und Zwangskonversion, eingesetzt werden sollen. Insbesondere ist versucht worden, Llulls Ansichten zu dieser Polarität in eine kohärente Entwicklung einzuordnen und zu periodisieren, 146 wobei meist Aussagen literarisch geprägter Texte und politischer Sachtexte miteinander verrechnet werden. Im Gegensatz zu Llulls Forderung nach einem Kreuzzug erscheint seine Strategie für die missionarische Predigt originell und innovativ. Im Vergleich mit der zweiten großen Missionarspersönlichkeit Kataloniens im späten 13. Jahrhundert, dem Judaisten und antijüdischen Polemiker Ramon Martí, werden signifikante Unterschiede der missionarischen Strategie deutlich. Bei Marti zeichnet sich nach seiner fruchtlosen Nordafrikareise (1268-69) e i n e Fokussierung auf die Juden und speziell das messianische Thema ab, wobei er in seiner Argumentation auf die jüdischen nachbiblischen Schriften zurückgreift und aus ihnen heraus die christliche Auffassung zu beweisen sucht. 147 Llull, der sich immer stärker auf den Islam konzentriert, lehnt dieses Verfahren wegen seiner offensichtlichen Erfolglosigkeit ab und ersetzt den Beweis aus autoritativen oder kanonischen Schriften durch die Etablierung einer für beide Seiten verbindlichen Argumentationsgrundlage, der Ars lulliana, die auf universal akzeptable, rationale Prinzipien setzt. 148 Die gründliche Kenntnis des Islam und der arabischen Sprache sowie der Versuch, die geistige Disposition der zu Missionierenden in die Argumentation einzubeziehen, können als Llulls innovativer Beitrag in der christlichen Missionsgeschichte und als seine Errungenschaft zugunsten einer Neubegründung des Verhältnisses zum Islam gewertet werden. 14 ? Diese Berücksichtigung der Glaubensvorgaben der zu Missionierenden hat es begünstigt, daß auf Llulls Missionskonzeption der Begriff Dialog in
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Zum Versuch der Periodisierung cf. Gottron 1 9 1 2 , Sugranyes i960, Garcias Palou 1981, 422s. und Perarnau 1 9 8 2 , 2 5 . M. Johnston (1995) beschäftigt sich speziell mit der Frage, wie Llull zu Zwangspredigten an Juden und Muslime steht, eine Agitationsform, für die er sich jedoch offenbar nur am Rande engagiert. Llull und Marti werden im Hinblick auf ihre Islamkenntnis von A . Cortabarria ( 1 9 8 7 ) kontrastiv untersucht. Die wesentlichen Feststellungen bezüglich der beiden Missionsstrategien trifft A . B o n n e r (1989), was von E . C o l o m e r ( 1 9 9 7 ) weiter ausgeführt wird. Cf. dazu auch Lavajo 1981 sowie Lavajo 1985 zu den Erwähnungen Martis bei Llull. Domínguez 1999, 2 7 3 - 2 8 4 . Dieser methodische Neuansatz beruht allein auf missionsstrategischen Überlegungen und impliziert keineswegs eine Annäherung an den modernen Toleranzgedanken. M. Barceló ( 1 9 8 9 , 1 2 6 - 1 2 9 ) u n d D- Urvoy (1989) argumentieren, daß Llulls Missionsanstrengungen nur in der Zwangssituation der mallorquinischen Sklavenhaltergesellschaft erfolgversprechend waren und der Llullsche Ansatz auf Seiten freier Muslime unverstanden bleiben mußte.
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einer weiten Auslegung und mit z.T. metaphorischer Bedeutung angewendet wurde. Aus analogen Gründen wie in bezug auf Jauß' Begriffsverwendung scheint es angebracht, wenn Llulls konzeptioneller Einbezug des Denkens der zu Missionierenden in seine Missionstheorie in Betracht steht, ebenfalls den Begriff Dialogizität vorzuziehen. Zur Verwendung des Dialogbegriffs in der bisher vorliegenden Llullforschung sind darüber hinaus im wesentlichen vier Ansätze zu unterscheiden. Die erste systematische Verwendung des Begriffs findet sich in der Llullmonographie von A . Llinarès (1963), wo Llulls Leben in zwei Phasen eingeteilt wird. Im strikt biographischen Teil der Arbeit wird mit Llulls Parisaufenthalt 1287 eine période de la méditation von der späteren période de l'action getrennt.' 50 In ähnlicher Weise differenziert Llinarès bezüglich Llulls ideologischer Entwicklung drei Aspekte von controverse, die jeweils eine Lebensphase charakterisieren. Nach le temps du dialogue setzt er le temps des disputes an, der mit der ersten Nordafrikareise 1293 beginnt. Aus dieser zweiten Phase wird darüber hinaus Llulls antiaverroistische Kampagne (1309-1311) unter dem Stichwort polémique ausgegliedert. « A dire vrai, ce mot de controverse ne désigne pas une réalité unique, mais des réalités assez diverses pour qu'on puisse y distinguer trois aspects, correspondant assez bien à trois moments de la vie de Lulle [...] Ce premier moment de l'activité polémique de Lulle, nous l'appelons volontiers le temps du dialogue, illustré par le Libre del gentil e los tres savis. Une deuxième période [...] (c)'est le temps des controverses proprement dites» (Llinarès 1963, 269s.).
Llinarès betont unmißverständlich, daß sich seine Einteilungen auf biographische Phasen beziehen, in denen menschliche Grundeinstellungen des Autors untersucht werden. Texten kommt auf dieser psychologischen Beschreibungsebene die Funktion zu, Lebensphasen zu illustrieren. Für Llulls temps du dialogue steht der L. del gentil, während le temps de la dispute sich u. a. in der Disputado Raimundi Christiani et Homeri Saraceni zeigt.' 5 1 Llinarès' klar begrenzter, anthropologischer Dialogbegriff bezeichnet in einer für biographische und psychologische Ansätze geeigneten Weise das verständnisvolle, zum Zuhören bereite Aufeinanderzugehen von Vertretern verschiedener Religionen, mithin ein Merkmal menschlichen Verhaltens und eine grundlegende geistige Einstellung, die sich in den aus ihr heraus entstandenen Texten niederschlägt. Während in der folgenden Llullforschung der Dialogbegriff nur sporadisch angewandt wird,' 5 2 greift E. Colomer die Periodisierung von Llinarès auf 150 151
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Llinarès 1963, 83 bzw. 100. Nur an einer Stelle bezieht Llinarès den Dialogbegriff eindeutig auf einen Text, den L. del gentil, um damit den höflichen Ton der Sprecheraussagen zu charakterisieren: «C'est bien d'un dialogue qu'il s'agit ici, d'une conversation polie, conduite civilement entre des personnages distingués» (Llinarès 1963, 270). So wird Llull ζ. Β. von D. de Courcelles «écrivain passioné de dialogue avec les penseurs juifs et musulmans» genannt, während der Begriff später für einen Aussagemodus steht: «Le dialogue s'intègre donc dans un récit d'un voyage, d'un parcours, qui s'apparente à un récit d'iniciation spirituelle» (Courcelles 1993, 29 bzw. 124).
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und führt sie aus. 153 Unter dem Stichwort diàleg interreligiós werden bei ihm zunächst mittelalterliche Religionsdialoge analysiert, dann aber auch Theoretiker der Apologetik behandelt. In der Darstellung der Llullschen apologetischen Grundlagen wird diàleg als geistiger Austausch zwischen Religionsvertretern verstanden: «Llull es va adonar ben aviat que l'unie caini viable de diàleg entre els creients de les tres religions monoteistes és partir d'aliò que els uneix i no d'aliò que els separa» (Colomer 1997, 129).
In bezug auf zwei Religionsgespräche, die Llull nach der Überlieferung in der Vita coaetanea in Nordafrika führte, vermeidet Colomer den Dialogbegriff offenbar wegen der fehlenden beiderseitigen Disposition zum lernenden Austausch zwischen Llull und den islamischen Gelehrten. Für seine Analyse der Llullschen Texte übernimmt er dagegen die ursprünglich biographische Terminologie von Llinarès. Der Oberbegriff für die Dialoge Llulls ist damit obres de controvèrsia religiosa,154 wobei diàleg denjenigen vorbehalten bleibt, die sich durch die offene und verständnisvolle Haltung der Interlokutoren auszeichnen. Colomer skizziert in Anlehnung an Llinarès drei werkchronologische Phasen: «Hi ha hagut en Llull una evolució en la seva actitud envers els dissidents, al llarg de la qual el diàleg obert i seré de la primera època s'ha anat convertint a poc a poc en controvèrsia i ha acabat finalment en polèmica» (Colomer 1997, 152).
Die Bezeichnungen gelten an dieser Stelle für die mentale Disposition des Autors, beziehen sich aber anderweitig auch auf die aus ihnen resultierenden Textsorten: «[Der Liber Tartari] és molt lluny de manifestar l'esperit obert i dialogant del Libre del gentil. D e fet, no es tracta ja de cap diàleg, sino d'una apologia del cristianisme» (Colomer 1997,164s.).
Der L. del gentil, der L. de sancto Spiritu und De adventu Messiae aus der ersten Phase gelten somit als Dialoge, der L. Tartarí und die Disputado de cinc savis aus der zweiten Phase als Apologien und die Disputatio Raimundi Christiani et Homert Saraceni schließlich bildet das einzige Beispiel für die dritte Phase, die des Disputs. Die Gruppeneinteilung wird biographisch motiviert, indem angenommen wird, daß die Dialoge und Apologien vor Llulls erster Begegnung mit nordafrikanischen Muslimen entstanden seien, da erst diese Erfahrung zu seiner unversöhnlichen späteren Haltung geführt habe. A m Ende der Studie wird überraschend der Begriff Dialog für die frühen Texte relativiert und durch Monolog ersetzt:
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Zuletzt legte E . Colomer (1997, 113-179) eine aktualisierte Synthese mehrerer Arbeiten vor, zu denen auch ein Aufsatz in deutscher Sprache zählt (Colomer 1992), wo neben Dialog und Disput gelegentlich synonym Ζ wie-, Religions- und Streitgespräch sowie Selbstgespräch vorkommen. Colomer 1997, 151.
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«Eis seus diàlegs eren, al capdavall, monòlegs: l'autor hi parlava amb les seves pròpies creatures. A Tunis i Bugia Ramon trobà per primer cop un interlocutor real; no com abans interlocutors fingits [...] El diàleg fracassà i vingué la disputa» (Colomer 1997, 172).
Während Dialog von Colomer zur Beschreibung von Texten anhand ihrer Figurenkonstellation benutzt wird, bezieht sich sein Monologbegriff 1 5 5 auf die literarische Kommunikation zwischen Llull als Autor und seinen Lesern. Tatsächlich gilt aber für alle Texte, die nicht von zwei oder mehr Verfassern gemeinsam geschrieben wurden, also für die überwältigende Mehrheit, daß sie auf der Rezeptionsebene, auch wenn sie in dialogischer Aussageform stehen, Monologe eines Autors an seine Leser sind.' 56 Die legitime Verwendung des Dialogbegriffs für die literarische Sinnkonstitution oder für mündliche Kommunikation wird erst dann inoperativ und wie im genannten Beispiel widersprüchlich, wenn mit demselben Begriff sowohl anthropologische Phänomene als auch eine Textsorte bezeichnet, dabei Literatur und Biographie miteinander verrechnet werden und auf dieser Grundlage das «Echtheitskriterium» für Dialoge aktualisiert wird, das Dialog mit Dialektik verwechselt. 157 In einem dritten Ansatz greift Th. Pindl im Nachwort zu seiner deutschen Übersetzung des L. del gentil den Dialogbegriff auf und benutzt ihn in dem übertragenen Sinn, wie er in der Theologie geläufig ist, so daß er seine textuelle Bedeutung weitgehend verliert. Während die mündliche Kommunikationssituation in der Realität meist Religions- oder Glaubensgespräch genannt wird, ist der L. del gentil die Darstellung eines Religionsdialogs oder eine Schrift zum Religionsdialog,158 Ziel der Untersuchung ist es dabei, die im L. del gentil genannten Bedingungen für das Zustandekommen eines friedlichen geistigen Austausche zwischen den Religionen zu benennen. Z u ihnen zählt es, «[...] daß sich ein Dialog auf der Ebene grundsätzlicher Gleichberechtigung und Freiheit zu vollziehen hat, im Idealfall gar in Freundschaft - und dies nicht nur jenseits von Intoleranz, sondern auch von Indifferenz» (Pindl 1998, 295).
Dialog ist dabei nur in Nebenbedeutungen ein schriftliches oder mündliches Phänomen. Sein semantischer Schwerpunkt liegt vielmehr auf der Metaphorik
Der Begriff wird hier von R. Panikkar übernommen, der als Monolog die theoretische, schriftliche Aktivität im Gegensatz zum Dialog als praktischer, mündlicher Aktivität sieht: «Com advertí de passada R. Panikkar, en aquest sorprenent canvi d'actitud de Llull envers els infidels, hi juga l'entera dialéctica de teoria i praxi o, si es vol, de monòleg i diàleg. La teoria és pur monòleg. Hom cavil la a propòsit de l'altre, àdhuc si adopta, com a gest, el diàleg» (Colomer 1997, 171). '5 6 Moos 1998b, 236s. '57 A n dieser Stelle sei auch auf einen Aufsatz von S. Garcías Palou (1974) hingewiesen, der sich mit Llullschen Dialogen befaßt, dabei aber das Augenmerk auf Llulls mögliche Kenntnis griechischer Texte legt und die Neuheit von Llulls Vorschlag einer langfristig und groß angelegten, institutionalisierten Disputationsveranstaltung unterstreicht. Die Textlichkeit der Llullschen Dialoge wird hier nicht beachtet. 158 Pindl 1998, 260 bzw. 285. Pindl 1997 ist eine frühere Version dieser Arbeit auf spanisch. 155
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eines interkulturellen oder interreligiösen Dialogs, mit dem der Kulturkontakt im allgemeinen und auf theoretischer Ebene, ohne Rücksicht auf sein Medium, gemeint ist. Der Text wird damit eine konkrete, programmatisch zu lesende Darstellung des «eigentlichen» Dialogbegriffs, der in Nachfolge des Missionsbegriffs tritt und in diesem Sinne bei Llull bereits angelegt sei in der Form des «[...] interreligiösen Dialogs, der für die Menschen unterschiedlicher Kulturen nicht nur ethisch bereichernd und horizonterweiternd ist, sondern ihnen auch die Möglichkeit bietet, ihren angeborenen oder -erzogenen Autoritäts- und Gewohnheitsglauben, ihren Atheismus oder Agnostizismus, zugunsten besserer Einsicht aufzugeben oder in aufgeklärter Form neu zu definieren» (Pindl 1998,297).
Dieses metaphorische Dialogkonzept findet seine Berechtigung, wenn das Denken Llulls im Hinblick auf den heutigen Kontakt zwischen Religionen aktualisiert werden soll; es ist dagegen im Rahmen einer historisch-literaturwissenschaftlichen Arbeit nicht einschlägig. In bezug auf Llulls Lebenspraxis scheint der Missionsbegriff durchaus tauglich und wird auch weiterhin verwendet, 159 der Dialogbegriff dagegen sollte zumindest in der Literaturwissenschaft für den Bezug auf Texte vorbehalten sein. Den ersten Schritt zu einer konzeptionellen Trennung von Dialog als textuellem und metaphorisch-missionstheologischem Konzept unternimmt der jüngste Beitrag von F. Domínguez im Sammelband von K. Jacobi zum mittelalterlichen Dialog. 1 0 0 Domínguez untersucht schwerpunktmäßig die Grundlagen des Llullschen Denkens bezüglich der Mission und den kontemplativen Prozeß, den Llulls eigene Konversion und ihre Weiterführung in der Mission implizieren. Danach geht bei Llull die rationale Argumentation auf Grundlage der Ars tulliana mit einem Aufstieg zu Gott (ascensio in Deum) einher, die alle drei Seelenvermögen gemeinsam erwirken und die im L. de contemplado als eigene Erfahrung Llulls dargestellt ist. Dieser Grundgedanke schlägt sich nach Domínguez in Llulls Dialogen nieder, unter denen die frühen die Funktionstüchtigkeit der Ars lulliana zu vermitteln suchen und die späteren ihre Mechanismen erläutern. 101 Getrennt von den missionstheoretischen und kontemplativen Aspekten untersucht der erste Teil des Beitrags von Domínguez erstmals summarisch den Dialog bei Llull als Gattung. Insbesondere wird dabei auf den Bezug zur Trobadorlyrik hingewiesen; darüber hinaus werden Dialoge aus dem
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Cf. G o n z á l e z Casanovas 1998, wo die Rolle der missionarischen Predigt für die Llullschen Romane untersucht wird. Ebenso spricht J. G a y à (1994,7) vom Llullschen «Missionskonzept», für das der «Dialog» als Austausch von Standpunkten zentral sei. Ich danke Herrn Prof. Dr. Jacobi und Herrn Dr. Domínguez für die Freundlichkeit, mit der sie mir den Artikel schon vor der Veröffentlichung zugänglich gemacht haben. Genannt werden dabei unter den frühen Dialogen der L. del gentil, L. de sancto Spiritu und De adventu Messiae, unter den späteren der L. Tartari und die Dialoge der Kampagne gegen die Averroisten; dazu kommt als Sonderfall der Félix. Ein Gesamtkorpus der Llullschen Dialoge geht in das Repertorium am E n d e des Sammelbandes ein (Jacobi 1999,464-467).
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didaktischen und wissenschaftlichen Bereich wegen ihres Einflusses auf die Form des Dialogs bei Llull genannt. Dazu gehören orientalische Texte wie Kalîla wa-Dimna, aber auch abendländisch-lateinische Dialoge theologischen Inhalts sowie Beispiele aus dem naturwissenschaftlich-medizinischen Bereich im Frage-Antwort-Schema. 1 6 2 Insbesondere wird hervorgehoben, daß der didaktische Dialog zwischen Magister und Schüler bei Llull nicht vorkomme. Diese ersten Hinweise auf die von Llull aufgegriffenen Traditionen weichen jedoch im Verlauf des Aufsatzes den obengenannten Überlegungen zum Dialog auf anthropologischer Ebene. Die in den erwähnten Arbeiten als Dialoge aufgeführten Texte variieren in großem Maß. Während Colomer nur Religionsdialoge zwischen Angehörigen unterschiedlichen Glaubens in Betracht zieht und dabei auf sechs Texte näher eingeht, schätzt Domínguez das Textkorpus auf zwanzig für ein engeres und vierzig für ein weiteres Dialogkonzept, geht auf sechs der frühen Dialoge namentlich ein und erwähnt eine ähnliche Anzahl weiterer Dialoge beiläufig. Neben den von Colomer untersuchten werden hier insbesondere der L. de contemplado und der Félix als Dialoge gewürdigt. Das Textkorpus von C. Cardelle de Hartmann zum religionspolemischen Dialog verzeichnet acht Dialoge Llulls und schließt dabei z. B. die Disputatio Raimundi Christiani et Homert Saraceni aufgrund des nur einmaligen Sprecherwechsels ausdrücklich aus.1®3 Schließlich nennt auch M. Batllori eine Reihe von Llullschen Dialogen in einer Überblicksdarstellung der katalanischen und spanischen Dialogliteratur bis ins 16. Jahrhundert. Während er den L. de contemplado ausdrücklich nicht als Dialog versteht, sieht er im L. d'amie i amai, wie es auch der Lexikonartikel von É. Bertaud (1957) getan hatte, Llulls hervorragendsten Dialog.' 6 4 Im folgenden sollen daher die wichtigsten der umstrittenen Fälle näher betrachtet werden. Im L. de contemplado, dessen diskrepante Beurteilung besonders auffällt, ist die Ähnlichkeit im sprachlichen Duktus und der literarischen Form mit Augustinus' Confessiones kaum zu übersehen. Die affektive und exklamatorische Sprache und die bereits im Prolog einsetzende Anrede an Gott mit immer wieder wiederholten Apostrophen und Ausrufen kennzeichnen ihn formal als ein Gebet im riesigen Format von über tausend Seiten. Es fehlt ihm die für den Dialog charakteristische Einsetzung mindestens zweier Sprecherpositionen. Darüber hinaus gibt es keinen situativen Kontext, in dem das Ich als handelnde Sprecherfigur aufträte. 165 Formal ähnliche Fälle von wiederholten Apostrophen,
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Domínguez 1999,263. Cardelle de Hartmann 2001,122s. bzw. i n , Anm. 27. Batllori 1990, 113s. Es bleibt weiteren Untersuchungen überlassen, Kriterien für den literarischen Monolog aufzustellen, so daß entscheidbar wird, ob er wie der Dialog eine Darstellungsebene erfordert. Sie fehlt im L. de contemplado, so daß seine Beschreibung möglicherweise der Traktatästhetik zufallen würde. Tatsächlich nennt M. Batllori (1990, 114) den Text einen Traktat und nicht etwa einen Monolog. - Es ist darauf hinzuweisen, daß dialogisch konstituierte Textformen, in denen ein Ich mit einer himmlischen Wesenheit
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die unbeantwortet bleiben, finden sich in der Doctrina pueril, dem L. d'intendo und dem Arbre de filosofia desiderai. In ihnen wird in regelmäßigen Abständen der zu unterweisende Sohn mit amable fill oder sàpies,fill apostrophiert, wobei dies in Llulls Kinderlehrbuch von einer unpersönlichen Sprecherposition aus geschieht, wogegen im L. d'intendo und im Arbre de filosofia desiderai eine narrative Exposition im Prolog hinzukommt, in der die Ansprache an den Sohn situativ motiviert wird. In keinem der drei Fälle wird jedoch der Sohn als Figur eingeführt. Die Texte erinnern insofern im sprachlichen Duktus an Dialoge in Lehrer-Schüler-Konstellation, sind mit diesen jedoch formal nicht gleichzustellen, wie bereits Domínguez vermerkt.' 66 Von diesen Fällen abgesehen ist es selbstverständlich, daß Llull den Dialog als Ausdrucksmodus in verschiedenen literarischen Gattungen anwendet. Der L. de quinqué prindpiis besitzt einen narrativen Prolog, in dem Raimundus auf mehrere personifizierte Figuren trifft, mit ihnen spricht und am Ende dieser dialogischen Einleitungspassage die Entscheidung trifft, das vorliegende Buch zu verfassen. Der daran anschließende Haupttext des L. de quinqué prindpiis besteht aus einer langen Reihe von Fragen und Antworten, in denen die Prologfiguren nicht mehr auftauchen. Die Fragen werden unpersönlich gestellt und von einem Ich beantwortet, so daß es bei einem einzigen Sprecher bleibt. 167 Auch im bereits genannten L. d'amie i amat, der in der Sekundärliteratur gelegentlich als Dialog eingestuft wird, weil in den 366 aphoristischen metàfores morals Figuren sprechen, ist der Dialog prägendes Formprinzip, der Text gehört dagegen nicht zur Gattung Dialog. Ausschlaggebend ist, daß die Aphorismen zusammen weder narrativ noch argumentativ eine Einheit bilden, sondern eine Sammlung einzelner Stücke lyrischer Kurzprosa. Llull selbst unterstreicht diese Partikularität jedes einzelnen der kurzen Exempla (exemplis abreujats). So heißt es im Prolog, Blanquerna, der fiktive Autor des L. d'amie i amat, habe die Verschiedenheit der Einzelstücke angestrebt und sei auf der Suche gewesen nach
Konversation führt, in Ausnahmefällen tatsächlich vorhanden sind. In Llulls eigenem L. d'amie i amat sind die beiden Sprecher auf übertragener Ebene mit der Seele und Christus identifiziert. Im anonymen okzitanischen Pentiment del pecador (Repentir du pécheur, Ed. bei Suchier 1883, 214-240), einem gut 800 Verse langen Text aus dem 2. Viertel des 13. Jahrhunderts, spricht ein reuiges Ich, das die Bekehrung vom Katharismus hinter sich hat, mit der Jungfrau Maria (Bela dousa maire oder Dona), die den Amies zur Besserung und Rechtgläubigkeit anhält. Schließlich ist auf die Tenzone Bel segner Deus zwischen Rostang und dem Herrgott hinzuweisen (Ed. bei Suchier 1883, 336-338). 166 Domínguez 1999, 265. - Eine ähnliche Sprechsituation weist auch Llulls Gedicht Lo concili auf, in dem das Ich eine Reihe von unbeantworteten Anrufungen an menschliche oder personifizierte Wesenheiten wie En Concìli, Sènyer En Papa oder Devoció richtet. ,6 7 Vergleichbares findet sich in der Art amativa, w o passagenweise Amie und Amat auftreten, Fragen formulieren und Aussagen treffen. Diese Passagen bleiben jedoch isoliert, so daß die Art amativa als Traktat angesprochen werden muß.
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«[...] novelles rahons, per tal que de diversses maneres e de moites componés lo Libre de amich e amat [...] E cascú vers basta a tot .i. dia a contemplar Déu» (Ed. Llull 1995a, 63).
Zuletzt in dieser Reihe der aus dem Llullschen Dialogkorpus auszuschließenden Fälle ist an Llulls narrative Großformen zu denken, vornehmlich an die Romane Blanquerna und L. de meravelles (heute nach dem Protagonisten gewöhnlich Félix genannt). In ihnen wird natürlich der Dialog als Redeform eingesetzt. 168 Félix trifft, von seinem Vater in die Welt geschickt, auf seiner Reise eine große Anzahl von Figuren. Einige von ihnen unterrichten den Protagonisten in langen dialogischen Passagen über die verschiedenen, weitgehend mit den Llullschen Subjecta übereinstimmenden Daseinsbereiche. In dieser Serie dialogischer Szenen, die jeweils an einem anderen Ort stattfinden, bringen die Lehrerfiguren eine große Anzahl von Exempla vor, die quantitativ den Schwerpunkt des Textes ausmachen. Der narrative Zusammenhang von Felix' Abreise über seine einzelnen Bildungsstationen und Gesprächspartner bis zu seinem Tod in einem Kloster bleibt jedoch für die Ökonomie des Gesamttextes bestimmend, l6 9 der somit der Gattung des Romans zugeordnet bleiben sollte. Im Überblick über das Llullsche Œuvre bestätigt sich damit erwartungsgemäß, daß Dialog bei Llull - ganz abgesehen von der übertragenen Wortbedeutung als Kontakt und Austausch zwischen Religionen - im Sinne der ausgangs getroffenen Unterscheidung 1 7 0 als Redeform in Traktaten, in seiner lyrischen Prosa und den Romanen in großem Maß auftritt. Wollte man den Begriff hier jedoch in dieser Breite als Aussagemodus fassen und untersuchen, gewänne er eine inoperative Universalität, da sprechende und handelnde Figuren zumal in narrativen, aber auch vielen anderen Texten kaum jemals fehlen können. Dialog als literarische Gattung läßt sich dagegen bei Llull abgrenzen, in seinen typischen Merkmalen beschreiben und mit Texttraditionen relationieren.
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Cf. González Casanovas 1995, 85-88, wo unter dem Titel mystical dialogue jeweils einzelne dialogische Passagen in bezug auf das mystische Denken, das sie prägt, untersucht werden. 169 Diese Feststellung läßt sich auf den häufig getrennt vom Gesamttext publizierten L. de les bèsties ausweiten, der sich, ursprünglich getrennt vom Félix konzipiert, als siebtes der zehn Teilbücher des Romans erzähltechnisch von den anderen abhebt. Die Exempla sind hier in die übergeordnete Handlung einer Tierfabel eingepaßt, die den Charakter des L. de les bèsties bestimmt. M. J. Lacarra (1980) spricht daher völlig zutreffend bei ähnlichen Texten aus der kastilischen Literatur wie der Übersetzung der Fabelsammlung des Ibn Muqaffa c als Calila e Dimna von einem dialogischen Rahmen (marco dialogado, ib. 69-76), ordnet die Texte aber der genuin narrativen Literatur zu. '7° Cf. Anm. 43 und 44 in diesem Kapitel.
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1.2.4 Untersuchungsziel Das Llullsche Dialogkorpus zu etablieren, muß das erste Ziel und der Ausgangspunkt dieser Untersuchung sein. Grundsätzlich kann zu dieser Sammlung festgehalten werden, daß Llulls Dialoge ein Korpus von 26 Texten bilden, das etwa zwischen 1275 und 1314 entsteht, also beinahe über Llulls gesamte Schaffensspanne hinweg. Während im allgemeinen weiter gelten kann, daß in Llulls Œuvre literarische Elemente mit seinem fortschreitenden Alter an Bedeutung verlieren, so muß bezüglich der Dialoge immerhin präsent bleiben, daß diese sich aufgrund bestimmter Merkmale zwar in Gruppen einteilen lassen, 171 daß Llulls Dialogproduktion sich jedoch ausgewogen über seine Karriere verteilt und er sein Interesse an Dialogen niemals aufgibt. Für die folgenden Analysen wurde mit dem Llibre del gentil zunächst Llulls ältester und bekanntester, häufig aber zu eindimensional interpretierter Dialog ausgewählt, der stellvertretend für einige andere der frühen Dialoge mit ähnlichen Charakteristika stehen kann und sich insbesondere eignet, grundsätzliche strukturelle Möglichkeiten der Gattung Dialog aufzuzeigen. Neuerungen in der Figurenkonstellation und eine außergewöhnliche Textstruktur, in der sich Llulls Kosmologie spiegelt, kennzeichnen den Liber Tartari (1288), einen bislang völlig unterbewerteten Dialog. Mit der Consolatio Venetorum und dem Desconhort wurden danach zwei Texte aus den 1290er Jahren ausgewählt, an denen sich die Figur des Autors als Dialogteilnehmer, auch in ihren Implikationen für die epochale Einordnung Llulls, beispielhaft untersuchen läßt. Während der Desconhort im Llullschen Dialogkorpus sich als Sonderfall an der Gattungsgrenze situiert, wurden die Oracions i contemplacions de l'enteniment, einer der frühesten Dialoge und in anderer Hinsicht als der Desconhort ebenfalls ein Einzelfall, wegen ihrer außergewöhnlichen Darstellung einer Ich-Instanz an dieser Stelle in die Untersuchung einbezogen. Die Disputatio Fidei et Intellectus schließlich entstand bereits nach der Jahrhundertwende und steht in vielen Zügen stellvertretend für die späten und meist kleineren Dialoge Llulls, erlaubt aber darüber hinaus eine gattungspoetische Lektüre, die sie besonders interessant macht. Mit dieser Auswahl dürfte ein Überblick über den Llullschen Dialog in seinen wesentlichen Manifestationen gewährleistet sein. Weitere Beispiele wie insbesondere der lAibre de sancta Maria, die Disputatio Raimundi et Homert Saraceni, der Liber natalis, der Phantasticus und der Liber de civitate mundi, deren Besonderheiten eigene Analysen zweifellos verdienen, werden gelegentlich in kleinerem Rahmen in der Untersuchung berücksichtigt, sind jedoch wie alle anderen Llullschen Dialoge im Anhang 1 dieser Arbeit systematisch analysiert, so daß ein schneller Zugriff auf das ganze Textkorpus möglich wird und damit die Grundlage für eine weitere Beschäftigung mit dem Dialog bei Llull geschaffen ist.
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Solche werkchronologischen Einteilungen werden weiter unten in bezug auf die Sprecherfiguren (Kap. IV.2) und auf strukturelle Charakteristika (Kap. V I . 3 ) angesprochen.
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Die Untersuchung der Dialoge sollte implizit, wie bereits erwähnt, stets vor dem Hintergrund des Traktats erfolgen, um so die Merkmale des Llullschen und des Dialogs im allgemeinen herauszuarbeiten. D a ß der Traktat die am nächsten verwandte Textsorte und damit das notwendige Gegenstück für einen Vergleich bildet, wird daran deutlich, daß bei Llull wie bei anderen zeitgenössischen Autoren hin und wieder Formulierungen auftauchen, die den Dialog als einen Modus erscheinen lassen, in dem ein Traktat stehen kann,' 7 2 oder daß disputado und tractat173 gleichermaßen zur Bezeichnung ein und desselben Textes verwendet werden. Es läßt sich also von einem nur gering entwickelten Bewußtsein des Dialogs als kommunikativer Konvention ausgehen, so daß es eine rein taxonomische Operation ohne weiterführenden Nutzen bliebe, den Dialog unter den oben formulierten Gesichtspunkten vom Traktat bloß abzugrenzen, solange kein Beitrag dazu geleistet wird, besser zu verstehen, welche spezifischen Möglichkeiten der Dialog eröffnet und welche dieser Möglichkeiten im Mittelalter genutzt werden. Neben dem argumentativen Charakter, den Dialog und Traktat miteinander teilen, verfügt der Dialog allein durch die Einführung von Sprecherfiguren über die Möglichkeit, eine Darstellungsebene zu entfalten, die mit der Argumentenebene eine Wechselwirkung eingeht. Insbesondere die Sprecherkonstellation im Sinne des Verhältnisses der Interlokutoren untereinander in den Rollen, die sie durch ihren Namen und ihr Sprechhandeln als Fragende, Dozierende, Streitende, Lauschende usw. für die Dynamik der Interaktion spielen, ist in der Analyse von Belang. 174 Es wird daher die zentrale Aufgabenstellung dieser Arbeit sein, zunächst zu untersuchen, worin der Zuwachs besteht, den die Einführung dieser darstellerischen und - in einem bestimmten, in dieser Arbeit zu beleuchtenden Sinne - auch literarischen Dimension für mittelalterliche argumentative Texte bedeutet. Es handelt sich dabei um eine verwandte, aber anders gelagerte Art von Literarizität mittelalterlicher Texte als sie P. von Moos insbesondere in bezug auf die Dunkelheit der Texte aus der Schule von Chartres herausarbeitet.' 75
Dies ist etwa der Fall in der Declaratio Raimundi per modum dialogi ( R O L 17, 219-402) oder im Prolog der Disputado Fidei et Intellectus ( R O L 23,213-279), wo es heißt «tractatum facimus per dialogum» (224). lTi Cf. die Disputado de cinc savis, wo sowohl im auktorialen Vorwort als auch unter den Gesprächsteilnehmern von disputació und von tractat die Rede ist ( A T C A 5 [1986], 33,38 und 186). 174 H. Kästner hatte in einem ähnlichen Sinn als «redekonstellative Merkmale» von Dialogen die «Sprechsituationen, Status und Rollen der Partner, ihre psychologische Disposition, Sprechanlaß etc.» (Kästner 1978, 30) genannt. Allerdings untersucht er mittelhochdeutsche Lehrgesprächspossagen in der epischen Dichtung, also einzelne Textsequenzen, die er nach ihren redekonstellativen Merkmalen sortiert und so eine Reihe von Lehrgesprächstypen definiert (Kästner 1978,74-94). 175 P. von Moos (1993) erläutert - zunächst am Beispiel Abaelards - , wie die biblischen Schriften als rhetorisch-bildhafte verstanden werden konnten und wie textuelle Dunkelheit zur Schärfung der hermeneutischen Fähigkeiten und Bewußtmachung des Unvermögens der Sprache angesichts des Göttlichen auch in säkularen Schriften erwünscht gewesen sein konnte. 172
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Über diese textimmanente Analyse hinaus stellt das Zusammenwirken von Figuren, Aussagen und Situationskontext die Dialoge in unterschiedliche Traditionszusammenhänge, die für den untersuchten Bereich benannt und beschrieben werden sollen. Weitgehend in werkchronologischer Abfolge werden die Dialoge Llulls im Zusammenhang mit den Dialogtraditionen vorgestellt, auf die sie hauptsächlich rekurrieren. Jeder einzelne steht dabei nicht unbedingt nur mit einer einzigen Tradition in Beziehung. Es sollen daher jeweils charakteristische Aspekte ausgewählt werden, die eine Relationierung sinnvoll erscheinen lassen. Vor dem Hintergrund der bisher mangelnden Beschreibungssystematik für mittelalterliche Dialoge kann es sich in bezug auf Llull damit nur um einen Vorschlag und in bezug auf den Dialog im Mittelalter um ein exemplarisches Vorgehen handeln. Der Zugriff auf die Texte ist somit ein literaturwissenschaftlicher, was nicht von vorneherein voraussetzt, daß Llulls Dialoge als literarische Texte im Sinne interesseloser Ästhetik verstanden werden müßten. Vielmehr bleibt zu klären, ob und in welchem Maß Llulls Dialoge unter die Begriffe Literatur und Ästhetik subsumierbar sind. Insbesondere muß dabei beachtet werden, welche textliche Umsetzung Llulls eigens in seiner Rhetorik formulierte rhetorische und ästhetische Richtlinien im Dialog erfahren. Schließlich soll die Frage untersucht werden, inwieweit der «Llullsche Dialog» durch ein regelmäßiges Auftreten dieser Merkmale als ein kohärentes literarisches Modell beschreibbar ist.
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II. Der Llibre del gentil
Der Llibre del gentil i dels tres savis ist der älteste Dialog Ramon Llulls, eine seiner frühesten Schriften überhaupt und - datiert in die Mitte der siebziger Jahre des 13. Jahrhunderts - einer der ältesten katalanischen Großtexte. Er ist in vier Handschriften aus dem 14. Jahrhundert überliefert, dazu kommen jeweils ein Exemplar der Übersetzungen ins Altfranzösische und Altspanische sowie die mehrfach überlieferte lateinische Version, die auf eine Übersetzung aus dem Kreis des an der Sorbonne tätigen Pierre de Limoges (okz. Pèire de Llemotges) zurückgeht.1 Das Gespräch zwischen dem Heiden, dem Juden, dem Christen und dem Muslim stößt also offenbar auf ein lebhaftes Interesse im späten Mittelalter, wogegen es die frühneuzeitlichen Lullisten und insbesondere die valencianischen Editoren jener Zeit nicht beachten - allgemein stehen bekanntlich im europäischen Lullismus die literarischen Werke Llulls nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Erstmals gedruckt wird der L. del gentil auf lateinisch im dritten Band der Moguntina (1722) und auf katalanisch im ersten Band der ORL (1901).2 In jüngerer Zeit ist das Interesse stark angestiegen, was durch die Neuausgaben des Dialogs dokumentiert wird. Eine kritische katalanische Edition besorgt A. Bonner im zweiten Band der NEORL (1993,2200i), während Th. Pindl den L. del gentil 1998 erstmals vollständig als Das Buch vom Heiden und den drei Weisen aus dem Lateinischen ins Deutsche überträgt.3 Daneben
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Sie ist innovativ und rhetorisch amplifiziert und enthält darüber hinaus einige Übersetzungsfehler, auf die A . Bonner in N E O R L 2, xxxvii-xxxix hinweist. Zu Pèire de Llemotges, den Llull offenbar in Paris kennengelernt hatte, cf. Soler 1993. Dazu sind in einem weiteren Aufsatz von A . Soler (1992 / 93) die fünf Llullhandschriften aus Pèires Besitz beschrieben. Zur Überlieferungs- und Editionsgeschichte cf. Α . Bonner in N E O R L 2, xxiii-xlvi und in OS 1, 97-100. Mit dem L. del gentil verwandt sind die Parabola gentilis in Le Myésiers Breviculum (Teiled. bei Hillgarth 1971, 439-445, dazu 243s. und 386) und eventuell ein lateinisches Gedicht zwischen drei Religionsvertretern, cf. Brummer 1962 und Ed. bei Waither 1920, 227-229. Angesichts der Feststellungen von Bonner bezüglich der lateinischen Übersetzung eine editorisch nicht unproblematische Entscheidung. Während ζ. B. in der katalanischen Version guatzelles den Wald in der Exposition des Textes bevölkern, werden es entsprechend der lateinischen Fassung im Deutschen «Wildschweine [...] und andere zur Jagd bestimmte Tiere» (Ed. bei Pindl 1998,7); cf. dazu N E O R L 2,7 bzw. M O G 3, 22. - Neben der neuen Gesamtübersetzung ist eine frühere deutsche Teilübertragung vorhanden (Schaible 1986).
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hat insbesondere das Setting des Dialogs die Forschung immer wieder angeregt und gelegentlich zu enthusiastischen Kommentaren herausgefordert. Tatsächlich bietet sich das Gespräch über die Religion zwischen einem Heiden, Juden, Christen und Muslim4 dazu an, Parallelen zu anderen Bearbeitungen dieses Motivs zu ziehen und den L. del gentil daraufhin als Beispiel religiöser Toleranz im Mittelalter zu loben. Seine Rahmenhandlung beginnt mit der Irrfahrt eines Heiden auf der Suche nach Linderung seiner Angst vor dem Tod. Während er durch einen sinnlich ansprechenden Locus amoenus irrt, begegnen sich drei Weise - ein Jude, ein Christ und ein Muslim - vor einer Stadt, begrüßen sich freundlich und begeben sich zur Erholung in den Wald, wo sie an einer Quelle auf Intel-ligència treffen. Diese erläutert ihnen die Merkmale von fünf Bäumen, auf deren Blüten mehrere Reihen von Begriffen eingetragen sind. Nachdem der Heide zu den Weisen hinzugestoßen ist, hört er von der Existenz Gottes und der Auferstehung am Jüngsten Tag und bittet die Weisen um eine Disputation, die ihm diese Trost versprechenden Neuigkeiten erläutern soll. In den folgenden vier Teilbüchern spricht zunächst einer der drei Weisen, der nicht näher bestimmt ist, dann der Jude, der Christ und der Muslim, und sie versuchen, nach den Vorgaben von Intel-ligència zunächst ihre gemeinsamen Grundüberzeugungen, dann die Glaubenssätze ihrer Religionen zu beweisen. Jeder behandelt dazu den Kanon von Glaubensartikeln seiner Religion und versucht, deren Wahrhaftigkeit mit Hilfe der auf den Blüten der Bäume paarweise eingetragenen Begriffe und der von Intel-ligència vorgegebenen Grundsatzregeln nachzuweisen. In der Konklusion des L. del gentil bekehrt sich der Heide zum Glauben an Gott. Es bleibt jedoch offen, welche der drei Religionen er wählt, während die Weisen nach seinem Abschied vereinbaren, weiter über die Wahrheit ihrer Religionen zu disputieren, bis sie zu einer Entscheidung gefunden haben.5
II. ι Religionsdisputationen und Missionsinitiativen als soziokultureller Kontext In der Sekundärliteratur zum L. del gentil wird mehrfach die Frage thematisiert, wie sich der Text zu historischen, realen Religionsgesprächen verhält.6 Es wird dabei meist ein enges Abhängigkeitsverhältnis unterstellt; so sei er «[...] fruit des controverses religieuses, orales et publiques, entre théologiens des trois confessions, relativement fréquentes à l'époque [...] Notre ouvrage, comme plusieurs autres en style dialogué, serait d'une part le modèle, de l'autre l'écho de ces débats courtois» (Sugranyes 1977,332). 4
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Sowohl im L. del gentil als auch den anderen Texten Llulls wird durchgängig die heute veraltete und abwertende Bezeichnung sarrai / Sarazene verwendet, die im mittelalterlichen Gebrauch nicht dieselben Konnotationen hatte. Cf. auch die tabellarische Analyse dieses und der restlichen Llullschen Dialoge im Anhang 1 dieser Arbeit. Sugranyes 1977,332, Mettmann 1987,9s. und Courcelles 1993, 151.
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E s läßt sich nicht von der Hand weisen, daß Religionsgespräche stattgefunden haben, aus denen dialogische Texte unmittelbar als Protokoll oder Bericht hervorgegangen sind. Nachweislich werden in Paris im Jahr 1240, in Barcelona 1 2 6 3 und in Tortosa 1 4 1 5 Religionsgespräche organisiert. 7 Diese zumindest halböffentlichen Veranstaltungen wiesen mit Sicherheit nicht den durch die Bezeichnung Gespräch suggerierten gelösten Konversationston auf. Sie sind als Zwangsdisputationen unter ungleichen Bedingungen, die den jüdischen Teilnehmern auferlegt wurden, treffender charakterisiert. 8 D e r Begriff der Disputation bleibt dabei in der Forschung in bezug auf Mündlichkeit oder Schriftlichkeit ambivalent.® D e r Anlaß der Veranstaltung in Paris war die Untersuchung des Talmud, die in die Verbrennung hebräischer Schriften im großen Stil mündete, 10 während im Gefolge der Disputation von Barcelona eine christliche Kommission eingerichtet wurde, die sich damit beschäftigte, aus dem Talmud die ihr anstößig erscheinenden Stellen streichen zu lassen. Die vorgängige Disputation wurde von Moses ben Nahman (Nahmanides) und dem Konvertiten Pau Cristià gehalten und ist die am besten untersuchte, da ihr mit der dialogischen Vikuah von Nahmanides 11 ein Text gefolgt ist, der sich dokumentarisch gibt, jedoch weit über ein Protokoll hinausgeht. Bezeichnenderweise ist von christlicher Seite ein kurzes, nicht dialogisches Protokoll erhalten, das ihm weitgehend widerspricht. 12 Die Beantwortung der Frage nach den Umständen, unter denen diese christlich-jüdischen Zwangsdisputationen verliefen, gestaltet sich im Hinblick auf die Widersprüchlichkeit der Berichte
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Daneben ist ein Dialog über ein in Fez auf der Grundlage eines Llullschen Buches organisiertes Religionsgespräch überliefert. Die beiden Versionen nennen 1344 bzw. 1394 als Datum des berichteten Religionsgesprächs, cf. Seite 254. K. Schubert (1977, 168-172) nennt über die beiden Disputationen von Paris und Barcelona hinaus weitere, weniger gut dokumentierte Religionsgespräche. Zum Zwangscharakter der Religionsdisputationen cf. Barceló 1989. Zu Disputation und Quaestio disputata cf. Seite 236-238. Es gibt sowohl einen hebräischen als auch einen kurzen lateinischen Bericht über die Auseinandersetzung. Sie sind in englischer Übersetzung - und im Falle des hebräischen auch in dialogischer Aufbereitung - bei H. Maccoby (1982) nachzulesen. Der vielfach übersetzte Text findet sich auf deutsch mit umfangreichem Kommentar bei H.-G. v. Mutius (1982), auf katalanisch zusammen mit dem lateinischen Protokoll bei J. Riera i Sans (1985). Die hier im Vorwort geäußerte Vermutung, der Text von Nahmanides könnte unecht und später entstanden sein, wird von J. Perarnau (1988 / 89) durch zeitgenössische Quellen, die auf den Text verweisen, widerlegt. Erwähnt wird er sowohl in der Disputatio von Inghetto Contardo (Ed. bei Limor 1994,230; cf. allgemein zu Contardos Disputatio Seite 86s.) als auch in Joäo de Alcobaças Dialog Speculum Hebraeorum (Teiled. bei Fortunato 1827,533-568, hier insbesondere 536). Das lateinische Protokoll ist übersetzt bei H. Grossinger (1977-1978, 1-7). Von der mit größerem organisatorischen Aufwand angelegten Disputationsveranstaltung von Tortosa (1413-14), die sich unter dem Vorsitz des Gegenpapsts Benedikt XIII., Pedro de Luna, über 69 Sitzungen erstreckte, gibt es eine umfangreiche Aufzeichnung des Führers der christlichen Seite, des Konvertiten Hieronymus de Santa Fe (Ed. bei Pacios López 1957), während auf hebräisch ein knapper Bericht überliefert ist, der einige Aussagen der Teilnehmer in indirekter Rede wiedergibt. 61
äußerst schwierig. 13 Festzuhalten bleibt allerdings, daß die Disputation von Barcelona sich in ein ganz Europa überspannendes Netz religionspolemischer und missionarischer Tätigkeit fügt, als dessen Zentrum die Kronländer von Katalonien-Aragon gelten müssen und für dessen Aufbau die beiden großen Bettelorden die treibende Kraft bilden: 14 Zunächst werden unter der Führung des Ordensgenerals der Dominikaner, Ramon de Penyafort, Sprachschulen für Hebräisch und Arabisch gegründet, 15 während Llull selbst bei Jaume II. von Mallorca die Gründung des Klosters Miramar auf der Insel durchsetzte, so daß dort im letzten Viertel des Jahrhunderts Missionare ausgebildet werden konnten. Darüber hinaus ist ein königliches Dokument erhalten, welches ihn befugt, in Synagogen und Moscheen zu predigen. 16 Schließlich sind die Missionsreise von Ramon Martí nach Tunis (1268-69) und die drei mehrmonatigen Aufenthalte Ramon Llulls in Nordafrika zu erwähnen. Mit Ramon Llull, Ramon Martí und Ramon de Penyafort sind führende europäische Intellektuelle am Ende des 13. Jahrhunderts - die wichtigsten von Katalonien-Aragon - mit religionspolemischen statt mit im engeren Sinne theologischen oder exegetischen Fragen beschäftigt. 17 Die unbestreitbare Bedeutung dieses religionspolemischen Kontextes für den L. del gentil erlaubt es dennoch nicht, den Dialog aus der Aufzeichnung eines historischen Religionsgesprächs zu erklären. D e r L. del gentil trägt keinerlei dokumentarische Züge. Der Prolog bindet ihn an die Methodik eines Modelltextes, nicht an ein historisches Ereignis, und er weist ihn als gedankliches Produkt seines Verfassers aus: «Siguent la manera del Libre arabio del gentil, me vull esfforssar ab tots mos poders, conffiant en la ajuda del Altisme; a enssercar novella manera e novelles rahons per les quais poguessen esser endressats los errats» ( N E O R L 2, 5s.).
Diese Selbstaussage liefert keinen Anhaltspunkt für eine Textgenese aus einem Religionsgespräch und verzichtet darüber hinaus auch auf die Fiktion von Wahr-
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Eine minuziöse Rekonstruktion des Disputationsablaufs aus den Textzeugen (Grossinger 1977-1978, 169-178) scheint unter diesen Umständen methodisch problematisch. Als Forschungsüberblick zur Disputation von Barcelona cf. Chazan 1992. Cf. den faktenreichen Überblick von R. Burns (1971). Die Islammission speziell der Franziskaner beschreibt D. Berg (1985). Sie waren in València, Barcelona, Xàtiva, Murcia und Tunis angesiedelt. In Barcelona wurde nur Hebräisch unterrichtet, in València und Tunis nur Arabisch, in Xàtiva und Murcia beides. Cf. Cortabarria 1970 und Bonner 1987, wobei letzterer den Arabischunterricht in Tunis anzweifelt. Es stammt von 1299 und wurde von Jaume II. von Mallorca erlassen (Ed. bei Rubio i Lluch 1908,1,13s.). J. Perarnau (1994) greift die Hypothese auf, mit Arnau de Vilanova habe auch der vierte der katalanischen religiösen Autoren europäischen Zuschnitts 1303 in Lleida an einem christlich-jüdischen Streitgespräch teilgenommen. A u f die negativen Auswirkungen dieser religionspolemischen Ausrichtung der Intellektuellen für die Entwicklung des Universitätssystems auf der Iberischen Halbinsel weist V. Cantarino (1976, 227s.).
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scheinlichkeit für das im folgenden geschilderte Gespräch. Vielmehr wird seine persuasive Ausrichtung unterstrichen. Dies bestätigt sich in den tatsächlichen Charakteristika des L. del gentil. Er bietet keine Hinweise für eine zeitliche und geographische Fixierung seiner Handlung, die Figuren tragen keine Eigennamen, und dem Handlungsgang fehlt jeglicher Verweis auf reale Begebenheiten. 1 8 Der L. del gentil entsteht jedoch in einem politischen und soziokulturellen Zusammenhang, in dem die Auseinandersetzung zwischen den Religionen offensiv betrieben wird, die Islammission als ein politisch förderungswürdiges Unternehmen gesehen wird und die Konversion von Muslimen und Juden als anzustreben und zumindest in Kreisen der Bettelorden auch als erfolgversprechend gilt. D a ß Llull zu den Protagonisten dieser religionspolemischen Offensive zählt, stellt den L. del gentil potentiell in einen lebenspraktischen Zusammenhang, der ihm einen konkreten Nutzungsrahmen anbietet und eine zweckorientierte Lesart nahelegt. In diesem Sinn wurde der L. del gentil von Α . Bonner als Ausbildungsbuch für die in Miramar unterrichteten Missionare verstanden. Die Prologaussagen, daß das Buch für Laien geschrieben und um deretwillen leicht verständlich gehalten sei, während für besser vorgebildete Leser auf eine im Fachvokabular gehaltene, geplante Fortsetzung 20 verwiesen wird, bieten für Bonners Einschätzung allerdings keinen konkreten Anhaltspunkt, genausowenig wie die im Vergleich etwa zur Doctrina pueril wenig lehrbuchhafte Gestaltung des Textes. Dennoch ist sicher richtig, daß der L. del gentil in einem engeren Verhältnis zum missionarischen Programm der Bettelorden steht als Llullsche Traktate. Was den Unterschied zwischen den beiden Textsorten in dieser Hinsicht markiert, läßt sich mit einer Differenz fassen, die P. von Moos (1998c) im Zusammenhang mit dem Pragmatikbegriff in bezug auf die mittelalterliche Literatur aufmacht. Zunächst ausgehend von einem Verständnis des Begriffs als Bezeichnung der Zweck- und Situationsgebundenheit von Texten, stellt von Moos fest, daß Pragmatik in diesem Sinne für das Mittelalter Universalität erlangt und den definitorischen Nutzen verliert, da mittelalterliche Texte als nicht zweckgebundene und institutionslose Schriften im Sinne moderner Literaturautonomie außerhalb der kontemplativen Literatur nicht vorkommen. U m Pragmatik daher neu zu bestimmen, schlägt von Moos vor, als pragmatische Texte hätten diejenigen zu gelten, die persuasiv angelegt sind und «situationsverändernde Handlungsanreize» 21 auf den Leser ausüben. Im Gegensatz dazu würden solche stehen, in denen die referentielle
In der Judaistik ist mit J. Cohen (1982) bezüglich der religionspolemischen Literatur im allgemeinen eine ähnliche Einschätzung zu verzeichnen: «dialogues between Christians and Jews and usually represent adherence to literary genres in vogue and not records of actual exchanges with Jews» (Cohen 1982, 22). '9 Bonner 1978, 54s. 20 Auf welchen Text hier Bezug genommen wird, bleibt genauso ungeklärt wie der Verweis auf den arabischen Modelltext des L. del gentil. 21 Moos 1998c, 320. 18
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Sprachfunktion im Vordergrund steht. In mittelalterlicher Terminologie vertreten die in diesem Sinne «pragmatisch» genannten Texte, mit der Predigt als ihrer hervorragenden Ausprägung, das movere im Gegensatz zum konstativen docere - eine Unterscheidung, die von Moos in der zeitgenössischen Rhetorik wiederfindet. 22 Im Gegensatz zu der bei Llull allgemeingültigen Kategorie der Didaktik erlaubt es diese Opposition, den L. del gentil unter dem Stichwort movere als handlungsinduzierenden und zu diesem Zweck durch literarische Verfahren gestützten Text von Traktaten wie Llulls Kinderlehrbuch oder den technischen Handbüchern zur Ars lulliana zu differenzieren, ohne ihn als autonome Literatur mißzuverstehen. Eine solche Differenzierung steht im Einklang mit der im Prolog genannten Selbstaussage, der Zweck des L. del gentil bestehe darin, die Ungläubigen auf den Heilsweg zu führen und vor den Höllenqualen zu bewahren. Im Vergleich dazu finden sich in den Prologen der Doctrina pueril oder etwa der Ars compendiosa inveniendi veritatem als Fachtraktaten keine solchen missionarisch-persuasiven Zweckbestimmungen. Der L. del gentil kann daher im sozialhistorischen Kontext des missionarisch-religionspolemischen Programms der gesellschaftlichen Wortführer in Katalonien-Aragon gesehen werden. Er ist als handlungsinzentivierend zu verstehen, was ihn von anderen, gleichfalls didaktischen Produkten Llulls unterscheidet. Die missionarische Zielsetzung teilt er mit den zeitgenössischen mündlichen Zwangsdisputationen, es finden sich jedoch keine Hinweise auf ein textgenetisches Hervorgehen aus ihnen oder auf eine Zweckgebundenheit an die Missionarsausbildung.
II.2 Das Religionsgespräch zwischen christlich-jüdischer Polemik und iberoromanischer Weisheitsliteratur Der Prologhinweis siguent la manera del Llibre aràbic del gentil stellt Llulls ersten Dialog in Beziehung zu einem Vorbild, für das von der Literaturgeschichte Identifikationsvorschläge im Sinne der Quellenphilologie vorgebracht wurden. Als erster hatte Menéndez Pelayo eine arabische Version des Barlaamromans oder den ursprünglich arabisch geschriebenen Al-Hazari / Sefer ha-Kuzari von Jehuda ha-Levi genannt. 23 In der Rahmenerzählung des Sefer ha-Kuzari 22
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P. von M o o s versteht in Übereinstimmung mit mittelalterlichen Rhetorikern nur persuasi ν ausgerichtete Texte als «rhetorisch» gearbeitete (Moos 1998c, 319) und erwähnt dabei u. a. Brunetto Latini. Tatsächlich finden sich im Livres dou trésor Äußerungen wie die folgende: «Por ce sont il deceu, cil ki quident que raconter fables ou ancienes istores ou quanque on puet dire soient matire de rectorique. Mais çou que l'om dist de bouche ou que l'om mande par ses letres apenseement por faire croire, ou par contençon de loer ou de blasmer ou de conseil avoir sor aucune besoigne ou de choses qui requierent jugement, tout çou est de la maniere de rectorique» (B. Latini: Li livres dou trésor III, 2 = Ed. Latini 1948, 319s.). Menéndez Pelayo 1905 /1943,118s. Der Sefer ha-Kuzari liegt in einer frühneuzeitlichen, zweisprachig hebräisch-lateinischen Ed. vor (Ed. Jehuda ha-Levi 1660), darüber hinaus in der arabischen Version und ihrer deutschen Übersetzung (Ed. Jehuda ha-Levi 1895 und Übers, bei Hirschfeld 1885).
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konsultiert der K ö n i g der Chazaren einen Philosophen, einen Christen und einen Muslim bezüglich der besten Religion und wird danach von einem Juden in einem fünf Teilbücher umfassenden Lehrgespräch vom Judentum überzeugt. Die unterschiedliche narrative A n l a g e , die größere inhaltliche Breite und insbesondere die dem L. del gentil eigene Argumentationsform des rationalen Beweises führen dazu, daß keine über eine konstellative Ähnlichkeit hinausgehenden Parallelen zwischen den beiden Texten gezogen werden können. 2 4 Im Analogieschluß aus anderen Llullschen Prologen ist der Verweis auf den Llibre aràbic auch als Bezug auf eine von Llull selbst verfaßte frühere arabische Version des L. del gentil verstanden worden, eine Deutung, die die Llullsche Formulierung allerdings nicht nahelegt. 2 5 Eine eindeutige Interpretation der Stelle scheint genauso unerreichbar wie die Identifikation eines konkreten Textes, auf den sie verweisen könnte. 26 Einen zweiten denkbaren Anknüpfungspunkt für die Quellenphilologie bilden die Kataloge von Glaubensartikeln, die die drei Religionsvertreter zum Ausgangspunkt ihrer Argumentationen machen. Im Falle des Christen handelt es sich mit den 14 aus dem Vaterunser abgeleiteten Sätzen um dogmatisches Allgemeingut, wobei die Anzahl von zwölf Artikeln genauso geläufig ist. D e r Unterschied ergibt sich durch die Aufspaltung des zweiten, die Dreieinigkeit betreffenden Artikels in drei Einzelartikel, die zum Glauben an Gottvater, Gottes Sohn und den Heiligen Geist verpflichten. Llull verwendet sowohl die Anzahl von zwölf als auch von vierzehn Artikeln. So finden sich z. B. in seinem Lehrbuch für Kinder, der Doctrina pueril, unter einer Kapitelüberschrift, die vierzehn Glaubensartikel ankündigt, nur zwölf Punkte. 2 7 Während die acht Glaubensartikel des Juden in dieser Zusammenstellung noch nicht anderweitig ausgemacht wurden, 2 8 konnte die Artikelsammlung des Muslim
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Cf. auch die ablehnenden Stellungnahmen von J. Millás Vallicrosa ( 1947) und R. Brummer (1988). - Des weiteren wurden aus der arabischen und hebräischen Literatur auf weitgehend assoziativer Basis ôazâlï, Sahrastanï und Ibn c Arabi (Llinarès 1966,17s.), sowie neuerdings das Buch Job (Butinyà 1995,38-43) als Modelle genannt. A. Bonner in NEORL 2, xviii und Badia 1984b /1992, 20. Es handelt sich dabei um einen typischen mittelalterlichen Quellenbezug, wie er von M. Grosse (1994) im ersten Teil seiner Studie in bezug auf volkssprachliche Texte und lateinische Quellen untersucht wird. Bei Llull ist jedoch kein unterschiedlicher Gebrauch von lat. liber und den romanischen Entsprechungen festzustellen, wie ihn Grosse für volkssprachliche Bestiarien konstatiert. Auch Thomas von Aquin nennt bereits die Zahl vierzehn, cf. Mettmann 1987, 12. - Etwa zeitgleich zum L. del gentil entsteht in der spanischen Literatur mit dem Libro declarante oder Libro de las tres creencias ein Kommentar des christlichen Glaubensbekenntnisses, in dem die zwölf Artikel nacheinander mit Hilfe des Alten Testaments bewiesen werden. Entgegen dem Titel spielen die anderen beiden Religionen hier allerdings keine Rolle, cf. Mettmann 1988. Eine eingehende Untersuchung zur Darstellung des Judentums im L. del gentil sowie bei Llull im allgemeinen steht bislang noch aus, ist jedoch von H. Hames (Cambridge) zu erwarten. D. Romano gibt erste Anhaltspunkte, findet jedoch keinen der Liste von Glaubensartikeln im L. del gentil entsprechenden, vorgängigen jüdischen Text 65
bislang nur in einem beträchtlich jüngeren, islamischen Text in spanischer Sprache nachgewiesen werden, dessen genetisches Verhältnis zum L. del gentil unklar ist. Es handelt sich um den Breviario çunni von Içe ben Gebir, einem in den aragonischen Kronländern auf spanisch für ein muslimisches Publikum schreibenden Morisken aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Seine umfangreiche Sammlung von islamischen Glaubens- und Rechtsvorschriften liefert den Katalog der Glaubenssätze unter der Überschrift De los artículos que el buen muçlim está obligado á creer y tener por fé.^ Nach L. Harvey (1981) und R. Brummer (1988) ist sowohl ein dritter Text als gemeinsame Quelle denkbar wie auch eine unmittelbare Übernahme des Katalogs aus dem L. del gentil. Neben der Rekonstruktion unmittelbarer Textfiliationen öffnen sich für den L. del gentil zwei Horizonte von Texten, vor denen er situiert werden kann, ohne dabei unmittelbare genetische Verwandtschaften anzunehmen. Zu beachten ist dabei einerseits die religionspolemische Literatur, andererseits die romanische Erzählliteratur orientalischer Prägung. Religionspolemische Schriften entstehen in den drei monotheistischen Religionen in unterschiedlicher Menge. Die weitaus größte Gruppe bilden die christlichen Schriften gegen das Judentum, in zweiter Linie gegen den Islam.3° In bezug auf die engere Kategorie des Religionsdialogs schildert Lewis die quantitativen Verhältnisse wie folgt: «Wenn in diesem Buch mehr von christlich-jüdischen als von jüdisch-muslimischen Auseinandersetzungen die Rede ist, so entspricht dies genau der Quellenlage: von jenen gibt es Hunderte, diese kann man an zwei Händen abzählen. Muslimisch-christliche gibt es kaum, christlich-muslimische können meist schwerlich als Dialoge bezeichnet werden, sie gehören darum in die polemische Literatur» (Lewis / Niewöhner 1992,
9)· Lewis' hilfreiche Quantifizierung wird begleitet von einer Einteilung der Texte nach einem diskursiven Kriterium, das Dialog und Polemik anhand ihrer ausgewogenen oder die Konfrontation suchenden Darstellung scheidet und formale Texteigenschaften unberücksichtigt läßt. Dialog als literarische Gattung definiert sich jedoch, wie wir bereits feststellen konnten, aus einem Komplex formaler und
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( R o m a n o 1992, 184). Neben den oben genannten missionstheologischen Fragestellungen cf. zu Llulls möglichen Beziehungen zur Kabbala J. Carreras Artau (1957 und 1966) sowie L. Eijo Garay (1972) zum pseudollullschen De auditu kabbalistico. Bisher wurden kabbalistische Elemente bei Llull für vernachlässigbar gehalten (Idei 1988), neuerdings wird dagegen auf Parallelen zu Nahmanides hingewiesen (Idei 1997). Zum Judentum auf Mallorca cf. Pons i960. Neben dem L. del gentil ist für Llulls Verhältnis zum Judentum mit De adventu Messiae ein zweiter Dialog zentral, cf. die Analyse im Anhang 1. Ed. Içe ben Gebir 1853, 254-260. Für die jüdische Seite scheint der wichtigste Text im iberischen Mittelalter der bereits genannte Sefer ha-Kuzari zu sein. Auf weitere hebräische religionspolemische Texte verweisen verschiedene Beiträge in den Sammelbänden von C. del Valle (1992) und Β. Lewis / F. Niewöhner (1992) sowie Schubert 1977. Für die islamische Seite cf. Fritsch 1930. Mit Al-Fisal von Ibn Hazm (Fierro 1994) ist der erste große arabische religionswissenschaftliche Text auf der Iberischen Halbinsel entstanden.
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inhaltlicher T e x t e i g e n s c h a f t e n , d i e P o l e m i k w e d e r a u s s c h l i e ß e n n o c h e r f o r d e r n . W ä h r e n d D i a l o g als absolute K a t e g o r i e v e r w e n d e t w e r d e n k a n n , ist P o l e m i k ein nur stufenlos v e r w e n d b a r e r B e g r i f f , d e r f o r m a l e T e x t g e g e b e n h e i t e n nicht e r f a ß t u n d mit d e m D i a l o g k e i n G e g e n s a t z p a a r bildet. A u f g r u n d d i e s e r u n t e r s c h i e d l i c h e n B e s c h r e i b u n g s e b e n e n k o n n t e d e r L. del gentil z u R e c h t in e i n e R e i h e v o n A u f s t e l l u n g e n s o w o h l v o n R e l i g i o n s d i a l o g e n als a u c h v o n r e l i g i o n s p o l e m i s c h e n T e x t e n im a l l g e m e i n e n a u f g e n o m m e n w e r d e n . 3 1 Z u r B r e i t e christlicher apologetischer Literatur g e g e n H e i d e n , Juden, H ä r e t i k e r , s p ä t e r g e g e n d i e M u s l i m e , d i e m i t T e r t u l l i a n seit d e r f r ü h e s t e n Patristik entsteht, t r a g e n a u c h d i e hispanischen K i r c h e n v ä t e r Isidor v o n Sevilla, I l d e f o n s u n d Julian v o n T o l e d o b e i . 3 2 A u c h in d i a l o g i s c h e r F o r m w u r d e d i e schriftliche A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit d e m J u d e n t u m b e r e i t s seit d e n A n f ä n g e n d e s C h r i s t e n t u m s g e f ü h r t , 3 3 w e n n g l e i c h sich d e r ä l t e s t e R e l i g i o n s d i a l o g a u f lateinisch mit d e m V e r h ä l t n i s z u r r ö m i s c h e n R e l i g i o n und nicht z u m J u d e n t u m a u s e i n a n d e r s e t z t . 3 4 Z u d e n e r s t e n lateinischen D i a l o g e n z w i s c h e n christlicher und jüdischer A u f f a s s u n g scheint die h ä u f i g A u g u s t i n u s a n o n y m e Altercatio
Ecclesiae
et Synagogae
zugeschriebene,
z u gehören.35 U n t e r d e n mittel-
alterlichen e u r o p ä i s c h e n D i a l o g e n mit jüdischen Sprecherfiguren r a g e n die b e i d e n D i a l o g e v o n G i l b e r t Crispin 3 ® u n d A b a c l a r d 3 7 heraus. G l e i c h r a n g i g e
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Schon O. Zöckler verzeichnet den L. del gentil in seinem Handbuch zur Apologie (Zöckler 1907, 249). Auch im Zusammenhang christlicher Polemik gegen den Islam wird Llull genannt: Für B. Altaner ist Llull «der fruchtbarste, des Arabischen kundige antiislamische Schriftsteller» (Altaner 1936, 230). Unter den neueren Publikationen ordnet R. Brummer (1988,26s.) den L. del gentil in eine Reihe von Religionsdialogen. H. Schreckenberg führt ihn in seinem Handbuch zur Adversus-Iudaeos-Literatur auf (Schreckenberg 1982-94,111,347-353). Cf. auch Knoch-Mund 1995, wo der Text in einer vermischten Zusammenstellung von mündlichen Religionsgesprächen, Dialogen und sonstiger, auch theoretischer Literatur zur Religionspolemik auftaucht. Cf. Isidor von Sevilla: De fide catholica adversas ludaeos (PL 83, col. 449-538), einen Traktat mit oralem Sprachduktus, sowie Ildefons von Toledo: De virginitate perpetua sanctae Marie adversus tres infideles (PL 96, col. 53-110), wo sowohl die Juden als auch die Jungfrau Maria immer wieder apostrophiert werden, und Julian von Toledo: De comprobatione aetatis sextae (PL 96, col. 536-586). A l s ältester Dialog über das jüdisch-christliche Verhältnis, von dem Nachricht überliefert ist, wird Aristón von Pella: Dialog von Jason und Papiscus über Christus (etwa 140 u. Z.) genannt. Der älteste - wenn auch nicht vollständig - erhaltene dieser Religionsdialoge ist der ebenfalls auf griechisch verfaßte Dialog mit dem Juden Tryphon des palästinensischen Christen Justin (st. 165). In Minucius Felix: Octavius (3. Jahrhundert) bekehrt sich der Heide Caecilius nach einem Gespräch mit dem Christen Octavius am Strand von Ostia im Beisein eines Ich als Richterfigur zum Christentum, nachdem die beiden Hauptsprecher jeweils eine lange Rede gehalten haben. Ed. bei Hillgarth 1999, der die Entstehung der Altercatio im S.Jahrhundert ansetzt. D a s Motiv von Kirche und Synagoge wird häufig im Zusammenhang mit seinen kunsthistorischen Implikationen untersucht, cf. Peri (Pflaum) 1934 und Seiferth 1964. Dieser und andere Dialoge von Crispin, etwa seine Disputatio cum gentili, sind bei Sapir Abulafia / Evans 1986 ediert. Z u Abaelards Dialog cf. Moos 1998a. 67
Bedeutung haben nur die in Aragon von dem konvertierten Juden Petrus Alfonsi verfaßten, weit verbreiteten Dialogi38 (1110). A n den Figurenkonstellationen dieser religionspolemischen Dialoge fällt auf, daß jene mit zwei Sprechern am häufigsten vorkommt. Beide Figuren sind dann eindeutig mit einem ideologischen Lager identifiziert und werden meist nicht weiter als durch diese Zugehörigkeit individualisiert. Die Konstellation zweier prototypischer Sprecher wird häufig bereits im Titel der Texte angekündigt. Auch die Eigennamen Petrus und Moyses der beiden Gesprächspartner bei Petrus Alfonsi, die als das Ich und ein Kindheitsfreund des konvertierten Autors eingeführt werden, lassen an Deutlichkeit in der Zuordnung nichts zu wünschen übrig. Ganz ähnlich verteilen sich die Gesprächspartner in der später entstandenen katalanischen Disputa del Bisbe de Jaén, einem Frage-Antwort-Dialog zwischen dem Bisbe de Jaén und zwei namentlich genannten Rabbinern, unzweifelhaft auf das christliche und jüdische Lager. 3 9 Daneben ist den genannten Texten gemeinsam, daß Christianus und Iudaeus sich in mehrfachem Wechsel unmittelbar ansprechen oder befragen, wobei der Tonfall der Äußerungen entweder harsch und polemisch oder betont lehrhaft zu sein pflegt. Zu welchen Extremen in der Drastik der Darstellung religionspolemische Texte greifen können, illustrieren die anonymen okzitanischen Novas de l'heretge von der Mitte des 13. Jahrhunderts zwischen dem Inquisitor Izarn, der auch als historische Person dokumentiert ist, und dem Katharerbischof Sicari de Figueiras, der vor dem für ihn vorgesehenen Scheiterhaufen steht. 40 A l s formaler Sonderfall eines religionspolemischen Textes ist auf Alfonso Buenhombres Disputatio Abutalib hinzuweisen. 41 Sie besteht aus einem siebenteiligen, angeblich aus dem Arabischen übersetzten Briefwechsel zwischen einem islamischen Gelehrten und einem zum Christentum bekehrten Rabbiner. Neben der Form des Briefwechsels liegt die Besonderheit des Textes
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In diesen zwölf Dialogen werden das Judentum (I-IV) und der Islam (V) angegriffen und das Christentum verteidigt (VI-XII), cf. die Ed. von K. Mieth (Ed. Pedro Alfonso de Huesca 1996). Auch eine fragmentarische katalanische Übersetzung ist erhalten. Cf. die Pere Pasqual zugeschriebene Disputa del bisbe de Jaén, zu der parallel ein Llibre del Bisbe de Jaén (geläufig unter der Bezeichnung Biblia parva, ediert 1492 in Barcelona) sehr ähnlichen Inhalts existiert. Armengol Valenzuela sieht den Text als R e s ü m e e der Disputa und ediert nach eigenen A n g a b e n eine Mischung aus beiden Texten, so daß die Editionslage unbefriedigend bleibt (Ed. bei Armengol Valenzuela 1905-08, II, 1-246). R. Menéndez Pidal (1902) hatte bereits einige der Zuschreibungen der Werkedition als falsch ausgewiesen. Möglicherweise ist der «valencianische Heilige» Pere Pasqual (span. Pedro Pascual) vollends eine fromme Fiktion aus dem Mercedarierorden, wie J. Riera i Sans (1986) nachzuweisen sucht. Die ihm zugeschriebenen Texte wären in diesem Fall nicht um 1300, sondern erst seit dem zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts entstanden, wie es auch die Handschriften nahelegen. Ed. bei Meyer 1879. Diese ist nicht identisch mit der ungleich bekannteren, aber nicht dialogischen Epistola Rabbi Samuelis desselben Autors. D i e nicht unbedingt glaubhaften Selbstaussagen des Textes haben zu kontroversen Forschungsmeinungen bezüglich seiner Entstehung geführt (Reinhard 1994 und Diez Antoñanzas / Saranyana 1994). Wahrscheinlich verfaßte Buenhombre den Text 1339 / 40 in Paris.
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in dem Umstand, daß der islamische Gelehrte das Judentum und der Jude den Islam angreifen, die Aussagen beider letztlich aber dem Christentum zugute kommen. In jedem Fall interagieren die beiden Parteien unmittelbar, indem sie auf Fragen antworten oder Aussagen der Gegenseite widerlegend aufgreifen. Im Gegensatz dazu sprechen im L. del gentil die Weisen nur außerhalb ihrer eigentlichen argumentativen Beiträge miteinander: in den Begrüßungs- und Abschiedsszenen, bei der Verabredung der Disputationsmodalitäten und beim Sprecherwechsel zwischen den Teilbüchern. Auf die inhaltlichen Aussagen ihrer Gesprächspartner gehen sie nicht ein, so daß das für die Religionspolemik wesentliche Element des direkten, häufig in streitendem Ton gehaltenen Austauschs hier fehlt und durch einen indirekten Vergleich der Positionen ersetzt wird, die dem Heiden einzeln vorgetragen werden, wobei die jeweils zwei anderen Weisen kein Interventionsrecht haben. Dialogintern wird der grundsätzliche Verzicht auf konfrontierende Gesprächssituationen damit begründet, daß so der effiziente Ablauf der Disputation gewährleistet würde. Auf der Wirkungsebene soll damit jedoch keineswegs eine tolerante Haltung der Weisen in dogmatischen Fragen signalisiert werden. W ä r e dies der Fall, müßte der Heide nicht zweimal Versuche des Christen unterbinden, die R e d e des Muslims zur Unzeit zu unterbrechen. 4 2 Vielmehr unterliegt der Verzicht auf Polemik in unmittelbarer Konfrontation dem übergeordneten Ziel, den Anschein einer gleichberechtigten Darstellung zu erwecken, die, wie zu zeigen sein wird, für die Wirkung des L. del gentil fundamental ist. Die Weisen bezeichnen ihr Gespräch selbst als disputado. Damit scheint jedoch mehr das auf einer festgelegten Methodik beruhende investigative Vorgehen bezeichnet zu sein als eine konfrontative Gesprächssituation. Zusammenfassend gilt, daß der L. del gentil mit anderen Religionsdialogen in seinem Thema, der Auswahl der wahrheitsgemäßen Religion, selbstverständlich verwandt ist, sich in der textlichen Gestaltung mit seinen drei um den H e i d e n werbenden Weisen dagegen deutlich von nahezu allen anderen Religionsdialogen abhebt. Viel stärker als an die religionspolemische Tradition gemahnt das Treffen der drei Weisen an diejenigen Beispiele der frühen Prosa in romanischen Sprachen, in denen die orientalische Erzähltradition zum Tragen kommt. So ist die bereits erwähnte ästhetische Nähe der gesamten frühen literarischen Prosa Llulls zum Barlaamroman 4 3 an mehreren Punkten festzumachen. L. Badia nennt drei Parallelen: den narrativen Rahmen im L. del gentil, die asketischen Ideale, die der Barlaam- mit dem Blanquernaroman teilt, und einige konkrete Exempla. 4 4 Für den L. del gentil ist insbesondere an die Figur des Heiden in
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NEORL 2,160, Z. 12-14 und 180, Z. 90. Neben der okzitanischen Version (Ed. Barlaam 1989 und 1912) scheint es eine katalanische gegeben zu haben, die 1494 in Barcelona gedruckt wurde, zu deren Entstehungszeit jedoch keine Hinweise vorliegen, cf. Badia 1990/1992, 98 und Moldenhauer 1929, 155-176; letzterer vermerkt als einzige erhaltene katalanische Barlaamversion eine Episode von Flos sanctorum. L. Badia 1990 /1992, 103-119. 69
seiner Ähnlichkeit zu Jozaphas zu denken. Beide leben in Unwissenheit um die Existenz des einen Gottes, ergreifen begierig die Gelegenheit zur Konversion zum Christentum, sobald sie sich ihnen erstmals bietet, und begrüßen sie mit einem im Tonfall ähnlichen Freudenmonolog. 45 Das christlich-heidnische Religionsgespräch hingegen, das später im Barlaamroman einberufen wird, um Jozaphas wieder von seinem christlichen Glauben abzubringen, entwickelt keine argumentative Eigendynamik, sondern bleibt in enger Abhängigkeit vom narrativen Zusammenhang. Inhaltliche Aspekte der Religionen spielen hier keine Rolle, zumal es zu Reden der heidnischen Gegenfraktion gar nicht erst kommt. Das Motiv vom Treffen der Weisen findet sich in einer Form, die der im L. del gentil viel näher kommt, in einer Reihe von gnomischen und anderen didaktischen Texten, die unter dem Begriff der Weisheitsliteratur gefaßt werden können und auf der Iberischen Halbinsel seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstehen. Sie gehören zu den ältesten Beispielen spanischer und katalanischer Prosa und entstehen als fürstliche Auftragsarbeiten in Übertragung und Neubearbeitung arabischer Vorlagen. Während in Kastilien die ersten Aufträge dieser Art vom alfonsinischen Hof in Toledo erteilt werden, entsteht vergleichbare Literatur in Katalonien etwa zeitgleich im Umkreis von Jaume I. 46 Im allgemeinen umfaßt die von der arabischen Literatur abhängige Prosa vor allem die berühmt gewordenen und in vielen abendländischen Sprachen vertretenen Sammlungen von Exempla und Erzählungen, 4 ? aber auch Spruchsammlungen. 48 Der älteste dieser für den katalanischen Bereich teilweise noch schwer zugänglichen und noch nicht erschöpfend erforschten Texte ist der Llibre de doctrina oder Llibre de saviesa, dessen Prolog sich mit dem Namen Jaumes von Aragon schmückt. 4 ? Daneben ist katalanische Spruchliteratur arabischer Herkunft vor allem mit dem jüdischen Gelehrten Jahudà Bonsenyor verbunden, der im Auftrag von Jaume II. von Aragon den Llibre de paraules kompiliert. Für beide Spruchsammlungen gilt, daß ihre Abhängigkeit von arabischen und spanischen Sammlungen nicht restlos
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Ed. Barlaam 1989, 44. Zur kastilischen literatura sapiencial cf. einführend das Kapitel von M. J. Lacarra (1993, 31-43) in ihrem Teilband der von Ricardo de la Fuente herausgegebenen Historia de la Literatura Española. Darüber hinaus sind die zahlreichen Neueditionen und Studien zur spanischen Weisheitsliteratur von H. Bizzarri maßgeblich. Im Katalanischen sind sie durch den L. dels set savis (Ed. bei Mussafia 1876) vertreten, einer Version des Dolopathosromans, dessen älteste katalanische Fragmente aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts stammen. Einführend über die katalanischen und spanischen Spruchsammlungen cf. Mettmann i960, wo deutlich gemacht wird, daß die katalanische Gnomik in engerer Verbindung zur lateinisch-europäischen Tradition und ihrem Hauptvertreter, den Disticha Catonis, steht, während für die spanische Gnomik arabische Vorlagen entscheidend sind. Es ist nicht geklärt, ob mit yo, Rey en Jacme d'Aragó Jaume I. oder II. gemeint ist, so daß das Entstehungsdatum des Textes sowohl kurz vor als auch kurz nach dem L. del gentil liegen könnte (Solà Solé 1977,12-17).
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geklärt ist. D e r L. de doctrina stimmt in weiten Teilen mit der spanischen Sammlung Libro de los buenos proverbios überein, was Solà Solé auf eine hypothetische gemeinsame lateinische Vorlage zurückführt. 5 0 Entscheidend für den Vergleich mit dem L. del gentil sind jedoch die Figuren der Weisen und ihr «Zusammentreffen»: Bereits im Prolog des Königs zum L. de doctrina ist von filòsofs antics die Rede. In der Einleitung des Hauptteils werden dann listenartig die philosophischen Devisen von 21 Philosophen aufgezählt. Danach folgen Sprüche und Exempla, die in Kapiteln angeordnet sind, deren innerer Zusammenhang eher lose bleibt. D i e Überschriften der ersten sechs Kapitel bezeichnen Versammlungen (ajustament) von Philosophen, woran sich die durch Dix lo segon, lo tercer usw. eingeleiteten G n o m e n anschließen. D a s zweite Treffen, Ajustament de .v. philòsofs per parlar de sapiència, wird von den Teilnehmern durch ihre fünf Definitionen der Weisheit eingeleitet, worauf erzählt wird, daß solche Treffen von griechischen Weisen dem Unterricht der Kinder dienten, die darüber hinaus durch die reiche Ausstattung und bunte Bemalung ihrer Schulen zum Schulgang animiert worden wären: «E per aquesta rahó fan los juheus molts entalaments en les sinagogues. E'ls crestians fan moites figures en les esglésies. E atressí los sarrayns pinten les lurs mesquites» (Ed. Jaume d'Aragó 1977,57). Wie diese Stelle bereits andeutet, wird in einigen der Einleitungsskizzen die anfangs antike Einordnung der Philosophen durch zeitgenössische Elemente gebrochen. Ohnehin bildet der L. de doctrina keine erzähltechnische Einheit. In jedem Kapitel wird eine neue Weisenversammlung konstituiert, und in späteren Kapiteln ist von solchen Versammlungen gar nicht mehr die Rede. Vielmehr berichten die nunmehr folgenden Kapiteleinleitungen über eine Episode, die sich zwischen Piaton und dem jungen Aristoteles zuträgt. 51 Trotz der geringen narrativen Aufarbeitung des L. de doctrina sind eine Reihe von Parallelen zur Gestaltung des L. del gentil auffällig: Ü b e r die Ähnlichkeit im Sprachduktus hinaus treffen in der Spruchsammlung von Jaume d'Aragó eine variable Anzahl von Philosophen aufeinander, die in ihren Interventionen ununterscheidbar bleiben und sich alternativ, ohne auf die Ä u ß e r u n g e n der jeweils anderen einzugehen, lehrhaft und unkontrovers über ein gemeinsames Thema äußern. 5 2
5° J. M. Solà Solé in Ed. Jaume d'Aragó 1977, 25-32 und Kasten 1934. 51 M. J. Lacarra betont, daß die antiken Philosophen in denjenigen Texten der kastilischen Weisheitsliteratur mit konkreten Namen versehen sind - nämlich meist Sokrates, Piaton und Aristoteles - , die näher bei den arabischen Vorbildern stehen, während in eigenständigeren hispanischen Bearbeitungen tendenziell anonyme Figuren antiker Weisen eingesetzt sind (Lacarra 1992, 50 u. 59). 52 Weitere Beispiele von Weisenversammlungen finden sich in der spanischen Literatur. Im Libro de los doce sabios wird das Motiv nur in denjenigen der 66 Kapitel benutzt, die den Tugenden und Lastern gewidmet sind. Sie stammen nach H. Bizzarri (1996a) aus einem ursprünglich selbständigen Fürstenspiegel, der mit einem militärischen Traktat im Zusammenhang mit der Reconquista verbunden wird. Dennoch bleibt die Versammlung der Weisen untereinander völlig unkontrovers. - Für die Erzählliteratur 71
Es ist keineswegs gesichert, daß Llull den L. de doctrina vor dem Entstehen des L. del gentil gekannt hat oder, berücksichtigt man die unsicheren Datierungen, auch nur gekannt haben kann. Dagegen ist kaum von der Hand zu weisen, daß die Weisenversammlung im L. del gentil in eine literarische Tradition gehört, die in ihren arabischen Ausgangsversionen sowie in lateinischen und romanischen Übersetzungen zugänglich war. Mit der Wahl des Titels, der Protagonisten und des situativen Rahmens der Begegnung unter einem Baum situiert sich der L. del gentil vor einem Texthorizont, der nicht in erster Linie Kontroverse und Polemik signalisiert, sondern vor allem auf den gedanklichen Gehalt der Texte, der in diskursivem Einklang vorgebracht wird, hinweist. Der L. del gentil stellt sich in eine Tradition von Texten, in denen darstellende Elemente mit einem Kern aus moralischem und philosophischem Traditionswissen verbunden stehen. Durch diese Anbindung an die Weisheitsliteratur wird unterstrichen, daß der L. del gentil auf offensive und polemisch wirkende Gestaltungsmittel verzichten will, eine Vorgabe, die sowohl vom L. de doctrina Jaumes von Aragon als auch von Llulls L. del gentil eingelöst wird. Für das Verständnis des L. del gentil ist die Tatsache, daß signalisiert wird, es handle sich um einen nichtkontroversen Text, von besonderer Bedeutung, und wir werden an späterer Stelle darauf zurückkommen. Zusammenfassend gilt, daß der L. del gentil mit seinem erzählenden Anfang auf mehrere Vorbilder weist. Ähnlichkeiten sind mit dem Barlaamroman genauso festzustellen wie - insbesondere im Hinblick auf die Figur der Intel-ligència - mit der allegorischen Narrativik der französischen und okzitanischen Literatur. Im besonderen scheint jedoch das Aufrufen der iberoromanischen Weisheitsliteratur orientalischer Provenienz wirksam zu werden. Alle drei genannten Bereiche zeichnet die Verbindung von narrativen Elementen mit moralphilosophischen Materialien gleichermaßen aus, und es ist dieser Nützlichkeitscharakter der Weisheitsliteratur, auch und vor allem in Hinblick auf den persönlichen Heilsweg der Leser, den der L. del gentil in seiner Traditionsanbindung stärker evoziert als die zweitrangige religionspolemische Konfrontation der christlich-jüdischen Streitschriften.
II.3 Strukturierungstechniken im D i e n s t e des ordo Der L. del gentil ist auf mehreren Ebenen paratextuell gegliedert. Er beginnt mit einer Invokation Gottes und einem Prolog (Del pròleg), der zunächst einige paratextuelle Äußerungen aus der Autorperspektive bietet, bis die Formel «Es geschah durch Gottes Fügung» {Per ordenament de Déu s'esdevenc) einen
ist auf die Weisen im katalanischen Llibre dels set savis und im spanischen Sendebar (Ed. bei González Palencia 1946) zu verweisen; weitere bibliographische Hinweise zur Weisheitsliteratur finden sich bei Walsh 1975, 15-17 und Haro Cortés 1998, 215-224.
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narrativen Raum öffnet, der sich bis zum Explicit des Buchs erstreckt. In ihm finden sich die einzelnen Teilbücher (Contenga lo primer llibre usw.), dazu kommt die Konklusion (De la fi d'aquest libre), so daß der L. del gentil der traditionellen, aristotelischen Dreiteilung in Anfang, Hauptteil und Schluß folgt und diese deutlich kennzeichnet. Auf einer niedrigeren Ebene sind die fünf Teilbücher weiter untergliedert. Dazu dient im ersten Buch die Angabe des Baums, der der Beweisführung jeweils zugrunde liegt (Del primer arbre usw.).53 In den folgenden Büchern entspricht dem jeweils die Nennung der behandelten Glaubensartikel, die als Abschnittüberschriften fungieren: Es sind jeweils acht, vierzehn und zwölf. Die Konklusion ist auf dieser Gliederungsebene in drei durch die Handlung bestimmte Abschnitte aufgeteilt, nämlich Gebet, Abschied und die Worte der Weisen (De oració; Del comiat; De les paraules). Über diese bereits auffallend systematische Einteilung hinaus wird auf einer dritten Gliederungsebene in den Kapiteln des Hauptteils jeder Einzelargumentation das Begriffspaar der Baumblüte vorangestellt, das der Weise zum Beweis seiner Glaubensartikel auswählt (Flor i. De granea poder; Flor 2. De eternitat justicia usw.). So werden im ersten Teilbuch aus den fünf Bäumen jeweils elf, dann zweimal sieben, einmal sechs und wieder sieben, also zusammen 38 kombinatorische Blüten behandelt, eine Zahl, die sich für den ganzen L. del gentil auf 186 erhöht. Zur selben Gliederungsebene gehören die vom Heiden eingeworfenen Fragen oder Widersprüche und die Klärungsversuche der Weisen. Diese Passagen sind nach Bonner in drei von den vier mittelalterlichen katalanischen Handschriften meist durch qiiestió und solució rubriziert, die in der Mehrzahl der Editionen des L. del gentil fehlen. Diese dreistufige paratextuelle Gliederung in Bücher, Kapitel und Abschnitte erscheint auf der nachstehenden Übersichtsgraphik oberhalb der Verlaufsachse. Parallel zur paratextuellen Einteilung ist der L. del gentil erzähltechnisch nicht minder klar gegliedert. Zwischen der erzählenden Exposition und Konklusion steht der überwiegend argumentative Hauptteil, dessen Einzelbücher dieselbe Dreiteilung wieder aufnehmen. Jedes Teilbuch wird durch eine narrative Exposition eingeleitet und mit einer narrativen Konklusion abgeschlossen, wobei die Exposition des ersten und die Konklusion des letzten Teilbuchs mit denjenigen des Gesamttextes koinzidieren. Die Ausgabe in N E O R L kennzeichnet alle diese Passagen etwas irreführend mit pròleg und epileg, was jedoch an diesen Stellen in den Handschriften nicht auftaucht. Während epileg im Llullschen Wortschatz nicht vorzukommen scheint,54 ist pròleg im Œuvre Llulls Vorworten von ganzen Texten vorbehalten. Mit pròleg und fi bezeichnet Llull Einleitung und Schlußpassage eines Buches, solange diese sich vom Hauptteil
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In den Handschriften können zwar einzelne dieser Überschriften fehlen, die Zählsystematik bleibt davon aber unberührt. A u c h in der Llullkonkordanz von M . Colom ( 1 9 8 2 - 8 5 ) , die das Llullsche Lexikon allerdings nicht exhaustiv erfaßt, kommt der Begriff nicht vor.
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deutlich abheben, ohne Rücksicht darauf, ob sie autor-, erzählersprachlich oder gemischt gestaltet sind - dieser Sprachgebrauch soll hier beibehalten werden. 55 Auf der narratologischen Ebene, über die sich Llull selbst natürlich nicht äußert, können die Begriffe Exposition und Konklusion auf der Ebene des Gesamttextes und ggf. auch für Teilbücher verwendet werden. Die im Prinzip äußerst klare, aber durch eine Hierarchie von Gliederungsebenen vermittelte Einteilung des L. del gentil ist im Überblick auf der Graphik ι wiedergegeben. Soweit es darstellungstechnisch möglich war, stehen dabei oberhalb der sechs Zeilen der Verlaufsachse jene Gliederungselemente, die aus den Handschriften übernommen werden können, während unterhalb davon die Gliederung in modernen erzähltechnischen Kategorien zu entnehmen ist. Neben der paratextuellen Gliederung und der Erzählperspektive strukturiert den Text auch der geordnete Ablauf, in dem die Interventionen der Sprecher erfolgen. Das Autor-Ich in der ersten Person Singular und Plural, das anfänglich über sich und den Text spricht, wird mit der Exposition von der Erzählerstimme abgelöst. Äußerungen der Figuren werden sowohl in direkter als auch in indirekter Rede dargeboten. Die Weisen sind dabei - genauso wie im anschließenden ersten Buch (in dem sie sich abwechseln) und in der Konklusion - nicht voneinander unterscheidbar und werden mit la un savi usw. benannt. In den Teilbüchern II bis IV dagegen spricht jeweils nur einer der drei, und zwar in der Reihenfolge des Alters ihrer Religionen, während die beiden anderen Weisen jeweils kein Interventionsrecht haben. Diese Regeln werden in der Exposition festgelegt, am Ende des ersten Teilbuchs neu verhandelt und am Anfang des dritten bestätigt. Es ergibt sich somit ein periodischer Wechsel zwischen geregelten Dialogphasen (den Argumentationen) und ungeregelten Dialogphasen (den Expositionen und Konklusionen), in denen das Interventionsrecht nicht beschränkt ist. Das geregelte Sprechen der Weisen wird neben der dialoginternen Vereinbarung auch auf auktorialer Ebene respektiert. Die zwischen die Äußerungen des Juden, Christen oder Muslim eingefügten Passagen, in denen der Erzähler spricht, sind nicht wahllos piaziert, sondern stehen nur an bestimmten, durch inhaltliche Einschnitte markierten Stellen: - am Ende der Abschnitte des ersten Teilbuchs, an denen zum nächsten Baum übergegangen wird; - an manchen der Stellen, an denen sich nach dem Ende einer Beweisreihe Zwischenfragen des Heiden anschließen; - bei der Behandlung der Glaubensartikel, deren Beweis sich erübrigt, um Wiederholungen zu vermeiden.
55 Im L. de demostracions (II.A.5), wo prdleg auch am Anfang eines 7è;7buchs auftaucht, handelt es sich um einen Einzelfall: Am Anfang der Teilbücher stehen hier paratextuelle Passagen im für Llullsche Prologe üblichen Ton, wie er sonst nur zu Beginn des Gesamttextes vorkommt.
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D e r Erzähler greift also niemals in den Beweis eines Artikels ein. Ohnehin bleibt der transportierte, «erzählte» Gehalt äußerst beschränkt. Die funktionale Spannbreite der Passagen beschränkt sich nämlich darauf, manche der Sprecherwechsel zu markieren und einige Dialogpassagen indirekt wiederzugeben, in denen es nicht unmittelbar um Beweisführungen geht. Im wesentlichen dienen die Erzählpassagen somit dazu, strukturelle Einschnitte zu unterstreichen, nicht jedoch zur Riickbindung der Reden an den situativen Kontext. Dieser bleibt aus den geregelten Dialogabschnitten vollständig ausgeklammert, indem weder die Dialogsprecher noch der Erzähler auf ihn Bezug nehmen. 56 Die überwiegende Zahl der Erzählerpassagen beschränkt sich auf ihre minimale Reduktionsform, die bloße Nennung eines Verbs des Sprechens. Diese dmi-Formeln stehen immer in der Formulierung dix lo savi al gentil, wobei an die Subjektposition jeweils lo jueu, lo crestià oder lo sarraí tritt. 57 Sprecher und Adressat sind somit jedesmal beide genannt, und die in den Interventionsregeln vorgegebene Bipolarität der drei Teilgespräche wird mit jeder Sprecherindizierung wieder neu hervorgehoben und durch die entsprechenden Deiktika und Apostrophen an den Heiden bestätigt. Neben der Abfolge der Interventionen folgt auch die Wahl ihres Typs im L. del gentil bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Nur eine gewisse Anzahl von Interventionstypen kommen vor, und nur an bestimmten Stellen. Die Beiträge des jeweils wortführenden Weisen sind immer affirmativ, während der Heide nur das Wort ergreift, um Einwände zu erheben und Fragen zu stellen, die sein Gesprächspartner aber jeweils auszuräumen bzw. zu beantworten weiß. D i e Verben der Sprecherindizierung geben dabei bereits vor, welchem der drei Typen die folgende Intervention angehören wird: dix, respòs und demand sind die einzigen vorkommenden Verbformen. Selbst in den ungeregelten Dialogphasen treten bestimmte Interventionstypen an strukturell einander entsprechenden Stellen auf. So weisen die vier Konklusionen jeweils einen resümierenden Abschnitt auf: am Ende des ersten Buchs eine Rede des Heiden, in der er sich zum Glauben an den einen Gott bekennt, am Ende der Teilbücher Plädoyers des jeweiligen Weisen für die Überlegenheit seines Glaubens und schließlich in der Gesamtkonklusion der Erzählerhinweis, daß der Heide das Gehörte wiederholend zusammenfasse. Nach seinen beiden großen Erkenntnisschritten am Ende des ersten und des vierten Teilbuchs richtet der Heide Gebete an Gott. Die Weisen schließlich formulieren Gebete jeweils zu Beginn ihrer Teilbücher. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die folgende Reihe von Merkmalen den L. del gentil zu einem bezüglich der Sprechsituationen äußerst regelhaften und hochgradig gegliederten Dialog macht, dessen Ausdrucksmittel auf eine minimale Varianz zurückgeführt sind:
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Es gibt eine signifikante Ausnahme zu dieser Regel, cf. Anm. 80 in diesem Kapitel. Einzige Variante ist die Veränderung der Satzordnung (lo jueu dix al gentil) und ein einziger Fall, in dem das Objekt fehlt: «Dix l'altre savi» ( N E O R L 2, 28).
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ι. Paratextuelle Gliederung auf drei Ebenen 2. Erzähltechnische Symmetrie im Bau der drei Teilbücher 3. Interventionsregeln, die zu einem intervallartigen Wechsel von geregelten und freien Dialogphasen führen 4. Festgelegte Stelle und Funktion der Erzählerpassagen 5. Expliziter, immer gleicher Adressatenbezug der Interventionen 6. Gleiche Interventionstypen an entsprechenden Textstellen. Dieses ausgeprägte Bestreben nach textlicher Gliederung reicht bis in die einzelnen Redebeiträge der Figuren hinein, auch dort, wo sie nicht durch die Auswahl der Blüten bereits strukturiert sind. Längere Redebeiträge im L. del gentil verfügen über eine innere, listenartige Gliederung, wie sie erstmals in der Rede der Intel-ligència in der Exposition aufscheint. Diese Rede besteht aus fünf Abschnitten zu den einzelnen Bäumen, die immer mit deren Benennung beginnen (primer; segon, terç, quart, cinque arbre). Darauf folgt jeweils die Erläuterung der beiden conditions, die jedem Baum zugeordnet sind. Es handelt sich dabei um Vorschriften, denen Beweisführungen gerecht werden müssen, um als wahrheitsgemäß zu gelten, wie in den folgenden Teilbüchern deutlich wird. Nach den fünf gleich gebauten Abschnitten steht ein zusammenfassender Schluß. Diese Art des Aufbaus längerer Redebeiträge läßt sich durch den ganzen Text weiterverfolgen: -
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Der erste Glaubensartikel im Buch des Juden, der ausnahmsweise nicht mit Hilfe der Blüten bearbeitet wird, wird mit einer Liste von vier Begründungen (primera, segona, terga, quarta rao) bewiesen. Im 5. Artikel des Juden werden die unterschiedlichen Meinungen der Juden zur Auferstehung aufzählend vorgebracht (primera, segona, terça opinio). Die Paradiesschilderungen des Muslims sind nach den fünf Sinnen geordnet, die sie jeweils vorrangig affizieren (de ver, de oir, de odorar, de gustar, de sentir). In der Konklusion wendet sich der Heide in seiner Rede zuerst in gleichlangen Anrufungen an die sieben Haupttugenden und danach in kürzeren, aber wiederum untereinander gleichlangen Abschnitten an die Todsünden.
Derselbe listenartige Aufbau findet sich natürlich insbesondere in den Kanones von Glaubensartikeln, die die Grobgliederung der Teilbücher ausmachen. Solche Gliederungen in distinctiones gehören zu den häufigsten Vertextungsverfahren mittelalterlicher Literatur und sind insbesondere für Llull, auch über den L. del gentil hinaus, charakteristisch. Ursprünglich waren unter distinctiones Auflistungen der Bedeutungsnuancen biblischer Textstellen in der Exegese nach dem mehrfachen Schriftsinn zu verstehen. A l s solche bilden sie im 12. und 13. Jahrhundert eine literarische Gattung. Bald schon gewinnt der Begriff an semantischer Breite. Er umfaßt dann jegliche Materialsammlung zu homiletischen Zwecken.5® Distinctiones kann in weitem Sinne als Vertextungs- und 58
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Strukturierungsverfahren Auflistungen bezeichnen, die Bedeutungsnuancen eines einzigen Begriffs versammeln, oder auch distinkte, aber gleichartige Elemente, die zusammen eine Menge ausmachen.59 Auf die für die spätmittelalterliche Literatur grundlegende Bedeutung dieser Ordnungsschemata, die den Text zu einem aus gleichartigen Teilen zusammengesetzten Ganzen machen und damit das zeitgenössische, auf Einteilung und Definition beruhende Wissenschaftsverständnis widerspiegeln, hat J. Allen hingewiesen: «[Knowledge] involves definition. Its relation to division reflects the medieval sense of composite wholes, understood in terms of homologous parts and parts of parts, and intellectually reflected in the late medieval strategy of distinctio» ( A l l e n 1982,73).
Distinctiones bezeichnet in diesem Zusammenhang eine andere Art von ordnendem Eingriff als die ähnlichen Begriffe dispositio und divisio. Dispositio, aus der Rhetorik stammend, heißt die chronologische Anordnung des dargestellten Materials, wobei im wesentlichen die Wahl zwischen natürlicher und künstlicher Reihenfolge (ordo naturalis vel artificialis) gemeint ist. Divisio meint dagegen die einen Text einteilende Operation im Rahmen seiner Analyse. Distinctio schließlich bezeichnet «an array, or more particularly a normative array, of parts, aspects, or items, which constitute a whole, whether material or conceptual». 60 Llull selbst benutzt distinció vorwiegend für die Buch- und Kapiteleinteilung seiner Werke. Distinció heißen dabei sowohl der einem Inhaltsverzeichnis ähnliche Abschnitt, der am Ende fast aller Prologe steht, als auch die einzelnen Kapitel. Bezeichnenderweise bilden die Kapitelüberschriften häufig wiederum einen normative array, indem jede aus einer göttlichen Eigenschaft, einer Haupttugend oder ähnlichen Begriffen besteht, wie sie aus den Septenarien der christlichen Dogmatik bekannt sind.61 Der Artikelkanon des Christen im L. del gentil ist ein solches doppeltes Septenarium, genauso wie die Tugenden und Laster in der Rede des Heiden in der Konklusion. Die Einteilung von Texten nach solchen Zahlenrastern ist nicht identisch mit numerologischen Schemata, wie sie etwa im L. de contemplado offensichtlich sind und dort auch im Prolog angekündigt werden: Die Anzahl der Teilbücher, Kapitel und weiteren Gliederungselemente verweise auf biblische Zahlen wie die Fünf der fünf Wunden Christi oder die 40 in Erinnerung an die 40 Fastentage in der Wüste u. a. m. Im L. del gentil ergibt sich das Siebenerschema aus dem behandelten Stoff selbst und nicht aus einer solchen Übertragenheitsbeziehung. 62
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J. B a t a n y (1970, 829-835) stellt an Textbeispielen dar, wie das paradigme lexical, die Begriffsreihe, z u m paradigme littéraire wird, indem es längere narrative Texte strukturiert. A l l e n 1982,143. D e r R e f e r e n z t e x t für die dogmatischen Siebenerreihen ist das Septenarium von H u g o von St. V i k t o r ( P L 175, col. 405-414), in dem die jeweils sieben Hauptsünden, die im Vaterunser gesprochenen Bitten an G o t t , die G a b e n des Heiligen Geistes, die Haupttugenden und die Seligpreisungen behandelt werden. Cf. Seite 109 und Schulte-Herbrüggen 1994, 251 z u m L. de contemplado. Weitere Einteilungen mit Rund- oder bedeutungstragenden Z a h l e n bei Llull nennt Wittlin
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Ein dritter unter strukturellen Gesichtspunkten interessanter Bereich des L. del gentil blieb bisher ausgeklammert. Die Reden der Weisen, als distinctiones gegliedert, werden als commentarium inhaltlich gefüllt, indem sie den vorliegenden Text der Glaubensartikel schrittweise beweisend glossieren. Diese Glossa leistet, und damit wird der zentrale Punkt des L. del gentil angesprochen, eine Adäquationsarbeit des jüdischen, christlichen und islamischen Artikelkanons an das in der Exposition gegebene Schema: «concordar los articles [...] ab les fflors e ab les condicions dels arbres». 63 Die Begriffspaare der Blüten werden dabei als Abschnittsüberschriften benutzt und liefern zwei zentrale Termini, die in den Argumentationen immer wieder neuartig gedanklich verknüpft werden. Vor der Analyse der Blütenwahl ist ein Blick auf die Bäume unerläßlich. In den Handschriften des L. del gentil begleitet den Text meist eine Darstellung der auftretenden Figuren und dieser Bäume mit den 21 bzw. 49 Blüten, auf denen die Begriffskombinationen eingetragen sind. 64 Auch die Handschrift Ms. lat. fol. 187 der Staatsbibliothek Berlin weist fünf solche Darstellungen der Bäume und Figuren auf, die am Ende dieser Arbeit wiedergegeben sind.65 Bäume als Ordnungsschema für Begriffe sind in mittelalterlichen Texten ein äußerst häufiges Darstellungsverfahren. 66 Auf dem ersten Baum sind alle 21 möglichen Zweierkombinationen der sieben ungeschaffenen Tugenden (virtuts increades) wiedergegeben: bonea, granea, eternitat, poder, saviea, amor und perfecció. Es handelt sich also um eine Siebenerreihe der göttlichen Eigenschaften, die im L. del gentil nicht die später bei Llull gebräuchliche Bezeichnung dignitats tragen, und deren Anzahl hier den moraltheologischen Septenarien angepaßt ist. Die Kombinationen auf dem ersten Baum stehen in der Reihenfolge, wie sie Llull für die Bildung von Zweierpaaren in Kammern (cambres) benutzt, z. B. in der Figura secunda der Ars compendiosa inveniendi veritatemfi1 Auf
1977. Für den L. del gentil bleiben solche Erklärungsmuster jedoch bislang zu vage, um zu überzeugen (Wittlin 1977,144). Auch J. Vidal Aleover verweist auf die Bedeutung von Strukturzahlen bei Llull (Vidal Alcover 1996,117). 63 N E O R L 2,46. 64 Die vergleichsweise prachtvollsten Illuminationen befinden sich in der altfranzösischen Übersetzung des L. del gentil (Ed. bei Llinarès 1966). Einige A n g a b e n zu den Illuminationen der anderen Mss. des L. del gentil liefert N E O R L 2, xxiii-xxxv. Cf. auch die Reproduktion aus Le Myésiers Electorium Remundi in O E 1,1056 aus dem 15. Jahrhundert und die der Edition zeitgenössische Graphik in M O G 3 (1722). 65 Cf. die Beschreibung der Handschrift im Katalog von V. Rose (1901,318s.) unter der Katalognr. 465. Die ganzseitigen Illuminationen haben das Format 18,5 χ 24,5 cm. 66 Es ist etwa auf das umfangreiche Bildmaterial in der kunsthistorischen Studie von H. Schadt (1982) hinzuweisen, die sich speziell mit der Darstellung von Verwandtschaftsverhältnissen in arbores consanguinitatis und arbores affinitatis in juristischen Texten zum Eherecht befaßt. A m Ausgang dieser Tradition stehen die Etymologiae Isidors. Neben den meist vorhandenen pflanzlichen Elementen sind in einigen der Darstellungen sowohl Begriffskombinationen als auch menschliche Darstellungen an den Bäumen zu finden, so daß eine nähere Untersuchung des Verhältnisses zwischen Llulls Baumschemata und dieser Tradition Erfolg verspricht. 67 M O G ι, 432s. (Tafel 7). Die Bäume ersetzen somit die wissenschaftlicheren Figuren, da sie besser in einen narrativen Zusammenhang eingepaßt werden können. Sie
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den anderen Bäumen werden die kanonischen Reihen von Tilgenden und Sünden kombinatorisch dargestellt: Bei Lesung in Spalten bleibt jeweils das erste Kombinationselement konstant, bis alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, dann schließen sich die Kombinationen an, die mit dem zweiten Begriff beginnen usw. Der zweite Baum trägt in 49 flors die Zweierkombinationen der göttlichen Eigenschaften und Haupttugenden, die bei Llull fe, esperança, caritat, justicia, prudencia, fortitudo und temprança lauten. Das Kombinationsschema für die Begriffspaare ist eine Siebenermatrix, bei der in senkrechter Richtung eine in jeder Spalte gleichbleibende Dignitas und in waagrechter Richtung jeweils eine Tugend verzeichnet sind. Auf dem dritten Baum nehmen den Platz der Tilgenden die sieben Todsünden ein: gola, luxúria, avaricia, accidia, supèrbia, enveja und ira. Auf dem vierten Baum werden im selben Schema wie auf dem ersten statt der Dignitates die Tilgenden in 21 Paaren untereinander kombiniert. Auf dem fünften und letzten Baum sind die Tugenden in Kombination mit den Todsünden nach dem Schema des zweiten und dritten Baums eingetragen. Der Einsatz von Baumschemata zur Darstellung der Tugenden und Laster ist am Ende des 13. Jahrhunderts bereits traditionell.68 Im Gegensatz zu dieser breiten Tradition und zeitgenössischen Verwendung des Baumschemas ist bei Llull dagegen die kombinatorische Darstellung der Begriffe neu. A l l e fünf Bäume werden für die Argumentationen im ersten Teilbuch genutzt. Die Analyse der von den Weisen getroffenen Blütenwahl erweist sich dabei als aufschlußreich. Die Auswahl der elf Kombinationen aus dem ersten Baum erscheint, gemessen an der Baumdarstellung, zunächst willkürlich. Stellt man die Dignitates jedoch in ihrer gewohnten Reihenfolge in einer Zeile dar, ergeben die verwendeten Paarungen ein harmonisches Schema, das in der Graphik 2 ersichtlich ist. Beim zweiten und dritten Baum sind die Illuminationen zum Verständnis der Auswahl hilfreich: Es werden beide Male die Blüten auf der
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sind von Bäumen als Hierarchieschema zur enzyklopädischen Strukturierung von Wissensgebieten zu unterscheiden. Cf. A . B o n n e r in O S 1, i n , A n m . 15 und 116, Anm. ι sowie Urvoy 1996,92s. Wie kaum ein anderes Motiv ist der B a u m in der christlich geprägten Literatur und Exegese bedeutungsgeladen. Erste Hinweise zur Tragweite des Motivs gibt J. Flemmings Artikel «Baum, Bäume» in L C I 1, col. 266s. In der Llull zeitgenössischen Literatur scheinen die Baumdarstellungen, die Guillaume Perraults Summa virtutum et vitiorum gelegentlich begleiten, sowie die in der Somme le roi am einflußreichsten zu sein. In letzterer kommt jeder Tugend ein einzelner Baum zu, auf dessen Zweigen die jeweiligen Untertugenden eingetragen sind (Kosmer 1978). Cf. weiterführend auch die bibliographischen Hinweise bei Robertson 1951, 26s., Lurker 1991, 81 und Newhauser 1993, 27, 160 sowie Tafel II. Die Parallelen in der Verwendung von Baumstrukturen zwischen Llull und arabischen Autoren, bei denen Baumstrukturen ebenfalls omnipräsent sind, zeigt Urvoy 1996, 93s., der in Widerlegung von M. Cruz Hernández kein Abhängigkeitsverhältnis zu konkreten arabischen Autoren annehmen will (Cruz Hernández 1977, 125-144 und 291-299 sowie Cruz Hernández 1989). - Das Mißverständnis, in Llulls exemplarischer und taxonomischer Verwendung von Naturelementen Hinweise auf ein persönliches Naturerleben im romantischen Sinn suchen zu wollen, unterläuft Probst 1936 und Dolç 1994.
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Diagonale von links oben nach rechts unten ausgewählt. Aus dem vierten Baum dagegen werden Zweierkombinationen benutzt, die sich in dieser Systematik nicht aus der Baumdarstellung in den mir bekannten Illuminationen ablesen lassen. Vielmehr ergeben sie sich, wenn man die Tilgenden in der kanonischen Reihenfolge darstellt, wie sie etwa in Llulls Doctrina pueril aufgezählt sind. Der Weise wählt seine Argumentationsgrundlagen in Paaren von Begriffen, bei denen das nachfolgende immer ein Element des vorangegangenen Paares wiederholt (s. Graph. 2). Die Blütenwahl aus dem fünften Baum folgt schließlich wieder der von links oben ausgehenden Baumdiagonale. Regelmäßigkeiten dieser Art lassen sich nur im ersten, für alle Religionen gültigen Buch nachweisen, während die Blütenwahl des Juden, des Christen und des Muslims in ihren eigenen Teilbüchern ungeordnet verlaufen. Die Bedeutung dieses Unterschiedes liegt auf der Hand: Im ersten Buch werden keine konkurrierenden Texte kommentiert, sondern es werden die unumstrittenen, vollständig wahren und vollkommen vernunftgemäßen Glaubenstatsachen der Existenz Gottes und der Auferstehung nachvollzogen. Sie fügen sich harmonisch in die Schemata der Ars tulliana ein, die das kosmologische Gerüst bildet, das allem Existierenden zugrunde liegt. In den anderen Teilbüchern wird das über diese Grundlagen hinausreichende dogmatische Gerüst der einzelnen Religionen untersucht, das von diesem Einklang noch weit entfernt liegt. Aus der strukturellen Untersuchung des L. del gentil wird deutlich, daß der Gesprächsablauf durch die genannten Strategien stark gegliedert und geregelt ist. Regelhaftigkeit in der Abfolge der Textteile wird durch die dialoginterne Festlegung von Interventionsregeln und durch eine Reihe von Strategien wie Parallelkonstruktionen und distinctiones erreicht, die das Zusammenspiel von erzählersprachlichen und figurensprachlichen Abschnitten Einschränkungen unterwerfen und die Varianz der narrativen Situationen minimal halten. Schließlich sind auch in rein argumentativen Abschnitten die genannten strukturellen Regelmäßigkeiten nachzuweisen. Der hohe Gliederungsgrad auf paratextueller und erzähltechnischer Ebene erlaubt es, von einer Hyperfunktion des ordo im L. del gentil zu sprechen. Festzuhalten bleibt damit zunächst, daß sich der L. del gentil als ein auf der Handlungs- wie auch auf der Argumentenebene hochformalisierter Dialog präsentiert.
II.4 Figurenpräsenz und Abstraktion Von den fünf Sprecherfiguren, die im L. del gentil aufeinandertreffen, wurden bisher hauptsächlich die Weisen und der Heide erwähnt. Darüber hinaus erscheint in der Exposition auch Intel-ligència, die sich allerdings schon wieder zurückgezogen hat, als der Heide zu den Weisen stößt. Intel-ligència personifiziert den menschlichen, rationalen Verständnisprozeß, das Verstehen, während der Verstand als der rationale Seelenteil, der in anderen Llullschen Texten auch personifiziert vorkommt, enteniment heißt Intel-ligència erscheint in Beglei82
tung ihres Rosses, welches aus der Quelle säuft, die die Bäume bewässert. Wenn die Dame als das rationale Verstehen ausgewiesen ist, liegt es nahe, ihr R o ß mit der Körperlichkeit zu identifizieren, von der sie getragen wird, und deren Bedürfnisse vor der Kontemplation gestillt werden müssen. Eine solche Bedeutungszuweisung braucht nicht symbolisch genannt zu werden, sondern liegt noch im Rahmen der festen, gleichsam unveräußerlichen ikonographischen Ausstattung einer Personifikation. Unter den Figuren im L. del gentil äußert sich der besondere Status von Intel ligencia darin, daß sie an der Auseinandersetzung nicht teilnimmt, denn was sie über die höhere Welt der göttlichen Eigenschaften und über die verwandten Prinzipien sagt, bedarf keiner Überprüfung und wird als apriorisch wahr hingenommen. Mit dem Unwissen des Heiden und der Uneinigkeit der Weisen gerät Intel-ligència nicht in Kontakt, indem sie vor dem Beginn des argumentativen Teils des Gesprächs verschwindet. Auf sie wird zurückzukommen sein, wenn der Status von Wahrheit im L. del gentil untersucht wird. Der Schilderung des Heiden bleibt sehr karg. Das zentrale Moment, das die Figur bestimmt, ist die ständige Beklemmung, die ihn im Gedanken an das Nichts nach seinem Tod peinigt. Sie treibt ihn auf die Suche nach Linderung. In dem Maße, in dem die Umgebung, durch die der Heide streift, schöner und für die Sinne angenehmer wird, steigert sich seine Verzweiflung, bis sie ihn dem Wahnsinn nahebringt und seinen körperlichen Verfall auslöst: «Gran barba ach, e Iones cabells; e vene con a home las, e ffo magre e descolorit per los treballs de sos pensaments e per lo lone viatge que avia ffeit. Sos ulls decorrien de llagremes, son cor no sessava de sospirar, ni sa bocca de playner» ( N E O R L 2,12).
Es ist offensichtlich, wie die Elemente dieser Beschreibung nicht individualisierend, sondern generalisierend wirken. Hier wird kein Individuum in seiner Spezifik beschrieben - auch nicht in seiner Zugehörigkeit zu einer historisch identifizierbaren Gruppe. Von Anfang an bleibt es unzweifelhaft, daß der Heide - im Gegensatz zu zeitgenössischen Konzepten von Heidentum, etwa bei Thomas von Aquin - nicht als Muslim zu verstehen ist, wie es der weitere Handlungsgang bestätigt. Möglicherweise läßt seine philosophische Bildung den gentil einem antiken Heiden näher stehen als zeitgenössisch mittelalterlichen Heiden, von denen Llull eine Vielzahl kennt und in anderen Texten erwähnt: Russen, Bulgaren, Ungarn, Preußen, Tataren u. a. m. Diese Differenzierung spielt jedoch keine Rolle. Das Heidentum des gentil definiert sich vollständig aus seiner Unkenntnis Gottes, und es gehört kein weiteres Element konstitutiv dazu. Die Beschreibung im zitierten Ausschnitt schildert die charakteristischen Erscheinungsformen des Leids, das zwangsläufig aus dem Heidentum resultiert und das damit in der Figur eines Heiden von vorneherein angelegt ist. Daß der Heide seinen Besitz und seine Familie verläßt, um sich auf die Reise zu begeben, verleiht der Figur im Ansatz eine zeitliche Dimension. Tatsächlich kommen im Verlauf seiner Irrfahrt eine gewisse Anzahl von Eigenschaften der Figur zusammen: Neben seiner Unkenntnis Gottes, seiner fremden Sprache und Sitten
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und seiner philosophischen Bildung sind seine höflichen Umgangsformen und die lernbereite Disposition zu nennen. Alle diese Merkmale fügen sich jedoch so widerspruchslos zueinander, daß die Zeichnung der Figur nur unwesentlich differenzierter ist als die einer Personifikation. Der Unterschied zu einer solchen reduziert sich auf die Benennung mit der Individualbezeichnung statt mit einem Kollektivum. 69 Diese Darstellungsweise von komplexitätsreduzierten Figuren ist in literaturwissenschaftlicher Sicht als Merkmal des «strukturorientierten» im Gegensatz zum «subjektorientierten» Erzählen bezeichnet worden. 70 Bei Llull geht sie insbesondere mit seinem - und dem zeitgenössischen - wissenschaftlichen Interesse an der abstrakten Erkenntnis einher. Der Heide wird in der Exposition als ankommender Unbekannter mit Sènyer oder bell amie und in der zweiten Person vós angesprochen, den Formen der Ansprache, die in der allegorischen romanischen Literatur geläufig sind. Bereits im ersten Buch weichen sie dem bis zum Ende fast ausnahmslos verwendeten gentil mit der zweiten Person Singular tu,11 mithin der Ansprache an einen unwissenden Lernenden. Dem entspricht zunächst auch das Gesprächsverhalten des Heiden. Im ersten Buch bleibt er weitgehend schweigsam, im zweiten nimmt er gegenüber dem Juden seinen wenigen Einwänden jegliche Vehemenz, indem er sie als einzig der Wahrheitssuche dienlich deklariert: «so que ell li avia contradit era per mills enquerre veritat». 72 A l s sich der Jude zum Kommen des Messias äußert, zeigt der Heide erstmals eine andere Reaktion. Er gibt nochmalige Repliken, wenn sich der Jude gegenüber den Einwänden rechtfertigt, oder diese Einwände bleiben gleich gänzlich unwidersprochen. Insgesamt zeigt der Heide die größte Skepsis bezüglich der jüdischen Auffassung vom zu erwartenden Messias und vom Jüngsten Gericht, das die Juden von Gott, die Christen dagegen von Jesus durchgeführt sehen wollen. Schließlich wirft er dem Juden provokativ vor, die vermeintliche Uneinigkeit der Juden scheine ihm auf Wissensmangel und mangelnde Beschäftigung mit dem Jenseits zurückzuführen zu sein, worauf der Jude bloß noch defensiv und entschuldigend reagiert. 73 Gänzlich anderer Art sind die Interventionen des Heiden im Gespräch mit dem
Die Abstrakta zur Bezeichnung der Religionsgemeinschaften paganisme, judaisme, cristianisme und islam sind in Ramon Llulls Sprache nicht geläufig. S o kommt cristianisme in seinem ganzen Œuvre nur zweimal vor. Der Glaube im allgemeinen heißt fe, die Religionen heißen creença oder secta, die einzelnen Offenbarungsinhalte la Ilei dels jueus usw. und die Gemeinschaft ihrer Anhänger eis jueus usw., wobei für die Heiden, durch die angebliche Abwesenheit jeglichen Glaubens charakterisiert, einzig die Bezeichnung eis gentils möglich ist. Dagegen ist bei Llulls Zeitgenossen Arnau de Vilanova das Abstraktum cristianisme bereits sehr häufig; cf. Perarnau 1978a, 146 und Fortuny 1989,38s. 70 Eine klare Gegenüberstellung der beiden Modelle, die auf Überlegungen von W. Haug (1991) zurückgehen, liefert A . Gerok-Reiter (1995,751s.). 71 Einzige Ausnahmen sind amable fill (75) und amable amie (194), sowie die Verbform oyt avets (180), die der Muslim an den Heiden richtet. 72 N E O R L 2, 51. 73 N E O R L 2,72s. 69
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Christen. Mehrfach verwendet er den Ausdruck segons tes paraules, um dann fragend die Ausführungen des Christen weiterzudenken. Besonders eingehend fragt er nach den am schwersten verständlichen christlichen Glaubensmysterien, der Trinität und der Empfängnis Marias durch den Heiligen Geist. Gegenüber dem Muslim schließlich nimmt er umgehend eine oppositionelle Haltung ein, widerspricht ihm zunächst in der Theodizeefrage und danach besonders vehement, als es um das Prophetenamt Muhammads und die sinnlichen Paradiesschilderungen geht. Wie vorher dem Juden, gelingt es dem Muslim nicht, die Einwände des Heiden endgültig auszuräumen. Der Heide befleißigt sich also bereits einer tendenziell christlichen Sichtweise, bevor er das Christentum überhaupt kennenlernt. Darauf begibt er sich in eine betont lernbegierige und unkritische Schülerrolle gegenüber dem Christen und schließlich argumentiert er aus einer implizit christlichen Perspektive gegen den Muslim. Mithin ist es kein Ziel des Textes, einen kohärenten, prozeßhaften Lernfortschritt des Heiden darzustellen. Vollends statisch sind die Figuren der Weisen konstruiert, die trotz des langen Gesprächs keinerlei Indizien auf Modifikationen ihrer Überzeugungen zeigen, sondern auch nach ihrem Abschied vom neubekehrten Heiden weiter disputieren wollen, ohne daß Aussicht auf baldige Einigung bestehen würde. 74 Der Verzicht auf Prozeßhaftigkeit in der Schilderung macht die Bausteine des Textes zu einzelnen, in sich geschlossenen Einheiten, die trotz ihrer Zusammenfügung distinkt bleiben. A n den Weisen ist das Auffallendste ihre bereits genannte Ununterscheidbarkeit außerhalb ihrer Teilbücher. Ihre Handlungen werden dort gemeinsam im Plural ausgedrückt oder jeder einzelne wird mit la un bezeichnet. In ihrer religiösen Begrüßungsformel für den Heiden kommen nur Aspekte vor, die ihren Religionen gemeinsam sind, so daß der Heide ihre Uneinigkeit erst nach dem ersten Teilbuch bemerken kann. Es verbinden sie ihre Lehrtätigkeit, ihre freundlichen Umgangsformen, 75 die Abwesenheit von Militanz im Glauben, der Respekt vor dem anderen in der Form, aber auch ihre Unnachgebigkeit in der Sache. 76 Auch der Vergleich der Teilbücher in Hinsicht auf ihren Aufbau und Rededuktus läßt keine Differenzierung zu. A l l e beginnen mit einem Gebet, es folgt der Beweisteil, am Ende steht das Plädoyer, wobei alle Aussagen in
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«E si tu denant nos manifestaves aquella lig que tu mes ames, no auriem tan be materia con nos esputasem, ni con la veritat atrobasem» ( N E O R L 2,206). Sehr treffend spricht E Domínguez (1999,267) von der «Diskussion [...] als Dauerzustand» in Llulls Dialogen. Ihre Verabredung der Disputationsmodalitäten ist einvernehmlich und zuvorkommend («cascú vole honrar l'altre, cascú dubtá a comensar primer», N E O R L 2, 46), dazu kommt die gegenseitige Entschuldigung für eventuelle Beleidigungen der Religion des anderen. «Encontinent que ells volgren comensar a moure questions la .i. contra l'altra [...]» ( N E O R L 2,12); «Cascú dels .iii. savis resposeren e dixeren la .i. contra l'altra, e cascú loá sa creenssa e représ a l'altre so que creia» ( N E O R L 2,44s.) oder «[els] .iii. savis se contrastaven, e cascú deya al altre que sa creensa era error per la qual hom perdía la celestial benauyrança e anava a pena inffernal» ( N E O R L 2,45).
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einem einheitlich sachlichen Duktus ohne (von den Apostrophen abgesehen) oralsprachliche, affektive und individuelle Merkmale stehen. Die Intensität dieser Stilisierung läßt sich an einem Vergleich mit der sogenannten Disputation von Mallorca77 illustrieren, dem in seinen Entstehungskoordinaten am engsten mit dem L. del gentil verwandten Religionsdialog. Er stammt aus Genua, und in ihm treten als Interlokutoren der genuesische Kaufmann Ingetus Contardus und etliche jüdische Gesprächspartner auf. 78 Im Einleitungssatz werden in dokumentarischem Duktus das Jahr 1286 und Mallorca als Zeit und Ort der Disputation angegeben. Von da an bleiben Darstellungstechniken bestimmend, die suggerieren, es handle sich um reale Ereignisse: Weitere reale Toponyme und historische Ereignisse werden genannt, die Sprecher tragen Personennamen, und ihre Berufe und ihre Herkunft kommen vor. Im Gesprächsablauf fällt auf, wie die Aussagen in unterschiedlicher Länge, direkter Ansprache und starker Bezogenheit der Interlokutoren aufeinander gehalten sind. Es gibt keine Interventionsregeln, der Argumentationsfortgang ergibt sich assoziativ, und die Interventionstypen folgen regellos aufeinander. Fragen, Ausrufe und eine Reihe von romanischen Merkmalen im Latein der Sprecher (die im zeitgenössischen diglossischen Kontext automatisch auf die gesprochene Sprache verweisen) lassen bemerkenswerterweise gerade die Sprache zum wichtigsten Rekurs zur Steigerung des Anspruchs auf Wahrscheinlichkeit in Contardos Disputatio werden, obwohl doch die Wahl des Lateinischen aus heutiger Perspektive als nichtmimetische Option gelten müßte. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß auch ein reales Gespräch zwischen einem genuesischen Kaufmann und mallorquinischen, katalanischsprachigen Juden im 13. Jahrhundert durchaus in einem solchen, der Volkssprache nahestehenden Latein stattgefunden haben könnte, wie es in der Disputatio verwendet wird. 7 ' Editoren und Rezensenten der Disputatio legen sich zumeist nicht darauf fest, wie das Verhältnis der Disputatio zu möglicherweise voraufgegangenen Religionsgesprächen zu bestimmen sei, weil dies ohne zusätzliche Dokumentation schwer möglich ist. Es bleibt jedoch darauf hinzuweisen, daß die Annahmen, der historisch belegte Inghetto
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Ed. bei Limor 1994 und Dahan 1993. Dazu Rez. Badia 1993 und Rez. Hillgarth 1994. Die Edition von O. Limor liefert neben der Disputation zu Mallorca auch die ältere, sogenannte Disputation zu Ceuta, die einige identische Textpassagen aufweist. Die Titel gehen nicht aus den Texten hervor, sondern wurden von den Editoren im Anklang an die Disputation von Barcelona gewählt, was das Mißverständnis möglich macht, es handle sich um Dokumentationen von vergleichbaren, durch staatliche Autoritäten organisierten Disputationsereignissen. Die Disputatio des I. Contardo wird eingehender im Hinblick auf ihre Dialogcharakteristika untersucht bei R. Friedlein (2002, 50-61). G. Dahan (1993, 10-12) nimmt dagegen an, dem Text vorgängige Gespräche hätten auf katalanisch stattgefunden, während er für die Disputatio selbst über eine nicht erhaltene, genuesische Originalversion spekuliert. Zur naheliegenden Frage, ob sich die Zeitgenossen und insbesondere R a m o n Llull selbst bei Reisen der örtlichen romanischen Sprachen oder eines vereinfachten Latein bedienten, scheint auf Grundlage der erhaltenen Dokumentation keine Aussage zu treffen zu sein.
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Contardo sei nicht nur Protagonist, sondern auch Autor der Disputatio, und diese dokumentiere ein reales Religionsgespräch unter seiner Beteiligung, keine weitere Grundlage haben als den Text selbst. Textliche Übereinstimmungen von Inghettos Disputatio mit der sog. Disputation zu Ceuta und von dieser wiederum mit Isidor von Sevillas De fide catholica adversus Iudaeos sprechen dafür, daß die Texte nicht als Aufzeichnungen zu verstehen sind. Auch fehlt jeglicher zeitgenössische Hinweis aus Mallorca auf die Ereignisse, wie er etwa von Llull selbst zu erwarten wäre. D e r L. del gentil steht der Disputatio hinsichtlich des Anspruchs, ein wahrscheinliches Ereignis wiederzugeben, diametral entgegen. Während die Disputatio mit historischen Particularia und mit ihrem oralsprachlichen Duktus die Wahrhaftigkeit des Missionserfolgs von Contardo enkomiastisch zu vermitteln sucht, wird im L. del gentil mit dem Verzicht auf Wahrscheinlichkeit die Abstraktion vom historischen Einzelfall gesucht, indem den Figuren alle individualisierenden Züge genommen sind und sie so auf ihre Essenz zurückgeführt und für einen wissenschaftlichen Diskurs nutzbar werden, der es im Llullschen Sinne von Wissenschaftlichkeit bedingt, von kontingenten Ereignissen zu abstrahieren. Der L. del gentil geht diesen Weg mit Hilfe der Minimierung individueller und historischer Elemente in seinen Figuren und deren Handlungen. Darüber hinaus ist es im Zusammenhang mit der Llullschen Figurendarstellung aufschlußreich, die Wechselbeziehung zu beleuchten, die die Figuren mit der Textstruktur des L. del gentil eingehen. In den verschiedenen Dialogphasen variiert die Präsenz der Figuren regelhaft. Solange die Weisen ihre Glaubensartikel beweisen, bleibt ihre Körperlichkeit völlig ausgeblendet. Diese für den propositionalen Gehalt des L. del gentil zentralen Abschnitte werden jeweils nur von einem Sprecher dargeboten, der sich ausschließlich sachbezogen äußert und auf dem vergleichsweise höchsten Abstraktionsniveau argumentiert. Einzig die seltenen Sprecherindizierungen und Apostrophen machen die Figuren und die Dialogform in diesen Passagen präsent. Dies bringt mit sich, daß die Wirkung des in den Beweisgängen Dargelegten auf den Heiden, mit der einen Ausnahme eines Erzählerhinweises auf die einsetzende Tröstung, unangezeigt bleibt. 80 Einen zweiten Bereich bilden die Randzonen der eigentlichen Beweisführungen, also die questions und solucions, sowie die in freier Argumentation behandelten Artikel und das dogmatische Material, das die Weisen ohne Beweisführung vorbringen. In all diesen Passagen sind die Figuren «lebendiger»: Sie werden stärker präsent durch die (geregelte) Redeinteraktion untereinander und durch einen höheren Adressatenbezug auf den Heiden (die Apostrophen sàpies, gentil
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D i e Ausnahme, bei der in einer geregelten Dialogpassage eine Figur präsent wird, befindet sich dort im ersten Buch, wo der Erzähler die Beweise des Weisen unterbricht, um auf den Tröstungsfortschritt des Heiden zu verweisen: «Con lo gentil ach oydes estes paraules e remembrá les altres probacions damunt dites, sa anima, qui era torbada, se comensá a esclarir e son coratge se comensá a alegrar» ( N E O R L 2,21).
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oder saps per qué?). In einem dritten Bereich des Dialogs, den Expositionen und Konklusionen der Teilbücher, sind die Sprecher auch durch ungeregelte, also nicht in Interventionsrecht oder -typ beschränkte Rede vertreten. Viertens und letztens treten die Sprecher in der Exposition und Konklusion des Gesamttextes nicht nur unreglementiert und in ungleichmäßiger Redelänge sprechend, sondern auch handelnd auf. Die Figurenpräsenz gestaltet sich demnach in einer Schalenstruktur, deren Zentrum jeweils in den Beweisführungen liegt, um die drei Schalen mit steigender Figurenpräsenz gelagert sind, ähnlich einer mehrkernigen Zwiebel. Nach außen hin sinkt der Abstraktionsgrad, und die Figurenpräsenz nimmt zu; statt des Unvermischten und Abstrakten geht es um das Vermischte und Konkrete. Die Grenze zum Historisch-Individuellen dagegen bleibt unüberschritten. Zusammenfassend gilt für die Figuren im L. del gentil, daß sie des Akzidentellen entkleidet, ahistorisch, essentialisiert und paradigmatisch, zurückgeführt auf das Eigentliche dargestellt werden. Ihre Präsenz im Text läßt sich mit einem Modell von vier disjunkten Schalen beschreiben. Mit zunehmender Annäherung an den propositionalen Kern nimmt die situative Präsenz der Figuren ab und der Abstraktionsgrad steigt. Die Figuren und Szenarien, mit denen in Llulls Dialogen die Argumentation verwoben ist, stellen in seiner Sicht in ihrer Reduktion auf das Wesenhafte - welches, wie etwa im Fall der weiblichen Personifikationen und der Loci amoeni, häufig das Schöne schlechthin ist - eine Transzendierung der ungeordneten Wirklichkeit dar, mit der die Dialogwelt und ihre Argumentationen näher an die Wahrheit in den göttlichen Prinzipien gerückt werden.
II.5 Strategien der Wertung im Dialog D a ß sich im L. del gentil mehrere Parteien ausführlich und gleichberechtigt äußern, hat noch stärker als bei Abaelards Collationes dazu geführt, daß der Text als Vertreter mittelalterlicher religiöser Toleranz gewürdigt wurde. In sozialhistorischer Perspektive wurde er zum Kronzeugen, wenn die Iberische Halbinsel im Mittelalter als Territorium friedlichen Zusammenlebens und Austauschs zwischen drei Religionen und Kulturen dargestellt werden sollte. Insbesondere das Handlungsgerüst, das für alle Weisen gleiche Disputationsbedingungen etabliert und die Entscheidung des Heiden verschweigt, erlaubt es, vordergründig einen unvoreingenommenen Religionsvergleich zu konstatieren 8 ' und den L. del gentil deshalb mit Lessings Ringparabel in Verbindung
Sl
So sieht D. de Courcelles im L. del gentil religiöse Harmonie in gegenseitiger Befruchtung dargestellt: «Ainsi la rencontre de Dame Intelligence par les trois sages juif, chrétien et musulman [...] suscite l'espace de la rencontre, du dialogue avec les autres, de l'advenue à l'existence et au bonheur, selon des perspectives à la fois diverses et complémentaires, dans tous les cas familières aux trois communautés religieuses de la péninsule ibérique» (Courcelles 1993, 137). Cf. auch Penna 1953, 129.
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zu bringen. Kaum einer der Beiträge verzichtet jedoch darauf, die Ausgewogenheit des L. del gentil mit der Feststellung einzuschränken, daß er dennoch «eindeutig aus christlicher Perspektive» verfaßt sei. Zu dieser Feststellung kommt ohne Umschweife schon einer der ersten Beiträge der Sekundärliteratur zum L. del gentil: «Podem molt be deduir que l'objecte que en aqueix llibre se proposa no's tant sols exposar eis argumens ab que els tres Sabis volen provar la veritat de les seves creencies, com tal volta parexerá a primer cop de vista a qualsevol que'l llegesca, sino que, per aquesta esposició, 's veja tant ciar com la Hum del dia qu'els dogmes de la fe cristiana 82 surten sempre part d'amunt del demes» (Garau 1902,39).
Der L. del gentil erlaubt es also, seinem Autor sowohl den größtmöglichen Willen zur Objektivität in der Darstellung als auch die vollständige Überzeugtheit vom katholischen Christentum zu attestieren: «Raimundo hizo todo lo necesario para presentar esas enseñanzas y defensa[s] con gran respeto, objetividad e imparcialidad, tanto como se lo permitían sus firmes convicciones de la superioridad y verdad más completa de la religión católica» 83 (Artus 1994, 203).
Aus dem Spannungsverhältnis, daß Llull «eine Neutralität vorspielt, die niemals vorhanden 1st»,84 ergibt sich die zentrale Frage, welche Textelemente diese Mehrschichtigkeit transportieren und wie sie zusammenwirken, so daß Objektivität der Darstellung offenbar dennoch eine für den Text als ganzen gültige, eindeutige Stellungnahme nicht ausschließt. Wie alle anderen Llullschen Texte wird der L. del gentil durch eine Invokation eröffnet, mit der Besonderheit, daß Gott in ihr einzig als ehrenvoll und gnadenreich angerufen wird, während auf die ansonsten geläufigen Erwähnungen von Trinität und Inkarnation verzichtet wird - eine Änderung, durch welche die Invokation für die Angehörigen aller drei Religionen akzeptabel wird. Ohnehin folgt Llull mit der Gewohnheit, Texte mit einer Invokation zu beginnen, nach eigener Angabe dem islamischen Gebrauch der Basmala, ohne aber deren feststehende Formulierung «Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen» zu übernehmen.^ Trinität und Inkarnation in seinen Schriften aus missionstaktischen Gründen namentlich unerwähnt gelassen zu haben, gibt Llull z. B. im Prolog zum L. de coneixença de Déu (III.46) zu: 82
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Unter den neuesten Kommentatoren ist E. Colomer in dieser Frage viel zurückhaltender. Er beschränkt seine Lektüre auf die Handlungsebene und glaubt, es könne nur Llulls Kenntnisstand, nicht aber seine persönliche Wertung der anderen Religionen ermittelt werden. Diese Wertung sei dagegen anderen Werken wie der Doctrina pueril zu entnehmen (Colomer 1996, 84). Dazu E. Colomer: «sota l'aparença d'un diàleg complaent i elegant duu a terme una apologia subtil de la seva tesi. Si refusa expressament de treure la conclusió, és perqué confia que el lector la traurà per eil mateix» (Colomer 1997,148). Domínguez 1999, 270. Eine der Textstellen, an denen die islamische Gepflogenheit als Vorbild erwähnt wird, ist die Konklusion des L. Tartari, wo der Mongole den Papst bittet, einen Brief mit einem Anruf an Christus beginnen zu lassen, wie es die Muslime mit Muhammad täten.
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«Con nos fassam comu ensercament de Deu, per tal que aquest libre sia comu a totes les nacions, ocultament parlam de les diuines persones, les quais signifficam en lo procès d aquest libre; e no η volem parlar maniffestament, per ço que los juheus e los sarrahins no sien agreujats en aquest libre a legir e ohir, con sia aço que eyls hajen greuje de ohir parlar de la diuina trinitat de Deu» (OBR 2,376).86 Gleich anschließend an die Invokation ist auf noch eindeutigere Weise die Gliederungsübersicht am Ende des Prologs auffällig. Hier setzt mit der wörtlichen Wiederholung der Formulierung, mit der jedes Teilbuch verzeichnet ist,8? ein sprachlicher Gleichbehandlungsgestus seitens des Erzählers in bezug auf die Weisen ein, der - wie es bereits an den Figuren der Weisen selbst gezeigt wurde - stringent durchgehalten wird und sich vermutlich in keinem anderen mittelalterlichen Dialog auf so ausgefeilte Weise findet wie im L. del gentil. Die Gleichbehandlung wird niemals programmatisch genannt, sondern implizit durch die parallelen Strukturen transportiert. D i e Hauptbeiträge zur Vermittlung dieser vorgeblichen Objektivität liefern die Figuren in ihren körperlichen Handlungen sowie in ihren Sprechhandlungen, wo diese sich nicht auf Beweisführungen beziehen. D e r Objektivitätsgestus wird somit auf den äußeren Textschalen mit der höheren Figurenpräsenz vermittelt. Hier, im Bereich der Körperlichkeit, treten die Weisen und die Religionen, die sie vertreten, gleichwertig auf. Damit ist eine erste wesentliche A u f g a b e des Handlungskontextes im L. del gentil benannt: Durch die identische Beschaffenheit der Figuren, die die Untersuchungen der Religionen vorbringen, wird der Eindruck erweckt, diese Untersuchungen seien gleich gewichtet, eine Vorgabe, wie sie der propositionale Gehalt der Teilbücher allein, ohne den Handlungskontext, nicht vermitteln könnte. D e r Ausgewogenheitsgestus beschränkt sich jedoch auf die äußeren Textschalen mit der größeren Figurenpräsenz. Es wurde bereits gezeigt, daß innerhalb der geregelten Gesprächspassagen der Heide die Weisen keineswegs gleich behandelt. Dazu kommt, daß das Buch des Christen, wenngleich ansonsten analog zu den anderen Büchern gebaut, als einziges in seinem Titel mit dem N a m e n der behandelten Religion versehen ist. D e r wichtigste Punkt dürfte schließlich sein, daß es fast genausoviel R a u m einnimmt wie die Bücher des Juden und des Muslims zusammen. D o c h nicht allein der Umfang, sondern auch die Beweiskraft der Argumentationen unterscheidet sich signifikant. So bleibt der Jude bei der Frage nach der Beschaffenheit Gottes dem Heiden die A n t w o r t schuldig und muß auf die zukünftige Gotteserkenntnis im Jenseits vorausweisen. G e n a u s o erläutert er statt eines Beweises der Auferstehung unaufgefordert die unter den Juden bestehenden divergierenden Meinungen
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Ähnlich im L. de l'És de Déu (III.45): «no volem parlar emplicadament de les diuines propietats personals, ço es a saber, de paternitat, filiado e spiracio, per ço cor aquest libre proposam metre en arabich, e los sarrahins esquiuen parlar que en Deu sia paternitat, fìliacio e spiracio» (OBR 2,440). «Segon libre es del jueu [...] Ters libre es del crestiá [...] Quart libre es del saray» (NEORL 2,6). 90
zu diesem Thema und sucht Entschuldigungen dafür. In der Konklusion seines Buchs gibt er nochmals die innere Zerstrittenheit seiner Religion zu. Ganz im Gegensatz dazu läßt der Christ keine Nachfrage unbeantwortet; er muß sich auch keiner Frage nach internen Zwistigkeiten stellen, sondern wird bei der entsprechenden Gelegenheit nach seiner Einigkeit mit den anderen Religionen gefragt. Beim Muslim schließlich ist auffällig, daß er die Beweisführungen mehrfach zugunsten von eschatologischen Einzelheiten verläßt und somit den Abstraktionsanforderungen schlechter nachkommt. Häufig generiert er Allgemeingültiges aus den Blüten oder bringt dogmatisches Material vor, um es mit den Blüten einzig durch eine Bemerkung wie folgende zu verbinden: «E cor la fflor damunt dita sia mills declarada a la humana pensa, si aquest article es que no fiora sens l'article, per asso cové eser de nececitat aquest article» ( N E O R L 2,187).
Damit bleibt er den eigentlichen Beweis schuldig. Schließlich muß er, wie der Jude, die interne Uneinigkeit seiner Religion zugeben und läßt sein Schlußplädoyer kürzer ausfallen als die beiden anderen Weisen. Bisher bleibt somit festzuhalten, daß der L. del gentil im situativen Kontext (also auf den äußeren Textschalen) eine Objektivität postuliert, die durch die Reden in ihren formalen Eigenschaften nicht eingelöst wird. Ihr quantitatives Ungleichgewicht, die ungleiche Behandlung der Sprecher seitens des Heiden und das unterschiedliche Maß, in dem sie den selbstgesteckten Anforderungen nachkommen, sind hier die entscheidenden Punkte. Darüber hinaus eröffnet sich jedoch die Frage, ob die Reden der Weisen über diese formalen Eigenschaften hinaus auch inhaltlich mit dem situativen Kontext des Dialogs relationierbar sind. Dazu liegt es nahe, in einem Text, dessen Prolog als Textfunktion das Auffinden des Heilswegs benennt, die Jenseitskonzepte der Religionen zu beleuchten. Dieser dogmatische Bereich gewährleistet anders als spezifisch christliche Fragen wie die Trinität eine gute Vergleichbarkeit der drei Religionen und nimmt daher erwartungsgemäß eine zentrale Stellung in der Argumentation der Weisen ein. Das Judentum, wie es durch seinen Vertreter und die kritischen Einwände des Heiden vermittelt wird, ist wesentlich durch seine angebliche Diesseitsfixierung gekennzeichnet. Die Juden seien zu sehr mit ihrem Leid in der Diaspora und mit der Hoffnung auf die messianische Befreiung beschäftigt, heißt es. Es fehle ihnen daher an philosophischer Literatur, zumal die hebräische Sprache wenig benutzt werde. Schließlich lenke der Talmud durch seine Komplexität und seine Ausrichtung auf Rechtsfragen die Juden davon ab, sich um Belange des Jenseitigen zu kümmern: «Dix lo gentil: [...] E per asó es-me semblant que so per que sots en diverses opinions sia per deffalliment de sciencia, o per meynspreament de l'altre segle.-Seyner -dix lo jueu-, [...] nosaltres no avem tants de libres en sciencies de philosophie e d'aitres coses con a nos sseria mester. Enperó ,ia. sciencia es enffre nos, qui es apellada Talmut, e aquella es gran e de molt gran espusició e de subtil. E tant es gran e tant es de suptil espusició, que aquella nos enbarga a aver conexenssa de l'altre segle, e majoraient con per aquella sciencia nos enclinem a dret, per sso que ajam compliment dels bens d'aquest mon» ( N E O R L 2,72s.).
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Diese Fixierung des jüdischen Weisen auf Kontingentes wird durch den situativen Rahmen des L. del gentil aufgenommen. Die Ästhetik dieses situativen Rahmens läuft der angeblichen jüdischen Ausrichtung auf Diesseitiges und Akzidentelles entgegen, indem solche Elemente aus den Figuren akribisch ausgeschlossen werden. Es konnte bereits festgestellt werden, daß die Figuren in ihrer Essentialisierung gerade weg von der historischen Welt zu den höheren Subjecta weisen. Indem er alles an die individuelle Körperlichkeit des Menschen Gebundene verbannt, desavouiert der Text in seiner Gemachtheit die Darlegungen des Juden. Noch aufschlußreicher ist es, das Verhältnis des situativen Kontexts zu den Aussagen der Figuren am Fall des Muslims zu untersuchen. Dazu wird es notwendig, die Naturdarstellung in der Exposition in den Blick zu rücken. Sie ist, im Einklang mit den ahistorischen Sprechern des L. del gentil, an einem historisch und geographisch unbestimmten Naturort angesiedelt. In der Sekundärliteratur wird er normalerweise als Realisierung des literarischen Topos eines Locus amoenus verstanden, im Sinne des von E. R. Curtius (1942) geprägten Konzepts. Dies bestätigt sich in der vollständig traditionskonformen Reihe seiner Beschreibungselemente: Quellen und Obstbäume, Vögel und anderes Getier, Blumen und Gräser, U f e r und Wiesen. Die markantesten der hinzugefügten Attribute zielen auf Fülle und Schönheit, die immer wieder benannt, aber niemals beschrieben wird. 88 Bekanntlich tragen mittelalterliche Natur- und insbesondere Garten- und Paradiesbeschreibungen häufig allegorische Bedeutungsebenen, wie sie ursprünglich in der Exegese des Paradiesgartens der Genesis und des hortus conclusus im Hohelied angesetzt wurden und in religiös geprägter Literatur weitergeführt werden. Als geläufigstes Beispiel aus der Iberoromania ist vergleichend dazu auf den Garten in der Einleitung der Milagros de Nuestra Señora von Llulls Zeitgenossen Gonzalo de Berceo hinzuweisen, wo die allegorischen Bedeutungen der einzelnen Beschreibungselemente wie Wiese (Jungfrau Maria), Quellen (Evangelien), Schatten (Gebete) und Vögel (Kirchenväter) explizit erläutert werden. Tatsächlich ist es im gedanklichen Kontext des 13. Jahrhunderts gewiß kaum möglich, einen Locus amoenus zu beschreiben, ohne daß die genannten allegorischen Bedeutungen evoziert würden. Für die höfische Literatur bleibt es umstritten, ob und inwieweit die traditionellen allegorischen und tropologischen Bedeutungen aus der biblischen Exegese weiter gelten oder ob eigene, rein weltliche allegorische Bedeutungszusammenhänge ausbildet werden.8^ In jedem Fall fällt es für den L. del gentil
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Es kommen 15 nähere Bestimmungen vor, die auf Fülle weisen (neunmal molt, dazu gran, abondós und divers). Elf Attribute benennen Schönheit (siebenmal bell, dazu plasent). Typisch ist insbesondere molt plasent. Die Entwicklung der weltlichen aus der religiösen Allegorie vertritt H. R. Jauß (1968). Speziell im Hinblick auf das Gartenmotiv hatte bereits Ch. Oulmont (1911, 1-18) eine solche Säkularisierungsthese angedeutet. D.Robertson (1951) hatte für einige Gärten in der höfischen Literatur eine ironische Lesart vorgeschlagen, die sie vor dem Hintergrund der biblischen Exegese nicht als Gärten der höfischen Liebe,
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schwer, eine durchgehende narrative Zweischichtigkeit, wie sie aus der Exegese und aus den ikonographischen Programmen in den bildenden Künsten bekannt ist, anzusetzen. Der Text bietet keine expliziten Allegoriesignale, wie sie etwa in der weltlichen allegorischen Literatur anzutreffen sind. Auslegungsversuche in diese Richtung gestalten sich daher schnell als Auflistung von aus anderen Texten gewonnenen Bedeutungszuweisungen,9° oder sie bewegen sich im Bereich der freien hermeneutischen Assoziation.' 1 Der L. del gentil scheint damit der thomistischen Konzeption nahezustehen, daß allegorische Mehrschichtigkeit allein dem göttlich offenbarten Bibeltext zukommt.' 2 Unterstützend mag hier gelten, daß auch in der kastilischen Weisheitsliteratur, die dem L. del gentil näher steht als Berceos Gedicht dies tut, keine allegorische Naturauffassung mehr vertreten wird.93 Statt dessen steht im L. del gentil in nichtübertragener Lesart die intensive Wirkung des Ortes auf den Gesichts-, Gehör-, Geruchs- und Geschmackssinn im Mittelpunkt. Als der Heide auf seiner Irrfahrt durch den Locus amoenus streift, heißt es in schneller Folge «veer e odorar les fflors», «besties qui fforen plasents a veser», «molt plasent odor», «so que vesia e oya e odorava», «coza plasent que veés ni oís» und «Yodorament de les fflors e la sabor dels ffruits».' 4 Schönheit, Fülle und seine sinnliche Wirkung kehren insistent als Hauptmerkmale des Naturorts wieder, der sich somit als hortus deliciarum darstellt. Diese Ergötzlichkeiten üben auf den Heiden eine ungewöhnliche Wirkung aus. Während er schöne Dinge anschaut, Blumen pflückt und Früchte ißt, wird sein existentieller Schmerz um so heftiger. Der für die Sinne so genüßliche Naturort wird für den Wahrheitssuchenden nicht nur wenig hilfreich, sondern gar ein Hindernis auf seinem Weg zu Trost und Erkenntnis. sondern der christlichen caritas interpretiert. Piehler (1971) hält dem entgegen, die höfische Literatur entwickle eine eigene Allegorik, in der der Garten den Raum für die Entfaltung der elitären höfischen Moral- und Liebesauffassungen biete. Cf. auch Ringger 1986, wo die Vielschichtigkeit der Verweise in den Gärten der französischen höfischen Literatur unterstrichen wird. 90 Schulte-Herbrüggen 1994, 253. 91 So versucht D. de Courcelles (1993, 117-183) insbesondere anhand des Motivs der Quelle in der Exposition dem Text eine mystische Bedeutung zu unterlegen, was jedoch durch dessen argumentativen Hauptteil nicht im geringsten gestützt wird. 92 Zur thomistischen Allegoriekonzeption cf. Strubel 1975,353-357· 93 H. Bizzarri (1996b) konstatiert - wenngleich insbesondere in bezug auf die Natur des Menschen - in der durch die Schule von Toledo geprägten, alfonsinischen Weisheitsliteratur aristotelische, nicht allegorische Naturkonzepte. 94 NEORL 2,7s., Hervorhebungen von R. E - Wenn die Wirkung einzelner Bestandteile des Locus amoenus jeweils einem Sinn zugeordnet wird und diese Paare zu einer Aufzählung gereiht werden, ist vom sensus-deticiae-Schsma gesprochen worden, das in der mittellateinischen Literatur in Nachfolge zu den Poetiken beständig nachgewiesen werden kann (Thoss 1973, 56-59). Nach Thoss fehlen vergleichbare schematische Aufzählungen in der volkssprachlichen Literatur, wo statt dessen die Wirkung des Ortes auf «das Innere der handelnden Personen» (Thoss 1973,96) hervorgehoben sei. Bei Llull werden die Wirkungen der Ergötzlichkeiten des Ortes auf die einzelnen Sinne zwar erwähnt, jedoch nicht in der für die mittellateinische Literatur charakteristischen, aufzählenden Weise.
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«Aná a enant de loe en loe, e de ffontana en ffont, e de prat en ribatge, per temptar e asajar si per nulla coza plasent que veés ni oís poria de si gitar lo pensament en que era; e hon mes anava e on pus bells Iocs atrobava, pus ffortment lo pensament de la mort lo destreynia» ( N E O R L 2, 8).
Die Schöpfung erschließt sich dem Heiden nicht aus sich selbst, sondern bleibt schweigsam und verstärkt das Leiden, das nur durch eine menschliche Stimme in Besitz des Wissens gelindert werden k a n n . 9 5 Die Sinnlichkeit des Naturorts im situativen Rahmen des Gesprächs der Weisen ist damit jedoch nicht vollständig erläutert. Sie erhält eine weitere Funktion, wenn man sie in ihrem Zusammenspiel mit dem Gesprächsinhalt sieht, denn die wiederholte Erwähnung angenehmer Wirkungen auf die einzelnen Sinne wird ausdrücklich in den Darlegungen des Muslims wieder aufgenommen. Dieser prophezeit, daß die Glorie im Paradies sich spirituell und sinnlich erfülle, geht aber nur auf letzteres näher ein: «Gloria corporal aurem a tots los .v. seyns corporals». 96 Seine Paradiesschilderungen sind eigens mit dem jeweils affizierten Sinn als Zwischentitel versehen: De veer, De oir, De odorar, De gustar und De sentir. In dieses Ordnungsschema werden großteils authentische islamische Paradiesbeschreibungen 97 eingebracht, deren Bezug auf sinnliche Erfahrungen der diesseitigen Welt stark gemacht wird. Das islamische Paradies erscheint hier vor allem als quantitative Überhöhung weltlicher Sinnenfreude. So prophezeit der Muslim den Gläubigen, ihre Aufnahmefähigkeit für Speisen und Trank sei dort größer als in dieser Welt. Darüber hinaus könnten sie nicht nur die Frauen lieben, die sie im Diesseits gekannt hätten, sondern viele mehr, die immer wieder aufs neue jungfräulich würden. Die Funktion des Naturorts ergibt sich im Zusammenhang mit diesen Paradiesschilderungen des Muslims. Der Heide hatte beim Aufbruch aus seiner Heimat existentielle Leere und Leid verspürt, die an seinen materiellen Besitz gekoppelt waren und durch die Sinnlichkeit des Naturorts verstärkt wurden. Diese Erfahrung stellt die eschatologischen Ansichten des Muslims in Frage, indem sie zeigt, daß sinnliche Genüsse wie die von ihm prophezeiten Leid verursachen. Die Paradiesschilderungen des Muslims sind somit an den situativen Kontext rückgebunden und werden wie die Aussagen des Juden durch ihn negativ gewertet.
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Diesen Gedanken formuliert L. Badia: «La seva recerca del sentit de l'existència el porta al bosc ideal, sfmbol de la creació muda, que reverbera de bellesa nascuda de la mà del creador, però que no pot transmetre a l'home que pregunta allò que només la Ilei de D é u explicitement pot dir. Per això el gentil cal que trobi una veu humana posseïdora del saber» (Badia 1984b /1992,6). - Die Vorstellung, daß sich die Schöpfung nicht von sich aus offenbart, sondern zu ihrem Verständnis menschliche Anleitung notwendig wird, situiert den L. del gentil diametral entgegengesetzt zu einem Text, mit dem er gelegentlich als verwandt gesehen wurde, nämlich Ibn Tufayls Risälat Hayy Ibn Yaqzän aus dem 12. Jahrhundert (Ed. Ibn Tufayl 1322 H. /1904 und Übers, bei Best 1987), wo der Protagonist gerade aus der Auseinandersetzung mit der Naturumgebung, in der er einzig auf sich selbst angewiesen ist, zur Erkenntnis gelangt. N E O R L 2,193. Die koranischen Aussagen über das Paradies stellt J. Horovitz (1975) zusammen.
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B e i einem Blick auf die Darlegungen des Christen fällt auf, d a ß er ein abstrahiertes Christentum vertritt, das, wie A . Bonner betont, die biblischen Geschichten ausblendet. 98 Der Christ unterstreicht, daß für seine Religion die Glorie im himmlischen Paradies nicht im sinnlichen G e n u ß liege, sondern in der Schau Gottes. Insbesondere ist hier die Schau der produktiven Vorgänge gemeint, die der Llullschen Kosmogonie zugrunde liegen, nämlich das Hervorgehen der göttlichen Personen auseinander und die Wirkung der göttlichen Dignitates nach außen: «On, si est en gloria e veus con lo Pare entén e ama si matex, e entenent e amant si matex e lo Ffill e sant Sperit, engenra lo Ffill e ix lo sant Sperit del Pare e del Ffill [...]; e si tu veyes engenrar e ixir en Deu inffinida bonea, granea, eternitat, poder, saviea, amor, perffecció, e veyes con totes .iii. les persones son una essencia inffinida en bonea, granea, eternitat, etc., pensar pots que gran gloria auria la tua anima, la qual gloria aurás, si entres en gloria» ( N E O R L 2, 125).
Der Anknüpfungspunkt für diese Vorstellungen des Christen auf der Handlungsebene des Dialogs liegt diesmal nicht im hortus deliciarum, durch den der Heide zunächst streift, sondern in dem anderen Naturort, den er erreicht, nachdem er einen schönen Weg, «.ia. carrera molt bella»,99 eingeschlagen hat. Hier suchen die Weisen die von den Studien ermattete Seele zu erfreuen. D e r Ort im Wald steht im Gegensatz zur Stadt, w o der Unglaube herrscht, die Menschen nach weltlichen Gütern streben und damit dem göttlichen Schöpfungsauftrag zuwiderhandeln. Diesen R a u m lassen die Weisen hinter sich, bevor sie sich begrüßen: «Con foren defora la ciutat e la un viu l'altre, adoncs se saludaren e agradablement s'aculliren e s'acompaynaren». 1 0 0 D a s lange Inventarium des ersten Naturorts wird am Ort der Bäume nicht wieder aufgerufen; es gibt bloß eine Wiese mit einer schönen Quelle und die fünf Bäume, deren Wirkung auf die Sinne keine Rolle spielt. D e r Ort zeichnet sich durch Schönheit und Ordnung (in der Baumsystematik) aus, das Quellwasser ermöglicht die körperliche Vorbereitung auf die Erkenntnis, da es dazu dient, den Durst zu löschen und den Körper zu reinigen. Auch hier scheint keine weiterreichende Bedeutungsebene angesprochen zu sein: D i e Erkenntnis vermittelt sich nicht etwa in einem illuminativen A k t durch das Trinken aus einem allegorisch-mystischen Quell, sondern durch einen rationalen Erkenntnisprozeß, der mit Hilfe der Bäume in G a n g kommt. D i e Begriffe und Bedingungen, die die B ä u m e liefern, sind dialogintern von Intel-ligència als apriorisch richtig und vernunftgemäß gesetzt, was von allen Beteiligten umstandslos akzeptiert wird. Die Schau der göttlichen Eigenschaften und der verwandten Begriffsreihen auf den Baumblüten ist auffällig parallel zum Jenseitskonzept des Christen konstruiert, der die Glorie als Theophanie versteht. Die Dignitates auf den Bäumen zu schauen, kann somit
s8 Bonner 1989,180 und 1993,15s.
99 N E O R L 2, 8. 100
N E O R L 2,9.
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als modellhafter Vorgriff auf die eschatologischen Ausführungen des Christen gewertet werden. Die Bäume sind das zentrale Verbindungselement zwischen Handlungs- und Argumentenebene des L. del gentil, denn durch den Ort der Bäume in seiner Schönheit und Ordnung, Einfachheit und Abstraktion, der allen Ankommenden Erholung bietet und sie zur Erkenntnis disponiert, wird die parallel konstruierte christliche Vorstellung von Seligkeit als Schau Gottes und seiner Dignitates autorisiert. Im Gegensatz dazu finden sich am anfänglichen Naturort des Heiden Sinnlichkeit, Unordnung und Konkretheit in der Vielzahl der Spezies und sinnlichen Eindrücke. Sie lösen Leid aus und stehen keineswegs modellhaft für die Theophanie. Das islamische Paradieskonzept fällt mit diesem leidensverbundenen hortus deliciarum zusammen, das christliche mit dem lieblichen Ort der Bäume und der dort möglichen Schau der Wahrheit. Beide Naturorte erfüllen eine wertende Funktion für die Reden der Weisen, und die ideologische Position des Textes insgesamt wird erst im Zusammenspiel von Argumenten- und Handlungsebene deutlich. 101 Zusammenfassend ist zu konstatieren, daß der L. del gentil in zeitgenössisch einzigartiger Konsequenz in seinem Formalismus die Ausgewogenheit der Darstellung postuliert und sich bis zum Ende einer expliziten Wertung der drei Positionen seitens der Figuren oder des Erzählers / Autors enthält. Bei näherer Untersuchung wird jedoch deutlich, wie er das über sich selbst aufgestellte Postulat wieder bricht. A n erster Stelle geschieht dies durch die Figur des Heiden: E r wird als vermeintlich Unvoreingenommener eingeführt, dessen Reaktionen einen Vergleich erlauben - wie wir feststellen konnten, fällt dieser von vorneherein zugunsten des Christentums aus. Verweise auf den L. del gentil in anderen Texten Llulls stützen diesen Befund: Dort wird er als Beweismittel für die Überlegenheit des Christentums angeführt. 102 Noch aufschlußreicher, auch im Hinblick auf den Dialog als Gattung, erscheint jedoch
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,(>2
A . Bonner hatte den situativen Kontext vor allem in seiner Köderfunktion gesehen: «no debemos perder de vista que todo este aparato literario, por agradable y bello que sea, no es más que una estratagema para hacer más aceptable el corazón de la obra, no es más que la capa azucarada para hacer más sabrosa la pildora cuyo contenido real es el A r t e luliana dirigida directamente hacia la apologética» (Bonner 1978, 54). Es ist dagegen L. Badia recht zu geben, wenn sie einwendet: «el Gentil té un caire novel lesc i poètic que li és consubstancial. El marc narratiu on apareix el no és un pur embelliment afegit per daurar la píndola amarga del contingut doctrinal, sino que forma una unitat indestriable amb aquest contingut doctrinal» (Badia 1984b /1992, 27). Der L. del gentil gehört mit zehn Nennungen zu den innerhalb des Llullschen Korpus am häufigsten selbstzitierten Titeln (Bonner 1978,49). Im L. define heißt es über den L. del gentil: «Quo ad theologiam libri nostri supra dicti essent ualde boni, et inter alios ; in quo christianus, Saracenus et Iudaeus coram quodam gentili de ueritate disputant. E t de fide per illum librum possent cognoscere, si uolebant, quod sancta fides catholica obtinet ueritatem, et quod Iudaei in errore sunt, et etiam Saraceni» ( R O L 9, 267). - Ähnlich eindeutig heißt es im L. d'amie i amat: «-Digues, foli, en què has conexença que la fe cathòlica sia vera, e la creença dels jueus e dels sserrayns sien en falsetat e error? Respòs: -En les .χ. condicions del Libre del gentil e dels tres savis» (Ed. Llull 1995a, 163).
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die Feststellung, daß verschiedene Elemente der Handlungsebene des Dialogs mit den Reden der Figuren in ein Wertungsverhältnis treten. Es ist insbesondere dieses Zusammenwirken, durch das einzig das Christentum in ein vorteilhaftes Licht gerückt wird. D e r L. del gentil realisiert somit eine der interessantesten Optionen, die der Dialog als Gattung bietet. Kontext und Figurenrede sind aufeinander bezogen und ohne Bedeutungsveränderung des Gesamttextes nicht dissoziierbar, mithin eine Komplexität, wie sie die konkurrierende Gattung des Traktats nicht erreichen kann. Diese Komplexität steht im Dienste des persuasiven Ziels: Es wird Objektivität simuliert, die dank der Dialogstruktur eingeführt und gleichzeitig wieder unterlaufen werden kann.
II.6 Wahrheit zwischen Offenbarung und Ars lulliana D e r L. del gentil vermeidet es trotz seines «offenen» E n d e s streng, den Gedanken an eine Gleichwertigkeit der Religionen im Sinne der gleichzeitigen Gültigkeit des Unterschiedlichen aufkommen zu lassen. Vielmehr wird immer wieder betont, daß herauszufinden sei, welche der drei auf dem Weg des Heils gehe: D a ß eine dies tue und zwei nicht, bleibt unausgesprochen, aber impliziert. Immer wieder findet sich die Polarität via vera vs. error. «Lo gentil pregá los .iii. savis [...], que ells s'esputassen denant eli, [...] per tal que eli veés quals d'ells era en via de salut. E los savis [...] ja eren en volentat que s'esputassen per enquere e saber qual de ells era en via vera, ni qual en error» (NEORL 2,45). Auch am Ende bleibt es bei einer einzigen Wahrheit, für die man sich unter drei Optionen entscheiden kann, ohne daß daraus eine dilemmatische Situation entstehen würde. D e r Heide spricht zwar nicht aus, wofür er sich entscheidet, doch es bleibt eindeutig, daß er sich für eine einzige Religion entschieden hat, der er uneingeschränkt folgen wird: «Vull, en presencia de vosaltres seynors, triar e eleger aquella lig qui m'es signifficada eser vera, per la gracia de Deu e per les paraules que vosaltres m'avets dites. E en aquella lig vull eser, e per aquella a honrar e a maniffestar vull treballar tots los jorns de ma vida» (NEORL 2, 206, Hervorhebungen von R. F.). Auch unter den drei Weisen bleibt es unbestritten, daß eine für alle verbindliche Wahrheit durch Disputation aufgefunden werden soll. Solange es zu dieser Gemeinsamkeit nicht kommt (und tatsächlich verschiebt sie der Text in eine weite Ferne), liegt das nicht an einer mangelnden Einheit der Wahrheit, sondern an der mangelnden Fähigkeit der Menschen, von ihren auf Irrtümern beruhenden Traditionen abzurücken. Nicht die Frage nach einer Vielheit von Wahrheit bildet die Stoßrichtung des L. del gentil, sondern vielmehr der Status der einen Glaubenswahrheit als Vernunftwahrheit - eine Kongruenz, die in der gesamten Llullschen Textproduktion programmatisch bleibt. Die eine Wahrheit wird auf rationaler Grundlage mit Hilfe der als apriorisch richtig gesetzten A r s lulliana gesucht, wobei sich das Erkennen dieser Wahrheit als A k t der göttlichen
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Gnade und Erleuchtung gestaltet. Im Wahrheitsbegriff bei Llull fällt demnach ein traditioneller Aspekt - die christliche Offenbarungswahrheit - mit einem innovativen, Llullsch-artistischen Aspekt zusammen. Letzterer bekommt auf autobiographischer Ebene ebenfalls Offenbarungscharakter. Das Spannungsfeld um den Wahrheitsbegriff baut sich daher nicht um die Frage der Einheit oder Vielheit der Wahrheit auf, sondern um die Frage des Verhältnisses der beiden Aspekte. Im L. del gentil wird der dogmatisch-traditionelle Aspekt von den drei Weisen konkurrierend dargebracht, der Llullsche einzig von Intel-ligència. Nach ihrer Deklaration tritt sie ab, denn das Gesagte ist nicht diskutierbar, so daß sie nicht am Dialog teilzunehmen braucht. Die von Intel-ligència verkündete Wahrheit, die in den Grundbegriffen der Ars tulliana auf den Bäumen besteht, erhält damit einen quasi metaphysischen Status, während das Christlich-Dogmatische zu beweisen bleibt. Beide Aspekte von Wahrheit widersprechen sich einander keineswegs; vielmehr ist, wie bereits gezeigt wurde, das Gegenteil der Fall: Sie stehen in einem Komplementaritätsverhältnis. Dennoch kann zuspitzend formuliert werden, daß hier die Beweislast für die Wahrheit umgekehrt wird: Die als unbezweifelbar dargestellte, durch die personifizierte Figur autorisierte Wahrheit geht auf den Autor des L. del gentil zurück, nicht auf die christliche Offenbarung. Die Komplementarität der beiden entschärft die Brisanz der Konstellation, doch liegt nicht umsonst hier der Grund für den Jahrhunderte schwelenden Streit um die Indexierung der Llullschen Schriften. Das Ziel der Angriffe war dabei niemals eine vermeintlich nivellierende Darstellung der Religionen im L. de gentil, wie es manche der heutigen Interpretationen des Textes glauben machen könnten, sondern immer die Frage der rationalen Beweisbarkeit der Glaubensmysterien. I0 3 Im Spannungsfeld zwischen den beiden Wahrheitskomplementen stützt textintern die Llullsche Wahrheit, wie wir sehen konnten, das Christentum. Textextern, in der Rezeption, dreht sich die Beweislage um, da der L. del gentil ohnehin fast ausschließlich Leser mit christlichem Hintergrund gefunden haben dürfte. Während der Dialog vorgibt, die Ars tulliana als Beweismittel auf die Religionen anzuwenden, wird er mit seinem das Christentum bestätigenden Resultat beim christlichen Leser umgekehrt zur Apologie der Ars tulliana, denn er führt deren Funktionstüchtigkeit für die Mission vor Augen. Die Ars erhält dadurch, wie es A. Bonner (1993) formuliert hatte, den Status einer neuen Autorität, 104 und der L. del gentil entfaltet in der Verteidigung der Einheit der Wahrheit eine doppelt apologetische Wirkung. Hier konvergieren zunächst die Schönheit sinnlicher Darstellungselemente, dann die gedankliche Abstraktion und Ordnung in dem einen Ziel der Vereinigung von Llullscher vernunftgemäßer Methode und christlichem Glauben.
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3 Madre 1973. Tusquets 1988 hatte zeitgenössische Atheisten in der Figur des Heiden dargestellt gesehen und sie als zweite Zielgruppe des Textes neben den Muslimen benannt. Auch wenn man dieser Argumentation nicht folgt, ist der Hinweis auf die Funktion in der internen Mission für den L. del gentil sicher richtig.
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III. Der Liber Tartari
Mit dem Liber Tartari endet eine erste Serie von Llullschen Dialogen, die sich über die siebziger und achtziger Jahre des 13. Jahrhunderts verteilt und vor dem theoretischen Hintergrund der älteren der beiden Hauptphasen der Ars tulliana entsteht. Der Doppeltitel Liber super psalmum Quicumque vult sive Liber Tartari et Christiani1 des in zwölf Handschriften nur lateinisch überlieferten Dialogs verweist bereits auf dessen Handlungsebene mit den beiden Hauptsprechern und auf seine Argumentenebene, die darin besteht, daß ein kanonischer Text zu den fundamentalen Glaubenswahrheiten kommentiert wird. In formaler Hinsicht gehört Llulls Dialog damit auch zur Kommentarliteratur sowie zur mittelalterlichen katechetischen Literatur. 2 Invokation und Prolog des L. Tartari weisen als Z w e c k des Buchs die Hinführung der Ungläubigen zum ewigen Leben aus, und ein solcher Ungläubiger wird im Anschluß in Person eines tatarischen Mongolen (Tartarus)3 in der Exposition unter dem Zwischentitel De consideratione cuiusdam Tartari vorgestellt. Er lebt in einem islamischen Land und gelangt als Philosophiekundiger eines Tages in seinem Bett zu dem Wunsch, einer Religion anzugehören, die ihn zur ewigen Glücksseligkeit führen möge. Noch auf dem Weg zur Unterrichtung bei einem Juden überkommen ihn Zweifel, ob es angebracht sei, Haus, Familie und Wohlstand zu verlassen. Er kehrt zur Verehrung von Götzen zurück, doch der Tod eines ihm bekannten Soldaten führt ihm die Vergänglichkeit weltlichen Seins vor Augen, woraufhin er schließlich doch den Juden in seinem Haus aufsucht. Dieser erläutert dem Mongolen erfreut die biblischen Geschichten und die Hoffnung auf den Messias, worauf der Mongole unumstößliche Beweise verlangt, denn sein neuer Glaube solle sich auf Verstandeswissen gründen. Die Ansätze des Juden zum Beweis befindet er für unzureichend und wendet sich, weiter zweifelnd, an einen Muslim, den er bei der Koranlesung mit seinen Schülern antrifft. Während der Mongole auf das Ende der Lesung wartet, hört er zu, wie der Gelehrte die Verlockungen des Paradieses preist. Auf die Frage des Mongolen, was der Koran
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Die bisher einzige Edition ist die von I. Salzinger in M O G 4, 347-376 aus dem Jahr 1729. Die Typen dieser Literatur, die im 16. Jahrhundert von den eigentlichen Katechismen abgelöst wird, stellt D. Harmening (1987) vor. Tartari ist eine mittelalterliche Verballhornung des Namens des mongolischen Volksstamms der Tataren im Anklang an Τάρταρος, die Unterwelt in der griechischen Mythologie.
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vom Wesen Gottes sage, räumt der Muslim ein, solche Dinge seien im Diesseits nicht erkennbar. Der Mongole hält eine Religion und einen Propheten, die dem Sinnlichen den Vorrang vor dem Geistigen zuweisen, für unpassend, worauf ihn die Muslime beinahe umbringen. Als er eine Konversion auf der Grundlage von Vernunftgründen in Aussicht stellt, bringt der islamische Gelehrte die Macht der Muslime über Jerusalem und die unübertreffliche sprachliche Schönheit des Koran vor. Der Mongole läßt diese Argumente nicht gelten und verläßt die Versammlung. Nach einer Wanderung über Berge und durch Ebenen gelangt er an eine einsame Kirche, wo ihm ein Eremit die christlichen Glaubensartikel aufzählt, rationale Einwände gegen sie aber ebenfalls nicht ausräumen kann. Als sich der Mongole am nächsten Morgen bereits zur Rückkehr nach Hause entschieden hat, sieht er den Eremiten in der Messe die Hostie erheben, wundert sich weidlich und erklärt den Glauben des Eremiten für Unsinn. Dieser weist ihm daraufhin den Weg durch eine Wüste zu Blanquerna, der dort Buße übt.4 Der Mongole trifft Blanquerna, wie er in Priesterkleidung am Sonntag in einer Kirche auf einem Berg die Messe liest. Nach dem Heilsweg und der Transsubstantiationslehre gefragt, bedauert Blanquerna die schwere Zugänglichkeit des Glaubens. Der Mongole hofft, im Vertrauen auf seine eigene wissenschaftliche Ausbildung und auf Gott, Glaubensbeweise verstehen zu können, und die beiden beginnen eine gemeinsame Lesung von Quicumque vult salvus esse, dem athanasischen Glaubensbekenntnis. Nach dieser ausführlichen Exposition beginnt das eigentliche Gespräch, in dem Blanquerna die 35 Teile des Glaubensbekenntnisses kommentiert und auf die regelmäßigen Nachfragen und Einwände des Tartarus eingeht. Nach dem Abschluß seiner Ausführungen hält Blanquerna den katholischen Glauben als den einzigen heilbringenden für bewiesen und fordert den Mongolen auf, vom Papst mögliche Irrtümer in seiner Darstellung tilgen zu lassen. In der Konklusion fragt der Mongole nach der Bedeutung des kleinen Brotes (panis), das Blanquerna am Altar gegessen habe, was dieser mit einer größeren Einlassung über das Altarsakrament beantwortet. Schließlich beteuert der Mongole, in Blanquerna den Heiligen Geist handeln zu spüren, weint vor Freude und hebt zu einem Dankesgebet für seine Bekehrung an. Nach weiteren Gebeten bittet er
An der Figur des Blanquerna überrascht die Tatsache, daß er einen individuellen Namen trägt. Blanquerna ist auch der Protagonist des gleichnamigen Romans, dessen Teilbuch L. d'amie i amat in lateinischer Übersetzung regelmäßig in den Handschriften zusammen mit dem L. Tartari erscheint, cf. Soler 1992, 1 if. Der Name Blanquerna scheint ursprünglich mit dem Ort Βλαχέρναι bei Konstantinopel und der dort verehrten Marienstatue sowie mit dem gleichnamigen Kaiserpalast in Verbindung zu bringen zu sein, der kurz vor dem Entstehen des Romans von Michael VIII. Palailogos wieder instandgesetzt worden war (cf. zur Blachernenkirche Berger 1988, 534-541). Tatsächlich lautet der bei Llull für den Romantitel verwendete Name in der ältesten Überlieferung Blaquerna ohne n. Das möglicherweise volksetymologisch im Anklang an blanc eingesetzte η erscheint jedoch bereits gelegentlich im einzigen katalanischen Ms. des Romans, und die Namensversion Blanquerna ist die heute allgemein geläufige. Cf. Badia 1988 /1992, 163 mit Hinweisen zur vorgängigen Literatur zu dieser Frage.
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Blanquerna um die Taufe. Dieser verweist ihn jedoch an den Papst und hält ihn vor seiner tränenreichen Abreise für die Zukunft dazu an, in seinem Heimatland zu predigen. A n der Kurie eingetroffen, nimmt der Mongole an einer Messe des Papstes teil und wendet sich danach an ihn, um ihm seine Geschichte zu berichten, ein Buch über das zwischen ihm und Blanquerna Vorgefallene zu übergeben und die Taufe zu erhalten. Auf eigenen Wunsch wird er wegen der Großmut Gottes (largitas) auf den Namen Largus getauft. Als der Papst ihm eine Bitte gewähren will, schlägt Largus die Übersetzung und Verbreitung des Buchs unter den Ungläubigen vor und bittet um einen Brief für den Herrscher (rex) der Mongolen, den er überbringen möchte. Beim Aufbruch in seine Heimat tut Largus einem Kleriker kund, er wünsche sich viele Botschafter wie er selbst es sei, worauf ihm entgegengehalten wird, die Vernichtung der Ungläubigen im Krieg sei der Mission vorzuziehen. Vor dem Papst wird daher eine Disputation zweier Kleriker über diese Frage veranstaltet, womit der Dialog endet.
III. ι Europäische Mongolenpolitik und Llullsche Stellungnahme Der Siegeszug der Mongolen ist in Westeuropa seit dem Eintreffen der ersten, Schrecken erregenden Nachrichten über sie am Ende der dreißiger Jahre des 13. Jahrhunderts ein tagespolitisches Thema, in das sich auch die Diplomatie von Katalonien-Aragon wiederholt einbringt. Die politischen Konstellationen ändern sich dabei schnell. Das erste Konzil von Lyon 1245 war noch vom völligen Unwissen der Europäer über ein Volk geprägt, dessen Zugehörigkeit zur Menschheit als nicht gesichert galt. Erst die Berichte der europäischen Expeditionen unter Giovanni Pian Carpini und Willem van Rubroek heben den Informationsstand über die Eroberer von Bagdad, Damaskus und Breslau wesentlich. 5 Schon 1268 erwirkt die Gesandtschaft unter dem Katalanen Jaume Alarich einen Brief des mongolischen Il-Khans A b a q a aus Persien an Papst
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D a s Standardwerk zur mongolischen Geschichte (Weiers 1986) behandelt diese aus interner Sicht. Z u r europäischen Wahrnehmung der Mongolen cf. dagegen G. Soranzo (1930), was die Ereignisgeschichte betrifft, und G. A . Bezzola (1974), wo die europäischen Quellentexte vorgestellt werden, sowie insbesondere F. Schmieder (1994). Bezzola macht die erste ausführlichere europäische Schilderung der Mongolen bereits zur Mitte der dreißiger Jahre im Bericht des Dominikaners Julian aus, während die Mehrzahl der Schreckensberichte in der ersten Hälfte der vierziger Jahre eintrifft. Entscheidend bleiben Pian Carpinis Historia Mongolorum (Ed. Pian Carpini 1989) und Rubroeks Relatio (Ed. Rubroek 1929), deren erstere insbesondere durch die Einarbeitung im Speculum historíale von Vincent de Beauvais verbreitet wurde (Klopprogge 1993,225). A . Klopprogge zeigt im zeitgenössischen Mongolenbild eine Opposition zwischen Reiseberichten und eschatologischer Deutung, einem Verständnis, das bei Llull vollständig der konkreten politisch-strategischen Auseinandersetzung mit den Mongolen weicht. M. Münkler (2000) untersucht die genannten Mongolenberichte sowie die Texte von Marco Polo und Jean de Mandeville unter Aspekten des Kulturkontakts; bislang konnten als Einführung zu den Mongolen in der mittelalterlichen Literatur die Bemerkungen bei J. Richard (1966 /1977, xxi) gelten.
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Clemens IV., in dem diesem eine Dreierallianz mit Katalonien-Aragon gegen die ägyptischen Mamlüken vorgeschlagen wird. Die Flotte, die Jaume I. im Rahmen seiner expansiven Mittelmeerpolitik im folgenden Jahr daraufhin in die Levante schickt, erreicht allerdings aufgrund eines Unwetters nur stark dezimiert ihr Ziel. 6 Wenige Jahre später gehört auf dem Zweiten Lyoner Konzil 1274 neben der Vereinbarung einer Union mit der griechisch-orthodoxen Kirche (die 1283 wieder gelöst wird) die Mongolenpolitik zu den wichtigsten behandelten Punkten. 7 Es wird eine mongolische Gesandtschaft empfangen, aus der zwei der Botschafter zum Christentum konvertieren Jaume I. ist in Begleitung von Ramon Martí als einziger der geladenen abendländischen Monarchen anwesend. Die diplomatischen Kontakte setzen sich in den neunziger Jahren mit direkten Gesandtschaften Jaumes II. an den Il-Khan fort, sollten jedoch nie zu einer formellen Koalition führen. Ramon Llull ist mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst auf eine mongolische Gesandtschaft getroffen, als 1287 bis 1288 der Nestorianer Rabban Sauma für den Il-Khan nach Rom, Genua und Paris reist. 8 Bereits vor dieser Gelegenheit hatte sich Llulls Interesse an den Mongolen mehrfach in seinen Schriften niedergeschlagen: Im Blanquernaroman gibt der Titelheld, nachdem er zum Papst ernannt wird, einem seiner Bischöfe den Auftrag, fünfzig Mongolen und zehn christliche Mönche in einem eigens errichteten Kloster zu versammeln, damit sie sich gegenseitig Sprachunterricht erteilen. Daraufhin bekehren sich dreißig der Mongolen, reisen zum Großkhan und bringen ihn zur Konversion. In seinen weiteren Missionsbemühungen sendet Blanquerna als Papst einen Bittbrief und Edelsteine, damit der mongolische Herrscher der Türken den päpstlichen Missionaren die Predigt erlaubt. 9 Auch in Llulls zweitem großen Roman Félix o Llibre de meravelles berichtet ein Eremit von einer Person mit Zügen des historischen Llull, die dem französischen König und der Pariser Universität den Bau von Klöstern zum gegenseitigen Spracherwerb von Christen und Mongolen anträgt. Diese sollen nach ihrer Konversion gemeinsam mit den Christen die Muslime unterwerfen.
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Dazu A . Häuf (1989, 23-28). Die Briefe der päpstlich-mongolischen Diplomatie sind untersucht und ediert bei K.-E. Lupprian (1981). Den weiteren Kontext von Llulls Beziehung zum Orient schildert J. Gayà (1997) sowie die genannte Arbeit von F. Schmieder (1994); zum Kreuzzug von Jaume I. cf. Gayà 1997, 39s. und Schmieder 1994- 99· Z u r Konzilseröffnung nennt der Papst den Mongolensturm zusammen mit dem Sittenverfall unter den Klerikern, der islamischen Herrschaft im Heiligen Land, dem griechischen Schisma und dem Konflikt mit Friedrich II. (Wolter 1966, 63). Von A . Bonner (1980) ist bereits darauf hingewiesen worden, daß der L. Tartari im Zusammenhang mit dieser Gesandtschaft zu stehen scheint. Llull hielt sich 1287 zeitgleich zu ihr sowohl in R o m als auch später in Paris auf, wo er den L. Tartari verfaßt haben dürfte. Die Möglichkeiten für ein Zusammentreffen wägt A . Soler (1992, 5-9 und 13) ab. Cf. auch Gayà 1997,41-45. Erstmals hatte J. Borrás (1909) auf Llulls Äußerungen über die Mongolen hingewiesen. Die beiden Episoden stehen in den Kap. 80 und 88 von Blanquerna, O E 1, 232 und 248. Cf. auch das Gebet des Mönchs in Kap. 61, O E 1, 199s.
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Der Llibre de Sancta Maria (1290-92) ist die späteste literarische Schrift Llulls, in der die Mongolen vorkommen. Die personifizierte Lausor (Lob) beklagt sich im Gespräch mit Oració (Gebet) über das geringe Engagement der Katholiken für das Gemeinwohl, was ganz im Gegensatz zu dessen hohem Stellenwert bei den Römern in der Antike stehe. Oració entgegnet, daß die jüngst erschienenen Mongolen mit Hilfe ihrer starken Liebe zum eigenen Gemeinwohl begonnen hätten, die Weltherrschaft anzutreten, und daß zu befürchten stehe, Gott werde die Christen bei weiteren Verfehlungen zur Strafe solch bestialischen Völkern unterwerfen. Seit Anfang der neunziger Jahre finden sich Llulls Äußerungen über Mongolen vorwiegend in einer anderen Art von Schriften, nämlich in politischen Strategietraktaten, 10 die vor allem zur baldigen Missionierung der vor «siebzig Jahren von den Bergen herabgestiegenen» 11 Mongolen auffordern, bevor die Muslime den Christen zuvorkommen und die Mongolen mit der G a b e von Frauen und Gütern sowie mit ihren sinnlichen Paradiesvorstellungen zum Übertritt zum Islam verlocken. Auch hier wird der Bau von Sprachlehreinrichtungen im christlichen und mongolischen Herrschaftsbereich angeregt, wo Mongolen und zum Martyrium bereite Christen unterrichtet werden. 1 2 Vor dem Hintergrund von Rubroeks Expeditionsbericht, der anschaulich macht, daß selbst vor dem Großkhan Religionsgespräche denkbar waren und anscheinend durchgeführt wurden, 13 sind Llulls Forderungen im zeitgenössischen Zusammenhang keineswegs verstiegen, sondern diskutierbar und realistisch zu nennen. Llulls Eingriffe in die Tagespolitik erreichen mit seinen fortdauernden Reisen und Petitionen erst in den Jahren nach seinem ersten Aufenthalt in Paris 1288 die Intensität, die sie bis zu seinem Lebensende behalten werden. Der L. Tartari entsteht damit an einem biographischen Wendepunkt, auf den
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Cf. Quomodo Terra Sancta recuperari potest, Petició a Nicolau IV (Ill.ioa / b, 1292), Petició a CelestíV (III.15, 1294), Petitio Raimundi pro conversione infidelium ad Bonifacium Vili (III.21, 1295), schließlich den L. de fine (III.72, 1305) und einen nicht sicher datierbaren Brief, der bei E. Martène / U. Durand (1717, col. 1315-1319) unter drei Epistulae Raimundi Lulli ad universitatem Parisiensem ediert ist; Neuedition mit Übersetzung im Llullschen Dokumentenkorpus (Hillgarth 2001, 55-58). In den spätesten Strategietraktaten ist nicht mehr speziell von den Mongolen, sondern nur mehr vom Orient im allgemeinen die Rede, cf. Liber de acquisitione Terrae Sanctae (IV. 12, 1309) und Petitio Raimundi in Concilio generali ad adquiriendam Terram Sanctam (IV.46a, 1311). Im L. de fine aus dem Jahre 1305 heißt es: «Nam septuaginta anni sunt elapsi, quod Tartari a montibus descenderunt» ( R O L 9, 268). Llull setzt das Auftauchen der Mongolen also etwa 1235 an, als am englischen Hof tatsächlich die ersten Nachrichten über sie eintrafen. Die Idee der Ausbildungsklöster ist in Llulls Werk omnipräsent und wird in der Vita coaetanea als eine der drei Zielvorstellungen genannt, die aus Llulls Bekehrungserlebnis von 1263 hervorgingen. Cf. das Kap. 33 im Reisebericht von Rubroek (Ed. Rubroek 1929,289-297), wo eine Disputation vor dem Großkhan zwischen dem Reisenden, einem Nestorianer, einem Muslim und einem Buddhisten dargestellt ist.
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bereits A . Llinarès hingewiesen hatte, als er mit diesem Jahr le temps de l'action in Llulls Leben ansetzt. 14 Es eröffnet sich die Frage, inwieweit die geschilderten zeitgeschichtlichen Umstände, in denen Llull als politischer Aktant auftreten sollte, im L. Tartarí aufgegriffen werden. Die Exposition des Dialogs hat durch ihren mehrfachen Schauplatzwechsel betont narrativen Charakter. Jeder der fünf Protagonisten wird in der ihm eigenen Umgebung vorgestellt: der Mongole zu Hause in seinem Bett, der Jude in seinem Haus, der Muslim in seiner Lehrstätte, der Eremit in einer einsamen Kapelle und Blanquerna in einer Kirche auf einem Berg in der Wüste. Die typisierende Wahl dieser Räume ist offensichtlich. Sie sind in ansteigender Reihe von einem lebensweltlich zu einem asketisch-geistig geprägten Raum angeordnet, in dem das zentrale Gespräch stattfindet. Parallel dazu sind die Figuren bei für sie charakteristischen Tätigkeiten dargestellt: der noch heidnische Mongole in der Auseinandersetzung mit Menschen - sich selbst, seiner Familie und einem Freund - , der Jude im Gespräch über Religion, der Muslim bei der Lektüre und Lehre, der Eremit bei der Buße und Blanquerna im Priestergewand beim Lesen von Quicumque vult salvus esse in der Messe. Auch die Handlungen der Figuren bilden somit eine Reihe, die bei dem rein auf die Welt bezogenen Agieren des Mongolen beginnt. Der Jude beschränkt als zweiter seine Darstellungen auf die Wiedergabe der alttestamentlichen Geschichten, während der Muslim und seine Schüler sich, wenn auch in einer sinnlichen Bildlichkeit, bereits mit dem Jenseits auseinandersetzen. Der christliche Eremit lebt seinen Glauben in traditionellen Formen, weist jedoch keinen Text vor, der eine rationale Überprüfbarkeit ermöglichen würde - die Messe des Eremiten bleibt für den Mongolen im übertragenen Sinne stumm. 15 Erst Blanquerna macht den letzten Schritt von der im Sinnlichen verharrenden zur rationalen Auseinandersetzung mit den im Text überlieferten Glaubensinhalten. Die Figuren in der Exposition bleiben in dieser sinntragenden Anordnung und ihrem paradigmatischen Charakter fern jeglichen Verweises auf die historische Realität der abendländischen Kontakte mit den Mongolen. Auch außerhalb des Dialogs, in Llulls politischen Traktaten, bleiben die Äußerungen über die Mongolen im Rahmen des zeitgenössisch Geläufigen und lassen sich in ihrer informativen Dürre auf keine konkrete Quelle festlegen. Trotzdem werden die Figuren im L. Tartari in für sie charakteristischen, lebensweltlichen Zusammenhängen eingeführt, die in keinem der Fälle den Idealisierungsgrad des Ortes der Bäume im L. del gentil erreichen. Dort treffen
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Cf. das zweite Kapitel bei Llinarès 1963. Auf die inmitten der Messe gestellte Frage nach der Eucharistie geht der Eremit nicht ein, doch auch danach läßt er den Mongolen im unklaren über die Bedeutung seiner Handlung: «[der Mongole] invénit Eremitani celebrantem Missam, qui, cùm elevaret Corpus Christi, dixit ei Tartarus, quid est, quod facis? & ille non respondit ei quidquam; Missâ verò celebratâ Eremita dixit ei, nostrae consuetudinis est, quòd nos nihil loquamur, nec intendamus alienis sermonibus, dum sumus in Sacrificio Corporis Christi» ( M O G 4, 350).
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sich die Protagonisten ausdrücklich außerhalb ihrer städtischen Lebenswelt an einem idealisch neutralen Ort, an dem die Bäume und die Personifikation weg von der materiellen Welt weisen. Eine Reihe historischer Particularia verankert im Gegensatz dazu den L. Tartari in der realen Welt: Dem Tartarus, seiner Heimat in finibus Saracenorum, den lebensweltlichen Schauplätzen und konkreten Büchern (Libri Historiarum, Alcoranus und Psalmus Quicumque vu.lt) stehen im Vergleichstext ein unspezifischer gentil aus einer terra estranya, ein idealischer Naturraum sowie Artikelkataloge ohne Namen gegenüber. Besonders deutlich wird die stärkere lebensweltliche Bezugnahme in der Konklusion, als der Mongole an der römischen Kurie erscheint, die päpstliche Messe verfolgt und sich taufen läßt. A . Bonner weist auf die Parallelen, die diese Episode zum historischen Aufenthalt der Gesandtschaft von Rabban Sauma in Rom erkennen läßt. 16 A . Soler relativiert dagegen einen unmittelbaren Bezug darauf mit dem Argument, bereits auf dem Zweiten Lyoner Konzil habe mit der Bekehrung der mongolischen Botschafter Vergleichbares stattgefunden, so daß ein eindeutiger Verweis nicht gegeben sei. 17 Tatsächlich sind eine Reihe von Anknüpfungspunkten zwischen dem Zweiten Lyoner Konzil und dem L. Tartari erkennbar. Neben der dort behandelten Mongolenfrage und der Konversion mongolischer Botschafter ist an den Unionsversuch mit der griechisch-orthodoxen Kirche zu denken. Von der griechischen Gesandtschaft auf dem Konzil wurde das Glaubensbekenntnis von Michael Palailogos verlesen, in dem das von der Westkirche postulierte Hervorgehen des Heiligen Geistes aus Gottvater und Sohn anerkannt wird. A . Soler weist darauf hin, daß das Glaubensbekenntnis Quicumque vult salvus esse inhaltlich insbesondere als Auseinandersetzung mit den Ostkirchen, vor allem den Nestorianern, konzipiert ist,' 8 so daß aus dieser Perspektive Llulls L. Tartari erneut an die mongolische Gesandtschaft unter Rabban Sauma erinnert. 19 Allerdings dürfte der Nachweis eines unmittelbaren entstehungsgeschichtlichen Zusammenhangs mit dem Konzil schwer zu erbringen sein. In jedem Fall bindet sich der L. Tartari durch die Präsenz von Particularia auf der Handlungsebene stärker an historisches Geschehen als der L. del gentil. Besonders deutlich wird dies, als Largus sich vom Papst missionarische Maßnahmen wünscht. Bereits der Hinweis auf die päpstliche Macht im geistlichen und physischen Bereich («potestas in virtutibus spiritualibus et etiam corporalibus») 20 deutet an, daß Largus für den Einsatz sowohl der Mission als auch des Militärs für die Propagierung des Glaubens eintritt. Darauf bietet er sich selbst an, um als Missionar und Briefbotschafter an den Mongolenherrscher zu dienen. Schließlich löst er zwischen zwei Klerikern ein Streitgespräch über den Einsatz von zum Martyrium bereiten Predigern
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Bonner 1980,78. Soler 1992,9. Soler 1992,14-18. Cf. auch Anm. 8 und 16 in diesem Kapitel.
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oder eines Heeres unter einem Kriegerfürsten aus, dessen Lösung offenbleibt. Die Positionen beider Kleriker finden sich in den Maßnahmenkatalogen aus Llulls Strategietraktaten und Petitionen wieder. 21 Die stärkere lebensweltliche Einbindung des L. Tartarí spitzt sich somit auf ein konkretes politisches Eingreifen zu, das mit der Konklusion des Textes vom Papst und der Kurie gewünscht wird. Im Hinblick auf dieses vom L. Tartari propagierte Eingreifen ist es aufschlußreich, die Gesprächskonstellation des Dialogs zu untersuchen. Der Mongole weist in der Exposition vor allem zwei Merkmale auf: Erstens beschäftigt ihn unablässig die Frage nach der menschlichen Vergänglichkeit 22 und zweitens bringt er Intelligenz und eine ausgeprägte philosophische Bildung mit. 23 Die Einwände, die er an die drei zuerst besuchten Religionsvertreter richtet, entstammen einer rationalistischen Denkweise, mit der ein uneingestandenes Vorwissen über die drei Buchreligionen einhergeht, das sich in der Stoßrichtung seiner Kritik an den jüdischen und islamischen Vorstellungen äußert. So übernimmt er Positionen, die aus der christlichen Religionspolemik bekannt sind, wenn er den Juden fragt, ob seine Religion nicht die Vorbereitung von Christentum oder Islam sei, oder wenn er dem Muslim entgegenhält, Gott könne die islamische Herrschaft über Jerusalem so eingerichtet haben, damit die Christen sich in ihrer unterlegenen Lage besser Verdienste erwürben. Vor der Unterrichtung über die christlichen Glaubensinhalte wirft er bereits in theologischer oder sogar spezifisch Llullscher Terminologie dem Muslim vor, nur die göttliche Produktivität in der materiellen Welt (opus extrinsecus) zu betrachten und darüber die produktiven Vorgänge der Dignitates untereinander (opus intrinsecus) zu vernachlässigen, die sich daraus ergeben, daß die Dignitates in Gott ineinander umwandelbar sind. In der Mehrzahl der Gesprächsabschnitte greift der Mongole durch Fragen ein, ohne dabei von dem durch das athanasische Glaubensbekenntnis bestimmten Schema der Erörterungen abzuweichen. Mehrfach stimmt er den Erläuterungen ausdrücklich zu oder stellt Fragen, die Blanquernas Terminologie aufnehmen und an seine Argumentationen anschließen. Im fünften Kapitel bringt er bereits eine Argumentation in Llullscher Terminologie vor, wenn auch Blanquerna sie als Fehlschluß entlarvt. In einigen der folgenden Kapitel erhebt er logische Einwände und stellt einfach formulierte Fragen, bis er sich in den
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M. Münkler (2000, 76) konstatiert in den zeitgenössischen missionstheoretischen Äußerungen eine zunehmende Trennung der Positionen der Mendikantenorden und der Kreuzzugspropagandisten. Diese spiegelt sich im Streit der beiden Kleriker im L. Tartari wider. Immer wieder tauchen Begriffe auf, die auf dieses Bedürfnis hinweisen: consideravit, anxietas, urgere, desideravi und afflictio. In der Exposition wird er «valde sapiens & eruditus in Philosophie» genannt, später weist er sich als Experte in den Naturwissenschaften aus: «Philosophia non negabit mihi Secreta naturae, quae diu acquisivi cum laborioso studio & sum expertus in pluribus scientiis, & jam habeo exercitium studii, quia natura mihi dedit satis excellentem intellectum» ( M O G 4,347 bzw. 351).
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späteren Teilen selbstbewußter äußert, 24 sich aber weiterhin auf kurze Einwürfe beschränkt, die Blanquerna ermöglichen, seine Erläuterungen voranzubringen. Der Mongole ist ein begieriger, gelehriger und in Maßen kritischer Schüler, der sich über Blanquernas Methode und Ausdrucksweise anfangs zwar kräftig wundert, 25 sich diese aber schnell und voll Bewunderung aneignet. Am Ende der Beweisführung fragt der Mongole nach dem, was seinem Verstand am stärksten fremd geblieben ist: die Transsubstantiation in der Eucharistie. Während seines langen Überlegens über Blanquernas Ausführungen zu dieser Frage wird ihm die göttliche Gnade zuteil. 26 Das Nachdenken über die Wandlung des Brots in den Leib Christi führt damit zur Verwandlung des Materialisten in einen Christen. A n dieser Stelle deutet sich die für den L. Tartari kennzeichnende Verschränkung der Handlungs- mit der Argumentenebene erstmals an, die im folgenden genauer untersucht werden soll. Für die Gesprächskonstellation ist es zunächst ausschlaggebend, daß der Mongole die Rolle eines maßvoll kritischen Schülers einnimmt, der sich am Gesprächsende unmißverständlich bekehrt und Blanquernas Positionen vollständig übernimmt. Ideologische Alternativen, wie sie die anderen Religionsvertreter in der Dialogexposition vorbringen, werden nur in unvergleichbar kürzerer Form dargestellt und erweisen sich durch den reihenartigen narrativen Verlauf und die Widerlegungen des Mongolen gegen den Juden, den Muslim und den naiven Eremiten als überholt und unrichtig. Die Stellungnahme des Textes als ganzem zugunsten der Position von Blanquerna ist in ihrer Unverhülltheit vor allem im Vergleich zum L. del gentil kaum zu übertreffen. Tatsächlich duldet es die durch den Text angestrebte politische Einflußnahme nicht, konkurrierende Optionen wie im L. del gentil abzuwägen, sondern erlaubt nur die unzweideutige Forderung nach missionarischen und ggf. militärischen Maßnahmen zur Christianisierung des Orients. Auch wenn am Ende keine Entscheidung zwischen diesen beiden Strategien gefällt wird, bedeutet das keineswegs, daß im L. Tartari Positionen als vertretbar dargestellt würden, die nicht mit Llulls Strategietraktaten vereinbar wären. Tatsächlich propagiert Llull - wenngleich mit je nach den argumentativen Erfordernissen der Einzeltexte unterschiedlichen Gewichtungen - , daß sowohl missionarisch als auch im Falle des Mißerfolgs militärisch vorgegangen werden sollte, 27 so
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So wirft er ein «quod est impossibile» und «ergo est confusa & carens perfectione» ( M O G 4,367). «Diu consideravit admiratus de Rationibus, quas audivit, & de extraneo modo & subtilitate, quibus utebatur Blanquerna» ( M O G 4,352). Mit dem Einschalten der göttlichen Gnade in den Erkenntnisvorgang bleibt Llull im Bereich der dogmatischen Orthodoxie, wie ihn Thomas von A q u i n gegen die Averroisten und ihre Vorstellung der eigenständigen Erkenntnisfähigkeit des Menschen abgesteckt hatte. In der Debatte um Llulls Auffassungen zu Mission und Kreuzzug wurde vorwiegend versucht, sie zu einer einheitlichen Position zu synthetisieren oder eine chronologische Entwicklung zu konstruieren (cf. Kap. II, Anm. 146). Dagegen wird weitgehend außer acht gelassen, daß widersprüchliche Aussagen der jeweiligen Gattung und dem konkreten historischen Erstadressaten des Textes geschuldet sein können (Ähnliches gilt im Hinblick auf das Islambild bei Llull; cf. Seite 197).
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daß beide Auffassungen sich ergänzen. Festzuhalten bleibt damit, daß der L. Tartari im Rahmen der zeitgenössischen Strategiedebatte eine Position vertritt, deren Einheitlichkeit durch das Vorhandensein mehrerer Dialogpartner nicht unterlaufen wird.
III.2 D i a l o g als S p i e g e l d e r Trinität Das Gespräch zwischen Blanquerna und dem Mongolen im Kernteil des Textes folgt dem Glaubensbekenntnis Quicumque vult salvus esse des PseudoAthanasius, das in Psalterien auf die biblischen Psalmen folgt und einen festen Platz in der Liturgie einnimmt. 28 Der rituelle Vortrag erfolgt in 40 zweiteiligen Psalmenversen, die inhaltlich zunächst auf die Trinität eingehen. Die Beschaffenheit Gottes in drei Personen kann in der katholischen Dogmatik nie ohne die komplementäre Einheit verstanden werden, so daß das athanasische Glaubensbekenntnis (Symbolum) in seinem ersten Teil auf Aspekte der Göttlichkeit wie ihre Teile, ihre Nichterschaffenheit, Unendlichkeit, Ewigkeit, Allmacht und Einheit eingeht. Danach werden aus der Christologie als zweitem dogmatischen Hauptbereich einige Aspekte der zwei Naturen Christi und wesentliche Ereignisse der Heilsgeschichte aufgezählt. Die beiden Teile von Quicumque vult sind ungleich lang und umfassen 26 bzw. 14 Psalmenversikel. Im L. Tartari fungieren die Passagen von Quicumque vult als Überschriften der Gesprächsabschnitte und haben paratextuellen Status. Ihr Wortlaut ist ohne Änderungen aus der Liturgie übernommen, doch wird die Gliederung des kommentierten Textes modifiziert: Der erste Gesprächsabschnitt ist dem einleitenden Satz des Glaubensbekenntnisses gewidmet, der wiederum mit Quicumque vult salvus esse beginnt. Der erste Teil des Glaubensbekenntnisses, der sich mit der Trinität befaßt, wird hier in 16 Gesprächsabschnitten kommentiert. Im resümierenden achtzehnten Abschnitt wird dann eine Passage kommentiert, die mit Qui vult ergo salvus esse den Anfang des Glaubensbekenntnisses in der Formulierung wieder aufnimmt. Es schließt sich ein zweiter Teil des Gesprächs an, der in ebenfalls 16 Abschnitten Aspekte der Christologie behandelt und gleichfalls mit einem resümierenden Abschnitt endet, in dem Blanquerna die Schlußpassage von Quicumque vult kommentiert. Statt der 26 + 14 = 40 Teile bzw. Verse des Textes in der Liturgie reduziert sich die Anzahl der Teile somit auf ι + 16 + ι + 16 + ι = 35. Die Einteilung in Psalmverse, die ohnehin nur in der Mündlichkeit der Liturgie zur Geltung kommt und nicht im schriftlichen Kommentar, wird dabei durch eine thematische Einteilung ersetzt, in der der Verscharakter des kommentierten Ausgangstextes keine Rolle mehr spielt. Er weicht der für den abschnittweisen 28
Ed. Ps-Athanasius 1927.
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Kommentar in der Schriftlichkeit wirkungsvolleren symmetrischen und zahlenkompositorischen Anordnung. E. R. Curtius hatte den Begriff Zahlenkomposition für diese Art der mittelalterlichen Textstrukturierung eingeführt, bei der formale Textmerkmale in bedeutungstragender Anzahl oder in Rundzahlen auftreten. 29 Die verweishafte Bedeutung der verwendeten Strukturzahl kann, muß aber keineswegs in einer inhaltlichen Beziehung zum Text stehen. In der Tat ist bei der von Llull gewählten Zahlenstruktur auffällig, daß mit der 16 und der 35 solche Zahlen gewählt sind, für die kaum traditionelle Bedeutungszuschreibungen überliefert sind, und insbesondere keine, die bedeutungstragend mit dem L. Tartari in Verbindung gebracht werden könnten. 30 Mehr noch, durch die Aufgabe der Zahl 40, die in der ursprünglichen Gliederung nach Versen eingeschlossen liegt, wurde gerade eine sinnstiftende Korrespondenzmöglichkeit aufgegeben. Immerhin verweist die 40, eine der am stärksten bedeutungsgeladenen Zahlen in der christlichen Zahlenallegorese, auf die 40 Fastentage Jesu in der Wüste. Die naheliegende Verweismöglichkeit auf Blanquerna, der im L. Tartari ebenfalls in der Wüste Buße tut (!), und auf dessen imitatio Christi über die Zahlenkorrespondenz hätte hingewiesen werden können, wird damit nachdrücklich unterbunden. Die Möglichkeit eines solchen zahlenkompositorischen Parallelismus wäre bei Llull um so näherliegend gewesen, als er sie im L. de contemplado ausdrücklich nutzt. Bekanntlich werden im Prolog des Llullschen Früh- und Hauptwerks die numerologischen Bedeutungen seiner fünf Teilbücher (wie die fünf Wunden Christi am Kreuz), der 40 Teile (entsprechend den Fastentagen Jesu in der Wüste), der 365 Kapitel (wie die Tage des Jahres) und weiterer ähnlicher Zahlenraster explizit entschlüsselt. 31 Es scheint jedoch, daß Llull in seinen späteren Texten solche Zahlenstrukturen, deren Bedeutungen in keinem besonderen Zusammenhang zu dem im Text behandelten Thema stehen, nicht weiterentwickelt. Schon im L. del gentil waren Bedeutungszusammenhänge dieser Art nicht mehr nachzuweisen gewesen. Im L. Tartari bleibt zwar die zahlenkompositorische Gliederung eindeutig - dasselbe gilt für zumindest einen weiteren dialogischen Text Llulls - , 3 2 doch scheint auch hier auf keine übertragene Bedeutung der Strukturzahlen angespielt zu werden, sondern vielmehr die textliche Umsetzung von Llulls ordo-Konzept im Vordergrund zu stehen. Die übertragene Bedeutung liegt vielmehr auf einer anderen Ebene, wie aus den folgenden Überlegungen deutlich werden soll.
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Curtius 1948 /1993, 491-498. So weisen die einschlägigen Artikel im Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen für keine der beiden Strukturzahlen eine in diesem Zusammenhang sinntragende Bedeutung nach (Meyer 1987, col. 661-664 und col. 706s.). Diese Zahlenbedeutungen sind auch bei H. Schulte-Herbrtiggen (1994) wiedergegeben. Z u r Bedeutung von rasterartigen Strukturen, insbesondere in den späteren Llullschen Texten, cf. Kap. VI.3. - Zahlenverhältnisse, die die Llullsche Textstruktur an Komplexität weit übertreffen, versucht H. de Vries (1984) an mehreren altspanischen Texten aufzudecken. Es handelt sich um den Desconhort; cf. Seite 186.
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Die 35 einzelnen Abschnitte des Gesprächs zwischen Blanquerna und dem Mongolen bestehen in der Regel aus einer mehrteiligen Argumentation Manquemos, deren Schlußfolgerung - jeweils durch ergo eingeleitet - mit dem kommentierten Vers von Quicumque vult übereinstimmt, der damit als bewiesen gilt. Mit dem Durchgang durch Quicumque vult sind somit am Gesprächsende die zentralen Elemente des christlichen Glaubens bewiesen. Die einzelnen Argumentationen folgen einem regelhaften Ablauf: Blanquerna leitet sie alle mit einer Aussage über die Welt der Elemente und die ternären Strukturen, die in ihr auftreten, ein. Ein zweiter Argumentationsschritt überträgt den jeweiligen Gedanken in den Bereich der Vernunftseele und ihrer ebenfalls ternären Konstitution aus Gedächtnis (memoria), Verstand (intellectus) und Willen (voluntas). Im letzten Schritt der Argumentationen ist die Rede von den göttlichen Eigenschaften. 33 Zur Illustration dieses Vorgehens soll hier beispielhaft Blanquernas Kommentar zum Wortlaut «Filius a Patre solo est: non factus, nec creátus, sed génitus»34 wiedergegeben werden: Auf der Elementarstufe des Kommentars sagt Blanquerna dazu, das Feuer (ignis) bestehe aus Form und Materie, nämlich dem Brennenden (ignitiva) und dem Brennbaren (ignibilis), aus denen gemeinsam das Verbrannte (ignitus) hervorgehe. Eine Analogie zum göttlichen Bereich und zur Inkarnationsproblematik ist damit zunächst nicht erkennbar. Auf der zweiten Stufe des Kommentars erläutert er, daß aus Verstehendem (intellectivum) und Verstehbarem (intelligibile) der Verstand (intellectus) entstehe, und aus diesem allein wiederum das Verständnis oder Verstehen (intelligere) hervorgehe. Auf der dritten Stufe heißt es in bezug auf das Göttliche schließlich von Gottvater, er sei bonificativus und seine Essenz bonificabilis. Beide Prinzipien vereinen sich zu einer einzigen Instanz (hier offenbart sich die Analogie zu dem Beispiel aus dem Elementarbereich), und aus dieser allein geht (in Analogie zu dem Beispiel aus dem Bereich der Vernunftseele) der Sohn hervor. Die Wahrheit des Satzes zur Inkarnation ist damit an analogen Vorgängen in der Natur und im geistigen Bereich illustriert worden. Dieser und ähnliche argumentative Dreischritte Blanquernas bilden das Grundmuster für das gesamte Gespräch und werden in der folgenden Strukturgraphik des L. Tartari jeweils mit B 3 angezeigt (die einschrittigen Argumentationen von Blanquerna sind dagegen als B, zweischrittige als B 2 gekennzeichnet). 35 Es fällt auf, daß Blanquerna alle Passagen der ersten, auf die Trinität bezogenen Hälfte von Quicumque vult
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Die Dreigliedrigkeit dieser Kosmologie erläutert bereits R. Pring-Mill in seiner erstmals 1961 erschienenen Einführung in das Llullsche Weltbild, cf. Nachdruck Pring-Mill 1991,31-112, hier 54. Ed. Ps-Athanasius 1927,56 bzw. M O G 4,360. Cf. Graphik 3, Seite 116. - Ausnahmen zur Dreischrittigkeit bilden die Kap. 11 und 17 über die Trinität, denn die glossierten Verse geben keine Aussagen her, die argumentativ bestätigt werden könnten. In einigen der christologischen Kapitel (25 bis 28 und 30) werden die beiden ersten Schritte zusammengezogen; statt der Elemente und der Seele wird hier der Mensch behandelt, der beide verbindet. Danach wird auch hier der Gedankengang in den Bereich der göttlichen Eigenschaften hinübergeführt.
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salvus esse mit einer dreigliedrigen Argumentation kommentiert, doch mit einer Ausnahme: Der elfte Abschnitt befaßt sich mit dem Wortlaut «Nos singillatim unamquamque Personam Deum ac Dominum confiteri Christianâ Veritate compellimur, ita Catholicâ Fide tres déos aut dominos dicere prohibemur» ( M O G 4,359)·
Es handelt sich also um das Verbot, im Katholizismus von drei Göttern zu sprechen - und genau in diesem Abschnitt ist die dreigliedrige Argumentation im Kommentar durch eine einteilige ersetzt, die ohne die beiden vorbereitenden Stufen sofort auf den göttlichen Bereich eingeht. Dreiteilige Argumentationen finden sich also zum trinitarischen Thema, eine einteilige Argumentation dagegen zu dem explizit unitarischen Abschnitt des kommentierten Hypotexts. Eine Abbildrelation zwischen dem propositionalen Gehalt und der argumentativen Struktur von Blanquernas Redebeiträgen, mithin der textlichen Form, wird hier erstmals deutlich. Das pseudo-athanasische Quicumque vult steht nicht nur durch die Benennung als psalmus, wie sie Blanquerna vornimmt, sondern auch aus liturgischen Gründen in enger Verbindung mit dem Psalter; und tatsächlich wird gerade in der Psalterexegese häufig die Dreizahl und insbesondere die Dreigliederung einzelner Psalmen als sinntragend gesehen. 36 So führt H. Meyer den Hoheliedkommentar von Honorius Augustodunensis an: «Omnis liber sacrae Scripturae habet proprias divisiones et proprias numeri significationes, verbi gratia, Psalterium dividitur in tria».37 Im allgemeinen hält Meyer bezüglich der Psalterkommentare numerologische Komposition in beschränktem Maß, aber nicht universal für ansetzbar: «Zahlenbedeutung ist [...] nicht immer vorauszusetzen, und wo sie vorkommt und belegt werden kann, ist sie weder das alleinige noch das immer dominierende Mittel zur Erschließung der Form. [...] Zahlenbedeutung der Form haben wir am ehesten in voneinander unabhängigen Texteinheiten und vor allem in Gliederungen und Zahlen kleinerer Formteile zu suchen. [...] Gesamtgliederungen der Großform sind in groben Zügen vorhanden, aber nicht derart ausführlich belegt, daß dem Gesamtwerk gleichsam ein ganzes Zahlengeflecht unterlegt würde» (Meyer 1972, 230).
Im L. Tartari dagegen wird nicht die ternäre Gestalt des Ausgangstextes als sinntragend gesehen, sondern es ist die ternäre Gestalt von Blanquernas Kommentar selbst. 38 Die A r t der Formgebung, bei der das trinitarische Gesprächsthema sich in der Textgestalt abbildet, scheint im L. Tartari in ihrer Rekurrenz und ihrem vielfältigen Verweischarakter über das geläufige Maß hinauszugehen. Inhaltlich ist die Dreizahl in Blanquernas Kommentaren omnipräsent und wird im Dankgebet des Mongolen wiederaufgenommen. Im Abschnitt De Eucharistia heißt es sogar entgegen der ansonsten geläufigen, bloß zweifachen Llullschen
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Meyer 1987, col. 308-311. Zit. nach Meyer 1975,100. H. Meyer und R. Suntrup weisen im selben Lexikoneintrag auf Rupert von Deutz hin, der für einen trinitarischen Traktat die Dreizahl für die Formgebung benutzt hat und dies ausdrücklich im Prolog des Textes ausweist (Meyer 1987, col. 330). III
Opposition von opus extrinsecus und opus intrinsecus, Gottes Werk sei dreifach. Zu den beiden genannten Ausprägungen, nämlich Gottes Schöpfertätigkeit und der internen Produktivität der Dignitates, kommen hier die Sakramente und Wunder, von Gott eingesetzte Zeichen, als dritte A r t göttlichen Schaffens hinzu. 39 Der Entstehensprozeß der Sakramente aus den anderen beiden Arten des göttlichen Schaffens wird, am Beispiel der Elemente illustriert, besser verständlich, so daß ihn Blanquerna wiederum mit einem dreistufigen Schema erläutert, auf das gleich zurückzukommen sein wird. Auf der formalen Ebene läßt sich zunächst grundsätzlich darauf hinweisen, daß der Dialog in die traditionellen drei Teile Exposition, Hauptteil und Konklusion gegliedert ist, was hier durch den Wechsel vom narrativen Modus in der Exposition zum dramatischen im Hauptteil und zurück zum narrativen in der Konklusion zusätzlich unterstrichen wird. Ähnlich ist die Dreizahl selbstverständlich in Llulls Neugliederung des kommentierten Glaubensbekenntnisses nach dem Schema 1 + 16 + 1 + 1 6 + 1 vertreten, da ja 1 + 1 + 1 = 3 ergibt. Neben den bereits genannten über 30 dreigliedrigen Argumentationen bestehen auch Blanquernas zusätzliche Beweise der Existenz Gottes und seiner Einheit, die der Mongole im zweiten Kommentarabschnitt einfordert, aus je drei Argumenten (rationes). Bei diesem gehäuften Auftreten der Dreizahl kann es kaum überraschen, daß als Explicitformel des Textes die Formulierung «ad honorem illius, qui régnât Trinus & Unus Omnipotens Summus Deus» 40 gewählt ist. Besonders bemerkenswert ist das Vorkommen der Dreizahl jedoch in den erzähltechnischen Strukturen des L. Tartari. Die Exposition gliedert sich in drei ähnlich verlaufende und durch drei gleich gebaute Zwischentitel markierte Begegnungen des Mongolen mit den Vertretern von Judentum, Islam und einem naiven Christentum, 41 um dann bei dem einen die Wahrheit zu finden. In einer ähnlichen Erzählstruktur fragt der Mongole zuerst den naiven Eremiten, dann Blanquerna vor dem Gespräch und nochmals danach, also insgesamt dreimal, nach der Transsubstantiation und der Eucharistie. A l s Blanquerna sie ihm schließlich erläutert, stellt der Mongole drei Nachfragen, bis er schließlich bei der dritten die Gnade des Heiligen Geistes spürt: «sentio operante gratiâ Sancti Spiritüs».42 Der Ablauf dieser Passage der Konklusion, die allein durch ihren Zwischentitel De Eucharistia aus dem Argumentationszusammenhang kulminierend herausragt, verdeutlicht, daß die Dreizahl dazu eingesetzt wird, die Dialogebenen miteinander zu verschränken. Blanquerna beginnt seine Erläuterung des Altarsakraments mit der Argumentation, daß in der Elementenwelt in einem Dreieck von Korrelativbegriffen aus Erhitzendem (calefactivum) und Erhitzbarem (calefactibile) das Erhitzte (calefactum) hervorgeht. Auf
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Zum Zeichencharakter der Sakramente cf. Chydenius i960 /1975,332-337. M O G 4,371. Die Abschnittsüberschriften lauten analog De Tartaro et Iudaeo, De Tartaro et Saraceno und De Tartaro et Christiane. M O G 4, 372. 112
der nächsten Argumentations- und Seinsebene spielt er auf die Dreiheit des vegetativ (vegetatum), sinnlich (sensatum) und geistig Erfaßten (intellectum) an. Auf der dritten Argumentationsstufe beschreibt er analog, ausgehend von den beiden Arten des göttlichen Schaffens, opus intrinsecus und opus extrinsecus, das Hervorgehen der dritten göttlichen Schaffensart aus diesen beiden. Es handelt sich, wie bereits vermerkt, um die göttliche Produktion der Sakramente und Wunder. Sie kommt zur Produktivität der Dignitates untereinander und zur Produktivität in der Schöpfung als dritte, eigene Art göttlichen Wirkens hinzu und liegt in ihrem Wert zwischen den beiden anderen. Das ihr Eigentümliche liegt darin, daß sie im Gegensatz zur Schöpfung nicht den Abläufen und Gesetzmäßigkeiten der Natur unterworfen ist. Diese dritte Art göttlicher Produktivität geht aus den beiden anderen hervor wie der Heilige Geist aus Gottvater und Sohn. Bis hierher handelt es sich um eine dreistufige Argumentation wie die vorangegangenen. Der Mongole schließt daraufhin eine erste Nachfrage an, in der er bezweifelt, daß in einem kleinen Stück Brot ein vollständiger Mensch enthalten sein könne. Blanquerna antwortet darauf, daß das Sakrament, gerade wegen seines Zwischenstatus' zwischen höchstem und niedrigstem Werk Gottes, höher stehe als das, was nach dem Lauf der Natur glaubhaft scheint. Der Mongole setzt, um diese Argumentation nachzuvollziehen, zunächst seinen Verstand ein (consideravit). Doch erst als er sich seines freien Willens (voluntas), der den Willen Gottes abbildet, erinnert (memoria), gelangt er, mithin im Einsatz aller drei Seelenvermögen zusammen, zum Verständnis. Seine zweite Nachfrage gilt dem Warum dieser göttlichen Zeichensetzung im Altarsakrament. Blanquerna begründet es (in einer draschrittigcn Argumentation) mit dem Willen Gottes, sich die Schöpfung ähnlicher zu machen, indem er sie über die Prinzipien der Natur hinaushebe. Eine Überschreitung der Naturgesetze wie die, über die die Dialogpartner sprechen, erfährt der Mongole in seiner dritten Nachfrage am eigenen Leib - erstmals im Gespräch mit Blanquerna stellt der Mongole eine dritte Nachfrage - , als er die Wirkung der göttlichen Gnade spürt. Blanquerna bejaht die Nachfrage nach weiteren Beweisgründen für den katholischen Glauben, denn die Sachverhalte seien auch auf anderen Seinsebenen, unter den Engeln und Himmelskörpern, analogisch nachvollziehbar. Da spürt der Mongole den Heiligen Geist in sich. Wie die erste Nachfrage des Mongolen nur im Einsatz aller drei Seelenvermögen lösbar wurde, sind auch die drei Nachfragen einzeln auf die Dreigliedrigkeit der Seele projizierbar: In der ersten Nachfrage steht das Verstehen des Sakramentstatus im Mittelpunkt, in der zweiten der Wille Gottes zu seiner Einsetzung und in der dritten das Erinnern anderer Beweisgründe durch Blanquerna. Mehrfach ergibt sich also eine Analogie zwischen den besprochenen ternären Sachverhalten, der ternären Gesprächsstruktur und der Handlungsebene, auf der dem Mongolen nach dreifacher Reiteration von Sprechhandlungen die Gnade zuteil wird. In ähnlicher Weise werden die Etappen des Mongolen auf dem Weg zur Taufe durch die drei christlichen Persönlichkeiten gekennzeichnet, die er auf diesem Weg trifft. Alle drei zelebrieren eine Messe. Bei seiner Begegnung mit
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dem Eremiten, der ihn über die Glaubensartikel unterrichtet, hatte der Mongole bereits beschlossen, seinem zu rationalem Denken unfähigen Gesprächspartner den Rücken zu kehren und die Glaubenssuche zu beenden. Die Messe des Eremiten findet in einem bescheidenen Rahmen statt und bleibt für den Mongolen, wie bereits erwähnt, stumm. Dennoch löst der Augenblick der Wandlung Verwunderung aus, weckt die Neugierde des Mongolen und regt ihn an, seine Suche weiterzuführen. Auch nach der zweiten, von Blanquerna gehaltenen Messe richten sich Verwunderung und Zweifel des Mongolen insbesondere auf die Transsubstantiation. Blanquernas Messe hat durch die laute Lesung und Manquemos Priestergewand eine höhere Dignität als die erste. Wie es der Mongole wünscht, folgt ihr der rationale Beweis der Glaubenstatsachen, die der Eremit nur verkündet hatte. Die dritte Messe schließlich ist die des Papstes selbst. Sie verstärkt den Wunsch, das erworbene Wissen in der Mission weiterzugeben, zudem führt sie zur Taufe. Die Papstmesse übertrifft diejenige Blanquernas durch ihre Feierlichkeit und die Vielzahl der anwesenden Prälaten. Sie krönt die in der Reihenfolge ihrer Dignität angeordnete Dreiheit von Gottesdiensten. Über diese offensichtlichen Kompositionsmuster des Llullschen Dialogs hinaus sind in der Meßliturgie numerologische Konnotationen in fast unbeschränkter Vielzahl angelegt, unter denen die Dreizahl erwartungsgemäß eine zentrale Wichtigkeit hat. 43 Diese ganze Vielfalt für den L. Tartarí in Anschlag zu bringen, würde sicher zu weit führen. Auffällig bleibt dennoch, daß gerade in der für das Erzählgerüst des L. Tartari wichtigen Eucharistie und im Hostienkörper selbst, nach denen der Mongole dreimal fragt, 44 die Dreiersymbolik angelegt ist, indem die Hostie im Brechungsritus in drei Teile zerlegt wird und diese in vielfachem Sinne übertragen verstanden werden können. 45 Zwar sind wiederholende Erzählstrukturen, zumal in Dreieranzahl, ein beinahe universales Formgebungsprinzip. Signifikant werden sie erst im mehrfachen Auftreten wie im L. Tartari und in der Abbildrelation, die sie zum propositionalen Gehalt des Dialogs einnehmen. Die Bedeutung der Messen im L. Tartari geht jedoch über die Ebene der Numerologie hinaus. Eine Messe bedeutet bekanntlich in der zeitgenössischen christlichen Vorstellungswelt nach dem Ende des zweiten Abendmahlstreits die Realpräsenz Christi: «Corpus erat illud, quod aspexisti in meis manibus»,46
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Meyer 1987, col. 315-330. Während der Messe des naiven Eremiten heißt es: «cùm elevaret Corpus Christi, dixit ei Tartarus, quid est, quod facis?» ( M O G 4, 350), nach der Messe Blanquernas bemerkt der Mongole: «[...] panem vidi ab eo comedi, & tu nunc fecisti similiter illud idem; haec autem omnia ultra modû videntur esse impossibilia» ( M O G 4,351) und schließlich, nach Blanquernas Erläuterungen: «precor te, ut mihi dicas, quid in Catholica Fide significet ille modicus panis, quem, prout vidi, comedisti super Altare?» ( M O G 4,371). Meyer 1987, col. 318s. M O G 4, 350 - Im Abendmahlstreit war von der schließlich unterlegenen Partei, namentlich von Berengar von Tours, die nur symbolische Präsenz Christi vertreten worden.
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sagt der Eremit. Der Weg des Mongolen zum Glauben wird daher durch die drei Momente markiert, in denen mit der Wandlung in den Messen an die Inkarnation und den Passionsweg Christi erinnert wird und Christus dort leiblich präsent wird. Für das Verständnis der Dialogform des L. Tartari ist diese Feststellung fundamental: Die für die Argumentenebene des Dialogs zentralen Themen Inkarnation und Trinität korrelieren auf der Handlungsebene mit der Realpräsenz Christi in den Messen bzw. ihrer dreifachen Wiederkehr. Der L. Tartari geht somit in der Enge der Beziehung zwischen den Textebenen einen Schritt weiter als die gewöhnliche Form der Zahlenkomposition mit ihrer losen oder ganz fehlenden Verbindung der Zahl zum Textinhalt. Hier findet sich die Dreizahl im trinitarischen Gesprächsthema (dem die erste Gesprächshälfte gewidmet ist), in den ternären erzählerischen Strukturen und auf der formalen Textebene, indem die einzelnen Redebeiträge Blanquernas sowie der Gesamttext dreigliedrig sind. Für das zweite Thema, die Inkarnation Christi, gilt ein gleiches. Sie nimmt die zweite Gesprächshälfte ein und wird auf der Handlungsebene in den wiederholten Messen aufgegriffen, indem Christus in der Eucharistie real und damit in der Dialogwelt präsent wird. Die Dreierstrukturen in der Handlung machen deutlich, daß der Bekehrungs- und Heilsweg ternär verläuft - sie bilden damit den Gesprächsinhalt ab und und unterstreichen seine Wahrhaftigkeit. Die Dialogform wird somit genutzt, um in der Darstellung des Gesprächsverlaufs die Richtigkeit der dominanten Position zu unterstreichen und ihre heilsmäßige Wirksamkeit exemplarisch zu verdeutlichen. Nur diese Form erlaubt die über die traditionelle Korrespondenz von Form und Inhalt im Traktat hinausgehende dreifache Verschränkung und gegenseitige Stützung der Textebenen, da nur im Dialog der argumentative Gehalt auf einer Handlungsebene vermittelt wird, die eine fiktionale,47 in diesem Falle ternär gebaute Welt erschafft. Die nachfolgende Strukturübersicht des L. Tartari (Graphik 3) verzeichnet mit B, B 2 und B 3 jeweils die ein-, zwei- bzw. dreischrittigen Argumentationen Blanquernas. Die eng beieinander stehenden, kurzen Doppellängsstriche in den meisten Abschnitten stehen für eine unmittelbar aufeinander bezogene Sequenz von Frage (des Mongolen) und Antwort (Blanquernas); einzelne Striche stehen für andere Typen von Sprecherwechsel.
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«Fiktion» soll hier behelfsmäßig, wie auch gelegentlich im folgenden, als schwacher Begriff ohne die Implikate der modernen Fiktionstheorie die darstellerische Dimension der Texte bezeichnen. Ein Fiktionsbegriff, der auf der suspendierten Referenzialität von Texten beruht, ist für Llull nicht ansetzbar und müßte für eine starke Begriffsverwendung umfassend historisiert werden.
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