Der Genfer Psalter und seine Rezeption in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden: 16.-18. Jahrhundert [Reprint 2012 ed.] 9783110946697, 9783484365971

In terms of its impact, the Reformation Geneva Psalter is one of the most significant literary and musical works of the

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German Pages 508 Year 2004

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung
I. DER GENFER PSALTER
Vorgeschichte, Entstehung und Verbreitung
Aulcuns pseaulmes et cantiques mys en chant. A Strasburg. 1539
Uses of the Psalter in Calvin’s Geneva
Censorship and the Genevan Psalter
Theologie
Der kirchengeschichtliche Kontext des Genfer Psalters
Die Theologie der Musik bei Johannes Calvin als Hintergrund des Genfer Psalters
Singende Asylanten: Calvins Theologie der Psalmen
Melodik
Die Melodik des Genfer Psalters. Genese und Form
Die Beziehungen zwischen humanistischen Odenvertonungen und dem Genfer Psalter
Zur Verbindung von böhmischem und calvinistisch geprägtem Liedschaffen
Genevan Psalm Tunes in the Lutheran Chorale Tradition
II. DIE REZEPTION DES GENFER PSALTERS
Rezeption in Deutschland
Poetik der geistlichen Lieddichtung in Deutschland vor dem Genfer Psalter
Erwägungen zur Kontextualisierung des nationalliterarischen Projekts in Deutschland um 1600
Transformationen des Psalters im Spannungsfeld von gemeinschaftlicher Adhortation und individueller Meditation. Paul Schedes Psalmen Davids und Psalmi aliquot
Ambrosius Lobwasser. Humanist, Dichter, Lutheraner
Lobwasser am Niederrhein. Die Düsseldorfer Ausgabe der Psalmen Dauids von 1612 und ihre Quellen
Der Winnenberg-Psalter im Rahmen einer musikwissenschaftlichen Edition
Die Rezeption des Genfer Psalters bei Caspar Ulenberg
Der Genfer Psalter im protestantischen Deutschland des 17. und 18. Jahrhunderts
Lutherische Reaktionen auf den Lobwasser-Psalter. Cornelius Becker und Johannes Wüstholtz
Martin Opitz und der Genfer Psalter
Genfer Psalmen im katholischen Rheinfelsischen Gesangbuch (1666)
Die deutsche Neutextierung des Genfer Psalters durch Matthias Jorissen (1798). Hymnodisches Erbe und Geist der Zeit
Psalter ohne Psalmen? Zum Umgang mit den Psalmen in der radikalpietistischen Dichtung
Rezeption in der Schweiz
Die Rezeption des Genfer Psalters in der deutschsprachigen Schweiz und im rätoromanischen Gebiet
Die liturgische Rezeption des Lobwasser-Psalters in der Zürcher Kirche im 17. und 18. Jahrhundert
Johann Kaspar Lavaters Specialgravamen gegen den Gesang der Lobwasserschen Psalmen. Anstöße zur ersten Zürcher Gesangbucherneuerung
Rezeption in den Niederlanden
„Als een kindt des lichts in een nyeuwigheyt des leuens“. Die eigenwilligen Psalmen Jan Utenhoves
Gemeindegesang in den Niederlanden im 16. Jahrhundert
De Heere, Datheen and Marnix. Three Dutch Versifiers of the Genevan Psalter
The Huguenot Psalter in the Dutch Republic. The Functions of Rhymed Psalm Versions in the Seventeenth Century
„Braeve lieflijckheidt“, „helderheidt van snaeren“, „deftig singhen“ Pieter Corneliszoon Hooft als Psalmendichter
Die Statenberijming von 1773 in den Niederlanden. Staatliches Bemühen, theologische Grundlagen und kirchliche Rezeption
Gemeindegesang und Orgelbegleitung in den Niederlanden im 18. Jahrhundert
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Der Genfer Psalter und seine Rezeption in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden: 16.-18. Jahrhundert [Reprint 2012 ed.]
 9783110946697, 9783484365971

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Frühe Neuzeit Band 97 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Der Genfer Psalter und seine Rezeption in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden 16.-18. Jahrhundert Herausgegeben von Eckhard Grunewald, Henning P. Jürgens und Jan R. Luth

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004

Der Band erscheint im Rahmen des Forschungsprogramms „Kulturwirkungen des reformierten Protestantismus" der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, gefördert durch

STIFTUNGNIEDERSACHSEN | T \ Ä

I

Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur

JiL

JOHANNES A LASCO BIBLIOTHEK EMDEN

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-36598-6

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Dr. Henning P. Jürgens, Mainz Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach

Inhalt

Vorwort

IX

Eckhard Grunewald / Henning P. Jürgens Einleitung

1

I. DER GENFER PSALTER

Vorgeschichte, Entstehung und Verbreitung Jan R. Luth Aulcuns pseaulmes et cantiques mys en chant. A Strasburg. 1539

9

Robert M. Kingdon Uses of the Psalter in Calvin's Geneva

21

Francis Higman Censorship and the Genevan Psalter

33

Theologie Willem van 't Spijker Der kirchengeschichtliche Kontext des Genfer Psalters

45

Jan Smelik Die Theologie der Musik bei Johannes Calvin als Hintergrund des Genfer Psalters

61

Herman J. Selderhuis Singende Asylanten: Calvins Theologie der Psalmen

79

Melodik Dieter Gutknecht Die Melodik des Genfer Psalters. Genese und Form

97

Edith Weber Die Beziehungen zwischen humanistischen Odenvertonungen und dem Genfer Psalter

111

Hans-Otto Korth Zur Verbindung von böhmischem und calvinistisch geprägtem Liedschaffen

131

Robin A. Leaver Genevan Psalm Tunes in the Lutheran Chorale Tradition

145

VI II. DIE REZEPTION DES GENFER PSALTERS Rezeption in

Deutschland

Dieter Breuer Poetik der geistlichen Lieddichtung in Deutschland vor dem Genfer Psalter

169

Klaus Garber Erwägungen zur Kontextualisierung des nationalliterarischen Projekts in Deutschland um 1600

185

Ralf Georg Czapla Transformationen des Psalters im Spannungsfeld von gemeinschaftlicher Adhortation und individueller Meditation. Paul Schedes Psalmen Davids und Psalmi aliquot

195

Lars Kessner Ambrosius Lobwasser. Humanist, Dichter, Lutheraner

217

Eckhard Grunewald Lobwasser am Niederrhein. Die Düsseldorfer Ausgabe der Psalmen Dauids von 1612 und ihre Quellen

229

Rainer H. Jung Der Winnenberg-Psalter im Rahmen einer musikwissenschaftlichen Edition

239

Dieter Gutknecht Die Rezeption des Genfer Psalters bei Caspar Ulenberg

253

Irmgard Scheitler Der Genfer Psalter im protestantischen Deutschland des 17. und 18. Jahrhunderts

263

Lars Kessner Lutherische Reaktionen auf den Lobwasser-Psalter. Cornelius Becker und Johannes Wüstholtz

283

Jörg-Ulrich Fechner Martin Opitz und der Genfer Psalter

295

Dieter Breuer Genfer Psalmen im katholischen Rheinfelsischen Gesangbuch (1666)

317

Jürgen Henkys Die deutsche Neutextierung des Genfer Psalters durch Matthias Jorissen (1798). Hymnodisches Erbe und Geist der Zeit

331

Konstanze Grutschnig-Kieser Psalter ohne Psalmen? Zum Umgang mit den Psalmen in der radikalpietistischen Dichtung

347

VII

Rezeption in der Schweiz Andreas Marti Die Rezeption des Genfer Psalters in der deutschsprachigen Schweiz und im rätoromanischen Gebiet

359

Alfred Ehrensperger Die liturgische Rezeption des Lobwasser-Psalters in der Zürcher Kirche im 17. und 18. Jahrhundert

371

Hans-Jürg Stefan Johann Kaspar Lavaters Specialgravamen gegen den Gesang der Lobwasserschen Psalmen. Anstöße zur ersten Zürcher Gesangbucherneuerung

391

Rezeption in den Niederlanden Hans Beelen „Als een kindt des lichts in een nyeuwigheyt des leuens". Die eigenwilligen Psalmen Jan Utenhoves

411

Jan R. Luth Gemeindegesang in den Niederlanden im 16. Jahrhundert

421

Johan Meijer De Heere, Datheen and Marnix. Three Dutch Versifiers of the Genevan Psalter

435

Maria A. Schenkeveld-van der Dussen The Huguenot Psalter in the Dutch Republic. The Functions of Rhymed Psalm Versions in the Seventeenth Century

447

Hans Beelen „Braeve lieflijckheidt", „helderheidt van snaeren", „deftig singhen" Pieter Corneliszoon Hooft als Psalmendichter

461

Roel A. Bosch Die Statenberijming von 1773 in den Niederlanden. Staatliches Bemühen, theologische Grundlagen und kirchliche Rezeption

471

Jan R. Luth Gemeindegesang und Orgelbegleitung in den Niederlanden im 18. Jahrhundert

481

Vorwort

Die Psalmendichtungen von Clément Marot (1496-1544) und Théodore de Bèze (1519-1605) sind die bedeutendsten Zeugnisse der Liedkultur des reformierten Protestantismus im romanischen Sprachraum. Ihre Wirkung blieb nicht auf den französischsprachigen Bereich begrenzt; auch die Entwicklung der Literatur in den europäischen Nachbarländern empfing von ihnen wichtige Impulse. Schon wenige Jahre nach den Erstdrucken des vollständigen Genfer Psalters (1562) setzte in Europa eine lebhafte Rezeption der Pseaumes Mis En Rime Françoise durch Übersetzungen ein, die vor allem im deutschsprachigen Raum zu einem Qualitätssprung in der damals noch wenig entwickelten volkssprachigen Lyrik führte. Durch die strikte Ausrichtung der Übertragungen an den teilweise hochartifiziellen Vers- und Strophenformen der französischen Vorlagen ebneten hier die Psalmendichtungen den Weg zum modernen westeuropäischen Literaturstandard. Die Attraktion der Texte und Melodien des Genfer Psalters endete keineswegs an den Konfessionsgrenzen; auch bei Lutheranern und Katholiken fanden - abgesehen von einzelnen programmatischen Gegenentwürfen - die französischen Psalmen vielfach ein positives Echo. Damit gehört der Genfer Psalter zu den bedeutendsten „Kulturwirkungen des reformierten Protestantismus". Diesen Kulturwirkungen widmet sich das gleichnamige Forschungsprogramm, das seit dem Jahr 2001 an der Johannes a Lasco Bibliothek Emden durchgeführt wird. Gefördert von der Stiftung Niedersachsen und dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur wird in wissenschaftlichen Veranstaltungen und Publikationen das Generalthema anhand von derzeit drei Fragestellungen verfolgt. Neben dem Genfer Psalter und seiner Rezeption werden „Recht und Jurisprudenz im Bereich des reformierten Protestantismus 1550-1650" und „Die Bedeutung der reformierten Bildung und Erziehung im frühneuzeitlichen Europa" untersucht. Im Mittelpunkt des Forschungsprojekts zum Genfer Psalter und seiner Rezeption standen drei internationale wissenschaftliche Tagungen in der Johannes a Lasco Bibliothek, deren Ergebnisse in diesem Band vorgelegt werden: - „Der Genfer Psalter in seiner Zeit" (22./23.3.2001) - „Die Rezeption des Genfer Psalters in Deutschland und den Niederlanden im 16. Jahrhundert" (8.-10.4.2002) - „Die Rezeption des Genfer Psalters in Deutschland und den Niederlanden im 17./18. Jahrhundert" (6.-8.3.2003).

χ Über den Kreis der Referentinnen und Referenten hinaus konnten weitere Autoren gewonnen werden, die das thematische Spektrum des Sammelbandes unter musik- und buchgeschichtlichen Aspekten abrunden. Allen Verfasserinnen und Verfassern sei an dieser Stelle für ihre engagierte Mitarbeit und ihre mannigfachen Hinweise und Anregungen herzlich gedankt. Unser Dank gilt darüber hinaus der Stiftung Niedersachsen und dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur für die Förderung der Drucklegung. Dankbar sind wir Prof. Dr. Susan R. Boettcher (University of Texas at Austin) für die redaktionelle Bearbeitung der englischsprachigen Beiträge, Rainer H. Jung, M.A. (Kassel/Lörrach) fur die sorgfältige Einrichtung der Notenbeispiele sowie Tanja Stefanie Hoberg (Vechta), Carsten Lange (Oldenburg) und Dr. Jan Smelik (Zuidhorn) für die gewissenhafte Durchsicht der Texte und Noten. Wir danken schließlich dem Bärenreiter Verlag Kassel für die Genehmigung zum Abdruck von Noten aus seinen Publikationen, den Herausgebern für die Aufnahme des Bandes in die Reihe „Frühe Neuzeit" und dem Max Niemeyer Verlag für die verlegerische Betreuung des Buches. Emden, im Dezember 2003

Eckhard Grunewald Henning P. Jürgens Jan R. Luth

Eckhard Grunewald / Henning P. Jürgens

Einleitung

Was Beza, was Marótt in Reimen vor gethan / dem haben nachgefolgt mit rühm' in ihren Zungen der Spanjer / und der Wahl; der Vngar hat gezwungen auch seine / wie Latein / auf die Frantzösche bahn, der Pol' und auch der Böhm' hielt' Jhm gelegen an zubringen in den Reim / was obbenannnte sungen. Es hat es Dan' und Schott' und Flamming auch errungen / daß aller Mund nunmehr / was Gottes lieber Mann vorzeiten hat gespielt / einhellig singen kann. Wencel Scherffer von Scherffenstein (1598/99-1674) 1

Der Genfer Psalter ist ein einzigartiges europäisches Phänomen: Seit 440 Jahren vermag das Psalmengesangbuch der Genfer Gemeinde Johannes Calvins (1509— 1564) die Menschen zu interessieren, zu berühren, zu trösten und zu begeistern - eine Erfolgsgeschichte, die ihresgleichen sucht und deren Ende nicht abzusehen ist. Kein anderes Buch außer der Bibel hat für den reformierten Protestantismus größere Bedeutung erlangt als der Psalter, kein anderes Buch ist derart zum Erkennungszeichen der Reformierten geworden. Wenn sich heute die Reformierten auf die Suche nach ihrer Identität begeben, dann rückt stets der Psalter zuerst in ihren Blick.2 Der Genfer Psalter wurzelt in verschiedenen literarischen, musikalischen und liturgischen Traditionen: Er entstand im Kontext der reformatorischen Gesangbücher und gründete zugleich in der weltlichen französischen Dichtung seiner Zeit, er ist aber auch nicht zu denken ohne das persönliche Engagement Johannes Calvins und den bestimmenden Einfluß seiner Theologie. Am Anfang des Weges, der zu der vollständigen Übertragung aller 150 Psalmen führte, stand das Gesangbuch der Straßburger Flüchtlingsgemeinde, die Calvin in den Jahren 1538-1541 leitete. In seinem, den vorliegenden Band eröffnenden Beitrag geht Jan R. Luth der Frage nach Auswahlprinzipien und liturgischer Funktion der Aulcuns pseaumes et cantiques mys en chant (Straß-

1

2

Wencel Scherffer von Scherffenstein, Geist- und weltlicher Gedichte Erster Teil. Brieg 1652 (Rara ex bibliothecis Silesiis 6), hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Ewa Pietrzak, Tübingen 1997, 265f. Vgl. hierzu die Abschnitte zum Psalter in dem jüngst erschienenen Sammelband: Matthias Krieg / Gabrielle Zangger-Derron (Hg.), Die Reformierten. Suchbilder einer Identität, Zürich 2002, sowie: Peter Emst Bernoulli / Frieder Furier (Hg.), Der Genfer Psalter. Eine Entdeckungsreise, Zürich 2002.

2

Eckhard Grunewald / Henning P. Jürgens

bürg 1539) nach. Willem van 't Spijker beschreibt das kirchengeschichtliche Umfeld in der Frühzeit des Psalters. Dem Stellenwert der Musik im Denken der Reformatoren, vor allem Johannes Calvins und Martin Luthers, widmet sich Jan Smelik. Die Studie von Herman J. Selderhuis verdeutlicht die zentrale Rolle der Psalmen in Theologie und Leben Calvins und seiner Gemeinde, sowohl in Straßburg als auch in Genf. Den sonntäglichen wie alltäglichen Gebrauch des Psalters illustriert Robert M. Kingdon anhand von Fallbeispielen aus den Protokollen des Konsistoriums der Genfer Gemeinde. Entscheidenden Anteil am europaweiten Erfolg des Genfer Psalters im 16. Jahrhundert hatten die neugeschaffenen Melodien von Guillaume Franc (ca. 1505-1570), Loys Bourgeois (1510-1561) und Pierre Davantès (1523-1561) sowie die kunstvollen Sätze von Claude Goudimel (ca. 1520-1572). Der Melodik des Psalters nimmt sich Dieter Gutknecht in seiner Studie über Genese und Form der Psalmvertonungen an. Edith Weber weist die enge Verwandtschaft der Psalterkompositionen mit den zeitgenössischen humanistischen Odenvertonungen nach, und Hans-Otto Korth zieht Verbindungslinien zwischen böhmischem und calvinistisch geprägtem Liedschaffen. Spätestens seit Erscheinen von Erich Trunz' Aufsatz über die deutschen Übersetzungen des Hugenottenpsalters3 gehört es zu den Gemeinplätzen der Germanistik, auf die bedeutende Rolle des Psalters für die Entwicklung der deutschen Literatur zu verweisen. Die Wirkungsgeschichte der Psalmendichtungen von Clément Marot (1496-1544) und Théodore de Bèze (1519-1605) setzte in der deutschen wie in zahlreichen anderen europäischen Literaturen bereits im 16. Jahrhundert ein. Am Beginn der deutschsprachigen Rezeption stehen die Übersetzungen von Paul Schede Melissus (1539-1602), Ambrosius Lobwasser (1515-1585) und Philipp d. J. Freiherrn von Winnenberg und Beilstein (1538-1600), von denen sich allein die Bearbeitung Lobwassers durchsetzen und die Rolle des .deutschen Hugenottenpsalters' übernehmen konnte. Dem Lobwasser-Psalter, der in der reformierten Kirche einen fast kanonischen Status erreichte, sind mehrere Beiträge des Bandes gewidmet: Lars Kessner skizziert die Entstehungs- und frühe Wirkungsgeschichte des Psalters im 16. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Konfessionalisierungstendenzen der Zeit. Die unterschiedlichen Intentionen der poetisch ambitionierten Psalmendichtungen Schedes in Volks- und Gelehrtensprache erforscht Ralf Georg Czapla, und Rainer H. Jung widmet der glücklosen Psalmenbereimung Winnenbergs erstmals in der Geschichte der Psalterforschung eine eigene Studie. Eckhard Grunewald stellt die Frage nach den Quellen des sog. Düsseldorfer Gesangbuchs von 1612 (eines angeblich „nach den ersten exemplaren des Authoris mit fleiß" gedruckten Lobwasser-Psalters) und gelangt zu einer Neubewertung der frühen Lobwasser-Drucke, vor allem der wirkungsgeschichtlich bedeutsamen, vom Autor neubearbeiteten zweiten Auflage des Werks (Leipzig 1576).

3

Erich Trunz, Die deutschen Übersetzungen des Hugenottenpsalters, in: Euphorion 19 (1928), 578-617.

Einleitung

3

Die Begegnung mit den Psalmendichtungen von Marot und de Bèze, die sich auf der Höhe des damaligen westeuropäischen Literaturstandards bewegten, bedeutete für die Dichter im poetisch rückständigen Deutschland, dessen Profil Dieter Breuer in seinem Beitrag über die Poetik der geistlichen Lieddichtung im frühen 16. Jahrhundert nachzeichnet, zugleich Herausforderung und Chance. Die strikte Ausrichtung der Übersetzungen an der Vers- und Strophenform der französischen Vorlagen (um die Sangbarkeit der Texte nach den vorgegebenen Melodien zu gewährleisten) führte in der deutschen Lyrik zu einem Qualitätssprung in Metrik und Strophik. Die Faszinationskraft der Texte und Melodien des Genfer Psalters machte an den Konfessionsgrenzen nicht halt: Schon die katholischen Zensoren des 16. Jahrhunderts taten sich schwer, gegen die Genfer Psalmenübersetzung das Verdikt der Häresie auszusprechen, wie Francis Higman in seinem Beitrag aufzeigt. Der Einwirkung des Lobwasser-Psalters auf die lutherische Choraltradition widmet sich Robin A. Leaver. Mit den Psaltern von Cornelius Becker (15611604) und Johann Wüstholtz (ca. 1570-1626) stellt Lars Kessner zwei lutherische Antworten auf den angeblich kryptocalvinistischen Lobwasser-Psalter vor. Dem Einfluß auf das katholische Liedschaffen gehen Dieter Gutknecht am Beispiel Caspar Ulenbergs (1548-1617) und Dieter Breuer anhand des Rheinfelsischen Gesangbuchs (1666) nach. Die Wirkung des Genfer Psalters in seiner Vermittlung durch Lobwasser hielt auch im 17. Jahrhundert an, wie Irmgard Scheitler in ihrem Beitrag über die Rezeption im protestantischen Deutschland nachweist, doch ist nicht zu übersehen, daß im Laufe der Zeit die Kritik am Lobwasser-Psalter zunahm. Die Ursache für die immer schärfer formulierte Ablehnung ist in der allgemeinen poetologischen Neuorientierung zu suchen, die sich mit dem Namen Martin Opitz (1597-1639) und seinem Buch von der Deutschen Poeterey (1624) verbindet. Die Ursprünge dieses nationalliterarischen Projekts zeigt Klaus Garber in ihrem europäischen Kontext auf. Inwieweit sich das neue Poetikkonzept auf Opitzens eigene Psalmendichtungen - vor allem auf die in Konkurrenz zum Lobwasser-Psalter geschaffene Psalmenbereimung von 1637 - auswirkte, untersucht Jörg-Ulrich Fechner. Trotz seiner sprachlich-stilistischen Gediegenheit vermochte der OpitzPsalter sich nicht gegen den altehrwürdigen „Lobwasser" durchzusetzen. Die Rufe nach einer Ablösung der antiquierten Bereimung wurden gleichwohl immer lauter - sofern die Zeitgenossen nicht (wie Konstanze Grutschnig-Kieser am Beispiel der radikalpietistischen Liederdichtung des 18. Jahrhunderts aufzeigt) gleich „Psalter ohne Psalmen" schufen, d. h. auf anderes geistliches Liedgut auswichen. Als Antwort auf die fortdauernden Klagen über die Unverständlichkeit und poetische Unzulänglichkeit des Lobwasser-Psalters legte schließlich im Jahre 1798 Matthias Jorissen (1739-1823) in Wesel eine deutsche Neutextierung des Genfer Psalters vor; Jürgen Henkys analysiert den Einfluß aufklärerischen Gedankenguts auf die Textgestaltung von Jorissens Neuer Bereimung der Psalmen.

4

Eckhard Grunewald / Henning P. Jürgens

Die Geschichte der Rezeption des Genfer Psalters zeigt in den Niederlanden einen ähnlichen Verlauf wie in Deutschland. Am Beginn stehen als konkurrierende Psalter-Übersetzungen die Psalmenbereimungen von Jan Utenhove (1520-1565) und Petrus Datheen (1531-1588) - durchaus vergleichbar mit den Psaltern Schedes und Lobwassers - , von denen sich Datheens Werk durchsetzen und auch in der Folgezeit gegen alle Konkurrenten behaupten konnte, wie Maria A. Schenkeveld-van der Dussen in ihrer detaillierten Übersicht zur Geschichte des Psalters in den Niederlanden aufzeigt. Hans Beelen unterzieht die poetisch ambitionierten „eigenwilligen" Psalmen Jan Utenhoves, die den schlichten Versen Datheens den Vortritt lassen mußten, einer eingehenden Analyse. Am Beispiel des 23. Psalms zeigt Johan Meijer die differierenden Bearbeitungsprinzipien von Lukas de Heere (1534-1584), Petrus Datheen (1531-1588) und Philips van Marnix (1540-1598) auf. Psalmenbereimungen im Spannungsfeld von geistlicher Andacht und profaner Kunstfertigkeit schuf Pieter Corneliszoon Hooft (1581-1647); ihnen ist eine weitere Studie von Hans Beelen gewidmet. Der Einführung der Genfer Psalmenmelodien in den Niederlanden im 16. bis 18. Jahrhundert und den damit verbundenen vielfaltigen Problemen und unerwarteten Schwierigkeiten geht Jan R. Luth in seinen beiden Beiträgen zu Gemeindegesang und Orgelbegleitung nach. Wie in Deutschland brachte das 18. Jahrhundert auch in den Niederlanden das Ende der Monopolstellung des seit dem 16. Jahrhundert von den kirchlichen Autoritäten favorisierten Psalters: Wurde Lobwasser durch Jorissen verdrängt, so wurde in den Niederlanden der Datheensche Psalter 1773 durch die Statenberijming ersetzt - hierzu der Beitrag von Roel A. Bosch. Die staatlich approbierte Neufassung wurde den (kirchen)politischen, theologischen und poetischen Anforderungen des 18. Jahrhunderts weit eher gerecht als das veraltete Psalmbuch Datheens, das freilich auch heute noch in einzelnen Orten der Niederlande Verwendung findet. Datheen bietet hier wieder eine Parallele zu Lobwasser, dessen Psalter ebenfalls - trotz aller gegenläufigen Tendenzen des 18. Jahrhunderts - zwar nicht in Deutschland, aber in einigen Gegenden der Schweiz immer noch benutzt wird. Der Genfer Psalter wurde in der deutschsprachigen Schweiz zunächst ausschließlich in der Übersetzung Lobwassers rezipiert: Nach anfangs zögerlicher Aufnahme wurde der „Lobwasser" auch hier zum allgemeinen Gesangbuch der Reformierten - wie Andreas Marti und Alfred Ehrensperger in ihren Beiträgen über die Rezeption des Genfer Psalters in der deutschsprachigen Schweiz (und im rätoromanischen Gebiet) im 17. und 18. Jahrhundert aufzeigen. Auch in der Schweiz führte der Weg von der Akzeptanz über Kritik und Widerstand zur Ablösung. Am Beispiel von Johann Caspar Lavaters (1741-1801) Specialgravamen gegen den Gesang der Lobwasserschen Psalmen zeichnet Hans-Jürg Stefan diese Entwicklung nach. Die Einführung des Zürcher Gesangbuchs von 1786 bedeutete - wie die Einführung der Psalmen Jorissens (1798) in Deutschland und der Statenberijming (1773) in den Niederlanden - für die Schweiz den Abschied von den Psalmenbereimungen der „ersten Stunde", deren ehrwürdiges Alter und jahrhunderte-

Einleitung

5

langer liturgischer Gebrauch keinen Schutz mehr vor dem Ansturm der aufgeklärten Zeitströmungen bot. Keinem der Nachfolgepsalter des 18. Jahrhunderts sollte freilich eine so lange Lebenszeit vergönnt sein wie den Psalmenbereimungen Lobwassers und Datheens, die mehr als zwei Jahrhunderte hindurch den Lebensweg von ungezählten reformierten Protestanten begleiteten und auch über die konfessionellen Grenzen hinweg wirkten. In seiner französischen Urfassung wie in den Bearbeitungen in deutscher und niederländischer Sprache hat der Genfer Psalter auf mannigfache Weise die Hoch- und Alltagskultur beeinflußt. Im 16. und frühen 17. Jahrhundert vermittelte er vor allem der deutschsprachigen Poesie (vor Opitz) richtungsweisende Impulse. In den nachfolgenden Jahrhunderten wurde er zu einer Art geistlichem Volksbuch: Durch den vorherrschenden Gebrauch im Gottesdienst, durch die weitverbreitete Nutzung als Haus- und Schulbuch und durch die Verwendung einzelner Psalmen als Gesellschaftslieder prägte sich der Psalter über Generationen dauerhaft ein und wurde zum identitätsstiftenden kulturellen Gemeingut der Reformierten. Der Genfer Psalter ist dasjenige Werk der französischen Literatur- und Musikgeschichte, das im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts die weiteste Verbreitung fand - sowohl in der Originalversion als auch in den Sprachen benachbarter oder weiter entfernter Länder. Das eingangs zitierte Sonett des schlesischen Dichters Wencel Scherffer von Scherffenstein aus den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts legt hiervon beredtes Zeugnis ab. Eine Aufarbeitung der volkssprachigen Rezeption des Genfer Psalters von Spanien bis Polen, von Dänemark bis Ungarn, von Schottland bis Böhmen steht bislang noch aus. Der vorliegende Band, der sich der frühesten und lebhaftesten Rezeption des Psalters von Clément Marot und Théodore de Bèze in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden widmet, mag Impulse geben für die noch ausstehende Untersuchung der gesamteuropäischen Rezeptionsgeschichte der Genfer Psalmen und zugleich Perspektiven eröffnen für eine neue, differenzierte Sicht der vielfaltigen Kulturwirkungen des reformierten Protestantismus in der Frühen Neuzeit.

I. DER GENFER PSALTER

Vorgeschichte, Entstehung und Verbreitung · Theologie · Melodik

Jan R. Luth

Aulcuns pseaulmes et cantiques mys en chant. A Strasburg. 1539

Die Aulcuns pseaulmes et cantiques mys en chant sind das erste Gesangbuch in einer Reihe, an deren Ende die vollständige Ausgabe des Genfer Psalters von 1562 steht. Die Veröffentlichungen, die bis jetzt über dieses Gesangbuch erschienen sind, widmeten sich vor allem der Frage nach der Herkunft der Texte und der Melodien. Die Forschung hat gezeigt, was Johannes Calvin und Clément Marot zu diesem Gesangbuch beigetragen haben. Von den 22 Texten - 19 Psalmen und drei weitere Gesänge - sind 13 von Marot, die übrigen werden Calvin zugeschrieben, obwohl seine Autorschaft nur für zwei Bereimungen, die Psalmen 25 und 46, feststeht.1 Auch von der Hälfte der Melodien ist die Herkunft bekannt: Eine stammt von Luther, eine von Vogtherr, und sechs sind mit Sicherheit von den Straßburger Kantoren Matthias Greiter und Wolfgang Dachstein. Die Analyse der Texte und Melodien, deren Herkunft bis jetzt unbekannt ist, könnte wohl zu weiteren Hypothesen führen; auf der Basis der heute verfugbaren Quellen können text- und melodiekritische Analysen jedoch nur Vermutungen, keine wirklich verläßlichen Ergebnisse erbringen. Im folgenden Beitrag möchte ich dagegen bei einem Gegenstand verweilen, der in der Forschung zu den Aulcuns pseaulmes zu wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. Es geht um die Frage, worauf die Auswahl der Psalmen und Gesänge im Straßburger Gesangbuch beruht. Mit James Ross Miller weise ich die Auffassung Richard Terrys (in seiner Einleitung zum Faksimile der Aulcuns pseaulmes) zurück, daß dieses Gesangbuch nicht für den Gottesdienst der französischen Gemeinde in Straßburg bestimmt gewesen sei.2 Markus Jenny geht davon aus, daß die Aulcuns pseaulmes für die Gottesdienste der französischen Gemeinde bestimmt waren, ist aber der Meinung, daß die Wahl der Psalmen von Marot und Calvin rein zufällig war. Calvin, so meint Jenny, fugte Marots

*

1 2

Eine erweiterte Fassung dieses Beitrags erscheint als Einfiihrung zu: Aulcuns pseaulmes et cantiques mys en chant. A Strasburg. 1539. Faksimile/Facsimile/Fac-similé. Einfiihrung/ Introduction Jan R. Luth, Brasschaat 2003 (Publikation im Rahmen des Forschungsprogramms „Kulturwirkungen des reformierten Protestantismus" der Johannes a Lasco Bibliothek Emden). Pierre Pidoux, Le Psautier Huguenot, Basel 1962, II, 2f. James Ross Miller, Calvin and the Reformation of Church Music in the Sixteenth Century, Ann Arbor/Michigan 1971, 69.

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Jan R. Luth

Bereimungen einige eigene hinzu und ging dabei von Melodien aus, die er von der deutschen Gemeinde in Straßburg übernahm.3 Wenn wir davon ausgehen, daß Calvin die Aulcuns pseaulmes für seine französische Gemeinde in Straßburg zusammenstellte, erhebt sich die Frage, ob für die Auswahl der Psalmen eine liturgische Erklärung gegeben werden kann oder ob diese Wahl eher zufällig war. Zur Beantwortung dieser Frage läge es nahe, die Straßburger Gottesdienstordnung der französischen Gemeinde mit dem Inhalt der Aulcuns pseaulmes zu vergleichen. Leider ist aber diese Gottesdienstordnung verlorengegangen. Auf der Suche nach anderen Quellen fiel mir jedoch auf, daß Alfred Erichson in seiner Studie über die liturgischen Ordnungen in Straßburg einige Notizen macht, die in der Forschung bislang kaum beachtet worden sind, die aber von großer Bedeutung für die Rekonstruktion von Calvins Gottesdienstordnung sein könnten. Erichson weist daraufhin, daß Straßburg schon 1530 eine französische Schule hatte, daß aber die französische Gemeinde nicht selbständig, sondern Teil der deutschsprachigen Gemeinde war.4 Die französische Gemeinde wurde vom Magistrat kontrolliert. Erst mit der Ankunft Calvins 1538 erhielt sie die Genehmigung, selbständig das Abendmahl zu feiern.5 Das Fehlen der Selbständigkeit macht es wahrscheinlich, daß die Gemeinde zur Zeit des Erscheinens der Aulcuns pseaulmes die Gottesdienstordnung der deutschen Gemeinde benutzt hat. Das könnte auch die Erklärung dafür sein, daß in den Aulcuns pseaulmes liturgische Formulare für Taufe, Abendmahl und Eheschließung fehlen. Es steht fest, daß nicht lange nach Erscheinen der Aulcuns pseaulmes eine neue Auflage publiziert wurde, die auch eine Gottesdienstordnung, Gebete und Formulare enthielt, also ein komplettes Kirchenbuch darstellte. Auch dieses Buch ist verschollen. Weil keine Exemplare mehr vorhanden waren, besorgte Pierre Brully 1542 - Calvin war wieder in Genf - eine neue Auflage. Dieses Gesangbuch, La Manyere de faire prieres, wurde 1872 aufgefunden und von Orentin Douen in seinem Werk Clément Marot et le Psautier Huguenot zum ersten Mal beschrieben.6 Das Buch wurde bekannt als die Edition Pseudoromana, weil Rom als fingierter Verlagsort mit dem Zusatz „par le commendement du pape" auf dem Titelblatt angegeben war, was übrigens nicht verhinderte, daß in Metz die Herkunft des Buches durchschaut wurde: Hunderte Exemplare, die für die Protestanten in Metz bestimmt waren, wurden beschlagnahmt und vernichtet.7 Weil die Ausgabe, die diesem Buch zugrunde lag, verloren ist, kann man mit Erichson sagen, daß La Manyere de faire prieres das älteste erhaltene Kirchenbuch der französischen Gemeinde in Straßburg ist. Es wurde 1542 in Genf neu

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Markus Jenny, Luther, Zwingli, Calvin in ihren Liedern, Zürich 1983, 221. Alfred Erichson, Die calvinische und die altstrassburgische Gottesdienstordnung. Ein Beitrag zur Geschichte der Liturgie in der evangelischen Kirche, Straßburg 1894, 6. Ebd. Orentin Douen, Clément Marot et le Psautier Huguenot I, Paris 1878, N D Amsterdam 1967, 333-347. Erichson, Gottesdienstordnung (s. Anm. 4), 8.

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aufgelegt und an die dortige gottesdienstliche Situation angepaßt: La Forme des prières et chants ecclésiastiques.8 Im Jahre 1545 wurde das Buch für Straßburg neu herausgegeben; es ist seit 1870 verloren.9 Die Quellenlage erweist sich also als sehr problematisch. Wenn aber die französische Gemeinde in Straßburg vor der Publikation der Liturgie von 1540 die Gottesdienstordnung der deutschsprachigen Gemeinde benutzte, können wir auf der Grundlage der deutschsprachigen Straßburger Gesangbuchtradition vielleicht Einzelheiten der ersten Gottesdienstordnung Calvins erschließen. Schon Erichson kam auf diesen Gedanken und untersuchte den Inhalt des von Wolfgang Köpfel 1539 herausgegebenen Psalters mit aller Kirchenübung die man bey der christlichen Gemein zu Straßburg und anderswa pflügt zu singen.w Das Gesangbuch enthält auch eine Ordnung für den Hauptgottesdienst am Sonntagmorgen. Wenn wir diese Ordnung mit der Pseudoromana vergleichen, kommen wir zu dem Ergebnis, daß der Inhalt beider Bücher nahezu identisch ist. In der Pseudoromana fehlen nur zwei Rubriken, nämlich Von Besuchung der todten gemeint ist der Kranken - und Übung bei den Leichen. Diese sind jedoch in der Liturgia Sacra von Vallerand Poullain/Pollanus enthalten." In der Pseudoromana wird das Abendmahl separat beschrieben, ist aber im Psalter von 1539 in den Hauptgottesdienst integriert. In beiden Gottesdienstordnungen hat das Abendmahl seinen Ort nach Fürbittengebet und Vaterunser. Das bedeutet, daß beide Ordnungen weitgehend identisch sind. Psalter 1539

La Manyere 154212

Eingangsspruch und offene Schuld Trostsprüche aus Hl. Schrift und Absolution Psalm/Gesang Kurzes Gebet um das rechte Anhören der Predigt Psalm oder 2. Teil des Dekalogs Lesung und Predigt Allgemeines Fürbittengebet Vaterunser Credo (Symb. Apost.) oder Psalm/Gesang Segen (Numeri 6)

Invocation et confession des péchés Absolution Chant Γ partie du Décalogue Prière

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Chant 2e partie du Décalogue Prière Lecture de la parole de Dieu et Sermon Prières générales Paraphrase de l'oraison dominicale Le symbole des apôtres ou un psaume Bénédiction (Nombres 6)

Die Ausgabe weist als charakteristischen Druckfehler auf, daß Ps. 149 als 159 angegeben wird. Der Text lautet „Chantez au Seigneur chanson nouvelle", er bietet also eine frühere Fassung gegenüber der Ausgabe Genf 1562 (Text: de Bèze, Melodie: Davantès), wo es heißt: „Chantez à Dieu chanson nouvelle". Joannis Calvini Opera Selecta, hg. ν. Petrus Barth / Guilielmus Niesei, München, 1926— 1936, II, 8. Erichson, Gottesdienstordnung (s. Anm. 4), 12. Valerandus Pollanus, Liturgia Sacra (1551-1555), hg. v. Adriaan Casper Honders (Kerkhistorische Bijdragen 1), Leiden 1970, 166-170. Philipp August Becker, Clement Marots Psalmübersetzung, in: Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 72 (1920), 21-23.

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Nicht nur die Reihenfolge, auch die einzelnen Teile in der Pseudoromana sind weithin identisch. Erichson behauptet, daß der Psalter von 1539, das Teutsch Kirchenamt von 1525 und Martin Bucers Grund und Ursach ebenfalls identisch sind. Das ist aber nicht der Fall, was deutlich wird, wenn wir Bucers Ordnung in Grund und Ursach mit der aus den Jahren 1539 und 1542 vergleichen.13 Zum einen ist der Ort des Dekalogs ein anderer: Der erste Teil des Dekalogs folgt bei Bucer auf die Epistellesung, der zweite Teil wird nach der Predigt gesungen. Zum anderen folgt das Fürbittengebet in der Liturgie von 1539 auf die Predigt, bei Bucer aber auf das Credo und bildet damit den Übergang zur Abendmahlsfeier. Was die übrigen Teile betrifft, kann man tatsächlich feststellen, daß der Psalter von 1539 und die Pseudoromana eng mit Bucers Ordnung verwandt sind:14 Bekenntnis der Sünden und Gebet um Gnade Absolution Psalmen oder Gesänge (der ganzen Gemeinde) Gebet Lesung: Epistel und kurze Erklärung Gesang: Zehn Gebote oder Gesang Lesung: Evangelium Predigt Gesang: Zehn Gebote (2. Teil) oder Gesang Gesang: Credo Fürbitten Abendmahlsvermahnung Einsetzung des Abendmahls aus den drei Evangelien und 1 Kor 11 Austeilung Lobgesang Gebet Segen

Es wird deutlich, daß die Pseudoromana mit der Ordnung von 1539 identisch ist, wodurch bewiesen ist, daß Erichson recht hatte mit seiner These, daß die französische Gemeinde sich den liturgischen Gebräuchen der Straßburger Gemeinde angeschlossen hat. Diese Situation blieb für einige Jahrzehnte bestehen, denn noch 1560 mußte der neue Katechismus der Straßburger Gemeinde, der lateinisch war, vom Pfarrer der französischen Gemeinde ins Französische übersetzt werden.15 Von liturgischer Selbständigkeit kann also keine Rede sein. Das macht es unwahrscheinlich, daß Calvin originelle Neuschöpfungen vornahm. Ein Beispiel dafür ist die Confession des Péchés, die nicht von Calvin neu formuliert

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Friedrich Hubert, Die Straßburger liturgischen Ordnungen im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1900, LXDÍ. Ebd., LXIX. Auf XCI f. gibt Hubert die Reihenfolge aus den Ausgaben 1526-1561 an: Confiteor!Offene Schuld / Absolution / Psalm 57 (Miserere) / Gebet vor der Predigt / Psalm / Lesung / Predigt (mit Abendmahlsvermahnung) / Credo, Psalm oder Gesang / Gebet (Fürbitten und Bedeutung des Abendmahls) / Abendmahlsvermahnung / Abendmahl / Gott sei gelobet oder Psalm / Danksagung / Segen. Erichson, Gottesdienstordnung (s. Anm. 4), 30.

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wurde, sondern eine Übernahme des Confiteor darstellt, das schon früher in der deutschen Gemeinde übersetzt worden war.16 Unter den Forschern gibt es verschiedene Ansichten zu der Frage, ob wir in der Pseudoromana die Gottesdienstordnung Calvins vor uns haben. Markus Jenny geht davon aus, daß die Abendmahlsliturgie der Pseudoromana von Calvin stamme, daß aber Calvins Autorschaft nicht bewiesen werden könne.17 Für Erichson steht Calvins Autorschaft fest, besonders weil Calvin sich selbst in der Vorrede des Gesangbuchs von 1545 nennt, einem Druck, der laut Erichson mit dem von 1542 identisch sei.18 Die Herausgeber des II. Bandes der Opera Selecta Calvins, Petrus Barth und Dora Scheuner, sehen die Pseudoromana auch als einen Neudruck der verschollenen Liturgie von 1540 an. Sie lassen aber den Stammbaum nicht bei der deutschsprachigen Liturgie von Straßburg anfangen, sondern bei der Liturgie von Guillaume Farei von 1533.19 Auch Miller geht davon aus, daß wir in der Pseudoromana die Straßburger Liturgie Calvins vor uns haben.20 Auffallend ist jedenfalls, daß der Herausgeber 1542 im Vorwort der Pseudoromana erklärt, er habe jetzt die Ordnungen für Abendmahl und Taufe zugefügt.21 Das deutet darauf hin, daß die Pseudoromana die Neuausgabe eines bereits vorliegenden Buchs gewesen ist. Die Frage nach der Autorschaft Calvins möchte ich hier offen lassen und lediglich festhalten, daß die liturgische Überlieferung in Straßburg zwischen 1539 und 1545 außerordentlich einheitlich ist. Besonders die Ähnlichkeit zwischen dem Psalter von 1539 und der Pseudoromana macht es höchst unwahrscheinlich, daß es zwischen 1539 und 1542 noch eine ganz andere Liturgie gegeben haben kann. Wenn wir außerdem in Betracht ziehen, daß die französische Gemeinde nicht selbständig war, können wir davon ausgehen, daß wir im Psalter 1539 und in der Pseudoromana die Gottesdienstordnung vor uns haben, die von der Gemeinde Calvins in Straßburg benutzt wurde. Ich gehe aufgrund dieser Argumente davon aus, daß die verschollene Liturgie Calvins aus dem Jahr 1540 identisch war mit den Ordnungen 1539 und 1542. Diese Schlußfolgerung findet sich bestätigt durch die Liturgia Sacra von Pollanus. Er kam um 1543 nach Straßburg und war fur einige Zeit Ältester in der französischen Gemeinde.22 Seine Liturgia Sacra publizierte er 1551. Darin beschreibt er eine offenbar spätere Entwicklung der Straßburger Liturgie. Gerade dadurch gewinnt die Konsistenz der Straßburger Liturgie zwischen 1539 und 1545 einen um so höheren Quellenwert. Die von Pollanus beschriebene Liturgie enthält gewiß Elemente aus der frühen Straßburger Überlieferung, aber die Reihenfolge ist 16

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Ebd., 32. Auch Miller stellt fest, daß die französische Gemeinde die liturgische Praxis der deutschsprachigen Gemeinde übernommen hat: Miller, Calvin (s. Anm. 2), 263, 267. Markus Jenny, Die Einheit des Abendmahlsgottesdienstes bei den elsässischen und schweizerischen Reformatoren, Zürich 1968, 116. Erichson (s. Anm. 4), lOf. Barth/Niesel, Calvini Opera Selecta (s. Anm. 9), Π, 5. Miller, Calvin (s. Anm. 2), 262-268. Douen, Marot (s. Anm. 6), I, 334. Honders, Pollanus (s. Anm. 11), 7.

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grundsätzlich geändert, weil der Gottesdienst bei Pollanus nicht mit der Offenen Schuld beginnt, sondern mit dem Dekalog in der Version von Clément Marot. Die deutschsprachige Gemeinde hatte hier Luthers Dies sind die heiigen zehn Gebot und die französische seit 1539 Calvins Oyons la Loy que de sa voix, das bald ersetzt wurde durch Marots Leve le coeur, ouvre l'oreille mit der Melodie, auf die später auch Psalm 140 gesungen wurde. Luther und Calvin haben das Kyrie eleison am Schluß jeder Strophe, was aber bei Marot fehlt.23 In der Form Marots wurde der Dekalog in die Aulcuns pseaulmes aufgenommen. Der erste Teil des Gottesdienstes bis zur Lesung mit einleitendem Gebet wird von Pollanus als eine Einheit aufgefaßt. Der Dekalog hat bei Bucer seinen Ort im Hauptgottesdienst als Lied nach der Epistellesung; er wird später aufgenommen in die Offene Schuld.24 Danach kommt der Dekalog als Lied nach Offener Schuld und Absolution vor. An dieser Stelle steht der Dekalog auch in den Ordnungen von 1539 und in der Pseudoromana. Die Ordnung stellt sich bei Pollanus wie folgt dar:25 Leve le coeur, 1. Teil des Dekalogs Adiutorium Offene Schuld Absolution 2. Teil des Dekalogs Gebet Gesang Lesung Predigt Fürbitten Credo (Apostolicum) Abendmahl Gebet Formular Kommunion mit Psalm Danksagung Psalm Segen, Numeri 6

Auf der Grundlage dieser Informationen können wir jetzt der Frage nachgehen, wie sich der Inhalt der Aulcuns pseaulmes zur Liturgie der französischen Gemeinde verhält. Aus den genannten Ordnungen wird klar, daß der gesungene Dekalog oder ein ihn ersetzender Psalm und das Credo (im Abendmahlsgottesdienst der Moment, in dem der Pfarrer zum Abendmahlstisch geht) eine feste Stelle hatten. In der Pseudoromana wird Psalm 138 während der Austeilung gesungen und anschließend, zwischen Dankgebet und Segen, das Canticum Simeonis. Pollanus schreibt,26 daß zwei Psalmen eine feste Stelle in Gottesdienst 23 24 25 26

Ebd., 11. Vgl. Pidoux, Psautier (s. Anm. 1), I, 201a und c. Honders, Pollanus (s. Anm. 11), 11. Ebd., 55ff. Ebd., 16.

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zur Einsegnung einer Ehe hatten: am Anfang Psalm 128 und zum Schluß Psalm 113. Obwohl Pollanus eine spätere Entwicklung beschreibt, ist es auffallend, daß beide Psalmen in die Aulcuns pseaulmes aufgenommen wurden. Die liturgische Verwendung einiger Psalmen und Gesänge in den Aulcuns pseaulmes steht also fest: Psalm 138, Dekalog, Credo und Canticum Simeonis, wahrscheinlich auch die Psalmen 113 und 128. Im Psalter 1539 und in der Pseudoromana gab es auch einen Psalm am Ende des Gottesdienstes. Außerdem konnte das Singen des Dekalogs ersetzt werden durch einen Psalm, das heißt: nach der Offenen Schuld und zwischen dem Gebet vor der Predigt und der Predigt selbst. Bei Pollanus wird auch während der Kommunion gesungen, aber das könnte eine spätere Entwicklung sein. Wir könnten über den liturgischen Ort der Psalmen mehr sagen, wenn wir wüßten, wie damals die Psalmen aufgefaßt wurden. Einen Anhaltspunkt dafür geben die Argumente (arguments), kurze Zusammenfassungen des Inhalts eines Psalms, die nicht in die Aulcuns pseaulmes aufgenommen wurden, die Marot aber seinen ursprünglichen Versionen beigegeben hatte. Ich gehe im folgenden auf die Argumente Marots zu denjenigen Psalmen ein, die in den Aulcuns pseaulmes vorkommen.27 Voraussetzung dieser Überlegungen ist, daß in Straßburg die Auffassung der Psalmen dieselbe war wie in Marots Argumenten, was natürlich nicht von vornherein feststeht. Zuerst die Psalmen die meiner Meinung nach keine deutliche liturgische Funktion haben: Psalm 2: „Icy voit on comment David et son Royaume sont vraye figure et indubitable prophetie de Jesuschrist et de son Regne. Pseaulme propre contre les Infidelles."28 (Hier sieht man, wie David und sein Königtum wahre Bilder und unzweifelhafte Prophezeiungen für das Königtum Christi und sein Reich sind [Typus-Antitypus], Ein Psalm, geeignet gegen die Ungläubigen.) - Es ist schwierig, diesen Psalm einem spezifischen Moment in der Gottesdienstordnung zuzuweisen. Psalm 3: „David assailly d'une grosse Armée / s'estonne du commancement / Puis prend une si grande fiance en Dieu qu'après l'avoir imploré, Il s'asseure de la victoire / Pseaulme propre pour ung chef de guerre moins bien accompagné que son Ennemy."29 (David sammelt ein großes Heer, fragt sich, wie er beginnen soll. Da faßt er ein so großes Vertrauen zu Gott, daß er, nachdem er Gott angefleht hat, sich seines Sieges gewiß ist. Ein Psalm, geeignet für einen General, der über weniger Truppen verfügt als sein Feind.) - Wie in Psalm 2 ist eine liturgische Funktion schwer anzugeben. Wenn wir von der in der Literaturwissenschaft gebräuchlichen Unterscheidung Wolfgang Isers zwischen Leerstelle

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Nach Samuel Jan Lenselink, Les pseaumes de Clement Marot, Assen 1969; wiedergegeben wird der Text der Manuskripte, der zum Teil abweicht von den arguments der Ausgabe von Jaquy, Paris 1562. Ebd., 63. Ebd., 69.

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und Bestimmtheitsstelle ausgehen, dann ist der Feind bei Marot eine Leerstelle, so daß es von der Situation abhängt, wer als Feind gilt. Psalm 143: „Priere qu'il feit quant par crainte de Saul" (Gebet Davids in seiner Angst vor Saul.)30 - Ein typisches Klagelied eines Einzelnen, der von Feinden verfolgt wird. Eine liturgische Funktion ist nicht wahrscheinlich. Vielmehr weist die Wahl dieses Psalms darauf hin, daß die Aulcuns pseaulmes nicht nur fur den Gottesdienst bestimmt waren, sondern auch für das Singen in Schulen und Häusern in Zeiten der Verfolgung. Es folgen die Psalmen, die meiner Meinung nach mit dem Dekalog verbunden sind: Psalm 1: „Ce pseaulme chante que ceulx sont bien heureux, qui rejectans les meurs et le conseil des mauvaix, s'adonnent à congnoistre et mectre à effect la loy de Dieu; Et malheureux ceulx qui sont au contraire. Chose propre pour consoler les bons."31 (Der Psalm verkündet, daß diejenigen glücklich sind, die die Sitten und Ratschläge der Gottlosen verwerfen und sich der Kenntnis und der Erfüllung des Gesetzes Gottes widmen; unglücklich diejenigen, die entgegengesetzt handeln. Geeignet zur Tröstung der Guten.) - Dieser Psalm wird also als ein Psalm über den Dekalog verstanden und könnte folglich anstelle des Dekalogs gesungen worden sein. Es sei daran erinnert, daß es im Psalter von 1539 heißt: Psalm oder 1./2. Teil des Dekalogs. Psalm 19: „David monstre par le merveillieux ouvraige des cieulx combien Dieu est puissant, Il loue, et exalte la loy divine, et en fin prie le seigneur Dieu qu'il le preserve de peché à fin de luy estre agreable. Pseaulme propre pour faire contempler la puissance et bonté de Dieu."32 (David zeigt an dem wunderbaren Himmelswerk, wie mächtig Gott ist. Er lobt und preist das göttliche Gesetz und bittet Gott den Herren, er möge ihn vor Sünden bewahren. Ein Psalm, der die Macht und Güte Gottes zum Thema hat.) - Wenn zur Entstehungszeit der Aulcuns pseaulmes, wie Pollanus schreibt, auch schon während der Kommunion gesungen wurde, kommt dieser Psalm über die Güte Gottes hierfür in Betracht. Eine zweite Möglichkeit wäre nach der Absolution anstelle des Dekalogs. Psalm 114: „C'est le cantique de David faict de la délivrance des enfans D'israel hors D'egypte, poursuyvis par Pharaon, et succintement Recite les principaulx miracles que Dieu feit pour ce là."33 (Dies ist der Gesang Davids über die Befreiung der Kinder Israels aus Ägypten, wie sie durch den Pharao verfolgt wurden, und die wichtigsten Wunder, die Gott aus diesem Anlaß gewirkt hat.) - Eine Verwendung anstelle des Dekalogs liegt nahe, er ist aber auch als Psalm zum Beschluß des Gottesdienstes geeignet. Psalm 103: „II chante les grandes et diverses bontez de dieu envers les hommes, puis invite et eulx et toutes choses créés, à luy donner louenge et gloire."34 (Er 30 31 32 33 34

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

213. 61. 124. 196. 176.

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besingt die großen und vielfaltigen Gaben Gottes an die Menschen. Dann ruft er sie wie alle Kreatur auf, Gott Ruhm und Ehre zu geben.) - Für diesen Psalm kommt als Lobgesang eine Verwendung am Ende des Gottesdienstes in Betracht, er kann aber auch, wie im späteren reformierten Abendmahlsgottesdienst, beim Abendmahl gesungen worden sein. Es folgt eine Gruppe von Psalmen, die dem Thema Buße gewidmet sind. Diese sind in den Aulcuns pseaulmes zahlreich vertreten. Von den sieben Bußpsalmen: 6, 32, 38, 51, 102, 130 und 143 (Hebr. Zählung) kommen vier vor: 32, 51, 130 und 143. Psalm 15: „Pseaulme propre pour inciter à bien vivre."35 (Ein Psalm, geeignet, zum guten Leben anzustacheln.) Psalm 32: „David puny par maladie pour son peiché chante que bien heureux sont ceulx qui pour leur coulpe ne tumbent point en l'inconvenient où il est, Confesse son peiché, lequel luy est de Dieu pardonné, Enhorte les maulvais à bien vivre, et les bons à se resjouyr. Pseaulme propre pour quilconque pense le mal (qu'il ha) venir de son peiché."36 (David, für seine Sünden gestraft durch Krankheit, singt: Glücklich sind, die für ihre Schuld nicht ins Unglück fallen, wie groß sie auch sein mag. Er bekennt seine Sünde, die ihm von Gott vergeben wurde, ermahnt die Schlechten, gut zu leben, und die Guten, sich zu freuen. Ein Psalm geeignet für denjenigen, der glaubt, daß sein Übel aus seinen Sünden resultiert.) Psalm 51: „Apres la mort De Urie, David cognoissant son pecché, Demande pardon à Dieu, et qu'il luy envoye son esperit pour le garder de plus peccher, Il s'offre à instruire les aultres Et prie pour Hierusalem, qui est la vraye Eglise. Pseaulme propre pour quilconque se sent griefvement avoir offensé Dieu."37 (Nach dem Tod Urias bittet David Gott um Vergebung, indem er seine Sünde bekennt. Gleichzeitig bittet darum, daß Gott ihm seinen Geist schickt, um ihn vor weiteren Sünden zu schützen, er bietet sich an, die anderen zu belehren, und betet für Jerusalem, das die wahre Kirche ist. Ein Psalm geeignet für jeden, der fühlt, daß er Gott tief beleidigt hat.) Psalm 115: „II prie Dieu vouloir pour sa gloire si bien traicter son peuple qu'il est le seul Dieu / Et que les ydoles des gentilz ne sont rien que manufacture D'hommes Pseaulme contre les ydolatres."38 (Er bittet Gott, um seiner Ehre willen sein Volk so gut zu behandeln, [damit alle sehen,] daß er der einzige Gott ist und die Götzen der Heiden nichts als Menschenwerk. Ein Psalm gegen Götzenverehrer.) Psalm 130: „Affectueuse priere de celluy qui par son pecché ha beaucoup d'adversitez, et toutesfois par esperance ferme, se promect obtenir de Dieu remission de ses pecchez et délivrance de ses maulx. Pseaulme propre pour tous

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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

122. 144. 170. 200.

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ceulx qui font penitence."39 (Inniges Gebet eines, der wegen seiner Sünde viel Unglück erleidet und sich in fester Hoffnung vergewissert, von Gott Vergebung für seine Sünden zu empfangen und Erlösung von seinen bösen Taten. Ein Psalm geeignet für all diejenigen, die Buße tun.) Alle diese Psalmen könnten ohne Zweifel in einem Bußgottesdienst Verwendung finden. Wir haben aber festgestellt, daß es in der Pseudoromana keinen Bußgottesdienst und auch keine Vesper gibt.40 Bucer hatte freilich die Gewohnheit, nach der Absolution Psalm 57 als Miserere, eigentlich ein Gebet um Gnade, singen zu lassen.41 Einige von den genannten Psalmen kommen für diese Stelle in Betracht, aber bei manchen fragt man sich, welchen Zweck es hat zu büßen, nachdem die Absolution schon erteilt worden ist. Ein Zusammenhang mit dem Dekalog, der ja durch einen Psalm ersetzt werden konnte, ist aber auch unwahrscheinlich, weil der erster Teil des Dekalogs immer nach der Absolution gesungen wurde. Ein Vergleich mit der liturgischen Verwendung der Psalmen in anderen Gemeinden der Reformationszeit ist kaum möglich, weil die Auffassung der Psalmen in dieser Zeit nicht einheitlich war. Als Beispiel genannt sei die Liturgie Johannes a Lascos, Forma ac Ratio, ins Niederländische übersetzt von Marten Micron für die niederländische Gemeinde in London, später auch benutzt von den Flüchtlingen in Ostfriesland. Dort wurde Psalm 1 bei der Einsegnung eines Pfarrers gesungen, während Marot diesen Psalm mit dem Dekalog verbindet. Psalm 103 wurde bei a Lasco und Micron bei der Wiederaufnahme eines Büßers gesungen, aber für Marot ist es ein allgemeines Danklied. Nur die Verwendung des 130. Psalms als Bußpsalm haben Straßburg und London gemeinsam, obwohl kein Bußgottesdienst aus Straßburg um 1540 überliefert ist.42 Nehmen wir an, das dieser existiert hat, dann wurden in diesem Gottesdienst nach Pollanus Psalm 51 und ein Dankpsalm gesungen, wofür Psalm 103 in Betracht kommt.43 In dieser Hinsicht ist aber Vorsicht geboten, weil sich auch in Straßburg im Laufe der Zeit die Verwendung der Psalmen änderte. In der vierten Auflage des Straßburger Psalters, herausgegeben von Jean Garnier 1553, wurde ein Introituspsalm eingeführt; Offene Schuld und Absolution wurden von Psalmen umrahmt. Das Credo wurde nicht mehr gesungen, sondern gesprochen, mit Ausnahme der Abendmahlsfeier. Der Abendmahlsgottesdienst begann mit Psalm 113 (Str. 1^4), nach der Absolution wurde die letzte Strophe dieses Psalms gesungen und während der Austeilung nicht mehr wie bislang Psalm 138, sondern Psalm 11 δ.44

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43 44

Ebd., 206. Douen, Marot (s. Anm. 6), I, 333-342. Hubert, Ordnungen (s. Anm. 13), 91. Jan R. Luth, Inleiding tot de 25, 26 en 11 ander psalmen van Jan Utenhove, Brasschaat 1997, 8f. Honders, Pollanus (s. Anm. 11 ), 263. Jenny, Die Einheit (s. Anm. 17), 123f.

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Terry ging davon aus, daß die Aulcuns pseaulmes nicht für die Gottesdienste der französischen Gemeinde in Straßburg bestimmt waren. Dem ist kaum zuzustimmen. Unter den Liedern der Aulcuns pseaulmes gibt es vier, bei denen die gottesdienstliche Funktion schwer zu belegen ist, wenn wir von den Argumenten ausgehen: die Psalmen 2, 3, 137 und 143. Aber es ist durchaus möglich, daß diese Psalmen in Straßburg anders aufgefaßt und verwendet worden sind, als dies in den Argumenten Marots angegeben ist. Es ist ζ. B. vorstellbar, daß Psalm 2 als Psalm über das Königtum Davids, Typus des Königtums Christi, als Königspsalm zum Beschluß des Gottesdienstes gesungen wurde und nicht wie bei Marot als Psalm gegen die Ungläubigen oder, wie beim Psalter von 1539 und bei der Pseudoromana angegeben, anstelle des Credo nach der Predigt. Psalm 3 als Psalm des Vertrauens könnte dieselbe Funktion gehabt haben. Die Psalmen 137 über Gefangenschaft und 143 über den Feind waren für das Selbstverständnis der französischen Flüchtlinge nicht unwichtig, aber die Frage nach ihrem möglichen Ort im Gottesdienst muß unbeantwortet bleiben. Drei Psalmen (1, 19 und 114) könnten, wenn wir von den Argumenten Marots ausgehen, als Ersatz des Dekalogs gesungen worden sein. Psalm 103 kommt besonders als Psalm während der Abendmahlsfeier in Betracht (wie in der späteren reformierten Tradition), im Anschluß an die Kommunion und auch als letzter Psalm im Gottesdienst. Eine ähnliche Funktion könnten die Psalmen 25, 36 und 46 haben. Psalm 25 wäre sogar denkbar nach der Absolution. Die übrigen sind Bußpsalmen (15, 32, 51, 115, 130). Ihr Ort im Gottesdienst ist nicht klar. So bleibt als Fazit, daß die liturgische Verwendung von Psalm 138 und Canticum Simeonis während des Abendmahls sowie von Dekalog und Credo als feststehend angenommen werden darf. Sehr wahrscheinlich ist die liturgische Verwendung der Psalmen 128 und 113 im Traugottesdienst, besonders weil Pollanus diese Funktion beschreibt und die spätere reformierte Tradition dies für Psalm 128 beibehalten hat. Das bedeutet, daß wir von den 19 Psalmen und drei Gesängen der Aulcuns pseaulmes nur für vier ohne Vorbehalt und für zwei weitere mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine gottesdienstliche Verwendung feststellen können.

Robert M. Kingdon

Uses of the Psalter in Calvin's Geneva

This paper is a report on how the psalter was actually used in Calvin's Geneva. It is based on a variety of records kept in the Geneva State Archives and elsewhere. The ones I have been working on most intensively in recent years are the registers recording the weekly minutes of the Consistory, a body established at Calvin's insistence in 1541, to introduce discipline into the community, to make sure that Genevans not only accepted what Protestants regarded as the true version of Christian belief but also behaved in ways that the Christian religion expects. For a number of years I have been superintending a team of scholars preparing a critical edition of these registers. It is an exceptionally rich record of daily life in Geneva during the years in which the city became Protestant. The creation of a psalter for Geneva was first suggested in the Articles concernant I 'organisation de l'église et du culte à Genève, proposés au Conseil par les ministres, drafted on 16 January 1537, less than a year after the Genevan government had formally adopted the Reformation. They were very probably the work of John Calvin, perhaps in collaboration with William Farei. Farei had been the first organizer of a Reformed regime in Geneva. Calvin had recently settled there as a public lecturer, appointed at Farel's suggestion. That document recommends that church services include the singing of psalms to bring to those services more emotion. The prayers of the faithful that were then part of the service were often found to be so cold that they risked causing shame and confusion. The singing of psalms was supposed to help people to "lift their hearts to God" and generate an "ardor for both invoking and exalting with praises the glory of His [God's] name". Its authors acknowledged that it would take some time to teach people how to sing these psalms. They recommended that in the beginning groups of children be taught how to sing simple church music, "in a loud voice and distinctly", in the hope that the general congregation could learn from these children and before long join them in singing.1 These articles were only suggestions and were not immediately ratified by the government. Calvin and Farei, in fact, were expelled from the city for pressing the government too closely to adopt some of these suggestions. Their program of Reformation could not be fully implemented for several years.

Ioannis Calvini Opera quae supersunt omnia, Guilielmus Baum et al. (eds.), Braunschweig/ Berlin 1863ff,vol. 10, col. 12.

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Robert M. Kingdon

In 1541, however, when Calvin returned to Geneva, now clearly charged with the principal responsibility of supervising the program of Reformation, one of his first steps was to draft a set of ecclesiastical ordinances that included many of the suggestions contained in the Articles of 1537. These ordinances were duly ratified by the government with little change and thus now carried the force of law. Among them was provision for the introduction of "ecclesiastical songs to incite the people to pray and praise God". These ordinances again suggest that these songs first be taught to little children, in the expectation that the entire congregation would soon be able to sing along with the children.2 Geneva had a tradition of training boys to sing music for church services, going back well before the Reformation. An official called the "chantre" on the staff of the cathedral of St. Pierre held this responsibility. Most of his students were preparing for careers in the priesthood. The "chantre" in fact was given the responsibility at one point of supervising all primary education in Geneva, apparently of licensing the masters and mistresses who provided much of this training in their homes.3 He was given special living quarters in a house labelled the "chantrerie" near St. Pierre and its cloister. What the Protestant Reformers decided to do was to give the man holding this office responsibility for the new kind of musical education that their services required. Pierre Pidoux in the collection of relevant documents that forms the second volume of his indispensable study of the Huguenot Psalter has gathered a good deal of information about these early "chantres".4 Some of them were housed in the "chantrerie". The building was even fixed up for the first of them in 1544 by adding a fireplace and a wine cellar.5 Other "chanters" lived in the Collège de Rive, a secondary school maintained by the city in order to give boys a good classical education. The main "chantre" was assigned to the church of St. Pierre. At one point, however, we know of a second "chantre" assigned to the parish church of St. Gervais, across the river from the older part of town. He was soon dismissed, however, because he was found to be incompetent. At another point we find mention of a "chantre" assigned to the General Hospital, apparently teaching the orphans housed there how to sing, but again apparently for a short period of time. All we know for sure is that at all times there was at least one full-time "chantre" and that he was assigned primarily to work in the church of St. Pierre. Several of the early Protestant "chantres" were ex-priests. At the time of the Reformation the city had agreed to allow several priests to keep collecting their

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Jean-François Bergier / Robert M. Kingdon (eds.), Registres de la Compagnie des Pasteurs de Genève au temps de Calvin, vol. 1: 1546-1553. Délibérations de la compagnie. Ordonances ecclésiastiques (Travaux d'humanisme et renaissance 55,1), Geneva 1964, 9. Henri Naef, Les origines de la Réforme à Genève, vol. 1 : La cité des évêques. L'humanisme. Les signes précurseurs, Geneva/Paris 1936, 279ff. Pierre Pidoux, Le Psautier Huguenot, Kassel/Basel 1962, tabulates these references in vol. 2, 171-175, with fuller excerpts provided on relevant dates above in the same volume. Ibid., vol. 2, 26.

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benefice income, yet required that they no longer say Mass, thus leaving them with nothing to do.6 The first time an ex-priest was nominated to the position of "chantre", the ministers protested. Calvin appeared before the Council to oppose the man's appointment on grounds that he was poor at the job and children disliked him. Calvin then suggested that the job of teaching children to sing the psalms be turned over to the ministers and the schoolmasters as a part of their regular duties.7 The city's governing authorities, however, decided that it was preferable to have a full-time professional "chantre". At least one was kept on the city's payroll from 1542 on. The "chantre" in the Reformed Church of Geneva had three functions. A first was to teach children, almost certainly only boys, how to sing the psalms. Several of the early "chantres" were also teachers of other subjects, and some of them, as we have already noticed, were actually housed in the city's secondary school. A second function was to "intone" the psalms during church services, in effect to lead the congregation in singing. This second function was separated from the first in 1555, when one man was hired to teach the children and another to intone in services.8 The church of St. Pierre in Geneva, incidentally, still hires a "chantre" to intone the psalms as a part of every service today, and maintains for his use a small pulpit, at a lower level than the pulpit used by the preacher of the day. A third function was to compose music for the psalms. The "chantre" during Calvin's lifetime who devoted himself most fully to this part of the charge was Loys Bourgeois. He was named "chantre" of St. Pierre in 1545, apparently took over the charge of "chantre" at St. Gervais as well later that year when the man appointed to that position proved to be incompetent, and remained in office until 1552, when he left Geneva after a number of arguments about his salary. Bourgeois, of course, is still respected today as the author of a good part of the musical settings that found a permanent place in the Genevan Psalter. He probably had more ability as a musician than any of the other "chantres" in these early days. Calvin's suggestion that the duty of teaching the singing of psalms be turned over to ministers was followed in some areas controlled by Geneva. It seems to have been the practice in the rural villages outside the city walls but controlled by the government of Geneva. We find precious evidence of this practice in a manuscript memoir by a village pastor recently discovered in the Geneva State Archives by Thomas A. Lambert, and included as an appendix to his recent dissertation in history for the University of Wisconsin-Madison.9 This memoir 6

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Gabriella Cahier-Bucelli, Dans l'ombre de la Réforme: les membres de l'ancien clergé demeurés à Genève (1536-1558), in: Bulletin, Société d'histoire et d'archéologie de Genève 18(1987), 367-388. Pidoux, Le Psautier Huguenot (as n. 4), vol. 2, 11. Ibid., vol. 2, 173. Thomas A. Lambert, Preaching, Praying, and Policing the Reformation in sixteenth-century Geneva, Ph.D. dissertation in history for the University of Wisconsin-Madison, 1998, 539-548. Available in microform from UMI Dissertation Services in Ann Arbor, Michigan, asno. 9819828.

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is the work of a man named Charles Perrot, minister of the yoked village parishes of Genthod and Moens from 1564 to 1567, for the use, after his promotion to a position in the city, of his successor in those churches.10 In that memoir he told the man who was to succeed him that the parishioners in those churches had learned to sing musical settings to the Ten Commandments, to the Song of Simeon, and to psalms chosen from a selection o f t e n plus the 23rd psalm.11 I would assume that all of these pieces had been committed to memory by these villagers, since most peasants of the period were illiterate, and thus would not have been capable of using a printed psalter. That circumstance may explain the limitation to a repertory of only thirteen songs. Perrot made it clear that the minister was supposed to help lead in the singing. He suggested, however, that the beginning of the service be delayed until the arrival of one of the parishioners known to be able to sing. He said, furthermore, that he did not try to sing himself unless there was at least one other male voice to help him. He then supplied the names of five members of the congregation, both male and female, who are capable of singing these songs. He also noted that when there were visitors from the city, they could usually be counted on to help with the singing as well. This memoir provides one with the distinct impression that the ability to sing was much less well developed in the country villages than in the city. A village, of course, could hardly afford the services of a professional musician like a "chantre". But the village minister was nevertheless expected to do what he could to introduce the singing of psalms to his parishioners, to make it an integral part of the services. In cities all those who were literate were expected to obtain and use psalters. That was certainly true in Geneva and it was surely as true in the many other urban centres where Calvinism found its greatest early support. Anyone who could read, and a substantial percentage of the population in western European cities now could, was encouraged to obtain a psalter. The psalter, furthermore, was easier to obtain than most other books, because it is reasonably short and thus reasonably cheap. The most important component in the price of any book at that period was paper. Paper cost far more than the labour and other costs required to make a book. The shorter the book, therefore, the more affordable it became. As a result, psalters surely sold in significantly greater quantity than any other book produced for Protestant use, including the vernacular Bible. They certainly were sold in greater quantity in Geneva. A substantial printing industry grew up in Geneva, stimulated by the Calvinist Reformation. In the years before that Reformation, only an occasional job printer produced books in Geneva. By the time the Reformation was fully established in that city, there

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For more on Perrot, see Jacob-Elysée Cellérier, Charles Perrot, pasteur genevois au seizième siècle: notice biographique, in: Mémoires et documents publiés par la Société d'histoire et d'archéologie de Genève 11 (1859), 1-68. Lambert, Preaching (as n. 9), 541. The psalms are numbers 1, 3, 15, 24, 42, 119 Aleph et Beth, 129, 130, 128 [sic].

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were at least thirty-four presses, 12 including ones of the international distinction of Robert Estienne and his son Henri, Jean Crespin, and Antoine Vincent. The single book printed by those presses in the greatest number was the Genevan Psalter. The earliest of these psalters published in Geneva seems to have been one based on the Olivetan Bible, published under cover in 1537. The first in which Calvin was involved, appeared in Straßburg rather than Geneva, where he was for a short time pastor of the church of French refugees, in 1539. Another containing translations of thirty psalms by the distinguished French poet Clément Marot, who for a time had frequented the royal court, was published in Antwerp and Paris in 1541. Other editions with false locations or no location at all began appearing in 1542. Editions published in Geneva soon began gaining an important place in the market. One containing translations of eighty-three psalms began appearing in Geneva in 1552. Some of these editions also included fundamental texts of the faith used as the basis for catechism, and thus could serve as a principal text for both worship and teaching. 13 Even fuller editions appeared in later years, now including additional translations by Théodore de Bèze, who ultimately became Calvin's successor as international leader of the Reformed movement, and was already admired for his skill as a poet. A climax of sorts was reached in 1561, when an international syndicate of printers was organized by Antoine Vincent, a publisher of both Geneva and Lyons, to sell psalters all over Europe. We have hard evidence that in the final months of 1561 and the early months of 1562, as a part of the operations of this syndicate, no less than 27.400 copies of the psalter containing the de Bèze translations were printed in Geneva. 14 This was obviously a number of psalters far greater than needed to meet the needs of the local market. The entire population of Geneva in those years cannot have been more than 20.000. It did mean, however, that anyone in Geneva who wanted and could use a psalter had no trouble in obtaining one. Even in Geneva, of course, a good many residents were illiterate and thus could not use a printed psalter. They, however, could still learn the psalms by listening to their neighbours. There is plenty of evidence that most Genevans, once the Reformation regime was fully established, did know a good deal about the psalms. Let me now turn to that evidence. Much of it comes from a base of data created by the twenty-one volumes of the Registers of the Geneva Consistory for the period of Calvin's ministry, 1541-1564, which have been transcribed and are now being prepared for edition. 15 One of the editors, Tom Lam12

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14 15

See Robert M. Kingdon, Geneva and the Coming of the Wars of Religion in France, 1555— 1563 (Travaux d'humanisme et renaissance 22), Geneva 1956, 94. See, for example, the edition of 1552 Geneva Crespin version, republished in 1973 by the Friends of the Rutgers University Library, New Brunswick, New Jersey. Kingdon, Geneva and the Coming (as n. 12), 100. Two volumes have already been published: Thomas A. Lambert / Isabella M. Watt (eds.), Registres du Consistoire de Genève au temps de Calvin, vol. 1: 1542-1544 (Travaux d'humanisme et renaissance 305), Geneva 1996; vol. 2: 1545-1546 (Travaux d'humanisme et renaissance 352), Geneva 2001.

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bert, assembled all the references found in those registers to psalms and psalters to help me in preparing this paper. It should be noted first that most of these references are to be found in the later registers, between 1556 and 1564. It would appear that only in these later years did knowledge of the psalms become widespread in the city. It took that long for most Genevans to become accustomed to their use and to have obtained personal copies of the psalter. There is considerable evidence that many Genevans then possessed and valued copies of the psalter. One of the more dramatic examples of a person who valued a psalter comes from reports of the misbehaviour of man named Otto Chautemps, of a distinguished local family, whose father was an important supporter of the Reformed regime. Otto was an innkeeper, frequently involved in preparing and serving meals to friends. On Pentecost Day in 1558, after serving a meal to a friend, he had gone with that friend into his own room, discovered his wife's gilded psalter on a table, and in a rage had stabbed it repeatedly with a dagger while shouting horrendous blasphemies. He had been away from the city for a time, and was enraged on his return by seeing his wife carrying on like a "great princess". The gilded psalter was apparently still more evidence of her extravagant life style. He had threatened to beat his wife, perhaps even cut off her nose. He was very suspicious of another man who had given a book to her. He had criticized her to her face for reading the Bible. Witnesses reported that in all of these episodes he kept cursing and blaspheming God. He was condemned by the governing Small Council to public whipping and banishment for this misbehaviour. Then, as a concession to his distinguished family, he was pardoned by the larger Council of Two Hundred, which had the power of pardon. A year later, however, he was newly arrested, again for blasphemy, and put to death as an incorrigible blasphemer. The point I want to make in telling this story is that a psalter was clearly an object of great value to the wife of Otto Chautemps, that she had even arranged to have her copy gilded, and that her extravagance in doing that, as well as her "uppityness" in possessing books and reading them, seems to have upset her husband enormously.16 There are yet other examples in these records of psalters being regarded as objects of value, of being used as presents, appearing as the object of business transactions, and even as stolen goods. Here are some of them: In 1560, a woman named Françoise Jaques was summoned before the Consistory for trying to sell a number of psalters at a bargain price but under suspicious circumstances. It turned out that there was good reason to believe that she had stolen them from a local bookseller. A further investigation was ordered.17 The following year a shoemaker appeared before the Consistory to complain that his wife was selling household property in order to live extravagantly. Among the ob16

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See reports in Archives d'État de Genève, RConsistoire (hereafter cited simply as RConsistoire), vol. 13, fols. 3 Γ, 32, 34v, 38, 39" (5-21 April 1558); also Procès criminels, 1er série, 741 (13 June 1558 - 4 April 1559); and a note on the career of Otto Chautemps in vol. 2 of RConsistoire (as n. 15), 53 with note 94. RConsistoire, vol. 17(1560), fol. 3 3.

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jects she had sold were the covers from his bed, his psalter, and his New Testament. She was excommunicated and ordered to prepare a list of the items she had tried to sell.18 In 1562, several printers were called before the Consistory to explain their alleged misbehaviour. In describing their business, they freely admitted to using copies of the psalms in business transactions, apparently as collateral to secure loans.19 In 1564, the Consistory heard a case involving marriage negotiations that had gone awry. Among the items the groom had offered to his prospective bride, in her mother's presence, as evidence of his seriousness in wanting to marry her, were a Bible, a psalter, and a sum of money.20 Clearly the psalter was an object of value in Calvin's Geneva. Let us now turn to how the psalter and the psalms were actually used. The most obvious use of psalms, of course, was in church services. Frequent evidence appears in our registers of people carrying a psalter to church, often incidental to investigations of other matters. And there is plentiful evidence of the use of those psalters in church services. In Reformation Geneva that meant a lot of services. There were three parish churches, at times a fourth, and in each of them there were a number of services: three or four on Sunday, perhaps two on Wednesday, and at least one on every other day of the week, for a total of about three dozen every week for the city as a whole.21 One of the Sunday services was devoted to catechism; in all of the others a sermon was preached. I should guess that there was singing from the psalter in every one of these services. Even in the catechism service singing would have been likely. This was a service intended primarily for children. Its basic purpose was to teach children to memorize the three fundamental documents of the faith: the Lord's Prayer, the Apostles' Creed, and the Ten Commandments. These texts, it should be noted, were also set to music. A catechism service would have been an ideal place to combine instruction in the content of these documents with instruction in how to sing them and other songs. The ecclesiastical ordinances, after all, did mandate some teaching to at least some children of how to sing ecclesiastical songs. Moreover, evidence survives suggesting that many sang psalms in their homes. On occasion, indeed, this singing could provoke controversy. Thus a sixteenth-century Genevan named Thomas Lambert and his servant were summoned before the Consistory for having tried to disrupt the singing of psalms in his home after a meal, perhaps as a form of grace, by three pious acquaintances. He and his servant were accused of throwing urine on the singers, leaving the breeches of one very wet. Their only defence was that it was only warm water that they had been throwing. It remains unclear as to why they threw it. The Consistory scolded them for misbehaviour.22

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Ibid., vol. 18, fol. 118. Ibid., vol. 19, fols. 45v, 60, 63" (especially), 67, 74, (16 April - 21 May 1562), regarding Michel Blanchier and others. Ibid., vol. 21, fol. 4 (17 February 1564). See Lambert, Preaching (as n. 9), 285ff. RConsistoire, vol. 17, fol. 135". (22 August 1560).

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Most of the cases heard by the Consistory after 1556 that mention the psalms involve people charged with singing dissolute or profane songs. The common defence to these charges was that they were actually singing psalms. When Marie Binot, for example, was summoned for having encouraged dancing, she replied that while she had indeed made available her barn for an assembly of girls, she had warned them not to dance unless they were also singing psalms.23 The testimony of witnesses often made this defence dubious. Witnesses would report that they heard not only singing but the playing of musical instruments like the spinet, the violin, and the tambourine. They would report that they heard not only singing but also jumping and clapping of hands. They would report that they heard tunes that were commonly associated with dances popular at the period. Françoise Quey, for example, was accused of having set a psalm to the tune of a pavane, a courtly dance, for which she had been scolded by a minister. She insisted that the song was in fact taken from the Gospel, and apologized only for having been rude in responding to the minister.24 Pierre Devonnay was accused of singing a version of Psalm 86, which begins, "Mon Dieu, preste moy l'oreille ...", to the tune of a "profane Catholic song". Devonnay indignantly denied singing a psalm at all, supplying as the words he had been singing ones that began an entirely different type of song.25 Apparently Genevans felt that there were types of music that were appropriate for psalms and types of music that were not. One particularly complex case involved the widow of François Duvillard. She was accused of having sponsored a dance in her home, involving branles, bouffons and mattachins, even the morte (or dance of death), an astonishing variety of dances popular in the period. The witnesses reported that the dances were accompanied with the playing of a spinet and involved the clapping of hands and unseemly jumping. The woman who played the spinet, Germet, was summoned, but insisted she had played only for "the singing of psalms and nothing else". The Consistory had trouble believing this was really what the party was all about. Both the widow Duvillard and Germet were excommunicated. The whole affair was referred to the government for further investigation and punishment.26 In another case, a man openly admitted he did not want to sing psalms. He said he found the singing of psalms too difficult, and would much prefer learning the tunes of a gaillard, a notoriously obscene form of dance.27 Still, the very fact that most of the accused, in these and many other cases, doggedly insisted that they were in fact singing psalms or other kinds of

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Ibid., vol. 12, fol. 24". (14 May 1556). Binot, incidentally, was convicted of adultery and put to death several years later. See Robert M. Kingdon, Adultery and Divorce in Calvin's Geneva (Harvard historical studies 118), Cambridge/MA 1995, 129-135. Ibid., vol. 17, fol. 119 (25 July 1560). Ibid., vol. 12, fol. 100v (1557). Ibid., vol. 27, fols. 140-142 (29 August 1560). Ibid., vol. 21, fol. Τ (24 February 1564).

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edifying music, means that it must have seemed credible that people would indeed sing psalms in their homes. It seems quite possible that the singing of psalms was a part, at times at least, of the household devotions that people were encouraged to organize in Calvin's Geneva and that we know for a fact many did organize. We know relatively little about the details of these private devotions. One dramatic description of them can be found in an autobiographical memoir by Andreas Ryff from Basel. As a boy, he had been apprenticed to some Genevans between 1560 and 1562. He remembered particularly the devotions held every morning and evening in the household of Jean Du Molard, a distinguished local spice merchant and active church leader. These devotions were organized by the father, often led by the mother, and included prayers by the children, including the apprentice. The prayers in particular had made a deep impression on Ryff.28 His memoir says nothing about singing. But so many other sources speak of the singing of psalms in households that I think it at least possible that it was included in at least some of the daily devotions of the type Ryff describes. Psalms were also sung in workplaces. Records survive from the case of a number of women who were called before the Consistory for singing profane and dissolute songs while they worked at milling hemp. They sang these songs in competition with other women who were singing psalms. The woman who had encouraged the singing of the profane songs was reported to have said that she wanted to silence those who were singing psalms. The fact that catches my attention in this description of competitive singing is that one group of women was indeed singing the psalms to accompany their work.29 There is also evidence of the singing of psalms in the streets. In 1559, a man named Georges was summoned before the Consistory and charged with disrupting the singing of psalms by a group of children, led by a woman named Jaquema, in the public square before the church of St. Gervais, by shouting and pushing Jaquema. This incident took place on a Sunday. The accused was suspected of Catholic sympathies.30 More often, however, psalms were sung in the streets without any intent to support the local Reformed ministers. In the 1550's a faction of Genevans who called themselves the "Enfants de Genève" grew increasingly hostile to Calvin and his supporters. In particular, their most eminent leader, Ami Perrin, switched from being one of Calvin's most ardent supporters to one of his greatest local enemies. As one might guess from their name they clearly resented the growing influence of religious refugees within the city. Most of these refugees came from France, including practically all of the city's new preachers, most prominently John Calvin himself. The "Enfants de Genève" organized a number of public demonstrations, climaxing in a riot in 28

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Ad. Gautier, Un jeune Balois à Genève au XVΓ™ siècle, in: Mémoires et documents publiés par la Société d'histoire et d'archéologie de Genève 16 (1867), 412-416, summarized in Lambert, Preaching (as n. 9), 456-458. RConsistoire, vol. 19, fol. 12l v (20 August 1562). Ibid., vol. 15, fols, 64, 66-66 v ( 13 and 20 April 1559).

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1555 that provoked a brutal crackdown, ending in the dissolution of the faction, with many of its leaders forced into exile or put to death. A file of complaints about these "Enfants de Genève" in the Geneva State Archives describes some of their demonstrations. It describes in particular detail one that included a nocturnal parade in which members of the faction carried candles and loudly sang psalms. They bragged that they would hold a feast on Saint Nicolas' day that would top any that had ever been seen before. Their choice of songs was ominous. According to one witness they sang a song that included the words: "Mon Dieu, Mon Dieu, délivré nous", clearly hoping to be delivered from the increasingly strict discipline imposed on the city. Other witnesses reported hearing them sing Psalm 86 that begins, "Mon Dieu, preste-moy l'oreille". Finally, and most ominously, a witness reported hearing them sing Psalm 43 that begins, "Revenge-moy, prens la querelle". It is clear that these young men were singing these psalms as not-so-veiled threats to the French pastors and their supporters, begging God to take up their fight against the harsh disciplinary regime installed at Calvin's insistence.31 Another record shows that some of this singing of psalms in the streets of Geneva involved parodies, including at least one that was really obscene. This record is found in a chronicle of the period kept by François Bonivard, who for a time was employed as the city's official historian. The song he describes was a parody of the musical version of the Ten Commandments, which was an important part of the psalter frequently used in church services. It begins with the words, "Leve le coeur, preste l'aureille ...". According to Bonivard, the "Enfants de Genève" began their version with the words, "Leve le cul, ouvre les cuisses, fillettes pour les compaignons ,..".32 And this, Bonivard intimates, is only one among several examples. For a parody to be effective, of course, one must know what is being parodied. Clearly these "Enfants de Genève" had learned how to sing the received musical version of the Ten Commandments, and clearly they understood that their obscene version of it would shock Calvin and his pious supporters. Calvin and the other ministers, according to Bonivard, did indeed take to their pulpits to denounce vehemently these parodies. The suppression of the revolt of the "Enfants de Genève" in 1555 ended the worst cases of this misuse of the psalms. But a few remained. In 1559 a criminal proceeding was initiated against a man who had said when he heard an ass braying that the animal was singing a beautiful psalm.33 That kind of disrespect was not tolerated in Geneva. Psalms may even have been sung in other public places. Two servants in one of the public baths, which were often suspected to be a centre of sexual misbe-

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Archives d'État de Genève, Juridictions Pénales, série A, vol. 1, beginning in January 1555, fols. 1, Γ, and 2, hereafter cited as Jur. Pén. I am indebted to Thomas Lambert for lending me his transcriptions of these passages. François Bonivard, Advis et devis de l'ancienne et nouvelle police de Genève, ed. by Gustave Revilliod, Geneva 1865, 96. Jur. Pén. A, 2, fols. 18 and 19 (1559).

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haviour, were accused of singing "dissolute songs, in the presence of people". They insisted that they were only singing psalms. The Consistory clearly had trouble believing them.34 Whether this offence occurred within the baths themselves, however, is not clear. Another man was accused of singing psalms in a cemetery in a nearby Catholic village. This is an odd place for a Protestant to be singing psalms, given the deep suspicion of praying to and for the dead found among all Calviniste. If he had been singing psalms in the vernacular, furthermore, it would have also seemed odd to contemporary Catholics. He had been arrested and brought before a Catholic court, where he quickly declared his willingness to accept basic Catholic doctrine. When he came home to Geneva, he was summoned before the Consistory, apologized, and eventually, after a period of penance, won reconciliation with the Reformed church.35 There is even reason to believe that psalms were sung in local eating places. In 1546 the city had made an ephemeral attempt to create a number of "abbayes" to take the place of traditional taverns. The legislation creating these institutions required that the management of each must see to it that grace was said before and after every meal served, that a Bible in French be made available which customers would be encouraged to read, and that if anyone wanted to sing "pseaulmes ou chansons spirituelles" it must be done "honnestement, et non en facon dissolue".36 This prescription certainly reveals an expectation by the authorities that some people at least might want to sing psalms in a place of recreation, perhaps over meals. It also reveals a worry that in a place like that psalms might not be sung in the proper way. The discussion of a psalm could even provoke theological controversy. Antoine Luchet had had a history of not attending church services and of insisting that he could accept the authority of the New Testament alone. In 1557, he was accused of being an Anabaptist because he had insisted that a phrase in the received version of Psalm 8 contains false doctrine. The phrase to which he objected is "fors estre Dieu" in verse 5, which reads "Tu l'as fait tel, que plus il ne luy reste, Fors estre Dieu ...". (It has been translated into English in the Revised Standard Version as, "Yet thou hast made him [man] little less than God.") Luchet felt that this verse refers only to those chosen by Jesus. That was a proposition he was not prepared to accept.37 It is of the nature of semi-judicial and judicial records of the kind we have been using to supply more information on deviant than on normal behaviour, on

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RConsistoire, vol. 12, fol. 37 (29 April 1557). Ibid., vol. 17, fol. 231 (7 December 1559) and vol. 18, fol. 80 (23 May 1560). Ordonnance sur les „Abbayes remplaçant les tavernes" of 28 May 1546, full text in Emile Rivoire / Victor van Berchem (eds.), Les sources du droit du canton de Genève, vol. 2, Aarau 1930, 478^181, especially 480,1. 31-34; also quoted at length in Emile Doumergue, Jean Calvin, les hommes et les choses de son temps, vol. 3, Lausanne 1905, 70-72. RConsistoire, vol. 12, fol. 32v (15 April 1557).

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people who challenge or have trouble accepting the norms of a society rather than on those who routinely adopt them. These records, nonetheless, provide powerful evidence of what those norms are. In this case, they reveal that knowledge and use of the psalms had become pervasive in all facets of life in Reformation Geneva. Psalms had become an integral part not only of the formal worship services that were themselves an important part of that life, but had also penetrated into many other areas - in the home, in places of work, in the streets. Life in much of its variety had been deeply influenced in Geneva by the introduction of the psalter.

Francis

Higman

Censorship and the Genevan Psalter

"We the undersigned, Doctors in Theology, certify that in a certain translation of the Psalms submitted to us (beginning with Psalm 48, the first line being 'C'est en sa tressaincte cité', and continuing to the end, the last line being 'Chante à jamais son empire') we have found nothing contrary to our Catholic faith, but rather in conformity with it and with the Hebrew truth. In witness whereof we have signed the present certificate, the sixteenth day of October one thousand five hundred and sixtyone. Signed: Jean de Salignac, Viboult."1 That the Marot-de Bèze Psalter should receive this certificate of pure doctrine from two Doctors of Theology, at least one being from the Faculty of Theology of the University of Paris, is surprising enough to warrant a closer look at the history of the Genevan Psalter in relation to the censorship activities of the Paris theologians. After a necessary reminder of the stages in the composition of the Psalter, I shall look at the various acts of censorship against the Psalms emanating from the Sorbonne, and finally attempt to answer the key question: "Is the Psalter heretical or not?"

The Composition of the Psalter Clément Marot versified Psalm 6 and published it as a pamphlet in 1531 or earlier. It was then incorporated into Marguerite de Navarre's Miroir de l'âme pécheresse in one of the editions of that work published in 1533. In this edition it is already accompanied by an "Argument".2 Over the following few years Marot clearly continued the project of psalm versification, and continued to do "Nous soubz signez, docteurs en theologie, certifions que en certaine translation de pseaulmes à nous présentée (commençant au XLVIIP Psalme où il y a: C'est en sa tressaincte cité, poursuyvant jusques à la fin et dont le dernier vers est: Chante à jamais son empire) n'avoir rien trouvé contraire à nostre foy catholique, ains conforme à icelle et à la vérité hebraïque. En tesmoin de quoy avons signé la presente certification, le sezième jour d'octobre mil cinq cens soixante ung. Signé Jean de Salignac, Viboult." Here transcribed from Pierre Pidoux, Le Psautier Huguenot du XVF siècle, Kassel/Basel 1962, vol. 2, 122. William Kemp, Marguerite of Navarre, Clément Marot, and the Augereau Editions of the Miroir de l'âme pécheresse (Paris, 1533), in: Journal of the Early Book Society 2 (1999), 113-156, announces his discovery of the "lost" Augereau edition incorporating Psalm 6, and provides a detailed analysis.

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so in close communication with Marguerite de Navarre.3 The starting point of the Psalter is therefore clearly situated in the context of the French evangelical movement centred on Marguerite and her circle, close to the French court. Indeed, according to the so-called 'Villemadon letter' (dated 26 August 1559), François f r , Henri II and Catherine de Medicis were all enthusiastic singers of psalms;4 François ΓΓ received a manuscript copy from Marot of the first thirty versifications, and was so pleased that he ordered a further copy to be made for the Emperor Charles V. On 30 November 1541 the Parisian bookseller Estienne Roffet obtained a royal privilege for an edition of the Trente Pseaumes, which included the affirmation that three Doctors of the Faculty of Theology had "seen and inspected the translation of thirty Psalms done and composed by Clément Marot, and certify that they found nothing contrary to the faith, to Holy Scripture, or to the ordinances of the Church".5 Roffet obtained an extension of this privilege, in almost identical terms, on 30 October 1543 for his edition of Trente-deux Pseaulmes [...J plus vingt autres Pseaumes (in fact there are fifty psalms, not fifty-two). So the first stages of the development of the Psalter have nothing to do with censorship, but rather the contrary: approved by representatives of the Faculty, and appreciated by the king himself and by the court, Marot's versifications were clearly highly respectable. However, the other - and ultimately dominant - strand in the development of the Psalter takes another path: The adoption of the versified psalms by the Genevan - Calvinist - Reformed Church. In May 1539 the Genevan printer Jean Girard, giving testimony before the City Council, listed the books he had printed during the previous three years; the list includes Saulmes de Clement Marot. No copies of this publication are known; but presumably it must have existed. Already in January 1537 Calvin and Farei, in presenting draft ordinances for the Geneva Church, proposed the singing of psalms as a proper part of the liturgy of the church,6 while stating that the resulting impact was inconceivable "until it has been tried out", in other words, the texts were not yet available, let alone the music. As is well known, the 'liturgical' history of the Psalter includes the following major elements: Aulcuns pseaulmes et cantiques mys en chant (Strasbourg, J. Knobloch, 1539): thirteen versifications by Marot, six by Calvin, the Song of Simeon, Ten Commandments and Creed by Calvin; each poem is accompanied by a melody.

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Gérard Defaux sets out the evidence in his introduction to Clément Marot, Cinquante pseaumes de David mis en françoys selon la vérité hebraïque, Paris 1995, 18-36. Letter quoted by Pidoux, Psautier Huguenot (as η. 1), vol. 2, viii-ix. "[...] la certification de trois docteurs en la faculté de theologie, qui ont veu et visité la translation de trente Pseaulmes faicte et composée par Clement Marot, et attestent n'avoir riens trouvé contraire à la foy, aux saínetes escriptures, ne ordonnances de l'eglise [...]" Pidoux, Psautier Huguenot (as n. 1), vol. 2, 1 and 2.

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La Forme des prieres et chantz ecclesiastiques (Geneva, Jean Girard, 1542): thirty versifications by Marot, Lord's Prayer and Creed by Marot, five psalms by Calvin, Song of Simeon and Ten Commandments by Calvin, each with its melody. Cinquante pseaumes de David (Geneva, Jean Girard, 1543), with melodies (although no copies of the edition with music are now known, the existence of such an edition is well attested in archival documents): Calvin's versifications disappear, there are in fact forty-nine Marot versifications plus his version of the Song of Simeon; as an appendix, the Ten Commandments, Creed and Lord's Prayer, also in versifications by Marot. Numerous reeditions. Pseaumes ociante trois de David, mis en rime Françoise [...] (Geneva, Jean Crespin, 1551), with melodies: first input of Théodore de Bèze to the Psalter, consisting of thirty-four versifications, added to the forty-nine by Marot (the Song of Simeon no longer counts as a psalm). Octanteneuf pseaumes de David [...] (Geneva, Jean Girard, 1556; also Geneva, Simon Du Bosc, 1556): second input of de Bèze, six more psalms - which in fact haves appeared as an appendix in the 1554 edition of Ociante trois pseaumes, Geneva, Jean Crespin. Les Pseaumes Mis En Rime Françoise par Clement Marot et Theodore de Beze (multiple editions in 1562, Paris, Geneva and Lyons). I have o f course omitted numerous intermediate re-editions o f each o f these stages, and also the flowering o f harmonisations o f the music from 1547 onwards.

C e n s o r s h i p o f the P s a l m s The backdrop to the w h o l e history o f censorship o f the psalms in French dates from well before Marot began his work. On 5 February 1526 (n. s.), the ment de Paris

parle-

ordered "all those w h o have in their p o s s e s s i o n b o o k s o f songs,

psalms, the Apocalypse, the Gospels, Epistles o f St Paul, and other b o o k s o f the Old and N e w Testaments contained in the H o l y Bible, w h i c h have recently been translated from Latin into French and printed [...] to hand them in within eight days after the publication o f the present decree". 7 Here w e see a blanket condemnation o f translations o f scripture into the vernacular, including the psalms. A s regards translations o f the Bible as a whole, this condemnation w a s respected, in Paris anyway, for forty years, until R e n é Benoist broke the rule in 1566. The Marot versifications were specifically targeted for the first time in the list o f b o o k s c o n d e m n e d b y the Paris Faculty o f T h e o l o g y in March 1543 (n. s.),

"[...] à tous ceux qui ont en leur possession les livres des Cantiques, du Psautier, Apocalypse, les Evangiles, Epistres de S. Paul, et autres livres du vieil et nouveau testament, contenus en la saínete Bible, qui ont esté de nouveau translatez de latin en françoys et imprimez [...] qu'ilz en vuydent leurs mains et les apportent dedans huict jours après la publication du present arrest [...]" (transcribed from Francis Higman, Censorship and the Sorbonne, Geneva 1979, 26).

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where they seem to appear three times, in addition to a condemnation of the Geneva Forme des prier esThis list was never published, so it could have had no direct effect. But it was revised and extended in 1544, incorporating the 1543 condemnations; this time the Catalogue was indeed put into print. And in 1545 this proto-Index received added authority by being approved by the parlement as well as the Faculty. The 1556 revision of the Catalogue also added the Ociante trois pseaumes of Marot and de Bèze.9 So, at least from 1545 on, the Marot Psalms were definitely forbidden. None of the condemnations makes mention of the musical settings; it is the text at which the prohibition is aimed. This circumstance makes all the more remarkable the unique place of Marot's versifications in the middle of the sixteenth century. I have counted twenty-five editions of Marot's versifications in the period 1545-1550 alone. In addition, the idea of adding harmonies to the melodies of the Genevan Psalter caught on: there are literally dozens of harmonisations - some of all 150 psalms (Goudimel and Le Jeune being the best known), in other cases of one or two, or twenty, or fifty. In other words, the condemnation of the Marot-de Bèze versifications by the Sorbonne is the most outstanding example of an ineffectual censure. This conclusion brings us back to our starting point: the certificate granted to the completed Psalter by Jean de Salignac and Viboult in October 1561. It must be noted that the certificate covers only part of the complete work, from Psalm 48 to the end, most, but not all, of these being the psalms versified by Théodore de Bèze (and therefore potentially usable for a privilege, normally granted only to a new work, not a re-edition). It could therefore be argued that this certificate does not contradict the censures of Marot's psalms from 1545 on, and only in part the 1556 censure, which included thirty-four of de Bèze's versifications. However, the argument does not hold water: the certificate from Salignac and Viboult was used to justify the royal privilège granted for the entire Psalter in October 1561 to Antoine Vincent: "[...] all the Psalms of the Prophet David, translated according to the Hebrew truth and put into French verse and good music, seen and examined by persons learned in Holy Scripture and in the said languages, and also in the art of music [...]".10 The certificate and privilège are in complete contradiction to the multiple censures of the Marot-de Bèze psalms. Before we turn to the central question whether or not the Psautier is heretical, a word about the identity of the two theologians who signed the certificate is in order. The person named as "Viboult" remains as yet anonymous; no trace of him is found in the registers of the Paris Faculty of Theology up to 1560, as

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Higman, Censorship (as n. 7), items A2, A8, Al 1 and A22. Index des livres interdits, dir. Jesús-Martínez de Bujanda, Sherbrooke 1984-96, vol. 1, N° 333. "[...] tous les Pseaumes du Prophète David, traduits selon la vérité Hebraique et mis en Rime Françoise et bonne Musique, comme a esté bien veu et cogneu par gens doctes en la Sainte Escriture et esdites Langues, et aussi en l'art de Musique [...]"; quoted from Pidoux, Psautier Huguenot (as η. 1 ), vol. 2, 123.

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James Farge confirmed to me in correspondence. 11 Perhaps he was a doctor of the Louvain faculty, or elsewhere? Jean de Salignac, on the other hand, is more familiar - and more interesting. As a student (bachelier) in 1533, he was interrogated by the Faculty as to his opinions on the sermons by Girard Roussel which he had listened to: "he dared to reply that, concerning merits and the veneration of the saints, faith, the Church and its power, and other matters, he had heard the said Roussel preach or say nothing which was not said and maintained in the teaching of the Faculty, and which could not be read in the ancient holy doctors of the Church". 12 The theologians were astonished at this reply, and nominated three members of the Faculty to interrogate Salignac and some of his colleagues and report back. But no further mention is made of this episode. Despite being suspected of erroneous teaching in 1534, and having his rooms searched for heretical literature, Salignac became a Doctor of the Faculty in 1536. He is thereafter not mentioned in the Faculty records; but he became one of the royal readers, in Hebrew, on the basis of his excellent linguistic capacities. In 1543 he was asked by the king to intervene in a dispute between the Arts Faculty and Pierre de La Ramée (Ramus). And in 1561 Catherine de Medicis invited five doctors in theology to the Colloque de Poissy, Jean de Salignac among them. He clearly enjoyed a high reputation; Jules-César Scaliger, one of the leading intellectual lights of the later sixteenth century, described him as a "theologian no less skilled in languages than in theology, and well-versed in everything". 13 This varied career, with evidence of remarkably liberal views within the Theology Faculty, academic eminence, and royal favour, suggests that Salignac may well have retained ideas more open than those of most of his colleagues. The choice of Salignac to give an assessment of the soundness of the Psalter was surely not random; not many of his colleagues would have signed that certificate. Indeed, it seems the authorities had to go outside the Faculty even to find one other "compliant" theologian, in the shape of the shadowy Viboult. So the question remains open: is the Genevan Psalter a heretical work deserving of censure, as the Faculty said in 1543, 1544 and 1556, or is it in conformity with good doctrine, as our two doctors certified in 1561?

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My thanks to Professor Farge for his full response to my enquiry on the matter. "[...] ad quod audaeter respondit quod, et de mentis et veneratione sanctorum, de fide, de ecclesia et eìus potestate et aliis, nichil audiverat ipsum Roussel predicare aut dicere quin in schola facultatis diceretur aut sustineretur et quod non legerit in sacris ecclesie doctoribus antiquis." James K. Farge, Registre des procès-verbaux de la Faculté de Théologie de l'Université de Paris de janvier 1524 à novembre 1533, Paris 1990, 292. Cited in Eugène Haag / Emile Haag, La France protestante, 10 vols., Paris 1846-1859. The authors try to make Salignac more Protestant than he probably was, claiming among other things that he tried to persuade Adrien Turnèbe, on his deathbed in 1565, to declare open support for the Protestant cause. But Salignac had died in 1563.

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Is the Psalter heretical? The psalms, being part of Holy Scripture, cannot themselves be heretical. The question is therefore whether Marot and de Bèze deformed the thought of the psalms in their versions. To the best of my knowledge, the only attempt to pin specific distortions on the formulations of the Psautier comes from Artus Désiré (in itself not a high recommendation). In a 1561 edition of his Contrepoison des cinquante-deux chansons de Clément Marot,14 Désiré added an appendix intended to answer those who said that he cannot give specific instances of Marot's heresies. He therefore produced a "collection of his said heresies, insults and blasphemies". In fact Désiré gives only three examples, adding that "in short he [Marot] has presented so many errors in the said songs, that it would take too long to recite them". The three examples are eloquent. 1. In Psalm 1, v. 6 (final stanza in Marot), Désiré quotes Marot's translation of: "For the Lord knoweth the way of the righteous: but the way of the ungodly shall perish"; in Marot, the last clause becomes: Et pour autant quii η 'a ne soing ne cure Des mal vivons, le chemin qu'ils tiendront, Eux, et leurs faits en ruine viendront.

("and since he has no care or concern / For the evil-livers, the way that they follow, / They and their deeds shall be ruined"). The italicised clause, which goes beyond the original text, demonstrates, says Désiré, that Marot "denies our Lord's providence, who cares for the wicked as well as for the good, as witness all the holy Doctors of the Church". Gérard Defaux, in his edition of the Cinquante Pseaumes de David, quoted the full text of Psalm 1 in the versions of Lefèvre d'Étaples Psalterium Gallicum, Santés Pagnini, Bucer, Lefèvre d'Étaples Bible, Olivétan, Campensis' Paraphrase, and Dolet's 1542 edition (based on Olivétan).15 While none of these versions gives exactly the reading as in Marot, most of them reproducing simply the Vulgate "et iter [or via] impiorum peribit", Bucer comes near, when he says: "Etenim vita justorum in fide est, curaque lehovae: ac vita improborum disperebit", which could be taken to imply that the wicked do not benefit from the "cura lehovae". 2. Psalm 8, v. 5 (in the English Authorized or King James Version of 1611 [=AV], and the nineteenth-century Revised Version [=RV]), or 6 (in the Vulgate [=Vg.] and in the Traduction œcuménique de la Bible [=TOB]), is a happy hunting ground for commentators: after "what is man, that thou art mindful of him [...]", we have "For thou has made him a little lower than the angels" (AV),

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Artus Désiré, Le contrepoison des cinquante-deux chansons de Clément Marot, fac-similé de l'édition de Paris 1560, ed. by Jacques Pineaux (Textes littéraires français 238), Geneva 1977. Pineaux reproduces the text of the appendix, pp. 213-218 of his edition. Cinquante Pseaumes de David (as n. 3), 237-240.

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or "[...] but a little lower than God" (RV). Désiré quotes Marot: "Tu l'as faict tel, que plus il ne luy reste / Fors estre Dieu" ("Thou hast made him such that nothing is lacking except to be God"). Désiré adds: "From these words we must conclude that our Lord Jesus Christ is not God" - so Marot is either an atheist or a Jew. Désiré accepts the Vulgate reading "[...] minuisti eum paulo minus ab angelis", and of course takes the cue of Heb. 2 to interpret the passage as referring to Christ. Gérard Defaux once again comes to our aid, pointing out that the two readings "ab angelis" and "a deo" are both possible translations, and that the passage was the source of a serious quarrel between Lefèvre d'Etaples and Erasmus concerning the nature of Christ.16 Moreover, Marot had originally hesitated between the two possibilities, in the first version of this psalm (1541): "Un peu tu le feis moindre que Dieu ou Ange" ("thou hast made him a little less than God or an angel"). In ignoring the debateable nature of the subject, Désiré rather disqualifies himself. 3. Désiré's third "proof-text" is not from a psalm at all, but from the paraphrase of the Ten Commandments: "Tailler ne te feras Image / De quelque chose que ce soif ' ("Thou shalt not make a graven image of any thing whatsoever"). "Here the wretch seeks to forbid us the use of images, which is against the decision of the whole Church, and of the seventh General Council [Nicaea]". Nicaea may well have approved the cult of images; but Marot is faithfully translating from Exod. 20, 4: "Thou shalt not make unto thee any graven image, or any likeness of any thing that is in heaven above, or that is in the earth beneath, or that is in the water under the earth" (AV). 17 And for the rest, Désiré says there are too many errors to list without prolixity (although Désiré did not fear prolixity in general!). The harvest of "heresies" is singularly thin. Had there been significant deformations of the expressions of the psalmist, these would surely have been the object of more substantial attack. It seems to me that the objections to the Marot-de Bèze Psalter lie elsewhere. First, there is the general interdiction of Biblical translations into French, as proclaimed in 1526. But, apart from translations of the whole Bible or the whole New Testament, this interdiction does not seem to have had too much weight: other Biblical extracts - Proverbs, Song of Songs, psalms in prose - were produced in the 1530s and 1540s without condemnation. More significantly, the psalms are a collection of poems which allow interpretation on several levels. "Literally" or "historically", they are a series of expressions of praise, of confession, of petition or intercession, often related, according to the introductory phrase, to specific situations: Psalm 56, for example, is "a Psalm of David, when the Philistines took him in Gath", Psalm 57 "a

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Ibid. 259. Calvin's versification of the Ten Commandments (1539—4-2) was less faithful to the Biblical text: "Image point ne forgeras, Pour mon Essence figurer, Pour invoquer ou honnorer [...]"!

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Psalm of David, when he fled from Saul, in the cave". Psalm 51 is "a Psalm of David: when Nathan the prophet came unto him, after he had gone in to Bathsheba". But both in the Jewish and the Christian tradition, the spiritual intent of the poems is generalized, and they become expressions of praise, confession, etc., applicable to the generality of the faithful. Thus Psalm 51, anchored specifically in an historical sense to the story of Bath-sheba, became one of the seven penitential psalms of the Church: "Have mercy upon me, o God, according to thy lovingkindness [...]", or "Miserere mei". And in the Christian tradition, David is seen as a préfiguration as well as ancestor of Christ: psalms are read as a sustained image of Christ, his Church and his faithful. The language of the psalms thus becomes a sustained metaphor for Christian worship and spirituality. So far so good, and this generalization is valid for the universal Christian tradition. But in the Reformed tradition enshrined in the Marot-de Bèze Psalter, a further layer of typology is everywhere present, though nowhere explicitly stated. The "faithful" are the community of the Reformed, the "idolators" are not the heathen but the Roman Catholics, the small band of the faithful is persecuted by "those who do not fear God [...]". This interpretation is, as I say, nowhere explicit; but the whole Psalter can be read as a coded message in favour of the Reformed religion. This reading is clearly heretical from the point of view of the Paris theologians, of course; but, not being explicit, it leaves a margin of ambiguity from which the Reformed faithful can benefit. Rather than in the texts of the Marot-de Bèze Psalter, this ambiguity of reading can best be seen in the "Arguments" which precede each psalm - in the Genevan Psalter, but also in a large number of Bible translations of the period. A few examples will show clearly the differences in emphases of readings that I am trying to clarify. First, as has been shown by Philipp A. Becker, Michel Jeanneret, Bernard Roussel, and most recently by Gérard Defaux,18 the "Arguments" of Marot's versions are almost all based very closely on those of Martin Bucer. In this choice, Théodore de Bèze closely follows his predecessor.19 The "Arguments" of the Marot-de Bèze Psalter thus have a distinctly Protestant origin - although Bucer is in no sense polemical in his interpretation of the Psalms, there is no direct application of this interpretation to the conflicts of the sixteenth century. Other translations of the psalms in the period present different "Arguments". Rather at random, I consult the "Arguments" featured in a Bible produced in

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Philipp A. Becker, Clément Marots Psalmenübersetzung, in: Berichte [...] der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, 72/1 (1921); Michel Jeanneret, Poésie et tradition biblique au XVF siècle, Paris 1969; Bernard Roussel, Lire la Bible: La Bible de 1530 à 1600, in: Le Temps des Réformes et la Bible (Bible de tous les temps 5), Paris 1989, 125-305; Defaux, Introduction (as n. 3). As shown by Pierre Pidoux in his edition of Théodore de Bèze, Psaumes mis en vers français (1551-1562) accompagnés de la version en prose de Lois Budé, Geneva 1984, 4.

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Rouen in 1582 by Jean Crevel (Chambers N° 473)20 and several other editors; but these derive from the Honorati Bible (Lyon 1578; Chambers N° 440). Honorati drew attention, in a preliminary note, to the fact that his Bible was "without glosses, additions or distractions which might render it suspect"; Crevel and his colleagues copy the same note. However, all these editors do include very brief and factual summaries of each chapter of each book; and each psalm has its "Argument". Some of these arguments are in fact found earlier, in Les Cent cinquante Psalmes du Prophete Royal David traduictz en rhythme Françoyse par Clement Marot et autres Auteurs.21 There, Marot's versifications are given the "Arguments" based on Bucer as in the Genevan Cinquante pseaumes\ but the versifications by other authors receive "Arguments" corresponding closely to those in Honorati and his followers. So what is the significance of this choice? Let us take a few examples. Psalm 50, in the Rouen 1582 Bible, is introduced by the words: "He [the poet] threatens that God will come to punish our injustice, since we do not honour Him as He commanded". Marot's version has the argument: "He prophesies that God would call all nations to Himself through the Gospel, asking nothing of the faithful other than the confession and the preaching of his bounty, and detesting those who claim to observe His religion, although their hearts are not touched by zeal or by love for Him." The "Rouen" version is a moral lesson to be heard in any pulpit. The Marot-Bucer version can also claim to be nothing more than a general message about the call of God; but the key words "Gospel" and "nothing [...] but confession [...]" have echoes of justification by faith alone; and who are "those who claim to observe His religion, although their hearts are not touched by zeal or by love for Him"? Hypocrites, clearly. The message is even clearer in the arguments to Psalm 94. The Rouen Bible says simply: "He invites the vengeance of God on the oppression of the good". De Bèze's versification has: "This psalm contains a prayer against hypocrites, who, under cover of the title of the Church, are the worst enemies of the Church, and persecute it more wickedly than any others". Notice here the typological assimilation of "ton peuple", i.e. Israel, to the Church. The text of the psalm spoke only of "the wicked", "evil-doers", and "workers of iniquity"; but the de Bèze summary is more specific: those who "under cover of the title of the Church are the worst enemies of the Church [...]". Furthermore, a frequent theme of the persecuted faithful is underlined in the Marot-de Bèze "Arguments". Psalm 83: Rouen Bible: "A prayer for divine aid against the enemies". De Bèze: "This is a prayer for the Church, attacked on all sides by the unbelievers who had conspired to ruin it; with the recital of some examples of how God had helped His own, so that the faithful may take courage

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The reference is to Bettye T. Chambers, Bibliography of French Bibles. Fifteenth- and Sixteenth-Century French-Language Editions of the Scriptures, Geneva 1983. First known edition Paris, Estienne Mesviere, 1551 (copy in Geneva BPU); I have consulted a [1555] edition, Paris, [Pierre Gaultier] (copy in Paris BSHPF).

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and renew their hope". Psalm 89: Rouen Bible: "He praises the greatness and glory of God; he asks for mercy by the alliance made with David". De Bèze: "Since this is a prayer for the poor afflicted Church, the faithful recall the promise made to David; then they recite the wonders done by God to help His children. And again, basing themselves on the hoped-for coming of the Redeemer, they regret and lament the piteous desolation which had lasted a long time, praying that finally God should have mercy on them". Although the terms are general, the reference to persecution, for the Reformed congregations in the 1550s and 1560s, is perfectly clear. One of the great points of debate among the Reformed, ever since Calvin's Excuse aux Nicodemites (1544), had been the question whether one should find some compromise with the "official" religion of France, or separate oneself from the "idolaters". Psalm 120, in the Rouen summary: "A prayer for God's help against one's enemies". De Bèze's "Argument": "Prayer by the Prophet, banished by the false report of his enemies, that he should be delivered from among the infidels, with whom he detests having converse." Remember that de Bèze himself had lived through everything stated in this "Argument". Idolatry is one of the chief objects of condemnation in the psalms: the Marot-de Bèze "Arguments" often bring out this theme, with its evident assimilation to the Protestant attacks on images in churches ("idols", as they are often called in the polemics of the time). The Rouen "Argument" on Psalm 135 says simply: "Public praise of the one and only God". The de Bèze "Argument" is more developed: "Exhortation to the ancient people to praise God for the blessings they had received from Him, and in particular that He had deployed his infinite power in saving them from Egypt; together with a mockery of idols, and of the superstitions of the pagans." Cumulatively, these implications construct a coherent pattern of significance, what T. S. Eliot called the "objective correlative" which in his view is the basis of all true poetry. The Chosen People, or the True Church, are identified with the Reformed; the Exodus is assimilated to the exile experienced by many of the Reformed (including all the participants in the creation of the Psalter, poets, musicians, Genevan printers and editors);22 the "wicked", the "persecutors" are clearly the "papists" and their weapons of authority, the theologians and the royal, persecuting administration; the "idols" of the "gentiles" are the images and statues which decorate "papist" churches. Yet none of these associations is explicit. Herein lies the ambiguity. Although, when approached in the "right" frame of mind, the Reformed typological interpretation is perfectly clear, nothing imposes that interpretation. Only someone as hostile as Artus Désiré could find fault with the content of the Marot-de Bèze translation and versification. For the rest (including, it seems, the

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It is not by chance that the psalm which became the most celebrated "Huguenot" rallying cry is simply a recital of the Exodus: Quand Israel hors d'Egypte sortit [...] ("When Israel went forth out of Egypt [...]").

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royal court, successive kings, Catherine de Medicis, and the innumerable musicians, Catholic and Protestant alike, who took delight in creating harmonisations of the psalm melodies) the metrical psalms represented a faithful reproduction of what is found in the Bible, rendered into an accessible, attractive vernacular language and equipped with a variety of musical melodies that made the Genevan Psalter the greatest literary success of the sixteenth century. And, under cover of that success, the Protestant worshippers and faithful could sing in all sincerity the message of the Chosen People, persecuted by the evil-doers, called to separate themselves from the idolators, yet reliant on the Lord for their deliverance from exile (in Egypt or in Babylon), and from all their woes. Heretical or not? It depends on your own point of view.

Willem van 't Spijker

Der kirchengeschichtliche Kontext des Genfer Psalters

Einleitung Die Geschichte des Genfer Psalters ist mehrfach und unter verschiedenen Aspekten beschrieben worden.1 Dennoch verdienen Calvins Ideale, wie wir sie aus seinen Einleitungsschriften, Briefen und Kommentaren kennen, eine erneute Untersuchung. Im folgenden soll der kirchengeschichtliche Kontext des Genfer Psalters beleuchtet werden. Seine Wirkung reichte nach West- und Osteuropa und schließlich in die ganze Welt.2 1

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Reprints: Pseaumes octante trois de David, mis en rime Françoise par Clément Marot et Théodore de Bèze. Imprimé par Jean Crespin à Genève 1551; La Forme des prières ecclésiastiques et catéchisme par Jean Calvin. Crespin Genève 1552, New Brunswick/NJ 1973; Clément Marot et Théodore de Bèze, Les Psaumes en vers Français avec leurs mélodies. Facsimilé de l'édition genevoise de Michel Blanchier, 1562, hg. ν. Pierre Pidoux, Genève 1986. Literatur: Félix Bovet, Histoire du psautier des églises réformées, Paris 1872; Le Psautier de Genève 1562-1865. Images commentées et essai de bibliographie, Genève 1986; Le psautier Huguenot. Choix de 54 vieux psaumes sous leur forme authentique, Préface, Notes et Commentaires par Pierre Devoluy, Hors-Texte de Pierre Bourguet, o. O. 1928; Le Psautier Huguenot du XVF Siècle. Mélodies et documents, hg. v. Pierre Pidoux, Bd. I, Les mélodies, Bd. II, Documents et bibliographie, Kassel/Basel 1962; Hendrik Hasper, Calvijns beginsel voor de zang in de eredienst verklaard uit de Heilige Schrift en uit de geschiedenis der kerk. Een kerkhistorisch en hymnologisch onderzoek, Deel I, 'sGravenhage 1955, Deel II, Bewerkt door ds. W. de Graaf te Zaltbommel, 's-Gravenhage 1976; Willem van 't Spijker, Reformatie en kerklied, in: Kerklied in beweging. Bijdragen over de geschiedenis van het Kerklied sinds de Reformatie. Onder redactie van de Stichting Geestelijke Liederen uit de schat van de Kerk der eeuwen, Heerenveen 1999, 16—43; Markus Jenny, Luther, Zwingli, Calvin in ihren Liedern, Zürich 1983; Markus Jenny, Art. Kirchenlied, in: Theologische Realenzyklopädie 18, 612f. Karl Ferdinand Müller (Hg.): Leiturgia. Handbuch des evangelischen Gottesdienstes, Bd. 4: Die Musik des evangelischen Gottesdienstes, Kassel 1961; Markus Jenny, Geschichte des deutschschweizerischen evangelischen Gesangbuches im 16. Jahrhundert, Basel 1962; Friedrich Blume, Geschichte der evangelischen Kirchenmusik. 2., neubearb. Aufl., hg. unter Mitarbeit v. Ludwig Fischer u. a., Kassel/Basel 1965; Robin A. Leaver, „Goostly psalmes and spirituali songes." English and Dutch metrical Psalms from Coverdale to Utenhove 1535-1566, Oxford 1991; Samuel Jan Lenselink, De Nederlandse Psalmberijmingen in de 16e eeuw van de Souterliedekens tot Datheen met hun voorgangers in Duitsland en Frankrijk, Assen 1959; Jan R. Luth, ,J3aer wert o m ' t seerste uytgekreten...". Bijdragen tot een geschiedenis van de gemeentezang in het Nederlandse Gereformeerde protestantisme ± 1550 - ± 1852, Kampen 21986; Egbert Hoftnan, Liedekens vol gheestich confoort. Een bijdrage tot de kennis van de zestiende-eeuwse Schriftuurlijke Iyriek, Hilversum 1993; ders, Psalmen. Lofzangen en geestelijke liederen en de Reformatie, in: Psalmen, lofzangen en geestelijke liederen en de Reformatie. Redevoeringen uitgesproken bij de opening van

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Die Reformation hat sich maßgeblich auch durch das Kirchenlied ausgebreitet, und die zweite Reformation hat dabei insbesondere die Hilfe der Psalmen („Auf Flügeln des Gesanges...") erfahren. Es ist möglich, Verbreitung, Vertiefung, Umgestaltung und sogar Umbildung der zweiten Reformation anhand von Beispielen zu beschreiben, die aus der Geschichte des Psalters in der singenden Gemeinde oder in der aufbegehrenden Volksmenge stammen. Man könnte angesichts des wechselhaften Verlaufs der Geschichte in Frankreich und den Niederlanden sogar streckenweise von einer Politisierung der Psalmen sprechen. 3 Die Entstehung und Entwicklung des Psalters durch Calvin, de Bèze und Marot4 soll hier nicht verfolgt werden - nur die Ausgabe, die Calvin selbst 1539 in Straßburg herausgab, soll berücksichtigt werden. 5 Vor allem soll gezeigt werden, daß häufig die aktive Beteiligung am neuen Kirchenlied einen kirchlichen und zugleich vielfach einen politischen Durchbruch bedeutete. Dabei interessiert besonders der kirchengeschichtliche Kontext in Straßburg, wo Calvin von 1538 bis 1541 in einer kleinen französischen Flüchtlingsgemeinde arbeitete.6 Von gleicher Wichtigkeit ist die Entwicklung des Kirchenliedes in Basel, Konstanz, Bern und Zürich. Der Blick richtet sich also auf das Gebiet rund um Genf und will so etwas von der Kraft und zugleich den speziellen Merkmalen des Genfer Psalters aufspüren, wobei insbesondere das Moment des Bemühens um einen ökumenischen Ausgleich auffallt. Schon in der ersten kleinen Gruppe, die sich in Straßburg aus französisch sprechenden Flüchtlingen formierte, war dies der Fall.7 Calvin war der erste

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het zeventiende cursusjaar van de Evangelische Hogeschool te Amersfoort op dinsdag 31 augustas 1993, Amersfoort 1993, 8-31. Vgl. dazu Richard Nürnberger, Die Politisierung des französischen Protestantismus, Tübingen 1948. Paul-F. Geisendorf, Théodore de Bèze, Genève 1967, 54-63; zur Bedeutung von Marot: Orentin Douen, Clément Marot et le psautier Huguenot. Etude historique, littéraire, musicale et bibliographique, Paris 1878/1879, ND Nieuwkoop 1967; Paulette Leblanc, La poésie religieuse de Clément Marot, Paris 1955; Samuel Jan Lenselink, Les psaumes de Clément Marot. Edition critique du plus ancien texte, Kassel/Basel 1969; Claude Albert Mayer, Clément Marot, Paris 1972; Claude Albert Mayer, La religion de Marot, Genf 1960, ND Paris 1973; Michael Andrew Screech, Clément Marot. A Renaissance Poet discovers the Gospel. Lutheranism, Fabrism and Calvinism in the Royal Courts of France and of Navarre and in the Ducal Court of Ferrara, Leiden 1994; Catherine Reuben, La traduction des psaumes de David par Clément Marot. Aspects poétiques et théologiques, Paris 2000. Faksimile in Hasper, Calvijns beginsel I (s. Anm. 1 ), 456-471. Willem van't Spijker, Calvin. Biographie und Theologie, Göttingen 2001, 146f. Alfred Erichson, L'église française de Strasbourg au seizième siècle d'après des documents inédits, Strasbourg 1886; Eduard Stricker, Johannes Calvin als erster Pfarrer der reformierten Gemeinde zu Straßburg. Nach urkundlichen Quellen, Straßburg 1890; Alfred Erichson, Die calvinische und die altstrassburgische Gottesdienstordnung. Ein Beitrag zur Geschichte der Liturgie in der evangelischen Kirche, Straßburg 1894; Jacques Pannier, Calvin à Strasbourg, Strasbourg 1925; Ch. Bartholmé, Calvin à Strasbourg 1538-1541. Quatre études publiées à l'occasion du 400° anniversaire de l'arrivée de Calvin à Strasbourg, Strasbourg 1938; Doede Nauta, „Calvijn en zijn gemeente", in: Jan van Genderen u. a. (Hg.), Zieht op Calvijn, Amsterdam 1965, 103-141; René Bornert, La réforme protestante

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Pfarrer dieser Gemeinde, die im Oktober 1538 zum ersten Mal das Abendmahl feierte und dabei Psalmen sang. „Man hat den Franzosen eine Kirche gegeben, und sie singen in ihrer eigenen Sprache", schrieb ein Gast der Gemeinde in jenen Tagen.8 Calvin bemühte sich als Pastor vornehmlich darum, den hohen Idealen des Straßburger Reformators Martin Bucer in der ungefähr 500 Mitglieder umfassenden Gruppe Gestalt zu geben. Zusammen mit den Straßburgern besuchte er einige Religionsgespräche, die den Bruch mit Rom zu überwinden suchten. Calvin gewann so einen Einblick in die Situation des europäischen Protestantismus und lernte dabei insbesondere die Belange der französischen Evangelischen wahrzunehmen. In seiner Gemeinde übte er seine Aufgaben als Pastor intensiv aus. Auch seine Aktivitäten auf dem Gebiet der Liturgik wirkten richtungsweisend, und der für seine Gemeinde geschaffene Psalter leitete eine dauerhafte Erneuerung ein. Der Eindruck, den der Gemeindegesang hinterließ, spiegelt sich im Brief eines wallonischen Studenten aus der Zeit kurz nachdem Calvin 1541 Straßburg verlassen hatte, um nach Genf zurückzukehren.9 Im Gegensatz zum Singen in der alten Kirche, wo sich die Mönche und Priester auf ihre eigene Weise mit Musik und Gesang beschäftigten, hörte man in der evangelischen Kirche etwas ganz Neues.10 Schon 1525 schrieb ein Franzose namens Roussel an seinen Freund in Meaux, Bischof Briçonnet, wie schön ihm der Gesang in der großen Straßburger Kirche in den Ohren geklungen habe: „Das Singen der Frauen mischt sich mit den Stimmen der Männer und ergibt eine wunderbare Wirkung, sehr angenehm zu hören."11 Der wallonische Student schrieb 1545 seinem Freund in Antwerpen: Es ist unglaublich, wie schön es ist, wenn man Ruhe findet für sein Gewissen, wo das Wort Gottes rein verkündigt wird und die Sakramente korrekt verwaltet werden, und auch, wenn man die schönen Psalmen und Wunder des Herren singen hört. Ich war hier erst fünf oder sechs Tage, als ich den Gesang erstmals hörte, und ich konnte nur weinen vor Freude. Keine Stimme übertönt die andere. Jeder hat sein Musikbuch in der Hand, sowohl die Männer als auch die Frauen. Jeder preist den Herrn. [...] Es ist nicht zu glauben, welche Freude man beim Singen des Lobes des Herrn in der eigenen Muttersprache spürt, so wie es hier geschieht. 12

Der Student zeigt ein Bild der Gemeinde, das mit Calvins Postulaten übereinstimmt, denn der Reformator hatte gefordert: „Es genügt ein einfältiges Singen, sauber von Herz und Mund in der Volkssprache".13 Auch Martin van der Berg

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du culte à Strasbourg au XVIe siècle (1523-1598). Approche sociologique et interprétation théologique, Leiden 1981, 192-201. Aimé-Louis Herminjard, Correspondance des réformateurs dans les pays de langue française, V, Genève/Paris 1874, 145, Anm. 19. Pannier, Calvin à Strasbourg (s. Anm. 7), 25, Anm. 1. Auch Trient brachte keine wesentliche Erneuerung des Kirchenliedes, vgl. Edith Weber, Le concile de Trente et la musique. De la Réforme à la Contre-Réforme, Paris 1982. Herminjard (s. Anm. 8), I, 407; Pannier, Calvin à Strasbourg (s. Anm. 7), 24. Erichson, L'église française (s. Anm. 7), 14, 21; Pannier, Calvin à Strasbourg (s. Anm. 7), 25. Zitiert bei Pannier, Calvin à Strasbourg (s. Anm. 7), 25.

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hat, als er an seinen Freund Jan van der Bos in Antwerpen schrieb, mit Begeisterung darüber berichtet. Eine enthusiastische Gemeinde, klein und geschlossen, sang das Lob des Herrn mit Herz und Mund in der eigenen Sprache. Calvin hat dieser Gemeinde das erste Buch an die Hand gegeben: Aulcuns pseaulmes et cantiques mys en chant. Es enthält 18 Psalmen, den Lobgesang Simeons, die Zehn Gebote und das Credo. Ein Teil davon ist von Clément Marat verfaßt, dem Calvin 1536 in Ferrara begegnet war. Auch Calvin selbst bemühte sich, einen Beitrag zu leisten. Dabei benutzte er von Matthias Greiter komponierte ausdrucksstarke und bis heute verwendete Melodien.14 So entstand das Büchlein in der intimen und vertrauten Sphäre der geschlossenen Gemeinschaft der Flüchtlinge in Straßburg. Kaum zwei Jahrzehnte später hat sich das Bild vollständig gewandelt. In verschiedenen Städten in Frankreich und in den südlichen Niederlanden erschallten am Ende der fünfziger Jahre die Genfer Psalmen wie Kampflieder, gesungen von zwei- oder dreitausend Männern und Frauen. De Bèze erzählt in seiner Histoire Ecclésiastique, wie diese Volksmassen sich hören ließen, bis König und Parlament Gegenmaßnahmen ergriffen.15 In der Korrespondenz Margarethes von Österreich mit Philipp II. und mit ihren Beratern wird deutlich, wie sehr sie die gewaltigen Volksmassen fürchtete, die in Tournay und Valenciennes ihre Psalmen sangen.16 Diese Chanteries waren für die Verbreitung der Reformation von entscheidender Bedeutung. Sie bildeten eine ganz neue Liturgie von Widerstand und Revolte, worüber auch innerhalb des reformierten Protestantismus nicht einstimmig geurteilt wurde. Hatte man das Recht auf Widerstand?17 Die oben erwähnte Politisierung des Psalters ist als ein Zeichen der Politisierung des französischen und niederländischen Protestantismus an sich zu betrachten. Wir stoßen dabei auf eine Entwicklung, die nur zu begreifen ist, wenn man sie in den kirchengeschichtlichen Kontext des Genfer Psalters einordnet.

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Théodore Gérold, Les plus anciennes mélodies de l'Eglise protestante de Strasbourg et leurs auteurs, Paris 1928; Pierre Pidoux, Les origines des mélodies des psaumes huguenots, 0. O, o. J.; vgl. Pidoux, Le psautier huguenot, Bd. I (s. Anm. 1). Theodor de Bèze, Histoire Ecclésiastique des églises réformées au royaume de France, hg. v. Guilielmus Baum / Eduardus Cunitz, Édition nouvelle avec commentaire, notice bibliographique et table des faits et des noms propres, Paris 1883-1889, ND Nieuwkoop 1974, T. 1, 167f. Der Magistrat von Valenciennes schrieb über die Chanterien an Margarethe von Österreich. Vgl. Gerard Moreau, Histoire du Protestantisme à Tournai jusqu'à la veille de la Révolution des Pays-Bas, Paris 1962, 169, Anm. 4; Vgl. Herman Arend Enno van Gelder, Correspondance française de Marguerite d'Autriche, duchesse de Parme, avec Philippe II, T. II, III, Utrecht 1941/42. Darüber dachte Guido de Brès jedenfalls ganz anders als die Initiatoren in Tournai und Valenciennes, vgl. Emile Michel Braekman, Guy de Brès, I: Sa vie, Bruxelles 1960, 154ff.

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Straßburg Es war in Straßburg, der Metropole des Elsaß, dem Zentrum ökonomischen und kulturellen Austausche zwischen Süd- und Nordeuropa, Westen und Osten, wo zum ersten Mal die Sonntagsmesse auf Deutsch gesprochen und gesungen wurde.18 Der spätere Revolutionär Thomas Müntzer, der im Bauernkrieg die aufsässigen Volksmassen anführte, war der erste, der fur das Osterfest 1523 mit seinem Deutzsch kirchen ampt eine evangelische Messe für seine Gemeinde ins Deutsche übertrug.19 Luther folgte mit seiner Deutschen Messe zu Weihnachten 1525.20 In Straßburg war es Theobald Schwarz, Helfer von Matthäus Zell am Münster, der am 16. Februar 1524 die deutsche Messe hielt, wobei die Lieder auf deutsch gesungen wurden. Damit begann eine wichtige liturgische Erneuerung. Der Opfercharakter der Messe verschwand, und der Altar wurde durch einen Tisch ersetzt. Martin Bucer hat in seiner auch im Namen seiner Kollegen geschriebenen Apologie der Neuerungen über diese tiefgreifenden Maßnahmen Rechenschaft abgelegt.21 Er geht dabei von dem reformatorischen Gedanken aus, daß jeder Christ durch den Heiligen Geist berufen und qualifiziert sei, Opfer zu bringen. Bucers Theologie hat ein starkes soziales Element. Seine erste reformatorische Schrift trug den Titel: Das ym selbs niemant, sonder anderen leben soll, und wie der mensch dahyn kummen moeg (1523).22 Damit ist die Konzeption der Gemeinde auch eng mit dem Bekenntnis der Gemeinschaft der Gläubigen verbunden, die sich nur durch Wort und Geist leiten läßt. Bucers Entwurf stellt den Kirchengesang, wie er in Messen und Vespern bisher „umbs gelts willen" geübt wurde, in Frage. Man hatte gesungen und gelesen „solichs zu latein, das der gemein man gar nit und sye offt selb auch wenig verston".23 Was man singen sollte, lehre die Schrift: „[...] so gebrauchen wir uns in der gemeingots keins gesangs noch gepets, das nit auß goetlicher schrifft gezogen sey, und dieweyl, was in der gemein gottes gehandelt würt, jederman in gemein besserlich sein soll, betten noch singen wir nichs, dann in gemeiner teütscher sprach, das der ley gemeincklich moege amen sprechen, wie

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Bornert, La réforme (s. Anm. 7), 112-115; Miriam Usher Chrisman, Strasbourg and the Reform. A Study in the Process of Change, New Haven/London 1967. Walter Elliger, Thomas Müntzer. Leben und Werk, Göttingen 21975, 310-360; Thomas Müntzer. Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe hg. v. Günther Franz / Paul Kim (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 33), Gütersloh 1968, 25-206. D. Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff., Bd. 19, 72-113; Otto Clemen (Hg.), Luthers Werke in Auswahl, Bd. III, Berlin 1959, 294-309; Ulrich S. Leupold, Luther's Works, Bd. 53: Liturgy and Hymns, Philadelphia 31973, 51-90; Patrice Veit, Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers. Eine thematische und semantische Untersuchung (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 120), Wiesbaden 1986. Grund und ursach auß gütlicher schrifft der neüerungen, in: Martin Bucers Deutsche Schriften (BDS), Bd. 1: Frühschriften 1520-1524, hg. v. Robert Stupperich, Gütersloh/Paris 1960, 185-278. Ebd., 29-67. Ebd., 274.

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das der geist gottes lernet."24 So fordert es das Prinzip der Schrift. Das Prinzip des Geistes fordert, die ganze Gemeinde einzubeziehen. Nach Bucer soll Gottes Lob nicht nur mit Wörtern und Weisen gesungen werden, sondern mit dem Herzen: Weiter, dieweyl ein schmach gottes ist, nit mit hertzen betten oder singen, lassen wir in der gemein solichs nicht an kein zeyt noch mitt einigen Satzungen verfasset werden, sonder freywillig am Sonnentag, so man das nachtmal Christi haltete, wiirt etwas mit kiirtze gebettet und gesungen, alles auß der schriffi gezogen, wölchs mit seiner ursach oben anzeigt ist. Desgleichen zu vesperzeyt, seytenmal die leyplich feyr zu besserung des geists braucht werden sol, singet man aber ein psalmen, zwen oder drey mit einer propheti, das ist verklerung etwan eins capitels auß goetlicher schriffi, also auch taeglich vor und nach der predig würt von gantzer gemein ein psalm gesungen. 25

Bucer wollte sich offenbar von den vielen Festtagen mit ihren besonderen Liedern für die Heiligen der Kirche verabschieden. Es wurde in Straßburg an jedem Tag gepredigt, aber am Sonntag kam die Gemeinde zusammen, um das Abendmahl zu halten. Für Bucer sind diese liturgischen Veränderungen auf drei Prinzipien zurückzufuhren: Das erste ist durch seine Sicht der Heiligen Schrift bestimmt. Keine anderen Normen oder Regeln gelten mehr fur ihn. Zwar haben auch die Gebräuche der alten Kirche ihre Bedeutung; Bucer kann seine Leser daran erinnern, wie die Musik von den Kirchenvätern geschätzt wurde. Die Reformation will aber im Grunde zurück zum alleinigen Wort Gottes. Das zweite Prinzip beruht auf der Überzeugung, daß allein die Gnade Gottes in Christus den Menschen selig macht und hilft. Bucer benutzt diesen Begriff in dem für ihn wesentlichen pneumatologischen Verständnis. Der geweihte Priester hat damit seine Relevanz verloren, jeder Gläubige ist durch den Geist zum Dienst an Gott geweiht. Das Kirchenlied gehört zum Opferkult der Kirche, in der keine anderen Opfer gelten als dasjenige von Jesus Christus. Damit ist auch das dritte Prinzip genannt: Die Kirche ist ein Leib und hat eine Seele. Im Kirchenbegriff und in der kirchlichen Wirklichkeit artikuliert sich die liturgische Neuerung am deutlichsten. Hier wird klar, daß es nicht nur der Einzelne, das Individuum, sondern die Gemeinde, die miteinander verbundene Gemeinschaft ist, in der das Wunder von Freiheit und Frieden erfahren wird. So ist es auch begreiflich, daß von der Straßburger Gemeinde Bucers dieselben Berichte zu hören sind wie von der kleineren französischen Kirche, der Calvin drei Jahre lang verbunden war. Bucers Prinzip war, wie schon bemerkt, primär der Heiligen Schrift entlehnt. Es verwundert darum nicht, daß er in seinen Bibelkommentaren immer wieder die Bedeutung der Musik, besonders die des Kirchenliedes betont. Als einer der wichtigsten Exegeten seiner Zeit hat er ständig Gelegenheit gefunden, den Wert des Kirchenliedes hervorzuheben, durch das Gemeinschaft entsteht und gefestigt wird. Bucer ist tief davon durchdrungen, daß das emotionale Moment für den Glauben von großer Wichtigkeit ist. In seinem großen Psalmenkommentar 24 25

Ebd., 275. Ebd.

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von 1529, unter Pseudonym für die Kirche in Frankreich veröffentlicht, bemüht Bucer sich, den Stellenwert der Musik für die Religion zu verdeutlichen.26 Die Musik könne das Herz dazu ermuntern und anspornen, mit allen Kräften Gott zu lieben. David sei ein Vorbild, denn bei ihm werde nicht dem Ohr eitel geschmeichelt, sondern das Herz zur Ruhe gebracht, da die Musik alles vertreibe, was die Harmonie des Herzens stört. „Sie kann uns anregen, damit wir mit großer Liebe die Wohltaten Gottes erkennen und aufmerken, angespornt durch religiöse Empfindungen."27 Daß Bucer mit diesen Überzeugungen nicht allein stand und er auch nicht der einzige war, der Schrift und Musik auf diese kritisch-emotionale Weise verstand, kann man den Bibelkommentaren von Hieronymus Zanchi und Petrus Martyr Vermigli entnehmen, nicht nur Kollegen, sondern auch Geistesverwandte Bucers.28 Sie stimmen mit ihm überein, wenn es um die Bedeutung des Kirchenliedes für die Gemeinde Gottes geht. Bucers Bemühungen um den Gemeindegesang zeigen sich auch darin, daß er dem Singen - und besonders der Aufgabe, die dabei den Kindern zufallt - einen festen Platz in der Ordnung der Gemeinde einräumen wollte. Bucer ist einer der ersten und tüchtigsten Verfasser evangelischer Kirchenordnungen. Zusammen mit dem Basler Reformator Johannes Oekolampad entwarf er die Reformationsordnung von Ulm (1531).29 Für Straßburg,30 Hessen31 und Köln32 konzipierte Bucer ebenfalls Ordnungen. In all diesen Kirchenordnungen finden wir Bestimmungen, wie der Gesang in der Kirche geregelt und geordnet werden soll. Bedeutend ist der immer wieder betonte Zusammenhang mit den Schulen, in denen die Kinder sich in der Kunst des Singens üben sollen. In Ulm bekommen die Meister der deutschen und auch die der lateinischen Schulen in Stadt und Land gemeinsam mit den Pfarrern und ihren Helfern den Auftrag, die Kinder die deutschen Psalmen und geistlichen Lieder, die man in den Kirchenbüchlein findet, singen zu lehren, damit es dann auch die Älteren Tag für Tag erlernen. Die junge Generation wird also eingesetzt, um die Alten in der Gemeinde im Singen der Kirchenlieder zu unterrichten. Man hoffte, daß dabei die schlechten Lieder verschwinden würden: „Solcher brauch würdt dann auch die üppigen, ergerlichen lieder feyn abtreyben und in allweg nit geringe boesserung gepe26 27

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Van 't Spijker, Kerklied (s. Anm. 1), 19-25. Martin Bucer, Epistola D. Pauli ad Ephesios, Straßburg 1527 (BuBibl. Nr. 17), p. 96"v; ders., Psalmorum libri quinqué ad Hebraicam veritatem traducti, Genf 1554 (BuBibl. Nr. 25d), 189; ders., Praelectiones doctiss. in epistolam D. P. ad Ephesios, Basel 1562 (BuBibl. 112), 176f. Van 't Spijker, Kerklied (s. Anm. 1), 35^12. BDS 4, 183-305 (s. Anm. 21): „Ordnung, die ain Ersamer Rath der Statt Ulm in abstellung hergeprachter etlicher mißpreuch in jrer Stat und gepietten zuhalten fiirgenommen [...]". BDS 5, 15—41 (s. Anm. 21): „Ordnung und Kirchengebreuch für die Pfarrern und Kirchendienern zu Straßburg [...]". BDS 7, 247-318 (s. Anm. 21): „Ordenung der Christlichen Kirchenzuchte für die Kirchen im Fürstenthumb Hessen"; „Ordenunge der Kircheniibunge. Für die Kirchen zu Cassel. Zu Marpurg 1539". BDS 11/1, 147—429 (s. Anm. 21): „Einfältiges Bedenken. Entwurf einer Reformationsordnung für das Erzstift Köln von 1543".

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ren."33 Bedingung dafür war, daß nur schriftgemäße Lieder ausgewählt wurden: „Damit aber nichts ergerlichs hiebey einreyß, woellen wir, das man kein gsang in der kirchen zu singen anneme dann woelche, als der schrifft gemaeß, durch die gmainen examinatores christlicher lehr erkennt und der gmain zu sungen fürgeben sind und noch werden."34 Offenbar wollte man verhindern, daß andere als biblisch-evangelische Lieder in der Kirche gesungen wurden. Mit dem Einsatz von Schülern rechnet Bucer auch in der Kasseler Kirchenordnung: Die Kinder werden eine halbe Stunde vor Beginn des Gottesdienstes in die Kirche gefuhrt, um da eine Viertelstunde etwas latinischer Psalmen und gesang [zu] singen, und daruff sol ein knabe das Sonntäglich Evangelion verlesen, uff Weichs die gantze gemeyn den glauben und andere geystliche Heder biß zur predige singen sollen. Man sol auch in der Predige das volck trewlich vermanen, daß sie die heiligen gesenge vor und nach der predigen samptlichen und mit gemeiner hoher andacht singen woellen. Man sol auch nichts denn bewerte gesange in den kirchen singen lassen. Es sollen auch die schuler hinfurt nit also, wie bißher geschehen, nach den gesengen auß der Kirchen gelassen werden, Es weren dann die gar kleinen oder so kalt, daß sie sich in der kirchen nit erhalten moechten. Beym Cathechismo aber sollen sie stets sein und bleiben, Auch daselbst die frage und antwort thun, die man ine furgeben wirt.35

In der Übergangssituation, in der die Kirchen sich befanden, schließt Bucer sich einer alten Tradition an, die in den Schulen der Devotio Moderna gepflegt wurde.36 Die Kinder singen nicht nur an den Häusern, etwa um Geld zu bekommen, sie werden auch in den Kirchenliedern unterrichtet, womit sie am Samstagnachmittag beschäftigt sind, und sie bekommen die Aufgabe, in der Kirche mit ihren hellen und klaren Stimmen den Gesang der Gemeinde zu unterstützen. So legte Bucer es in seinen verschiedenen Kirchenordnungen fest, und so war es auch Praxis in Straßburg in den dreißiger Jahren. Johannes Sturm - Organisator des Straßburger Schulwesen, Humanist, Philologe und Pädagoge ersten Ranges, in einem Atemzug mit Philipp Melanchthon zu nennen, Freund von Johannes Calvin - kannte die Tradition der Schulen der Devotio Moderna. Er war es, der in Straßburg den musikalischen Übungen zum Dienste der Kirche breiten Raum gewährte. Wir besitzen von ihm einen Brief an den Musiklehrer Mattias Stiffelreuter, in dem er die Rolle von Kirche und Schule beim guten Gesangsunterricht befürwortet.37 Auffallend ist die Kombination von Kirche und Schule.38 Sturm rügt die Art des Singens, bei der man nicht singt, sondern schreit. Er ist offensichtlich vertraut mit den techni33 34 35 36

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BDS 4,240 (s. Anm. 21). Ebd., 420. BDS 7,293 (s. Anm. 21). Michael Schoengen, Die Schule von Zwolle von ihren Anfangen bis zum Auftreten des Humanismus, Freiburg 1898, 77f., 88-94; Regnerus Richardus Post, Scholen en onderwijs in Nederland gedurende de Middeleeuwen, Utrecht/Antwerpen 1954, 139. Johannes Sturm, Classicae epistolae sive Scholae Argentinensis restitutae. Traduites et publiées avec une introduction et des notes par Jean Rott, Paris/Strasbourg 1938, 116f.; Lewis W. Spitz / Barbara Sher Tinsley, The Reformation and Humanist Learning. Johann Sturm on Education, St. Louis/MO, 1995, 304f. Stuim, Classicae epistolae (s. Anm. 37), 116: „Musica tibi commissa est, in qua non dubito, quin officium facias boni et periti cantoris, ita ut ecclesiis et Scholis nostris placeas."

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sehen Fragen, die sich in Theorie und Praxis der Musik ergeben. Seiner Meinung nach ist es die Aufgabe des Musiklehrers, dafür zu sorgen, daß die Kinder die Psalmen in Kirche und Schule nicht auf gut Glück singen, sondern nach allen Regeln der Kunst. Sturm forderte eine kunst- und geschmackvolle Ausübung, wie sie dem hohen Ideal der Disziplin an seiner Schule entsprach; die Musik sollte in jeder Hinsicht der Religion förderlich sein. Dahinter stand das Ziel der Straßburger Unterrichtsinstitute: Man beförderte eine eloquens pietas nicht nur in der Rhetorik und Logik, sondern auch in der Musik - im Dienst der Kirche, der Schule und der Gesellschaft. Dies gehörte zu der humanistisch geprägten Konzeption eines Gemeinwesens, in dem Kirche und Religion, Kirche und Schule, Kirche und Familie zueinander fanden in wahrer pietas, das heißt, in der Kunst, glücklich und fromm zu leben.39 Auch in der Familie sollte das Kirchenlied starken Widerhall finden. Sie fungierte als ein Resonanzboden für die religiöse Musik und konnte sogar eine breitere Skala von Liedern aufnehmen, als dies in der Kirche möglich war. Ein schönes Beispiel dafür bietet die Edition eines Gesangbuchs der Böhmischen Brüder, herausgegeben von Katharina Schütz, Ehegattin des ersten evangelischen Predigers in Straßburg, Matthias Zell.40 Katharina hegte die Hoffnung, daß sie mit ihrer Arbeit schlechte und sündige Lieder aus Herz und Mund der Kinder vertreiben könne.41 Sie versuchte, mit diesem Beitrag zur Arbeit ihres Mannes an der Reformation der Gemeinde zugleich einer vielgehörten Klage zu begegnen, daß nämlich die alten Lieder und Gebete aus der Kirche entfernt worden seien und in der Gemeinde das liturgische Jahr nicht mehr gelte, was manche Leute bedauerten. In ihrer Vorrede heißt es hierzu: Dann seer vil hibscher gsang von den Festen: der zukunfft unnd handlung Christi: Als vom Engelischenn gruoß: Weihnachttag: Ostertag: Hymmelfart: Pfingsttag: &c. Und den rechten lieben heyligen hie funden werden: Damit sich auch vil gutter leut nit beklagen mögen: die selben heyligen gedechtenissen: werden all vergessen: so man die tag der Fest Christi und der heyligen nymmen feyre.42

Katharina Zell verband mit ihrem Buch den Wunsch, das fromme Lied auch in der Küche erklingen zu lassen. Sie rief die Frauen und Mütter auf, bei der Arbeit durch den Gesang den Glauben zu stärken: „So sye trewlich (im glauben) haußhhalten: gehorsamen: kochen: schüsseln weschen: kinder wischen unnd warten: unnd der gleichen werck: so zum menschlichen leben dienen: unnd sich in denselbigen wercken mögen zu Gott keren: auch mit der stymm: des gsangs." Auch die Orgel könne die Stimme nicht ersetzen. Anstelle der „schantliche buoben lieder" solle man die Lieder des Herren singen: „Der handtwercks gsell 39 40

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So formulierte es Bucer mit Erasmus. Elsie Anne McKee, Katharina Schütz Zell. Bd. I: The life and thought of a sixteenthcentury reformer, Bd. II: The writings. A critical edition (Studies in Medieval and Reformation Thought 69), Leiden u. a. 1999; dies.: Reforming popular piety in sixteenth-century Strasbourg. Katharina Schütz Zell and her Hymnbook (Studies in reformed theology and history 2,4), Princeton 1994. McKee, Katharina Schütz Zell (s. Anm. 40), I, 97-101. Ebd., Π, 61.

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ob seiner arbeyt: Die dienstmagt ob jrem schisselweschen: Der acker und rebmann uff seinem acker: und die muoter dem weinenden kind in der wiegen". Die Reformation brachte so das fromme Lied nicht nur in die Kirche und Schule, sondern auch ins Haus und in die Arbeitswelt.43 Auch hier kommt Straßburg besondere Bedeutung zu: 1541 erschien in einer sehr kostbaren Ausgabe das Gesangbuch, darinn begriffen sind, die allerfiirnemisten und besten Psalmen, Geistliche Lieder, und Chorgeseng aus dem Wittembergischen, Strasburgischen, und anderer Kirchen Gesangbüchlin zusamen bracht, und mit besonderem fleis corrigiert und gedrucket. Für Stett und Dorff Kirchen, Lateinische und Deudsche Schulen: „das größte Prachtwerk des Straßburger Buchdrucks".44 Das Buch erlebte in kurzer Zeit eine große Anzahl von Nachdrucken. Bucer sah es als ein Exempel von größter ökumenischer Bedeutung an; auch andere Kirchen könnten das Buch gebrauchen. Die Abschaffung der Messe, 1529 offiziell verordnet, führte zu einer Umformung der Gemeinde in eine hörende, antwortende und singende Gemeinschaft: in ein Priestertum der Gläubigen. In diesem Kontext arbeitete Bucer mit seinen Kollegen Zell, Capito und Hedio an dem, was für sie das Regnum Christi sein sollte. Bucers Einfluß auf Calvin war groß. Er ist zurückzuführen auf eine theologische Übereinstimmung und wurde auch durch große und tiefe Verbundenheit in Bruderschaft und Freundschaft getragen. Das Kirchenlied wurde so Teil eines umfassenden Reformkonzepts, Mittel und Weg, auf dem die Reformation sich konsolidierte und verbreitete.

Basel, Konstanz, Bern, Zürich Von Straßburg aus ist das Kirchenlied nach Basel gelangt. Es bestand ein reger Verkehr zwischen den beiden Städten. Basels Reformator Johannes Oekolampad gehörte zu dem Kreis der süddeutschen Prediger aus der Einflußsphäre Zwingiis, die in ihrem Wunsch, das Evangelium rein zu verkündigen, zusammenarbeiteten.45 Er vermochte seine Gedanken über die presbyteriale Ordnung 43

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Ebd., II, 62. Das Singen soll im Hause geübt werden: „Das sye darinnen vil baß Gott gfallen: dann keyn Pfaff: Münch: oder Closterfraw inn jrem unverstendigen Chorgsang: wie man auch etwan thorechte andacht gehebt hat: des unnützen kindelwagens auff der orgel: Ein arme muoter so gern schlieff: unnd aber zu mitternacht muoß das weynent kindel wagen: jm also ein Lied von götlichen dingen singt: Das heysset und ist das recht kindel wagen (so es gechicht im glauben) das gfellt Gott: und nicht die orgel oder der orgler: er ist keyn kindt: darffest jn nicht geschweygen mit pfeiffen und singen: sonder dich selbs [...]" (ebd., 63). Johannes Ficker, Das größte Prachtwerk des Straßburger Buchdrucks, in: Archiv fiir Reformationsgeschichte 38 (1941), 226-230; Allen Bruce Mullinax, Martin Bucer and the Strasbourg Song Book. Thesis Master of Church Music, Ann Arbor/Michigan 1991. Über Oekolampad: Emst Staehelin, Das theologische Lebenswerk Johannes Oekolampads (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 21), Leipzig 1939, ND New York/London 1971.

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der Gemeinde, wie sie ihm seit 1530 klar vor Augen stand, auch an Bucer weiterzugeben.46 Ihre Zusammenarbeit in kirchlichen und theologischen Angelegenheiten trug zur Einheit der städtischen reformatorischen Bewegung bei. Schon vorher, nämlich 1526, hatte Oekolampad liturgische Neuerungen vorgenommen. In diesem Jahr wurde in Basel der Gemeindegesang in den evangelischen Gottesdienst eingeführt.47 Oekolampad hatte in einer Predigt vom Sommer 1525 über Psalm 77 auf die Möglichkeit hingewiesen, in der Zusammenkunft der Gläubigen kräftig und laut Psalmen und geistliche Lieder zu singen, „nicht auf die Weise unserer Priester, die aus Gewinnsucht oder aus Gewohnheit, ohne Geist und Verstand wie der Papagei singen oder schreien, und wie Esel iahen dasjenige, was sie nicht begreifen."48 Es läßt sich denken, daß diese Predigt mit dazu führte, daß in der Passions- oder Osterzeit die Gemeinde selbst spontan anfing, Psalmen zu singen. Ein Zwischenfall spitzte die Situation zu: Nachdem der Magistrat ein Verbot ausgesprochen hatte, wandte Oekolampad sich in einem Gesuch an den Rat, um seine Sache zu verteidigen.49 Seine Argumente fanden jedoch kein Gehör. Am 10. und 12. August wurden aufs neue deutsche Psalmen gesungen, und am 15. August versuchten junge Leute, im Basler Münster durch Psalmsingen den Gottesdienst auf diese Weise neu einzurichten. (Der Prediger wußte dem durch eine Änderung in der Liturgie zuvorzukommen.) Die Bücher, die man dabei verwendete, kamen aus Straßburg. „Deutsche gereimte Psalmen in einer Straßburger Übersetzung in Volksliederweisen, aber recht unschön" - so der Karthäuser Zimmermann in seiner Wiedergabe des Vorfalls.50 Die Durchsetzung des Psalmengesangs gelang diesmal nicht, aber nun war der Rat doch willig, über die Sache zu reden. Es kam ein Beschluß zustande, durch den in einzelnen Kirchen das Singen von Psalmen durch die Gemeinde gestattet wurde. Auch beim Abendmahl wurden deutsche Psalmen gesungen. Mit Carl Hagenbach kann man sagen, daß die Einführung des deutschen Kirchengesanges ein Hauptmoment der Basler Reformation ausmacht.51

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Vgl. die Rede vor dem Basler Rat: Ernst Staehelin, Briefe und Akten zum Leben Oekolampads. Zum vierhundertjährigen Jubiläum der Basler Reformation, Bd. II: 1527-1593, Leipzig 1934, 4 4 8 ^ 6 1 ; vgl. Staehelin, Lebenswerk (s. Anm. 45), 506-512. Ernst Staehelin, Das Buch der Basier Reformation. Zu ihrem vierhundertjährigen Jubiläum im Namen der evangelischen Kirchen von Stadt und Landschaft Basel, Basel 1929, 132— 137; Staehelin, Lebenswerk (s. Anm. 45), 444. Johannes Oekolampad, In Psalmos LXXIII/ LXXIIII, etc. Conciones Ioannis Oecolampadii [...], Basel 1544, 139: „Et sie in conventu fidelium psalmi et spirituales cantiones alto et sonoro gutture Deo occinenda sunt, sine omni superbiae spiritu, non more sacrìficulorum nostrorum, qui vel lucri gratia, vel consuetudine, sine omni spiritu et intelligentia more psittaci cantilant, imo boant, et instar asinorum rugiunt, ea quae non intelligunt. Cantiones divinae ex corde fluant, quibus proximus excitandus ad laudem Dei." Staehelin, Lebenswerk (s. Anm. 45), 44¿M146. Staehelin, Das Buch der Basler Reformation (s. Anm. 47), 136f. Carl Rudolph Hagenbach, Kritische Geschichte der Entstehung und der Schicksale der ersten Basler Confession und der auf sie gegründeten Kirchenlehre. Nebst Beilagen und einem Anhange über die Geschichte der Agenden und Katechismen in der Kirche zu Basel, Basel 1827,258.

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Aufschlußreich sind die Argumente, die Oekolampad in seinem Gesuch an den Rat über die Freiheit zum Singen anfuhrt. Er beginnt sein Plädoyer mit einem Verweis auf die Bedeutung der Psalmen für das Lob Gottes: „Nun ist es offenbar und gewiß, und kein guter verständiger Christenmensch kann es leugnen, daß das Lob Gottes am aufrichtigsten, vollkommensten und gottseligsten gepriesen wird, wenn es von Herzen in Einhelligkeit und Freuden gesungen wird, wie es aus den Psalmen dargelegt werden könnte." Man könne nicht sagen, daß dies Singen allein den Priestern, Klosterleuten und Schülern zustehe. Es sei ein Auftrag an alle Christen. Unter Verweis auf das Moses-Wort - „Wollte Gott, daß alles Volk weissagte" (Num 11, 29) - beschreibt Oekolampad die große Freude und Andacht der Menschen. Mit solchem Singen werde nur die Ehre Gottes und der Nutzen für die Seele gesucht. Vier Argumente weiß Oekolampad zu nennen: 1. Gott wird dadurch gelobt, und das ist stets die Aufgabe eines guten Christen. 2. Das Singen ist eine Erquickung des Geistes, der sonst mit Sorgen und Arbeit überladen ist. 3. Es ist ein Mittel, viele beim Gebet zu halten, die sonst, weil viele Zeremonien veraltet sind, eilends aus der Kirche laufen. 4. Es ist eine gute Methode, genauer auf das Wort Gottes zu achten und die Anmut der göttlichen Dinge besser zu erkennen. Zudem diene es der Vermeidung von Üppigkeit und Leichtfertigkeit.52 Es sind bekannte Argumente, die Oekolampad gebraucht. Er hofft auf die Zustimmung des Rates, da er bei seinen Predigten dem Thema nicht ausweichen und dann leicht Unwille erwachsen könne. Man solle die Kirchenlieder nicht bei Gelagen oder zur Unterhaltung singen, denn das wäre Gotteslästerung. Auch müsse man nicht die Stifte und Klöster zu dieser Art von Psalmsingen zwingen. Die Obrigkeit solle die Sache in einem offiziellen Mandat bekannt machen oder von der Kanzel her verordnen lassen, damit niemand durch mutwillige Störungen an seiner Andacht gehindert würde. Die Gegner Oekolampads verurteilten diese Neuerung, indem sie behaupteten, das Volk singe nicht, es heule und schreie. In Straßburg konnte vielleicht stärker von der glücklichen Zusammenarbeit mit den Schulen profitiert werden. Aber auch in Basel waren die Schwierigkeiten nur vorübergehend. 1540 wurde dort das sogenannte Konstanzer Gesangbuch, das im selben Jahr in Zürich bei Froschauer erschienen war, in Gebrauch genommen und 30 Jahre lang verwendet, bis 1573 die deutsche Psalmenübersetzung durch Ambrosius Lobwasser erschien. Diesen Psalmen wurde als Anhang eine Liedersammlung hinzugefügt, derer man sich an den Festtagen bedienen konnte.53

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Gesuch Oekolampads beim Rat um die Erlaubnis für deutschen Kirchengesang, in: Aktensammlung zur Geschichte der Basler Reformation in den Jahren 1519 bis Anfang 1534, hg. V. Emil Dürr / Paul Roth, Bd. II: Juli 1525 bis Ende 1527, Basel 1933, 374-376; Staehelin, Das Buch der Basler Reformation (s. Anm. 47), 133-136. Jenny, Geschichte (s. Anm. 2), 144-152; Hagenbach, Kritische Geschichte (s. Anm. 51), 258f.

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Das Konstanzer Gesangbüchlein enthält eine Auswahl von Psalmen Davids und eine große Bandbreite protestantischer Lieder. 54 Man findet darunter Gesänge von Johannes Zwick 55 und Ambrosius und Thomas Blaurer, 56 den Konstanzer Reformatoren. Offenheit zeigt sich darin, daß zwanzig Lieder Luthers aufgenommen sind und noch zehn weitere aus seinem Kreis, „während die lutherischen Gesangbücher nicht Gegenrecht übten und kein einziges Lied der mit Zwingli und Bullinger verbundenen Konstanzer aufnahmen." 57 Das Konstanzer Buch ist deshalb von großer Bedeutung, weil es eine Vorred zu Beschirm unnd erhaltung des ordenlichen Kirchengesangs enthält, in der das Singen in der Gemeinde verteidigt wird. Mit Recht wurde diese Vorrede „ein Meisterstück" genannt, das in „sachlich-vornehmer, freundlicher, klarer und umfassender Auseinandersetzung mit den Gegnern des Kirchengesangs eine überzeugende Darlegung seines guten Rechtes" biete. 58 Johannes Zwick verteidigt darin das Singen gegen Einwände, die wahrscheinlich aus Zürich kamen, wo man bis 1598 gesangslose Gottesdienste hielt. Allerdings hatte Zwingli sich 1525 mild gegenüber Kirchen ausgesprochen, in denen gesungen wurde. 59 Seine Argumente und das Vorbild der Zürcher Kirche wurden von Zwick zurückgewiesen. Er vertrat gegenüber dem Gesang eine spiritualistische Auffassung, die vornehmlich auf das Singen mit dem Herzen Wert legte: Die Stimme sei nur etwas Äußerliches. Zwick bekämpfte auch die Auffassung, daß man nur singen dürfe, was in der Bibel zu finden sei. Treue zur Schrift bedeutete für ihn nicht, daß man die Gaben des Heiligen Geistes im freien Kirchenlied vernachlässigen sollte. Zwick war kein Biblizist; seine Einstellung ließ Raum für die Freiheit des Geistes, der auf vielfältige und unterschiedliche Weise wirke. Das Konstanzer Gesangbuch ist ein prägnantes Beispiel für das Zusammengehen von Psalm und Lied.

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Nüw gsangbuechle von vil schoenen Psalmen und geistlichen Hedem, durch ertliche diener der kirchen zu Costentz und anderstwo mercklichen gemeert, gebessert und in gschickte Ordnung zesamen gstellt, zu uebung unnd bruch jrer ouch anderer Christlichen kirchen, Zürich 1540; Jenny, Geschichte (s. Anm. 2), 77-139; Blume, Geschichte (s. Anm. 2), 83, 345f. Bernd Moeller, Johannes Zwick und die Reformation in Konstanz (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 28), Gütersloh 1961, 206-210. Markus Jenny, Ambrosius Blarer als Dichter und Hymnologe, in: Der Konstanzer Reformator Ambrosius Blarer 1492-1564. Gedenkschrift zu seinem 400. Todestag, hg. v. Bernd Moeller, Konstanz/Stuttgart 1964, 87-113. Jean Hotz, Nachwort der Faksimileausgabe des Nüw gsangbuechle, Zürich 1946; Jenny, Geschichte (s. Anm. 2), 96. Hotz, Nachwort (s. Anm. 57); Walter Blankenburg, Die Kirchenmusik in den reformierten Gebieten des europäischen Kontinents, in: Blume, Geschichte (s. Anm. 2), 345: „Zwicks darin erhaltene ,Vorred zu beschirm und erhaltung des ordentlichen Kirchengesangs' stellt die wichtigste Apologie des gottesdienstlichen Singens im oberdeutschen Raum während des Reformationsjahrhunderts dar und kann mit Recht als ein Seitenstück zu Luthers Gesangbuchvorreden angesehen werden." Eine Zusammenfassung in: van 't Spijker, Kerklied (s. Anm. 1), 25-29. Jenny, Luther, Zwingli, Calvin (s. Anm. 1), 175.

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Zwinglis negatives Urteil wurde also in Konstanz nicht übernommen, obschon die Haltung der Zürcher Kirche als Vorbild in der Schweiz von großer Bedeutung war. Auch Bullinger trat nicht als Verteidiger des Kirchenliedes auf. Es gehörte für ihn zum Tempeldienst und damit zu den Zeremonien, die im Neuen Bund nicht mehr galten. Man könne in den Evangelien keine Hinweise darauf finden, daß Jesus je gesungen habe. Daraus Schloß Bullinger, daß eine Hymne nicht gesungen, sondern sine modulatìone vocis suppliciter rezitiert worden sei, nur mit einer distincta modulataque pronunciatici, wie er unter Berufung auf Erasmus schrieb. Damit war das Kirchenlied der Prophetie, das hieß: der Predigt, untergeordnet.60 Auch in anderen schweizerischen Städten blieb die Liturgie der Gemeinde ohne Kirchenlied. In Bern richtete man sich nach Zwingli und kam über einzelne Ansätze zur Änderung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht hinaus.61 Straßburg, Basel und Konstanz hingegen boten ein anderes Bild. Die Gemeinde nahm aktiv teil am Gottesdienst und übte auf diese Weise das Priesteramt der Gläubigen aus. Damit kam ein rein reformatorisches Prinzip zur Geltung, wie es auch bei Calvin in seiner ersten Straßburger Gemeinde sichtbar wurde.

Chanterien Die Gemeinde war für Bucer und Calvin Abendmahlsgemeinde, das heißt eine in gewisser Hinsicht geschlossene Gemeinde, die sich um Taufe und Bundestisch gruppierte. Damit bekam der von der Gemeinde verwendete Psalter einen innergemeindlichen Charakter. Am Anfang meines Beitrages habe ich den Umschlag in der Geschichte der Reformation in Frankreich und auch in den Niederlanden eine Politisierung des Psalters genannt. Das Phänomen, das wir mit dem Namen „Chanterie" bezeichnen, gehört hierher. In verschiedenen Städten in Frankreich wurde das Psalmsingen ein Signal dafür, daß die Evangelischen die Position einer Untergrundkirche verließen und in die Öffentlichkeit traten - wie bei den Ereignissen in der Rue Saint-Jacques in Paris vom 4. September 1557, wo die Gemeinde zusammenkam, um Abendmahl zu feiern und Psalmen zu singen. Die Tatsache, daß eine große Volksmenge daran teilnahm, führte zu harten Reaktionen seitens der Obrigkeit. Am 13. Mai 1558 begann eine Menge von drei- bis sechstausend Evangelischen in Pré-aux-Clercs abends von acht bis zehn Uhr Psalmen zu singen: die Psalmen von de Bèze und Marot.62 Die Begeisterung war so groß, daß man am 19. Mai aufs neue eine De-

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Stephanus Tôkés, Commentarium in Confessionem Helveticam posteriorem. Interpretatio petita ex operibus Heinrichi Bullingeri, Cluj 1968, 155-158. Kurt Guggisberg, Bernische Kirchengeschichte, Bern 1958, 163. S. o., Anm. 17; Nancy Lyman Roelker, One King, One Faith. The Parlement of Paris and the Religious Reformations of the Sixteenth Century, Berkeley u. a. 1996, 232-234; Wil-

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monstration gab. Einer von Calvins Bekannten schrieb diesem aus Paris: „Wie könnten wir den Mund geschlossen halten mit ihnen, die das Lob des Herrn singen, wobei eine große Zahl derer, die von allen Seiten herzukommen, niemals unsere Gottesdienste besucht haben?"63 Jedoch war Calvin unsicher und warnte vor drohenden Kämpfen. Er hoffte, daß ein blutiger Streit ausbleiben würde, und mahnte in seinen Briefen zur Vorsicht. Offensichtlich wollte er sein Ideal nicht auf den Straßen und Wegen, sondern in den Kirchen verwirklichen. Calvin, immer Franzose geblieben, verdoppelte in diesen Tagen seine Aktivitäten, die deutschen Fürsten zugunsten der französische Kirche in einem Bund zusammenzubringen. Er sandte Farei und de Bèze nach Worms und zeigte sich bereit, in der Abendmahlsfrage mit den Lutheranern zur Verständigung zu kommen, damit eine deutsche politische Allianz den König in Paris zum Nachgeben zwinge. Die Chanterien waren also nicht nur ein Zeichen von Frömmigkeit und Glaubenskraft, sie zeigten, daß der französische Protestantismus ein Arsenal von geistlichen Waffen zur Verfügung hatte. Aber die Chanterien riefen oppositionelle Kräfte auf den Plan, die die Reformation im Kern bedrohten. Zwei Jahre später kam es auch in den südlichen Niederlanden zu Chanterien. Ende September 1561 fanden sowohl in Valenciennes als auch in Tournay Demonstrationen statt, bei denen nicht weniger als drei- bis sechshundert Menschen um acht Uhr abends auf die Straßen gingen, „mit hoher Stimme die Psalmen Davids singend, übersetzt im französischen Rhythmus, welche Sänger gefolgt wurden von einer großen Masse, sowohl Männer als Weiber und Kinder, die Stadt durchziehend".64 Die Instanzen der Obrigkeit griffen ein, und die Gemeinden in diesen Städten wurden zerschlagen. Dies alles geschah nicht auf Initiative von Guido de Brès, sondern wurde von einem Robert du Four angeführt. Der niederländische Reformator bekundete, daß er die Bewegung mißbillige, und rügte: „Es war verkehrt, daß man gesungen hatte. Man hatte es nicht mit seinem Rat getan und es könnte etwas Schlimmes daraus entstehen."65 Indessen bleibt die Frage, warum gerade die calvinische französische Psalmenübersetzung, die aus Genf kam, diese Kräfte mobilisieren konnte. Warum sprachen die Psalmübersetzungen die Volksmengen so besonders an? Zweifelsohne hat es etwas damit zu tun, daß im Hintergrund ein Konflikt über die Vorgehensweise bestand, denn letztlich war die Haltung zum Problem des Widerstandsrechts strittig, insbesondere zwischen Lutheranern und Calvinisten in Antwerpen.66 Das kann zur Zeit von Guido de Brès eine Rolle gespielt haben. Aber damit ist nicht erklärt, wie in Paris, in Bordeaux und vielen anderen Städ-

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liam Monter, Judging the French Reformation. Heresy Trials by Sixteenth-Century Parliaments, Cambridge/Massachusetts/London 1999, 164-174. Emile Doumergue, Jean Calvin. Les hommes et les choses de son temps, Bd. VU : Le triomphe, Lausanne 1927, ND Genève 1969, 194, vgl. 206-212. Braekman, Guy de Brès (s. Anm. 17), 151. Ebd., 154. Willem van 't Spijker, Stromingen onder de reformatorisch gezinden te Emden, in: De synode van Emden, Oktober 1571. Een bundel opstellen ter gelegenheid van de vierhonderdjarige herdenking, hg. v. Doede Nauta u. a., Kampen 1971, 66-72.

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ten Frankreichs der Genfer Psalter ein solches Medium zur Äußerung von religiösen, politischen und beinahe militärischen Affekten wurde. Im kirchenhistorischen Kontext nimmt der Genfer Psalter einen eigenen und besonderen Platz ein. Das große Straßburger Gesangbuch und das Konstanzer Nüw gsangbuechle haben eine reiche Wirkungsgeschichte gehabt, aber sie haben nicht solche Macht wie der Genfer Psalter besessen. Diese Macht gründete, so ließe sich sagen, auf den alten Worten der davidischen Lieder mit der ihnen innewohnenden Energie, aber auch auf den neuen, inspirierenden Weisen, die den Volksmassen leicht ins Ohr gingen. Hinzu kommt die hohe dichterische Qualität der Texte von Marot und de Bèze. Erst alle drei Faktoren zusammen machen begreiflich, daß der Genfer Psalter einen so großen Einfluß ausüben konnte und noch bis heute ausüben kann.

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Die Theologie der Musik bei Johannes Calvin als Hintergrund des Genfer Psalters

Vor allem im 20. Jahrhundert haben verschiedene Forscher die theologische Musikanschauung des Reformationszeitalters untersucht. Im westeuropäischen Protestantismus waren es hauptsächlich die deutschen lutherischen Theologen und Hymnologen, die sich mit der kirchenhistorischen Einschätzung der Musik im allgemeinen und der Kirchenmusik im besonderen beschäftigten. Ansätze zu einer Theologie der Musik kamen von Edmund Schlink1 und René H. Wallau,2 von fundamentaler Bedeutung ist aber das Werk Oskar Söhngens. Im Jahre 1961 publizierte er in Leiturgia seinen Artikel „Theologische Grundlagen der Kirchenmusik",3 in dem er auch die Musikanschauung Calvins erörtert. Sechs Jahre später erschien eine gründlich umgearbeitete und erweiterte Version in seinem Buch Theologie der Musik,4 Die Überarbeitung betraf jedoch nicht die Stellen, die Calvins Auffassungen skizzierten. Bereits 1951 hatte Walter Blankenburg in Die Musik in Geschichte und Gegenwart einen Artikel über Calvin und die Musik publiziert.5 Söhngen und Blankenburg waren einer Meinung über Calvins Theologie der Musik. Ihre Publikationen haben das Bild von der Musikanschauung Calvins maßgeblich geprägt. Charakteristisch fur ihren Einfluß ist zum Beispiel, daß sich der römisch-katholische Theologe Winfried Kurzschenkel in seiner (ge)wichtigen Dissertation Die theologische Bestimmung der Musik im Hinblick auf Calvin völlig auf die Ergebnisse Blankenburgs und Söhngens stützt.6 In den Niederlanden hat Hendrik Hasper in seiner umfangreichen Studie Calvijns beginsel voor den zang in den eredienst je ein Kapitel über Calvin und

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Edmund Schlink, Zum theologischen Problem der Musik (Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte 188), Tübingen 1945. René H. Wallau, Die Musik in ihrer Gottesbeziehung. Zur theologischen Deutung der Musik, Gütersloh 1948. Oskar Söhngen, Theologische Grundlagen der Kirchenmusik, in: Leiturgia. Handbuch des evangelischen Gottesdienstes, hg. v. Karl F. Müller, Bd. 4: Die Musik des evangelischen Gottesdienstes, Kassel 1961, 1-268. Oskar Söhngen, Theologie der Musik, Kassel 1967. Walter Blankenburg, Art. Calvin, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart 2, Kassel/Basel 1952, 653-666. Winfried Kurzenschenkel, Die theologische Bestimmung der Musik. Neuere Beiträge zur Deutung und Wertung des Musizierens im christlichen Leben, Trier 1971, 185-192.

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die Kunst und Calvin und die Musik verfaßt.7 Seine Ergebnisse blieben in Holland nur auf einen kleinen Wirkungsbereich beschränkt; größere Wirkung hatten die Werke von Blankenburg und Söhngen. Der einflußreiche Kirchenmusiker, Pädagoge und Journalist Frits Mehrtens (1922-1975) 8 hat in den Niederlanden die Gedanken seiner deutschen Kollegen über Calvin verbreitet. Besonders seit den 1970er Jahren fand Calvins Haltung zur Musik auch Beachtung bei angelsächsischen Forschern. Zu nennen ist hier der Artikel, den Charles Garside im Jahre 1979 publizierte.9 Er bespricht ausfuhrlich die Entwicklungen in den musikalisch-theologischen Gedanken Calvins. Eine besonders gute Wiedergabe von Calvins Musikanschauung liefert Ross James Miller in seiner Dissertation aus dem Jahr 1971: John Calvin and the Reformation of Church Music in the Sixteenth Century,™ die bedauerlicherweise keine große Verbreitung gefunden hat. Es wäre möglich, mehr Literatur zu nennen, unbestreitbar ist aber, daß die Ansichten über die musikalisch-theologischen Auffassungen Calvins primär durch Blankenburg und Söhngen bestimmt worden sind. Sie haben viele Fakten, die vorher nahezu unbekannt waren, auf eine adäquate Weise beschrieben und weiten Kreisen zugänglich gemacht. Leider weisen ihre Arbeiten einige Mängel auf. Blankenburg und Söhngen isolieren die Musikanschauung Calvins zu sehr von seiner weiteren Theologie, obwohl es notwendig ist, Calvins Gedanken von seinen liturgischen Überlegungen her zu interpretieren. Die Frage nach Calvins „Theologie der Musik" ist immer auch eine nach Calvins „Theologie der Liturgie". Diesem Aspekt ist bis heute zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. Calvins Musikanschauung wird zu oft von Luthers Gedanken her beurteilt. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang folgendes: In seinem Artikel in Die Musik in Geschichte und Gegenwart zeigt Blankenburg auf, daß Calvin sich auf das Matthäus-Evangelium beruft, in dem beschrieben wird, wie Christus mit seinen Jüngern Psalmen gesungen hat. Christus sei daher als „unser Vorsänger" anzusehen. Blankenburg merkt an, daß eine Bezugnahme auf diese Bibelstelle nicht einmal bei Luther zu finden sei,11 und geht damit implizit von der Annahme aus, Luther habe alles erschöpfend behandelt. Zudem übersieht Blankenburg, daß Calvin nicht als erster auf diese Bibelstelle hingewiesen hat. Schon im Jahre 1524 hatte Martin Bucer in seinem Grund und Ursach geschrie-

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Hendrik Hasper, Calvijns beginsel voor den zang in den eredienst verklaard uit de Heilige Schrift en uit de geschiedenis der kerk. Een kerkhistorisch en hymnologisch onderzoek, 's-Gravenhage 1955, 368-411. Jan Smelik, ,1k ben een orenjongen', in: Eredienst. Informatieblad voor liturgie en kerkmuziek 27 (2000), 97-124. Charles Garside jr., The Origins of Calvin's Theology of Music: 1536-1543, in: Transactions of the American Philosophical Society held at Philadelphia for promoting useful knowledge 69 (1979), 1-35. Ross James Miller, John Calvin and the reformation of church music in the sixteenth century, o. O. 1971. Blankenburg, Calvin (s. Anm. 5), 660.

Die Theologie der Musik bei Johannes Calvin

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ben, daß die Gemeinde wie Christus in Mt 26 den Lobgesang Gottes singen müsse. 12 In vielen Publikationen wird betont, daß sich Calvin im Gegensatz zu Luther ständig über den Mißbrauch der Musik Sorgen gemacht habe. Eine sorglose Begeisterung, wie sie von Luther bekannt ist, vermisse man bei Calvin. Er soll ein ängstlicher Mensch gewesen sein, und das habe ein gutes Verständnis für Musik unmöglich gemacht. Ob diese Vorstellung stimmt, ist fraglich. Jedenfalls ist es nicht richtig, Calvins Haltung zur Musik von Luther her zu interpretieren und zu beurteilen. Calvins Äußerungen stellen ja keine direkte Reaktion auf Luther dar. Ein Diskussionspunkt ist auch, ob Blankenburg und Söhngen Calvins Theologie der Musik nicht m sehr vom musikkulturellen und theologischen Kontext des 16. Jahrhunderts isoliert haben. Calvin machte seine Äußerungen nicht in den leeren Raum hinein. Es ist eine interessante Frage, inwieweit Calvins Gedanken über Musik in seiner Zeit außergewöhnlich waren, schließlich wäre es ja auch möglich, daß der Genfer Reformator Auffassungen vertreten hat, die damals allgemein akzeptiert wurden. Calvin hat sich in seinen Publikationen an verschiedenen Stellen über Musik geäußert. Die weitaus wichtigste und ausführlichste Quelle ist die Vorrede zum Gebetbuch La Forme des prières von 1542. Diese Vorrede hat der Reformator ein Jahr später an der Stelle, an der er über die Musik schreibt, erheblich erweitert.13 Im folgenden werde ich mich vornehmlich mit dieser Vorrede beschäftigen, ohne zu behaupten, daß sie Calvins Auffassung von der Musik vollständig widerspiegelt. Für ein angemessenes Verständnis ist es erforderlich, auch andere Quellen heranzuziehen. 14 Selbstverständlich ist es unmöglich, dies Thema hier abschließend zu behandeln; es werden die Aspekte im Vordergrund stehen, die für die Fragestellung von grundlegender Bedeutung sind.

Gebet In der Vorrede zu La Forme des prières behauptet Calvin, daß Christus den Versammlungen der Gläubigen drei Dinge aufgetragen habe: die Predigt seines Wortes, die Verwaltung seiner Sakramente und die öffentlichen feierlichen Gebete. Für unser Thema ist nur bedeutend, was Calvin über die Gebete

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Martini Buceri Opera Omnia. Serie I: Deutsche Schriften, hg. v. Robert Stupperich, Bd. 1: Frühschriften 1520-1524, Gütersloh 1960, 276. La Forme des prières et chantz ecclésiastiques avec la manière d'administrer les sacrements, et consacrer le mariage: selon la coustume de l'église ancienne. Genève 1542, Faksimile: Montreux 1959. Siehe auch: Calvini Opera quae supersunt omnia, hg. v. Wilhelm Baum u. a., Braunschweig/Berlin 1863-1900, Bd. 6, 169f. Zu denken ist besonders an einige Stellen der Institutio. In der Ausgabe aus dem Jahre 1543 macht Calvin im dritten Buch wichtige Aussagen über den Kirchengesang. Hinweise zu Fragen der Musik sind auch in Calvins Predigten und Bibelkommentaren zu finden.

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schreibt: „Was nun die gemeinsamen Gebete angeht, so gibt es deren zweierlei: Die einen werden mit schlichten Worten vorgetragen, die anderen mit Gesang." 15 Schon in den Articles concernant l'organisation de l'église von 1537, für die Calvin mitverantwortlich war, wurde das Singen von Psalmen den öffentlichen Gebeten zugeordnet. Dort wird gesagt, daß es zur Auferbauung der Kirche eine überaus nützliche Sache sei, einige Psalmen als öffentliches Gebet zu singen und so Bitten an Gott zu richten oder ihn singend zu loben.16 Auch in der Institutio bespricht Calvin den Kirchengesang im Zusammenhang mit dem Gebet. 17 Daß er das Lied als ein „gesungenes Gebet" bezeichnet, zeigt, welche Bedeutung Calvin dem Kirchengesang beimißt; denn der Reformator war der Meinung, daß das Gebet das Zentrum des christlichen Lebens sei. In der Institutio nennt er das Beten „die vornehmste Übung des Glaubens". 18 Die Anrufung Gottes sieht er als das „Hauptstück des Dienstes an Gott". 19 Das Gebet ist also mehr als nur ,ein Liedchen bei der Predigt' - nachdrücklich stellt Calvin in seiner Vorrede von 1542/1543 heraus, daß ein gesprochenes und gesungenes Gebet „keine Erfindung aus allerjüngster Zeit ist",20 sondern bereits in der Alten Kirche Praxis war; auch Paulus spreche nicht nur vom Beten mit dem Mund, sondern auch vom Singen.21 Calvins Motive für den Einsatz von Musik waren primär theologischer, nicht psychologischer oder pädagogischer Natur. Musik im Gottesdienst war für ihn ein Gebot Gottes. (Daß er nicht alle Musik geeignet fand fur die Liturgie, soll noch erörtert werden.) Gesungene Gebete seien in der Alten Kirche gebraucht und von Paulus angeordnet worden, weil „das Singen große Kraft und Wirkung hat, die Herzen der Menschen zu bewegen und zu entflammen". 22 Calvin sagt, er wisse das auch aus eigener Erfahrung („nous 15

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„Quant aux prières publiques, il y en a deux espèces. Les unes se font par simple parole, les autres avec chant." Die hier zitierte deutsche Übersetzung des Vorworts Calvins von 1542/1543 stammt von Markus Jenny, Luther, Zwingli, Calvin in ihren Liedern, Zürich 1983, 271-281. Eine andere Übersetzung bei: Eberhard Busch (Hg.), CalvinStudienausgabe. Bd. 2: Gestalt und Ordnung der Kirche, Neukirchen 1997, 150-161. „Dauantage cest vne chose bien expediente a ledification de lesglise de chanter aulcungs pseaumes en forme doraysons publicqs par les quelz on face prieres an Dieu ou que on chante ses louanges affin que les cueurs de tous soyent esmeuz et jncites a former parolles orayons et rendre pareilles louanges et graces a Dieu dune mesme affection", CO 10, 6 (s. Anm. 13). C 0 2,658f.(s. Anm. 13). Ebd., 625: „De orationi, quae praecipuum est fidei exercitium, et qua Dei beneficia quotidie percipimus". CO 53, 464 (s. Anm. 13): „Et de fait, si les prières sont la principale partie du service de Dieu [...]". Über das Gebet bei Calvin siehe auch: Hans Scholl, Der Dienst des Gebetes nach Johannes Calvin, Stuttgart 1968. „Et ce n'est pas chose inventée depuis peu de temps", Epistre au Lecteur 1542/1543 (s. Anm. 13). „Car dès la première origine de l'Eglise cela a été, comme il appert par les histoires. Et même saint Paul ne parle pas seulement de prier de bouche, mais aussi de chanter", ebd. „Et à la vérité, nous connaissons par expérience que le chant a grande force et vigueur d'émouvoir et enflamber le cœur des hommes, pour invoquer et louer Dieu d'une zèle plus véhément et ardent", ebd.

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connaissons par expérience") - der Genfer Reformator hatte auch eine persönliche Affinität zur Musik. An einer anderen Stelle des Vorworts heißt es über die Macht der Musik: Es gibt ja in dieser Welt kaum etwas, das auf Sitten der Menschen so oder so einen größeren Einfluß hätte, wie Plato das mit Recht darlegt. Und in der Tat, wir erfahren es, daß die Musik eine verborgene und fast unglaubliche Kraft hat, die Herzen in der einen oder anderen Weise zu bewegen. 23

Nicht nur in dieser Vorrede erweist Calvin sich - in bezug auf seine Musikanschauung - als Humanist. Er beruft sich wiederholt auf die Denker der Antike, insbesondere auf Plato. In seinem Kommentar zu 1 Kor 14,7 verweist der Reformator auf die mythologische Erzählung, in der davon berichtet wird, daß der Posaunenschall nicht nur die Herzen der Menschen entflammen, sondern auch Pferde wachrufen könne.24

Macht der Musik Eine wichtige Stelle für die reformatorische Theologie der Musik ist 1 Sam 16. Dort wird erzählt, wie David durch sein Saitenspiel den bösen Geist des Königs Saul vertrieb. In seiner Predigt25 hierzu sagt Calvin, daß Musik die Macht habe, verletzte Gemüter zu heilen. Blankenburg und Söhngen werten diesen Kommentar als Beleg dafür, daß Calvin eigentlich keinen rechten Begriff von der Macht der Musik gehabt und der Musik nur eine sehr eingeschränkte Kraft zuerkannt habe. Dies werde deutlich, wenn man Calvins Aussage mit der Luthers vergleiche. Luther habe betont, daß Musik eine Waffe gegen die Sünde und das Böse sei. Söhngen schreibt über die Anmerkungen der beiden Reformatoren zu 1 Sam 16: Während Luther darin die höchste Bewährung der Macht der Musik erblickt, ist Calvin bemüht, dem biblischen Vorgang jede exemplarische Bedeutung zu bestreiten. [...] Es handelt sich nach Calvins Überzeugung hier nicht um eine Wirkung, die in der spezifischen Macht (vis) der Musik als solcher begründet liegt, sondern die auf einen speziellen Eingriff Gottes (speciali privilegio et favore Domini) zurückgeht, der, wie er alles Geschaffene zum Werkzeug seiner Absichten benutzen kann, sich in diesem besonderen Falle der Musik bedient hat. 26

Söhngens Aussage über Luther ist richtig. Anläßlich des Saitenspiels Davids behauptete Luther: „Wenn deine Seele betrübt wird, dann beginne ein liebliches

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„[...] car à grand' peine y a-t-il en ce monde chose qui puisse plus tourner ou fléchir çà et là les mœurs des hommes, comme Platon l'a prudemment considéré. Et de fait, nous expérimentons qu'elle a une vertu secrète et quasi incroyable à émouvoir les cœurs en une sorte ou en l'autre", ebd. CO 49, 520 (s. Anm. 13). CO 30, 171-184 (s. Anm. 13). Söhngen, Theologie der Musik (s. Anm. 4), 78.

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Lied oder Gedenken an deinen Gott, und sogleich wirst du Erleichterung verspüren."27 Wer die Bibelexegese Calvins liest, muß aber zugestehen, daß auch Calvin sich der Macht der Musik bewußt war. Er schreibt: Und gewiß ist es richtig und muß nicht zu einer allgemeinen Regel erhoben werden, daß durch den wohltönenden Zusammenklang, ob von der Stimme oder von einem Saiteninstrument, die Teufel vertrieben werden können und ihre Kraft und Wut verhindert werden. 28

Calvin widerspricht in seiner Predigt dem naturreligiösen Aberglauben, daß der Musik eine magische Kraft innewohne, die den Menschen zu heilen vermag. Musik ist - so meint Calvin - kein universales Zaubermittel, mit dem alle Krankheiten vertrieben werden können, wie man vielleicht aus der Geschichte von Saul und David schließen könnte. Nicht die Musik selbst habe Saul geheilt, sondern Gott, der sich der Musik bediene, um den Menschen zu heilen. Überdies sei es undenkbar, daß eine Schöpfungsgabe Gottes (d. h. die Musik) die Strafe Gottes (d. h. den bösen Geist) zunichte machen könne. Daß eine Tat Gottes vor der Macht der Musik weichen müsse, ist in Calvins Augen unsinnig. Man kann Calvin also nicht vorwerfen, daß er den Wert und die Wirkung von Musik leugne oder unterschätze. Er wendet sich lediglich gegen den Glauben, daß Musik immer und von allein Depressionen vertreiben könne.

Herkunft und Bestimmung In seiner Vorrede zu La Forme des prières spricht Calvin auch über Herkunft und Bestimmung der Musik. Über die Herkunft der Musik waren die Reformatoren sich nicht einig. Zwingli war der Meinung, daß Musik eine menschliche Erfindung sei. Luther dagegen vertrat die Ansicht, daß Musik ein „donum Dei", eine Gabe Gottes sei. Und wie dachte Calvin? Für den Genfer Reformator war Musik, wie alle Künste und Wissenschaften, keine Erfindung des Menschen, sondern ein Geschenk Gottes. Calvin behauptet dies an verschiedenen Stellen, zum Beispiel in seinem Kommentar zu Jes 28,29, wo der Reformator Gott den eigentlichen Schöpfer und einzigen Herrn aller Künste nennt.29 In seinem Kommentar zu Ex 31,2 betont Calvin, daß alle Künste aus Gott hervorgehen und deshalb als göttliche Erfindungen angesehen werden müssen.30 Und im Vorwort aus dem Jahre 1543 sagt Calvin insbesondere über die Musik:

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D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 5, Weimar 1892, 182. „Et sane re ipsa verum est, et non oportet haec in generalem regulam trahi, harmonico concentu vel vocis vel fidium posse diabolos depelli vimque ipsorum et furorem impediri", CO 30, 181 (s. Anm. 13). CO 36,483 (s. Anm. 13). „[...] artes omnes a Deo manare, et ideo debere censen divinas inventiones", CO 25, 58 (s. Anm. 13).

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Unter den anderen Dingen nun, die geeignet sind, den Menschen Erholung und Genuß zu verschaffen, ist die Musik das erste oder doch eines der wichtigsten, und wir haben es als eine für diesen Gebrauch bestimmte Gottesgabe einzuschätzen.31

Die Frage nach der Herkunft der Musik ist so wichtig, weil es zugleich eine Frage nach deren Bestimmung ist. Alles, was Gott geschaffen hat, besteht Calvins Meinung nach zur Verherrlichung Gottes und zum Nutzen der Menschen. Die Bestimmung der gesamten Schöpfung sei das Lob Gottes. Und wie die Schöpfung insgesamt ist auch der Mensch geschaffen für den Gottesdienst. Wer Gott nicht lobt, widerstrebt der Schöpfungsordnung. Er handelt widernatürlich, denn die ganze Schöpfung, so Calvin, erzählt von der Ehre Gottes. Der Reformator ist der Meinung, daß Künste und Wissenschaften gute Gaben des heiligen Geistes sind. Diese Gaben werden sogar Ungläubigen geschenkt, wie Calvin in seinem Kommentar zu Gen 4,20 schreibt. Zu den kulturellen Errungenschaften der Söhne Kains sagt Calvin, daß Künste und Wissenschaften uns von Gott auch mittels gottloser Menschen gegeben werden. Er schreibt: Nun hat sie [die Söhne Kains] ja Gott ohne Zweifel so freigebig mit hervorragenden Gnadengaben beschenkt, damit sie um so weniger Entschuldigung für ihre Unfrömmigkeit haben. Wir aber sollen bei aller Bewunderung dieser reichen Gaben das Gnadengeschenk der Wiedergeburt, durch welches Gott sich seine Auserwählten in besonderer Weise heiligt, noch viel höher einschätzen. 32

Nicht nur Musik, auch Malerei und Bildhauerei beurteilt Calvin als eine Gabe Gottes. Er fordert, daß man sie „sauber" und „gesetzlich" gebrauche.33 Zusammenfassend läßt sich feststellen daß Calvin die Künste und Wissenschaften, also auch die Musik, als Gaben Gottes ansieht, die zum Lob Gottes und zum Heil der Menschen dienen sollen.

Sündenfall und Mißbrauch Von grundlegender Bedeutung für Calvins Auffassung der Musik ist die Überzeugung, daß der rechte Gebrauch der Schöpfungsgaben nach dem Sündenfall nicht selbstverständlich ist. Auch nach dem Sündenfall lebt der Mensch, um

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„Or entre les autres choses, qui sont propres pour recréer l'homme et luy donner volupté, la Musicque est, ou la première ou l'une des principalles: et nous faut estimer que c'est un don de Dieu député à cest usaige", Epistre au Lecteur 1542/1543 (s. Anm. 13). „Nec dubium est quin illos tarn liberaliter ditaverit Dominus excellentibus gratiis, quo minus excusationis haberet eorum impietas. Nos autem sic miremur quas Deus in illos gratiae suae divitias effiidit, ut longe pluris sit nobis regenerationis gratia, qua suos electos sibi peculiariter sanctificat", CO 22, 100 (s. Anm. 13). Deutsche Übersetzung: Otto Weber (Hg.), Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift, Neue Reihe. Bd. 1: Genesis, übers, und bearb. von Wilhelm Goeters und Matthias Simon, Neukirchen 1952, 82. „[...] Sed quia sculptura et pictura Dei dona sunt, purum et legitimum utriusque usum require [...]", CO 2, 83 (s. Anm. 13).

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Gott zu loben und seinem Nächsten zu dienen. Der Begriff „Gottesdienst" meint bei Calvin nicht nur die kirchlichen Versammlungen am Sonntag und Mittwoch, sondern das ganze christliche Leben. „Gottesdienst" bedeutet, daß der Mensch sich völlig in den Dienst Gottes stellt. Er hat dazu zahlreiche Geschenke der Schöpfung zur Verfügung, die Sünde aber sorgt dafür, daß Menschen Musik und andere Gaben Gottes nicht immer ihrer ursprünglichen Bestimmung gemäß gebrauchen. Gott hat die Musik zu seiner Ehre und zum Nutzen der Menschen geschaffen. Der Mensch soll darauf achten, daß er die Musik in diesem Sinne gebraucht und nicht etwa, um Gott zu beleidigen oder seinem Nächsten zu schaden. Im Vorwort aus dem Jahre 1543 warnt Calvin davor, die Musik „zu besudeln und zu verseuchen, indem wir sie zu unserer Verdammnis verdrehen, wo sie von Gott zu unserem Nutzen und Heil bestimmt ist".34 Daß er so nachdrücklich auf die ursprüngliche Bestimmung der Musik hinweist, resultiert aus der Überzeugung, Musik werde häufig mißbraucht. Calvin hat oft darüber gesprochen, der Ansicht verschiedener Forscher nach sogar zu oft. Sie meinen, daß die Angst vor dem Mißbrauch Calvins Vorstellung von Musik dominiere. Walter Blankenburg behauptet zum Beispiel: Es ist für Calvin überaus charakteristisch, daß er angesichts dieser von ihm sehr grundsätzlich und sehr ernst genommenen Gefahr über eine ständige Sorge und Bedenklichkeit gegenüber dem Gebrauch der Musik nicht hinweg und nicht zu solcher unmittelbaren, reinen Freude an ihr kommt wie Luther.35

Auch andere Hymnologen haben betont, daß Calvin nicht die unbekümmerte Begeisterung an den Tag gelegt hat wie Luther. Das stimmt zwar, aber es wäre falsch zu behaupten, daß die Zurückhaltung Calvins die Folge eines übertriebenen Mißtrauens oder eines pessimistischen Menschenbildes sei. Ständige Warnungen vor dem Mißbrauch der Musik finden sich nicht allein bei Calvin, sondern sind für die gesamte christliche Kirche charakteristisch, die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder auf die in der Musik liegenden Gefahren verwiesen hat. Allgemein bekannt ist die Stelle im 33. Kapitel des X. Buches der Confessiones von Augustinus: Der Kirchenvater bekennt dort als seine Sünde, daß der Gesang ihn mehr bewegt habe als das gesungene Wort. Die generelle Vorsicht der Kirche bei der Musik wird auch anhand des Mißtrauens gegenüber den Musikinstrumenten deutlich. Festzuhalten ist also, daß Calvin mit seinen Warnungen in einer langen Tradition steht. Dazu gehört auch die Diskussion um den ethischen und pädagogischen Stellenwert der Musik. Schon Plato hat gesagt, daß man Knaben mit einfacher, tugendhafter Musik erziehen und sie von weibischer oder aufreizender Musik fernhalten solle. Und Pythagoras wußte, daß Musik auf eine gute und schlechte Art gebraucht werden kann. Er soll einmal einen Betrunkenen, der auf eine

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„[...] Parquoy d'autant plus devons-nous regarder de n'en point abuser, de peur de la souiller et contaminer, la convertissant en notre condamnation, où elle était dédiée à notre profit et salut", Epistre au Lecteur 1542/1543 (s. Anm. 13). Blankenburg, Calvin (s. Anm. 5), 658.

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phrygische Melodie aggressiv reagiert hatte, beruhigt haben, indem er eine Melodie in einem anderen Modus spielte. Auch im 16. Jahrhundert war man sich bewußt, daß die Musik positive wie negative Wirkungen auf den Menschen haben kann; dies gehörte damals zum allgemeinen musikkulturellen Gedankengut. Insbesondere Humanisten wie Erasmus haben immer wieder die ethische Bedeutung der Musik betont, wobei sie sich auf das klassische Altertum beriefen. Zusammenfassend läßt sich sagen: Es war nicht „überaus charakteristisch", daß Calvin Angst vor dem Mißbrauch der Musik hatte, wie Blankenburg behauptet hat. Es war vielmehr charakteristisch für Luther, daß er keine Angst gehabt hat.

Lieder Weiterhin ist darauf hinzuweisen, daß Calvin mit seinen Warnungen vor dem Mißbrauch der Musik hauptsächlich schlechte Liedtexte meint. Wenn der Reformator über den ungünstigen Einfluß der Musik spricht, hat er Lieder mit weltlichen und unmoralischen Texten im Sinn. Am Ende der Vorrede zu La Forme des prières heißt es, die Welt solle wissen, „daß sie anstelle der zum Teil eitlen und lästerlichen, zum Teil albernen und plumpen, zum Teil schmutzigen und häßlichen und damit schlechten und schädlichen Lieder, die man vordem gebraucht hat, sich von nun an daran gewöhnt, mit dem guten König David diese göttlichen und himmlischen Lieder zu singen".36 In der Vorrede zitiert Calvin Paulus. Der Apostel spricht davon, wie alle schlechte Rede die guten Sitten verderbe (1 Kor 15,33), aber - so ergänzt Calvin - „wenn die Melodie dabei ist, trifft dies das Herz viel stärker und dringt darin ein, wie wenn der Wein durch einen Trichter ins Faß gegossen wird, so wird das Gift und die Verderbnis durch die Melodie bis auf den Grund des Herzens gebracht".37 Dabei beruft sich Calvin wieder auf die Kirchenväter, die auch schon beklagt haben, „daß das Volk ihrer Zeit sich unanständigen und unkeuschen Liedern hingibt, die sie nicht ohne Grund als tödliches und satanisches Gift bezeichnen, das die Welt zugrunde richtet".38 36

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„[...] qu'au lieu de chansons en partie vaines et frivoles, en partie sottes et lourdes, en partie sales et vilaines, et par conséquent mauvaises et nuisibles, dont il a usé par ci-devant, il s'accoutume ci-après à chanter ces divins et célestes Cantiques avec le bon Roi David", Epistre au Lecteur 1542/1543 (s. Anm. 13). „[...] mais quant la mélodie est avec, cela transperce beaucoup plus fort le cœur, et entre au-dedans, de telle manière que comme par entonnoir le vin est jeté dedans le vaisseau; ainsi le venin et la corruption est distillée jusqu'au profond du cœur, par la mélodie", ebd. „[...] les docteurs anciens de l'Eglise se complaignent souvent de ce que le peuple de leur temps était adonné à chansons déshonnêtes et impudiques, lesquelles non sans cause ils estiment et appellent poison mortel et satanique, pour corrompre le monde", ebd.

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Es wurde im 16. Jahrhundert allgemein als richtig angesehen, daß ein Text durch eine Melodie viel stärker wirkt und der Text durch die Melodie viel Gutes oder Böses anrichten kann. In Martin Bucers Vorrede zum Straßburger Gesangbuch (1541) lesen wir, daß ein gesungener Text „desto gründtlicher zu hertzen gebracht und eingelassen werde". Auch Bucer warnt vor der Gefahr, daß ein teuflisches Lied „durchs gesang noch anmiitiger und tieffer in sinne und hertz gestecket würt". 39 In gleicher Weise ist von römisch-katholischer Seite auf die verderblichen Folgen hingewiesen worden, die entstehen, wenn böse Lieder sich durch die Melodie tiefer in den Menschen hineindrängen. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Het Prieel der Gheestelijcke melodie,4" einem Liederbuch der Jesuiten aus dem Jahre 1609, steht, daß alles, was man singt, „veel dieper int herte valt, en veel meer beclijñ, door de wel ghedichte rijmen, en soete melodye, dan oft de selue dinghen sonder ghedicht oft musijcke werden ghehoort oft ghelesen". Gerade weil schlechte Lieder soviel Schaden anrichten können, war es fur Calvin wichtig, Lieder zu haben, die nicht nur „anständig, sondern auch heilig sind, Lieder, die uns gleich Stacheln zum Bitten, zum Lob Gottes reizen, zum Nachdenken über seine Werke, damit wir ihn lieben, fürchten, ehren und preisen". 41 Wie allgemein bekannt ist, war Calvin der Meinung, man könne „keine besseren und dazu geeigneteren Lieder finden als die Psalmen Davids, die der heilige Geist ihm eingegeben und gemacht hat". 42 Und so sind wir, wenn wir sie singen, gewiß, daß Gott uns die Worte in den Mund legt, als ob er selbst in uns sänge, um seine Ehre zu erhöhen. Deshalb ermahnt Chrysostomus sowohl Männer wie Frauen und kleine Kinder, sich anzugewöhnen, sie zu singen, damit dies gleichsam eine Versenkung sei, um sich der Gesellschaft der Engel beizugesellen. 43

Calvin gab den Psalmen Davids den Vorzug, weil Gottes Heiliger Geist den Menschen diese Lieder geschenkt habe. Übrigens wird hier deutlich, daß Calvin das Lied auch als eine Art Verkündigung ansah. 44 Dieser Aspekt steht in seiner

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Martin Bucer, Deutsche Schriften (s. Anm. 12), Bd. 7: Schriften der Jahre 1538-1539, 578f. Vgl. Jan Smelik, Het Prieel der Gheestelijcke Melodie (Brugge 1609, Antwerpen 1614 & 1617). Een onderzoek naar functies, herkomst en verspreiding, Diplomarbeit Musikwissenschaft, Utrecht 1991. „[...] non seulement honnêtes, mais aussi saintes, lesquelles nous soient comme aiguillons pour nous inciter à prier et louer Dieu, à méditer ses œuvres, afin de l'aimer, craindre, honorer et glorifier", Epistre au Lecteur, 1542/1543 (s. Anm. 13). „[...] nous ne trouverons meilleures chansons ni plus propres pour ce faire que les Psaumes de David, lesquels le Saint-Esprit lui a dictés et faits", ebd. „Et c'est pourquoi, quand nous les chantons, nous sommes certains que Dieu nous met en la bouche les paroles, comme si lui même chantait en nous, pour exalter sa gloire. Pour cette raison Chrysostome exhorte tant hommes que femmes et petits enfants de s'accoutumer à les chanter, afin que cela soit comme une méditation pour s'associer à la compagnie des Anges", ebd. Mehr dazu bei Walter Blankenburg, Kann Singen Verkündigung sein?, in: Musik und Kirche 23 (1953), 1-16; Reprint in: ders., Kirche und Musik. Gesammelte Aufsätze zur

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Gedankenwelt aber nicht im Vordergrund. Ein zweiter Grund, warum Calvin Psalmen bevorzugte, war die Überzeugung, daß schon in der Alten Kirche Psalmen gesungen wurden. 45 Die Vorstellung, daß es keine besseren Lieder gebe als die Psalmen, war nicht neu. Der Reformator argumentierte hier exemplarisch für die Auffassung der gesamten christlichen Kirche.

Singen mit Verstand Zu Recht hat Söhngen Calvins Diktum hervorgehoben, daß der „Mensch nicht nur singen soll mit Herz und Mund, sondern auch mit Verstand".46 In der Vorrede zu La Forme des prières ist zu lesen: Im Übrigen haben wir uns zu erinnern an das, was der heilige Paulus sagt, nämlich daß die geistlichen Lieder richtig nur mit dem Herzen gesungen werden können (Eph 5,19, Kol 3,16). Das Herz aber beansprucht den Verstand. Und darin (sagt der heilige Augustinus) liegt der Unterschied zwischen dem Singen der Menschen und dem der Vögel. Denn ein Hänfling, eine Nachtigall, ein Papagei singen schön, aber ohne zu verstehen. Das besondere Geschenk an den Menschen ist jedoch, daß er singen kann im Wissen, was er sagt.47

Es ist erstaunlich, daß kein Forscher diese Passage über das Singen im Zusammenspiel mit dem Verstand theologisch gedeutet hat. Zum richtigen Verständnis dieser Aussage Calvins muß man Calvins Schöpfungstheologie heranziehen. In diesem Zusammenhang sei auf eine Predigt Calvins über Psalm 148 hingewiesen, die er im September 1554 in Genf gehalten hat.48 Die Predigt behandelt den Anfang des Psalms; der Psalmdichter fordert dort die Engel und die ganze Natur auf, Gott zu loben und zu preisen. Calvin sagt über diesen Psalm, daß die Natur ein Liederbuch ist, aus dem wir Gottes Lob mit Mund und Leben singen sollen. Er warnt vor den wüsten und verwerflichen Liedern, die Gottes Ehre verdunkeln:

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Geschichte der gottesdienstlichen Musik. Zu seinem 75. Geburtstag hg. v. Erich Hübner und Renate Steiger, Göttingen 1979, 298-313. Der Gedanke, daß die christliche Kirche schon im ersten Jahrhundert Psalmen, d. h. die Lieder aus dem gleichnamigen Buch des Alten Testamentes, während ihres Gottesdienstes gesungen hat, ist vor kurzem mit Recht zur Diskussion gestellt worden. Siehe ζ. B.: James McKinnon, On the Question of Psalmody in the Ancient Synagogue, in: Early Music History 6 (1986), 159-191. Reprint in: ders., The Temple, the Church Fathers and Early Western Chant, Ashgate 1998. Söhngen, Theologie der Musik (s. Anm. 4), 68. „Au reste, il nous faut souvenir de ce que dit saint Paul, que les chansons spirituelles ne se peuvent bien chanter que de coeur. Or le cœur requiert l'intelligence. Et en cela (dit saint Augustin) gît la différence entre le chant des hommes et celui des oiseaux. Car une linotte, un rossignol, un perroquet chanteront bien, mais ce sera sans entendre", Epistre au Lecteur 1542/1543 (s. Anm. 13). Erwin Mühlhaupt (Hg.), Der Psalter auf der Kanzel Calvins. Bisher unbekannte Psalmenpredigten, Neukirchen 1959, 109-121.

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Jan Smelik Wir müssen also lernen, warum Gott uns in diese Welt gesetzt hat. Die Schrift sagt ganz allgemein, daß die Welt erschaffen wurde, damit die Ehre Gottes überall leuchte. Da ist Sonne und Mond, Sterne, Regen, Wind, Stürme und Schnee und Hagel, auf der Erde sodann die Bäume, die ihre Früchte bringen, die wilden Tiere, die Vögel der Luft und die Fische des Meeres - all diese Dinge geschaffen und geordnet zu dem Zweck, daß der Name Gottes verherrlicht werde. Wenn die Ehre Gottes vergraben wird oder man von ihr schweigt, dann heißt das daher die Ordnung der Natur verkehren und alles durcheinanderbringen, es heißt so viel, als wollten wir das Licht der Sonne löschen.49

Calvin weist darauf hin, daß die Sonne keinen Verstand habe, ebensowenig die Geschöpfe, die er nennt. Mit Ausnahme der Menschen können Geschöpfe nicht einmal denken, daß es einen Schöpfer gibt, „denn sie haben alle nicht Gefühl noch Vernunft, noch etwas derartiges, es sind fühllose Geschöpfe, Gott hat sie uns zum Gebrauch verordnet". Nur die Menschen sind also „bestellt, Zeugen der Güte Gottes, seiner Gerechtigkeit, Kraft und unendlichen Weisheit zu sein, Gott hat uns Verstand gegeben, so daß wir die Dinge, die es ringsum in Höhen und Tiefen gibt, verstehen, er hat uns die Sprache gegeben, um davon zu predigen und Bekenntnis abzulegen vor den Menschen". 50 Anders als die Kreaturen, die, ohne eine Sprache zu besitzen, doch in ihrem Sein ein Lob zu Ehren Gottes darstellen (Calvin verweist auf den 19. Psalm), soll der Mensch seinen Herren mit Vernunft und Worten preisen. Aus diesem Blickwinkel wird verständlich, warum Calvin nur volkssprachliche Lieder wünscht. Wie kann man in einer fremden Sprache vor den Menschen predigen oder Bekenntnis ablegen? In diesem Zusammenhang hat der Reformator häufig 1 Kor 14 angeführt, wo Paulus fordert, daß man sich in der Versammlung der Gläubigen verständlich äußern solle.

Instrumentalmusik Daß Gott den Menschen geschaffen habe, damit dieser seinen Herren nicht nur mit dem Herzen, sondern auch mit dem Mund lobe, ist das wichtigste theologische Argument dafür, daß Calvin die vokale Musik höher achtete als die instrumentale Musik. Calvin vertrat hiermit durchaus einen humanistischen Standpunkt. Humanistische Musiktheoretiker wie Henricus Glareanus und Gioseffo Zarlino haben betont, daß die vokale Musik gegenüber der instrumentalen Vorrang genieße. Glareanus, ein Freund von Erasmus, schrieb in seinem Traktat Dodecachordon (1547), daß ein Komponist, der einstimmige Melodien schaffe (ein „phonascus"), mehr Wert habe als jemand, der mehrstimmige Werke komponiere. Und Zarlino macht in seinem Buch Le Istitutioni harmoniche (1558) einen Unterschied zwischen „Musica naturale" (d. h. vokaler Musik) und „Musica arteficiata" (d. h. instrumentaler Musik). Vokale Musik wird als

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Ebd., 112. Ebd.

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naturgemäß angesehen. Es war also nichts Besonderes, daß Calvin die Vokalmusik vorzog. Musikinstrumente galten ihm nur als „Hilfsmittel". In seinem Kommentar zu Gen 4,21 äußert er sich w i e folgt: Die Erfindung der Zither und aller Musikinstrumente dient mehr der Unterhaltung und dem Vergnügen als dem Notbedarf. Aber darum darf man sie nicht etwa für überflüssig ansehen. Und noch viel verkehrter wäre es, sie zu verurteilen. Ein solches Vergnügen wäre zu verurteilen, welches mit Gottesfurcht und mit dem allgemeinen Nutzen der menschlichen Gesellschaft unverträglich wäre. Aber die Musik kann Raum im Gottesdienst haben und den Menschen förderlich sein. Es gilt nur, den Mißbrauch und die eitle, zerstreuende Ergötzung fernzuhalten, welche die Menschen von rechtschaffenem, tüchtigem Handeln ablenkt.51 Calvin war nicht der Meinung daß man Musikinstrumente nur für geistliche Zwecke verwenden dürfe. Er warnte lediglich vor einer musikalischen Erheiterung, die sich nicht mit der Ehre Gottes und dem Heil der Menschen vereinbaren läßt. D e n Gebrauch von Musikinstrumenten in den Gottesdiensten hat Calvin abgelehnt. Aber auch hier vertrat er eine Position, die schon bei Plato und den Kirchenvätern begegnet. Plato hatte ja gesagt daß instrumentale Musik sich nicht vereinigen lasse mit der logikè latreia, der innerlichen Gottesverehrung. Und auch die Kirchenväter haben Musikinstrumente immer verboten. Das Verbot betraf oft nicht nur den Gebrauch im Gottesdienst, sondern auch zu Hause. „ W o Flötenbläser sind, da ist Christus nimmer", ruft Chrysostomus in einer Predigt aus. 52 Im Mittelalter haben Theologen wie Thomas von Aquin Instrumente in den religiösen Versammlungen abgelehnt. Im 16. Jahrhundert war es nicht allein die calvinistische Reformation, die Instrumente verurteilt hat, auch die Societas Jesu hat sich gegen deren liturgische Verwendung ausgesprochen. Den Hauptgrund, weshalb Calvin die Instrumente aus dem Gottesdienst verbannt sehen will, gibt er in seinem Kommentar zu Psalm 33 an: Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß das Schlagen auf die Zimbel, das Spielen auf der Zither und Harfe und andere Musik aller Art, wovon in den Psalmen oft die Rede ist, ein Teil des Unterrichtes unter dem Gesetz war; ich rede nur von dem feierlichen Gottesdienst im Tempel. Denn wenn auch heute Gläubige Gefallen finden an den Musikinstrumenten, dann erkenne ich, daß dies ihre Absicht sein soll, um ihre Fröhlichkeit zu vereinigen mit dem Lob Gottes; aber wenn sie ihre religiösen Versammlungen haben, dann sind meiner Meinung nach Musikinstrumente am allerwenigsten passend beim Singen des Lobs Gottes, ebenfalls nicht, wenn jemand Weihrauch oder Kerzen oder derartige Schatten des Gesetzes wieder einfuhren will. Darum haben die Papisten diese Narrheit und andere Sachen nur von

„Quamvis autem citharae et similium organorum musices inventio, deliciis magis et voluptati serviat quam necessitati, non tarnen prorsus supervacua censen debet: ac multo minus per se damnari meretur. Damnanda quidem est voluptas, nisi cum Dei timore, et communi humanae societatis utilitate sit coniuncta: sed musicae talis est ratio, ut pietatis officiis accommodari, et hominibus prodesse queat: absint modo vitiosae illecebrae: absit etiam inanis oblectatio, quae homines a meloiribus exercitiis abductos in vanitate occupet", CO 23, 100 (s. Anm. 13). Deutsche Übersetzung: Weber (Hg.), Auslegung (s. Anm. 32), 82. „Ubi sunt tibicines, nequaquam est Christus", Horn. XII, In Epist. ad Collos., Cap. IV. Patrologia Graeca, Bd. 62, Paris 1860, 389.

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Jan Smelik den Juden übernommen. Menschen, die viel halten von Zierlichkeiten, ergötzen sich auch sehr an dem Rasen, aber Gott hat mehr gefallen in jener Einfachheit, welche er uns durch den Apostel empfiehlt. Paulus nämlich untersagt in der öffentlichen Versammlung der Gläubigen anders zu danken als in einer bekannten Sprache (1 Kor 14,16).53

Erneut zitiert Calvin hier Paulus, den er bei Fragen der Musik immer wieder heranzieht. 54 Wie Paulus geht es dem Reformator darum, daß alle Gläubigen „wissen und verstehen, was im Gotteshaus gesagt und getan wird, um daraus Frucht und Erbauung zu gewinnen". 55 Paulus hatte angeordnet „daß alles, was in der Kirche geschieht, auf die gemeinsame Erbauung aller gerichtet sein soll". 56 Bewußtsein und Verstand sind auch elementare Ausgangspunkte für Calvin: „Die Zuneigung zu Gott ist keine tote oder stumpfe Sache, sondern eine lebendige Bewegung, ausgehend vom heiligen Geist, und dabei wird das Herz direkt berührt und der Verstand erleuchtet."57 Die Erbauung ist nur möglich, wenn in einer verständlichen Sprache geredet wird. Die heiligen Ordnungen des Herrn sollten in Ehren gehalten werden, und darum ist es wichtig, daß der Mensch weiß, „was sie enthalten, was sie bedeuten und welches ihre Absicht ist. Nur so ist ihre Verwendung nützlich und heilsam und somit auch richtig geregelt." 58 Dem muß hinzugefügt werden, daß Calvins Worte keine Kritik einer etwaigen instrumentalen Begleitung des Gemeindegesangs, die es ja gar nicht gab, darstellen. Schon der liturgische Gemeindegesang war damals ein Novum; eine instrumentale Unterlegung dieses Volksgesangs kam niemandem in den Sinn. Andreas Marti hat behauptet, daß wir nicht viel Gewicht „auf die Tatsache legen müssen, daß im Gottesdienst die Psalmen ausschließlich einstimmig und ohne Instrumentalmitwirkung gesungen wurden". Es gehe vielmehr „um die situations- und funktionsgerechte Ortszuweisung der Musik in ihren verschie-

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„[...] nec vero mihi dubium est quin cymbala pulsare, canere ad citharam et nablum, totumque illud musicae genus cuius mentio frequenter in Psalmis recurret, pars fuerit legalis paedagogiae: loquor de solenni templi cultu. Nam et hodie si musicis instrumentis se exhilarent fideles, fateor hoc illis debere esse propositum, ne a Dei laudibus suam laetitiam separent: sed dum sacros suos conventus peragunt, nihilo magis ad canendas Dei laudes congruere arbitrar musica instrumenta, quam si quis suffitus, lucernas, et similes legis umbras in usum revocet. Stulte itaque hoc, ut alia multa, a Iudaeis mutuati sunt papistae. Homines extemis pompis deditos oblectat ille strepitus: sed Deo magis placet quam nobis per apostolum suum commendat simplicitas. Nam Paulus, 1. Cor. 14, 16, Deum in publico fidelium coetu benedicere nonnisi lingua cognita permittit", CO 31, 324f. (s. Anm. 13). Zum Beispiel auch in Calvins Kommentar zu Psalm 71: „[...] quia etsi privatim non vetamur interponere instrumenta, a templis tarnen manifesto spiritus sancii edicto arcentur, dum Paulus 1. Cor. 14, 13 nonnisi cognita lingua benedicere vel orare permittit", ebd., 662. „[...] aussi est-il expédient et raisonnable que tous connaissent et entendent ce que se dit et fait aus temple, pour en recevoir fruit et édification", Epistre au Lecteur 1542/1543 (s. Anm. 13). „[...] que tout ce qui se fait en l'Eglise soit rapporté à l'édification commune de tous", ebd. „Ce n'est pas une chose morte ni brutale que bonne affection envers Dieu, mais c'est un mouvement vif, procédant du Saint-Esprit, quand le cœur est droitement touché et l'entendement illuminé", ebd. „[...] ce qu'elles veulent dire, et à quelle fin elles tendent, afin que l'usage en soit utile et salutaire, et par conséquent droitement réglé", ebd.

Die Theologie der Musik bei Johannes Calvin

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denen Formen".59 Hierin ist Marti völlig zuzustimmen. Im Gottesdienst geht es - so Calvins Ansicht - um Predigt, Sakramente und Gebet. Die Musik, die dabei verwendet wird, soll liturgisch funktionell sein und sich nach der Situation richten, in der sie gebraucht wird - zu beten und Gott in einer verständlichen Sprache zu loben und die Nächsten aufzufordern, Gott zu dienen. Alles, was dafür nicht nötig war, oder alles, was möglicherweise einem guten Gebet schaden könnte, hat Calvin abgelehnt. Dazu gehörten auch Instrumente und Mehrstimmigkeit.

Das Verhältnis von Wort und Ton Im Zusammenhang mit der „intelligence", der „Verständlichkeit", die Calvin in der Liturgie und im Kirchengesang fordert, muß man auch seine Aussage über das Verhältnis von Wort und Ton interpretieren. Über die Melodien schreibt Calvin, am besten sei es, „daß sie gemäßigt würden, so wie wir sie jetzt wiedergegeben haben, damit sie Gewicht und Würde bekommen, wie es dem Gegenstand angemessen ist, und auch, damit sie geeignet sind, in der Kirche gesungen zu werden, wie es dargelegt worden ist".60 An einer berühmten Stelle des Vorwortes fordert Calvin, man solle „stets darauf achten, daß das Singen nicht oberflächlich und flatterhaft sei, sondern Gewicht und Würde habe (wie der heilige Augustinus sagt), und daß man sorgfaltig unterscheide zwischen der Musik, die gemacht wird, um die Menschen bei Tisch und zu Hause zu erfreuen, und den Psalmen, die in der Kirche gesungen werden, in der Gegenwart Gottes und seiner Engel".61 Die Unterscheidung zwischen Kirchenmusik und Unterhaltungsmusik hat auch mit einer Opposition gegen die Verweltlichung der mittelalterlichen Kirchenmusik zu tun; eine Opposition, die nicht nur von Calvin vertreten wurde. Selbst das Konzil von Trient hat sich der Sakralisierung der Kirchenmusik gewidmet und versucht, weltliche Elemente aus der römisch-katholischen Kirchenmusik zu eliminieren. Das Konzil hat zudem den Primat des Wortes und des Textes bei den Kompositionen stark betont. Hier ist erneut auf Humanisten wie Erasmus hinzuweisen. Sie hatten vehement gegen den Einsatz weltlicher Liedmelodien in religiösen Kompositionen gekämpft. Die Musik im Gottes-

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Andreas Marti, Genfer Gottesdienstordnung (1542) mit ihren Nachbartexten, in: Busch (Hg.), Calvin-Studienausgabe 2 (s. Anm. 15), 139. „[...] il a semblé le meilleur qu'elle fut modérée en la sorte que nous l'avons mise, pour emporter poids et majesté convenable au sujet, et même pour être propre à chanter en l'Eglise, selon qu'il a été dit", Epistre au Lecteur 1542/1543 (s. Anm. 13). „[...] que le chant ne soit léger ni volage, mais qu'il y ait poids et majesté (comme dit saint Augustin) et ainsi, qu'il y ait grande différence entre la musique qu'on fait pour réjouir les hommes à table et en leur maison, et entre les Psaumes qui se chantent en l'Eglise, en la présence de Dieu et de ses anges", ebd.

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dienst durfte in ihren Augen nie die Verständlichkeit des Textes untergraben. Komplexe polyphone Werke hat man aus diesem Grund oft abgelehnt. In diesem Zusammenhang wurden die Aussagen von Augustinus über den Rhythmus herangezogen. Man suchte nach einem guten Verhältnis zwischen Wort und Ton. Erasmus hat zum Beispiel die Ansicht vertreten, daß die rhythmische Interpretation der ambrosianischen Hymnen auf der Prosodie des Textes gründen solle.62 Das Wort hat das vollständige Primat. Die Musik soll sich nach dem Text richten. Das ist nun genau, was auch Calvin anstrebte: „convenable au sujet" - d. h. dem Gegenstand angemessen. Dabei spielt „Verständlichkeit" natürlich auch eine Rolle. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Stellungnahmen Calvins hinsichtlich der Melodien in seiner Zeit nicht ungewöhnlich waren. Im Gegenteil: Sie gehörten damals zum allgemeinen kulturellen Gedankengut. Man sollte Calvins Äußerungen nicht aus dem Kontext seiner Zeit isolieren. Er bekämpfte eine Profanierung der Kirchenmusik und forderte eine Musik zum Nutzen der Gläubigen. Die Melodien sollten zum Singen in der Gegenwart Gottes geeignet sein und gleichzeitig der Erbauung der Gemeinde dienen. Manche Forscher haben viel Gewicht auf den Gedanken gelegt, daß Calvin eine wesentliche Voraussetzung schuf „für die Säkularisation der geistig heimatlos gewordenen Musik späterer Jh.", wie Blankenburg behauptet hat.63 Dies halte ich für fragwürdig. War es nicht die Säkularisation, die Aufklärung, durch die die Musik geistig heimatlos geworden ist?

Schluß Zu Beginn habe ich ausgeführt, daß man Calvin nicht von Luther her verstehen könne und dürfe. Die Unterschiede zwischen Luther und Calvin hinsichtlich ihrer Gedanken zur Musik basieren zum Teil auf der Tatsache, daß Luther nicht so stark den humanistischen Auffassungen verpflichtet war wie Calvin oder auch Zwingli. Calvin blieb immer der Analytiker, der in geschäftsmäßigem Ton über Musik redete. Dieser Befund stellt keine Wertung dar, und es soll auch nicht behauptet werden, daß Calvin Musik für unwichtig erachtet und er keine Affinität zu ihr besessen habe. Ansonsten müßte man auch den zeitgenössischen Musiktheoretikern wie Zarlino, Glareanus, Bermudo und Vicento die Affinität zur Musik absprechen. Abgesehen davon läßt sich feststellen, daß Luther und Calvin prinzipiell gleich dachten. Über die wichtigsten Aspekte einer Theologie der Musik - über die Herkunft und Bestimmung der Musik - waren die Reformatoren völlig einig. Auffallend ist, daß weder die Soteriologie noch die Christologie in Calvins

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Clement A. Miller, Erasmus on music, in: The Musical Quarterly 51 (1966), 332-349. Blankenburg, Calvin (s. Anm. 5), 665.

Die Theologie der Musik bei Johannes

Calvin

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musiktheologischen Äußerungen eine Rolle spielen. Der Reformator dachte Musik nur in Verbindung mit Gott dem Schöpfer. Calvins Aussagen zur Musik müssen im Zusammenhang seiner Zeit verstanden werden. Wie bei Luther, Bucer und Zwingli ist Calvins Theologie der Musik durch einen intensiven Umgang mit der Bibel entstanden. Außerdem waren viele Aussagen Calvins in seiner Zeit nicht ungewöhnlich; manche Auffassungen wurden auch von anderen religiösen und ideologischen Gruppierungen vertreten. Meiner Meinung nach läßt sich Calvins Theologie der Musik am ehesten als biblisch-humanistisch charakterisieren.

Herman J. Selderhuis

Singende Asylanten: Calvins Theologie der Psalmen

Die Rezeption des Genfer Psalters ist ohne Kenntnis der Theologie von Calvins Psalmenkommentar nur schwer verständlich. Die Einführung des Psalters und die Liebe zu den Psalmen bei den niederländischen wie bei den französischen Glaubensflüchtlingen wurden von einem Flüchtling initiiert: von Johannes Calvin. Diese Verbindung zwischen Flüchtlingen und Psalmen ist nachvollziehbar, denn gerade in diesem Buch der Bibel geht es um Exil und Bedrängnis, um Not und Hoffnung, um die Gottesfrage und die Frage nach der Provenienz. David und Israel, Calvin und die Reformierten des 16. Jahrhunderts machten die gleichen Erfahrungen: Der Glaube an Gott führt zum Exil, das Exil vertieft den Glauben an Gott. Christ sein heißt Asylant sein. Der Erfolg des Psalters ist darauf zurückzuführen, daß sich die Reformierten in der beschriebenen Situation Davids und Israels wiedererkannten. Inneres Erleben und äußere Umstände des alttestamentlichen Bundesvolkes waren identisch mit denen der Gläubigen im 16. Jahrhundert. Und Calvin sorgte mit seinen Predigten und seinem Kommentar zu den Psalmen dafür, daß die reformierten Gläubigen sich dieser Analogie auch bewußt wurden.

1. Calvins Herz „In den Psalmen blicken wir den Gläubigen ins Herz", so wird gewöhnlich Martin Luthers Psalter-Auslegung zusammengefaßt.1 Bei dem Wittenberger Reformator ist keine Aussage zu finden wie: „In ihrem Psalmenkommentar blicken wir den Theologen ins Herz", aber die Intensität, mit der Calvin sich mit der Auslegung der Psalmen beschäftigt hat, rechtfertigt eine Untersuchung der Frage, ob eine solche Aussage über Calvin nicht zutreffend wäre. Die Frage ist: Sehen wir Calvin ins Herz, wenn wir seine Auslegung der Psalmen lesen? Eine Überlegung, die dabei notwendig vorangeht, ist, ob Calvin überhaupt ein Herz

„Zu dem thut der Psalter noch mehr, das er nicht schlechte gemeine rede der heiligen vns furbildet, sondern die aller besten, so sie mit grossem ernst ynn den aller trefflichsten sachen mit Gott selber gered haben, Damit er nicht allein yhr wort vber yhr werck, sondern auch yhr hertz vnd gründlichen schätz yhrer seelen vns furlegt, das wir ynn den grnnd vnd quelle yhrer wort vnd werck, das ist ynn ihr hertz, sehen können [...]." Martin Luther, Vorrede auf den Psalter, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abt. 3, Die Deutsche Bibel, Bd. 10/1, Weimar 1956, 98-105, hier 100.

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gehabt hat. Kein Reformator ist so oft als herzlos porträtiert worden w i e dieser Franzose. 2 Hart und herzlos, das ist das Bild, das schon zu seinen Lebzeiten mit Calvin, aber auch mit dem Calvinismus insgesamt verbunden wurde und immer noch wird. Eine solches Zerrbild resultierte sowohl aus der weit verbreiteten Unkenntnis des Werkes und der Person Calvins als auch aus einer merkwürdigen Einseitigkeit in der Calvinforschung. Was die Unkenntnis betrifft: Calvins herzloser Charakter wurde vor allem anhand seiner Rolle im Prozeß gegen Michel Servet diagnostiziert, einer Rolle, deren Entmythologisierung offenbar noch nicht weit genug in das Bewußtsein der Allgemeinheit vorgedrungen ist. 3 Was die Einseitigkeit in der Forschung betrifft: D i e Calvinforschung hat sich überwiegend auf ein Buch konzentriert, nämlich die Institutio, als ob darin der ganze Calvin und alles von Calvin hätte gefunden werden können, ein Ansatz, der vergleichbar ist mit der Beurteilung des touristischen Wertes einer Stadt aufgrund des Studiums des Stadtplans. Glücklicherweise hat sich die Forschung zu Calvins Theologie inzwischen immer mehr dessen Predigten, Briefen und Kommentaren zugewandt, 4 aber auffälligerweise hat der Psalmenkommentar noch keine große Aufmerksamkeit gewinnen können, 5 auch wenn er einer der meistübersetzten

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Vgl. zur Herkunft und Widerlegung dieses Calvinbildes: Richard Staufïer, L'humanité de Calvin, Neuchâtel 1964. Vgl. auch: Olivier Millet, L'humanité de Calvin, in: La Revue réformée 191 (1996/5), 9-24, und die dort angeführte Literatur. Zu einer ausgewogenen Darstellung der Rolle Calvins im Fall Servet vgl. Emst Pfisterer, Calvins Wirken in Genf, Neukirchen 1957. Einen Überblick über den Stand der Calvinforschung bietet: Richard C. Gamble, Current Trends in Calvin Research, 1982-1990, in: Wilhelm H. Neuser (Hg.), Calvinus Sacrae Scripturae Professor, Grand Rapids 1994,91-112. Die Monographie von John Walchenbach behandelt nicht den Psalmenkommentar, sondern den Einfluß Davids und der Psalmen auf Calvin: John R. Walchenbach, The Influence of David and the Psalms on the Life and Thought of John Calvin, Pittsburgh 1969 (ungedruckte Dissertation). Die übrige Literatur widmet sich in kleineren Studien fast ausschließlich Teilaspekten des Psalmenkommentars. In bezug auf das Verhältnis von Calvin zu David beschränkt sich die bisherige Forschung im wesentlichen auf die Praefatio des Psalmenkommentars. K. Bakker, Opmerkingen over Kalvijn's voorrede bij den commentaar op de psalmen, Amsterdam o. J.; Willem Balke, Calvijn over de geschapen werkelijkheid in zijn Psalmencommentaar, in: Wegen en gestalten in het gereformeerd protestantisme (Afscheidsbundel S. von der Linde), Amsterdam 1976, 89-104; E. Blaser, Vom Gesetz in Calvins Predigten über den 119. Psalm, in: Das Wort sie sollen lassen stahn, Festschrift fur A. Schädelin, Bem 1950; Edward A. Gosselin, The King's Progress to Jerusalem. Some Interpretations of David during the Reformation Period and their Patristic and Medieval Background, Malibu 1976; James A. de Jong, „An Anatomy of all Parts of the Soul". Insights into Calvin's Spirituality from his Psalms Commentary, in: Neuser (Hg.), Calvinus Professor (s. Anm. 4), 1-14; Hans Joachim Kraus, Vom Leben und Tod in den Psalmen. Eine Studie zu Calvins Psalmen-Kommentar, in: ders., Biblisch-theologische Aufsätze, Neukirchen 1972, 258-277; Robert Martin-Achard, Calvin et les Psaumes, in: Approche des Psaumes, Paris 1969, 9-17; James Luther Mays, Calvin as an Exegete of the Psalms, in: John H. Leith / W. S. Johnson (Hg.), Calvin Studies IV, Presented at the Colloquium on Calvin Studies at Davidson College and Davidson College Presyterian Church, Davidson (North Carolina), 1988, 95-104; Peter Opitz, „Asperges me Domine hyssopo, et mundabor." Beobachtungen zu Sadolets und Calvins Exegesen von Psalm 51 als Frage nach dem „proprium" reformierter Schriftauslegung, in: Heiko A. Oberman u. a. (Hg.), Das refor-

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und am weitesten verbreiteten Kommentare aus Calvins gesamtem Bibelwerk ist. Calvins Vorliebe fur dieses Buch der Bibel hat nach Erwin Mühlhaupt drei Gründe. Zunächst einmal sind die Psalmen für Calvin persönlich von großer Bedeutung gewesen. In David erkannte er viel von sich selbst wieder, und in schwierigen Zeiten fand er Trost und Kraft in den Psalmen. Zweitens sind die Psalmen das einzige alttestamentliche Buch der Bibel, aus dem Calvin sonntags predigte. Von seiner Regel, sonntags über das Neue Testament zu predigen und das Alte Testament für Werktage zu reservieren, bildet das Buch der Psalmen die einzige Ausnahme. Zum dritten führt Mühlhaupt an, daß es Calvin gewesen sei, der wie kein zweiter das Singen der Psalmen im Gottesdienst propagiert habe.6 Außerdem ist das Buch der Psalmen für Calvin in seiner theologischen Entwicklung immer wichtiger geworden. In der ersten Ausgabe der Institutio (1536) sind die Psalmen das am wenigsten zitierte, in der letzten Ausgabe das bis auf den Römerbrief am häufigsten zitierte biblische Buch.

2. Der Psalmenkommentar im historischen Kontext Calvins besondere Wertschätzung für die Psalmen geht schon aus der Vorrede für die französische Übersetzung des Psalters hervor, die Louis Budé 1551 herausgab.7 Nach Calvin kommt die Güte Gottes und der Ansporn, ihm dafür zu danken, nirgendwo besser zum Ausdruck als in diesem biblischen Buch: Mit David habe Gott uns einen Spiegel gegeben, in dem wir sehen könnten, was uns zu Gebet und zur Lobpreis Gottes anregen solle. In dieser Vorrede gebraucht Calvin eine Formulierung, die er in der Vorrede des Psalmenkommentars wiederholen wird, nämlich daß die Psalmen eigentlich „eine Anatomie aller Empfindungen der Seele" enthalten.8 All die Gefühle, die in einem Herzen sein können - Freude, Wut, Anfechtung und Kummer - , seien hier zu finden. Damit sagt Calvin genauso wie Luther, daß man in den Psalmen den Gläubigen ins Herz schaue. Dann beginnt Calvin mit einer langen Aufzählung dessen, was ein

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mierte Erbe (Festschrift fiir Gottfried W. Locher zu seinem 80. Geburtstag), Teil 2, Zürich 1993, 297-313; Barbara Pitkin, Imitation of David: David as Paradigm for Faith in Calvin's Exegesis of the Psalms, in: Sixteenth Century Journal 24 (1993), 843-863; S. H. Russell, Calvin and the Messianic Interpretation of the Psalms, in: Scottish Journal of Theology 21 (1968), Heribert Schützeichel, Ein Grundkurs des Glaubens: Calvins Auslegung des 51. Psalms, in: Catholica 44 (1990), 203-217; Herman J. Selderhuis, David, Calvijn en ik, Barneveld 1996. Johannes Calvin, Psalmpredigten, Passions-, Oster- und Pfingstpredigten, hg. von Erwin Mühlhaupt (Supplementa Calviniana 7), Neukirchen-Vluyn 1981, XXIV-XXVII. Der Text der Vorrede bei Rodolphe Peter, Calvin et la traduction des Pseaumes de Louis Budé, in: Revue d'histoire et de philosophie religieuses 42 (1962), 175-192. „[...] les Pseaumes contiennent comme une anatomie de toutes les affections de l'âme [...]", ebd., 186. In der Vorrede zum Psalmenkommentar schreibt Calvin: „Librum hune non abs re vocare soleo anatomen omnium animae partium [...]" (CO 31, 15).

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Mensch beim Lesen der Psalmen alles lernen könne: Die Psalmen enthüllten Sünden, die sonst verborgen blieben. Sie lehrten bei aller Feindschaft, die uns entgegengebracht werde, Gottes Hilfe anzurufen. Sie zeigten auch, daß Satan der größte Feind sei und wie berechtigt es sei, daß Gott die Sünden strafe. Das Lesen der Psalmen vermittle die Einsicht, nicht nur an die eigene Not zu denken, sondern für den Nächsten und das Ganze der Kirche zu beten. Durch die Psalmen lerne der Geist, inmitten aller Mühen auf Gottes Güte gerichtet zu bleiben. Calvin schließt: „Wer in Gottes Schule weiterkommen will, hat die Psalmen nötig."9 Der Kommentar zu den Psalmen erschien 1557,10 also in der letzten Phase von Calvins Leben. Er hat die Ernte seines theologischen Denkens in diese Publikation einbringen können. Der Kommentar ist aus dem Unterricht für Studenten hervorgegangen: 1552 begann Calvin, Vorlesungen über die Psalmen zu halten; ein Jahr später nahm er die Abfassung des Kommentars in Angriff. Seine intensive Beschäftigung mit den Psalmen datiert freilich schon einige Jahre früher, denn ab 1549 predigte er beinahe ununterbrochen jeden Sonntagmittag über die Psalmen, bis er 1554 auch den letzten Psalm ausgelegt hatte.11 Auch danach blieb er dabei, am Sonntagmittag oft über die Psalmen zu predigen. Außerdem behandelte Calvin in diesen Jahren die Psalmen in den Congrégations, den freitäglichen öffentlichen Bibelstudien mit Predigerkollegen.12 Es war eine Zeit großer Veränderungen für Genf: Um 1550 zählte die Stadt ungefähr 13.000 Einwohner. Als Folge der Immigration protestantischer Flüchtlinge - vor allem aus Frankreich und Italien - stieg die Einwohnerzahl bis 1560 auf mehr als 21.000 an.13 Die Gemeinde, für die Calvin predigte und die er seelsorgerisch begleitete, bestand also in zunehmendem Maße aus Flüchtlingen. Darüber hinaus hatte er in allen seinen Publikationen stets auch die verfolgten Gläubigen in seinem Vaterland Frankreich vor Augen. In politischer und kirchlicher Hinsicht vollzog sich in dem Zeitraum, als Calvin an seinem Psalmenkommentar arbeitete, der Übergang vom heftigen Streiten zum ruhigen Arbeiten an einem geordneten kirchlichen Leben. Nach den scharfen internen Konflikten der Jahre 1553 und 1554 beschloß der Rat auch zu Calvins Überraschung - im Januar 1555, daß die Kirchenordnung von 9

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„Teiles et si grandes utilités nous monstrent assez en quelle recommandation nous devons avoir le Psautier, si nous desirons de profiter en l'eschole de Dieu", Peter, Calvin et la traduction (s. Anm. 7), 188. Für bibliographische Angaben vgl. Rodolphe Peter / Jean-Francois Gilmont, Bibliotheca Calviniana. Les Œuvres de Jean Calvin publiées au XVP siècle, Genève 1994, Π, 627-632. Eine französische Übersetzung des Kommentars erscheint ein Jahr später, 1558 dann eine gekürzte Ausgabe: Le Psaultier declaré par annotations extraites des commentaires de M. Jean Calvin. Vgl. Peter/Gilmont, 682-683. Eine chronologische Übersicht zu Calvins Predigt bei: Thomas H. L. Parker, Calvin's Preaching, Edinburgh 1992, 150-152. Von 1555 bis August 1559 hat Calvin hier die Psalmen behandelt. Vgl. Thomas H. L. Parker, Calvin's Old Testament Commentaries, Edinburgh 1993, 15, 29-31. William G. Naphy, Calvin and the Consolidation of the Genevan Reformation, Manchester 1994, 140.

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1541 aufrechterhalten werden müsse. Zudem fielen die Wahlen, die im Februar desselben Jahres abgehalten wurden, sehr günstig für Calvin aus, ein Umstand, der bei der Beurteilung seiner Exegese miteinbezogen werden muß.

3. Biographische Aspekte Calvin hat seine Lebensdevise in einem persönlichen Emblem zum Ausdruck gebracht. Dieses Emblem zeigt eine ausgestreckte Hand mit einem großen Herzen darin, wobei deutlich wird, daß die Hand das Herz darbietet: Cor meum tibi offero, prompte et sincere. Eine Frage, mit der sich die Forschung schon lange beschäftigt, lautet: Was befindet sich nun in diesem Herzen Calvins? Was geht in diesem Menschen vor, der nicht gerne über sich selber spricht?14 Es ist die Frage nach Calvins Spiritualität. Viel ist über sein Leben und Arbeiten bekannt, aber der Mensch dahinter ist zu einem großen Teil verborgen geblieben. 15 Doch erzählt Calvin mehr über sich selbst, als es auf den ersten Blick scheint. Gerade sein Ausspruch, daß er nicht gern über sich selbst rede, weist der Forschung den Weg zu seiner spirituellen Biographie. Man schien manchmal davon auszugehen, daß der Reformator gar nichts über sich selbst gesagt habe, während er tatsächlich nur sagte, daß er nicht gern über sich spreche.16 Eine genaue Lektüre seiner Schriften ergibt, daß er zwischen den Zeilen viel von sich verrät. 17 Abgesehen von den sparsamen Anmerkungen in seinen Briefen oder den Informationen, die wir von Zeitgenossen erhalten, haben wir eine reiche Quelle in seinem Psalterkommentar: Aus der Darstellung Davids lassen sich Rückschlüsse auf Calvins Persönlichkeit ziehen. Im Vorwort dieses Kommentars spricht er

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„De me non libenter loquor", Calvin in seiner Antwort an Sadoleto, CO 5, 389. Eine ausführliche Studie zu diesem Thema: Fritz Büsser, Calvins Urteil über sich selbst, Zürich 1950. Die Bedeutung dieser Aussage wird von Oberman so formuliert: „[...] gerade das Nachdenken über diese fünf kurzen Wörter ,De me non libenter loquor' erweist sich als lohnend, denn von hier aus läßt sich eine Linie zu Calvins Persönlichkeit, seiner Berufung und vor allem zum lange gesuchten Zentrum seiner Theologie ziehen" („[...] juist het nadenken over deze vijf körte woordjes ,De me non libenter loquor' blijkt te Ionen, want van hieruit laat zieh een lijn trekken naar Calvijns personlijkheid, naar Calvijns beroep en bovenal naar het zo lang gezochte centrum van zijn theologie"), Heiko A. Oberman, De erfenis van Calvijn, Kampen 1988, 15-16. Vgl. dazu Bouwsma: „Nevertheless I think that Calvin reveals a great deal about himself to those who have learned his oblique modes of communication", William J. Bouwsma, John Calvin. A Sixteenth Century Portrait, New York / Oxford 1988. Oberman hat durch eine detaillierte Analyse einiger autobiographischer Bemerkungen Calvins die Bedeutung der ,.Bekehrung" Calvins und die Kontextualität von Calvins Theologie erhellt. Vgl. Heiko A. Oberman, „Subita conversio". The „conversion" of John Calvin, in: ders., (Hg.) Das reformierte Erbe (s. Anm. 5), 279-295, und ders., Initia Calvini. The Matrix of Calvin's Reformation, in: Neuser (Hg.), Calvinus Professor (s. Anm. 4), 113-154.

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darüber, daß die Psalmen uns alle Regungen des Herzens offenbaren.18 Diese kurze Passage verdeutlicht, daß Calvin zuallererst und am allermeisten über sich selbst spricht. Der hier eröffnete Einblick in Calvins Herz vermittelt ein anderes Bild des Reformators als das eines gefühllosen Dogmatikers. So heißt es im Vorwort: „Ich muß erkennen, daß ich von Natur nicht viel Mut habe, schüchtern, ängstlich und schwach bin."19 Angesichts dessen, was Calvin im Laufe seines Lebens durchgemacht hat, verwundert es nicht, daß die Psalmen ihn ansprachen. Das Kind, das Calvin und seine Frau Idelette van Buren miteinander bekommen, stirbt kurz nach der Geburt. Idelette selbst stirbt nach nur achtjähriger Ehe. Calvin leidet aufgrund einer außerordentlich schwachen Gesundheit andauernd unter allerlei Übeln, ständigen Schmerzen und Müdigkeit.20 Hinzu kommen die Anschläge auf sein Leben, der fortwährende Rufmord, das unaufhörlich harte Arbeiten, die politischen Verwicklungen und, nicht zu vergessen, das unausgesetzte Heimweh. 21 Seine Gefühlslage offenbart Calvin dadurch, daß er nur negative Emotionen aufzählt, als es darum geht, aufzuzeigen, daß die Psalmen alle menschlichen Gefühle widerspiegeln: „Schmerz, Niedergeschlagenheit, Furcht, Zweifel, Hoffnung, Sorgen, Ängste, Verwirrung, kurzum, all die Gefühle, durch die ein Mensch innerlich hin und her geschleudert wird."22 Diese Aussage ist bezeichnend, enthält der Psalter doch auch viele Empfindungen von Freude, Geborgenheit und Dankbarkeit. Der von vielen Reformierten als „Riese von Noyon" 23 Verehrte - um mit dem Titel eines Buches über Calvin zu sprechen ähnelt im Psalmenkommentar eher dem Däumling.

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Alexandre Ganoezy, Le jeune Calvin. Genèse et évolution de sa vocation réformatrice (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 40), Wiesbaden 1966, 295-304. Ganoezy unternimmt im Rahmen seiner Untersuchung zum jungen Calvin eine Analyse der Praefatio und kommt zu dem Schluß, daß es sich nicht um ein autobiographisches Dokument handelt. Nach Ganoezy will Calvin hier zum Beispiel nicht davon berichten, wie und wann er zur Bekehrung gekommen ist, sondern er will an seinem eigenen Beispiel demonstrieren, wieviel stärker als der menschliche Widerstand die Gnade Gottes ist. Millet schließt sich Ganoczys Interpretation an und versteht den Charakter des Vorworts nicht als biographisch, sondern als typologisch, wenn er auch anerkennt, daß der Text biographische Aspekte bietet: „A cette perspective, non pas biographique mais typologique [...]", Olivier Millet, Calvin et la dynamique de la parole (Étude de rhétorique réformée), Paris 1992, 522. Meiner Meinung nach schließt der typologische Charakter das Autobiographische eher mit ein als aus. Von der Typologie lassen deutliche Linien zu Calvins Person ziehen. Die biographische Färbung der Praefatio steht in einer langen Tradition von ähnlichen Selbstaussagen bei anderen Psalmenexegeten. Millet, Calvin et la dynamique de la parole (s. Anm. 18), 523, nennt als weitere Beispiele Athanasius, Cassiodorus, Luther und Bugenhagen. Zu Calvins (schwacher) Gesundheit: Thomas H. L. Parker, John Calvin. A biography, Philadelphia 1975, 150-155. Oberman, Initia Calvini (s. Anm. 17), 154, n. 152, verweist hierzu auch auf folgende Texte: „[...] et seimus hoc est durius, ubi quis longe abstrahitur a patria", Jer. 22, 28 (CO 38, 399); „Seimus enim durum est exilium", Klagelieder 1, 3 (CO 39, 511). Praefatio (CO 31, 15). Vgl. dazu: Büsser, Urteil (s. Anm. 15), 83-89. Piet Adriaan de Rover, Calvijn, de reus van Noyon, Den Haag 1962.

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Von Bedeutung für die Exegese ist die Entstehungszeit des Kommentars. In einem Brief an Bullinger vom 27. März 1557 merkt de Bèze an, daß Calvin viel Unrecht zu erdulden habe und Trost in der Arbeit am Kommentar zu den Psalmen suche.24 Calvin glaubte, in den Psalmen eigene Erfahrungen wiederzufinden. Weil er die Geschehnisse in seinem Leben dann von den Psalmen her betrachtete, erhielten diese Ereignisse eine Deutung, die nicht immer mit den historischen Fakten übereinstimmte.25 Das Bewußtsein von Identifikation wird dadurch verstärkt, daß Calvin die Welt, in der er lebt, als regelrechtes Chaos erfährt, als eine Welt, in der alles auf den Kopf gestellt wird und in der nichts sicher ist,26 eine Welt, in der eine große Verwirrung herrscht.27 Namentlich Christen trifft dieses Chaos, da sie als Schafe inmitten von Wölfen leben28 und eigentlich auf dieser Erde nur umherirren.29 Es vergehe kein Tag ohne Schmerz und Mühe, sagt Calvin.30 So kann es nicht verwundem, daß seine eigenen Erfahrungen die Auslegung mit geformt haben: Übrigens, wenn die Arbeit, die ich fur diesen Kommentar aufgewendet habe, den Lesern von Nutzen ist, müssen sie wohl erkennen, daß die Erfahrungen, die Gott mich, wenn es auch begrenzt war, im Kampf hat erleiden lassen, mir mehr als gewöhnlich geholfen haben, nicht nur alle Lehrstücke, die ich gefunden habe, für das Heute anwendbar zu machen, sondern auch besser die Absicht des Schreibers jedes Psalms zu begreifen.31

Die humanistische Auslegung von Texten setzt die innerliche Beteiligung des Auslegers voraus. Der Exeget ist mehr als nur jemand, der die Bedeutung eines Textes weitergibt. Er ist nicht der trait d'union zwischen dem Text und dem Leser der Auslegung, sondern er versucht, die Bedeutung so wirkungsvoll wie möglich weiterzugeben, indem er sich selbst in den Inhalt des Textes einbezieht.32 Es besteht folglich eine Art Kommunikation zwischen Ausleger und Text und zwischen Ausleger und Leser. Es ist vor allem Calvins eigenen Erfahrungen zu danken, wenn der Leser aus dessen Kommentaren einen Nutzen zieht. Weil er weiß, daß sein - zu einem bedeutenden Teil aus Flüchtlingen bestehendes - Publikum in Genf und die Leser in Frankreich dieselben Schwierigkeiten haben, spricht er stets von uns und wir, womit er gleichzeitig der rhetorischen Regel folgt, auf diese Weise eine Beziehung zu den Lesern herzustel-

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„Calvin que est très injustement accablé comme tu le sais, se console en écrivant des commentaires sur les Pseaumes" (Correspondance de Théodore de Bèze, Genève 1996, Π, 58). Für Vorbilder aus den Psalmen vgl. Naphy, Consolidation (s. Anm. 13), 84-120. „in rota volvatur mundus", Ps. 18, 8 (CO 31, 216); „hac caduca vita", Ps. 23, 6 (CO 31, 242). „confusa perturbatio", Ps. 25, 13 (CO 31, 238). „in medio luporum", Ps. 34, 8 (CO 31: 338). Calvin spricht von „vagari", Ps. 37, 9 (CO 31,371). „Conditio nostra, fateor, tot miseriis in hoc mundo implicita est, tantaque varietate agitatur, ut nullus fere dies sine molestia et dolore praetereat, deinde inter tot dubios eventus fieri non potest quin assidue anxii simus ac trepidi", Ps. 30, 6 (CO 31, 294-295). CO 31, 19. Millet, Calvin et la dynamique de la parole (s. Anm. 18), 523.

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len. 3 3 U n d da er v o n seinen e i g e n e n Erlebnissen ausgeht, geht es bei d e m uns und w/r 3 4 also zuallererst u m mich und ich, d. h. das ich des Satzes: „Ich spreche nicht gern über m i c h selbst." 35 Wer darum viele Stellen, w o wir steht, liest, als o b dort ich stehen würde, findet eine M e n g e über den M e n s c h e n Calvin heraus. 3 6 N a c h Calvin ist die Bibel eine Brille, die ein M e n s c h aufsetzen muß, u m Gottes Hand in der S c h ö p f u n g wahrnehmen z u können. 3 7 B e i der A u s l e g u n g der Psalmen trägt Calvin selbst auch eine Brille, eine dunkle Brille: die Brille seiner eigenen Lebenserfahrungen.

4. D a v i d u n d C a l v i n D i e Lektüre des Psalmenkommentars macht schnell deutlich, daß Calvin sich selbst in D a v i d wiedererkannt hat. 38 D i e s e s Wiedererkennen entstand durch die v o n Calvin betonte Parallele z w i s c h e n der Situation Israels und der Genfer Kirche, 3 9 aber mehr n o c h durch die Vergleichbarkeit v o n D a v i d s Situation mit seiner eigenen. W e n n Calvin die Psalmen liest, ist es, als o b er seine e i g e n e Lebensgeschichte lese: „als o b ich in einem Spiegel s o w o h l den B e g i n n meiner eigenen Berufung, als auch den weiteren Verlauf m e i n e s Werkes sehen könnte". 40 D i e Kirche von G e n f und Israel befinden sich in einer beinahe identischen Situation. D i e Klage über die Existenz v o n Heuchlern innerhalb und Feinden

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Zu Calvins Verwendung der Rhetorik: Serene Jones, Calvin and the Rhetoric of Piety, Louisville 1995. Zu Calvins Gebrauch des Pronomens „uns" auch: Millet, Calvin et la dynamique de la parole (s. Anm. 18), 532-537; Wilhelmus Th. H. Moehn, God roept ons tot Zijn dienst. Een homiletisch onderzoek naar de verhouding tussen God en hoorder in Calvijns preken over Handelingen 4:1-6:7, Kampen 1996. Dies versteht sich nicht als Korrektur, sondern als Ergänzung der Ausführungen von Büsser, der sich auf die „ich-Äußerungen" Calvins beschränkt hat. Btisser, Urteil (s. Anm. 15). Millet verweist auf Passagen aus anderen Werken Calvins, in denen er von „uns" spricht und vor allem „ich" meint. (Millet, Calvin et la dynamique de la parole [s. Anm. 18], 532— 537, hat seinen Abschnitt treffend überschrieben mit: „Du ,nous' au je'".) Calvin spricht von „uns", um sich nicht ausdrücklich zu nennen, aber mit einzuschließen. Nach Mülhaupt gilt dasselbe von den Psalmpredigten: „Wenn irgendwo in seiner Predigt die Herztöne seines Christentums vernehmbar sind, dann ist dies in seinen Psalmpredigten zu erwarten", vgl. Mühlhaupt, Psalmpredigten (s. Anm. 6), XXVIII. Inst. 1.6. 1. Dowey formuliert, daß David fur Calvin „his own nearest counterpart in the Bible" ist. Edward A. Dowey jr., The Knowledge of God in Calvin's Theology, Grand Rapids 31994, 194. Vgl. u. a. Calvins Einleitung zur Auslegung von Psalm 10: „descriptio vivam publici status corrupti et perversi imaginem quasi in speculo repraesentat", (CO 31, 108); ebenso: „si eadem sit sua conditio, quae olim fuit Davidis", Ps. 12, 1 (CO 31, 126); vgl. auch Ps. 118, 19 (CO 32, 207-208). Nach Gosselin, Progress (s. Anm. 5), 70, findet sich das Gefühl einer Analogie zu Davids Situation auch bei anderen Reformatoren wie Bucer und Melanchthon: „as they were caught up in what they believed were parallel crises, duties and feelings". Praefatio (CO 31, 21 ).

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außerhalb, über die Sünden des Götzendienstes und des unbiblischen Lebenswandels findet man sowohl in den Psalmen als auch in Calvins Briefen. Eine Analogie besteht auch im Verhältnis von Thron und Altar, von Rathaus und Tempel. Calvin wollte in Genf sein Ideal einer christlichen Gesellschaft nach dem Vorbild Israels verwirklichen.41 Calvin schreibt eine große Anzahl Psalmen David zu, wenn auch nicht alle diese Psalmen die Überschrift Von David tragen. Als Begründung für dieses Vorgehen führt er oftmals an, daß die in den Psalmen beschriebene Situation am besten zu David passe. Das kann auch für einen Psalm gelten, wo beispielsweise Asaf als Autor angegeben wird.42 Mit diesem Argument kann andererseits aber auch Davids Autorschaft für einen Psalm in Frage gestellt werden.43 Calvin bewundert die Konstanz von Davids Glauben,44 und Davids Vorbild an Mut, Treue und Entschlossenheit hat Calvin in schwierigen Jahren gestärkt und aufrecht erhalten.45 Auch Calvin sah sich von kriegslüsternen Philistern und einheimischen Verrätern bekämpft, wollte aber wie David diese Situation erfolgreich durchstehen. Vor allem die Angriffe auf seine Person haben ihn getroffen, die Verdächtigungen und Schmähungen, besonders aus dem Kreise derer, die sich zunächst als Freunde und Brüder ausgaben. Calvin beschreibt Davids bedrängte Lage so lebendig, als hätte er sie selbst durchlebt,46 und wenn er sagt, daß Schmähung und falsche Beschuldigungen mehr Schmerz bereiteten als ein hundertfaltiger Tod, wird er es zweifellos selbst so erfahren haben.47 Kurzum, dieselbe Art von Schwierigkeiten durch dieselbe Art von Menschen wie die, mit denen David kämpfte, begegnete auch Calvin in Genf:48 Wenn ich mich nicht irre, werden die Leser doch merken, daß ich, wo ich die intimsten Gefühle von David und anderen auslege, eigentlich über die Dinge spreche, die ich selbst persönlich erlebt habe.49

Calvin geht hier detaillierter als der Bibeltext auf die Schmähung ein, die David von denen über sich ergehen lassen muß, die seinen guten Namen beschmutzen wollen. David widersetzt sich diesen Menschen heftig, freilich nicht um seines Namens, sondern um des Wohls Israels willen.50 Der Leser des Kommentars

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Calvin bezeichnet das Verhältnis zwischen Königtum und Priestertum in Israel als „sacrum vinculum", Ps. 20, 3 (CO 31, 208). Ps. 73, 1 (CO 31, 673). Ps. 44, 1 (CO 31, 436). „pietatis constantiae", Ps. 116, 14 (CO 32, 199). Ps. 88, 1 (CO 31, 806). Selbst auf dem Sterbebett diente ihm Davids Vorbild noch als Stärkung, vgl. Beza, Vita Calvini (CO 21, 165). „ut petulantius vexarent miserum et profiigum hominem, quem videbant omni auxilio destituí", Ps. 64, 4 (CO 31, 600). Ps. 69, 5 (CO 31, 639). Vgl. u. a. Ps. 26, 1 (CO 31, 264); Ps. 31, 12 (CO 31,307). Praefatio (CO 31, 33). „Haec ratio est cur tarn sollicite et vehementer contendat David in asserenda causae suae iustitia", Ps. 18, 21 (CO 31, 181).

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soll zugleich begreifen und billigen, daß Calvin sich in Genf so verhält wie David einst in Israel. Es ist nach Calvins oben zitierter Bemerkung nicht verwunderlich, daß diese biographischen Informationen vor allen in der Auslegung der Psalmen Davids zu finden sind. Wenn es zum Beispiel in Psalm 2 um die Feindschaft geht, die David zu erdulden hat, spricht Calvin sehr ausführlich über Angst, Anfechtungen und menschliche Gefühle.51 Seine innere Beteiligung bei den davidischen Psalmen fallt um so mehr auf, als in der Auslegung der anderen Psalmen eine sichere Distanz zu bemerken ist. Calvins Wiedererkennen seiner selbst in David kommt fast einer Identifikation mit diesem Gesalbten des Herrn gleich, einer Identifikation, die sich vor allem dann zeigt, wenn Davids herausragende Position thematisiert wird. Calvin betont, daß David durch den Herrn berufen und damit rechtmäßig König sei und daß David aufgrund dieser besonderen Position das Recht habe, sich gegen Angriffe zu wehren und sich eine bestimmte Weise des Vorgehens zu erlauben.52 Calvin hat seine Situation ähnlich verstanden, um so mehr, da er sich wie David aus der Anonymität zu dem hohen Amt des Dieners Gottes berufen fühlte. Sowohl die analoge Laufbahn als auch das Bewußtsein, berufen zu sein, wogen für Calvin sehr schwer. Es klingt wie eine Apologie des eigenen Vorgehens, wenn er darauf hinweist, daß David nicht selbst den Weg zu seinem hohen Amt gesucht habe, weil dies ein Zeichen von „hochmütiger Unbesonnenheit" gewesen wäre.53 Das Berufensein ist für Calvin die Legitimation zur Verteidigung der Kirche und ihrer Lehre. Wenn Calvin im Anschluß an dieses Berufungsbewußtsein daraufhinweist, die vocatio Dei impliziere, daß, wer sich gegen David auflehne, sich gegen den Gesalbten des Herrn und also gegen den Herrn selbst auflehne,54 dann liegt darin eine Erklärung für Calvins Vorgehensweise in Genf. Was Calvin an David faszinierte, war, wie unerwartet sich die Erwählung Davids zum König vollzog.55 Wahrscheinlich ist in dieser Parallele die Erklärung für Calvins subita conversio zu suchen. Calvins Bekehrung erfolgte nicht plötzlich, wie die von Paulus, aber unerwartet.56 Calvin fühlte sich darin David verbunden. Die Verbundenheit zeigt sich in Calvins Bemerkung, daß David nach seiner Erwählung durch Gott mit besonderen Gaben ausgestattet worden sei, um seine Auf-

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„Nec verum dubium est quin anxie cum gravissimis tentationibus ei luctandum fuerit", Ps. 2, 1 (CO 31, 41f.). Vgl. vor allem die Auslegung von Psalm 2 (CO 31, 41-52); ebenso Ps. 18, 1 (CO 31, 169f.), Ps. 106, 16 (CO 32, 122f.), Ps. 106, 31 (CO 32, 128). Ps. 101, 1 (CO 31, 56). „Sed notanda est fiduciae ratio quod scilicet non temere vel privato motu se ingesserit ad regnandum, sed tantum Dei vocationem sequutus sit. Unde colligit in sua persona Deum impeti", Ps. 2, 1 (CO 31, 42); vgl. auch 4, 3; 60. Ps. 89, 20f. (CO 31, 818f.); vgl. Ps. 118, 22 (CO 32, 208f.). Dazu weiter: Oberman, „Subita Conversio" (s. Anm. 17), 279-295, der „subito" ebenfalls als „unerwartet" versteht.

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gäbe zu erfüllen, und daß Gott das auch bei den Aposteln getan habe und noch heute bei seinen Dienern tue. 57 Die Identifikation fuhrt auch zu einer Neuinterpretation der Situation Davids. Wenn in Psalm 2 über die Feindschaft gesprochen wird, die David erfuhr, behauptet Calvin, daß diese Feindschaft sich auch darin äußerte, daß Davids Widersacher mit Neuigkeiten („res novas") kamen, obwohl im Text davon nicht die Rede ist. Dasselbe gilt für die Bemerkung, daß David beschuldigt worden sei, seine Machtgier („regnandi cupiditas") sei die eigentliche Ursache des Konflikts mit Saul, ein Vorwurf, der ähnlich auch gegen Calvin erhoben wurde. 58 Und spricht Calvin nicht aus einer Selbsterkenntnis heraus und also über sich selbst, wenn er sagt, daß wir die Widersacher oft erst durch unseren Mangel an Selbstbeherrschung provozieren? 59 Allerdings führte die Identifizierung mit David nicht zu einer Idealisierung oder gar Ideologisierung Davids. Dies stünde nicht nur im Widerspruch zu Calvins Abscheu gegen den Götzendienst, es entspräche auch nicht seinem Menschenbild. Oft stellt er den Lesern David als Vorbild hin, und die Wortwahl belegt, daß David für ihn tatsächlich ein bewunderungswürdiges Vorbild ist, von dem alle Gläubigen viel lernen können. 60 Doch spart Calvin bisweilen auch nicht mit Kritik, wenn David in seinen Worten und Werken von dem abweicht, was Gott den Menschen gebietet. 61 Kritisch klingt auch Calvins Anmerkung zu Psalm 42, in dem David darüber klagt, daß er nicht mehr in den Tempel könne. Calvin merkt dazu an, daß Menschen, die von Kind an mit Problemen zu tun haben, gegenüber derartigen Situationen abgehärtet seien und nicht so schnell klagten. 62 Daß dies nicht für David gilt, ist eine Schlußfolgerung, die der Leser selbst ziehen kann. Die Weise, auf die Calvin Davids sündige Abweichungen beschreibt, gibt uns Informationen darüber, wie Calvin mit seinen eigenen Fehlern gerungen hat 63 und wie sehr auch hier die Identifikation Auswirkungen auf die Auslegung der Psalmen gehabt hat. Das zeigt sich etwa, wenn es bei der Auslegung von Psalm 18 heißt, daß Gott David zum Königsamt berufen habe, David selbst aber lieber bei den Schafen und in der sicheren Nähe seines Vaters geblieben wäre, 64 während der Text überhaupt nichts darüber sagt. Von Calvin ist allerdings bekannt, daß er lieber im ruhigen Schafstall des Studierzimmers geblieben wäre er projiziert seine eigenen Gefühle in die Psalmen hinein. Beim Psalm 101, 2 lehnt Calvin die von vielen Exegeten vertretene Auffassung ab, daß David hier einen Seufzer - „Wann kommst Du zu mir" - ausspreche. Es sei kein Seufzer, 57 58 59 60 61 62

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„Et eandem hodie spiritus gratiam in suis ministris exserit", Ps. 89, 20 (CO 31,818). Ps. 7, 4 (CO 31, 80). Ps. 7, 4 (CO 31, 81). Ps. 25, 17 (CO 31, 261); Ps. 26, 1 (CO 31, 264); Ps. 34, 7 (CO 31, 338). Ps. 30, 6 (CO 31, 295); Ps. 34, 1 (CO 31, 335); „vitioso excessu", Ps. 39, 5 (CO 31, 339). „Seimus, qui a prima pueritia malis sunt assueti, callum contrahere et ipsa malorum assiduitas generat in nobis quandam duritiem", Ps. 42, 5 (CO 31, 428). Ps. 7, 4 (CO 31, 80f.); Ps. 26, 1 (CO 31, 264); Ps. 39, 2 (CO 31, 397). Ps. 18, 19 (CO 31, 179).

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sondern eine Feststellung: „bis daß Du zu mir kommst". Calvin merkt freilich zugleich an, daß David durchaus Grund zu einem solchen Seufzer gehabt hätte, denn als er noch ein unbekannter Schafhirte war, ging es ihm besser als zu der Zeit, da er aus seinem Vaterland vertrieben wurde und unter Schmähung und Haß leben mußte.65 Was Calvin im Kommentar an die Leser weitergibt, ist so durch seine eigenen Erfahrungen geprägt, daß eine gewisse Einseitigkeit nicht zu übersehen ist. Calvin zählt vor allem negative Gefühle wie Schmerz, Zweifel und Einsamkeit auf. Das bedeutet, daß das, was an Auslegung über das Glaubensleben aus diesem Kommentar in die Tradition des Calvinismus eingegangen ist, an einigen Stellen mehr auf Calvins eigener Erfahrung als auf Gottes Offenbarung beruht.

5. Das Asyl-Motiv Es gibt vor allem eine Parallele zwischen David und Calvin, die das Verhältnis zwischen Calvins Biographie und seiner Theologie verständlicher macht und die besonders wichtig ist, um den Erfolg des Genfer Psalters zu erklären. Es geht um das, was man das Asyl-Motiv nennen könnte. Einige der Psalmen, die von Davids Hand stammen, entstanden, als er aus Jerusalem vertrieben worden war, zunächst wegen der Todesdrohung durch Saul, danach durch Absaloms Revolution. Laut Calvin ist das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren kann, in Verbannung zu leben.66 Vor allem bei diesem Thema fühlte Calvin sich - genau wie die Psalmen singenden reformierten Exulanten - persönlich angesprochen. Es sind gerade diese Worte, die seine „Regungen des Herzens" zum Ausdruck bringen. Die Übereinstimmung, die Calvin zwischen seinem und Davids Exil sah, bestimmt die Darstellung von Davids Schicksal: Dieser ist aus seinem Vaterland verbannt, seiner Frau beraubt, getrennt von seiner Familie und ohne finanzielle Mittel.67 Deutlich wird hier die Situation Davids aus der Perspektive Calvins dargestellt. Calvin hat sich in Genf immer als ein Fremdling gefühlt.68 Er mußte aus Frankreich fliehen und befand sich wider Willen in Genf. Auch von dort wurde er vertrieben, aber fühlte sich genötigt,69 doch wieder zurückzukehren, als sich die Möglichkeit ergab. In den drei Jahren zwischen seiner Abreise aus Genf und seiner Rückkehr fand er Asyl in Straßburg, wo er Prediger der französischsprachigen Gemeinde wurde. Es war eine Gemeinde von französischen Protestanten, die ihr Land um ihres Glaubens willen hatten verlassen müssen und Zuflucht in Straßburg gesucht hatten, dem damals größ-

«5 Ps. 101, 2 (CO 31, 57). 66 „Nam sicuti nihil tune miserias fuit quam in exsilio degere", Ps. 126, 2 (CO 32, 318). 67 „Quum patria extorris, uxore spoliatus, cognatis orbatus, cunctis denique opibus privatus foret", Ps. 27, 4 (CO 31, 273). 68 Büsser, Urteil (s. Anm. 15), 80f.. 69 „quanto tarnen cum moerore quantis lacrymis et quanta anxietate, Dominus mihi optimus testis est", CO 31,27.

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ten Zentrum von Asylanten in Europa. 70 So wurde Calvin - selbst ein Asylant ein Prediger der Asylanten. Dasselbe wurde er auch wieder in Genf, denn auch dort bestand seine Zuhörerschaft zu einem großen Teil aus geflüchteten französischen Gläubigen, die um ihrer reformatorischen Überzeugung willen beinahe alles verloren und nun, nach ihrer Flucht, Asyl in Genf gefunden hatten. Es sind diese biographischen Fakten, die Calvin mit David verbinden. Daher kann es nicht verwundern, daß der Begriff asylum im Psalmenkommentar oft Verwendung findet. In der Auslegung der Psalmen kommt dieser Begriff 24mal vor,71 während er zum Beispiel in der Vulgata an diesen Stellen nicht verwendet wird. Dort, wo in der Vulgata an zweien dieser 24 Stellen von refugium72 die Rede ist, spricht Calvin über asylum, ein juristischer Begriff, der Calvin nicht nur in der Bibel,73 sondern zweifellos auch in seinen Rechtsstudien begegnet sein wird. Sowohl im kanonischen Recht als auch in den Gesetzen der christlichen Kaiser war das Recht auf Asyl festgehalten. 74 Das kanonische Recht bestimmt, daß der Schutz, den das Asyl bietet, nur gilt, solange der Flüchtling am Asylort bleibt in den meisten Fällen die Kirche. Die Linie, die von dieser Bestimmung aus zum Asylsuchen bei Gott gezogen werden kann, ist evident. Calvin inkorporiert ein juristisches Prinzip in seine Theologie. Schutz vor Strafverfolgung und Strafe gebe es nur, solange jemand bei Gott Zuflucht suche.

6. Die Parallele: David - V o l k Gottes Es geht Calvin freilich nicht nur um die Schicksalsgemeinschaft zwischen David und ihm selbst, sondern auch um die zwischen David und all den anderen reformierten Flüchtlingen, die zu Unrecht vertrieben waren. Auch für sie ist David das Vorbild.75 Calvin fühlte sich ihnen verbunden und sprach deshalb von wir und uns. Er ist in seiner Verbannung eins mit seinen verbannten Brüdern und Schwestern, der Asylant auf der Kanzel und auf dem Katheder ist eins mit den Asylanten in der Kirche und auf den Bänken des Hörsaals. Deutlich zeigt sich dies bei Calvins Auslegung von Psalm 94, 21, in der er die Aussagen über Recht, das zu Unrecht wird, stark auf eine Obrigkeit bezieht, die die Gläubigen unterdrückt. Calvin wird hier speziell an die Obrigkeit in Frankreich gedacht haben, wenn er die These aufstellt, daß der Rechtsapparat zu einer verbrecherischen Verschwörung entartet ist, deren Ziel es ist, Unschuldige zu

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Vgl. u. a. Christian Wolff, „Strasbourg, cité du Refuge", in: Strasbourg au cœur religieux du XV F siècle (Hommage à Lucien Febrve), Strasbourg 1977, 321-330. Ps. 7,9; 10,6; 11, 4; 25, 11; 27, 5; 31, 5; 32, 1; 32, 6; 42, 7. Ps. 31, 5 (Vulgata 30,4) und 32,6 (Vulgata 31,7). U.a. Ex. 21, 13f.; Num. 35,9-34. Zu Inhalt und Geschichte des Asylrechts vgl. Hans Wissmann / Zeev W. Falk / Peter Landau, Art. Asylrecht, in: Theologische Realenzyklopädie 4, Berlin/New York 1979, 315-327. Ps. 39, 2 (CO 31, 397). In Ps. 34, 4-7 (CO 31, 337f.) wird David viermal als „exemplum" bezeichnet.

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verurteilen.76 Was sowohl David als auch Calvin und seine Gemeindeglieder traf, ist und bleibt das Los des Volkes Gottes, immer und überall.77 David ist das Muster („specimen"), an dem alle Gläubigen sehen können, wie Gottes Gunst sie leitet.78 Gerade anhand des Psalms, in dem David zu Gott ruft, daß ihm wegen Feinden und Mühen das Wasser bis zum Halse stehe, stellt Calvin die These auf, daß David als Vertreter der ganzen Kirche spreche und er hier das Los aller Gläubigen beschreibe.79 David gebrauche mit Absicht allgemeine Ausdrücke, um so den Gläubigen zu zeigen, daß Gott sie so behandle, wie er mit David umgehe.80 David sei der Mund Christi und aller, die zu Christus gehören.81 Calvin nennt ihn den Lehrmeister der ganzen Kirche.82 Diese Gleichsetzung von David und der Gesamtheit der Kirche dient als Trost und Ermutigung. Wenn selbst dieser Mann manchmal voller Ängste gewesen sei, so brauchten sich Gläubige auch jetzt nicht ihrer Ängste zu schämen.83 Wenn solch ein aufrichtiger Mann übler Nachrede ausgesetzt sei, brauche es nicht zu erstaunen, daß wir, die in der Heiligung hinter ihm zurückbleiben, das auch zu erdulden hätten.84 Davids Fehler dienen stets auch Calvin selbst zur Beruhigung, denn wenn sich aus Psalm 39, 2 ergibt, daß ein Mann wie David schon Mühe hatte, seine Zunge im Zaum zu halten, dann ist es nicht verwunderlich, daß auch wir oft Mühe haben, uns zu bezähmen.85 David sei das Vorbild für jeden, der richterliches Unrecht erleide und dies doch im Glauben zu tragen wisse.86 Der Verweis darauf, daß David eben nicht zu den Waffen griff, dient als Botschaft an bestimmte reformatorische Gruppen.87 Neben der Ermutigung schließt der Vergleich auch eine Ermahnung ein: Auch in der Verbannung müsse man sich an Gottes Gesetz halten, so wie David außerhalb seines Vaterlandes nicht aufhörte, Gottes Gesetz zu befolgen, und selbst in der Verbannung Freude an diesem Gesetz fand.88

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Ps. 94, 21 (CO 32, 28). Ps. 2, 2 (CO 31, 43—44); Einleitung zu Ps. 18 (CO 31, 169); „Porro sub hoc typo sciamus invictam regni Christi statum fuisse adumbratum", Ps. 18, 38 (CO 31, 188). 78 Ps. 116, 16 (CO 32, 200). 79 „in quo nobis proponitur communis piorum omnium conditio", Ps. 69, 1 (CO 31, 637). Vgl. Ps. 116, 11 (CO 32, 197). 80 „Ac generalem sententiam (ut dix) proferre maluit", Ps. 30, 6 (CO 31, 294). 81 „Iam quum loquutus fuerit David quasi ex ore Christi et ex ore piorum omnium, quatenus sunt Christi membra", Ps. 69,4 (CO 31,638). 82 „toti ecclesiae [...] magister et doctor", Ps. 37, 1 (CO 31, 386). Vgl. Ps. 42, 1 (CO 31, 425): „Communis erat totius ecclesiae doctor et insigne spiritus organon". w Ps. 25, 17 (CO 31, 261). 84 Ps. 64, 4 (CO 31, 600); vgl. Ps. 119, 22 (CO 32, 224). 85 Ps. 39,2 (CO 31, 397). 86 „discamus non solum iniustam violentiam aequo animo ferre, sed indignas etiam calumnias quibus praeter meritum gravamur", Ps. 94, 21 (CO 32, 28). 87 Vgl. Ps. 140, 5 (CO 32, 388): „Itaque eius exemplo, quties insolenter hostes nostri se efferent, discamus ad Deum confugere". 88 Ps. 119, 54 (CO 32, 238). 77

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Von noch größerer Bedeutung als diese biographischen und psychologischen Aspekte ist das theologische Element, das mit der historischen Situation verbunden ist.

7. Die theologischen Aspekte Wie bereits bemerkt wurde, steht die Ausarbeitung des Psalmenkommentars am Ende von Calvins Laufbahn. Alles, was Calvin auf dem Wege von Studium und Diskussion an theologischer Erkenntnis gewonnen hat, hat er in diesem Kommentar verarbeiten können. Weil in den Psalmen nicht alle theologischen loci gleich ausfuhrlich zur Sprache kommen, wird man in diesem Werk nicht genügend finden, um das Ganze, aber mehr als genug, um das Wesentliche von Calvins Theologie wiederzugeben. Immer wieder hat man sich in der Calvinforschung mit der Suche nach einem zentralen Thema in der Theologie dieses Reformators beschäftigt.89 Das Problem dieser Herangehensweise ist, daß ein solches Thema so strukturiert sein muß, daß andere Themen aus Calvins Theologie nicht vernachlässigt werden. Das Studium des Psalmenkommentars hat zum Ergebnis - wie bereits gesagt - , daß Calvins Theologie nichts anderes als Theologie sein will, in dem Sinne, daß es um eine Darlegung und zugleich Verteidigung des Gott-Seins Gottes geht. Die in der Vergangenheit aufgestellte These, daß das zentrale Thema zum Beispiel die Souveränität Gottes sei, greift meines Erachtens zu kurz, weil darin das grundsätzliche Anderssein Gottes nicht genügend zum Ausdruck kommt. Souveränität gibt wohl den graduellen, aber nicht den wesentlichen Unterschied zwischen Gott und Mensch wieder. Schon am Anfang der Institutio weist Calvin darauf hin, daß es in der Theologie um die Kenntnis Gottes und die Kenntnis unserer selbst geht. Es ist für Calvin unmöglich, den Menschen getrennt von seiner Beziehung zu Gott und Gott frei von seiner Verbundenheit mit dem Menschen zu beschreiben. Weil es in den Psalmen um nichts anderes geht als um die Beziehung zwischen Gott und Mensch, findet Calvin gerade in den Psalmen das zum Ausdruck gebracht, was Anliegen seiner Theologie ist. Seine Institutio beginnt mit dem Bekenntnis: All unsere Weisheit, sofern sie wirklich den Namen Weisheit verdient und wahr und zuverlässig ist, umfaßt im Grunde eigentlich zweierlei: Die Erkenntnis Gottes und unsere Selbsterkenntnis.90

Dieselbe Verbindung von Gotteskenntnis und Menschenkenntnis beschreibt der Psalmenkommentar. Insofern ist er die praktische Ausarbeitung der Institutio. Alles, was in der Institutio systematisch als biblische Lehre entfaltet ist, wird im 89

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Hermann Bauke, Die Probleme der Theologie Calvins, Leipzig 1922; Emst Saxer, Hauptprobleme der Calvinforschung - Forschungsbericht 1974^1982, in: Calvinus Ecclesiae Genevensis Custos, Frankfurt a. M. 1984, 93-111. Inst. I. 1. 1 (Übersetzung Otto Weber).

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Kommentar noch einmal anhand der Psalmen konkretisiert. Die Aufmerksamkeit Calvins gilt der Frage, was das Gott-Sein Gottes konkret für den Menschen bedeutet. Einerseits gehe es um die Erhaltung des Menschen. Gott sei kraft seines Wesens imstande und bereit, auf dem Wege der Gerechtigkeit Gnade zu bewirken,91 die Geschichte nach seinem Plan und zu seinem Ziel zu lenken92 und inmitten des Chaos dieser Welt seine Kirche sicher und garantiert zu beschützen. Immer wieder weist Calvin darauf hin, daß Gott nicht untätig sei.93 Andererseits ist das Gott-Sein Gottes auch die Ursache von Glaubenskämpfen. Dieses Ringen könne durch eigene Sünden, die Gottes Zorn erregen,94 entstehen oder durch Anfechtungen des Wegs, den der unergründliche Gott mit Menschen gehe,95 aus Mühsal als Folge des gerechten Strafens Gottes.96 Das Beruhigende des Gott-Seins Gottes überwiege jedoch. Die Güte fehle hingegen in dem Bild von Gott, das die römische Kirche den Menschen vermittle. Laut Calvin mache Rom dem Menschen Angst vor Gott, indem es das Heil zum Teil von der Anstrengung des Menschen abhängig mache, mit der Folge, daß große Zweifel darüber aufkommen, ob man als Mensch genügend getan habe. Gott werde hauptsächlich als strenger Richter dargestellt. In den Psalmen freilich werde uns der wahre Gott gezeigt, ein Gott nämlich, der durch seine Größe imstande ist, „umsonst Vergebung der Sünde"97 zu gewähren. So stellt Calvin die These auf, „daß uns in diesem Buch das Wichtigste angeboten wird, was ein Mensch sich nur wünschen kann, nämlich nicht nur, daß wir ganz vertraulich mit Gott umgehen können, sondern auch, daß wir ihm die Schwächen, die wir aus Scham vor den Menschen verborgen halten, offen und bloß erzählen dürfen".98 Das Anderssein Gottes kommt nicht nur in seiner überirdischen Heiligkeit zum Vorschein, sondern auch in seiner Güte und Barmherzigkeit. Calvins Sicht auf das Gott-Sein Gottes fuhrt ihn, genauso wie seinen Lehrmeister und Kollegen Luther, dazu, eine ganz eigene Theologie des Kreuzes zu entwickeln.99 Gott sei in seinem Vorgehen oft unerklärlich, und seine Art zu handeln mute uns oft unverständlich und widersprüchlich an. So glaubten wir, daß Gott täglich Ordnung in das Chaos bringe, während davon scheinbar kaum etwas zu sehen sei.100 Praktisch bedeutet die Calvinsche theologia crucis, das Leben des Gläubigen als ein Leben im Zeichen des Kreuzes zu sehen.101 Die so

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Ps. 32, 1 (CO 31,314-315). Ps. 37, 34 (CO 31, 384). U. a.Ps. 9, 9 (CO 31, 100); Ps. 10, 12 (CO 31, 115). Ps. 6,6 (CO 31, 76). Ps. 11, 6 (CO 31,125); Ps. 37,19 (CO 31, 375). Ps. 6, 6 (CO 31, 76). Ps. 32,1 (CO 31,316). Praefatio (CO 31, 19). Walter von Loewenich, Luthers Theologia crucis [1929], Bielefeld 61982. Zu Luthers theologia crucis auch: Bernhard Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 49-52. Ps. 7, 12 (CO 31, 85). Ps. 30, 6 (CO 31,294).

Singende Asylanten: Calvins Theologie der Psalmen

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betonte Gemeinschaft mit Christus102 impliziert auch die Gemeinschaft mit dem gekreuzigten Christus. Das Kreuz spielt nicht allein in der Rechtfertigung eine Rolle, sondern gerade auch in der Heiligung. Das Leben eines Christen sei ein Leben des Absterbens und ein Leben, in dem Gott uns manchmal ein Kreuz auflege, um uns im Glauben und in Geduld zu üben,103 in dem Gott uns in Dunkelheit führe, um uns zum Licht zu bringen,104 in dem Gottes Hand uns niederschlage, um uns zu zeigen, daß uns allein seine Hand wieder aufrichten kann.105 Calvin spricht in diesem Zusammenhang viel über die Verborgenheit Gottes,106 wenn auch nicht immer mit einheitlicher Bedeutung. Manchmal meint Gottes Verborgenheit, daß Gott sich vor uns verborgen hält, manchmal, daß Gott uns verborgen scheint. So vergleicht Calvin Gott mit einem Wurm, der unterirdisch und also unsichtbar arbeitet,107 gelegentlich heißt es aber auch, daß Gott seine Macht manchmal vor uns verberge.108 Hier begegnet uns wieder Calvins theologia crucis, wenn er sagt, daß Gott sich bisweilen in Dunkelheit hüllt, damit unsere Augen erhellt werden.109 Auch die dauernde Betonung von Gottes Vorsehung ist nicht getrennt von der historischen Situation zu sehen. In einer Zeit von Chaos, Unrecht und Leiden finde ein Mensch nur Sicherheit und Ruhe in dem Bewußtsein, daß Gott regiert. So müßten alle Geschehnisse stets auf Gott bezogen werden, denn das bewahre im Glück vor Hochmut und im Unglück vor Verzweiflung.110 Calvin betont nicht so sehr den Abstand als vielmehr den Unterschied zwischen Gott und Mensch. Es ist natürlich ein Abstand vorhanden, aber der werde durch Gott überbrückt, indem Gott sich in seinem Sprechen und Handeln den Menschen anpasse. All dies sind Vorstellungen, die charakteristisch geworden sind für die Spiritualität der Reformierten, eine Spiritualität die jahrhundertelang und weltweit im Genfer Psalter ihren ureigensten Ausdruck fand.

102 Vgl. hierzu: Willem van 't Spijker, „Extra nos" en „In nobis" bij Calvijn in pneumatologisch licht, in: Cornells Augustijn / Wilhelm H. Neuser / Herman J. Selderhuis (Hg.), Geest, Woord en Kerk, Kampen 1991, 114-132. 103 104 105 106

107 108 109 110

„nos Deus cruce exercit", Ps. 23, 4 (CO 31, 240); Ps. 9, 9 (CO 31, 100). Ps. 30, 8 (CO 31,297). Ps. 44, 10 (CO 31,441). Dieses Thema verdient weitere Untersuchung. Vgl. die Aussage von Gerrish: „Surprisingly, however, there is no such body of literature on what Calvin thought about God's hiddenness", Brian A. Gerrish, „To the unknown God", Luther and Calvin on the Hiddenness of God, in: The Old Protestantism and the New (Essays on the Reformation Heritage), Edinburgh 1982, 141. Ps. 39, 11 (CO 31,403). Ps. 18,47 (CO 31, 192). Ps. 30, 8 (CO 31,297). Ps. 9 , 4 (CO 31, 97-98).

Dieter Gutknecht

Die Melodik des Genfer Psalters Genese und Form

Es scheint so, als wären durch die grundlegenden Forschungen Pierre Pidoux' die Fragen nach Entstehung und Entwicklung des Hugenottenpsalters im 16. Jahrhundert weitgehend geklärt.' In der Literatur, die anschließend auf der Grundlage dieser Quellenstudien erschien, konnten dem Pidouxschen Werk keine grundsätzlich neuen Ansätze und Erkenntnisse hinzugefugt werden. Einige Arbeiten bemühten sich, der Frage der rhythmischen Gestaltung der Verszeilen innerhalb der Gesamtmelodie eines Psalms nachzugehen und vor allem die Frage der Pausen zu diskutieren, die in unterschiedlicher Form die einzelnen Verszeilen trennen.2 Um 1980 wendete sich Pidoux den Genfer Psalmweisen nochmals in einem populärer gehaltenen Aufsatz zu, in dem er nicht so sehr das geschichtliche Werden in den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellte, sondern sich mit vielen Detailfragen beschäftigte: mit Strophenformen, Melodiegestaltung, Melodieerfindung, Übernahmen aus dem gregorianischen Choral, Zuordnungen der Melodien zu Komponisten und der Frage der Übernahme einiger Melodien oder deren Teile aus dem weltlichen Liedrepertoire, eine Frage, die seit der grundlegenden Veröffentlichung von Orentin Douen (1878/79) immer wieder diskutiert wird.3 Die substanzreiche Arbeit Pidoux' enthält eine Fülle von Anregungen zu weiterführenden Studien. Es seien hier nur angeführt: das sogenannte Synkopierungsproblem, der Stellenwert der Melodien als „echte" Kompositionen im Kontext des zeitgenössischen Musizierens, die Rolle der Musik - ist sie lediglich „Dienerin", wie in der späteren Monodie bei Caccini, oder wird der Textinhalt in der Musik dargestellt? - , ferner die Zuordnung der charakteristischen Merkmale zu den eindeutig auszumachenden Komponisten Guillaume Franc, Loys Bourgeois4 und dem

1

2

3

4

Pierre Pidoux, Le Psautier Huguenot du XVF siècle. Mélodies et documents, Bd. I: Les mélodies, Bd. D: Documents et bibliographie, Kassel/Basel 1962. Neuerdings wieder: Gerhard Aeschbacher, Über den Zusammenhang von Versstruktur, Strophenform und rhythmischer Gestalt der Genfer Psalmlieder, in: Jahrbuch fur Liturgik und Hymnologie 31 (1987/88), 52-71; dort auch die Literatur zu dieser Problematik. Pierre Pidoux, Vom Ursprung der Genfer Psalmweisen, in: Musik und Gottesdienst 38 (1984), 45-63; dieser Aufsatz stellt, wie Pidoux in der ersten Fußnote erläutert, eine erweiterte Fassung eines bereits 1979 erschienenen Aufsatzes dar. Der Korrektheit halber sei darauf verwiesen, daß der „Gregorianische Choral" keinen Klerikergesang darstellt (S.46, linke Spalte) und eine Antiphon keine „lateinische Polyphonie" ist (ebd.). Pierre Pidoux, Loys Bourgeois' Anteil am Hugenottenpsalter, in: Jahrbuch fur Liturgik und Hymnologie 15 (1970), 123-132.

98

Dieter Gutknecht

„M e Pierre" 5 (den Pidoux aufgrund neuer Dokumente endgültig als Pierre Davantès festlegt). Es müßte auch nochmals der Frage nachgegangen werden, wie die deutsche Ausgabe Ambrosius Lobwassers im Gesamtkontext zu deuten ist, 1565 im fernen Königsberg seinem preußischen „Fürsten und Herrn" dediziert und bekanntlich 1573 in Leipzig erstmals erschienen. 6 Den aktuellen Forschungsstand vermitteln Jean-Daniel Candaux 7 und Andreas Marti / Jan R. Luth mit ihrem umfangreichen Artikel „Calvinistische Musik" in der neuen MGG. 8 Aber beide Veröffentlichungen können sich natürlich nicht so den Detailfragen widmen wie eine Spezialuntersuchung. Außerdem beschränken sie sich auch nicht ausschließlich auf das 16. Jahrhundert, sondern verfolgen die gesamte Entwicklung. Den neuesten Artikel über „Calvinistic Music" verfaßte Albert Dunning in der jüngsten Ausgabe des Grove-Lexikons. 9 Leider ist hier die geschichtliche Entwicklung, wenn nicht fehlerhaft, so doch äußerst lückenhaft dargestellt. Das Erscheinungsjahr der Psaumes ociante trois de David, mis en rime Françoise 1551 - wird nicht angeführt. Um die qualitative Einschätzung der BourgeoisMelodien als „far superior to the other both in this edition" abgesichert vertreten zu können, liegen bislang zu wenig Forschungen vor. Der Straßburger Fundus wird nicht erwähnt - lediglich Matthias Greiter wird als Komponist einiger Melodien genannt. Das Literaturverzeichnis ist äußerst lückenhaft und fuhrt zahlreiche wichtige Aufsätze nicht auf, z. B. Pidoux' Aufsatz über „Loys Bourgeois' Anteil am Hugenottenpsalter" von 1970 sowie zahlreiche der wichtigen Arbeiten, die Candaux in seinem Vortrag anfuhrt. Nach Pidoux' Auskunft lassen sich ganz sicher drei Komponisten ausmachen, die die Psalmmelodien geschaffen haben. 10 Ich gehe hier nicht auf die Straßburger Melodien ein, da die Psalmen dieser Frühzeit zumeist auf bekannte Melodien der Kantoren Wolfgang Dachstein und Matthias Greiter gesungen wurden. 11 Also ergibt sich - von Pidoux herausgearbeitet und kurz dargestellt folgendes Bild: „Wenn man absieht von den vorher genannten Melodien straßburgischer Herkunft, darf man wohl die Melodien zu den Texten Marots von 1543 Guillaume Franc, dem ersten Kantor Genfs von 1541 bis 1545 [...] zuschreiben. Die 1551 neu erscheinenden 45 Melodien stammen aus der Feder 5

6

7

8

9

10 11

Franc Bourgeois Davantès. Leur contribution a la Création des Mélodies du Psautier de Genève. Matériaux rassemblés, classés et analysés par Pierre Pidoux, Genève 1993, 226. Es sei Herrn Gert J. Buiting, Brasschaat, herzlichst für die Überlassung einer Kopie gedankt. Pidoux' Untersuchung liegt lediglich in Maschinenschrift vor. Dieter Gutknecht, Vergleichende Betrachtung des Goudimel-Psalters mit dem LobwasserPsalter, in: Jahrbuch fur Liturgik und Hymnologie 15 (1970), 132-145. Jean-Daniel Candaux, Der Psalter der reformierten Kirche. Problemlage und Forschungsstand, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 43 (1992/93), 87-94. Jan R. Luth / Andreas Marti, Art. Calvinistische Musik, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., Sachteil, Bd. 2, Kassel/Stuttgart 1995, 333-344. Albert Dunning, Art. Calvin, Calvinistic Music, in: Grove-Dictionary of Music and Musicians, 2nd ed., Bd. 4, London 2001, 844-847. Pidoux, Vom Ursprung (s. Anm. 3), 49. Ebd., 47.

99

Die Melodik des Genfer Psalters

seines Nachfolgers Loys Bourgeois, Kantor in Genf von 1545 bis 1553. Was den Schöpfer der neuen Melodien aus der Ausgabe von 1562 angeht, muß die (problematische) Entdeckung genauerer Dokumente abgewartet werden, bis es möglich ist, mit einiger Sicherheit jenem ,Maître Pierre', der eine ansehnliche Summe erhielt ,pour avoir mis les psalmes en musique', einen Familiennamen geben zu können."12 Ich möchte nun nicht in die Diskussion einsteigen, ob es sich beim „Me Pierre" um Pierre Dubuisson, Davantès oder Dagues handeln mag, sondern nur das Korpus der neuhinzugekommenen Melodien betrachten, um aufzuzeigen, welche Charakteristika vorliegen und wie sich diese Melodien von den vorhergehenden unterscheiden. Betrachten wir zunächst den Psalm 46, der für die Straßburger Fassung Aulcuns pseaulmes et cantiques mys en chant aus dem Jahre 1539 von Calvin in Reimverse gesetzt wurde und zunächst auf die Melodie O Herr wer wyrd seyn wonunge han von Wolfgang Dachstein, die dieser für den Psalm 15 geschaffen hatte, gesungen wurde.13 In La Forme des prières von 1542 (Ge 42) wurde die Straßburger Melodie gegen eine von Guillaume Franc selbst verfaßte ausgetauscht. Somit liegt zwar eine Situation vor, die für Vergleiche brauchbar ist, jedoch mit der Einschränkung, daß die Straßburger Melodie keine originäre Textvertonung darstellt, sondern ursprünglich dem 15. Psalm zugehörte. Man kann jedoch davon ausgehen, daß Calvin seine Psalmdichtung den musikalischen Gegebenheiten der Melodie anpaßte. S T 39, 42, [45?,3 48, 53. ST 48, 53 Nostre Dieu nous Auquel a u r o n s

est ferme appuy î. V e r - t u fortrejse et en nostre ennuy 4. Present r e f u g e et

S $e«r c o m f o r t 5. Dont certaine asseurancc aurons 6. Mesmes quand la t e r r e v e r r o n s t r e s bon p o r t

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Notenbeispiel 1

Die Melodie setzt mit markanter Eröffnung ein: Nach der Tonrepetition gibt es zunächst einen Quintfall, dem ein großer Sextsprung (hierzu weiter unten) nach oben folgt, an den sich eine Quarte nach unten mit darauffolgender Ligatur anschließt. Diese Zeile kann für eine Kirchenliedmelodie durchaus als ungewöhnlich bezeichnet werden. (Dabei scheint nach dieser Schreibart die Melodie im Vergleich zu der ursprünglichen bereits „gestaucht", da dort anstelle des

12

13

Pidoux, Vom Ursprung (s. Anm. 3), 49; dieses Zitat Pidoux' wird durch die eigenen Forschungen in der oben genannten Veröffentlichung bereits korrigiert. Pidoux, Le Psautier (s. Anm. 1), 55.

100

Dieter Gutknecht

Sextsprungs eine Oktave auftritt.)14 Die Wiederholung der dritten Melodiezeile in diesem Psalm kennt die Straßburger Melodie nicht. Nun scheint es jedoch so zu sein, daß der Anfang der Melodie in der Wiedergabe bei Pidoux auf keinen Fall stimmen kann, vielleicht sogar in der Straßburger Ausgabe fehlerhaft gedruckt erscheint.15 Pidoux fuhrt die Straßburger Ausgaben von 1548 und 1553 an, in denen der Beginn - die ersten vier Noten - korrigiert sind. Die Melodie, die in d-dorisch steht, kann unmöglich auf einem c " beginnen; es handelt sich hier offensichtlich um einen Druckfehler. Die beiden letzten Melodiezeilen enthalten jeweils einen Quintfall mit nachfolgendem Terzsprung, eine markante Zäsur innerhalb der Schlußbildung der Binnen- und Schlußzeile. Insgesamt betrachtet, vermittelt die Melodie durch die Intervallsprünge eine große Lebendigkeit und Kraft, auch wenn die letzten vier Zeilen in stereotypem rhythmischen Gepräge gestaltet sind. GE

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la. Conrad Celtis, Hymnus sapphicus in Vitam S. Sebaldi (1493) 24

Hier einige Hauptmerkmale: - Note-gegen-Note-Satz (angedeutet, aber noch mit einigen Durchgangsnoten) - Melodie in der Sopranstimme - Melodie gregorianischer Herkunft (siehe Beispiele lb und lc) - Die Skansion der Sapphischen Strophe ist nicht vollständig berücksichtigt wegen der Durchgangsnoten, aber zwei Noten entsprechen einer langen Silbe oder Note, im Verhältnis 1:2. Die Vertonung stammt von einem unbekannten Komponisten. Aber dieser Text zu Ehren von Sankt Sebaldus kann auch auf die Weise des Hymnus Ut queant laxis oder Vita Sanctorum gesungen werden, wie Schreyer schreibt: „auch mag

24

Notenbeilage: Die Musikforschung 2 (1949), Heft 2/4, 277, und Weber, La Musique mesurée (s. Anm. 12), 846f.

116

Edith Weber

solich Ympnus nach dem don [Ton, Melodie oder Weise] oder noten des Ympnus Ut queant laxis oder Vita Sanctorum gesungen werden", und Rudolf Gerber25 bemerkt, daß der Komponist der Berliner Fassung die Melodie des St. Johannis-Hymnus Ut queant laxis bevorzugt hat, weil diese in Burgund und Österreich sehr bekannt war und weil sie aus den Trienter Codices 91 (n° 1335) stammt (siehe Beispiel lb und lc):26 *

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lc. Ut queant laxis, Trienter Codices 91, fol. 213'

1507 setzten sich, nachdem Konrad Peutinger und Conrad Celtis die Bewegung im Gang gebracht hatten, die humanistischen Bestrebungen in Deutschland durch, unter anderem mit Horaz-Vorlesungen an der Universität Wien. Petrus Tritonius (ca. 1465-1525?), ein Freund des Erz-Humanisten Conrad Celtis, hat diesen vielleicht während eines Aufenthaltes in Italien kennengelernt. Danach war er an der Universität Wien und in Ingolstadt immatrikuliert. Er Schloß sich der von Celtis geleiteten Litteraria Sodalitas Danubiana an.27 Um die Vorlesungen seines Meisters über lateinische Klassiker zu illustrieren, hat Tritonius Oden von Horaz vierstimmig gesetzt. Diese erschienen unter dem Titel Melopoiae sive Harmoniae Tetracenticae28 und wurden bei Oeglin in

25

26

27 28

Siehe Rudolf Gerber, Die Sebaldus Kompositionen der Berliner Handschrift 40 021, in: Die Musikforschung 2 (1949), Heft 2/4, 119. Trienter Codices 91, fol. 213r, in: Sechs Trienter Codices: geistliche und weltliche Compositionen des 15. Jahrhunderts, erste Ausw. bearb. v. Guido Adler / Oswald Koller (Publicationen der Gesellschaft zur Herausgabe der Denkmäler der Tonkunst in Österreich 14/15 = Jg. 7), Wien 1900, 167. Bis zu Celtis Tode am 4. Februar 1508. [Petrus Tritonius], Melopoiae sive haimoniae tetracenticae super XXII genera carminum heroicorum, elegiacorum, lyriacorum & ecclesiasticorum hymnorum per Petrum Tritonium et alios doctos sodalitatis litterariae nostrae músicos secundum naturas et tempora syllabarum et pedum, compositae et regulatae ductu Chunradi Celtis foeliciter impresse. Augusta

117

Humanistische Odenvertonungen und der Genfer Psalter

Augsburg gedruckt (Noten-Druck mit beweglichen Typen). Eine zweite Ausgabe erschien im selben Jahr, ihr folgte 1532 eine Ausgabe von Egenolph in Frankfurt unter dem Titel Odarum Horatii concentos.29 Die Vertonungen von Tritonius waren sehr gepriesen und wurden in verschiedene Sammelwerke aufgenommen.30 11 silbig: Jam sä - tîs tër-rïs grân-dï - nïs ml-sît dëx - të - râ sâ-crâs têr-rû-ït

nï-vïs ât-quë dl - raê Pâ-tër êt rü - bën-tê ja -cü - lâ-tùs àr-cës ûr-bëm

sapphisch sapphisch sapphisch 5 silbig: adonisch

Horaz, 1,2 Sapphische Strophe

Hauptmerkmale: - Note-gegen-Note-Satz - Melodie in der Tenorstimme - Richtige Skansion - Dreiklangharmonisation - Homorhythmische und homosyllabische Behandlung des Textes.

29

30

Vindelicorum, [Erhard Oeglin] 1507. Exemplare u. a. in Brüssel, Berlin, München, Wien und London. Exemplar, BN, Paris, Rés. VM 1/194 (Januar 1532, Francofordiae, Apud Christianum Egenolphum). Wechselnde Titel: Tenor: Odarum Horatij concentus cum quibusdam alijs carminum generibus. Andere Stimmen: Odarum Horatij concentus. Altus: Carminum Horatij. (Enthält 22 Stücke). Die nächsten drei Beispiele beziehen sich auf die sapphische Strophe (Horaz, Oden, I, 2: Jam satis terris).

118

Edith Weber H

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2. Horaz, I, 2, Jam satis terris Vertonung: P. Tritonius31

Im Jahr 1534 hat Ludwig Senfl (ca. 1486 - zwischen Dez. 1542 und Aug. 1543) die Tenorstimme von Tritonius übernommen und auf die Altstimme verlegt. Das ist ein erster, aber vorläufiger Schritt auf dem Wege zur Sopranstimme.32

31 32

Weber, La musique mesurée (s. Anm. 12), 289-291. [Ludwig Senfl], Varia carminum genera quibus tum Horatius, tum alij egregii Poëtae Graeci et Latini, veteres et recentiores, sacri et profani usi sunt, suavissimis harmoniis composita, auctore Ludovico Senflio. Siehe auch Becker, Tonwerke (s. Anm. 7), II, 295; Eitner, Quellen-Lexikon (s. Anm. 14), IX, 140; Johannes Zahn, Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder aus den Quellen geschöpft und mitgeteilt, Gütersloh 1893, ND Hildesheim 1997, Bd. VI, 12, n° 41

Humanistische Odenvertonungen und der Genfer Psalter

119

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3. Horaz, I, 2, Jam satis terris Vertonung: L. Senfl 3 3

Hauptmerkmale: - Note-gegen-Note-Satz - Melodie in der Altstimme (Cantus firmus von Tritonius) - Richtige Skansion - Dreiklangharmonisation - Homorhythmische und homosyllabische Behandlung des Textes. 1539 erschien bei Johann Petrejus in Nürnberg das Sammelwerk Harmoniae poeticae.34 Dieses Werk enthält 35 Odenvertonungen von Paul Hofhaimer (1459-1537), 35 der die Melodie in die Tenorstimme zurückverlegt. 33 34

Weber, La musique mesurée (s. Anm. 12), 295-298. Harmoniae poeticae Pauli Hofhaimeri [...] quales sub ipsam mortem cecinit [...] tum vocibus humanis, tum etiam instrumentis accomodatissimae, Norimbergae, apud Iohan. Petreium 1539. Stimmausgabe „media vox" hat: Harmoniae poeticae Pauli Hofhaimeri et Ludo-

120

Edith Weber

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4. Horaz, I, 2, Jam satis terris Vertonung: P. Hofhaimer Hauptmerkmale: -

Note-gegen-Note-Satz

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M e l o d i e in der Tenorstimme

-

Richtige Skansion

-

Dreiklangharmonisation

-

Homorhythmische und homosyllabische Behandlung des Textes. vici Senflii. Vielleicht zwei Ausgaben bei demselben Herausgeber. Siehe Eitner, QuellenLexikon (s. Anm. 14), V, 169-172; Deutsches Musikgeschichtliches Archiv, Katalog der Filmsammlung I, Kassel 1955, 1010; Rochus von Liliencron, Die Horazischen Metren in deutschen Kompositionen des XVI. Jahrhunderts, in: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 3 (1887), 51f.; Hans Joachim Moser, Paul Hofhaimer, ein Lied- und Orgelmeister des deutschen Humanismus, Stuttgart/Berlin 1929, ND Hildesheim 1966, 66; Hans Joachim Moser, Art. Hofhaimer, Paul, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 1. Aufl., Bd. 6, 551-557; Répertoire International des Sources Musicales, 153926; Ex. Paris, BN, Rés. p Y c 1148. Der berühmte Musiker aus der Zeit Maximilians I.

Humanistische

Odenvertonungen

und der Genfer

121

Psalter

Die Besonderheit der lateinischen Grammatica von Johann Spangenberg aus dem Jahr 1546 ist ein doppelter Cantus firmus in Tenor- und auch Sopranstim-

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Hauptmerkmale: - Note-gegen-Note-Satz - Melodie in der Tenorstimme und in der Sopranstimme - Richtige Skansion - Dreiklangharmonisation - Homorhythmische und homosyllabische Behandlung des Textes. Ludwig Senfl dagegen hat die Tenorstimme von Tritonius übernommen und sie in die Altstimme verlegt:

36

Grammaticae latinae partes [...] in usum juventutis Northusianae congestae [...] per Johannem Spangenbergium. Index: Sequuntur harmoniae tetracenticae super quatuor communiora carminum genera, Phalaecia, Asclepiadea, Sapphica et Elegia, Norimbergae, Joh. Petreius 1546. Siehe Eitner, Quellen-Lexikon (s. Anm. 14), IX, 216; Zahn, Melodien (s. Anm. 32), VI, Nr. 12 u. 92.

122

Edith Weber

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5b. Martial, Epigram. Vitam quae faciunt beatiorem Vertonung: L. Senfl

Hauptmerkmale: - Note-gegen-Note-Satz - Melodie in der Altstimme (von Tritonius übernommen) - Richtige Skansion - Dreiklangharmonisation - Homorhythmische und homosyllabische Behandlung des Textes. George Buchanan (1506-1582), der kosmopolitische schottische Humanist, hat 1566 Psalmenparaphrasen nach horazischem Muster verfaßt, die 1585 in einer Vertonung des deutschen Komponisten Statius Olthof erschienen.37

37

Psalmorum Davidis Paraphrasis poetica Georgii Buchanani Scoti: argumentis ac melodiis explicata atque illustrata opera & studio Nathanis Chytraei, Francofiati ad Moenum, Corvinus 1585. Siehe Rudolf Schwartz, Magister Statius Olthof, in: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 10 (1894), 23 lf.; siehe auch Weber, La musique mesurée (s. Anm. 12), 385-390.

Humanistische Odenvertonungen und der Genfer Psalter »

Incolae

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6. G. Buchanan, Carminis Genus XIX Psalm LXVI: Incolae terrarum ab ortu Vertonung: S. Olthof

Hauptmerkmale: - Note-gegen-Note-Satz - Melodie in der Sopranstimme - Richtige Skansion - Dreiklangharmonisation - Homorhythmische und homosyllabische Behandlung des Textes. Zum ersten Male liegt der Cantus firmus systematisch in der Sopranstimme, und zwar auf neulateinischem Text, im Note-gegen-Note-Satz. Dieselben Charakteristika zeigt auch der Satz der 1586 von Lucas Oslander (1534-1604) komponierten Fünfftzig Geistlichen Lieder vnd Psalmen.™ Lucas Oslander verlegt die Melodie oder den Cantus firmus systematisch in der Sopranstimme, damit alle, die am Gottesdienst teilnehmen, leicht mitsingen kön-

38

Lucas Oslander, Fünfftzig Geistliche Lieder vnd Psalmen. Mit vier Stimmen auff Contrapuncts weise (für die Schulen vnd Kirchen im löblichen Fürstenthumb Würtenberg) also gesetzt das ein gantze christliche Gemein durchauß mit singen kan. Nürnberg: Katharina Gerlachin 1586. Siehe Richard Gölz, Choralgesangbuch. Geistliche Gesänge für 1 bis 5 Stimmen; Kassel/Basel 1964, 182; vgl. auch Weber, La musique mesurée (s. Anm. 12), 855.

124

Edith Weber

„Nun komm, der Er ging aus

Gott

von

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den Hei - land, Kam - mer sein,

Mensch, ein

Welt, Held;

der Jung - frau - en dem könig - Ii - chen

Gott solch sein' Weg

Ge - burt er zu

Kind er - kannt, Saal so rein.

ihm be - stellt." lau - fen eilt.

7a. Nun komm, der Heiden Heiland (Text: M. Luther) Melodie: Veni Redemptor gentium Vertonung: L. Oslander

Hauptmerkmale : - Note-gegen-Note-Satz (kontrapunktisch) - Melodie {Veni Redemptor gentium) in der Sopranstimme - Homorhythmische und homosyllabische Behandlung des Textes mit einigen Durchgangsnoten - Dreiklangharmonisation - Kantionalsatz.

Melodie: M. Luther zugeschrieben Vertonung: L. Oslander

Hauptmerkmale (L. Oslander): - Note-gegen-Note-Satz (kontrapunktisch) - Melodie in der Sopranstimme - Homorhythmische und homosyllabische Behandlung des Textes, mit einigen Durchgangsnoten - Dreiklangharmonisation - Kantionalsatz.

Humanistische

Odenvertonungen

und der Genfer Psalter

125

Zum ersten Male liegt also der Cantus firmus systematisch in der Sopranstimme im Kantionalsatz mit deutschen Texten. Der lange Entwicklungsprozeß mit dem Übergang der Melodie von der Tenorstimme in die Sopranstimme (fur eine bessere Textverständlichkeit) ist abgeschlossen.

II. Zur Entwicklung der Vertonungen des Genfer Psalters Die Bestrebungen der Humanisten in den Lateinschulen im 16. Jahrhundert in Deutschland und die der Reformatoren - sei es im französischen Sprachgebiet (französische Schweiz, Frankreich, Flüchtlingsgemeinde in Straßburg) oder im deutschen Raum - haben einen gemeinsamen Nenner: die Textverständlichkeit. Einerseits sollen die Schüler und Studenten im Sinne der Wiederbelebung der antiken Autoren lateinische Texte auswendig lernen und richtig aussprechen in Hinsicht auf Sprachrhythmus, Betonung und quantitative Prosodie; andererseits sollen die Gemeindeglieder durch Psalmengesänge aktiv am Gottesdienst teilnehmen und - dank der Einführung der Landessprache - den Sinn der gesungenen Texte richtig verstehen.

1. Das Erbe Wie schon erwähnt, herrschte am Ende des 15. Jahrhunderts der Stil der sogenannten franko-flämischen Schule vor, die mit ihren kontrapunktischen Prinzipien (contrapunctum floridus, „fugweis", in Messen und Motteten) für die Textverständlichkeit durchaus ungünstig war. Es galt also, für die calvinistische und lutherische Kirchenmusik eine Lösung und eine neue Ästhetik zu finden. Sobald die französischen Paraphrasen (dasselbe gilt auch für deutsche oder englische Texte) fertig waren, mußten sie mit Melodien versehen werden. Textverständlichkeit und Singbarkeit sind auf das engste mit der Behandlung der Melodien verbunden, und die Verteilung der Silben hängt von der Prosodie ab. Nach der Textverteilung folgt die Melodieerfindung und danach die vierstimmige Harmonisierung, womit die Frage nach der Stellung des Cantus firmus verbunden ist.

2. Der Genfer Psalter Die vollständige Fassung des Genfer Psalters von 1562 erschien unter dem Titel: Les Pseaumes Mis En Rime Françoise par Clement Marot, & Theodore de Beze [...] De l'Imprimerie de Michel Blanchier. Pour Antoine Vincent. M. D. L. X. II. Auec priuilege du Roy pour dix ans.

126

Edith Weber

Der Genfer oder Hugenottenpsalter besteht 1. aus den 150 Psalmenparaphrasen (nicht „Übersetzungen"), das heißt: strophischen und gereimten Dichtungen in der eindrucksvollen französischen Sprache des 16. Jahrhunderts, die der „Mann auf der Straße" leicht verstehen und auswendig lernen sollte. 49 Paraphrasen wurden von Clément Marot (1496-1544) gefertigt und nach seinem Tode, 1544 in Turin, Théodore de Bèze (1519-1605) anvertraut, der die übrigen 101 Paraphrasen beisteuerte. 2. aus einigen weiteren Texten: Gebete (vor und nach dem Essen, Vaterunser), Glaubensbekenntnis, Zehn Gebote, Canticum Simeonis, Magnificat. Ab 1539 folgt die Text- und Melodiebehandlung denselben Prinzipien wie bei den Odenvertonungen von Tritonius, Senfl oder Hofhaimer.39 Das heißt: homosyllabische und homorhythmische Behandlung wie bei den einstimmigen Psalmenfassungen in Calvins erstem Psalmengesangbuch Aulcuns pseaulmes et cantique mys en chant (Straßburg 1539).40 Mit den ersten Harmonisierungen zu drei oder vier Stimmen bleibt nur noch die Frage nach der Stellung des Cantus firmus offen.

3.

Problematik

Die syllabische Textbehandlung war bei den einstimmigen Psalmen in reformierten Kreisen anfangs weit verbreitet, wie zum Beispiel in England, wo Erzbischof Thomas Cranmer „one syllable, one note" (zu jeder Silbe eine Note) empfohlen hatte. Kurz danach wurden die Melodien drei- oder vierstimmig gesetzt: 1547 bemühte sich Loys Bourgeois, französischer Kantor in Genf, um „contrepoint égal et consonant au verbe". Claude Goudimel (ca. 1520-1572) seinerseits bezeichnet seine Harmonisierung des Hugenottenpsalters als „le plus fidèle témoignage de tous mes labeurs le plus beau" (das treueste und schönste Zeugnis aller meiner Arbeiten). Bemerkenswert ist auch die folgende Äußerung von Claude Goudimel:41 Nous avons ajouté au chant des psaumes [...] trois parties non pour induire à les chanter à l'Église, mais pour s'esjouir [se réjouir] en Dieu ès-maisons [...] (Wir haben dem Psalmengesang drei zusätzliche Stimmen hinzugefügt; nicht, damit sie in der Kirche gesungen werden, sondern damit man zu Hause sich Gottes [er]freut). 42

39

40

41 42

Weitere lateinische Werke, Autoren und musikalische Fassungen sind bei Weber, La musique mesurée (s. Anm. 12), behandelt und auch der Chronologie, 21-104, zu entnehmen. Aulcuns pseaulmes et cantiques mys en chant, A Strasburg. 1539. Faksimile/Facsimile/Fac-similé. Einfuhrung/Introduction Jan R. Luth, Brasschaat 2003. Siehe Edith Weber, La Musique protestante de langue française, Paris 1979, 155. Weitere Komponistennamen sind ebd. zu entnehmen. Ich beschränke mich in diesem Rahmen auf Claude Goudimel.

127

Humanistische Odenvertonungen und der Genfer Psalter

Nach George Buchanan hat - wie schon gesagt - Lucas Oslander seine Fiinfftzig geistliche Lieder (1586) vertont. Bei ihm liegt die Melodie systematisch in der Sopranstimme. Bei Claude Goudimel in seinen Ausgaben aus den Jahren 1564 und 1565 ist dies nur bei 15 Psalmen der Fall, 43 für die übrigen Vertonungen liegt der Cantus firmus traditionsgemäß noch in der Tenorstimme, aber im Note-gegen-Note-Satz, genau wie seit 1507 bei den Horaz-Odenvertonungen von Tritonius.

O

?"

I

5

Seig - neur, lou -

f

1

c.f.

8a. Pseaume LXXV: O Seigneur, loué sera (Text: Th. de Bèze) Melodie: Pierre Davantès, Genève, 1562 / Vertonung: Claude Goudimel 44

Noch eine Vertonung von Claude Goudimel, 1564—1565:

Ψ

T T T T Du c/

fons de ma pen-se

D

I.J É

J ,„

J

É

8b. Pseaume CXXX: Du fond de ma pensée (Text: Cl. Marot) Melodie: Straßburg 1539-1542 / Vertonung: Claude Goudimel 45

Im deutschen Kirchenliedgut findet man noch einen Nachklang und Beziehungen zu den humanistischen Odenvertonungen auf dem Gebiet des Rhythmus und der Wortbetonung, zum Beispiel im folgenden Kirchenlied: ^

jiJ

r

ir

r

| J

Al - lein Gott in der Höh sei

^ Ehr

9. Allein Gott in der Höh sei Ehr46 Text und Melodie: Nikolaus Decius 47

43

44

45 46

47

Les cent cinquante Pseaumes de David, nouvellement mis en musique à quatre parties, par C. Goudimel. A Paris. Par Adrian Le Roy & Robert Ballard, imprimeurs du Roy. 1564. Vgl. Goudimel, Œuvres complètes (s. Anm. 18), Vol. IX: Les 150 Psaumes, 67. An und fur sich gibt es nun drei Autoren: den Textdichter, den Erfinder der Melodie (zum Beispiel Loys Bourgeois, Guillaume Franc, Pierre Davantès) und denjenigen des mehrstimmigen Satzes (fiir den Genfer oder Hugenottenpsalter). Goudimel, Œuvres complètes (s. Anm. 18), Vol. IX: Les 150 Psaumes, 132. Evangelisches Gesangbuch, Ausgabe für die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens, Leipzig 1994, Nr. 81 (mit dem Vermerk „Ö" = ökumenisch), Nr. 179. Nach dem Gloria in excelsis Deo, 4. Jahrhundert.

128

Edith Weber

Hier ist der Text jambisch, und die Melodie beginnt mit einem Auftakt. Es könnte aber auch aufgefaßt werden als eine Verschmelzung von akzentuierender und quantitierender Prosodie. Aber bei dem Kirchenlied Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen?, das auf einer sapphischen Strophe beruht, wie zum Beispiel Jam satis terris (Horaz, I, 2), wurden die dritte und die achte Silbe gekürzt: Statt einer halben Note gibt es nur eine Viertelnote, damit das Ganze in den geraden Takt paßt. Ansonsten wird das sapphische Vorbild berücksichtigt: Jam sä-tTs tër-rîs nï-vïs ât-quë dî-raë Hêrz-lïeb-stër Jë-sû, wäs häst dû vër-brô-chên?

Herz-lieb-ster Je - su,

spro - chen? Was

was hast du ver - bro - chen, daß man ein solch scharf Ur-teil hat ge-

ist die Schuld, in

was für Mis-se - ta - ten

bist du ge - ra - ten?

10. Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen48

Der Satz ist Note gegen Note gesetzt, wie die Horaz-Odenvertonungen seit 1507 bei Tritonius. Dieses Lied wird noch heute in der katholischen Kirche gesungen, wie aus dem Gotteslob'·9 zu entnehmen ist, wo sich die Melodie von Johann Crüger (1640) zum Psalm XXIII (Genf 1543) nach Guillaume Franc auf den deutschen Text (1630) von Johann Heermann (1585-1647) findet. Dasselbe gilt für das Evangelische Gesangbuch (EG)50, aber die Ähnlichkeiten sind mehr im ausgeglichenen Rhythmus zu finden als in der Melodie selbst:

Mon

Dieu

me

paist

soubz

sa

puis - san

- ce

hau

- te.

Mon

Dieu

me

paist

sous

sa

puis - san

- ce

hau

- te.

11. Mon Dieu me paist sous sa puissance haute51

48 49

50 51

Evangelisches Gesangbuch (s. Anm. 46), Nr. 81. Gotteslob, Katholisches Gebet- und Gesangbuch, hrsg. von den Bischöfen Deutschlands und Österreichs und der Bistümer Bozen-Brixen und Lüttich, Leipzig 1975; '1996, Nr. 80. Evangelisches Gesangbuch (s. Anm. 46), Nr. 81. (mit dem Vermerk „Ö" = ökumenisch). Straßburg, 1545, 1548, 1553; Bourgeois, 1547 ; Lyon, 1548, 1549; Genève, 1551, 1554. Pierre Pidoux, Le Psautier huguenot, Basel 1969, Vol. I: Les Mélodies, Ps. XXIII, 31. Text von Clément Marot.

Humanistische Odenvertommgen und der Genfer Psalter

129

Abschließend können zwölf Feststellungen getroffen werden: - Die Stilverwandtschaft zwischen lateinischen humanistischen Odenvertonungen, Luther-Chorälen und Hugenottenpsalmen steht außer Zweifel. - Die Textbehandlung folgt auf beiden Seiten des Rheins denselben syllabischen Prinzipien. - Der gemeinsame Nenner bleibt die Textverständlichkeit. - Die Sorge um die beste Textverständlichkeit bedingt die Harmonisierung sowohl der Oden als auch der Psalmen und Luther-Choräle. - Nur der Note-gegen-Note-Satz (nota contra notam) ermöglicht es, diese unumgängliche Bedingung zu erfüllen. - Dieser Stil ist seit den Horaz-Odenvertonungen des Tritonius (1507) vorherrschend. Kenneth Jay Levys Vermutung, daß die verschollenen HorazOdenvertonungen von Philibert Jambe-de-Fer (ca. 1550)52 in diesem Stil (nota contra notam) komponiert waren, könnte man auch auf Goudimels Horaz-Oden (1555) ausweiten; nach diesem Muster hatte er seine PsalmVertonungen von 1554—1555 gestaltet.53 - 1507 vertraut Petrus Tritonius den Cantus firmus nach der Tenorliedtradition aus dem 15. Jahrhundert systematisch der Tenorstimme an. - 1534 greift Ludwig Senfl auf Tritonius' Cantus firmus zurück und verlegt ihn in die Altstimme. - 1538 verlegt Paul Hofhaimer den Cantus firmus zurück in den Tenor. - 1546 gestaltet Johann Spangenberg (wahrscheinlich als erster) einen doppelten Cantus firmus in der Tenor- und in der Sopranstimme. - Ab 1585 ist die Sopranstimme systematisch Melodieträger, wie an den von Statius Olthof harmonisierten neulateinischen Psalmen, die George Buchanan nach horazischem Muster verfaßte, zu sehen ist. - 1586 ist schließlich die Verschmelzung des Odenstils mit dem der Hugenottenpsalmen und der Luther-Choräle auch für die jeweilige Nationalsprache vollzogen. Somit läßt sich bis in den Genfer Psalter eine eher unerwartete Entwicklung der pädagogischen Ziele und Ansprüche der Humanisten feststellen.

52 53

„Sans doute dans le style note contre note" (s. Anm. 5/6). Vgl. Goudimel, Œuvres complètes (s. Anm. 18), Vol. IX: Les 150 Psaumes.

Hans-Otto Korth

Zur Verbindung von böhmischem und calvinistisch geprägtem Liedschaffen

Im 16. Jahrhundert erfährt das Kirchenlied einen bis dahin einzigartigen Aufschwung, der vornehmlich von den unterschiedlichen Strömungen der Reformation getragen wird. Für Deutschland setzt dieser Aufschwung gegen Ende des ersten Viertels des Jahrhunderts ein. Reichen die Anfange des Kirchenlieddrukkes auch bis in die Inkunabelzeit zurück, so hebt doch seit etwa 1523/24 eine Betriebsamkeit auf diesem Gebiet an,1 die aus der schöpferischen Neuentdekkung des Kirchenliedes im weiten Umfeld der Reformation - oder in Reaktion darauf - zu erklären ist. Als Druckorte für die neuen Kirchenliedquellen treten seitdem in erster Linie die Städte Mittel- und Oberdeutschlands, Augsburg, Nürnberg und Straßburg in Erscheinung. Freilich ist dies bereits Teil und Fortsetzung einer langen Tradition. Das volkssprachige geistliche Lied ist weit zurückzuverfolgen. Entsprechend hoch ist der Anteil der Kirchenlieder des 16. Jahrhunderts, die auf älterem Gut beruhen, das teils geringfügig, teils um Jahrhunderte früher entstanden ist. Dabei haben die älteren Kirchenlieder häufig ihrerseits bereits Vorgänger unterschiedlicher Art und Herkunft. Besonders eindrücklich ist dies an dem umfangreichen deutschen Liedbestand der Böhmischen Brüder ersichtlich. Deren erstes deutsches Gesangbuch von Michael Weisse erschien 1531 in Jungbunzlau (DKL BBr 1531/EdK egl). 2

S. Konrad Ameln / Markus Jenny / Walther Lipphardt (Hg.), Das deutsche Kirchenlied. DKL: Kritische Gesamtausgabe der Melodien, Bd. 1, Verzeichnis der Drucke (Répertoire International des Sources Musicales Β VIII), Kassel u. a. 1975-1980. - Der erste Kirchenlieddruck mit Noten erschien um 1481; bis zum Jahre 1523 sind insgesamt etwa 28 entsprechende Titel nachgewiesen. Demgegenüber sind bei DKL für das Jahr 1524 allein 20 Titel verzeichnet; einige verschollene Drucke, vornehmlich Liederblätter, kommen noch hinzu. S. Anm. 1. — Zum folgenden s. die Edition und hymnologischen Anmerkungen und Nachweise zu den betreffenden Melodien und Drucken in: Gesellschaft zur wissenschaftlichen Edition des deutschen Kirchenlieds (EdK) (Hg.), Das deutsche Kirchenlied: Abteilung III: Die Melodien aus gedruckten Quellen bis 1680, Bd. 1: Die Melodien bis 1570, vorgelegt von Joachim Stalmann. Teil 1 : Melodien aus Autorendrucken und Liederblättern, bearb. v. Karl-Günther Hartmann, Hans-Otto Korth u. a., Kassel u. a. 1993; Teil 2: Melodien aus mehrstimmigen Sammelwerken, Agenden und Gesangbüchern I, bearb. v. Daniela Garbe, Hans-Otto Korth u. a., Kassel u. a. 1996-1997; Teil 3: Melodien aus Gesangbüchern II, bearb. v. Hans-Otto Korth, Daniela Wissemann-Garbe u. a., Kassel u. a. 1998; dazu das

132

Hans-Otto Korth

Mit Erweiterungen und Änderungen folgte das Gesangbuch von 1544 in Nürnberg, besorgt von Johann Horn (DKL BBr-NbgGü 1544/EdK eg6a); 1566 kam dann das umfangreiche, Kaiser Maximilian II. gewidmete Gesangbuch der Böhmischen Brüder in Ivancice heraus (DKL BBr 1566/EdK eg7). Die drei3 Sammlungen weisen zusammen einen Bestand von neuen deutschen Kirchenliedern mit fast 300 Melodien auf. Indes geht der bei weitem größte Teil dieses Bestandes unmittelbar auf tschechische geistliche Lieder zurück, die über die tschechischen Gesangbücher von 1541 und 1561 erhalten sind, zum nicht geringen Teil aber bereits vor Weisses Gesangbuch in älteren, verschollenen Gesangbüchern enthalten waren.4 Mehrheitlich handelt es sich einfach um Übertragungen jener tschechischen Lieder ins Deutsche, und dementsprechend wurden auch deren Melodien überwiegend ohne tiefgreifende Veränderungen übernommen. Die tschechischen Lieder jedoch haben ihrerseits Vorgänger. Als solche sind lateinische Cantiones böhmisch-hussitischer Herkunft zu nennen, ferner Hymnen und gregorianische Melodien der Meß- und Offiziumsliturgie; einige Lieder gehen wiederum auf ältere tschechische Lieder zurück, hinter denen nochmals ein Vorgänger stehen kann. Dabei mag der Bezug auf einen älteren Vorläufer hier als notengetreue Kontrafaktur erscheinen, dort als subtile Bearbeitung, deren präexistentes Material sich erst der genauen Analyse erschließt. Mithin kann sich die Vorgeschichte einer Melodie zuweilen gleichsam als Abfolge von Gliedern einer Kette erweisen, was bei der Würdigung von Liedund Melodiegenesen zu berücksichtigen ist. So reicht es auf der einen Seite gelegentlich nicht aus, bei der Identifizierung eines unmittelbaren Vorgängers stehen zu bleiben; auf der anderen Seite kann es verzerrt oder gar verfehlt sein, eine Kirchenliedmelodie beispielsweise lapidar mit der Weise eines Mailänder Hymnus gleichzusetzen. Darüber hinaus können Melodien auch in Beziehung zueinander stehen, miteinander verwandt sein, ohne daß zwischen ihnen selbst ein lineares Abhängigkeitsverhältnis besteht, sei es unmittelbar oder über Zwischenglieder. Dies ist dann der Fall, wenn Kirchenliedweisen unabhängig voneinander auf denselben Vorgänger zurückgehen. Insbesondere Hymnen und hymnenartige Gesänge begünstigen solche Geschwisterbildungen, was angesichts deren Bekanntheit und prototyphafter Bedeutung insgesamt für die Liedgeschichte auf der Hand liegt. Doch sind auch andere Gesänge mehr als einmal für jüngere Lieder herangezogen worden. Ein Rückgriff auf dieselbe Vorlagemelodie dem Namen nach muß jedoch nicht unbedingt in letzter Instanz auch ein Rückgriff der Sache nach sein. Denn

Register, Kassel u. a. 1999; - Bd. 2: Die Melodien 1571-1580, vorgelegt von Joachim Stalmann, bearb. v. Rainer H. Jung, Hans-Otto Korth u. a., Kassel u. a. 2003. Die verschiedenen Nachdrucke, Neuauflagen und anderweitige Übernahmen bleiben hier unberücksichtigt. Hierzu auch Camillo Schoenbaum, Die Weisen des Gesangbuchs der Böhmischen Brüder von 1531, in: Jahrbuch fìir Liturgik und Hymnologie 3 (1957), 44-61.

Zur Verbindung von böhmischem und caivinistisch geprägtem

Liedschaffen

133

eine weiter verbreitete Melodie wird an verschiedenen Stellen in unterschiedlichen Versionen auftreten. Diese können dann Unterschiede in den jüngeren Weisen nach sich ziehen; und in der Tat lassen sich gelegentlich genau die Fassungen ermitteln, auf die jüngere Melodien zurückgehen und durch die Abweichungen bedingt sind. Unabhängig von ihrem Grad und Ausmaß freilich ist jede Verwandtschaft zwischen Gesängen Zeichen einer kulturellen Beziehung schlechthin. Dies gilt selbst dann, wenn eine solche bis zur Abstraktion weit zu fassen ist und sich im Allgemeinen verliert. Hat sie indes Konturen, dann können Brückenschläge zwischen geistlichen Gesängen benennbare Verbindungen bestätigen, aufdekken - oder auch nur eine Ahnung von ihnen vermitteln. So läßt eine Reihe von Feststellungen auf diesem Gebiet Beziehungen zwischen dem böhmischen Liedschaffen und dem in der calvinistischen Tradition ahnen. Der Begriff des Liedschaffens in der calvinistischen Tradition wurde in Ermangelung eines besseren nicht ohne Vorbehalte gewählt und bedarf der Erklärung. Mit ihm wird hier das geistliche Liedschaffen im 16. Jahrhundert und vornehmlich seine gedruckte Überlieferung im westlichen Deutschland und in der Schweiz bezeichnet, in Städten, die reformiert geprägt oder maßgeblich mitgeprägt sind. Herausragend und führend ist hier zunächst, seit 1524, Straßburg, dann folgen Konstanz, Genf und Bonn; außer Genf sind das Städte entlang des Rheins. In der Tat zeigen die Kirchenlied-Überlieferung und das Liedschaffen dort einige Gemeinsamkeiten.5 Nachdrücklich hervorgehoben sei an erster Stelle die Qualität der betreffenden Drucke und dessen, was sie enthalten. Insbesondere die Kirchenlieddrucke Straßburgs zeichnen sich diesbezüglich aus und wahren ihren Standard auch im großen und ganzen das gesamte 16. Jahrhundert hindurch. Das gilt unabhängig von dem zugrundegelegten Druckverfahren und dem betriebenen Aufwand. Die Konstanzer Gesangbücher, wohl ab 1533/34 und in hohem Maß von den Straßburgern beeinflußt, nehmen diesen Qualitätsanspruch auf. Desgleichen lassen die Quellen des Genfer Psalters ihn erkennen; freilich liegen dessen Anfänge zumindest die der Drucklegung - wiederum in Straßburg; dort sind 1539 die

5

Zu dem nachfolgend drastisch Zusammengefaßten vgl. u. a. EdK (s. Anm. 2); Markus Jenny, Geschichte des deutsch-schweizerischen evangelischen Gesangbuches im 16. Jahrhundert, Basel 1962; Hans-Otto Korth, Melodie und Notation in Kirchenlieddrucken des 16. Jahrhunderts. Zur Herkunft der Melodie des Lutherliedes „Vater unser im Himmelreich", in: Bericht über den Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Musikforschung Freiburg i. B. 1993, Kassel 1999, 270-273; Art. Gemeindegesang, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., Sachteil 3, Kassel/Stuttgart 1995, Sp. 1148-1194, bes. Sp. 1169-1174. Daß der Anteil der Niederlande nicht aufgeführt wurde, mag für die Darstellung der Entstehung des Melodiengutes und dessen entwicklungsgeschichtliche Verquickung statthaft sein, denn nur damit beschäftigt sich der vorliegende Versuch.

134

Hans-Otto Koríh

von Johannes Calvin herausgebrachten Aulcuns pseaulmes et cantiques mys en chant erschienen (Pidoux ST 39).6 Für die Bonner Gesangbücher, die spätestens 1550 einsetzen, 7 ist dieses allgemeine Qualitätsurteil allerdings einzuschränken. Ihre Melodien enthalten viele Fehler bis hin zu Entstellungen; der Blockdruck der Noten, an dem festgehalten wird, ist handwerklich und vom Erscheinungsbild her oft mangelhaft. Überdurchschnittlich gut ist gleichwohl auch hier der Satz der Textteile. Beides ist nicht an eine einzelne Offizin gebunden; die Bonner Gesangbücher sind einander insgesamt über Jahrzehnte in Inhalt und Erscheinungsbild auffällig ähnlich. Eine Erklärung dieses seltsamen Phänomens steht aus. Insgesamt jedoch bleibt es statthaft, Qualität in Ausführung und Inhalt als eine verbindende Eigenschaft der Gesangbücher calvinistischer Tradition aufzufassen. Die Annahme liegt nahe, daß dies in dem recht engen Verhältnis von Kirchenliedschaffen und Gemeindegesang im Calvinismus begründet ist. In den calvinistischen Städten, und durchaus im Unterschied zu den lutherischen, besaß der Gemeindegesang als der Gesang im Gottesdienst bzw. im gottesdienstlichen Umfeld, aber auch als der gemeinsam auftretender Glaubensbrüder von Anfang an eine identitätsstiftende Funktion. Damit gewannen die Gesangbücher dort eine andere und gewiß auch höhere Bedeutung als etwa in den Städten Mitteldeutschlands. Im Verbund damit ist den Gesangbüchern calvinistischer Tradition ferner die Schwerpunktsetzung auf die Psalmenlieder gemeinsam; bekanntlich waren diese das Rückgrat des Liedgutes in den reformierten Gemeinden. Deutlichste Konsequenz dieser geistlichen Prämisse war die Bereitstellung vollständiger Liedpsalter; und der nach mehr als zwanzigjähriger, bewegter Entwicklung vorliegende Genfer Psalter mit seinen vielfaltigen Übertragungen ist weder der einzige noch der erste seiner Art. So brachte Joachim Aberlin 1537 in Augsburg eine Zusammenstellung von Liedtexten zu allen Psalmen heraus. Mit den Namen der zahlreichen Autoren, die dort vertreten sind, lassen sich zugleich die verschiedenen Richtungen der Reformation verbinden; ergänzt hat Aberlin seine Sammlung durch eigene Beiträge. Dem Aberlin-Psalter war in der calvinistischen Tradition, aber nicht nur dort, erheblicher Einfluß beschieden; so wird er 1538 in einem Straßburger Gesangbuch (DKL Straß 1538/EdK ebl3) erkennbar vorausgesetzt. Der erste Teil der Bonner Gesangbücher enthält dann jeweils einen Liedpsalter, der weitgehend dem Aberlins entspricht. Wie erwähnt sind sich die Bonner Gesangbücher sehr ähnlich; und auch die Unterschiede in jenem ersten Teil sind zwischen den Drucken bzw. Auflagenreihen gering. Erst im zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts bricht diese Bonner Tradition ab.

6

7

Pierre Pidoux, Le Psautier Huguenot du XVIe siècle. Mélodies et documents, Bd. I: Les mélodies, Bd. II: Documents et bibliographie, Kassel/Basel 1962; hier I, XXII und Π, 3f. Die Existenz eines verschollenen früheren Bonner Gesangbuches (DKL Bonn 1544/EdK eil) ist umstritten; s. EdK 1/1, Textbd., 44.

Zur Verbindung von böhmischem und calvinistisch geprägtem Liedschaffen

135

Weitere verbindende Elemente der Kirchenlied-Quellen calvinistischer Tradition sind rhythmische Details der dort enthaltenen neuen oder dezidiert bearbeiteten älteren Melodien. Die recht einfache rhythmische Konzeption, für die der Genfer Psalter berühmt wurde, ist insgesamt typisch. (Sie entstand in Wechselwirkung mit der Notation, in der die frühen Straßburger Quellen gehalten sind. Diese entspricht im wesentlichen der Deutschen Choralnotation des Cantus fractus, wobei jedoch den einzelnen Zeichen die Bedeutung fester Notenwerte zuzuerkennen und mithin in der Regel ein quasi-mensurales rhythmisches Gesamtkonzept zu verzeichnen ist.) Bei den meisten aus der calvinistischen Tradition selbst hervorgegangenen Melodien sind sowohl die Zeilenanfangs- als auch -endtöne Längen - fast schon ein Herkunftsindiz für eine Melodie oder Melodiebearbeitung aus dem Straßburger Umfeld. Auch bereits vor dem Genfer Psalter kommen viele Weisen mit nur zwei Notenwerten aus. Oft sind die Zeilen zusätzlich durch Striche oder Pausen voneinander abgehoben. Den aufgezählten Eigenschaften, die den in Frage kommenden Quellen und ihrem genuinen Liedbestand gemein sind, ließen sich weitere hinzufugen, Einzelheiten der Redaktion etwa oder des optischen Erscheinungsbildes, die im Vergleich der Drucke augenfällig werden. Auch sie können zur Bestätigung beitragen, daß die Zusammenfassung von Beobachtungen, die sich über den betreffenden Bestand verteilen, gerechtfertigt ist. Daß die aufgeführten Eigenschaften vom calvinistischen Verständnis des Kirchenliedes herrühren, liegt sehr nahe; und diese Verwurzelung bleibt bestehen, auch wenn die calvinistische Trägerschaft selbst zurücktritt.8

1. Die neuen Melodien im ersten Teil des Gesangbuches der Böhmischen Brüder von 1566 Das repräsentative deutsche Gesangbuch der Böhmischen Brüder von 1566 (EdK eg7) besteht aus zwei Teilen. Der erste enthält Lieder mit Texten der Böhmischen Brüder selbst, während im zweiten Lieder unterschiedlicher Autoren der anderen Strömungen der Reformation zusammengestellt sind. Der erste Teil ist der deutlich umfangreichere; es finden sich dort Lieder mit über 300 Melodien. Von diesen begegnen etwa 125 mit einem deutschen geistlichen Text hier zum ersten Mal.9 Indes geht der weitaus größte Teil dieser neuen Melodien, wie oben beschrieben, auf solche zu tschechischen Liedern der Böhmischen Brüder zurück, hinter denen mehrheitlich noch ältere volksprachige oder lateinische Gesänge stehen; einige Weisen scheinen auch unmittelbare

Ab DKL Straß 1557/EdK eb 18a gelten die Straßburger Gesangbücher als lutherisch. Gezählt sind die, die bei EdK als neue Melodien oder eigene Fassungen aufgenommen sind; selbstverständlich ist aber der Übergang zu Melodien mit Variantenbildungen fließend.

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Hans-Otto Korth

Bearbeitungen altkirchlicher Gesänge oder älterer Cantiones zu sein. Nur zwölf neue Melodien verbleiben, die offensichtlich nicht auf einen böhmischen oder in der böhmischen Tradition beheimateten Gesang zurückgehen. Diese sind, zitiert nach EdK:10 Egl52 (Mit Freuden zart zu dieser Fahrt) Eg 166 (Der milde, treue Gott hat den Menschen aus Gnad') Eg 173 (Preis, Lob und Dank sei Gott dem Herren) Eg 180 (Nun seht und merket, lieben Leut ') Efl 7B (Christo, dem Herren, sei Lob und Dank) Egl88 (Des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit) Eg204 (Sing heut undfreu dich, Christenheit) Eg206 (Kommt her zu mir, ihr Kinder allzumal) Eg222 (Die Nacht ist kommen, drin wir ruhen sollen) Eg224 (Dankt Gott dem Herren, preiset ihn mit Ehren) Eg235 (Laßt uns mit Lust und Freud' aus Glauben singen) Eg237 (Hört, freche Sünder, ihr gottlosen Kinder)

Für zwei Melodien, Egl88 und Eg204, sind bislang keine Vorlagen nachgewiesen. Zwei weitere, Eg224 und Eg237, gehen auf gedruckte Odenkompositionen zurück. Eine Melodie, Efl7B, ist offensichtlich die Bearbeitung einer verbreiteten Tagelied-Weise. Drei Melodien indes wurden unmittelbar von Genfer Psalmliedern übernommen: Eg 173 (Preis, Lob und Dank sei Gott dem Herren) - Melodie Pidoux" 118 mit kleinen Varianten Eg206 (Kommt her zu mir, ihr Kinder allzumal) - Melodie Pidoux 50b, mit einer Abweichung Eg235 (Laßt uns mit Lust und Freud' aus Glauben singen) - Melodie Pidoux 37c

Herangezogen wurde, wie sich im Vergleich erweist, die Ausgabe Pseaumes ociante trois de David, mis en rime Françoise, Genf 1551 (Pidoux GE 51).12 Verfasser der deutschen Texte ist Petrus Herbert, einer der Herausgeber des Gesangbuches von 1566; er hatte Calvin in Genf kennengelernt.13 Bei den verbleibenden vier Weisen sind die Beziehungen zur calvinistischen Tradition subtiler: So ist Egl52 (Mit Freuden zart zu dieser Fahrt) zwar unschwer als eine Verwandte der Genfer Melodie zum Lied II faut que de tous mes esprits, der Bereimung des 138. Psalms, zu erkennen. Zugleich jedoch sind die Unterschiede erheblich; selbst die Strophenform ist betroffen. Wiederum ist es insbesonde10

11

12 13

S. die betreffenden Einzelnachweise in EdK 1/3, Textbd. Hinzu kommen die beiden Melodien Egl92 (Christ, unser Heil, dich wir billig loben) und Eg226 (O Herre Gott, du wohnst im Himmelreich), für die lateinische oder osteuropäische Vorlagen zwar nicht nachgewiesen, aber doch begründet anzunehmen sind. Pidoux, Psautier (s. Anm. 6); zitiert sind die Melodienummern der Edition in Bd. I, zugleich die Nummern des betreffenden Psalms. Pidoux, Psautier (s. Anm. 6) I, XXI und Π, 53f. Vgl. hierzu auch Erich Trunz, Die deutschen Übersetzungen des Hugenottenpsalters, in: Euphorion 29 (1928), 578-617, hier 606f.

Zur Verbindung von böhmischem und calvinistisch geprägtem Liedschaffen

137

re die Lesart der Genfer Weise von 1552, die in dem Brüder-Lied ihre Spuren hinterlassen hat. Es bleibt zu fragen, ob beide Melodien zudem über einen gemeinsamen Vorgänger miteinander verbunden sind.14 Melodie Eg 166 (Der milde, treue Gott hat den Menschen aus Gnad') stimmt in den ersten beiden Zeilen mit dem sogenannten Benzenauer-Ton,15 der Weise zu einem Bericht über den Fall Kufsteins im Jahre 1504, fast völlig überein. Dieser Ton war in der böhmischen Tradition bekannt; die tschechischen Gesangbücher von 1541 und 1561 enthalten ein weiteres Lied, das wohl zu ihm in Beziehung steht. Ab der dritten Zeile jedoch nimmt Egl66 einen anderen Verlauf. Die dritte Zeile selbst stimmt vollkommen mit der des Liedes Es sind doch selig alle, die des Straßburger Liederschöpfers Matthias Greiter (EdK Ebl4) überein. Diese Weise, 1525 in Straßburg zum ersten Mal gedruckt, fand mit unterschiedlichen Texten weite Verbreitung; im zweiten Teil des BrüderGesangbuches von 1566 findet sie sich als Komm, Heil'ger Geist, du Gottessalb '. Melodie Eg 180 (Nun seht und merket, lieben Leut') ist eine Kontrafaktur des weltlichen Liedes Mir ist ein feines Maidelein gefalln in meinen Sinn. Dieses Lied erschien 1535 bei Georg Rhau in Wittenberg in Druck.16 Unter seinen Bearbeitungen findet sich auch eine von Matthias Greiter.17 Inwieweit die sapphische Ode Eg222 (Die Nacht ist kommen, drin wir ruhen sollen) tatsächlich noch in den vorliegenden Zusammenhang gehört, bleibe dahingestellt: Die Melodie ist erstmals in einer Basler Handschrift (CH-Bu Ms. F II 35, Bl. 9) des Christoffel Wyßgerber von 1534 als Tenor eines Aktschlußchores zur Komödie Aulularia des Titus Maccius Plautus nachgewiesen. Zumindest ist dies eine Quelle in einem regionalem Umfeld der calvinistischen Tradition. Vermutlich ist die Weise jedoch älter. Drei Jahre nach dem großen Brüder-Gesangbuch erscheint sie in einem dreisprachigen Prager Schulbuch18 tschechisch textiert. Da der erste Teil des Gesangbuches der Böhmischen Brüder von 1566 sich offenbar zumindest ansatzweise als Sammlung von Gesängen der eigenen Tradition versteht, ist der geringe Bestand an anderweitigen neuen Melodien nicht überraschend. Mehr als die Hälfte dieser wenigen neuen Weisen aber schlagen 14

15

16

17

18

Die Chanson Une pastourelle gentille (Faksimile Pidoux, Psautier [s. Anm. 6] L, 240), die gelegentlich und nicht unwidersprochen als weitere Vorlage für die Genfer Melodien genannt wird, scheidet als solche aus. Franz Magnus Böhme (Hg.), Altdeutsches Liederbuch. Volkslieder der Deutschen nach Wort und Weise aus dem 12. bis zum 17. Jahrhundert, Leipzig 1877, ND Hildesheim 1966, Nr. 381. Bruce Bellingham (Hg.), Georg Rhau. Musikdrucke aus den Jahren 1538-1545 in praktischer Neuausgabe, Bd. VI.2, Kassel/St. Louis 1980, Nr. 77. Deutsches Musikgeschichtliches Archiv Kassel / Staatliches Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz Berlin (Hg.), Das Tenorlied. Mehrstimmige Lieder in deutschen Quellen 1450-1580. Zusammengestellt u. bearb. v. Norbert Böker-Heil u. a. (Catalogus Musicus X. RISM-Sonderbd.), Bd. 2, Kassel u. a. 1982, Nr. 201. 298. In Georg Nicolaus, Libellvs Elementarivs (EdK a59 [Nachtrag zu DKL 1/RISM Β Vili; s. EdKl/Register, 17]).

138

Hans-Otto Korth

eine Brücke zur calvinistischen Tradition. Der Umstand, daß dies auf so vielfaltige und verwobene Weise geschieht, mag dabei aussagekräftiger sein, als es eine durchgehende, schlichte Übernahme von Liedgut wäre.

2. Zwei Melodien beider Traditionen im Vergleich 19 Im Jahre 1525 erschien in Straßburg ein Lied über den 71. Psalm Herr Gott, ich trau ' allein auf dich. Dem Text Heinrich Vogtherrs ist eine eigenwillige und kunstvolle Weise, EdK Ebl8, beigegeben:

m 3

Herr gott ich traw al Er - rôt mich durch dein

schan-den hye vff

ge - fang - nen

wer - den/ er - den/

ar - men/

lein vff dich/ grech - tig - keit/

Neyg dei - ne

7

Sey

50

Das mich mein fleysch vom weg

mir

ein

o - ren

her

2 4

laß auß

mich/ ni - mer zü leyd/ von sün - den



mir/

star - cker herr „

^ilff

vnd

zier

60

dig-keit er - bar - me. (10) [H. Vogtherr]

Sie steht in e und weist die typischen Eigenschaften dieser Tonalität (Strukturtöne Terz, Sext und auch Quart über dem Grundton und seine Unterterz) auf. Die tatsächliche Tonalität wird jedoch bis weit in den Abgesang verschleiert; die Melodie erweckt fast den Eindruck von c- oder nach c transponierter / Tonalität. Eine Vorgängermelodie ist nicht bekannt;20 vermutlich ist die Weise, wie viele andere Straßburger auch, der große Wurf eines Einzelnen. Der erste Teil des Gesangbuches der Böhmischen Brüder von 1566 enthält ein Lied Der gütig Gott sah an des Menschen Schwachheit, dessen Text der Autor Centuijo Sirutschko zu kurzen, vierzeiligen Strophen angeordnet hat. Die beigegebene Melodie, EdK Eg216, steht ebenfalls in e und liegt ohne nennenswerte Abweichungen bereits in den tschechischen Gesangbüchern von 1541 und 19

20

Die Wiedergabe der Melodien EdK Ebl8, Eg216 und Eg67 erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlages, Kassel. Pidoux, Psautier (s. Anm. 6), 51a, betrachtet sie ihrerseits als Vorgänger der Melodie zum 51. Psalm in den Aulcuns pseaulmes.

Zur Verbindung von böhmischem und calvinistisch geprägtem

139

Liedschaffen

1561 vor. Im Gegensatz zu vielen anderen Brüder-Liedern hat sich eine dahinterstehende volkssprachige oder lateinische Vorlagemelodie in der böhmischen Tradition nicht finden lassen; vielmehr ist sogar anzunehmen, 21 daß es eine solche hier nicht gab. 10

H«, f N

m ^ T ,

j t - J ,1 Γ r

r

^

^

DEr gû - tig Gott sah an des men-schen schwa-cheit/ 2sein gros - se not vnd e - wigs

hertz-leid/

die jn het vmb-fan-gen/ drinn er

wer on

trost je - mer-iich ver-gan-gen.(ll) [C. Sirutschko]

Die Brüder-Melodie und die auffällige Straßburger Weise lassen im Vergleich erkennen, daß sie offensichtlich in Zusammenhang stehen; ihre Bezüge gehen deutlich über allein tonartimmanente Gemeinsamkeiten hinaus. So scheinen zunächst in den Zeilen 2 - 3 von Eg216 die Zeilen 6 - 7 von Eb 18 variiert wiederzukehren. Weiterhin nimmt sich die Schlußzeile von Eg216 wie die Zusammenfassung der beiden letzten Zeilen von E b l 8 aus. Die Beziehungen zwischen den beiden Melodien erstrecken sich also auf etwa drei Viertel von Eg216 und etwa die Hälfte v o n E b l 8 .

3. Zwei böhmische Melodien mit ausgewechselten Zeilen Das bislang Dargestellte muß vornehmlich den Eindruck einer Einflußnahme der calvinistischen Tradition auf die Gesänge Böhmens vermitteln. Indes hat auch das böhmische Gut das Liederrepertoire in der calvinistischen Tradition mitgeprägt. Das wäre kaum erwähnenswert, handelte es sich nur um schlichte Übernahme von Liedern. 22 Doch bestanden am Rhein offenkundig sehr weitreichende Kenntnisse auch der Vorgeschichte und bodenständigen Beziehungen zumindest einzelner Gesänge böhmischer Herkunft. Dies läßt sich aus den Bearbeitungen zweier böhmischer Melodien in Bonn und Straßburg erschließen. 1) In seinem Gesangbuch von 1531 veröffentlichte Michael Weisse ein Lied Valer im höchsten Thron, das mit derselben Melodie, EdK Eg67, auch in die nachfolgenden Brüder-Gesangbücher (und andere Drucke) gelangte. Spätestens ab 1550 erscheint das Lied auch in den Bonner und ab 1568 in den Straßburger

21

22

Die Brüder-Gesangbücher erwähnen in der Regel die Vorgänger-Melodien in den Überschriften; bei Eg216 indes wird auf jegliche Beischrift verzichtet. Michael Weisses Lieder waren in Straßburg insbesondere durch die Ausgaben von Katharina Zell (DKL BBr-Zell 1534-36/EdK eg2^t) bekannt.

140

Hans-Otto Korth

Gesangbüchern; hier wie dort mit gleichermaßen abgewandelter Melodie EdK Eg67A: Böhmische Brüder

J ** VA - ter

J jmm

J

f"

hóch- sten

ρ

ρ

ρ

J

trota/

der

du

durch dei - nen

Bonn, Straßburg

ρ

ρ sota/

g

(M. Weisse)

Eg67 mit Schlußzeile und Schlußton Ζ. 2 nach Eg67A synoptisch

Die beiden Fassungen des vierzeiligen Liedes unterscheiden sich durch die letzte Zeile, die in Bonn und Straßburg mit Ausnahme der Finalis um einen Ton höher liegt; daneben ist dort der Endton der zweiten Zeile um eine Terz nach oben versetzt. Sonst aber besteht Übereinstimmung. Es ließe sich vielleicht einwenden, daß die Abweichungen den Qualitätsmängeln im Notendruck der Bonner Gesangbücher (s. o.) zur Last zu legen sind und nur mechanisch weitergegeben wurden. Doch sind die Straßburger Drucke erkennbar immer wieder gründlich durchgesehen worden, und dennoch blieb es dort bei der geänderten Fassung. Vorlage für Michael Weisses Vater im höchsten Thron ist das tschechische Lied O Pane Gezjssi/ neymilostiwéyssi, das durch die Gesangbücher von 1541 und 1561 erhalten ist. Weisse hat dessen Melodie ohne nennenswerte Veränderungen übernommen. Diese Vorlage nun geht ihrerseits wiederum auf ein tschechisches Lied Jezukryste kràli pane smileny im Kantional von Jistebnice (CZPnm Cod. H C 7, S. 67) und auf die Cantio Pater creator divinissime in der Handschrift Vysehrad (CZ-Pa Ms. Ms. Κ Vs 376, Bl. 137) zurück. Jenes ältere tschechische Lied ist mithin spätestens 1420 nachgewiesen, die Cantio liegt sogar bereits im ausgehenden 14. Jahrhundert vor. Die beiden Gesänge stellen sich wie folgt dar:23

23

S. Zdenëk Nejedly, Dëjiny husitského zpëvu, Bd. VI, Prag 1956, 246-248 (Ed. nach Jistebnice); T. Ilmari Haapalainen, Die Choralhandschrift von Kangasala aus dem Jahre 1624. Die Melodien und ihre Herkunft (Acta Academiae Abonensis, Serie A 53), Abo 1976, 109f. (mit Ed. nach Nejedly); Annekathrin Moeseritz, Die Weisen der Böhmischen Brüder von 1531. Eine stil- und quellenkritische Untersuchung der nichtliturgischen Melodien des Gesangbuches von Michael Weiße, Bonn 1990 (Diss. Bonn 1989), 128 (mit Ed. nach Vyäehrad).

Zur Verbindung von böhmischem und calvinistisch geprägtem Liedschaffen

141

Vysehrad

Es zeigt sich, daß die geänderte Schlußzeile bereits sowohl in dem älteren tschechischen Lied als auch in der Cantio angelegt ist. Die Bearbeitung erscheint gleichsam als Restaurierung. (Eine Erklärung des geänderten Endtones der zweiten Zeile steht demgegenüber aus.) Jistebnice

2) Im Jahre 1572 erschien in Straßburg ein Gesangbuch (DKL Straß 1572/EdK eb29), das sowohl in seiner Aufmachung als auch in seinem Inhalt beeindruckt. Das repräsentative und aufwendig gestaltete Werk ist ein recht spätes Zeugnis fur die Straßburger Gotische Notation und belegt bereits deren Auflösung. Einige Melodien sind neu bzw. begegnen in einer neuen Version. Dabei überwiegt eine vierzeilige Anlage, schmucklos achtsilbig syllabisch, zugleich aber klar und ausgewogen - der Vergleich mit Hymnen bietet sich an. Diese Charakteristika haben insofern Gewicht, als die Texte auf verschiedene Autoren und Quellen zurückgehen; fast steht zu vermuten, die Vierzeiligkeit habe bei der Auswahl im Vordergrund gestanden.24 Eine dieser Melodien, EdK Eg97B, ist die zum Text Herr Gott, der du mein Vater bist. Er ist eine Schöpfung des Johannes Mathesius, Prediger im böhmischen Joachimsthal, und begegnet mit Noten hier zum ersten Mal. In drei Zeilen stimmt die Melodie mit der des Liedes Lob sei dem allmächtigen Gott, wohl von Michael Weisse, überein, das im Gesangbuch der Böhmischen Brüder von 1544 enthalten ist (EdK Eg97); die zweite Zeile jedoch weicht ab:

24

Dieselbe Vorliebe für Vierzeiligkeit begegnet auch in dem von Johann Fischart herausgegebenen Gesangbuch DKL StraßJ 1573/EdK a66 und seiner zweiten Auflage DKL StraßJ 1576/EdK a75. Die dortigen neuen Melodien sind denen des Gesangbuches von 1572 sehr ähnlich; Fischart hat in sein Werk auch Weisen von 1572 übernommen.

142

Hans-Otto Korth

Straßburg 1572

HErr

Gott/

der

du

Va

bist/

Böhmische Brüder 1544

Jch

3

Zu

schrey

dir/

auff

Na

sein

wort/

JHe

Eid

vnd

tod/

Jv

Christ/

4

Er

-

hór/

vnd

J)

30

(J. Mathesius)

Eg97B; die beiden Zeilen 2 synoptisch

Darüber hinaus unterscheiden sich die beiden Melodiefassungen nur noch durch die rhythmische Gestaltung der Zeilenecktöne und -Übergänge. Indem die Straßburger Bearbeitung jede Zeile mit einer Länge sowohl beginnen als auch schließen läßt und auf Pausen verzichtet, folgt sie einer bereits erwähnten Eigenheit der calvinistischen Tradition und den Vorgaben der Straßburger Notation. Für Lob sei dem allmächtigen Gott wurde die Weise des Liedes Wsickni wërnj Ράηα zneyme, das über die beiden tschechischen Gesangbücher von 1541 und 1561 erhalten ist, im wesentlichen unverändert übernommen. Ein Vorgänger hierzu ist nicht ermittelt; gleichwohl reicht die Geschichte der Weise offensichtlich weiter zurück. Es ist bekannt und bedarf keines Nachweises mehr, daß die Brüder-Melodie der des Liedes Wer hie vor Gott wird sein gerecht des Joachimsthaler Kantors Nicolaus Herman, 1560 erstmals gedruckt, ähnelt. Diese Melodie, EdK Eg97A, ist heute vornehmlich mit zwei Texten von Erasmus Alber, Ihr lieben Christen, freut euch nun (Evangelisches Gesangbuch 6) und Steht auf, ihr lieben Kinderlein (Evangelisches Gesangbuch 442), vertraut. Für sie und die Brüder-Melodie sind gemeinsame Wurzeln anzunehmen.25 25

Vgl. Walter Blankenburg, Zur Frage nach der Herkunft der Weisen des Gesangbuchs der Böhmischen Brüder von 1531, in: Musik und Kirche 21 (1951), 67-71, hier 71; ders., Ge-

Zur Verbindung von böhmischem und calvinistisch geprägtem Liedschaffen

143

Die beiden vierzeiligen Weisen sind in authentischer /-Tonalität gehalten, deren Eigenschaften hier wie dort mit großer Deutlichkeit herausgestellt werden: Der Charakter entspricht dem späteren Dur. Der Ambitus beträgt die Oktave über dem Grundton, und Melodik und Zeilenkadenzen sind an den Tönen des Dreiklanges über diesem ausgerichtet. Hinzu kommt eine gewissermaßen „subdominantische" Färbung der Schlußzeile. Dies sind, um es nochmals zu unterstreichen, tonalitätsimmanente Eigenschaften, aus denen allein keine Verwandtschaften zwischen Melodien abgeleitet werden können und dürfen. 26 Demgegenüber sind die strukturellen Gemeinsamkeiten von Gewicht. Beide Melodien folgen gewissermaßen demselben Bauplan, auf der Grundlage der überschaubaren, hymnenhaft-vierzeiligen Strophenform. Vom Grundton ausgehend, reicht die erste Zeile bis zur Sext, die zweimal angeschlagen wird, und kadenziert danach in die Quint. In der zweiten Zeile wird die Oktave als die obere Ambitusgrenze erreicht und dann wiederum auf der Quint geendet. Nachdem auch die dritte Zeile sich sogleich zur Oberoktave aufgeschwungen hat, wird sie herab bis zur Terz geführt. Die Schlußzeile umspannt einen Bogen über die Sext zurück zum Grundton. Auch in der Straßburger Bearbeitung der Brüder-Melodie wird dieser Plan beibehalten. Es sind subtilere melodische Details, die von der Veränderung betroffen sind. In der ersten Hälfte der neuen Zeile entfällt zum einen mit dem Verzicht auf das zweimalige Anschlagen des Spitzentones auch die unverzügliche Wiederholung dieses melodischen Momentes; zum anderen wird die Übereinstimmung mit dem Beginn der dritten Zeile aufgegeben. Demgegenüber wird in der zweiten Zeilenhälfte eine Übereinstimmung zum Schluß der Eingangszeile erzielt - es ergibt sich gewissermaßen ein melodischer Reim. Die Bearbeitung kann mit Fug und Recht als eine Verbesserung gelten; die Melodie hat an Ausgewogenheit gewonnen. In demselben Maße indes, wie die Neufassung der Brüder-Melodie sich von dieser entfernt hat, ist sie der Weise Nicolaus Hermans näher gerückt. Nicht nur für sich entsprechen jetzt die Schlußkadenzen der ersten und zweiten Zeile denen bei Herman, sondern auch die genaue Wiederholung der Kadenz begegnet hier wie dort. Es scheint, daß der Bearbeiter eine Vorstellung von der Zu-

26

schichte der Melodien des Evangelischen Kirchengesangbuchs, in: Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch, Bd. II.2, Göttingen 1957, 85f. sowie die Anm. in EdK 1/3, Textbd. - Das Evangelische Gesangbuch datiert die beiden Melodien (dort 441 und 442) ins 15. Jh. Ich kenne keinen Nachweis, auf den sich das beziehen ließe. Siegfried Fomaçon hat Gemeinsamkeiten mit der Melodie zu Jacob Dachsers Lied über Psalm 52 Was rühmest du dich der Bosheit (EdK Eb40) in DKL Straß 1538/EdK ebl3 aufgezeigt; vgl. Siegfried Fomaçon, Nochmals: Adam Reisner, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 13 (1968), 140-145, hier 144f. Dergleichen ist immer wieder geschehen, gerade die /-Tonalität mit ihren faßlichen Eigenschaften verführt offenbar dazu. Die wohl bekannteste diesbezügliche Fehleinschätzung ist die Rückführung der Melodie von Philipp Nicolais Wachet auf ruft uns die Stimme auf die Silberweise des Hans Sachs; sie lebt selbst in dem jüngst erschienenen, großartigen Gemeinschaftswerk von Hansjakob Becker u. a. (Hg.), Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, München 2001, nochmals auf; s. dort 163 (Ansgar Franz).

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Hans-Otto Korth

sammengehörigkeit jener beiden böhmischen Melodien hatte und dies in seine Fassung einbringen wollte. Und es mag nicht ohne Bedeutung sein, daß die Bearbeitung nimmehr mit dem Text eines Joachimsthaler Verfassers verbunden ist, wie die Melodie, der sie angenähert wurde. Es sind Einzelbeobachtungen, die hier zusammengestellt wurden; und es mag sich die Frage nach deren grundsätzlichem Aussagewert erheben. Ungeachtet ihrer geringen Anzahl sind die aufgeführten Fälle doch recht vielfaltiger Natur, und sie umreißen einen keineswegs engen Raum. Es bleibt zu hoffen, daß sich die aufgezeigten Mosaiksteine durch weitere Beiträge zu einem geschlosseneren Bild zusammenfugen lassen. Zudem finden sich in den beschriebenen Einzelfällen durchaus auch Momente des Zusammenhalts. So gibt fur eine Reihe von ihnen das große Brüder-Gesangbuch von 1566 den Rahmen ab. Ferner sind die beiden Fälle von ausgewechselten Melodiezeilen in Bonner und Straßburger Drucken in der Sache dermaßen ähnlich, daß die Frage berechtigt ist, ob nicht auch eine unmittelbare Beziehung zwischen ihnen besteht. Und endlich sind Übernahmen und Bearbeitungen von Melodien allemal ein verbindendes Vorgehen. Mithin mögen sich hier Hinweise auf eine Verbindung von böhmischem Liedschaffen zu dem in der calvinistischen Tradition ergeben, und damit mag der hier unternommene Versuch einer Darstellung der calvinistischen Tradition seine Rechtfertigung erfahren haben, jener Tradition, der das erfolgreichste Gesangbuch aller Zeiten entwuchs.

Robin A. Leaver

Genevan Psalm Tunes in the Lutheran Chorale Tradition

In the middle of the seventeenth century the organ case in the Lutheran Frauenbergerkirche in Nordhausen was adorned with the following inscription: Sound well all your pipes to glorify God alone; fill, with your sounds, the church, the house of the Lord, and also diligently rouse the mouths and tongues of the people, that they with understanding, and from the bottom of their hearts, sing the Psalms of David and the spiritual songs of Dr. Luther's composition, simply and without ostentation. From strange melody, from all false doctrine, and from Calvinistic screaming, Lord, preserve us evermore.1

Here a contrast is drawn between what was considered to be the true melody and pure doctrine of the Lutheran chorale, sung "simply and without ostentation", as against the "strange melody" and "false doctrine" of Calvinist psalmody, which is characterized as "screaming" ("Geschrey") rather than singing. Tensions between Lutherans and Calvinists intensified around the middle of the sixteenth century. Among the various doctrinal divisions that erupted within Lutheranism after Luther's death was the rift around the so-called "CryptoCalvinist" controversy. Melanchthon and his followers were charged with abandoning Luther's theology in favour of Calvin's. The situation was exacerbated by Calvin's public declaration in 1557 that Melanchthon was his theological

Johannes Schäfer, Nordhäuser Orgelchronik. Geschichte der Orgelwerke in der tausendjährigen Stadt Nordhausen am Harz, Halle 1939, 33: „Klingt wohl ihr Pfeiffen all, / Doch Gott allein zu Ehren, / Erfüllt mit eurem Schall / Die Kirch, das Haus des Herrn, / Ermuntert auch mit Fleiß / Der Leute Mund und Zungen, / Daß sie auf solche Weiß / Von Grund des Hertzens singen / Die Psalmen Davids schon, / Die geistlichen Gesänge, / Nach Doctor Luthers Ton / Einfaltig ohn Gepränge. / Für fremder Melodey, / Für all falschen Lehr, / Für Calvini Geschrey / Allzeit Herr uns bewahr."

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Robin A. Leaver

ally.2 The internal debate continued for a further twenty years before the Formula of Concord (1577) proscribed specific Reformed theology with regard to the sacraments and the person of Christ in Articles VII and VIII. But the confession did not prevent the growing influence of Calvinism, which continued to make inroads into Lutheran Saxony. Thus, in addition to the two articles of the Formula of Concord, specifically anti-Calvinist Saxon Visitation Articles were published in 1593, which were subsequently appended to the Book of Concord. All Lutheran clergy, schoolteachers and musicians had to give oral and written assent to these articles before taking-up appointments in churches and schools. Around the time the inscription was attached to the Nordhausen organ, Lutherans generally made a sharp distinction between themselves and Calvinists, not only in matters of theology but also in practical concerns, especially with regard to worship and congregational singing. Given this somewhat antagonistic environment, it hardly seems likely that Lutherans would incorporate the singing of psalm tunes from the complete Genevan Psalter of 1562 - which in many respects was the outward unifying practice that identified Calvinists as Calvinists - into their equally distinctive chorale tradition. Yet, notwithstanding some determined opposition, that is exactly what happened; indeed, some of the Genevan psalm tunes were integrated into the central core of Lutheran chorales, although their origin was disguised by their associated first lines. Notable examples include O Mensch, bewein dein Sünde groß (Psalm 36), Freu dich sehr, o meine Seele (Psalm 42), and Herr Gott, dich loben alle wir (Psalm 134). This chapter examines in some detail the specific Genevan psalm tunes that entered into the German Lutheran chorale tradition in the sixteenth and seventeenth centuries, the chronology of their reception, and their influence on the composition of new chorale melodies. Although this Genevan element in the Lutheran chorale tradition has been noted frequently,3 a detailed study of the phenomenon has not previously been attempted, although various aspects have been researched.4 Waldo Seldon Pratt's extensive study of the 1562 melodies purports to give information relat-

Ultiraa admonitio Joannis Calvini ad Joachimum Westphalum [...] (Geneva: Crespin 1557); see Ioannis Calvini opera quae supersunt omnia, ed. by Johann Wilhelm Baum, et al. (Corpus Reformatorum 29-87), Braunschweig 1863-1900, vol. 9, 148f. etc. See, for example: Carl von Winterfeld, Der evangelische Kirchengesang und sein Verhältnis zur Kunst des Tonsatzes, 3 vols., Leipzig 1843—47; reprinted Hildesheim 1966, vol. 1, 228-265; Walter Blankenburg, Geschichte der Melodien des Evangelischen Kirchengesangbuchs, in: Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch, ed. by Christhard Mahrenholz / Oskar Söhngen / Otto Schlisske, 3 vols., Göttingen 1953-1990, vol. 2/2, 45-117, esp. 81-84; Robert L. Marshall / Robin A. Leaver, Art. Chorale § 8, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, 2nd edition, ed. by Stanley Sadie / John Tyrell, 29 vols., New York 2001, vol. 5, 740. See, for example: Walter Blankenburg, Zur Verbreitung des Genfer Liedpsalters in Mitteleuropa in den ersten Jahrzehnten nach seiner Fertigstellung, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 9 (1964), 159-162; Walter Blankenburg, Church Music in Reformed Europe, in: Friedrich Blume et al. (eds.), Protestant Church Music. A History, New York 1974, 507-590; and the literature cited in the following notes.

Genevan Psalm Tunes in the Lutheran Chorale Tradition

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ing to Lutheran use of each of the 125 tunes.5 But closer inspection reveals that the data is marred by misreading of the evidence; therefore, the study presents a distorted and misleading view. First, Pratt inexplicably states categorically, but wrongly, that Psalm 42 is "not noted in Zahn". The reference to "Zahn" is to the monumental anthology of tunes found in (mostly but not exclusively) German Lutheran sources,6 which does in fact include the tune (Zahn 6543) - one of the most widely sung Genevan psalm tunes in Lutheran Germany. Second, twelve of the tunes that Pratt records as appearing in Lutheran sources actually appeared in German Reformed (Calvinist) collections and thus were not intended for Lutheran worship.7 Third, Pratt's chronology for the Lutheran use of nine Genevan psalm tunes is similarly in error because of his assumption that all of Zahn's sources were Lutheran, whereas they also included German Reformed hymnals and tune books, as well as some from other confessional traditions; therefore, in Table 1 below, these psalm tunes are shown to have entered into the Lutheran chorale tradition at a date somewhat later than Pratt assumed.8 A number of typographical errors are also found in Pratt: The Zahn number for Psalm 38 is given as "2531" instead of "3531", and that of Psalm 103 is given as "3137" instead of "3187"; the earliest Lutheran source for Psalm 65 is given as "1618" instead of "1619", and that for Psalm 133 as "1853" instead of "1855." The psalm tunes listed in Table 1 were established by independent research in the volumes of Zahn, and then checked against information found in Pratt and Pidoux.9 While the listing only records the earliest Lutheran use of these psalm tunes, it does give some indication of later use by the representative alternative texts that were subsequently assigned to them. Table 2 lists in chronological order the sources that, according to Zahn, introduced Genevan psalm tunes (or tunes modelled on them) into Lutheran use. Also included are some "Evangelical" sources published in Straßburg, which cannot be classified as either "Lutheran" or "Reformed", and two hymnals of the Bohemian Brethren, whose hymnic tradition also contributed to the development of the Lutheran chorale (see further below). For Table 2, Zahn's bibliographical citations were checked

5

6

7

8

9

Waldo Seldon Pratt, The Music of the French Psalter of 1562. A Historical Survey and Analysis, with Music in Modern Notation, New York 1939; reprinted New York 1966. Johannes Zahn, Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder, 6 vols., Gütersloh 1889-1893; reprinted Hildesheim 1963; the tunes are cited by the numbers assigned to them in Zahn. The tunes are: Psalm 4 (Zahn 7823), Psalm 12 (Zahn 900), Psalm 26 (Zahn 2185), Psalm 46=82 (Zahn 6118), Psalm 58 (Zahn 2748), Psalm 73 (Zahn 5882), Psalm 75 (Zahn 3333), Psalm 79 (Zahn 7849), Psalm 99 (Zahn 6237), Psalm 105 (Zahn 2995), Psalm 113 (Zahn 2663), Psalm 150 (Zahn 6370). The tunes are: Psalm 19 (Zahn 8232), Psalm 32 (Zahn 6225), Psalm 81 (Zahn 3263), Psalm 84 (Zahn 5868), Psalm 110 (Zahn 901), Psalm 136 (Zahn 1181), Psalm 140 (Zahn 750), Psalm 141 (Zahn 749) and Psalm 143 (Zahn 1816b). Pierre Pidoux, Le Psautier Huguenot du XVI e siècle, 2 vols., Kassel/Basel 1962.

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Robin A. Leaver

against the more recent Das deutsche Kirchenlied bibliography.10 The resulting information is thus dependent upon Zahn's research, which may well need to be corrected, clarified and refined as the volumes of chorale melodies, with critical and source apparatus, which have begun to be issued in Das deutsche Kirchenlied, are completed."

Shared Traditions In the case of some of the tunes, the reason that they are found in both Genevan psalmody and Lutheran hymnody stems from the complex interplay of influence in the origins and development of congregational singing within sixteenth-century Protestantism. The original Wittenberg hymns of Luther and his colleagues, written and introduced during the winter of 1523/24, quickly found their way to Straßburg, where they were reissued with different tunes, together with new metrical psalms and hymns, composed by Straßburg musician-poets.12 Some of the Straßburg tunes subsequently filtered back into the emerging Lutheran chorale tradition,13 among them a few tunes that Calvin incorporated into his French Psalter of 1539, the foundation upon which the Genevan Psalter of 1562 was built. Among the earliest hymnals to introduce a number of Straßburg tunes into Lutheran use was the Kirchen gesenge, mit vil schönen Psalmen vnnd Melodey, issued by Jobst Gutknecht in Nürnberg in 1531. One of these tunes was Es sind doch selig alle, composed in 1525 by Matthias Greiter, Cantor of Straßburg cathedral, for his metrical version of Psalm 119, but in later Calvinist tradition known as Psalm 36 (or Psalm 68). In subsequent Lutheran hymnals the tune was assigned to a number of different texts, but during the last two decades of the sixteenth century its primary association with Sebald Heyden's passion hymn, O Mensch, bewein dein Sünde groß was established.14 The tune, in its two confessional contexts, was set by numerous composers, but the character of these 10

11

12

13

14

Konrad Ameln / Markus Jenny / Walther Lipphardt (eds.), Das deutsche Kirchenlied [DKL]. Verzeichnis der Drucke, 2 vols. (Répertoire Internationale des Sources Musicales, B/VIII 1-2), Kassel 1975-80. Sources are identified here by the abbreviation DKL, followed by the year of publication with a superior number (e. g. DKL 152 5 05 ). Das deutsche Kirchenlied. Kritische Gesamtausgabe der Melodien, ed. by Joachim Stallmann et al., Kassel 1996ff. Melodies found in this anthology are identified by the abbreviation DKL followed by appropriate letter and number codes (e. g. DKL B81). For a summary of the origins of German psalmody and hymnody in Straßburg, see Robin A. Leaver, 'Goostly psalmes and spiritual songes'. English and Dutch Metrical Psalms from Coverdale to Utenhove 1535-1566, Oxford 1991, 22-33. For an outline of Straßburg influence on the Lutheran chorale, see Blankenburg, Geschichte der Melodien (as η. 3), 77-81. Paul Gerhardt wrote another passion hymn with the same first line that first appeared in Criiger's Praxis pietatis melica (Berlin 1647), where it was assigned to the same Greiter tune.

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settings is different, depending on the confessional context within which each composer wrote. Thus Calvinist psalm-motets on Psalm 36 (= 68) by such composers as Goudimel and Sweelinck are generally extrovert, reflecting the texts of the psalms to which the psalm was set in the Genevan Psalter. Such presentations contrast significantly with settings of the passion hymn version, O Mensch, bewein dein Sünde groß, by Lutheran composers, such as Johann Sebastian Bach's chorale fantasia at the end of the first part of the St. Matthew Passion (BWV 244), or his Orgelbüchlein chorale prelude (BWV 622). Straßburg hymnals were also the medium by which some Genevan psalm tunes were passed into Lutheran usage. The most notable example is Psalm 134 (= Old 100th in English use), which first appeared in Pseaumes ociante trois de David, mis en rime Françoise (Geneva 1551).15 The tune was included in Das Newer vnd gemehret Gesangbüchlin, published in Straßburg by Thiebolt Berger in 1562, and included in later Straßburg hymnals. It was disseminated throughout Lutheran Germany via Nürnberg hymnals published from 1584, and associated with a number of different texts in other collections, such as Seth Calvisius, Harmonía Cantionum Ecclesiasticarum (Leipzig 1597), Michael Praetorius, Musae Sionae (Wolfenbüttel 1609), and Melchior Vulpius, Ein schön geistlich Gesangbuch (Jena 1609). In Johann Hermann Schein's Cantional of 1627 the tune was associated with the text Herr Gott, dich loben alle wir, which became the melody's primary associated text in later Lutheran use.16 A further Genevan tune that apparently entered into Lutheran usage through the mediation of Straßburg was Psalm 6, included in Gesangbüchlin von Psalmen, Kirchengesängen, vnd Gaistlichen Lidern, issued by the publisher Bernhart Jobin in 1576. Another tradition that influenced the developing Lutheran chorale was the hymnody of the Bohemian Brethren. The latter-day followers of Jan Hus continued the vernacular hymnody that first developed in Czech and then in German.17 Luther admired the hymns of Michael Weisse, as found in Ein New

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There is the possibility that Psalm 134 was itself inspired by one or other of the earlier German tunes with the same or similar incipit. They include O Herre Gott, dein göttlich Wort (Zahn 5690), dating from Wittenberg 1526, and Nun lob, mein Seel, den Herren (Gramann's metrical version of Psalm 103), in its later version (Zahn 8245), dating from Magdeburg, ca. 1543, both of which were based on the earlier folk melody Weiß mir ein Blümlein blaue (see Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch 3/1, 432-45, and 3/2, 29-31). The early Dutch metrical psalter, Souterliedekens (Antwerp 1540), included a related folk melody, with a similar incipit, Den dach en wil niet verborghen zijn, for Psalm 47. See Souterliedekens. Een Nederlandsch psalmboek van 1540 met de oorspronkelijke volksliederen die bij de melodieën behooren, ed. by Elizabeth Mincoff-Maniage, 's-Gravenhage 1922, 71. By the eighteenth century the melody was sometimes set in 3/4 as well as the usual 4/4, as can be seen in Bach's chorale cantata Herr Gott dich loben alle wir (BWV 130), composed in 1724, which gives the melody in 4/4 in the opening movement and in 3/4 in the closing chorale; see also Bach's four-part settings, BWV 326-327, which are also in 3/4. See Zdenëk Nejedly, Dëjiny Husitského Zpëvu, 6 vols., Prague 1954—1956; Joseph Theodor Müller, Hymnogisches Handbuch der Brüdergemeine, Herrnhut 1916; reprinted Hildesheim 1977.

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Gesengbuchlen (Jungbunzlau 1531; DKL 153102), and adapted some and incorporated others into Wittenberg hymnody. Later editions of the German hymnals of the Bohemian Brethren continued to be quarried for tunes and texts for use in Lutheran hymnals.18 Among the tunes found in these later Brethren hymnals were Genevan psalm tunes. For example, the Brethren hymnal Kirchengesang darinnen die Heubtartickel des Christlichen glauben (Ivancice 1566) included such tunes as Psalm 37, Psalm 50, and Psalm 66, set to texts by Petrus Herbert. Also in the 1566 Brethren hymnal was the "new" tune Mit Freuden zart which was based on the Genevan tune Psalm 138 (see Table 3a). Thus the influence of the Genevan psalm tune was exerted on the Lutheran tradition by the reception of this and later Bohemian Brethren hymnals. Psalm 66 in the 1566 Bohemian Brethren hymnal may have been the source that Johann Baptista Serranus (Seger, or Seeger) used in creating the tune for Paul Eber's Wenn wir in höchsten Noten sein that appeared on a Wittenberg broadsheet the following year, 1567: Das Gebet Josaphat: II. Paral. XX. Primvs discantus [.. J (see Table 3a).19 It is significant for understanding this path of transmission of Genevan tunes that a few years later another hymn by Paul Eber, Herr Jesu Christ, wahr Mensch und Gott, that first appeared on a Wittenberg broadsheet in 1562 where it was assigned to the tune Vater unser im Himmelreich (Zahn 2561)20 became almost universally associated with the Genevan tune Psalm 127 in Lutheran hymnals.21

Oslander and the Cantional Style Evidence of the growing influence of Genevan psalm-singing is found in one of the most important developments of the later sixteenth century that was to have 18

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For an overview of the influence of Bohemian Brethren hymnody on the Lutheran chorale, see Blankenburg, Geschichte der Melodien (as η. 3), 75-77. Zahn 394; DKL B81. On the background, see Konrad Ameln, Wenn wir in höchsten Nöten sein, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 9 (1964), 156-159. See Konrad Ameln, Herr Jesu Christ, wahr' Mensch und Gott, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 7 (1962), 109-115. Luther's melody, Vater unser im Himmelreich (Zahn 2561), is itself closely related to the melody associated with the version of the Lord's Prayer, Begeren wir mit innigkeit (Zahn 3792), in the Bohemian Brethren hymnal of 1531; see Markus Jenny (ed.), Luthers geistliche Lieder und Kirchengesänge. Vollständige Neuedition (Archiv zu Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers 4), Köln et al. 1985, 114— 115. In English psalmody Luther's melody was used as a psalm tune, Old 112th; see Maurice Frost, English & Scottish Psalm & Hymn Tunes c. 1543-1677, London 1953, No. 180. The first movement of Bach's chorale cantata based on Eber's hymn, Herr Jesu Christ, wahr Mensch und Gott (BWV 127), not only employs the tune Psalm 127 as the cantus firmus (in augmentation in the soprano), but the complex counterpoint is marked by the use of a repeated figure, heard in almost every measure, which is the first melodic phrase (in diminution) of the Genevan melody; see Robin A. Leaver, Bach and the German Agnus Dei, in: A Bach Tribute. Essays in Honor of William H. Scheide, ed. by Paul Brainard / Ray Robinson, Kassel 1993, 163-171, esp. 164-166.

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far-reaching effects on the Lutheran chorale tradition. This was the publication of Fünffizig Geistliche Lieder vnd Psalmen. Mit vier Stimmen auff Contrapuncts weise [...] gesetyt [Fifty Spiritual Hymns and Psalms in Four-Part Contrapuntal Settings], by Lucas Oslander (court preacher in Stuttgart), and published by Katharina Gerlach in Nürnberg in 1586.22 Although, as stated on the title page, it was intended for the use of schools and churches in the Duchy of Württemberg, its impact was felt throughout Lutheran Germany. Oslander, though a staunch Lutheran, was almost certainly aware of Calvinist psalmody. He was one of the two court preachers who co-authored the preface to Hemmel's psalter of 1569 (see further below), a work that can be seen as a Lutheran equivalent of the Genevan Psalter. Although no Genevan melodies appeared in the Fünffizig Geistliche Lieder vnd Psalmen the influence of the simple Genevan psalmmotet is pervasive. The reference to "contrapuntal settings" in the title was used in the technical sense of punct contra punct, or nota contra notam, that is, simple chordal settings of the chorale melodies. This "cantional" style, as it has come to be known, owes much to the homophonic settings of the Genevan psalm tunes by Bourgeois and Goudimel, among others, although behind both Calvinist and Lutheran manifestations was the long-standing "faburden" tradition of harmonized chant.23 Oslander's aim was to improve the quality of the singing in church and school by replacing the freer contrapuntal settings of the previous generation with this simpler style, which also moved the chorale melody from the tenor to the soprano voice part. Although it was originally a choral form, in the early seventeenth century the cantional style became the norm for the organ accompaniment of congregational chorales, especially in smaller churches without choirs. The earliest reference to the use of such cantional settings as organ accompaniments occurs in the preface to the Melodyen Gesangbuch (Hamburg 1604), which includes settings by Scheidemann, Decker and Hieronymous and Jakob Praetorius. Important anthologies of cantional settings include those of Eccard (1597), Hassler (1608), Michael Praetorius (1609/10), Schein (1627), and Vopelius (1682). The cantional style, which became a fundamental part of the Lutheran chorale tradition, was thus indebted in origin to the Calvinist note-against-note settings of the Genevan psalm tunes.

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See Friedrich Zelle (ed.), Das erste evangelische Choralbuch (Oslander 1586), Berlin 1903; and Louis Eugene Schuler, Jr., Lucas Oslander and his Fünffizig Geistliche Lieder vnd Psalmen. The Development and Use of the First Cantional, Ph.D. dissertation, St. Louis 1986. See Edith Weber, Le style 'Nota contra Notam' et ses incidences sur le Choral Luthérien et sur le Psautier Huguenot, in: Jahrbuch fur Liturgik und Hymnologie 32 (1989), 73-93; Schüler, Lucas Oslander (as n. 22), 53-57. Osiander's homophonic style had been anticipated by some of Johann Walter's chorale settings as found in his Chorgesangbuch of 1524 and in its later editions.

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The Lobwasser and Becker Psalters Signs of an increasing use of metrical psalms among Lutherans can be found in the latter part of the sixteenth century. This gradual development was due in part to the need for a simpler form of psalmody for the daily worship of Lutheran court chapels, in contrast to parish churches where schools provided choirs to sing prose psalms to the traditional psalm tones, an earlier practice that was continued in the reformed daily offices. But the influence of Calvinist psalmody also exerted some pressure on Lutheran practice. From the beginning the Lutheran chorale had included a significant proportion of metrical versions of the Psalms, such as those by Luther, including Ein feste Burg (Psalm 46), Es wollt uns Gott gnädig sein (Psalm 67), and Aus tiefer Not (Psalm 130), among others; indeed, Luther is credited with the invention of the genre.24 The first Wittenberg hymnal, the so-called Chorgesangbuch of Johann Walter of 1524, included ten metrical psalms.25 Thereafter most Lutheran hymnals included a section of such psalms. The titles of these hymnals were usually some variation on the theme "Psalms and Hymns of Martin Luther and Others." But in German-speaking Reformed areas there was a more pronounced emphasis in favor of metrical psalmody as against general hymnody. The first Reformed German psalter comprising all 150 psalms was issued in Augsburg as early as 1537. Within a generation or so a tendency developed among Lutherans to follow suit and issue complete psalters to be used alongside their (now-expanded) hymnals. Examples include Hansen Gamersfelder's Der gantz Psalter Dauids, in gesangs weyse gestelt (Nürnberg 1563), and Sigmund Hemmel's Der gantze Psalter Dauids, wie derselbig in Teutsche Gesang verfasset (Tübingen 1569), which was produced for the Württemberg court in Stuttgart. Such anthologies were made up of metrical psalms by various authors and either indicated or included the Lutheran chorale melodies to which they were to be sung. No Genevan tunes were included, although it is clear that they were increasingly becoming known in some Lutheran circles.26 With the growth of Reformed areas in Germany, various attempts were made to produce German metrical psalms that could be sung to the Genevan psalm tunes. An important example is the Psalmen vnd Geistliche Lieder (Heidelberg 1567; DKL 1567U4), intended for use in the Calvinist congregations of Electoral Palatinate. But by far the most influential was the psalter of Ambrosius Lobwasser; the earliest edition is Der Psalter deß Königlichen Propheten Dauids,

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See Markus Jenny, Das Psalmlied. Eine Erfindung Martin Luthers, in: Internationale Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie Bulletin 5 (1977), 34f. See Leaver, Goostly Psalmes (as n. 12), 8. Nicolaus Seinecker, pastor of the St. Thomas church and professor of theology at Leipzig, one of the primary authors of the Formula of Concord (1577), was also a composer. At least one of his many chorale melodies, Nun laßt Gott dem Herren, which first appeared in his Christliche Psalmen, Lieder vnd Kirchengesenge (Leipzig 1587), was clearly modelled on the Genevan psalm tune style; see Table 3b.

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Tradition

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Jn deutsche reymen gebracht [...] (Leipzig 1573; DKL 157303). The index volume of the DKL bibliography lists around 800 editions of Lobwasser's psalter and Lobwasser-related collections that included the Genevan tunes, published between 1573 and 1800, and more editions have come to light since the bibliography was published. 27 The Lobwasser psalms, with their Genevan melodies, were widely disseminated within Calvinist areas and their popularity exerted considerable influence on Lutheran worship. Some Lutheran congregations began to use the Lobwasser psalms, but not without theological opposition from senior clergy who argued that by singing them these congregations were in danger of inadvertently imbibing Calvinist doctrine and thereby subverting Lutheran confessionalism. Thus the inscription on the Nordhausen organ, cited at the beginning of this chapter, may well have been an implicit warning against the singing of Lobwasser's Calvinist psalms. Within a decade or so of its first appearance, some of the Genevan melodies as well as some of the texts found in Lobwasser's psalter began to be included in Lutheran collections. The Haus Kirchen Canterei [...] In liebliche bekandte Melodeyen Gebracht, by Paschasius Reinigius (Bautzen 1587), contained eleven Genevan tunes, 28 disguised under such descriptions as "Montagische Gesänge" [Monday Songs], or "Niederländische Melodien" [Dutch Melodies]. They were assigned to various German hymn texts, though Psalm 140 was given with Lobwasser's version of the Psalm. In the second part of Geistliche Kleinod [...] mit angehängten Geistlichen Liedern [...] (Leipzig 1592) an appendix with a heading that includes a specific reference to Lobwasser psalms was included. In his bibliographical description of the volume Zahn notes that it included "melodies from the French Psalter (Lobwasser)", 29 but, apart from Psalm 8, they cannot be identified from Zahn's data. Two collections by the Leipzig Thomaskantor, Seth Calvisius, included a number of Genevan tunes, as well as a few of the texts of Lobwasser's metrical psalms. At the end the fiftytwo Latin hymns of his Hymni sacri Latini et Germanici (Erfurt 1594), Calvisius included ten German hymns, of which four were Lobwasser psalm texts, and three were set to Genevan psalm tunes: Psalm 127, Psalm 134, and Psalm 140. In Harmonía Cantionum Ecclesiasticarum (Leipzig 1597) Calvisius included just one Genevan tune: Psalm 1. The part books issued as Gesangbuch, Darinnen Psalmen unnd Geistliche Lieder D. Martini Lutheri (Eisleben 1598), included two Lobwasser psalm texts and five Genevan tunes.30 Clearly Genevan psalmody was making inroads into the Lutheran chorale tradition, causing concern to many Lutheran theologians and pastors. One of Calvisius's clerical colleagues in Leipzig, Cornelius Becker, first deacon and

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For the melodies in Lobwasser, see DKL III/2: Textband, 147-214. Psalm 30, Psalm 37, Psalm 42, Psalm 66, Psalm 77, Psalm 78, Psalm 89, Psalm 101, Psalm 130, Psalm 138, Psalm 140. Zahn, Melodien (as η. 6), 6, 84. Psalm 91, Psalm 128, Psalm 130, Psalm 131*, Psalm 140*; asterisks denote tunes given with the appropriate Lobwasser text.

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then (from 1594) pastor of the St. Thomas church, produced a Lutheran psalter, clearly intended to displace the Reformed psalter of Lobwasser: Der Psalter Davids Gesangweis, auff die in den lutherischen Kirchen gewöhnlichen Melodeyen zugerichtet [The Psalter of David in Song Set to the Common Melodies of the Lutheran Churches] (Leipzig 1602; DKL 160202), with later imprints in 1603, 1605, 1607, 1619 and 1621).31 Here was a metrical psalter whose texts were reliably "Lutheran" - Luther's metrical psalms were incorporated into the psalter. Its texts were to be sung, not to the tunes of the Calvinist psalter, but rather to commonly used Lutheran chorale melodies. Further, the psalter was commended by a leading Lutheran theologian, Polycarp Leyser, Saxon court preacher in Dresden, who had been actively involved in the process that led to the publication of the Formula of Concord. Within a few years Calvisius issued his own edition of the Becker Psalter (Leipzig 1605, reprinted several times, reaching a fifth edition in 1622), which included forty-three of his four-part settings. Over the years individual texts of the Becker psalms, associated with a variety of melodies, were incorporated into the many hymnals that appeared in following generations. Almost a quarter of a century after the appearance of Calvisius's edition of the Becker Psalter, Heinrich Schütz published his own version: Psalmen Davids, Hiebevorn in Teutzsche Reimen gebracht, durch D. Cornelium Beckern, Vnd an jetzo Mit Einhundert vnd Drey eigenen Melodeyen, darunter Zwey vnd Neuntzig Newe, vnd Eylff Alte, Nach gemeiner Contrapuncts art in 4. Stimmen gestellet [Psalms of David, heretofore brought into German Verse by Dr. Cornelius Becker, Now Given with One Hundred and Three Special Melodies, of which Ninety-two are New, and Eleven Old, Set in Four Parts in the General Contrapuntal Style] (Freiberg 1628). The reference to "Contrapuncts art" echoes the title page of Osiander's pioneering Cantional of 1586, and Schütz's fourpart settings are similarly in the simple note-against-note style of Reformed psalm motets, except that many cadences tend to be somewhat more extended and elaborate. The newly-composed melodies by Schütz clearly owe much, both melodically and rhythmically, to the Genevan psalm tune. A great deal of attention has rightly been given to Schütz's debt to the Catholic polychoralism of the Gabrielis that he experienced in Venice between 1609 and 1613, but his knowledge of the tradition of Calvinist psalmody is easily overlooked. Schütz's patron, Moritz, Landgrave of Hessen-Kassel, who sent him to Italy and employed him after his return, had already moved in a strongly Calvinist direction, and had authorized the publication of the first Lobwasser psalter in Kassel: Psalmen Davids, Nach Französischer Melodey vnd Reymen art in Teutsche reymen gebracht, Durch Ambrosium Lobwasser [...] (Kassel 1607; DKL 160709). But the 31

It was also translated into Latin for use in Lutheran schools: Cithera Davidica LutheroBecceriana (Magdeburg 1609), with four-part settings by Heinrich Grimm, a student of Michael Praetorius; see Eduard Emil Koch, Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs der christlichen, insbesondere der deutschen evangelischen Kirche, 3rd ed., 8 vols., Stuttgart 1860-1871, vol. 2, 222.

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Landgrave did more than authorize the volume: he also composed three melodies, in the Genevan style, for psalms not assigned their own tune in the French psalter,32 as well as twenty-seven four-part settings in simple note-against-note homophony. Thus some two decades later in 1627, when Schütz came to compose his Becker Psalter settings, he did so following the example of his former patron. Schiitz's Becker Psalter was designed for use in the Dresden court chapel, where he was "Capellmeister", but had some currency throughout Germany - it was reprinted in 1640 and revised in 1661. The revised version was further reissued in 167633 - especially in other Lutheran court chapels. The combined influence of Lobwasser and Becker led to the creation of an interesting hybrid psalter: Der Lutherisch Lobwasser. Das ist Der ganze Psalter Davids, by Johann Wüstholtz (Rothenburg 1617; DKL 161710; reprinted 1618, 1621 and 1633). Wüstholtz modelled his psalm texts on those of the "Lutheran" Becker, but cast them in the same metres as "Lobwasser" so that his psalms could be set to the associated tunes of the Genevan Psalter. This expansive use of Genevan melodies probably influenced another Rothenburg hymnal, Sebastian Stüx's Geistliche Psalmen, Hymni vnd andere Kirchengesäng (Rothenburg 1639), which included at least one such tune (Psalm 35). The Wüstholtz psalter was clearly an exception, but the texts and tunes of the Lobwasser psalter continued to influence the content of early seventeenthcentury Lutheran sources. Michael Praetorius, "Kapellmeister" in Wolfenbüttel, included twenty-one arrangements - some of them large-scale, polychoral settings - of Lobwasser psalms, with their associated melodies, in his many church music publications issued in the early seventeenth century. Significantly, ten settings (about a quarter of the volume) appeared in the fourth part of his Musae Sioniae (Jena 1607), dedicated to the Calvinist Elector Palatine.34 A new edition of a hymnal that had originally appeared in 1587, issued as Harmoniae sacrae, vario carminum Latinorum et Germanicorum genere (Görlitz 1613), included two Lobwasser texts (Psalm 23 and Song of Simeon) and three tunes (Psalm 23, Psalm 42 and On laisse Creatur).3S According to Zahn, Concentus ecclesiastico-domesticus (Breslau 1618), by Samuel Besler, "Cantor" in Breslau, contained "many" Genevan tunes, but, apart from Psalm 33, which appeared with its associated Lobwasser text, they cannot be identified from his data. Besler also used Psalm 65 as the tune for his Christmas hymn, issued as a broadside: New anmuttig WeyhnachtLied (Brieg 1619). In the second edition of his hymnal that first appeared in 1609, Geistliche Psalmen und Kirchengesänge (Nürnberg

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For Psalms 67, 95, and 98, respectively Zahn 7991, 2669, and 6003. The settings in the two versions of Schiitz's Becker Psalter are found in Heinrich Schütz, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Kassel 1955ff, vol. 40 (1628) and vol. 6 (1661). See Blankenburg, Church Music in Reformed Europe (as η. 4), 552. Another Görlitz publication, which Zahn suggests originally appeared in 1652, though the earliest known imprint is Passionale melicum by Martin Janus (Jahn) (Görlitz 1663), included Genevan Psalm 9.

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1629), Johann Jeep included an appendix of twenty-four Lobwasser Psalms, together with their associated Genevan melodies.36

Criiger and the Praxis pietatis

melica

The Electorate of Brandenburg joined the Lutheran Reformation in 1539, though the Elector, Joachim II, was perhaps in favour of the change more for political rather than religious reasons. He was designated "highest bishop" of the reformed church, an office that survived into the early twentieth century. While the Elector himself remained committed to Lutheranism the churches of the Electorate were largely undisturbed, but when his successor Johann Sigismund formally became a Calvinist in 1613, tensions arose between the Calvinist court and the Lutheran populace. One of Johann Sigismund's early edicts (1614) prohibited polemical preaching against another confession, under penalty of exile, and subscription to the Formula of Concord was no longer a necessary prerequisite for ordination. The Thirty Years War (1618-1648), in essence a tripartite religious war between Catholics, Lutherans and Calvinists, brought devastation to most of Germany. Survival was uppermost in most people's minds and a distinct internalization of spirituality occurred during this period that found expression in the newer hymns included in hymnals published from the 1640s, notably those of Paul Gerhardt. Within Electoral Brandenburg a kind of truce prevailed between Lutherans and Calvinists, but when Friedrich Wilhelm, known as "the Great Elector", succeeded his father in 1640, a marked change to the status quo occurred. The new elector had spent much of his youth in Calvinist Netherlands, and in 1646 would marry a princess of the House of Orange. He anticipated the Prussian Union Church that came into being in the earlier nineteenth century by proposing a union of both Calvinists and Lutherans under his leadership as the "highest bishop." But Lutherans had difficulty with a measure that they saw as the dilution of their confessionalism, and the proposed union did not occur. The increasing Calvinist influence in Electoral Brandenburg is reflected in some of the Lutheran hymnals that included Genevan psalm tunes. For example, between 1635 and 1645 Johannes Stobäus, former student of Johann Eccard and "Capellmeister" in Königsberg, produced a sequence of hymnic publications that made use of several Genevan psalm tunes.37 Similarly, Heinrich Albert, in his Poetische-Musicalisches Lust-Wäldlein, das ist, Arjen (Königsberg 1648), included two Lobwasser psalms with their associated Genevan melodies (Psalm

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They include: Psalm 5, Psalm 20, Psalm 23, Psalm 33, Psalm 38, Psalm 47, Psalm 61, Psalm 93, Psalm 97, Psalm 121. They include: Psalm 17, Psalm 25, Psalm 33, Psalm 66, Psalm 77, Psalm 89, Psalm 107, Psalm 138, Psalm 148.

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125 and Psalm 146). But the influence of Calvinist psalmody was perhaps most evident in Berlin, in the enormously successful hymnal of Johann Crüger, which had a significant impact on later Lutheran hymnody. Crüger was appointed the "Cantor" of the St. Nicholas church and the Grauen Kloster Gymnasium in Berlin in 1622, where he remained for the rest of his life. His first hymnal appeared the same year that Friedrich Wilhelm became the Elector of Brandenburg: Newes vollkömliches Gesangbuch, Augspurgischer Confession (Berlin 1640). This ground-breaking collection was the first publication to give the melodies with just their figured basses. The other two voices, alto and tenor, were supplied the following year in an appendix that was bound in with the hymnal: AItus und Tenor. Geistlicher Kirchengesänge, Augspurgischer Confession, Mit 4. Stimmen Vbersetzet Von Johann Crüger (Berlin 1641).38 The hymnal contained 240 texts, among them one or two psalm versions of Lobwasser, such as Psalms 23 and 137, and melodies of which at least two were Genevan tunes (Psalm 23 and Psalm 127). Crüger composed eighteen melodies that first appeared in this collection, and at least one of them, Herzliebester Jesu, was clearly influenced by the Genevan style. Here he was following in the footsteps of others, such as Selnecker and Schein, who had earlier composed tunes in a very similar style to that of the Genevan melodies (see Table 3b).« Crüger brought out what amounts to a second, expanded edition of his hymnal, but issued with a new title page: Praxis pietatis melica. Das ist Vbung der Gottseligkeit in Christlichen und Trostreichen Gesangen [...] (Berlin 1647).40 Under this title, it proved to be the most successful and widely-known Lutheran hymnal of the seventeenth century: by 1737 it had reached a forty-fifth edition, having been published in Frankfurt, Greifswald, Schaffhausen, and Stettin, as well as in Berlin (see Table 2). The 1647 edition contained 383 texts, eighteen by Paul Gerhardt, then a private tutor in Berlin, and 170 melodies, including the following Genevan psalm tunes (those marked with an asterisk were given with the appropriate Lobwasser psalm text): Psalm 6, Psalm 8, Psalm 23*, Psalm 38*, Psalm 65, Psalm 77, Psalm 103, Psalm 130, Psalm 137*. By the fifth edition of 1653 another group of Genevan psalm tunes had been added: Psalm 33, Psalm 42, and Psalm 148. Gerhardt's Befiehl du deine Wege was assigned the

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See Johann Friedrich Bachmann, Zur Geschichte der Berliner Gesangbücher. Ein hymnologischer Beitrag, Berlin 1856, 20f. The origins of Herr Jesu Christ, dich zu uns wend, another tune composed in a Genevan style (see Table 3b) are uncertain, but it probably first appeared in 1628, although the earliest extant source dates from 1648; see Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch, 3/1, 454-456. Zahn, Melodien (as η. 6), 6, 171f, estimated the year of publication as "1648", because the copy he worked from lacked its title page; see Wilhelm Nelle, Geschichte des deutschen evangelischen Kirchenliedes, 3rd ed., Leipzig 1928, 105. Crüger also prepared a collection of settings of the melodies found in his Praxis pietatis melica for voices and instruments: Geistliche Kirchen Melodeien [...] in 4. Vocal- und 2 Instrumental-Stimmen, als Violinen und Cornetto [...], a set of six part-books (Berlin 1649; DKL 164915).

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tune by Bartholomäus Gesius that first appeared in the composer's Enchriridium [sic] Etlicher Deutscher vnd Lateinischen Gesengen (Frankfurt/Oder 1603), a tune that was based on Genevan Psalm 128. But Criiger himself also adapted Genevan tunes, such as Psalm 54, Psalm 66, Psalm 89 and Psalm 97, which were refashioned into O Jesu Christ, dein Kripplein, Nun danket all und bringet Ehr,4* and Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut, again following the examples of Teschner, who based his Valet will ich dir geben on Psalm 3, and Demantius, whose Gott des Himmels und der Erden owes much to Psalm 42.42 Similarly, as he had done earlier, Criiger also composed melodies in a Genevan style, such as Schmücke dich, o liebe Seele (see Tables 3a and 3b).43 The Peace of Westphalia, ratified 24 October 1648, ended the Central European phase of the Thirty Years War. Under its provisions the duchy of Brandenburg was expanded to include Pomerania and the former Catholic dioceses of Halberstadt and Minden and provided for the inclusion of Magdeburg at a later date. The treaty further modified the provision of the 1555 Peace of Augsburg that had ruled that the religion of the prince (Catholic or Lutheran) should determine the religion of the principality (under the Latin formula cuius regio, eius religio), by formally incorporating the third confessional possibility of Calvinism. After the ratification of the Peace of Westphalia, Friedrich Wilhelm intensified his efforts to promote Calvinism among his still largely Lutheran subjects. In 1652 the music program of the former Catholic cathedral was renewed with regard to Reformed worship, and the following year a hymnal was issued, D. M. Luthers Und anderer vornehmen geistreichen und gelehrten Männer Geistliche Lieder und Psalmen (Berlin 1653; DKL 165301), edited by the Berlin printer and publisher Christoff Runge. Although ostensibly Lutheran and making much use of Criiger's work, it included Reformed hymns not usually found in Lutheran collections.44 Around the same time Criiger was commissioned to provide four-part settings of the Genevan melodies associated with the Lobwasser Psalter for Calvinist worship in Berlin. These were eventually published as Psalmodia sacra, Das ist: Des Königes und Propheten Davids Geistreiche Psalmen, durch Ambrosium Lobwasser, D. [,] aus dem Frantzösischen, nach ihren gebräuchlichen schönen Melodien, in Deutsche Reim-Art versetzet [...] [Psalmodia sacra, that is, the Spiritually Rich Psalms of the King and Prophet David, Translated by Ambrosius Lobwasser, Dr., from the French into German rhymes, with their Usual Beautiful Melodies] (Berlin 1658; DKL 41

42

43

44

As well as being closely based on pairs of melodic lines from Psalm 89 and Psalm 97, Nun danket all und bringet Ehr has strong echoes of other tunes, such as Psalm 66 and Psalm 75. This similarity occurs because many of the Genevan tunes duplicate the same melodic lines found in other tunes; see the examples given in Pratt, Music of the French Psalter (as n. 5), 48f. See Siegfried Fomaçon, Psalm 42 aus Genf, in: Jahrbuch fur Liturgik und Hymnologie 4 (1958/59), 111-114. See Siegfried Fornaçon, Johann Crüger und der Genfer Psalter, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 1 (1955), 115-117. See Bachmann, Berliner Gesangbücher (as η. 38), 30-45.

Genevan Psalm Tunes in the Lutheran Chorale Tradition

159

165805; further editions were issued in 1676, 1700 and 1704). This work was issued with a second part, D. M. Luthers wie anderer gottseligen und Christlichen Leute Geistliche Lieder und Psalmen (Berlin 1657; DKL 165704), which was a reissue of Runge's hymnal of 1653. Perhaps the hope was that the double hymnal would bring the two confessions together, the psalter with all the Genevan tunes for the Calviniste, and the hymnal for the Lutherans. In the event the two confessions went their separate ways, especially when the Elector demanded the abandonment of the Formula of Concord. For refusing to subscribe to the elector's demands, six Lutheran clergy were dismissed from their pastoral offices in 1661. One of them was Paul Gerhardt, pastor of the St. Nicholas Church since 1657, a close colleague of Criiger, most of whose hymns were included in various editions of the Praxis pietatis melica. Given this climate it is not surprising to find that during the second half of the seventeenth century only four Genevan tunes were apparently added to the Praxis pietatis melica: Psalm 3, Psalm 66, Psalm 74 and Psalm 112. The Praxis pietatis melica is to be seen as part of the significant seventeenth-century Erbauungsliteratur later embraced by the Lutheran Pietist movement, itself to some extent influenced by Calvinist theology. Indeed, the founder of Pietism, Philip Jacob Spener, wrote a preface to the twenty-ninth edition of Praxis pietatis melica (1702) in which he drew attention to the fact that the title was adapted from a book by the English Puritan Lewis Bayley: The Practice of Piety (published in German: Zurich 1629; Lübeck 1631).45 Bayley's book inspired the term "Pietism" and was a major influence on pre-Pietist and Pietist authors alike,46 creating the concern among Orthodox theologians that, in Pietism, they faced another version of the Crypto-Calvinist controversy. One of the most important pre-Pietist authors was Heinrich Müller, who published a hymnal, Geistliche Seelen Musik (Rostock 1659),47 that employed four Genevan tunes (Psalm 8, Psalm 33, Psalm 38, and Psalm 66). As all these tunes were included in the Praxis pietatis melica, it seems likely that it was Müller's source. In Müller's Geistliche Seelen Musik Psalm 66 was given with the text Laßt uns dem Herren sämtlich danken by Johann Francke, another prePietist, mystical author and hymnwriter, whose collection Geistliches Sion Das ist: Neue Geis ti. Lieder und Psalmen (Guben 1674) incorporated twelve Genevan tunes, via Lobwasser,48 and fourteen (twelve by Criiger) from the twelfth edition of Praxis pietatis melica of 1666. Another collection influenced by Praxis pietatis melica and the Lobwasser psalter was that issued by the printer and publisher Friedrich Reusner under the title: Preußisches Neu verbessert-vollständiges Kirchen- Schul- und Hauß-Gesangbuch [...] Theils mit Sei.

45

46 47

48

Ibid., 46; see also Christian Bunners, Philipp Jakob Spener und Johann Crüger. Ein Beitrag zur Hymnologie des Pietismus, in: Theologische Versuche 14 (1985), 105-130. It also exerted a major influence on the English author John Bunyan. On the background, see Christian Bunners, Kirchenmusik und Seelenmusik. Studien zu Frömmigkeit und Musik im Luthertum des 17. Jahrhunderts, Berlin 1966, esp. 113-167. Including Psalm 74, Psalm 78, Psalm 103 and Psalm 137.

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Robin A. Leaver

Eccardi, Stobaei, Alberti under anderer Vornehmen Preußischen Musicorum Melodeyen (Königsberg 1675). Of the fifty-one melodies seven were by Crüger and eight were Genevan tunes, almost certainly taken from Lobwasser, since only two of them were to be found in the Praxis pietatis melica, and two others appear with their associated Lobwasser texts.49 A similar pattern of influence can be seen in the various hymnals produced by the Stern publishing house in Lüneburg. In the Vollständiges Gesang Buch (Lüneburg 1661), of the fifty-two tunes, eight were taken from the Genevan Psalter, almost certainly via Lobwasser,50 and five were by Crüger. Similarly, of the 110 melodies in the Lüneburgisches Gesangbuch, Darinn 2000 [...] geistreiche Lieder (Lüneburg 1686), thirty (sixteen by Crüger) were taken from various editions of the Praxis pietatis melica, and five from the Genevan Psalter, probably via Lobwasser.51 The twenty-ninth edition of the Praxis pietatis melica of 1702, for which Spener wrote the preface, included a number of texts by Pietist authors,52 and the specifically Pietist hymnal edited by Johann Anastasius Freylinghausen, the Geist-reiches Gesang-Buch (Halle 1704), utilized four (three by Crüger) melodies from the Praxis pietatis melica, but only one from the Genevan Psalter (Psalm 8).

Overview of Origins and Later Developments As stated near the beginning of this essay, the data presented here has been derived from the research of Johannes Zahn. As the material was worked through, some small discrepancies between statements found in his bibliographical descriptions became evident when compared with the details recorded with each of the individual melodies. One gains the impression that Zahn became more careful as his monumental project progressed. For example, it appears that when he began his research he did not always record the associated text(s) with a particular tune, as he did later. Thus, to reiterate the earlier statement, the findings here are dependent on Zahn's research - a remarkable piece of work that is still the primary reference after more than a century, and one has to record that Zahn was considerably more right than wrong. Even though relatively minor limitations are present, a clear picture of the Lutheran use of the Genevan melodic tradition emerges. During its formative period the Lutheran chorale tradition made significant use of Genevan psalm tunes, either directly, by using the tunes themselves, or indirectly, by developing tunes that were composed in a Genevan style. A few 49

50 51 52

Psalm 13, Psalm 25, Psalm 33, Psalm 38, Psalm 88*, Psalm 89, Psalm 125, and Psalm 146*; asterisks denote the tunes that appear with the appropriate Lobwasser text. Including Psalm 5, Psalm 25, Psalm 38, Psalm 130 and Psalm 148. Including Psalm 9, Psalm 33, Psalm 74, Psalm 148. Bachmann, Berliner Gesangbücher (as n. 38), 109.

Genevan Psalm Tunes in the Lutheran Chorale Tradition

161

Lutherans sang many of the 1562 Genevan psalm tunes, either from the Lobwasser Psalter, or from Wüstholz's Lutherisch Lobwasser. Most Lutherans sang a moderate selection of Genevan psalm tunes, or tunes modelled on their style, those edited or composed by Johann Crüger being particularly influential. Taken together, as Table 1 indicates, around fifty Genevan tunes found a place within the regular Lutheran chorale tradition, with three or four being sung almost universally. Later more Genevan tunes would enter into Lutheran usage. In the eighteenth century Georg Philipp Telemann's Fast allgemeines Evangelisch-Musicalisches Lieder-Buch (Hamburg 1730; DKL 173011) included at least fifteen Genevan tunes, though none are identified as such. Telemann was a good businessman and his "general" collection of tunes could therefore be used by Lutherans and Reformed alike. But the effect of his collection, and others like it, was that during the latter part of the eighteenth century, when the influence of Rationalism reduced the significance of confessionalism, Lutherans were more open to singing Genevan melodies. In the nineteenth century, especially after the Prussian Union between Lutherans and Calvinists, even more Genevan tunes were sung by Lutherans. Thus when Fridrich Layriz compiled his fourvolume anthology Kern des deutschen Kirchengesangs zum Gebrauch evangelisch-lutherischer Gemeinden und Familien (Nördlingen 1853-1855), as part of the movement to restore the Lutheran chorale tradition to its sixteenth- and seventeenth-century character, he nevertheless included fifteen or more Genevan tunes. But all these additional tunes had been readily accessible in the Lobwasser Psalter since 1573. Thus, in the working out of Luther's desire that there should be "more songs in the vernacular for the people to sing",53 the Lutheran tradition, during its formative years, made use of the kind of melody that, according to Calvin, carried "the weight and majesty proper to the subject [...] [and is] [...] proper to sing in the Church".54

53

54

Luther in the Formula missae et communionis (1523), cited in David Music (ed.), Hymnology. A Collection of Source Readings, Lanham 1996, 38. Calvin's preface to the 1543 Genevan psalter, cited in Music, Hymnology (as n. 53), 68.

162

Robin A. Leaver

Table 1. Genevan Melodies and their Associated Texts in non-Calvinist, German Sources Genevan Melody Ps. 1 Ps. 3 Ps. 5=64 Ps.

6

Ps.

8

Ps.

9

Ps. Ps. Ps. Ps. Ps.

13 17=63=70 19 20 23

Ps. 25 Ps. 30=79= 139 Ps. 33

Ps. 35 Ps. 36=68

Ps. 37 Ps. 38

Ps. 42

Ps. Ps. Ps. Ps. Ps.

47 50 61 65=72 66=98= 118

Ps. 74=116 Ps. 77=86

55

German First Line ? text (1597) Weil dir, o Gottes Freund (1675) O Herr, dein Ohren zu mir kehre5¡ (1629) Mein Wort, O Herr, und was ich klage (1661) Nun preist und lobt den Herren (1576) Wenn in den größten Ängsten (1647) ? text (1592) Der Tag ist hin, mein Jesu (1704) Als unser Herr zu Tische saß (1663) Jetzt bricht der Sonnenglanz (1686) Es will des lieben Kreutzes Pein (1675) Gleichwie ein Läufer seine Jahr (1639) So bald, o frommer Christ (1678) Der Herr erhör dich in Gefahren (1629) Mein Hüter und mein Hirt ist Gott (1613) Wie gut hab ichs! Mein Hirt ist Gott (1617) Du großer Herr, du Helfer (1663) Nimm mich weg, Gott, für dem Jammer (1642) Nach dir, Herr, steht mein Verlangen (1661) Allmächtiger Gott, Vater mein (1587) Wohlauf, ihr Heiligen und Frommen (1618) 0 wer doch überwunden hätte (1639) Gott höre mein Gebet und Thränen (1653) Ficht wider meine Anfechter (1639) Es sind doch selig alle (1525) Als Jesus Christus unser Herr (1544) Komm, heiliger Geist, o Gottes Salb (1573) O Mensch, bewein dein Sünde groß (ca. 1584) Laßt uns mit Lust und Freud (1566) Sanftmütiger Gott (1587) Herr, zur Zucht in deinem Grimme (1629) Herr, laß deines Eifers Plagen (1653) Herr, geuß deines Eifers Flammen (1659) O Gott Vater und Gott Sohne (1587) Freu dich sehr, o meine Seele (1613) Unsre müden Augenlider (1653) Nun ihr Völker all, frohlocket (1629) Kommt her zu mir, ihr Kinder (1566) Thu, Herr, mein Geschrei erhören (1629) Zu Zion wird dein Nam erhoben (1619) Preis, Lob und Dank sei Gott (1566) Herre und Gott, ich thu dich preisen (1587) So lobt nun Gott, ihr seine Knechte (1635) Laßt uns dem Herren sämtlich danken (1659) ? text (1656) Ewiger Gott (1587) Ach Gott, in was große (1629) Herr, nicht schicke deine Rache (1645)

Zahn No. 3096b 8234 1796

DKL No. Fai Fa3 Fa5

2266

Fa6

923

Fa8

702

Fa9

1791 5927 8232 5940 3199

Fal3A Fal7 Fai 9 Fa20A Fa23A

6678

Fa25

2652 7990

Fa30 Fa33

5881 8303

Fa35 Ebl4A

3159

Eg235 b

3531

Fa36

6543

Fa40

8337 3094 3532 5933 6002

Fa45A Eg206A/B Fa58 Fa59 Egl73A

859 6863

Fa61 Fa63

First lines in italics indicate German metrical psalms from the Lobwasser Psalter.

Genevan Psalm Tunes in the Lutheran Chorale Tradition Genevan Melody Ps. 78=90

Zahn No. DKL No. 3198 Fa64

Ps. Ps. Ps.

2725 3211 5694

Fa72 Fa73 Fa74

819 7191 367 919 3187 5261 3060

Fa76 Fa79 Fa81 Fa82 Fa84 Fa88 Fa90

2350 2738

Fa97 FalOl

2570

Fa94

5360 5352

Fa 103 Fa 104

368

Eb52A

3186

Fa 109

8268

Egl52A

750 3613 5866

B81A Fai 13 Fai 14

2126

Fa48

Ps. Ps. Ps. Ps. Ps. Ps. Ps. Ps. Ps. Ps. Ps. Ps.

Ps.

Ps. Ps. Ps. Ps. Ps. On

German First Line Christe, Gottes Sohn (1587) Komm her, mein Hort, komm bald (1674) O Gott, mein Helfer und Heiland (1675) 88 Ewiger Gott, barmherziger (1587) 89 91 HerT Jesu Christ, allein du bist (1598) Wer in deß allerhöchsten hut (1617) Gott als ein König g 'waltiglich regiert ( 1629) 93 Der Herr ein König ist (1629) 97 100==131=142 Ihr Völker auf der Erden all (1598) 101 Warum toben die (1587) Mein Herz, du sollst den Herren ( 1647) 103 107 Daß Gott mit seinen Gnaden (1640) 112 Wohl diesem Menschen, der den Herren (1679) Der Tag der ist nun auch verfloßen (1703) 121 Mein Augen ich gen Berg aufricht ( 1629) 125 All ' die auf Gott den Herren haben (1648) Bei diesem hochbetrübten Leben (1675) 127==117 Herr Jesu Christ, wahr Mensch und Gott (ca. 1570) Nimm von uns, Herr, du treuer Gott (1640) 128 Wacht auf ihr Christen alle (1598) 130 Jesu, du frommer Gotte (1587) Ich dank dir, lieber Herre (1598) Ach Herr, mit großen Schmerzen (1647) Aus diesem tiefen Grunde (1661) 134 Nun mach uns heilig (1562) Gesegn uns Gott die Gaben (1609) Herr Gott, dich loben alle wir (1627) 137 Da wir zu Babylon am Wasser saßen ( 1647) Bei Babel, wo die Ströme seewärts schießen (1674) 138 Gelobt sei Gott (1587) So lang ich noch das Leben hab (1640) 140==10 Comm. Errett' mich, o mein lieber Herre (1587) 146 Meine Seel mit allem Fleiße (1648) Gott gönn uns seiner Gnaden (1642) 148 Ihr Himmel lobt des Herren Macht (1686) laisse Creatur Laß deinen Knecht [Song of Simeon] (1613)

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Table 2. Bibliography of German Tunebooks and Hymnals, in Chronological Order Editor/Compiler Matthias Greiter?

Title DKL/Zahn Theütsche kirchen ampt mit lob gsengen [vnd] göttlichen 1525 Psalmen, Straßburg: Köpphel, 1525. [Gutknecht] Kirchen gesenge, mit vil schönen Psalmen vnnd Melodey [...], 153104 Nürnberg: Gutknecht, 1531. [Berger] Das Newer vnd gemehret Gesangbüchlin [...] Psalmen, Hymni, 156208 Geistliche Lieder [...], Straßburg: Berger, 1562. Michael Tham et Kirchengesang darinnen die Heubtartickel des Christlichen 156604 al. glauben [...], [Ivancice]: [s.n.], 1566. Joh. Bapt. Serranus Das Gebet Josaphat: Π. Paral. XX. Primvs discantas [...], 156712 Wittenberg: Schwertel, 1567. Broadsheet. [Jobin] Gesangbüchlin von Psalmen, Kirchengesängen, vnd 157607 Gaistlichen Lidern [...], Straßburg: Jobin, 1576. Lucas Oslander Fünfftzig Geistliche Lieder vnd Psalmen. Mit vier Stimmen 158611 [...], Nürnberg: Gerlachin, 1586. Paschasius ReiniHaus Kirchen Cantorei [...] In liebliche bekandte Melodeyen 158708 gius Gebracht, Bautzen: Wolrab, 1587; reissued in 1588. Nicolaus Seinecker Christliche Psalmen, Lieder, vnd Kirchengesenge [...], Leipzig: 158710 Beyer, 1587. [Leipzig] Geistliche Kleinod [...] mit angehängten Geistlichen Liedern 159213 [...] Der ander Theil, Leipzig: Berwald, 1592. Seth Calvisius Hymni sacri latini et germanici [...] Quatuor vocum Harmonía, 159416 Erfurt: Baumanni, 1594. Seth Calvisius Harmonía Cantionum Ecclesiasticarum [...] Kirchengesang vnd 159704 Geistliche Lieder [...], Leipzig: Schnelholtz, 1597; reissued in 1598, 1605, 1612, 1622. [Eisleben] Gesangbuch, Darinnen Psalmen vnnd Geistliche Lieder D. 159806 Martini Lutheri [...], Eisleben: Grossius, 1598. Bartholomäus Enchriridium [sie] Etlicher Deutscher vnd Lateinischen Ge160314 Gesius sengen [...], Frankfurt/Oder: Hartmann, 1603. Melchior Vulpius Ein schön geistlich Gesangbuch [...] Mit vier, etliche mit funff 160912 Stimmen [...], Jena: Weidner, 1609. [Görlitz] Harmoniae sacrae, vario carminum latinorum et germanicorum 161322 genere [...], Görlitz: Rhamba, 1613. Teschner/Herberger Der Dritte Theil der Geistlichen Trawrbinden [...][with] Ein 161410 Andächtiges Gebet [...], Leipzig: Kober, 1614. Johann Wüstholtz Der lutherisch Lobwasser. Das ist Der gantze Psalter Davids 161710 [...], Rothenburg: Körnlein, 1617. Samuel Besler Concentos ecclesiastico-domesticus. Kirchen vnd Hauß Mu161810 sica [...], Breslau: Baumann, 1618. Simon Besler New anmuttig WeyhnachtLied Zu Lob und preiß dem Newge161908 bomen Emmanuel [...], Brieg: Siegfried, [1619]. Broadsheet. Christoph DemanThrenodiae, Das ist [...] BegräbnüszGesänge [...], Freiberg: 162004 tius Hoffman, 1620. Johann Herman Cantional, Oder Gesangbuch Augspurgischer Confession [...], 162710 Schein Leipzig: Schein, 1627. Johann Herman Trost-Liedlein à 5. Vber den selige Hintritt [...] der [...] Frawen Ζ 489 Schein Margariten [...] Werners, Leipzig: Ritzsch, 1628. Broadsheet. Heinrich Schütz Psalmen Davids, Hiebevorn in Teutzsche Reimen gebracht, 162807 durch D. Cornelium Beckern [...], Freiberg: Hoffman, 1628; reprinted 1640. Revised 1661; reprinted 1676. Johann Jeep Geistliche Psalmen vnd Kirchengesänge [...][mit] 24 Psalmen 162907 [...], Nürnberg: Wagenmann, 1629.

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Genevan Psalm Tunes in the Lutheran Chorale Tradition Joh. Stobäus / Joh. Eccard Sebastian Stüx Johann Crüger Joh. Stobäus / Joh. Eccard Johann Crüger

Heinrich Albert [Runge] Heinrich Müller [Lüneburg] Martin Jahn (Janus) And. Hein. Buchholtz Johann Franck [Reusner] Gottfried Vopelius Joh. A. Freylinghausen

Geistliche Lieder Auff gewöhnliche Preussische KirchenMelodeyen [...], Danzig: Rhete, 1634. Geistliche Psalmen, Hymni vnd andere Kirchengesäng [...], Rothenburg: Mollyn, 1639. Newes vollkömliches Gesangbuch Augspurgischer Confession [...], Berlin: Runge, 1640. Preussische Fest Lieder Durchs ganze Jahr [...] [= Pt. I], Elbing: Bodenhausen, 1642; Pt. Π, 1644. Praxis pietatis melica. Das ist Vbung der Gottseligkeit [...], Berlin: Runge, 1647. Later (extant) reprints and editions before Crüger's death: Berlin, 1653, 1656, 1661; Stettin, 1660; Frankfurt, 1662. Reprints and editions after Criiger's death: Berlin (= 11th-45th ed.) 1664, 1666, 1667, 1671, 1672, 1674, 1675, 1678, 1679, 1684, 1688, 1690 (χ 2), 1693, 1702, 1703, 1708, 1709, 1711, 1712, 1714, 1716, 1718, 1721, 1724, 1729, 1732, 1733, 1736, 1737; Frankfurt, 1665, 1666, 1674, 1676, 1679, 1680, 1683, 1693, 1700; Stettin, 1666, 1668, 1676; Schaffhausen, 1670; Greifswald, ca. 1693. Poetisch-Musicalisches Lust-Wäldlein, das ist, Aijen [...], Königsberg: [s. n.], 1648. D. M. Luthers Und anderer [...] Männer Geistliche Lieder und Psalmen [...], Berlin: Runge, 1653. Geistliche SeelenMusik Bestehend Jn zehen betrachtungen [...], Rostock: Richel, 1659; reissued Frankfurt, 1668, 1684. Vollständiges Gesang Buch [...], Lüneburg: Stern, 1661; later editions, 1665, 1668, 1686, 1694, 1695, 1702, 1703. Passionale melicum [...] Das ist: [...] Liedern [und ...] Melodien [...], Görlitz: Zipper, 1663. Christliche Gottselige Hauß-Andachten [...], Braunschweig: Zilliger, 1663. Geistliches Sion Das ist: Neue Geistl. Lieder und Psalmen [...] Guben: Gruber, 1674. Preußisches Neu verbessert- vollständiges Kirchen- Schul- und Hauß-Gesangbuch [...], Königsberg: Reusner, 1675. Neu Leipziger Gesangbuch, Von [...] unveränderter Augsburgischer Confession [...], Leipzig: Neimann, 1682. Geistreiches Gesang-Buch Den Kem Alter und Neuer Lieder [...], Halle: Weißen-Haus, 1704; reissued 1705, 1706, 1708, 1710, 1711, 1713, 1714, 1715,1716,1719, 1721, 1723, 1725, 1727, 1730, 1733, 1734, 1746, 1759. Neues Geistreiches Gesangbuch [= Pt. Π], 1714, 1719, 1726.

1634 163912 164004 1642'6 164708

164823 1653°' 165915 166 Γ" 166307 1663'2 167416 167509 1682" 170404

Table 3a. Chorales Modelled on Specific Genevan Psalm Tunes Composer ? Serranus Gesius

Year 1566 1567 1603

Teschner Demantius Crüger Crüger Crüger

1614 1620 1653 1653 1653

First Line Mit Freuden zart Wenn wir in höchsten Noten sein Lobet Gott, unsem Herren [Later: Befiehl du deine Wege] Valet will ich dir geben Gott des Himmels und der Erden Nun danket all und bringet Ehr O Jesu Christ, dein Kripplein Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut

Zahn 8186 394 5393

Genevan Tune(s) Psalm 138 Psalm 66/75 Psalm 128

5403 3614 207 2074 4545

Psalm Psalm Psalm Psalm Psalm

3 42 89/97 54 66

166

Robin A. Leaver

Table 3b. Representative Chorales Melodically and Rhythmically Related to Genevan Psalm Tunes Composer Seinecker Schein Crüger ? Crüger

Year First Line 1587 Nun laßt Gott dem Herren 1627 Machs mit mir, Gott 1640 Herzliebester Jesu 1628/48 HetT Jesu Christ, dich zu uns wend 1649 Schmücke dich, o liebe Seele

Zahn Ì5ÌT 2383 983 624 6923

Table 4. Genevan Melodies and their Associated Texts in Post-SeventeenthCentury, non-Calvinist, German Sources Genevan Melody German First Line Psalm 15 Wem wirst du, lieber Herre mein (1829) Psalm 18=44 O Herr, der du mir Macht und Stärk (1848) Psalm 24=62=95= =111 ? text (1730) Psalm 27 Jehovah ist mein Licht und Gnadensonne (1730) Psalm 32 O Lamm, das meine Schuldenlast (1855) Psalm 51=69 0 Menschenfreund, o Jesu, Lebensquell (1730) Psalm 81 Unbegreiflich Gut (1730) Psalm 83 Komm, heiliger Geist, du höchstes Gut (1817) Psalm 84 Ich bin ja, Herr, in deiner Macht (1853) Psalm 110 Gott sei gelobt, der Weg (1855) Psalm 119 Ach, wie so selig ist der Mensch (1829) Psalm 132 Gedenk, o Herr, und nimm dich an (1848) Psalm 133 Schau an, wie fein und lieblich ist (1855) Psalm 136 Lobt den Herren inniglich (1730) Psalm 141 Zu dir, Herr, thu ich sehnlich flehen (1848) Psalm 143 ? text (1730)

Zahn 1793 8336 2665 6192 6225 6151 3263 2686 5868 901 3114 1785 3171 1181 749 1816

DKL Fai 5 Fal8A Fa24A Fa27 Fa32A Fa49 Fa67 Fa68 Fa69 Fa89 Fa95 Fai 05 Fa 106 Fal08 D2B FallO

Sources Georg Philipp Telemann J. F. W. Kiihnau Friedrich Schneider August Wilhelm Bach G. von Tücher

Fridrich Layriz

Fast allgemeines Evangelisch-Musicalisches Lieder-Buch [...], Hamburg: Stromer, 1730. Alte und neue Choralgesänge vierstimmig ausgesetzt [...], Zweite Auflage, Berlin: Kühnau, 1817. Handbuch des Organisten [...], Dritter Theil, Halberstadt: Brüggemann, 1829. Choral-Buch flir das Gesangbuch [...], Berlin: Trautwein, 1830. Schatz des evangelischen Kirchengesangs im ersten Jahrhundert der Reformation, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1848. Kern des deutschen Kirchengesangs zum Gebrauch evangelisch-lutherischer Gemeinden [...], 4 vols., Nördlingen: Beck, 1853-1855.

DKL 1730 Zahn 6: 1008 Zahn 6: 1126 Zahn 6: 1129 Zahn 6: 1240

Zahn 6: 1268

II. DIE REZEPTION DES GENFER PSALTERS

Rezeption in Deutschland · Rezeption in der Schweiz Rezeption in den Niederlanden

Dieter

Breuer

Poetik der geistlichen Lieddichtung in Deutschland vor dem Genfer Psalter

I. Eine Poetik des volkssprachlichen geistlichen Liedes in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts hat anzusetzen bei den zeitgenössischen B e s t i m m u n g e n v o n Kernbereich und Grenzen der Gattung. D a z u bieten die bibliographischen Verzeichnisse gedruckter geistlicher Liedsammlungen v o n Philipp Wackernagel, Joseph Kehrein und W i l h e l m Bäumker eine geeignete Grundlage. 1 D i e dort verzeichneten Titel solcher Sammlungen und Einzeldrucke geben Aufschluß über das Gattungsverständnis der Autoren, Herausgeber und Drucker und ihrer Auftraggeber. A l s sprechende Beispiele seien folgende Titel angeführt: -

-

-

Etliche christlich lider Lobgesang, vnd Psalm (Wittenberg 1524) [Martin Luther] Hymnarius: durch das gantze Jar verteutscht (Siegmundslust 1524) Etliche newe verdeutschte vnnd gemachte ynn göttlicher schrifft gegründte Christliche Hymnus vnd geseng (Königsberg 1527) Gantz newe geystliche teutsche Hymnus vnd gesang, von eynem yeden fest vber das gantz Jahr, auch denselben geschichten vnnd propheceyen, in der Kirchen oder sunsten, andechtlich, bequemlich vnd besserlich zusingen, vnnd alles inn klarer götlicher schriefft gegründet (Nürnberg 1527) Form vnd Ordnung Gaystliche Gesang vnd Psalmen, auch etlich Hymnus, welche Gott dem Herren zu lob gesungen werden (Augsburg 1529) Kirchengesenge, mit vil schönen Psalmen vnnd Melodey (Nürnberg 1531 ) Ein new Gesangbüchlin Geistlicher Lieder, vor alle gutthe Christen nach ordenung Christlicher kirchen (Leipzig 1537) [Michael Vehe] Der gantz psalter Dauids, nach ordnvng anzal aller Psalmen, deren hundert vnd fünffizig seind, zur Kirchenübung, [...] in Gesangweyß, sampt den genotierten Melodeyen gemachet (Augsburg 1538) [Jacob Dachser] Odae Christianae. Etliche Christliche Gesenge, Gebete vnd Reymen (Mainz 1541) [Georg Witzeil Psaltes Ecclesiasticus. Chorbuch der Heiligen Catholischen Kirchen, Deudsch (Köln 1550) [Georg Witzel]

Philipp Wackernagel, Bibliographie zur Geschichte des deutschen Kirchenliedes im XVI. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1855, ND Hildesheim 1961; ders., Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts, Bd. I-V, Leipzig 1864-1877, ND Hildesheim 1964. - Joseph Kehrein, Katholische Kirchenlieder, Hymnen, Psalmen. Aus den ältesten deutschen gedruckten Gesang- und Gebetbüchern, Bd. I-IV, Würzburg 1859, ND Hildesheim 1965. - Wilhelm Bäumker, Das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen von den frühesten Zeiten bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts, Bd. I-IV, Freiburg i. Br. 1883-1911.

170 -

-

Dieter Breuer

Der Psalter Dauids Gesangsweise, in Deudsche Reimen verfasset, das man einen jedem Psalm auff etliche viele bekandte vnd leichte Melodeien singen mag (Frankfort a. M. 1565) [Johannes Magdeburg] Geistliche Lieder vnd Psalmen der alten Apostolischer recht vnd wargläubiger Christlicher Kirchen, so vor vnd nach der Predigt, auch bei der heiligen Communion, vnd sonst in dem haus Gottes, zum theil in vnd vor den Heusem, doch zu gewönlichen zeitten, durchs gantze Jar, ordentlicher weiß mögen gesungen werden (Budissin 1567) [Johann Leisentrit]

Wie man sieht, stehen Bezeichnungen wie „geistliches Lied", „christliches Lied", „Psalm", „Hymnus", „Kirchengesang" nebeneinander. Die Bezeichnung „Kirchengesang" erscheint bisweilen auch als Oberbegriff. Daneben gibt es biblische Geschichten in Liedform und auch Kontrafakturen wie die Geistlichen Ringeltentze. Aus der heiligen Schrifft Vor die Jugendt (Magdeburg 1550)2 oder einen Geistlichen vnd Christlichen newen Berck-reyen, Von dem Jüngsten Tag vnd ewigem Leben, Auff die Melodey vnd weise, Hertzlich thut mich erfrewen (Wittenberg 1552).3 Mitunter wird schon im Titel an die unterschiedlichen Gebrauchsfunktionen der Lieder erinnert und nach gottesdienstlicher Verwendung und häuslicher bzw. privater Andacht unterschieden, ohne daß bestimmte Untergattungen dem einen oder anderen Zweck eigens zugeordnet würden, und zwar auf reformatorischer wie auf altgläubiger Seite. Die von Irmgard Scheitler herausgearbeitete idealtypische Unterscheidung von Kirchenlied für den Gemeindegottesdienst und Geistlichem Lied für die Privatandacht scheint auf die Frühzeit der reformatorischen Lieddichtung und der katholischen Reaktionen bei Vehe, Witzel und Leisentrit noch nicht zuzutreffen. Scheitler hatte die Gebrauchsfunktionen in folgendem Schaubild aufgegliedert:4

2 3 4

Vgl. Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied (s. Anm. 1), I, 434. Vgl. ebd., IV, 1122. Irmgard Scheitler, Das Geistliche Lied im Barock (Schriften zur Literaturwissenschaft 3), Berlin 1982, 36; vgl. auch dies., Art. Kirchenlied, Gesangbuch, in: Literatur Lexikon, hg. von Walter Killy, Bd. 13, München 1992, 477-483.

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Aber nicht nur die Titel der Liedsammlungen, auch die Vorreden der Autoren und Herausgeber ordnen die Lieder keineswegs bestimmten Gebrauchsfunktionen zu; die Lieder sind in gleicher Weise fur den liturgischen wie fiir den privaten Gebrauch bestimmt. Das gilt nicht nur für Luther und die nachfolgenden reformatorischen Autoren, sondern auch für die Altgläubigen wie Vehe oder Leisentrit. Michael Vehe wünscht, daß seine Lieder „in vnd ausser der kirchen, vor vnd nach der predig, Auch zur zeit der gemeinen bitfarten, vnd zu andern heyligen gezeitten gesungen werden". 5 Johann Leisentrit hat, wie er schreibt, mit schuldigem Christlichen fleis, die nothwendigsten alten Kirchengeseng, auch etliche Psalmen, Vnnd andere geseng mehr, Aus klarem Göttlichem Wort, so wol aus der Orthodoxischen Gottsfürchtigen heiliger Schriffi Lehrern, mit vorgehenden Melodeyen, vnd auff ein jedes vomembst kurtzen, doch Christlichen Unterweisungen zusammen bracht, vnd in zwe bûcher verordent, so vor vnd nach der Predigt, j a auch ane Verletzung der substantz Catholischer Religion, Bey der Mess, vnter dem Offertorio vnd heiliger Communion, Zum theil auch in vnd vor den heusern, Durchs gantze Jahr, Zu gewöhnlichen zeitten, mögen aus gelesen oder vnuermischter weiss gesungen werden. 6

Wenn nun aber hinsichtlich der Gebrauchsfunktionen keine Unterschiede gemacht werden und Litterati wie Illitterati gleichermaßen erreicht werden sollen, besteht auch keine Notwendigkeit, formal zu differenzieren. Und tatsächlich finden wir in den Sammlungen eine Homogenität der Formgebung, die es weder in der spätmittelalterlichen geistlichen Lieddichtung noch seit Ambrosius Lobwassers Übersetzung des Genfer Psalters gegeben hat. Ob Lied, ob Psalm, ob Hymnus - in allen Untergattungen finden sich die gleichen relativ einfachen Strophenformen, Metren und Töne.

II. Formal speist sich die geistliche Lieddichtung des 16. Jahrhunderts aus drei Quellen: aus lateinischer Hymnik, Meistersang und Volkslied. Übernommen werden die aufs einfachste reduzierten Prinzipien von Strophenbau und V e r i f i kation. Auch die geistliche Lieddichtung Martin Luthers, mit der die frühneuzeitliche deutschsprachige Geschichte der Gattung beginnt, steht in diesen Traditionen. 7 5 6 7

Kehrein, Kirchenlieder (s. Anm. 1), I, 67. Ebd., 72f. Zu Luthers Lieddichtung vgl. Gerhard Hahn, Evangelium als literarische Anweisung. Zu Luthers Stellung in der Geschichte des deutschen kirchlichen Liedes, München 1981. - Die inhaltlich orientierte Untersuchung spart die Poetik im engeren, formalen Sinne weitgehend aus und verweist auf die Arbeit von Ernst Sommer, Die Metrik in Luthers Liedern, in: Jahrbuch fur Liturgik und Hymnologie 9 (1964), 29-81. Sommer wiederum stützt sich wie sein Vorgänger Georg Baesecke, Luthers deutscher Versbau, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 62 (1938), 60-121, für seine metrischen Untersuchungen auf Andreas Heuslers Rezitationsmetrik, die weder der historischen Prosodie des Deutschen noch der im 16. Jahrhundert praktizierten Skansionsmetrik im Rahmen silbenzählen-

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Dieter Breuer

Aus der Tradition des Meistersangs stammt die alte Kanzonenstrophe bzw. Barform und, auf der Ebene des Verses, die silbenzählende Versifikation, meist in Form des Achtsilblers mit freier Tonstellenverteilung - beides in einfacher, überschaubarer, leicht einprägsamer Ausführung. Hinzu kommen die gängigsten Reimschemata: Paarreim, Kreuzreim, umarmender Reim; Reinheit des Reims wird angestrebt, aber längst nicht immer erreicht. Die Versschlüsse sind reduziert auf männliche oder weibliche. Als Beispiel diene Luthers Lied über Psalm 13 Dixit insipiens in corde suo:8 Es spricht der vnweisen mund wol ,den rechten Got wir meynen', Doch ist yhr hertz vnglaubens voll, mit that sie yhn verneinen. Jr wesen ist verderbet zwar fur Got ist es eyn grewel gar es thut yhr keyner keyn gut.

8 6 8 6 8 8 6

ma wb ma wb mc mc wx

Als Strophenschema ergibt sich die dreiteilige Barform (Stollen, Stollen, Abgesang) in einfachster, siebenzeiliger Ausführung. Diese sogenannte „Lutherstrophe", eine der erfolgreichsten Strophentypen des geistlichen Liedes, finden wir allerdings auch schon im 14. Jahrhundert bei Johannes Tauler.9 Ist in dieser Strophe bei fester Silbenzahl die Verteilung der Tonstellen im Vers noch frei, wie Vers 1 und Vers 7 nahelegen, so zeigt doch die zweite Strophe, daß der Autor sehr wohl ein alternierendes („jambisches") Metrum anstrebt, in dem metrische Tonstelle und Wortakzent zusammenfallen, daß er dies aber nicht immer erreicht und dadurch den Anschein von Tonbeugungen erweckt:10 Got selb vom hymel sah erab auffaller menschen kynden, Zu schawen sye er sich begab, ob er yemand wurd fynden Der seyn verstand gerichtet het, mit ernst nach Gottes Worten thett vnd fragt nach seynem willen.

Die weiteren vier Strophen erreichen diese Souveränität der Versifikation nicht, am wenigsten die letzte Strophe, in der in Vers 1 und 3 die vier Tonstellen frei verteilt sind:11

8 9 10 11

der Verfahren gerecht wird. Hier hat die Arbeit von Hans-Jürgen Schlutter, Der Rhythmus im strengen Knittelvers des 16. Jahrhunderts, in: Euphorion 60 (1966), 48-90, Remedur geschaffen. Vgl. auch Dieter Breuer, Deutsche Metrik und Versgeschichte, München "1999, 72-80 u. 130-154. - Zur Frage der Quellen von Text und Melodie der Lieder Luthers sowie zum Verhältnis von Text und Melodie vgl. die Edition von Markus Jenny, Luthers geistliche Lieder und Kirchengesänge. Vollständige Neuedition in Ergänzung zu Band 35 der Weimarer Ausgabe (Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers), Köln/Wien 1985. Wackemagel, Das deutsche Kirchenlied (s. Anm. 1), ΠΙ, 6. Vgl. ebd., II, 307 (Nr. 466). Ebd., III, 6. Ebd., 7.

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Wer soll Jsrael dem armen zu Zion heyl erlangen? Got wird sych seyns volcks erbarmen vnd lösen die gefangen: Das wirt er thun durch seynen son, dauon wird Jacob wonne han vnd Jsrael sich frewen. Daß solche Verse nicht das Ideal des Autors sind, sondern ein nach Wortakzent geregeltes Metrum bei natürlicher Wortstellung im Satz, zeigt das Lied nach Psalm 130 De profundis: Avs tieffer not schrey ich zu dir (in der gleichen Strophenform w i e Es spricht der vnweisen mund wo/): 12 AVs tieffer not schrey ich zu dir, herr Gott, erhör mein ruffen. Dein gnedig oren ker zu mir vnd meyner bit sye offen. Den so du wilt das sehen an, wie manche sund ich hab gethan, wer kan, herr, fur dir bleiben. Im Geystlichen gesangk Buchleyn, einem weiteren Druck aus dem Jahr 1524, hat Luther im Abgesang, Vers 6, der Aussage im Sinne seiner Rechtfertigungslehre prinzipiellen Charakter gegeben: „was sund vnd vnrecht ist gethan". D i e s gilt im folgenden auch für die Strophen 2 und 5, nur in Strophe 3 und 4 ist, gleichsam in diesem prinzipiellen Rahmen, der Ich-Bezug beibehalten: 13 Bey dyr gillt nichts den gnad vnd gonst, die sunden zu vergeben. Es ist doch vnser thun vmb sonst auch ynn dem besten leben. Fur dyr niemant sich rühmen kan, des mus dich furchten yederman vnd deyner gnaden leben. Darumb auff Gott will hoffen ich, auff meyn verdienst nicht bawen. Auff yhn meyn hertz sol lassen sich vnd seyner guete trawen, Die myr zu sagt seyn werdes wort, das ist meyn trost vnd trewer hört, des will ich allzeyt harren. Vnd ob es werd bis ynn die nacht vnd widder an den morgen, Doch sol meyn hertz an Gottes macht verzweyfeln nicht noch sorgen. So thu Israel rechter art der aus dem geyst erzeuget ward, vnd seynes Gotts erharre.

'2 Ebd. 13 Ebd., 7f.

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Dieter Breuer

Ob bey vns ist der sunden viel, bey Gott ist viel mehr gnaden. Sein hand zu helffen hat keyn ziel, wie gros auch sey der schaden. Er ist alleyn der gute hirt der Israel erlösen wird aus seynen sunden allen.

Die ursprünglichen vier Strophen hat Luther durch Ausgestaltung der beiden Argumentationen in Auf- und Abgesang der zweiten Strophe in der hier zitierten überarbeiteten Fassung auf fünf Strophen erweitert, um größere Klarheit der inhaltlichen Aussage zu erreichen. An der Versifikation des Liedes hat er jedoch nichts verbessern müssen; in der ersten wie in der zweiten Fassung läuft der Vers regelmäßig jambisch alternierend, ohne den Wortakzent zu kränken. Verse wie „Die mir zu sagt seyn werdes wort" (Strophe 3) oder „So thu Israel rechter art" (Strophe 4) können als inhaltlich motivierte schwebende Betonungen aufgefaßt werden. Diese strenge Regulierung der Tonstellen finden wir auch im Lied nach Psalm 46 Deus noster refugium et virtus: Ain feste burg ist vnser Gott (erstmals wohl 1529 gedruckt),14 hier dazu noch mit einem im Abgesang veränderten Schema:15 AJn feste bürg ist vnser Gott, ain gutte wör vnd waffen, Er hilfft vns frey auß aller not die vns yetzt hat betroffen. Der alt böse feynd, mitt ernst ers yetzt meint, groß macht vnd vii list sein grausam rüstung ist, auff erd ist nicht seins gleichen.

8ma 6 wb 8ma 6 wb 5mc 5mc 5md 6md 6 wx

Der Aufgesang weist ein jambisch alternierendes Metrum auf, im Abgesang kommt es in den ersten drei Versen bei verkürzter Silbenzahl zu einem Rhythmuswechsel von ,jambisch" zu „anapästisch", bevor in den beiden Schlußversen der alte Rhythmus wiederaufgenommen wird. Dieses ausdrucksverstärkende Schema wird in der letzten Strophe durch schwebende Betonung noch überboten:16 Nemen sy den leyb, gut, ehr, kind vnd weyb, laß faren dahin, sy habens kain gewin, das reich muß vns doch bleyben.

14

15 16

Vgl. Markus Jenny, Neue Hypothesen zur Entstehung und Bedeutung von Ein feste Burg, in: Jahrbuch fiir Liturgik und Hymnologie 9 (1964), 143-152. Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied (s. Anm. 1), III, 19. Ebd., 20.

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Man muß sich fragen, woher bei Luther diese Sicherheit in der Beherrschung der streng regulierten Versform kommt, die den Meistersingern als sogenannter skandierter Vers zwar auch bekannt, aber bei ihnen eher der Ausnahmefall war. 17 Als Erklärung bietet sich die Übertragung der Metrik der lateinischen Hymnen und Sequenzen auf die deutsche Versdichtung an. Der Theologe Luther war selbstverständlich vertraut mit den mittellateinischen Hymnen und Sequenzen: mit ihrer festen Silbenzahl im Vers, ihrer alternierenden jambischen oder trochäischen Rhythmisierung und ihrem Endreim. Luthers Übersetzung des Hymnus A solis ortus cardine von Caelius Sedulius ist nur ein Beispiel für die Übertragung der metrisch-rhythmischen Struktur der lateinischen Vorlage auf deutsche Sprachverhältnisse: 18 A solis ortus cardine ad usque terrae limitem Christum canamus principem natum Maria virgine Christum wir sollen loben schon, der reyne magd Marien son, So weit die liebe Sonne leucht vnnd an aller weit ende reicht.

Auch hier stellt sich die Frage, ob man im letzten Vers von einer Tonbeugung sprechen soll oder ob der Vers silbengezählt mit freier Tonstellenverteilung gebaut ist. Letzteres ist die wahrscheinlichere Möglichkeit; der Autor behält sie sich als poetische Lizenz vor. Doch sind solche Verse in den folgenden sechs Strophen die Ausnahme; metrisches Prinzip ist in dieser Hymnenübertragung ganz offensichtlich ein dem Wortakzent folgendes alternierendes Metrum nach dem Vorbild des lateinischen Hymnus. Dessen umarmende Reimstellung wird nicht übernommen, sondern durch einfachere Reimpaare ersetzt, wie sie die lateinische Hymnendichtung allerdings auch kennt. Die dritte Quelle, aus der die volkssprachlichen geistlichen Liederdichter schöpften, auch Luther, ist das Volkslied, sei es als geistliches Lied, sei es als geistliche Kontrafaktur weltlicher Lieder, in Versen, in denen prinzipiell nur die Zahl der Tonstellen geregelt ist. Ob man Luthers Kinderlied auff die Weinacht Christi von 1535 auf diese Quelle als geistliche Kontrafaktur zurückführen soll oder nicht auch auf die lateinische Hymnendichtung, ist zunächst schwer zu entscheiden: 19 VOm himel hoch da kom ich her, ich bring euch gute newe mehr, Der guten mehr bring ich so viel, dauon ich singen vnd sagen wil.

17 18

19

Vgl. dazu Schlutter, Der Rhythmus im strengen Knittelvers (s. Anm. 7). Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied (s. Anm. 1), I, 45 (lat. Vorlage) und ΠΙ, 13 (Luthers Übersetzung). Ebd., 111,23.

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Dieter Breuer

Diese Strophenform aus zwei vierhebigen jambisch" alternierenden Reimpaaren mit männlichen Versschlüssen entspricht der des von Luther übersetzten Hymnus A solis ortus cardine, sie läßt sich sogar bis zu den ambrosianischen Hymnen zurückverfolgen. Im volkssprachlichen geistlichen Lied ist sie bereits um die Wende zum 15. Jahrhundert in den Hymnenübersetzungen des Mönchs von Salzburg und Heinrichs von Laufenberg greifbar. Sie findet aufgrund ihrer Einfachheit dann aber auch Eingang ins geistliche und weltliche Volkslied: Da Jesus in dem Garten ging, Es steht ein Lind in jenem Tal. Luther kann hier also auf eine bereits populär gewordene Form des volkssprachlichen Liedes zurückgreifen, und er tut dies mit durchschlagendem Erfolg; nach Horst Joachim Frank wird die Strophenform des Kinderliedes zur beliebtesten des geistlichen Liedes im Reformationsjahrhundert.20 Vorbildlich ist Luthers Kinderlied auch dadurch, daß er die strenge Alternation durch alle 15 Strophen hindurch beibehält und keine der im Volkslied möglichen Lizenzen, etwa freie Füllung zwischen den Tonstellen oder unreinen Reim bzw. Assonanz, in Anspruch nimmt. Die scheinbare Lizenz „singen und sagen" ist keine, da „singen" als einsilbig aufgefaßt wird. Wie genau der Autor es mit der strengen Alternation nimmt, für die die Hymnik das Vorbild ist, zeigt auch die zu einer Silbe kontrahierte Form „Köng" für König in Strophe 11 : „Darauf die Köng so groß und reich". Ein anderes Beispiel für Luthers Verwendung einer populären Liedform ist sein Spottlied Wider Herzog Heinrich von Braunschweig (1541):21 AH du arger Heintze, was hastu gethan, das du viel Fromen menschen durchs fewr hast morden lan? Des wirstu in der Helle leiden grosse pein, Lucibers geselle mustu ewig sein. Kyrieleison.

Die Strophe aus vier paargereimten „trochäischen", männlich schließenden Langzeilen mit sechs alternierenden Tonstellen und einer syntaktisch unterstützten Zäsur nach der dritten Tonstelle hat eine längere Vorgeschichte. Luther parodiert hier die alte Judasstrophe aus dem 14. Jahrhundert:22 O du armer Judas, was hastu gethon das du deinen herren also verrathen hast! Darumb mustu leiden in der helle pein, Lucifers geselle mustu ewig sein. Kirie eleyson.

Auch Luther nutzt die Möglichkeit des Volksliedes zur freien Füllung des Verses an den Nebentonsteilen: „das dú viel Frómen ménschen durchs féwr hast morden lán". Wie groß die Freiheiten der Versfüllung derzeit noch sein können,

20 21 22

Horst Joachim Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, München 1980,208-213. Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied (s. Anm. 1 ), III, 31. Ebd., 1,468.

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zeigt das 1525 von der Gegenseite verbreitete Lied Ein O armer Judas von den newen Christen:73 O ST vil armer Christen, waß handt jr gethon, das jr euch priapisten handt so vertieren Ion? Darumb müst jr noch leiden vil hellische pein, sant Petters schifila meiden, fait jnß möer hin ein. Kyrieleyson.

III. Anhand der Beispiele für die poetischen Traditionen, auf denen Martin Luther in seinen geistlichen Liedern aufbauen konnte, haben wir zugleich Kriterien gefunden, an denen die geistliche Lieddichtung des 16. Jahrhunderts gemessen werden kann. In Luthers geistlicher Lieddichtung finden wir einen erstaunlich avancierten Stand der Versifikation. Seine ingeniöse Sprachmächtigkeit ist dafür nur eine Voraussetzung; er überbietet seine Vorgänger nicht nur durch den bildkräftigen, kernigen sprachlichen Ausdruck, sondern eben auch durch eine streng regulierte Versifikation, die den Wortakzent berücksichtigt und auch der natürlichen Wortstellung im Satz Rechnung trägt. Er gibt auf diese Weise den gewohnten Vers- und Strophenformen den Reiz des Neuen und kann so die Aufmerksamkeit für die geistliche Aussage (die reformatorische Botschaft) und zugleich ihre Verständlichkeit noch erhöhen. An diesen poetologischen Errungenschaften muß sich die nachfolgende Lieddichtung und Psalmenübersetzung messen lassen. Ich beschränke mich auf einen Blick auf die Psalmenlieder und hier auf einen Vergleich der Lieder über Psalm 130 hinsichtlich Strophenform und Versifikation. 24 Wie weit Luthers Übertragung dieses Psalms der Zeit voraus ist, kann die Version seines Zeitgenossen Adam Reusner zeigen; er übersetzt Psalm 130 wie folgt: 25 Auß tieffer not, o Herre Gott, schreien wir in der tieffe. Wir beweinen sünd, hell vnnd tod, deinen namen anrüeffen. Erhör gnediglich, HER, vernimm mein seuffzen vnnd mein cleglich stim, vor dir, Herr, will ich beeten. 23 24

25

Ebd., V, 917. Vgl. dazu Angelika Reich, Übersetzungsprinzipien in den deutschsprachigen liedhaften Gesamtpsaltem des 16. und 17. Jahrhunderts, Diss. Regensburg 1977. Reich erschließt in ihrer von Gerhard Hahn betreuten Dissertation eine Vielzahl von Quellen in ihrer theologiegeschichtlichen und rhetorisch-argumentativen Bedeutung, geht aber auf Fragen der Liedpoetik im engeren Sinne, der Metrik und Versgeschichte nur nebenbei ein. Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied (s. Anm. 1), ΠΙ, 141.

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Dieter Breuer Dein gnedig ohr soll merckhen mich, vor deinen thron ich schreye. Erhör mein stim, mein bitt ansich, die sünd wellest verzeichen. Wann du, Herr, nit vergibst die sünd, Herr, wer ist der der vor dir kiind besteen vnnd beleiben?

Reusner übernimmt die von Luther gewählte Strophe, benötigt aber deren zwei, um inhaltlich zu bewältigen, was Luther in einer einzigen Strophe mit sehr viel größerer Klarheit unterbringt. Auch in der Versifikation erreicht er Luthers Niveau nicht. Er behilft sich im silbengezählten Vers sehr häufig mit der Möglichkeit freier Tonstellenverteilung. Sprachlich wirkt der Text unbeholfen. Auch für das Kaspar Querhammer zugeschriebene Lied in Michael Vehes Gesangbüchlin (1537) ist Luthers Version das große Vorbild. Querhammer bringt sein vierstrophiges Lied mit leichten sprachlichen, aber auch inhaltlichen Veränderungen, die Luthers reformatorische Zuspitzung der Rechtfertigungslehre zurücknehmen:26 AVß hertzen grundt schrey ich zu dir Herr Gott, erhör mein stymme. Deyn ohren, Herr, neyg du zu mir vnd meine bitt vffhymme. Denn so du wilt des haben acht wie vil der mensch hatt sund volbracht, wer wil das mögen leyden! Bey dir ist, Herr, der Gnaden vili die sunden zuuergeben, Herr, dein gesatz ists rechte zyell nach dem wir sollen leben: Dein heyiges wort ist allzeyt war, das macht das ich gern vff dich har, deins heylß will ich erwarten.

Auch die Versifikation entspricht der Luthers. Sobald der Autor aber eigene Sätze bildet, greift er zur älteren Möglichkeit der freien Tonstellenverteilung im Vers:27 Mein seel daruff hat tröstet sich vnd daran alzeyt gedacht. Jn meiner nodt verlaß nit mich, dan von morgen biß zur nacht Hoff ich in dich mit Israel, vnd all mein sach zu dir gern stell, mein wolst du nit vergessen.

26 27

Ebd., V, 939. Ebd.

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Dann, Herr, bey dir dem waren Gott ist seer vili barmhertzigkeit, Zuhelffen vns auß aller nott byst du willig vnd bereyt: Du bist alleyn das höchste gutt das Jsrael erlösen thut auß seinen sunden allen.

Querhammer durchkreuzt im Aufgesang zweimal den durch Alternation gestützten emphatischen Rhythmus der entsprechenden Lutherschen Strophen, ob nur aus sprachlichem Unvermögen oder auch in bewußter dogmatischer Gegnerschaft, ist schwer zu beurteilen. Dagegen verfahrt Johannes Magdeburg (1565) in seiner dreistrophigen Version von Psalm 130 durchgängig im jambisch alternierenden Metrum, aber er scheitert bei seinem Bestreben, Luther sprachlich zu übertreffen:28 AVß tieffer not ich zu dir raff, Herr Gott, mein stimm erhöre, Auff meines flehens stimm merck auff, laß mercken deine ohren. So du wilt, Herr zurechnen sünd, HErr, wer ist der bestehen künd für dir in deim Gerichte?

Sogar das Wort „Israel", mit dem Luther metrisch anstieß, kann er ins Metrum integrieren (Strophe 3: „Israel hoffe auff den Herrn", „Erlöser wird er Israel"). Bartholomäus Ringwaldt schließlich, der sich 1585 dieses Psalms in derselben Strophenform annimmt, vermag sich vom Lutherischen Sprachduktus ganz zu lösen und beherrscht auch das vorgegebene Metrum:29 ACh lieber Gott, ich lieg im todt tieff in der Hellen gründe, Vnnd schrey zu dir aus meiner noth mit hertzen vnnd mit munde, Vnd bitt, laß doch die ohren dein mich zu erhören offen sein vmb des Messiae willen.

Bei aller Sprachgewandtheit wird aber auch in den folgenden acht Strophen deutlich, daß Ringwaldt wie allen anderen Liederdichtern des 16. Jahrhunderts die durchlaufende Alternation ohne Verstoß gegen den Wortakzent nur möglich ist, wenn er sich in der Behandlung nebentoniger Silben alle Freiheiten nimmt, um Wortformen zu kontrahieren oder zu erweitern („ich lieg", „ich bitt"; „im todt", „im gründe", „mit munde"; „genaden"), und auch Attribute und Pronomina nach Bedarf umzustellen („die ohren dein"). Erst die Poetik seit Opitz wird diese aus der Volksliedtradition und dem Meistersang stammenden Lizenzen nicht mehr dulden.

28 29

Ebd., IV, 344. Ebd., 990.

180

Dieter Breuer

Selbst bei der Wahl eines anderen Strophenschemas war es für die Autoren offenbar schwer, zu einer von Luther unabhängigen Verssprache zu gelangen, so auch für Nicolaus Seinecker (1572), der den Psalm in sieben Vierzeilern aus paargereimten männlichen Achtsilblern überträgt; die ersten beiden Strophen lauten:30 AVs tieffer noth ich ruff zu dir, mein Gott vnd Herr, mit gros begier, Mein schreien vnd meins flehens stimm mit deinen ohm, ach HErr, vernimm! So du wilt rechnen Sünden zu, ach wer sol als denn haben rhu? Wer wird für dir, O HErr, bestehn? müssen wir nicht alle vergehn?

Ohne Rückgriff auf die Möglichkeit der freien Tonstellenverteilung geht es, wie man sieht und hört, auch hier noch nicht. Valentin Triller (1555) versucht sich dagegen in der Kontrafaktur der Kanzonenstrophe eines Marienliedes mit erweitertem Abgesang. Auch Triller strebt danach, meist mit Erfolg, Wort- und metrisch bedingten Akzent in Übereinstimmung zu bringen:31 DJch, Gott von Himel, ruff ich an aus tieffer angst vnd nöthen mein, Denn ich hab gar viel siind gethan, ker her zu mir die ohren dein, Erhör mein stim, wend deinen grim vnnd zom von mir auff mein flehen vnnd hertzlich gir schaw gnedig, ehe der Todt kompt schir.

Wagemutiger ist die Wahl komplizierterer Kanzonenformen, wie bei Centurio Sirutschko (1566) im Umkreis der böhmisch-mährischen Brüdergemeinden und auch bei Bartholomäus Ringwaldt (1581). Beide kombinieren, wohl schon unter dem Einfluß des Genfer Psalters, in unterschiedlicher Weise alternierende männliche Viersilbler mit weiblichen Sechssilblern, allerdings immer noch im Rahmen der Kanzonenstrophe. Bei insgesamt 16 Versen pro Strophe im Falle von Sirutschko und zehn Versen pro Strophe im Falle Ringwaldts ist größere sprachliche Selbständigkeit vor allem in Bezug auf Reim und klaren Satwerlauf gefordert - eine Anstrengung, die man den Autoren auch anmerkt. Sirutschkos erste Strophe lautet:32

30 3

'

32

Ebd., 314. Ebd., 57. Ebd., 453.

Poetik der geistlichen Lieddichtung in Deutschland vor dem Genfer Psalter

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AVs dem abgnind, der hellen schlund, schrey ich zu dir: hör mein begier, o Schepffer aller dingen! Denn ich bin sehr, o lieber Herr, durch sünd verderbt, mir angeerbt, vnd kan nichts guts verbringen. Drumb hat billich umbfangen mich trawrigkeit vnd betrübnis, Vnd ist niemand der mit beystand thet vnd hülff vom Verderbnis.

Bartholomäus Ringwaldt ist in der Eingangsstrophe Luthers Vorlage näher, doch entfernt er sich in den folgenden fünf Strophen mehr und mehr vom Wortlaut des Psalms in Luthers Version. Die erste Strophe von Ringwaldts Lied lautet:33 AVs schwerer angst vnd tieffer not die mich jtzt hat vmbfangen Schrey ich zu dir, du fromer Gott, vnd möcht gar gern erlangen In meiner pein die htilffe dein vnd trost von deinen Henden, Denn sih, ohn dich versincke ich vnd kan mein Creutz nicht wenden.

Das artifizielle Strophenschema führt zu einer individueller getönten Darstellung, was zugleich bedeutet: Die anfangliche Einheit von Gemeindelied und Lied für die private Andacht beginnt sich aufzulösen.

IV. Die bei Luther beginnende Beispielreihe geistlicher Lieder fuhrt zu einem zwiespältigen Ergebnis. Das erstaunlich hohe poetologische Niveau bei Luther wird in der Folgezeit nicht oder nur teilweise erreicht. Luther verbindet Anregungen aus Meistersang, Hymnik und Volkslied zur Konzeption eines sprachkonformen Verses, der zwar noch alle regionalsprachlichen Freiheiten in Anspruch nimmt, aber den Wortakzent im streng regulierten silbengezählten Vers und die „natürliche" Wortstellung im Satz weitgehend respektiert. Diese Konzeption, meist in relativ einfachen, aber breitenwirksamen Strophenformen realisiert, bestimmt 33

Ebd., 933.

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Dieter Breuer

auch die geistliche Lieddichtung auf katholischer Seite und wird sogar im 17. Jahrhundert durch Friedrich Spee noch fortgeschrieben.34 Im protestantischen Bereich geht die Poetik in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts neue Wege. Der Versuch von humanistischer Seite, den deutschsprachigen Vers an der antiken Metrik der Silbenmessung zu orientieren, gipfelnd im Psalter des Sebastian Hornmoldt, erwies sich als Irrweg, weil er der auf der Tonstärke beruhenden Prosodie der deutschen Sprache widerspricht.35 Anders stand es mit dem Versuch, die Errungenschaften der französischen Renaissancepoetik für die deutschsprachige Dichtung fruchtbar zu machen.36 Das bedeutete einmal, die neuen, modischen Gedichtformen wie Sonett und Ode und Versarten wie vers commun und Alexandriner zu übernehmen, zum anderen, und das ist problematischer, die Tonstellenverteilung im silbengezählten Vers nach syntaktischen Gegebenheiten so einzurichten, daß Zäsur und Versschluß einen Ton erhalten.37 Im Grunde war das eine Rückkehr zum meistersingerischen silbenzählenden Verfahren, nun aber ohne den Ballast der Tabulator, gleichsam auf höherer Bildungsebene. Orientierte sich die weltliche Lyrik an Ronsard und der Pléiade, so die geistliche Lieddichtung an den einfacheren Liedformen des calvinistischen Genfer Psalters von Clément Marot und Théodore de Bèze. Die ersten deutschen Übersetzungen von Paulus Schede (1572 im kurpfalzischen Auftrag) und Ambrosius Lobwasser (1573) wollen die Form des französischen Vorbildes mehr oder weniger authentisch wiedergeben.38 Schede sucht sich dabei als Sprachkünstler in der Übersetzung zu verwirklichen, wie besonders Psalm 42 in seiner Version zeigt:39 WI's gehirse bremst unt rechzet Ging frischer wásserflus: Also gelft fur dûrst zerlechzet Mein' sei zu dir, Herre sús.

34

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Vgl. dazu Dieter Breuer, Oberdeutsche Literatur 1565-1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit (Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte Beiheft 11 Reihe B), München 1979, 51-85; ders., Deutsche Metrik und Versgeschichte (s. Anm. 7), 172-176. Christian Wagenknecht, Weckherlin und Opitz. Zur Metrik der deutschen Renaissancepoesie, München 1971, 12-20 und 89-105. - Breuer, Deutsche Metrik und Versgeschichte (s. Anm. 7), 157-161. Vgl. Wagenknecht, Weckherlin und Opitz (s. Anm. 35), 25-37 und 56-65. - Breuer, Deutsche Metrik und Versgeschichte (s. Anm. 7), 162-168. Die beste Einführung in die Regeln der Verskunst der Romania ist immer noch W. Theodor Elwert, Französische Metrik, München 3 1970. Zu den frühen deutschen Übersetzungen des Genfer Psalters vgl. Erich Trunz, Die deutschen Übersetzungen des Hugenottenpsalters, in: Euphorion 29 (1928), 578-617. Die Literaturgeschichtsschreibung folgt bis heute den Bewertungen Schedes, Lobwassers und von Winnenbergs durch Trunz. Die Psalmenübersetzung des Paul Schede Melissus (1572), hg. v. Max Hermann Jellinek (Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 144-148), Halle 1896, 162.

Poetik der geistlichen Lieddichtung in Deutschland vor dem Genfer Psalter

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Nach Got prent mein haertz der sot, Nach dem lebendigen Got: Ach! wan waîrd ich dahin geën, Fur Gots antlitz mich zù seen?

Schedes Nachahmung der französischen Versprinzipien fuhrt zu einem äußerst lebendigen, fast freien Rhythmus, dem man in Verbindung mit lautmalenden Effekten die zugrundeliegende Siebensilbigkeit kaum mehr anmerkt. Ambrosius Lobwasser steckt hier erkennbar zurück; er übersetzt:40 WJe nach einem wasser quelle ein Hirsch schreiet mit begir, Also auch mein arme seele rafft vnd schreit, Herr Gott, zu dir. Nach dir, lebendiger Gott, sie durst vnd verlangen hat: ach, wenn sol es dann geschehen, das ich dein antlitz mag sehen?

Lobwasser gibt vor der Übersetzung auch in diesem Fall die Eckwerte der jeweiligen Versart an: „Diese Verse seind siebensylbig, zum theil überschüssig [= weiblich] und geschrenckt [= im Kreuzreim]." Auch er orientiert sich an der syntaktisch begründeten Tonstellenverteilung der französischen Vorlage, läßt aber einer trochäisch geordneten Rhythmisierung viel mehr Raum als Schede, d. h. er versucht zwischen der von Luther begründeten Versifikation und der Versifikation der französischen Calvinisten zu vermitteln, indem er deren Effekte zwar abdämpft, aber in Maßen auch gelten läßt. Er ist übrigens auch sprachlich näher an Luthers Übersetzung des Psalms 42 als Schede, und auch die alte Barform ist bei ihm leichter herauszuhören als bei Schede.41 Versgeschichtlich gesehen ist die durch den Genfer Psalter in Deutschland angestoßene Auseinandersetzung mit der damals modernen französischen Verskunst nur eine Episode geblieben.42 Letztlich setzte sich seit Opitz eine streng regulierte sprachkonforme Versifikation durch, aber mit der Forderung, zugleich die Lebhaftigkeit der freieren französischen Versifikation zu realisieren. Als vorbildlich galten den deutschsprachigen geistlichen Liederdichtern aber auch weiterhin die variablen Strophenformen und Melodien des Genfer Psalters.

40 41

42

Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied (s. Anm. 1 ), IV, 848. Der vermittelnden Art der Versifikation entspricht, wie der Beitrag von Lars Kessner, Ambrosius Lobwasser. Humanist, Dichter, Lutheraner (in diesem Band) zeigt, auch eine ebensolche, zwischen calvinistischer und lutherischer Theologie vermittelnde argumentative Position Lobwassers: ein wichtiger Grund fur den großen Erfolg des LobwasserPsalters. Vgl. Christian Wagenknecht, Deutsche Metrik. Eine historische Einfuhrung, München 1981, 58; ders.: Weckherlin und Opitz (s. Anm. 35), 70-75.

Klaus Garber

Erwägungen zur Kontextualisierung des nationalliterarischen Projekts in Deutschland um 1600

Die Erforschung der deutschsprachigen Psalmendichtung um 1600 besitzt eine respektable Tradition. Die frühesten Versuche, der deutschen Sprache am Ende des Reformationsjahrhunderts ein neues, nämlich anspruchsvolleres Niveau zu gewinnen, waren zu auffallig, als daß sie nicht eingeladen hätten, an einem vergleichsweise gut überschaubaren Quellencorpus nachvollzogen und interpretativ entfaltet zu werden. In diesem kleinen Beitrag soll kein Versuch unternommen werden, die erkleckliche Reihe der Arbeiten fortzuführen. Die Stichworte Psalmendichtung, Psalmenübersetzung, Psalmeneindeutschung, oder wie sie sonst lauten, dienen nur dazu, unsererseits einen mit ihnen mehr oder weniger deutlich konnotierten Aspekt aufzunehmen, um auch ihn sogleich in sehr viel weitere Dimensionen einzurücken. Der kleine Wink, den die deutlich profilierte Gattung im Blick auf ihren stofflichen Radius birgt, soll genutzt werden, um noch einmal Probleme des Ursprungs der neueren deutschen Kunstdichtung zu umkreisen, die auch mit der Psalmendichtung und ihren konfessionellen Milieus verknüpft sind, freilich weit über sie hinausreichen, und eben dieser weitere Horizont soll uns in diesem Beitrag beschäftigen. Eine ganz andere Frage ist natürlich, ob ein solcher Versuch denn überhaupt noch zeitgemäß ist. Verstehen wir die Zeichen der Zeit richtig, so sind Bemühungen um komplexe, d. h. disziplinenübergreifende, heterogene Quellen- und Traditionsbestände in den Blick nehmende Verfahrensweisen nicht eben favorisiert. Sie suggerieren, daß ihnen gelingen könne, was den Einzeldisziplinen

Der vorliegende Text meines Emder Vortrags ist in der ursprünglichen Fassung belassen worden. Auf die Beigabe von Anmerkungen wurde verzichtet. Die einschlägige Literatur ist in großer Ausführlichkeit in einem Buch versammelt, das sich im Druck befindet: Klaus Garber, Nation - Literatur - Politische Mentalität. Beiträge zur Erinnerungskultur in Deutschland. Essays, Reden, Interventionen, Paderborn 2003. Außerdem darf verwiesen werden auf zwei jüngst erschienene bzw. im Druck befindliche Aufsätze, die - thematisch verwandt - gleichfalls reich mit Literatur ausgestattet sind: ders., Späthumanistische Verheißungen im Spannungsfeld von Latinität und nationalem Aufbruch, in: Germania latina Latinitas teutonica. Politik, Wissenschaft, humanistische Kultur vom späten Mittelalter bis in unsere Zeit, hg. v. Eckhard Kessler / Heinrich C. Kuhn (Humanistische Bibliothek, Reihe I: Abhandlungen 54), Paderborn 2003, 107-142; ders., Literatur in der Stadt - Bilder der Stadt in der Literatur. Eine kleine europäische Revue, in: Vielerlei Städte - Der Stadtbegriff, hg. v. Peter Johanek / Franz-Joseph Post (Städteforschung A 61), Köln/Weimar/Wien 2003.

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Klaus Garber

versagt ist, nämlich eine zumindest doch annäherungsweise Vergegenwärtigung historischer Filiationen und Gemengelagen, um nicht zu sagen interdependenter Systemelemente. Derartige auf historische Bezüglichkeiten ausgerichtete Unternehmungen stehen in einem denkwürdigen Kontrast zu den rapide zumindest im krisenanfälligen Fach Germanistik sich ausbreitenden dekonstruktiven Lesungen von Texten. In ihnen ist die Lust am Herauspräparieren des an den Texten noch nie Wahrgenommenen und Zutagegetretenen, ihre Bürstung gegen den Strich, das heißt gegen alles, was gesichert galt, so unbändig, daß jeder Versuch, auf Verifizierung zu beharren, von vornherein auf altmodische Denkart, um nicht zu sagen auf Vergreisung hindeutet. Meine Ausführungen werden also mit der Anmutung konfrontieren, nicht Befindlichkeits-Rückmeldungen in der Begegnung mit Texten um 1600 zu erhalten, sondern um Kohärenz und Konsistenz bemühte Thesen zu einem nach wie vor nur mangelhaft aufgeklärten historischen oder genauer: literarhistorischen Rätsel. Daß es solche immer noch geben könnte, ist ja selbst vielleicht schon eine an Häresie grenzende Vorstellung. Die Pflege der Psalmendichtung erfolgt bevorzugt im Umkreis des reformierten Bekenntnisses. Das ist bekannt, auch wenn zu fragen erlaubt sein darf, ob die möglichen Erklärungen für diesen gesicherten Tatbestand schon ausgeschöpft sind. Es würde sich beispielsweise lohnen, einem kardinalen und immer noch zu wenig beachteten Segment humanistischer Psalmen- und darüber hinaus humanistischer Bibeldichtung um 1600 einmal nähere Aufmerksamkeit zuzuwenden, nämlich der von den mit allen Wassern gewaschenen gelehrten Schreibern so besonders raffiniert und anspielungsreich gehandhabten Vorrede. Allein bei Opitz tut sich da ein fast unübersehbares und gleichfalls keineswegs hinlänglich beackertes Feld auf: Lobgesang Jesu Christi, Lobgesang über den Geburtstag Jesu Christi, die Episteln der Sonntage auf die gemeinen Weisen der Psalmen gefaßt und wenigstens ein Dutzend weitere selbständige PsalmenAdaptationen, die Klage-Lieder Jeremía, das Hohe Lied, der Jonas, die Judith, um nur die wichtigsten Titel zu nennen. Die bloße Nennung reicht hin, um ein auffalliges Überwiegen alttestamentlicher Stoffe auszumachen. Die Affinitäten des Calvinismus zum Alten Testament sind bekannt. Etwas anderes aber ist es, wenn ein herausragender Dichter des Späthumanismus, der nicht auf eine Konfession zu verpflichten ist und schon gar nicht als Dichter im Dienste einer Konfession auftritt, sich so prononciert alttestamentarischen Sujets zuwendet. Dann führen neben mehr oder weniger deutlichen Signalen in den Texten nur die Vorreden auf die rechte Spur. Sie bezeugen in hinlänglicher Deutlichkeit ein Dreifaches: die Faszination von Gestalten, die um den Preis ihres Lebens und aller weltlichen Güter an dem einmal ergriffenen Glauben festzuhalten und keine Abweichung zu dulden bereit sind; die Sensibilität für Akte des Widerstands gegen Glaubenszwang und damit einhergehend für Taten der Auflehnung gegen politische Unterjochung; schließlich die Erkenntnis der Vorbildhaftigkeit eines seine nationale Identität im Glauben gewinnenden Volkes, der Kräfte freisetzt, die der säkularen Gemeinschaft notgedrungen unbekannt bleiben müssen. Es reicht, diese Vorstellungen nur eben zu streifen, um

Erwägungen zur Kontextualisierung des nationalliterarischen Projetas

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sogleich die Nähe zur aktuellen zeitbezogenen Dichtung Opitzens und seiner Zeitgenossen zu gewahren. Verwiesen sei allein auf das Trostgedichte in Widerwärtigkeit des Kriegs, Opitzens gewiß größte Dichtung, in der sich antike, dem Stoizismus und der Consolatio-Tradition verpflichtete Argumentationsmuster mit biblischen, humanistischen und nicht zuletzt aktuellen politischen (im alteuropäischen Sinn des Begriffes) kreuzen; sie sind so ineinander verwoben, daß die Nähe zur Vorreden-Poetik seiner Bibeldichtung unmittelbar auf der Hand liegt. Der Literaturwissenschaft aber ist es ja nun aufgetragen, nicht einen Zweig der erneuerten deutschen Kunstdichtung wie etwa die Psalmendichtung zu isolieren und nach Gründen für das hervorstechende Interesse an seiner Pflege zu fragen, sondern die Erneuerung der weltlichen wie der geistlichen Dichtung in allen Manifestationen in einer Theorie ursprünglicher Faktoren zu verarbeiten. Welche Hilfe, um bei dieser Fragestellung zunächst zu verharren, leistet das konfessionelle Paradigma, von den Historikern in den letzten zwei Jahrzehnten so unermüdlich traktiert und hier zunächst wieder zu beziehen auf die sog. Zweite Reformation mit der Prävalenz der reformierten Glaubensgestalt? Die Antwort muß lauten, daß sie zunächst eine auffallige regionale Besonderheit in das Blickfeld rückt und zugleich auch einen Schlüssel für ihr Vorhandensein birgt. Die frühen Ansätze zur Ausbildung einer deutschsprachigen humanistisch geprägten Kunstdichtung sind erstaunlich wenig von der südlichen Romania inspiriert. Der Schwenk zur neulateinischen Dichtung mehr als ein Jahrhundert früher stand wie selbstverständlich im Zeichen des fortgeschrittenen Italien. Celtis, zweifellos wichtigste Figur in diesem Transformationsprozeß, ist gänzlich auf Italien fixiert. Die Akkulturation des Reichs der alten Germanen geschieht nicht zuletzt, um den Italienern den Anlaß für ihren Spott auf das zurückgebliebene Land jenseits der Alpen zu nehmen. Diese einseitige Ausrichtung auf Italien ist ein Jahrhundert später nicht mehr vonnöten; allzuviel hat sich in anderen Ländern zwischenzeitlich getan, als daß ein Land noch die Führungsrolle behaupten könnte. Spanien überdies wirkt im katholischen Süden sehr früh und zeitweilig auch sehr intensiv. Der Großteil der protestantischen Territorien ist diesem Einfluß naturgemäß sehr viel schwächer ausgesetzt. Die Stunde Spaniens wie Italiens kommt erst wieder bzw. zum ersten Mal in großem Stil nach 1648 und ist eng verknüpft mit dem Aufstieg der höfischen Kultur in Deutschland und mit der Faszination, die von der atemberaubenden Artistik der Sprachkultur auf literarische Landschaften nahe dem katholischen Kulturkreis wie Schlesien oder Franken ausgeht. Um 1600 sind die kulturellen Gewichtungen gänzlich anders gelagert, und das eben, um unseren Leitfaden nicht aus den Augen zu verlieren, vor allem aufgrund konfessioneller Optionen und Affinitäten. Zwei Länder stehen für die reformbereite nobilitas litteraria Deutschlands im Lichtkegel des Interesses, Frankreich und die Niederlande. Sie verbindet wenig, und eben deshalb muß sogleich differenziert werden. Frankreich gibt das Beispiel für eine vom Hof ausgehende und auf ihn ständig zurückbezogene

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Erneuerung der französischen Dichtung im Umkreis der Pléiade. Literaturstrategen wie Melissus Schede, Dornau oder Opitz haben sich von dieser Interaktion zwischen gelehrten Poeten und monarchischer Regentschaft beeindruckt gezeigt und sie um jeden Preis in Deutschland wenn nicht auf der Ebene des Reichs, so doch auf der der Territorien zu wiederholen gesucht. Doch damit ist nur die halbe Wahrheit gesagt. Der konfessionelle Bürgerkrieg, in keinem Land leidenschaftlicher und blutiger ausgetragen als in Frankreich, hatte auch den Entfaltungsprozeß der Literatur nicht unberührt gelassen. Die Hugenotten hatten mit Marot, de Bèze, du Bartas, und wie sie heißen, Dichter auf ihrer Seite, die unter Beweis stellten, daß die konfessionelle Option durchaus mit einer poetischen Erneuerung Hand in Hand gehen konnte, ja Kräfte freisetzte, die zur Selbstbehauptung gegenüber dem mächtigen Glaubensgegner befähigten. Unser bester Kronzeuge, eben das Trostgedichte von Opitz, lehrt, wie genau dieser Aspekt wahrgenommen und als vorbildhaft begriffen wurde. Womöglich noch intensiver galt nämliches für die Niederlande. Hier hatte ein kleines Volk gezeigt, wie einem mächtigen Aggressor getrotzt werden konnte und wie die Poesie genauso wie die gelehrte Kultur - Stichwort Leiden geradezu Hand in Hand mit dem Widerstand sich formierte. Die Poesie war durchgängig bedacht auf formale Kultur. Aber das hinderte nicht, daß sie ungezählte Signale für die Behauptung der Freiheit und die Bewahrung nationaler Autarkie barg. Poetisches, politisches und konfessionelles Handeln ging eine Symbiose ein, für die sensible Nachbarn im Reich in einer ganz ähnlich sich zuspitzenden Situation das feinste Gehör besaßen. Doch damit nicht genug. Der Blick streifte durchaus auch herüber zum elisabethanischen England und heftete sich an Gestalten aus dem Kreis um Philip Sidney, der aufs engste mit den jungen Niederlanden und den politisch wachen Köpfen in Frankreich kommunizierte und seinerseits fortspann an der Erneuerung der Poesie und zugleich der Sammlung von Kräften, die die Formierung des nachtridentinischen Katholizismus und seine machtpolitische Absicherung mit größter Sorge sahen und zur Einigung der Protestanten anhielten. Doch wäre es falsch, die Wahrnehmung der Opitz-Generation allein auf den Westen ausgerichtet zu sehen. Sie wurde auch auf den Osten gelenkt. Für die schlesisch-lausitzische Intelligenz war Böhmen mit Prag im Zentrum erste und wichtigste Station der Orientierung. Wie wiederum das Beispiel Opitzens lehrt, erstreckte die Fühlungnahme sich durchaus weiter nach Ungarn, ja bis in das calvinistische Siebenbürgen. Und in der nordöstlichen Richtung? Nur unweit der schlesischen Grenze lag Großpolen mit Lissa als zeitweiligem kulturellem Zentrum. Kaum einer der adligen Magnaten, der zum reformierten Bekenntnis neigte und der nicht auf den gelehrten Hochburgen des Westens, in Heidelberg und Straßburg, Basel und Lyon, Saumur und La Rochelle in Begleitung gleichgesinnter Hofmeister seinen Studien nachgegangen wäre. Von Großpolen aber führte der Weg weiter in das Preußen Königlichen Anteils mit Thorn, Elbing und Danzig als gelehrten Kristallisationspunkten in Gestalt illustrer Gymnasien, in deren Lehrkörper der Geist des calvinischen Glaubens eine vielgestaltige Heimstatt besaß. Man braucht auch hier wieder nur dem Lebensweg eines Opitz

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zu folgen, um zu gewahren, wohin die Schritte in der Not führten, wenn die Heimat drangsaliert wurde, die Luft zum Atmen fehlte und selbst so mächtige Gönner wie die Piastenherzöge den Exodus vollziehen mußten. Genug der rhapsodischen Vergegenwärtigung. Es sollte ein geographisches Terrain und mit ihm ein geistig-religiöses Kräftefeld abgesteckt und in Erinnerung gerufen werden, das nichts weniger als homogen sich darbietet und doch auf eine denkwürdige Weise die Wege Gleichstrebender geleitet hat. Es kann nicht Aufgabe dieses Beitrags sein, zu erkunden und darzustellen, was bewirkt haben mag, daß so weit auseinanderliegende Regionen über Lebensläufe einander näher rückten, j a Lebensgeschichten durch sie geformt wurden. Wohl aber soll nicht verschwiegen werden, daß wir uns von derartigen vergleichenden raumkundlichen Betrachtungen für eine werdende Kulturwissenschaft der Frühen Neuzeit viel, sehr viel versprechen. Sie hat nichts gemein mit Rasse und Blut und Boden, viel aber mit dem Versuch, kulturelle Ensembles zu erkunden, vergleichend zu profilieren und mit den künstlerischen Hervorbringungen in Kontakt zu bringen und dabei stets im Auge zu behalten, daß es für lange Zeit auch weiterhin die Konfessionen sind, die die tiefsten Markierungen in einem dichten Geflecht heterogener Stränge zu hinterlassen pflegen. Im hier zur Rede stehenden Raum ist es immer wieder zu auffalligen Amalgamierungen von humanistischer Sozialisation, zum Reformiertentum tendierender Religiosität und nationaler politischer Artikulation gekommen, die deshalb so schwer zu fassen und zu beschreiben sind, weil sie in raschem Wechsel befindlich sich darbieten und vor allem einer simplen Zurechnung und Identifizierung sich versagen. Ist deutlich, daß eine gewisse Bevorzugung des reformierten Bekenntnisses immer wieder durchschlägt, so würde es gleichwohl fast ganz unmöglich sein, diese Option theologisch zu fassen. Sie ist dogmatisch offensichtlich nicht zu fixieren, und die Vermutung liegt nahe, daß es um eine der Zeit geschuldete und nur für eine kurze Zeit mögliche Verschlingung politischer Hoffnungen und konfessioneller Optionen ging, die obsolet wurde, als das übernationale Bündnis zusammenbrach und nackte Machtpolitik das letzte Wort behauptete, wie alsbald nach 1620 nur allzu deutlich. Vor allem aber ist es die humanistische Herkunft und die niemals preisgegebene Haftung an den gelehrten Studien, die die denkwürdige Färbung in das Bild bringt. Diese nobilitas litteraria um 1600, von der Pfalz und dem Oberrhein sowie von Schlesien, Böhmen und der Lausitz aus in ständigem Kontakt mit den Nachbarn in Ost und West auf dem angedeuteten Terrain agierend, hat sich als Sachwalter der Humaniora in einer geschichtlichen Situation verstanden, die es so in Europa noch nie gegeben hatte und die neue Antworten zwingend erforderte. Stand doch allen die Ungeheuerlichkeit der Militarisierung einer definitiv gespaltenen Christenheit vor Augen, die zu nie gehörten und gesehenen Greueln geführt hatte und zu einer Revision alles bislang für gültig Erachteten nötigte. Das aber, so überall bei den Wortführern um 1600 zu studieren, konnte, was den Glauben anging, nur in einer Wiedergewinnung der ersten und einfachen Prinzipien des christlichen Glaubens und der christlichen Lehre liegen, wenn denn überhaupt noch an ein Überleben der schwer angeschlagenen Religion geglaubt werden

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durfte. Darum liegt über den Zeugnissen dieser so agilen späthumanistischen Intelligenz wiederholt bereits der Vorschein aufgeklärter Gestalten des Denkens. Um 1600 sind nach einem Jahrhundert des Zerfalls aber eben auch der Erneuerung des christlichen Glaubens von den besten Köpfen Antworten gesucht und teilweise gültig formuliert worden, die weit in die Zukunft wiesen und eben nur im Schnittpunkt von humanistischen, religiösen und politischen Anstößen ihr Besonderes zu erkennen geben. Damit scheinen wir weit abgekommen von unseren literarhistorischen Belangen. Doch eben nur scheinbar. Das auf den ersten Blick so selbstgenügsame literarische Spiel mit den antiken Formen und ihrer Überfuhrung in die nationalen Idiome ist gerade im konfessionellen Zeitalter viel enger mit den kurrenten Diskursen verschwistert, als noch die sog. erneuerte Barockforschung in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wähnte. Hier bestand und besteht entschiedener Nachholbedarf im Zurechtrücken und überhaupt In-den-Blick-Nehmen der geschichtlich prägenden Faktoren. Auf eine schwer zu fassende und doch naheliegende Art und Weise nimmt auch die Erneuerung der Poesie an jener allenthalben um 1600 spürbaren Modernisierung im Angesicht der größten Herausforderungen der Zeit teil - und dies unserem heuristischen Axiom gemäß in engster Verbindung mit humanistischreligiös und politisch-national unterlegten Grundierungen. Kein Geringerer als Konrad Burdach, völlig zu Unrecht in den Schatten Jacob Burckhardts gedrängt, hat uns in monumentalen, aber offensichtlich nicht mehr studierten Untersuchungen sehen gelehrt, wie der Humanismus im Trecento in Italien in dieser Verschränkung aus religiöser Wiedergeburt, antiker Erneuerung und inbrünstigem Romkult in die Welt trat. In der antiken Polis, die in der besten Zeit ein Weltreich zusammenhielt, besaß das zersplitterte Land ein Versprechen, das gelehrte Bemühung gepaart mit politischer Agitation unter den Bedingungen der werdenden Moderne zu revitalisieren sich anschickte. Dieser ganz frühe nationale Aufbruch, verpuppt in antike Reminiszenzen und - wie Cola di Rienzo lehrt - umspielt von Bildern aus dem Arsenal der joachimitischen Prophetie, kann in seiner Wirkung auf die werdenden Nationen Europas schwerlich erschöpft werden. Und das gewiß nicht hinsichtlich seiner offenkundig mehr als einmal phantastischen Visionen, sondern eben im Blick auf seine unterschwelligen Herausforderungen. Dem humanistischen Impuls Italiens außerhalb Italiens folgen hieß automatisch, den in die Humaniora verwobenen nationalen Anspruch, der sich schon am Ende des italienischen Quattrocento als ein Phantom entpuppte, zu parieren und also sich in ein sehr genaues Verhältnis zu ihm zu setzen. Die Geschichte der Ausbreitung des Humanismus in Europa ist auch eine der Generierung und Lancierung nationaler Mythen und Legenden. Das gehörte sozusagen zum humanistischen Geschäft und barg viel Fabulöses, bestenfalls augenzwinkernd Traktiertes. Aber es enthielt eben auch Begreifbares und Anknüpfungsfähiges, das herauszupräparieren den Kulturwissenschaften obliegt. Auf dem Felde der Poesie um 1600 ist bei der deutschen Nation so wenig wie bei irgendeiner sonst zu übersehen, daß die Erneuerung der deutschen Spra-

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che als notwendige Voraussetzung einer Erneuerung der Dichtung immer noch umspielt ist von all jenen humanistischen Ingredienzien, die die Italiener zum Erweis ihrer kulturellen Überlegenheit sich zurechtgeschmiedet und in Umlauf gebracht hatten. Sie erfreuten sich gleich eines doppelten Vorzuges: Die Erneuerung des Lateinischen ließ sie als die würdigen Nachfahren ihrer auf dem nämlichen Boden wirkenden großen Vorbilder erscheinen. Oft mochte es scheinen, daß nur auf italienischem Boden sich eine authentische Renaissance, sprich Reformulierung der antiken Sprache und Geistigkeit vollziehen konnte. Taten sie dann aber den nächsten Schritt und gingen von dem antiken Idiom zum volkssprachigen der Gegenwart über und erwiesen damit, daß auch das Italienische zur Höhe des Lateinischen emporzubilden war, so hatten sie gleich zwei Trümpfe in ihrer Hand. Eine solche Duplizität kulturpolitischen Agierens konnte in dieser Gestalt in keinem anderen Land wiederholt werden. Auch daher rührt das uneigentliche Sprechen, das mit dem humanistischen so eng verschwistert erscheint und eben immer zu Auslegung und Übersetzung nötigt. Der römisch-nationale Diskurs war von keiner anderen Nation wortwörtlich zu wiederholen. In Deutschland wurde er schon von der Celtis-Generation durch einen germanophilen im Zeichen des Tacitus ersetzt. Er wiederum konnte sich auf denkwürdige Weise mit linguistisch umformulierten Translatio-Vorstellungen verknüpfen. Am Ende lief es wie bei den anderen Nationen so oder so auf den besonderen Adel der eigenen Volkssprache hinaus. Darum eben ist man gut beraten, neben diesen sattsam bekannten und durch und durch topologisch besetzten Argumentationsreihen auf die wirklich aktuellen Konfigurationen sein Augenmerk zu richten, denn an ihnen und nicht an den fabulösen Philosophemen wird deutlich, um was es in jeweils sehr dezidierter Zeitgenossenschaft tatsächlich geht. Auf Seiten Deutschlands gibt sich bei allen führenden Sprechern um 1600 und in den beiden ersten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts ein erstauntes und erschrockenes Erwachen zu erkennen, das ein banges ,Zu spät?' auf den Lippen führt. Wenn die kleinen Niederlande seit einigen Dezennien eine nationale Literatur ihr eigen nennen, die Nachbarn im Osten eine nationale Renaissancekultur zuwege gebracht haben, von Italien, Frankreich, England gar nicht zu reden, dann ist es allerhöchste Zeit, daß auch Deutschland Anschluß findet an eine inzwischen durchgängig europäische Bewegung. Daher das Forcierte in so vielen der programmatischen Verlautbarungen und - so muß man einräumen - das Überzogene des panegyrischen Überschwangs angesichts selbst des unscheinbarsten poetischen Gehversuchs. Immerhin, um 1620 mehren sich die Zeichen, daß unabhängig voneinander, zugleich aber auch immer wieder in denkwürdigen Kontakten in Heidelberg, in Stuttgart, in Straßburg, in Prag, in Breslau, in Danzig, alsbald in Kothen und von der in Mitteldeutschland sich formierenden Fruchtbringenden Gesellschaft ausgehend die Versuche, im deutschen Idiom anspruchsvolle Poesie zu schreiben, sich verdichten. Die unglaubliche Erfolgsgeschichte von Opitzens 1624 erschienener Poeterey ist j a nur zu erklären aus der Tatsache, daß sie wie schon der voraufgehende Aristarch in wenigen eindrucksvollen Wendungen auf den Punkt brachte, was allenthalben sich bereits regte und nun in eine programmati-

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sehe Verlautbarung gefaßt wurde. Sondern wir aber von den ungezählten poetischen Exerzitien, die schlicht nicht mehr als die Einübung in eine inzwischen gemeineuropäische humanistische Koine bezeugen, die anspruchsvollen, mit programmatischem Gewicht auftretenden Denkmäler ab und richten unser Augenmerk auf sie, so sollte es einem geschulten Blick nicht allzu schwer fallen, den Punkt ausfindig zu machen, der am gewählten Idiom und am kulturpolitischen Impetus gleichermaßen haftet. Deutschland muß mit den Nachbarn in Ost und West verspätet gleichziehen, weil eine Nation zur Behauptung ihrer Würde wie ihrer Autogenität eines linguistischen Codes bedarf, der standardisiert und elaboriert ist und einen Vergleich mit dem seiner Nachbarn ringsum nicht länger zu scheuen braucht. Hat aber das im Zeichen Luthers sprachlich aufgewachsene protestantische Deutschland nicht längst diesen Schritt vollzogen? Wir rühren damit an ein Problem, das endlich nach systematischer Behandlung verlangte. Die Fruchtbringende Gesellschaft wird ein Jahrhundert nach dem Thesen-Anschlag gegründet. Die zeitgenössischen Panegyren wie die späteren Historiker haben auf diese sinnträchtige Koinzidenz genugsam hingewiesen. Doch sie blieb sprach- wie literaturgeschichtlich folgenlos. Das Lutherdeutsch war nicht das, was im Zuge der humanistischen Dichtungsreform auf dem Programm stand - genauso wenig wie die stadtbürgerliche Dichtung des 16. Jahrhunderts, die sich in ihrem Gefolge gebildet hatte. Opitz erteilt nur der letzteren durch Schweigen eine Absage. Doch seine Reform über Rückbezug auf Luther zu begründen, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Das humanistische Koordinatensystem war ein gänzlich anders geartetes. Gab es in ihm neben dem Rekurs auf die als Lückenbüßer fungierenden Germanen einen historischen Punkt der nationalen Referenz, so über die höfischen Dichter des Mittelalters. Ansonsten waren es ausschließlich die Dichter und ihre Mäzene des fortgeschrittenen Auslands, die als Vorbilder in Frage kamen und gerade von Opitz immer wieder bemüht wurden. Die Frage sei also noch einmal wiederaufgenommen: Wie ist in dem verspäteten und eben deshalb dezidierten und programmatischen Anschluß an die gemeineuropäische humanistische Koine eine wie auch immer kryptische und womöglich gar konfessionell unterlegte nationale Komponente auszumachen, wie es sie im 16. Jahrhundert im Zeichen Luthers so gewiß nicht gab? Der Erneuerung der deutschen Sprache und Dichtung aus dem Born der Antike und der sie wiederbelebenden jüngeren europäischen Nationen eignet nach Meinung ihrer Propagatoren ganz offensichtlich genau in ihrer klassizistischen und also durch Muster präformierten Gestalt die Kraft, nationale Anliegen zu integrieren und zu befördern. Eine Akkulturation der deutschen Landschaften nicht mehr wie bei Celtis und den Seinen über die lateinische, sondern nun dezidiert über die deutsche Sprache ist ganz offensichtlich dazu angetan, Verständigung und damit Einigung zu befördern. Eine im antiken Formengewande deutsch dichtende Gelehrtenschaft nimmt symbolisch linguistisch agierend andere als nur linguistische Belange wahr. Wir stoßen auch in Deutschland in der letzten Phase des Humanismus, die mit dem Begriff des Späthumanismus so treffend gekennzeichnet ist, noch einmal auf das urhumanistische und eben durch und durch

Erwägungen zur Kontextualisierung des nationalliterarischen Projekts

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idealistische Credo, daß der zur Sprache begabte Mensch, indem er spricht, nicht nur seinen menschlichen Adel unter Beweis stellt, sondern alle Bereiche des Lebens als von Sprache geprägte adelt und nach seinem Bilde schafft. In diesem Sinn ist poetisches Sprechen auf höchstem, nämlich antikegeleitetem Niveau auch mit der Lizenz versehen, um nicht zu sagen von der Utopie begleitet, in der linguistisch modernisierten Nation auch ihre politische Verfaßtheit befördert zu sehen. Wir vermögen uns diesen an der Sprache haftenden politischen Impetus nur noch mit allergrößter Mühe zu vergegenwärtigen. Das darf uns nicht daran hindern, diesen Versuch zu unternehmen, weil nur so eine Kernzone sprachlichen Handelns im Umkreis des Humanismus berührt wird. Ist dies aber verständlich zu machen, so werden wir automatisch auch zu unserer Überlegung in konfessions- und literarhistorischer Absicht zurückgeführt. Die eigene Sprache im eigenen Land zu ergreifen hieß Anschluß zu finden an die Nachbarvölker, hieß aber zugleich immer auch, einen Wall aufzurichten gegenüber unerwünschtem Fremdeinfluß. Es kann in Kenntnis der einschlägigen Äußerungen eines Lingelsheim, eines Zincgref, eines Bernegger, und wie die wachen und hellen Köpfe sonst hießen, doch schwerlich einem Zweifel unterliegen, daß im deutschen Idiom und in einer zu schaffenden deutschen Poesie auch der universalen und deshalb im Lateinischen verharrenden kulturellen Agitation im Umkreis des Katholizismus, vorgetragen vor allem durch den Jesuitenorden, ein Schild entgegengehalten wurde. Nationale kulturelle und speziell poetische Praxis und katholische Regentschaft brauchten nicht notwendig im Gegensatz zueinander stehen. Das hatte das grandiose Experiment unter Franz I. in Frankreich unter Beweis gestellt. Aber es war ein national gewendeter Katholizismus, der da im Regenten und illustren Hof seine Schirmherrschaft über den poetischen Versuchen der Dichter errichtete und diese zu dem nationalen Experiment ermutigte, das zugleich der Krone so eminent entgegenkam. Eine vergleichbare Situation war fast ein Jahrhundert später im Reich nicht mehr gegeben. Die Wortführer des Humanismus, über die Ländergrenzen hinweg in engstem Kontakt, fürchteten nichts mehr als die Expansion der katholischen Mächte unter Führung Spaniens. In diesem Lichte nahmen die poetischen Sprachspiele, umgeben von hektischen diplomatischen Aktivitäten, in die die gleichen Gestalten nicht selten ebenfalls mit verwickelt waren, ein anderes Aussehen an als vormals in der gefestigten Monarchie vor den Bürgerkriegen. Es gibt für die denkwürdige Vorreiterrolle der calvinistischen Territorien nicht nur auf dem Felde der internationalen Diplomatie, sondern eben auch auf dem nur vermeintlich unschuldigeren der Sprache und Poesie keine andere Erklärung als eben die, daß im Umkreis des Calvinismus ein wacheres und geschärfteres Bewußtsein wiederum nicht nur von den drohenden politischen Gefahren, sondern eben auch von den subtileren Möglichkeiten symbolischer Interventionen am Werk war, das dem Übergang zum nationalen Idiom seine Stoßrichtung und Perspektive verlieh. Die mit dem Winterkönig aufbrechende Intelligenz erhoffte sich von der Installation des Königtums auf dem böhmischen Thron auch die Konsolidierung der deutschen Sprache und mit ihr der deutschen Poesie. Genau das war das Anliegen des reformierten Fürsten Ludwig von Anhalt und der

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tragenden Kräfte im Umkreis der Fruchtbringenden Gesellschaft. Opitz und die Seinen taten alles, um genau diese Sicht der Dinge zu befördern. Das nicht zuletzt gibt dem Scheitern des Winterkönigs auch kulturpolitisch seine Konturen. Mit der Marginalisierung des Calvinismus auf deutschem Boden und der in seinem Gefolge um die Spitze gebrachten poetischen Reformbewegung ging eine Hoffnung zugrunde, die sich an diese Reform kulturpolitisch wie politisch geknüpft hatte. Es ist ergreifend zu sehen, wie die Dichter in dem nun ausbrechenden Krieg dem nationalen Anliegen treu blieben und in der Gestalt der geschundenen Germania ein Mahnmal errichteten, das noch einmal die Statur aus der Frühzeit des Humanismus, verknüpft mit den Namen Dantes und Petrarcas, anzunehmen vermochte. Nicht zuletzt die Psalmendichtung - von Melissus Schede bis Opitz und darüber hinaus - entfaltete in diesem Drama des 16. und 17. Jahrhunderts mehr als einmal neuerlich Kräfte des Zuspruchs, des Trosts und der gläubigen Gewißheit.

Ralf Georg

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Transformationen des Psalters im Spannungsfeld von gemeinschaftlicher Adhortation und individueller Meditation Paul Schedes Psalmen Davids und Psalmi

aliquot

I. Paul Schede, der sich nach dem Geburtsort seiner Mutter Melissus nannte, zählt zu den herausragenden Gestalten des literarischen Lebens in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.1 Literarhistorische Bedeutung erlangte der aus dem Fränkischen stammende Dichter, Komponist und nachmalige Leiter der kurfürstlichen Bibliothek in Heidelberg vor allem durch die Schöpfung des vermutlich ersten deutschsprachigen Sonetts, eines Epithalamiums, das er anläßlich der Hochzeit eines gewissen Jörgen von Averli mit Adelheit von Grauwart verfaßte und das Wilhelm Zincgref in den Anhang seiner Opitz-Ausgabe von 1624 als Beispiel muttersprachlicher Lyrik vor Martin Opitz aufnahm.2 Wenngleich die Festschreibung auf diese für die deutsche Literatur wegweisende Einzelleistung dem Schaffen des Dichters nicht im mindesten gerecht wird - schließlich sind von Schede mehr als 2000 lateinische Gedichte überliefert, die einerseits in den großen Sammlungen Schediasmata poetica (1574; 2 1586), Schediasmatum reliquiae (1575) und Meletemata pia (1592), 3 andererseits in einer fast unüber1

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Einen fundierten Überblick über Leben und Werk Paul Schedes sowie eine Aufstellung älterer und neuerer Forschungsliteratur bieten die Beiträge von Eckart Schäfer, Paulus Melissus (Schede), in: Stephan Füssel (Hg.), Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450— 1600). Ihr Leben und Werk, Berlin 1993, 545-560; ders., Paulus Melissus Schedius (15391602). Leben in Versen, in: Paul Gerhard Schmidt (Hg.), Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile, Sigmaringen 1993, 239-263; Wilhelm Kühlmann u . a . (Hg.), Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch (Bibliothek deutscher Klassiker 146; Bibliothek der Frühen Neuzeit 5), Frankfurt am Main 1997, 13951402. Historische Identität der Brautleute sowie Ort und Zeitpunkt ihrer Trauung sind nicht zweifelsfrei geklärt. Vgl. Leonard Forster / Jörg-Ulrich Fechner, Das deutsche Sonett des Melissus, in: Wolfdietrich Rasch u. a. (Hg.), Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Festschrift für Günther Weydt zum 65. Geburtstag, Bern/München 1972, 33-51 [wiederabgedruckt in: Leonard Forster, Kleine Schriften zur deutschen Literatur im 17. Jahrhundert, in: Daphnis 6 (1977), H. 4, 57-79]. Das Sonett ist gemeinsam mit vier weiteren deutschsprachigen Gedichten des Melissus im Anhang zu Martin Opitz' erster Gedichtsammlung (1624) überliefert. Vgl. Martin Opitz, Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, hg. v. George Schulz-Behrend, Bd. 2, Stuttgart 1978, 220-231, hier 231. [Paul Schede Melissus:] Melissi Schediasmata poetica. Item Fidleri Flvmina. Privilegio Caesareo. Francoforti ad Maenvm. Anno Christi 1574. [Paul Schede Melissus:] Melissi Schediasmata poetica. Secundo edita multo auctiora. Privilegiis Romani Caesaris ad VII.

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schaubaren Zahl von Kasualdrucken enthalten sind4 - , so fokussiert sie doch einen signifikanten Zug seines literarischen Profils. Indem Schede eine in der italienischen Literatur heimische Gedichtform für das Deutsche fruchtbar werden ließ, bewies er nicht nur Sensibilität fur Metrum und Rhythmus, sondern auch die Fähigkeit, Sprache einem fremden und dabei recht rigiden Strophenschema anzupassen. Beides, die Adaptation von im Deutschen bis dahin wenig gebräuchlichen Strophenformen wie die kreative Verwandlung von Sprache, hat Schede auch in seiner Übersetzung des Genfer Psalters von 1572 unter Beweis gestellt, die gemeinhin als seine zweite bedeutende literarhistorische Leistung gilt. Mit den Psalmen wandte er sich einer Textsorte zu, welche die Dichter seit dem 8. Jahrhundert immer wieder zu produktiven Bearbeitungen im weiten Spektrum von vorlagengetreuer Interlinearübersetzung bis poetischer Neuschöpfung herausgefordert hatte.5 Will man Schedes Leistungen auf diesem Gebiet angemessen beurteilen, so ist es nötig, den Blick über seine deutsche Psalterübersetzung hinaus auch auf seine späten lateinischen Psalmdichtungen zu lenken, die in herausragender Weise geistliche Inhalte mit klassisch-römischer Form verbinden. Denn während die Psalmen Davids in den Literaturgeschichten durchaus Erwähnung finden6 und sei es nur als der im Unterschied zu Ambrosius Lobwasser gescheiterte Versuch, ein Gesangbuch für die calvinistische Gemeinde ins Werk zu setzen, bedarf es bei den Psalmi aliquot schon der Befragung von Spezialliteratur, um überhaupt nur Kenntnis von ihrer Existenz zu erlangen. Einschlägige Untersuchungen zu ihnen fehlen bislang.7 Ziel des

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Et Franc. Regis ad IX. Annos. Lutetiae Parisiorum. Apud Arnoldum Sittartum sub scuto Coloniensis, monte divi Hilarij. Anno M D LXXXVI; [Paul Schede Melissus:] Melissi Schediasmatum reliquiae. Privilegio Caesareo authori concesso. Anno Christi 1575; [Paul Schede Melissus:] Melissi Meletematum piorum libri Vili., Paraeneticorum II., Parodiarum Π., Psalmi aliquot. Anno Christi MDVC. Recens editi. Privilegiis Romani Caesaris ad VII. et Francor. Regis ad IX. annos veneunt Francoforti ad Maenum, in Hieronymi Commelini bibliopolio. Im folgenden im Text mit den Siglen „Sched.", „Rel." und „Mel " sowie einfacher Band- und Seitenzahl zitiert. Schedes Geleitgedichte zu den Schriften von Freunden wurden postum von Justus Grisius gesammelt und veröffentlicht. Vgl. Ciariss. V. Jani Dousae & Pauli Melissi Musae Errantes. Accesserunt Hadriani Iunii Lugdunensia, Nec non poetarum quorundam praestantissimorum carmina varia. Justus Grisius ex foga retraxit, collegit, ac junctim posteritati edidit. Francofurti excudebat Nicolaus Voltzius. Impensis Johannis Thymij. Anno M D CXVI. Ein Initienverzeichnis sämtlicher lateinischer Gedichte nebst Drucknachweis befindet sich in Vorbereitung. Zur Geschichte der Psalmübersetzung vgl. Inka Bach / Helmut Galle, Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Untersuchungen zur Geschichte einer lyrischen Gattung (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Literaturgeschichte der germanischen Völker N.F. 95), Berlin/New York 1989; zu den Übersetzungen des Hugenottenpsalters vgl. ebd., 114-117. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts scheint Schedes Psalterübersetzung weithin unbekannt gewesen zu sein. Vgl. J. F. Roth, Von des Paul Melissus in teutsche Verse gebrachtem Psalter, in: Literarische Blaetter 4 (1804), Sp. 199-205. Die einschlägigen Untersuchungen zu lateinischen Psalterien des 15. und 16. Jahrhunderts in klassischen Versmaßen lassen Schedes Psalm-Oden unerwähnt. Vgl. Johannes A. Gaert-

Paul Schedes „ Psalmen Davids " und „ Psalmi aliquot "

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vorliegenden Beitrags ist es daher, neben Schedes volksprachlicher Übersetzung des Hugenottenpsalters auch seine Nachdichtungen einzelner Psalmlieder in der Gelehrtensprache im Hinblick auf ihren jeweiligen Entstehungskontext und Funktionszusammenhang vorzustellen.

II. Als Paul Schede im Oktober 1576 zu einer Reise nach Italien aufbrach, vorgeblich um dort ein Studium aufzunehmen und den Kontakt zu gelehrten Männern zu suchen, entzog er sich einer Situation, die sich für ihn sowohl in künstlerischer als auch in politischer und konfessioneller Hinsicht als aporetisch erwiesen hatte. 8 Trotz intensiver Bemühungen war es ihm bis dahin noch nicht gelungen, seinem Leben die gewünschte Richtung zu geben: Sein Fortgang aus Königsberg in Franken, wo er seit 1560 den Kantoreidienst versehen und erste dichterische Versuche unternommen hatte, war nicht allein dem Bedürfnis entsprungen, die Universalität der Bildungswelt kennenzulernen. Vielmehr galt es für ihn, ein Milieu zu finden, wo er anders als in seiner fränkischen Heimat als Anhänger Melanchthons weder die Verfolgung durch die Katholiken furchten mußte, noch Gefahr lief, sich als vermeintlicher Kryptocalvinist den Anfeindungen der Lutheraner auszusetzen. Erste Station seiner peregrinatio académica waren Wien und der Hof Ferdinands I. Zur ersehnten Anstellung als Hofdichter kam es dort aber nicht. Ehrungen, die er aus der Hand des Kaisers empfing, wie etwa die Krönung zum poeta laureatus (1564) und die Erhebung in den Adelsstand, stellten nichts weiter als einen formalen Akt der Dankesbezeugung des Herrschers für seine Preisgedichte auf das Haus Habsburg dar. Nicht minder erfolglos blieb Schedes Engagement beim Würzburger Fürstbischof sowie bei Ferdinands Nachfolger Maximilian II. Obwohl er schon in dieser Zeit die Akzeptanz und Wertschätzung der europäischen res publica litteraria genoß, vermochte dies die fehlende materielle Absicherung seiner Existenz nur unzureichend zu kompensieren. Zwar ließ sich Schede durch die Begegnung mit Orlando di Lasso (Orlandus Lassus) zu Lobgesängen auf die Macht der Musik anregen, zwar konnte er 1565 und 1566 eigene Motetten auf deutsche und lateinische Gedichte in den Druck geben, 9

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ner, Latin Verse Translations of the Psalms 1500-1620, in: Harvard Theological Review 49 (1956), 271-305; Bach/Galle, Psalmendichtung (s. Anm. 5), 126-146. Vgl. Enea Baimas, Paul Melissus viaggiatore italiano (Quaderni del seminario di lingue e letterature moderne straniere dell'Università di Padova 1), Verona 1969; Ralf Georg Czapla, Zwischen politischem Partizipationsstreben und literarischer Standortsuche. Die Italienreise des pfälzischen Späthumanisten Paul Schede Melissus, in: Beate Czapla u. a. (Hg.), Lateinische Lyrik der Frühen Neuzeit. Poetische Kleinformen und ihre Funktionen zwischen Renaissance und Aufklärung (Frühe Neuzeit 77), Tübingen 2003, 216-255. Zu Schedes Wirken als Komponist vgl. N. N., Art. Schede (Schedius), Paul, in: Biographisch-Bibliographisches Quellen-Lexikon der Musiker und Musikgelehrten der christli-

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seine Enttäuschung über die geringe transästhetische Wirksamkeit seiner Dichtkunst war jedoch so groß, daß er über fünf Bücher Elegien und zwei Bücher Epigramme ein Autodafé verhängte. 1567 verließ Schede die Donaumetropole und wandte sich nach einem kurzen Aufenthalt in den Niederlanden nach Paris, das er wegen der Auseinandersetzungen um die Hugenotten aber bald schon wieder verlassen mußte. Nach einem dreimonatigen Aufenthalt in Besançon, wo er den Komponisten Claude Goudimel (Claudius Goudimelis) kennenlernte,10 weilte er zwischen 1568 und 1571 in Genf. Dort Schloß er sich den Calvinisten an. Zweifellos zählten die in Genf verbrachten Jahre zu den fruchtbarsten in Schedes früher Lebensphase. So wurde er durch die Freundschaft mit dem im Genfer Exil lebenden Philologen Henri Estienne (Henricus Stephanus) zu lateinischen Nachdichtungen griechischer Lyrik angeregt. Er fand Zugang zum Stil der Pléiade und ahmte ihren manieristisch-antikisierenden Stil in lateinischer Sprache nach.11 Die Freundschaft mit Calvins Nachfolger Théodore de Bèze (Theodorus Beza), die zeitlebens währte und in zahlreichen Gedichten literarischen Ausdruck fand, veranlaßte Schede dazu, sich nun offen zum Calvinismus zu bekennen, zumal die Berührungspunkte zwischen Calvinismus und Philippismus ihm eine Konvertierung zum reformierten Glauben unnötig erscheinen ließen. 1570 schien sich zu der Anerkennung der gelehrten Welt nun endlich auch die der politischen Machthaber zu gesellen. Auf dem Reichstag zu Speyer erhielt Schede von dem reformierten pfalzischen Kurfürsten Friedrich III. den Auftrag, das liturgische Liederbuch der Calvinisten, den Hugenottenpsalter, ins Deutsche zu übersetzen.12 Persönliche Gründe wie Fragen der

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chen Zeitrechnung bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von Robjert] Eitner, Bd. 8, Leipzig 1903, 472f.; Ferdinand Haberl, Art. Schede, Paul Melissus, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 11, Kassel u. a. 1963, Sp. 1609; Ole Kongstedt, KronborgBrunnen und Kronborg-Motetten. Ein Notenfund des späten 16. Jahrhunderts aus Flensburg und seine Vorgeschichte (Schriften der Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte 43), Kopenhagen u. a. 1991. Zu Schedes Gedichten auf Orlando di Lasso vgl. Kühlmann (Hg.), Humanistische Lyrik (s. Anm. 1), 808-813, 1444-1446. Die Freundschaft zwischen Goudimel und Schede ist dokumentiert in zwei Briefen Goudimels an Schede sowie durch Schedes und seiner Freunde Gedichte anläßlich des gewaltsamen Todes des Komponisten in der Bartholomäusnacht (Rei. 78-84). Übersetzungen dieser Zeugnisse liegen vor in den von der Forschung bislang nicht beachteten Beiträgen von H[einrich] Bellermann, Zwei Briefe von Claude Goudimel an Paul Schede, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 9 (1874), Sp. 673-675; ders., Gedichte auf Goudimel und seinen Tod, in: ebd., Sp. 689-693. Vgl. dazu die grundlegenden Beiträge von Pierre de Nolhac, Un poète Rhénan ami de la Pléiade. Paul Melissus (Bibliothèque littéraire de la renaissance XI), Paris 1923; Annemarie Nilges, Imitation als Dialog. Die europäische Rezeption Ronsards in Renaissance und Frühbarock (Germanisch-romanische Monatsschrift, Beiheft 7), Heidelberg 1988, 47-61; Eckart Schäfer, Deutsche Quellengedichte aus Renaissance und Barock, in: Jürgen Blänsdorf u. a. (Hg.), Bandusia. Quelle und Brunnen in der lateinischen, italienischen, französischen und deutschen Dichtung der Renaissance (Beiträge zur Altertumskunde 32), Stuttgart 1993, 103-124. Zum bildungs- und konfessionspolitischen Programm Friedrichs III. vgl. Volker Press, Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559-1619 (Kieler historische Studien 7), Stuttgart 1970, 221-266; Christopher J. Burchill, Die Uni-

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K o m p e t e n z waren ausschlaggebend dafür, daß Schede mit dieser A u f g a b e betraut wurde: Z u m einen hatte er in G e n f die Bekanntschaft mit d e m Pfalzgrafen Christoph, d e m dritten Sohn des Kurfürsten, gemacht und sich durch Gedichte und Kompositionen dessen Wertschätzung erworben. Z u m anderen war er mit d e m Psalter vertraut, wußte deutsche w i e französische Verse zu dichten, war mit einem der Verfasser, B e z a nämlich, und d e m Komponisten Goudimelis befreundet und in den Jahren seines Frankreichaufenthalts zu einem Mittler z w i s c h e n Frankreich und Deutschland geworden. Schließlich prädestinierte ihn seine sittliche und religiöse Grundhaltung für die Übersetzung der Lieder Davids. Im Frühjahr 1571 kehrte Schede nach Heidelberg zurück 1 3 und machte sich mit Eifer ans Werk, erhoffte er sich doch v o n seinem Gelingen nichts weniger als Unsterblichkeit für seinen N a m e n , w i e aus einem kurz nach V o l l e n d u n g des ersten Drittels der Psalmübersetzung verfaßten Gedicht an Jakob Kimedoncius, den stellvertretenden Leiter des Sapienzkollegiums, hervorgeht: 1 4 IACOBO KLMEDONCIO.

AN JAKOB KIMEDONCIUS

Finio Iessaeae divina poëmata Musae,

Ich beendige die heiligen Lieder der JesseMuse, mein Jakob, die ich auf deutsch in erhabenem lyrischen Maß verfaßt habe. Daß eben diese Muse meinen Namen überall verbreite, dies ist dein Wunsch. Du wirst nicht Künder eines unbedeutenden Namens sein. Die Mauem von Byzanz haben unsere Leier vernommen und die Küsten des narbonensischen Marseille; das vornehme London und Krakau mit seinem Sprachengemisch haben mit aufmerksamem Ohr meine Psalmen getrunken. Zu meinen Lebzeiten gibt Deutschland mir die Siegespalme, indem es meinen Namen hoch an das Himmelsgewölbe versetzt.

Teutona sublimi facta, Iacobe, lyra. Musa mihi haec eadem nomen sine fine [propaget Optas. Haud vani nominis augur eris. Audivere chelyn Byzantia moenia nostram, Et Narbonaeae littora Maßiliae: Nobile Londinum, mixtaeque Cracovia [linguae, Attenta Psalmos aure bibére meos. Dat mihi victricem vivo Germania palmam, Transcribens alto nomina nostra polo.

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versität zu Heidelberg und der „fromme" Kurfürst. Ein Beitrag zur Hochschulgeschichte im werdenden konfessionellen Zeitalter, in: Wilhelm Doerr u. a. (Hg.), Semper apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386-1986. Festschrift in sechs Bänden, Bd. 1: Mittelalter und Frühe Neuzeit 1386-1803, Berlin u.a. 1985, 231-254; Meinrad Schaab, Geschichte der Kurpfalz, Bd. 2 (Neuzeit), Stuttgart u. a. 1992, 35^19; Eike Wolgast, Reformierte Konfession und Politik im 16. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der Kurpfalz im Reformationszeitalter (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 10), Heidelberg 1998, 33-73. Vgl. Die Matrikel der Universität Heidelberg von 1386 bis 1662. Bearbeitet und hg. v. Gustav Toepke, Heidelberg 1886, Zweiter Theil von 1554 bis 1662, 59: „47. Paulus Melissus, Meilerstadt, Francus, illustris poeta. 16. Maij." Der Text folgt zeichengetreu Rei. 435f. Aufschluß über Schedes Erwartungshaltung gibt auch sein Gedicht Ad Deum Jehovam (Mel. 394f.). Der Dichter äußert darin die Hoffnung auf einen triumphalen Einzug seiner Psalmenübersetzung in die deutschen Städte.

200 Nonne ego sum felix, opens ope Numinis [addens Perfectum finem, qui sine fine manet?

Ralf Georg Czapla Bin ich nicht glücklich, der ich meine Werke mit Hilfe des Allmächtigen zu einem vollkommenen Ende führe, das auf ewig besteht?

Während der Kurfürst die materiellen Bedürfnisse des jungen Dichters sicherte, indem er ihm einen Freitisch im Collegium Sapientiae gewährte, beförderte der Umgang mit dem Altertumsforscher Jean-Jacques Boissard (Janus Jacobus Boissardus) aus Besançon, dem Lothringer Clément de Trèles (Nicolaus Clemens Trelaeus) und dem französischen Edelmann François d'Averly (Franciscus Averlius), drei ausgesprochenen Verehrern Ronsardscher Verskunst, seine Arbeit in ideeller Hinsicht. Die Erwartungen, die Kurfürst und Kirchenrat an Schede stellten - eine singbare deutsche Reimfassung des Genfer Psalters unter Wahrung der französischen Melodien15 sowie eine Prosaübersetzung jedes einzelnen Psalms - , erwiesen sich als alles andere als gering, bedeutete doch die Beibehaltung der Melodien insofern eine Beschneidung seiner dichterischen Freiheit, als sich der Dichter im Hinblick auf Rhythmus und Silbenzahl um eine völlige Kongruenz von Ausgangstext und Übersetzung zu bemühen hatte. Silben-, Vers- und Strophenzahl sowie Reimart und Reimstellung der Schedeschen Übersetzung sind daher im wesentlichen durch den Anschluß an die französische Vorlage bedingt. Während die Strophenbildung eine große formale Varianz erkennen läßt, ist der Rhythmus der Verse fast ausnahmslos monoton alternierend. Der überwiegende Teil von ihnen folgt einem jambischen Duktus, daneben sind vor allem trochäische Verse zu finden. Bei der Reimstellung überwiegen Paarreim, Kreuzreim und umschließender Reim. Daß Schede auffallend oft gegen die Reinheit des Reims verstößt, fuhrt Ludwig Krauß einerseits auf die „Unvollkommenheit der damaligen Verskunst überhaupt", andererseits auf des Dichters „üble Gewohnheit der bloßen Zählung der Silben ohne Rücksicht auf ihren Tonwert" zurück.16 Darüber hinaus beeinträchtigen zahlreiche identische und stumpfe Reime die Sangbarkeit der Reimfassung. Die Übertragung der Psalmen in deutsche Prosa, die er zusätzlich zur Reimfassung anzufertigen hatte, warf für Schede noch ein weiteres Problem auf. Da er als Calvinist weder bei der lutherischen Übersetzung noch bei der von der katholischen Kirche approbierten Vulgata Anleihen nehmen wollte, sah er sich auf das Studium des hebräischen Urtextes zurückverwiesen. Seine Kenntnisse in 15

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Vgl. dazu den Brief von Zacharias Ursinus an Johannes Crato vom 10. November 1570: „Melissus Genevam abiit intra mensem rediturus. Audio eum psalmos Davidis in Germánicos rythmos conversurum, qui rhythmis et harmoniis Gallicis optime factis respondeant, liberalitate principis." [Melissus hat Genf verlassen und wird innerhalb des Monats (nach Heidelberg) zurückkehren. Ich habe gehört, daß er die Psalmen Davids in deutsche Reime übersetzen wird, die den wohlgestalteten französischen Rhythmen und Melodien entsprechen, wobei ihn der Kurfürst freigiebig unterstützt.] Text nach Hans Rott, Briefe des Heidelberger Theologen Zacharias Ursinus aus Heidelberg und Neustadt a. H., in: Neue Heidelberger Jahrbücher 14 (1906), 39-172, hier 70. Ludwig Krauss, Die gereimte deutsche Psalmenübersetzung des fränkischen Dichters Paul Schede Melissus (1572), in: Neue Kirchliche Zeitschrift 31 (1920), 433^54, 489-518, 545-563, hier 493.

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der bedeutendsten der drei heiligen Sprachen waren jedoch so rudimentär, daß er den Heidelberger Professor Immanuel Tremellius (1510-1580), einen zum reformierten Protestantismus konvertierten Juden italienischer Abstammung, um fachkundige Mithilfe bat. Tremellius, der seit 1561 in Heidelberg lehrte und im Auftrag des Kurfürsten auch diplomatische Aufgaben in Frankreich und England wahrnahm, zeigte sich Schedes Ansinnen gegenüber zunächst nicht abgeneigt, mußte jedoch nach der Vollendung der ersten 50 Psalmen von einer weiteren Zusammenarbeit Abstand nehmen, weil er die Arbeit an seinem Hauptwerk, die Übersetzung des Alten Testaments ins Lateinische, nicht aus dem Blick verlieren wollte, zu der er ebenfalls von Friedrich veranlaßt worden war.17 Als hätten die Vorgaben des Kurfürsten und des Kirchenrates allein nicht schon eine Erschwernis seiner Arbeit bedeutet, verband Schede mit seiner Psalmenübersetzung noch ein Vorhaben besonderer Art. Angeregt wohl durch seinen Landsmann, den Heidelberger Bibliothekar Michael Beuther (1522— 1587), versuchte er mit den Psalmen Davids zugleich eine Reform der deutschen Sprache und Orthographie durchzusetzen.18 Die Idee, ein neues orthographisches System gerade in einem Psalter einzuführen, erschien ihm insofern sinnvoll, als dieses Buch weite Verbreitung und reiche Verwendung in den calvinistischen Gemeinden versprach. Nicht bedacht hatte Schede freilich, daß seine Übersetzung, auch wenn der Auftrag dazu vom Kurfürsten persönlich an ihn ergangen war, zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht für den Gottesdienstgebrauch angenommen war. Indem er sich gewissermaßen für eine „mathematische" Lösung des Übersetzungsproblems entschied, die eine strikte l:l-Übertragung sämtlicher Eigentümlichkeiten der französischen Vorlage auf das Deutsche bedeutete, vernachlässigte er den Gehalt der Arbeit, insbesondere die poetische Ausgestaltung der Texte. Schedes Orthographiereform gestaltete sich weniger innovativ, als es der Anspruch des Dichters vermuten läßt. In letzter Konsequenz bedeutete sie eine Wiederbelebung mittelhochdeutscher Schreibweisen, die sich vor allem in der von Namen und vom Satz- bzw. Versanfang abgesehen - generellen Kleinschreibung sowie in der Verdopplung der Konsonanten vor Vokal oder Di17

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Vgl. dazu die Gedichte Ad Immanuelen! Tremellium, Hebraicae linguae professorem (Rei. 173) und Ad eundem. Imitatur Gallicum Ronsardum (Rei. 174). Vgl. Virgil Moser, Deutsche Orthographiereformen des 17. Jahrhunderts, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 60 (1936), 193-258, hier 193 f. Zu Leben und Werk Michael Beuthers vgl. Otto Jung, Michael Philipp Beuther, Generalsuperintendent des Herzogtums Zweibrücken. Ein Beitrag zur pfalzischen Reformationsgeschichte (Veröffentlichungen des Vereins für pfälzische Kirchengeschichte 5), Landau 1954; ders., Dr. Michael Beuther aus Karlstadt. Ein Geschichtsschreiber des XVI. Jahrhunderts (15221587) (Mainfränkische Hefte 27), Würzburg 1957; Elke Kropp, Michael Beuther, in: Stephan Diller (Hg.), Kaiser Karl V. und seine Zeit. Katalog zu den Ausstellungen der Bibliothek Otto Schäfer, Schweinfurt, des Stadtarchivs Schweinfurt sowie des Fördervereins und der Forschungsstiftung für vergleichende europäische Überseegeschichte, Bamberg (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Schweinfurt 14; Schriften der Museen der Stadt Bamberg 42; Beiträge zur Geschichte und Kultur der Neuzeit 1 ), Bamberg 2000, 15f.

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Ralf Georg Czapla

phthong manifestiert. Die Regel, daß sich die Graphie von Wörtern nach deren Aussprache zu richten habe, führte zu dialektal bedingten Schreibweisen wie etwa zu der Vertauschung der harten und weichen Konsonanten d und t. In linguistischer Hinsicht läßt sich Schedes Sprache als ein Gemisch aus fränkischen und pfälzischen Regionalismen beschreiben, das zuweilen sogar Einsprengsel aus dem Schwäbisch-Alemannischen aufweist.19 Auf h und e als Dehnungsvokale verzichtet Schede völlig. Bei den Vokalen a und e wird die Dehnung durch Subpunktion kenntlich gemacht, während ein unter das u gesetzter Punkt den Umlaut ü/ue bedeutet. Der Umlaut ä/ae wird durch einfaches e, ck durch doppeltes k wiedergegeben, vor ζ im Inlaut tritt stets ein t, selbst vor Konsonanten. Erheblich erschwert wurde die Rezeption der neuen Rechtschreibung, abgesehen von der Regression auf einen bereits überwundenen historischen Stand, durch ihre inkonsequente Handhabung. So finden sich in den Psalmen Davids zuweilen verschiedene Schreibweisen für ein und dasselbe Wort. Gängige Lesehilfen, wie sie in lateinischen Texten jener Zeit in Form von Akzenten, Apostrophen, Tremata, Binde- und Trennstrichen zu Gebote standen, wirken in Schedes Übersetzung eher irritierend als verständnisleitend. Schließlich wurden orthographische Neuerungen oftmals nur im lateinischen Druck vollständig durchgeführt, während sie im gotischen deutschen rudimentär blieben. Da Schede während seines Aufenthalts in Genf zum Calvinismus übergetreten war, vermied er es, sich allzu häufig lutherischer Diktion zu bedienen, wenngleich er sich nicht gänzlich von ihr zu lösen verstand. Den Hang zur Volkssprachlichkeit auf der einen Seite kompensierte er auf der anderen durch Neologismen, deren er sich vor allem dann bediente, wenn es der Hoheit des hebräischen Originals Ausdruck zu verleihen galt. Die Prosafassung wirkt häufig ungelenk und kann in ihrer poetischen Kraft mit derjenigen Luthers nicht konkurrieren. Weil Schede mitunter alternative Ausdrücke zu den im Text verwendeten anbietet und Erläuterungen hinzufügt, mutet sie eher wie ein philologischer Arbeitstext als wie ein Stück Erbauungsliteratur an. In der Reimübersetzung wiederum gehen der Einschub von Flickwörtern und die Anfügung der Endsilbe e, die dazu dient, der Silbenzahl gerecht zu werden, zu Lasten des Sprachduktus und der Sprachmelodie. Auf Drängen Friedrichs III. und des Kirchenrats, denen die Arbeit an der Übersetzung zu langsam vonstatten ging, erschienen Anfang September 1572 die ersten 50 Psalmen bei Michael Schirat in Heidelberg.

19

Vgl. Krauss, Psalmenübersetzung (s. Anm. 16), 501.

Paul Schedes „ Psalmen Davids " und „ Psalmi aliquot "

203

m di m PSALMEN Davids 3n tmc#eâcfanârfp' rao» / « α φ $r«ií¿fiftusöffwut*,·, W INNSEKG ©tiiiwirïttm trof!fitta/

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zeichnet er mit seinem vollen Namen in Form eines Wortakrostichons,20 die Strophen 2 und 3 jeweils durch Akrosticha mit den Initialen seines vollständigen Namens: PFZWVBDI. Das anschließende Gebet ist wiederum gestaltet als Wortakrostichon mit dem Wahlspruch Winnenbergs NICHT SPOTT MTT GOTT GOTT ALLEYN DIE EHR, der sich auch in anderen seiner Drucke findet.

4. Schluß Der Genfer Psalter hat Winnenberg nachhaltig beeindruckt. Nicht nur, daß er den kompletten Psalter verdeutscht hat; die Beschäftigung mit den Psalmen durchzieht fast das gesamte Werk Winnenbergs. Denn neben der Bearbeitung der 150 Melodien des Psalters (zuzüglich des Zehn-Gebote-Lieds und des Canticum Simeonis) hat er über 80 Melodien ein weiteres Mal bearbeitet: zum Teil mit der Übersetzung der Genfer Psalmtexte, zum Teil mit eigenen Texten. Es ist keine Übertreibung, wenn man feststellt, daß es ohne den Genfer Psalter auch den größten Teil von Winnenbergs Werk nicht gäbe.

20

Zur Terminologie vgl. Ada Kadelbach, Das Akrostichon im Kirchenlied. Typologie und Deutungsansätze, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 36 (1996/97), 175-207, hier 195.

Der Winnenberg-Psalter im Rahmen einer musikwissenschaftlichen

Edition

251

Die Rezeption des Genfer Psalters bei Winnenberg ist also weit umfassender als zum Beispiel bei Melissus oder Lobwasser. Zwar scheint Winnenberg auch an der „Herstellung der kurpfalzischen Kirchenordnung im Geiste des Calvinismus"21 beteiligt gewesen zu sein, doch war seinem Werk wenig Wirkung beschieden: Keine seiner Nach- und Neudichtungen hat den Weg in die Gemeindegesangbücher gefunden, keines seiner Werke mit Genfer Melodien ist noch einmal aufgelegt worden.22 Wenn jetzt in der Edition des deutschen Kirchenlieds seine Drucke gewürdigt werden, dann geschieht auch dies nur selektiv - als Verbreitung von Melissus und Lobwasser.

21

22

Helmut de Boor / Richard Newald (Hg.), Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 5 : Richard Newald, Die deutsche Literatur vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit 1570-1750, München 1951, 31. Einzig von der Erstausgabe der Reuter Lieder 1582, die jedoch keine Genfer Melodien enthält, bringt Bartholomäus Schümler (Schumlerus) 1619, also lange nach Winnenbergs Tod, eine Neuausgabe mit eigenen vierstimmigen Sätzen heraus (DKL 161905). Sie ist den Söhnen Winnenbergs, Philipp III. und Wilhelm, gewidmet.

Dieter

Gutknecht

Die Rezeption des Genfer Psalters bei Caspar Ulenberg

Die Psalterausgabe Die Psalmen Dauids in allerlei Teutsche gesangreimen bracht: Durch Casparum Vlenbergium Pastorn zu Keiserswerd / vnd Canonichen S. Swiberti daselbs. [...] Gedruckt zu Cöln / durch Gerwinum Calenium vnd die Erben Johan Quentels / Im Jar M.D.LXXXII.Ì kann als unikal bezeichnet werden: Sowohl die Texte als auch die Melodien stammen aus der Feder des katholischen Priesters Caspar Ulenberg (1548-1617), der freilich lutherisch erzogen war und als Student der Philosophie und Theologie in Wittenberg zunächst zum evangelischen Pfarrer ausgebildet werden sollte. Es kann als sicher gelten, daß Ulenberg bereits in jungen Jahren mit den Genfer Psalterausgaben in Berührung kam, später dann diejenigen von Paul Schede Melissus (1572), Petrus Dathenus (1565) und Ambrosius Lobwasser (1573) sicherlich gut kannte, da er sie in seiner Vorrede von 1582 durchaus lobend zitiert. Er tut dies, indem er sich auf den XI. Psalm (Vulgata-Zählung, X. in der Luther-Übersetzung) bezieht, in dem die Gottlosigkeit, Falschheit und „Doppelherzigkeit" der Menschen beklagt wird. Ulenberg fahrt dann fort: Die leut seien falsch vnd doppelhertzig / niemand rede mit seinem nechsten wie ers / meinet: Wündschet derhalben / daß Got alle falsche meuler ausrotten wolle. Diß ist des Psalmen rechter verstand / und Dauids ware meinung im anfang / wie sie die dolmetschen aus dem buchstaben geben; wie auch in gleichem falle die Caluinischen/ Melissus / Lobwasser vnd Datenus in ihren gesangreimen auff diesen sinn gehen. 2

Dieser direkte Bezug rechtfertigt es, der Frage nachzugehen, inwieweit der Genfer Psalter für Ulenberg bei der Melodienkonzeption Bedeutung hatte. Diese Problematik untersuchte bereits Johannes Overath,3 aber seine Arbeit erschien vor über vierzig Jahren, zwei Jahre vor der grundlegenden Veröffentlichung zu den Melodien des Genfer Psalters von Pierre Pidoux;4 Overath mußte sich also auf Quellen stützen, deren Zuverlässigkeit in vielen Fällen mehr als

Im folgenden zitiert als Ulenberg, Psalmen. Das mir vorliegende Exemplar stellte freundlicherweise Möns. Prof. Dr. Johannes Overath zur Verfügung, wofür ihm herzlichst gedankt sei. Ulenberg, Psalmen (s. Anm. 1 ) Vorrede, unpag. Johannes Overath, Untersuchungen über die Melodien des Liedpsalters von Kaspar Ulenberg (Köln 1582). Ein Beitrag zur Geschichte des Kirchenliedes im 16. Jahrhundert, Köln 1960, 9 (über Leben und Wirken); 80, Anm. 3 und 81. Pierre Pidoux, Le Psautier Huguenot, Bd. I: Les Mélodies, Bd. Π: Documents et Bibliographie, Kassel/Basel 1962.

254

Dieter Gutknecht

fraglich gewesen sein dürfte. Aber die Studie Overaths ist deshalb keineswegs als überholt anzusehen: Zahlreiche Ergebnisse haben bis heute Bestand; in einigen Bereichen erscheinen freilich ein Überdenken und eine neue Diskussion notwendig.

I. Der Ulenberg-Psalter unterscheidet sich grundsätzlich von Lobwassers Psalmenbearbeitung dadurch, daß dieser eine deutsche Reimversion auf die vierstimmige Fassung von Claude Goudimel (1564/65) herausgab. Die Melodien, die Ulenberg anführt, hat er selbst „zugerichtet und verordnet", wie er in seiner Vorrede angibt.5 Diese beiden Verben scheinen mir Essentielles zu den Psalmmelodien im Ulenberg-Psalter auszusagen: „zurichten" bedeutet hier: eine vorliegende Melodie den neuen textlichen Gegebenheiten „anpassen";„verordnen" dürfte hier mehr auf „neuschaffen" zielen. Also gibt Ulenberg in der Vorrede an, daß er zu seinen Psalmdichtungen teils Melodien, die bekannt waren und gesungen wurden, umgeformt, aber auch neue erfunden hat.6 Deutlicher äußert sich Ulenberg in der Vorrede der zweiten Ausgabe von 1603: „Darunter auch etliche, fast die beste und lieblichste Melodeyen auß dem Marotischen oder Calvinischen Psalter gebraucht worden".7 Diesem Hinweis folgend soll nun versucht werden, solchen Adaptionen in einigen Beispielen nachzuspüren.8 Hierbei möchte ich methodisch in anderer Weise als Overath vorgehen, der einen Vergleich über Initial-, Binnen- und Schlußformen bevorzugte. Im Folgenden sei zunächst etwas Grundsätzliches zu den Ulenbergischen Melodien herausgearbeitet, von deren möglichen Eigenheiten aus man vielleicht auf Charakteristika stößt, die Hinweise auf verwandte Bildungen im Genfer Psalter ermöglichen. In einem vorangehenden Beitrag konnte ich einige Charakteristika der einzelnen Entwicklungs- bzw. Erscheinungsstufen in dessen Entwicklung auffuhren, so daß typische „Vorlieben", gewissermaßen die Handschriften der Melodieschöpfer durchaus deutlich wurden.9 Schaut man zunächst auf das rhythmische Erscheinungsbild der einzelnen Melodien, so fallen sofort Ähnlichkeiten mit den Genfer Psalterweisen ins Au-

5

6

7 8

9

Ulenberg, Psalmen (s. Anm. 1), Vorrede, unpag.; Zitat bei Overath, Untersuchungen (s. Anm. 2), 73. S. zu dieser Frage: Overath, Untersuchungen (s. Anm. 3), 20, Anm. 1, in der er Esser, Osthoff und Solzbacher zitiert. Zit. nach ebd., 73. Ich unterlasse es, die in der Literatur seit über hundert Jahren in dieser Frage unternommenen Anstrengungen aufzuführen. Vgl. zu dieser Diskussion ebd., 74. Dieter Gutknecht, Die Melodik des Hugenottenpsalters - Genese und Form, in diesem Band.

Die Rezeption des Genfer Psalters bei Caspar

255

Ulenberg

ge, aber auch Differenzen. Ulenberg verwendet wie der calvinistische Psalter immer die Melodie- oder Zeileneröfinung mit einer oder mehreren langen Noten, die auch stets am Ende beider Positionen zu finden sind. Die Anzahl der langen Noten richtet sich durchweg nach den textlichen Gegebenheiten: um einerseits auftaktige Zeileneröffhungen zu umgehen - ζ. B. Psalm II, 2, VI, 4 und VII, 4 - oder Wortgewichtigkeit zu unterstreichen - wie z. B. in Psalm CXLIX.

Man sag ihm lob aus her - tzen rein/

Da from - me leut bei - nan - der sein.

Gantz Js - ra - ei

Vnd fre - we sich in

sei fro mit eh - ren/

sei - nem Her - ren/ Λ\

Jn

sei - nem lie - ben trew - en

Got/

Dem Got

der

ihn

er - schaf - fen

hat.

1. Ulenberg-Psalter, Ps. CXLIX

Die stereotype Melodie-Eröffnungsform ist die daktylische Notenfolge von lang-kurz-kurz auf derselben Tonhöhe. Zeilen- und Melodieschlüsse sind in der Reihenfolge der Häufigkeit ihrer Verwendung: kurz-lang, lang-lang oder, wiederum wohl um einzelne Wörter zu betonen, lang-lang-lang: zur letzten Form Psalm VI, 3, 5, 6 und Schluß zu den Wörtern „grimmen dein", „frommer Got" und „meiner not" oder Psalm VII, 2, 3, 6, 7 zu den Wörtern „in der not", „widerpart", „lewen weiß" und „gar zureiß". In Psalm LH wird der Schluß der Melodie zum Wort „missetath" mit einer Ligatur für die erste Silbe und dann zwei langen folgenden Noten gebildet, was allerdings eine einmalige Ausnahme darstellt. Aber in zahlreichen Fällen verwendet Ulenberg eine rhythmische Besonderheit, die in dieser Form im Genfer Psalter im wesentlichen unbekannt ist, nur im Psalm XXXII der Genfer Ausgabe von 1551/54 im Übergang von der ersten zur zweiten Zeile gesehen werden kann.10 Gemeint ist ein weiblicher Zeilenschluß, der nicht in der üblichen Form lang-kurz mit darauffolgender Pause notiert ist, die Pause fehlt vielmehr, es muß sogleich weitergesungen werden, aber eine leichte Zäsur entsteht beim Singen auf jeden Fall. Nehmen wir als Beispiel

10

Pidoux, Psautier (s. Anm. 4), I, 41: „commises. 2. Transgressions", wobei die rhythmischen Notenwerte wie folgt zugeordnet sind: kuiz-lang-kurz-kurz-kurz-kurz-lang.

256

Dieter

Gutknecht

Psalm XLIII, 1, in dem an der Textstelle „zugetragen" die beiden ersten Silben kurze Notenwerte haben, die dritte entsprechend der Betonung lang notiert ist und die letzte weiblich unbetont kurz endet. Den Zeilenschluß bildet der Text „In ihren Tagen", der natürlich auftaktig beginnt. Β

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2. Ulenberg-Psalter, Ps. XLIII, 1

Ein solcher Schluß teilt in manchen Psalmen Verse, die recht lang konzipiert sind: Im Psalm XLIV nimmt Ulenberg die Zeilenhälften „Mein hertz herfür will bringen / Ein schön gedieht / ein liedlein fein" zusammen und endigt die erste Hälfte bei „bringen" wiederum mit weiblichem Schluß. In den nächsten Zeilen wiederholt er dies bei den Wörtern „dingen" und „klingen", so daß man durchaus von einer bewußten, der Wortbetonung entsprechenden musikalischen Umsetzung und Gliederung sprechen kann. In einigen Psalmmelodien verwendet Ulenberg die rhythmische Synkopierungsform kurz-lang-kurz oder kurz-lang-lang-kurz, wobei der Akzent jeweils auf die erste kurze Note fallt. Diese Form konnte als ein wesentliches Merkmal der Genfer Melodien von 1551/54 herausgestellt, also in Melodien von Louis Bourgeois als besonders signifikant beschrieben werden. Nicht immer findet man bei Ulenberg dieses Mittel eingesetzt, um Zeilenoder Melodieschlüsse besonders prägnant zu gestalten oder wichtige Wörter zu betonen, so wie es im Genfer Psalter durchweg verwendet wird: Als Beispiel sei Psalm XXX in der Genfer Fassung von 1551/54 angeführt.11 In Ulenbergs Psalm LXIX begegnet die Synkopierung zweimal: Am Ende der Zeile 4 paßt diese Form ideal, da hier als Text „du trewer Herr" (kurz-lang-kurz-lang) erscheint, wobei dann das „du" besonders hervorgehoben und „trewer" in richtiger Betonung gesungen werden. In der folgenden Zeile, in der ebenfalls diese

11

Ebd., 1,38.

257

Die Rezeption des Genfer Psalters bei Caspar Ulenberg

rhythmische Form erscheint, tritt die Betonungsfolge nicht so natürlich auf: „Aus meinen engsten schwer" (lang-lang-kurz-lang-kurz-lang), wobei man sich in beiden Fällen fragen müßte, ob nicht ein Proportionswechsel die Natürlichkeit der Betonungs- und damit Längenfolge der Noten hinreichend erklären würde; statt einer synkopischen Akzentuierung würden dann hier zwei DreierTactus gesetzt. Aber ein solcher Lösungsvorschlag müßte weiter belegt werden, wenn er denn Gewicht erhalten soll. Diese Erklärung entfallt natürlich bei der Folge kurz-lang-lang-kurz, bei der es sich offensichtlich immer um eine besondere Betonungsform handelt wie etwa in Psalm LXXVII, 4.

IB» * f f τ i » Denn er Hat ein

Hat

ein zeug - nis bun - des pflicht ge - setz hei - Ii - ger lehr

vn - sem

Β » 4 Sie

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ι ι 1 1 » • »Ii In In

Is - ra - el hat auff - ge - rieht/ Ja - cob gstifft der trew - er Herr/

Ernst - Ii - eher weis be - fehl ge - thon/

» f τ 1 1 » « il i gu - lem Grund

Auch

ih - ren

kin - den

ma - chen kund.

3. Ulenberg-Psalter, Ps. LXXVII, 4

Einen Proportionswechsel könnte man auch in Psalm LXXXIII, 3 sehen, wenn es im Text heißt: „Mein hertz und mut / Mein fleisch und blut" (lang-kurz-kurzlang-kurz-lang-kurz-lang). Natürlich sind diese Vorschläge nur Gedankenspiele, gehen vielleicht an der tatsächlichen Praxis vorbei, zumal auch an keiner Stelle auf einen Proportionswechsel aufmerksam gemacht wird. Aber wie gesagt: Es gibt zahlreiche Stellen, bei denen man sich fragen muß, weshalb gerade diese Wörter in dieser rhythmischen melodischen Form ausgeführt sind. Eines der frappierendsten Beispiele dieser Art liefert der 42. Psalm in der Genfer Fassung von 1551/54 Ainsi que la biche rèe (Wie der Hirsch schreit). Er ist insgesamt so gestaltet, daß jede Zeile mit zwei Dreier-7ac/w.ç beginnt, worauf ein gerader Tactus folgt. Natürlich könnte man aus dieser Gleichmäßigkeit der Gestaltung folgern, daß von vornherein eine derartige Rhythmisierung geplant war. Aber das Beispiel zeigt auch, daß mit einer solchen Möglichkeit gerechnet wurde.

258

Dieter Gutknecht

I. Ainsi que la GE 62,.,. Ainsi qu'on o i t

biche rèe 2. P o u r c h a s s a n t le cerf b r u i r e

le f r a i s Jes eaux, 3. Ainsi

±

Ml

m

mon âme a l - t é - r e ' - e 4. Seigneur Dien de tes ruisseaux 5. Va t o u s j o u r * criant, C»E 62 coeur qui s o u s p i r e a - près

Ά suyvant 6.Le grand, le grand Dieu v i v a n t .

S. Q u e v e r r a y de Dieu la

H e l a s donques quand sera - ce

face.

4. Genfer Psalter, Ps. 42

Auf einen anderen, sicherlich gewichtigeren Bezug verweist Ulenberg selbst. In seiner Vorrede heißt es: „Man findet auch in sectischen sangbüchern ein Lied / mit dem titel des Psalmen Deus noster refugium & virtus', gehet also an: Ein feste bürg ist vnser Got. Weil nun dasselbige für allen fast hoch gerümet / viel gebrauchet vnd gesungen wirt [...] kan ich nicht vmgehen kurtzen bericht vnd erinnerung davon zuthun".12 Es soll uns in dem Zusammenhang des Zitats lediglich der Hinweis auf das Lutherlied Ein feste Burg ist unser Gott13 interessieren, finden sich doch in ihm zuhauf die rhythmischen Formen, wie wir sie im Genfer Psalter, aber auch bei Ulenberg antreffen. Schaut man die anderen im Klugschen Gesangbuch enthaltenen Melodien durch, so stellt man fest, daß diese Rhythmisierung nur dem Lied Ein feste Burg eigen ist, die Melodie in ihrer einmalig zu nennenden Prägung also sehr wohl als Vorlage fur beide Melodie-Repertoires in Frage kommen könnte.14 Für Ulenberg sind ferner einige andere Quellen wichtig, die er ebenfalls in der Vorrede anführt. Gemeint sind die Geistlichen Lieder und Psalmen, die der Bautzener Domdekan Johann Leisentrit 1567 herausgab15 und Der gantz Psalter Davids nach der gmein alten Kirchischen Latinischen Edition auff verß und Reimweiß gar trewlich, verstendlich und geschicklich gestellet (Köln 1574) von Rutger Edinger.16

12 13

14

15

16

Ulenberg, Psalmen (s. Anm. 1), Vorrede, unpag. D. Mart. Luth. Geistliche Lieder auffs new gebessert zu Wittemberg 1533 [das Klug'sche Gesangbuch 1533, nach dem einzigen erhaltenen Exemplar der Lutherhalle Wittenberg]; Faks.-Ausg. hg. v. Konrad Ameln, Kassel 1954. Vgl. Das Babstsche Gesangbuch von 1545, Faks.-Ausg. hg. v. Konrad Ameln, Kassel 2 1966. Auch das Babstsche Gesangbuch enthält keine anderen Melodien, die wie Ein feste Burg rhythmisiert sind. Geistliche Lieder und Psalmen der alten Apostolischer recht und warglaubiger Christlicher Kirchen [...] Zusamen bracht durch Johann Leisentrit. Bautzen 1567, Faks.-Ausg. mit e. Nachw. v. Walter Lipphardt, Kassel 1966. Overath, Untersuchungen (s. Anm. 3), 130.

259

Die Rezeption des Genfer Psalters bei Caspar Ulenberg

Nun ist es recht aufschlußreich, wenn man zum Vergleich auf die Psalmmelodien Leisentrits schaut. Der Psalm XXXIII (34) Mit hertz und mund ich loben will fallt sogleich dadurch auf, daß die Melodie nicht syllabisch konzipiert ist, sondern (notgedrungen) zahlreiche Melismen aufweist, die die zu geringe Anzahl an Textsilben „strecken" müssen. IR

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Mit hertz Mein Seel

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vnd mund ich loben wil/ GOTT den Herren soll auch nicht schweigen Stil/ sich des Herrn

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5. Leisentrit, Geistliche Lieder, Ps. XXXIII

So stehen etwa für die Textzeile „Gott den Herren zu aller Zeit" - also acht Silben - zehn Noten bereit. Melismen kommen auch in Psalm L vor, wie überhaupt in vielen Psalmmelodien. Die beiden Melodiebeispiele Leisentrits machen den Eindruck, als ob die Melodien bereits vorher bestanden hätten und der Text erst nachträglich einigermaßen angepaßt worden wäre. Daß dieses Verfahren häufig zu recht holperigen Ergebnissen führt, mag die Zeile 3 aus Psalm XXXIII (34) zeigen. Sie lautet: „Mit frewden das hören sollen", wozu eine Melodie mit neun Noten Umfang gesetzt wurde. Nach der Silbenzuordnung zu den Noten kommt eine Mißbetonung folgender Art zustande: Bei „frewden" wird die zweite Silbe betont; bei „hören sollen" werden jeweils die beiden letzten Silben betont. Ulenberg läßt so gravierende Betonungsfehler in seinen Psalmweisen niemals zu. Auch sind Ligaturen bei ihm äußerst selten. Schaut man sich seine Fassung des XXXIII. (34.) Psalms an, dann fallt nicht nur die andere Textgestaltung auf, sondern auch die streng syllabische Anordnung, die in dieser Form nur im Genfer Psalter anzutreffen ist. Somit läßt sich festhalten, daß Ulenberg eher die Genfer Psalmweisen zur Vorlage und zum Muster nahm als die genannten Psalm-Ausgaben aus seiner unmittelbaren Umgebung.

Wenden wir uns einer anderen Spur zu. Overath vermutet, daß Ulenberg durch eine Genfer Psalterausgabe direkten Zugang zu dem calvinistischen Melodiengut hatte. Er fand in der Ausgabe LES PSAUMES MIS EN RIME FRANÇOISE, Par

260

Dieter Gutknecht

Clement Marot, & Theodore de Beze. De l'imprimerie de François Jaquy. M.D. LXIII. [!] - es handelt sich vermutlich um die Ausgabe von 1562, die Pidoux in seinem Dokumenten-Band auffuhrt 17 - die Notiz „Entstammt der Pfarrbibl. St. Columba in Cöln", woraus er den Schluß zieht, daß diese Ausgabe ein Handexemplar Ulenbergs darstellen könnte, da dieser „als Pfarrer von St. Columba starb".18 Sieht man von dieser verlockenden Spekulation ab, so finden sich noch genügend weitere Beweise dafür, daß der Genfer Psalter die bestimmende Vorlage für Ulenbergs Melodien gewesen sein muß. Overath fand für 17 Ulenbergische Melodie-Anfange nicht weniger als 17 Übereinstimmungen im calvinistischen Psalter, bei den Binnen- und Schlußwendungen sind es 20 Verlaufs-Übernahmen, und besonders umfangreiche Übereinstimmungen begegnen in sieben Fällen.19 In der zweiten Ausgabe seines Psalters von 1603 fügt Ulenberg acht weitere Melodien hinzu, wobei er drei Genfer Melodien fast notengetreu übernimmt: Die Psalmmelodien von Di, CXXX und XXIII verwendet er für Psalm CXVI, Canticum Simeonis und Psalm LXXXV.2° Anhand dieser Belege konnte Overath seinerzeit aufzeigen, daß Ulenbergs Affinität zum Genfer Psalter in vielerlei Hinsicht evident ist. Aber im Rahmen unserer Untersuchungen sei noch einmal auf andere Aspekte eingegangen, die weitere Vorlieben oder Bevorzugungen von Merkmalen aufzeigen sollen, die das Verhältnis Ulenbergs zum Genfer Psalter erhellen. Eine durch ihre Häufigkeit besonders auffallende rhythmische Eröffnungsformel seiner Psalmmelodien ist die auf gleicher Tonhöhe gestaltete daktylische Form von lang-kurz-kurz, worauf meist ein Sprung- oder Fallintervall folgt: Von den ersten 20 Psalmen sind allein 18 Melodien mit der beschriebenen Eröffnung versehen. Sucht man nach diesem Phänomen im Genfer Psalter, so stellt man fest, daß die meisten Formeln dieser Art in der Ausgabe La Forme des prières et chants ecclésiastiques [...], Genf 1542,21 begegnen, in den Genfer Ausgaben von 1551/54 und von 1562 dagegen nur ganz selten. Von den 39 Psalmmelodien in La Forme des prières sind es immerhin acht: Psalm IV, VI, IX, XIII, XIV, XV, XXXVII und CXIV. Diese Melodieanfangsformeln gingen dann zumeist in die späteren Ausgaben ein, auch wenn in einigen Fällen die nachfolgende Melodie geändert wurde wie in Psalm XIII. Bei Ulenberg bleibt diese Melodieeröffnungsform durch den gesamten Psalter mit seinen 81 unterschiedlichen Weisen bestehen.22

17 18 19 20 21

22

Pidoux, Psautier (s. Anm. 4), II, 132. Overath, Untersuchungen (s. Anm. 3), 32, Anm. 2. Die Tabellen finden sich ebd., 94. Ebd., 96. La Forme des prières et chants ecclésiastiques, Genève 1542, Faks.-Ausg. hg. v. Pierre Pidoux, Kassel 1959. Overath, Untersuchungen (s. Anm. 3), 23.

Die Rezeption

des Genfer Psalters

bei Caspar

261

Ulenberg

Die Schlußbildungen wählte Ulenberg wie im Genfer Psalter: Es überwiegt die Zwei-Langton- vor der Drei-Langtonbildung, seltener erscheint der einfache Langtonschluß Ulenberg gibt in seiner Vorrede an, wie oben bereits erwähnt, daß er die besten und lieblichsten Melodien aus dem „Marotischen oder Calvinischen" Psalter „gebraucht" habe. Aus diesem Hinweis ließe sich der Schluß ziehen, daß er La Forme des prières und die Straßburger Aulcuns pseaulmes benutzt haben könnte, denn nur auf diese beiden beziehen sich die Namensangaben direkt. Die Vermutung trifft natürlich nur dann zu, wenn Ulenberg mit seiner Nennung nicht pars pro toto verfuhr und mit den beiden Namen den Genfer Psalter insgesamt meinte. Im Melodiebau - allgemein betrachtet - unterscheiden sich Ulenbergs Schöpfungen in wesentlichen Punkten von den Genfer Melodien. Läßt sich ζ. B. bei zahlreichen Psalmmelodien der Genfer Ausgaben von 1562 eine häufig wiederkehrende Formelhaftigkeit (s. Psalm-Melodien CXVI, CXVIII, XCVII)» beobachten, so fehlt diese bei Ulenberg ganz. Es scheint so, als ob diese Melodien nicht nach einem Formprinzip gestaltet worden wären, sondern sich den Gegebenheiten der vorliegenden Texte in jedem Falle anpassen würden. Ein weiteres Phänomen kommt hinzu, das in dieser Form und Häufigkeit im Genfer Psalter nicht zu finden ist. In zahlreichen Melodiezeilen erscheinen abwärtsgeführte Skalenläufe, viele von ihnen durch eine Oktave (Psalm XXVII, LXX, LXXIII, LXXIV, LXXV u. a. m.). Insgesamt verwendet Ulenberg wesentlich mehr Sprünge im Melodieverlauf oder an den Zeilenübergängen, wie exemplarisch die Psalmen LV, XLV, XLIV, XLII, XLI, XL, CH und CXXVIII, aber auch die Psalmen XCIX, LI, LXII und LXVI belegen mögen, in denen die Oktav als Zeilenübergangsintervall erscheint.

AVff dich traw ich mein Got vnd Herr/

Laß mich doch nu noch n i m - m e r - m e r

Auff die - ser welt vnd er - den/ Zâ-schan-den wer-den.

Jn

dei-ner selbs ge - rech-tig - keit/

Er - ret - te mich aus al - lem leid/

Reiß mich aus fehr-lig-kei-ten/ Jn

6. Ulenberg-Psalter, Ps. L X X

23

Pidoux, Psautier (s. A n m . 4), 108f., 91.

bó-sen

zei-ten.

262

Dieter Gutknecht

III. Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß eine generelle Vorbild- und damit auch Beeinflussungstendenz durch die Melodik des Genfer Psalters in Ulenbergs Version eindeutig auszumachen ist. Bereits Overath konnte durch direkten Vergleich, sei es der Initial-, Binnenoder Schlußformen, Übereinstimmungen und Verwandtschaften zwingend nachweisen, die im Falle der zweiten Ulenberg-Ausgabe von 1603 bis zur kompletten Übernahme von Genfer Melodien reichte.24 Neben diesen Affinitäten und über sie hinaus sind es vor allem parallele Bauprinzipien, die eine Anlehnung an Form und Gestaltung der Genfer Melodien aufzeigen und deren Vorbildcharakter unterstreichen. Es hatte sich aber andererseits gezeigt, daß Ulenberg durchaus eigene Elemente der Psalmmelodiegestaltung entwickelt hat wie die Eine-Langnoten-Zeilenbinnengestaltung als gewissermaßen weiblichen Binnenschluß, eine häufiger zu beobachtende Sprungmelodik oder die Melodiegestaltung fernab einer Formelhaftigkeit, wie sie in der Genfer Ausgabe von 1562 des öfteren zu beobachten ist. Sicherlich besaßen die Melodien des Genfer Psalters für Ulenberg bei der Gestaltung seiner Melodien eine Art Modellcharakter, einer zu engen und zu deutlichen Anlehnung dürfte freilich die Konfessionsbarriere im Wege gestanden haben.

24

Overath, Untersuchungen (s. Anm. 3), 93.

Irmgard

Scheitler

Der Genfer Psalter im protestantischen Deutschland des 17. und 18. Jahrhunderts

1. Der Lobwasser und andere Reimpsalter Zu Beginn des 17. Jahrhunderts war die Lobwassersche Psalmenübertragung das unbestrittene Gesangbuch der reformierten Kirche in Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz.1 Die Gemeinden in Deutschland sangen überwie-

Die Sekundärliteratur zum Thema ist eher spärlich. Die beste Darstellung bietet: Walter Blankenburg, Die Kirchenmusik in den reformierten Gebieten des europäischen Kontinents, in: Geschichte der evangelischen Kirchenmusik, hg. v. Friedrich Blume, 2. neu bearb. Aufl., Kassel 1965, 343-400. Anregungen sind zu entnehmen: Angelika Reich, Übersetzungsprinzipien in den deutschsprachigen liedhaften Gesamtpsaltern des 16. und 17. Jahrhunderts, Diss. Regensburg 1977; Inka Bach / Helmut Galle, Deutsche Psalmendichtungen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Untersuchungen zur Geschichte einer lyrischen Gattung, Berlin u. a. 1989; Gerhard Schuhmacher, Der beliebte, kritisierte und verbesserte Lobwasser-Psalter, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 12 (1967) 70-88. Im wesentlichen ist der Forscher auf die gängigen Hilfsmittel verwiesen: Johannes Zahn, Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder aus den Quellen geschöpft, 6 Bde., Gütersloh 1889-1893, ND Hildesheim 1963 (die Melodien aus Zahn werden in der Folge zitiert mit bloßer Ziffer, die bibliographischen Angaben mit Nr.); Das deutsche Kirchenlied [DKL]. Kritische Gesamtausgabe der Melodien, hg. v. Konrad Ameln u. a. Bd. I: Verzeichnis der Drucke von den Anfangen bis 1800 (RISM 8,1.2), 2 Tie., Kassel u. a. 1975, 1980; Eduard Emil Koch, Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs der christlichen, insbesondere der deutschen evangelischen Kirche, 8 Bde., Stuttgart 3 18661876, ND Hildesheim 1973; Julius Mützell, Geistliche Lieder der evangelischen Kirche aus dem 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, von Dichtem aus Schlesien und den umliegenden Landschaften verfaßt, Braunschweig 1858, ND Hildesheim 1975; Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts, hg. v. Albert Fischer / Wilhelm Tümpel, 6 Bde., Gütersloh 1904-1916; Albert Fischer, Kirchenlieder-Lexikon. Hymnologisch-literarische Nachweisungen über ca. 4.500 der wichtigsten und verbreitetsten Kirchenlieder aller Zeiten, Gotha 1878/79, ND Hildesheim 1967. - Die lutherisch geprägte Hymnologie hat Lobwassers Bedeutung weitestgehend heruntergespielt. Goudimel erscheint bei Zahn im Register nicht, so daß man ihn bei den einzelnen Metren aufsuchen müßte. Bei Koch Π, 399 ist die Rede von drei (!) Liedern, die in den evangelischen Gesangbüchern Verbreitung gefunden hätten: Der Herr erhör dich in Gefahren (Ps. 20), das aber nach Zahn 5940 mit seinem Metrum allein steht und nur bei Jeep erscheint, Wer in des Allerhöchsten Hut (Ps. 91), Wie nach einer Wasserquelle (Ps. 42). - Das KirchenliederLexikon von Fischer fuhrt im Register unter dem Stichwort Lobwasser ebenfalls drei Lieder an, davon zwei Psalmen: Ps. 130 und 42. Letztlich spricht Fischer nur einem Lied Bedeutung bei, diskutiert bei dieser Gelegenheit (Π, 379) die Frage nach der Bedeutung des Lobwasser exemplarisch und entscheidet: „In der lutherischen Kirche verhielt man sich im Allgemeinen sehr spröde gegen Lobwassers Psalmen."

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gend einstimmig und wo immer möglich mit Begleitung eines vierstimmigen Chores nach den Sätzen Goudimels. 2 Als Normgesangbuch einer der drei großen Konfessionen übersteigt der Lobwasser während des 17. und 18. Jahrhunderts die Auflagenziffern aller anderen Gesangbücher. Freilich wurde er von den deutschen Reformierten nie mit radikaler Ausschließlichkeit benutzt. Schon im ausgehenden 16. Jahrhundert bürgerte es sich ein, die Lieder Luthers neben dem Psalter heranzuziehen und als Anhang zu drucken. In einer sehr kleinen Beigabe zum Heidelberger Lobwasser-Gesangbuch von 1577 findet sich bereits Luthers Vaterunserlied. 3 Größere Anhänge wurden dann zuerst den Büchern von 1585 für die Kurpfalz 4 und 1587 für die Grafschaft NassauDillenburg (Druckort Herborn) beigegeben. 5 Auch die reformierten Gemeinden in Basel zogen nach. Bald bestand das Gesangbuch aus zwei Teilen, wie ζ. B. das Gesangbuch Basel 1640 oder das im gleichen Jahr in Bremen herausgekommene. 6 Wegweisend waren in dieser Richtung wohl einige Editionen von Einzelpersonen: Johann Posthius, kurpfálzischer Leibarzt, gab 1608 im oberpfälzischen Amberg und erweitert 1619 in Frankfurt Bücher heraus, die lutherische Lieder einträchtig neben die Gesänge des Hugenottenpsalters stellten. Dazu setzte er noch Evangelienlieder aus seiner Feder, auf die zurückzukommen sein wird. Solche Bücher ließen sich von den Angehörigen beider Konfessionen benützen. Ein paralleler Fall liegt bei Johann Fabricius' 1623 in Frankfurt erschienenem Werk vor. 7 In der Grafschaft Hohenlohe sorgte 1604 Erasmus Widemann für eine Sammlung Geistliche Psalmen und Lieder,8 in die er 19 LobwasserPsalmen aufgenommen hat. 9 Sein Nachfolger Johann Jeep erstellte 1629 ein neues Gesangbuch; 10 im Vorwort bemerkt er, inzwischen seien die Lobwasser-

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Während die deutschen Gesangbücher überwiegend einstimmig sind, drucken die schweizerischen den vierstimmigen Satz. DKL 157703. Für den freundlichen Hinweis danke ich Herrn Rainer H. Jung, Μ. Α., Gesellschaft zur wissenschaftlichen Edition des deutschen Kirchenlieds e. V. DKL 158505. DKL 158704. Vgl. Psalmen Davids / Nach Frantzösischer melodey und reymen art in Teutsche reymen verstendlich und deutlich gebracht Durch Ambrosium Lobwasser / D. Und hierüber bey einem jedem Psalmen neben innhalt auch seine zugehörige vier stimmen. Sampt etlichen Psalmen und geistlichen Hedem / so von herm D. Luthero / und andern gottseligen leuten gestellet. Gedruckt zu Herbom 1589. Abgedruckt die Widmung Lobwassers an Albrecht Friedrich Markgraf von Brandenburg. Die vier Stimmen sind auf die vier Seiten verteilt. Enthält knapp 60 Lieder sowie eine ganze Reihe von Psalmübertragungen anderer Autoren. Die Vierstimmigkeit ist für die Schulen gedacht. DKL 164002, DKL 164003. DKL 1623°2. Gedruckt zu Weickersheim. DKL 160412. Neuausgabe mit grafischer Textübertragung: Weikersheim 2003. Zahn Nr. 368. Nürnberg 1629. Zahn Nr. 490. DKL 162907. Vgl. Wilfried Brennecke, Das Hohenlohische Gesangbuch von 1629 und Johannes Jeep, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 4 (1958/59), 41-72.

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sehen Psalmen üblich geworden. 24 von ihnen hat er übernommen - eine herausragend hohe Zahl. Natürlich gab es von Anfang an auch Einwände gegen Lobwassers Lieder. Sie waren um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert aber nur zu einem Teil konfessionell, zum anderen vielmehr praktisch begründet: Statt der schwierigen Genfer Melodien sollten lieber die lutherischen Kirchenlieder Verwendung finden. Dieses Anliegen verfolgte die vollständige lutherische Psalterbereimung des Franz Algerman, die unter dem Titel Himlische Cantorey 1604 in Hamburg entstand." Algerman ließ den einfachen und bekannten Melodien von vier Hamburger Organisten vierstimmige Sätze unterlegen. Bereits im Titel verweist er darauf, daß seine Übertragung der Lutherschen Version verpflichtet sei - eine eindeutige Absetzung von der immer wieder inkriminierten Übersetzung Lobwassers aus dem französischen Text der Calvinisten. Konfessionspolemik enthält Algermans Buch weder in der Widmungsvorrede 12 noch im Haupttext. Diese fehlt auch den beiden anderen lutherischen Psaltern: Johann Wüstholtz' Lutherischer Lobwasser von 1617, erneut 1621,13 betont die Abhängigkeit von Luthers Bibel, hielt aber an den französischen Melodien fest, was wieder, wie schon bei Lobwasser, zu Gezwungenheit im deutschen Text führte. Am bedeutendsten ist jedoch die älteste der lutherischen Alternativen zum Lobwasser, Cornelius Beckers Übersetzung von 1602. Zu ihrem Unglück war sie aufgrund der Opitzschen Versreform bereits nach gut 20 Jahren metrisch und sprachlich veraltet. Die verbreitete Behauptung, der Becker-Psalter habe trotz den Schützschen Melodien nie so recht Tritt gefaßt, ist gleichwohl revisionsbedürftig. Natürlich konnte Becker nicht Lobwasser verdrängen - das war schon aus konfessionellen Gründen unmöglich. Innerhalb der evangelischen Konfession aber war seine Akzeptanz groß. Daß er stärkere Wurzeln schlug, als man gemeinhin annimmt, beweist ein gescheiterter Reformversuch. Im Vorwort des Reimpsalters von Justus Sieber14 ist zu erfahren, der sächsische Kurfürst habe statt des veralteten Becker-Psalters bessere deutsche Texte auf die Schützschen Melodien gewünscht. Schütz schlug Sieber als Bearbeiter vor, der damals Pfarrer in Schandau war. Dieser aber lehnte ab, und zwar mit der Begründung, die Texte seien zu sehr eingewurzelt, man könne sie nicht von ihren Melodien trennen.

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Himlische Cantorey / Das ist / Der Psalter Davids / Gesangsweise / auff gemeine bekandte Melodeyen / nach dem Teutschen Text und Version D. Luthers übergesetzt. Sampt angehengten gebreuchlichsten und besten Melodeyen / durch die vier Organisten zu Hamburg in vier Stimmen componiret. Hamburg: Rüdinger 1604. Dasselbe Heinrichstadt: Selbstverl. 1610. Das Göttinger Exemplar, Besitzereintrag: Johann Albert Fabricius, umfaßt nur den ersten Teil. Es fehlt der 2. Teil, der die Kompositionen enthält. An Graf Antonius Günther von Oldenburg und Delmenhorst, geschrieben von David Wolderus, Prediger an der Hamburger Petri-Kirche. Rothenburg o. d. T.: Körnlein. DKL 161710. 162109. Justus Sieber, Geistliche Oden / Oder Lieder [...]. Nebst dem Davidischen Psalter heraus gegeben. Pirna 1685. Der 2. Teil hat den Titel: Davids / des Jsraelitischen Königs und theuren Prophetens Harffen-Psalme / nach Sangüblichen Weisen in Deutsche Lieder versetzt. Vorrede zum zweiten Teil, 25f. Zit. nach: Reich, Übersetzungsprinzipien (s. Anm. 1), 347.

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Statt dessen dichtete Sieber ganz neue Lieder, die sich möglichst eng an Luthers Text anlehnten und mit denen er nicht nur den Lobwasser-, sondern auch noch den Becker-Psalter übertreffen wollte.15 Daß sie bei der Hausandacht beliebt waren, beweisen nicht zuletzt die Kompositionen Wolfgang Briegels.16 Nach der Opitzschen Versreform wurde die metrische Überholtheit sowohl der Lobwasserschen als auch der Beckerschen Übersetzung stark empfunden. Opitz selbst machte bekanntlich bereits 1637 - wahrscheinlich im Auftrag der Piastenherzöge Johann Christian und Georg Rudolph von Liegnitz und Brieg den Versuch, unter Beibehaltung der französischen Melodien Lobwassers Texte abzulösen.17 In seiner umfangreichen Vorrede äußert sich der berühmte Autor zu seinen Übersetzungsprinzipien. Der Grund für diese Ausführungen liegt auf der Hand: Opitz wollte sein Werk aus allen Konfessionsstreitigkeiten heraushalten, die stets aus der Abhängigkeit vom reformierten oder lutherischen Ursprungstext resultierten. Opitz betonte demgegenüber seine wissenschaftliche Quellenarbeit, die bis zum hebräischen Text zurückgeht; dies konnte freilich die Lutheraner nicht vollständig beruhigen, denen die Anbindung an Luthers Übersetzung und seinen neutestamentarischen „Scopus" allein wichtig war. Opitz' Lieder fanden bezeichnenderweise gerade in dem konfessionell wenig ausgeprägten katholischen Rheinfelsischen Gesangbuch breite Aufnahme; 18 in die lutherischen Bücher drangen immerhin einzelne vor.19 Zu einer Ablösung des inzwischen gleichsam kanonisierten Lobwasser bei den Calvinisten kam es aber nicht. Opitz sollte mit seinem Unternehmen, den ganzen Psalter neu zu übersetzen, eine Reihe Nachfolger finden. Der Blick auf die Widmungsempfänger beweist, daß gereimte Psalterübertragungen bei der Hausandacht auch lutherischer Familien eine große Rolle spielten. Das calvinistische Vorbild ist nicht von der Hand zu weisen. Daß zugleich eine Alternative zu vorhandenen Übertragungen, allen voran zum Lobwasser angestrebt wurde, zeigt der besondere Wert, den man auf die sprachliche und metrische Fassung legte. Der Nürnberger Johann Vogel, Schulrektor bei St. Sebald, verfaßte 1627 einen vollständigen Psalter, der es auf immerhin fünf Auflagen brachte. Es handelt sich nicht um ein Gesang-, sondern

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Daß Sieber den Lobwasser- und den Becker-Psalter ersetzen sollte, geht auch aus den Lobgedichten hervor. Die bei Fischer/Tümpel, Kirchenlied (s. Anm. 1), IV, 156, erwähnte erste Auflage des Psalters: Davids, Des Israelitischen Königs [...] Harffen-Psalme [...] von Just Siebern, Pirna: Stremel 1653, ist heute nicht mehr nachzuweisen. Geistlicher Arien Erstes Zehen / Von einer und zwey Vocal-Stimmen / nebenst beygefügten Ritornellen mit zweyen und mehr Violn. Samt dem Basso Continuo gesetzt Von Wolffgang Carli Briegeln. Partitura. Gotha: In Verlegung des Autoris druckts Johann Michael Schall daselbsten 1660. Zweites Zehen 1661. Widmung an Elisabeth Sophie, Landesfiirstin zu Gotha. Vgl. Irmgard Scheitler, Das Geistliche Lied im deutschen Barock, Berlin 1982, 175-179. Beide Herzöge vollzogen angesichts ihrer Abhängigkeit von Böhmen einen Konfessionswechsel. Georg Rudolf revertierte 1621 zum Luthertum, Christian blieb reformiert. Vgl. den Artikel von Dieter Breuer, Genfer Psalmen im katholischen Rheinfelsischen Gesangbuch (1666), in diesem Band. Zur Rezeption vgl. Scheitler, Geistliches Lied (s. Anm. 17), 178f.

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um ein Lesebuch, denn die Verse sind durchgehend Alexandriner. 20 Vogel widmete sein Werk Sophia von Brandenburg-Ansbach-Bayreuth, einer Fürstin aus dem lutherischen Haus Braunschweig-Lüneburg, für ihre Privatandacht wie auch für die „bey der Hofstatt ordentlich angestellten Bet- und Bußstunden". 21 In seiner Widmungsvorrede betont Vogel, erst seit Opitz' Reform sei die deutsche Sprache fähig, die Psalmen richtig wiederzugeben. 22 Einen Psalter in Alexandrinern für den häuslichen Gebrauch in einer lutherischen Familie stellt die Übersetzung Ludwigs VI. von Hessen-Darmstadt dar. Der Landgraf, der das Werk seinen Eltern und Schwiegereltern gewidmet hat, betont bereits im Titel seine Absicht: „In Teutsche Reimen der Opitianischen Art gemäß / verfasset." 23 Andreas Henrich Bucholtz schrieb 1640 (Neudruck 1651) einen Teutschen Poetischen Psalter, den er drei Damen im Hause Braunschweig widmete. 24 Wichtig ist wieder die poetische Gestaltung getreu der Opitzschen Poetik. Bucholtz legt seiner Neuübersetzung nicht den Hugenottenpsalter (wie Opitz), sondern die Lutherische Prosaübersetzung und den hebräischen Text zugrunde. Den Liedern wollte er eigene Kompositionen beigeben, wie sie für Hauslieder üblich waren. In der „Freundlichen Erinnerung an den Leser" zum Erstdruck heißt es: „also daß neben einer Stimme zu singen / der General Baß gesetzt ist / und in Clavi Cymbeln / Lauten / und dergleichen Instrumenten füglich können gespielet / und darein gesungen werden." Allerdings konnten aus Kostengründen die Noten nicht mit abgedruckt werden. Ein Register weist 29 Texte Lobwasser-Melodien und sieben Psalmen anderen Weisen zu.25 Bucholtz mußte allerdings die Erfahrung machen, daß die gewohnten Lobwasserschen Melodien seinen Lesern lieber waren als neue, anspruchsvolle Kompositionen. In der

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Die Psalmen Davids sampt andern Heiligen Gesängen in neue Teutsche verse gesetzt Durch Johan Vogel. Nürnberg: Dümler 1630. Frühere Auflagen: 1627, 1628. Wieder: Nürnberg 1638. Emeut in: Psalmen, Geistliche Lieder und Hausgesänge. Nürnberg 1653 (vermehrte Aufl.). Bl. T. Widmung Bl. a 5': „Bevorab / nach dem ich vermercket / daß auff Anleitung Herrn Martin Opitzen / dessen süße Lieblichkeit in der Teutschen Poeterey nunmehr fast in der gantzen gelehrten Welt rühmlich bekannt und beliebt ist / man dieser Zeit in unserer / zuvor bey vielen für ein allzugrobe und zu solchem Werck untauglich gehaltener Sprach ein weit mehrer leisten könne / als vor wenig Jahren." Der Psalter Deß Königlichen Propheten Davids. In Teutsche Reimen der Opitianischen Art gemäß / verfasset. Glessen: Hampel 1657. Teutscher Poetischer Psalter Davids. Rinteln: Lucius 1640. Wieder in: Geistliche Teutsche Poemata in zween Theile gefasset. Vor diesem absonderlich heraußgegeben / jetzo von neuen übersehen / verbessert und theils vermehret / Auch auff Begehren andächtiger Hertzen zum andern Druk befodert. Braunschweig: Zilliger 1651. Die Widmungsempfängerinnen der 1. Ausgabe waren Anna Eleonore, Herzogin von Braunschweig-Lüneburg, geb. Markgräfin aus dem Hause Brandenburg, Anna Sophie, Herzogin von BraunschweigLüneburg, geb. Landgräfin von Hessen Nassau, und Catharina zur Lippe, geb. Waldeck. Braunschweig war lutherisch, doch ergeben sich durch die Verbindungen zu Lippe und Brandenburg calvinistische Beziehungen. Dieses Register befand sich schon in der Ausgabe von 1640.

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Vorrede zur 2. Ausgabe erklärt er: „Sonsten hat es beym ersten Druk etliche befrembdet / daß ich nicht in allen und jeden Psalmen die Frantzösische VerßArt / wie vor mir Herr Lobwasser und Herr Opitz / behalten / damit sie nach den alten bekanten Weisen hätten können gesungen werden. Aber ich haben mich dieser Freyheit vorsezlich gebrauchen wollen. Ursach / daß bald Anfangs / da Ich mir selbst diese reimliche Ubersezung zu meiner Stuben-Andacht vornahm / ehe Ich Herrn Opitzen Psalter gesehen / ich zugleich durch Tichtung neuer Gesangsweisen mich erlustigte / hätten auch selbe wol alsbald mit können heraus gegeben werden / wann mirs der Zeit nicht an Gesanges-Buchstaben gemangelt. Dz sie aber auch bißher noch hinterblieben / machet / weil wenig Nachfragens darnach gewesen ist".26 Diese ablehnende Haltung der Rezipienten war in den 40er Jahren noch verständlich. Wenige Jahrzehnte später wäre sie kaum mehr denkbar. Bucholtz stellt sich mit seinem Werk geschickt zwischen die Konfessionen. Wie die meisten der Lieddichter seiner Epoche hatte er für seine frommen Gesänge häuslichen Gebrauch im Sinn. Darauf verweist nicht nur die Vorrede, in der es heißt, die Texte seien zu seiner eigenen Erbauung verfaßt worden, sondern darauf deutet auch die intendierte musikalische Einrichtung.27 Die französischen Weisen, obgleich in ihren Goudimelschen Sätzen gleichsam kanonisiert, wurden in Deutschland - anders als in der Schweiz - sehr bald weitergehender musikalischer Verwendung zugeführt. Waren sie bereits im 16. Jahrhundert als Zistersätze für den häuslichen Gebrauch erschienen,28 so wurden sie 100 Jahre später in modern monodisches Gewand für Singstimme und Basso continuo gekleidet.

2.1 Rezeption der Melodien durch Komponisten Auch von seiner musikalischen Seite her wurde der alte Lobwasser zunehmend reformbedürftig. Bereits 1606 formte Samuel Mareschall, Organist und Musikdirektor in Basel, die vierstimmigen Sätze Goudimels so um, daß die Melodie, die ursprünglich fast immer im Tenor lag, in den Sopran verschoben wurde.29 Die Sätze waren von einer Gemeinde leichter mitzusingen, wenn ein Chor sie begleitete. 1607 schuf Landgraf Moritz von Hessen etliche neue, einfache Melodien und eigene Sätze für jene Texte aus dem Hugenottenpsalter, die bisher

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B1.A2V. Vgl. Scheitler, Geistliches Lied (s. Anm. 17), 410. Vgl. Schone Psalm und Geistliche Lieder / auf der Cither, zue schlagen / abgesatzt auß des Lobwassers / Psalterio. Von Dauid Sammenhammer Olsnensi. Kemnitz 1590. Manuskript für vierchörige Zister. Toruü, Biblioteka Wojewódzka Ksi^znica Miejska Im. M. Kopernika (Stadtbibliothek), Handschriftenabteilung, Ms. J 4° 342 - 102682 (früher Gymnasialbibliothek Thorn). DKL 160610. Als zweiten Teil fugte Mareschall ein Kantional mit lutherischen Liedern hinzu. Beides war wohl für den Schulgebrauch gedacht.

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Melodien andere Psalmen übernommen hatten, so daß jetzt jedes Lied seine eigene Melodie und seinen eigenen Satz besaß.30 Insgesamt 26 neue Weisen und Tonsätze entstanden auf diesem Wege. Moritz hatte dabei durchaus den kirchlichen Gebrauch im Sinn. In seinem reformierten Hessen-Kassel ging es kirchenmusikalisch nicht so puristisch zu. Man hielt sich auch nicht so streng an das Verbot, Instrumente einzusetzen. Das Gesangbuch von 1607 (und 1612) sagt von den Liedsätzen, sie seien „in der Christlichen Kirchen beyds zu singen und auff allerley Instrumenten zugebrauchen".31 Auch bedeutende Komponisten griffen immer wieder die beliebten und bekannten französischen Melodien auf. Samuel Besler benutzte für die 26 vierstimmigen Sätze seines 1618 bei Baumann in Breslau erschienenen Concentus Ecclesiastico-domesticus eine ganze Reihe Genfer Melodien. Der hohe Symbolwert, ja Bekenntniswert des Lobwasser zeigt sich, wenn Besler als Breslauer Kantor 1620 mit zwei achtstimmigen Sätzen über Psalmlieder seinen Betrag zur Huldigung der schlesischen Stände fur den calvinistischen ,Winterkönig' Friedrich V. von der Pfalz leistet.32 Nach Besler haben sich noch weitere Komponisten der französischen Psalmweisen für polyphone Kompositionen bedient: Michael Praetorius stellte in den ersten beiden, achtstimmigen Teilen seiner Musae Sioniaei} lutherische Lieder einträchtig neben Psalmen Lobwassers. Im ersten Teil sind es sechs,34 im zweiten Teil weitere fünf. 35 30

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Psalmen Davids / nach französischer Melodey und Reymen art [...] Auffbefehl Des Durchleuchtigen [...] Fürsten [...] Herrn Moritzen / Landgrafen zu Hessen / etc. itzo auffs newe gedruckt: Und haben ihre F. Gn. Die übrige Psalme so nicht eigene Melodías gehabt / mit andern lieblichen Melodiis per otium gezieret / und mit vier stimmen componiret / welche in der Christlichen Kirchen beyds zu singen und auff allerley Instrumenten zugebrauchen. Kassel: Wessel 1607. DKL 160709. DKL 161212. Wolfram Steude, Art. Besler, Samuel, in: Die Musik in Geschichte und Gegewart 2, Kassel 2 1999, Sp. 1504f. - Citharae Davidicae selectio prodromus. Pro Augusto Auspicatoque Augustissimi Bojemorum Regis Fridrici I. Wratislaviam Solesiae Metropolin Ingressu adornatus & dedicatus. (Die Himmel allzumal. Lobet Gott im Himmelreich.) Musae Sioniae Darinnen Deudsche Psalmen und geistliche Lieder. Regensburg 1605. Jena 1607. Gesamtausgabe der musikalischen Werke, hg. v. Michael Schultheiss, 2 Bde., Wolfenbüttel 1928, 1939. Der erste Teil enthält das Lied für Ps. 3 Wie viel sind der, o Herr, dessen Melodie auch in Crügers Berliner Praxis Pietatis Melica noch begegnet und die zu einem zwölfzeiligen Metrum gehört (vgl. Zahn 8234). Ferner Mein Hüter und mein Hirt (vgl. Zahn 3199), Ps. 23, ein Lied, das relativ weit verbreitet ist; es steht in der Praxis Pietatis Melica 1653-1702, bei Heinrich Müller 1659 und 1684, in den Gesangbüchern von Hannover 1660, 1662, Lüneburg 1661, Nürnberg 1676, Quirsfeld 1679, femer bei Johann Franck 1674. Ps. 30: Ich will dich preisen, Herre Gott. Ps. 40: Ich hab gewart des Herren. Ps. 79: Die Heyden Herr sind in dein Erbschaft. Ps. 130: Zu dir von Herzensgrunde. Ps. 13: Wie lang willtu, o lieber Herr - dessen Melodie Simon Dach fur sein Lied Es will des lieben Kreuzes Pein verwendet hat (Zahn 1791). Ps. 42: Wie nach einer Wasserquelle. Ps. 77: Zu Gott in dem Himmel droben - die Melodie ist im 17. Jahrhundert weit verbreitet (Zahn 6863). Ps. 86: Herr, dein Ohren zu mir neige - die gleiche Melodie wie Ps. 77. Ps. 128: Seelig ist der gepreiset. Auf dieses Lied mit dieser Melodie schrieb Eccard 1598 einen Tonsatz als Hochzeitslied, vgl. Zahn 5360.

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In Danzig gab der dortige Organist Paul Siefert 1640 und 1651 in zwei Teilen Psalmsätze heraus. Der erste Teil enthält 12 Psalmen für vier- und fünfstimmiges Vokalensemble, Instrumente und Basso continuo. 36 Der zweite Teil ist noch wesentlich „moderner": Seine 15 Psalmen sind fast wie Choralkantaten komponiert. Sie werden eingeleitet von instrumentalen Sinfonien, die als Ritornelle wiederkehren, und enthalten Solopartien und vier- bis achtstimmige TuttiSätze.37 In Ostpreußen mit seinem calvinistischen Herrscherhaus war der Lobwasser offenbar bei allen Konfessionen stärker verbreitet und akzeptiert. Einer der Protagonisten des neuen deutschen Liedes ist der in Königsberg tätige Heinrich Albert. Unter seinen in ihrer Epoche hochgeachteten Arien findet sich auch ein Lied auf eine Melodie des Hugenottenpsalters. Albert vertont dabei einen Text seines Freundes Simon Dach: Bei diesem hochbetrübten Leben. Es handelt sich, wie die Überschrift besagt, um das Sterbelied für „Herrn Dietrich Schwarzen Proconsuli der Stadt Kneiphoff Königsberg, welcher den 26. Septembr. 1648 seelig von GOtt abgefordert worden. Nach der weise des berümbten Gudimels über den 125 Psalm." 38 Daß der Königsberger Meister diesen Satz auf eine Lobwassersche Melodie geschrieben hat, schien noch fast 100 Jahre später dem Komponisten und Musikschriftsteller Johann Mattheson in seiner AlbertBiographie erwähnenswert. 39

2.2 Lieder auf

Psalmmelodien

Es ist nur natürlich, daß die verbreiteten Melodien bald auch für Texte Verwendung fanden, die nicht Psalmenbereimungen darstellten. Am meisten verdienen unsere Beachtung dabei Zyklen, die insgesamt vorzüglich französische Weisen benutzen. Hierher gehören calvinistische Vertreter der seit der Reformation beliebt gewordenen Gattung des Perikopenliedes. Der bereits als Gesangbuchherausgeber erwähnte Johann Posthius bereimte die Sonntagsevangelien. Dieses Werk entstand nach Auskunft des Widmungsgedichts schon im Winter 1595/96. Zusammen mit anderen Liedern erschienen die Perikopenlieder dann 1608 in

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Psalmen Davids, nach französischer Melodey in Music componiret, Danzig 1640. Psalmorum Davidorum, ad gallicani melodiam pars Π. Danzig 1651. Vgl. Jerrold C. Baab, Art. Siefert, Paul, in: The New Grove, 23, London 22001, 3 56f. Heinrich Albert, Arien, hg. v. Eduard Bernoulli. In Neuaufl. hg. u. krit. rev. v. Hans Joachim Moser (Denkmäler Deutscher Tonkunst ΧΠΙ), Wiesbaden/Graz 1958, 256f. Gemeint ist das Lied All, die auf Gott den Herren haben. Mit seiner auffallenden Strophenform, sechszeilig, jambisch 9.6.6.9.9.5, ist es allerdings nicht sehr verbreitet gewesen. Dach verwendet das Metrum noch einmal auf sein bekanntes Kein Christ soll ihm die Rechnung machen, das Albert in den Arien II, 1 mit einer eigenen Melodie versehen hat. Johann Mattheson, Grundlage einer Ehrenpforte, Hamburg 1740, hg. v. Max Schneider, Graz 1969, 92.

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Amberg (Oberpfalz) 4 0 und wieder 1619 in dem umfangreichen Gesangbuchwerk des Posthius, das den gesamten Lobwasser, die Evangelien und die gewöhnlichen Kirchenlieder mit vierstimmigen Sätzen von Posthius enthält. 41 Zwar folgen nicht alle Lieder den Melodien des Genfer Psalters, jedoch die meisten. Posthius fand Nachfolger: Der berühmteste unter ihnen ist Martin Opitz, dessen Epistellieder (1624) ebenfalls nach den Weisen des Genfer Psalters eingerichtet sind. 42 Opitz zieht in einem Brief an Venator ausdrücklich eine Parallele zwischen seinem Werk und dem von Posthius 43 Bereits vor Opitz erschienen die Perikopengesänge des Martin Hancke (1617) 44 und die des Johann Fabricius (1623); beide folgen Lobwasser-Melodien und sind dem Psalter beigegeben. 45 Hatten schon diese Zyklen die Tendenz, aus dem Gesamtbestand des Genfer Psalters diejenigen Melodien auszuwählen, die als besonders eingängig galten, so trifft das in weit höherem Maße auf die breite Gesangbuchrezeption zu. Der Psalter Goudimels bietet zu den 150 Psalmen 125 verschiedene Melodien und fast ebenso viele Strophenformen und stellt somit hohe Anforderungen an die Musikalität einer Gemeinde. Nur eine kleine Zahl der Texte und der vielen Melodien konnte sich im evangelischen Kirchengesang einbürgern. Dies sind, ihrem Verbreitungsgrad nach aufgeführt: Psalm 42: Wie nach einer (einem) Wasserquelle.46 Das Lied selbst taucht zwar auch in etlichen Gesangbüchern auf, u. a. in dem sehr maßgeblichen Dresdner von 1656. Weit wichtiger aber als der Text wurden die Melodie und das vierhebige, achtzeilige trochäische Modell. Es hielt sich in den evangelischen Gesangbüchern am längsten und fand die ausgedehnteste Verwendung. 40

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Die Sontags Evangelia Gesangsweise Componirt [...]. Samt etlichen Psalmen und Kirchengesängen von D. Martin Luther und andern Gottseligen Männern gestellet. Ietzund erstmals also zusammen gedruckt. In der Churfurstl. Stadt Amberg / durch Michael Förstern 1608. Psalter und Psalmen Davids / Nach Frantzösischer Melodey in Teutsche Reymen artig gebracht [...] Durch Ambrosium Lobwasser / D. Sampt D. Martin Luthers / und anderer Gottseligen / Geistlichen Kirchenliedern. Deßgleichen: Die Sontags Evangelia Reymen und Gesangsweiß componirt Von Johan. Postio Med. Doct. Alles mit vier Stimmen / doch jeder [sie] absonderlich. Tenor. Newstadt a. d. Hard: Starck. Verlegung Frankfurt a. M.: Unckel 1619. Vgl. Scheitler, Geistliches Lied (s. Anm. 17), 172-175. Ebd., 131. Evangelia: Auff alle Sontag / Hohe Fest und Feyertage / durchs gantze Jahr: Auff die außerlesensten / anmutigsten Frantzösischen Melodyen / der Lobwasserischen Psalmen / sampt einem kurtzen Appendice etzlicher Lieder und Lobgesänge / gleicher Melodeyen und Reymen art zu den fiirnembsten Zeiten zu singen [...]. Leipzig u. Breslau: Eyring u. Perfert 1617. Newe Gesänge Auff alle Sontags und der hohen Festen Episteln und Evangelia durch das gantze Jahr. Nach Lobwasserischen Reymen art und Melodeyn sampt an Randt beygesetzten Texten. - Angebunden an Ambrosij Lobwassers Psalmen Davids [...] D. Martin Luthers und anderer gottseliger Leuth geistlicher Liedern und KirchenGesängen. Frankfurt a. M. 1623. Zahn 6543.

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Häufig wird die Melodie nicht unter ihrem ursprünglichen Incipit, sondern mit dem Text eines anonymen Verfassers angeführt: Freu dich sehr, o meine Seele (Görlitz 1613). Weitere bekannte Lieder auf diese Melodie sind Heermanns Zion klagt in Angst und Schmerzen und Dachs Was ich heut von dir gebeten. Der Komposition Johann Schops für Johann Rists Werde munter mein Gemute ist ihre strukturelle Ähnlichkeit zum französischen Psalm 42 deutlich anzumerken. Psalm 91: Wer in des Allerhöchsten Hut ist ebenfalls ein verbreitetes Lied.47 Die Melodie ist verwendet für Harsdörffers Nunmehr beginnt die SchattenNacht und für Simon Dachs Gott, du hast unser gnug begehrte Psalm 130: Zu dir von Hertzensgründe:49 Die Melodie findet sich sehr häufig, u. a. bei Schweinitz und Gryphius, und wird von Georg Neumark bei seinem Lied Es hat uns heißen treten als Alternative zu seiner eigenen Melodie angeboten.50 Psalm 74: Warum verstößt du uns, o Herr, so gar.51 Während die drei bisher genannten Bereimungen die für das 16. Jahrhundert typische große Zeilenzahl aufweisen, liegt hier ein Vierzeiler im vers commun (jambisch 10.11.11.10) vor. Es dürfte sich um eine der frühesten Verwendungen dieses später von Opitz empfohlenen Metrums handeln. Kein Wunder, daß die Melodie, für die verschiedensten Lieder gebraucht, sich in bedeutenden Gesangbüchern findet.52 Psalm 38: Herr, zur Zucht in deinem Grimme mich nicht nimme,53 Auch dieses Lied erscheint in vielen wichtigen Gesangbüchern;54 in anderen ist die Melodie mit verschiedenen anderen Verifikationen des gleichen Psalms verbunden - ein Phänomen, dem man häufig begegnet: Im Bewußtsein der Dichter war

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Zahn 5694. Es steht z. B. in den Hannoverschen Gesangbüchern von 1652-1676, auch im Celle-Lüneburgischen 1661. Fischer/Tümpel, Kirchenlied (s. Anm. 1), V, Nr. 22; ebd., ΠΙ, Nr. 119. Vgl. Schuhmacher, Lobwasser-Psalter (s. Anm. 1), 83. Zahn 5352. Fischer, Kirchenliederlexikon (s. Anm. 1), II, 422. Jeep 1629, Besler 1618, Hannover 1660, in der Frankfurter und Berliner Praxis Pietatis Melica und bei J. Franck 1674. Die Melodie ist sehr bekannt und wird noch heute gesungen (Gott ist dreifaltig einer), sie wurde tur verschiedene andere Lieder verwendet: In den Dresdener Gesangbüchern von 1656 und 1694 steht sie bei Erhör o Herr mein Bitten, im Lüneburger 1661 bei Aus diesem tiefen Grunde, im Coburger Gesangbüchlein 1621, Breslau um 1668, Joh. Olearius 1671, Halberstadt 1712 bei Ich dank dir, lieber Herre. Fischer/Tümpel, Kirchenlied (s. Anm. 1), IV, Nr. 364. Vgl. Schuhmacher, LobwasserPsalter (s. Anm. 1), 86. Zahn 859. Praxis Pietatis Melica 1656, Heinrich Müller 1659, J. Franck 1674, Nürnberg 1676, Quirsfeld 1679, Lüneburg 1686, Praxis Pietatis Melica (Berlin) bis 1733, Praxis Pietatis Melica (Frankfurt) bis 1700. Zahn 3531. Z. B. bei Crüger 1649, H. Müller 1659 u. ö., Hannover 1660, Lüneburg 1661, Praxis Pietatis Melica (Frankfurt) 1662-1700, Praxis Pietatis Melica (Berlin) 1653-1702, Nürnberg 1676, 1690, Quirsfeld 1679.

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offenbar ein bestimmter Psalm so innig mit seiner Lobwasser-Melodie verbunden, daß diese auch auf Neubereimungen übertragen wurde.55 Psalm 6: In deinem großen Zoren56 steht unverändert in einigen Gesangbüchern,57 in anderen wird die Melodie mit neuen Texten verbunden.58 Psalm 20: Der Herr erhör dich in Gefahren,59 Neben der Gesangbuch-Rezeption muß uns interessieren, welche Dichter des 17. Jahrhunderts ihre Verse den Weisen des Genfer Psalters anpaßten. Besonders ins Auge fällt die ausgesprochene Vorliebe Johann Heermanns für Psalm 42.60 Aus Heermanns Devoti musica cordis stammt das Lied Zion klagt mit Angst und Schmerzen, das in der Folgezeit häufig angeführt wird, um Lobwassers Wie nach einer Wasserquelle zu vermeiden. Andreas Gryphius hat in seinem Zyklus Thränen über das Leiden Jesu Christi (= 4. Buch der Oden, 1657) dreimal französische Weisen verwendet und dabei ausdrücklich auf die Melodie des betreffenden Psalms verwiesen.61 Ein besonderer Fall liegt bei den Sammlungen Penta-Decas Fidium Cordanum, Das ist: Geistliche Hertzens-harffen des David von Schweinitz vor.62 Schweinitz dichtete seine eigenen Lieder unter enger Anlehnung an vorhandene Texte, ganz gleich welcher konfessioneller Herkunft. Die Vorliebe für den Lobwasser, die v. a. im ersten Teil auffällt, mag zusammenhängen mit den calvinistischen Beziehungen der Widmungsempfänger: Es sind Schweinitz' schlesische Landesherren Georg Rudolph von Liegnitz, Brieg etc., Herzog in Schlesien, und die Herzöge Georg, Ludwig, Christian von Liegnitz, Brieg etc., z. T. die gleichen, die schon Opitz' Psalterübersetzung angeregt hatten. Bei Schweinitz begegnen nicht nur eine ganze Reihe von Liedern nach Lobwasserschen Melodien, sondern auch Texte, die zugleich Lobwassersche Anfange parodieren.63 Der erste Teil der Hertzens-harffen gibt für 14 aus 50

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Runge 1653: Herr laß deines Eifers Plagen. Dresden 1656. Hannover 1657: Herr, geuß deines Eifers Flammen. In der 8. Ausgabe des Geistlichen Blumengärtleins von Tersteegen (1779) ist sie dem Lied Jesu, mein Erbarmer, höre zugewiesen. Zahn 2266. Bei Jeep, bei Johann Franck 1674, bei Sohr 1683 und Darmstadt 1687. Bei Crüger 1649 (Wenn in den größten Ängsten) und in der Berliner und Frankfurter Praxis Pietatis Melica (Was soll ein Christ sich fressen). Nach Zahn 5940 nur bei Jeep 1629 aufgenommen. Gehört aber nach Koch, Geschichte (s. Anm. 1), Π, 399, zu den drei verbreitetsten. Jeweils mit der Melodieangabe Wie nach einer Wasserquelle sind z. B. versehen: Jesu, deine tiefe Wunden (Devoti musica Cordis), Zion klagt mit Angst und Schmerzen (Devoti musica Cordis), Kommt her ihr Christen, kommt und höret (Sontags- und Fest-Evangelia), Also hoch hat Gott geliebet (Sontags- und Fest-Evangelia). Nr. V: Ihr Herzen voll von Sünden „Auf die Melodie des 130. Ps." - Nr. VIII: Was zag ich, wenn der Hellen Macht „Auf die Melodie des 91. Ps." - Nr. XV: Der den Bau der Himmel traget „Auf die Melodie des 42. Ps." Alten Stettin: Rhete 1650 (zuerst Danzig 1640). Microfilm German Baroque Literature. Harold Jantz Collection REEL 473, Nr. 2298. Im 1. Teil haben die folgenden Lieder gleiches oder sehr ähnliches Incipit: Nr. I wie 130. Ps., Nr. XV wie 6. Ps., Nr. XVI wie 42. Ps., Nr. XX wie 77. Ps., Nr. XXII wie 25. Ps., Nr. XXVI wie 23. Ps., Nr. XXXVI wie 8. Ps., Nr. XLV wie 91. Ps., Nr. XLVII wie 6. Ps. Im 2.

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Texten Psalmmelodien an, der zweite für 5 aus 50. In den Teilen 3 bis 7, die andere Widmungsempfanger haben, nimmt der Anteil signifikant ab, ist aber gemessen am Verhältnis zu anderen Liederbüchern immer noch hoch. Es ist beeindruckend, auf wie viele verschiedene und ζ. T. sonst kaum verwendete Psalmlieder Schweinitz zurückgreift.

3. Der Lobwasser in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Seit 1650 geriet der Lobwassersche Psalter immer mehr ins Kreuzfeuer der neu entfachten konfessionellen Streitigkeiten. Paradoxerweise entzweite das von Brandenburg-Preußen verordnete Toleranzedikt die Konfessionen in den 60er Jahren womöglich noch mehr, statt sie zu versöhnen. Eine konfessionsübergreifende Zusammenstellung von Liedern in den lutherischen Gesangbüchern wurde nun eher die Ausnahme. Wo wir sie noch finden, geht sie auf die Initiative eines individuellen Herausgebers zurück. 1656 wagte der Organist Johann Hildebrandt folgende Sammlung: vierstimmige Sätze zu Opitzschen Psalmliedern mit ihren Lobwasser-Melodien, Heinrich Schütz' Becker-Psalter und neue eigene Psalmlieder. 64 Hildebrandts Anliegen war ein offenbar rein musikalisches; für die theologische Unbekümmertheit dieses Unternehmens spricht schon sein Titel: Geistlicher Zeitvertreiber. Indikatorisch für die konfliktträchtige Situation ist eine Serie von ζ. T. sehr umfangreichen anonymen Streitschriften, die 1655 und 1656 unter kämpferischen Titeln zwischen den Fronten hin und hergingen. 65 Zur Debatte stand, ob die französischen Psalmen guten Gewissens von Lutheranern benutzt werden könnten. Diese Frage hatte sich in der ersten Jahrhunderthälfte mit solcher Schärfe nicht gestellt. Austragungsort des Streites war Ostpreußen, also eine Region, in der der Lobwasser seit alters viel gesungen wurde. Die Namen der Kombattanten sind handschriftlich in die Sammlung der Streitschriften eingetragen: Es handelt sich um den Lutheraner Dr. Johann Botsaccus, 66 einen Danziger Pastor, und den Lobwasser-Verteidiger Anton Reinhold Curike, einen Juristen (Secretarius) aus Danzig bzw. Elbing.67 Botsaccus machte 1655 den

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Teil: Nr. LV wie 129. Ps., Nr. LVII wie 84. Ps., Nr. LX wie 142. Ps., Nr. LXVI wie 13. Ps., Nr. LXVII wie 42. Ps. Geistlicher Zeitvertreiber / So da bestehet in funfftzig Psalmen und dergleichen Geistlichen Liedern / zum theil [...] selbst Poetisch gesetzt; theils mit Herrn Opitzens Poetischen Psalmen [...] vermehret [...] von Johann Hildebrandt Organisten zu Eylenburg 1656. Leipzig: Bauch (DKL 165604). Zahn Nr. 640. Im Sammelband: Scripta Eristica wegen des Lobwassers Lieder. Koch, Geschichte (s. Anm. 1), II, 400, nennt als Verfasser Dr. Botsan - ein Lesefehler. Das 395 Seiten lange letzte Pamphlet hat den handschriftlichen Eintrag: „Reinhold Curike, Calvinianus, Secretarius Gedanensis": Curike muß, seinen sonstigen Schriften nach zu schließen, Jurist gewesen sein. In seinem Pamphlet bekennt er sich als Bürger von Elbing. Vgl. seine erste Widerlegung: Rejectum Protectum, Oder: Wiederlegung des Projects etli-

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Anfang mit Project Etlicher wolgegriindeten Motiven, Gegen die Einfiihrung der Lobwassers-Lieder / in eine Ungeenderter Augsburgischer Confession zugethane Gemeine Christi. An Einen guten Freund / auff dessen begehren auffgesetzet von Einem Liebhaber Göttlicher Warheit und ungeferbeter Liebe. In seinen insgesamt 23 Gründen gegen die Benützung des Lobwasser bei den Lutheranern kommt er zu vernichtenden Urteilen, die in dem Satz kulminieren: „Durch die Einführung des Lobwassers in eine Lutherische Kirche wird entlich derselben Evangelische Religion in Gefahr gesetzet: Ja wol gantz verlohren".68 Curikes Verteidigungen sind Botsaccus zwar zahlenmäßig überlegen, 69 stehen aber eindeutig auf verlorenem Posten. Die Zahl der Lobwasserschen Texte ist seit der Jahrhundertmitte in den lutherischen Gesangbüchern stark rückläufig. Doch nicht nur das: Auch die Melodien geraten in Mißkredit.70 Es ist verständlich, daß unter diesen Bedingungen ein Kämpe wie Paul Gerhardt keine Lobwasserschen Incipits als Weisen für seine Lieder angibt. Bei dem großen Anteil der Psalmliedern in Gerhardts Dichtungen ist diese Zurückhaltung besonders auffallig. 71 Zwar wird das Lobwassersche Metrum zu Wie nach einer Wasserquelle wiederholt verwendet, es steht sogar bei dem Psalmlied Wie der Hirsch im großen Dürsten, doch weder in diesem noch in den sieben anderen Fällen verweisen Gerhardt bzw. sein Herausgeber Johann Georg Ebeling auf Lobwasser. Entweder ist die Melodie von

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eher ungegründeter Motiven So Ein ungenandter Scribent unlängst gegenst den Lobwasser Für des Herren Gebot außgegeben / und zum Schutz derer die in Elbing des Lobwassers Lieder abzuschaffen sich unterfangen außgefertiget. 1655. Project Etlicher wolgegriindeten Motiven, 45. Zwei Streitschriften des Botsaccus stehen vier von Curike gegenüber, wobei dieser verschiedene Autorrollen annimmt. Das Dreßdenisch Gesangbuch 1656, das gegenüber seiner früheren Ausgabe von 1632 seine Liedzahl mehr als vervierfacht, fugt bei 82 zusätzlichen Melodien 5 aus Lobwasser hinzu. Zahn Nr. 636. - Das Lüneburgische Gesangbuch 1661 enthält bei 52 Melodien 8 Melodien aus dem französischen Psalter. Zahn Nr. 687. - Das in Königsberg gedruckte Preußische Gesangbuch 1675 enthält bei 111 Melodien 8 Melodien aus dem französischen Psalter (Zahn Nr. 737) - dessen Ausgabe 1702 bei 115 Melodien sogar noch mehr (Zahn Nr. 822). Das Nürnbergische Gesangbuch 1676 bzw. 1677 enthält bei 177 Melodien 6 Melodien aus dem französischen Psalter. Zahn Nr. 747. - Der umfangreiche Geistliche Harffen-Klang von Johann Quirsfeld (Leipzig 1679) enthält bei 263 Melodien 12 Melodien aus dem französischen Psalter. Zahn Nr. 755. - Das Lüneburgische Gesangbuch 1686 (110 Melodien) enthält nur mehr 5 Melodien aus dem französischen Psalter. Zahn Nr. 782. Das große Darmstädter Cantional 1687 enthält unter 327 11 Melodien aus dem französischen Psalter. Zahn Nr. 785. - Nicht richtig sind die Angaben bei Zahn Nr. 773 über Sohrs Vorschmack 1683. Sohr verwendet zwar für seinen Psalmenteil (Teil 11) nur eine Melodie aus dem französischen Psalter (bei Lied Ps. 118), ansonsten fuhrt er aber eine Reihe von Lobwasser-Melodien an, auch ungewöhnliche. Die weitaus meisten Melodien sind freilich von Sohr und anderen Komponisten des 17. Jahrhunderts. Geistliche Andachten, Berlin: Runge 1667. Der Band enthält 27 Psalmlieder, in denen das Metrum des 42. Psalms dreimal vorkommt.

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Heermanns Zion klagt mit Angst und Schmerzen angegeben, oder es wird verwiesen auf Werde munter mein Gemiite.72 Auch in den Liedpsaltern, die verschiedene Dichter immer noch auf den Markt brachten, sucht man Anklänge an den Genfer Psalter oft vergebens. Johann Francks äußerst umfangreiches Geistliches Sion73 fuhrt nur zwölfmal französische Melodien an. Dabei enthält das eigenwillig rubrizierte Buch, das sich als Hausgesangbuch ausweist, alle 150 Psalmen mit neuer Bereimung durch Franck.74 Bezeichnend ist, daß Franck nie auf Lobwasser hinweist oder die Psalmnummer nennt; vielmehr gibt er nur den Titel des Liedes an. Statt Wie nach einer Wasserquelle schreibt er konsequent: „Zion klagt ...". In Christoph Negeleins Zionsharfe, einem Nürnberger Liederbuch von 1693, spielt der Hugenottenpsalter überhaupt keine Rolle mehr. Ein einziges Lied folgt noch der Melodie von Wie nach einer Wasserquelle.7S Eine Ausnahme macht Gustav von Mengden, vielleicht wegen seiner persönlichen Verbindung zu dem von einem calvinistischen Herrscherhaus regierten Ostpreußen: Mengden war livländischer Adeliger. Sein Liederbuch trägt den Titel Der Verfolgete / Errettete und Lobsingende David, Das ist: Alle Psalmen Davids in Reimen gefaßet / und auff denen / bey der Evangelischen Kirchen gebräuchlichen Melodeyen eingerichtet. Durch Einen Christen / der sich in seinem Pathmo An Gott ver-Miethet,76 Bei Mengden finden wir noch hin und wieder die reflektorische Verwendung der entsprechenden Genfer Melodie für das eigene, neugedichtete Psalmlied. Zwar ist der Anteil der Lobwasserweisen prozentual nicht bedeutend. Immerhin fällt aber auf, daß Mengden seine Quelle namentlich erwähnt und nicht verschämt verschweigt.77 Freilich hatte die Reserve gegenüber dem Lobwasser nicht nur konfessionelle Gründe. Die sperrigen Weisen und holprigen Texte wirkten in einer Zeit zunehmender Affektbetontheit überholt. Andererseits drangen bereits aufklärerische Vorstellungen durch, die gegen die Vielzahl der französischen Melodien 72

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„Im Thon: Zion klagt mit Angst und Schmerzen": Sey mir tausentmal gegrüsset/ Der mich je und je geliebt. Warumb machet solche Schmertzen. O du allersüste Freude. Kommt ihr traurigen Gemüther. Weg mein Hertz mit den Gedanken. „Im Thon: Werde munter mein Gemüthe": Wol dem Menschen der nicht wandel". Wohl dem der den Herren scheuet. Guben: Gruber 1674. Ebd., 46-173. Die alte Zions-Harpfe / Des Höchst-seeligen Königs / Propheten und Poeten Davids Ehre / nach denen 150 Psalmen / in eben so vielen Liedern / Nechst einer Vorrede Hn. M. Joh. Conrad Feuerleins / Diaconi der Pfarr-Kirche zu Sebald in Nürnberg. Zur Ehre des Himmels und allen GOTT-ehrenden zur Geistes-Belustigung / verneuet angestimmet / von Dem Pegnesischen Blum-Genossen Celadon. Nürnberg: Froberg 1693. - Ps. 37 folgt der Weise „Wie nach einer Wasserquelle". Hingegen ist bei Ps. 42, 86, 137 angegeben: „Zion klagt in Angst und Schmerzen". Bei Ps. 50. 147 heißt es: „Werde munter mein Gemüte". Die zweite Ausgabe der Zions-Harpfe erhielt völlig neue Melodien durch Johann Löhner. Nürnberg: Riegel 1694. Riga: Nöller 1686. Der 42. und der 140. Ps.: „Im Thon: Wie nach einer Wasser-Quelle". Auch für Ps. 43 verwendet er die bei Lobwasser entsprechende Melodie. Ps. 144, 146 und 158 folgen der Weise von Lobwasser nach Ps. 74; Ps. 147 folgt der französischen Weise von Ps. 66.

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zugunsten einer möglichst großen Simplizität des Singens zu Felde zogen. Christian Stökken nahm es über sich, die Opitzschen Übersetzungen zu vereinfachen, d. h. sie auf gängige lutherische Melodien sangbar zu machen, „di auch der allereinfaltigste leichtlich zu seiner Hauß-Andacht kann anwenden". 7 8 Daß damit zugleich eine Heimholung des Opitzschen Psalters in den Schoß der lutherischen Kirche beabsichtigt war, versteht sich. Stökken spricht dies freilich nicht offen aus; er diskutiert in seiner Widmungsvorrede verschiedene Psalterübertragungen und verwirft sie alle als zu schwer zu singen. Seine konfessionelle Absicht wird aber deutlich, wenn er angibt, Luther als Gewährsmann allen anderen Quellen vorgezogen zu haben. 79 Auch in der reformierten Kirche war der Lobwasser nun nicht mehr ganz unangefochten. Erneuerungsbestrebungen bahnten sich einen Weg. Zum einen wurde der zweite Teil der Gesangbücher mit den geistlichen Liedern „D. Martini Lutheri und anderer gottseliger Männer" immer umfangreicher, zum anderen gewann die neue Musik an Boden. Die puristische Form des einstimmigen Singens, der vierstimmige Kantionalsatz, die schwerrhythmischen Melodien und die kirchentonale Fassung - dies alles wirkte nun altmodisch. 1658 stellte Johann Crüger im Auftrag des preußischen Herrscherhauses für die reformierte Domgemeinde zu Berlin ein Gesangbuch zusammen mit der Vorgabe, die Psalmen sollten „so wol instrumentaliter, als vocaliter, [...] gesungen / und musicirt werden" können. 80 Seine Psalmodia Sacra81 genannte Sammlung enthält im ersten Teil die Lobwasserschen Psalmen, im zweiten Teil aber auch 329 Lieder von Luther, den Böhmischen Brüdern u. a. Crüger lieferte dazu eine neue mehrstimmige Bearbeitung: „Sämtliche Melodien in 4 Vocal- und (pro Complimento) in 3 Instrumental-Stimmen auf eine gantz newe [...] Art nebenst dem Basso Continuo". 8 2 Crüger hat die französischen Melodien rhythmisch modernisiert; so hat er beispielsweise die obligat langen Notenwerte am Anfang getilgt und den Grundschlag von der Halben auf die Viertel verändert. Der zweite, rubrizierte Teil mit den geistlichen Liedern ist wesentlich länger als der Psalmenteil und gibt bisweilen die Dichternamen an. Es begegnen u. a. Rist, Gerhardt, Heermann, Johann Franck, Geletzky, Herbert.

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Neugestimmte Davids-Harfe / Oder Di Psalmen Davids guten theils aus des Opizzen übersezzung dergestalt eingerichtet / daß si auch nuhnmehr / nach den in Lutherischen Kirchen üblichen Gesangweisen andächtig können gesungen werden [...] hervor gegeben Durch M. Christian von Stökken / Rensbürgern. Schleswig: Holwein 1656. Widmungsvorrede, Bl. a 9'. Widmungsvorrede, Bl. b Γ-2'. Widmungsvorrede, Bl. Α 6'. Psalmodia Sacra, Das ist Des Königes und Propheten Davids Geistreiche Psalmen / durch Ambrosium Lobwasser / D. [...]. zu nützlichem Kirchen Gebrauch nicht allein in Vocalund Instrumental-Stimmen übersetzet: Sondern auch zugleich in diesem Buch mit ihren bloßen Melodien absonderlich verfaßet von Johann Crügern / Direct. Music. Berlin: Runge 1658. Widmungsvorrede Bl. Α 6'. - Titel der mehrstimmigen Ausgabe DKL 165805. Widmungsempfanger waren das Kurfurstenpaar (Friedrich Wilhelm und Luise Henriette) sowie die Kurprinzen Friedrich und Karl Emil.

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4. Die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts Hatten bisher die ungefüge Sprache und die angestaubten Melodien des Lobwasser Anstoß erregt, so bewirkte die pietistische Bewegung, daß auch die Spiritualität des Psalters nicht mehr befriedigen konnte. Lieder, die zunächst nur für den Bereich der Hausandacht gedacht waren, gewannen an Geltung, so daß der Lobwasser allgemein zurückgedrängt wurde. Zunächst konnten sich die französischen Melodien wegen ihrer Bekanntheit noch halten. Joachim Neander verweist für die meisten Texte seiner Glaub- und Liebesübung (Bremen 1680) auf den französischen Psalter, selbst wenn er eine eigene Melodie beigegeben hat.83 Sein Gesangbuch ist im Titel ausdrücklich für den Privatgebrauch ausgewiesen. Die Lobwasserschen Melodien sind also für die musikalisch weniger ambitionierten Benutzer gedacht. Die neuen, seelenvollen Texte, in denen Neander den individuellen Bund Gottes mit der gläubigen Seele betont, kamen dem Zeitgeist entgegen. Wie schnell diese „Bundeslieder" beliebt wurden, bezeugt ihr Weg in den zweiten Teil der reformierten Gesangbücher: Lemgo 1690,84 Bremen 1710,85 Herborn 1711 (für Nassau-Dillenburg)86 und schließlich das Neu-aufgesetzte, vollständige und nach der neu und reinesten Composition eingerichtete Psalm- und Choral-Buch Frankfurt a. M. 1718 (für Hessen-Hanau)87. Jeweils verweisen die Titel auf die Neanderschen Bundeslieder, sie betrachten deren Aufnahme also als werbewirksam.88 Die Tendenz ging dahin, die Lieder Neanders mit neuen, affektbezogenen, generalbaßbegleiteten Melodien zu singen, statt die alten Lobwasser-Weisen weiterzuschleppen. Michael Müller, der Herausgeber des genannten Frankfurter Gesangbuchs von 1718, verweist im Titel ausdrücklich auf diese Einrichtung. Er hat für die Bundeslieder Neanders eine Reihe von neuen Melodien erfunden. Die reformierte Kirche wollte sich nun auch den Liedschatz des 17. Jahrhunderts aneignen. Dies geschah unter Neanders anerkanntem Namen in der in Elberfeld verlegten Joachimi Neandri vermehrte Glaubens- und Liebesübung (1721). Diese Veröffentlichung enthält neben 58 Liedern Neanders noch gleichsam als Contrebande 146 Lieder verschiedener Autoren sowie eine Zugabe von 21 neuen Liedern von Gerhardt, Scheffler, Arnold u. a. m.89 83

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Neander hat über 50 eigene Melodien geschaffen. Im Titel: „Nach bekannt- und unbekante Sing Weisen". DKL 169010. Dieses Gesangbuch (DKL 171001) enthält im 1. Teil (!) neben dem Lobwasser noch Bundeslieder von Neander und „Friedrich Adolph Lampens Zugabe auserlesener und geistreicher Lieder", eine weitere pietistisch geprägte Sammlung. DKL1711 06 . DKL 171807. Hingegen verschweigt seine zahlreich vorhandenen Neanderschen Lieder: Neu-eingerichtetes Gesang-Buch / welches in sich hält die Psalmen Davids, Nach Französischer Melodie [...] Wie auch Vile neue / auserlesene Geistreiche und erweckliche Lieder. Mit Königlicher und Hoch-Fürstlicher allergnädigsten Approbation. Kassel: Harmes 1748. Vgl. dazu Gerhard Tersteegen, Geistliche Lieder, hg. v. Wilhelm Nelle, Gütersloh 1897, 348-352.

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Auch bei den alten Lieder kam man von dem vierstimmigen Kantionalsatz immer mehr ab. In Frankfurt a. M. erschien seit 1738 der Harmonische LiederSchatz von Johann Balthasar König, in dem die Psalmen „mit einem modernen Generalbaß versehen" (Titel) sind.90 Diese Liedbegleitung, die es möglich machte, durch eine präludierende Orgel dem Gesang einen Schimmer der beliebten Arienhaftigkeit zu verleihen, widersprach natürlich der traditionellen Spiritualität des Calvinismus und war ein Zugeständnis an die Bedürfnisse der Zeitgenossen. Die Kurpfalz führte 1745 mit dem Davids Harpffen-Spiel und der Geistlichen Liebes-Posaune ein Doppelgesangbuch ein, das ebenfalls den neuen musikalischen Gepflogenheiten entgegenkam. Es bot auch dem ungeübteren Organisten „mit sehr vielen aus hoch- und niedern- leicht- und schweren Accorden gesetzten Transpositionen" (Titel) eine praktische Handreichung. Der Herausgeber Johann Martin Spiess versah die französischen Melodien mit dem bezifferten Baß und gab eine Anleitung bei, wie die Begleitung mit Einleitung, Zwischenspielen und Melismen zu verzieren sei. Der zweite Teil, der auch die Neanderschen Bundeslieder enthielt, war so ausgedehnt, daß sich der Gesamtumfang des Buches auf 1895 Lieder belief.91 Durch die Beigabe so vieler Lieder mit neuen Melodien wurde der Hugenottenpsalter an den Rand gedrängt. Konnte die calvinistische Kirche die Lieder Neanders noch integrieren, so standen ihr die Texte des dritten Buchs von Gerhard Tersteegens Geistlichem Blumengärtlein Inniger Seelen (1729) wesentlich ferner. Mystische Entleerung, Verleugnung der Welt und des Eigenwillens, Versinken im Meer der Gottheit, Lichtmetaphorik, Brautschañsmotivik bestimmen die Texte, die insgesamt Zeugnisse der quietistischen und separatistischen Geisteshaltung ihres Schöpfers darstellen. Sie sind teils sicherlich aus eigener Andacht und für die eigene Andacht entstanden, teils für die Versammlungen gedacht, die Tersteegen mit großem Erfolg abhielt. Der Siegeszug dieses Erbauungsbuches spricht für sich. Zehn Auflagen erschienen bis zum Ende des Jahrhunderts.92 In den vom Dichter bis 1768 besorgten Ausgaben erhöhte sich die Zahl der Lieder von ursprünglich 33 auf schließlich 111. In der Ausgabe von 1766 erhielten die dort abgedruckten 90 Lieder einen Anhang von 16 neuen Melodien. Die achte vermehrte, postume Ausgabe von 1778/79 (Tersteegen starb 1769) hat schließlich alle 111 Texte mit Melodien versehen.93 Davon stammen viele aus dem protestantischen Liedgut des 17. Jahrhunderts, etwa von Homburg, Gerhardt, Heermann, 22 sind dem französischen Psalter entnommen.94 Es handelt sich bezeichnenderweise 90 91 92

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DKL 1738". DKL 174513. Zahn Nr. 936. Auflagen bis zum Ende des Jahrhunderts: Frankfurt a. M. / Leipzig 1729. Ebd. 1735. Ebd. 1738. 1745. Solingen 1751. Frankfurt a. M. / Leipzig u. Duisburg 1757. Bern 1766 (mit Melodien). Biel 1766 (mit Melodien). Stuttgart 1768. Frankfurt a. M. / Leipzig 1768/1769. Ebd. 1778/1779 (mit Melodien). Ebd. 1786 (mit Melodien). Ebd. 1793 (mit Melodien). Frankfurt u. Leipzig: Schmitz 1778, das dritte Büchlein 1779, „worinnen den Liedern zuerst Melodien beigesetzt worden sind". Vgl. Zahn Nr. 989. Etliche Melodien sind mehrfach verwendet. Nelle, Geistliche Lieder (s. Anm. 89), 296f., hat eine genaue Analyse der 111 Lieder vorgenommen und kommt zu

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nicht um die üblicherweise rezipierten Melodien. Ein intimer Kenner des Hugenottenpsalters wählte vielmehr ungewöhnliche Vorlagen und bevorzugte dabei geschmeidige Metren und eher schlichte Melodien: Psalm 9, 24, 25, 12, 66, 84. Psalm 42 erscheint auch, aber nur als Alternative zu Werde munter mein Gemiite (Schops Melodieschöpfung für Rist). Ihr gemeinsames Anliegen, den Gesang der Psalmen zu erneuern, führte Tersteegen und Neander seit der zweiten Auflage des eben erwähnten Buches Joachimi Neandri Glaub- und Liebesübung zusammen (1736; 1747; seit 1760 unter dem Titel Gott-Geheiligtes Harfenspiel der Kinder Zions, 1768). Dieses Gesangbuch enthielt eine von Auflage zu Auflage wachsende Zahl von Tersteegen-Texten, die sich zuletzt auf 100 belief.95 Pietistische und den Pietisten nahestehende Bücher nahmen die Tersteegenschen Lieder zwar auf, in offizielle Gesangbücher drangen sie im 18. Jahrhundert aber kaum ein.96

5. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts Mit dem Vordringen des Rationalismus änderte sich das Verhältnis zur Tradition; so fiel es leichter, bei dem lange Zeit unantastbaren Lobwasser nach den musikalischen Eingriffen nun auch Veränderungen im Textbestand vorzunehmen. Die ersten Verbesserungen werden im Titel des Hessen-Hanauischen Gesangbuchs 1745 vermerkt.97 Das Gesangbuch für Pfalz-Zweibrücken von 1746 reduziert die Zahl der Melodien auf 101, um das Erlernen zu erleichtern.98 Auch hier wird der Lobwassersche Text „hin und wieder verbessert". Den gleichen Vermerk tragen 1749 das Kurpfälzischen Gesangbuch und das Gesangbuch für Wittgenstein.99 Blieb der alte Psalter in diesen Gebieten bis zum Ende des Jahrhunderts grundsätzlich erhalten, so hat ihn Hessen-Kassel mit dem Verbesserten Gesangbuch 1770 aufgegeben.100 Es enthält 558 Lieder, davon haben 34 Melodien aus dem Hugenottenpsalter. Am konservativsten in Deutschland scheint Kleve geblieben zu sein. Sogar die deutschsprachige Schweiz, bisher ein Hort strengen Psalmengesangs, legte Reformen vor: Johann Jakob Spreng bot 1741 eine neue Übersetzung. Sie erschien 1741, und zwar laut Titel „mit besonderer Gutheißung eines

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dem Schluß, daß 16 der von Tersteegen benutzten Metren aus dem reformierten Liederschatz stammen. Dagegen verdanken sich 29 Metren dem 17. Jahrhundert. Vgl. Nelle, Geistliche Lieder (s. Aiun. 89), 352-363. Vgl. ebd., 300-306. DKL 174509. Das Gesangbuch enthält auch „über 700. sowohl alte als neue KirchenGesänge / auch Herrn Joachimi Neandri Geistreiche Bundes-Lieder" (Titel). DKL 174611. Zahn Nr. 939. DKL 174907. DKL 174910. DKL 177008"12. Zahn Nr. 977.

Die Rezeption des Genfer Psalters im protestantischen Deutschland

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Hochlöbl. Churpfalzischen Reformirten Kirchenrahts / wie auch eines Hochwürdigen Ministerii von Zürch und Basel".101 Dazu hatte - ungewöhnlich für die Schweiz - Sprengs Buch einen zweiten Teil mit „Auserlesenen geistreichen Kirchen- und Hausgesängen". Tatsächlich blieb in manchen Gebieten der Deutschschweiz der Genfer Psalter bald nicht länger unumstritten. Das Berner Gesangbuch 1767 enthält schon nicht mehr alle Psalmen.102 Im großen und ganzen aber hielt man in Helvetien - anders als im Reich das 18. Jahrhundert über, ja noch im 19. Jahrhundert am Lobwasser fest und druckte ihn in unveränderter Art. Ein von mir eingesehenes Exemplar, gedruckt bei Geßner in Zürich 1743, hat nur einen ganz schmalen Anhang von geistlichen Liedern, und auch diese sind, wie die französischen Weisen, nach altmodischer Art mit vierstimmigen Kantionaisätzen versehen. Die beigegebene „Kurze und deutliche Anleitung / wie die Music oder Sing-Kunst zu ergreifen" ist angesichts des Standes, den die Musik um die Mitte des 18. Jahrhunderts erreicht hatte, erschreckend primitiv und z. T. sogar falsch. In einer Epoche, in der ein Carl Philipp Emanuel Bach die geistlichen Lieder Gellerts (1758) und die Psalmen Cramers (1774) vertonte, konnte solch ein Gesangbuch den Geschmack nicht mehr befriedigen. Der Lobwasser wurde zum Synonym der Zurückgebliebenheit, zum Inbegriff veralteter Kirchenbräuche. Gegen Ende des Jahrhunderts berichtete die Berliner Verlegerin Helene Friederike Unger über den Gottesdienst in den reformierten Gemeinden der preußischen Hauptstadt: Nur in den alten Berliner Pfarrkirchen wird Evangelium und Epistel noch vor dem Altar, vom Prediger oft ziemlich mißtönend abgesungen. Bei der fast durchgängigen Stimmung der Gemeinen, könnte dieser papistische Klingklang sicher weggeworfen werden, ohne daß es irgend jemanden, als etwa einer übellaunigen alten Jungfer, ein Herzweh kosten würde. Der reformirte Gottesdienst ist hier, so wie sonst überall, äußerst einfach. Das Singen der Lobwasserschen verwasserten Psalme ist abgestellt, und an deren Statt sind die besseren neuen Lieder eingeführt; nur die Mitglieder der französisch-reformirten Gemeine müssen immer noch singen: comme un cerf qui brame u.s.w. Jedem denkenden und fühlenden Communikanten der deutsch-reformirten Gemeinden muß sich bei Verlesung des Communionformulars der Wunsch aufdringen, daß es dem reinen Menschenverstände zur Ehre gereichen würde, auch hierin mit dem Zeitalter fortgeschritten zu seyn.103

101 102 103

Basel: Cunrad 1741. DKL I74109. Blankenburg, Kirchenmusik (s. Anm. 1), 379. [Helene Friederike Unger], Briefe über Berlin aus den Briefen einer reisenden Dame an ihren Bruder in H. (1798), Berlin 1930, 28.

Lars Kessner

Lutherische Reaktionen auf den Lobwasser-Psalter Cornelius Becker und Johannes Wiistholtz

Die Rezeption des Genfer Psalters verlief in Deutschland hauptsächlich über den Lobwasser-Psalter. Je größer der Erfolg des Lobwasser-Psalters wurde, desto größer wurde die Zahl seiner Gegner. Seine Ablehnung geschah meist aus konfessionellen Motiven. Die calvinistische Vorlage, der Genfer Psalter, genügte den Menschen des konfessionellen Zeitalters für ihre Vorbehalte; poetische und musikalische Argumente gegen den Lobwasser-Psalter wurden bestenfalls nachgeliefert. Wer waren die Gegner und Kritiker des Lobwasser-Psalters? Man findet sie unter den Katholiken und den orthodoxen Lutheranern. Aber soweit sich die Rezeption des Lobwasser-Psalters im 16. und 17. Jahrhundert überblikken läßt, waren die Lutheraner seine eifrigsten Kritiker. Sie verfaßten Streitschriften und Predigten, verboten den Vertrieb und Gebrauch des LobwasserPsalters und entwickelten Gegenentwürfe - eigene lutherische Liedpsalter. Zwei dieser Gegenentwürfe sollen hier vorgestellt und miteinander verglichen werden: die Psalter von Cornelius Becker und Johannes Wüstholtz. Beide waren lutherische Pfarrer und haben einen Liedpsalter verfaßt, der sich bewußt als Reaktion auf den Lobwasser-Psalter verstand.

Cornelius Becker Die meisten Daten zu Cornelius Beckers Biographie sind bis heute in seiner Leichenpredigt erhalten.1 Diese wurde von seinem Leipziger Freund und Kollegen Georg Weinrich verfaßt, der als Vorlage für die Predigt Aufzeichnungen benutzte, die von Becker selbst stammen sollen.2 Georg Weinrich, Christliche Leichpredigt, bey dem Volckreichen Leichbegaengniss des weyland Ehrwirdigen, Achtbam und Hochgeiarten Herrn Comelii Becceri, Der H. Schriffi Doctoris und Professons, der Kirchen zu S. Nielas gewesenen Pastoris, Auch Collegiati des kleinem Fürsten Collegij zu Leipzig, welcher den 25. Maij, Anno 1604. in Gott selig entschlaffen, Und den 28 desselben, inn die Kirche zu S. Nielas Christlich zur Erden beygesetzet worden [...]. Dieser Predigt ist beygefueget die letzte Predigt, so D. Cornelius Becker aus dem 37. Psalm Davids, zween tage vor seiner Kranckheit gethan. [Leipzig: Popporich ca. 1604], Eine Randglosse neben der Überschrift „Commendatio Defuncti" gibt an: „Curricul. vitae D. C. Becceri, ex sua ipsius consignatione excerptum". Weinrich, Leichpredigt (s. Anm. 1), 42.

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Cornelius Becker wurde am 24. Oktober 1561 in Leipzig als Sohn einer Kaufmannsfamilie geboren. Schule und Studium absolvierte er überwiegend in Leipzig, ein kurzer Studienaufenthalt führte ihn nach Berlin. Erste Lehrtätigkeiten übte er in Leipzig an der Thomaskirche und an der Universität aus. Im September 1588 bestand er sein Examen und wurde ordiniert. Seine erste Pfarrstelle fand er in Rochlitz, dort heiratete er Dorothea, die Tochter des Bürgermeisters. 1592 wurde Becker an die Leipziger Nikolaikirche berufen, dort war er zunächst Diakon, dann Pfarrer. Neben seinen kirchlichen Ämtern führte er die wissenschaftliche Laufbahn an der Universität fort, bis er die Doktorwürde erreichte. Im folgenden soll auf einen Abschnitt des Lebens von Cornelius Becker näher eingegangen werden, der in der Leichenpredigt die Überschrift „Adversitates & calamitates" trägt. Dort wird von einer schweren Zeit beruflicher Widerstände berichtet, die zu einer Amtsentlassung Beckers führten. Leider wird nicht gesagt, in welche Schwierigkeiten Cornelius Becker geraten war. Er selbst schreibt im Vorwort zu seinem Psalter: Vnd weil meine Amptsarbeit eine zeitlang hat feyren müssen / habe ich vnter dessen wolmeinend vnd aus einem Christlichen eyffer vber meines HErrn Christi Lehr vnd Ehr / auch diese bey vnd nebenarbeit mir zum trost furgenommen / vnd denen jenigen / die da lust und gefallen haben / die Psalmen auff Lutherische art vnd vnsem Kirchen bekante Melodeyen vnd weisen zusingen / nach meinen wenigen gaben dienstlich sein wollen.3

Was war geschehen, daß Cornelius Becker vom Amt suspendiert wurde? Die vagen Andeutungen der Zeitzeugen und der konfessionspolemische Charakter des Becker-Psalters haben zahlreiche Forscher vermuten lassen, daß Becker in einen Konflikt im Rahmen der reformierten Konfessionalisierung verstrickt war.4 Archivfunde 5 belegen zwar einen Streit, aber der Eifer Beckers und einiger seiner Kollegen richtete sich nicht gegen den Calvinismus. Der Gegner war der weltliche Rat der Stadt. Es ging um die Frage nach dem Patronatsrecht und darum, wer die Befugnis besitze, einen Pfarrer in sein Amt einzusetzen (oder 3

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5

Cornelius Becker, Der Psalter Dauids Gesangweis / Auff die in Lutherischen Kirchen gewöhnliche Melodeyen zugerichtet [...]. Leipzig 1602, fol. bv. DKL 160202. Diese und alle weiteren Gesangbuchsigel folgen dem Sigelverzeichnis in: Konrad Ameln / Markus Jenny / Walther Lipphart (Hg.), Das Deutsche Kirchenlied (DKL), Verzeichnis der Drucke von den Anfangen bis 1800 (Répertoire international des sources musicales Β VIII/1), Kassel 1975. Vgl. ζ. B. die Art. „Becker" in folgenden Lexika: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1, Tübingen 41998, Sp. 1200; Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 1, Hamm 1975, Sp. 449f.; Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil 2, Kassel 21999, Sp. 617f. Für diesen Fall interessant sind folgende Mappen aus dem Bestand „Geheimer Rat" im Sächsischen Hauptstaatsarchiv in Dresden: Erste buch Irrungen Zwischen dem Rath zu Leiptzig vnd dem Superintendenten auch Diaconen doselbst wegen des Juris patronatus vnd andrer mehr Punct halber, Anno 1600, Sign: 7439/9. Ander Buch Irrungen zwischen dem Ministerio zu Leiptzigk vnd dem Rath doselbst vnd darauf ergangener Abschiedt, Anno 1600 und 1601, Sign: 7439/10. Drittefs] Buch in der Leipzigischen Sache Rath contra Ministerium daselbst, M. Schmucks Erklärung, D. Beckers Dimission, Anno 1601, Sign: 7429/3.

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ihn auch wieder zu entlassen): die Stadt oder die Kirche? Cornelius Becker ließ seine Meinung zu diesem Thema am Sonntag nach Ostern 1601 in einer Predigt öffentlich werden. Er forderte mehr Einfluß für die Vertreter des Leipziger Ministeriums, die Versammlung der städtischen Geistlichkeit. Es ging also um formale Aspekte von Befugnis und Einflußnahme: Konfessionelle Fragen spielten keine Rolle. In dieser Zeit ohne Amtspflichten hat Becker seinen Psalter geschrieben. Als Christian II. 1601 Kurfürst von Sachsen wurde, wurde die Suspension wieder aufgehoben. Das Ende von Beckers Biographie ist schnell erzählt: 1602 wurde er Professor für Theologie an der Universität Leipzig. Nur zwei Jahre konnte er dieses Amt ausüben; er starb am 25. Mai 1604. Das Werk, mit dem Becker auf den Psalter von Ambrosius Lobwasser reagiert, trägt den Titel Der Psalter Dauids Gesangweis / Auff die in Lutherischen Kirchen gewöhnliche Melodeyen zugerichtet / Durch Cornelium Becker D. Mit einer Vorrede Herrn Doctoris Polycarpi Leisers Churf. Sachs. Hoffpredigers / etc. (Leipzig 1602). Es ist kein Zufall, daß das Stichwort „lutherisch" schon im Titel fallt. Zunächst sind damit die Melodien gemeint. In der Vorrede zum Becker-Psalter wird den Weisen des Genfer Psalters vorgeworfen, sie klängen „den Weltlüsternen Ohren lieblich".6 In den lutherischen Melodien hingegen herrsche „ein frewdiger vnd mutiger Geist".7 Becker verwendet die Melodien Martin Luthers und die Melodien aus lutherischer Tradition, manche davon mehrfach. So werden ζ. B. sieben Psalmlieder auf die Melodie Ein feste Burg gesungen,8 acht Lieder auf die Melodie Aus tiefer Not.9 Der Hinweis auf die lutherische Kirche bezieht sich aber nicht nur auf die Auswahl der Melodien. Der ganze Psalter widmet sich der reinen Lehre, die in der rechten, also in der lutherischen Kirche vertreten wird. Besonders deutlich wird das in den beiden Vorreden von Cornelius Becker und Polycarp Leyser. Becker widmet seinen Psalter Sophie von Brandenburg; sie war die Ehefrau des sächsischen Kurfürsten Christian I. und eine kämpferische Lutheranerin. Becker war dieser Frau persönlich verpflichtet: Sie war es wahrscheinlich, die ihren Sohn Christian II. davon überzeugt hatte, Becker wieder in sein Amt einzusetzen. Nach der Widmung weist Becker auf die doppelte Gefährdung des Luthertums hin, die zum einen von der katholischen Kirche - Becker spricht von der „tyranney des Bapsthumbs"10 - , zum anderen von denen ausgehe, „denen der athem nach Caluinismo reucht".11 Mit dem Kampf gegen den Calvinismus ist Beckers Hauptanliegen formuliert: Wie denn solches vnter andern sich auch darinnen erweiset / das die Psalmen des Theodorus Beza der Sacramentierer Redlinsfuhrer / neben Clement Marotto einem fürnehmen Poeten in Frankreich / auff sonderliche Melodeyen in Frantzösischer Sprache gesetzet / vnd

6 7 8 9 10 11

Polycarp Leyser, Vorrede zum Becker-Psalter (s. Anm. 3), fol. b vi'. Ebd., fol. b viiv. Es handelt sich um die Lieder zu Ps. 18, 35, 43, 46, 68, 76 und 144. Es handelt sich um die Lieder zu Ps. 6, 42, 55, 69, 86, 89, 130 und 131. Cornelius Becker, Vorrede zum Becker-Psalter (s. Anm. 3), fol. a iiijv. Ebd., fol. a vii'.

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mit Summarien versehen / nach dem sie ins Deutsch gebracht / von vielen bey uns so hoch vnd köstlich geachtet werden / als wenn nichts lieblichere vnd köstlichere vber die Psalmen ans liecht kommen were. Also das auch nach etlicher (sonderlich derer / denen der athem nach Caluinismo reucht) vermeinten hohen verstand vnd iudicio / Lutherus mit seinen Gesengen für diesem werk sich wol verkriechen müste. Darumb auch an etlichen benachbarten orten / diese aus dem Frantzösischen ins Deutsch versetzte Psalmen in den Kirchenversammlungen zusingen angeordnet / vnd den lutherischen Gesengen weit fürgezogen werden.12

Théodore de Bèze und Clément Marot - mit diesen Namen wird der Genfer Psalter angesprochen. Der Name Ambrosius Lobwassers fallt nicht, dennoch besteht kein Zweifel, daß Becker den Lobwasser-Psalter meint, wenn er von der deutschen Übersetzung der französischen Vorlage spricht. Der letzte Absatz des vorangehenden Zitats belegt, daß der Lobwasser-Psalter in „etlichen benachbarten orten [...] zusingen angeordnet" wurde. Das schreibt Becker im Jahre 1602. Leider ist nicht genau gesagt, welche benachbarten Orte gemeint sind, doch wir wissen, daß der Lobwasser-Psalter bis 1602 in der Kurpfalz und in der Grafschaft Nassau-Dillenburg eingeführt war. Verschiedene Drucke erschienen in Köln, am Niederrhein und in Nordwestdeutschland.13 In Leipzig hingegen gab es trotz der kursächsischen Calvinisierungswelle unter Christian I. keinen vorgeschriebenen Gebrauch des Lobwasser-Psalters. Dennoch waren die Psalmen in dieser Stadt bekannt. Der Lobwasser-Psalter wurde hier im 16. Jahrhundert in fünf verschiedenen Auflagen14 gedruckt, und zwar immer dann, wenn in Sachsen eine lutherische Obrigkeit regierte. Gerade in den Jahren 1586-1591, als unter Christian I. der Calvinismus eingeführt werden sollte, wurden in Leipzig keine Lobwasser-Ausgaben gedruckt. Dafür erschienen aber noch zwei Auflagen in den neunziger Jahren, als Christian II. schon wieder das Luthertum in seinem Fürstentum eingesetzt hatte. Das kann als ein weiteres Indiz dafür betrachtet werden, daß die Lutheraner den Lobwasser-Psalter zunächst als konfessionell unbelastet empfanden. In seiner Vorrede erklärt Becker, das eigentliche Übel sei im Genfer Psalter zu sehen. Lobwasser habe lediglich eine deutsche Übersetzung angefertigt und sei nicht für den calvinistischen Inhalt der französischen Vorlage verantwortlich. Den wesentlichen Kritikpunkt findet Becker auch nicht in den Psalmliedern, sondern in den Summarien des Genfer Psalters, in den kurzen Inhaltsangaben, die jedem Lied vorangestellt sind. Theologisch geht es also um den Inhalt des Psalters. Für Becker steht es außer Frage, daß der Psalter Vorausdeutungen auf Jesus Christus enthalte; diese christologische Komponente sei im Genfer Psalter nicht ausreichend berücksichtigt. Dieses aber ist ein gantz vnuerantwortlicher vnd der Christlichen Kirchen vnleidlicher handel / das die Caluinistischen Meister / durch die den Psalmen vorgesetzten Summarien / den HErm Christum aus den furnembsten Weissagungen / so viel an jhnen / gestolen / vnd dieselben verkehrlich in fremden verstand gezogen haben / zuwider den helen klaren zeug-

12 13 14

Ebd., fol. a vi r/viv. Es handelt sich dabei um die Drucke: DKL 159212, 159608, 159713. DKL 157303, 157603, 158406, 159407, 1597°'.

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nissen Gottes des H. Geistes / dadurch im newen Testament gedachte Weissagungen / als in Christo allegiert vnd erkleret werden.' 5

Wenn man sich die Summarien im Lobwasser-Psalter anschaut, findet man dort sehr wohl christologisch ausgelegte Psalmen. Als Beispiel soll das Summarium zu Psalm 2 dienen: Hie sihet man / daß Dauid vnd sein reich ein rechte figur vnd vngezweiffelte Prophecey sey auff Jesum Christum vnd sein Reich.16

Auch Becker weiß, daß der pauschale Vorwurf, die Calvinisten trieben Christus aus der Schrift, so nicht stimmt. Daher differenziert er seine Vorwürfe: Wie solches genugsam und deutlich ist, daß die calvinistischen Meister zum theil aus dem 8. 16. 68. 72. etc. Psalmen / darinnen von hohen sinnen des HErrn Christi gar vergessen / zum theil aus dem 2. 22. vnd anderen / darinnen sie Dauid vorsetzen / vn[d] Christum im furbilde kaum von ferne hernach fuhren / genugsam offenbar vnd am tage ist. Welche Schriftverfelschung [...]. 17

Es gebe Summarien, die den Psalm allein nach dem sensus historicus auslegten und darauf verzichteten, ihn christologisch zu interpretieren. Das sei ζ. B. in den Psalmen 8, 16, 68 und 72 der Fall. Becker wirft dem Genfer Psalter vor, hier hätte man Christus vergessen. Daneben gebe es Psalmsummarien, in denen typologisch oder prophetisch auf Christus hingewiesen werde, ζ. B. bei den Psalmen 2 und 22. In diesen Summarien - so lautet Beckers Vorwurf - werde David zuerst genannt und damit der christologischen Auslegung zu wenig Gewicht gegeben. Den calvinistischen Exegeten wird vorgehalten, daß „sie Dauid vorsetzen / vn[d] Christum im furbilde kaum von ferne hernach führen". Welche Konsequenzen zieht Becker aus dieser Kritik für seine eigenen Summarien und Psalmlieder? Er liefert eine sehr eigenständige Interpretation des Psalters. Für seine Auslegung führt er noch eine Textgattung ein, die im Genfer Psalter nicht vorkommt: eine Überschrift, in der das Thema des Psalms angegeben wird. Im Genfer Psalter steht vor dem Psalmlied nur die Nummer des Psalms, dann folgen das Summarium und das Psalmlied. Lobwasser erweitert diese Vorlage und setzt jedem Lied noch das lateinische Incipit des entsprechenden Psalms voran. Über Psalm 2 steht z. B. Quare fremuerunt gentes. Cornelius Becker nutzt seine Überschriften, um die Psalmen zu interpretieren. So beginnt der 2. Psalm mit der Überschrift Christi Königreich, Psalm 22 hat den Titel Christi wehklag am Creutz, Psalm 40 Christi gehorsam vnsere versiihnung. Aber nicht alle Überschriften weisen auf eine christologische Interpretation hin. Andere Titel lauten: Segen vber Kirch und Regiment (Psalm 20), Mam[m]onsdienst hat bösen gewinst (Psalm 49) oder Bubenglück hat kein bestandt (Psalm 37).

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Becker, Vorrede zum Psalter Dauids, fol. a viir/v. Ambrosius Lobwasser, Der Psalter / deß Königlichen Propheten Dauids [...]. Leipzig 1573. DKL 157303. Becker, Vorrede zum Psalter Dauids (s. Anm. 15), fol. a viii'.

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Doch nicht nur die Überschriften, auch die Summarien nutzt Becker, um die Psalmen zu interpretieren. Wieder soll der 2. Psalm als Beispiel dienen: Der II. Psalm. Christi Königreich. Tobten die feind gleich noch so sehr / Dennoch bleibt Christus König / Wer ihm erzeiget dienst vnd ehr Wird mit jm leben ewig. Sein Reich die Kirch wird doch bestehn / Wenn alle feind zu boden gehn.

In 38 der 150 Summarien wird der folgende Psalm christologisch gedeutet. Das ist deutlich mehr als im Lobwasser-Psalter18, aber viel weniger als ζ. B. bei Martin Luther. Luther deutet in seinen Summarien über den Psalter19 mehr als ein Drittel der Psalmen auf Christus hin. Dagegen erscheint die christologische Interpretation im Becker-Psalter geradezu zurückhaltend. Nach der Kritik, die Becker in der Vorrede an der sogenannten calvinistischen Schriftverfalschung geübt hat, verwundert diese Zurückhaltung um so mehr. Wenn man sich die Summarien anschaut, fallt auf, daß Becker sich nicht ausschließlich für die Christologie interessiert. Zwei weitere Themenkreise werden von ihm mit großer Sorgfalt ausgearbeitet: die Ekklesiologie und das weltliche Regiment. Die Ekklesiologie interessiert Becker vor allem in bezug auf die rechte Lehre. In vielen Summarien verdammt er Irrlehrer und fordert Rechtgläubigkeit ein: Psalm 71

[...] Das bitten wir auch allzusamm / In vnsern vnd der Kirchen Namn / Das Gott sie halt bey reiner Lehr / Rotten vnd allen Feinden wehr / Pfleg biß ans end der Christen gmein / Die nun fast alt vnd schwach will sein. [...]

Rotten und Feinde bedrohen die schwache Kirche. Wer diese Feinde sind, wird in diesem Beispiel nicht näher bestimmt. Im Summarium zu Psalm 74 werden einmal der Papst und die Türken als Gegner der Kirche erwähnt. Die Calvinisten werden an keiner Stelle genannt.

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Der Lobwasser-Psalter enthält 13 Summarien, die den folgenden Psalm christologisch interpretieren. Martin Luther, Summarien über die Psalmen und Ursachen des Dolmetschens 1531 bis 1533, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 38, Weimar 1912.

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Dem Themenfeld Obrigkeit und weltliches Regiment ist ebenfalls eine Reihe von Psalmsummarien gewidmet.20 Im Mittelpunkt steht hier der gottesfurchtige Regent. Psalm 108

[...] Wann die Regenten schön In Gottsftircht einher gehen / Vnd anderen zum zum Beyspiel stehn. Welches Land oder Stad Ein solchen Herren hat / Darin wohnt Gott mit seiner Gnad.

Die Konzentration auf den Themenschwerpunkt „Obrigkeit" kann durchaus biographisch gedeutet werden. Cornelius Becker wurde - wie schon erwähnt vom Rat der Stadt Leipzig suspendiert und von Kurfürst Christian II. wieder in sein Amt eingesetzt. Während seiner Suspendierung schrieb er das Summarium zu Psalm 101: GNad vnd Recht sind zwo Seulen schön / Darauff die Regiment bestehn / [...] Ein Fürst zu förderst wol zuschaw / Wem er das Recht vnd Ampt vertraw / Damit die bösen Amptsleut nicht Jhm zuzihen ein schnöd Gericht / Denn er muß doch den Namen han / Wenn jene wider Recht gethan. Sind seine Diener Tugendreich / So achtet man jhn auch dergleich. [...]

Die „bösen Amptsleut" handeln wider das Recht, und der Fürst muß über die Korrektheit seiner Beamten wachen. Obwohl in diesem Summarium keine Namen genannt werden, ist es nicht schwer, die persönliche Betroffenheit Beckers bei diesem Thema herauszulesen. Zusammenfassend läßt sich zum Becker-Psalter sagen, daß Becker besonders die Psalmsummarien nutzt, um die einzelnen Lieder zu interpretieren. Dabei sind ihm die Christologie, die Ekklesiologie und das weltliche Regiment als Themen wichtig. Die wahre Kirche habe über die reine Lehre zu wachen. Es dürfe nicht geschehen, daß das Zentrum der Verkündigung, das Heilswirken Jesu Christi, bei der Auslegung der Schrift vernachlässigt werde. Die weltliche Obrigkeit habe dafür zu sorgen, daß diese Verkündigung ungehindert durchgeführt werden könne. Die Interpretation der Psalmen bleibt zumeist auf die Summarien beschränkt. In den Psalmliedern selbst ist Becker mit der Interpretation eher zurückhaltend. Hier wird bis auf wenige Ausnahmen der Psalmtext der Lutherbibel paraphrasiert. 20

Neun Summarien beschäftigen sich mit diesem Themenfeld: Ps. 20, 48, 58, 61, 82, 101, 108, 144, 148.

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Johannes Wüstholtz Johannes Wüstholtz schuf nach Cornelius Becker einen weiteren Liedpsalter, der auf Ambrosius Lobwasser reagierte. Der Titel seines Gesangbuchs lautet: Der Lutherisch Lobwasser21. Wüstholtz war Pfarrer in Ohrnberg in der Grafschaft Hohenlohe. Diese Grafschaft war seit 1533 in eine katholische (Hohenlohe-Waldenburg) und eine evangelische (Hohenlohe-Neuenstein) Linie geteilt. Auch im evangelischen Teil der Grafschaft war es zu Spannungen bei der reformierten Konfessionalisierung gekommen. Graf Wolfgang ließ 1605 durch seinen Hofprediger Johann Assum eine Bekenntnisschrift22 drucken, die von seinen Pfarrern anstelle der Konkordienformel unterschrieben werden sollte, der jedoch calvinistische Züge vorgeworfen wurden.23 Es kam zu einer Trennung der Vertreter des orthodoxen Luthertums von den Unterzeichnern des neuen Bekenntnisses, die auch auf dem Konvent von Weikersheim (28.12.16176.1.1618) nicht überwunden werden konnte. In diesen Jahren der konfessionellen Differenzen erschien Wüstholtz' Lutherisch Lobwasser. Seit 1604 gab es ein erstes hohenlohisches Gesangbuch, herausgegeben von Erasmus Widmann. In diesem Gesangbuch waren auch einige Lobwasser-Psalmen enthalten. Aus dem Jahr 1614 ist ein Beleg erhalten, daß der gesamte Lobwasser-Psalter in der Grafschaft verkauft wurde. Schon zu dieser Zeit regte sich der Protest lutherischer Geistlicher. Wüstholtz bleibt in den Quellen unerwähnt. Er trat erst im Jahr 1617 in Erscheinung, als die erste Auflage seines Lutherisch Lobwasser bei Hieronimus Körnlein in Rothenburg ob der Tauber erschien. Die wenigen biographischen Angaben zu Wüstholtz finden sich in Johann Christian Wibels Hohenlohischer Kyrchen- und Reformations-Historie2^ und im Baden-Württembergischen Pfarrerbuch2S. Das Geburtsjahr und der Geburtsort von Wüstholtz sind bis heute unbekannt, aber man weiß, daß er seit 1586 in Tübingen studiert hat. Als Magister artium ist er 1590 fur ein Jahr nach Jena 21

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Der Lutherisch Lobwasser. Das ist der gantze Psalter Davids / auff CHristum den rechten Scopum oder Zweck der H. Göttlichen Schlifft / sonderlich auff das New Testament vnnd diese letzte Zeit gerichtet. Nach D. Ambrosij Lobwassers Art / Reimen vnd Melodeyen zu singen. Mit kurtzen Summarien vber alle Psalmen. Sampt anderen geistlichen Gesängen so in den Evangelischen Kirchen gebräuchlich. Durch / M. Johann: Wüstholtzen / Pfarrherrn zu Orenberg. Rothenburg ob der Tauber, 1617. DKL 1617'°. Johannes Assum, Gründlicher Bericht, auß heyliger göttlicher Schlifft, von den furnembsten Articuln christlicher Lehr. Wie solche von den Pfarrherrn und Predigern in rebus et pharibus der Gemein Gottes [...] erkläret werden sollen. Auff gnädigen Befelch [...] Herrn Wolffgangen Graffen von Hohenloe, [...] kürtzlich zusammen gezogen [...], Frankfurt am Main 1605. Zur kirchenpolitischen Situation in der Grafschaft Hohenlohe vgl. Württembergische Kirchengeschichte, hg. v. Calwer Verlagsverein, Stuttgart 1893, 464-466; Gunther Franz, Die Kirchenleitung in Hohenlohe in den Jahrzehnten nach der Reformation, Stuttgart 1971. Johann Christian Wibel, Hohenlohische Kyrchen- und Reformations-Historie, aus bewährten Urkunden und Schriften verfasset, und Nebst einem Vorbericht Von der Grafschaft Hohenlohe Ueberhaupt. Onotzbach 1752,447. Baden Württembergisches Pfarrerbuch, Bd. II: Württembergisch Franken, Teil 2: Die Kirchen· und Schuldiener, bearb. v. Otto Haug, Stuttgart 1981, 518.

Lutherische Reaktionen auf den Lobwasser-Psalter

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gegangen. Seit 1595 ist er Pfarrer in Ohrnberg, dort heiratet er die Tochter seines Amtsvorgängers, zeugt zwei Kinder und bleibt 31 Jahre in dieser Gemeinde, bis er 1626 stirbt. Das einzige Zeugnis, das heute von Wüstholtz erhalten ist, ist sein Liedpsalter. Im Titel des Lutherisch Lobwasser [...] Sampt anderen geistlichen Gesängen so in den Evangelischen Kirchen gebräuchlich ist schon angedeutet, daß dieser nicht nur den Psalter enthält, sondern in einem zweiten Teil auch andere Gesänge der lutherischen Tradition. Die Ausgabe von 1617 bietet außerdem in einem dritten Teil die Historia des Teuren Mannes Doctoris Martini Lutheri in Liedform von Valentin Hebeysen. Der Wiistholtz-Psalter erschien bis 1631 in vier Auflagen bei Körnlein in Rothenburg. Wüstholtz stellt seinem Psalter ebenfalls eine Vorrede voran. Auch er sieht, wie Cornelius Becker, das Luthertum bedroht, und auch bei ihm ist die Christologie das Kriterium, lutherische und calvinistische Psalterauslegung voneinander abzusetzen. Aber der Tonfall, mit dem Wüstholtz in seiner Vorrede auf den Lobwasser-Psalter reagiert, ist wesentlich milder als bei Cornelius Becker. Wiewohl aber D. Ambrosij Lobwassers Compositio psalterij wie er jn auß dem Französischen inn Deutsche Rythmos transferiert, an ihn selbst nicht zu verachten ist: [...] vnnd da er selbsten [Lobwasser] in seiner praefation vermeldet / daß er nichts liebers sehen wolt / dann das er mit seiner Arbeit einem andern anreizung vnd vrsach gebe / zu fernerm exercitio: Also hab ich mich vnderstanden / das psalterium ordentlich für zu nemmen / vnnd auff den rechten Scopum CHRISTUM / nach Art vnnd weiß des Newen testament zu richten / sonderlich was Weissagung sein / von Christo / seinem Reich vnd Evangelio etc. Die andern hab ich bey D. Ambrosij Lobwassers Composition / als die nit zu verbessern / bleibe[n] lassen [...].

Christus ist der rechte „Scopus", auf den hin man den Psalter auslegen soll. Ansonsten gebe es an vielen der Lobwasser-Psalmen nichts auszusetzen, sie seien „nit zu verbessern". 72, also knapp die Hälfte der Psalmlieder im Wüstholtz-Psalter stammen von Ambrosius Lobwasser. Die meisten davon werden ohne jede Veränderung übernommen. 22 Psalmlieder hat Wüstholtz, oft auf ganz simple Weise, christologisch umgewandelt. So hat er an einige Lobwasser-Lieder lediglich eine doxologische Strophe angehängt. Vielen Liedern wird ein christologisches Summarium vorangestellt. Bisweilen werden nur einzelne Wörter eines Liedes ausgewechselt. Im folgenden Beispiel wird die vierte Strophe des 131. Psalms des Lobwasser-Psalters der Wüstholtzschen Bearbeitung gegenübergestellt: Lobwasser

Wüstholtz

Auff Gott deß Herren gütigkeit / Sol Jsrael dein zuuersicht Dein trost vnd hoffnung sein gericht / Von nu an biß in ewigkeit

Auff Jesu CHristi Grechtigkeit / soll Jsrael dein Zuversicht / dein Trost vnd Hoffnung sein Gericht / von nun an biß in Ewigkeit

Durch den Austausch weniger Wörter wird Gott zu Christus und Gottes Güte zur Gerechtigkeit Christi. Manchmal muß Wüstholtz auch in den Reim der

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Lars Kessner

Lobwasserschen Verse eingreifen, doch immer bleibt das Original deutlich zu erkennen. Wüstholtz will sich gar nicht von der Arbeit Lobwassers distanzieren. Er nutzt dessen Popularität und nimmt lediglich einige christologische Korrekturen vor, um die Rechtgläubigkeit der Lieder zu gewährleisten. Neben den Lobwasser-Psalmen übernimmt Wüstholtz noch Dichtungen anderer Autoren. Darunter sind alle Psalmlieder Martin Luthers zu finden, aber auch Lieder ζ. B. von Paul Speratus (Psalm 103: Nun Lob mein Seel den HERREN), Justus Jonas (Psalm 124 : Wo GOtt der HERR nicht bey vns helt), Matthias Greiter (Psalm 125: ΝUn welche hie jr Hoffnung gar / auff Gott den HERREN legen) und auch von Cornelius Becker (Psalm 138: Auß meines Hertzen gründe / danck ich dir Christ allein). Diese Lieder sind nie die alleinigen Vertreter des jeweiligen Psalms, sondern immer an ein Psalmlied von Wüstholtz oder Lobwasser angefügt. Wüstholtz hat aber nicht nur die Lieder anderer Autoren übernommen oder bearbeitet, er hat auch eigene Dichtungen verfaßt. Zunächst sollen die Summarien betrachtet werden, denn auch Wüstholtz widmet wie Becker diesen Texten große Aufmerksamkeit. 66 Summarien legen den folgenden Psalm christologisch aus. Darin übertrifft Wüstholtz quantitativ Cornelius Becker, aber auch Martin Luther bei weitem. Anders als Cornelius Becker jedoch bearbeitet Wüstholtz auch die Psalmlieder christologisch, dort finden sich zahlreiche Anspielungen auf Christus und sein Heilswerk. Die Christologie bleibt aber nicht das einzige Thema, das Wüstholtz interessiert. Er verweist, und darin gleicht er wiederum Cornelius Becker, noch auf andere Themen des Psalters. Besonders auffallend ist sein Bestreben, die Summarien mit moralischen Anweisungen zu versehen; dazu ein Beispiel: Psalm 75 Du Gottloser was rühmstu dich Deines Gewalts Halstaniglich / Thu gmach / thu nicht so heffiig pochen: Es bleibt kein Vbel vngerochen.

Die Anrede „Du", die zweite Person Singular, wird im ganzen LobwasserPsalter nicht verwendet. Auch im Becker-Psalter gibt es nur sehr wenige Psalmen, in denen der Leser direkt mit „Du" angeredet wird. Becker bevorzugt das inklusive „Wir", doch längst nicht in dem Maße, in dem Wüstholtz das „Du" einsetzt. In zwei Dritteln der Psalmsummarien wendet er sich direkt mit Aufforderungen, Anweisungen oder Zusagen an den Leser. Darunter sind Gebetsermahnungen, Aufrufe zur Buße, aber auch zu Jubel und Freude. Diese Psalterauslegung kann im weitesten Sinne als tropologisch bezeichnet werden. Der Psalter wird in das Leben des einzelnen Christen hineingestellt. Zum Schluß soll noch auf die Ekklesiologie im Wüstholtz-Psalter eingegangen werden. Wie Becker legt auch Wüstholtz in seinen Summarien großen Wert auf die wahre Kirche, in der das Evangelium auf rechte Weise gelehrt wird. Diese Kirche werde immer wieder von Feinden bedroht. Nach der Lektüre der Vorrede von Wüstholtz könnte man meinen, die Feinde der Kirche seien vor allem unter den Calvinisten auszumachen, doch diese werden weder in den Summarien noch in den Psalmliedern ein einziges Mal erwähnt. Die Feinde im

Lutherische Reaktionen auf den Lobwasser-Psalter

293

Wüstholtz-Psalter sind die Katholiken. In acht Summarien oder Liedern wird der Papst als Gegner des Christentums genannt. Die Psalmlieder selbst bleiben bis auf wenige Beispiele frei von konfessioneller Polemik. Als Beispiel sollen Summarium und Lied des 89. Psalms angeführt werden. Diß ist ein Weissagung schon / Von Christo Gotts und Davids Sohn / Der Bapst wider jhn tobet sehr / Christus aber rettet sein Ehr.

Im Psalm wird der Kampf Gottes mit den Feinden des Messias geschildert (V. 23 f.). Dieser kriegerische Aspekt des Psalms hat Wiistholtz wohl zu seinem papstfeindlichen Summarium inspiriert. Die folgende Übersicht stellt die Verse 21-25 in der Übersetzung Martin Luthers den Strophen 10 und 11 in der Bereimung durch Wüstholtz gegenüber: Martin Luther: Psalm 89 (1545)

Wüstholtz: Psalm 89 (1617) 10. 21. Jch habe fanden meinen knecht Dauid / Ich hab jhn gsalbet vber alle maß gar schon / Jch hab jn gesalbet mit meinem heilimit dem Oel deß heiligen Geistes Fron / gen Ole. ich will mit meiner Hand vber im trewlich halten / 22. Meine Hand sol jn erhalten / Vnd mein daß er sein Ampt vnd Werck wird können wol verwalten / Arm sol jn stercken. 23. Die Feinde sollen jn nicht vberweligen sein feind / die wider ihm heffiig streiten und Vnd die Vngerechten sollen jn nicht Kämpffen / dempffen. die sollen jhn nicht vberweltigen noch dempffen. 11. 24. Sondern ich will seine Widersacher Ich will vor jhm her schlagen seiner Feinde Heer / schlahen fur jm her/Vnd die jn hassen/ ich will auß rotten alle die jhn Hassen sehr / will ich plagen. mein Güt bey jhm soll sein vnd sein Warheit 25. ABer meine Warheit vnd Gnade soll daneben/ bey jm sein / Vnd sein Horn sol in er wird in meim Namen sein namen hoch erhemeinem Namen erhaben werden. [...] ben. [...]

Das Psalmlied folgt der biblischen Vorlage; der konkrete Bezug zum Papsttum entfallt damit. Erst das vorangestellte Summarium lenkt die Rezeption des Liedes. Wer nach der Lektüre des Summariums das Lied singt, wird in den Feinden, die von Christus besiegt werden sollen, den Papst und die römische Kirche erkennen. Anhand der Ekklesiologie Cornelius Beckers und Johannes Wüstholtz' läßt sich eine weitere Gemeinsamkeit feststellen: Beide polemisieren in ihren Vorreden ausgiebig gegen den Calvinismus als Feind der Kirche, aber erwähnen dann die Calvinisten weder in den Summarien noch in den Psalmliedern. In den Summarien findet man als Gegner der Kirche nur den Papst und manchmal die Türken. Die Lieder bleiben, bis auf ganz wenige Ausnahmen, frei von konfessioneller Polemik. Sie handeln von Christus und der rechten Kirche, von einer gottesfürchtigen Obrigkeit und vom frommen Leben der Gläubigen. Die Psalmlieder dienen bei Becker und Wüstholtz der Erbauung. Die jeweiligen Liedpsalter hingegen - mit ihren Vorreden, Überschriften und Summarien - gehören zur Gattung der konfessionellen Kontroversliteratur.

Jörg-Ulrich

Fechner

Martin Opitz und der Genfer Psalter

I. Wer sich anschickt, die Beschäftigung Martin Opitzens mit dem Genfer Psalter aufzuzeigen, steht vor mancherlei Schwierigkeiten. Das beginnt mit einer bisher fehlenden kritischen Ausgabe der vielfältigen Textzeugnisse, die sich nicht auf die vollständige Übersetzung des Hugenottenpsalters beschränken, wie sie 1637 in Danzig erschien. Die Bewertung von Opitzens Leistung schwankt für dieses Werk erheblich und außergewöhnlich. Das gilt insbesondere seit der Monographie von Hugo Max, die sich bislang als einzige mit dem umfänglichen Werk des geistlichen Dichters Martin Opitz befaßt.1 Wie ist der Psalter als Arbeit des schlesischen Dichters überhaupt einzuordnen? Ist sie eine vornehmlich dichterische Leistung? Dann müßte sie, wie es in der bisherigen Forschung durchweg geschieht, nach den Regeln und Vorschriften seiner Poetik bewertet werden. So schreibt noch Curt von Faber du Faur in seinem wegweisenden Katalog: „Opitz used the text of Clément Marat and Théodore Bèze. It is one of the weaker works of the poet. Verses like: Erforsche doch wie Böses ihm beliebt, Bis dass es ganz nicht mehr dergleichen gibt

are rarely found in Opitz's work."2 Oder strebte Opitz nicht vielmehr einen Gebrauchstext, also eine einfache Übertragung auf die vorgegebenen Genfer Melodien an, damit sein Werk im deutschen reformierten Gemeindegesang als leicht verständlicher und leicht sangbarer Text eingesetzt werden konnte? Unter diesem Aspekt wäre Opitzens Leistung besonders als eine Auseinandersetzung und ein Wettstreit mit seinen Vorläufern Paulus Melissus Schede und Ambrosius Lobwasser zu sehen und zu bewerten. Beschränkte Opitz sich dabei auf eine Übersetzung seiner französischsprachigen Vorlage? Ist sein Psalter aber überhaupt eine Übersetzung? Dann wäre es auffällig, daß die einzige Arbeit zu

1

2

Hugo Max, Martin Opitz als geistlicher Dichter (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 17), Heidelberg 1931. Curt von Faber du Faur, German Baroque Literature. A Catalogue of the Collection in the Yale University Library, Bd. 2, New Haven/London 1969, 26, Nr. 223a.

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Jörg-Ulrich Fechner

Opitz als Übersetzer aus dem Französischen den Psalter mit keiner Silbe erwähnt.3

II. Um im folgenden nur einige Aspekte aus diesem vielschichtigen Fragenkomplex zu erörtern, scheint es nützlich, ja, notwendig, mit dem biographischen Hintergrund von Opitz einzusetzen. Opitz wurde 1597 in Bunzlau geboren. Seine Heimatstadt war damals deutlich lutherisch geprägt. Ob es in Bunzlau zu Ende des 16. Jahrhunderts überhaupt Reformierte gab, läßt sich nicht feststellen, ist aber eher unwahrscheinlich. Eine reformierte Gemeinde gab es in Bunzlau damals jedenfalls nicht. Erst in Breslau, dann in Beuthen während seiner Ausbildung am Schönaichianum, weiterhin in Heidelberg und anschließend daran in Weißenburg kam Opitz mit der reformierten Kirche in direkte Berührung. Dies setzte sich fort, als Opitz sich bemühte, in die Dienste der Piastenherzöge Georg Rudolf von Liegnitz und Johann Christian von Brieg zu treten. Der Hintergrund ist, wie die Forschungen besonders von Klaus Garber nachdrücklich aufgezeigt haben, daß sowohl Angehörige des schlesischen Adels als auch der städtischen Oberschicht seit dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts zunehmend zum Calvinismus konvertiert waren. Solche Konversionen vollzogen sich allerdings nur insgeheim; damalige Dokumente über einen derartigen Konfessionswechsel sind für die schlesischen Orte ebenso wenig bekannt wie Zeugnisse über ein reformiertes Gemeindeleben oder gar reformierte Kirchen in Schlesien überhaupt. Dazu kam des weiteren für die akademisch Gebildeten noch ihr gelehrter Briefwechsel. Wer von den Schlesiern, die ja über keine Landesuniversität verfügten, in Heidelberg, Basel oder Leiden, seltener in Herborn, studiert hatte, besaß reformierte Lehrer und Mitstudenten und blieb zumeist auch über das Ende der Studien hinaus mit ihnen in Kontakt. All dies gilt auch für Martin Opitz. Aber trotz seiner wahrscheinlichen oder zumindest möglichen Kontakte zum reformierten Psalter seit seiner Breslauer und Beuthener Schulzeit lassen sich in seinen frühen Veröffentlichungen keinerlei Bezüge zu dieser geistlichen Dichtung der reformierten Konfession nachweisen. Schon 1623 hatte Martin Opitz in seinem Einzeldruck des längeren Versepyllions Zlatna Oder von Rhue des Gemütes darauf hingewiesen, daß er nach der von ihm erwünschten Rückkehr aus Siebenbürgen in seine schlesische Heimat sein Dichten und Trachten nunmehr auf eine geistliche Weise umkehren und damit erheben wolle:4 3

4

Vgl. die von Erich Trunz und Karl August Ott betreute Kieler Dissertation: Anne Gülich, Opitz' Übersetzungen aus dem Französischen, Kiel 1972. Martin Opitz, Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, hg. v. George Schulz-Behrend, Bd. II: Die Werke von 1621 bis 1626, 1. Teil (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 300), Stuttgart 1978, 89, V. 529-536.

Martin Opitz und der Genfer Psalter

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So würd' ich meine Verß wol auch nicht lassen liegen: Gar bald mit Mantua biß an die wolcken fliegen / Bald mit dem Pindaro: Nasonis Elegie Doch zuvoraus genannt / als meine Poesie: Vnd vnser deutsches auch / darinnen ich vorweilen Von Venus / jhrem Sohn' vnd seinen süßen pfeilen Nicht ohne fortgang schrieb; jetzt aber / nun mein sinn Vmb etwas reiffer ist / auch höher kommen bin.

Trotz dieses Selbstaufrufs zu ernster, geistlicher Dichtung sind sowohl die Straßburger Ausgabe von 1624, die Julius Wilhelm Zincgref auf Grund der in der Pfalz wie im Elsaß verfügbaren Einzeldrucke besorgte, als auch die Breslauer Ausgabe von 1625, die Opitz selbst redigierte und nach den Einsichten seines inzwischen eben entstandenen Buches von der Deutschen Poeterey überarbeitete, noch völlig frei von Bezügen auf den Genfer Psalter.

III. Als ein erstes Zeugnis für Opitzens dichterische Bemühung um die Psalmen ist hier nur die neulateinische Paraphrase des 79. Psalms zu erwähnen, die Opitz dem mit einer Widmung vom 1. Januar 1624 versehenen Einzeldruck seines Lobgesang Vber den Frewdenreichen Geburtstag Vnseres Herren vnd Heilandes Jesu Christi (Liegnitz o. J. [1624]) am Schluß beifügt. Das Gedicht, das in sapphischen Odenstrophen verfaßt ist und keinen Bezug zum Genfer Psalter aufweist, bildet dort nur ein Füllsel für den freien Druckraum am Ende des vierten Quartbogens. Opitz hat zwar die Psalmenparaphrase in seine Silvarum libri tres, epigrammatum liber unus (Frankfurt 1631) nochmals aufgenommen, sie bei dem mehrfachen Wiederabdruck des Lobgesangs jedoch nie berücksichtigt. Erst im Laufe des Jahres 1625 läßt sich eine dichterische Beschäftigung von Opitz mit dem reformierten Psalter erschließen. In einer auf „Postridie Kai. Januar.", also Anfang (wahrscheinlich: den 2.) Januar des Jahres 1626 in Bunzlau datierten Widmung an die Stadt Schweidnitz erwähnt Opitz, daß er eine Übersetzung mehrerer geistlicher Werke plant, darunter eben auch des Psalters:5 Sequitur brevi Ecclesiastes et aliquando, si Deus otia nobis faciet, coelestissimi Regis et Prophetae Psalmi, quorum gustum hic exhibemus. Melissi enim, horridi multoties in Latinis etiam versibus (Lyrica pleraque sane divina excipio) Poetae, et alterius labor absterrere me aliosque non debet: cum praesertim haec tonorum apud nos et rhythmorum accuratior observatio nunc demum post eorum memoria aut inventa, aut exculta sit. Et exemplo suo praeeunt Latini, quorum plurimi prisci nostrique seculi hoc egerunt, sicut eodem nomine in suo sermone Galli Marotto et Bezae, Itali Francisco Perotto, Batavi Datheno, Pannones Alberto Molnari amico meo, Britones et Sarmatae nescio quibus debent.

s

Martin Opitz, Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, hg. v. George Schulz-Behrend, Bd. II: Die Werke von 1621 bis 1626, 2. Teil (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 301), Stuttgart 1979, 754f.

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Jörg-Ulrich Fechner

Neben der Erwähnung des Predigers Salomo wendet sich Opitz hier besonders den Psalmen zu, von denen seine damalige Veröffentlichung bereits einen Vorgeschmack bieten soll. Hinsichtlich der Psalmen handelt es sich deutlich um den Genfer Psalter, denn Opitz erwähnt seine Auseinandersetzung, rhetorisch gesprochen: seine Überbietung (aemulatio) der beiden deutschen Vorläufer: eben des direkt genannten Paulus Melissus Schede und dann eines anderen, hinter dem sich nur Ambrosius Lobwasser verbergen kann. Die Anspielung auf deren prosodische Mängel legt ein deutliches Zeugnis fur das erstarkte Selbstwertgefühl des Schlesiers ab, der dabei unaufdringlich die Errungenschaften seiner unlängst erst erschienenen Poetik unterstreicht. Mehr noch: Opitz geht als Humanist philologisch ans Werk. Er ist sich der Tradition der lateinischen Psalmennachdichtungen von alters her bis in seine Gegenwart bewußt; er kennt anscheinend aus eigener Anschauung, ohne daß man wüßte, wo er diese Werke im damaligen Schlesien finden konnte - den französischen Psalter von Marot und de Bèze, den des Italieners Francesco Perotti, den des Niederländers Petrus Dathenus und den des Ungarn Albert Molnár, den er als seinen Freund bezeichnet. Wahrscheinlich bezieht sich diese freundschaftliche Beziehung nicht auf die flüchtigen Begegnungen in Görlitz, Beuthen an der Oder und Breslau seit dem Sommer des Jahres 1615, als Molnár mit seiner Familie die Heimat als Glaubensflüchtling verlassen hatte und in Schlesien, wo ihn sein Verwandter, Tobias Scultetus, in mancherlei Hinsicht unterstützte, nach einer neuen Anstellung suchte, sondern erst auf die gemeinsamen Monate 1618/19 in Heidelberg.6 Nicht genug damit: Opitz, der offenbar intensive Studien fremdsprachiger dichterischer Psalmenübersetzungen plant, scheut nicht davor zurück, seine Unkenntnis von englischen und polnischen Parallelunternehmen zuzugeben. Das Buch, dem die genannte Widmung voransteht, trägt den Titel: Die Klage-Lieder Jeremía; Poetisch gesetzt Durch Martin Opitzen; sampt noch anderen seinen newen gedichten. {Zu Görlitz im Marggraffthumb Ober-Lausitzz / druckts Johann Rhambaw / Im Jahr M.DC.XXV1)J Dieser vier Quartbogen umfassende Druck enthält nach der poetischen Paraphrase der Klagelieder Jeremiae und vor zwei weiteren poetischen Beigaben auf Blatt Dl r als Einschub: Der Zwey und viertzigste Psalm; Auff die weise des vier und zwanzigsten.8 Damit ist das Signal gegeben! Opitz, der in diesem Görlitzer Druck eine Widmung aus dem lutherischen Bunzlau verwendet, die sich an den Rat der wohl ebenfalls lutherischen Stadt Schweidnitz wendet, dichtet ein Kunstlied, das zwar den 42. Psalm poetisch wiedergibt, für die poetische und metrische Form 6

7

8

Dies zeigen die auf Molnárs Tagebuch gestützten Darlegungen und Schlußfolgerungen von András Szabó, Albert Szenci Molnár in Schlesien, in: ders. (Hg.), Iter Germanicum. Deutschland und die Reformierte Kirche in Ungarn im 16.-17. Jahrhundert, Budapest 1999,201-213. Vgl. Gerhard Dünnhaupt, Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur, Vierter Teil: Klaj - Postel (Hiersemanns Bibliographische Handbücher 9, IV), Stuttgart 1991, 3005-3074, hier 3030, Opitz Nr. 76. Opitz, Werke (s. Anm. 5), 772-774.

Martin Opitz und der Genfer Psalter

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jedoch den isometrischen Strophenbau des 24. Psalms nach dem Genfer Psalter wählt. Die damit verbundene Signalwirkung ergibt nur Sinn, wenn man den Genfer Psalter mit seinen berühmten Melodien hinzudenkt: Opitz dichtet seine poetische Umschreibung des 42. Psalms also auf die Melodie des 24. Psalms im reformierten Psalter. Er huldigt auf diese Weise mit seiner geistlichen Psalmenparaphrase dem Vorbild des Genfer Psalters. Dieser kunstvolle Umgang, auf eine bevorzugte Melodie des Hugenottenpsalters einen anderen Psalm umzudichten, kennzeichnet den Beginn von Opitzens produktivem Umgang mit diesem Muster und zugleich mit der Tradition der Psalmendichtung.9 Nach ebendiesem Verfahren werden in den Folgejahren weitere Psalmennachdichtungen erscheinen, die sich strophisch an anderen Psalmen des Genfer Psalters orientieren. Des weiteren nutzt Opitz die Weisen des Genfer Psalters bereits 1628 in seiner poetischen Paraphrase der Episteln auf die Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres. Die Episteln Der Sontage vndfiirnemsten Feste des gantzen Jahres / Auff die Weisen der Frantzösischen Psalmen in Lieder gefasset / Von Martin Opitzen. In Verlegung David Müllers / Buchhendlers in Breßlaw. Leipzig / Gedruckt durch Johan-Albrecht Mintzeln / 1628i0 greifen zurück auf die Tradition von poetischen Paraphrasen der Lesungen für die Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres, indem Opitz für die isostrophische und metrische Form der Teilstücke jeweils eine Melodie des Genfer Psalters wählt. Während der Erstdruck nur den Verweis auf den jeweiligen Psalm verzeichnet, bietet der Wiederabdruck in der Sammlung der Geistlichen Poemata von 1638 auch die Anfange der deutschen Psalmen. Auf diese Weise ist dokumentiert, daß Opitz sich schon bei seiner Episteldichtung der Psalmenübersetzung Lobwassers bedient hat. Das ist auch durchaus einleuchtend, war doch die Übersetzung Lobwassers die in der deutschsprachigen reformierten Kirche am stärksten benutzte Nachdichtung des Genfer Psalters. Überdies ergibt sich aus der Widmung an Herzog Georg Rudolf von Liegnitz, daß dieser reformierte schlesische Adlige Opitz den Auftrag zu seiner dichterischen Paraphrase der Episteln gegeben hatte:11 Hier habt jhr / was Ihr mir / O Hoffnung vnsrer Zeit / Zu thun befohlen habt: Der Worte Zierligkeit Der Zungen schöner klang gehört zu anderm wesen / Das schnöd' vnd jrrdisch ist. Allhier wird nichts gelesen /

9

10

11

Vgl. dazu Erich Trunz, Art. ,Psalmendichtung', in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, begründet v. Paul Merker / Wolfgang Stammler, Zweite Auflage [...] hg. v. Werner Kohlschmidt / Wolfgang Mohr, Dritter Band: Ρ - Sk, Berlin 1977, 283-289; Helmut Galle, Art. Psalmendichtung, in: Literatur Lexikon, hg. v. Walther Killy, Bd. 14: Begriffe, Realien, Methoden, Gütersloh/München 1993, 235f. - jeweils mit weiterführenden Literaturangaben. Vgl. Dünnhaupt, Personalbibliographien (s. Anm. 7), 3038-3040, Opitz Nr. 99.1-11. Neudruck in: Martin Opitz, Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, hg. v. George SchulzBehrend, Band IV: Die Werke von Ende 1626 bis 1630, 1. Teil (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 312), Stuttgart 1989, 241-317. Opitz, Werke (s. Anm. 10), 246.

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Jörg-Ulrich Fechner

Als vnsers Heiles Lieb' / als eine solche Gunst / Die von dem Himmel kömt / vnd hasset Menschen Brunst.

Noch Weiteres läßt sich über die Entstehung dieses Werks erschließen. Während in der Lobrede auf Martin Opitz von Christoph Coler seine Entstehungszeit in das Jahr 1624 verlegt wird - was möglicherweise einfach ein Druckfehler ist - , ergibt ein Brief von Opitz zweifelsfrei, daß die Dichtung erst im Winter 1626/27 entstand. Damals nämlich hatte Opitz von seinem derzeitigen Dienstherrn, dem Burggrafen von Dohna, Urlaub erhalten, den er mit dichterischen Bemühungen ausfüllte, wie er am 15. April (neuen Stils) 1627 aus Breslau an Balthasar Venator nach Straßburg schrieb:12 Hiemem autem in urbe hac nostra ipsius indultu exegi, ut liberius Musis vacare liceret. Sed fere sine fructu cessit hoc otium, nisi quod sacras omnium dierum Solis festorumque epístolas, quod cum evangeliis Posthius populaos tuus fecit, iussu serenissimi principis Lignicensis, qui impense me amat, versibus reddidi, singulisque singulare carminum genus aptavi, ut cani melodiis psalmorum Gaudimelae Galli possint. Nisi fere cogerer, publici eas non facerem. Sed negare quicquam principi otimo nequeo.

Auf Befehl des Liegnitzer Fürsten hat Opitz also die Sonntags- und Feiertagsepisteln in deutsche Verse gebracht und auf die Goudimelschen Melodien des Genfer Psalters gedichtet, damit sie - von wem und wo ist unklar - gesungen werden können. Gesungene Episteln gab es weder bei den Lutheranern noch bei den Reformierten. Handelt es sich somit um Andachts- oder Erbauungsliteratur, wie sie im privaten Kreis - etwa im Familienverbund mit dem Gesinde - eingesetzt werden konnte und sollte? Zeugnisse für eine solche Verwendimg fehlen allerdings wiederum. Wohl aber gibt Opitz selbst einen Hinweis auf ein Vorbild, dem er folgte. Was er - wohl als erster deutscher Dichter - für die Episteln in Gedichten auf Melodien des Genfer Psalters anstrebte, hatte in deutscher Dichtung bereits Posthius für die Sonn- und Feiertagsevangelien geleistet. Damit fällt ein weiterer Name aus dem Personengeflecht, in das sich Opitz als humanistischer und volkssprachlicher Dichter einordnet. Johannes Posthius (1537-1597), zuletzt Leibarzt des Kurfürsten in Heidelberg, hatte sein Werk kurz vor seinem Tod einem Verleger in Amberg zum Druck überlassen. Die Wahl des Druckorts steht vermutlich in Zusammenhang mit der Rolle Christians von Anhalt, der seit 1595 Statthalter in Amberg und der Oberpfalz war. Von der Erstausgabe von 1597, von der sich heute kein Exemplar mehr nachweisen läßt, gibt die ältere Forschung zwei verschiedene Titel an; fur einen Amberger Nachdruck von 1608 hat der amerikanische Germanist Gordon W. Marigold auf ein Unikat-Exemplar in der Zwickauer Stadtbibliothek hingewiesen.13 Angesichts solcher Seltenheit dieses Drucks stellt sich wiederum

12

13

Briefe G. M. Lingelsheims, M. Bemeggers und ihrer Freunde. Nach Handschriften [...] hg. u. erläutert v. Alexander Reifferscheid (Quellen zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland während des siebzehnten Jahrhunderts 1), Heilbronn 1889, 291 f., hier 291. Gordon W. Marigold, Die deutschsprachige Dichtung des Johannes Posthius. Betrachtungen zur literarischen Tätigkeit des Würzburger Leibmedikus Julius Echters, in: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 25 (1973), 33^18.

Martin Opitz und der Genfer Psalter

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die Frage, wo sich Opitz in Schlesien auf ein Exemplar stützen konnte, das er dem Brief zufolge ja vor Augen gehabt haben muß, um es als Vorbild für sein eigenes Dichtwerk zu wählen. Wo immer man diese Nachdichtung der Evangelien auf die Melodien des Genfer Psalters im 17. Jahrhundert eingesetzt haben mag, sie blieb nicht ohne Wirkung. Gerhard Dünnhaupt verzeichnet für das 17. Jahrhundert immerhin elf Nachdrucke, deren Druckorte von Danzig über Leipzig, Lüneburg, Frankfurt an der Oder, Berlin, Kiel, Dresden bis nach Wittenberg reichen! Für die Folgejahre sind dann Einzeldrucke von Nachdichtungen einzelner oder ausgewählter Psalmen mit oder ohne Notenbeigabe zu verzeichnen, die hier nur kurz aufgeführt werden sollen. Den Anfang bildet: Psalmus XCI. versibus Latinis ac Germanicis expressus a MART. OPITIO. (ohne Ort [Breslau], Drucker [Georg Baumann der Jüngere] und Jahresangabe [1629]).14

Das kleine Werk ist Bernhard Wilhelm Nüßler gewidmet. Opitz begründet die Beschränkung auf diesen einzelnen Psalm mit den Kriegszeiten; zu besseren Zeiten sollen weitere folgen. Die lateinische Nachdichtung ist den Freunden gewidmet, die deutsche eben Nüßler, beide zur Ehre Gottes. Die deutsche Nachdichtung folgt der Melodie des 101. Psalms im Genfer Psalter. Daß dort die vierzeilige Strophe der sapphischen Ode entspricht, wird in der Forschung als poetische Leistung von Opitz verzeichnet, der hier jedoch nur der Vorgabe des Genfer Psalters folgt. Auch ist es nicht das einzige Beispiel für diese strophische Form bei Opitz, sie kehrt in seiner späteren Nachdichtung des 101. Psalms wieder.15 Der Druck bietet die erste Strophe mit Noten. Martin Opitz Vber Den CIIII. Psalm. Gedruckt zum Brieg durch Augustinum Gründern. 1630.16

Dieser Einzeldruck, der erneut dem Fürsten Georg Rudolf von Liegnitz gewidmet ist, zeichnet sich unter den Psalmenparaphrasen von Opitz dadurch aus, daß hier der Text des Psalms nicht zu der Melodie des Genfer Psalters gedichtet wird, sondern in der Form des Alexandriners. Ein Nachdruck erschien noch im selben Jahr in Leipzig, ein späterer 1644 ohne Angabe des Druckorts. Der sechste Psalm vertiret Auth. Mart. Opitio. Jn der Melody deß 77. Psalms: Zu Gott in dem Himmel droben &c. Thorn Druckts Franciscus Schnellboltz o. J. [ 1633?]

14

15

16

Wiederabdruck in Martin Opitz, Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, hg. v. George Schulz-Behrend, Band IV: Die Werke von Ende 1626 bis 1630, 2. Teil (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 313), Stuttgart 1990, 431^35. - Vgl. Dünnhaupt, Personalbibliographien (s. Anm. 7), 3047, Opitz Nr. 111 ; ferner Konrad Ameln / Markus Jenny / Walther Lipphardt (Hg.), Das deutsche Kirchenlied. DKL: Kritische Gesamtausgabe der Melodien, Band I, Teil 1: Verzeichnis der Drucke (Répertoire International des Sources Musicales Β VIII), Basel u. a. 1973, 162912. Vgl. dazu Schulz-Behrend in seiner Ausgabe (s. Anm. 14), 431, und den dortigen Verweis auf Reinhard Hossfeld, Die deutsche horazische Ode von Opitz bis Klopstock, Köln 1961, 12-14. Wiederabdruck in Opitz, Werke (s. Anm. 14), 590-597; vgl. Dünnhaupt, Personalbibliographien (s. Anm. 7), 3048, Opitz Nr. 115.1.

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Jörg-Ulrich Fechner

Der kleine Einzeldruck, der nur einen halben Oktavbogen umfaßt, weist weder eine Widmung noch Notensatz auf. Das bis heute einzige nachgewiesene Exemplar ist in Wolfenbüttel erhalten. Die Datierung geht auf einen Ansatz von Gerhard Dünnhaupt zurück. 17 Zehen Psalmen Davids Aus dem eigentlichen Verstände der Schriffi / auff anderer Psalmen vnd Gesänge gewöhnliche Weisen gesetzt Von Martin Opitzen. Leipzig / Jn Verlegung David Müllers Buchhändlers in Breßlaw / Jm Jahr 1634.

Der wiederum mit Noten versehene Einzeldruck umfaßt die Paraphrase der Psalmen 6, 15, 32, 38, 49, 51, 85, 103, 137 und 148, ferner ein MorgenLied mit dem Anfang „O Liecht gebohren aus dem Liechte", das Opitz auf die Melodie des 33. Psalms dichtete und das seit 1644 auch in lutherischen Gesangbüchern erscheint, 18 und schließlich Martin Opitz vber den CIV. Psalm, offenbar ein Wiederabdruck der Thorner Einzelausgabe, falls deren Datierung richtig ist und die Thorner Ausgabe nicht umgekehrt dem Leipziger Druck folgt. 19 Die Ausgabe ist mit dem Datum „Leutmeritz, den 12. Herbstmonats 1634" einem Angehörigen der Fruchtbringenden Gesellschaft in Kothen, dem Obristen Diederich von dem Werder (1584-1657), gewidmet, der selbst aus einer reformierten Adelsfamilie stammte. Das Besondere dieser kleinen Sammlung liegt in dem Umstand, daß Opitz nicht nur die von ihm ausgewählten Psalmen auf Melodien anderer Psalmen dichtet, sondern ein eigenes geistliches Gedicht einfügt, das ebenfalls den Vorgaben einer Melodie des Genfer Psalters folgt. Der Achte / Drey vndt zwanzigste / Vier vndt Neunzigste / Hundert vier vndt zwanzigste / Hundert vndt Acht vndt zwanzigste Psalm / Auff anderer Psalmen gewöhnliche weisen gesetzt von Martin Opitzen. o. O. [Breslau], o. D. [Georg Baumann der Jüngere], o. J. [1635],

Dieser zwei Quartbogen umfassende Einzeldruck 20 ist wiederum mit Noten versehen. Die Ausgabe ist dem Direktor des Steueramtes in Schlesien, Jakob Treptau, einem reichen Breslauer Bürger,21 am 24. Mai 1635 in Breslau gewidmet. Diese Widmung setzt die Argumentation von Opitz in seiner Epistelparaphrase fort. Ausgehend von der Auslegung der Psalmen durch den Kirchenvater Augustinus weist Opitz auf die reiche Vielfalt der dichterischen Behandlung der Psalmen seit der frühen römischen Kirche und auch in den Volkssprachen hin. So wie schon David „den vom Himmel gefallenen Psalter", wie Opitz ihn mit einem Zitat des Cassiodorus bezeichnet, „seiner sprachen nach in die schönen reime vnd auff die wolklingenden seyten gesetzt" hat, sind „von allen Zeiten her

17 18

19 20 21

Dünnhaupt, Personalbibliographien (s. Anm. 7), 3055, Opitz Nr. 147 A. Vgl. dazu Albert Friedrich Wilhelm Fischer, Kirchenlieder-Lexicon. Hymnologisch-literarische Nachweisungen über ca. 4500 der wichtigsten und verbreitetsten Kirchenlieder aller Zeiten in alphabetischer Folge nebst einer Übersicht der Liederdichter, Zweite Hälfte [...] Gotha 1879,190. Dünnhaupt, Personalbibliographien (s. Anm. 7), 3057, Opitz Nr. 154; DKL 163409. Dünnhaupt, Personalbibliographien (s. Anm. 7), 3059, Opitz Nr. 159.1; DKL 1635 03 . So bezeichnet ihn Marian Szyrocki in seiner Monographie: Martin Opitz (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 4), Berlin [DDR] 1956, 107. - Nähere Angaben zu seiner Person und seinem Leben fehlen bislang.

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viel heilige Männer vnd allerhandt löbliche gemüter" seinem Beispiel gefolgt, so daß eine Sammlung davon „eine kleine Bibliothek" ergäbe. Auch deutsche Beiträge fehlen dabei nicht. Opitz, der sich in diese Tradition einordnet und für die geistliche Dichtung keinen Anspruch auf den „namen eines Poëten" erhebt und „einige Profession hier von zue machen niemals gesonnen gewesen" sein möchte, bezeichnet sein Ziel so: „damit die Psalmen der heiligen spräche eigentlichem sinne / jhrem vrsprünglichen verstände vnd der besten alten vnd newen außlehger gedancken nach also mögen gegeben werden / damit über tunckelheit der meinung / fehler der reimen zwang der worte vnd vnsauberkeit der rede so viel möchlich nicht zue klagen sey". 22 Mehr noch: Im Anschluß an die Psalmenparaphrasen fügt Opitz eine lateinische Paraphrase des 23. Psalms von dem wohl schon damals kaum noch bekannten Drepanius Florus, einem Diakon der Kirche von Lyon, der um 650 n. Chr. am Hof Chlodwigs II. wirkte, „ob vetustatem pariter & elegantiam" an und ergänzt sie um philologische Anmerkungen zur Sprache und zu Anspielungen auf klassische Autoren. 23 Wiederum also verbindet sich der dichterische Anspruch mit dem philologischhumanistischen Ansatz; wiederum bleibt völlig offen, wo Opitz auf eine Vorlage für den hier mitgeteilten Text stoßen konnte. Die Psalmendichtung des Drapenius Florus war laut Zedier in der Bibliotheca Patrum verfügbar. Sechs Psalmen Auff anderer Psalmen gewöhnliche weisen gesetzt. Von Martin Opitzen. o. O. [Breslau], o. D. [Georg Baumann der Jüngere], o. J. [1635].

Dieser Einzeldruck, wiederum mit Noten versehen, enthält dieselbe Vorrede mit der Widmung an Jacob Treptau wie der vorige Druck und ergänzt die dortigen fünf Psalmenparaphrasen um die des 91. Psalms, die bereits 1629 gesondert veröffentlicht worden war. 24 Zwölff Psalmen Davids Auff jhre eigene vndt anderer gewönliche weisen gesetzt Von Martin Opitzen. Breßlaw Bey Davidt Müllers Seel. Erben, o. J. [1636 oder 1637],

Der Einzeldruck, der durch eine Widmung aus Danzig vom 5. November 1636 bezeichnet ist, enthält, teils in Aufnahme früherer Drucke, die Psalmen 1, 2, 3, 11, 13, 19, 29, 92, 104, 111, 126 und 150. Neu ist dabei, daß Opitz hier nun seine Psalmenparaphrasen zum Teil auch auf die ihnen zugehörigen Melodien im Genfer Psalter dichtet. 25 Damit lagen seit 1626 bis um die Jahreswende 1636/37 bereits nicht weniger als 28 Psalmennachdichtungen von Martin Opitz in deutscher Sprache vor. Die Mehrzahl davon ist auf die Melodie eines anderen Psalms im Genfer Psalter gedichtet. Erst Ende 1636 wendet sich Opitz vereinzelt auch der Aufgabe zu, einen Psalm auf die ihm zugehörige Melodie des Genfer Psalters zu dichten. Ebenso vereinzelt ist die Nachdichtung eines Psalms in der metrischen Form

22 23 24 25

Alle Zitate aus Opitzens Widmung vom 24.5.1635, unpag., A ijv f. Ebd., Β iijv f. Dünnhaupt, Personalbibliographien (s. Anm. 7), 3059, Opitz Nr. 159.2; DKL 163504. Dünnhaupt, Personalbibliographien (s. Anm. 7), 3062, Opitz Nr. 173; DKL 163701.

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des Alexandriners, das einzige Beispiel dafür, daß Opitz sich auch einmal von den Vorgaben des Genfer Psalters löste. Auch die Nachdichtung der Episteln der Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres entsprach den melodischen bzw. metrisch-strophischen Vorgaben des Genfer Psalters. Angesichts der erheblichen Zahl von Einzeldrucken und teils noch zusätzlichen Nachdrucken stellt sich die Frage nach der Funktion dieser Veröffentlichungen. Waren sie Auftragsarbeiten, für die der Auftraggeber dann wohl auch die Papier- und Druckkosten übernahm? Nur die Paraphrase der Episteln ist als eine Auftragsarbeit fur den Herzog Georg Rudolf direkt dokumentiert. Oder entstanden die Drucke auf Antrieb von Martin Opitz, der sie mittels seiner Widmungen zu Werbezwecken für eine amtliche Anstellung nutzen wollte, wie Hugo Max es dem Dichter unterstellt? Dann wäre es auffallig, daß mehreren der Einzeldrucke eben solche Widmungen fehlen. Noch zahlreicher sind die Fragen hinsichtlich der Verbindung der dichterischen Psalmenparaphrasen mit Noten. Jeder Notendruck war teurer als ein bloßer Typensatz. Ein Druck mit Noten konnte nur sinnvoll sein, wenn er sich an ein singendes Publikum wendete. Für die Drucke ohne Noten setzen gerade die Verweise auf Melodien des Genfer Psalters eine Vertrautheit mit dieser Vorlage, also wohl eine Nähe zur reformierten Konfession voraus. Waren beide Druckarten als Andachts- und Erbauungsliteratur gedacht? Und in welchen sozialen Situationen sollten und konnten diese Drucke eingesetzt werden? Galten sie festlichen Anlässen, bei denen die Verteilung von Exemplaren solcher Drucke zum Singen eines Psalms als geistliche Überhöhung dienen sollte? Auch über die Auflagenhöhe der Drucke und über ihre Verfügbarkeit im Buchhandel fehlt jegliche Angabe. Ebenso ist kein einziges Exemplar mit einer handschriftlichen Widmung von Opitz bekannt. Es sind Fragen über Fragen, die offen bleiben müssen. Nur eins ist klar: Spätestens seit seinen ersten Beziehungen zu den Piastenherzögen in Schlesien ist Opitz mit dem Genfer Psalter vertraut und beschäftigt sich bei seinen dichterischen Bemühungen intensiv mit dessen Melodien und Texten.

IV. 1637 erscheint dann als Abschluß der Beschäftigung mit dem Genfer Psalter seine vollständige Nachdichtung der 150 Psalmen nach den Genfer Melodien: Die Psalmen Davids Nach den Frantzösischen Weisen gesetzt. Durch Martin Opitzen. Cum gratia & privilegio S. R. M. Dantzigk / Gedruckt vnd verlegt durch Andream Hünefeldt / Buchhändler / 1637.26

26

Dünnhaupt, Personalbibliographien (s. Anm. 7), 3064, Opitz Nr. 176.1; DKL 163705. Jetzt im Reprint: Martin Opitz, Die Psalmen Davids Nach den Frantzösischen Weisen gesetzt, Nachdruck der Ausgabe Danzig 1637, hg. v. Eckhard Grunewald u. Henning P. Jürgens, Hildesheim/Zürich/New York 2004.

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Damit erreicht Opitz den Höhepunkt seiner dichterischen Bemühungen um die biblischen Psalmen, und zwar in Verknüpfung mit den Melodien eben des Genfer Psalters. Da die Psalmen entsprechend ihrer Genfer Melodie gedichtet werden, entfallt hier die Notwendigkeit, jeweils das Incipit der Lobwasserschen Psalmen anzugeben. Auch dieser Danziger Druck bietet Noten fur die erste Strophe. Strebten Opitz und sein Verleger damit die Ausgabe eines Gesangbuchs an? Eine solche offizielle Verwendung seitens der reformierten Kirche ist nirgends nachzuweisen, wohl aber ein weitwirkender Erfolg dieser Übersetzung, die nach den bibliographischen Ermittlungen von Gerhard Dünnhaupt im 17. Jahrhundert noch neunmal erschien. Dabei reichen die Druckorte von Danzig bis Basel, von Breslau bis Leipzig, Lüneburg und Schleswig, umspannen also fast den gesamten deutschen Sprachraum. Die Danziger Erstausgabe wird zusätzlich noch - auch das ist für Opitzens Psalmendrucke neu - von einem Kupfertitel begleitet, der von einem Stecher namens Cornells van Dalen stammt. Der Name dieses Künstlers ist in Verbindung mit Danzig sonst nicht dokumentiert. Sollte es sich etwa um den berühmten niederländischen Stecher handeln, den Amsterdamer Cornells van Dalen (um 1602—1665)?27 Dann hätte der Danziger Verleger keine Kosten und Mühen gescheut, einen international anerkannten Künstler aus den Niederlanden für die Gestaltung des Kupferstichtitels zu gewinnen. Das Buch wird durch eine Widmung von Opitz an die Herzöge Johann Christian und Georg Rudolf von Liegnitz und Brieg eröffnet, die Opitz in Danzig am „16. des Wintermonats / im 1637. Jahre", also am 16. November 1637 datiert. Zwischen diese Widmung und den eigentlichen Psalter rückt Opitz noch eine umfängliche Vorrede an den Leser ein. 28 Wiederum preist er die Psalmen als ein göttliches Geschenk. Schon die griechische, dann die römische Kirche haben die Psalmen in ihre Sprache übersetzt und dichterisch gestaltet. Augustinus und andere Kirchenväter haben zugleich auf die Schwierigkeiten des rechten Verstehens der Psalmentexte hingewiesen. Nur die Klarheit des hebräischen Originals kann hier Abhilfe schaffen. Freilich haben gewisse Theologen den Juden vorgeworfen, daß sie durch „zusetzung / wegnemung / vertauschung der buchstaben vnd vmbkehrung der worte / wie auch mit erfindung der puñete die heilige Schrifft auß haß der Christen dermassen verterbet / daß jhnen gefahrlich zu trawen sey". Diese Einwände sind schon von Justinus, Augustinus und Hieronymus abgewiesen worden. Nur für Vers 17 im 22. Psalm fuhrt Opitz ein vereinzeltes Beispiel an, wo die Juden den Text „durch Verwechselung eines buchstabens" verfälscht haben - ein seltenes Zeugnis fur antijüdische Affekte bei Opitz. Mit dem Verweis auf den „Parisischen Professor Simeon von Muys" gibt Opitz eine jüngere Autorität an, auf die er sich bei seinen Vorarbeiten gestützt hat.

27

28

Vgl. Ulrich Thieme / Felix Becker (Hg.), Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Leipzig 1913, Bd. 8, 291 f. Opitz, Psalmen Davids (s. Anm. 26), unpag., (:) iiij'-[viij r |.

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Ohne im einzelnen auf die zahlreichen prosaischen Psalmenübersetzungen einzugehen, wendet sich Opitz im weiteren den dichterischen Psalmenparaphrasen zu.29 Apollinarius von Laodicea ist der einzige, der den ganzen Psalter auf Griechisch gedichtet hat. Im Lateinischen führt Opitz eine beachtliche Liste von Psalmendichtern auf, die von Petrus von Riga, der eine ungedruckte Übersetzung hinterlassen hat, die nach Opitzens Meinung auch weiterhin ungedruckt bleiben sollte, über „Angelus Sangrinus / Franciscus Bonadus / Jacobus Latomus / Johann Mattheus / Ludowig Crocius / Flaminius / Spinola / Bochius / Major / Heß / Buchananus" bis zu de Bèze fuhrt. Ist das, wie Hugo Max es deuten möchte, nur eine Namensliste, mit der Opitz sich brüstet? Oder ist nach den zuvor erörterten Fragen nicht doch davon auszugehen, daß Opitz mit philologischem Eifer bemüht war, möglichst viele Texte bei der Vorarbeit zu seiner eigenen Psalmenparaphrase einzusehen? Das gilt auch für die von Opitz aufgeführten volkssprachlichen Übersetzer. An italienischen Psalterdichtern nennt er „Franciscus Perottus / Julius Cesar Paschalis vnd [...] Johann Diodati", der besonders gerühmt wird, weil er „an deutligkeit der meynung vn[d] ziehr der worte keinem / es sey in was sprachen es wolle / im minsten bevor giebt". Auch der folgende Satz über spanische Psalter kann nur als Zeugnis dafür verstanden werden, daß Opitz sich wirklich um Einblick in entsprechende Drucke bemüht hat: „Der Spanische Dolmetscher / welcher auch sol verhanden seyn / ist mir nicht vorkommen." An englischen Beispielen kennt Opitz einen anonymen Psalter und den von George Whither, an polnischen die von Kochanowsky und Ribinsky, schließlich den ungarischen Psalter von Albrecht Molnár und die niederländischen des Marnix „von Aldegonde / Wilhelm von Haecht / Dathenus / Camphuysen". Für das Französische werden Desportes, der „seiner liebligkeit vnd vngezwungenen art wegen" hervorgehoben wird, Marot und de Bèze aufgeführt. Ein eigener Satz gilt „den anmutigen weisen des guten Musicantens Gaudimela / welcher auff dem schönen Beylager zu Pariß im 1572. jähre auch jämmerlich ist auffgerieben worden". Opitz weiß also auch darüber Bescheid, daß Goudimel zu den Opfern der Pariser Bartholomäusnacht gehört. Die größte Anzahl von Psalterübersetzungen führt Opitz bei den Deutschen auf. Er nennt „Lutherus / Ludwig Oeler / Burckhart Waldis / Wolffgang Dachstein / Paul Speratus / Just Jonas vnd andere Gottselige Männer". Eine neuere Richtung dieser Versuche setzt mit Ambrosius Lobwasser ein, auf dessen Widmungsvorrede er sich direkt bezieht. Nur Melissus Schede hat dessen Verstöße gegen die Metrik gebrandmarkt, wie es Opitz mit einem Zitat aus einem Brief Schedes an Johann Lobbetius vom Januar 1577 belegt. Danach soll der Heidelberger Kirchenrat im Beisein Schedes gesagt haben, daß in Lobwassers Übersetzung „alles sehr von wasser; oder viel mehr wässerig" sei. Es ist unbekannt, woher Opitz Kenntnis von diesem Brief haben konnte, der in der Forschung erst seit 1889 durch Alexander Reifferscheids Wiedergabe von Exzerpten aus einer Kopenhagener Sammelhandschrift mit Abschriften von Briefen Schedes an 29

Die Namensformen folgen der Vorrede von Opitz, die Zitate finden sich ebd., (:) v'-[vi y ].

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Lobbet bekannt ist.30 Opitz entschuldigt hingegen die versmetrischen Verstöße bei Lobwasser mit den Gepflogenheiten der damaligen Dichtung in Deutschland und findet es richtig, daß Lobwassers Fleiß und guter Wille in der reformierten Kirche anerkannt worden sei, obwohl Lobwasser nicht in allem mit der reformierten Konfession übereingestimmt habe. Was Melissus Schede selbst anbelangt, habe dieser nicht nur ebenfalls metrische Verstöße in seiner Übersetzung begangen, „sondern auch noch darzu offtmals darin[n]en solche sprüchwörter / so seltzame art zu reden / gedrungene reime vn[d] was dergleichen ist / mehr gebraucht", daß der Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz als Auftraggeber dieser Übersetzung und auch der pfälzische Kirchenrat wohl kaum darauf gedrungen haben dürften, Melissus zur Fortsetzung seiner Arbeit zu ermuntern. Aber Opitz enthält sich weiterer Kritik, da er nicht den Eindruck erwecken möchte, er wolle auf diesem Wege seine eigenen Verdienste herausstreichen. Statt dessen lobt er die Übersetzungen „Philipsen Freyherrens von Winnenberg vn[d] Caspar Vlenberges / insonderheit aber Doctor Beckers". Opitz führt nicht weniger als 38 Psalterübersetzungen in neun Sprachen auf. Wo hatte er sie in Danzig einsehen können? Wer waren die gelehrten Männer, die ihm helfen konnten, wenn er die Sprache einer Übersetzung nicht verstand? Gott zu ehren und seinen Nächsten zu dienen, ist für Opitz Anlaß seiner Psalmendichtung. Sie soll den Abschluß seiner poetischen Werke bilden, welche in der Jugend mehrheitlich weltlich waren. Personen hohen Standes und vornehme Leute, unter welchen er nochmals Diederich von dem Werder und dessen Verbindung zur Fruchtbringenden Gesellschaft in Kothen eigens nennt, haben ihn darum gebeten. Um seine Aufgabe zu bewältigen, hat Opitz die „besten alten vnd newen Außleger" konsultiert, einen in den hebräischen Kommentaren zum Psalter erfahrenen Gelehrten, der ungenannt bleibt, zur Hilfe herangezogen und schließlich die gelehrten Arbeiten von „Lutherus / Vatablus / Pagninus / Tremellius vnd Junius / Hutterus / Piscator / Genebrardus / Cornelius von Muys" wie auch die „Poetischen Dolmetscher" benutzt. Ziel war ihm dabei, dem Text genau zu folgen und die buchstäbliche Meinung des originalen Textes auszudrücken, „daß ich damit bey friedlichen den vnpartheyischen gemüthern zu verfahren meyne". Auf diese Weise hofft Opitz, sich den konfessionellen und kontroverstheologischen Streitigkeiten entzogen zu haben. Schließlich kommt Opitz zu den poetischen Aspekten seiner Psalmendichtung:31 Die tunckelen örter / derer aller gelehrten bekändtniß nach nicht wenig sind / habe ich meinem kopffe nach heller zu machen weder vermocht noch gedürftt: sonst aber so viel thulich alles dermassen rein vnd deutlich zu geben mich bearbeitet / daß keiner über die vnklare meynung / versetzte reden / gestümmelte oder vndeutsche worte (die denen so anderer spräche nicht kündig erst müßten erkleret werden) sich zu beschweren habe. Poetische vmbschweiffe vnd färben zu gebrauchen wil sich in solchen schriffien anders nicht schik-

30 31

Vgl. Reifferscheid, Briefe (s. Anm. 12), 963. Opitz, Psalmen Davids (s. Anm. 26), unpag., [(:) vij v ].

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ken / als in beschreibungen der weltgeschöpffe / Zeiten / Landschafften vnd dergleichen: welches ich mir aber auch nur wo es sich gefuget vnd sehr sparsam zugelassen.

Damit sind zentrale Vorstellungen von Opitz angedeutet. In seinen geistlichen Dichtungen wie hier im Psalter steht die Verständlichkeit für jedermann im Vordergrund. Reinheit und Deutlichkeit bestimmen das Stilideal. Der Zierat der weltlichen Kunstdichtung hat hier keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Platz. Nur dort, wo das Original bereits Beschreibungen von Geschöpfen, Zeiten oder Landschaften aufweist, sind rhetorische Figuren, colores rhetorici, Metaphern und ähnliche poetische Verzierungen statthaft. Aber auch dort dürfen sie nur sparsam verwendet werden. Schließlich wendet er sich noch gegen die Verächter der Musik. Opitz schätzt die Melodien des Genfer Psalters, die allgemein bekannt, passend und nach der Art des Textes eingerichtet sind. Er ist diesen Vorgaben gefolgt, nicht aber der Anzahl der Liedstrophen, wenn seine Bemühung um ein Verständnis des Originaltextes ihn eine andere Lösung bevorzugen ließ. Sprachliche und metrische Fragen sind in der Vorrede eines Psalters nicht zu erörtern. Unter Verweis auf seinen ,guten christlichen Vorsatz' stellt Opitz sich mit seinem Psalter schließlich der öffentlichen Kritik.

V. Um die Eigenart der dichterischen Behandlung der Psalmen in Opitzens Psalter von 1637 schärfer umreißen zu können, soll abschließend ein Textvergleich unterschiedlicher Fassungen angefügt sein. Als Beispiel wird dazu Psalm 23 wegen seiner Bekanntheit und wegen seiner vielfaltigen Verwendung im geistlichen Leben gewählt. Für Opitz als gebürtigen und durch die Erziehung geprägten Lutheraner dürfte die Fassung des Wittenberger Reformators zeit seines Lebens im Ohr mitgeklungen haben. Sie lautet:32 XXIII. Ein Psalm Dauids. DER HERR ist mein Hirte / mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auff einer grünen awen / Vnd füret mich zum frischen wasser. Er erquickt meine seele / er füret mich auff rechter strasse / vmb seines namens willen. Vnd ob ich schon wandert im finstem tal / furchte ich kein vnglück / Denn du bist bey mir / Dein stecken vnd stab trösten mich. Du bereitest für mir einen tisch gegen meine feinde / Du salbest mein heubt mit öle / vnd schenckest mir vol ein. Gutes vnd barmhertzigkeit werden mir folgen mein lebenlang / Vnd werde bleiben im Hause des HERRN jmer dar.

32

Zitiert nach dem Faksimile der Ausgabe Wittenberg 1534: Martin Luther, Biblia / das ist / die gantze Heilige Schlifft Deudsch, Bd. 1, Leipzig 1983, Ee ijr.

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Luthers Übersetzung beeindruckt bis heute durch die Modulation der gereihten Kurzsätze, durch die fast vollständige Vermeidung von Nebensatzgebilden und durch die rhythmisch variierten Satzschlüsse, welche diesen Text zu einem Meisterstück deutscher Kunstprosa werden lassen. Wegen der Bedeutung des Genfer Psalters darf hier die dortige Fassung nicht fehlen.33 PSEAVME XXIII. CL. MA. Il chante les biens & la felicité qu'il a: & d'vne merueilleuse fiance se promet que Dieu, duquel ce bien luy vient, le traitera tousiours de mesme. MOn Dieu me paist sous sa puissance haute: C'est mo[n] berger, de rien ie n'auray faute: En tect bien seur, ioignant les beaux herbages Coucher me fait, me meine aux clairs riuages, Traite ma vie en douceur tres-humaine: Et pour son Nom, par droits sentiers me meine Si seurement que quand au val viendroye D'ombre de mort, rie[n] de mal ne crai[n]droye. Car auec moy tu es à chacune heure: Puis ta houlette & conduite m'asseure. Tu enrichis de viures nécessaires Ma table, aux yeux de tous mes aduersaires. Tu oigns mon chef d'huiles & senteurs bon[n]es, Et jusqu'aux bords pleine tasse me donnes: Voire & feras que ceste faueur tiene Tant que viuray compagnie me tiene: Si que tousiours de faire ay esperance En la maison du Seigneur demeurance.

Ein Vergleich der hier vorliegenden dreistrophigen Fassung mit Luthers ProsaÜbersetzung zeigt die Konsequenzen der metrischen Forderungen. Nicht nur die Reimzwänge, auch die Struktur der Übersetzung führen zu einer Verstärkung der hypotaktischen Satzbildung. Die natürliche bzw. grammatische Abfolge der Satzteile wird zum Zweck der versmetrischen Forderungen wiederholt aufgehoben. Die metrische Behandlung des Textes zeigt deutlich die rückwärts gewandte Haltung des Übersetzers, der noch weit von den metrischen und poetischen Lösungen der Pléiade entfernt ist. Da die Übersetzung Marots mit der Melodie des Genfer Psalters verbunden war, standen alle weiteren volkssprachlichen Übersetzer in anderen Ländern vor der Aufgabe, sowohl eine versmetrische, isostrophische Fassung zu der vorgegebenen Melodie zu dichten als auch einen Kompromiß zwischen der Textfassung Marots und den Forderungen der jeweiligen Landessprache zu finden. Ambrosius Lobwasser löst diese Aufgabe so:34

33

Zitiert nach der Ausgabe Clément Marot / Théodore de Bèze, Les Psaumes en vers français. Fac-similé de l'édition genevoise de Michel Blanchier, 1562. Publié avec une introduction de Pierre Pidoux (Textes Littéraires Français 338), Genf 1986, 67-69.

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Dominus regit me. Psal. XXIII. Er beschreibet seine wolfahrt vnd glückseligkeit / vertröst sich durch einen wunder stocken vertrawen / das Gott / von dem solchs herkompt / jhn darbey erhalten / vnd jhm dergleichen mehr forthin verleihen werd. Diese verß seind zehensylbig / vnd zum teil vberschüssig. Mein hüter vnd mein hirt ist Gott der Herre / Drumb fürcht ich nicht das mir etwas gewerre / Auff einer grünen Awen er mich weydet / Zum schönem frischen wasser er mich leytet / Erquickt mein seel von seines namens wegen / Gerad er mich fürt auff den rechten Stegen. Solt ich im finstern thai deß todts schon gehen / So wolt ich doch in keinen forchten stehen / Dieweil du bey mir bist zu allen Zeiten / Dein stab mich tröst / mit dem du mich thust leiten / Für meiner feind gesicht du mir mit fleise Zurichtest meinen tisch mit füll der speise. Mein heupt du salbst mit öl / vnd mir einschenckest Ein vollen pecher / damit du mich trenckest / Dein miltigkeit vnd güt mir folgen werden / So lang ich leben werd allhie auf erden. Der Heir wirt mir mein lebetag vergünnen / Das ich in seinem Hauß werd wonen künnen. Gebet. Himlischer Vater / der du aller wolfart bist ein anfang / wir dancken dir / das du dich vns erzeiget hast / als vnsern hirten vnd Schützer / vnd vns von der gewalt vnserer Widersacher erlöset / Thue vns so wol / das wir hindan setzende alle furcht vnd erschrecken des todes / dir folgen / vnd deine warheit bekennen / welche du vns offenbaret hast durch vnsern Herrn vnd fürnemsten Meister Jhesum Christum / Amen. Nicht nur die Tonbrechungen der Psalmübersetzung Ambrosius Lobwassers, welche trotz der melodischen Vorgabe des Genfer Psalters dem traditionellen deutschen Knittelvers folgen, sind auffallig, sondern mehr noch der Kontrast zwischen der versmetrischen Sprachfuhrung des Psalms und der Stilistik des angeschlossenen, in Prosa abgefaßten Gebets. Der Widerpart Lobwassers, Paulus Melissus Schede, hatte 1572 eine ambitionierte Fassung vorgelegt, mit der er - w i e mit seiner Psalmenübersetzung überhaupt, die freilich nur das erste Drittel des Psalters umfaßt - zugleich eine Reform der deutschen Metrik und vor allem auch der deutschen Orthographie verbinden wollte. Hier lautet der 23. Psalm: 35

34

35

Zitiert nach der Wiedergabe der Erstausgabe von 1573 in: Epochen der deutschen Lyrik, hg. v. Walther Killy, Band 3: Gedichte 1500-1600, nach den Erstdrucken und Handschriften in zeitlicher Folge hg. v. Klaus Düwel, München 1978, 218f. Die Psalmenübersetzung des Paulus Schede Melissus (1572), hg. v. Max Hermann Jellinek (Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 144-148), Halle a. S. 1896, 84f.

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Der XXIII psalme. Iehova pastor meüs. Mon Dieu me pait. M. /ET singët von gutem ûnt wo I fart die asr hat: ünt verspricht ym wunderliches Vertrauens, das Got, von welchem dis gluk haerkcemmet, ym alwegen sœlches waerde zu gutem kommen lassen. Got waidet mich uf der hüt seiner haerde, }Er ist mein hirt, kaiñ mangël haben Wierde. 2. Mich rasten lest uf grüner auën ranfte, Ünt bringet mich zûn stillen wassern sanfte: 3. Labt meine sei, ünt ûf gerechten wegen Furet aer mich, um seines namens wegen. II. 4. Ünt wan ich schon wandret im finstren tale Des haerben dots, fôrcht ich doch kaiñ ûnfale. Dan stets bei mir bistu, mich lessest nimmer: Dein stekken Herr' ünt stab mich trösten immer. 5. Fur mir beraitst aiñ disch mit notdürft zeitlich, In gegenwaert meiner feinden ünleidlich. III. Salbest mein haubt mit gütem 61 getrenket, Bis oben an mein kelch ist vol-geschenket: 6. Wirst machen auch dàs deiner günst gelaite Ünt gutikait mein' lebtag mich belaite: Dàs ich also tû gûter hofnúng streben, Im haus des Hern lang fur-ûnt-fur zù leben. 1. Ain psalme Davids. DEr Herre ist mein hirt: mir wird nichtes mangeln. 2. Er lesset mich rasten üf grünen auen: ünt furet mich zu stillen wassern. 3. Er erquikket meine sele: er laitet mich in den laisen der gerechtikait / üm seines namens willen. 4. Vnt ob ich schon wanderte in ainem taie des dotes schatten / so furchtet ich kain ünglükke / dan dû bist bei mir: dein stekken ünt stab di trösten mich. 5. Du beraitest für mir ainen dische / zügegen meinen feinden; du salbest mein haupt mit óle: mein becher ist vol eingeschenket. 6. Darzü gütes ünt barmhertzikait werden mir folgen alle di tage meines lebens: ünt werde zü rüe bleiben im hause des Herren lange zeit. Gebaete. Himelischer vater, aller wolfart Stifter, wir tüen üns gegeñ dir hserztlich bedanken, das dû dich erzaiget hast ünsern treuen hirten ünt beschutzer, in daem du üns erlœsest von der gewalt aller ünser feinde. Verlei üns gnade, dàs wir, alle furcht ünt schrekken des dotes hindan geworfen, deiner warhait folgen, ünt diselbe bekennen, welche dü uns geoffenbaret hast, dürch ünseren Herren ünt obersten maister Iesü-Christ. Amen.

Schedes Psalmendichtung strebt nach der Stilrichtung des Erhabenen. Zusätzlich zu den Gepflogenheiten des Genfer Psalters setzt er zwischen das Psalmlied und das Gebet eine Prosaübersetzung des hebräischen Psalmentextes.

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In diese Tradition der deutschsprachigen Psalmendichtung des ausgehenden 16. Jahrhunderts reiht sich Martin Opitz mit seiner Umdichtung von 1637 ein. Dort lautet der Psalm 23 so:36 Der XXIII. Psalm. GOtt ist mein hirt / ich darff nicht mangel leiden / Er giebet mir die rhu auff grüner heiden / Vnd führet mich wo frische Wässer rinnen: Er labet mir die matte seel' vnd sinnen: Führt mich den weg der richtig ist vnd eben / Darmit hier durch sein Name weit mag schweben. Vnd solt' ich gleich in todes schatten ziehe[n] Durch trübes thai will ich kein Unglück fliehen / Weil du hier bist / und weil dein stab und stecken / Mir reichen trost vnd Sicherheit erwecken. Du tragest mir die herrlichsten gerichte Zur taffei auff den feinden im gesichte. Du balsamirst mein haupt mit frischem öle / Mein becher muß so voll seyn dz nichts fehle. Barmhertzigkeit vn[d] güte werde[n] schwebe[n] Stets über mir so weit ich bin im leben: Ich werde noch gantz ruhig aller seiten Des HErren hauß bewohnen lange zeite[n].

Opitz beschränkt sich entgegen der reformierten Tradition in seiner Psalmennachdichtung auf das Psalmenlied, läßt also sowohl die einleitende Zusammenfassung als auch das abschließende Gebet weg. Heißt das, daß er so die Einbettung in die reformierte Konfession aufgibt, nur deren melodischen Vorgaben huldigt und seine Psalmenfassung damit auch einem Gebrauch im lutherischen Glaubensleben anbietet? Jedenfalls ist seine Nachdichtung durch die neuen Errungenschaften seiner metrischen Reform gekennzeichnet. In einem natürlichen Duktus von Sprache und Stil wird der Psalm in alternierender Versbetonung wiedergegeben. Hierfür nur ein Beispiel: Wie alle deutschen Psalmendichter nach Luther ist auch Opitz von der Zwillingsformel „dein Stecken und Stab" beeinflußt. Nur paßt diese Formel nicht in das alternierende Versprinzip, das bei Opitz ja noch auf Jamben und Trochäen beschränkt ist. Deshalb dreht Opitz die Paarformel um; aus „dein Stecken und Stab" wird bei ihm „dein Stab und Stekken". Und auch die andere Richtung der Psalmennachdichtung läßt sich für Opitz an diesem Beispiel dokumentieren. In der auf etwa 1635 datierten kleinen Sammlung von fünf Psalmen dichtete Opitz den 23. Psalm auf die Melodie des achten Psalms im Genfer Psalter. Hier lautet der Text, der zu einem Vergleich mit der Fassung von 1637 einlädt, so:37

36 37

Opitz, Psalmen Davids (s. Anm. 26), 54f. Vgl. Opitz, Psalm (s. Anm. 20), unpag., [A ivr v]; wortwörtlich, nur mit typographischen Abweichungen der Lautung auch in den Sechs Psalmen (s. Anm. 24), 13-16.

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Der Drey vndt zwanzigste Psalm, auf die weise deß 8. O Höchster GOTT / O vnser lieber HERRE. Gott ist mein Hirt / ich darff nicht mangel leiden / Er giebet mir die ruh' auff grüner Heyden / Er weiset mich bey stillen quellen an / Das ich den durst mitt frewden leschen kann. 2. Er schüttet für des reichen trostes gaben Den matten geist vnd seele mir Zue laben / Führt mich den weg der richtig ist vnd frey; Damit hierdurch sein name kundtbar sey. 3. Vndt solt' ich gleich ein trübes thai durchreisen / Da wo sich angst vnd todes schatten weisen / So schew ich nicht: ich habe / HERR / ja dich: Dein trewer stab vnd stecken trösten mich. 4. Du tregest mir die herrlichsten gerichte Zur taffei auff / den feinden im gesichte: Du balsamirst mein haupt mitt salben ein: Mein becher muß voll gueten weines sein. 5. Barmhertzigkeit vndt güte werden schweben Stets über mir so weit ich bin im leben: Ich werde noch in fried' vndt Sicherheit Des HERREN hauß bewohnen lange zeit.

VI. Die dichterische Beschäftigung von Opitz mit dem Genfer Psalter erstreckt sich über die Jahre ab 1626 bis zu seinem Tode. Der Genfer Psalter erweist sich damit als die wohl am längsten wirkende Quelle und Anregung seines Dichtens. Opitz nutzt den Genfer Psalter vor allem hinsichtlich seiner Melodien. Inhaltlich ist die Bedeutung des Psalters durch seine Verankerung in der Bibel bestimmt. Zugleich verdeutlicht sich damit die Rolle, welche die geistliche Dichtung für Opitz spielt. Der Begründer der deutschen modernen Kunstdichtung, der Opitz ohne Zweifel ist, stellt in seinen Widmungen und Vorreden zu Psalmenparaphrasen und anderen geistlichen Texten diese Dichtung eindeutig über die weltliche Kunstdichtung. Das bleibt nicht ohne Auswirkung auf den Stil und die rhetorische Verzierung der dichterischen Rede. Reinheit und Deutlichkeit bezeichnen die Zielrichtung des geistlichen Dichtens. Im deutschen Barock fehlt es an einer eigenen Poetik für die geistliche Dichtung. Erst bei der Summe des Barock, wie sie das Zedlersche Universal Lexicon zieht, findet sich unter dem Lemma , Schreibart' eine deutliche Unterteilung zwischen den Stilebenen der weltlichen und der geistlichen Dichtung. Nicht weniger als 35 Schreibarten werden hier für die weltliche Dichtung in Einzelartikeln aufgeführt, kurz umrissen und hinsichtlich ihrer Wirksamkeit bewertet. Bei der geistlichen Schreibart, die vornehmlich für

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Jörg-Ulrich Fechner

den Zweck der Predigt in einem langen Artikel behandelt wird, werden drei Ebenen unterschieden: 1. die natürliche, 2. die sinnreiche und 3. die pathetische, affectuöse oder bewegliche. Für alle drei gibt es Beispiele in der Heiligen Schrift, besonders auch in den Psalmen. Ihre Verknüpfung und rechte Proportionierung bilden das höchste Ziel der geistlichen Schreibart: Die Deutlichkeit des natürlichen [Ausdrucks] wird die Zuhörer unterrichten, die Anmuth des sinnreichen wird sie belustigen, und in der Aufmerksamkeit erhalten; die Lebhaftigkeit aber und das Feuer der poetischen Schreibart, wird sie entzünden und in Bewegung setzen. Alle drey Arten werden also das ihrige zur Erbauung beytragen, wenn sie wohl mit einander verbunden werden. Da hingegen ihr Nutzen bey weitem so groß nicht seyn würde, wenn sie von einander getrennet würden.38

Man wird diese Ausführungen über eine solche ,temperirte Schreibart', wie sie der Artikel des Lexikons weiter behandelt und bewertet, mit gutem Recht auch auf die Bemühungen von Opitz um eine Eindeutschung des Psalters nach den Vorgaben der Genfer Melodien zurückprojizieren dürfen. Der Psalter, auch in dichterischer Form, gehört zu der geistlichen Schreibart, die sich an jedermann wendet, von jedermann verstanden können werden und daher die grundsätzliche Forderung der natürlichen Rede mit selten eingestreuten poetischen Zieraten des Sinnreichen und des Pathetischen erfüllen muß. Der Lexikonartikel des Jahres 1743, der immer noch keine eigene Poetik der geistlichen Schreibart kennt, sondern sich auf die Tradition der Kirchenväter und geistlichen Redner von Luther bis Mosheim, auf Bourdaloue und Saurín und weiterhin auf eine Königlich Preußische Cabinets-Ordre mit einem dortigen „Grund-Riß einer Lehr-Arth ordentlich und erbaulich zu predigen" bezieht, kann so die Ausführungen von Opitz in der Vorrede seines Psalters rückwirkend bestätigen. Die Zugehörigkeit des opitzischen Psalters zur geistlichen Gebrauchsdichtung und eben nicht zur Kunstdichtung wird durch ein weiteres Faktum bestätigt. Als Opitz seine Geistlichen Poemata (o. O. [Breslau] 1638) fur seine geplante Sammelausgabe zusammenstellt, druckt er zwar die Psalmen ab, die er auf Melodien anderer Psalmen gedichtet hat, nicht aber den ganzen Psalter von 1637. Das geschah wohl kaum deshalb, wie es in der Forschung heißt, weil dieser Psalter in mehreren Ausgaben im Buchhandel noch verfügbar war, sondern eben wegen der von Opitz bewußt angesetzten Unterscheidung zwischen Kunstdichtung und pragmatischer Erbauungsdichtung. Eine grundlegende Frage muß hingegen offen bleiben. Ist der Psalter mit seinen deutschen Nachdichtungen und Paraphrasen auf die Genfer Melodien ein Zeugnis für die Zugehörigkeit von Opitz zum reformierten Glauben? Durch Briefe wissen wir von zwei Exemplaren des Psalters, die Opitz versandte. In einem Brief aus Paris vom 6. August 1638 schrieb Hugo Grotius seinen Dank für ein solches Buchgeschenk: 38

Art. .Schreibart', in: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste [...], Leipzig/Halle 1743, Bd. 35, Sp. 1121-1135; vgl. Art. .Stylus', in: ebd., Bd. 40, 1744, Sp. 1471-1476. - Der Artikel .Schreibart (geistliche)' umfaßt die Spalten 11241134. Das Zitat findet sich ebd., Sp. 1132.

Martin Opitz und der Genfer Psalter

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Summam tibi gratiam habeo pro missis ad me Psalmis, versis eleganter, editis eleganter et, si quid hoc ad rem pertinet, etiam vestitis eleganter. Dignus erat rex poeta interprete Germanicorum poetarum rege: nihil enim tibi blandiens dico, sentio a te primum Germaniae poesi formam datam et habitum, quo cum aliis gentibus possit contendere.39

In dem anderen Fall handelt es sich um den Begleitbrief, den Opitz seinem Psalter als Geschenk für Axel Oxenstierna beigab. Am 10. Juni 1638 Schloß Opitz seinen Brief aus Danzig mit der Nachschrift: E. Exc. übersende ich meinen Lutherischen Psalter, wie er dann auf der Messe zue Franckfiirt am Main unter die Theologischen Lutherischen Bücher ist gesetzt worden. Werde künftig mehr exemplaria schicken.40

Ist aus dem Genfer Psalter wirklich ein lutherischer geworden? Hält Opitz seine Arbeit wirklich für einen lutherischen Psalter? Oder macht Opitz sich nur mokant und ironisch über die Entscheidung der Bücherbehörden in Frankfurt lustig, die sein Buch unter den lutherischen theologischen Schriften für den Meßkatalog aufgeführt hatten? Wie immer man den Hintergrund dieser brieflichen Erwähnung deuten will, bleibt die Frage nicht nur nach der konfessionellen Zugehörigkeit von Opitz offen, sondern auch die weitere, ob sich eine solche ironische und mokante Bemerkung von Opitz gegenüber dem schwedischen Kanzler, den er seit diplomatischen Verhandlungen im Sommer 1633 persönlich kannte, überhaupt schickte.

39 40

Reifferscheid, Briefe (s. Anm. 12), 574 Nr. 502. Ebd., 573 Nr. 500.

Dieter

Breuer

Genfer Psalmen im katholischen Rheinfelsischen Gesangbuch

(1666)

I. Eigentlich war eine Rezeption des Genfer Psalters auf katholischer Seite in Zeiten der strikten Abgrenzung der konfessionellen Kulturen im Deutschen R e i c h ausgeschlossen. Selbst Lutheraner mißtrauten der vermittelnden Übertragung des Genfer Psalters durch Ambrosius Lobwasser. 1 A u c h bestand seitens der alten Kirche keine Notwendigkeit, gerade auf die Lieder des Psalters der Reformierten zurückzugreifen, seit Caspar Ulenberg 1582 seinen deutschsprachigen Psalter vorgelegt hatte; ausgewählte Lieder seines Psalters werden bis auf den heutigen Tag im katholischen Gottesdienst gesungen. 2 Zudem hatten seit B e g i n n des 17. Jahrhunderts die Jesuiten den Wert der Lieddichtung für Katechese, Andacht und liturgische Feiern erkannt und sich u. a. mit d e m lichen Psälterlein

(erstmals 1637) b z w . dem Geistlichen

Psalter

Geist-

(erstmals 1 6 3 8 )

ein überaus erfolgreiches Gesangbuch geschaffen. 3 D a s konforme geistliche Liedschaffen lag im 17. Jahrhundert im Interesse des Konfessionsstaates. S o hatte der einflußreiche Münchner Hofbeichtvater

1

2

3

Vgl. den Beitrag von Lars Kessner, Ambrosius Lobwasser. Humanist, Dichter, Lutheraner (in diesem Band). Ferner: Angelika Reich, Übersetzungsprinzipien in den deutschsprachigen liedhaften Gesamtpsaltern des 16. und 17. Jahrhundert, Diss. Regensburg 1977; Erich Trunz, Die deutschen Übersetzungen des Hugenottenpsalters, in: Euphorion 29 (1928), 578-617, hier 605f. Caspar Ulenberg, Die Psalmen Dauids in allerlei Teutsche gesang-reimen bracht, Köln 1582. - Im gegenwärtigen Katholischen Diözesan-Gesang- und Gebetbuch Gotteslob, Ausgabe fur das Bistum Aachen, Mönchengladbach 1975, sind zahlreiche Lieder aus Ulenbergs Psalmen Dauids, Text und/oder Melodien, in Gebrauch, z. B. Nr. 164, 265, 292, 293, 462, 469, 533, 566, 635, 827, 883, 898, 899, 900. Vgl. auch Johannes Overath, Untersuchungen über die Melodien des Liedpsalters von Kaspar Ulenberg (Köln 1582) (Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte 33), Köln 1960. Vgl. dazu Theo van Oorschot, Das Jesuitengesangbuch Geistlicher Psalter (Köln 1638), in: Spee-Jahrbuch 9 (2002), 121-137. Ferner Wilhelm Bäumker, Das katholische Kirchenlied in seinen Singweisen von den frühesten Zeiten bis gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts, Bd. 1, Freiburg 1886, ND Hildesheim 1962, 97f. - Bernhard Schneider, Die Wirkungsgeschichte der Lieder Friedrich Spees in katholischen Gesangbüchern vom Barock bis zur Gegenwart, in: Gunther Franz (Hg.), Friedrich Spee zum 400. Geburtstag, Paderborn 1995, 265-348, hier 272. Kolumban Gschwend, Das Rheinfelsische Gesangbuch zu St. Goar, Augsburg 1666, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 7 (1962), 157-172, hier 170.

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Dieter Breuer

Adam Contzen S.J. in seiner Staatslehre Politicorum libri decern (1620) den katholischen Fürsten u. a. auch die Förderung der geistlichen Lieddichtung nahegelegt, mit dem Argument: Mit Hilfe einer neuen freieren Musik seien den unbedachten Seelen in Deutschland und Frankreich „die mit verführerischer Süßigkeit überzuckerten Häresien" eingeflößt worden, daher sei es die Pflicht des klugen Arztes, sprich Regenten, Wahrheit und sittliche Reinheit „mit noch größerer Süßigkeit" zu vermitteln; es sei deshalb zu begrüßen, daß inzwischen volkssprachliche Psalmen und Lieder nach Davids Art von den Bischöfen in den Gottesdienst eingeführt worden seien.4 In diesem Sinne hatte schon Ulenberg bei der Versübertragung des Psalters sich einerseits von den „Ketzern" abgegrenzt, andererseits aber durchaus auf ihre Melodien zurückgegriffen. In seiner Vorrede führt er aus:5 Was dieses fais die Sectarien bei vnsern zeiten vorgenommen / wie sie die Psalmen Dauids gesangsweiß für das gemeine Volck zugericht / vnd jhre Jrtthumben hin und wider behendiglich eingeschoben [...] / daß ist aller weit genûgsamb kündig. [...] Hab derwegen die Psalmen Dauids fürgenommen / vnd dieselben nach jhrem rechten wahren verstand / so viel mir dem nachzuforschen möglich gewesen / in allerley Teutsche Reimen bracht / hab auff ein jedes genus Carminis oder art reimen besondere Melodeyen zugerichtet vnd verordnet. Darunter auch etliche / fast die beste und lieblichste Melodeyen auß dem Marotischen oder Caluinischen Psalter gebraucht worden: Jnmassen vor alters der H. Ephraim des obgedachten Ketzers Harmonij liebliche Melodeyen behalten / vnd andern / reinen Catholischen Text vnter denselben den Catholischen in Syria zusingen verordnet.

Nach dem Vorbild Ulenbergs sind die Autoren und Herausgeber katholischer volkssprachlicher geistlicher Gesangbücher und Psalter nicht nur während des 17. Jahrhunderts, sondern bis heute verfahren.6 Man bediente und bedient sich in der Regel auch der Melodien von Bourgeois, Franc, Goudimel oder Lejeune, - so etwa Friedrich Spee fur sein Lied Last vns Sancì Peter ruffen an (Köln: Brachel 1623), dem die Melodie von Psalm 9 {De tout mon cœur t'exalteray) des Genfer Psalters zugrunde liegt, eine Melodie, die allerdings auch schon Ulenberg verwendet hatte und die auch anderen Texten in katholischen Gesangbüchern unterlegt wurde.7 Michael Härting hat darüber hinaus im Catholischen Gesangbuch (Erfurt 1630) mehrere Lieder von Spee auf Melodien des Genfer Psalters nachgewiesen. 8

4

5 6

7 8

Adam Contzen, Politicorum libri decern in quibus De Perfectae Reipubl. forma, virtutibus, et vitiis, Institutione ciuium, Legibus, Magistrata Ecclesiastico, civili, potentia Reipublicae; itemque seditione et bello ad usum vitamque communem accomodate tractatus [...]. Moguntiae Sumptibus Joannis Kinckii Bibliopolae Coloniensi 1620, 100. Vgl. Dieter Breuer, Oberdeutsche Literatur 1565-1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit, München 1979, 155-160. Zit. nach Baumker, Kirchenlied (s. Anm. 3), I, 204f. Noch im Gotteslob (s. Anm. 2) finden wir 12 Gemeindelieder (Nr. 227, 262, 265, 267, 269, 275, 489, 490, 556, 605, 660) nach Melodien des Genfer Psalters, eines (Nr. 269 Nun saget Dank und lobt den Herren) folgt sogar dem Text von Lobwasser. Vgl. Bäumker, Kirchenlied (s. Anm. 3), Π, 160f. Michael Härting, Das Erfurter Gesangbuch von 1630, in: Musica Sacra 86 (1966), 250252, 284-287, 315-317, 347-350, hier 316f. Ich danke Theo van Oorschot für den freundlichen Hinweis.

Genfer Psalmen im katholischen „ Rheinfelsischen

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Gesangbuch "

Über diese Praxis geht das Rheinfelsische Gesangbuch (Augsburg 1666), auf das ich im folgenden näher eingehe, entschieden hinaus. Es enthält - neben 159 Liedern anderer Provenienz - im abschließenden 36. Kapitel 20 Lieder aus der seinerzeit modernsten Versübertragung des Genfer Psalters durch Martin Opitz (Psalmen Davids, Danzig 1637) mit den Melodien.9 Diese Übernahme ist ein ganz außergewöhnlicher Vorgang, der, soweit ich sehe, in der Geschichte des katholischen Kirchenliedes keine Nachahmung gefunden hat.

Das Rheinfelsische Gesangbuch erschien mit folgendem Titel:10

ûblicbc* ò r f a n a wit t'crçefaffn îO?f!ob(:OT «uff atte |ohc gq?c sitrrfjs^nfc 3 φ / η>ι ret ηιιφ wo

ÉlilIIl Iii«) fítjiucíwn.

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2. Und solt ich gleich in Todtes Schatten ziehen / durch trübes Thal / will ich kein Unglück fliehen / weil du hier bist / vnd weil dein Stab vnd Stecken / mir reichen Trost vnd Sicherheit erwecken / du trägest mir die herrlichen Gerichte / zur Tafel auff / den Feinden im Gesichte. 3. Du balsamierst mein Haupt mit frischem Oele / mein Becher muß so voll seyn / daß nichts fehle. Barmhertzigkeit vnd Güte werden schweben stäts über mir / so weit ich bin im Leben: ich werde noch gantz ruhig aller Seyten / deß HErren Hauß bewohnen lange Zeiten.

Opitz verfährt im Zehnsilbler (vers commun) wie die französische Vorlage; er hält sich an den Wortlaut des Psalms, schnörkellos und bildkräftig zugleich,

34 35

Bäumker, Kirchenlied (s. Anm. 3), Bd. 2, Nr. 289. Rheinfelsisches Gesangbuch (s. Anm. 10), 387-389.

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Dieter Breuer

elegant durch die natürliche Wortstellung im Satz und den Zusanunenfall von Wort- und Versakzent, wie er es schon in seinem Buch von der Deutschen Poeterey gefordert hatte. Die ältere Fassung in schlichten Kanzonenstrophen gibt sich dagegen mit dem sensus litteralis sive historicus nicht zufrieden, sondern löst die Bilder des Psalms allegorisch auf, wirkt altertümlich auch durch die penetrante Didaktik. Hinzu kommt eine noch ungeregelte Tonstellenverteilung im Vers, die auch im katholischen Kulturkreis seit Spee nicht mehr in anspruchsvollerer Poesie toleriert wurde. Ein ähnliches Bild bietet der Vergleich der beiden im Rheinfelsischen Gesangbuch abgedruckten Fassungen nach Psalm 42. Im I. Kapitel dient der bildkräftige Eingang des Psalms nur zur Eröffnung eines Adventsliedes:36 Gleich wie der Hirsch zur Wasserquell / wann er getroffen /eylet schnell / also der lieben Vätter Brunst / von alters her rafft nicht vmbsonst / es woll doch kommen Jesus Christ / der jhr vnd vnser Heyland ist.

Im XXXVI. Kapitel lautet die erste Strophe37 Wie ein Hirsch / den man will fangen / frisches Quell wünscht in der Flucht / so rafft dir Gott mit Verlangen / meine Seele die dich sucht: Sie ist durstig für und für / O du Lebens-Quell! nach dir. Wann doch werd ich zu dir gehen / Und fur deinen Augen stehen.

In diesem Fall bietet erst die Fassung nach Opitz den kompletten Psalmtext, nicht nur dessen Eingangsbild, in Liedform. Daß Landgraf Ernst die Fassungen von Opitz auch denen von Ambrosius Lobwasser oder Paulus Schede (wenn er letzteren gekannt hat) vorzog, hat, wie der Textvergleich zeigen kann, nicht nur die oben angeführten konfessionspolitischen Gründe, sondern auch ästhetische; bei Lobwasser lautet die erste Strophe:38 WJe nach einem wasser quelle Ein Hirsch schreiet mit begir / Also auch mein arme seele Rufft und schreit Herr Gott zu dir / Nach dir lebendiger Gott Sie durst und verlangen hat / Ach wenn sol es dann geschehen Das ich dein antlitz mag sehen?

36 37 38

Ebd., 11-13. Ebd., 393f. Philipp Wackernagel, Bibliographie zur Geschichte des deutschen Kirchenliedes im XVI. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1855, ND Hildesheim 1961; ders.: Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts, Bd. I-V, Leipzig 1864-1877, ND Hildesheim 1964, hier IV, 848.

Genfer Psalmen im katholischen „Rheinfelsischen Gesangbuch "

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Opitzens Fassung füllt die vorgegebene musikalische Form sprachlich, syntaktisch und metrisch souverän aus, unaufdringlich deutet er das Bild („du LebensQuell") und gibt dem Strophenschluß durch einen Wechsel der Perspektive noch eine argute Wendung. Es spricht für die literarische Bildung des Landgrafen Ernst, daß er sich für Opitzens Liedfassungen der Psalmen entschieden hat. Aber was er 1666 über deren Unbekanntheit festgestellt hat, daß nämlich diese Fassungen bei den Reformierten nicht rezipiert und auch sonst völlig unbekannt seien, das hat auch er durch sein Gesangbuch auf katholischer Seite ebenfalls nicht ändern können. Mit dem Rheinfelsischen Gesangbuch verfolgt Landgraf Ernst eine dreifache Intention: Als Landesherr gibt er seinen Untertanen mit der eigenen selbstbewußt-persönlichen Frömmigkeitsübung ein Vorbild; den Konvertiten seines Territoriums will er den Übergang in die andere konfessionelle Kultur erleichtern; die katholische Frömmigkeit will er durch den Liederschatz der anderen Konfessionen bereichern - ein wahrhaft ökumenisches Unternehmen. In diese Richtung weist auch das „Register Der Gesänge / welche auff eines jeden Sonnund Fest-Tags Evangelium durchs gantze Jahr sich schicken vnd in der Kirchen oder zu Hauß füglich können gesungen werden". Von den zwanzig Psalmen nach Opitz werden hier nur die sieben Bußpsalmen aufgeführt (zum 11. Sonntag nach Trinitatis und zum Fest der Hl. Maria Magdalena). Die in diesem Register am häufigsten empfohlenen Lieder sind: Ach Gott vom Himmel sih darein (nach Luther, 14mal genannt) und Wie schön leuchtet der Morgenstern (nach Nicolai, zehnmal genannt). Der Versuch des Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels, die Lieder des Genfer Psalters in der Version des Martin Opitz im katholischen Kirchengesang heimisch zu machen, mußte wohl scheitern. Die älteren, syntaktisch einfacheren und metrisch holperigen Übertragungen wurden hier wie dort offenbar als vertrauenswürdiger empfunden.

Jürgen Henkys

Die deutsche Neutextierung des Genfer Psalters durch Matthias Jorissen (1798) Hymnodisches Erbe und Geist der Zeit

I. Matthias Jorissen wurde 1739 in Wesel am Niederrhein geboren, und er starb 1823 zu Den Haag in Holland.1 Mit seiner Werde- und Schaffenszeit gehörte er mehr dem 18. als dem 19. Jahrhundert an. Sein Hauptwerk, die Neutextierung des bis dahin in der deutschen Fassung von Ambrosius Lobwasser gebrauchten Genfer Liedpsalters,2 hat er 1798, kurz vor der Jahrhundertwende, veröffentlicht,3 eine zweite, bearbeitete Auflage 1806, kurz nach der Jahrhundertwende.4 Beide Veröffentlichungen fallen in die Zeit der Aufklärungsgesangbücher, die bekanntlich wegen des Anschlusses an den vom Rationalismus geprägten Geist der Zeit und wegen der Preisgabe altgeheiligter Lied- und Textbestände Aufsehen erregten. Das Urteil über diese Phase der Gesangbuchentwicklung fallt unterschiedlich aus: Die einen betonen den Gewinn an Modernität, die anderen die Verschleuderung des hymnodischen Erbes. Wie steht Jorissens Werk da, wenn man es unter dieser Perspektive betrachtet? Mit dieser Frage hängt eine andere eng zusammen: War Matthias Jorissen, der junge Vetter des alten Gerhard Tersteegen, ein Pietist? Und wenn ja: Gehört seine Psalmenbereimung zu den pietistischen Gesangbüchern? Auch wer die erste Frage bejaht, wird die zweite eher verneinen. Die treue Hingabe an die Gattung, die mit dem Genfer Psalmlied in die Welt getreten ist, läßt es nicht 1

2

3

4

Zu Jorissens Biographie und Theologie siehe vor allem Friedrich August Henn, Matthias Jorissen. Der Deutsche Psalmist in Leben und Werk, Leipzig 1955. Der Genfer Psalter, auch Hugenottenpsalter genannt, ist in folgendem Nachdruck zugänglich: Clément Marot / Théodore de Bèze, Les Psaumes en vers français avec leurs mélodies. Fac-similé de l'édition genevoise de Michel Blanchier, 1562. Publié avec une introduction de Pierre Pidoux, Genève 1986. Lobwassers deutsche Übersetzung ist faksimiliert in: Das Düsseldorfer Gesangbuch von 1612. Faksimile-Nachdruck hg. vom Gesamtverband der Evangelischen Kirchengemeinden in Düsseldorf, Düsseldorf 1983. Der Titel lautet dort: Psalmen Dauids In Teutsche Reymen verständlich vnd deutlich gebracht / nach Frantzosischer Melodey vnd Reymen art: Mit vorgehender anzeig des jnhalts / vnd folgendem kurtzem Gebett auff einen jeden Psalm. Durch Ambrosium Lobwasser / D. Jetzo auffs new nach den ersten exemplaren des Authoris mit fleiß gedruckt [...]. Matthias Jorissen, Neue Bereimung der Psalmen, Wesel/Grafenhaag/Amsterdam 1798. Der ausfuhrliche Titel erscheint unten im laufenden Text. Verweise: Jorissen 1798. Matthias Jorissen, Die Psalmen David's, Elberfeld 1806. Der ausfuhrliche Titel erscheint unten im laufenden Text.

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Jürgen Henkys

ohne weiteres zu, das pietistische Generalanliegen auch hier unmißverständlich einzutragen. Anders steht es mit der aufgeklärten Frömmigkeit: Sie weiß sich durchaus im Gewände einer zeitgenössischen Psalmenbereimung zu artikulieren. Ein Grenzgänger war Jorissen auch in einer dritten Beziehung. In seiner Heimatstadt, im preußisch verwalteten Wesel, hatte der junge Kandidat der Theologie sich mit einer deutlichen Predigt den Zorn eines spottenden Offiziers zugezogen. Die Folge: Auf eine Pfarrstelle im Preußischen konnte er nicht mehr hoffen. So ging er nach Holland und wurde schließlich Prediger der hochdeutschen Gemeinde im Haag. Seine dort entstandene und dort auch verwurzelte Psalmenbereimung ist zu einem niederländisch mitbestimmten „Ein-Fluß" in den Strom deutscher Hymnodie geworden, wie es ihn zuvor nicht gegeben hatte, auch nicht bei Joachim Neander. Ist der Jorissen-Psalter ein deutsches Gesangbuch? Zweifellos ja, und zwar, wie wir sehen werden, mehr noch, als in der Diskussion bisher nachgewiesen und gewürdigt worden ist. Dennoch ist der Jorissen-Psalter nicht im ausschließenden Sinne deutsch. Er ist ein deutsches Gesangbuch, das schon im Ansatz, nicht erst in seiner Wirkung, den Anspruch auf interkulturelle Würdigung erheben kann. Wie ist es zu Jorissens Psalmenbereimung gekommen? Der erste Anstoß dazu war ein pastoraler: In meiner lieben Gemeine im Haag und auch in der deutschen Gemeine in Amsterdam wurden entweder die holländischen oder gar noch die lobwasserischen Psalmen gesungen. Man sagte mir oft, daß das erstere doch unschicklich seye, und daß man die alte Bereimung von Lobwasser nicht singen könne, und man wünschte eine erbauliche deutsche Bereimung. 5

Mit den holländischen Psalmen ist die sogenannte Statenberijming von 1773 gemeint, deren Bestand aus drei der neueren holländischen Reimpsalter gewonnen worden war, die damals im öffentlichen Gottesdienst miteinander konkurrierten.6 Es gab also eine kürzlich auf Grund staatlicher Autorität eingeführte einheitliche Bereimung der Psalmen, durch die andere Psalmbücher, zumal das noch aus dem 16. Jahrhundert stammende und einst synodalrechtlich eingeführte von Petrus Dathenus, als abgelöst gelten konnten. Ein entsprechendes Gottesdienstbuch aber fehlte den hochdeutschen reformierten Gemeinden in Holland. Blieben sie überhaupt beim Psalmengesang, so hatten sie nur den „Lobwasser". 7 Dessen als sprachlich überholt und als unerbaulich empfundene Art aber brachte

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7

Jorissen 1798 (s. Anm. 3), IV-V. Der genaue Titel des Gesangbuchs, in das die Statenberijming als dessen erster Teil integriert war: Het boek der Psalmen nevens de gezangen bij de hervoimde kerk van Nederland in gebruik; door last van de Hoog Mog: Heeeren Staaten Generaal der verenigde Nederlanden, Uit drie berijmingen, In den jaare 1773, gekooren. Met de nodige daar in gemaakte veranderingen. Ich lege eine Amsterdamer Ausgabe zu Grunde, die mit einem 1778 in Dordrecht gedruckten Neuen Testament zusammengebunden ist. Vgl. den in Anm. 2 genannten Düsseldorfer Reprint, auf den ich auch im folgenden zurückgreife.

Die deutsche Neutextierung des Genfer Psalters durch Matthias Jorissen

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die Gefahr mit sich, daß man dem Reimpsalter überhaupt den Abschied gab zu Gunsten der vielen nicht mehr psalmgebundenen „Lieder".8 Ich vernahm aus manchen Gemeinen und von vielen Predigern, der 4 verbundenen Synoden in Cleve, Gülch, Berg und Mark, daß man sich zwar der schönen Lieder freue, aber doch nicht zufrieden seye, daß man die Psalmen so ganz bey der öffentlichen Gottesverehrung aus der Acht lasse. Ich hörte sogar von manchen hin und wieder sagen: So schön die Lieder auch sind, so herrscht doch ein Ton der Salbung in den Psalmen, den man in andern Liedern vermisst. Das gab mir Anlaß einen Versuch zu einer neuen Bereimung zu machen.9

Nimmt man die von Jorissen vorwortweise genannten Motive zusammen, so ergibt sich: Das pastorale Motiv (a) war im Haag und in Amsterdam auch mit einem (recht zu verstehenden) nationalen (b) verknüpft. Dazu kam das Bewußtsein von der gefährdeten reformierten Eigentradition (c), auch die durch Erfahrung gestützte theologische Überzeugung vom Vorrang der biblischen Psalmen im Vergleich zu den freien Liedern (d). Die beiden letzten Motive verknüpfen sich bei Jorissen mit der Sorge um den Weg der reformierten Gemeinden in Deutschland überhaupt, insbesondere der Synoden links (Kleve und Jülich) und rechts (Berg und Mark) des Niederrheins. So erklärt es sich, daß Jorissen seine Bereimung bei Buchhändlern aus drei Städten in Verlag gab und dabei das deutsche Wesel an erster Stelle nannte. Hier das Titelblatt: Neue Bereimung der Psalmen, bestimmt für die deutschen reformirten Gemeinen im Grafenhaag und Amsterdam von M. Jorissen [J Prediger im Grafenhaag. Wesel bei M. Becker, Grafenhaag bei J. Bouwink und Amsterdam bei J. Brandt, Buchhändlern. 1798. Das Exemplar der Staatsbibliothek Berlin weist einen klaren Text- und Notendruck aus. Die Strophen sind stichisch gedruckt. Die Melodien sind durchweg die zum Genfer bzw. zum Lobwasser-Psalter gehörigen. Acht Jahre später kommt es zur zweiten Auflage. Der Titel lautet jetzt in deutlicher Anlehnung an Lobwasser: Die Psalmen David's neu übersetzt und in Reime gebracht von Matth. Jorissen, Hochd. Pr. Im Grafenhaag in Holland. Neue und verbesserte Auflage. Dazu der Druckvermerk: Mit Herzoglich-Bergischem gnädigsten Privilegio. Elberfeld, 1806. Gedruckt und verlegt bei J. C. Eyrich, privil. Buchdr. Der neue Titel weist auf die neue Funktion hin, die das anonyme kirchliche Vorwort erläutert. Die „Lobwasserischen" Psalmen hatten „zuletzt wenig Brauchbarkeit mehr" und sind „nun ganz vergriffen". „Daher hat man [...] die vorliegende neueste Übersetzung und Bereimung, mit teils neuen Melodien, auflegen wollen". Nunmehr könne man „neben den Liedern (von denen wir viele vorzügliche haben) auch die Psalmen gebrauchen". Die neuen Melodien seien durch ein Sternchen gekennzeichnet. Nicht ausdrücklich gesagt

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9

Zur holländischen Entwicklung hin zu den nicht mehr psalmgebundenen geistlichen Liedern, den „gezangen", vgl. Roel A. Bosch, En nooit meer oude Psalmen zingen. Zingend geloven in een nieuwe tijd 1760-1810, Zoetermeer 1996. In den deutschen reformierten Gemeinden am Niederrhein waren neben anderen Liederdichtern vor allem Joachim Neander und Gerhard Tersteegen populär. Jorissen 1798 (s. Anm. 3), V.

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Jürgen Henkys

wird freilich, daß es sich um nicht weniger als 70 Neuvertonungen handelt!10 Jorissen hat sie nicht veranlaßt (das konnte nur die kirchliche Instanz tun, die auch die Herausgabe übernahm), aber vermutlich hat er sie gebilligt. Die Melodien mit unterlegter erster Strophe sind einspaltig gedruckt, die Folgestrophen zweispaltig. Weil auf stichische Wiedergabe der Strophen verzichtet wird, beginnt jeder Vers (wie sonst nur „Gott" oder „Herr" und Namen) mit einem Großbuchstaben. Im übrigen herrscht Kleinschreibung. Dieser Elberfelder Druck ist der deutsche Ausgangspunkt fur die Verbreitung des Jorissen-Psalters als Nachfolgewerk des Lobwasser-Psalters geworden. Über sein Schicksal im weiteren 19. Jahrhundert berichtet detailliert und kritisch Leopold Cordier.11 Anmerkungen zu seiner letzten Revision am Ende des 20. Jahrhunderts habe ich selbst vorgelegt.12 Zusammengefaßt: Matthias Jorissen hat den Genfer Reimpsalter neu verdeutscht und dieses Werk neben den hochdeutschen Gemeinden in Holland, denen es in erster Linie zugedacht war, auch den reformierten Synoden links und rechts des Niederrheins vermittelt. Dadurch hat er den deutschen Reimpsalter, dessen Fassung durch Lobwasser nach über 200 Jahren außer Gebrauch zu kommen drohte, für mindestens weitere 200 Jahre im kirchlichen Bewußtsein erhalten. Lobwasser folgend, dichtete Jorissen konsequent in den Strophenformen des französischen Originals und berücksichtigte damit die ursprünglichen Melodien. Die Stärke des Genfer Psalters auf seinem Weg durch die Geschichte ist die Konstanz seiner als hymnodisches Erbe zu bewahrenden Strophenformen und Melodien - bei gleichzeitiger Variabilität seiner theologisch und poetisch je neu zu verantwortenden Textfassung.

II. Jorissen war sich klar darüber, daß die bloße Zielvorstellung „erbaulich" für seinen „Versuch einer deutschen Bereimung" nicht reicht. Wenn die Erbauung letztlich vom Wort der Heiligen Schrift her zu erwarten ist - und davon war er laut Vorrede 1798 überzeugt - , dann kommt zunächst alles darauf an, dieses Wort verständlich zu machen, d. h. zu übersetzen und auszulegen. Und in diesem Geschäft ist niemand der Erste.

10

'i i2

Sie sind aufgelistet bei: Leopold Cordier, Der Liederpsalter des Elberfelder reformierten Gesangbuchs vom Jahre 1854. Eine kritische Studie zur Erneuerung des Psalmengesangs, in: ders., Der deutsche evangelische Liederpsalter: ein vergessenes evangelisches Liedergut, Gießen 1929, 41-49. Ebd. Jürgen Henkys, Der Reimpsalter von Matthias Jorissen 1798-1998. Anmerkungen zu seiner jüngsten Revision, in: Hedda Ragotzky u. a. (Hg.), Fragen der Liedinterpretation, Stuttgart 2001, 188-200. Zuvor in: Jürgen Henkys., Singender und gesungener Glaube. Hymnologische Beiträge in neuer Folge, Göttingen 1999, 61-73.

Die deutsche Neutextierung des Genfer Psalters durch Matthias Jorissen

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Ich zog dabey zu Rathe Altes und Neues, Luther, holl. Uebersetzung,13 Michaelis, Knapp, Mendelson, Dathe, Herder, Münthinge, van Vloten und brachte im Jahre 1793 meine Bereimung zu Stande, woran ich bis zur Presse feilte.14

Neun Autoritäten, neun Ratgeber, die eigens erwähnt werden. Um wen und worum handelt es sich? -

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Bei „Luther" denkt Jorissen wohl nur an dessen Bibelübersetzung, nicht an die Psalmenvorlesungen. Bei „holländische] Uebersetzung" ist die sogenannte Statenbijbel im Blick. Noch heute weisen die Ausgaben auf den Beschluß der Dordrechter Synode von 1618/19 hin. 15 Für die Frömmigkeit, Theologie und Literatur in den Niederlanden kann diese Bibelübersetzung kaum hoch genug bewertet werden. Michaelis: Hier kommen drei miteinander verwandte Michaelis in Betracht, die alle im Alten Testament und in den „morgenländischen" Sprachen, der späteren Orientalistik, forschten. Jorissen bezieht sich nur auf den Göttinger Johann David Michaelis (1717-1791), näherhin auf dessen Übersetzung der Psalmen „mit Anmerkungen für Ungelehrte". 16 In der zeitgenössischen Psalmenforschung war Michaelis nicht nur durch den Rückgriff auf bisher ungedruckte Handschriften hervorgetreten, sondern auch durch eine von ihm kommentierte Ausgabe des bahnbrechenden Werkes De sacra poësi Hebraeorurn praelectiones aus der Feder des englischen Bischofs Robert Lowth. 17 Knapp: Gemeint ist Georg Christian Knapp (1753-1825), seit 1777 Professor der Theologie in Halle. Seine Psalmenübersetzung von 1776 ist ein frühes Werk. Es wurde noch zweimal aufgelegt. Ich habe die 2. Auflage von 1782 eingesehen. 18 „Mendelson" ist der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn (1729-1786). Seine Übersetzung der Psalmen erschien als selbständige Schrift erstmals 1782.19 Schon in der Leservorrede bezieht er sich auch auf Michaelis und Knapp. Ich zitiere Mendelssohn nach der 1929 begonnenen Jubiläumsausgabe seiner Gesammelten Schriften. 20 Leichter zugänglich ist Mendelssohns

Komma von mir eingefugt. Jorissen 1798 (s. Anm. 3), V. Door last van de Hoog-mogende Heeren Staten-General der Verenigde Nederlanden en volgens het besluit van de Synode National gehouden te Dordrecht in dejaren 1618 und 1619 uit de oorspronkelijke talen in onze Nederlandse taal getrouwelijk overgezet. Johann David Michaelis, Deutsche Uebersetzung des Alten Testaments, mit Anmerkungen für Ungelehrte. Der sechste Theil welcher die Psalmen enthält, Göttingen/Gotha 1771. Eine frühe englische Übersetzung, die auch die wichtigsten Zusätze von Michaelis enthält, ist als Reprint zugänglich: Robert Lowth, Lectures on the Sacred Poetry of the Hebrews (1787). Introduction by Vincent Freimarck, Vol. I/II, Hildesheim 1969. Georg Christian Knapp, Die Psalmen. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen, Halle 2 1782. Die Psalmen. Uebersetzt von Moses Mendelssohn. Mit allergnädigsten Freiheiten. Berlin 1783. Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Band 10/1 und 10/2: Schriften zum Judentum IV. Unter Benutzung von teilweisen Vorarbeiten aus dem Nachlaß von Simon Rawidowicz bearb. v. Werner Weinberg, Stuttgart-Bad Cannstadt 1985.

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Psalmenübersetzung in einer wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Taschenbuchausgabe des Diogenes Verlages. 21 - Dathe: Johann August Dathe (1731-1791) war ordentlicher Professor der hebräischen Sprache in Leipzig. Er veröffentlichte 1787 einen lateinischen Psalmenkommentar. 22 - Herder: In den Werken von Johann Gottfried Herder (1741-1803) haben die Psalmen einen Ehrenplatz. Am ausfuhrlichsten äußerst er sich dazu in den beiden Bänden Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782/83). 23 Zuvor erschienen die Briefe das Studium der Theologie betreffend (1780/81). Auch sie enthalten wesentliche Passagen über das Verständnis der Psalmen. Herder hat aber keine fortlaufende Übersetzung und Erklärung der Psalmen geschrieben. - Münthinge: Herman Muntinghe (1752-1824) war nach seiner Predigerzeit Hochschullehrer zuerst in Harderwijk, dann in Groningen. Theologisch gehörte er zu den Supranaturalisten. 24 Seine Psalmenübersetzung erschien 1790 25 - Van Vloten: Von Wilhelmus Antonius van Vloten stammt eine holländische Psalmenübersetzung, die 1797 erschienen sein soll.26 Dann könnte sie für Jorissen allerdings nicht mehr hilfreich gewesen sein, denn seine neue Psalmenbereimung war zu dieser Zeit schon vollendet. Trotzdem nennt Jorissen ihn wohl mit gutem Grund: Van Vloten war wie Jorissen Prediger im Haag, und beide gehörten sie einer Kirchenliedkommission an.27 Man sieht aus den obigen Jahreszahlen: Jorissen hat die Reihe seiner Gewährsleute im wesentlichen nach dem Erscheinungsjahr der von ihm benutzten Ausgaben angeordnet. Altes und Neues wollte er nennen. Aber die Autoren waren weit überwiegend seine Zeitgenossen! Als Ergebnis dieses Überblicks ist festzuhalten: Lobwasser war, wie er in seinen Vorreden sehr deutlich und auch stolz betont hat, Übersetzer einer fran-

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Die Psalmen. Übertragen von Moses Mendelssohn, hg. v. Walter Pape. Mit einem Nachwort v. Walter Pape und Gideon Toury, Zürich 1998. Johann August Dathe, Psalmi, ex recensione textus Hebraei et versionum antiquarum Latine versi notisque philologicis et criticis illustrati, Halle 1787. Seine Lebensdaten und Werke in: Johann Georg Meusel, Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller II, ND Hildesheim 1967, 286f. Dathes Psalmenkommentar habe ich nicht einsehen können. Johann Gottfried Herder's sämmtliche Werke. Zur Theologie und Religion. Erster Teil, Stuttgart/Tübingen 1827. Darin: J. G. von Herder, Vom Geist der Ebräischen Poesie, hg. durch Johann Georg Müller (zwei Teile in je zwei Abteilungen 1782/83). Vgl. Art Muntinghe (Hermannus), in: Grote Nederlandse Larousse Encyclopédie, Bd. 16, Hasselt/'s-Gravenhaage 1991, 565. De Psalmen, uit het Hebreeuwsch vertaald met taalkundige aanmerkingen, 1790, 3 din; 2de druk 1822 (diese Angaben nach Art. Muntinghe, Herman, in: Winkler Prins' Gei'llustrerde Encyclopaedie, Derde druk, Twaalfde Deel, Amsterdam 1910, 163). Vgl. auch Henn, Jorissen (s. Anm. 1), 118. Ebd. Mündliche Auskunft von Jan R. Luth und Roel A. Bosch.

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zösischen Dichtung.28 Matthias Jorissen dagegen hat den verdeutschten Genfer Psalter nicht einfach mit einer neuen Nachdichtung gerettet. Weit über das Ziel von Lobwasser hinausgreifend hat er seiner Kirche eine - nach dem klassisch gewordenen Genfer Muster gefertigte - strophische Paraphrase des hebräischen Psalters selbst vorgelegt. Den aber hatte er zuvor und währenddessen mit den Mitteln der Zeit studiert. Der neuen Psalmbereimung wegen kümmerte sich Jorissen um die aufblühende Psalmenexegese und Psalmenübersetzung seiner Gegenwart.

III. Jorissens Autorenliste erlaubt es, seine Psalmlieder auf exegetische und literarische Einflüsse hin zu untersuchen, die er bei seiner Arbeit empfangen hat. Den niederländischen Einfluß hat F. A. Henn breit dargestellt, und das ist ein außerordentliches Verdienst seines Buches. Ich selbst habe an der bekannten Strophe „Anbetung, Ehre, Preis und Ruhm" 29 gezeigt, wie Jorissen Lutherübersetzung, Statenbijbel und Statenberijming gemeinsam beansprucht und dabei zu einer überzeugenden Lösung kommt.30 Aber das Interesse an Jorissens Quellen müßte über die Frage Lutherübersetzung oder Statenbijbel und Statenberijming hinausgehen. Überraschenderweise scheint es in der bisherigen Literatur zu Jorissen keinen Versuch zu geben, die Werke der von ihm selbst genannten deutschen Zeitgenossen zu identifizieren und für die kritische Würdigung der neuen Psalmbereimung fruchtbar zu machen. Bezeichnend ist eine Passage bei Henn: In dem Bestreben, den bedeutenden Einfluß Luthers gegen eine Überbetonung der holländischen Tradition zu erweisen, stellt er vier Texte von Psalm 23 nebeneinander: Statenbijbel, Statenberijming, Lutherbibel, Jorissen - in der Meinung, der Vergleich von Jorissen mit den drei anderen Quellen spreche schlagend für die Dominanz Luthers.31 Tatsächlich liegt das Problem aber ganz woanders. Die Frage muß lauten: Wie groß ist der Einfluß der von Jorissen befragten Exegeten und Übersetzer seiner eigenen Zeit? Eine Antwort gibt die folgende Synopse.32 Ich lege darin die Übersetzung von Moses Mendelssohn zu Grunde. Ist Mendelssohn doch der späteste der deutschen Psalmenübersetzer, die Jorissen nennt; und daß Mendelssohn seiner28

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Vgl. zu Lobwassers Vorworten Christian Finke, „Dass ich mit dieser Arbeit einem Andern dazu Reizung und Ursach gebe". Zur Motivation der Psalmbearbeitungen von Lobwasser, Becker und Schütz, in: Peter Ernst Bernoulli / Frieder Furier (Hg.), Der Genfer Psalter eine Entdeckungsreise, Zürich 2001, 75-85. Bereimung von Psalm 68, Str. 10; im Evangelischen Gesangbuch 281, 3. Henkys, Reimpsalter (s. Anm. 12), 190-192 (in: Fragen der Liedinterpretation) bzw. 63-65 (in: Singender und gesungener Glaube). Henn, Jorissen (s. Anm. 1), 121-123. Psalmzitate nach Mendelssohn, Jubiläumsausgabe 10/1 (s. Anm. 20), Liedzitate hier und sonst - Ausnahmen sind erwähnt - nach der Erstauflage 1798.

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seits seine Vorgänger, insbesondere Michaelis und Knapp, benutzt hat, teilt er den Lesern schon in der Vorrede mit. 33 Unterstrichen sind solche Wörter und Fügungen, die v o n Luther auffallig abweichen. Einfache Unterstreichung besagt: Mendelssohn folgt Michaelis und/oder Knapp; doppelte Unterstreichung: Mendelssohn geht in Satzbau oder Wortwahl seinen eigenen Weg; Kursivierung im Liedtext: Jorissen übernimmt Mendelssohn wörtlich, ggf. im Gleichklang mit dessen Vorgängern; Kursivierung und punktierte Unterstreichung: Jorissen paraphrasiert in Mendelssohns eigentümlichem Sinne. V. 1 : Gott ist mein Hirt, mir wird nichts mangeln. V. 2: Er lagert mich auf grüne Weide; Er leitet mich an stillen Bächen: V. 3: Er labt mein schmachtendes Gemüth, Und führt mich auf serechtem Steig Zu seines Namens Ruhm. V. 4: Und wall' ich auch im Todesschattenthale; So wall' ich ohne Furcht [...] In diesem Leben nach. Einst ruh' ich ewge Zeit, Dort in des Ewgen Haus.

Str. 1 : Gott ist mein Hirt, nie wird' ich Mangel leiden; Er lagert mich auf ewig grünen Weiden-, Er leitet mich an kühlen Wasserbächen, Er stfohmànHerzL er kennet meine Schwächen, Und Seine Hand fuhrt mich auf rechtem Steige, Daß_ sich an_mir Sein Name groß_ erzeige. Str. 2: Und wall ' ich auch im finstern Todes Thale, So weiß ich, daß ich hier auch sicher walle [...] Str. 3: [...] Mir folget Heil und Seligkeit im Leben, Einst wird_ Dein Haus mir ewig Ruhe geben .

Ein weiteres Beispiel sei Psalm 66. Das Lied aus Jorissens Feder wird im ganzen evangelischen Deutschland gesungen, allerdings nicht mehr in voller Länge. 3 4 V. 11: Hast uns verstrickt in Schlingen; Unsern Lenden Lasten angehängt. V. 12: Liessest Menschen fahren über uns; Brachtest uns in Feuersnoth, in Wassernoth; Allein du führest uns heraus, zum Freudenmahl.

V. 16: Kommet, hört, ihr Gottverehrer! Ich erzähle, was er an mir gethan.

V. 17:] , mit meinem Munde; Bald war auf meiner Zunge Lobgesang.

Str. 5: Du hast uns oft verstrickt in schlingen, Den Lenden Lasten angehängt-, Du ließest Menschen auf uns dringen, Hast rings umher uns eingeengt; Oft wollten wir den Muth verlieren, Im Feuer und in Wassers-Noth, Doch kamst Du, uns herauszufiihren, Und speistest uns mit Himmelbrodt. Str. 8: Verehrer Gottes, ich erzähle, Komm't, hör't, und bethet mit mir an. Hör't, was der Herr an meiner Seele Für große Dinge hat gethan. Rief ich Ihn an mit meinem Munde, Wenn Noth von allen Seiten drang; So war, oft zu derselben Stunde, Auf meiner Zung ' ein Lobgesang.

Jorissens Psalm 121 war bis weit in das 20. Jahrhundert hinein am Niederrhein und im Bergischen Land ein überaus beliebtes Kirchen- und Familienlied -

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Mendelssohn, Jubiläumsausgabe 10/1 (s. Anm. 20), 6. Evangelisches Gesangbuch 279, Gemeinschaftsliederbuch 235, Gesangbuch der Evangelisch-methodistischen Kirche 10.

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allerdings nicht mit seiner Genfer Melodie, sondern mit einer Vertonung aus dem 19. Jahrhundert. 35 Auch hierzu wieder eine Synopse: V. 1:

ι jenen Bergen: Wo kommt mir Hülfe her? V. 2: Vom Ewigen kommt meine Hülfe, Der Himmel schuf und Erde.

V. 3: Er läßt nicht gleiten deinen Fuß: Dein Hüter schlummert nicht Γ...1

Str. 1 : Ich schau nach jenen Bergen gern. Mein Heil, das ich begehr, / Kömmt von den Bergen her; Ja, meine Hülf ist von dem Herrn, Der schuf durchs Wort: Es werde! / Den Himmel und die Erde. Str. 2: Er läßt nicht gleiten deinen fuß, Dein Hüter schlummert nicht, / Wenn dirs an kraft gebricht [...]

Ist man erst einmal auf dieser Spur, so findet man in zahlreichen weiteren Liedern Splitter, Wendungen, Sätze, unauffällige w i e unverwechselbare Ausdrükke, die aus, ggf. auch über Mendelssohns Übersetzung in Jorissens Lieder eingewandert sind. Einige Beispiele: „ V o m Himmel schaut der Ewige" (14, 2); „Der Erhabene, Ehrfurchtwürdigste" (47, 1); „Sollt ich verzagt seyn in der bösen Zeit" (49, 2); „Er härmt sich ab, er knirscht und flucht" (112, 6); „Mein Händefalten" (141, 2); „Nach deiner Allgerechtigkeit" (143, 1); „Unsre einst veijagten Brüder" (147, 2). Besonders ist auf die Liedanfange zu achten. Sie prägen sich dem Bewußtsein der Singenden und Betenden j a oft deutlicher ein als das, was ihnen folgt. Hier eine Incipit-Liste aus Jorissens Reimpsalter (links), in der jeder Liedanfang der Eröffnung des jeweiligen Psalms bei Mendelssohn (rechts) verpflichtet ist. Ich nehme nur solche Beispiele auf, für die es bei Luther, Michaelis, Knapp und in der Statenberijming keine bezeichnende Parallele gibt: 8 36 39 49 58

Unendlicher, Dir, unserm Gott und König Das Laster giebt dem Bösen ein Mein Vorsatz war, stets auf der Hut zu steh'n Vernehmet mich, ihr Völker alle, hör't! Ihr Richter sitz't an Gottes Stelle !

78 Gieb acht, mein Volk, ich geb' erhabne Lehren 97 Der Herr regiert 121 Ich schau nach jenen Bergen gern 122 Ich freu mich, wenn man zu mir spricht 124 Sing, Gottes Volk: war' unser Gott nicht treu 36 131 Mein Herz versteigt sich, Herr, nicht mehr 144 Dank sey dem Herrn, Ihm meinem Gott und Horte

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Unendlicher! Gott, unser Herr! Das Laster predigt selbst dem Frevler Mein Vorsatz ist, ich will mich hüten Vernehmt mich, ihr Völker alle Ihr Richter! Heißt ihr dieses Recht gesprochen? Gib acht auf meine Lehre, Volk! Der Herr regiert Ich schau empor nach jenen Bergen Ich freu mich, wenn man zu mir spricht Wo der Herr nicht bey uns wäre - Singe Israel! Herr! Mein Sinn verstieg sich nie Dank sey dem Herrn, meinem Horte

Evangelisches Gesangbuch für Rheinland und Westfalen. Zweiter Teil: Lieder für die Evangelische Kirche Westfalens und der Rheinprovinz mit Psalmen von Matthias Jorissen und geistlichen Volksliedern nach den Beschlüssen der Rheinischen und Westfälischen Provinzialsynoden 1929, Nr. 535. Melodieangabe: Johann Peter Schmachtenberg 1853. Vgl. auch den Anfang von Psalmlied 129, wo ebenfalls mit Mendelssohn „sing(e)" fiir das geläufige „sage" steht.

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Von diesen zwölf Liedanfangen sind vier noch heute erhalten (Psalm 97, 121, 122, 124) in der reformierten Ausgabe des Evangelischen Gesangbuchs. 37 Der Anfang von Psalm 36, wie Jorissen ihn im Anschluß an Mendelssohn formuliert hatte, wurde revidiert: „Der Böse redet frech [später: stolz] sich ein". Die übrigen Psalmliedtexte dieser Reihe sind durch Neudichtungen ersetzt worden. Wie läßt sich erklären, daß Matthias Jorissen so häufig Mendelssohns Psalmenübersetzung aufgegriffen hat? Welche Affinitäten sind hier im Spiel? Eine gründliche Antwort erfordert eine genauere Untersuchung, als sie an diesem Ort möglich ist. Aber ein Motiv, wohl das Hauptmotiv, läßt sich schon jetzt benennen. Mendelssohn hatte seine Übersetzung einem zu seiner Zeit hoch geschätzten Dichter, nämlich Karl Wilhelm Ramler (1725-1798), gewidmet. 38 Denn er wollte, daß seine Übersetzung, die er „die Frucht einer mehr als zehnjährigen Arbeit" nennt, 39 zuvörderst als Poesie gelesen werde. Damit war die Frage nach dem exegetisch zu erhebenden Verständnis allerdings nicht beiseite geschoben. Nur behielt Mendelssohn sich vor, seine kritisch erwogenen Gründe für die Fassung einer jeweiligen Stelle später gesondert zu veröffentlichen. 40 Dem Leser versichert er: „Ich muß wenigstens geglaubt haben, so den Geist meiner Urschrift besser zu erreichen, so dem wahren Sinne näher zu kommen, und ihn so in unserer Sprache besser auszudrücken." 41 Hebräische Poesie „in unserer Sprache" - das erklärt die Vermeidung von Hebraismen (es sei denn, sie seien der deutschen Sprache durch die Wirkung Luthers schon ganz einverleibt - „ob sie gleich nicht ächtes Deutsch seyn mögen" 42 ); und das erklärt wohl ebenfalls, daß Mendelssohn (obwohl er es nicht eigens sagt) gern in jambischen (seltener in trochäischen) Reihen übersetzt. Wie absichtsvoll das geschieht, zeigt sich etwa in Psalm 146, 7 beim Umgang mit den Silben in dem vom Übersetzer so hoch favorisierten Gottesnamen „der Ewige". Der Der Der Der

Unterdrückten Recht verschaft; Speise giebt den Hungrigen. Ewge löst Gebundene. Ewige macht Blinde sehend.

Das i wird im ersten Fall elidiert, im zweiten Fall bleibt es stehen. Das Ziel ist offensichtlich die korrekte jambische Reihung mit der ununterbrochenen Folge unbetonter und betonter Silben. Diese Manier kommt der metrischen Bindung des Reimpsalters natürlich sehr entgegen. Allerdings (und zum sprachlichen Vorteil der Übersetzung) wird kein starres Prinzip daraus. Schon die nächsten 37

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«

Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe fiir die Evangelisch-reformierte Kirche (Synode der evangelisch-reformierten Kirchen in Bayern und Nordwestdeutschland) [und für] die Evangelisch-altreformierte Kirche in Niedersachsen, Gütersloh 1996. Mendelssohn, Jubiläumsausgabe 10/1 (s. Anm. 20), 3-6. Am Anfang der Leservorrede, ebd., 6. Dazu ist es zu Lebzeiten Mendelssohns nicht gekommen. Nachgelassene Anmerkungen zu den Psalmen 1, 2, 4, 15, 22, 49, 68, 93, 110, 141 sind in Band 10/1, 229-236, aufgenommen worden. Ebd., 6. Ebd., 7.

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beiden Halbverse nehmen mit der Dreisilbigkeit des Gottesnamens die Unterbrechung des Jambus in Kauf: Der Ewige liebt gerechte Männer. Der Ewige schützt die Fremdlinge. 43

Schauen wir von beiden Merkmalen her (deutsche Auflösung von Hebraismen, jambische Reihung) noch einmal auf Psalm 121 zurück. Mendelssohn folgt nicht Luthers Hebraismus und nicht Luthers Sprechrhythmus: „Ich hebe meine äugen auff zu den bergen / Von welchen mir hülffe kompt." Er schreibt vielmehr: „Ich schau' empor nach jenen Bergen; / Wo kommt mir Hilfe her?" Das nimmt Jorissen auf - und jetzt zitiere ich nach der zweiten Auflage (Elberfeld 1806): „Ich schau nach jenen bergen gern./ Mein heil, das ich begehr, / Kömmt's von den bergen her?/Nein meine hülf ist von dem Herrn [...]." Damit setzt Jorissen sich von Luther ab, auch von seinen hochrangigen niederländischen Vorgaben (Statenbijbel, Statenberijming), und das nicht nur in stilistischer, sondern auch in exegetischer Hinsicht. Denn er übernimmt von Mendelssohn und Knapp zugleich die damals im evangelischen Sprachgebrauch noch nicht beheimatete Version, nach der in Psalm 121,1 dem Aussagesatz kein Relativsatz, sondern eine selbständige Frage folgt. Mögen solcherlei Kleinigkeiten allgemein als Expertenfündlein gelten - heute bewegen sie durchaus, und heute sollte nachdrücklich zur Geltung kommen: Selbst im evangelischen Kirchengesang sind Spuren des großen deutschen Juden Moses Mendelssohn anzutreffen. Nicht mehr alle freilich. Denn die verschiedenen Revisionen des Jorissen-Psalters haben viele dieser Spuren verwischt: Die religiöse Bildungssprache vor und nach der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert schien einem späteren theologischen Zeitgeist nicht mehr gesangbuchwürdig zu sein. Demgegenüber ist - als weiteres Ergebnis unserer Nachfrage - zu unterstreichen: Jorissens Psalmenbereimung gibt sich als der Versuch zu erkennen, das traditionelle Psalmlied mit der literarischen Kultur der Aufklärungszeit zu vermitteln, für die, wenn es um biblische Dichtung und religiösen Ausdruck ging, neben anderen auch Moses Mendelssohn vorbildlich war. 44

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Die faksimilierte Handschrift Mendelssohns mit der Übersetzung von Psalm 92 (Mendelssohn, Jubiläumsausgabe 10/1 [s. Anm. 20], nach 142), zeigt, daß der Autor dort, wo es ihm darauf ankam, den ausgelassenen Buchstaben durch Apostroph angezeigt hat. Die trochäischen Reihen des Psalmanfangs lauten: „Lieblich ists, dem Ew'gen danken, / Höchster! deinem Namen singen!" Die Veröffentlichung Der Psalter, Gütersloh 1997, eine Sonderausgabe des neubearbeiteten Reimpsalters der reformierten Kirchen (vgl. Anm. 37) ist durch zwei Geleitworte und durch das Impressum als ein „Nes Ammim Buch zum besseren Verständnis des Judentums und Israels" ausgezeichnet worden. Weit mehr als die Hälfte der aufgenommenen Liedpsalmen geht auf Matthias Jorissen zurück. Trotz vieler Revisionen und Kürzungen ist Moses Mendelssohn dort immer noch präsent - ein weiterer Grund, der Zuweisung des Buches zur genannten Schriftenreihe zuzustimmen.

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IV. Paraphrasierende Dichtung, zumal eine solche, die ihrem biblischen Ausgangstext (hier den Psalmen) im eng ansitzenden Gewand metrisch-strophischer Regularien (hier der Vorgabe der französischen Erstautoren Clément Marot und Théodore de Bèze und der entsprechenden Genfer Melodien) gerecht werden muß, hat es schwer, sich über das Handwerkliche der Sprach- und Schreibfertigkeit hinaus auch als Kunst zu erweisen. Matthias Jorissen wußte offenbar, daß nach dem Genfer Muster bereimte Psalmen in seiner Gegenwart ein bestimmtes Niveau der künstlerischen Kommunikation nicht unterschreiten durften. Sie könnten sonst nicht erbaulich sein. Sojedenfalls wird man einen seiner Briefe an Johann Caspar Lavater in Zürich deuten dürfen. Zwei frühere Schreiben an den frommen Prediger, Seelsorger, Liedautor45 und Physiognomiker waren ohne Antwort geblieben. Jetzt wendet sich Jorissen, in anderer Angelegenheit, aufs neue an ihn: [...] 2. Wenn Ihnen eine erträgliche Bereimung der Psalmen bekant ist, nach den gewohnen französischen Melodien, so bitte ich sie mir anzuzeigen. 3. Wo Ihnen aber keine bessere, als die von Wolleb u Spreng bekannt ist, sollte der Hr Pfarrer Lavater dann wol Lust u Zeit haben die Bereimung des ersteren durch zu sehen u die selenlose Stellen zu verbesseren meiner Gemeine u mir zu gefallen od. zur Erbauung? Ich bleibe Ihr auf einige Antwort gedultiger Warter Haag d. 10 Juny 1791. M. Jorissen 46

Als Jorissen dies schrieb, muß er schon längst an der Arbeit mit seinen eigenen Psalmen gewesen sein. Er suchte immer noch eine wenigstens „erträgliche" Bereimung. Aber sie müßte schon besser sein als die von Wolleb47 oder die von Spreng.48 Die erste scheint im Urteil Jorissens immerhin geeigneter als die andere zu sein, aber auch sie hat viele „selenlose Stellen" und enttäuscht die Hoffnung auf „gefallen" und „Erbauung". Lavater könnte hier helfen. Aber er hat offenbar nicht reagiert.49 Bei Henn gibt es Hinweise auf brieflichen Gedankenaustausch Jorissens auch mit anderen entschieden christlichen Literaten seiner Zeit: Johann Heinrich Jung-Stilling, Johann Georg Hamann, Matthias Claudius - leider ohne Angabe der Quellen. Eine Begegnung im Sommer 1774 mit Lavater und dem 45

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Vgl. Johann Caspar Lavaters auserlesene Christliche Lider. Ein Handbuch zur Erbauung und zum Nachdenken, Basel 1792. Zitiert aus dem Briefwechsel Jorissen - Lavater, der mit sieben Briefen Jorissens und drei Briefen Lavaters in der Zentralbibliothek Zürich zugänglich ist (Signatur des JorissenBriefes: FA LAV MS 305). Ich danke Hans-Jürg Stefan fiir Recherchen und Photokopien. Diese Briefstelle bietet Henn, Jorissen (s. Anm. 1), 106, in modernisierter Orthographie. Zum Verhältnis Jorissens zu Lavater vgl. Henn, Jorissen (s. Anm. 1), 40-46. Die Psalmen Davids Mit Beybehaltung derer üblichen Melodeyen übers, und hg. v. Daniel Wolleb [...], Halberstadt 1751. Neüe Ubersetzung der Psalmen Davids, auf die gewöhnlichen Singweisen gerichtet, [...] hg. v. M. Joh. Jakob Spreng, Basel 1741. Die Gründe lassen sich leicht aus dem Beitrag von Hans-Jürg Stefan für diesen Band erschließen.

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reisenden Goethe in einem eigens nach Elberfeld eingeladenen Zirkel soll wegen eines Postversehens nicht zu Stande gekommen sein.50 Diese Verbindungen unterstützen unser Vorurteil, daß Jorissen, wiewohl er statt für die literarische Welt nur für die Gemeinde gedichtet hat, einen strengen Maßstab an seine 150 Psalmlieder legte. So verwundert es nicht, daß sich bei diesen Liedern auch der Einfluß eines im Vorwort Ungenannten nachweisen läßt. Zu reden ist von Johann Andreas Cramer (1723-1788). Bei Mendelssohn,51 Herder52 und anderen wird er eigens erwähnt, bei Jorissen nicht. Cramer, der auf Klopstocks Empfehlung Hofprediger in Kopenhagen war und dort viele Jahre in Klopstocks Nähe schrieb und wirkte, bevor er 1771 nach Lübeck und 1774 weiter nach Kiel ging, hat eine mit mehreren exegetisch-theologischen Abhandlungen verbundene Poetische Uebersetzung der Psalmen veröffentlicht.53 Er wollte mit dem genannten Werk mehr sein als ein Psalmbereimer. Wohl blieb er möglichst nahe am neu übersetzten biblischen Text, aber er goß ihn, exegetischer Analyse und dichterischer Inspiration folgend, in Versgruppen und gereimte Strophen unterschiedlichster Bauart. Oft unterschied er zwischen Einzelstimmen und Chören. An die singende Gemeinde war meist nicht gedacht. Eine Auswahl der Psalmen Cramers hat Carl Philipp Emanuel Bach zum Musizieren außerhalb des Gottesdienstes vertont.5'' Die folgende Synopse zu Psalm 1 zeigt, wie Cramers Gedicht die Liedfassung Jorissens in den ersten beiden Strophen mitbestimmt hat (links Cramers „poetische Übersetzung", rechts Jorissens „Bereimung", nur die bezeichnenden Übereinstimmungen sind kursiviert): [ 1 ] Heil, Heil dem Manne, der dem Rath der Frevler sich entzieht; Dem Manne, der den krummen Pfad Der Uebertreter flieht. [2] Der, wo der Gottheit Spötter lacht, Die fromme Seel entfernt; Sich Gottes Recht zur Freude macht, Und Tag und Nacht es lernt. [3] Er grünet, wie am Bach ein Baum Von seinem Segen schwillt, Sich hebt, und einen weiten Raum Mit seinem Wipfel füllt.

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1. Heil, Hei! dem Mann, der flieht der Bösen Rath Der nicht betritt der Sünder krummen Pfad, Und sich vom Sitz der Spötter weit entfernet, Dem Manne Heil, der ruhig Weisheit lernet. Der sich das Recht des Herrn zur Freude macht. Und sein Gesetz erforschet Tag und Nacht. 2. Ein Baum, am Bach gepflanzt, strebt hoch empor,

Henn, Jorissen (s. Anm. 1 ), 44. Mendelssohn, Jubiläumsausgabe 10/1 (s. Anm. 20), 232 (Anmerkung zu Ps. 15, 4). Johann Gottfried Herder, Über die neuere deutsche Literatur, in: Herders Werke in fünf Bänden, ausgew. u. eingel. v. Regine Otto (Bibliothek deutscher Klassiker), 2. Bd., Berlin/Weimar 5 1978, 26. Johann Andreas Cramer, Poetische Übersetzung der Psalmen mit Abhandlungen über dieselben, Leipzig 1755 (1. Auflage des 1. Teils) und 1763/64 (2. Auflage des 1. Teils, dazu die Teile 2 bis 4). Eingesehen habe ich den Druck Leipzig 1763/64. Carl Philipp Emanuel Bach, Herrn Doctor Cramers übersetzte Psalmen mit Melodien zum Singen bey dem Claviere, Leipzig 1774.

344 [4] Er trägt, wenn seine Zeit kömmt, Frucht, Stets unentlaubt und grün; Er tröstet den, der Schatten sucht; Der Wandrer segnet ihn. [5] Das ist der Fromme! Was er macht, Wird Segen und erfreut. [...]

Jürgen Henkys Bringt Blüth' und Frucht zur rechten Zeit hervor, Steht unentlaubt mit hoher pracht geschmücket, Daß sich an ihm der Wanderer erquicket;

So grünet der Gerechte jeder Zeit, Er lebt und wächst, und all sein Thun gedeiht. [...]

Ein „Wanderer" unter dem als Gleichnis dienenden Baum - Jorissen hat diese lyrisierende Zugabe also nicht selbst erfunden. Übernommen ist übrigens auch die Erklärung fur den Durst des Hirsches in Psalm 42, 2. Während manche Autoren an die Erschöpfung nach glücklich überstandener Parforce-Jagd denken, bringt Cramer das Klima ins Spiel: „in schwüler Zeit". Aber schon Johann Jakob Spreng hatte formuliert: „bey schwülen Tagen". Bei Jorissen ist dann daraus geworden: „Wie der Hirsch bei schwülem Wetter / schmachtend nach der Quelle schreit". Es gibt gute Argumente für das Urteil, Jorissen sei bei all seiner Belesenheit doch mehr Kompilator als selbständiger Autor gewesen. Nun gelten allerdings für das Kirchenlied, zumal für das Psalmlied, andere Maßstäbe als für die sich vom Traditionsdruck befreiende oder schon emanzipierte Dichtung außerhalb von Gottesdienst und Erbauung. Originalität muß sich hier vor allem in dem Vermögen zeigen, das Unentbehrliche und insofern Altbewährte als das auch in neuer Lage Hinreichende und Überfuhrende zu erweisen: für neues Singen geeignet, zu neuem Singen einladend. Da spielen gewiß Wörter und Wendungen - mit ihnen haben wir uns vor allem befaßt - eine wesentliche Rolle. Aber das Anstoßerregende beim Singen der Lobwasser-Psalmen lag ja mehr noch in der vor-opitzischen Holperei durch lange Sätze und Strophen, in der poetischen Rückständigkeit des als streng „reformiert" (calvinistisch) geltenden Liedpensums, in der Seelenlosigkeit des Gesungenen. Wie steht Jorissen in diesen Hinsichten da? Die beiden zitierten Strophen aus Psalm 1 bestehen glänzend, wenn man sie mit denen aus dem Lobwasser vergleicht. Auch abgesehen von der Vermeidung sprachlicher Anstöße in Wortstellung, Metrum und Reim ist Jorissen zu bescheinigen, daß er diese Strophen gut organisiert: die erste durch den Neueinsatz in der Mitte (bei 1,4), die zweite durch die grammatische Trennung von Bild (2, l ^ t ) und Deutung (2, 5-6). Zwei weitere Beispiele aus einer ganz entlegenen Stelle des Psalters: Für den Psalm 119 sind je Strophe sechs fünfhebige jambische Verse erfordert, die alternierend hart und weich schließen und im Schema ababab gereimt sind. Eine Strophe deckt immer zwei biblische Verse ab. Psalm 119, 59 und 60 gehen bei Jorissen in die 30. Strophe ein: Oft denk' ich nach, wohin mein weg mich führt; Mein fuß soll stets nach deinem zeugniß gehen. Weil sonst mein pfad im dunkeln sich verliehrt. Ich säume nicht, ich eile fort zu gehen,

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Da dein Gebot mir zeigt, was mir gebührt, So will ich fort: hier gilt kein stillestehen.55

Die motivische Einheit der Strophe ist gewahrt. Der Zeilenfluß trägt die Sätze. Das biblische Ich ist beseelt durch Übernahme in ein Gegenwart vermittelndes Autor-Ich. Die zweite Strophenhälfte erinnert an die Spruch- und Lieddichtung Tersteegens. - Die biblischen Verse 171 und 172 verwandelt Jorissen so: Sieh, wie dein lob von meinen lippen fließt, Wenn mich dein geist wird deine rechte lehren; Dann redt die zung, die dir geweihet ist, Dein heiligs wort, und ich will sonst nichts hören. Was du gebeutst ist alles - wie du bist Gerecht und gut, und wird dich ewig ehren.

Gewiß gibt es glattere Strophen bei Jorissen, sehr viele sogar. Aber diese ist ausgewählt, um zugleich zeigen zu können: Sie lebt von einer persönlichen Konfession. Jorissen war ein leidenschaftlicher Prediger, 56 und in die zitierte Strophe bringt er sich selbst und implicite auch seine Theologie der Predigt mit. Zur Widerspiegelung von Jorissens Theologie in Einzelstrophen noch dieser Hinweis: Etwa ein Fünftel aller französischen Psalmlieder und ihrer deutschen Nachbildungen durch Ambrosius Lobwasser enden mit einem Strophenfragment: Der Bibeltext war durchgedichtet, die Melodie der Schlußstrophe aber noch nicht zum Ende gekommen. Also brach man dort ab, wo es die Melodie einigermaßen zuließ. So war es auch noch in der holländischen Statenberijming. Matthias Jorissen hat das als Mißstand empfunden und nicht mehr hinnehmen wollen. Die Halbstrophen seien „dem Ohr des Dichters und Musikers unausstehlich^)". 57 So hatte auch schon Johann Jakob Spreng geurteilt. Aber während Spreng den überständigen Bibelvers zu seiner letzten Strophe hinzunimmt und seinem Lied nur als Notbehelf ein paar redundante Zeilen hinzufügt, die er als entbehrlich mit einem + bezeichnet, 58 führt Jorissen die begonnenen Strophen mit eigenen, ζ. T. signifikanten Reflexionen zu Ende. Wie er dabei verfahrt, habe ich in einem kleinen Beitrag für Hans-Jürg Stefan dargestellt. 59 Am Ende von Psalm 107 sieht die ergänzte Strophe so aus: Willst du die Weißheit ehren So steh bedachtsam still, Und sieh, was Gott dich lehren, Wie Er dich bilden will. Giebst du verständig acht Auf ihn in seinen Werken, Dann wird die Giit' und Macht In deinem Gott dich stärken.

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Diese und die folgende Strophe nach der Auflage Elberfeld 1806. Siehe Henn, Jorissen (s. Anm. 1), 65-68, über Jorissens „Bedeutung als Homilet". Vorwort zur Ausgabe 1798 (s. Anm. 3). Spreng, Neue Ubersetzung (s. Anm. 48), Vorrede. Jürgen Henkys, Die Neufassung und Ergänzung unvollständiger Psalmliedstrophen durch Matthias Jorissen, in: Bemoulli/Furler (Hg.), Psalter (s. Anm. 28), 161-168.

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Jürgen Henkys

Als Psalmlieddichter hat Matthias Jorissen der gottesdienstlichen Gemeinde bibelgesättigte Strophen und Lieder übergeben, die leisten konnten, was bei Lobwasser für die meisten nicht mehr zu haben war, nämlich (um es auf eine Variante der alten rhetorischen Trias docere — delectare - movere zu bringen): Bildung (Erschließung und Bekräftigung der biblischen Texte), Gefallen (innere Zustimmung zum Singen und zum Gesungenen) und Erbauung (Förderung des inneren Menschen, Erhebung zu Gott).

V. Im vorliegenden Beitrag kam es vor allem darauf an, Jorissens Reimpsalter als ein Werk zu erweisen, das bei bewußter Bewahrung des hymnodischen Erbes deutlichen Kontakt zum Geist seiner Zeit hält. Hinsichtlich der christlichen Dichtung ist es die Zeit Gellerts und Klopstocks. Sie hat in Jorissens Werk ihre Spuren auch dort hinterlassen, wo eine direkte Übernahme nicht in Frage kommt. Eine Liste bezeichnender Wörter läßt sich schon mit geringer Mühe zusammenstellen. Dazu gehören natürlich beglücken, bilden, Ehrfurcht, Erdball, erschüttern, Ewiger, feierlich, gefühllos, genießen, Glück, Jehova, lernen, Pflicht, Sitte, Tiefgefühl, Unendlicher, Unterricht, verehren, weihen, sich weihen, Weisheit, Zweifel. Jorissen steht nicht in der ersten Reihe der evangelischen Kirchenlieddichter. Aber er hat weit mehr geliefert als „Pastorendichtung". Wer unter den Gebildeten seiner Zeit für den gereimten Psalter überhaupt offen war, brauchte an Jorissens Werk keinen Anstoß zu nehmen. Abschließend einige Fragenkreise, die künftig zu bearbeiten wären. 1. Sind die Übernahmen Jorissens aus anderen Übersetzungen nur von sprachlichem Gewicht? Oder hat er damit auch theologische Weichenstellungen mitvollzogen? 2. Wie geht Jorissen in seinen Psalmliedern mit den bekannten Kontroversen im christlichen Psalmenverständnis um? Als Schlagworte seien genannt: messianische Psalmen, Rachepsalmen, Gesetzespsalmen. 3. Welchen Beitrag zum Verständnis von Jorissens Reimpsalter leisten die erst der zweiten Auflage beigegebenen Psalmsummarien? Stammen sie vom Autor selbst? Lassen sie noch irgendeine Beziehung zu den Summarien aus dem Lobwasser-Psalter erkennen? 4. Wie stellt sich Jorissens Psalter als Moment der Rezeptionsgeschichte von Schriftauslegung dar? Exegese, Poesie, Kirchenlied - dieser spannungsreiche und dauernd aktuelle Zusammenhang läßt sich am historischen Beispiel des Jorissen-Psalters vermutlich mit einigem Gewinn erkunden.

Konstanze

Grutschnig-Kieser

Psalter ohne Psalmen? Zum Umgang mit den Psalmen in der radikalpietistischen Dichtung

Hatten die Psalmen als Gesänge und Gebete mit Schriftautorität sowohl für die orthodoxen Liederdichter eine hervorragende Rolle eingenommen als auch noch für die eher irenisch eingestellten Odendichter des Barock, so gilt dies nicht in gleichem Maße für Pietisten. Zunächst ist die Zahl der eigentlichen Psalmparaphrasen aus pietistischen Kreisen verhältnismäßig gering.1

In ihrer Untersuchung zur deutschen Psalmdichtung betonen Inka Bach und Helmut Galle die abnehmende Bedeutung der Psalmen für Lieddichtungen im Pietismus. Doch nicht nur die Zahl der Psalmlieder wurde geringer, auch der „Umgang" insbesondere der radikalpietistischen Dichter mit der biblischen Vorlage änderte sich. Anhand des Davidischen Psalter-Spiels Der Kinder Zions soll gezeigt werden, inwieweit dieses radikalpietistische Gesangbuch noch an den Psalter Davids anknüpft. Danach sollen dann Psalmdichtungen von Eberhard Ludwig Gruber, Gottfried Arnold und Johann Wilhelm Petersen in den Blick genommen werden. Unter den radikalpietistischen Liedersammlungen war das Davidische Psalter-Spiel Der Kinder Zions besonders erfolgreich und weit verbreitet.2 Nachdem die erste Auflage 1718 im reformierten Umfeld erschienen war, folgten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sechs weitere Auflagen. 3 Mit radikalpietistischen Emigranten gelangte das Gesangbuch nach Amerika und wurde 1854 in Ebenezer nachgedruckt. Bereits der Titel Davidisches Psalter-Spiel legt eine Verbindung zum biblischen Buch nahe. Bei anderen Veröffentlichungen des 16. und 17. Jahrhunderts, die mit der Begriffsverbindung „Psalter" und „David" überschrieben sind, han-

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Inka Bach/Helmut Galle, Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 219 N. F. 95), Berlin 1989,226. Paul Wemle, Der Schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert, Bd. 1, Tübingen 1923, 449f. Für die Vorbereitung zu diesem Aufsatz wurde die dritte Auflage benutzt, die 1740 in Homburg erschien. Auf die sechste Auflage des Davidischen Psalter-Spiels (Büdingen 1805) machte mich Günter Balders aufmerksam. Im Unterschied zu den früheren Ausgaben sind hier die Psalmlieder durch ein eigenes Psalmregister nachgewiesen. Zu den weiteren Auflagen vgl. Hedwig T. Durnbaugh, Ephrata, Amana, Harmonie. Drei christliche kommunistische Gemeinschaften in Amerika, Beispiele kirchlicher Identität im Kirchenlied, in: IAH-Bulletin. Publikation der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie 24(1996),203-218.

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Konstanze Grutschnig-Kieser

delt es sich um Reimpsalter oder Psalmübersetzungen.4 Zum Beispiel beginnt der Titel einer 1542 erschienenen Sammlung mit Psalmliedern von Hans Gamersfelder mit der Formulierung Der gantze Psalter Davids,5 Ebenso heißt der lutherisch-orthodoxe Gegenentwurf zum Lobwasser-Psalter von Cornelius Becker Der Psalter Davids (1602).6 Auch das Kompositum Psalter-Spiel wird in diesem Sinne gebraucht, wie etwa der Titel Königs Davids Psalter-Spiel belegt.7 Insofern sollte man im Davidischen Psalter-Spiel Der Kinder Zions eine Sammlung von Psalmübertragungen oder Psalmliedern erwarten. Das Gesangbuch enthält in der dritten Auflage über 1000 pietistische Lieder. 60% der Gesänge stammen aus dem einflußreichsten pietistischen Gesangbuch, dem Geistreichen Gesangbuch von Johann Anastasius Freylinghausen.8 Drei Lieder sind von Ambrosius Lobwasser, knapp 50 von Joachim Neander und Friedrich Adolf Lampe; außerdem finden sich hier die ersten Gesänge von Gerhard Tersteegen. Darüber hinaus wurden über 200 Lieder aus einem separatistischen Gesangbuch, dem Anmuthigen Blumenkrantz, und über 40 Gesänge aus dem Liederschatz der radikalpietistischen Inspirationsgemeinde aufgenommen. Psalmübertragungen sind nur in geringem Maße (ca. 3%) berücksichtigt worden. Auch die Psalmlieder des pietistischen Dichters Michael Müller wurden nur zum Teil einbezogen. Da diese Lieddichtungen aus dem Freylinghausenschen Gesangbuch oder dem Anmuthigen Blumenkrantz stammen, dürften ihre Verbindung zum Psalter nicht das primäre Auswahlkriterium gewesen sein. Wenn sich der Titel also nicht auf die biblischen Psalmen bezieht, wie ist die Formulierung Davidisches Psalter-Spiel dann zu interpretieren? Das Gesangbuch richtet sich, wie es im Titel heißt, insbesondere an die „Gemeinen des Herrn" - d. h. an die „wahre Inspirationsgemeinde".9 Kennzeichnend für diese

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Der Begriff „Psalm" meinte ursprünglich ein zum Saitenspiel gesungenes Lied. Eine Bedeutungsvariante war das fromme oder geistliche Lied, im speziellen ein Gesang aus dem biblischen Psalter. Dementsprechend wurde unter „Psalter" zuerst ein harfenähnliches Saiteninstrument verstanden, das in der Dichtersprache des 17. Jahrhunderts zum Symbol der Dicht- und Sangeskunst wurde. Eine weitere Bedeutung bezog sich auf das gleichnamige biblische Buch. Erst in neuerer Zeit werden die Bezeichnungen ,,Psalm" und „Psalter" zuerst auf die Lieder Davids bezogen. Bei der Auswertung des DKL (s. Anm. 5) hat sich allerdings gezeigt, daß die Begriffe „Psalter" und „Psalter-Spiel" im 16. und 17. Jahrhundert durch den Zusatz „David" oder „davidisch" auf den Psalter eingegrenzt wurden. Der gantze Psalter Dauids / in gsangs weyse gestelt / durch Hansen Gamersfelder [...]. Nürnberg 1542. Zitiert nach: Konrad Ameln / Markus Jenny / Walther Lipphardt, Das deutsche Kirchenlied [DKL]. Verzeichnis der Drucke von den Anfängen bis 1800 (Répertoire International des Sources Musicales Β Vili, 1), 152408. Der Psalter Dauids Gesangweis / Auff die in Lutherischen Kirchen gewöhnliche Melodeyen zugerichtet / Durch Cornelium Becker D [...]. Leipzig 1602. DKL 160203. Königs DAVJDS Psalter-Spiel / Von neuen besäitet / und auff die heutige Singe-art gestimmet. [...] von M. Johann Neukrantz Pfarrern im Kirchwärder Hamburg 1650. DKL 165009. Durnbaugh, Ephrata, Amana, Harmonie (s. Anm. 3), 207. Hans Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, in: Martin Brecht (Hg.), Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert (Geschichte des Pietismus 2), Göttingen 1995, 107— 197.

Psalter ohne Psalmen?

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radikalpietistische Sekte sind die sog. „Aussprachen": Die vom Heiligen Geist ergriffenen „Werkzeuge" fielen in einen tranceähnlichen Zustand, wurden durch körperliche Krämpfe geschüttelt und begannen dann langsam zu sprechen. Die Reden wurden von Teilnehmern aufgezeichnet, gesammelt und veröffentlicht. Damit entstand eine Art von „Schriftprophetie", die ergänzend bzw. auslegend neben die Bibel trat. Ab 1714 leitete der ehemalige Pfarrer Eberhard Ludwig Gruber die Gruppe und überführte sie in eine kirchenähnlich strukturierte Sekte. Vier Jahre später erschien das Davidische Psalter-Spiel, das zu den Versammlungen der Gemeinde benutzt wurde und ihre Eigenständigkeit gegenüber anderen Radikalpietisten dokumentierte. Mit dem Titel knüpft der Herausgeber Johann Konrad Ziegler an die Traditionslinie der „vom Heiligen Geist Inspirierten" an, die mit dem „königlichen Propheten David" beginnt und bis zu Zion, dem Neuen Jerusalem reicht. Ebenso wie der Psalmist vom Glauben an Gott erfüllt und durch den Heiligen Geist inspiriert war, entstanden nach Ansicht der Inspirierten auch die geistlichen Lieder ihrer Gegenwart. 10 Entsprechend werden in der Vorrede die Lieder als „Manna-Worte" des Herrn bezeichnet.11 Damit gehören die Inspirierten in den Kontext des pietistischen PoesieVerständnisses. Die Pietisten begriffen die geistliche Dichtung als spontanen Ausdruck der Fülle des Innern oder als Herzensergießung. 12 Aufgabe des Dichters ist es dabei, die im Inneren erfahrene Wahrheit authentisch wiederzugeben. Insbesondere im Radikalpietismus betonte man die „unbewußte" Konzeption und Produktion und distanzierte sich von der gelehrten Dichtung sowie von rhetorischen und poetologischen Regeln. Diese Vorstellung ist ζ. B. bei Gottfried Arnold und Christoph Schütz zu finden. Arnold sprach von einem spontanen, unwillkürlichen Entstehen seiner Lieder. In der Vorrede zu den Göttlichen Liebes-Funcken (1689) schreibt er: Bisweilen ist ihm unvermuthet etwa eine kurtze Aria oder ein ander Lied in die Feder oder nur in die Schreib-Tafel geflossen / wenn er au ff dem Lande spatziren gangen / und in GOtt ruhig und frölich gewesen / oder wenn sich auch sonst ein Antrieb zum Lobe GOttes ereignet hat. - Das meiste / ja fast alles ist unter andern häuffigen und zwar emsthafften Verrichtungen gleichsam gebohren / und kan dahero dem Leser keine grosse Künste ver-

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Dumbaugh, Ephrata, Amana, Harmonie (s. Anm. 3), 207. Bach/Galle, Psalmendichtung (s. Anm. 1), 228f. Die Radikalpietisten waren nicht die ersten, die behaupteten, die Psalmen seien ihnen durch den Heiligen Geist eingegeben. Bereits Quirin Kuhlmann berief sich bei seinem Psalter auf „göttliche Offenbarung". Vgl. Irmgard Scheitler, Geistliche Lyrik, in: Albert Meier (Hg.), Die Literatur des 17. Jahrhunderts (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur 2), 347-376, hier 364f. [Johann Konrad Ziegler?], Vorrede, in: Davidisches Psalter-Spiel Der Kinder Zions. Von Alten und Neuen auserlesenen Geistes-Gesängen; Allen wahren Heils-Begierigen Säuglingen der Weisheit / Insonderheit aber Denen Gemeinen des HERRN / Zum Dienst und Gebrauch / mit Fleiß zusammen getragen [...], 3. Aufl., Homburg vor der Höhe 1740, unpag. Vgl. fur den nachfolgenden Absatz: Wolfgang Martens, Hallescher Pietismus und schöne Literatur, in: ders., Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 25), Tübingen 1989, 76-181, hier 156-158.

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Konstanze

Grutschnig-Kieser

sprechen. [...] Man war gemeiniglich vergnügt / wenn ein Vers von sich selber ungezwungen dahinfloß. 13

Der radikalpietistische Liederdichter Christoph Schütz beschreibt sein Dichten folgendermaßen: Seufftzen / Bitten und Verlangen / wie auch mein Dancken und Loben GOttes [...], reimweiß / oder in Form eines Lieds / in Sinn kam und thönete mir dann einen gantzen- oder halben Tag / bey meiner Arbeit / in meinem Sinn / bis ich etwa nach Haus kam [...] so satzte ich mich dann nieder / und schrieb solche Lied oder Reimen [...] geschwind auf. 14

Auf den Heiligen Geist als Urheber der Dichtung weist Schütz im Titel der Starck-thönenden und sehr beweglichen Buß-Posaune hin. Dort heißt es: „etliche Buß-Lieder [...] im Trieb des Geistes geschrieben". Nach dem Verständnis von Schütz ist das Dichten kein Talent, das einmal von Gott geschenkt wird und auf das dann immer zurückgegriffen werden kann. Er glaubt vielmehr, daß ihm die Lieder durch den Heiligen Geist „eingegeben" werden. Dabei ist die Liedproduktion von der frommen Lebensweise des Autors abhängig. In Zeiten der Glaubenszweifel oder nach sündhaftem Verhalten bleiben die Verse aus. Über die „göttlichen Herkunft" der Gesänge legitimierten die radikalen Pietisten die in den Texten vertretenen heterodoxen Lehren. So glaubten sie, „im Namen Gottes" zur Buße und Umkehr aufzurufen, den nahen Anbrach des „1000jährigen Reiches" oder die „Wiederbringung aller Dinge" zu verkündigen. Doch nicht nur der Inhalt der Lieder, auch das bloße Aufkommen zahlreicher neuer Gesänge wurde als Vorausdeutung auf die kurz bevorstehende Endzeit interpretiert. So schreibt der Vorredner des Davidischen Psalter-Spiels: UNter denen Zeichen dieser Zeit / sonderlich des immer näher kommenden AbendScheins / dörfen wir wol auch mit ansehen den mit so wolriechendem Rauchwerk angefüllten reichen Lieder-Segen / welchen der HErr seiner Kirche in diesen Zeiten geschenckt / und also solchen Gnaden-Säuglingen der Weisheit zum kräftigsten Eindruck nehmen sollen und können / daß sich das Obere Jerusalem mit seinen triumphirenden Chören / in das untere kräftiger einzufliessen und dasselbe zu dem Neuen und völligen Sieges-Lied auf die Ankunft ihres Königes zuzubereiten beweget habe. 15

Psalmlieder radikalpietistischer Dichter Auch wenn, wie die Auswertung des Davidischen Psalter-Spiels ergeben hat, die Psalmen als Vorlage für Lieddichtungen nicht mehr an erster Stelle standen, so sind dennoch auch von radikalpietistischen Autoren Psalmlieder verfaßt

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Gottfried Arnold, Vorwort zu den Göttlichen Liebes-Funcken (1698), zitiert nach Martens, Hallescher Pietismus (s. Anm. 12), 157. Christoph Schütz, Das kündlich grosse Geheimnüs der Gottseeligkeit CHRISTUS in uns / wie auch das grosse Geheimnüs der Boßheit und der Greuel der Verwüstung stehende an der H. Stätte / [...], 2. Aufl., o. O. 1731, 84f. [Ziegler?], Vorrede (s. Anm. 11), unpag.

Psalter ohne Psalmen?

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worden. 1 6 D i e s soll im folgenden an den Psalmdichtungen von Johann Ludwig Gruber, Gottfried Arnold und Johann Wilhelm Petersen aufgezeigt werden.

1. Johann

Ludwig

Gruber:

D e r 2 3 . Psalm. W e i l selbst der Herr m e i n Hirt

Johann Ludwig Gruber leitete - w i e schon erwähnt - ab 1714 die „wahre Inspirationsgemeinde". Nach Konflikten mit Amtsbrüdern und seiner Gemeinde war der lutherische Pfarrer 1706 aus dem Kirchendienst entlassen worden und emigrierte nach Ysenburg-Büdingen. 1 7 Das Lied Weil selbst der Herr mein Hirt gehört zu seinen frühen Dichtungen und wurde wie weitere fünf Dichtungen in die erste Auflage des Davidischen Psalter-Spiels 1718 aufgenommen. 1 8 Darüber hinaus verfaßte Gruber insgesamt 4 2 9 „Jesuslieder" und veröffentlichte sie 1720, 1723 und 1725 in drei Sammlungen. 1 9 1. WEil selbst der HErr mein Hirt, wie solt ich 1. Der Herr ist mein Hirte, Mangel leiden? mir wird nichts mangeln. Er kann, Er will und wird mich auf das beste weiden: Drum will ich ihm mich auch, vertrauen gantz allein, als sein gehorsams Kind und treues Schäfelein. 2. Er weidet mich auf einer grünen Aue 2. Er lasset meine Seel sich lagern auf den Auen, da Gras und Kräuter sind voll Kraft und Saft zu schauen, die durch sein Lebens-Wort Er hat hervor gebracht, und mir zur Nahrung und zur lieben Kost gemacht. 3. Er leitet gantz gelind mich an die Wasser-Flüsse, und führet mich zum frischen Wasser die sanft und stille gehn, die lieblich sind und süsse; weil alle Kraft aus Dim und seinem Liebes-Geist in solche strömet ein, und mir zu Hertzen fleußt. 3. Er erquicket meine Seele20 4. So bringt Er meine Seel, zu ihrem Ursprung wieder, so so erquickt Er sie, wann sie geschlagen nieder daß seiner Leitung sie und seiner Führung dann, gantz munter und getrost, im Glauben folgen kan.21 Die Aussage der ersten Strophe des Psalms, „mir wird nichts mangeln", formuliert Gruber zu einer rhetorischen Frage um: „wie solt ich Mangel leiden?" Damit bezweifelt er nicht die Psalmaussage, sondern verstärkt sie durch die vorweggenommene Begründung „WEil selbst der HErr mein Hirt".

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19

20 21

Zu diesem Ergebnis kommen auch Inka Bach und Helmut Galle. Bach/Galle, Psalmendichtung (s. Anm. 1), 226-228. Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (s. Anm. 9), 13 lf„ 149-151. Dumbaugh, Ephrata, Amana, Harmonie (s. Anm. 3), 207. In den späteren Ausgaben des Davidischen Psalter-Spiels kamen 25 Lieddichtungen von Johann Ludwig Gruber hinzu. Eduard Emil Koch, Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs der christlichen, insbesondere der deutschen evangelischen Kirche, Bd. 6, Stuttgart 31869, ND Hildesheim 1973, 173f. Diese Dichtungen zeichnen sich dadurch aus, daß sie mit,Jesus" beginnen und sein Name in Akrosticha wieder aufgegriffen wird, die sich entweder aus den Initialen der Wörter einer Zeile oder den Strophenanfängen zusammensetzen. 23. Psalm nach der Übersetzung Martin Luthers. [Johann Ludwig Gruber], WEil selbst der HErr mein Hirt. Der 23. Psalm. In: Davidisches Psalter-Spiel Der Kinder Zions (wie Anm. 11), 803f., Nr. 904.

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Konstanze

Grutschnig-Kieser

Die folgenden drei Strophen sind als Einheit zu betrachten; sie geben den zweiten und den Beginn des dritten Verses wieder: „Er weidet mich auf einer grünen Aue / und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele".22 Gruber überträgt „Aue" und „Wasser" metaphorisch in den Bereich der Seele. In dieser Innenwelt „schaut" das dichterische Ich die Gräser und Kräuter. Sie sind durch die „Lebens-worte" Gottes gewachsen und durch ihn zur geistigen Nahrung geworden. In der dritten Strophe beschreibt der Sprecher, wie seine Seele zum Wasser geführt wird, das hier mit dem „Liebes-Geist" identifiziert wird. Durch das Wasser strömt die Kraft des Heiligen Geistes in das Herz des Sprechers; die Seele kehrt zu ihrem „Ursprung" zurück und wird „erquickt". In den letzten zwei Zeilen der dritten Strophe wird wieder an den Gedanken des Gehorsams angeknüpft. Durch den „Liebes-Geist" wird die Seele des Sprechers gestärkt, und er kann dadurch auch zukünftig die Gebote Gottes erfüllen. Die Wörter „schauen", „Ströme", „fließen" und „Ursprung" weisen im Zusammenhang mit innerseelischen Zuständen auf eine „Gottesschau" oder unio mystica hin. Durch die Meditation über die biblischen Worte beginnt eine Versenkung, in deren Verlauf der Geist Gottes durch den Sprecher strömt und schließlich zu einer Vereinigung mit Gott führt. Die Verlagerung der „Weide" und der „Tränke" in den geistigen oder seelischen Bereich ist keine Erfindung Grubers. Bereits in einem reformatorischen Psalmlied von 1531 werden, wie Lars Kessner beschrieben hat, das „Gras" als „geistiges Lebensbrot" und das „Wasser" als „Heiliger Geist" interpretiert.23 Der anonyme Lieddichter nennt die „Worte Gottes", den „Heiligen Geist" und die „Gebote" und legt den Psalm somit im Sinne des Heilswegs (ordo salutis) reformatorisch aus.24 Dagegen vermittelt Gruber in seinem Lied die Praxis der Meditation. Die Stationen der via mystica, Reinigung, Erleuchtung und Vereinigung, werden nicht vollständig abgebildet, die Erleuchtung wird mit der Schau der Seele, die Vereinigung mit der Rückkehr der Seele zu ihrem „Ursprung" aufgegriffen. Ein Hinweis auf die Reinigung fehlt. Dies könnte damit zusammenhängen, daß das Ich des Liedes sich bereits der Gottesnähe bewußt ist und sich wiedergeboren weiß. Somit greift Gruber mit diesem Psalmlied nicht nur die für den radikalen Pietismus wichtige Erfahrung einer unio mystica auf, sondern richtet seinen Psalm an die Wiedergeborenen. Wenn die Leitung und Führung der Seele durch Gott dahin interpretiert werden kann, daß der Sprecher über die in der Bibel fixierten Gebote weitere Handlungsanweisungen vom Heiligen Geist erhält, dann wird darin zusätzlich die Situation der Separatisten ausgesprochen und ihr Eintreten fur heterodoxe Lehren, die sie direkt von Gott empfangen zu haben glauben, legitimiert.

22 23

24

Ps. 23, 1-3. Lars Kessner, Vier evangelische Psalmlieder über Psalm 23 aus dem 16. und 17. Jahrhundert, in: Michael Fischer / Diana Rothaug (Hg.), Das Motiv des Guten Hirten in Theologie, Literatur und Musik (Mainzer Hymnologische Studien 5), Tübingen 2002, 117- 140, hier 119-125. Ebd., 123.

Psalter ohne Psalmen?

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2. Gottfried Arnold: Der Weisheit Licht gläntzt immerzu. Lied zum ersten Vers des 134. Psalms Nachdem sich Arnold mit kleineren kirchenhistorischen Arbeiten einen Namen gemacht hatte, wurde er 1697 als Professor für Geschichte an die pietistisch geprägte Universität in Gießen berufen.25 In dieser Zeit begann er, die Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie zu verfassen. Seine Kritik an der weltlichen Ausrichtung des akademischen Lebens veranlaßte ihn, 1698 Gießen zu verlassen und nach Quedlinburg zurückzukehren. Durch seine Separation von Gottesdienst und Abendmahl sowie die Veröffentlichung kirchenkritischer Schriften geriet er in Konflikt mit der Amtskirche. In diese Zeit fiel auch seine Beschäftigung mit der Sophienmystik und das Erscheinen der Göttlichen Liebes-Funcken (1698), der Poetischen Lob- und Liebes-Sprüche von der Ewigen Weisheit und des Geheimnisses der Göttlichen Sophia (1700). Schließlich wandte er sich doch wieder der Kirche zu und übernahm 1702 die Stelle des Schloßpredigers in Allstedt. Das Lied Der Weisheit Licht gläntzt immerzu, das ebenfalls im Davidischen Psalter-Spiel steht, ist mit dem Hinweis „Psalm 134 Vers 1" überschrieben. Wohlan, lobet den Herrn, alle Knechte des Herrn, die ihr steht des Nachts im Hause des Herrn!26 1. Der Weisheit Licht gläntzt immerzu, und treibt den müden Sinn zur Ruh: Wenn ihre Kraft in uns steigt auf, so fördert sie den schwachen Lauf. 2. Ihr Schein ist ohne Dunckelheit: wenn uns ihr süsser Glantz erfreut, so muß die Nacht selbst lichte seyn: bey ihr bricht gar nichts finstres ein.27

Der 134. Psalm fordert eine Gruppe von Gläubigen, die sich nachts im Tempel versammelt haben, zum Lob auf. Arnold paraphrasiert in seinem Lied nicht den gesamten Psalmtext, sondern greift nur die beschriebene nächtliche Situation auf, am deutlichsten in der zweiten Strophe („Nacht" und „finstres"). Auch die Formulierung, daß der müde „Sinn zur Ruh" getrieben werde, paßt in den Kontext des Psalms. Auf die Gläubigen oder das Loblieb wird nicht mehr eingegangen. Auch liegt formal kein Lobgesang vor, der von einer Gruppe vorgetragen wird. Vielmehr beschreibt ein Sprecher die Qualitäten der göttlichen Weisheit

25

26 27

Zum folgenden Abschnitt vgl. Hans-Georg Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 5,1, Tübingen 1991; Hans Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, in: Martin Brecht (Hg.), Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert (Geschichte des Pietismus 1), Göttingen 1993, 391^137, hier 410-416. Ps. 134, 1. [Gottfried Arnold], Der Weisheit Licht gläntzt immerzu. Psalm 134, 1, in: Davidisches Psalter-Spiel Der Kinder Zions (wie Anm. 11), 126, Nr. 140.

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Konstanze Grutschnig-Kieser

und wendet sich in den letzten drei Strophen an sie, um ihre Zuwendung zu erbitten. D i e Bilder der Nacht und der Finsternis aus dem Psalm werden benutzt, um dagegen das Licht der Weisheit zu setzen. Spätestens in der dritten Strophe, wenn die Weisheit als „Schatten", der gegen die Hitze des Tages schützt, beschrieben wird, wird die „nächtliche" Bildebene des Psalms verlassen. In den folgenden Strophen beschreibt der Autor den U m g a n g mit der Weisheit, ohne auf den Psalm bzw. die Bilder des Psalms zurückzugreifen: 3. Man findt an ihr den gantzen Tag, auch wider alle Hitz und Plag, den Schatten einer Wolcken-Säul: ihr Feuer dient des Nachts zum Heil. 4. Sie geht in allen Dingen für dem, der ihr nachgeht mit Begier: man geht bey ihr frey aus und ein, und darf getrost und frölich seyn. 5. Die schwerste Lasten macht sie leicht, wenn man sich zum Gehorsam beugt: sie stillt auch wol der Feinde Wuth durchs Leiden mit vergnügtem Muth. 6. Die Freude hegt ihr sanfter Schoos, und macht von allem Kummer los: dann schenckt sie überflüssig ein, zum Trost, auf Myrrhen süssen Wein. 7. Macht ihre Lieb nicht völlig frey von der Affecten Sclaverey? Was ists, das den besiegen kan, der ihre Zucht nimmt redlich an? 8. Ihr Umgang ist voll Lieblichkeit; Licht ist ihr prächtig Hochzeit-Kleid; ihr Braut-Schmuck ew'ge Lieb und Lust; Kein Mackel ist ihr mehr bewust.

3. Die Psalmen

von Johann

Wilhelm

Petersen

Johann Wilhelm Petersen war lutherischer Pfarrer, bis er 1692 w e g e n seines Eintretens für die Lehre des Chiliasmus und der Verteidigung der Ekstatikerin Rosamunde Juliane von Asseburg aus dem Pfarrdienst entlassen wurde. 28 Er z o g

28

Johannes Wallmann, Art. Johann Wilhelm Petersen, in: Literatur Lexikon, hg. v. Walther Killy, Bd. 9, Gütersloh 1991, 127f.; Joachim Jacob, „Stimmen aus Zion". Johann Wilhelm Petersens deutsche Psalmen [im Druck] (die Autorin dankt Herrn Jacob fur die gewährte Einsichtnahme in sein Manuskript); Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert (s. Anm. 25), 402^406; Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (s. Anm. 9), 114f. Insbesondere zu den Liedersammlungen: Koch, Kirchenlied (s. Anm. 19), 121-134.

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sich auf das Gut Niederdodeleben bei Magdeburg zurück und lebte als freier Schriftsteller. Seine religiösen Vorstellungen wie die „Sammlung der Frommen in der Kirche Philadelphia" und die Lehre vom „tausendjährigen Reich" und der „Wiederbringung aller Dinge" vermittelte er nicht nur in theologischen, sondern auch in erbaulichen Schriften. Dazu gehört die Sammlung der Stimmen aus Zion, in der er Gesänge in ungebundener Form veröffentlichte, von denen Johann Anastasius Freylinghausen einige der sog. „Psalmen" in sein Geistreiches Gesangbuch übernahm. 29 Das Liederbuch Dreihundert Stimmen aus Zion widmete Petersen der „Philadelphischen Gemeinde". In den dort enthaltenen gereimten Gesängen sind apokalyptische und mystische Themen und Motive vorherrschend. Die Lieder in diesem Gesangbuch sind nach dem Vorbild des biblischen Psalters eingerichtet, d. h. sie sind alle als Psalmen bezeichnet und gezählt, dann folgt die Überschrift und schließlich der Text des „Psalms" in Versen. Doch nicht nur in der formalen Anlage orientiert sich Petersen an den ihm vorliegenden Psalmausgaben, er ahmt auch den biblischen Sprachstil nach. 30 Es handelt sich bei seinen „Psalmen" durchgängig um Dichtungen, die weder einen biblischen Psalm paraphrasieren noch einzelne Verse aufgreifen. So wird im 100. „Psalm" des dritten Teils behandelt, „wie der allerletzte Zweck der Erlösung Christi die wesentliche Wiederbringung des Ebenbildes Gottes und seiner Gerechtigkeit sey". Die Lehre von der „Allversöhnung" entwickelte Johann Wilhelm Petersen zusammen mit seiner Frau Johanna Eleonora.31 Ausgehend von der These, daß die ewige Verdammnis eines Teils der Menschheit mit der Allmacht des göttlichen Heilswillen unvereinbar sei, entwickelten sie die Vorstellung, daß alle Menschen nach einem Reinigungsprozeß erlöst würden. Die „ewige" Verdammnis verstanden sie nicht als einen endgültigen Zustand, sondern nur als einen sehr lange andauernden Zeitraum, nach dem jeder Sünder, sogar der Teufel, das ewige Heil erlangen werde. 17. Das wiederhergebracht' Ebenbild ist es am Ende, wohin der Zweck der Erlösung abzielet am Ende: Gerechtigkeit wesentlich-geschencktes Kleid, der zugerechneten Ende. 18. Dem der HErr die Siind nicht rechnet, dem ists wohlgelungen! Aber wohl dem, bey dem die Sünd ist im Sieg verschlungen! Halleluja!

29

30 31

Beispiele nennt Suvi-Päivi Koski in ihrem Aufsatz: Von den 683 „geist-reichen" zu den 815 „neuen geist-reichen" Liedern. Das Neue Geist-reiche Gesang-Buch (Halle 1714) und seine Beziehung zum Geistreichen Gesang-Buch (Halle 1704), in: Wolfgang Miersemann (Hg.), Pietismus und Liedkultur (Hallesche Forschungen 9), 95-128, hier 122. Jacob, „Stimmen aus Zion" (s. Anm. 28). Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert (s. Anm. 25), 404f.

356

Konstanze Grutschnig-Kieser

Gloria s e y G O t t / j a / j a ! Denn sein Zweck ist ihm gelungen.32

Nach der Lehre der „Allversöhnung" werden am Ende alle Menschen zum Ebenbild Gottes geworden bzw. erlöst sein, aber der Zeitpunkt richtet sich nach dem Verhalten des Einzelnen. Eine zweites Theologem, das die Petersens propagierten, war das zweifache Menschsein Jesu Christi.33 Danach hat der Sohn Gottes bereits vor der Schöpfung eine „himmlische Gottmenschheit" besessen und mit der Inkarnation zusätzlich die „dürftige Menschennatur" erworben. Damit sollten die biblischen Aussagen zu der Gottebenbildlichkeit des Menschen, zur Präsenz Christi im Abendmahl und zu Christus als Schöpfungsvermittler nachvollziehbar werden. Mit diesen Vorstellungen griffen die Petersens alte theosophische Spekulationen auf, wie sie ζ. B. von Jacob Böhme oder Kaspar Schwenckfeld vertreten worden sind. Auch diese Ideen vermittelte Petersen in seinen Psalmen. Im 19. „Psalm" Ein Lob-Lied des himmlischen Bräutigams von seiner Braut - heißt es: 2. Sie ist mein eigen und von mir gebohren, ja sie ist aus meiner Gottheit erbaut, Fleisch vom Geblüthe, Geist vom Gemüthe Ich bin ein Geist mit ihr und sie mit mir.34

In dieser Strophe nimmt Petersen die Vorstellung des Schöpfungsmittlers („von mir gebohren") auf. Auf die Gottesebenbildlichkeit weisen „aus meiner Gottheit erbaut" sowie „Geist vom Gemüthe" hin, und die menschliche Natur der Braut wird durch das „Fleisch vom Geblüthe" angesprochen. Die Vereinigung Jesu mit der Seele, die zu einer Vergottung und schließlich zum neuen Menschen als Ebenbild Gottes fuhrt, wird in den letzten zwei Zeilen thematisiert. Daran schließt sich eine Beschreibung der Braut an, bei der Petersen auf das Hohelied Salomons zurückgreift. Dies soll hier am Beispiel der sechsten und siebten Strophe gezeigt werden: 6. Dein Halß ist wie der Thum Davids gebauet den er mit herrlichen Brust-Wehr versah, wo man der Schilde zu tausenden schauet, allerlei, Waffen der Starcken sind da. Und deine Zähne sind wie die Schwähne und Heerde die von dem Hirt gewaschen wird.

32

33

34

Dein Hals ist wie der Turm Davids mit Brustwehr gebaut, an der tausend Schilde hangen die Schilde der Starken (4, 4) Deine Zähne sind wie eine Herde geschorener Schafe, die aus der Schwemme kommen (4, 2)

100. Psalm [im dritten Teil], in: Johann Wilhelm Petersen, CCC Stimmen aus Zion, [o. O.] 1721,756-758. Vgl. zum folgenden Absatz: Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (s. Anm. 9), 114. 19. Psalm [im ersten Teil], in: Johann Wilhelm Petersen, CCC Stimmen aus Zion, [o. O.] 1721,62-65.

Psalter ohne Psalmen? 7. Dein Haar wie Purpur in Falten gebunden gleichet des Simsons an Kräften und Stärck. Und deine Ohren, so Weißheit gefunden, haben der Lehre genaues Gemerck. In deine Nase, Ich Leben blase, Die ein Thum Libanon Gen Damaseon.

357 Das Haar auf deinem Haupt ist wie Purpur (7,6) Simson (Ri 16, 17) Wer Ohren hat, der höre (Mt 11, 15) Gott blies dem Menschen den Odem des Lebens in seine Nase (1. Mos 2, 7) Deine Nase ist wie der Turm auf dem Libanon, der nach Damaskus sieht (7, 5)

Wie diese Gegenüberstellung zeigt, hat sich Petersen bei der Beschreibung eng an das Hohelied angelehnt. Während er sich in der sechsten Strophe nur auf diese Vorlage bezieht, hat er in der siebten weitere biblische Sätze paraphrasierend aufgegriffen. Die Lieder von Johann Wilhelm Petersen sind unter den hier vorgestellten Psalmdichtungen diejenigen, die sich inhaltlich und motivisch am weitesten von den biblischen Psalmen entfernen. Die Beispiele zeigen einen neuen Umgang der radikalpietistischen Dichter mit den Psalmen. Insgesamt treten im radikalpietistischen Bereich, wie im gesamten Pietismus, die Psalmen als Vorlagen für Lieder und Gebete zurück. Dagegen gewinnen andere Texte wie das Hohelied, das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen und die Apokalypse an Gewicht. Es ist weniger der Psalmtext, auf den sich die Dichter beziehen, als die Vorstellung von David als einem vom Heiligen Geist inspirierten Sänger. Ebenso wie der Prophet glauben sie, ihre Lieder direkt von Gott empfangen zu haben - eine Vorstellung, die sie auch auf die in den Gesängen vertretenen heterodoxen Lehren beziehen, welche sie als „von Gott gegeben" ansehen. Darüber hinaus wird die Bezeichnung „Psalm" auf subjektive, emotional geprägte geistliche Gedichte ausgeweitet, die inhaltlich und formal nur noch wenig an die biblischen Psalmen anknüpfen. In der geistlichen Dichtung der Empfindsamkeit sollte dieses Psalmverständnis später wieder aufgegriffen und weitergeführt werden.

Andreas Marti

Die Rezeption des Genfer Psalters in der deutschsprachigen Schweiz und im rätoromanischen Gebiet

Vorbemerkung Die entscheidende Epoche des Genfer Psalters in der deutschsprachigen Schweiz liegt im 17. und 18. Jahrhundert. Ich werde daher den Rahmen etwas weiter stecken, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Forschungslage nicht besonders gut ist und kein geschlossenes Bild zu zeichnen erlaubt.1 Es gibt noch zu wenig Studien über die gottesdienstliche Wirklichkeit in den Schweizer Kirchen in der Zeit zwischen Reformation und Aufklärung. Ich beziehe deshalb die Zeit vor der Einfuhrung des Genfer Psalters in die Darstellung mit ein, da diese einerseits einen engen Zusammenhang mit dessen Entstehung aufweist - denken wir an die engen Verbindungen zwischen Genf, Bern, Zürich und Straßburg - , andererseits hier die kirchlichen und liturgischen Voraussetzungen für die Rezeption im 17. Jahrhundert entstanden. Nicht zuletzt will ich die Gelegenheit nutzen, einmal mehr einige hartnäckige Mißverständnisse und schiefe Darstellungen zu korrigieren, die immer noch in der hymnologischen und liturgiewissenschaftlichen Literatur begegnen. Es werden dann auch einige Sätze über das weitere Schicksal des Psalters in der Schweiz vom 18. Jahrhundert an zu sagen sein.

Liturgische Voraussetzungen des Schweizer Kirchengesangs nach der Reformation Wir setzen an bei der liturgischen Situation vor der Schweizer Reformation. Bekanntlich wurde im oberdeutsch-schweizerischen Raum der sogenannte Prädikantengottesdienst bedeutsam, gefordert und gefördert durch ein zunehmend gebildetes städtisches Bürgertum. Humanistische Grundsätze erhielten Gewicht; das „ad fontes" der Humanisten ging oft nahtlos über in das nachmalige „sola scriptura" der Reformatoren.

Vgl. die etwas ausführlichere Darstellung bei Andreas Marti, Der Genfer Psalter in den deutschsprachigen Ländern im 16. und 17. Jahrhundert, in: Zwingliana 28 (2001), 45-73.

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Andreas Marti

Es ergab sich damit ein liturgisches Nebeneinander: hier die traditionelle lateinische Messe, dort der volkssprachliche Predigtgottesdienst; hier das Sakrament, das Mysterium, dort die Unterweisung, die religiöse Bildung; hier gesungener Vollzug der Gebete und Lesungen, dazu gegebenenfalls auch kunstvolle polyphone Musik, dort allein das gesprochene Wort; hier die Meßpriester, dort die akademisch gebildeten Theologen. Die Einführung der Reformation in den oberdeutschen Städten beseitigte dieses Nebeneinander: Der Predigtgottesdienst wurde nun die Hauptform, die Messe fiel weg - damit entfiel aber auch der liturgische Ort der Musik. Wir haben keine Quellen, die uns einen Hinweis auf Musik im vorreformatorischen Prädikantengottesdienst geben. Die oberdeutsch-schweizerische Reformation setzte also mit einem musiklosen Gottesdienst ein. Sie begann aber - an einigen Orten sehr rasch, an anderen langsamer - , in diesen musiklosen Gottesdienst den Gesang einzuführen. Die Geschichte der Musik im reformierten Gottesdienst ist daher nicht unter dem Aspekt von Abbau und Einschränkung zu betrachten, sondern als eine Geschichte des Aufbaus, und zwar eines bewußten, gezielten, beharrlichen und gemeindepädagogisch verantworteten Aufbaus. Hier ist eine Bemerkung zu Huldrych Zwingli fällig. Immer wieder werden seine scharfen Formulierungen gegen die Musik zitiert (so auch wieder in dem hymnologischen Quellenbuch von Christian Möller2). Es wird dabei aber zu wenig deutlich gemacht, daß Zwingli diese Texte erstens vor der Durchführung der Zürcher Reformation geschrieben hat und daß sie sich zweitens auf den lateinischen Gesang in der Messe und im Stundengebet beziehen, ganz besonders auf die lateinische Psalmodie, gesungen von Nonnen, die selber kein Latein verstanden. Aus der Zeit nach der Durchführung der Reformation, d. h. nach 1525, sind mehrere Äußerungen Zwingiis bzw. der leitenden Zürcher Reformatoren bekannt, die dem volkssprachlichen Psalmengesang der Gemeinde positiv gegenüberstanden. Daß die Einführung des Gesangs nicht sofort erfolgte, war nichts Außergewöhnliches. Das brauchte auch an vielen anderen Orten seine Zeit, und erst nach Zwingiis Tod entwickelte sich Zürich zum Sonderfall, weil man die gesangslose Anfangssituation aus Zwingiis Lebzeiten über mehrere Jahrzehnte hin konservierte. Das Tempo der Einführung war sehr unterschiedlich. In Basel löste der Psalmengesang im Gottesdienst 1526 die eigentliche Reformation aus, St. Gallen führte schon 1527, d. h. ebenfalls im Zuge des Reformationsprozesses, den Gesang ein und druckte danach im Jahre 1533 das erste Gesangbuch für einen Schweizer Ort. Ebenfalls besonders schnell bei der Einführung des Gesangs war Genf: Auch hier muß ein verbreitetes Vorurteil mit Nachdruck korrigiert werden, das da besagt, Calvin habe den Psalmengesang nur „zugelassen", und dies noch unter

2

Christian Möller (Hg.), Kirchenlied und Gesangbuch. Quellen zu ihrer Geschichte, Tübingen/Basel 2001, 93f.

Die Rezeption des Genfer Psalters in der deutschsprachigen Schweiz

361

Einschränkungen. Das Gegenteil ist richtig. Calvin muß sich, kaum daß er seine Tätigkeit in der Leitung der Genfer Kirche im Spätsommer 1536 begonnen hatte, mit dem Gesang befaßt haben, denn schon im Januar 1537 fordert das Pfarrkollegium, man solle im Gottesdienst Psalmen singen. Gewöhnlich datiert man die eigentliche Einführung dann auf das Jahr 1541 oder 1542, d. h. auf die Zeit nach der Rückkehr Calvins aus Straßburg, wo er zwischen 1538 und 1541 die deutschen Psalmen kennengelernt habe. Erstens war Calvin aber schon vor seiner ersten Genfer Zeit in Straßburg und auch in Basel und kannte demnach den Psalmengesang bereits, und zweitens gibt es einen Brief Calvins und Farels nach Zürich, und zwar vom Frühjahr 1538,3 der den Schluß nahelegt, daß in der Genfer Gemeinde damals bereits gesungen wurde. Einige Psalmbereimungen von Clément Marot waren ja schon vorhanden und wurden offenbar zu verschiedenen vorhandenen Melodien gesungen. Ich halte es überdies nicht für ausgeschlossen, daß sowohl Calvins Bereimungen wie auch die durch wen auch immer vorgenommene Vertonung von Marots Psalmen schon damals in Genf ihren Anfang genommen haben. Immerhin ist es erstaunlich, daß Calvins Straßburger Psalmenausgabe von 1539 nur gerade ein Jahr nach seiner Ankunft dort erschien; wenn schon Vorarbeiten aus Genf vorgelegen hätten, ließe das die knappe Frist plausibler erscheinen. Interessant ist auch, daß es offenbar im gleichen Jahr 1538 in Bern erste Anstöße zum Psalmengesang gab, die sich allerdings zunächst auf das Singen in der Schule, nicht im Gottesdienst bezogen.4

Straßburger und Genfer Psalmen in den ersten Gesangbüchern Bei der Einführung des Gesangs ist von Anfang an von „Psalmen" die Rede. Geht man davon aus, daß sicher Straßburg und wohl auch Augsburg eine Vorbildrolle gespielt haben, kann man das wörtlich nehmen. Blickt man aber auf das aus Psalmen- und anderen Liedern zusammengesetzte Repertoire des Konstanzer Gesangbuchs, dann ist immerhin damit zu rechnen, daß der Begriff weiter zu fassen ist und in manchen Quellen auch das gemeinsam gesungene geistliche Lied überhaupt meinen könnte, also das umfaßt, was oft auch als „Psalmen und Gesänge" bezeichnet wird. Das Konstanzer Gesangbuch war zusammen mit dem Straßburger Psalter - für den Schweizer Kirchengesang im 16. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung. Bevor der Genfer Psalter in der deutschen Übertragung von Ambrosius Lobwasser zur Verfügung stand, bildete dieses Repertoire in den verschiedenen Gesangbuchdrucken die Grundlage. In Pierre Pidoux, Le Psautier Huguenot du XVIe siècle. Mélodies et documents, Bd. I: Les mélodies, Bd. II: Documents et bibliographie, Kassel/Basel 1962, hier Π, 1. Gerhard Aeschbacher, Reformation und kirchenmusikalisches Leben, in: 450 Jahre Berner Reformation. Beiträge zur Geschichte der Bemer Reformation und zu Nikiaus Manuel, Historischer Verein des Kantons Bern 1980, 234.

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Andreas Marti

Zürich, Basel, Schaffhausen, St. Gallen und im Engadin lassen sich entsprechende Gesangbuchstämme verfolgen, die eine erhebliche Kontinuität im Bestand zeigen.5 Erst seit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert begann der LobwasserPsalter die Vorherrschaft zu übernehmen. Zürich, die letzte Stadt, die den Gemeindegesang einführte, war zugleich die erste, die den Gemeinden den kompletten Lobwasser in die Hand gab. Nach längerer Diskussion um die Berechtigung des gottesdienstlichen Singens erschien 1598 das erste Zürcher Gesangbuch.6 Es beruht zu großen Teilen auf dem Konstanzer Repertoire und den Psalmen aus Straßburg. Zugleich aber gab man als Parallel- oder Zusatzedition den Lobwasser-Psalter heraus, der bisweilen auch mit dem gemischten Gesangbuch zusammengebunden wurde. Die Hintergründe dieser Doppelstrategie und auch die konkreten Auswirkungen auf das Singen im Gottesdienst sind leider noch nicht ausreichend erforscht - es bleibt vorläufig die Frage, in welcher Weise und in welchem Zeitraum die Genfer bzw. Lobwasser-Psalmen sich gegenüber dem älteren Repertoire durchgesetzt haben. Spätestens 1636 muß es in Zürich so weit gewesen sein; aus diesem Jahr ist ein Lobwasser-Psalter mit einem Anhang weiterer Lieder (darunter einige „alte", d. h. Straßburger Psalmen) erhalten: Gegenüber 1598 ist die Situation der beiden Repertoires nun also genau umgekehrt. Eigenartig ist die Situation in Bern und in St. Gallen. Dort erscheinen im Jahre 1606 Gesangbücher, die eine Anzahl Lobwasser-Psalmen anbieten, daneben aber auch noch Straßburger Psalmlieder. Nach welchen Kriterien man aus dem einen oder dem andern Psalter schöpfte, ist nicht bekannt, und ich habe bisher auch noch kein plausibles Argument gefunden. Für das Berner Gesangbuch fallt immerhin auf, daß die Tonartenverteilung in dem ausgewählten Genfer Repertoire markant von derjenigen im Gesamtpsalter abweicht: Tonart Dorisch Phrygisch Lydisch Mixolydisch Äolisch Ionisch Total

Genf 1562 (inkl. Mehrfach-Mel.) 54 17 0 27 14 40 152

Anteil in % 35,5 11,2 0 17,8 9,2 26,3

Bern, Auswahl 1606 11 0 0 1 1 9 22

Anteil in % 50,0 0 0 4,5 4,5 41,0

Von den 22 Melodien stehen 11, also genau die Hälfte, in Dorisch (oder Hypodorisch), 9 weitere, d. h. 41%, in Ionisch. Die entsprechenden Anteile im Genfer Repertoire betragen lediglich 35,5% und 26,3% (berechnet auf die Gesamtzahl von 152 Liedern, also einschließlich der mehrfach verwendeten Melodien). Die

Markus Jenny, Geschichte des deutsch-schweizerischen evangelischen Gesangbuches im 16. Jahrhundert, Basel 1962. Hannes Reimann, Die Einführung des Kirchengesanges in der Zürcher Kirche nach der Reformation, Zürich 1959.

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Schweiz

Rangordnung der Tonarten stimmt zwar überein, aber dann fallt die Abweichung auf: Mixolydisch und Äolisch, in Genf mit 17,8 und 9,2% noch deutlich vertreten, kommen in Bern nur mit je einer Melodie vor, und gänzlich vermieden ist das Phrygische, das in Genf immerhin auf 11,2% kommt. Das kann ein Zufall sein; jedoch könnte besonders die Vermeidung von Phrygisch und Mixolydisch darauf hindeuten, daß man bei der Auswahl das sich durchsetzende moderne Tonartenverständnis bevorzugte (Dorisch kann ja oft fast bruchlos vom neuzeitlichen Moll aus gehört werden). Dagegen scheint die Unterscheidung von authentischen und plagalen Tonarten fur eine mögliche tonartbezogene Auswahl keine Rolle gespielt zu haben. Die plagalen Anteile sind mit 47 von 152 und 8 von 22 Liedern durchaus vergleichbar. Eine weitere Vermutung, nämlich die Annahme einer Bevorzugung bestimmter Strophenlängen, bestätigte sich nicht. Diese verteilen sich im Gesamtrepertoire und in der Berner Auswahl nahezu gleich: je ein gutes Drittel 6- und 8-Zeilen-Strophen, der Rest Strophen mit 4, 5, 10 oder 12 Zeilen; im Gesamtrepertoire kommen dazu auch vereinzelt Strophen mit 7 oder 9 Zeilen. Zeilenzahl pro Strophe 4 5 6 7 8 9 10 12

Genf 1562 (inkl. Mehrfach-Mel.) 18 11 52 2 56 1 7 5

Anteil in % 11,8 7,2 34,2 1,3 36,8 0,7 4,6 3,3

Bern, Auswahl 1606 2 2 8 0 8 0 1 1

Anteil in % 9,1 9,1 36,4 0 36,4 0 4,5 4,5

Bemerkenswert ist, daß die Hälfte der 1606 ins Berner Gesangbuch übernommenen Melodien auch heute noch oder wieder im Deutschschweizer Reformierten Gesangbuch steht - deutlich mehr als der auf das Gesamtrepertoire bezogene Anteil. Nicht zu bezweifeln ist, daß das Berner Gesangbuch auf eine bestehende Gesangspraxis zurückverweist. 1603 wurde ein handschriftlicher Foliant vergleichbaren Inhalts für den Vorsänger geschrieben. Wenn Gesangbücher im Verhältnis zum realen Gemeindegesang ganz allgemein jeweils irgendwo auf der Skala zwischen „Spiegeln" und „Steuern" einzuordnen sind, läßt sich hier der Tatbestand des Spiegeins direkt nachweisen. Daß der Wechsel zum Lobwasser-Psalter im allgemeinen schrittweise und mit einer gewissen Übergangszeit vor sich gegangen ist, hat bereits die Doppelausgabe des ersten Zürcher Gesangbuchs 1598 gezeigt, dann die Mischung von Genfer und Straßburger Psalmen in den Ausgaben 1606 in Bern und St. Gallen. Einen weiteren Schritt bedeutet die Berner Ausgabe von 1620, unter einem ähnlichen Titel wie 1606 erschienen, aber mit einer etwas veränderten Auswahl: 5 der vorher enthaltenen Genfer Stücke entfallen, 15 andere kommen dazu, so daß der Bestand von 22 auf 32 steigt. Auch für diese veränderte Auswahl sind die Gründe noch nicht untersucht, möglicherweise spiegelt sich hier wiederum

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Andreas Marti

die Situation des Gemeindegesangs mit seinen sich allmählich verschiebenden Vorlieben (sei es der Singenden, sei es der Pfarrer). Wie schon erwähnt, druckt Zürich 1636 den Lobwasser-Psalter komplett. Es folgt St. Gallen 1646, und aus dem Jahre 1655 ist ein vollständiger Berner Lobwasser-Druck erhalten. Diese Druckjahre darf man allerdings nicht im Sinne eines offiziellen Einführungsdatums überbewerten. Einen Hinweis auf diese Inkongruenz gibt z. B. die Tatsache, daß 1645, also zehn Jahre vor dem Berner Psalter-Druck, ein kompletter Lobwasser-Psalter dem Berner Münster geschenkt wurde. Es handelt sich dabei um ein 1604 in Lieh (Hessen) gedrucktes Prachtexemplar in großem Format, das vielleicht als Präsentationsbuch in der Kirche oder in der Sakristei gedient haben mag, so wie man es von Kanzel- oder Altarbibeln kennt, vielleicht auch als Vorsängerexemplar. 7 Eine besondere Stellung nimmt auch bei der Übernahme des LobwasserPsalters wiederum Basel ein, wie schon bei der sehr frühen Einführung des Gesangs. Die Orgel im Münster war, anders als in Zürich oder Bern, stehen geblieben, und von 1561 an wurde sie im Gottesdienst auch wieder gebraucht. Der Organist Samuel Mareschall veranstaltete 1606 eine Psalterausgabe, bei der er die Goudimel-Sätze durch eigene Sätze ersetzte, und zwar durchgehend mit der Melodie im Diskant - entsprechend dem Prinzip, das Lukas Oslander kurz vorher, nämlich 1586 in seiner Ausgabe Fünfftzig Geistliche Lieder vnd Psalmen8, programmatisch beschrieben hatte.

Psalmen im Gottesdienst Die Verwendung der Psalmen im Gottesdienst richtete sich zunächst offenbar nach der Genfer Praxis, alle Psalmen der Reihe nach durchzusingen, und zwar anhand von Psalmtafeln, welche die Psalmen auf die Gottesdienste am Sonntagmorgen und -abend und am Mittwoch verteilten. Dabei wurden in Basel im Anfang auch noch einige „alte Psalmen" des Straßburger Repertoires einbezogen. Die kursorische Praxis, die Verwendung ohne Rücksicht auf das Kirchenjahr, unterscheidet die Schweizer Kirchen von den deutschen reformierten Gemeinden, in denen die Verteilung durchaus auf das Kirchenjahr Bezug nahm. Diese schematische Verwendung entsprach dem konsequenten Biblizismus der reformierten Orthodoxie. Wenn die Schrift ihr eigener Ausleger ist, kann es ja auch gar nicht dazu kommen, daß zwei Schriftworte nicht zusammenpassen. Erst im 18. Jahrhundert war diese Zufälligkeit dann nicht mehr gefragt, und so findet sich in der Berner Prädikantenordnung von 1748 die ausdrückliche An7

8

Dieser Psalter ist auch ein klimageschichtliches Dokument. Er enthält einen handschriftlichen Eintrag vom 16.1.1645 über einen Sturm, welcher „viel thürme auff der seitten gegen dem Kirchhoff nidergeworffen". Dieser Sturm ist als „Jahrhundertsturm" des 17. Jahrhunderts auch sonst dokumentiert (Auskunft von Prof. Dr. Christian Pfister, Bern). DKL 1586".

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Weisung, die Psalmen Jederzeit nach der verhandlenden Materi" der Predigt gezielt auszuwählen.9 Ebensowenig wie eine spezifische inhaltliche Funktion hatte der Psalmengesang eine präzise liturgische Funktion, wie er beispielweise für Propriumslieder im Rahmen einer Meßordnung vorauszusetzen wäre. Mehr als ein „vor der Predigt" oder „nach der Predigt" wird kaum gesagt, wobei unter Umständen mit „Predigt" pars pro toto auch der ganze Gottesdienst gemeint sein konnte und der Gesang somit vor dem eigentlichen Gottesdienstbeginn während des Zusammenkommens der Gemeinde oder am Ende vor dem Auseinandergehen stattfand. Das Singen zum Zusammenkommen ist ζ. B. aus der Augsburger Kirchenordnung von 1538 bekannt und wurde in Bem 1558 ganz ähnlich beschrieben. Auf das Singen zum Schluß weist ein Zürcher Ratserlaß von 1636 hin, der die Gemeinde ermahnte, die Kirche nicht schon vor dem Psalmengesang zu verlassen. Beides zeigt, daß wir uns über den Gesang der Gemeinde nicht allzu große Illusionen machen dürfen. Zunächst einmal waren es wohl nur die Schüler, die gesungen haben, und erst nach längerer Zeit und vieler Mühe beteiligte sich die Gemeinde am Gesang. Immer wieder finden sich in Ratsprotokollen Belege dafür, daß Leute ermahnt oder bestraft wurden, weil sie sich nicht am Gesang beteiligten oder sich öffentlich negativ über ihn äußerten.

Psalmenspiritualität Trotz der eher unspezifischen liturgischen Verwendung der Psalmen entwickelte sich eine ausgesprochene Psalmenspiritualität. In dem begrenzten Gesangsrepertoire fanden sich Texte für die ganze Breite der christlichen Existenz, und zwar ausdrücklich nicht nur zur Artikulation von Freude und Lob, sondern gerade auch von Leid und Klage. Das ausfuhrliche Vorwort des Zürcher Antistes Johann Jacob Breitinger in den Gesangbuchausgaben des 17. Jahrhunderts legt darauf großes Gewicht, wenn es etwa heißt: „Jedoch und allermeist lauten seine [Davids] Psalmen vast lauter von grossen trübsalen. David redte Psalmen / wann wider ihn zusammen geloffen die König und Fürsten der weit / wann er deijenigen die wider ihn aufgewütscht / können wüssen keine zal" (diese Argumentation setzt sich über eine ganze Druckseite hin fort). Und entgegen der unspezifischen Verwendung im Gottesdienst ordnete man die Psalmen für das persönliche Gebet durchaus präzise bestimmten Situationen zu, wie eine Tafel am Schluß dieses Vorwortes beweist. Sie ist überschrieben mit „Psalmen für gewüsse Ständ und zeiten zugebrauchen". Hier finden sich Psalmnummern zu folgenden Stichworten (man beachte die Reihenfolge): „Der Obrigkeit dienen", „Räthen und Richtern", „Den Untertahnen" und weiteren 17 „Ständen", dann Psalmen zum Katechismus und zum Kirchenjahr, 9

Zit. nach Hans Rentsch, Kirche Köniz, Bem 1978, 13 f.

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zu den Tageszeiten und zu verschiedenen Notsituationen („Wider die Verlümder", „In Hunger und Theure", „In Verfolgung", „In Kriegsgefahren", „In Sterbensläuffen", „In Kranckheiten", „In Todsnöthen", „Bey den Begräbnussen"). Zusammen mit den wenigen „Festliedern" in den Gesangbuchanhängen hat das offensichtlich lange Zeit ausgereicht (erst Pietismus und Aufklärung im 18. Jahrhundert verlangten nach spezifischeren und aktuelleren Texten) - und dies, obwohl man sich durchaus des großen historischen Abstandes und der daraus resultierenden hermeneutischen Schwierigkeit bewußt war. In der vom St. Galler Kaufmann Bartholomé Gonzenbach 1659 veranstalteten Gesangbuchausgabe 10 ist zu lesen, daß die Psalmen freilich „nicht auf unsere Zeiten gerichtet", aber Teil der Schrift und damit zur Trost bringenden Lehre zu rechnen seien.

Mehrstimmigkeit Eine bekannte Besonderheit des Schweizer Kirchengesangs ist die Mehrstimmigkeit. Es ist aber sicher nicht davon auszugehen, daß sie im 17. Jahrhundert allgemein verbreitete Praxis war, auch wenn bereits mehrstimmige Ausgaben erschienen. Die älteste haben wir schon erwähnt: Samuel Mareschalls Sätze von 1606 mit der Melodie im Diskant - die nachmals so verbreiteten GoudimelSätze standen also gerade nicht am Anfang. In der Literatur wird eine allerdings nicht mehr nachweisbare vierstimmige Zürcher Ausgabe von 1636 erwähnt, die wohl auf einer Ausgabe aus Herborn beruht.11 Schaffhausen verwendete zuerst die für die Berliner Ausgabe von 1658 geschaffenen Sätze Johann Crügers, dann ebenfalls die Goudimels. In Bern erschien ab 1676 das vom Stadtzinkenisten Johann Ulrich Sultzberger redigierte Transponierte Psalmenbuch, bei dem auch noch die bei Goudimel im Diskant gelegenen Melodien der Einheitlichkeit wegen in den Tenor verlegt wurden. Von 1677 an enthielten die Berner Gesangbücher eine regelrechte Singschule, die den Gemeindegliedern das Notenlesen und das sichere Treffen der Intervalle beibringen wollte. Dies dokumentiert das Bemühen um einen solide fundierten Gemeindegesang. Von Musikfeindlichkeit, wie sie der reformierten Kirche oft unterstellt wird, kann angesichts solcher Anstrengungen sicher nicht die Rede sein. Gemeindegesang ist eben kein Naturereignis, und zu den Maßnahmen, ihn in der Gemeinde heimisch zu machen, gehörte auch der Einsatz von Vorsängern,

10

11

Vgl. Markus Jenny, Die beiden bedeutendsten deutschschweizerischen Kirchengesangbücher des 17. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 1 (1955), 63-71. Edwin Nievergelt, Die Tonsätze der deutschschweizerischen reformierten Kirchengesangbücher im 17. Jahrhundert, Zürich 1944, 23f.

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Vorsängergrappen und Bläserensembles, letzteres vor allem im Gebiet der Republik Bern und in dem dazugehörigen französisch sprechenden Waadtland. So hielt die Mehrstimmigkeit auch in unmittelbarer Nachbarschaft Genfs Einzug, in genuin calvinistischem Gebiet, ohne daß dies ein grundsätzliches Problem bedeutet hätte. Die Einführung der Orgel - im Gebiet Berns ab der Mitte des 18. Jahrhunderts, in Zürich vom 19. Jahrhundert an - diente ebenfalls vorrangig der Verbesserung des Gemeindegesangs. Orgel und Bläsergruppen bestanden noch lange Zeit nebeneinander. Das Bergdorf Adelboden ersetzte die Bläser, die sogenannten „Kirchenposuner", erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Orgel.' 2

Die Rätoromanen Das kleine rätoromanische Sprachgebiet in Graubünden, im speziellen das reformierte Engadin, bildet einen interessanten hymnologischen Sonderfall. 13 In Gesangbuchfragen Schloß man sich seit der Reformation im wesentlichen an Zürich bzw. an die in Zürich gedruckten Gesangbücher an, so zuerst in der von Pfarrer Duri Champell 1562 besorgten rätoromanischen Fassung des Konstanzer Gesangbuchs. Die erste romanische Fassung des Genfer Psalters, basierend auf dem Lobwasser-Text, erschien 1661. Übersetzer war der Engadiner Jurist Lurainz Wietzel. Das schon erwähnte Gonzenbachsche Gesangbuch (gedruckt in Basel 1669) war, wie ein Exemplar mit romanischem Besitzervermerk beweist, im Engadin in Gebrauch: Seine Besonderheit ist, daß es die Sätze von Claude Le Jeune enthält, und vieles läßt darauf schließen, daß diese Sätze tatsächlich in der Kirche gesungen wurden. Eine strenge Gemeindeordnung stellte sicher, daß sich die Gemeindemitglieder mit ausreichender Intensität am Gesang beteiligten - Voraussetzung für ein solches Unternehmen. Aus jedem Haus mußte immer mindestens eine Person im Chor mitsingen. 1733 wurden dann die Le-JeuneSätze mit den romanischen Texten Wietzels gedruckt, 1766 kamen die Goudimel-Sätze hinzu. Das Erstaunlichste ist aber, daß die polyphonen Psalmsätze von Jan Pieterszoon Sweelinck im Engadin gesungen wurden, und zwar ab 1741 im Zuozer Kirchenchor, der wohl einen ansehnlichen Teil der Bevölkerung des Bergdorfs umfaßt haben dürfte.

12

13

Jakob Pieren, Die Kirchenposuner im alten Adelboden, in: Musik und Gottesdienst 49 (1995), 190-201. Markus Jenny, Der Engadiner Kirchengesang im 17. und 18. Jahrhundert - ein kulturhistorisches Unikum, in: Bündner Monatsblatt 84 (1992), 375-388, und in: Ars et musica in liturgia. Celebratory volume presented to Casper Honders on the occasion of his seventieth birthday, hg. v. Frans Brouwer / Robin A. Leaver, Utrecht 1993 / Metuchen (N.J.) 1994, 64-81.

368

Andreas Marti

Aspekte der späteren Entwicklung Im 18. Jahrhundert kam, wie anderswo auch, Kritik am Lobwasser-Psalter auf. Sie betraf zunächst einmal die sprachlich und poetisch veraltete Textfassung Lobwassers. Dies führte zu neuen Psalmbereimungen auf die Genfer Melodien, und zwar 1743 in Basel und 1775 in Bern, während sich eine Zürcher Neufassung nicht offiziell durchsetzen konnte. Grundsätzlichere Kritik an der Ausschließlichkeit der Psalmtexte und dem Verzicht auf zeitgenössische Dichtung, dazu die Isoliertheit der musikalischen Praxis des gottesdienstlichen Psalmengesangs gegenüber der aktuellen musikalischen Umwelt führte zur weitgehenden Entfernung des Psalters aus den Kantonalgesangbüchern des 19. Jahrhunderts. Gut möglich erscheint auch, daß der Psalter damals geradezu als Symbol der alten Zeit und ihrer autoritären staatlichen und kirchlichen Obrigkeit empfunden wurde. Seine sprachliche und stilistische Fremdheit und seine musikalische Unzeitgemäßheit verbanden ihn für viele negativ mit diesem „ancien régime".14 Bern nimmt dabei eine Sonderstellung ein: Nach langen Diskussionen blieb etwa die Hälfte der Psalmen im Berner Gesangbuch von 1853 stehen, und zwar nach reformierter Tradition als ein das Gesangbuch eröffnender Psalmenteil. Das Gesangbuch von 1891, das eigentlich für die ganze deutschsprachige Schweiz hätte gelten sollen, aber nicht von allen Kantonalkirchen eingeführt wurde, enthielt keinen Psalmenteil mehr und nur noch wenige Psalmlieder, auf die einzelnen Rubriken verteilt. Im Gesangbuch von 1952 stand wieder ein schmaler Psalmenteil mit einem aus Genfer und Psalmliedern anderer Provenienz gemischten Bestand. Ebenfalls gemischt, aber wesentlich umfangreicher ist jetzt der Psalmenteil im aktuellen Reformierten Gesangbuch von 1998, der unter seinen etwa 100 Nummern Kanons und singbare Einzelverse Inbegriffen - wieder drei Dutzend Genfer Psalmlieder enthält. Damit ist die Verbindung mit der Tradition neu geknüpft, allerdings in differenzierter, auf die Verwendung in den Gemeinden gerichteter Weise.

Schluß Ich schließe mit dem Hinweis auf einige Desiderate für die weitere Arbeit auf dem Gebiet der Schweizer Psalterrezeption und des Schweizer Gemeindegesangs überhaupt:

14

Vgl. dazu Andreas Marti, Verordnet oder aus dem Volk? Kirchengesang zwischen Herrschaftsinstrument und Mittel der Emanzipation, in: Musik und Gottesdienst 48 (1994), 6 16.

Die Rezeption des Genfer Psalters in der deutschsprachigen Schweiz

369

a) Die Forschungsgrundlagen müssen durch weitere Detailstudien verbessert werden. Es ist zu vermuten, daß auf lokalhistorischer Ebene, also in Kirchenbüchern und Ratsprotokollen, noch viel Material zu finden ist. In weiterer Zukunft könnte daraus eine kohärente Darstellung der Gottesdienstgeschichte unserer Kirchen entstehen. b) Die gewohnte Einordnung der Schweizer Reformierten unter der Rubrik „Musikfeindliche Tendenzen in der Kirchengeschichte" muß gründlich revidiert werden, und zwar im Hinblick auf die gezielten und wohlüberlegten Maßnahmen zur Einführung des Gesangs und dann auch zu seiner Stützung, Förderung und Verbesserung. c) Es muß eine liturgietheologische Neubewertung des Psalmengesangs erfolgen, und zwar hinsichtlich seines sowohl inhaltlich wie funktional eher unspezifischen Einsatzes im Gottesdienst. Es könnte sein, daß die Liturgik syntagmatische Aspekte gottesdienstlicher Elemente und Abläufe überbewertet. Aus neuerer Zeit - ich denke unter anderem an den Gesang in Taizé - gibt es genügend Beispiele von ähnlich schwacher Syntagmatik, wo der Gesang trotzdem wichtige Funktionen erfüllt, bloß auf anderer Ebene, nämlich in der Konstituierung des gottesdienstlichen Raumes, in der Gestaltung der Zeit, als Manifestation der Gemeinde in der Dialektik von Individuum und Kollektiv. Die Gottesdienstgeschichte der Schweizer Reformierten wäre dann nicht länger als Defizienzgeschichte, sondern als Modell einer gottesdienstlichen Konzeption zu schreiben, die nach wie vor ihre Aktualität und Berechtigung neben anderen hat.

Alfred

Ehrensperger

Die liturgische Rezeption des Lobwasser-Psalters in der Zürcher Kirche im 17. und 18. Jahrhundert

1.

Themenschwerpunkte und Quellen

1.1. Zum Forschungsstand

über die Anfänge

des Kirchengesanges

in

Zürich

Bekanntlich hat die Zürcher Kirche seit der Reformation Zwingiis bis fast z u m Ende des 16. Jahrhunderts in den öffentlichen Gottesdiensten keinen Gesang eingeführt. Mit A u s n a h m e einiger Orte w i e Winterthur oder Seuzach ZH, w o einzelne Pfarrer mit der G e m e i n d e gottesdienstliche Lieder sangen, ohne daß die Obrigkeit oder der Zürcher Antistes 1 dies verbot, gab es in den vier Stadtkirchen Großmünster, Fraumünster, St. Peter und Predigern während der folgenden Jahrzehnte unter den Antisten Heinrich Bullinger, R u d o l f Gwalther und Ludwig Lavater keinerlei Gesang in den zürcherischen Gottesdiensten. 2 Erst 1598 wurde in der Zürcher Kirche das erste o f f i z i e l l e Gesangbuch v o n Raphael Egli herausgegeben. Es enthält ein in den damaligen reformierten Kirchen der deutschsprachigen S c h w e i z verhältnismäßig einheitliches Liedgut aus d e m Bestand der Straßburger und Konstanzer Lieder. 3 Gleichzeitig regte ein v o m Zürcher Rat

1

2

3

Antistes heißt seit Heinrich Bullinger der primus inter pares innerhalb der Pfarrerschaft, der mit theologischen oder gewissen kirchenrechtlichen Vollmachten ausgestattet war und z. B. in den Städten Basel, Zürich oder Schaffhausen eine Aufsichts- und eine zwischen weltlicher Obrigkeit und der Pfarrerschaft vermittelnde Funktion innehatte und in der Regel an der Hauptkirche amtierte. Den Griinden hierfür nachzugehen, ist hier nicht der Ort; vgl. dazu Hannes Reimann, Die Einführung des Kirchengesanges in der Zürcher Kirche nach der Reformation, Zürich 1959; Markus Jenny, Zwingiis Stellung zur Musik im Gottesdienst, Zürich 1967; Oskar Soehngen, Zwingiis Stellung zur Musik im Gottesdienst. Zur heutigen Diskussion mit M. Jenny, in: ders., Musica sacra, Göttingen 1979, 31, 46; Alfred Ehrensperger, Die Stellung Zwingiis und der nachreformatorischen Zürcher Kirche zum Kirchengesang und zur Kirchenmusik, in: Musik in der evangelisch-reformierten Kirche. Eine Standortbestimmung, Zürich 1989, 15—44; Ulrich Knellwolf, Die Musik im reformierten Gemeindegottesdienst, in: Musik in der evangelisch-reformierten Kirche. Eine Standortbestimmung, Zürich 1989, 45-86; Gerhard Aeschbacher, Zwingli und die Musik im Gottesdienst, in: Reformiertes Erbe. Festschrift für Gottfried W. Locher, Bd. 1, Zürich 1992, 1-11; Markus Jenny, Reformierte Kirchenmusik? Zwingli, Bullinger und die Folgen, in: Reformiertes Erbe. Festschrift für Gottfried W. Locher, Bd. 1, Zürich 1992, 187-205. Zum älteren Bestand an Psalmliedem und Gesangbüchern der reformierten Schweiz vor 1598: Alfred Ehrensperger, Bemerkungen zur Rezeption des Lobwasser-Psalters im Got-

372

Alfred Ehrensperger

genehmigter Antrag einer Zürcher Kommission an, diesem ersten Gesangbuch die 150 Lobwasser-Psalmen beizudrucken. Außer dem von Egli herausgegebenen Gesangbuch, das bereits 1599 in einem zweiten Zürcher Druck und wiederum ohne den Lobwasser-Psalter erschien, ist aus dieser Zeit kein separates, nur den Lobwasser-Psalter enthaltendes Zürcher Gesangbuch bekannt. Es scheint also wahrscheinlich zu sein, daß die Genfer Psalmensammlung nicht für sich erschien, sondern von Anfang an mit dem offiziellen Gesangbuch von Egli zusammengebunden wurde. Ein Exemplar dieses Doppelbandes mit je eigenem Titelblatt befindet sich noch in der Bibliothèque publique et universitaire in Neuchâtel.4 Eglis Name fehlt noch im ersten Titelblatt, ist aber in der zweiten Ausgabe von 1599 ausdrücklich vermerkt.5 Egli scheint vor allem eine Straffung und neue Anordnung des Liederbestandes vorgenommen zu haben, zum Beispiel nach den Psalmen die Vorordnung der Festlieder vor die Katechismuslieder. Auffallend ist in Eglis Gesangbuch auch eine gewisse Betonung der Lutherlieder.6

1.2. Schwerpunkte der Forschung über den

Lobwasser-Psalter

Vor dem Hintergrund einer ohnehin gravierenden Forschungslücke im Hinblick auf die reformierte Gottesdienstgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts in den deutschsprachigen Kirchen und eines verbreiteten Vorurteils, dem reformierten Predigtgottesdienst fehle ein liturgisches Bewußtsein und eine entsprechende Gesangspraxis, muß auch die gottesdienstliche Rezeption des LobwasserPsalters, der immerhin zwischen 1598 und der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-

4

5

6

tesdienst der reformierten Zürcher Kirche, in: Peter Emst Bernoulli / Frieder Furier (Hg.), Der Genfer Psalter. Eine Entdeckungsreise, Zürich 2001, 107-123, hier 119. Die dortige Signatur ZQ 683 Α-B, die Information über die je eigene Paginierung und die jeweiligen Überschriften der beiden Gesangbuchteile verdanke ich der freundlichen Abklärung und Mitteilung von Herrn Prof. Dr. Bruno Buerki in Neuchâtel. Der Titel des ersten Teils lautet: „Kirchengesang Der gemeinen und gebreüchlichen Psalmen / Festgesangen / und Geistlichen Liederen / nach der Teütschen Melodey / für die Kirchen Zürych zusamen getruckt". Der Titel des zweiten Teils lautet: „Psalmen Davids / Nach Frantzösischer Melodey unnd Reymen art / in Teütsche reymen verständtlich und deütlich gebracht / Durch Ambrosium Lobwasser / D". Beide Teile sind „Getruckt zu Zürych / bey Johanns Wolffen" 1598; beide Titelblätter sind abgebildet bei Reimann, Einfuhrung (s. Anm. 2), als Zwischenblatt zwischen 80 und 81. Der Titel lautet gleich wie deqenige in der Erstausgabe von 1598, wird aber im Gesangbuch von 1599 ergänzt durch die Worte: „An den Christlichen Leser / Raphael Egli / Diener der Kirchen zu Zürych". Die anfanglich angenommene Verfasserschaft Eglis, die von Reimann, Einfuhrung (s. Anm. 2), 98f., in Frage gestellt worden war, hat Markus Jenny, Das erste offizielle Zürcher Gesangbuch von 1598, in: Jahrbuch fur Liturgik und Hymnologie 7 (1962), 123-133, mit guten Argumenten erhärtet. Winfried Zeller, Raphael Egli und das Gesangbuch des Landgrafen Moritz, in: Beiträge zur Geschichte der evangelischen Kirchenmusik und Hymnologie in Kurhessen und Waldeck, hg. vom Landesverband der evangelischen Kirchenchöre, Basel/Paris/London 1969, 49-58, hier 57.

Die liturgische Rezeption des Lobwasser-Psalters in der Zürcher Kirche

373

derts die gottesdienstliche Gesangskultur der deutschsprachigen Schweiz beherrschte, beachtet werden. Bisherige Untersuchungen über den LobwasserPsalter in der Deutschschweiz befaßten sich vor allem mit den folgenden Themenbereichen: 1. mit dem Vergleich zwischen dem ab 1636 in Zürich verwendeten vierstimmigen Lobwasser-Psalter und den entsprechenden Genfer Melodien bzw. mit den ab 1565 vorhandenen Goudimel-Sätzen;7 2. mit der Textentwicklung und verschiedenen Textverbesserungen, welche im Laufe der Zeit am Lobwasser-Psalter vorgenommen wurden;8 3. mit bibliophilen und inhaltlichen Betrachtungen verschiedener Ausgaben des Lobwasser-Psalters im 17. Jahrhundert9 in verschiedenen Ländern deutscher Sprache; 4. mit Tonsätzen und dem Gesichtspunkt der Melodieanalyse10 oder 5. mit der allgemeinen Verbreitung des Lobwasser-Psalters.11 Nur wenig beachtet worden ist bis jetzt die Frage, was für eine Bedeutung das Psalmensingen, insbesondere der Lobwasser-Psalter, in den zürcherischen Gemeindegottesdiensten des 17. und 18. Jahrhunderts tatsächlich gehabt hat. Wie ist er liturgietheologisch begründet und verstanden worden? Was für eine liturgische Funktion und Stellung hatten die einzelnen Psalmen, und wie wurden die zahlreich vorhandenen, sehr verschiedenartigen Gesangbuchausgaben, die den Lobwasser-Psalter in der Regel vollständig enthielten, auch praktisch benutzt? Die Zürcher Gottesdienstgeschichte ist für den Zeitraum zwischen Heinrich Bullinger und den Anfängen des 19. Jahrhunderts bisher noch nicht aufgearbeitet worden, so daß wir fast ausschließlich auf direkte Quellen angewiesen sind.

7

8

9

10

11

Dieter Gutknecht, Vergleichende Betrachtung des Goudimel-Psalters mit dem LobwasserPsalter, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 15 (1970), 132-139. Gerhard Schuhmacher, Der beliebte, kritisierte und verbesserte Lobwasserpsalter, in: Jahrbuch fiir Liturgik und Hymnologie 12 (1967), 70-88. Markus Jenny, Geschichte des deutschschweizerischen evangelischen Gesangbuches im 16. Jahrhundert, Basel 1962. Eine Zusammenstellung der Lobwasser-Ausgaben im 17. Jahrhundert findet sich bei Andreas Marti, Der Genfer Psalter in den deutschsprachigen Ländern im 16. und 17. Jahrhundert, in: Zwingliana 28 (2001), 45-72, Anhang 65-72; ferner einzelne Beiträge im Sammelband Bernoulli/Furler (Hg.), Genfer Psalter (s. Anm. 3). Edwin Nievergelt, Die Tonsätze der deutschschweizerischen reformierten Kirchengesangbücher im 17. Jahrhundert, Zürich 1944; Andreas Marti, Aspekte einer hymnologischen Melodieanalyse, in: Jahrbuch fiir Liturgik und Hymnologie 40 (2001), 147-173; ders., Metrische, prosodische und melodische Organisation im Psalm 105 aus dem Genfer Psalter, in: Bernoulli/Furler (Hg.), Genfer Psalter (s. Anm. 3), 143-152; Edith Weber, Die Melodisten des Genfer Psalters: Franc, Bourgeois, Davantès, in: Bernoulli/Furler (Hg.), Genfer Psalter (s. Anm. 3), 17-22; Robert Weeda, Die Rezeption des Genfer Psalters im 16. Jahrhundert, in: Bernoulli/Furler (Hg.), Genfer Psalter (s. Anm. 3), 43-56. Walter Blankenburg, Zur Verbreitung des Genfer Liedpsalters in Mitteleuropa in den ersten Jahrzehnten nach seiner Fertigstellung, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 9 (1964), 159-162.

374 1.3. Zum

Alfred Ehremperger

Quellenmaterial

Zu dem hier ausgewerteten Quellenmaterial ist festzuhalten: 1. Aus der Sammlung von Gesangbüchern zwischen 1598 und etwa 1820 in der Zürcher Zentralbibliothek wurden 56 in Ausstattung, Format und Aufbau verschiedene Exemplare, die den Genfer Psalter enthalten, untersucht (31 weitere Ausgaben zeigen keine speziellen Merkmale für unseren Themenbereich oder sind Dubletten, die darum nicht ausgewertet wurden). 2. Die vorhandenen Kirchenbücher (Agenden) für die Stadt und Landschaft Zürich bieten für unseren Zeitrahmen kaum Aussagen über den gottesdienstlichen Gesang.'2 3. Verstreute Einzelnotizen über die Praxis des gottesdienstlichen Gesanges müssen in ihrem Kontext gewürdigt werden. 4. Ein Forschungsdesiderat bleibt vorläufig die Auswertung von Rats- und Synodalprotokollen, Visitationsberichten in Stadt und Landgemeinden, Darstellungen aus dem Wirken der Collegia Musica13 oder Angaben aus der Briefliteratur. 5. Die in kirchengeschichtlichen Werken des 18. bis 20. Jahrhunderts häufigen anekdotenhaften und verstreuten Notizen zum gottesdienstlichen Gesang, insbesondere zur Bedeutung des Lobwasser-Psalters, sind bis in die Zeit Johann Caspar Lavaters mangelhaft dokumentiert.

1.4. Schwierigkeiten bei der Ermittlung der liturgischen

Rezeption

Wie der Lobwasser-Psalter in Zürich und auch in anderen reformierten Gegenden der Deutschschweiz liturgische Verwendung fand, ist aus folgenden Gründen nicht leicht zu ermitteln: 1. Die Druckorte der verschiedenen Gesangbuchausgaben decken sich oft nicht mit ihrem Wirkungs- und Benutzungsbereich. 2. In den meisten Fällen enthalten die Gesangbücher nebst dem stets in sich geschlossenen Lobwasser-Psalter (150 Psalmen) noch einen mehr oder weniger umfangreichen Teil anderer Lieder, wie zum Beispiel ältere Psalmenübertragungen, Luther- und Festtagslieder, biblische Cantica, Gesänge für Kasualien, Glaubens- und Trostlieder, eventuell für den häuslichen Gebrauch, Katechis-

12

13

Eine Ausnahme mit interessanten Hinweisen bildet das Werk des seinerzeitigen Antistes Ludwig Lavater, De ritibus et institutis ecclesiae Tigurinae, Zürich 1559, in 2. Aufl. 1567; erneut herausgegeben und ergänzt durch Johann Baptist Ott, Zürich 1702. Die beiden Textteile, in denen sich Ott nach dem Aufbau des Lavater-Textes richtet und dessen Informationen für die Zwischenzeit von etwa 140 Jahren ergänzt, sind übersetzt und erläutert worden in einer Gesamtausgabe durch Gottfried Albert Keller: Die Gebräuche und Einrichtungen der Zürcher Kirche, Zürich 1987. In diesem Neudruck ist der Lavater-Text, der ja noch in die Zeit vor der Einfuhrung des Kirchengesanges fallt, in deutscher Übersetzung und gewöhnlicher Schrift gedruckt, während die Ergänzungen von Ott in kursiver Schrift, ebenfalls deutsch, wiedergegeben werden. Dazu immer noch instruktiv Karl Nef, Die Collegia Musica in der deutschen reformierten Schweiz von ihrer Entstehung bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, St. Gallen 1897, ND Wiesbaden/Leipzig 1973.

Die liturgische Rezeption des Lobwasser-Psalters in der Zürcher Kirche

375

muslieder und liturgisches Textgut für verschiedene Gelegenheiten. Bei manchen, insbesondere den Katechismusliedern, sind nur die Texte abgedruckt, und am Anfang steht ein Hinweis auf die entsprechende Melodie im LobwasserPsalter. 3. Ein ausschließlich die 150 Lobwasser-Psalmen enthaltendes Gesangbuch ist äußerst selten und gibt keinerlei Hinweise auf einen liturgischen Gebrauch. Bereits die erste, 1598 in Zürich erschienene Lobwasser-Sammlung, wurde mit dem Gesangbuch von Egli zusammengebunden. 4. Im selben Buch sind öfters einzelne Liedergruppen oder Liturgietexte dergestalt mit dem Lobwasser-Psalter zusammengebunden worden, daß Druckjahre und -orte voneinander abweichen, wie aus den jeweiligen Titelblättern ersichtlich ist. Aus den vorliegenden Sammelausgaben läßt sich kaum noch ermitteln, ob die einzelnen Gesangbuchteile vielleicht einmal selbständig oder in solchen Kombinationen verwendet wurden. 5. Die äußere Gestaltung, das Format, der Text- und Notendruck und der Aufbau der Gesangbücher, die den Lobwasser-Psalter enthalten, weichen stark voneinander ab. Auch wenn in der Anordnung des Liedgutes häufig ähnliche Strukturen vorkommen, läßt sich eine eigentliche Gesangbuchentwicklung fur Zürich im 17. und 18. Jahrhundert nicht feststellen. 6. In fast allen von uns untersuchten Gesangbüchern ist der LobwasserPsalter vierstimmig in den damals gebräuchlichen, getrennten Stimmen mit Textunterlegung der jeweils ersten Strophe gesetzt. Die folgenden, an Zahl sehr unterschiedlichen Strophen eines Psalmes enthalten nur noch den Text. Einige Psalterdrucke enthalten nur die Melodie, gelegentlich auch mit unterlegtem Baß. 7. In einer Zeit, in der die Mehrheit der Bevölkerung noch nicht lesen und schreiben konnte, lernte man die Gesänge durch das wiederholte Singen. Der aktive Gebrauch der gedruckten Gesangbücher war beschränkt auf den Kreis der Pfarrer, Gelehrten, Vorsänger, Schulmeister und auf die von 1600 an immer zahlreicher aufkommenden Singgemeinschaften (Collegia Musica).14

14

Die Gründung des Winterthurer Musikkollegiums 1629 beruhte auf einer solchen Singgemeinschaft, die sich aus dem Stifterkreis von sechs Herren bildete und jeweils auf dem Lettner der Stadtkirche die Gemeinde zum Mitsingen anführte. Über die Entwicklung dieses Kollegiums und die dortige Praxis auch des Psalmensingens berichtet Nef, Collegia Musica (s. Anm. 13), 136-138; ferner Rudolf Hunziker, Zur Musikgeschichte Winterthurs, Winterthur 1909, 5.

376

Alfred Ehrensperger

2. Beobachtungen zur Zürcher Lobwasser-Rezeption 2.1. Zögernde

Anfangspraxis

Im ersten, den Lobwasser-Psalter enthaltenden Zürcher Gesangbuch von 1598 waren die 150 Psalmen noch einstimmig gesetzt; in der Ausgabe von 1636 dann vierstimmig.15 Dieses Gesangbuch enthält eine Vorrede, aus der man spürt, daß die Ablösung der alten, bisher gesungenen Psalmen durch den LobwasserPsalter kein selbstverständlicher Vorgang war. In Schulen und Kirchen bestünde noch eine große Unsicherheit über die Verwendung der einzelnen Psalmen, heißt es da. Eine klar ersichtliche Zuteilung der 150 verschieden langen Psalmstrophen für die einzelnen Sonn- und Wochentage fehle, und das Üben zu Hause sei ohnehin schwierig. Von den langen Psalmen, heißt es in dieser Vorrede, würden jeweils nur die vordersten „Stücke"16 gesungen, und im folgenden Gottesdienst beginne man wieder mit einem neuen Psalm. Das Singen der Lobwasser-Psalmen erstreckte sich auf die üblichen Gottesdienste am Sonntagmorgen, am Zinstag (Dienstag), Samstagabend und Sonntagnachmittag. Nur am Sonntagabend sang man die alten, traditionellen Psalmlieder samt anderen geistlichen Gesängen. Eine solche Häufigkeit von Gottesdiensten war damals üblich und, außer den sonntäglichen Predigt- und den Festtagsgottesdiensten, vor allem bestimmt für die Jugend und das Dienstpersonal. Wichtig war offenbar auch die Reihenfolge des Psalmensingens, etwa analog der am 1. Januar 1519 von Zwingli eingeführten lectio continua.17 Wo man in der „Predigt"18 mit einem Psalm aufgehört hatte, folgte am kommenden Sonntag der nächste Psalm. Da ja das Psalmensingen durch die Schüler in den Zürcher Kirchen keine eigentliche liturgische Funktion hatte, sondern vor dem Beginn und nach dem Ende der Feier erfolgte, brauchte der betreffende Psalm auch keinen Bezug zur jeweiligen Predigt zu haben.

2.2. Biblische und liturgische Bezüge Während des ganzen 17. und teilweise noch im 18. Jahrhundert spielte in der Zürcher Kirche die Zuteilung der Gesänge zu Kirchenjahranlässen eine eher geringe und das Psalmensingen überhaupt keine Rolle. Von großer Bedeutung war aber bei den reformierten Kirchen die immer wieder erwähnte Absicht, möglichst bibelgetreue Gesänge singen zu können, und dafür war der Lobwas-

15 16 17 18

Exemplar der Zentralbibliothek in Zürich unter Signatur: ΠΙ.Β.179. Ein immer wiederkehrender Begriff für „Strophen". Das heißt eine fortlaufende Auslegung biblischer Bücher von Sonntag zu Sonntag. Dieser Ausdruck bezieht sich auf den ganzen Predigtgottesdienst in allen seinen liturgischen Teilen. Heute noch geht man in unseren Gegenden „z'Predig", wenn man einen Gottesdienst besuchen will.

Die liturgische Rezeption des Lobwasser-Psalters in der Zürcher Kirche

377

ser-Psalter wie geschaffen. Seine sich über 200 Jahre erstreckende Gebrauchsgeschichte stärkte das Bewußtsein einer reformierten Identität.

2.3. Singen von Lobwasser-Psalmen

bei

Abendmahlsfeiern

Bereits 1612 erschien in Zürich ein Gesangbuch mit dem Titel: Psalmen un [!] geistliche Lieder flir die Kirchen der Statt und Landtschafft Ziirych sampt etlichen ausserlesenen Psalmen durch H. Ambrosium Lobwasser nach Französischer melodey gestelt.19 Dieses Buch enthält keine Melodien, nur Strophentexte, aber ausdrücklich diejenigen des Lobwasser-Psalters. Interessant ist hier die Vorrede, welche angesichts der späten Einführung des Kirchengesanges in Zürich betont: „Diejenigen Kirchen, die den Gesang unterlassen haben, sollen deswegen nicht gescholten werden". 20 Besonders interessant ist aber in dieser Vorrede von 1612 die Bemerkung, daß neben dem gewohnten Kirchengesang auch das Psalmensingen in den „Agapen, den gemeynen Kirchenmahlzeyten", als ein „Zeichen brüderlicher Liebe" und offenbar schon als ein fester Brauch gepflegt werde. Unter den damaligen Umständen kann man annehmen, daß, wie in den übrigen Gottesdiensten, Schüler diese Psalmen (auswendig?) gesungen haben, da die Gemeinde so kurz nach Einführung des Kirchengesanges darin sicher noch keine Übung hatte. Ob die im ersten Gesangbuch von Egli enthaltenen Festlieder an den vier traditionellen Abendmahlsfeiern gesungen worden sind, läßt sich nicht mehr ermitteln. Die bis 1794 in Stadt und Landschaft Zürich gebräuchliche, textlich immer gleichlautende und auf Zwingli selber zurückgehende Abendmahlsliturgie zeigte bis dahin keine Spur einer liturgischen Funktion von Gesängen. 21 Wie in allen zürcherischen Gottesdiensten des 17. Jahrhunderts hatten auch bei den „Agapen" 22 die Psalmen vor dem Beginn des eigentlichen Gottesdienstes die Funktion einer Einstimmung der Gemeinde und nach Beendigung diejenige einer Entlassung, wobei mehrfach bezeugt wird, daß besonders die Frauen schon vor diesem Schlußgesang die Kirche verlassen hätten. Das heutige Einläuten und Ausläuten mit den Kirchenglocken hat eine ähnliche Bedeutung.

19 20

21

22

Signatur des Exemplars in der Zentralbibliothek Zürich: AB 984. Psalmen und geistliche Lieder (s. Anm. 19), unpaginierte Vorrede. Dieser Text erinnert an eine entsprechende Äußerung im Konstanzer Nüw gsangbiichle, Ausgabe 1540, Anfang der Vorrede (Faksimiledruck Zürich 1946). „Action oder bruch des nachtmals, gedechtnus oder dancksagung Christi, wie sy uffosteren zu Zürich angehebt wirt, im Jar 1525", in: Irmgard Pähl (Hg.), Coena Domini, Bd. 1: Die Abendmahlsliturgie der Reformationskirchen im 16./17. Jahrhundert, Freiburg/CH 1983, 182-185 und 189-198. Das war damals in Zürich der geläufige Ausdruck für „Abendmahl".

378 2.4. Zum Aufbau der Zürcher

Alfred Ehrensperger

Gesangbücher

Schon früh kann man bei den verschiedenen, oft von einem neuen Titelblatt angekündigten Liedergruppen einen häufig gleichen Aufbau feststellen, der dem biblischen Konzept in der Aufzählung von Psalmen, Hymnen und weiteren Gesängen (Oden) in Kol 3, 16 und Eph 5, 19 entspricht: Zuerst kommt der ganze Lobwasser-Psalter, dann die als „Hymni" bezeichneten Festgesänge zu den Feiertagen des Kirchenjahres und schließlich die übrigen Gesänge.23 Diese haben oft gar keine eigene Melodie, sondern sind in der Regel auf eine der ausdrücklich angegebenen Psalmmelodien gesungen worden. Zahlreiche Gesangbuchausgaben enthalten zudem einen kleineren oder größeren Bestand an liturgischen Texten zu verschiedenen Gelegenheiten: etwa Vorbereitungsgebete zum Abendmahl, Gebete für die Tagzeiten und sogar den ganzen Text der auf Zwingli zurückgehenden Abendmahlsfeier.24 Auch das gesamte Neue Testament nach der Übersetzung Luthers, oder der sog. „Kleine Psalter", der auf eine Übersetzung aus dem Hebräischen durch den früheren Zürcher Antistes Gwalther zurückgeht, ist einigen Gesangbuchausgaben beigedruckt. Solche im 17. und 18. Jahrhundert häufig zusammengebundenen Gottesdienstbücher mit ihren ganz verschiedenartigen Teilen, sicher auch zu verschiedenartiger Verwendung bestimmt, erinnern an das Common Prayer Book der englischen Kirche, das als eigentliches Kompendium und Handbuch der Glaubenspraxis verstanden worden ist. Dergestalt machen die von uns untersuchten Zürcher Gesangbücher, in denen der Lobwasser-Psalter als ein Teil unter vielen anderen eingebunden ist, den Eindruck einer Art Volkskatechismus, der sicher über den Gottesdienst hinaus eine breitere Wirkung und einen vielseitigen Anwendungszweck hatte. Nicht zufallig sind in einzelnen Ausgaben auch katechismusartige Teile enthalten, die sich gemäß Vorwort vornehmlich an die Jugend richten, sowie katechismusartig gestaltete Einfuhrungen fur das Lesen der Noten und die Singpraxis, wohl für den Vorsänger gedacht.

23

24

Etwa Glaubenslieder, besonders zum Credo, dem Vaterunser und den Zehn Geboten, dann Kasual- und Katechismuslieder und schließlich Gesänge, die mehr der persönlichen Erbauung dienen. Die älteren, nicht Lobwasserschen Einzelpsalmen werden den anderen Liedgruppen zugeordnet, während biblische Cantica {Magnificat, Lobgesang des Zacharias oder des Simeon) meist direkt der geschlossenen Lobwasser-Sammlung beigefugt werden. Ein wichtiges Forschungsdesiderat wäre die Untersuchung der Textgestalt dieser Abendmahlsliturgie im Laufe der Zeit. Dazu einige Hinweise bei Alfred Ehrensperger, Zwingiis Abendmahlsgottesdienst. Seine liturgietheologischen Voraussetzungen und seine Wirkungen auf die Abendmahlspraxis in den reformierten Kirchen der deutschen Schweiz, in: Liturgisches Jahrbuch 41 (1991) H. 3, 158-182. Für das ebenfalls lange Zeit gleiche Zürcher Begräbnisgebet liegt eine solche Untersuchung der Textveränderungen vor bei Alfred Ehrensperger, Das alte Zürcher Begräbnisgebet in seiner geschichtlichen Entwicklung vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, in: Zwingliana 26 (1999), 75-86.

Die liturgische Rezeption des Lobwasser-Psalters in der Zürcher Kirche

2.5. Breitingers

379

Vorrede

Die meisten Zürcher Lobwasser-Psalter mit ihren übrigen Teilen enthalten kein oder nur ein ganz kurzgefaßtes Vorwort. Als erstes Gesangbuch enthält das von 164125 eine verhältnismäßig lange, eher über den Nutzen des kirchlichen Singens handelnde Vorrede des damaligen Zürcher Antistes Johann Jakob Breitinger. Sie verhalf dem Gesangbuch zu einem verstärkten Ansehen und wurde in späteren Ausgaben mehrfach wieder abgedruckt. Breitinger äußert sich in ihr weitschweifig und mit biblischen und kirchenhistorischen Fakten belegt über den Sinn, die Wirkungen und die Praxis des Kirchengesanges, auch im Vergleich zu weltlichen Gesängen. Ein vermahnender Ton ist in diesem Vorwort unverkennbar. Was aber auffällt, ist das völlige Fehlen eines Hinweises auf den Lobwasser-Psalter. Man kann daher annehmen, daß Breitinger sein Vorwort ursprünglich gar nicht für eine Lobwasser-Ausgabe geschrieben hatte, sondern vielleicht eine allgemeine Begründung des kirchlichen Singens, etwa vor der Obrigkeit oder der Pfarrerschaft, geben wollte.

2.6. Text und Melodie Die mir zugänglichen Lobwasser-Gesangbücher zeigen sehr unterschiedliche Größenformate,26 was nicht nur auf verschiedenartige Verwendungsmöglichkeiten hinweist, sondern auch einen Einfluß auf die graphische Gestaltung von Texten und Melodien, also auf die Lesbarkeit, hatte. Schon früh sind nicht bei allen Psalmen eigene Melodien enthalten; man hat also verschiedene Psalmtexte auf dieselbe Melodie gesungen. Dies forderte gewiß die bessere Behaltbarkeit, das Auswendig-Singen, besonders auch bei Katechismus- und anderen Liedern, bei denen am Anfang immer die Nummer des Psalmes angegeben wird, auf dessen Melodie die Lieder gesungen wurden. Die Kombination von Text und Melodie war also bei den Psalmliedern „längst nicht so eng und so offensichtlich wie in manchen barocken geistlichen Liedern oder auch teilweise bei Luther".27 Deshalb waren im Lobwasser-Psalter Textverbesserungen eher möglich, ohne daß dabei die Melodie verändert werden mußte. Diese, und nicht die Texte, waren wohl auch die tragenden Fundamente der erstaunlich langen Lobwasser-Tradition. Zudem wurden die kunstvollen Goudimel-Sätze in den reformierten Lobwasser-Psaltern der deutschsprachigen Schweiz nicht notengetreu übernommen, sondern oft für den praktischen Gebrauch mehr oder weniger verein-

25 26

27

Signatur der Zürcher Zentralbibliothek: III Β 182. Das kleinste Gesangbüchlein mißt etwa 4 x 3 cm, die größte Ausgabe ca. 27 χ 15 cm und war vielleicht für den gottesdienstlichen Gebrauch oder sogar als Kirchenschmuck verwendet worden. Marti, Aspekte (s. Anm. 10), 173.

380

Alfred Ehrensperger

facht.28 Das fleißige Singen von Lobwasser-Psalmen, auch bei der Arbeit an Werktagen oder in der Hausgemeinschaft, sollte ja auch dem leichtsinnigen Absingen zweideutiger „Weltlieder" entgegenwirken.

2.7. Zuweisungstafeln Von etwa 1650 an gibt es in fast allen zürcherischen Psalmen-Gesangbüchern am Anfang kurze, immer wieder ähnlich lautende Zuweisungstabellen: Bei den verschiedenen Kategorien, wie zum Beispiel Büß-, Trost-, Lehr- oder Dankpsalmen, werden die entsprechenden Psalmnummern aufgeführt. Damit werden die Psalmentexte in eine Art Gebrauchsschema eingebunden, das sich mit der Zeit gefestigt hat.29 In anderen Tabellen werden die Lobwasser-Psalmen bestimmten gesellschaftlichen Ständen oder den Tagzeiten zugeordnet. Während die Lobwasser-Texte nie christologisiert werden, sondern ihre alttestamentliche Bibelnähe beibehalten, gibt es in den Rubriken einzelner Zuweisungstafeln hie und da einmal eine Überschrift, wie zum Beispiel „Reich Gottes". Ein weiterer Schritt in die Richtung, die Psalmen zu dogmatisieren, ohne sie allerdings mit den aktuellen Bibeltexten jeweils in Verbindung zu bringen, ist die Besonderheit, jedem Psalmlied eine kurze theologische Deutung im Umfang von etwa zwei bis fünf Zeilen voranzustellen und es so unter ein bestimmtes Thema zu stellen. Aus solchen Psalmüberschriften Schlüsse auf die darin zum Ausdruck kommende Glaubensüberzeugung oder -ethik zu ziehen und vielleicht über die Jahrzehnte der Gesangbuchausgaben hin auch eine Entwicklung der Frömmigkeit festzustellen, liegt nicht mehr im Bereich unserer Thematik. Ob in jedem Fall die Gesangbuchherausgeber oder sogar kirchliche Behörden hinter solchen Psalmüberschriften standen, läßt sich kaum mehr ausmachen.30 Im Berner Gesangbuch von 170531 taucht, nach meiner Beobachtung erstmals, bei den üblichen Kategorien Büß-, Lehr-, Bätt-, Trost- oder Dankpsalmen eine neuartige Überschrift auf, welche offenbar dem damaligen Bedürfnis entspricht, nämlich die Kategorie „Von Christo und seinem Reich". In der vorangehenden Lobwasser-Tradition fehlen mit ganz vereinzelten Ausnahmen christologische Zuweisungen oder Textänderungen in dieser Richtung. Höchstens in einigen Gesangbuchvorworten wird das Psalmensingen mit dem Lob der Heilsbotschaft von

28

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30

31

Nievergelt, Tonsätze (s. Anm. 10), 31. Die im Zürcher Gesangbuch von 1653 vorhandene musikalische Satzgrundlage wurde dann im wesentlichen von allen zürcherischen Gesangbüchern bis 1787 übernommen. Ein ausgeführtes Beispiel findet sich nach Marti, Genfer Psalter (s. Anm. 9), 64, im Zürcher Gesangbuch von 1657. Ein weiterer, entscheidender Schritt in der Präzisierung der Psalmendeutung des Lobwasser-Bestandes wäre dann die Zuteilung zu einem bestimmten Predigttext oder -thema (und dadurch schließlich das Verständnis eines Psalms in seiner liturgischen Funktion). Privatbesitz, ohne Signatur.

Die liturgische Rezeption des Lobwasser-Psalters in der Zürcher Kirche

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Jesus Christus in Verbindung gebracht; im übrigen Liederbestand ist sie natürlich mannigfach vorhanden.

2.8. Erwägungen in Vorworten zur praktischen Verwendung des Psalters Von etwa 1700 an hat man sich mehr und mehr Gedanken darüber gemacht, wie die Lobwasser-Psalmen sinnvollerweise zu verwenden seien. Soll man die Psalmen singen oder eher lesen? Das Zürcher Psalmenbuch von 176532 enthält keine Melodien, nur die gesamten Lobwasser-Texte. Im Vorwort zu diesem Gesangbuch wird erwogen, ob die ungebundene, prosaische Übersetzung nicht eher zum Lesen als zum Singen eingerichtet sei. Eine solche Frage deutet darauf hin, daß unterdessen die Psalmen durchaus einen liturgischen Stellenwert hatten und nicht nur, wie in der Anfangszeit, von Schülern oder Singgemeinschaften zu Beginn und nach dem Ende eines Gottesdienstes „vorgesungen" wurden. Der Lobwasser-Psalter hat sich mindestens mit Teilen seines Bestandes in den Gemeinden eingelebt. Allerdings wird in dem oben erwähnten Vorwort zu bedenken gegeben, daß Reimübersetzungen33 oft den ursprünglichen Textsinn der Bibel und ihre Sprachgestalt verfremden. Grundsätzlich verleite eine Übersetzung in Versen zum gedankenlosen Absingen. Die Psalmen seien aber Gebete, die sich auf die besonderen Umstände ihrer Verfasser, unter denen Moses und der König David häufig genannt werden, bezögen. Ein neues, ästhetisches Sprachempfinden und teilweise auch neue theologische Schwerpunkte zeigen sich deutlich spätestens von der Mitte des 18. Jahrhunderts an.

3. Praxis und liturgischer Kontext des Zürcher Psalmensingens 3.1. Der Stellenwert des

Psalmensingens

Ähnlich wie in der Tauflehre von Huldrych Zwingli34 wurde auch das Psalmensingen in der Zürcher Kirche von Anfang an als eine Art „Pflichtzeichen" der Gläubigen verstanden. Es hatte weder eine Funktion in der gewohnten Liturgie, noch strebte es eine missionarische Verbreitung des reformierten Glaubens an. Als Ausdruck der Nähe zu einer dem Volk allmählich geläufigen biblischen Botschaft trugen nicht nur die Lobwasser-Texte, sondern insbesondere auch ihre Melodien bei. Es waren wohl in erster Linie die schönen, vierstimmigen Sätze, 32 33

34

Signatur der Zürcher Zentralbibliothek: 7.122. Ausdrücklich werden die unterdessen bekannt gewordenen Psalmenübertragungen von Opitz, Ziegler, Wildermet, Spreng und Cramer positiv gewürdigt und deijenigen Lobwassers mindestens gleichgestellt. Dazu Adolf Fugel, Tauflehre und Taufliturgie bei Huldrych Zwingli, Goldach 1989, 302310.

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Alfred Ehrensperger

die den Lobwasser-Psalter beliebt machten. Diese fast zweihundertjährige, hymnologisch einmalige Praxis wurde nicht nur von der Obrigkeit oder Pfarrerschaft verfugt; sie war vielmehr durch eine fleißige, systematische Pflege und ständige Einübung möglich geworden, und sie stellte sich mit Hartnäckigkeit den Versuchen entgegen, die sie mancherorts abschaffen und durch neueres Liedgut ersetzen wollten. Der Psalmengesang entfaltete sich übrigens schon von Anfang an auch neben einem ausdrücklich gottesdienstlichen Zusammenhang und wurde sogar in die Nähe der Handarbeit gestellt: Für die Gläubigen war er Ausdruck der göttlichen Geistesfülle und -gegenwart, durch die Gottes Wort „geheim"35 und „bekannt"36 werde, „seine gutthaten gegen uns aufzukünden" 37 und „bösen gedancken zu wehren / und unmut zu vertreiben".38 Wenn solche Gedanken in einem Gesangbuch-Vorwort zu finden sind, wie im zürcherischen bereits 1598, und diese ermunternd-mahnende Einleitung noch mit „Amen" beschlossen wird, kann man darin durchaus eine gebetsartige Predigt erkennen.

3.2. Johann Baptist Ott zur Zürcher

Psalmen-Singpraxis

Einen fragmentarischen Einblick in die Singpraxis der reformierten Zürcher Kirche zwischen 1600 und 1702 gewinnen wir aus ergänzenden Angaben von Ott in dem von ihm bearbeiteten und ausgeweiteten Teil des oben erwähnten Werkes von Ludwig Lavater39. Ott erwähnt, daß in den vier zürcherischen Stadtkirchen40 „täglich Predigten"41 mit Gesang stattgefunden hätten. Er meint damit wohl kurze, katechetische Lehrandachten, etwa in der Art der „Prophezey" bei Zwingli.42 Dazu kam nebst dem sonntäglichen Predigtgottesdienst und demjenigen vom Zinstag eine ansehnliche Zahl von Feiern mit Psalmen und anderen Liedern am Samstag- und Sonntagabend. Die gottesdienstliche Situation in Zürich scheint sich also im 17. Jahrhundert gegenüber der Anfangszeit des Kirchengesanges nicht wesentlich verändert zu haben.43 Bereits Ludwig Lavater hatte, wohl im Hinblick auf die eher kritischen Äußerungen über das Fehlen des Kirchengesanges, die im Vorwort zum Niiw gsangbüchle44 im Blick auf die Zürcher Kirche angedeutet wurden, bemerkt, die Zürcher hätten die Sitte zu singen nicht aufgenommen, „weil sie die dem Gottesdienst gewidmete Zeit

35 36 37 38 39

40 41 42 43 44

Das heißt: Es birgt das Geheimnis der Lebenskraft aus dem Glauben in sich. Als Ausdruck des eigenen Bekennens, nicht als Verbreitung nach außen. Das heißt: kundzutun. Diese Bestimmungen finden sich bereits im ersten Psalmengesangbuch von 1598 in Zürich. Lavater, De ritibus (s. Anm. 12). In den von diesem geschilderten Bräuchen und Einrichtungen der Zürcher Kirche, 28 Jahre nach Zwingiis Tod verfaßt, erfahren wir natürlich noch nichts von einem Gesang in den Zürcher Kirchen. Großmünster, Fraumünster, St. Peter und Predigern. S. Anm. 18. Fritz Buesser, Die Prophezei. Humanismus und Reformation in Zürich, Bern 1994, 7-9. Lavater/Ott, Gebräuche (s. Anm. 12), 50. Ausgabe 1540 (s. Anm. 20), Vorrede von Johannes Zwick.

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lediglich dem Hören auf Gottes Wort und den Gebeten widmeten" und dann wohlwollend hingewiesen auf eine zu seiner Zeit bereits bestehende Gesangspraxis in Winterthur und Stein am Rhein wie auch auf einen maßvollen Gesang zu Hause.45 Ott bemüht sich sichtlich, die Wiederherstellung des Zürcher Kirchengesanges46 positiv zu erwähnen als eine längst schon bestehende Selbstverständlichkeit: „Es werden nämlich vor und nach der Predigt die Lobwasser'schen Psalmen vorgetragen".47 Er fahrt dann fort, an den für die Zürcher Kirche immer noch spärlichen Festtagen würden auch die Lobgesänge (Hymni) beigezogen, welche die Wundertaten Gottes eindringlich priesen und größtenteils in Nachahmung der alten Hymnen der Urkirche in die Volkssprache übersetzt worden seien. In der Regel würden aber die Psalmen gesungen, wenn nicht außergewöhnliche Zeiten, Fasten und Feierlichkeiten etwas anderes erforderten.4«

3.3. Gesangszyklen und Psalmenpläne Im 18. Jahrhundert wurden für die zürcherischen Stadtkirchen übereinstimmende Gesangszyklen für bestimmte Tage und Gottesdienstzeiten festgelegt: einer für die Sonntagmorgenpredigt und die Frühgottesdienste am Dienstag, wo der Lobwasser-Psalter den Gesang bestimmte, oder zum Beispiel einer für Sonntagnachmittagsfeiern, wo Katechismusgesänge nach Genfer Melodien im Vordergrund standen. Alle vier Stadtkirchen hielten sich an diese Gesangspläne, und zwar bis zu den einzelnen „stucken".49 Wer diese Gesangsordnungen abgefaßt hat, ob Obrigkeit oder Pfarrerschaft, geht aus den Unterlagen nicht hervor. Wir wissen auch nicht generell, wieweit die Landgemeinden sich an solche Verordnungen gehalten haben.50 Die Zürcher Psalmen- und Gesangspläne führen nicht mehr die Tradition des fortlaufenden Psalmensingens aus der Frühzeit des zürcherischen Kirchengesanges fort, sondern ordnen bestimmte Psalmen bestimmten Gottesdiensttagen zu und lassen dabei auch bestimmte Psalmen aus. Sie gleichen eher einer Art von gesungener Perikopenordnung, welche die Zürcher Kirche bis dahin weder für Predigttexte noch für Lesungen gekannt hat. 45 46

47

48 49 50

Lavater/Ott, Gebräuche (s. Anm. 12), 53f. Eigentlich sollte man angesichts der geschichtlichen Entwicklung nicht von einer „Wiederherstellung", sondern von der Einfuhrung des Kirchengesanges sprechen, da Zwingli seinerzeit nur die desolaten Meßgesänge abgeschafft hatte und mit seinem Predigtgottesdienst ohnehin bei einer schon gegebenen gesang- und musiklosen Gottesdienstform, dem spätmittelalterlichen Prädikantengottesdienst, anknüpfte. Aus dieser Formulierung von Ott (s. Anm. 12), 54, bekommt man auch noch für 1702 den Eindruck, Schülerchöre oder musikalisch interessierte, aus Männern bestehende Singgemeinschaften seien die Träger des Psalmengesanges, und nicht etwa die ganze Gemeinde. Lavater/Ott, Gebräuche (s. Anm. 12), 54f. Gemeint sind hier ebenfalls Strophen (s. Anm. 16). Das Forschungsdesiderat, dies für die einzelnen Gemeinden abzuklären, erfordert ein umfassendes Recherchieren in den vorhandenen Kirchgemeindearchiven oder im Winterthurer und Zürcher Staatsarchiv.

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Alfred Ehrensperger

Auf diese Weise können Strophenbündel besonders langer Psalmen auch auf verschiedene Gottesdienste verteilt werden. Die frühen, uns bekannten Psalmengesangspläne wurden gedruckt auf sogenannte „Psalmen-Zedul"51 oder offizieller als „Zürcherische Kirchengesang-Ordnung" mit ähnlicher Einteilung herausgegeben.52 Die Psalmzettel wurden zudem für jeden Gottesdienst an den vier Kirchenportalen angeschlagen. In der Passions-, Oster-, Pfingst- und Weihnachtszeit wurde diese Psalmenordnung unterbrochen; die jeweils vorgesehenen Hymni für diese Feiertage wurden ebenfalls in den Psalmzetteln mit den Titeln der jeweiligen Lieder aufgeführt. Aus den gedruckten Psalmzetteln geht nicht hervor, warum bestimmte Psalmen weggelassen wurden.53 Am wahrscheinlichsten ist die Annahme, daß deren Melodien als zu schwierig erachtet wurden oder daß textliche Aussagen als störend empfunden wurden. Ausdrücklich wird in der erwähnten Kirchengesang-Ordnung vermerkt, daß in diesem Jahr (1774) der Katechismusgesang beim Psalm 1 nach der alten Psalmenmelodie und nicht nach der Genfer Liturgie des Lobwasser-Psalmes zu singen sei. Man kann also für das 17. und teilweise noch das 18. Jahrhundert eine gewisse Zucht des Psalmensingens feststellen, welche in ihrer Strenge den Perikopenordnungen anderer, nichtreformierter Kirchen kaum nachsteht.

3.4. Ansätze zu einer liturgischen

Funktionszuweisung

Nicht nur die Psalmen und Festtagslieder, sondern auch die Kirchengebete vor und nach der Predigt,54 insbesondere für die Festtage, Taufe, Abendmahl und Bestattungen, wurden in den Kirchenordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts, mindestens bis 1794, festgelegt. Für jeden dieser Anlässe gab es während dieser Zeit ein Gebet, das jeweils wiederholt wurde. Diese Gebetskultur in den alten Zürcher Kirchenordnungen für Stadt und Landschaft gab dem Pfarrer noch keine Auswahlmöglichkeiten. Die Gebete waren im allgemeinen übermäßig lang und enthielten nicht selten dogmatische und ethische Anweisungen, hatten also vermahnenden Charakter.55 Die Theologie der Lobwasserschen Psalmen51

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54 55

So ein Beispiel aus dem Jahre 1770 mit der Überschrift „Psalmen-Zedul; das ist: Eine ordentliche Verzeichnuss deijenigen Psalmen, welche in der Stadt Zürich durch das erstere halbe Jahr von Ao. 1770 in allen 4. Pfarr-Kirchen werden abgesungen werden": Eine erste Rubrik nennt von Neujahr an sämtliche Sonntage für den Morgen, den Abend und den darauf folgenden Dienstag. Zu diesen Daten werden dann die Psalmen der Reihe nach, aber mit Auslassungen, genannt. Daneben stehen die „Stüklein", die vor und nach der Predigt gesungen werden sollen. (Die Signatur eines solchen Psalmenverzeichnisses fur die Jahre 1770 und 1771 lautet in der Zentralbibliothek Zürich: II Β 2363.) Ein Beispiel für das Jahr 1774 befindet sich in der Zürcher Zentralbibliothek unter der Signatur: II Β 2364. Zum Beispiel in der Kirchengesang-Ordnung von 1774 die Psalmen XX-XXII, XXVIII, XXXV, XLI-XLVI und so fort. Hier ist dieser Begriff in seiner ursprünglichen Bedeutung gemeint. Vgl. Johann Rudolf Wolfensberger, Die Zürcher Kirchengebete in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Zürich 1868; ferner Ehrensperger, Begräbnisgebet (s. Anm. 24), 75—86.

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Übersetzungen mit dem theologischen Gehalt dieser Gebete zu vergleichen, wäre ein interessantes und für das Zürcher Gottesdienstverständnis erhellendes Forschungsgebiet. In einem 1778 in Basel erschienenen Gesangbuch56 heißt es ausdrücklich, die thematisch bezeichneten Psalmenlieder würden zum besseren Verständnis der Predigt dienen. Damit wurde eine liturgische Absicht angedeutet, welche zukunftsweisend der traditionellen Kirchengesang-Ordnung entgegentrat. Die seinerzeitige Bemerkung im Zürcher Gesangbuch von 1612,57 wonach der Gesang auch vor und nach Agapen mit geeigneten Festtagsliedern stattfinden solle, wird, wenn ich recht sehe, bis ins 18. Jahrhundert hinein praktisch kaum konkretisiert. Dies hängt wohl auch mit der geschlossenen, gesanglosen Abendmahlsordnung Zwingiis von 1525 zusammen, deren straffer Aufbau kaum Gesänge mit einer liturgischen Funktion zuließ. Eine bemerkenswerte Ausnahme findet sich im Zürcher Gesangbuch von 17 3 3,58 wo in einer sich auf Zwingiis Abendmahlsliturgie beziehenden Gottesdienstordnung bemerkt wird: Nach dem Singen des Liedes Nun laßt uns Gott, dem Herren, danksagen und ihn ehren59 folge dann die gesanglose, traditionelle Abendmahlsordnung, dann eine ausführliche Abendmahlsvorbereitung60 mit Kommunion ohne Lieder, und noch im 18. Jahrhundert in der Regel auch ohne Orgelmusik, sowie abschließend mit einem sogenannten „Seufzer" in Gebetsform.61

4. Wachsende Kritik und Ablösung vom Lobwasser-Psalter 4.1. Versuche von

Textverbesserungen

Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts begann man auch in Zürich die Notwendigkeit einer Textverbesserung des traditionellen Lobwasser-Psalters zu empfinden: Im Vorbericht des Gesangbuches von 170462 stellte man Psalmen in gebundener Sprache der Lobwasser-Übersetzung gegenüber. Das oben erwähn-

56 57 58 59 60

61

62

Signatur der Zentralbibliothek Zürich: AB 6683, 3. Anhang. S.Anm. 19. Signatur der Zürcher Zentralbibliothek: KZ 1518. Text von Ludwig Helmbold 1575; Melodie von Nikolaus Seinecker 1587. Solche vermahnenden Vorbereitungstexte sind in zahlreichen Lobwasser-Psaltern im Anhang wörtlich abgedruckt. Damit ist eine Art Bußgebet nach erfolgter Kommunion gemeint, vielleicht ähnlich wie die traditionelle Offene Schuld als kollektives Sündenbekenntnis, nur freier gestaltet. Verbesserter Lobwasser, Das ist / Die CL Psalmen Davids welche vor mehr als anderthalb hundert Jahren / von D. Ambrosio Lobwasser /einem preussischen Rechts Gelehrten / in damals übliche Alt-Teutsche Reimen gebracht; Anjetzo aber in heutige Hochdeutsche Sprach un (!) Reimens-Art / nach denen alten Melodeyen / in gleicher Anzahl Versen bestmöglichst eingerichtet / und zu mehrerer Verbesserung vor-entworflfen / mit jedem Psalmen beygefugtem / und den Vers desselben begreiffenden Reim-Gebättlein. Wozu fehmer kommen Etliche verbesserte alte Psalmen / Fest-Gesänge / Kirchen- und Hausslieder / samt Morgen- und Abend-Gebätteren, Zürich 1704.

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te, bis dahin oft tradierte Vorwort des Antistes Breitinger wurde zwar noch immer gelobt „als ein köstlicher Weyhrauch aus einem güldenen Rauchfaß zu einem süßen Geruch in den Himmel geschickt",63 und so eigentlich als vorbereitendes Gebet zum Gebrauch dieses Buches verstanden; aber so, wie die Reformatoren einst die Übersetzung der Bibel in eine bessere, deutsche Sprache verstanden hätten, sollte es nun auch mit dem „Lobwasser" als sozusagen kleiner Bibel geschehen. Lobwasser habe die Psalmen zu seiner Zeit „annehmlich gemacht", und die Einfuhrung seines Psalters als reformiertes Gottesdienstbuch sei als „sonderbares Glück"64 zu werten. Die hauptsächlichen Einwände gegen den Lobwasser-Psalter betreffen im Vorwort von 1704 nicht die Melodien, sondern die Sprachgestalt: 1. hätten Lobwasser und sein „Anfuhrer" Mr. Gauner 65 die Grundworte des hebräischen Textes nicht verstanden; 2. seien seine Verse mit der Reinheit und Entwicklung der deutschen Sprache nicht mehr vereinbar; 3. deckten sich oft die Endreime eines Verses nicht mit dem Zeilenschluß, sondern reichten noch in die folgende Zeile hinein. Der Verfasser dieser kritischen Äußerungen war Johann Caspar Hardmeyer, damals Pfarrer in Ottenbach ZH. Er bringt auch Beispiele für seine Argumente und bemerkt schließlich, Lobwasser übersehe oft auch Zäsuren oder lange Abschnitte in seinen Versen.66

4.2. Theologische Bedenken gegenüber dem

Lobwasser-Psalter

Im 18. Jahrhundert wurde die Lobwasser-Kritik auch immer mehr mit theologischen Argumenten und solchen aus einem gewandelten Frömmigkeitsbewußtsein heraus geäußert; damit wurde diese Kritik auch grundsätzlicher und auf den Gottesdienst als Ganzen bezogen: Wichtige, im Zeitempfinden liegende Gründe waren 1. ein neu erwachtes Lebensgeñihl und Kirchenbewußtsein der Menschen im Aufklärungszeitalter; 2. wachsende Annäherungen und Austauschbeziehungen zwischen den Konfessionen und ihren liturgisch-hymnologischen Traditionen; 3. eine gewisse „Lobwasser-Müdigkeit" in der jüngeren Generation. Diese forderte eine vorerst textlich-theologische Horizonterweiterung im kirchlichen Gesang, wobei man vielerorts noch lange Zeit an den bekannten Melodien und sogar an der Vierstimmigkeit des Genfer Psalters festhielt und diesen auch

« 64 65

66

Ebd., 4. Das heißt: als besonderes Glück. Über den hier genannten Gaurier ist nichts bekannt, als daß er von Lobwasser in seiner Widmungsvorrede zur Psalterausgabe erwähnt wird als „edeler Frantzoß", der ihm zu der Übersetzung „Anreitzung groß" gegeben habe; vgl. Der Psalter deß Königlichen Propheten Dauids / In deutsche reymen verstendiglich vnd deutlich gebracht / mit vorgehender Anzeigung der reymen weise / auch eines jeden Psalmes Inhalt / Durch Ambrosium Lobwasser Doctorem. [...], Leipzig. 1573, darin: „Dem Durchlauchtigsten Hochgeborenen Fürsten vnd Herrn / Herrn Albrecht dem Eltern [...]" (unpag., *2r-4v, hier *3V). „Ubersihet die Censuren oder Abschnitt in den langen Versen gar offt / da sie doch der Kunst noch gantz nothwendig sind." Vorrede (s. Anm. 62), 7f.

Die liturgische Rezeption des Lobwasser-Psalters in der Zürcher Kirche

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außerhalb der Gottesdienste gebrauchte.67 Vor allem wurde nun auch ein bisher fehlender christologischer Bezug der Lobwasser-Psalmen angesichts neutestamentlicher Glaubens- und Verkündigungsinhalte bemängelt. Der schon genannte Johann Kaspar Hardmeyer setzt bereits in seinem Vorwort „An den Hochgeehrten / Kunst und Gunst geneigten Leser" im Zürcher Gesangbuch von 1701 damit ein, daß es ein „schändlicher Undank wäre, Gottes Lobopfer durch die Erlösung seines Sohnes zu verschmähen".68 Das andächtige Bekennen Christi, das „durch den Schall des Evangeliums die ganze Welt durchdringt, ist als Lob Gottes auch in unserer Mutterkirche Zürich gewachsen, und viele singen bei ihrer Arbeit Psalmen".69 Die Goudimelschen Weisen möchte Hardmeyer aber weitgehend beibehalten.

4.3. Gesellschaftliche Aspekte der weiteren

Entwicklung

Die fast 200 Jahre andauernde Singpraxis des Lobwasser-Psalters, gefestigt durch eine Vielzahl von eng aufeinander folgenden Gottesdiensten, verbreitete und vertiefte natürlich die Kenntnis dieser Psalmenlieder auch bei Menschen, die wenig gebildet waren. Anfanglich ein Buch für Pfarrer, Lehrer, Vorsänger und Schülerchöre wurde der Lobwasser immer mehr zu einem liebgewordenen Volksbuch zur Ehre Gottes und zur eigenen Erbauung. Auswärtige Besucher scheinen sich, wie ihren Berichten zu entnehmen ist, am vierstimmigen Singen der Lobwasser-Psalmen ergötzt und diese nicht nur zürcherische, sondern deutschschweizerisch-reformierte Gesangspraxis in und außerhalb von Gottesdiensten bewundert zu haben.70 Man muß wohl diese subjektiven Eindrücke, wenn man ihren jeweiligen Kontext nicht kennt, mit Vorsicht beurteilen; denn in dieser Zeit beherrschte der Lobwasser-Psalter nicht mehr unangefochten das Feld, sondern wurde mehr und mehr durch moderneres, auch den Reformierten fremdes Gesangsgut abgelöst. Möglicherweise fürchteten umgekehrt lutherische Kreise „das reformierte Psalmlied als höchst wirksames Instrument für die Ausbreitung des Calvinismus".71

4.4. Zwei Beispiele aus der Ablösungsphase des

Lobwasser-Psalters

Die beiden nun kurz dargestellten Beispiele zeigen, wie der Lobwasser-Psalter nach seiner verhältnismäßig langen Geschichte in der reformierten Gottesdienstpraxis schließlich massiv kritisiert und sowohl durch neues Liedgut als 67 68 69 70 71

Beispiele bei Ehrensperger, Bemerkungen (s. Anm. 3), 110 und 117. Johann Kaspar Hardmeyer, Vorrede zum Gesangbuch Zürich 1701. Ebd., unpag. Beispiele bei Ehrensperger, Bemerkungen (s. Anm. 3), 117f. Inge Mager, Zur vergessenen Problematik des Psalmliedes im 16. und 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch fiir Liturgik und Hymnologie 37 (1998), 139-149, hier 144.

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auch eine neue Konzeption der Gesangbücher überhaupt abgelöst wurde. Diese Ablösungsphase scheint bis ins Kirchenvolk hinein zu großen Auseinandersetzungen und schmerzlichen Prozessen geführt zu haben. Erstes Beispiel: Ein anonymer Verfasser schildert ein fingiertes Gespräch zwischen einem Landmann und einem Schiffsmann, der ihn über einen Fluß bringen soll.72 Das Bild von der Überquerung des Wassers ist möglicherweise Symbol für den Übergang von einer alttraditionellen, der Gewohnheit verpflichteten Anschauung, zu den modernen Gedanken und Argumenten, welche die Aufklärer bewegten. Der Landmann ist dem Fortschritt, den Neuerungen zugewandt, während der Schiffsmann die alten Gewohnheiten vertritt, sich aber in der Form eines Gesprächs von den Argumenten seines Fährkunden überzeugen läßt. Zu beachten ist in diesem Text, daß sowohl die Kirchengebete als auch die gottesdienstlichen Gesänge vom Ablösungsprozeß betroffen sind. Der Schiffsmann lehnt die Neuerungen ab; er wolle selig werden, wie die Alten;73 und jeder Gelehrte wolle größer sein als die andern. Dieser „unwissende" Schiffsmann wird nun aber vom Landmann gehörig belehrt, daß nicht nur der LobwasserPsalter, sondern auch die neuen Gesänge sich „aus der Bibel beweisen" ließen. Beide seien nicht vom König David „eingegeistet",74 schon gar nicht die dazugehörigen Melodien. Der Landmann klärt seinen Gesprächspartner auf über die wahre Herkunft des Lobwasser-Psalters und stellt dabei fest, daß schon bei der Einfuhrung dieses Psalmensingens vielerorts das Volk die Kirche aus Widerwillen frühzeitig verlassen habe. Die Vielfalt der Psalmen verbiete ohnehin ein reihenweises Absingen Sonntag für Sonntag; denn, so argumentiert er weiter, was würde man von einem Menschen sagen, der ein Gebetbuch zur Hand nähme und alle Gebete vom Anfang bis zum Ende lese, und dann wieder von vorn begänne? Diese Art des Psalmensingens habe den Aberglauben im Volk gefördert, und auch die Reformatoren hätten schließlich nicht alles beim Alten belassen. Zudem müsse man auch die Heilige Schrift täglich neu erforschen, um neue Erkenntnisse daraus gewinnen zu können. Die neue Gesangsordnung, nach welcher die Gesänge je nach Situation ausgewählt werden könnten, sei eine „billiche, nützliche, ja lobliche Verordnung".75 Ein zweites, viel späteres Beispiel, in dem sich Johann Caspar Vetter mit der in Schaffhausen 1832 noch herrschenden Singpraxis des Lobwasser-Psalters

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Anonymus, Eine mehr als vollständige Beschreibung eines Gesprächs so vor wenigen Tagen zwüschen einem über Wasser wollenden Landmann und seinem Schiffinann vorgefallen, betreffend die neuen Kirchen-Gebätter und Gesänge der Stadt und Landschaft Zürich, Zürich 1769, 3-20. Die Signatur dieser Abhandlung lautet in der Zürcher Zentralbibliothek: XXXI.234. In diesem Gedanken klingt möglicherweise nochmals die Bibelnähe des LobwasserPsalters an, welche geradezu als Heilszusicherung empfunden worden ist. Es geht hier also nicht nur um ästhetische Fragen, sondern um die theologische Substanz des christlichen Glaubens. Das heißt: inspiriert worden. Auf eine solche nimmt der Landmann nicht ausdrücklich Bezug.

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auseinandersetzt:76 Vetter stellt zunächst fest, daß in anderen protestantischen Kantonen der Schweiz längst neues Liedgut und neue Gesangbücher Einzug gehalten hätten, während im Kanton Schaffhausen sich die Singpraxis noch immer am Lobwasser-Psalter orientiere. Auch hier werde zwar nur noch der dem Lobwasser-Psalter angehängte Teil der Fest- und geistvollen Lieder praktisch gesungen; dem Lobwasser-Teil werde eigentlich keine liturgische Bedeutung zugemessen. Vetter nennt dann die Eigenschaften, die er als charakteristisch für einen „geistvollen Choral" erachtet und denen die Lobwasser-Psalmen in keiner Weise mehr gewachsen seien: 1. sollten Kirchengesänge einen religiösen, reinkirchlichen Charakter haben; 2. müßte die Melodie wirklich dem Textinhalt und Charakter eines Liedes entsprechen; 3. sollten die Gesänge eine einfache, für alle singbare Tonweise haben; 4. müßten die Nebenstimmen mit der Hauptstimme harmonisieren und diese unterstützen; 5. sollten die „Gesangszeichen"77 vereinfacht werden und leicht zu erlernen sein. Vetters Kritik am Lobwasser-Psalter geht aber noch weiter: Dieser Psalter erfülle die an eine deutsche Übersetzung gestellten Anforderungen nicht mehr. Insbesondere fehle diesen Lobwasser-Texten die Vertrautheit mit der hebräischen Sprache und der Poesie der Psalmen. Ebenso fehle die gründliche Kenntnis der Geschichte des israelitischen Volkes; erst dadurch könne der Sitz im Leben für die einzelnen Psalmen ermittelt werden. Ein Produkt des 16. Jahrhunderts könne den Anforderungen des 19. Jahrhunderts nicht entsprechen: „Was haben diese Lobwasser'sehen Psalmen mit den Psalmen Davids gemein? [...] Noch nie ist ein Geisteswerk von einem geistlosen Bearbeiter so entstellt, verunstaltet, verwässert worden, wie hier".78 Schließlich nennt Vetter auch ein theologisches Argument gegen den Lobwasser-Psalter: Gehören die Psalmen ohne Ausnahme überhaupt in ein christliches Gesangbuch? Empfiehlt nicht Paulus selber, neben den Psalmen auch Lobgesänge und geistliche Lieder zu singen?79 Apodiktisch erklärt Vetter am Schluß seines Angriffs auf den Lobwasser-Psalter: „Ein christliches Gesangbuch darf keine andere [!] als reinchristliche Lieder enthalten".80 Jedenfalls waren solche kritischen Stimmen Vorläufer einer bewußteren, liturgischen Funktionszuweisung der Psalmen, wie sie in den neuesten Gesangbüchern angestrebt wird.

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Johann Caspar Vetter, Prüfung unsere Kirchengesangbuch's mit besonderer Rücksicht auf das Lobwasser'sche Psalmwerk, Schaffhausen 1832. Gemeint ist hier wohl eine übersichtlichere Art des Notendrucks oder eine für den begleitenden Organisten deutlichere Art der Vortragszeichen. Vetter, Prüfung (s. Anm. 76), 34-36. Vetter nimmt hier Bezug auf die oft erwähnten Stellen Kol 3, 16 und Eph 5, 19. Er beachtet aber nicht, daß die traditionellen Gesangbücher praktisch von Anfang an diese drei Liedtypen enthalten haben. Vetter erklärt hier nicht genauer, was er damit meint: ob der Psalmenteil gänzlich ausgeschieden werden müßte; ob er im Sinne von Luthers Psalmliedern eine gewisse Deutung auf Christus hin erwartet; ob er, mehr im Sinne des späten Pietismus oder der Erweckungsbewegungen, an Lieder der Christusnachfolge oder -anamnese denkt oder ob er vor allem die Beziehung der Gesänge zu den Hauptfesten des Kirchenjahres im Auge hat.

Hans-Jiirg

Stefan

Johann Kaspar Lavaters Specialgravamen gegen den Gesang der Lobwasserschen Psalmen' A n s t ö ß e zur ersten Zürcher G e s a n g b u c h e r n e u e r u n g

Ausgangspunkt dieser Untersuchung über Johann Kaspar Lavaters 2 Initiativen zur Verbesserung des Kirchengesangs, zur ersten gründlichen Gesangbuchreform und schließlich zur gänzlichen A b s c h a f f u n g des Lobwasser-Psalters in der Zürcher Kirche bildet der von ihm wiederholt vorgebrachte Wunsch [...], der mir und sehr vielen redlichen Christen in unserm Lieben Vaterland, denen an einem vernünftigen Gottesdienst etwas gelegen ist, schon lange sehr schwer auf dem Herzen liegt; der nemlich, daß es doch endlich einmal, bey einem so schönen Vorrathe vortrefflicher Lieder, einer Gnädigen Landes-Obrigkeit gefallen möchte, nach dem Beyspiel andrer angesehenen Evangelischen Gemeinen*, das ununterbrochene Absingen, aller und jeder fur unsere Zeiten und Umstände oft so ganz und gar unschiklichen Psalmen Davids, abzuschaffen; und mit Beybehaltung nur der schiklichen, solche geistreiche Lieder bey unserem öffentlichen Gottesdienst einzuführen, die sich für eine vor GOtt und Christo versammelte Gemeine erleuchteter reformierter Christen besser schiken, und sowol einfältigen als nachdenkenden Lesern nicht zu so vielem gerechten Aergerniß Anlaß geben würden. Wir leben doch, GOtt Lob! nicht mehr in den dunklen Zeiten, wo man GOtt zu ehren glaubte, wenn man ohne Verstand betete und ohne Verstand sang; GOtt Lob! Nicht mehr in den ärgerlichen Zeiten, wo es schon ein Verbrechen und gleichsam eine Kezerey war, eine wahre Verbesserung des Gottesdienstes, und die Abschaffung der offenbarsten Mißbräuche öffentlich zu wünschen und zu betreiben! Zürich, den 16 Octobr. 1768.

J. C. L.3

B e z o g e n auf das „Beyspiel andrer angesehenen Evangelischen Gemeinen" setzt Lavater die folgende Anmerkung unter seine Vorrede: * Man sehe nach die vortrefflichen Gründe, warum der Reformierten Ministerium in Bremen bey der Ausgabe eines neuen Psalm- und Gesang-Buchs nicht die sämtlichen 150. Psalmen beybehalten hat. 1766.

Johann Kaspar Lavater (1741-1801) trug in der Zürcher Synode vom 26.4.1785 ein Specialgravamen gegen die Erstarrung des Kirchengesangs vor: Ernst Stähelin (Hg.), Johann Caspar Lavaters ausgewählte Werke, 4 Bde., Zürich 1943; Bd. 3: „Sehet welch ein Mensch", 177-186. Lavater schrieb den zweiten Vornamen in seinen letzten Lebensjahren mit K. Zitat aus seiner Vorrede zu: Auserlesene | Geistliche | Lieder, | Aus den besten | Dichtern | Mit I Ganz neuen leichten | Melodieen | versehen. | Zürich, bey Johann Kaspar Ziegler, 1769. [Z: Hy 88, Sp 175]. Die Signaturen wichtiger, in der Zentralbibliothek Zürich vorhandener Quellen werden fortan mit vorangestelltem „Z:" gekennzeichnet.

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Hans-Jiirg Stefan

Wer die zahlreichen Zürcher Nachdrucke des Lobwasser-Psalters überblickt 4 wie auch die im Bereich Zürichs außerhalb des offiziellen Gottesdienstes rege benutzten Privatgesangbücher, dazu die vielen von Lavater verfaßten und redigierten Liedersammlungen, 5 wird nach Lektüre der oben zitierten Vorrede und der dazu gehörenden Anmerkung fragen: Wie kommt ein Zürcher Theologe des 18. Jahrhunderts dazu, sich auf eine Entscheidung des Reformierten Ministeriums in Bremen 6 zu berufen? Aus welchen Gründen läuft er Sturm gegen die Lobwasserschen Psalmen? Wie geht er bei seinen Versuchen, diese durch bessere Bereimungen oder andere Gesänge zu ersetzen, vor? Was stellt er ihnen als Lieddichter entgegen? D i e s e Fragen können hier nicht abschließend beantwortet werden, doch sei der Versuch unternommen, aufgrund des derzeitigen Wissensstandes die Anstöße von Lavater zur Erneuerung und Belebung des Psalmengesangs in der Zürcher Kirche im Kontext seiner Zeit zu würdigen.

1. Zürcher Musikkultur i m 18. Jahrhundert Lavater pflegte zeit seines Lebens in Zürich, dem kleinen „Limmat-Athen" oder „Literarischen Rom", 7 weit über die Landesgrenzen hinaus geistigen Austausch mit renommierten Zeitgenossen. 8 Zum kulturellen Leben der Stadt gehörte auch

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Vgl. den Beitrag von Alfred Ehrensperger, Die liturgische Rezeption des LobwasserPsalters in der Zürcher Kirche im 17. und 18. Jahrhundert, in diesem Band. Horst Weigelt (Hg.), Bibliographie der Werke Lavaters. Verzeichnis der zu seinen Lebzeiten im Druck erschienenen Schriften (Johann Caspar Lavater, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe. Ergänzungsband), Zürich 2001. Bremen, nicht Bem, wie irrtümlicherweise vermerkt bei Walter Blankenburg, Die Kirchenmusik in den reformierten Gebieten des europäischen Kontinents, in: Friedrich Blume (Hg.), Geschichte der Evangelischen Kirchenmusik, Kassel u. a. 21965, 341^100, hier 379: „Lavater sprach sich in dem erwähnten Vorwort gegen allzuviel Psalmensingen aus und begrüßte, daß in das Bemer [sie!] Gesangbuch von 1766 nicht mehr sämtliche Psalmen aufgenommen waren." Lavater hingegen bezieht sich auf ein Gutachten des Bremischen Ministeriums von 1766. Thomas Bürger, Aufklärung in Zürich. Die Verlagsbuchhandlung Orell, Gessner, Füssli & Comp, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Mit einer Bibliographie der Verlagswerke 1761-1798, Frankfurt a. M. 1997; Georg Finsler, Zürich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ein Geschichts- und Kulturbild, Zürich. 41./42. Neujahrsblatt zum Besten des Waisenhauses in Zürich für 1878/1879; Helmut Holzhey / Simone Zurbuchen (Hg.), Alte Löcher - neue Blicke. Zürich im 18. Jahrhundert. Außen- und Innenperspektiven, Zürich 1997; Martin Hürlimann, Die Aufklärung in Zürich. Die Entwicklung des Zürcher Protestantismus im 18. Jahrhundert, Leipzig 1924; Ulrich Im Hof, Aufklärung in der Schweiz, Bern 1970; Sigmund Widmer, Zürich. Eine Kulturgeschichte, Bd. 6: Puritaner im Barock, Zürich 1978; Bd. 7: Schöngeister und Aufrührer, Zürich 1979. Arlette Kosch, Literarisches Zürich. Der Dichter und Denker Stadtplan. 150 Autoren. Wohnorte, Wirken, Werke, Berlin 2002; Rudolf Pestalozzi, Lavaters Fremdenbücher. Neujahrsbl. auf das Jahr 1959. 122. Stück, Zürich 1959 [Z: KK 559:122]; Max Wehrli, Das geistige Zürich im 18. Jahrhundert, Texte und Dokumente von Gotthard Heidegger bis Heinrich Pestalozzi, Basel 1989.

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eine rege Musikpflege, allerdings nicht im Gottesdienst, sondern zu Hause, in Schulen und Collegia Musica.9

David Herrliberger (1697-1777): Biichercensur im Großmünster Zürich (1751): Auf dem Lettner steht der Kantor mit dem Musikkollegium bereit zum Musizieren. © Mit freundlicher Genehmigung der Zentralbibliothek Zürich (Graphische Sammlung)

Der hier wiedergegebene Stich aus dem Ceremonien-Werk von David Herrliberger zeigt die feierliche Bücherverteilung an Studierende und Schüler, die so genannte „Büchercensur".10 Dank Stiftungen wurden jährlich im Anschluß an die Frankfurter und Leipziger Ostermessen11 Buchschenkungen zur Anerken-

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1. „Ab dem Musiksaal" (1613-1812), 2. „Zur Chorherrenstube" (1641-1772), 3. „Zur Deutschen Schule" (1679-1772). Die beiden letztgenannten vereinigten sich zur „Musikgesellschaft der Mehrern Stadt" (1772-1812). 1812 vereinigten sich „Musiksaal" und „Mehrere Stadt" zur „Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich", die bis heute existiert. Karl Nef, Collegia Musica in der deutschen reformierten Schweiz von ihrer Entstehung bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, St. Gallen 1897, ND Wiesbaden 1973. [David Herrliberger], Kurze Beschreibung | der | Gottesdienstlichen Gebräuche, | Wie solche in der | Reformirten Kirche | der | Stadt und Landschaft | ZÜRICH | begangen werden, I Und durch | David Herrliberger ] in schönen Kupfer-Tafeln vorgestellt sind. | In | drey Abschnitten. | Zürich/Basel 1751 [Z: RES 46]. So ebd., 9. Max Fehr hingegen berichtet von der Bücherzensur vom 22.9.1768, d. h. nach den Herbstmessen: Max Fehr, Ein Jahr Musik im alten Zürich (1768), Neujahrsblatt der Allg. Musikgesellschaft Zürich 104 (1916), 20-25. Damals leitete Kantor Steinfels, Kapellmeister des Musikkollegiums „zur Chorherrenstube", eine Symphonie, zwei lateinische Gloria, zwei Strophen aus dem 15. Psalm (Lobwasser), zum Schluß zwei Strophen des 113.

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nung schulischer Leistungen ( P r œ m i u m Diligentia:) ausgerichtet. Reihum gestalteten die Musikgesellschaften den festlichen Anlaß, w a s im Gottesdienst der Zürcher Kirche (noch lange) nicht gestattet war: Oben auf dem Lettner stand das Musikkollegium bereit, in der Mitte, auf der Kanzel, der Vorsänger (Kantor) des Großmünsters. 12 Wie diese Musik im Übergang v o m Generalbaßzeitalter zu rokokohaftem, empfindsamem Stil in Zürich um die Mitte des 18. Jahrhunderts geklungen haben mag, erschließt sich durch die umfangreiche Notensammlung der Allgemeinen Musikgesellschaft, 1 3 Beschreibungen von Reisenden sowie Illustrationen der Musikpraxis, die sich - abgesehen v o m vierstimmigen, unbegleiteten Psalmengesang - außerhalb des Gottesdienstes entfaltete. 14 In Bürgerhäusern und Collegia Musica dienten Orgelpositive zur generalbaßmäßigen Begleitung (auch der mehrstimmig gesungenen Psalmsätze von Claude Goudimel). 1 5 Das hier abgebildete Titelkupfer des 85. Neujahrsblattes ( 1 7 6 9 ) der „Musikgesellschaft ab dem Musik-Saal" 1 6 vermittelt davon einen Eindruck: In zentraler Position steht die 1684 durch den Zürcher Orgelbauer Heinrich Blattmann erbaute Orgel. D i e Besetzung stimmt mit der in Zürich damals gepflegten Musik überein; noch nicht nachgewiesen ist der Komponist der in diesem N e u -

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Psalms (Lobwasser), eine Symphonie, eine Messe von Galuppi, Psalm 21 von Agricola, wobei „bei dieser Musik - horribile dictu - ein kleines Orgelwerk zur Verwendung kam". Ebd., 21. Die Reihenfolge der Musikstücke ist bezeugt: „eine Vocal-Musik, die jetzt einige Jahre auch mit Instrumenten begleitet gewesen, nachdem vorher von der ganzen Versammlung ein Psalmen abgesungen worden, welcher gemeiniglich der ftinfzehende ist [...]. Zuletzt wird der hundert und dreyzehende Psalm (von dem Vorsänger zum Großen Münster) angestimmet und abgesungen, und alles mit einer nochmahligen Figural-Music beschlossen." Vgl. Herrliberger, Beschreibung (s. Anm. 10), 9f. Diese wird in der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrt, durch Konzerte und vorbildliche Aufnahmen ausgewählter Werke bekannt gemacht, u. a. von Johann Caspar Bachofen, Johann Heinrich Egli, Hans-Jacob Ott, Johannes Schmidlin, Johann Jakob Walder: „Zürich, arise!"; „Sacred vocal music from the 18th Century Switzerland"; „The Seasons in Zurich. Choral Music from the 18th Centuiy". Dorothea Baumann, Art. Zürich, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil, Bd. 9, Sp. 2478-2483; dies., Vom Musikraum zum Konzertsaal. Auf den Spuren von Zürichs Musikleben, Neujahrsblatt der Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich 186 (2002); Antoine-E. Cherbuliez, Geschichte der Musikpädagogik in der Schweiz, Zürich 1943; dies., Die Schweiz in der deutschen Musikgeschichte, Frauenfeld/Leipzig 1932; Max Fehr / Paul Sieber / Georg Walter, Zürichs musikalische Vergangenheit im Bild, Neujahrsblatt der Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich 133/134 (1945/1946); Theodor Goldschmid, Schweizerische Gesangbücher früherer Zeiten und ihre Verwertung für den heutigen Chor- und Sologesang, Zürich 1917; Friedrich Jakob, Die Instrumente der Zürcher Musikkollegien und der Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich, Neujahrsblatt der Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich 157 (1973); ders., Die Musik, in: Hans Wysling (Hg.), Zürich im 18. Jahrhundert, Zürich 1983, 253-265; Albert Nef, Das Lied in der deutschen Schweiz Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts, Zürich 1909. Zürcher Lehrwerke zur generalbaßmäßigen Begleitung der vierstimmig gesungenen Lobwasser-Psalmen von Johann Ludwig Steiner (1734 [Z: Hy 20; 7.66]), Johann Caspar Bachofen (1734, 1759, 1782 [Z: WE 822]) und Johannes Schmidlin (1767 [Z: 7.388]). Das Neujahrsblatt ist „Einer Kunst- und Tugend-liebenden Jugend in Zürich ab dem Musik-Saal daselbst an dem Neuen Jahres-Tag des 1769. Jahrs verehrt." [Z: KK 3309, 279286],

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jahrsblatt veröffentlichten Kantate Der Gott der Natur. Cantus Primus, Cantus Secundus und Bassus musizieren: „Erster! Unaussprechlicher! Vater der Natur!" Der Chor fällt ein mit dem Choral „Vor dir, o Herr! Tritt unser Chor zusammen." Auf dem Fundament des Generalbasses (Orgel, Streichbaß) und begleitet durch zwei Streicher entfaltet die durch den Kantor geleitete Singgruppe eine festliche Musik von gewiß „edler Simplicität". 17 Autor des Kantatentextes ist Johann Kaspar Lavater. 18 JLuQKV

Titelkupfer des 85. Neujahrsblattes (1769) der „Musikgesellschaft ab dem Musiksaal" © Mit freundlicher Genehmigung der Zentralbibliothek Zürich (Graphische Sammlung)

Im Zuge der Entfaltung einer regen Musikpraxis zu Hause und in den Musiksälen wuchs in Zürich der Widerstand gegen „das ununterbrochene Absingen,

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Zum Stil dieser Zeit vgl. Jürgen Heidrich, Protestantische Kirchenmusikanschauung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Studien zur Ideengeschichte .wahrer' Kirchenmusik (Abhandlungen zur Musikgeschichte 7), Göttingen 2001. Im Neujahrsblatt selber findet sich keine Autorenangabe. Hingegen ist der Text identisch mit: Johann Caspar Lavater, Choral. Der Gott der Natur. Zum neuen Jahrestag 1769. Aus dem CIV. XXXIII. XXXIV. Psalm. In: Anthologie der Deutschen. Zweeter Teil, hg. v. Heinrich Christian Schmid, Frankfurt/Leipzig 1771, [44]—58; Weigelt, Bibliographie (s. Anm. 5), Nr. 91.1.

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aller und jeder für unsere Zeiten und U m s t ä n d e oft so ganz unschiklichen Psalm e n Davids". 1 9 Klagen v o n Seiten der Pfarrerschaft wurden v o n der Zürcher Obrigkeit konsequent zurückgewiesen. 2 0 Ebenso erging es den Reformversuchen in den anderen Landeskirchen. 2 1 Darum verdienen Lavaters Beiträge zur Verbesserung des G e m e i n d e g e s a n g s besondere Aufmerksamkeit. Er war es, der den Erneuerungsprozeß in Zürich vorantrieb. Ihm gelang es schließlich, entscheidende W e i c h e n zur ersten Zürcher Gesangbuchreform zu stellen.

2.

Johann Kaspar Lavater u n d s e i n e B e i t r ä g e zur V e r b e s s e r u n g des Gemeindegesangs

2.1. Neues

Interesse

an Person

und

Werk

Seit der Gedenkausstellung Das Antlitz.

Eine Obsession22

tritt Lavater neu ins

öffentliche B e w u ß t s e i n - der vielseitige und ambivalente 2 3 Zürcher T h e o l o g e , Prediger, Briefautor, Schriftsteller, Poet, Publizist, Pädagoge, Patriot, P s y c h o l o ge, Physiognomiker, heute w i e seinerzeit h o c h respektiert, 24 mitleidig belächelt,

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Zu den früh einsetzenden Kritiken und Verbesserungsversuchen des Lobwasser-Psalters vgl. Ehrensperger, Rezeption (s. Anm. 4). Heinrich Weber, Der Kirchengesang Zürichs, sein Wesen, seine Geschichte, seine Förderung, Zürich 1866, 54-59. Paul Wernle, Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert, Bd. I, Tübingen 1923, 594-631. Im übrigen fehlen bisher umfassende Darstellungen der Geschichte der Kirchenmusik und des reformierten Gottesdienstes in der Schweiz. Überblicke vermitteln: Walter Blankenburg, Kirchenmusik (s. Anm. 6); Eduard Emil Koch, Geschichte des Kirchenlieds und des Kirchengesangs der christlichen, insbesondere der deutschen evangelischen Kirche, Bd. 1-8, Allg. Register, Stuttgart 1866-1877; Andreas Marti, Die Rezeption des Genfer Psalters in der deutschsprachigen Schweiz und im rätoromanischen Gebiet, in diesem Band; Rudolf Pfister, Kirchengeschichte der Schweiz, Bd. 3: 1720-1950, Zürich 1984; Christoph Johannes Riggenbach, Der Kirchengesang in Basel seit der Reformation, Basel 1870; Gotthard Schmid, Die Landeskirche des Kantons Zürich, Zürich 1954; Heinrich Weber, Geschichte des Kirchengesanges in der deutschen reformirten Schweiz seit der Reformation, Zürich 1876. Der reich bebilderte Katalog der 1999 im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek Wien und 2001 im Kunsthaus Zürich durchgeführten Ausstellungen enthält aufschlußreiche Beiträge und Literaturhinweise: Gerda Mraz / Uwe Schögl (Hg.), Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater (Edition Lavater 1), Wien 1999. Gerhard Ebeling, Genie des Herzens unter dem genius saeculi - Johann Caspar Lavater als Theologe, in: Karl Pestalozzi / Horst Weigelt (Hg.), Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater, Göttingen 1994, 25 : „Eindruck von etwas Schillerndem, schwer Bestimmbarem, Ambivalentem". Stiftung von Schnyder von Wartensee, Johann Caspar Lavater (1741-1801), Denkschrift zur hundertsten Wiederkehr seines Todestages, Zürich 1902; Oskar Famer, Johann Caspar Lavater. Eine Würdigung fur die Gegenwart, Zürich 1938; Mary Lavater-Slomann, Genie des Herzens. Die Lebensgeschichte Johann Caspar Lavaters, Zürich/Stuttgart 1939, 51955; Fritz Enderlin, Der Magus von Zürich, Zürich 1953; Stähelin, Lavaters Werke (s. Anm. 1).

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kritisch gewürdigt, 2 5 umstritten, 26 hämisch verspottet 27 oder gar schweigend übergangen. 2 8 Entsprechend kontrastreich zeichnet M a x Brod sein Charakterbild: Mit seinem schön gezeichneten Mund, mit der großen geschwungenen Nase, die gleichsam immer auf Witterung übersinnlicher Welten aus war, mit den großen klaren sanften Augen und dem vorgebeugten Gang seines langen, abnorm magern Körpers (als „Kranich" läßt ihn Goethe auf dem Blocksberg auftreten) bewirkte er in jeder Gesellschaft, laut Goethes Wort, „die angenehmste Sinnesberuhigung". Sein Erfolg war sensationell; doch ebenso groß die Verspottung durch Mystifikatoren aller Art, die sich an ihn herandrängten und durch überwache Kritiker wie Lichtenberg. Selbst Hamann, der ihm wohlwollte und der ihm an wildwuchernder Blumigkeit des Stils nicht nachgab, beantwortete die Übersendung eines seiner Gedichte „Durst nach Christuserfahrung" mit den einigermaßen abkühlenden Briefworten: „Ihr Durst ist mein Frühstück gewesen." Mit seiner Naivität und Unmittelbarkeit, ja Überstürztheit, rannte eben Lavater überall gegen Wände. Und dennoch wurde den Menschen wohl in seiner Nähe.29 Seit Jahren wird das Interesse an Leben, Werk und Wirkung Lavaters 30 durch beachtenswerte Forschungserträge gefördert, 31 insbesondere durch die Reihe Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe.32 Martin Hirzel beispielsw e i s e präsentiert eine der zahlreichen religionspädagogischen Schriften Lavaters: Christliches Handbüchlein für Kinder,33 Darin finden sich auch geistliche Kinderlieder, die Hirzel treffend charakterisiert: „Bei Lavaters Lyrik handelt es sich eher um anspruchslose Gebrauchslyrik, die das Ziel hat, das Memorieren der Glaubensinhalte und Verhaltensanweisungen zu unterstützen. U m auswendig gelernt werden zu können, muß ein Gedicht einfach sein. Dieser Einfachheit

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Peter von Matt, Der Wahn und die Weisheit. Über Johann Caspar Lavater, in: ders., Die tintenblauen Eidgenossen, München/Wien 2001, 156-161; Amos Elon, Zu einer anderen Zeit. Portrait der jüdisch-deutschen Epoche, München/Wien 2002, 51-56. Martin Emst Hirzel, Polemik um Lavater - Der Sendschreiben-Streit von 1775/76, in: Zwingliana 39 (2002), 5-27. [Johann Ludwig Ummius], Freudenlied der Jünger Lavaters in Bremen, Bremen 1787 [Z: LAV H 847], Matthias Krieg / Gabrielle Zangger-Derron (Hg.), Die Reformierten. Suchbilder einer Identität, Zürich 2002. Lavater findet in diesem Handbuch keine Erwähnung. Max Brod, Bemerkungen zum Humanismus J. K. Lavaters, in: Neue Schweizer Rundschau N. F. 17 (1949), H. 5, 275-305, hier 302f. Horst Weigelt, Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 1991. Martin Sauer, Die Predigttätigkeit Johann Kaspar Lavaters. Darstellung und Quellengrundlage, Zürich 1988; Horst Weigelt, Lavater und die Stillen im Lande - Distanz und Nähe. Die Beziehungen Lavaters zu Frömmigkeitsbewegungen im 18. Jahrhundert (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 25), Göttingen 1988; Johann Kaspar Lavater, Reisetagebücher, Teil 1 : Tagebuch von der Studien- und Bildungsreise nach Deutschland 1763 und 1764, hg. v. Horst Weigelt, Göttingen 1997; Johann Caspar Lavaters Tagebuch aus dem Jahre 1761, hg. v. Ursula Schnetzler, Diss. Zürich, Pfaffikon 1989. Johann Caspar Lavater, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe; bisher erschienen: Bd. 2: Aussichten in die Ewigkeit 1768-1773/78, hg. v. Ursula CaflischSchnetzler, Zürich 2001; Bd. 3: Werke 1769-1771, hg. v. Martin Ernst Hirzel, Zürich 2002, und die in Anm. 5 genannte Bibliographie; dazu: Ulrich Stadler / Karl Pestalozzi (Hg.), Im Lichte Lavaters. Lektüren zum 200. Todestag (Johann Caspar Lavater Studien 1), Zürich 2003. Lavater, Werke (s. Anm. 32), Bd. 3, 431-673.

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mochte wohl auch dienen, daß Lavater beinahe ausschließlich vierhebige Verse verwendete. Bei der Lektüre stellt sich leider dadurch bisweilen der Eindruck der Monotonie ein."34 Ähnlich urteilt schon Wilhelm Nelle, der bemerkt, daß Lavaters Lieddichtungen in überwiegender Zahl „einen extemporierten Eindruck machen [...]. Die Situationen, für die sie bestimmt sind, erheischen in der Seelsorge eine Behandlung, auf die man sich nicht vorbereiten kann, wie man sich etwa auf eine Predigt vorbereitet [...]. Überhaupt machen Lavaters Lieder trotz der starken Änderungen, die ihr Urheber wiederholt mit ihnen vorgenommen hat, den Eindruck des Sprechstils viel mehr, als des Singstils, geschweige denn der liturgischen Sprache."35 Von den rund 700 Dichtungen Lavaters36 sind die meisten vergessen, ein Gesamtregister und eine Gesamtausgabe fehlen bisher, ebenso eine angemessene Würdigung seiner Beiträge zur Zürcher Gesangbuchreform vor dem Hintergrund seiner Zeit und aus heutiger Sicht.37

2.2. Herkunft und Jugendzeit

(1741-1762)

Johann Kaspar Lavater, 1741 in Zürich als Sohn des angesehenen Arztes Johann Heinrich Lavater und seiner Frau Regula, geb. Escher vom Glas, geboren, verbrachte die Jugend- und Studienzeit in seiner Heimatstadt, der er bis zum Lebensende treu blieb. Von früher Kindheit an wurde er durch die täglichen Begleiter der damaligen Zürcher Jugend - Bibel, Katechismus und LobwasserPsalter - geprägt. Noch als Erwachsener benutzte er seine zweibändige Vollbibel mit beigebundenem Lobwasser-Psalter.38 Das streng geregelte Ritual der wöchentlichen Kinderlehre machte ihn mit einer Auswahl von Lobwasserschen

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Ebd. 450f. Wilhelm Nelle, Lavater als Liederdichter, in: Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst 6 (1901), 1-8, hier 4t; K. Eberhard Oehler, Johann Caspar Lavater (1741-1801). Gottesmann, Physiognom, Liederdichter. Zu seinem 250. Geburtstag, in: Musik und Gottesdienst 45 (1991), 118-124. Johann Caspar Lavaters auserlesene christliche Lieder; ein Handbuch zur Erbauung und zum Nachdenken. Basel, bey Johann Jakob Flick, 1792, XI: „Lavater hat ohngefehr sieben hundert christliche Lieder gedichtet" [Z: Hy 260]. Die ergiebigsten Übersichten bilden nach wie vor: Karl Goedeke, Grundriß zur Geschichte der Deutschen Dichtung, 3. Aufl., fortgeführt v. Edmund Goetze, 4. Bd., 1. Abt., Dresden 1916, 259-281, und Eduard Emil Koch, Geschichte des Kirchenliedes und Kirchengesangs, Bd. 6, Stuttgart 31869, 514-518. Hans-Georg Kemper würdigt Lavater als Lieddichter im Kontext seines weit gespannten Beziehungsnetzes: Hans-Georg Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/1: Empfindsamkeit, 6/2: Sturm und Drang: GenieReligion, 6/3: Sturm und Drang: Göttinger Hain und Grenzgänger, Tübingen 1997-2002. Biblia Sacra. | Das ist: | Die ganze | Heil. Schrift | Alt- und Neuen | Testaments, | Aus den Grund-Sprachen treulich und wohl uebersetzt; | [...] Worzu annoch die | Lobwasserische Psalmen | samt den noethigen | Faest-Gesaengen | zu vier Stimmen | angefuegt sind. | Zürich, getrukt in Biirgklischer Truckerey, 1756 [Z: NT, 8.164: AT, 8.165].

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Psalmen vertraut, die im Zürcher Catechismus genau festgelegt war.39 In den städtischen Schulen erfuhr er eine gründliche Ausbildung in den klassischen Sprachen, in Philologie, Philosophie und Theologie, wobei er unter anderem durch die beiden bekannten Zürcher Professoren, Dichtungstheoretiker und Schriftsteller Johann Jakob Bodmer (1698-1783) und Johann Jakob Breitinger (1701-1776) nachhaltig geprägt wurde.

2.3. Exspectant:

Auserlesene Psalmen

Als frischgebackener Verbi Divini Minister, der sieben Jahre auf eine Pfarrstelle Ausschau hielt (Exspectant, 1762-1769), trat Lavater als ein mit natürlichem Gerechtigkeitssinn begabter Patriot auf. Zusammen mit Johann Heinrich Füssli (1741-1825) brachte er mit dem Traktat Der ungerechte Landvogt Unregelmäßigkeiten in der Amtsführung des ehemaligen Grüninger Landvogts Felix Grebel an den Tag. Die Enthüller des Skandals erhielten einen Verweis des Zürcher Rats und wurden von ihren Eltern auf eine einjährige Bildungsreise geschickt. Diese führte Lavater und Füssli zusammen mit ihrem Freund Johann Felix Hess (1742-1768) zu Probst Johann Joachim Spalding (1714-1804) nach Barth in Schwedisch Pommern. Dort vertiefte Lavater seine theologische Bildung. Gespräche mit dem verehrten Mentor, ausgedehnte Lektüre und zahlreiche persönliche Begegnungen ergaben ein für die kommende Zeit wichtiges Beziehungsnetz.40 Zurück in Zürich, wirkte Lavater aktiv in politisch, kulturell und prak-

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Catechismus, | Das ist | Unterricht | Wahrer Christlicher | Religion: | Samt den | Zertheilungen einer jeden | Antwort und den Zeugnussen | der heiligen Schrift: | Eingetheilt in | XLVIII. Sonntage | durch das ganze Jahr. | Für die Jugend der Stadt und | Landschaft Zürich. Zürich, I Gedruckt in Bürklischer Druckerey, o. J. Dieser vermutlich um 1780 gedruckten Ausgabe des Zürcher Katechismus ist die unveränderte Vorrede des Bürgermeisters und Raths der Stadt Zürich" von 1639 (!) vorangestellt. Aufbau: Jedem der 48 Sonntage während der Schulzeit sind je zwei bis drei Lobwasser-Strophen als „Gesang vor der Predig" zugeteilt. Nach der Katechismus-Frage und -Antwort folgen eine „Zertheilung" (Interpretation) und „Zeugnussen" (biblische Belegstellen). Der „Gesang nach der Predig" umfaßt weitere Strophen aus dem „Lobwasser". Diese zwei bis drei Seiten bilden den wöchentlichen Memorierstoff fur die Zürcher Jugend. Für den Vollzug der sonntäglichen Kinderlehre ist auf Seite 21 lf. beigegeben: „Form, die Kinderlehre, oder Uebung des Christlichen Catechismus anzuheben" (mit Eingangsvotum, Eingangsgebet, Unser Vater), nach der (hier nicht erwähnten) Predigt folgt die „Form, die Kinderlehre zu beschließen" (Schlußgebet, Unser Vater, Segen). Es folgen Schulgebete für Morgen, Abend und in „Kriegs-Laeuffen", Wochengebet, „Seufzerlein am Morgen und Abend", „Seufzerlein in der Kirchen", die vierstimmigen „Melodeyen [Sätze], nach welchen das CatechismusGesang gesungen wird" (die sogenannten „Alten Psalmen" Nun freut euch lieben Christen gmein [Ich steh an deiner Krippe hier], Ach Gott, vom Himmel sieh darein usw.) Als abschließender Memorierstoff sind angefügt: „Verzeichniß aller Canonischen Bücheren der Heiligen Biblischen Schrift" und eine abschließende Motivation zur wöchentlichen Lektüre von 20 Kapiteln und drei Psalmen: „[...] so kommt man innert Jahresfrist mit der ganzen Bibel zu Ende."

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Unterwegs begegnete Lavater u. a. Martin Crugot, (1725-1790), Samuel Diterich (17211797), Johann August Ernesti (1707-1781), Friedrich Π. (1712-1786), Karl Christian

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tisch-theologisch fuhrenden Gesellschaften mit.41 Drei Publikationen machten ihn weit über die Grenzen bekannt: Auserlesene Psalmen Davids (1765, 1768), die für die Helvetische Gesellschaft Schinznach ausgearbeiteten Schweizerlieder (1767) und die in Briefform abgefaßten, an den in Göttingen wirkenden Schweizer Arzt Johann Georg Zimmermann (1728-1795) adressierten Briefe, die 1768-1778 unter dem Titel Aussichten in die Ewigkeit erschienen. In diese Zeit fiel der jähe Tod seines Freundes und Reisebegleiters Felix Hess. In der Folge erlebte Lavater eine tiefe Wandlung seines theologischen Denkens. Von einer gemäßigten Aufklärung sich lösend, begab er sich auf die Suche nach dem Wirken des Heiligen Geistes in der Gegenwart,42 was ihn mitunter zu kuriosen Theologumena, später zu abwegigen Begegnungen mit Scharlatanen und fragwürdigen Heilungsexperimenten verführte. Deutlich trat bei ihm schon früh eine konsequente Ausrichtung auf die Bibel hervor,43 was sich auch in seinem Liedschaffen niedergeschlagen hat. Angeregt und beeinflußt von Klopstock hatte schon Johann Andreas Cramer (1723-1788), Hofprediger in Kopenhagen, Poetische Übersetzungen der Psalmen mit Abhandlungen über dieselben (1755-1764) vorgelegt. In der folgenden Generation schufen Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791) und Lavater Psalmparaphrasen in Liedform. Der Titel von Lavaters Werk ist Programm: Auserlesene Psalmen Davids zum allgemeinen Gebrauch in Reimen gebracht. Lavater verläßt die reformierte Tradition des vollständigen Liedpsalters, indem er nur eine Auswahl aus den 150 Psalmen Davids paraphrasiert. Zwar stellt er zu Beginn seiner Vorrede deren hohe Bedeutung heraus: „Die Psalmen und Gebete Davids sind so voll von großen und göttlichen Gedanken, von edeln, gottseligen und erhabenen Empfindungen, daß sie jedem Christen überhaupt, und jedem Christlichen Dichter insbesondere, ein unschätzbarer Theil der göttlichen Schriften seyn müssen." Er würdigt „die rühmlichen Bemühungen jener

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Gärtner (1712-1791), Christian Fürchtegott Geliert (1715-1769), Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803), Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709-1789), Abraham Gotthelf Kästner (1791-1800), Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803), Moses Mendelssohn (1729-1786), Johann David Michaelis (1717-1791), Friedrich Nicolai (1733-1811), Karl Wilhelm Ramler (1725-1798), August Friedrich Wilhelm Sack (1703-1786), Georg Joachim Zollikofer (1730-1788). Moralische Gesellschaft, Helvetisch-vaterländische Gesellschaft, Helvetische Gesellschaft Schinznach, Theologisch-moralisch-casuistische Gesellschaft (Ascetische Gesellschaft). [Johann Jak. Hess], Abriss von dem Ursprung, der Verfassung und den Arbeiten der Ascetischen Gesellschaft in Zürich, Zürich 1790 [Z: Gal. Sp. 359]; Hans Rudolf von Grebel (Hg.), Pfarrverein des Kantons Zürich (Ascetische Gesellschaft) 1768-1968, Zürich 1968. Vgl. Drey Fragen von den Gaben des Heiligen Geistes (1769), Zugabe zu den drey Fragen von den Gaben des Heiligen Geistes (1769), Es mag [...] nicht unbekannt seyn, dass ich gesinnet bin, die Lehre der Schrift vom Glauben, Gebeth, und den Gaben des heiligen Geistes zu untersuchen (1771), in: Lavater, Werke (s. Anm. 32), Bd. 3, 19-113. Dazu Ebeling, Genie (s. Anm. 23): „Das eindrücklich Konzentrische seines Denkens läßt sich nur auf die innere Konsequenz einer Lebensganzheit zurückführen, die, von einem pulsierenden Herzen, einem Universalmedium belebt, alle Lebensäußerungen in ihrer Vielfalt umspannt." Ebd., 33. „Wie nur ganz wenige Theologen, zumal in der Neuzeit, ging es Lavater um die Glaubensgewißheit als den Kardinalpunkt." Ebd., 35.

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gottseligen und verehrungswürdigen Männer," welche die „löbliche und beschwerliche Arbeit über sich genommen, poetische Übersetzungen der Psalmen zu verfertigen", und erinnert an die Psalmbereimungen von Lobwasser, Opitz, Ziegler, Wildermet, Spreng und Cramer. Doch äußert er einen grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber all diesen Versuchen: Das Gesamtwerk eines Liedpsalters könne zu gedankenlosem Absingen der 150 Psalmen verleiten. Manche Texte paßten nicht zu den Erfahrungen der Gegenwart, da sie sich auf längst vergangene Situationen in der Geschichte Israels oder in der Biographie Davids bezögen. Darum wählte Lavater solche Psalmen aus, die nach seiner Meinung „zur öffentlichen und besonderen Andacht Christlicher Gemüther gebraucht werden können", und versuchte, „sie in fließende Reime zu bringen, und ihren Gebrauch so allgemein, als möglich zu machen". 44 Ferner nahm sich der Liedautor auch die Freiheit, in einem weiteren grundlegenden Punkt von der reformierten Tradition abzuweichen: von der größtmöglichen Nähe zum Urtext. Verzichtete er darauf aufgrund ungenügender Beherrschung des poetischen Handwerks? 45 Oder handelt es sich um eine Engführung aufklärerischer Exegese, die „immer ausschließlicher nur noch den historisch-buchstäblichen Sinn der Urkunden gelten" läßt?4« Bald nach Erscheinen des ersten Bandes der Auserlesenen Psalmen Davids erhielt Lavater willkommenen Sukkurs von Seiten seines Freundes Georg Joachim Zollikofer (1730-1788), Pfarrer der reformierten Gemeinde in Leipzig. Dieser bedankte sich für die Zusendung des ersten Bandes und bat, ihm einige Psalmen für das neue Gesangbuch der reformierten Gemeinde in Leipzig zu überlassen und das angefangene Werk so rasch wie möglich zu vollenden: [...] für die überschickten Psalmen sage ich Ihnen den ergebensten Dank. Sie haben mir überhaupt recht wol gefallen und ich habe verschiedene sehr schöne Stellen darin gefunden. Ich hätte aber gewünscht, daß einige Psalmen kürzer seyn möchten, weil sie alsdann nicht nur weit bequemer zum Gebrauche bei dem öffentlichen Gottesdienste seyn, sondern auch in Ansehung der Stärke der Gedanken und des Ausdrucks viel würden gewonnen haben. Noch mehr hätte ich gewünscht, daß Ihre Psalmen bekannte Lieder-Melodien hätten, so würde ich vielleicht die meisten davon in mein neues Gesangbuch eingerückt haben und der Nutzen ihrer Arbeit würde viel ausgebreiteter gewesen sein. Nun habe ich nur wenige,

44

45

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Ebd., 4. Wie weit sich Lavater von der reformierten Tradition des Liedpsalters löst, kommt auch in den Melodiezuweisungen zum Ausdruck. Am Schluß des zweibändigen Werks folgt einem „Register über den Inhalt aller in dieser Sammlung sich befindlichen Psalmen" ein „Verzeichniß einiger Psalmen, welche in nachstehenden Melodien können gesungen werden". Lavater verweist hier auf bekannte Sammlungen von Schmidlin ( 100 Lieder, Cramers geistl. Oden und Lieder, Gellerts Oden, Singendes und spielendes Vergnügen), Ott (Geistl. Lieder), Ziegler (Des singenden Christen nach der heutigen Mundart eingerichtete Festlieder, Psalmen und andacht erwekende Gesaenge). Dieses Defizit gibt Lavater unumwunden zu: „Allein ich kann es nicht deutlich genug sagen, wie sehr unvollkommen ich dennoch diese Lieder größtenteils finde [...]. Ich habe manche davon verschiedene Male umgegossen, und doch nicht ganz damit zufrieden werden können [...]", in: Vorrede zu Christliche Lieder. Erstes Hundert, Zürich 1780, IV [Z: Lav H 632], Inka Bach / Helmut Galle, Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Untersuchungen zur Geschichte einer lyrischen Gattung, Berlin/New York 1989, 262.

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und zwar nicht einmal die wichtigsten zu meiner Absicht gebrauchen können. Ich bin sehr begierig, die Fortsetzung Ihrer Arbeit zu sehen. Da ich mein Gesangbuch gerne auf künftige Ostermesse herausgeben möchte, so würden Sie mir eine besondere Freundschaft erweisen, wenn Sie mir noch vorher einige Beyträge dazu verschafften [...].47

Dazu kam es allerdings aus Zeitgründen nicht, denn das neue Leipziger Gesangbuch lag im März 1766 vor, während der zweite Band Auserlesene Psalmen Davids erst zwei Jahre danach gedruckt wurde. Zollikofer schreibt in seinem Begleitbrief vom 2. März 1766: Wohlerwürdiger Herr u. freund, Ich habe die Ehre, Ihnen hiermit mein Gesangbuch zu überschicken u. es würde mir ein wahres Vergnügen machen, wenn die getroffene Wahl der Lieder und die in denselben gemachten Veränderungen Ihren Beifall fanden. Aber auch strenge Critiken werden mir, wenn Sie von Ihnen kommen, nicht unangenehm seyn. Ich sehe die Unvollkommenheit meiner Arbeit wohl ein u. ich fange schon an zu wünschen, daß ich eine gewisse Anzahl mittelmäßig guter Lieder, die ich ohne genügsame Prüfung aus der Berlinischen Sammlung entlehnt habe, weggelassen hätte [...].48

Zollikofer bringt das Neue Gesangbuch 1766 in zwei inhaltsgleichen Auflagen heraus, beide Male als Sammlung von Liedtexten mit Melodieverweisen, jedoch mit unterschiedlichen Titeln, die auch gleich die Absichten des Herausgebers verraten: Neues | Gesangbuch, | oder | Sammlung | der besten geistlichen | Lieder und Gesänge | zum Gebrauche | bey dem öffentlichen Gottesdienste | herausgegeben | von G. J. Zollikofer, | Prediger der evangelisch-reformirten Gemeinde in Leipzig. | Leipzig, | bey M. G. Weidmanns Erben und Reich | 1766.49

Diese erste Auflage war primär fiir die reformierte Gemeinde in Leipzig bestimmt und enthält daher ein Vorwort ihres Seelsorgers, der eingehend begründet, warum ein neues Gesangbuch an der Zeit sei. Zollikofer weist auf die hier versammelten „vortrefflichen Lieder und Gesänge der Herren Gellerts, Cramers, Schlegels, Klopstocks [...] Spalding[s] und Dieterichfs]" und die notwendig gewordenen Veränderungen bei alten und neuen Texten hin. Die drei Abteilungen des neuen Gesangbuchs enthalten Lieder und Gesänge von allgemeinem Inhalt (Lobgesänge, Dank-, Gebet-, Trost-, Morgen-, Abend- und Neujahrslieder), Lieder und Gesänge über die wichtigsten Stücke der christlichen Glaubenslehre ( Von Gott und seinen Eigenschaften überhaupt bis Vom ewigen Leben) und Lieder und Gesänge über die wichtigsten Stücke der christlichen Sittenlehre ( Von der Buße und Bekehrung bis Von der Aufrichtigkeit und Wahrheit). Nach dem „Verzeichnis der hierin enthaltenen Psalmen, die nach Liedermelodien gesungen werden können", und dem alphabetischen Register folgt abschließend ein kurzer Gebets-Anhang. Einige Monate später erscheint ein inhaltsgleicher Nachdruck unter dem kurz gefaßten Titel:

47 48 49

Z: FA Lav Ms 535, Brief 66 (10.10.1765). Ζ: FA Lav Ms 535, Brief 67 (2.3.1766). Die erste Auflage ist in der Zürcher Zentralbibliothek nicht vorhanden; mir lag ein in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden vorhandenes Exemplar zur Einsicht vor.

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Sammlung | geistlicher | Lieder und Gesänge | zum Gebrauch | Reformierter Religionsverwandten. I 1766.50 Er war offenbar im Interesse einer weiten Verbreitung in reformierten G e m e i n den außerhalb v o n Leipzig bestimmt und darum ohne Angaben über Herausgeber und Druckort und ohne Vorrede. Interessanterweise erscheint im selben Jahr in Bremen ein ausführliches Gutachten z u m neuen Bremischen Gesangbuch, auf das sich Lavater drei Jahre später beruft: [Elard Wagner], Gründe | warum | dass Reformirte Ministerium | in Bremen | bey | der Ausgabe eines neuen | Psalm- und Gesangbuches, | nicht die sämmtlichen | hundert und fünfzig Psalmen | beybehalten hat. | Bremen, | bey Johann Heinrich Cramer, 1766.51 Elard Wagner begründet, warum im neuen Bremischen Gesangbuch auf den vollständigen Lobwasser-Psalter verzichtet wird. D i e Vorrede des 1766 fertiggestellten, j e d o c h erst 1767 erschienenen Gesangbuchs verweist dabei explizit auf das ausfuhrliche Gutachten des Ministeriums. Der Titel bezeichnet das B u c h d e m Inhalt g e m ä ß als Psalm-

und

Gesangbuch:52

Neues Bremisches | Psalm- | und | Gesangbuch | zur öffentlichen und besonderen Erbauung I der Reformirten Stadt- und Landgemeinen, | mit Hoch-Obrigkeitlicher Bewilligung, | herausgegeben | von dem | Bremischen Ministerio. | Bremen [...] 1767.53 A u f w e l c h e n W e g e n Lavater v o m Gutachten und v o m neuen Gesangbuch aus B r e m e n Kenntnis erhielt, ist n o c h nicht geklärt. 54

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54

Auch dieser Nachdruck fehlt in Zürich, dafür ist in der Zentralbibliothek dessen zweite Auflage (1767) greifbar [Z: Gal TZ 1477], Autor dieser 83 Seiten umfassenden Begründung ist nachweislich Elard Wagner (17 Π Ι 782), Gemeindepfarrer und Pastor Primarius in Bremen. Die Schrift ist in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden greifbar, allerdings ohne Titelblatt. Zu Elard Wagner vgl. Heinrich Wilhelm Rothermund, Lexikon aller Gelehrten, die seit der Reformation in Bremen gelebt haben, Bremen o. J., 245. 1. „Psalmen und Lieder zu den Glaubenslehren", 2. „Psalmen und Lieder zur christlichen Sittenlehre, 3. „Psalmen und Lieder für besondere Umstände und Zeiten". Das Privilegium der Obrigkeit, unterzeichnet von Dr. J. Pundsack, ist auf den 29. Oktober 1766 datiert; das Gesangbuch als solches erschien vermutlich im 1. Quartal 1767. Da die Vorreden der beiden in Leipzig und Bremen praktisch gleichzeitig entstandenen Gesangbücher auffallende Parallelen aufweisen, kann folgendes vermutet werden: Die an verschiedenen Orten wirkenden Gesangbuchmacher interessierten sich für die Arbeit der Kollegen. Explizit bedauerte das Bremische Ministerium, daß ihm die Berliner Lieder fiir den öffentlichen Gottesdienst (Diterich 1765) und das neue Leipziger Gesangbuch (Zollikofer 1766) erst zu Gesicht gekommen seien, als sich Teile des Bremischen Gesangbuchs schon im Druck befanden. Immerhin reichte es gerade noch, eine Auswahl der „beträchtlichsten" Lieder in den Gesangbuchanhang aufzunehmen. Da Kontakte zwischen Leipzig und Bremen bestanden, liegt die Annahme nahe, daß Zollikofer seinen Freund Lavater über die Veröffentlichungen des Bremischen Ministeriums unterrichtete. Diese Hypothese läßt sich jedoch erst verifizieren, wenn entsprechende Belegstellen in den Korrespondenzen von Zollikofer oder Lavater gefunden werden. Eine direkte Verbindung Zürich - Bremen kommt erst viel später in Betracht: Der umstrittene Besuch Lavaters in Bremen fand 1786 statt, und Korrespondenzen mit Bremischen Briefpartnern sind auch erst aus dieser späten Zeit bekannt. Lavater kann jedoch auch über Zeitschriften oder Buchanzeigen Informationen über die Bremischen Publikationen erhalten haben.

404 2.4. Diakon und Pfarrer am Waisenhaus:

Hans-Jiirg Stefan

Geistliche Lieder

In seiner ersten Gemeinde am Zürcher Waisenhaus (1769-1778) wurde Lavater durch Unterricht, Seelsorge und Gottesdienst stark gefordert. Deshalb entstanden in dieser Lebensphase auffallend viele Handbücher für Kinder und Eltern sowie Sammlungen mit Gebeten und Liedern für Kinder. Zugleich wuchs eine erste Sammlung 50 Christliche Lieder (1771) auf 100 Christliche Lieder (1776) und schließlich auf 200 Christliche Lieder (1779) an. Zuvor jedoch edierte Lavater eine Zürcher Ausgabe des neuen reformierten Leipziger Gesangbuches (1766): Auserlesene | Geistliche | Lieder, | Aus den besten | Dichtern | Mit | Ganz neuen leichten | Melodieen | versehen. | Zürich, bey Johann Kaspar Ziegler, 1769.55

In seiner Vorrede bezeichnet Lavater diese Sammlung als „ein sehr gutes und ziemlich vollständiges Haus-Liederbuch". Da keinerlei Chance bestand, ein Reformgesangbuch im öffentlichen Gottesdienst der Zürcher Kirche einzusetzen, wies Lavater dem neuen Liedgut vorerst einen Platz im privaten Bereich zu. Dieses Haus-Liederbuch ist jedoch mehr als nur ein Zürcher Nachdruck des Leipziger Gesangbuchs von 1766. 56 Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, daß hier nicht (wie in der Leipziger Sammlung) auf vertraute Melodien verwiesen, sondern gänzlich neue Musik hinzugesetzt wird: Der sonst kaum bekannte Musiker J. Z. Gusto 57 schuf für die neuen Liedtexte durchgehend neue Melodien und Sätze für ein- bis vierstimmigen, generalbaßmäßig begleiteten Gesang.

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Mit einer Vorrede von J[ohann] C[aspar] L[avater] vom 16.10.1768 und einem Vorbericht des Komponisten J. Z. Gusto vom 8.10.1768 [Z: Hy 88. Sp. 175]. Diese Sammlung erlebte zwei weitere Auflagen und erfuhr eine zeitlich und räumlich weite Verbreitung über die Zürcher Kirche hinaus. Wernle, Protestantismus (s. Anm. 21), I, 617, bezeichnet die Zürcher Sammlung als „verkürzten zürcherischen Zollikofer," weil Lavater „seinen Zollikofer so ausplünderte, daß von den 103 drei- und vierstimmigen Liedern bloß 5 nicht ihm entnommen waren". Über die Person des Komponisten J. Z. Gusto (Gustus) ist nichts bekannt - handelt es sich möglicherweise um einen Decknamen fur den Theologen und Musiker Johannes Schmidlin (1722-1772), der mit Lavater befreundet war? Dorothea Bauman erwähnt Gusto in: Art. Zürich, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil, Bd. 9 (1998), Sp. 2480. Weitere Erwähnungen finden sich in: Répertoire international des sources musicales A/I/3, 413 (G 5168); Nef, Collegia Musica (s. Anm. 9), 66; Nef, Lied in der Schweiz (s. Anm. 14), 113; Robert Eitner, Biographisch-bibliographisches Quellen-Lexikon der Musiker und Musikgelehrten christlicher Zeitrechnung bis Mitte des 19. Jahrhunderts, Bd. 4, Leipzig 1901, 429: „[...] ein Musiker aus der Mitte des 18. Jh., zu Zürich, wo er herausgab .Auserlesene [...] 1769', 427 S. mit 170 Liedern zu 1-2-3-4 Stim. Sie zeichnen sich durch Einfachheit und hübsche Erfindung aus. Die Gedichte sind aus Zollikofers Gedichtsammlung." Ähnlich knapp faßt sich Edgar Refardt, Historisch-biographisches Musikerlexikon der Schweiz, Leipzig/Zürich 1928, 114; ders. / Willy Schuh, Ergänzungen und Berichtigungen zum Schweizer Musikerlexikon, Zürich o. J. [1941], 46.

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2.5. An St. Peter: Christliche Lieder und Katechismuslieder In seinem vierten und letzten Lebensabschnitt (1778-1801) stellte Lavater die entscheidenden Weichen zur grundlegenden Erneuerung des Zürcher Gesangbuches. Im gleichen Jahr, als er seine Sammlung Christliche Lieder mit dem zweiten Hundert abschloß, wagte er es, als eines der jüngsten Mitglieder der Zürcher Synode seine Bedenken gegenüber den aus deutschen Landen einsikkernden aufklärerischen Ideen öffentlich auszusprechen. Zu einer solchen Intervention bot der Antistes (Vorsteher der Zürcher Kirche) jeweils nach Abwicklung der ordentlichen Traktanden Gelegenheit, indem er routinemäßig die Frage stellte, „ob jemand der Lehre, Irrungen, Mißverstands oder sonst anderer Kirchensachen halber etwas, es betreffe gleich Nutzen oder Schaden, anzubringen habe".58 In der Regel folgte auf diese Frage allgemeines Schweigen. Doch in der Mai-Synode 1779 ergriff der an St. Peter neu eingeführte Diakon Lavater die Gelegenheit zu einer Synodalrede gegen Deismus und kirchlichen Rationalismus.,59 Ein Jahr später brachte Lavater seine Sechzig Lieder nach dem Zürcherischen Catechismus60 heraus. Sein Anliegen formuliert er in der Zueignungsschrift: Nimm, Liebe Petrinische Jugend, dieß erste Geschenk meines Herzens mit Liebe an, und brauch es, wozu ich dir's gebe - Zur Uebung deines Gedächtnisses - zur Belehrung deines Verstandes, zur Erwärmung und Ermunterung deines Herzens, zur Erweckung guter, Gottgefalliger, seliger Gesinnungen, aus denen Thaten quillen, an denen Himmel und Erde Freude hat, und die ewig bleiben, wie Euere Seelen.61

Diese Dedikation richtete Lavater an die Jugendlichen, die Sonntag fur Sonntag zu Beginn der Kinderlehre jeweils zwei bis drei Strophen aus dem „Lobwasser" zu singen hatten, Texte, die auch Erwachsenen Mühe bereiteten. Darum bezeichnete Lavater den Katechismusgesang als „sehr unschickliche Gesangsweise"62 und vermerkte als besonders anstößige Beispiele die den Kinderlehren vom sechsten bis elften Sonntag zugeteilten Strophen, unter anderem aus Psalm 38,4-6: 4.

58 59 60

61

62

Dann meine gebrechen schwehre Mächtig sehre Ueberhand genommen han, Daß ich sie kaum kan ertragen, Recht zu sagen, Mich nicht drunter regen kan.

Stähelin, Lavaters Werke (s. Anm. 1), Bd. 3, 2. Ebd., 3-27. Sechzig Lieder nach dem Zürcherischen Catechismus. Der Petrinischen Jugend zugeeignet Von Johann Caspar Lavater, Diakon am St. Peter. Zürich, Bey C. Füeßli, Sohn im Niederdorf. MDCCLXXX [Z: WD 756]. Ebd.; die leere Rückseite des Titelblatts ist nicht paginiert. Die einseitige .Zueignungsschrift' trägt die Seitenbezeichnung )( 2. Danach folgen, wieder ohne pagina: .Vorbericht' und .Verzeichnis der Lieder'. Stähelin, Lavaters Werke (s. Anm. 1), Bd. 3, 177.

406

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5.

Sehr mir stinken meine wunden Und gefunden, Wird darinnen eyters vil: Aber dieses alles machet Und ursachet Meine tohrheit und muthwill.

6.

Mein groß übel mich hart drucket, Krumm gebucket Ich darunter geh herein. Stets ich trauer-kleider trage, Meine plage Mir die marter macht und pein.63

1785 nutzte Lavater wiederum die Frühjahressynode für seine Synodalrede gegen den Gesang der Lobwasserschen Psalmen,64 Er selbst bezeichnet diese zweite Synodalrede als Specialgravamen (dringliche Beschwerde). 65 Narrativ, eingekleidet in eine ,Fabel', nimmt er Bezug auf seine sechs Jahre zuvor gehaltene erste Synodalrede und beruft sich auf sein gutes Recht und die Pflicht eines jeden Synodemitglieds, der Aufforderung des Antistes zu folgen und verbesserungsbedürftige Punkte anzusprechen. Er vergleicht die Synode mit einer Versammlung von Hirten, die über ihre Herde beraten: „Wir wissen freilich alle, daß das Futter [sc. der Lobwasser-Psalter] schlecht und elend ist; aber wir wollen es doch beim Alten bewenden lassen [...]." Lavater bittet um bessere Nahrung für die Schafe: Mein Gravamen betrifft den Kirchengesang, insbesondere den vor und nach den Kinderlehren. Ich spreche jetzt nicht von dem beinahe ärgerlichen Verfalle des Kirchengesangs in der Stadt, welches ein eigener, höchster Besserung bedürftiger Punkt wäre, sondern von dem bisweiligen Inhalte desselben. Tief in der Seele kränkt es mich, [...] dass nicht in den dunkelsten Zeiten der Barbarei, dass heut zu Tage, nicht in einem entlegenen lichtscheuen Winkel, sondern in unserm, in allen Synodalversammlungen zur Aufklärung sich glückwünschenden Zürich, auf dem Lande wie in der Stadt, vor einer Versammlung, ich will nicht sagen: protestantischer Christen, sondern nur vernünftiger Menschen gesungen wird, was oft noch gesungen werden muß. 66

Lavater spricht hier dieselben Lobwasser-Psalmen an, die er fünf Jahre zuvor in seinem Vorbericht zu Sechzig Lieder nach dem Zürcher Katechismus konkret benannt und für die Jugendlichen als besonders ungeeignet bezeichnet hatte. Obschon seine Intervention zunächst auf die Neugestaltung des Katechismusgesangs zielt, skizziert Lavater am Schluß seiner Rede in nuce den Inhalt eines neuen Christlichen Gesangbuchs in Form der Bitte, [...] unsere für jedes christliche Herz immer peinliche und von den meisten christlichen Kirchen in Europa abgehende, äußerst unvollständige, mehr israelitische als christliche Gesangsweise [...] ganz umzugießen und Lieder, die Christi Thaten, Gesinnungen, Charakter, Lehren, Verdienste, Schicksale, Anstalten, Herrlichkeit und die eigentlichen

63 64 65 66

So im Zürcher Catechismus um 1780 (s. Anm. 39), 20f. Stähelin, Lavaters Werke (s. Anm. 1), Bd. 3, 180-186. Ebd., 184. Ebd., 186.

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Pflichten und Hoffnungen des Christen besängen, einzuführen [...] Ich verlange für einmal so wenig wie möglich, ich dringe nur auf Abschaffung des Unerträglichen. Wer zu viel will, erlangt gemeiniglich gar nichts; wer hingegen nur das Wenigste, was gewollt werden kann, nur das Notwendigste und Dringendste will, erhält oft mehr, als er zu wollen geschienen hat. 67

Dies geschah tatsächlich nach erstaunlich kurzer Zeit. Zwei Jahre nach der Synodalrede lag das neue Zürcher Gesangbuch vor: Christliches | Gesangbuch, | oder | Sammlung | auserlesener | Psalmen und geistlicher Lieder, I über | alle wichtigen Wahrheiten der Glaubens- und Sit-|tenlehre; mit den beliebtesten Psalm- und | vielen neuen, sehr leichten, vierstim-|migen Choralmelodien. | Herausgegeben I mit Rücksicht auf vaterländisches Bedürfniß. | Mit gnädigst. Privilegio sämtl. Evangel. Eidgnoßschaft. | Zürich. Gedruktbey Orell, Geßner, Füeßli und Compagnie. | 1787.

Integriert in diese Erstausgabe sind: [361J-401 : Anhang | einiger auserlesener | Psalmmelodien | welche in der Sammlung selbst nicht angebracht | werden konnten.

Nach dem unpaginierten Gesamtregister folgen mit neuer Paginierung die traditionellen Zürcher Gesangbuchkomponenten: [ 1 ]—242 : Die CL: Psalmen Davids durch D. Ambrosius Lobwasser in deutsche Reimen gebracht. Zu vier Stimmen ausgesetzt. Samt Alten Psalmen, Fest- und Kirchen-Gesängen. Zürich 1787. 243-259: Die Haupt-Summ der wahren Christlichen Religion. Nach der Ordnung des Catechismi, der geübt wird in Zürich [...] 260-288: Hymni, oder Lob-Gesänge für die hohen Feste.

Mit neuer Paginierung sind angefügt: 1—40: Fest- und Nachtmahls-Andachten [Sammlung liturgischer Formulare und Gebete].

Abschließend folgt, wiederum mit eigener Paginierung: 1-88: Die | Kleine Bibel: | Oder der | Psalter Davids. | durch Weiland Herrn | Rudolf Walthera I gründlich und eigentlich | aus der | Hebräischen Sprache verdeutschet | und | von neuem mit allem Fleiß | ausgefertiget. | Mit immer stehenden Buchstaben gedruckt. | Zürich, bey David Gessner. 1787.68

67 68

Ebd., 185f. [Z: Sp 381]. Eine Ausgabe mit identischem Inhalt inklusive Anhang S. 361^101 und Register erschien im gleichen Jahr auch ohne die oben genannten weiteren Komponenten des Zürcher Gesangbuchs, d. h. ohne Lobwasser-Psalter [Z: Hy 110]. Ein Jahr später erschien: Partitur der Melodien zu dem neuen Christlichen Gesangbuch. | Oder auserlesene | Psalmen und Choralgesänge | zu vier Stimmen, | mit bezeichnetem | General-Baß. | Zum Gebrauch der Lehrenden und Lernenden. | Mit allergnädigstem Privilegio sämtlichEvangelischer Eidsgnoßschafl. | Zürich, bei Orell, Gessner, Füßli und Compagnie. 1788 [Hy 110b]. Weitere Ausgaben des Christlichen Gesangbuchs in unterschiedlicher Zusammensetzung sind in der Zürcher Zentralbibliothek greifbar (die Auflagen 5-7, 10, 13-16, 19, 20, 22 fehlen): 2 1789 [Hy 110a /Gal 17.721], 21790 [WE 1271.2], 31790 [WE 1271.1 / AB 6690.3], 31794 [Sp 378], "1799 [MUS WF 69], '1810 [WM 426], 91811 [ZB 1229.2], 3 1812 [WE 1278 = 3. Aufl. der Großdruckausgabe], "1813 [ΠΙ R 156 / 17.805], l2 1814 [ZB 868], "1819 [K/ 1503],181819 [Hy 110 a r / W E 1279], 201822 [Hy 142a/WE 1272.2], 21 1822 [AB 6563.2 / WM 424.1], 231824 [WE 1273], 241824 [PC 7934], Ab 1826 erscheint,

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3. Zielbewußte Vorarbeiten für ein neues Gesangbuch Abschließend soll eine Beobachtung zur Diskussion gestellt werden, die sich beim Vergleich von Lavaters Liedersammlungen mit dem Inhalt des Zürcher Gesangbuchs seiner Zeit ergibt. In der linken Spalte der folgenden Tabelle sind die Komponenten aufgelistet, welche das Zürcher Gesangbuch ausmachen. Aus diesem Fundus wurden je nach Bedarf bestimmte Teile ausgewählt und zu einer Schulausgabe, für den Hausgebrauch oder für den Gemeindegottesdienst zusammengefügt. Ehrensperger bemerkt zu Recht, daß der Aufbau der Zürcher Gesangbücher an das Common Prayer Book der englischen Kirche erinnert, „das als eigentliches Kompendium und Handbuch der Glaubenspraxis verstanden worden ist".69 In der rechten Spalte ist eine Auswahl aus den von Lavater im Bereich Bibel - Katechismus - Kirchengesang - Gottesdienst publizierten Werken aufgelistet und den entsprechenden Gesangbuch-Komponenten zugeordnet. Es ergeben sich überraschende Parallelen: - In manchen Zürcher Gesangbüchern bildet die Bibel den Rahmen des Gesangbuches: Am Anfang steht die Biblia Sacra, die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments (oft nur das Neue Testament), am Schluß Die kleine Biblia, der von Rudolph Gwalter (1519/25-1586) übersetzte Lesepsalter. Lavater bearbeitete mehrere Bände Biblische Erzählungen fiir die Jugend. - Dem seit 1598 in der reformierten Zürcher Kirche offiziell verwendeten Lobwasser-Psalter stellt Lavater zwei Bände Auserlesene Psalmen Davids gegenüber. Die dazu gehörende Vorrede und später geschaffene Sammlungen wie Auserlesene Psalmen zum Gebrauche der Landschulen dokumentieren die pädagogischen Absichten dieser Schwerpunktsetzung. - Dem in den Zürcher Gesangbüchern anschließenden zweiten Teil, HYMNI oder Lobgesänge / So an hohen Fest- und andern Tagen gesungen werden, setzt Lavater die sukzessive wachsenden Sammlungen Christliche Lieder gegenüber. - Dem bisherigen Catechismusgesang, einer dem Lobwasser-Psalter entnommenen Auswahl schwer verständlicher Psalmliedstrophen, entsprechen die Sechzig Lieder nach dem Zürcherischen Catechismus (1780). - Dem in den Zürcher Gesangbüchern knapp gehaltenen Kapitel Geistliche Lieder setzt Lavater umfangreiche Sammlungen gleichen Titels entgegen. - Den dem Zürcher Gesangbuch im Anhang zum Liedteil beigefügten Festund Nachtmahls-Andachten mit der Abendmahls-Liturgie, Gebeten usw. entsprechen mehrere Lehrmittel, die Lavater für den Unterricht am Waisenhaus und darüber hinaus für die Jugend in Stadt und Land schuf.

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ohne Angaben der Auflagen, die „Neue, privilegierte Stereotyp-Ausgabe"; 1832 mit vorgebundenem Catechismus [Hy 142]; mit vorgebundenem NT [KZ 1514.2; AB 6524.2; AB 6547.2; ZB 1512.2]; 1833 als Großdruckausgabe [MM 292, WM 466]. Ehrensperger, Rezeption (s. Anm. 4).

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D a s Zürcher G e s a n g b u c h im

Beiträge Lavaters zur

17./18. Jahrhundert

Gesangbucherneuerung

Zürcher Bibel

Biblische Erzählungen für die Jugend, AT 1772, NT 1774 Auserlesene Psalmen Davids I, 1765 (Dieterich, Berlin 1765; Zollikofer, Leipzig 1766; Bremen 1766/1767) Auserlesene Psalmen Davids Π, 1768 Auserlesene Psalmen zum Gebrauch der Landschulen 1774 50 Christliche Lieder 1771 Zweites Fünfzig Christliche Lieder 1776 100 Christliche Lieder 1776 Christliche Lieder, 1. Hundert 1779 200 Christliche Lieder 1780 Lieder fur Leidende 1787 Auserlesene christliche Lieder 1792 60 Lieder nach dem Zürcher Katechismus 1780 Auserl. Geistl. Lieder 1769 (n. Zollikofer 1766) Sammlung geistlicher Lieder 1772 Auserlesene Geistliche Lieder 1775 Sammlung geistlicher Lieder 1780 Neue Sammlung geistlicher Lieder 1782 Auserlesene Geistliche Lieder 1788 Christliches Handbüchlein 1767-1775 Gebete & Lieder für Kinder 1771 Christliches Handbüchlein für Kinder 1771 ABC oder Lesebüchlein 1775

AT/NT

Die CL. Psalmen Davids Bereimung von Ambrosius Lobwasser auf die Melodien des Genfer Psalters, in vierstimmigen Sätzen nach Claude Goudimel

Hymni / Lobgesänge Festlieder aus dem gemeinsamen Repertoire evangelischer Gesangbücher (Wittenberg, Straßburg, Konstanz/Zürich)

Catechismusgesang Geistliche Gesänge

Liturgie Fest- und Nachtmahlsandachten, Zürcher Abendmahlsliturgie, Gebete Die Kleine Bibel Lesepsalter, übersetzt von Rudolf Gwalther

(Christliches Gesangbuch, Zürich 1787) Zusammengenommen erwecken diese Parallelen den Eindruck, Lavater habe über Jahrzehnte planmäßig auf eine umfassende Erneuerung des Zürcher Gesangbuchs hingearbeitet. Ein mit solcher Konsequenz verfolgtes Projekt mag man Lavater bei seiner sonst bezeugten Sprunghaftigkeit und Überstürztheit nicht zutrauen. Indessen läßt sich nicht abstreiten, daß er, ermutigt durch die neuen Gesangbücher der reformierten Gemeinden in Leipzig und Bremen, schon in der Vorrede zu Auserlesene Geistliche Lieder klar für die Abschaffung des Lobwasser-Psalters plädiert hat. Dieser Zielsetzung folgte, über Jahrzehnte verteilt, die Publikation zahlreicher alternativer Liedersammlungen 7 0 und als letzter Impuls das Specialgravamen in der Zürcher Synode (1785). Das neue Zürcher Gesangbuch von 1787, an dessen Erarbeitung Lavater nur kurze Zeit mitwirkte, 71 erschien in bewährter Zürcher Tradition als „Kompendi-

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Detaillierte Angaben in: Weigelt, Bibliographie (s. Anm. 5). Über die Autoren dieses ersten neuen Zürcher Gesangbuches ist wenig bekannt. Weber, Kirchengesang (s. Anm. 20), 62-64, nennt als Herausgeber oder Mitarbeiter: Jakob Christoph Nüscheler (1743-1803), Archidiakon am Großmünster, „aufgeklärter Prediger in der Weise eines Teller, Sack, Spalding" (ebd., 62f.); Jakob Däniker (1742-1805), Pfarrer in Wallisellen, später Lehrer an der Kunstschule, bearbeitete zusammen mit dem Musiker und

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um", das in einigen Ausgaben nach wie vor auch den kompletten LobwasserPsalter beinhaltet. Ist dies ein Zeichen ungebrochener Treue zum vertrauten Liedpsalter? Handelt es sich vielleicht um einen klugen Kompromiß mit Blick auf die Akzeptanz der Neuerungen? Oder erweisen die Herausgeber damit in realistischer Einschätzung ihrer Chancen einer innovationsfeindlichen Obrigkeit gegenüber ihre Reverenz? Der Zürcher Rat befand nämlich, die Erneuerung des Kirchengesangs solle im Stillen vorbereitet, nicht kraft obrigkeitlicher Autorität betrieben werden. Der Antistes Johann Rudolph Ulrich (1728-1795) hingegen begrüßte in der Frühlingssynode 1786 die progressiven Bestrebungen. Das im folgenden Jahr vorliegende Christliche Gesangbuch findet (obschon offiziell nie eingeführt) „manchen Ortes schnell und freudig Eingang, aber stets nur auf außeramtlichem Wege, bis die Jubelfeier der Reformation im Jahre 1819 seine Einführung forderte".72 Es blieb bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts in Gebrauch. 1853 erschien das letzte Zürcher Gesangbuch.73 Darin (wie auch in anderen Schweizer Gesangbüchern) wird Lavaters Wunsch voll erfüllt: Der Lobwasser-Psalter ist aus dem Repertoire der reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz gestrichen.74 Erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts finden wieder einige Liedpsalmen aus reformierter Tradition Aufnahme in offizielle Deutschschweizer Kirchengesangbücher.75

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Komponisten Heinrich Egli (1742-1810) den musikalischen Teil; als Autor und Bearbeiter von Liedtexten wirkte mit: Salomon Wolf (1752-1810), Dekan in Wangen. Hauptgrundlage des neuen Zürcher Gesangbuches von 1787 bildet die durch Johann Kaspar Lavater besorgte Zürcher Ausgabe (1769) des Leipziger Gesangbuches von Zollikofer (1766). Ebd., 64. Gesangbuch fiir die evangelisch-reformierte Kirche des Kantons Zürich. Hg. von der Zürcherischen Kirchensynode, Zürich, 1853. Vgl. Theodor Müller, Das Zürcherische Gesangbuch in seiner Entstehung und in seinem Wesen, Zürich/Frauenfeld 1855; Heinrich Weber, Das Zürcher-Gesangbuch. Seine Lieder und Weisen, allgemein fasslich erläutert, Zürich 1872. Im Kanton Glarus, wo bis ins 19. Jahrhundert aus Zürcher Gesangbüchern gesungen wurde, gab es Gemeinden, welche die beiden letzten Zürcher Gesangbücher (1787, 1853) übersprangen, beispielsweise die Gemeinde Elm im Semftal, die bis 1873 am LobwasserPsalter festhielt, obschon mittlerweile im eigenen Kanton Glarus gemeinsam mit St. Gallen, Thurgau und Graubünden das sog. Vierörtige Gesangbuch (1867) eingeführt worden war. Vgl. Christoph Brunner, Bürger einer Welt ohne Freiheit. Schattenrisse, Glarus 1992; Gottfried Heer, Der evangelische Gottesdienst in der glarnerischen Kirche von den Tagen der Reformation bis zur Gegenwart. Ein Beitrag zur Geschichte des reformierten Gottesdienstes, Zürich 1904 [Z: ZF 567b]; Hans Trümpy, Der „Stillstand" von Elm, in: Neujahrsbote fur das Glarner Hinterland (Großtal und Semftal), bearb. v. Heinrich Stüssi, Lintthal, 12 (1978), 89-96. Probeband (Pb 1941): 33 Psalmlieder; Reformiertes Kirchengesangbuch (RGK 1952): 39 Psalmlieder; Evangelisch-Reformiertes Gesangbuch (RG 1998): 105 Psalm- und CanticaGesänge in vielfaltigen Formen, dazu eine Auswahl von 44 Lesepsalmen.

Hans Beelen

„Als een kindt des lichts in een nyeuwigheyt des leuens"1 Die eigenwilligen Psalmen Jan Utenhoves

Am frühen Morgen des 13. Mai 1619 wird der Verurteilte gefragt, wie er seine letzte Nacht verbracht habe. Die Antwort lautet: „Ich habe nicht schlafen können, ich habe ein wenig in meinem französischen Psalter gelesen. Da sind schöne Sachen drin, die sehr trostreich sind, aber die in den französischen Kirchen oft ziemlich schwierig dargestellt werden." Nach dem Frühstück wird das Urteil verlesen. Die sich anschließende halbe Stunde Wartezeit vor der Vollstreckung des Urteils verbringt der Inhaftierte wiederum im französischen Psalter lesend.2 Dieser Beleg für die Rezeption des „französischen Psalters" durch Johan van Oldenbarneveldt, den mächtigsten Verwalter der Republik der Vereinten Niederlande, der am 12. Mai 1619 im Alter von 70 Jahren zum Tode verurteilt wurde,3 ist in mehrfacher Hinsicht exemplarisch für die Rezeption von Psalmen in den Niederlanden um 1600. Zum einen waren französischsprachige Psalmen, insbesondere der Genfer Psalter, in den Niederlanden beliebt. Das geht nicht nur aus diesem von Oldenbarneveldts Diener überlieferten Bericht, sondern vor allem aus einer Reihe von Übersetzungen und Bearbeitungen des Genfer Psalters in niederländischer Sprache aus dem 16. und 17. Jahrhundert hervor.4 Zudem zeigt die Lektüre Oldenbarneveldts, daß Psalmen nicht nur in der Liturgie, sondern auch außerhalb der Kirche als trostreiche Texte in schwierigen Lebenslagen Verwendung fanden.5

1

2

3

4

5

Aus: Een ghebedt voer s'morghens in 't opstaen, in: 25. psalmen end andere ghesanghen diemen in de Duijdtsche Ghemeynte te Londen / was ghebruijckende, Embden: Gellius Ctematius, 1557, fol. 69v. Robert Fruin (Hg.), Verhaal van de gevangenschap van Oldenbarneveldt, beschreven door zijn knecht Jan Francken, in: Kroniek van het Historisch Genootschap 30 (1874), 734-785. In Übersetzung zitiert nach: Ooggetuigen van de Gouden Eeuw in meer dan honderd reportages. Samengesteid door René van Stipriaan, Amsterdam 2000, 120-128. Ausfuhrlich dazu: Geert H. Janssen, Het stokje van Oldenbarneveldt (Verloren verleden 14), Hilversum 2001. Vgl. Het is begonnen met David, De honderdvijftig psalmen in het Nederlands berijmd, vertaald en bewerkt door 47 Nederlandse dichtere uit vijf eeuwen. Gekozen en toegelicht door Margaretha H. Schenkeveld / Maria A. Schenkeveld-van der Dussen, Zoetermeer 1999,7-14. „Het Staat vast dat er in de zestiende eeuw in ons land psalmen werden gezongen voordat er sprake was van enige vorm van geregeld kerkelijk-reformatorisch leven." Jan R. Luth, Psalmzingen in het Nederlandse gereformeerde protestantisme sinds de zestiende eeuw, in: Psalmzingen in de Nederlanden van de zestiende eeuw tot heden, Kampen 1991, 185-199, hier 185.

412

Hans Beelen

Für diesen individuellen Gebrauch von Psalmen zum Zwecke des Trostes gibt es insbesondere aus dem 16. Jahrhundert zahlreiche Belege. Der Chronikschreiber Godevaert van Haecht berichtet, wie Wilhelm Prinz von Oranien am 11. April 1567 mit 3000 Mann Gefolge auf der Flucht vor dem spanischen Herzog Alba Antwerpen verlassen mußte. In dieser mißlichen Lage kam ihm der 130. Psalm in den Sinn: „Jetzt könnte man wohl singen: ,Uyt dieper noodt, roep ick tho dy, heer Godt; aenhoort myn roepen!' [...]; und er weinte, und viele mit ihm."6 Der Prinz von Oranien zitierte im April 1567 weder die Souterliedekens, den ältesten reformatorischen Psalter, der 1540 in Antwerpen erschienen war und dessen Texte mit bekannten weltlichen Melodien versehen waren, noch die Psalmenübersetzung von Datheen, die 1566 bereits in fünf Ausgaben vorlag.7 Datheens niederländische Übersetzung des Genfer Psalters „wt den Francoyschen Dichte in Nederlandschen ouerghesett" wurde auf der ersten Synode der niederländischen Calvinisten im November 1568 als einzig gültige Übersetzung für den kirchlichen Gebrauch zugelassen.8 Auch die 37 niederländischen Psalmen, die Lucas d'Heere 1565 in Gent publiziert hatte „op de voysen en mate von Clement Marots Psalmen" - , waren nicht die Quelle für Wilhelms von Oranien De profiindis-Klage (die Psalmen seines Freundes Marnix van St. Aldegonde sollten erst 1580 erscheinen). Es war die Übersetzung von Jan Utenhove, dessen vollständiger Psalter nach 15j ähriger Vorbereitung im Jahre 1566 erschienen war, die vom Prinzen von Oranien zitiert wurde. Jan Utenhove kann man aufgrund seines Lebenslaufs, der als „abenteuerlich"9 bezeichnet wird, als „singenden Asylanten"10 betrachten. Als Flüchtling lernte er große Reformatoren kennen und leitete zwei Flüchtlingsgemeinden. Er war adliger Herkunft und studierte in Löwen. 1545 wurde Utenhove aufgrund des ketzerisch-lutherischen Inhalts eines von ihm verfaßten allegorischen Theaterspiels, das am 2. Juli 1543 aufgeführt worden war, in Abwesenheit für immer aus Flandern verbannt; sein Vermögen wurde beschlagnahmt.11 Danach lebte er 6

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„En den prinsche seyde, nou mocht men wel singen: ,Uyt dieper noodt, roep ick tho dy, heer Godt; aenhoort myn roepen!' welck is den 130 psalm; en Weende en meer met hem." Zitiert nach: De profundis, Psalm 130 in den Nederlandse taal. Onder redactie van Dirk Duijzer met inleidingen van de hand van Jan P. Fokkelman [u. a.], Zoetermeer 2001, 35. Samuel J. Lenselink, De Nederlandse psalmberijmingen van de Souterliedekens tot Datheen met hun voorgangers in Duitsland en Frankrijk, Dordrecht 21983, 498. Robin A. Leaver, Goostly Psalmes and Spirituali Songes, English & Dutch Metrical Psalms from Coverdale to Utenhove 1535-1566, Diss. Groningen, 1987, 279. So Jan N. Bakhuizen van den Brink, Rez. von Lenselink, Psalmberijmingen (s. Anm. 7), in: Nederlands archiefvoor kerkgeschiedenis 44 (1961), 187-190, hier 188. Eine detaillierte Lebensbeschreibung liefert Fredrik Pijper, Jan Utenhove. Zijn leven en zijne werken, Leiden 1883. Vgl. auch Lenselink, Psalmberijmingen (s. Anm. 7) und Leaver, Goostly Psalmes (s. Anm. 8). Siehe auch Rainhard Esser, Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 12 (1997), 990-993. Vgl. den Beitrag von Herman J. Selderhuis, Singende Asylanten: Calvins Theologie der Psalmen (in diesem Band). Dieses Theaterstück, im 20. Jahrhundert wiederentdeckt und herausgegeben, bietet überraschende Einblicke in Utenhoves erste, eher lutherisch geprägte Lebenshälfte. Vgl. Cebus Cornells de Bruin, Utenhove te Rooborst (1543): het keerpunt in de gang van zijn leven, in:

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Die eigenwilligen Psalmen Jan Utenhoves

drei Jahre in Straßburg, wo er den Gemeindegesang und das französische und deutsche Kirchenlied kennenlernte. Bei Reisen nach Zürich, Genf und Basel lernte er Johannes Calvin, Heinrich Bullinger, Johannes a Lasco sowie Martin Bucer kennen, dessen Psalmenkommentar er studierte. 1549 ließ Utenhove sich in London nieder, hier engagierte er sich für die Gründung einer niederländischen Gemeinde. Am 21. September 1550 fand der erste Gottesdienst in Austin Friars statt, dem ehemaligen Augustinerkloster, das der Gemeinde als Versammlungsraum diente. Kurz danach, ab 1551, erschienen auch Utenhoves erste Psalmen im Druck. Seine Psalmen waren die erste niederländische Übersetzung, von der feststeht, daß sie in der Liturgie Verwendung fand, und zwar in der niederländischen Gemeinde in London. Das ist belegt in De Christelicke Ordinancien der Nederlantscher Ghemeynte Christi, die in't iaer 1550 te Londen inghestelt was, der niederdeutschen Fassung der Kirchenordnung der Londoner Flüchtlingsgemeinden von Marten Microen (1554). 12

Die Psalmen Utenhoves Der Blick auf das Gesamtwerk 13 zeigt, daß Utenhove im Laufe der Zeit immer wieder neue Teil- und Sammelausgaben seiner Psalmen publizierte. Betrachten wir zuerst die Quellen und damit den zunehmenden Einfluß des Genfer Psalters.

12

13

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15 16 17 18

Titel

Ort/Jahr

Eenige Psalmen Vyf-en-twintig Psalmen 26. Psalmen 11. ander psalmen

London 1551 London 1552/3 Emden 1558 Emden 1558

Zahl 10 25 26 12

Quelle Marot/de Bèze 5'5 5 1"

Melodien aus Straßburg/Genf 214 1116 11 81»

Geschiedenis, godsdienst, letterkunde. Opstellen aangeboden aan dr. Siegfried B. J. Zilverberg u. a., hg. v. Elidius K. Grootes / J. den Haan, Roden 1989, 4 5 ^ 8 . Marten Mircron, De Christlicke Ordinancien der Nederlantscher Ghemeynten Christi, die [...] in't iaer 1550 te Londen inghestelt was, [Emden] 1554. Ediert in: Marten Micron, De Christlicke Ordinancien der Nederlantscher Ghemeinten te Londen (1554), hg. v. Willem F. Dankbaar (Kerkhistorische Studien 7), Den Haag 1956. Nach Lenselink, Psalmberijmingen (s. Anm. 7), Leaver, Goostly Psalmes (s. Anm. 8) und Luth, Psalmzingen (s. Anm. 5). Berücksichtigt wurden nur Erstausgaben, nicht Nachdrucke und Raubdrucke. Zwei Melodien (1 und 120) übernommen aus den Straßburger französischen Gesangbüchern von 1545-1548. Drei Übersetzungen (15, 50, 143) und zwei Bearbeitungen (23, 128) von Marot. Diese Melodien wurden dem Straßburger Gesangbuch von 1545/1548 entnommen. Eine Übersetzung (86) von Marot, mit Abweichungen nach Liesveit. Von den zwölf Melodien wurden fünf dem französischen Psalter von 1551 entnommen und drei einem Straßburger französischen Gesangbuch. Die restlichen vier sind deutschen Ursprungs.

414 Andere 26. Psalmen Hondert Psalmen De psalmen Davidis

Hans Beelen Emden 1559 London 1561 London 1566

26 100 150

6'9

4621 9122

102°

40 93

Die erste Sammlung trägt den Titel Eenige Psalmen, thien in getale. Sie erschien 1551 in London. Bereits in diesem Kurzpsalter ist französischer Einfluß erkennbar, denn in zwei Fällen hat Utenhove für die Melodie auf französische Vorbilder zurückgegriffen, die er wohl aus den Straßburger Gesangbüchern von 1545 und 1548 kannte. Als Textvorlage diente Utenhove in den meisten Fällen eine deutsche Quelle, das Bonner Gesangbuch, und in einem Fall ein Souterliedeken (Psalm 1). Utenhove hat die ursprünglich weltliche Melodie des Souterliedeken durch eine französische Melodie ersetzt. Im Falle des Psalms 120, der die Initialen des Dichters trägt, handelt es sich um eine Originalfassung. Zum größten Teil aber stützte Utenhove sich auf deutsche Quellen, vermutlich weil diese aufgrund der sprachlichen Verwandtschaft schneller in das Niederländische übertragen werden konnten; dies geschah im Hinblick auf die Notwendigkeit, über Liedtexte für den Gottesdienst zu verfugen. Ein anderes Bild zeigen die Vyf-en-twintig Psalmen, die wenig später erschienen. Sie enthalten die zehn bereits veröffentlichten Psalmen sowie 15 neue. Der französische Einfluß ist hier viel deutlicher: In fünf Fällen geht Utenhove auf Marot zurück, in elf Fällen hat er die Melodie aus einem Straßburger Gesangbuch übernommen. Ein bezeichnendes, von Marot übernommenes Detail ist es, daß Utenhove die fünf nach dem Französischen gedichteten Psalmen mit seinen Initialen signiert hat. Seine Bearbeitungstechnik ist freier, und er benutzt gelegentlich Quellen wie Bucers Psalter-Kommentar oder das Bonner Gesangbuch. Aufgrund dieses deutsch-französischen, lutherisch-reformierten Mischcharakters werden seine Psalmen manchmal als „ökumenisch" bezeichnet. 1553 kam Maria Tudor, genannt „die Blutige", auf den englischen Thron, und das politische Klima änderte sich. Die niederländischen Protestanten wurden nicht länger in London geduldet und flüchteten per Schiff. Weder in Dänemark noch in Rostock, Wismar oder Lübeck wurden sie als Nicht-Lutheraner aufgenommen. Schließlich fanden sie dank der Liberalität der Gräfin Anna von Oldenburg in Emden Unterkunft, und die niederländischen Flüchtlinge

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Drei Übersetzungen (12, 19, 24) von Marot, in drei Fällen (13, 91, 118) Textelemente von Marot übernommen. In zwei weiteren Fällen (77, 138) wegen der Melodie Übernahme des Strophenbaus ohne weitere Beeinflussung durch den französischen Text. Von den 26 Melodien wurden zehn dem Genfer Psalter entliehen, drei dem Straßburger Psalter. Die bereits vorhandenen Marot-Übersetzungen wurden geringfügig korrigiert, von den 37 neuen Psalmen gehen zehn auf Marot zurück (5, 8, 25, 336, 37, 38, 104, 107, 110, 114), und zehn auf de Bèze (16,26,27,28, 31,34, 39,40,41, 119). Drei ältere Übersetzungen aus dem Deutschen wurden durch Marot-Übertragungen ersetzt (2, 3, 43), von den 50 neuen Psalmen gehen zehn auf Marot zurück (4, 7, 9, 10, 11, 14, 18, 22, 33, 72), und 32 auf de Bèze (17, 20, 21, 29, 35, 47, 55, 58, 60, 61, 63, 65, 68, 69, 71, 74, 76, 78, 80, 81, 87, 88, 89, 92, 93, 96, 97, 98, 131, 132, 135, 140).

Die eigenwilligen Psalmen Jan Utenhoves

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schlossen sich der Emder Gemeinde an. Auch hier wurde Utenhove Kirchenältester der Gemeinde, die markante Persönlichkeiten wie Johannes a Lasco und den Genter Verleger Gillis van der Erven zu ihren Mitgliedern zählte. Die 26. Psalmen, die 1558 in Emden von van der Erven herausgegeben wurden, sind weitgehend identisch mit den 25 Psalmen, die Utenhove fünf Jahre zuvor in London veröffentlicht hatte. Es handelt sich bei den 26. Psalmen um einen leicht erweiterten Nachdruck, der für den Gebrauch durch die Emder Gemeinde bestimmt war. Lenselink vermutet, daß die 11. ander Psalmen, die im gleichen Jahr in Emden erschienen, einen Eindruck von Utenhoves Gemütslage nach der anstrengenden Odyssee durch die Ostsee im Jahre 1553 vermitteln, denn es sind viele Klagelieder dabei. Es ist auffallig, daß in diesem Werk fast keine deutschen Textquellen nachweisbar sind. In einem Fall (Psalm 86) hat Utenhove Marot übersetzt, in den anderen Fällen hat er selbständig die niederländische LiesveltBijbel bearbeitet. Im Bereich der Melodien kann man von zunehmendem französischem Einfluß sprechen: Von den zwölf Melodien gehen acht auf den französischen Psalter von 1551 oder auf ein Straßburger Gesangbuch zurück. Eindrücke der Reise nach Polen, die Utenhove zusammen mit Johannes a Lasco unternahm, spiegeln sich in den Andere 26. Psalmen (Emden 1559) wider. Für Psalm 42 verwendete Utenhove eine polnische Melodie, die er vermutlich dem Krakauer Psalter von 1558 entnahm. Seine wichtigste Textvorlage war damals der lateinische Liber Psalmorum Davidis von 1556/57, aus dem er nicht weniger als 19 Psalmen nach Santes Pagninus übersetzte, wobei er sich in seiner Wortwahl nach der Liesvelt-Bijbel richtete. In sechs Fällen hat Utenhove Marot als Vorbild genommen, allerdings selektiv, und in zwei weiteren Fällen nur der Melodie wegen Marots Strophenbau übernommen, aber den Text nach der lateinischen Vorlage ausgerichtet. Nach seiner Rückkehr aus Polen 1559 zog Utenhove erneut nach England, wo sich mit der Thronbesteigung Königin Elisabeths das religiöse Klima wieder zugunsten der Reformation gewendet hatte. Hier widmete er sich dem Wiederaufbau der niederländischen Exilgemeinden und der Vollendung seines Psalters. In den Hondert Psalmen, die am 21. Juni 1561 bei John Daye in London erschienen, finden sich nicht nur 38 neue Psalmen, sondern auch Umarbeitungen älterer Texte. Obwohl der Liber Psalmorum und die Liesvelt-Bijbel - wie bei den 26. Psalmen von 1559 - nach wie vor wichtige Textvorlagen blieben, tritt der französische Einfluß noch deutlicher hervor. Zehn Texte gehen auf Marot zurück, ebenso viele auf de Bèze. In 23 Fällen benutzte Utenhove eine Melodie aus dem Genfer Psalter. Diese Tendenz setzt sich fort in der Ausgabe der erst ein Jahr nach Utenhoves Tod erschienenen Psalmen Davidis (1566), die von seinem Freund Godfried van Wingen besorgt wurde. Wie dieser im Vorwort berichtet, war es Utenhoves Bestreben, das Werk nicht zu beenden „voor dat hy dat ten lesten, mit ouersien der vorheen gedruckeder Psalmen, ende toendoen anderer, die noe te maken

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waren, gants ende eenformelicken vthghemaeckt heeft". 23 Bei diesem Redigieren der alten und Hinzufugen der neuen Lieder hat Utenhove sich deutlich von dem Genfer Psalter, der ab 1562 in kompletter Form vorlag, inspirieren lassen. Drei ältere Übersetzungen aus dem Deutschen wurden durch Marot-Bearbeitungen ersetzt. Von den 50 neuen Psalmen gehen zehn auf Marot und 32 auf de Bèze zurück. Der Gesamteindruck, den man aus diesem Überblick über Utenhoves psalmisches Œuvre gewinnt, kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: Es ist ein organisch gewachsenes Lebenswerk, das allmählich, mit Unterbrechungen, entsteht. Nur in den seltensten Fällen hält Utenhove es für nötig, selbständig einen biblischen Psalm zu dichten, er bleibt in der Regel dicht bei seinen poetischen Vorbildern. In der Auswahl dieser Quellen ist Utenhove durchaus eklektisch, er benutzt niederländische, deutsche, lateinische und französische Vorlagen, läßt sich aber mehr und mehr von französischsprachigen Vorbildern, insbesondere bei der Vollendung seines Psalters vom Genfer Psalter, beeinflussen. In der endgültigen Fassung finden sich diese verschiedenen Traditionen nebeneinander. Darin unterscheidet sich Utenhove deutlich von seinem Kollegen Datheen, der die Psalmen innerhalb von etwa anderthalb Jahren komplett übersetzte, und zwar durchgängig nach Genfer Texten und Melodien. Bei Utenhove ist tendenziell ein zunehmender Einfluß des Genfer Psalters zu beobachten. Der Autor hat sich dazu nicht poetologisch geäußert. Durch eine eingehende Analyse lassen sich jedoch mehrere Beweggründe unterscheiden. Aus der Tatsache, daß er bereits 1552 die aus dem Französischen übersetzten Psalmen mit seinen Initialen versah, ist zunächst abzuleiten, daß diese für ihn einen besonderen Status hatten. Er betrachtete, so Lenselink, das Übersetzen und Bearbeiten aus dem Französischen als eine höher einzustufende, weil schwierigere und individuellere Aufgabe als das Übersetzen aus dem Deutschen. In einigen Fällen übernimmt Utenhove nur die Melodie des Genfer Psalters. Daraus läßt sich schließen, daß auch dessen Musik auf Utenhove eine besondere Anziehungskraft ausgeübt hat. Das ist vornehmlich bei den Andere 26. Psalmen von 1559 zu erkennen. Allerdings arbeitet Utenhove in einigen Fällen mit Melodien aus älteren Ausgaben des Genfer Psalters. Ein weiterer Grund liegt sicherlich in Utenhoves Auffassung von Sprache und Übersetzung biblischer Texte. Bei diesen beiden Aspekten darf man von einem paradigmatischen Wechsel sprechen, der sich bei Utenhove um 1555 vollzieht. In seinen ersten Psalmenausgaben blieb er dicht bei den zumeist deutschen Vorlagen. Seine Sprache ist einfach und volkstümlich, man könnte sagen: lutherisch. Das ändert sich aber bald. Im Vorwort des Catechismus, oft kinder leere, diemen te Londen, in de Duydtsche Ghemeynte was ghebruyckende — dieses Vorwort ist mit London, 15. Mai 1553, datiert - teilt Utenhove mit, daß er auf die Bitte von Pfarrern und Kirchenältesten hin eine Ausgabe besorgt von

23

Zitiert nach Lenselink, Psalmberijmingen (s. Anm. 7), 404.

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den seluen Catechismum / diemen in Oosl Vrieslant is ghebruyckende, den welcken ick t'harer begheerste in onse Nederlantsche sprake ouergheset hebbe: Waer in ick myn eyghen sprake (die door't misbruyck grootelickx ghescheyndt is) dickmael te buyten gae [...] so wel op dat ickse tot haren oorsprongh [...] brenghen mochte: als daerom, dat ick van de Ghemeinte, die hier wt mennigherley Landen vergadert is, te beter verstaen mochte Wesen. 24

Utenhove bringt hier zum Ausdruck, daß die niederländische Sprache korrumpiert sei und daß er sie wieder zu ihrem Ursprung zurückfuhren wolle, damit er von den Gemeindemitgliedern, die aus allen Teilen der Niederlande stammen, besser verstanden werde. Utenhove weist sich damit als ein Vertreter des im niederländischen Sprachraum ab 1550 zunehmenden Bestrebens aus, die Muttersprache zu verherrlichen, zu säubern und aufzubauen. Er widmete sich dem Ziel, eine puristische, überdialektale Einheitssprache zu kreieren, die in den ganzen Niederlanden, von Flandern bis Ostfriesland, verstanden werden sollte. Als Grundlage dafür verwendete er das östliche Niederländisch, das im 16. Jahrhundert noch einen höheren Status hatte und mit dem Niederdeutschen nah verwandt ist. Gleichzeitig versuchte er, im Bereich der Syntax und Morphologie, die Gleichwertigkeit der niederländischen Sprache mit dem Griechischen unter Beweis zu stellen. Auch setzte er ein selbsterdachtes Rechtschreibsystem ein, das auf Uniformität zielte, von ihm jedoch im Laufe der Zeit vier- oder fünfmal geändert wurde. In seiner Übersetzung des Neuen Testaments, erschienen 1556 in Emden, wird diese linguistisch-kommunikative Begründung durch eine theologische ergänzt. Er wollte sich nach dem Vorbild Calvins, a Lascos und de Enzinas' möglichst genau an den Grundtext halten. 25 Im Vorwort heißt es entsprechend: Wy hebben auer in onzer ouerzettinghe den blooten text, schier van worde tot worde, zo verr als het de Nederlandsche sprake lijden konde, oock in den compositis of t'zamenstellighen worden (waerin een zonderlicke kracht gheleghen is;) na onzem vermoghen naghevolght [... ] 2 6

Utenhove versucht den Bibeltext also möglichst wortwörtlich zu übersetzen und ist bereit, die niederländische Sprache zu diesem Zweck mit unüblichen Wortzusammensetzungen zu bereichern, in denen nach seiner Ansicht eine besondere Aussagekraft liegt. Zur Erleichterung der Lektüre fügt er dem Werk eine Liste der von ihm eingesetzten Neuschöpfungen hinzu. Ab 1559, mit den Andere 26. Psalmen, die er nach der Bibelübersetzung in Polen verfaßte, wird diese Wende in Utenhoves theologischer und linguistischer Hermeneutik auch in seinen Psalmen sichtbar. Neu sind auffällige Wortzusammensetzungen, Ableitungen eigener Erfindungen und eine Satzstruktur, die von der gesprochenen Sprache

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Zitiert nach Lode van den Branden, Het streven naar verheerlijking, zuivering en opbouw van het Nederlands in de 16de eeuw, Arnhem 1967, 55. Ausführlich dazu: Cebus Cornells de Bruin, De Statenbijbel en zijn voorgangers. Nederlandse bijbelvertalingen vanaf de Reformatie tot 1637, bewerkt door Frits G. M. Broeyer, Haarlem/Brüssel 1993, 167-176. Zitiert nach Lenselink, Psalmberijmingen (s. Anm. 7), 312.

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abweicht. Besonders viel Ärgernis erregten der Gebrauch des Personalpronomens Du statt Ghy und das von Utenhove erfundene Kunstwort aver, das dem deutschen aber entspricht und von ihm im Unterschied zu mer eingesetzt wird, weil aver einem anderen griechischen Partikel entspricht Diese Sprachexperimente wurden ihm nicht gedankt und waren ein wichtiger Grund, weshalb die Londoner Gemeinde Utenhoves Psalmen bereits 1571 durch die Datheens ersetzte. Die Unzufriedenheit mit Utenhoves Sprache und Rechtschreibung war offensichtlich so groß, daß sein Emder Drucker Gillis van der Erven es für notwendig hielt, Nachdrucke der Psalmen ohne Rücksprache mit dem Autor sprachlich zu korrigieren, was Utenhove wiederum dazu veranlaßte, den Drucker zu wechseln. Aber auch er selbst hat in der Ausgabe von 1566 Konzessionen gemacht. Godfried van Wingen meldet im Vorwort des Psalters von 1566, daß Utenhove „etliken to gheualle, etlike worden ende wysen van spreken, die hy sus vorheen in anderen drucken ghebruycket hadde, naghelaten heeft". 27 Gibt es einem Zusammenhang zwischen Utenhoves neuem Übersetzungsparadigma und dem Genfer Psalter, in dem bekanntlich eine verwandte reformierte Hermeneutik vorherrscht, wenn auch mit einer sprachlichen Ausarbeitung, die auf mehr Akzeptanz stieß? Diese Frage kann mit einem vorsichtigen Ja beantwortet werden. Es ist anzunehmen, daß Utenhove sich nach 1556 auf die Suche nach anderen Textvorlagen machte, die die biblische Wahrheit seiner Ansicht nach treffender wiedergaben. Dazu gehören in erster Linie der bereits erwähnte Liber Psalmorum mit der lateinischen Übersetzung von Santes Pagninus, in zweiter Linie die Texte von Marot und de Bèze. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, daß Utenhove zu gleicher Zeit auch anfängt, die Argumenta, die vorgeschalteten Zusammenfassungen der Psalmen, nach Marot zu übersetzen. Ein anderer Grund für die zunehmende Begeisterung Utenhoves für den Genfer Psalter liegt in der Metrik. Er fangt an, wie Datheen, die Silben zu zählen, damit deren Zahl in allen Strophen mit der Notenzahl übereinstimmt. Der Wandel in der metrischen Form seiner Psalmen erfolgt, wie Lenselink gezeigt hat, bei den Andere 26. Psalmen von 1559. Es ist anzunehmen, daß dies unter dem Einfluß von Marot geschah. Allerdings fehlt bei Utenhove noch, genau wie bei Datheen, das Bestreben, den natürlichen Wortakzent mit den melodischen Akzenten zusammenfallen zu lassen. Das war jedoch um 1560 nicht ungewöhnlich; die auch in der niederländischen Literaturwissenschaft geäußerte These, daß es zwischen dem Übersetzen französischer Psalmen und dem Aufkommen zweigliedriger Metren einen Zusammenhang gebe, trifft vielleicht auf Marnix, aber noch nicht auf Datheen und Utenhove zu.28

27 28

Ebd., 404f. Vgl. Kees de Bruijn, Verstechniek en zang bij de 16e- en 17°-eeuwse psalmvertalingen, in: De zeventiende eeuw 5 (1989), 198-206, hier 206.

Die eigenwilligen Psalmen Jan Utenhoves

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Ein noch nicht genannter Aspekt ist eher außerliterarisch und liegt in dem gespannten Verhältnis zwischen Utenhove und Datheen, die beide 1566 ihren vollständigen Psalter veröffentlichten. Anhand von Vorworten, Briefen und anderen Dokumenten läßt sich verfolgen, wie sich die beiden Autoren offensichtlich bemühten, sich im literarischen Feld der Psalmendichtung erfolgreich zu positionieren. Bereits 1558 hatte sich Datheen kritisch über Utenhoves Werk geäußert und dessen Verleger einige eigene Psalmenproben geschickt. In dem Vorwort der 100 Psalmen von 1561 polemisierte Utenhove heftig gegen seine Kritiker und forderte sie heraus, selbst den Psalter zu übersetzen, wobei er allerdings seinen Rivalen Datheen nicht namentlich erwähnte. 29 Zwischen 1561 und 1566 vollendeten Utenhove und Datheen beide ihr Werk. Nach Erscheinen des vollständigen Genfer Psalters im Jahre 1562 und dessen Antwerpener Ausgabe im Jahre 1564 wurde immer deutlicher, daß diesem die Zukunft gehörte. Zwischen 1564 und 1565, in nur eineinhalb Jahren, übersetzte Datheen den kompletten Genfer Psalter. Sein Werk erschien im Frühling 1566. Über die Frage, warum er sich so beeilt hat, gehen die Meinungen auseinander. W. A. P. Smit und Samuel J. Lenselink sind sich darüber einig, daß Datheen bewußt darauf aus war, die Psalmen von Utenhove, gegen die er ernsthafte Einwände hatte, zu ersetzen. 30 Darüber hinaus behauptet Smit, daß Datheen der vollständigen Ausgabe der Utenhovenschen Psalmen, die unmittelbar bevorstand, zuvorkommen wollte. Diesen Verdacht betrachtet Lenselink als kompromittierend und meint, Datheen habe sich nur beeilt, weil der Kurfürst der Pfalz, bei dem er als Hoftheologe arbeitete, ihn für diplomatische Aufgaben benötigte. Datheen habe sich nicht sorgen müssen, weil erstens Utenhoves 100 Psalmen auf dem Kontinent ziemlich unbekannt waren und es zweitens unsicher war, ob Utenhove sein Werk überhaupt noch vollenden würde. Diese beiden Argumente sind nicht sehr überzeugend. Es steht fest, daß zumindest Utenhoves frühe Psalmen in den Niederlanden sehr verbreitet waren. Das belegen zahlreiche Neuauflagen, Zeitzeugnisse und die Melodieangaben in anderen Gesangbüchern. In einem Aufsatz zum Thema Jan Utenhove 's psalms in the Low Countries kommt Howard Slenk zu der Schlußfolgerung, daß der Schwerpunkt der Rezeption der Psalmen Utenhoves auf dem Festland lag: Die Bürger der Städte Antwerpen, Gent und Amsterdam benutzten diese Lieder, die ursprünglich für den liturgischen Gebrauch konzipiert waren, um ihrem Widerstand gegen Tyrannei und ihrer Hoffnung auf politische und religiöse Freiheit Ausdruck zu verleihen. 31 Zur Frage der Vollendung der Psalmen hat Robin „So daer yemand beghenadight werdt van den Heere, de selue psalmen van nies aaen ouer te setten, mit meerder ghenaede end stichtinge, die magh hier in seynen aerbeyd oock aenwenden ten nutte der Ghemeynten Gods, in onsen Nederlandschen Vaderlande [...]", zitiert nach: Leaver, Goostly Psalmes (s. Anm. 8), 359. W. A. P. Smit, Samenhang tussen de psalmberijmingen van Utenhoven, Datheen, Marnix, in: Album Frank Baur. Antwerpen 1948, 235-243. „The citizens of Antwerp and Ghent and Amsterdam used the melodies of Utenhove's psalms, originally written for use in formal worship, to express their resistance to tyranny and their hope for religious and political freedom", Howard Slenk, Jan Utenhove's psalms

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Hans Beelen

Leaver im Jahre 1987 aufgrund des wiedergefundenen Testaments Utenhoves, das dieser im Jahre 1563 verfaßt hatte, die These aufgestellt, daß der Psalter damals bereits vollendet gewesen sei. Daß er erst 1566 erschien, sei vermutlich darauf zurückzufuhren, daß die 100 Psalmen noch nicht vergriffen waren und der Kirchenrat, der den Psalter geerbt hatte, noch nicht bereit war, eine neue kostspielige Ausgabe zu finanzieren. Vor diesem Hintergrund ist es nicht auszuschließen, daß Datheen den Atem seines literarischen Konkurrenten im Nacken gespürt hat. Es muß ihn im November 1568 mit Stolz erfüllt haben, als erster den synodalen Beschluß zu unterschreiben, der alle Psalmen außer seinen eigenen für den kirchlichen Gebrauch verbot. Wie stand es um Utenhove in dieser spannenden letzten Phase? Vielleicht ist es ihm genauso ergangen wie Datheen. Die letzten Psalmen Utenhoves, in denen sich der Genfer Psalter endgültig durchsetzt, sind auf jeden Fall nicht die besten. Sogar Lenselink, der ansonsten jeden einzelnen Psalm Utenhoves ausführlich beschreibt, widmet diesen Psalmen nur wenige Seiten und meint: „Gute Strophen und sehr schwache wechseln sich ab; nach einigen schönen Zeilen folgen die barbarischsten. Letztere sind in der Mehrzahl; eine ergreifende Strophe, geschweige denn ein ganzer Psalm, läßt sich nicht finden." 32 Lenselink führt dies auf die mangelnde dichterische Inspiration des älter werdenden Utenhove zurück. Vielleicht hat er sich einfach beeilt, um dem literarischen Konkurrenten zuvorzukommen. Wie auch immer, zusammenfassend können für den zunehmenden Einfluß des Genfer Psalters bei Utenhove verschiedene Gründe genannt werden: das literarische Ansehen vor allem Marots, die Melodien, die Änderungen in der metrischen Praxis um 1560, eine theologisch-hermeneutische Verwandtschaft und schließlich die institutionellen Verhältnisse um 1560, als das Erscheinen des vollständigen Genfer Psalters und die Aktivitäten Datheens das literarische Feld prägen. Die Psalmen des dichtenden Asylanten Utenhove zeichnen sich so durch eine frühe, zunächst durchaus selektive, dann zunehmend begeisterte, insgesamt eigenwillige Rezeption des Genfer Psalters aus.

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in the Low Countries, in: Nederlands archief voor kerkgeschiedenis 49 (1968-1969), 155— 168, hier 168. Lenselink, Psalmberijmingen (s. Anm. 7), 369.

Jan R. Luth

Gemeindegesang in den Niederlanden im 16. Jahrhundert

Genfer Psalmmelodien finden wir in den Niederlanden zuerst im Reimpsalter von Jan Utenhove, Ältester der niederländischen Gemeinde in London. Utenhoves Reimpsalmen erschienen ab 1551, die vollständige Ausgabe lag 1566 vor. Er verwendete nicht allein Genfer Melodien, zum Teil entlieh er Melodien aus anderen, deutschsprachigen Gesangbüchern; bei einigen Melodien kennen wir die Quellen nicht. Auffallend ist jedenfalls, daß Utenhove, wenn er eine Genfer Melodie verwendete, meistens nicht die neueste, sondern ältere Versionen benutzte, die in Genf schon außer Gebrauch waren. Zwei Beispiele: In Utenhoves 26. Psalmen (1558) wird Psalm 15 nach der Melodie in den Aulcuns pseaulmes et cantiques mys en chant (Straßburg 1539) gesungen. 1558 war aber in der Schweiz und Frankreich die Melodie aus dem Genfer Gesangbuch von 1551 schon bekannt. Das gleiche gilt für Psalm 143 : Utenhove verwendete die Straßburger Ausgabe von 1539, obwohl die Genfer Melodie von 1542 auf dem Kontinent schon eingeführt war. Ab 1557 notierte Utenhove die Melodien relativ einheitlich. Er benutzte, wie damals üblich, Semibreves, Minimae, manchmal Semiminimae und abschließende Longa. Das Mensurzeichen ist das des Tempus imperfectum diminutum, und die Zeilen sind getrennt durch Brevis- und Semibrevis-Pausen. Merkwürdig ist, daß das Canticum Simeonis in den Ausgaben von 1557 und 1558 ohne Mensurzeichen gedruckt ist. Der C-Schlüssel ist fast immer auf der dritten oder vierten Linie notiert. Die Frage nach dem Verhältnis von Notation und Gemeindegesang ist nicht einfach zu beantworten. Daß beispielsweise der notierte Rhythmus gesungen wurde, ist unwahrscheinlich. Auffallend ist Utenhoves Notation der Oratio Dominica. Diese bekannte Melodie des Vaterunsers wurde bis 1561 immer isometrisch,1 d. h. ohne Rhythmus, ab 1561 aber wie folgt notiert:

Dies ist ein problematischer Begriff. Isometrisch wird in den Niederlanden oft als Synonym für ,nicht-rhythmisch' oder für ,ein Rhythmus, der aus nur ganzen Noten besteht' benutzt.

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Jan R. Luth

UEen ander Composicy des seluen ghebeds, gheparaphaseert.

IB