194 61 30MB
German Pages 446 [448] Year 2000
CANADIANA
ROMANICA
publies par Hans-Josef Niederehe et Lothar Wolf Volume 14
Klaus-Dieter Ertler
DER FRANKOKANADISCHE ROMAN DER DREISSIGER JAHRE Eine ideologieanalytische Darstellung
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Erller, Klaus-Dieter: Der frankokanadische Roman der dreißiger Jahre : eine ideologieanalytische Darstellung / Klaus-Dieter Ertler. - Tübingen : Niemeyer, 2000 (Canadiana Romanica ; Vol. 14) ISBN 3-484-56014-2
ISSN 0933-2421
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren
Inhaltsübersicht
Vorwort
IX
Einleitung
1
Erster Teil: Voraussetzungen und Grundfragen
5
I. Erkenntnistheoretische Überlegungen zum Ideologiebegriff
7
1. Genese eines Begriffes
7
2. Typologisierung
9
2.1. Subjektorientierte Modelle der Ideologieanalyse 2.2. Soziologische Modelle 2.2.1. Marxistische Ideologiekritik 2.2.2. Ideologie zwischen Marxismus und Postmoderne 2.2.3. Diskurstheorie/Soziokritik/Textsoziologie 2.2.3.1. Die Quebecer Modelle 2.2.3.2. Peter V. Zimas Textsoziologie 2.2.4. Pierre Bourdieus praxisorientierter Ansatz 2.2.5. Niklas Luhmanns systemtheoretischer Ansatz 2.3. Ideologie als Mythos oder Weltanschauung 2.4. Panideologismus oder Ende der Ideologien 3. Neue Parameter in Sicht?
Π. Die Beobachtung von Ideologie durch Literatur 1. Theoretische Voraussetzungen 1.1. Materialistische Vorgaben 1.2. Ideologie und Literatur im Interaktionismus 1.3. Systemtheoretische Betrachtungsinnovationen 2. Erzähltheoretische Implikationen
12 14 14 17 18 19 20 24 24 29 31 33
35 38 38 40 40 44
2.1. The Implied Author 2.2. Standpunkt, point de vue und voix narrative 2.3. Ideologieanalytische Erweiterungen 2.4. Ideologische metarecits und narrative Ebenen 2.5. Ideologische metarecits im sozialen Kontext 2.6. Ideologieeffekte ex negativo betrachtet
45 47 51 57 58 59
3. Ideologie als gattungskonstituierendes Phänomen
61
VI
Inhalt
ΠΙ. Metaerzählungen der frankokanadischen 30er Jahre 1. Die orthodox-nationalistische Metaerzählung und ihre Medien
67 70
1.1. Z- 'Action nationale 1.1.1. Programmatik 1.1.2. Sprachenkonflikt 1.1.3. Der Mythos von Land und Boden 1.1.4. Nationale Politik 1.1.5. Neue Medien und Maschinen 1.1.6. Literatur und Nationalismus
75 75 78 82 86 98 102
1.2 .LaReleve 1.2.1. Der Primat des Spirituellen 1.2.2. Patriotismus und Nationalismus 1.2.3. Die Rolle der Kunst
106 110 115 119
2. Die (nationalistisch-)liberalistische Metaerzählung und ihre Medien
125
l.X.hesldees 2.1.1. Programmatik 2.1.2. Sprachenkonflikt 2.1.3. Moderne Landwirtschaft 2.1.4. Die Politik des Neuen 2.1.5. Großstadt und Moderne 2.1.6. Journalismus und Weltliteratur
125 125 128 132 135 139 141
2.2. Le Jour 2.2.1. Programmatik 2.2.2. Erziehung 2.2.3. Liberalismus
147 148 150 152
Zweiter Teil: Die frankokanadischen Erzähltexte der 30er Jahre
155
I. Der historisch ausgerichtete Erzähltext
157
1. Damase Potvin: La Robe noire 1.1. Thematische Grundlegung 1.1.1. Natur 1.1.2. Die autochthone Bevölkerung 1.2. Erzähltheoretische Implikationen 1.2.1. Erzählerfunktionen 1.2.2. Der abstrakte Autor
160 164 164 168 176 176 183
2. Alain Grandbois: Νέ ä Quebec 2.1. Explizite Intertextualität 2.2. Erzählerfunktionen
186 189 195
3. L£o-Paul Desrosiers: Nord-Sud 3.1. Erzählen als Handlungsstimulation 3.2. Ideologische Trägermedien im Roman
207 209 212
Inhalt
3.2.1. Bewußtsein 3.2.2. Sprache/Diskurse 3.2.3. System der Wirtschaft 3.2.4. Konflikt der Praktiken 3.3. Die Präsenz der 30er Jahre im narrativen Diskurs Π. Le roman de la terre
VE
213 216 221 223 225 229
1. F61ix-Antoine Savard: Menaud, mattre draveur 1.1. Hemons Maria Chapdelaine als intertexte 1.2. Nomadentum und Seßhaftigkeit 1.3. Erzählerfunktionen 1.4. Textstrategien
239 241 249 251 255
2. Claude-Henri Grignon: Un komme et son peche 2.1. Die Auflösung des Bauerntums 2.2. Vektoren des städtisch-liberalen Diskursfeldes 2.3. Die Religion im Erzählsystem
260 262 278 282
3. Ringuet: Trente arpents 3.1. Trägermedien in der Erzählung 3.2. Die Anthropomorphisierung des Landes 3.3. Das Wirtschaftssystem
283 287 297 301
ΙΠ. Die erzählte Stadt
307
1. Claude Robillard: Dilettante 1.1. Vorzeichen urbaner Vektorialität 1.2. Die Glorifizierung der Urbanen Gesellschaft 1.3. Kommunikationsmediale Vektoren 1.4. Selbstreferenzen des literarischen Systems
312 314 321 327 332
2. Jean-Charles Harvey: Les Demi-civilises 2.1. Perspektivische Abstufungen der Ich-Erzählung 2.2. Urbanität und Ruralität 2.3. Vorzeichen urbaner Vektorialität 2.4. Die kartesianische Instanz der Wertung 2.5. Die Integration des Kunstsystems
338 342 348 355 360 367
3. Rex Desmarchais: L'lnitiatrice 3.1. Autor, Erzähler und Figuren 3.1.1. Autorbewußtsein 3.1.2. Erzählerperspektive 3.1.3. Figurensicht 3.2. Frankreich als Referenzrahmen
371 373 374 376 382 389
Zusammenfassung Literaturverzeichnis Personenregister Sachregister
391 399 415 421
Vorwort
Die vorliegende Veröffentlichung beruht auf meiner Habilitationsschrift, mit der ich im Juni 1999 an der Karl-Franzens-Universität Graz die Lehrbefugnis für Romanische Philologie (Literaturwissenschaft) erwarb. Für die Veröffentlichung wurde die Arbeit stark gekürzt und entsprechend überarbeitet. Als ich mich nach dem Abschluß der Dissertation im Jahre 1985 nach wissenschaftlichem Neuland umsah, führten mich meine Lektüren zur frankophonen Literatur Kanadas, welche damals zaghaft aus ihrem regionalisierten Dasein hervorzutreten begann und sich am globalen Markt der symbolischen Produktionen allmählich einen eigenständigen Platz schuf. Mit dem Paradigmenwechsel der „involution tranquille" und der Gegenkultur der späten 60erJahre war gerade der amerikanisch-innovativen Dimension in den frankophonen Literaturen eine besondere Bedeutung zugekommen, so daß es den queb6cischen Texten sukzessive gelang, vom allmächtig anmutenden Apparat der literarischen Konsekrationen in Paris ein hohes Maß an Anerkennung zu gewinnen. Durch die Aufmerksamkeit, die nun den neueren Texten Qu6becs entgegengebracht wurde, erschien eine kritische Sichtung der unbeleuchteten Erzählliteratur vorangehender Jahrzehnte geradezu als Herausforderung für die Forschung. Aus dieser Gemengelage ging das Projekt für die Habilitation hervor, das mich dreizehn Jahre lang beschäftigen sollte. Mein Dank gilt in erster Linie Herrn Prof. Georg-Rudolf Lind. Er ermunterte mich zu dieser Arbeit und übte durch seine unermüdliche Beschäftigung mit den romanischen Literaturen, insbesondere mit Texten aus den dreißiger Jahren, eine starke Vorbildwirkung auf mich aus. Die wertvollen Hilfeleistungen und der umsichtige Forschergeist meines geschätzten Lehrers, der jedoch leider allzu früh verstarb, gaben mir die nötige Sicherheit bei der Durchführung des Projekts. Das theoretische Instrumentarium für die Untersuchung erwarb ich an der Universit6 de Montrdal, wo ich mich seit meinem von der kanadischen Bundesregierung finanzierten PostDoc-Studium (1986/87) in regelmäßigen Abständen aufhielt. Auf diese Weise wurde ich mit den diskurstheoretischen Arbeitstechniken von Prof. Antonio Gömez-Moriana, Prof. Gilles Marcotte, Prof. Marc Angenot und dem Wissenschaftsbetrieb des Centre d'dtudes queb6coises unter der Leitung von Prof. Jean-C16o Godin schon frühzeitig vertraut. Den jüngeren Kollegen, zu denen vor allem Prof. Jean-Fran^ois Chassay, Prof. Dominique Garand, Prof. Pierre Popovic und Luis Alberto Löpez zählten, konnte ich meine wichtigsten Thesen zur methodologischen Beständigkeitsprüfung unterbreiten. Ihnen allen danke ich für die langen, ergiebigen Gespräche. Im Jahre 1987 lud mich Prof. Daniel Pageaux (Paris ΙΠ) in sein Seminar zur vergleichenden Literaturwissenschaft ein und vermittelte mir auf diese Weise einen gewinnbringenden Einblick in die französischen Diskurstheorien. Einige Zeit später brachte mich Prof. Ulrich Schulz-Buschhaus (Graz) auf den Weltenwender Niklas Luhmann, dessen abstrakt angelegtes Theoriedesign mich zu faszinieren wußte, meine bisherigen Forschungsergebnisse ins Wanken brachte und dringend nach einer Neubearbeitung des untersuchten Materials verlangte. Luhmann lehrte mich in der selbstreferentiellen Kunst der Beobachtung von Beobachtungs-
χ
Vorwort
Verhältnissen in literarischen Texten. Aus der streng positionierten Ideologiekritik der ersten Fassung meiner Arbeit sollte eine nuancierte und feinkörnige Ideologieanalyse zum Einsatz gelangen, um den tendenziell holzschnittartigen Erzähltexten der frankokanadischen 30er Jahre literaturtheoretisch näherzukommen. Ein zweites von der österreichischen Bundesregierung gefördertes Forschungsjahr an der Universitd de Montr6al sowie an der Sorbonne - 1991/92 - war für die methodologische Differenzierung in der Untersuchung äußerst förderlich. Prof Fritz-Peter Kirsch (Wien) brachte meinen Forschungen ein großes Interesse entgegen und band mich in die Aktivitäten der neugegründeten Association des Etudes francophones d'Europe-Centre-Orientale ein, wodurch ich eine weitere Möglichkeit zur wissenschaftlichen Verbreitung meiner Thesen erhielt. Zu ganz besonderem Dank bin ich schließlich Prof. Werner Helmich verpflichtet, der die Entwicklung meiner Schriften während der neunziger Jahre interessiert verfolgte und mich zur endgültigen Abfassung des Werks ermutigte. Sein Gutachten, in dem er nicht mit konstruktiver Kritik und nützlichen Vorschlägen für die Druckfassung sparte, zeugte von einer äußerst fundierten Auseinandersetzung mit der Studie. Ebenso gedankt sei den beiden anderen Gutachtern, Prof. Fritz-Peter Kirsch (Wien) und Prof. Edward Reichel (Dresden), die meine Argumentationslinien gewissenhaft verfolgten und der Fakultät nachdrücklich die Annahme meiner Habilitationsschrift empfahlen. Maßgeblich beteiligt am Zustandekommen dieses Buches waren auch die Professoren Hans-J. Niederehe (Trier) und Lothar Wolf (Augsburg), denen für die Durchsicht des Manuskripts im Hinblick auf die Aufnahme des Titels in die Reihe Canadiana Romanica herzlich gedankt sei. Zuletzt möchte ich noch meiner Lebensgefährtin Andrea danken, die mir bei der Korrektur des Manuskripts unermüdliche und kompetente Hilfe leistete. März 2000
K.-D. E.
Einleitung
Im Rahmen der neueren, komplexen Entwicklungen in der sich immer schneller verändernden Kommunikationsgesellschaft ist es für das wissenschaftliche System notwendig geworden, sich darin epistemologisch-selbstreferentiell zu situieren und von innen heraus Ordnungsmuster zu entwickeln, die den vielschichtigen Zusammenhängen in seiner Umwelt besser Rechnung tragen können. Adäquate Beschreibungsmodelle für die tiefgreifenden Modifikationen im Bereich des kommunikationellen Zusammenhangs sind bereits im Entstehen: Man denke an die polyfokal angelegten Beobachtungsformen des Konstruktivismus oder der Systemtheorie, die den Blick von der immerwährend homogen scheinenden Ontologie weg auf funktionalisierte Komplexe lenken und deren eigene endogene Rationalisierungen von außen nachvollziehen und beschreiben lernen. Dabei können emergierende, qualitativ neue Ordnungsmöglichkeiten, deren Eigenschaften sich nicht aus dem materiellen Substrat, sondern aus globalen Interdependenzen erklären, besser erfaßt und durchleuchtet werden. Konstruktivistische oder systemtheoretische Beobachtungsmodalitäten verlangen daher nicht von ungefähr die Einrichtung oft ungewohnter Optiken, die als elaborierte und hermetisch anmutende Theoriesprachen schräge Perspektivierungen einziehen, um ihrer heiklen und diffizilen Aufgabe gerecht zu werden. Solche theoretischen Fertigbaukonstrukte setzen sich aber aufgrund ihrer Innovationen der Gefahr aus, von einem Teil der wissenschaftlichen Dynamik als unverständlich oder als „modisch" evakuiert zu werden.1 Sie sollten daher trotz auftretender Inkompatibilitäten mit herkömmlichen Modellen der Wissenschaftstheorie immer eine Verbindung zu den historischen Vorgaben suchen. Diese Arbeit versteht sich als Beitrag zur Erforschung der narrativisierenden Behandlung von Ideologie in den axiologisch markanten frankokanadischen Erzähltexten der 30er Jahre. Mit der theoretischen Studie mittlerer Reichweite soll die Frage gestellt werden, wie vor dem Hintergrund des eben geschilderten Paradigmenwechsels eine ideologiekritische Untersuchung auf literaturwissenschaftlicher Seite heute noch aussehen könnte. Es gilt also zu klären, wie Erzählliteratur Ideologie rezipiert und systemintern modelliert und wie sich dies in einem konkreten, ideologisch geprägten Kontext ausnimmt. Zu beachten wird deshalb sein, mit welchen Mitteln und Formen der Erzähltext Ideologie konfiguriert und fortschreibt (reecrit). Die so gestellte Frage kann aber nicht ohne methodische Vielfalt beantwortet wer-
Dieser kontraproduktive Effekt kann sich auch auf nationaler Ebene auswirken, was das Beispiel der internationalen Luhmann-Rezeption augenfällig unterstreicht. So wurden die wichtigsten Werke des Bielefelder Soziologen meist unmittelbar nach ihrer Publikation ins Englische, Italienische oder Spanische übertragen, in Frankreich kam indessen wenig Interesse für die Luhmannschen Schriften auf. Nur ein zweitrangiger Titel ist bislang in französischer Sprache erschienen: Luhmann (1990). Meines Erachtens liegen die Gründe darin, daß die hyperkodifizierte französische Sprache zum einen wenig Ausweichmöglichkeiten für die systemtheoretische Terminologie zur Verfügung stellt, zum anderen weist die französische Epistemologie selbst eine Reihe systemischer, postparsons'scher Untersuchungsmethoden auf, die in konzeptueller - wenngleich nicht terminologischer - Hinsicht mit der deutschen Variante in groben Zügen konform gehen. Vgl. Dupuy (1982) bzw. (1994).
2
Einleitung
den, allzuleicht würde sich eine monofokale Behandlung des Themas selbst dem Ideologievorwurf aussetzen. Zur Veranschaulichung des theoretischen Zugangs wurde ein als äußerst homogen geltender Textbestand gewählt, der einerseits einer ideologisch angespannten Kultur entstammt und ein scharf konturiertes nationalistisches Potential mit sich führt, andererseits einem Zeitabschnitt entnommen wurde, der auch dem deutschsprachigen Leser aus der intensiven Vergangenheitsbewältigung der letzten Jahrzehnte vertraut sein dürfte.2 Im ersten Abschnitt der Arbeit geht es um eine grundlegende Positionierung des Ideologiebegriffs innerhalb der heute gängigen Theoriedesigns und um die Frage, was unter diesem schillernden Begriff wissenschaftlich subsumiert werden kann. Selbstredend scheint man im allgemeinen zu fühlen und zu wissen, was mit Ideologie gemeint ist. Stellt man aber die Frage nach einer Definition, geht es einem wie dem hl. Augustinus, der das Wesen der Zeit ergründen wollte: „Was ist also Zeit? Wenn mir niemand die Frage stellt, weiß ich es. Wenn mir jemand die Frage stellt und ich darauf eine Antwort geben soll, weiß ich es nicht mehr."3 Ähnlich verhält es sich mit dem Ideologiekonzept. Das Verständnis von Ideologie spaltet sich darüber hinaus in vielfältige Deutungsvarianten auf und ist je nach epistemologischer Konjunktur in die eine oder andere Richtung mehr oder minder stark ausgeformt. Trotz aller Unscharfen und inhärenten Widersprüche scheint der Begriff aber unser Erleben und Handeln massiv zu beeinflussen und sollte als kulturelle Kategorie nicht so vorschnell vom Tisch gefegt werden, wie es in den einschlägigen Forschungsarbeiten allzuoft geschieht. Eine Vernachlässigung bzw. eine Nichtbeachtung des Ideologischen hätte unter Umständen eine unzulässige Verkürzung der Möglichkeiten einer adäquaten Gesellschaftsbeschreibung zur Folge und sollte deshalb in großflächigen sozialwissenschaftlichen Analysen grundsätzlich nicht fehlen. Von der polyfokalen terminologischen Komplexität ausgehend, werden in diesem ersten Abschnitt drei Arten von Unterscheidungsmöglichkeiten eingezogen, auf die sich die weitere Bearbeitung des Themas stützen wird: Rahmungen, Differenzschemata und Trägermedien sollen die nötige Tiefenschärfe liefern und den Weg zu einer engen Verbindung mit der Literaturkritik ebnen. Nur über eine ausdifferenzierte Terminologie läßt sich der Begriff „Ideologie" überhaupt für die behandelten Texte fruchtbar machen. Selbstredend wirkt sich die Rahmung, die man dem Begriff verleiht, am deutlichsten auf dessen Konzeptualisierung aus, weil es dabei um die Positionierung und Inklusion wie Exklusion des Betrachters geht. Subjektive, gesellschaftliche oder anthropologische Rahmungen dominieren üblicherweise die definitorischen Begründungen von Ideologie, doch panideologische Ausdehnungen können dem Begriff einen größeren Wirkungsradius verleihen. Dies geschieht auf die Gefahr hin, ihn aufzulösen. Über Rahmungen und Differenzschemata allein scheint aber der Zugang zur Problematik aus literaturtheoretischer Sicht noch nicht greifbar genug. Brauchbarer für die literarische Analyse sind fraglos die im ersten Kapitel herausgefilterten ideologischen Trägermedien, von denen Bewußtsein, Sprache, System und Praxis (Körper) privilegiert werden.
3
Das Thema „Gesellschaft und Kunst in den 30er Jahren" hat neuerdings auch das Interesse der europäischen Kunstbetrachtung und dessen Diskursivität maßgeblich gelenkt. An dieser Stelle möchte ich drei Großausstellungen erwähnen, die von substantiellen Katalogen begleitet waren: Tabor (1994) [Künstlerhaus Wien, 28. März bis 15. August 1994]; Royot/Goldberg/Lebard (1996) [18. Dezember 1996 bis 22. Februar 1997] und Pag6/Vidal (1997) [Musde d'Art moderne de la Ville de Paris, 20. Februar bis 25. Mai 1997]. Augustinus (1886; 1962, X I - 14, 17). Vgl. auch Flasch (1993).
Einleitung
3
Es handelt sich hierbei um die Ebenen, auf welchen Ideologie am besten zur Beobachtung gelangt. Über die vier Trägermedien soll die Verbindung zur Literaturwissenschaft im engeren Sinne hergestellt werden. Dies geschieht im zweiten Kapitel vorerst auf theoretischer Basis. „Wie beobachtet das literarische System Ideologie?" lautet hier die Frage. Dabei geht es um die Ausarbeitung und Anwendung einer rudimentären Poetik der Wertungen bzw. einer Poetik des Ideologischen, welche die Struktur und Funktion erzählter Ideologie am besten beleuchten kann. Im Anschluß an die bisherigen Forschungsergebnisse zum Thema werden Vorschläge für eine Erweiterung des geltenden Theoriedesigns erbracht, so daß sich mehrere Stränge abzeichnen, über die sich die zukünftige ideologieanalytische Forschung entwickeln kann. Zum einen läßt sich anhand der systemtheoretischen Weiterführung semiotischer Ansätze, wie sie etwa Jurij Lotman entwickelte, die Beziehung zwischen Gesellschaft und Literatur auf fraktalem Wege nachweisen, da sowohl Literatur als auch Ideologie jeweils sekundäre modellierende Systeme darstellen, die einander weniger kausal bedingen als sich Uber gegenseitige Reizung autokonstituieren. Zum anderen kommen im Anschluß an die Arbeiten von Wayne C. Booth, Boris A. Uspenskij, Görard Genette, Philippe Hamon u.a. weiterführende Instrumentarien zum Ausdruck, mit deren Hilfe das Ideologische auf den einzelnen Ebenen der Erzählung - wie der des abstrakten Autors, des Erzählers und der Figur - ausgemacht und beobachtet werden kann. Dabei erhält die Standpunktproblematik eine entscheidende Funktion zugesprochen, da der point de vue als fokalisierende Instanz für das Ideologische wie auch für die Erzählung fungieren kann. In welchem Ausmaß und mit welcher Intensität dann soziologisch beschreibbare metarecits von den einzelnen literarischen Texten beobachtet und fiktionalisiert werden, zeigt der Grad an Thesenhaftigkeit der jeweiligen Erzählung. In diesem Sinne kann Ideologie über die vier erwähnten Trägermedien zur poetischen Modellierung gelangen, ohne jedoch auch nur in geringster Weise ideologisch (in engerer Auslegung) zu wirken. Das wird im folgenden mit „erzählter Ideologie" gemeint sein. Andererseits vermag die Erzählung nach dieser Auslegung über spezifische Vektoren das ideologische System zu reizen und malgre eile im anderen System, d.h. auf der Ebene der metarecits, ideologiegenerierend zu wirken. Dann soll sie „ideologische Erzählung" genannt sein. Nach den theoretischen Überlegungen, wie das Verhältnis zwischen Literatur und Gesellschaft in immer komplexer und unüberschaubarer werdenden Zusammenhängen gedacht werden kann, benötigt der Kritiker als Vorspann zur eigentlichen Erzähltextanalyse einen literatursoziologischen Überblick über die sagbaren und denkbaren (dicibles et opinables) Diskurse des Dezenniums. Es soll im dritten Abschnitt eine substantielle soziodiskursive Bestandsaufnahme der im Frankokanada der 30er Jahre zirkulierenden Themen und Werte erstellt werden, damit sich das raumzeitlich prädisponierte Modell des Ideologischen im weitesten Sinne erfassen - und später zuordnen - läßt. Bei der Durchsicht der journalistischen Publikationen der Periode zeichnen sich zwei Stränge von Metaerzählungen ab, die spezifische vektorielle Bündelungen vornehmen und auf isotopischer Ebene tendenziell entgegengesetzte Funktionsdifferenzierungen praktizieren. Ein orthodox-nationalistisches Paradigma mit systemischer Agglutinierung von Sprache, Religion und Nationalismus findet sich in Zeitschriften wie L'Action nationale oder La Relive, ein (nationalistisch-)liberalistisches Paradigma mit funktionaler systemischer Ausdifferenzierung charakterisiert im Gegensatz Les Idees oder Le Jour.
4
Einleitung
In diesem Abschnitt, wo der discours social im Sinne von Marc Angenot taxonomisch zum Ausdruck kommt, zeigen sich nicht zuletzt stark betonte Isotopien, auf deren Linien einerseits die katholisch-rurale Welt, die Familie, die Ständegesellschaft und der Personalismus die Werte prägen, andererseits die urbane Welt im Zuge von Heterodoxie, Liberalismus und Fortschritt tendenziell das Diskursparadigma dominiert. In politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht bildete die frankokanadische Provinz, deren Name sich während des Dezenniums in einer Analogiebildung zur Hauptstadt Qu6bec zögerlich durchzusetzen begann, eine durchaus distinktive Gesellschaft. In ihrer offiziellen Selbstbeschreibungssystemik traten die unterscheidenden Merkmale „französisch und katholisch" mit unübersehbarer Frequenz auf, und alle Identität kam tendenziell ex negativo über das andere zum Ausdruck. Dieses andere stellte - zumindest für das offizielle Qu6bec - die „englische und protestantische" Lebensführung dar. Daß sich diese kulturelle Nische am Sankt-Lorenz-Strom aufgrund ihrer Genese während der Krise den ständestaatlichen Modellen Europas anzuschließen geneigt war, kann den Historiker nicht überraschen und entsprach den dominanten axiologischen Prädispositionen. Wie intensiv dieses Liebäugeln mit den europäischen Vorbildern allerdings ausfiel, d.h. wie sehr es angesichts der partikularen Position der Provinz dem Terminus „Faschismus" zugerechnet werden kann oder soll, ist noch eine offene Frage, die von den Medien heute mit besonderer Vorliebe diskutiert wird. Als Nebenprodukt der soziodiskursiven Untersuchung des frankokanadischen Zeitschriftenbestandes hat sich übrigens mehrmals gezeigt, in welch starkem Ausmaß das ständestaatlich orientierte Dollfuß-Regime die französischsprachigen Kanadier prägte. Im vierten Abschnitt, dem Hauptteil der vorliegenden ideologieanalytischen Studie, bietet sich die Möglichkeit, die drei einführenden Kapitel zusammenzuführen und deren Erkenntnisse an zehn repräsentativen Werken der frankokanadischen Erzählliteratur der 30er Jahre fruchtbar zu machen. Wie angedeutet, steht dieses Dezennium noch ganz im Zeichen orthodox-nationalistischer Thesenliteratur, deren spezifische Ausprägungen insbesondere im historischen wie im agrikulturistisch-ruralen Genre (roman de la terre) - letzteres löst sich im Jahre 1938 unvermittelt auf - zu suchen sind. Das städtisch-bürgerliche Genre, dem das verbleibende Drittel des Hauptteils gewidmet ist, wird anhand von drei exemplarischen Erzähltexten illustriert. In allen behandelten Werken werden der Grad und die erzählerische Gestaltung dieser von der Kritik gerne pauschal zugeschriebenen Thesenhaftigkeit untersucht und deren Faktur systematisch nachgezeichnet, so daß die Poetik erzählter Ideologie polyfokal zum Ausdruck kommt. Methodisch dem für die Fragestellung gebotenen Pluralismus verpflichtet, werden die narratologischen Elemente und Ebenen der repräsentativen Texte einer genauen Analyse unterzogen, wobei nicht nur die ideologischen Trägermedien, sondern auch die respektiven Metaerzählungen den Hintergrund für die Untersuchung bilden.
Erster Teil *
Voraussetzungen und Grundfragen
I. Erkenntnistheoretische Überlegungen zum Ideologiebegriff
Der Ideologiebegriff gilt trotz seiner wechselvollen Geschichte nach wie vor als prominenter, wenn auch nicht immer willkommener Bestandteil der Erkenntnistheorie, hängt er doch eng mit den Vorstellungen zusammen, die wir gemeinhin unter Wahrheit oder Denken, unter Ethik oder Moral subsumieren. In seiner Polyvalenz und Widersprüchlichkeit ist er bisher geheimnisvoll geblieben und setzt zeitgenössische Gesellschaften unter Druck, wenn es um konkrete und möglichst weit ausholende Selbst- und Fremdbeschreibungen geht. Durch die raumzeitlichen Veränderungen, die mit der fortschreitenden Beschleunigung der Historie und der Schrumpfung des Planeten einhergehen, scheint sich das Problem nicht aufzulösen, sondern eher in mannigfaltige Ausprägungen und Verästelungen zu verschieben. Anhand der vorliegenden Studie wollen wir nach einem kurzen Überblick über die Begriffsgeschichte eine Bestandsaufnahme der derzeit gängigen Ideologieauslegungen erstellen und damit eine Reihe von Möglichkeiten aufzeigen, wie das Verhältnis zwischen Literatur und Gesellschaft in immer komplexer und unüberschaubar werdenden Zusammenhängen heute gedacht werden kann.
1. Genese eines Begriffes Als Francis Bacon die bis heute hinlänglich bekannte Idolenlehre entwickelte, um den Weizen der Erkenntnis von der Spreu der verzerrenden Vexierbilder zu trennen, konnte er nicht erahnen, daß sich eine solche Grenzziehung bis an das Ende des 20. Jahrhunderts als unscharf und polyvalent erweisen sollte. Im Sinne der im 17. Jahrhundert erstarkenden Vernunftgläubigkeit hatte der englische Philosoph nach einer möglichst gereinigten Form der Empirie gesucht und stieß in diesem Zusammenhang auf die trügerische Kraft der den menschlichen Geist in seiner Urteilsfindung beeinflussenden Idole (Götzenbilder). Ihm wurde klar, daß nicht nur gattungsspezifische und subjektive Eigenheiten eines Philosophen, sondern ebenso seine soziale Eingebundenheit wie auch tradierte Einstellungen das Maß der Verfälschung von Erkenntnis zu beeinträchigen vermochten. Zur besseren Untermalung seiner Gedanken griff er im Novum Organum' auf entsprechende ausdrucksstarke Bilder zurück: idola tribus für Gattungsspezifizität, idola specus für Subjektives, idola fori für die soziale Natur des Menschen und idola theatri, welche auf die Kraft überlieferter Vorstellungen und Meinungen verwiesen. Vor allem letztere sollten im Laufe der folgenden Jahrhunderte unter dem Begriff der Ideologie als Voreingenommenheit, als Vorurteil, als Topik gehandelt werden. In dieser Formulierung wies die Ausdifferenzierung allerdings auch auf die im Keim mitgelieferten Aporien hin: wie ließ sich Phylogenetisches, Ontogenetisches, Soziales und Axiolo1
Vgl. Bacon (1620).
8
Erkenntnistheoretische
Überlegungen zum Ideologiebegriff
gisches bzw. Enthymematisches trennen? War bei einer Tradierung über Jahrhunderte hinweg darin nicht schon eine allfällige Dissemination des Begriffes vorprogrammiert? Vorerst schien es, als würde sich die epistemologische Trennung ohne große Schwierigkeiten aufrechterhalten lassen. Destutt de Tracy schuf den noch einigermaßen unpolemischen Begriff Ideologie als Lehre von den Ideen, die als sinnliche Eindrücke ausgelegt und dem Bereich der Wissenschaft - im Gegensatz zur Metaphysik - zugerechnet wurden. Ideen sollten wie Objekte untersucht, beobachtet und beschrieben werden. In diesem Sinne stellte die Ideologie noch das wissenschaftliche und vernunftbezogene Verständnis des menschlichen Geistes dar und richtete sich gegen seine falschen Schlußfolgerungen. 2 Parallel dazu geriet der Idolbegriff in seiner Übersetzung durch die französischen Aufklärer als prejuge (Vorurteil) aber in polemogene Zonen, was zu handfesten Attacken gegen die herrschaftsstabilisierenden Mechanismen der Kirche und des Ancien Regime führte. Damit öffnete sich die zweite Seite der ambivalent angelegten und bis in die heutige Zeit weisenden Konstruktion mit dem Ziel, feindliche gesellschaftspolitische Anschauungen zu orten und zu bekämpfen. Die noch immer geltende Konnotation als Spekulation, Illusion oder Utopie erhielt Destutt de Tracys Ideologie als Begriff erst von Napoleon Bonaparte, der in den Ambitionen der Ideologen eine Gefahr für seine Macht entdeckte und sie der Metaphysik, ja sogar des Fanatismus bezichtigte. Auch bei Karl Marx erfolgte im Laufe des 19. Jahrhunderts keine eindeutige Begriffsklärung. Im Gegenteil, Ideologie wurde - wie seine früheren Schriften zeigen - nicht nur als von aller Praxis abgelöste reine Spekulation verstanden, sondern auch als Auswirkung der Tauschwertverhältnisse einer kapitalistischen Gesellschaft auf das Bewußtsein der Menschen. 3 Über die Brücke der Marxismusdiskussion gelangte daraufhin das als falsches Bewußtsein verstandene Ideologiekonzept ins 20. Jahrhundert, wo es unter einem mehr oder minder modernisierten philosophisch-politischen Konzept mit den verfeindeten Gesellschaftssystemen der Weltkriege sowie des anschließenden kalten Krieges an struktureller Zähigkeit und polemogener Brisanz seinen tragischen Höhepunkt erreichte.4 Analog zur gesellschaftskritischen Variante hatte sich der Ideologiebegriff im Fahrwasser der interaktionistischen Strömung in gegenaufklärerisch intentionierter Weise entwickelt. Deren Vertretern, etwa Max Weber oder Vilfredo Pareto, ging es - dem eigenen theoretischen Grundmuster entsprechend - vor allem um die Privilegierung eines subjektiven und nicht mehr sozialkritisch ausgerichteten Ideologiebegriffes. Damit war auch eine Rückbesinnung auf die Baconsche Argumentationsvorlage gegeben, zum mindesten was die subjektiven Implikationen des Denkens für die theoretische Entwicklung empirischer Wissenschaften betraf. Wissenschaftliche Tatsachenerkenntnisse und weltanschauliche Wertungen sollten demnach - wie auch später in der neopositivistischen Ausprägung - nicht mehr miteinander vermengt werden dürfen.
2 3 4
Vgl. Destutt de Tracy (1801-1815). Vgl. Marx/Engels (1970; 1845/46). Jean-Pierre Faye, dessen Arbeiten über die totalitären Ideologiekonzepte des Zweiten Weltkrieges weit über die Grenzen Frankreichs hinweg bekannt geworden sind, bezeichnet unser ausgehendes Jahrhundert als das der Ideologien: „Le Sifccle XX a eraprunte un mot terrible et vague, apparemment technique et plein de secrets, ä son predecesseur, le XIXe." Faye (1996a: 5). In einer zweiten Publikation analysiert er mit warnendem Unterton die Macht der sprachlichen Konstrukte innerhalb eines explosiven sozialen Gemisches. Vgl. Faye (1996b).
Typologisierung
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Neben den gesellschafts- wie subjektorientierten Ausformungen des Begriffes wäre an dieser Stelle die dritte Großrichtung der Ideologieentwicklung zu nennen, die in Friedrich Nietzsches ikonoklastischer Kulturkritik ihren Ausgang nahm und dem Ideologiebegriff eine wesentliche Erweiterung einbrachte. Karl Mannheims wissenssoziologische Überlegungen zu einer wertneutralen und seinsverbundenen Bestimmung von Ideologie verstärkten diese begriffliche Ausdehnung. Demnach seien Aussagen über den Menschen und seine Gesellschaft stets standortbezogen, alles Denken sei als fälschlich für absolut gehaltenes „Weltanschauungswissen" immer nur partial und könne bloß in der Zusammenschau aller Standorte einer Wahrheit zugeführt werden. So setzte sich Mannheim wie alle auf ihn folgenden Vertreter eines derart weit gefaßten Ideologiebegriffes dem Vorwurf aus, sie könnten theoretischwissenschaftliche Aussagen von ideologischen nicht mehr trennen und würden sich der Möglichkeit und Fähigkeit begeben, verändernd in den gesellschaftlichen Prozeß einzugreifen.5 Vom „Ende der Ideologien" sprachen um die Mitte der 50er Jahre unseres Jahrhunderts Raymond Aron6 in Frankreich, Daniel Bell7 in den USA oder Helmut Schelsky8 in der BRD, allerdings in einem anderen Zusammenhang. Mit dem von ihnen wahrgenommenen Ende der marxistischen Theorie hätten die westlichen Gesellschaften einen allgemein zufriedenstellenden Standard erreicht, der keinerlei unreglementierten Umgestaltens mehr bedürfe. So habe der Realsozialismus sein Ziel einer klassenlosen Gesellschaft bei weitem verfehlt, und Ideologie sei als falsches Bewußtsein unter umgekehrten Vorzeichen ein Relikt der Vergangenheit geworden. In den 90er Jahren kam es im Zuge der Umstrukturierungen der osteuropäischen Staatsformen erneut zu einer verstärkten Wiederaufnahme dieser Idee, dies jedoch in etwas verändertem Gewände.9
2. Typologisierung
Wie aber unsere Realität - ob erzählt oder nicht - beweist, scheint das anbrechende Jahrtausend noch immer von der Ideologiefrage eingeholt zu werden.10 Die sich allenthalben abzeichnende Auflösung der historisch gewachsenen Staatsgebilde, die zunehmende Ausdifferenzierung neuer Konzeptionen auf systemischer Ebene in Politik, Wirtschaft, Religion, Justiz u.a. sowie die damit einhergehenden Krisen und kriegerischen Auseinandersetzungen weisen darauf hin, daß von einem Ende der Ideologien keineswegs die Rede sein kann. Es bleibt zu klären, wie diese neuen Ideologien unter den veränderten gesellschaftlichen Bedin-
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Dieser Vorwurf richtete sich aber auch gegen den in der Nietzsche-Nachfolge elaborierten poststrukturalistischen, machtdestruierenden Diskurs Foucaults. Die postmodernen Konzeptionen verfolgen dieselbe Richtung und liegen nicht weit vom Ende eines scheinbar durch die Universalisierung und Globalisierung aufgelösten Ideologiekonzeptes entfernt. Vgl. Aron (1955a) und (1955b: 219ff.). Vgl. Bell (1960). Vgl. Schelsky (1957). Vgl. Fukuyama (1992). Der postmodeme italienische Philosoph Gianni Vattimo meinte, daß das Ende der Moderne dem Ende der Ideologien gleichkomme. Vattimo (1990: 57); zit. nach Eagleton (1993: 1). Es sei denn, Disney World würde als Paradigma für einen solchen ideologically clean space verstanden.
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gungen aussehen, wie und von wem bzw. von welchen Zusammenhängen aus sie definiert und gesteuert werden können, mit welchen Instrumentarien sie beobachtbar, beschreibbar sind, ohne daß der eigene Standpunkt auf einen Nullwert dekonstruierbar wäre. All das sind Fragen, die den Baconschen Idolen, wenn auch in amalgamierter Form, bereits zugrundelagen, was im Laufe der Geschichte zu unterschiedlichen Ausformulierungen und Mißverständnissen führte und die Klärung der Konzepte in „überkomplexen" Zeiten wie diesen nicht erleichtert. Sieht man sich heute das Theorienpanorama zum Ideologiebegriff an, nimmt es nicht wunder, daß auch neuere Ansätze mit den rekurrenten Problemen zu tun haben und an sie anschließen. Die Begriffsverwirrung wird insofern weiter tradiert, als die von Bacon grundsätzlich gestellte Frage nach der Verzerrung der Erkenntnis durch externe Einsprengsel nach wie vor auf phylogenetische, ontogenetisch-subjektive, soziale und enthymematische Ursachen zurückgeführt werden. Es bleibt also weiterhin ein strittiger Punkt, welcher Referenzrahmen für die Bestimmung von Ideologie als der geeignetste erscheint. In der neueren Forschung richten sich die Definitionen vor allem nach dem Öffnungsgrad11 der Begriffsrelevanz, deren wichtigste Fokalisierungen hier angeführt werden sollen: 1. eine ganz enge, auf das einzelne Individuum zugeschnittene Rahmung, die vor allem auf die „idio-logische" Auseinandersetzung mit dem Fundus der idees regues achtet und nach dem interaktionistischen Kommunikationsmodell auf Sinnhaftes zugeschnitten ist bzw. nach den Prämissen des methodischen Individualismus oder des Kritischen Rationalismus verfährt (Raymond Boudon, Kurt Salamun); 2. eine erweiterte, auf partikulare Soziosysteme gründende Rahmung, die dem sozialen Aspekt von Ideologie entspricht und die entweder - schichtenspezifisch (Terry Eagleton, David Hawkes, Peter V. Zima, Pierre Bourdieu) angelegt ist oder - systembezogen12 (Yves Barel, Edgar Morin, Jean-Pierre Dupuy, Niklas Luhmann) mit einem totalisierenden Ansatz operiert, der den Beobachter wie auch die Erkenntnis selbst in das zu kritisierende System einschließt; 3. eine weit gefaßte Rahmung, die Mythen und Welterklärungssysteme miteinbezieht und sich daher von einer Weltanschauungsanalyse oder vom Konzept der anthropologischen Konstanten nicht merklich abhebt (Ernst Topitsch, Gilbert Durand); 4. die gänzliche Auflösung der Rahmung (Karl Mannheim) und folglich auch des Begriffes, wie es im Anschluß an wissenssoziologische Definitionsmuster von poststrukturalistischen
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Die Spannbreite herkömmlicher Ideologiedefinitionen, wie sie etwa Salamun anführt, soll hier wesentlich überschritten werden: „Die Definitionen reichen von so allgemeinen deskriptiven Bestimmungen, daß man unter .Ideologie' jedes für eine Gruppe oder Klasse charakteristische Denkschema verstehen müsse bis zu eindeutig auf den Bereich der Politik bezogenen normativen Definitionen, bei denen .Ideologie' etwa als politischer Mythos definiert wird, der die Funktion hat, gegebene Sozialstrukturen zu konservieren." Salamun (1992: 40). Dazu zählt etwa auch die Ansicht des Anthropologen Clifford Geertz, der in seinem Artikel „Ideology as a Cultural System" die Ideologie von der dritten Rahmung auf die zweite verweist. Ideologie liegt bei ihm vor, „[...] wenn das politische Leben von mythischen, religiösen und metaphysischen Sanktionen unabhängig wird und auf explizitere, systematischere Weise erfaßt werden muß." Geertz (1978); zit. nach Eagleton (1993: 177).
Typologisierung
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(Michel Foucault) oder postmodernen Ansätzen (Jean-Francois Lyotard) vorgeschlagen wird. Bei dieser die Problematik besser veranschaulichenden Typologisierung treten Kombinationen aus unterschiedlichen Rahmungen überaus häufig auf. So geht etwa Ernst Topitsch beim Aufbau seiner Weltanschauungsanalyse von der engsten, vernunftorientierten Rahmung aus, und Louis Althusser kommt trotz sozialer Vorgaben wieder auf das Subjektive - wenn auch nicht mehr im Sinne des hegelianischen Idealismus, sondern kritisch, in der Bedeutung als Individuum - zu sprechen. Parallel zu den eben angeführten Rahmenbedingungen und den daraus resultierenden Fokalisierungsmöglichkeiten sollte bei einer Darstellung neuerer Ideologiedefinitionen freilich nicht verabsäumt werden, grundlegende paradigmenspezifische Dichotomien (binäre Schemata) zu beachten, die sich zum Teil bereits aus den Rahmungen ergeben können. So entspricht der erste Abschnitt im folgenden Schema tendenziell der traditionellen Erkenntnistheorie und läßt sich ohne weiteres mit den ersten drei Rahmungen verknüpfen; der zweite Abschnitt entspricht eher der zweiten bis vierten Rahmung und schafft durch die Offenheit der komplexen Systeme größere Flexibilität, bringt aber konsequenterweise auch mehr Unbestimmtheitsstellen mit sich: 1. -
Objektivität/Subjektivität Theorie-Wissenschaft-Wahrheit-Vernunft/Ideologie-Norm-Wertung positiver/negativer Begriff wahres/falsches Bewußtsein
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System/Umwelt Macht/Schwäche Homogenität/Heterogenität Monosemie-Unreflektiertsein-Hieratisches/Ambivalenz-Reflexion-Ironie Monofokalität/Polyfokalität Beobachtung erster Ordnung/Beobachtung zweiter Ordnung Primäres modellierendes System/sekundäres modellierendes System.
Neben der unterschiedlichen Fokalisierung und den durch binäre Schemata gezogenen Grenzlinien soll ein dritter Aspekt angeführt werden, der die definitorischen Festlegungen des Begriffes Ideologie maßgeblich beeinflußt. Es geht um die Frage des Trägermediums von Ideologie, d.h. um die Frage, an welcher Ebene Ideologie überhaupt beobachtbar wird. Läßt sich Ideologie folglich am besten im Bewußtsein orten oder wird sie - metaindividuell - von Sprache getragen und perpetuiert? Tritt sie vielleicht vorrangig an der Ebene eines Systems in Erscheinung, wie Niklas Luhmann es vermutet, oder zeigt sie sich an der Praxis, direkt am Verhalten von Menschen einer bestimmten Schicht, wie es der genetische Strukturalismus um Pierre Bourdieu mit seinem champ/habitus-Konzept am besten zu beobachten glaubt? Daß eine solche Festlegung eines Trägermediums für Ideologie wiederum in der Grobstruktur mit den Fokalisierungsvorgaben und den binären Schemata zusammenhängt, ergibt sich von selbst. Tendenziell würde eine bewußtseinsorientierte Ideologiedefinition folglich der engsten Rahmung entspringen, eine auf Sprache bezogene Definition würde ebenso wie der systemtheoretische Ansatz auf die zweite Rahmung verweisen, und der praxisorientierte
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Überlegungen zum Ideologiebegriff
Beobachtungsmodus (etwa Pierre Bourdieus) ließe sich neben der zweiten auch auf die vierte Rahmung zurückführen. Für welche Zugänge sich die einzelnen Theoretiker entscheiden, wird im folgenden aus den konkreten Beschreibungen erkennbar.
2.1. Subjektorientierte Modelle der Ideologieanalyse Im Anschluß an die Idolenlehre Bacons sollte es nicht verwundern, daß der Ideologiebegriff nicht vorrangig im sozialen Feld zu orten ist, sondern daß er dem menschlichen Bewußtsein zugeschrieben wird. Bacon zufolge verstellen die Idole den Weg zum Wahren, sind aber so fest im Denken verankert, daß sie diesem selbst schwer zugänglich werden können. Modern ausgedrückt würde man etwa auf die autopoietische Aussage rekurrieren und feststellen: Man kann nicht sehen, daß man nicht sieht, was man nicht sieht. Wenn in der Folge Bacons dann Descartes, Spinoza und Pascal den Denkvorgang ins Zentrum ihrer Theorien stellten, griffen gegen Ende des 19. Jahrhunderts Soziologen wie Max Weber, Vilfredo Pareto oder Emile Dürkheim den Subjektbegriff auf und versuchten in Anlehnung an diese Instanz eine Beschreibung von Gesellschaft herzustellen. Aus dieser Argumentationslinie entstanden in Frankreich die Arbeiten des methodologischen Individualismus, vor allem unter Raymond Boudon, der sich intensiv mit dem Problem der Ideologie und Ideologieanalyse auseinandersetzte. Dabei sollte das Ziel im Vordergrund stehen, der seit Napoleon und Marx allgemein geltenden gesellschafts- oder klassenbezogenen Bedeutung des Begriffes Ideologie entgegenzutreten und ein Modell zu postulieren, das den individualistischen Komponenten in dieser Frage mehr Gewicht verleihen könnte. Das Problem von Ideologie sollte demnach von seiten des Subjekts her angefaßt werden. Wie Marx Hegel auf den Kopf stellte, wird hier - in der Nachfolge Webers - Marx insofern wieder umgedreht, als es nicht mehr darum geht, Ideologien als Systeme oder symbolische Strukturen anzuerkennen, die sich über soziale Agenten stülpen, sondern es soll umgekehrt die Frage gestellt werden, warum diese Agenten sich auf rationalem Wege der einen oder anderen Ideologie anschließen. Daraus ergeben sich selbstredend Konsequenzen in bezug auf das theoretische Verständnis wie auch auf die Standortbestimmung von Ideologie. Zur Darstellung und Klärung von Ideologie müßten im Individuum zu ortende idees regues, Vorurteile, falsche Urteile herangezogen werden, nicht aber soziale Systeme oder Strukturen.13 Bezeichnenderweise beruft sich Raymond Boudon im Vorwort seiner einschlägigen Studie mit dem vielsagenden Titel L'Ideologie ou l'origine des idees regues auf Max Weber, wenn er dessen Vorschlag, die sozialen Phänomene auf individuelle Verhaltensweisen bzw. auf deren Rationalität zurückzuführen, aufgreift und mit der irrationalen Komponente von Ideologie zusammenführt.14 Auf der Basis grundlegender Dichotomien, die sich aus seinen je zweifach angelegten Definitionen und Explikationen von Ideologie ergeben, strebt Boudon eine Klärung der eigenen wie auch der fremden Positionierungen an, um in weiterer Folge relevante Aussagen über den Begriff treffen zu können. Grundsätzlich liegen für den französischen Soziologen zwei Möglichkeiten der Definition vor, eine traditionelle wie eine moderne Version. Die erste grenzt
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„La sociologie ordinaire part g6n6ralement du postulat ορροδέ et tente le plus souvent de montrer que le sujet social croit ä des iddes douteuses ou fausses, non parce qu'il a des raisons d'y croire, mais parce que des causes inconscientes l'y poussent." Boudon (1990:1). Boudon (1986: 11).
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den Begriff über das wahr/falsch-Kriterium ab, die zweite geht vom Sinn aus, den eine Norm in einer bestimmten Gesellschaft macht, ohne daß eine Unterscheidung zwischen wahr und falsch möglich wäre. Zum traditionellen Verständnis von Ideologie als falschem Bewußtsein rechnet Boudon nicht nur seinen eigenen Ansatz, sondern auch die Definitionen von Karl Marx, Raymond Aron oder Talcott Parsons. Zur zweiten Auslegung zählen in der marxistischen Tradition Lenin, Louis Althusser, in der nichtmarxistischen Tradition Karl Mannheim oder Clifford Geertz. Gleichzeitig empfiehlt es sich nach Boudon, eine zusätzliche Dichotomie einzuführen, die als Erklärungsmöglichkeit herangezogen werden könnte, und zwar die Opposition irrational vs. rational. Die erste steht in der Tradition Bacons und wurde von Marx als Verinnerlichung von Klasseninteressen in ideologischer Verzerrung auf eine soziologische Ebene gebracht, die zweite schließt an Webers oben bereits erwähntes Erklärungsmuster an.15 Für den „methodologischen Individualisten" Boudon ist die wahr/falsch-Dichotomie deshalb ausschlaggebend, weil er die häufige Vermengung von Ideologischem und Wissenschaftlichem untersucht und daran seine Definition festmacht. Ideologien gäben sich demnach gerne einen wissenschaftlichen Anstrich, womit ihnen eine Glaubwürdigkeit vermittelt werde, die ihnen eigentlich nicht zukomme. 16 Schwieriger zu klären ist nun, wie es zu solchen Fehlinterpretationen im Individuum kommt. In dieser Frage rekurriert Boudon auf drei Erklärungshilfen, die er nicht nur von Marx oder Weber, sondern auch von modernen Kommunikationsmodellen übernommen hat: Position, Disposition und Kommunikation. Die Position erklärt sich durch eine partielle oder verzerrte Sicht des Beobachters und hat - zumindest für den Beobachter selbst - mit Irrationalität unmittelbar wenig zu tun. Die Disposition soll gewohnte Referenzschemata oder mentale Gewohnheiten bezeichnen, nach denen Phänomene in mehr oder weniger starker Verzerrung aufgenommen werden. Und unter Kommunikation versteht Boudon die blinde Übernahme wissenschaftlicher Konzepte bzw. das Vertrauen zu anerkannten Größen. Alle drei zusammen ergeben eine Erklärung dafür, wie auf individueller Ebene und auf rationalem Weg das Vertrauen in objektiv nicht begründbare Ideen zustandekommt und als ideologische „black box" tradiert wird. Ideologien bedeuten infolgedessen für Boudon und den methodischen Individualismus: [...] des doctrines reposant sur des thdories scientifiques, mais sur des theories fausses ou douteuses ou sur des theories indüment interpritees, auxquelles on accorde une cr6dibilite qu'elles ne meritent pas. 17
Und Ideologiekritik besteht dann etwa darin: [de] montrer que certaines questions sont de nature telle que, lorsqu'elles sont placees sous les yeux d'individus caracterises par certaines positions et certaines dispositions, elles ont toutes chances d'induire
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Vgl. Boudon (1986: 37 und 81). Einen ähnlichen Aspekt bringt auch Salamun (1992: 45) in seine Definition ein: „Ideologien sind Gedankengebilde, die [...] neben echten wissenschaftlichen Einsichten und neben offenen Wertungen, Normen und Handlungsappellen viele kryptonormative und falsche Vorstellungen enthalten, deren ungerechtfertigte Wahrheitsansprüche oder Unwahrheiten auf eine interessenbedingte Befangenheit ihrer Produzenten zurückzuführen ist." Auch der positivistische und neopositivistische Ansatz stützt sich maßgeblich auf eine subjektzentrierte Variante des Ideologiebegriffes: „Denn Karl R. Popper int, wenn er meint, daß die Rahmenbedingungen des Gesprächs [...] ein irrationalistisches Vorurteil seien. Es verhält sich eher umgekehrt: Es ist ein Vorurteil anzunehmen, daß sich atomisierte Individuen in einem sterilen Raum miteinander unterhalten." Zima (1992a: 61f.). Boudon (1986: 45).
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des iddes revues sans que celles-ci doivent etre mises au compte de la perversion, de l'aveuglement, de la passion ou d'aucune autre forme d'irrationalite. 18
Ideologie unter der engsten Rahmung zu fassen, nimmt dem Begriff daher keineswegs die polemische Komponente, die mit der wahr/falsch-Dichotomie einhergeht, sie faßt aber wichtige Aspekte der Genese ideologischer Formen und könnte insbesondere im psychoanalytischen oder literaturwissenschaftlichen19 Bereich noch wesentliche Erkenntnisse bringen.
2.2. Soziologische Modelle 2.2.1. Marxistische Ideologiekritik Die beiden englischsprachigen Literaturwissenschaftler Terry Eagleton und David Hawkes, die in den letzten Jahren intensiv an der Aufarbeitung und Erneuerung des Ideologiebegriffes arbeiteten und mehrere Einführungen in die Problematik veröffentlichten, nehmen in ihren Schriften eine offen formulierte, vor dem Hintergrund des heutigen Zeitgeistes jedoch eher unpopuläre Position ein und versuchen, die Geschichte des Ideologiebegriffes von „neo-neomarxistischer" Seite her erneut aufzurollen.20 Dabei geht es Terry Eagleton vorerst um die Darstellung der Praxis von Konflikten in unserer Gesellschaft und um die Erkenntnis, daß postmoderne und poststrukturalistische Ansätze essentielle Abstufungen der Macht nicht erfassen könnten. Foucault gebe den Begriff Ideologie zugunsten des weiter ausholenden „Diskurses" auf und verliere dadurch auch eine der Stärken des Ideologiebegriffes, eine Unterscheidung zwischen den für die Gesellschaft relevanten Machtkämpfen zu treffen.21 In weiterer Folge kreist Eagleton dialektisch die für den Begriff grundlegende epistemologische Frage ein, ob die marxistische Definition von Ideologie als „falschem Bewußtsein" in der heutigen Theoriekonstellation noch zu halten sei, und gelangt im Gegensatz zu anderen 18 19
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Boudon (1986: 168). Eine besondere Stellung nimmt der subjektorientierte Ideologiebegriff in der Interpretation literarischer Texte ein, zumal durch die narrativen Beobachtungsstufen von Autor, Erzähler und Figuren „Bewußtseine" und deren Vorurteilsstrukturen nach demselben Schema - wenngleich auf fiktionalisierter Ebene - deutbar werden. Dabei läßt sich das Ideologische um so leichter erschließen, als es zumeist in vielfaltigen Hypostasierungen zutagetritt und Friktionen bzw. Harmonien zwischen benachbarten „Bewußtseinen" auf divergierenden Ebenen freilegt. Gerade am Beispiel der illusionsbezogenen Aufbau- und Zerstörungsmodelle von Erzählliteratur treten solche Kategorisierungen von persönlicher Positionierung und Disposition in bezug auf Rationalisierungs- und Irrationalisierungsprozesse deutlich in Erscheinung. Daß dabei selbstredend den kommunikativen, durch Sprache vermittelten Funktionen die Hauptrolle zukommt, erklärt auch die besondere Bedeutung der zweiten Rahmung für die weitere Darstellung des Problems. „Meiner Meinung nach haben weitere und engere Definitionen von Ideologie gleichermaßen ihren Nutzen. Ihre gegenseitige Unvereinbarkeit, Ergebnis divergierender politischer und begrifflicher Entwicklungen muß einfach hingenommen werden." Eagleton (1993: 14). In der Herrschaftskritik sieht auch Haug (1995: 56), einer der eminentesten Vertreter postmarxistischer Philosophie, nach wie vor die zentrale Aufgabe von Ideologie-Theorie. Das Ideologische ist bei ihm „die Reproduktionsform der Entfremdung, ideelle Vergesellschaftung im Rahmen staatsförmig regulierter Herrschaft". Daher sollte die Aufgabe weiterhin die Kritik der Institutionen im Sinne Althussers und Gramscis bleiben: „Die Utopie glückender Vergesellschaftung im Gleichgewicht mit Naturbedingungen, ohne deren Spur radikale Kritik nicht zu haben ist, ist auf Dauer realistischer als die Utopie des die Dinge von selbst richtenden Marktes und als Anpassung, die eine des Tages ist." Haug (1995: 61).
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Marxisten, 22 die im Fahrwasser Althussers die Differenz wahr/falsch ausräumten, zu einem positiven, aber situationsgebundenen und der linguistischen Pragmatik entsprechenden Ergebnis: Es scheint also, daß zumindest ein Teil dessen, was wir ideologischen Diskurs nennen, wahr und zugleich falsch ist: wahr in seinen empirischen Inhalten, aber irreführend in seiner Stoßrichtung - oder wahr in seiner oberflächlichen Bedeutung und falsch in den zugrundeliegenden Annahmen. 23
Von binären Oppositionen wie „Fakten" vs. „Wertungen", welche in der Ideologiebegriffsgeschichte eine wesentliche Rolle spielten, hält der kritische Autor als moralischer Realist allerdings wenig und sieht in dieser theoretischen Konstellation eine unrichtige Ausformung bürgerlicher Philosophie. Eine Unterscheidung zwischen Teilen eines assertorischen Diskurses, die die Realität authentisch beschrieben und solchen, die dies nicht leisteten, sei nämlich schwer möglich. In der Auseinandersetzung mit der Komplexität der zeitgenössischen Gesellschaften sieht sich Eagleton außerstande, eine einzige Definition des Ideologiebegriffs zu liefern, wenngleich er in teleologisch-eschatologischer Manier darauf hinweist, daß es in einer völlig gerechten Gesellschaft keinen Bedarf an Ideologie im pejorativen Sinn gäbe, da nichts wegerklärt werden miißte.24 Für ihn kommen etwa sechs Definitionen von Ideologie - mit einem immer enger werdenden Fokus - in Frage: 1. Ideologie als „allgemein materieller Prozeß der Produktion von Ideen, Überzeugungen und Werten des gesellschaftlichen Lebens"; 2. „Ideen und Überzeugungen (seien sie wahr oder falsch), die Lebensbedingungen und -erfahrungen einer spezifischen, gesellschaftlich relevanten Klasse oder Gruppe symbolisieren"; 3. Einbeziehung von „Propagierung und Legitimierung der Interessen sozialer Gruppen angesichts oppositioneller Interessen"; 4. Betonung der Propagierung und Legitimierung partialer Interessen, .jedoch beschränkt auf die Aktivitäten einer herrschenden gesellschaftlichen Macht"; 5. Einschränkung des vorhergehenden Konzeptes auf Legitimierung durch „Verzerrung oder Entstellung der Wirklichkeit"; 6. Betonung der falschen Ideen, „ohne jedoch den Ursprung dieser Ideen in den Interessen einer herrschenden Klasse zu suchen, sondern sie statt dessen in der materiellen Struktur der Gesellschaft begründet [zu sehen]".25 In der größten epistemologisch und politisch neutralen Rahmung (1.) versteht Eagleton Ideologie als eine Art erweiterten Kulturbegriff, der aber nicht so weit greifen soll wie anthropologische Kulturdefinitionen. Damit hält er auch in seiner weitesten Fassung an der gesellschaftlichen Determination des Denkens fest und läßt sich nicht auf ein größer gefaßtes Rahmenangebot ein, wie es etwa in den letzten Abschnitten unserer Kategorisierung ersichtlich ist. Es könnte zwar noch ein poststrukturalistisches oder diskurstheoretisches Verständ-
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Vgl. Callinicos (1985); Therboni ( 2 1982), zit. nach Eagleton (1993: 18f.). Eagleton (1993: 25). Mit dieser Annahme faßt er die Frage im selben Sinne auf, wie sie vom methodischen Individualismus (Boudon) vorgeschlagen wird. Vgl. Eagleton (1993: 38). Eagleton (1993: 38f.).
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nis des Begriffes daran angeschlossen werden, nicht jedoch ein (inter-)subjektiv oder anthropologisch gefaßtes. In den weiteren drei Rahmungen (2.-4.) unterstreicht Eagleton immer deutlicher die gesellschaftliche Relevanz des Begriffes und schränkt ihn auf eine partikulare Gruppe oder Klasse ein. Nichtsdestoweniger scheint die Definition von Ideologie auf diesen Ebenen noch mit allgemeinen Ansätzen26 konsensfähig zu sein. Selbst für kritische diskurstheoretische und semiotische Ansätze bleiben die drei Stufen offensichtlich noch operationalisierbar. Heikler und epistemologisch nicht mehr neutral sind die letzten beiden Stufen (5./6.), da sie die Differenz des wahren/falschen Bewußtseins ins Feld führen. Als engste Dimension sollte eigentlich die sechste gelten, paradoxerweise aber erfährt diese strukturell ausgerichtete Kategorie eine beträchtliche Erweiterung insofern, als die auf eine Gruppe oder Klasse beschränkte Weltsicht plötzlich „explodiert" und sich über die gesamte Gesellschaftsstruktur hin erstreckt. Wenngleich in Terry Eagletons Ideologie-Definitionen die terminologisch „gepanzerte" Position des Autors bisweilen zu manifest wird und die eigene Ideologie daher in diesem sensiblen Bereich zu heftig durchschlägt, so lassen einige seiner Wertungen gerade deshalb eine neue Begriffsstrukur entstehen. Am deutlichsten kommt dies zum Vorschein, wo im begrifflichen Gebäude der „linken" (vgl. Eagleton) Argumentation Aporien auftauchen und solche Schwachstellen von innen heraus entweder korrigiert oder zumindest bewußt gemacht werden. Schließlich sei erwähnt, daß Eagleton immer wieder Parallelen zwischen Ideologie und Literatur (Roman) hervorhob, was die sicherlich fruchtbare Möglichkeit nahelegte, Ideologie im Anschluß an Jurij M. Lotman als „sekundäres modellierendes System" zu untersuchen.27 Allerdings ging Eagleton auf eine solche Parallelführung im einzelnen nicht ein. Er stürzte sich im Gegenteil gleich auf die gesamte Ästhetik, deren ideologische Fundierung er eben aus seiner unmißverständlich positionierten Haltung zu beschreiben gedachte. Das Resultat dieser provokatorischen, an vielen Stellen wenig nuancierten und plakativen Studie wurde zur Folie seines klassenkämpferisch orientierten Werks, das im englischen Originaltitel schlagkräftiger wirkt als in der wesentlich gemilderten deutschen Übersetzung: The Ideology of the Aesthetic vs. Ästhetik (Untertitel: Die Geschichte ihrer IdeologieWie bedenklich eine solche undifferenzierte, von der links/rechts-Dichotomie geprägte Analyse werden kann, möge die folgende Textprobe unterstreichen: [...] ließe sich die Auffassung vertreten, daß eine derartige Bewegung [Unterminierung des Geistes im Namen des Körpers] für die politische Linke letztlich einen verheerenden Verlust bedeutet. Denn von Burke und Coleridge bis hin zu Matthew Arnold und T.S. Eliot war das Ästhetische in England fest in der Hand der politischen Rechten. Die Autonomie der Kultur, die Gesellschaft als expressive oder organische Ganzheit, der intuitive Dogmatismus der Einbildungskraft, [...] die einschüchternde Majestät des Erhabenen, [...] - all dies sind nur einige der Formen, in denen das Ästhetische zu einer Waffe in den Händen der politischen Reaktion geworden ist.29
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Vgl. die auch von Eagleton als „gängigste" bezeichnete Definition Thompsons (1984): „Ideologie zu untersuchen [...], heißt die Art und Weise zu untersuchen, wie Bedeutung (oder Signifikation) dazu benutzt wird, Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhalten." Zit. nach Eagleton (1993: 12). „Sekundäre modellierende Systeme stellen Strukturen dar, denen die natürliche Sprache zugrunde liegt. Im weiteren jedoch erhält das System eine ergänzende, sekundäre Struktur des ideologischen, ethischen, künstlerischen oder irgendeines anderen Typus." Lotman (1973: 64). Eagleton (1990; dt.: 1994). Eagleton (1994: 66).
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Zusammenfassend ließe sich feststellen, daß Eagleton - so sehr er dem Marxismus verpflichtet zu sein scheint - einen eigenwilligen Weg der Ideologieinterpretation anstrebt. Im Gegensatz zum historischen Materialismus und dessen Auslegung durch Georg Lukäcs bedeuten Ideologien für ihn weniger die falschen Vorstellungen bestimmter Klassen als „objektive Systeme, die durch den ganzen Bereich gesellschaftlicher Auseinandersetzungen rivalisierender Klassen determiniert sind".30 Damit scheint er auch keine Berührungsängste mit dem Relativismusproblem zu verspüren, „denn die Behauptung, daß jede Erkenntnis von einem spezifischen Standpunkt herrührt, impliziert nicht, daß ein gesellschaftlicher Standpunkt für diese Zwecke so gut ist wie ein anderer".31
2.2.2. Ideologie zwischen Marxismus und Postmoderne Auf den Spuren des marxistisch ausgerichteten enfant terrible aus Oxford wandelt auch David Hawkes, dessen kurze, vor allem an Literaturstudenten adressierte Einführung in die Ideologie kurioserweise als „refreshingly clear and jargon-free prose" vorgestellt wird.32 Darin geht es nicht in erster Linie um eine Ideologiekritik der Ästhetik, sondern um eine historisch angelegte Darstellung von Ideologie vor postmodemem Hintergrund. Gleich zu Beginn greift Hawkes die Argumentationsstruktur der Postmoderne auf und stellt zur Debatte, wie Ideologie - verstanden als falsches Bewußtsein - ohne referentialisierbare Repräsentation, ohne autonomes Subjekt und ohne Teleologie überhaupt noch möglich wäre. In empathischer Denkweise kommt er zum Schluß, daß man bei einer konsequenten Weiterführung dieses Zusammenhanges in der Tat auf den Begriff Ideologie verzichten müßte. Nichtsdestoweniger zeigt sich der Autor auch am sozialen und wirtschaftlichen Umfeld des Paradigmenwechsels interessiert und fragt sich, ob nicht kontextuelle Phänomene an dessen Herausbildung beteiligt gewesen sein mochten: etwa die referenzauflösende Wirkung des Kapitals, die doch ihrerseits eine allgemein tauschwert-, bedürfnis- und konsumorientierte Gesellschaft hervorgebracht habe. An diesem Beispiel zeige sich - Hawkes zufolge die heute noch gültige Viabilität und Griffigkeit von Ideologie, denn sie lege die „ideologischen" Begründungselemente der Postmoderne selbst frei: One of the most venerable conceptions of ideology is as a system of thought which propagates systematic falsehood in the selfish interest of the powerful and malign forces dominating a particular historical era. By that definition, postmodernism is nothing more than the ideology of consumer capitalism.33
Wenngleich sich aus diesen Überlegungen kaum nuanciertere Definitionen von Ideologie ergeben, wird der Leser in deren Begriffsgeschichte eingeführt, was sich, auf die eben zitierte Einschätzung der Problematik bezogen, als durchaus erhellend erweist. Das tritt um so stärker in Erscheinung, als Hawkes die „verfremdenden" Kräfte der anonymen Kapitalgesellschaften sowie die Reifikation der Subjekte in der postmodernen Gesellschaftsform zu erkennen glaubt. Der Ansatz Hawkes ist vor allem deshalb von Interesse, weil er die postmoderne Relevanz für unsere zeitgenössische Gesellschaft wahrzunehmen weiß und sich als Autor darin als eine 30 31 32 33
Eagleton (1993: 120). Eagleton (1993: 115). Hawkes (1996: Umschlagtext). Hawks (1996: 12).
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Art Kritischer Theoretiker ebenso verstrickt sieht. Seine kollektive Beurteilung unserer Gesellschaft mag allerdings auf manchen Leser insofern etwas befremdend wirken, als sie marxistisches Rohmaterial zu undifferenziert auf die hyperkomplexen Zusammenhänge der condition postmoderne überträgt. Vorzuwerfen ist ihm im Sinne einer konsequent verstandenen Ideologiekritik aber nicht, daß er über eine definitorische Konstruktion - wenn auch mit zu grobem Instrumentarium - an die sich selbst als universell beschreibende Gesellschaftsform herangeht und deren Bedingtheit auf diese Weise zu fassen sucht.
2.2.3. Diskurstheorie/Soziokritik/Textsoziologie Innerhalb der Diskussion um die Situierung und Konsistenz von Ideologie haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte mehrere Fäden aus Semiotik, Literaturwissenschaft, Philosophie und Psychoanalyse zu einem Strang vereint, der terminologisch mit Diskurstheorie im engeren Sinne am besten zu fassen wäre. Ausgehend von den richtungweisenden Schriften34 der sowjetischen Sprachphilosophen und Diskurstheoretiker Valentin N. VoloSinov und Michail Bachtin, die „Ideologie" und „Zeichen" als untrennbar miteinander verknüpft betrachteten und damit das Problem der Definition auf die Sprache ausweiteten, kam es - wenn auch mit verspäteter Rezeption im Westen - zu einer intensiven Beobachtung und Analyse der Signifikanten. Dazu flössen die Arbeiten des postmarxistischen Philosophen Louis Althusser35 und dessen Schüler - etwa Michel Pecheux36 - ein, was die Aufmerksamkeit der Ideologiekritiker teilweise wieder auf das Individuum lenkte, weil dieses als Subjekt in Hinkunft als eine von Ideologie konstituierte Instanz angesehen werden konnte. Ideologie war demnach in der Sprache verankert und ging als soziale Gegebenheit dem Individuum voraus.37 Im Anschluß an diese Hypothesenbildung kam es zur Ausdifferenzierung eines epistemologischen Ansatzes, der für die weitere Beschäftigung mit Ideologie und Ideologiekritik bedeutsam wurde und sich unter dem Terminus Diskursanalyse allgemein durchsetzte. Der Grundtenor dieses textbezogenen Ansatzes war demnach, für partikulare Soziosysteme auf axiologischer Ebene diskursive Gemeinsamkeiten zu erstellen, iso- sowie heterotopische Verbindungen oder im Gefolge von Algirdas J. Greimas' strukturaler Semantik aktantielle Schemata auszumachen. Auf diese Weise ließen sich Einschreibungen gesellschaftlicher Phänomene in die lexikalischen, syntaktischen und narrativen Bereiche von Sprache detailliert erfassen.38 34 35 36 37
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Bachtin/Voloäinov (1975). „L'individu est interpelle en sujet." Althusser (1970: 36). Pecheux (1975). Äußerst kritisch wird von der Historikerin Spiegel (1994: 179) die große Aufmerksamkeit für ideologische Aspekte in literarischen Diskursen gesehen: „Nachdem Fragen der Ideologie früher von der Geistesgeschichte eher stiefmütterlich behandelt wurden, [...] sind Diskurstheoretiker [unter dem Einfluß von Louis Althusser oder Pierre Macherey] [...] im Augenblick geradezu besessen [davon], so daß man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, daß die Annexion der Geschichte durch den Text selbst eine ideologisch motivierte Angelegenheit mit konkreten ideologischen Konsequenzen ist [...]." Dazu meint Eagleton (1993: 227): „Auch wenn manchmal feierlich Offensichtliches breitgetreten wird und die großen Geschütze linguistischer Analyse aufgefahren werden, um auf Spatzen wie schmutzige Witze zu schießen, so hat dieser Untersuchungstypus doch einer Ideologietheorie, die sich traditionell eher mit dem .Bewußtsein' als mit sprachlicher Performanz, mit .Ideen' eher als mit gesellschaftlicher Interaktion beschäftigt, eine ganz neue Dimension eröffnet."
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Greimas selbst brachte als Semiotiker zwar die Wertdiskussion in die Begriffsbildung ein, blieb aber mit seiner Definition des Soziolekts, unter dem er nichts anderes als eine bloße Fachsprache verstand, von einem interessegeleiteten partikularen Diskurs entfernt.39 Im Gegenteil, durch die allgemeine Formulierung des Problems führte er die Ideologie unablässig von der sozial ausgerichteten (zweiten) auf die anthropologische, mythenzentrierte (dritte) Rahmung. Festgemacht wurde Ideologie demzufolge an den beiden Grundformen der globalen Organisation der Werte, an den paradigmatischen und syntagmatischen Verbindungen des Wertungsprozesses. Une Ideologie se caract£rise done par le Statut actualise des valeurs qu'elle prend en charge: la rialisation de ces valeurs [...] abolit, ipso facto, l'idöologie en tant que teile. [...] Γ Ideologie est une quete permanente des valeurs, et la structure actantielle qui l'informe doit etre considerie comme r6currente dans tout discours idiologique 4 0
2.2.3.1. Die Quebecer Modelle Eine besonders ergiebige Rezeption erfuhr die Zusammenführung dieser theoretischen Stränge in Montr6aVQu6bec, wo zu Beginn der neunziger Jahre eine interuniversitäre Plattform zur Diskussion und Weiterführung der Problematik eingerichtet wurde. Das Centre de recherche interuniversitaire en analyse de discours et sociocritique des textes (C.I.A.D.E.S.T.) mit Marc Angenot, Antonio Gömez-Moriana und Rögine Robin führte die Tradition der Bachtinschen bzw. Voloäinovschen Schule insofern weiter, als es nach wie vor differenzierte Beiträge zur Problematik von in Sprache einschriebenen ideologischen Strukturen und Polemiken liefert.41 Gömez-Moriana behält in seinen Studien zum spanischen Siglo de oro eine durchweg schichtenspezifisch orientierte Methode bei, in deren Konsequenz er literarische Texte aus jener festgelegten Epoche auf rituelle bzw. subversive Partialdiskurse hin untersucht. Das geschieht allerdings nicht nur auf semantischer Ebene, sondern auch auf formaler, wie sein attraktivstes Beispiel es einleuchtend darzustellen vermag: Demzufolge habe sich die Gattung der pikaresken Autobiographie aus der Nachahmung eines subvertierenden an das Inquisitionstribunal gerichteten Konfessionsmodells entwickelt. Und dieses Modell fände sich im Lazarillo de Tormes. Für Gömez-Moriana verschränken sich folglich an einer solchen Schnittstelle die entscheidenden Parameter, welche die ideologische Bedeutung eines spezifischen Textes überhaupt erst hervorkehren können: [...] aux dimensions temporelle (diachronie) et spatiale (diatopie) du signe id6ologique, il faut ajouter la dimension sociale (diastratie) lorsqu'il s'agit de comprendre les jeux semiotiques historico-sociaux [...]. C'est pricisement dans cette dimension diastratique du signe verbal que j e situe l'objet de la sociocritique et c'est pour cette raison que je fais appel ä l'analyse du discours - du langage incarne, social - comme instrument de travail. 42
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Dieser Umstand wird insbesondere von Zima (1992b) kritisch aufgenommen, zumal er in einem interessenbezogeneren und auf alle kollektiven Sprachen erweiterten Geltungsbereich des Begriffes „Soziolekt" die Möglichkeit sieht, die soziolinguistische Situation eines Texts besser in den Blick zu bekommen. Greimas/Courtös (1979: 179). Vgl. etwa Angenot (1994); Gömez-Moriana/Poupeney (1990); Popovic (1996). Gömez-Moriana (1994: 168).
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Man mag mit Gömez-Morianas schichtenspezifischer Beweisführung konformgehen, vorausgesetzt, daß sie sich auf ein stratifikatorisch ausdifferenziertes Gesellschaftssystem bezieht. Flexibler in der Anlage wäre allerdings ein offenerer Zugang, eine Beobachtung, in der die Fokalisierung selbst entweder loser gehalten werden könnte oder zumindest einige Selbstbeobachtungsmöglichkeiten in die Theorie einbeziehen würde. Ein wesentlich größeres Beobachtungsfeld bietet das Theoriedesign Marc Angenots mit dem zentralen Begriff des discours social, welcher einige Entgrenzungen in dieser Frage besser umsetzen kann. Weniger an den Karnevalisierungsstrategien Bachtins orientiert, wie Gömez-Moriana, als an dem Leitsatz, wonach sich Ideologie immer auch in Sprache manifestiere und folglich der Bereich der Ideologie mit dem der sprachlichen Zeichen zusammenfalle, erlaubt dieser Ansatz einen weiteren Blickwinkel: „Tout ce qui s'analyse comme signe, langage et discours est ideologique" veut dire que tout ce qui peut s'y rep€rer, comme types d'inonces, verbalisation de thfemes, modes de structuration ou de composition des dnoncis, gnosäologie sous-jacente ä une forme signifiante, tout cela porte la marque de man&res de connaitre et de re-pr6senter le connu qui ne vont pas de soi, qui ne sont pas necessaires ni universelles, qui component des enjeux sociaux, expriment des intirets sociaux, occupent une position (dominante ou dominie, dit-on, mais la topologie ä ddcrire est plus complexe) dans l'iconomie des discours sociaux. 43
Der quöbecische Diskursanalytiker Angenot strebt in seinen einschlägigen Studien aber nicht nur eine genaue Begriffsklärung an, sondern zeigt sich stets um eine empirische Untermauerung seiner Thesen bemüht, wie es der groß angelegte Horizontalschnitt durch das französische Diskursuniversum des bezeichnenden Jahres 1889 beweist. Darin wird alles „Denk- und Schreibbare" - nach diskursiven Feldern und dazugehörigen Themenkreisen geordnet - akribisch zusammengetragen und unter dem Aspekt des discours social subsumiert. Vorrangig geht es dem Kritiker mit dieser Analyse darum, über sehr eng gefaßte Partialdiskurse hinauszublicken und eine Gesamtschau der auf nationaler Ebene präsenten doxa einer bestimmten Epoche anzustreben. „Le discours social: [...] les systfemes geniriques, les röpertoires topiques, les rögles d'enchainement d'enonces qui, dans une soci6t6 donnie, organisent le dicible - le narrable et l'opinable - et assurent la division du travail discursif."44
2.2.3.2. Peter V. Zimas Textsoziologie 45 Nach diesem eher generalisierenden Zugang zur Ideologie einer Gesellschaft möge abschließend noch ein Vertreter der Textsoziologie, Peter V. Zima, erwähnt sein, der die Ideologiediskussion aus der gesamteuropäischen Perspektive mitverfolgt und seinen Forschungsschwerpunkt ganz entschieden auf die Schichtenspezifizität der partikularen Soziolekte gelegt hat. Ihm zufolge besäßen gerade solche Teilbereiche die größte Aussagekraft über Ideo-
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Angenot (1989: 19). Angenot (1989: 13). An dieser Stelle möge, der Vollständigkeit halber, eine brauchbare und angewandte Einführung erwähnt sein, die sich - wie Zimas Analysen - mit den linguistischen narrativen Komponenten des ideologischen Diskurses innerhalb eines literarischen Werks auseinandersetzt und sich auf einen restringierten Ideologiebegriff stützt: „From a critical linguistic perspective, the term [ideology] normally describes the ways in which what we say and think interacts with society. An ideology therefore derives from the taken-forgranted assumptions, beliefs and value-systems which are shared collectively by social groups." Simpson (1993: 5).
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logie, und der über die sprachlichen Besonderheiten einer Gruppe beobachtbare Ausdruck ihrer partikularen sozialen Interessen ließe eine durchaus relevante Situierung von Ideologie im zeitgenössischen Kontext zu. Zimas Definition des Diskurses enthält deutliche Merkmale, die auf des Autors eigene Positionierung, vor allem auf seine Verbundenheit mit den theoretischen Ansätzen Bachtins, Voloäinovs oder Lotmans, aber auch auf das Theorem des „falschen Bewußtseins" verweisen: [...] kann der Diskurs als transphrastische, semantisch-narrative Einheit definiert werden, die einem besonderen Soziolekt und folglich einem spezifischen sekundären modellierenden System angehört und in einer bestimmten sozio-linguistischen Situation in einem dialogisch-polemischen, d.h. intertextuellen Verhältnis zu anderen Diskursen (Soziolekten) steht.46
Dabei spielen Klassifikation und Pertinenz der Konzepte, d.h. deren Auswahl und Relevanz, eine zentrale Rolle. Unermüdlich kommt Zima in diesem Zusammenhang auf seinen Vordenker Luis J. Prieto47 zurück, dessen semiologischer Essay Pertinence et pratique gewissermaßen die Grundlagen für diesen Zugang liefert. Zimas Ansatz privilegiert darüber hinaus den französischen Zweig der strukturalen Semantik um Algirdas J. Greimas, indem er die Problematik der Wertbezogenheit sprachlicher Gebilde auf dessen Aktantenmodell ausrichtet. Neuerdings fließen auch konstruktivistische Ansätze in seine literatursoziologische Darstellung ein, wie es eine weitere Definition von Ideologie zum Ausdruck bringt: Die Ideologie ist ein konstruiertes Wertsystem, das auf sprachlicher Ebene als Soziolekt darstellbar ist. Für diesen Soziolekt ist ein bestimmtes lexikalisches Repertoire (Vokabular) charakteristisch, das im Rahmen von mehr oder weniger variablen semantischen Taxonomien eingesetzt wird, die zugleich die Grundlage der diskursiven oder narrativen Abläufe des Soziolekts bilden.48
Auffallend am Ideologiekonzept des Literaturwissenschaftlers ist der ambivalente Bezug zu Althussers Ansatz: Einerseits wird die Bedeutung von Ideologie bei der Subjektkonstitution anstandslos übernommen und auf die in der Indifferenz der Marktwirtschaft emergenten Gruppensprachen angewandt, andererseits sperrt sich Zimas Ideologieverständnis gegen eine Erweiterung der Fokalisation auf Mythen und Religionen - die dritte Rahmung unserer Kategorisierung - , wie es der renommierte Marxinterpret praktizierte. Diese bewußte Distanznahme erfolgt bei Zima nicht ohne Grund: würde er eine solche Öffnung in seine Überlegungen miteinbeziehen, ginge ihm die Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Ideologie und
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Zima (1992b: 68). Prieto (1975). Von Prieto übernimmt er auch eine Definition von Ideologie, die sehr stark auf die konstruktivistischen Vorgaben bzw. auch auf die systemtheoretische Autopoiesis verweist und damit ein selbstorganisiertes Konstrukt bezeichnet: „Die Erkenntnis einer materiellen Wirklichkeit ist ideologisch, wenn das Subjekt die Grenzen und die Identität des Objektes, zu dem diese Realität für es geworden ist, als in der Realität selbst befindlich betrachtet, d.h. wenn das Subjekt der Realität selbst die Idee zuspricht, die es aus ihr konstruiert hat." Prieto (1979: 263), zit. nach Zima (1991: 392). Zima (1995: 65). Eine noch explizitere Definition von Ideologie lautet unter Einbeziehung der Greimas'schen Aktanten folgendermaßen: „Die Ideologie ist ein diskursives, mit einem bestimmten Soziolekt identifizierbares Partialsystem, das von der semantischen Dichotomie und den ihr entsprechenden narrativen Verfahren (Held/Widersacher) beherrscht wird und dessen Aussagesubjekt entweder nicht bereit ist oder nicht in der Lage ist, seine semantischen und syntaktischen Verfahren zu reflektieren und zum Gegenstand eines Dialogs zu machen. Statt dessen stellt es seinen Diskurs und seinen Soziolekt monologisch als die einzig möglichen (wahren, natürlichen) dar und identifiziert sie mit der Gesamtheit seiner wirklichen und potentiellen Referenten." Zima (1989: 57f.).
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Theorie verloren, und darauf scheint Zima nicht verzichten zu wollen. Immer wieder kommt er auf die Gefahr eines Panideologismus zurück und flüchtet davor in das gegenteilige Begriffsfeld des „falschen" Bewußtseins, ohne auf begriffliche Nuancierungen, stufenweise Kategorisierungen, wie sie in den neueren Darstellungen allenthalben üblich sind, einzugehen.49 In einer weit ausholenden Darlegung der historischen Entwicklung des Begriffspaares Ideologie/Theorie zeigt der Autor zwar,50 wie deren beide Seiten einander als sprachlich diskursive Strukturen wechselseitig bedingen und auf den ersten Blick voneinander nicht zu trennen seien. Auf dialektischer Ebene käme dann eine begriffliche Auseinanderziehung in Frage. Also grenzt er Ideologie als Partialsystem von der Kultur ab, unterscheidet sie als künstliches Konstrukt von der Religion oder als moderne Version vom archaischen Mythos und zeigt die Differenzen zwischen Weltanschauung und Ideologie auf. Dadurch wird allerdings der Begriff maßgeblich verkürzt und findet nur mehr in der zweiten der oben angeführten Referenzrahmung Platz. Weiter oder enger gefaßte Versionen läßt der Autor dann auch im allgemeinen nicht mehr zu. An einigen Stellen seiner zahlreichen Definitionen holt ihn die voreilig eingeführte Beschränkung wieder ein und zwingt ihn zu teilweisen Rücknahmen seiner Theoriefestlegungen.51 Sonderbar klingt auch die damit einhergehende Trennung zwischen Wertsystem und Ideologie, die aufgrund einer demokratischen Entscheidung über Universalität und Partikularität Zustandekommen soll: Im Gegensatz zum Wertsystem, dessen Universalcharakter nicht explizit und systematisch in Frage gestellt wird, kann die Ideologie als ein Partialsystem [...] definiert werden, dessen Anspruch auf universelle Geltung von der Mehrheit der Bevölkerung zurückgewiesen wird.52
Wenngleich Zimas Ideologieverständnis eine Art semiotische Variante der Kritischen Theorie (Adorno/Horkheimer) darstellt, geht er in der Frage um die Gewinnung von Letztbegründungen durch kritische Diskussion oder Überprüfung aber weniger von Habermas' hermeneutischem und sprachphilosophischem Konzept aus als von einigen Vorgaben des Kritischen Rationalismus im Sinne Hans Alberts oder Karl R. Poppers. Wissenschaftlichkeit wird demnach nur durch uneingeschränkte Kritik und konsequenten Fallibilismus gewährleistet. Vor dem Hintergrund einer wissenschaftlich abgesicherten Theorie führt dies zu einer Negativdefinition der Ideologie: „[...] ideologisch sind nicht-falsifizierbare, gegen alle Kritik immune Aussagen und Pseudotheorien."53 Die Differenzierung von Theorie und Ideologie sollte je-
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„Will man einem Panideologismus entgehen, der dem Ideologiebegriff nur schaden kann, wird eine restriktive Definition der Ideologie als falsches Bewußtsein notwendig." Zima (1986: 19). Vgl. Zima (1989). „[...] schlage ich eine Doppeldefinition des ideologischen Diskurses vor, die davon ausgeht, daß ein jeder Diskurs ideologisch ist, insofern er gesellschaftliche (kollektive) Interessen artikuliert, daß aber der wissenschaftliche (= kritische Diskurs) sich aus der ideologischen Verstrickung (wenigstens teilweise) dadurch lösen kann, daß er seine semantische Basis [...] problematisiert und zur Diskussion stellt." Zima (1989: 141). Zur ideologischen Trübung des theoretischen Diskurses: „Denn diese [sozialwissenschaftlichen] Theorien sind stets auch Ideologien im allgemeinen, oftmals sogar im restriktiven, negativen Sinn: Immer wieder machen sich ihre Aussagesubjekte die diskursiven Verfahren der Ideologen [...] zu eigen und führen uns vor Augen, wie sehr auch der (sozial-)wissenschaftliche Bereich von ideologischen Antagonismen geprägt ist." Zima (1995: 78). Zima (1986: 14). Popper, zit. nach Zima (1989: 142).
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doch nicht vom Subjekt oder einer intersubjektiven Ebene getragen werden, und Zima meint in diesem Zusammenhang, Gruppensprache und interkollektive Überprüfungen müßten den Ansatz des Kritischen Rationalismus ersetzen, sonst sei eine ideologische Differenzierung in den Sozialwissenschaften nicht auszumachen: Die Wertfreiheitspostulate ergänzenden Begriffe wie Intersubjektivität und Falsifizierbarkeit müssen in inter-diskursivem (inter-kollektivem) Zusammenhang neu definiert werden.54 Im Gegensatz zum ideologischen Aussagesubjekt stellt das theoretische Subjekt den Dualismus der theoretischen Rede dialektisch in Frage und reflektiert seinen sozialen und sprachlichen Standort sowie seine semantischen und syntaktischen Verfahren, die es in ihrer Kontingenz zum Gegenstand eines offenen Dialogs macht: Dadurch strebt es eine Überwindung der eigenen Partikularität durch dialogische Objektivierung und Distanzierung an.55
Am griffigsten erweisen sich Zimas Überlegungen in seinem eigenen Fachbereich, der Literaturkritik. Veröffentlichungen wie Manuel de sociocritique oder Roman und Ideologie wirken als fruchtbare Weiterführung der Ideologiedebatte im Hinblick auf Strukturhomologien, die nach dem Modell Lucien Goldmanns zwischen Gesellschaft und Text bestehen. Nur daß Zima die erzähltheoretischen Schwachstellen seines Vordenkers auszuräumen gedenkt, indem er zwischen die beiden Strukturen, zwischen Gesellschaft und Roman, eine vermittelnde Ebene einzieht, auf der sich die Mediation abspielen soll. Diese Vermittlung leisten, laut Zima, die semantischen, syntaktischen und narrativen Strukturen des spezifischen Textes. Goldmann verpflichtet ist Zima insbesondere in der Frage um den tauschwertbestimmten Charakter unserer Marktwirtschaft und dessen Einfluß auf die Struktur literarischer Texte.56 Aus diesem Kontext wird auch verständlich, wie Dualismus, Naturalismus oder Monolog als ideologisch und daher als manichäistische Muster in der sprachlichen Struktur manifest werden können und wie bzw. weshalb sie der Ambivalenz, Ambiguität und Indifferenz auf Quantität ausgerichteter Marktwirtschaft opponieren. Sosehr Zima davor warnen mag, als logische Konsequenz einer solchen Erkenntnis die Marktwirtschaft selbst zum ideologiefreien Raum hochzustilisieren, dem daraus entstehenden Paradoxievorwurf kann er sich schwer entziehen. Abschließend wäre noch die Frage zu stellen, ob Zima mit seinem Ansatz - bei allem Respekt vor dessen erkenntnistheoretischem wie auch propädeutischem Wert - durch ein zu starres epistemologisches Konzept nicht selbst in dieselbe Denkfalle geraten ist, die er bei anderen Textproduzenten ausmacht.57 Denn das theoretische Strickmuster, nach dem Ideologisches in Romanen von Robert Musil, Hermann Broch oder Alberto Moravia unermüdlich nachgewiesen werden soll, scheint durch die repetitive und „gepanzerte" Gedankenführung auf lexikalischer, semantischer und narrativer Ebene des wissenschaftlichen Textes selbst mehr einem dualistischen, naturalistischen und monologen Prinzip verpflichtet zu sein als einem offenen Diskurs, welcher der Komplexität zeitgenössischer Gesellschaften entsprechenden Ambivalenz, Ambiguität oder Indifferenz Rechnung tragen würde. Meines Erachtens
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Zima (1989: 152). Zima (1989: 256). Vgl. etwa Zima (1985: 97-106). „Ein soziologischer Diskurs - etwa der Max Webers - wird dadurch ideologisch, daß sein Aussagesubjekt das von ihm konstruierte narrative Schema (z.B. den Rationalisierungsprozeß) nicht als kontingente Struktur reflektiert und mit anderen Strukturen konfrontiert. Ähnliches ließe sich von Marx' .Geschichte des Kapitalismus' sagen [...]." Zima (1989:60).
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Überlegungen zum Ideologiebegriff
liegt die Ursache dafür in Zimas starrer und möglicherweise zu schichtenspezifisch angelegter Ideologiedefinition.58
2.2.4. Pierre Bourdieus praxisorientierter Ansatz Ähnlich wie andere diastratisch verfahrende Ideologiekritiker schätzt auch der französische Soziologe Pierre Bourdieu die Ideologieproblematik ein, allerdings mit dem Unterschied, daß er den Begriff an der Praxis festmacht. Er weist dabei die kartesianischen Prämissen der Ideologietheorien wie (falsches) Bewußtsein zurück, da die wichtigsten ideologischen Muster nicht über das Denken, sondern meist über den Körper vermittelt würden. Besser könnten andere Konzepte wie doxa, habitus, champ oder capital symbolique die Problematik ausdrücken, und so schafft er den Zugang nicht über die bewußtseinsgebundenen Ideen, sondern über den Raum der symbolisch strukturierten Macht.59 Nicht subjektive Vorstellungen charakterisieren demnach die Konstellation von Gesellschaft und deren Prozessen, sondern eher generalisierte Verhaltenskompetenzen von Individuen, die unter habitus, Bourdieus Schlüsselbegriff, subsumiert werden. Soziale Felder (champs sociaux) stellen die horizontale Differenzierung dar, in deren strukturierenden Räumen sich die Akteure bewegen. Die Prämissen seiner Theorie und deren Auswirkungen auf die Kommunikationsmedien suchte Bourdieu neuerdings selbstreferentiell zu untermauern, indem er in einem Fernsehkurs des renommierten College de France über die unsichtbaren Zensurmechanismen der Medien sprach und deren Auswirkungen auf die bedeutendsten symbolischen Felder untersuchte.6" Bourdieu erarbeitete so einen wesentlichen Teilbereich der Ideologieforschung und kehrte unermüdlich die losen und komplexen Verbindungen, die zwischen sozialen und symbolischen Strukturen bestehen, hervor, ohne jemals auf den Terminus Ideologie zurückzugreifen.6'
2.2.5. Niklas Luhmanns systemtheoretischer Ansatz Ein neuer Versuch, die inzwischen angehäuften Paradoxien in der Frage um die Ideologie(n) theoretisch zu erfassen und zu bearbeiten, kommt aus den Reihen der Systemtheoretiker. Der Verlust des außerhalb des Geschehens liegenden archimedischen Punktes, wie er für moderne Gesellschaftssysteme charakteristisch geworden ist, schien eine Beobachtung der 58
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Zima ist es in letzter Zeit allerdings gelungen, im Zusammenhang mit der Moderne/PostmoderneDiskussion die festen Strukturen etwas zu dynamisieren und die Geburt der Postmoderne aus dem Geiste der Moderne anhand von relevanten historischen Zusammenhängen aufzubereiten. Vgl. Zima (1997). Vgl. Bourdieu/Eagleton (1992); Bourdieu (1984). „Le principe de Taction historique [...] ne reside ni dans la conscience ni dans les choses mais dans la relation entre deux itats du social, c'est-ä-dire entre l'histoire ohjectivie dans les choses, sous forme d'institutions, et l'histoire incarnee dans les corps, sous la forme de ce systfeme de dispositions durables que j'appelle habitus. Le corps est dans le monde social mais le monde social est dans le corps." Bourdieu (1982: 37f.). Vgl. Bourdieu (1996). Dieser praxisorientierte Ansatz liefert nicht nur der Soziologie, sondern ebenso der Literaturwissenschaft eine Vielfalt von Beobachtungsmöglichkeiten mit ideologiekritischer Relevanz. Es geht hier weder um Bewußtsein und dessen Vorurteile, wie in der ersten Rahmung, noch um sprachlich vermittelte Ideologeme, sondern um die Berücksichtigung und Beschreibung differenzkonstituierender Praktiken, die über Autor-, Erzähler- und Figurenfunktionen in den literarischen Text eingeschrieben werden.
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gesellschaftlichen Ereignisse von innen heraus sowie eine dynamischere Interpretation der zahlreichen polyfokalen Sichtweisen und Wertungen notwendig zu machen. So wurde aus heuristischen Gründen eine Art Paradigmenwechsel 62 vollzogen und ein zum traditionellen Theoriedesign schräger Einstieg gewählt: Nicht mehr ontologische Weltbetrachtung mit Subjekt/Objekt-Dichotomien lenken demnach den „neuen" Blick, denn nunmehr werden Uber Kommunikation laufende und systembezogene Beobachtungsmöglichkeiten mit ungewohnten Distinktionen als Sonden in das komplexe Weltgeschehen ausgesandt, deren Aufnahmen dann von einem einschlägig spezialisierten System zu verarbeiten sind. Im Netz der Kommunikationen entstehen Umverteilungen, in das theoretische Zentrum treten Begriffe wie etwa System/Umwelt, Auto-/Fremdbeobachtung, Autopoiesis, second order observation, Entparadoxierung u.a., welche dann eine auf Kommunikation eingestellte Innensicht gewährleisten sollen. Ihren Ausgang hatte die neuere systemorientierte Gesellschaftsanalyse - insbesondere der Ansatz Niklas Luhmanns - einerseits bei Talcott Parsons genommen, der sich im Laufe seiner Forschungsarbeiten immer weiter vom methodischen Individualismus entfernt hatte und schließlich an dessen theoretischen Gegenpol, die kybernetische Systemtheorie, anknüpfte. Er vertrat einen relativ eng gefaßten Ideologiebegriff, den er sowohl von religiösem Glauben wie auch von wissenschaftlicher Erkenntnis abzutrennen versuchte: Im Gegensatz zur Religion besitze Ideologie nämlich einen ausgeprägt empirischen Referenten, im Gegensatz zur Wissenschaft jedoch einen stark evaluativen Aspekt, und müsse damit die Stabilität der institutionalisierten Werte aufrechterhalten. Darüber hinaus ging Parsons in dieser Frage von einem klar definierten Handlungssystem aus und schrieb Ideologie folglich auch eine markante Praxisbezogenheit zu.63 Der zweite Zugang zur Problematik erfolgte nicht nur über Ludwig von Bertalanffys vorrangig kybernetischen Ansatz, 64 sondern auch über den französischen systemisme, der sich unter Yves Barel 65 oder Edgar Morin 66 mehr mit Globalität als mit Partikularität, eher mit Komplexem als mit Einfachem beschäftigte. Den gleichen Weg beschritt auch Michel Crazier; er beschränkte sich allerdings auf die Beobachtung der bürokratischen Organisationen unter Berücksichtigung strategischer Vorgaben und affektiver Entscheidungsdimensionen des einzelnen Handlungsträgers. 67 Pierre Ansart 68 subsumierte diesen funktionalistischen und strategischen Ansatz als einen der vier herausragendsten der zeitgenössischen französischen Soziologie. Ebenso wenige Inklusionsmöglichkeiten für emotionale Dimensionen bietet auch das bereits erwähnte Theoriedesign Niklas Luhmanns, dessen programmatische Schriften zum Thema Wahrheit und Ideologie69 und Positives Recht und Ideologie70 allerdings über einen systemspezifischen Zugang in der Sache verfügen. In den beiden Schriften bemüht sich der 62 63 64 65 66 67 68
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Vgl. oben: „Binäre Oppositionen". Vgl. Parsons (1951). Vgl. auch Duprat (1983/11: 90ff.). Vgl. Bertalanffy (1968). Vgl. Barel ( 2 1989). Vgl. Morin (1986). Vgl. Crozier/Friedberg (1981). Ansart (1990: 63ff.). Ansart selbst vertrat in seiner Studie zum Ideologiebegriff (1977: 267) die Ansicht, daß Utopie die „abgenützte" Funktion von Ideologie übernehmen werde, zumal der politische Diskurs vor allem einer spirituellen und intellektuellen Erneuerung bedürfe. Und diese käme von der utopischen Seite. Luhmann ( 5 1984a/I). Luhmann ( 5 1984b/I).
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Bielefelder Soziologe vor dem Hintergrund neugefaßter Prämissen um eine eigenständige Ausdifferenzierung von Ideologie. Er geht dabei im ersten Artikel vom Marxschen Ansatz aus, den er für ausdiskutiert und obsolet erklärt, gleichzeitig betrachtet er aber dessen geschichtliche Denkvoraussetzungen für hinreichend ergiebig, um das Ideologiethema auf eine höhere Ebene zu transformieren. Den Kernpunkt bildet die Erkenntnis, daß nach der grundlegenden Veränderung des Wahrheitsbegriffes in modernen Gesellschaften auch die Ideologie neu betrachtet werden sollte. Moderne Gesellschaften verfahren dann nicht mehr schlicht nach dem Muster ontologischer Metaphysik. In Gesellschaften, in denen alles Erleben auch auf andere Weise möglich ist und alles Seiende auch mit Nichtsein kombinierbar zu sein scheint, komme jede sichere Wahrheit ins Wanken. Und daher müsse dem funktionalen Denken mehr Platz eingeräumt werden, weil es ohne den für ontologisch operierendes Denken fatalen Ausschluß des Nichtseins auf andere Möglichkeiten verweisen könne und den Sinn des Seienden besser fasse. Hand in Hand mit dem dynamischen Wahrheitsbegriff erfolgt auch in logischer Konsequenz die Kontingentsetzung des ideologischen Denkens. „Kennzeichen der Ideologie ist also die durchdachte Rechtfertigung, die Überlegtheit der Rechtfertigungsstruktur und das künstliche Abschneiden anderer Möglichkeiten - im Gegensatz zur Einfalt des rechten Handelns [...]."71 Daraus ergibt sich in Luhmanns Systemtheorie ein durchaus originelles Ideologiekonzept, das auf einer höheren Abstraktionsebene alles Negativen entbehrt und zu einem wesentlichen Bestandteil der modernen Sozialtechnik avanciert. Auffallend dabei ist die starke Integrationskraft so verstandener Ideologie, die nicht nur die aus archaischen Gesellschaften bekannten Ritualfunktionen, sondern auch wesentliche Aufgaben moderner Gesellschaften übernimmt. Sie integriert Widersprüche und koordiniert Handlungen mit widersprechenden Wertordnungen. In gewisser Hinsicht wird hier die konsensorientierte Basis manifest, auf die Luhmanns Theorie gründet. So umgeht der Theoretiker die konfliktgeladene und polemogene Bedeutung des Begriffes. Suspekt sei Ideologie nämlich gerade in bezug auf das ontologische Wahrheitskonzept geworden, nach dessen Auflösung sie nun um so stärker, in neuem Gewände und befreit von der ihr anhaftenden ethischen Minderwertigkeit, in Erscheinung trete. In frappantem Gegensatz zu Poppers Fallibilitätskonzept erscheint Ideologie somit als „kritisierbar, verbesserungsfähig, ersetzbar, fungibel". 72 Ähnlich verläuft Luhmanns Argumentation in seinem zweiten Artikel zum Thema, mit dem Unterschied jedoch, daß Ideologie nun vor dem Hintergrund des positiven Rechts abgehandelt wird. Beide Begriffe werden dabei einem Vergleich unterzogen und für funktional äquivalent erklärt, zumal der eine durch die Normierung der Normsetzung das Naturrecht ersetzt und kraft Entscheidung gilt, der andere als (ideologisierende) Bewertung von Werten ebenso kontingent gesetzt wird. In sozialen Systemen übernehmen positives Recht wie Ideologie dann die Reduktion von Komplexität des Gesellschaftssystems und seiner Umwelt, was wiederum zur Gewinnung neuer Anschlußmöglichkeiten mit neuer Komplexität führt, „und ermöglichen zugleich eine sinnvolle Orientierung des Erlebens und Handelns nach Maßgabe dieser Struktur". 73 In solchen überaus komplexen Systemen kommt es auf diesem Wege zur
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Luhmann ( 5 1984a/I: 60). Luhmann ( 5 1984a/I: 59). Luhmann ( 5 1984b/I: 179).
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Trennung von Rollen und Personen sowie von Werten und Normen/Zwecken, woraufhin Personen mobilisiert und Werte ideologisiert werden können. Somit definiert Luhmann Ideologien als „Symbolstrukturen", „die ein Reflexivwerden des Wertens ermöglichen und damit Leistung und erreichbare Komplexität dieses Aspektes des Entscheidungsprozesses steigern". 74 Doch kommt dem Ideologiebegriff trotz neuer systemischer Terminologie nicht immer ein dynamischeres Verständnis zu. Hält man sich an die - wie sie sich selbst nennt - „erste übergreifende Gesellschaftstheorie" von Niklas Luhmann und Raffaele De Giorgio, ist man über die widersprüchliche und traditionell-polemische Auffassung von Ideologie erstaunt: [...] a differenza delle teorie e dei metodi, l'ideologia commette il grande reato e l'argomentazione la piccola truffa. 75 Nelle analisi che seguono, troveremo che questa tendenza a fissare normativamente i testi viene confermata piü volte: per esempio, nel concetto vetero-europeo di natura e poi anche nel contesto modemo delle Ideologie.76
Dennoch kann man dem Luhmannschen kommunikationstheoretischen, allgemein auf Konsens ausgerichteten Ideologiekonzept, das durch die Trennung von Werten und Normen in ein aktualisierteres Licht rückt, einiges an Erklärungskraft für den Ablauf moderner Gesellschaften abgewinnen. Erstens läßt sich dadurch für neue Ideologien oder die Bewertung von Werten eine zeitgemäße geplante Anschließbarkeit einrichten. Symptomatisch für die Suche nach solchen Möglichkeiten ist etwa die französische Initiative, aus interdisziplinärer Sicht neue und gesellschaftsadäquate Werte zu entwerfen bzw. zu beschreiben: La Societe en quete de Valeurs pour sortir de l'alternative entre scepticisme et dogmatisme.11 Dergestaltige Wertkonstruktionen können darüber hinaus durch diese Mechanismen auch besser beobachtet und gehandhabt werden und spielen gerade in Krisenzeiten eine nicht unbedeutende Rolle. Schließlich bieten sie durch die Miteinbeziehung einer Reihe von Unbestimmtheitsstellen sowie der Beachtung von Risiken als zentrale Steuerungsfaktoren wichtige Angriffsflächen für eine adäquate Ideologiediskussion nach dem vermeintlichen „Ende" traditioneller Ideologiekonzepte. Mit nicht geringer Skepsis treten französische Kommunikationswissenschaftler, wie etwa Philippe Breton 78 oder Lucien Sfez, einer solchen theoretischen Entwicklung entgegen. Letz74
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Darüber hinaus legt Luhmann (51984b/I: 183) zwei Funktionen für Ideologie fest: die pragmatische oder instrumentale Funktion, „die die jeweilige Auswahl von wertvollen Programmen und entsprechenden Opfern und Verzichten anleiten und den Wechsel dieser Programme steuern können", sowie die symbolische oder expressive Funktion, „die den Konsens derjenigen sicherstellen soll, die mit ihren spezifischen Werten warten müssen. Ihnen muß sie gegenwärtig schon Gewißheit verschaffen, daß auch sie zum Zuge kommen werden". Luhmann/De Giorgio ( 7 1995: 126). Luhmann/De Giorgio ( 7 1995: 343). Besnier (1996). Es sei an der Zeit, unserer Gesellschaft wieder - ideologische - Orientierungshilfen zu vermitteln und sie aus der Alternative zwischen der skeptischen Charybdis und der dogmatischen Skylla herauszuführen. Vgl. Besnier (1996: 13). Dies ist die Absicht einer Gemeinschaftspublikation namhafter französischer Intellektueller (Bruckner, Dupuy, Lipovetsky, Mongin u.a.), die mit Fördermitteln des marktwirtschaftlich orientierten Institut du management d'EDF et du GDF in glanzvoller Aufmachung publiziert wurde. Erklärter Zweck der Publikation von Seiten der Wirtschaft ist es, durch die von der Philosophie „erfundenen" Denkmodelle Innovationsanleitungen zu erhalten. Welcher Ideologie das Kommunikationssystem selbst entsprungen ist und welche Ideologeme es davon noch perpetuiert, untersuchten Breton und Proulx (1989). In ihrer Arbeit griffen sie die ursprünglichen Absichten des Mathematikers Norbert Wiener auf, dessen Errungenschaften im informellen Bereich eine
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Überlegungen zum Ideologiebegriff
terer zeigt in seiner neuesten Schrift über den biotechnological turn auf, wie sehr sowohl die dezisionsorientierte wie auch die kommunikationstheoretische Auslegung der zeitgenössischen Gesellschaft an sich schon höchst ideologisch sei und - zumindest in ihrer Funktion bloß den Vorgängern der egalitären (marxistischen) Sichtweise folge. Wenn die Dezisionstheorie die Theorie der 60er und 70er Jahre gewesen sei, habe die kommunikationstechnologische Wende sie in den 70er und 80er Jahren abgelöst und ihrerseits auch neue symbolische Formen geschaffen. Epistemologisch sei dieser letzte Abschnitt als autopoietische oder selbstreferentielle Theorie konfiguriert worden. Aber auch diese „Fabel", die - wie eben Ideologie - von der vorliegenden Realität ausgehe und über symbolische Transformationsprozesse einen idealen Zustand anpeile, sei bereits überkommen. Die neue episteme zeichne sich bereits im virtuellen Bereich, in der Simulation, in der Schöpfung elektronischer Wesen ab und weise auf eine neue Divinisierung und Mythifizierung des „göttlichen Über-Körpers" hin. Damit unterstreicht Lucien Sfez' Kritik die Verbundenheit von gesellschaftlichen Ideologien (Utopien) mit wissenschaftlichen Theorien und kehrt ihre Mythenhaftigkeit als unerschöpfliches Formationsprinzip hervor.79 Am Beispiel der grande sante zeichnet er die Entwicklung der Ideologie in den letzten Jahrzehnten nach und entkräftet damit die Gültigkeit der kommunikationstheoretischen Ansätze in dieser Frage. Er übersieht dabei, daß es beim systemischen Ansatz bloß um eine formale Beobachtungsmöglichkeit geht, ideologische Prozesse in ihrer positiven Funktion aufzuspüren und zu beschreiben.80 Indem Sfez aber den Begriff Ideologie um die mythische Dimension erweitert hat, möge seine Theorie zur nächsten Rahmung überleiten.
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Rückkehr zur Barbarei nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine vollständig informierte Gesellschaft unterbinden hätten sollen. Die Kehrseite des Traumes von einer Ideologie der Kommunikation ohne Opfer beschrieb Breton (1992). Diese Utopie propagiere nämlich eine systematische Apologie des Konsenses, sie identifiziere Medienberichte mit Tatsachen und ließe die Zukunft ausschließlich im Licht „neuer Technologien" erscheinen. Vgl. Sfez (1995: 353-375). „Aux nouveaux mythes il faut opposer d'autres mythes. [...] le mythe est toujours renaissant. Loin d'appartenir ä un passe immemorable sous la forme figee d'une histoire constituee, il a pour trait caracteristique d'etre un rdservoir d'images actualisables. On voit ainsi se construire des sequences d'images, avec une logique propre de developpement." Sfez (1995: 368). Auch Khouri (1990) beurteilt die Begründungselemente der neuen Biodeterminismen kritisch. In ihren Untersuchungen zur einschlägigen Terminologie (Biopolitik, Bioökonomie und - last but not least - Biologie der Ideologie!) geht sie den unterschwelligen Bedeutungen des betreffenden Diskurskomplexes nach. In diesem Zusammenhang soll auch eine rezente Publikation erwähnt werden: Leroux' Betrachtungen (1995) über die Rückkehr zur Ideologie. Der Autor versteht hier Ideologie in einem modernen - postliberalistischen wie auch postsozialistischen - Sinn und möchte den Begriff von geschlossenen Systemen, von Dogmen wie Kommunismus oder Faschismus, völlig abgegrenzt wissen. Sein Verständnis knüpft an die Tradition Raymond Arons an, indem er Ideologie als globales Interpretationssystem der historischpolitischen Welt interpretiert und das betreffende System als kohärentes und offenes charakterisiert. Religion, Metaphysik oder Technik seien davon auszugrenzen. Seiner positiv gedachten Ideologiedefinition liegt folgender Aussagekern zugrunde: „Une Ideologie est ,un ensemble de principes' (Hayek) donnes ä priori, visant ä fournir une representation de la vie de l'homme en sociöti." Leroux (1995: 13). Damit läge Leroux - abgesehen vom formalen Aspekt - auch ganz im Trend des systemtheoretischen Ideologieverständnisses, würde er nicht gezielt auf ein ideologisches Modell hinarbeiten, und zwar auf den in den 30er Jahren berühmt gewordenen „dritten Weg" des Personalismus, dessen Ausweg aus der Krise er unserer Zeit nahelegen möchte.
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2.3. Ideologie als Mythos oder Weltanschauung Welch enge Verbindung Ideologie mit den anthropologischen Konstanten einzugehen pflegt, zeigen die zahlreichen in ideologieanalytischen Arbeiten unternommenen Versuche der Abgrenzung dieser Bereiche voneinander. Sind sie wirklich unterscheidbar? Und wenn ja, mit welchen Kriterien? Wie wir in einem vorhergehenden Abschnitt beobachten konnten, plädierte Peter V. Zima f ü r eine solche Ausdifferenzierung auf begrifflicher Ebene, was letztlich wieder neue Widersprüche zutagebrachte. Wenn sich der Mythos in Stammesgesellschaften noch auf die Differenz heilig/profan bezogen habe, sei dies in modernen arbeitsteiligen Industriegesellschaften nicht mehr möglich und müsse durch eine ideologiekritische Differenzierung wie wissenschaftlich/unwissenschaftlich ersetzt werden. Wäre demzufolge Ideologie gewissermaßen ein Mythos in neuem Gewände? Mitte der 50er Jahre hatte auch Roland Barthes Mythos und Ideologie auf eine Ebene gebracht, als er die französische Alltagskultur in semiologischer und ideologiekritischer Hinsicht unter die Lupe nahm und diese Studie unter dem Titel Mythologies publizierte: „[...] j e souffrais de voir ä tout moment confondues dans le r6cit de notre actualit6, Nature et Histoire, et j e voulais ressaisir dans Γ exposition d£corative de ce-qui-va-de-soi, Tabus ideologique qui, ä mon sens, s'y trouve cache". 81 Doch wie Zima konzentrierte sich Barthes nur auf die Dimension der sprachlichen Ebene. Einen anderen Zugang zum Problem schuf Gilbert Durand aus anthropologischer Sicht in seiner inzwischen zum Klassiker avancierten Archetypologie des Imaginären. 82 Im Gegensatz zum strukturalistischen Ansatz und dem damit zusammenhängenden Weltverständnis, das Zeitliches dem Räumlichen vorgezogen hatte, bot Durands Gegenentwurf eine dynamisiertere Version auf Basis von räumlicher und entzeitlichter Figurativität. Wie er in seinem Vorwort zur sechsten Auflage des Werkes festhält, könne sich die von der mythocritique zur mythanalyse83 entwickelte Theorie in die neueren Epistemologien des Systemikers Ludwig v. Bertalanffy, des Biologen Francois Jacob oder des Mathematikers Ren6 Thom einschreiben, und nicht ohne Überlegenheitsgefühl blickt der Autor in diesem Zusammenhang auf überkommene Modelle des Neopositivismus und des formalen Strukturalismus zurück. 8 4 Aufgrund seiner Verbundenheit mit Gaston Bachelards psychologischer topo-analyse, in der es um das systematische Studium der imaginären Räumlichkeit ging, konzentrierte sich Gilbert Durand auf die Grundkonstanten menschlicher Vorstellung und legte deren rekurrente Schemata wie etwa Raum/Zeit, Tag/Nacht, Aufstieg/Abstieg u.a. frei. Solche Konstanten steuern in nicht geringem Maße auch die ideologischen Konstruktionen einer Gesellschaft und könnten daher auch für ideologiekritische Studien fruchtbar gemacht werden. 85 „Toute culture inculqu6e par E d u c a t i o n est un ensemble de structures fantastiques", 86 wie Durand 81 82 83 84
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Barthes (1970:7). Durand (101984). Durand (1979). Eine solche kritische Einschätzung des Autors verweist nicht zuletzt auch auf die Präsenz von Ideologie im wissenschaftlichen Diskurs: „Les vieux niopositivismes unidimensionnels et totalitaires perdent un peu plus chaque jour les dibris de leur prestige, minis par ('instrumentation de la recherche scientifique moderne [...]. Le structuralisme formet, quant ä lui, s'est enferme ä jamais dans le ghetto d'un langage stdrile, pricieux et souvent ridicule." Durand (1979: IX). Als Beispiel einer solchen Verbindung von Topoanalyse und Ideologiekritik wäre hier etwa Van't Lands herausragende Dissertation (vgl. 1994) anzuführen. Durand (1979: 460).
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zusammenfaßt, böte dafür eine Reihe von Anknüpfungsmöglichkeiten, wobei allerdings zu bedenken wäre, daß sich ein anthropologisches Modell dieser Art zwar vornehmlich auf den dritten Bereich der Rahmung bezieht, durch den Rückgriff auf das Imaginäre jedoch auf einen spezifischen Teil des ersten, subjektzentrierten Bereiches zurückkommt. Daß anthropologisch Konstantes auch andere Disziplinen der ideologiekritischen Forschung beschäftigt, zeigt der Beitrag des Philosophen und Kritischen Rationalisten Ernst Topitsch in Kurt Salamuns einschlägigem Sammelwerk. Darin analysiert er das Phänomen Zeit in zwei Ausprägungen, der irdischen Zeitlichkeit und der überirdischen Unzeitlichkeit, beschreibt mehrere Möglichkeiten von Parusieverschiebung und deren Deutung - in religiösen wie politischen Varianten - und gelangt zur Erkenntnis, daß eine vermeintliche Existenz jenseits der Vielheit, Veränderung und Zeit trotz einer Relativierung durch die moderne Physik nicht zu haben sei. Topitschs Weltanschauungsanalyse mag zwar von der ersten (subjekt- und vernunftorientierten) Rahmung87 ausgehen, sie zeigt allerdings um so mehr, wie eng Ideologie und Weltanschauung miteinander verwirkt sind: Die menschliche Weltauffassung beruht auf dem Dasein des Menschen als eines lebenden, denkenden, wollenden, handelnden und zumal leidenden gesellschaftlichen Wesens. Daraus ergeben sich die hauptsächlichen Weltanschauungsfunktionen: Informationsgewinnung, Handlungssteuerung und emotionale Auseinandersetzung mit der Realität als Weltverklärung oder Weltüberwindung. Daraus ergeben sich aber auch die wichtigsten Leitvorstellungen, mit deren Hilfe das Universum, das Individuum (und seine „Seele") und schließlich auch das Erkennen interpretiert werden. Der sozialen Produktion und Reproduktion des Lebens entstammen biomorphe, soziomorphe und technomorphe Modellvorstellungen [...]. Doch die Weltanschauungsfunktionen, Leitvorstellungen und Vollkommenheitsgesichtspunkte sind oft miteinander teilweise oder völlig unvereinbar [...]. Die daraus resultierenden [...] Schwierigkeiten sind zu perennen „Problemen" der Philosophie und Theologie geworden.88
In dieser Hinsicht können Weltanschauungsmodelle und Mythen auch als Ideologien bezeichnet werden. Mögen sie systemimmanent noch so sehr vorgeben, von allumfassender Gültigkeit zu sein und den Vollkommenheitsanspruch zu stellen, aus externer Perspektive weisen sie oft Brüche und Dissonanzen89 auf, die diesem Anspruch entgegentreten. Doch wie soll in dieser heiklen und - nicht nur in postmodernen Gesellschaften - komplexen Konstellation über einen spezifischen Sachverhalt entschieden werden? Auf diese Frage mochte noch die vorhergehende Rahmung Aufschluß geben. Auf die Darstellung eines zwischen Ewigkeit und irreversibler Zeit gespaltenen Weltverständnisses rekurriert ebenso der Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe Marc Guillaume.90 Es interessiert ihn dasselbe Phänomen, doch liegt Guillaume die moderne kommunikationeile Ausfaltung der Problematik, wie sie in der ideologischen Verbrämung zwischen Geschwindigkeit und Moderne sichtbar wird, am Herzen. Dyschronien entstünden heute vor allem zwischen der hyperakzelerierten Zeitrationalisierung von Organisationen, ihren technischen, wirtschaftlichen, administrativen Strategien und dem Zeitgefühl der conditio humana, deren Taktiken als anthropologische Konstanten dem ersten weit nachhinken würden. Als Plädoyer für die Langsamkeit gestaltet, entkräftet Guillaumes Beitrag jegliche Argumentati87
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Dabei wird klar, daß sowohl bei Durand wie bei Topitsch zwar eine Darstellung der dritten Rahmung angestrebt wird, das Konzept allerdings sowohl über das Subjekt wie auch über die Sprache läuft. Topitsch (1992: 68f.). Die Ideologien eingeschriebenen Brüche und Dissonanzen heißen etwa bei Suleiman „failles", bei Macherey „ddcalage" oder bei Dubois „diplacement dans l'ordre symbolique". Vgl. Suleiman (1983); Macherey (1970); Dubois (1978). Vgl. Guillaume (1996).
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on, die einer Ideologie der hyperkommunikationellen Geschwindigkeit und besonders ihren positiven Auswirkungen auf das kreative Denken das Wort reden würde. Noch wesentlich pessimistischer schätzt Jean Chesneaux91 die Ideologie des Ephemeren, Schnellebigen, des Unmittelbaren für unsere dadurch geschädigten Demokratien ein und weist auf die allgemeine Krise der Zeit hin. Mit Georges Balandier im Rücken formuliert der Autor die menschlichen Lebensbedingungen in bezug auf Zeit: „[L'homme moderne] coup6 de tout projet comme de tout h6ritage [...] eprouve de plus en plus de difficult6s ä se penser dans la dimension du temps".92 Wieder in die Zeit selbst zurückkehren, „habiter le temps", dies sei die Rettung der demokratischen Systeme, lautet die Antwort Chesneaux'.
2.4. Panideologismus oder Ende der Ideologien Nach der Besprechung von unterschiedlichen Rahmungen oder Fokalisierungen des Ideologieverständnisses liegt es nahe, sich mit der Entgrenzung des Begriffsfeldes auseinanderzusetzen. Viele Definitionen von Ideologie haben gezeigt, wie mühsam es ist, etwaige Grenzen zum falschen Bewußtsein zu ziehen, wie unsicher die Wissenschaft dem mit ihr verwirkt und verflochten scheinenden Ideologiekonzept gegenübersteht und wie schwer Ideologie in ihrer Polyvalenz begrifflich zu fassen ist. Gerade in modernen Gesellschaften tauchte die Frage auf, ob man die zahlreichen omnipräsenten Ideologiekonstrukte nicht selbst mit Hilfe einer profunden „wissenssoziologischen" Klarlegung der Mechanismen von Ideologiebildung darstellen und vergleichen sollte. In poststrukturalistischen Ansätzen bezog man den „wissenschaftlichen" Betrachter in die Betrachtung ein und führte im Gefolge der nietzscheanischen Kritik eine radikale Unterwanderung der eigenen Denksysteme durch. Ob dabei Ideologie als abgeschafft und aufgelöst erklärt wird oder ob sie - im Gegenteil - als alle Denkmuster und Diskurse durchdringende Kraft bestehen wird, bleibt eine bloße Frage der Fokalisierung. Stimulierend für eine solche Diskussion über ein weiter gefaßtes Verständnis von Ideologie war Karl Mannheims wertfrei entworfenes Konzept des totalen Ideologiebegriffes. Darunter verstand der Begründer der Wissenssoziologie eine allgemeine Fassung, der zufolge das menschliche Denken grundsätzlich - in welcher Epoche auch immer - ideologisch sei. So wollte er das wissenschaftliche Denken aus einer bloßen Ideologienlehre heraus zu einer die „Seinsgebundenheit" jedes lebendigen Denkens berücksichtigenden Wissenssoziologie führen. In der Ideologieforschung sollte daher jede „enthüllende" Absicht aufgegeben werden und nur der Zusammenhang zwischen sozialer Seinslage und Sicht herausgearbeitet werden: „Die jeweilige Partikularität der einzelnen Standorte und ihr gegenseitiges Aufeinanderbezogensein im Zusammenhang mit dem sozialen Gesamtgeschehen zu erforschen, wird die Aufgabe einer solchen .wertfreien' Ideologieforschung sein."93
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Chesneaux (1996). Balandier (1996: 106). Mannheim (1929; 7 1985: 73). In diesem Zusammenhang wäre auch die Studie des französischen Hermeneutikers Paul Ricoeur zu erwähnen, in der dem Begriff Ideologie im Anschluß an den Utopiebegriff wieder eine positivere Bedeutung abgewonnen werden sollte. So bringt Ricoeur die beiden Begriffe einander näher, indem er zeigt, wie Utopie und Ideologie sowohl als „Landkarten der Wirklichkeit" wie auch als „Vorlagen für die Herstellung des kollektiven Bewußtseins" wirken können. Vgl. Ricoeur (1986).
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Überlegungen zum Ideologiebegriff
Einen fruchtbaren Anschluß fanden Mannheims Überlegungen in Hayden Whites metahistorischen Analysen zum 19. Jahrhundert. Darin postuliert der Historiker White Ideologie und Utopie folgend vier ideologische Grundpositionen - Anarchismus, Konservatismus, Radikalismus und Liberalismus - , die als Wertsysteme immer sich selbst als vernünftig, wissenschaftlich relevant und realistisch betrachteten. Sie stünden allerdings nicht wie autoritäre Systeme allein im Mittelpunkt, sondern müßten sich mit den jeweils anderen Diskurssystemen öffentlich auseinandersetzen: Mit dem Wort „Ideologie" ist hier ein Bündel von sozialen Verhaltensregeln und Handlungsgeboten gemeint, die mit einer bestimmten Position gegenüber der gegenwärtigen Gesellschaft und im Hinblick auf soziales, an Veränderung oder Aufrechterhaltung des Status quo orientiertem Handeln verbunden sind. 94
Im Panideologismus, der von vielen Seiten als zahnlos zurückgewiesen wurde - insbesondere von Vertretern schichtenbezogener Rahmung wie Peter V. Zima oder Terry Eagleton - kam es nichtsdestoweniger zu einer Bewußtwerdung der eigenen Positionierung des Kritikers. Wenngleich noch zahlreiche Probleme offen blieben, wie etwa die Frage nach der Unterscheidbarkeit von theoretischen und ideologischen Diskursen, die Frage nach der Position von „freischwebender Intelligenz" in der wissenssoziologischen Betrachtungsweise, die Unterscheidung zwischen zukunftsorientierter Utopie und vergangenheitsbezogener Ideologie, so verwies Mannheims Ansatz dennoch auf den Versuch, eine faire selbstkritische Öffnung des Kritikers in dieser heiklen Angelegenheit herbeizuführen. Radikaler im Ansatz erfolgte die bereits erwähnte Kritik der Postmodeme, die mit Nietzsche den Ideologiebegriff entweder auf alle Diskurse übertrug oder ihn gar für obsolet erklärte und eliminierte. Daraus ging nicht zuletzt auch Michel Foucaults Machtkritik hervor. Sie brachte den nietzscheanischen Ansatz und die Vorgaben poststrukturalistischer Linguistik auf einen Nenner und löste jedwede Ideologie insofern auf, als in dem durch und durch materialistischen Rahmen kein Platz mehr für ideelle Sphären blieb. Nicht mehr nach Wahrheitsansprüchen wurde dabei gesucht, nicht mehr nach Gültigkeitsbedingungen für Urteile, sondern bloß nach den Realitätsbedingungen für Diskurse, deren gemeinsames Formatierungsund Funktionssystem dargestellt werden sollte. Die wahr/falsch-Dichotomie wurde so zum diskursiven Exklusionsmechanismus degradiert. 95 Noch deutlicher von einer Auflösung des Ideologiebegriffes ist in den Arbeiten JeanFran5ois Lyotards die Rede. In seinen Gründungsschriften zur Postmoderne vertritt er die Ansicht, daß die großen (ideologischen) Erzählungen, die metarecits, in der postindustriellen Gesellschaft ihrer Glaubwürdigkeit verlustig gegangen seien und eine „Delegitimierung" erfahren hätten, deren Keime im Nihilismus zu suchen wären. Spekulative Erzählungen wie
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White (1973; 1994: 38). „Nach meinem Verständnis gibt es keine außerideologischen Instanzen für eine objektive Entscheidung zwischen den widerstreitenden Anschauungen von der Geschichte und der historischen Erkenntnis, auf die sich die verschiedenen Ideologien berufen. [...] Man kann auch nicht behaupten, daß ein Konzept der historischen Erkenntnis „wissenschaftlicher" sei als ein anderes, ohne im voraus darüber zu befinden, was denn eine spezifisch historische bzw. gesellschaftsorientierte Wissenschaft sei." White (1973; 1994:43). Vgl. Foucault (1969); (1971). „Certes, si on se place au niveau d'une proposition, ä l'intörieur d'un discours, le partage entre le vrai et le faux n'est ni arbitraire, ni modifiable, ni institutionnel, ni violent. Mais si on se place ä une autre echelle, si on pose la question de savoir quelle a ete, quelle est constamment, ä travers nos discours, cette volontö de verite [...], alors c'est peut-etre quelque chose comme un systdme d'exclusion." Foucault (1971: 16).
Neue Parameter in Sicht?
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auch Erzählungen der Emanzipation könnten in der Wissenschaft keine Legitimierungsarbeit mehr leisten und müßten sich auf ihr eigenes Sprachspiel beschränken. 9fi So ist es mit der Neubegründung der postindustriellen Gesellschaft zu einer Gleichsetzung vom Ende der Moderne und dem Ende der Ideologie gekommen. 97 An diese Vorgaben, die metaphysische Begriffe wie Wesen und Wahrheit durch das Spiel ersetzen, knüpfen heute auch zahlreiche dekonstruktivistische Ansätze paradigmatisch an und kommen konsequenterweise auch zu analogen Ergebnissen.
3. Neue Parameter in Sicht? Nach der Darstellung des zeitgenössischen Theorienfeldes in der Frage von Ideologiekritik, Ideologietheorie bzw. der Theorie des Ideologischen hat sich gezeigt, daß der Begriff an seiner Vielschichtigkeit und Polysemie nichts verloren hat. Er ist in einer Zeit der hochtechnologischen und transnationalen Produktionsbedingungen bzw. der condition postmoderne im Gegenteil nur noch komplexer geworden und kann heute schwerer denn j e als unidimensionale Kategorie gefaßt werden. Um darüber noch einigermaßen adäquate Aussagen hervorbringen zu können, müssen definitorische Rahmungen eingezogen werden, die den im Grunde stets zoomartig gleitenden Fokalisationsgrad der Beobachtung verdeutlichen und die Komplexität des Beobachteten miterfassen können. Von der engsten Rahmung ausgehend lassen sich Ideologien vorerst im Subjekt ausmachen. In der darauf folgenden Einstellung treten partikulare Soziogebilde wie Schichten, Rollen oder Systeme ans Licht, die dann meist modifizierte Ideologiemorphologien aufweisen und in ihrer Vielfalt für die Kritik auch die größten Angriffsflächen bieten. Bei noch größerer Optik werden Mythen und Weltanschauungen mit Ideologie gleichgesetzt, und schließlich kann man die Rahmung so weit ausdehnen, daß sie sich gleichsam von selbst aufhebt. Je nach Perspektivik wird Ideologie in der weitesten Rahmung dann entweder für omnipräsent oder für eliminiert erklärt. Aber nicht nur auf die Rahmung kommt es an, denn auch die Elemente, an denen Ideologisches beobachtet und festgemacht wird, wirken auf die Definition des Begriffes zurück: Wird Ideologie im Bewußtsein verankert, fällt die Diagnose anders aus als bei einer Verortung im sprachlichen Bereich, und in wieder anderer Form zeigt sich Ideologie dort, wo es um Praxis-Erscheinungen geht, d.h. um spezifische Verhaltensweisen der Menschen innerhalb des sozialen Rahmens. Eine qualitative Veränderung erfährt der traditionelle Ideologiebegriff auch durch die neue polykontexturale Weltsicht zeitgenössischer globaler Forschungsansätze, etwa wenn es um die Frage geht, welchen Platz und welche Funktion Ideologie in akzelerierten Gesellschaftsdynamiken einnimmt. Angesichts dieser vielschichtigen Problematik scheint uns ein der komplexen Weltsicht Rechnung tragender Ansatz vonnöten, der sich selbstreferentiell auf die Frage nach der Ideologie von Ideologie einläßt und mit daraus entstehenden Paradoxien umzugehen lernt. Denn nirgends treten die Grenzen der menschlichen Erkenntnis so deutlich in Erscheinung wie bei dem Versuch, den Begriff von außen her zu fassen, nirgends taucht das Münchhau96 97
Vgl. Lyotard (1979,63-68). Eine solche Diskreditierung des klassischen Ideologiebegriffes hänge laut Eagleton (1993: 1) mit drei grundlegenden Annahmen der postmodemen Welterklärung zusammen: a) Kritik an der Repräsentation, b) epistemologischer Skeptizismus, der die Ideologiekritik mit absoluter Wahrheit in Verbindung bringe und c) eine an Nietzsche orientierte Verbindung von Rationalität, Interesse und Macht.
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Erkenntnistheoretische
Überlegungen zum Ideologiebegriff
sen-Trilemma so unvermittelt auf wie beim Ideologiekonzept. Eine neuere Definition kann zwar auf traditionelle erkenntnistheoretische Grundannahmen wie die Subjekt/ObjektDifferenz oder auf die logischen Vorgaben von Identität, Widerspruchslosigkeit und ausgeschlossenem Dritten schwer verzichten, sollte allerdings auch erkenntnislogische Innovationen in die Diskussion miteinbeziehen. Eine stärkere Beachtung müßten demnach globaltheoretische Aussagen im Stil der formal ausgerichteten Systemtheorie Niklas Luhmanns oder der erkenntnissoziologischen Betrachtungen Edgar Morins finden, deren kleinster gemeinsamer Nenner darin liegt aufzuzeigen, wie unmöglich ein System nach der binären Logik den Nachweis seiner eigenen Konsistenz erbringen kann und wie notwendig neue emergente Ordnungsmöglichkeiten für die Analyse geworden sind. Ein Blick auf rezente Publikationen zum Thema zeigt auch, daß man sich wieder vermehrt um einen positiven Ideologiebegriff zu bemühen scheint, insbesondere um einen Aspekt des sozialen engineering, das Ideologie eine fruchtbare Dimension zuschreibt und sie in die Gesellschaftsplanung programmatisch miteinbezieht. Wie in Religion, Philosophie und in Literatur(kritik) scheint nach jahrzehntelanger Dekonstruktion erneut der Wunsch und das Bedürfnis nach kohärenten Erzählungen und Metaerzählungen aufzuleben. In ihrer neuen Version unterscheiden sie sich allerdings vom traditionellen Baumuster dadurch, daß sie in ein hyperkomplexes Kommunikationssystem eingebunden sind, größeren Fluktuationen unterliegen und allemal die vom Dekonstruktivismus freigelegten Grenzen der menschlichen Erkenntnis mitführen. In diese Richtung weisend dürfte sich in post- oder übermodernen Gesellschaften die Wendung von Ideologiekritik hin zu Ideologieanalyse gerade vollziehen.98
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Dieser Beitrag erschien in leicht abgeänderter Form unter dem Titel Idola post modernam: Neuere Definitionen des Ideologiebegriffs in der Zeitschrift „Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur" (1998/1: 112-146).
Π. Die Beobachtung von Ideologie durch Literatur
Im vorliegenden Abschnitt soll auf theoretischer Ebene geklärt werden, ob und wie Möglichkeiten der literarischen Konfiguration von Ideologie denkbar sind. Aus dem letzten Kapitel ging hervor, welche vielfältigen Ausprägungen Ideologiedefinitionen annehmen können und wie schwer sie unter einem Begriff zu subsumieren sind. Um so anspruchsvoller und schwieriger wird daher die Aufgabe sein, im Anschluß an die bereits bestehenden theoretischen Konfigurationen eine Art Poetik der Wertungen, eine Poetik des Ideologischen zu entwerfen. Den Zugang zur Problematik möge vorerst eine grob gefaßte Typologie schaffen, die eine Gegenüberstellung der engeren und weiteren Begriffsdefinitionen in bezug auf Ideologie wie auch auf Literatur vornimmt. Es geht demnach um die Frage, wie eng bzw. wie weit die Begriffe sowohl auf der einen - ideologischen - wie auf der anderen - literarischen - Seite zu fassen wären. „Welche Form von Ideologie wird von welchem Literaturkonzept rezipiert?" lautet die Problemstellung. Das folgende Schema zeigt diesbezüglich vier Idealtypen auf, nach denen sich die Modellierung der ideologischen Konfiguration in einem literarischen Text ausrichtet. Für etwaige Mischformen bleiben die mittleren Positionen ausgespart: eng gefaßter Ideologiebegriff Eng gefaßter Literatur als ideologieLiteraturbe- freier Raum; Ausgrenzung von Ideologie als griff 1 These mittlerer Horizont Erfassung erstarrter weit gefaßter Literatur- ideologischer Strukturen begriff
mittlerer Horizont
weit gefaßter Ideologiebegriff Rezeption von Ideologie als zeitloses Konstrukt möglich
Verschmelzung bzw. Auflösung der beiden Systeme
Eine restringierte Auffassung von Ideologie setzt sich massiv für eine manichäistisch ausgelegte axiologische Struktur ein und stigmatisiert sämtliche mit ihr nicht konformgehenden Modelle als falsch, wie wir es aus dem Beispiel der Verfälschung von Vernunft durch äußere Einflüsse im Sinne Bacons oder des falschen Bewußtseins im marxistischen Diskurs kennen. Man denke etwa an Thesenromane oder Erzählungen, deren Grad an ungeschminkter parteiischer Polemik hervortritt und die meist von einem engeren Literaturkonzept ausgegrenzt werden. Unter einem engen Konzept ist ein Kunstverständnis angesprochen, das in erhöhtem
Man könnte den eng gefaßten Literaturbegriff auf andere Weise charakterisieren und damit eine regionalistische Literatur meinen, den weit gefaßten Begriff hingegen auf die universale Variante von Literatur anwenden. In der vorliegenden Untersuchung handelt es sich allerdings bei diesen Begriffen um die mehr oder minder große Inklusionsfähigkeit von Literatur in systemtheoretischer Hinsicht.
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Die Beobachtung von Ideologie durch Literatur
Ausmaße - oder gar ausschließlich - auf die formalen Zusammenhänge achtet und Referentialität als bloßen Bestandteil der Fiktionalität darstellt. Ein solches Verständnis extrapoliert Kunst als eine gegen die empirische Welt abgeschlossene Sphäre, die Ideologie bis zu einem gewissen Grad zwar beobachten kann, sie allerdings in den Bereich des Fiktionalen verdrängt und deren empirische Wirklichkeit damit annulliert.2 Infolgedessen können thesenhafte Texte gemeinhin erst ab dem mittleren Horizont das Prädikat des Literarischen erhalten.3 Als weniger oder nicht störend wirken sich axiologisch festgefahrene Strukturen in einer weiter gefaßten Literaturbegrifflichkeit aus, zumal diese nicht nur den Trivialtexten, sondern auch heterodoxen Gattungen wie etwa dem journal intime, dem Reisebericht oder dem Dokumentarbericht - in Lateinamerika als hochgepriesene literatura de testimonio bekannt - ein nicht geringes Maß an Literarizität einräumt. Insofern schließen einander beide Aspekte auch nicht aus, sondern bringen eine fruchtbare Ergänzung zutage, die sich auf narratologischer Ebene in ihren diversen Ausformungen ohne Schwierigkeiten festmachen läßt. Was den weit gefaßten Ideologiebegriff im Kontext eng ausgelegter Literaturanschauung angeht, so steht einer diesbezüglichen Integration nichts im Wege. Weit ausgelegt verliert der Begriff Ideologie auch seine polemogene Seite und läßt sich vor allem im Spielerischen, Zeitlosen, Universalen - drei Konstanten enger Literaturauffassung - verankern. Man erinnere sich an die Varianten weit gefaßter Rahmungen von Ideologie, die anthropologischen Konstanten sowie den Panideologismus der Wissenssoziologie bzw. die Auflösung des Begriffes durch den Dekonstruktivismus oder die Postmoderne. Eine Sonderstellung genießt im selben Rasterfeld etwa das Märchen, das trotz seines manichäistischen Schemas im allgemeinen dem weit gefaßten Rahmen von Ideologie zugeordnet wird. Von der Gattung her ist es nahe bei den anthropologischen Konstanten angesiedelt, die unserer dritten Rahmung entspricht. Darauf wurde nicht zuletzt von der französischen Mythenkritik und Mythenanalyse im Anschluß an Gaston Bachelard wiederholt verwiesen.4 Strukturen, welche in die archaische Mythenwelt zurückreichen, werden im allgemeinen von einem eng gefaßten Literaturverständnis, das sich auf das rein Fiktive bzw. Fiktionale und weniger auf Wirklichkeitsrelevantes konzentriert, nicht negativ belastet und daher auch nicht ausgegrenzt. Ähnliches ließe sich auch über die anthropologisch-didaktisch angelegte Fabel feststellen. Am leichtesten kann die Modellierung von Ideologie durch das Erzählsystem im vierten Begriffsfeld erfolgen, wo der freien Zirkulation und Interpenetration der beiden sekundären Systeme nichts mehr im Wege steht. Mit einer allzu offenen Rahmung zu beiden Seiten ris2
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Exemplarisch möge ein eng gefaßter Literaturbegriff in den Erzählsystemen Petersens (1993: 10) nachvollzogen werden: „Daß er [der fiktionale Satz] kein vorhandenes Faktum benennt, nicht in der Realität angesiedelt, daher weder verifizierbar noch falsifizierbar ist und deshalb keine Nachricht transportiert [...]. Daß er zudem seinen angestammten Bereich, den der Fiktionalität, nicht verlassen darf, [...] wurde ebenfalls hervorgehoben. [...] Offenbar sind fiktionale Sätze zweck- und ziellos und zudem auch noch kommunikationslos." - „Die Wirkungslosigkeit der Kunst ist es daher immer wieder, die die engagierten Weltveränderer auf den Plan ruft. Sie machen ihr ihre Unverbindlichkeit lautstark zum Vorwurf und verkennen ihr Wesen damit vollständig." Petersen (1993: 7). Dem widerspricht etwa Suleimans Studie (1983) zur Problematik, da sie Thesenromane ohne weiteres dem engen System zurechnet. Vgl. Durand ( 10 1984). Mit den anthropologischen Konstanten tritt wieder die Subjekthaftigkeit des Erzählers oder der Figur stärker ins Bild, da beide Dimensionen naturgemäß stark aneinander gekoppelt bleiben. A priori-Kategorien lassen sich - diese Auslegung betreffend - nicht anders als über das menschliche Bewußtsein reduzieren und machen daher die Beobachtung erster und zweiter Ordnung um so notwendiger.
Die Beobachtung von Ideologie durch Literatur
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kieren die Begriffe Literatur wie Ideologie allerdings auch ihre eigene Abgrenzung, was letztendlich im Extremfall das Ende ihrer begrifflichen Faßbarkeit bedeutet. Bei unserer terminologischen Kategorisierung handelt es sich, wie erwähnt, um idealtypische Extrapolationen, die realiter zumeist in Mischformen auftreten und stets als solche behandelt werden sollten. Darauf mögen auch die freigelassenen Felder unseres Schemas hinweisen. Aus der Übersichtstafel geht weiters hervor, daß Ideologie wie Literatur heute nur mehr schwer als monofokale, fest umrissene Kategorien zu fassen sind. Durch die immer stärker auftretenden Modemisierungs- und Postmodernisierungsschübe, die zahlreichen Avantgarden und Postavantgarden haben sich seit dem vorigen Jahrhundert die einschlägigen Begriffskonfigurationen in vielerlei Hinsicht geändert, so daß es sich heute als klug erweist, in diesem Zusammenhang von freischwebenden kontextbezogenen Fokalisierungen denn von eindeutig bestimmbaren Konzepten zu sprechen, von zoomartig verschiebbaren Beobachtungsinstrumentarien denn von endgültig formulierten Kategorien. Bei einer möglichst weitreichenden und erschöpfenden Erarbeitung der ideologischen und literarischen Systeme eines räumlich, zeitlich und kulturell genau umrissenen Arbeitsfeldes wie es mit dem frankokanadischen Feld der 30er Jahre vorliegt - bedarf es in theoretischer Hinsicht weiterhin einer polyfokalen Annäherung. Deshalb ist es notwendig, stets mehrere Ansätze - zum Teil in virtueller Form - mitzuführen. So kann im Laufe der Studie ein möglichst hoher Kontingenzgrad erreicht oder aufrechterhalten werden. Es nimmt folglich auch nicht wunder, wenn wir aus mehreren Disziplinen der Sozialwissenschaften elementare Erkenntnisse übernehmen, da sonst tragende Funktionen von Ideologie unter Umständen nicht erfaßt werden können. Als operationalisierbar erweist sich eine kommunikationstheoretische Auslegung der Begrifflichkeit unter dem Aspekt der Systemtheorie. Insofern lassen sich polyfokale Figurativität und fluktuierende Konzeptualisierung besser mit systemrelevanten Instrumentarien erfassen, beobachten und durchleuchten als mit traditionellen ontologischen Vorgaben, die sich stark an die Subjekt-Objekt-Dualität halten und dadurch einer zu engen Sichtweise verpflichtet bleiben. Wie in der einführenden Übersicht zu den neueren Ideologiedefinitionen angedeutet, soll die Untersuchung der frankokanadischen Literatur und deren ideologischer Implikationen nichtsdestoweniger sowohl vom materialistischen als auch vom intersubjektiven Standpunkt ausgehen und schließlich in eine systemtheoretische wie auch kulturanthropologische Interpretation der Zusammenhänge gebracht werden. Für eine Beobachtung derart vielfältiger Aspekte auf textueller Ebene scheinen uns die narratologisch-poetologischen, über die strukturalistischen Vorgaben hinausgehenden Interpretationsmöglichkeiten im Sinne einer Verbindung von Genettes und Booths Ansätzen nach wie vor am leistungsfähigsten zu sein. Aus dem vorhergehenden wird der einschlägig versierte Leser bereits Vermutungen anstellen, welche epistemologischen Annahmen unserer Darstellung zugrundeliegen könnten. Zur Verdeutlichung des inhärenten Forschungsstandes und der nunmehr gegebenen Anschlußmöglichkeiten erachten wir - angesichts der Komplexität des Themas - eine knappe Situierung unserer Überlegungen innerhalb des literaturtheoretischen Zusammenhangs aber als sinnvoll. Sie sollte deshalb in diesem Rahmen auch nicht fehlen.
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Die Beobachtung von Ideologie durch Literatur
1. Theoretische Voraussetzungen
1.1. Materialistische Vorgaben Bekanntlich gründet der materialistische Ansatz seine Theorie auf die gesellschaftlichen Voraussetzungen (Basis) und die funktionale Bedingtheit ideeller Systeme (Überbau). Nicht das einzelne handelnde Subjekt käme demnach als Schöpfer von Sinn in Frage, sondern bestimmte notwendige, vom Willen des Subjekts unabhängige Verhältnisse, die mit ökonomischen Gesetzmäßigkeiten in Verbindung stünden. „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt."5 Auf die Literatur übertragen bedeutete die Marxsche Erkenntnis im Laufe der einschlägigen Entwicklung nicht nur eine Ablenkung der Aufmerksamkeit vom Werk selbst hin zu dessen Produktionsbedingungen, sondern auch eine bewußt denotative Lektüre der Texte auf erster Ebene. Den Kritiker interessierte demnach vor allem die produktionsästhetische Frage, warum ein bestimmtes Werk in einer bestimmten historisch und sozial bedingten Umgebung entstanden ist, und er achtete deshalb weniger auf die Möglichkeiten von Referenzlosigkeit im literarischen Kunstwerk. Damit stand der materialistische Ansatz durchaus in der Tradition der hegelianischen Ästhetik, deren Kunstauffassung bereits auf den sinnlichen Ausdruck von Ideen sowie auf die Widerspiegelung historischer Zustände im Kunstwerk verwiesen hatte. Insofern war es naheliegend, daß ein postmarxistischer Kritiker wie Georg Lukäcs aus diesem Argumentationszusammenhang die Theorie der Widerspiegelung entwickelte und künstlerische Mimesis zur Grundlage seines ästhetischen Realismus machte. Über das Konzept der adäquaten Abbildung von Wirklichkeit schien eine direkte erkenntnistheoretische Verbindung zwischen Ideologie und Literatur hergestellt, was von einer Reihe von Vertretern des sozialistischen Realismus6 auch weidlich für verkürzende Kunstbetrachtungen mißbraucht wurde. Lukäcs selbst ging es um die Herstellung einer begrifflichen Ebene von Kunst, die er in seiner Theorie des Typischen formulierte. Demnach stellt der eigentliche Künstler Handlungen und Situationen dar, in denen das Einzelne als Typisches mit dem Allgemeinen zusammenfließt und es als Besonderes hervorkehrt.7 Einen ähnlich polemogenen Begriff führte Lucien Goldmann ein, als er zwischen Literatur und Gesellschaft ein Bindeglied zu erkennen vermeinte, das er als Strukturhomologie bezeichnete. In seiner Weiterführung der hegelianischen Kategorie der Totalität fügte er dem zwei relevante Begriffe hinzu, und zwar die Bedeutungsstruktur (structure significative) und die Weltanschauung (vision du monde). Beide interpenetrieren einander insofern, als die signifikative Struktur eines Kunstwerks in die Weltanschauung einer konkreten historischen Gegebenheit eingelassen ist. Goldmann ging es darum nachzuweisen, daß die Bedeutungs5
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Marx (1959: 8f.). Weiters baut Marx seine Gedanken folgendermaßen aus: „Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären." Marx (1959: 8f.). Vgl. etwa in exemplarischer Hinsicht: Kofier (1970). Vgl. Lukäcs (1972: 169). „Alle Risse und Abgründe, die die geschichtliche Situation in sich trägt, müssen in die Gestaltung einbezogen und können und sollen nicht mit Mitteln der Komposition verdeckt werden." Lukäcs (1971: 51).
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struktur verstehend beschrieben und in dem entsprechenden historischen Kontext erklärt werden könnte. Der Sinn eines Elements ergäbe sich aus dem Ganzen des literarischen Kunstwerks, dieses wiederum hänge eng mit den Weltanschauungsstrukturen seiner Umgebung zusammen. 8 Doch solche Weltanschauungsstrukturen sind nach Goldmann nicht empirisch im axiologischen Programm einer bestimmten sozialen Gruppe festzumachen, sondern können nur idealiter über ein wichtiges Kunstwerk aufgespürt werden. Ausschließlich darin zeige sich die Weltanschauung einer bestimmten Gruppe als bedeutende Totalität von Werten und Normen. Die Schwäche des an sich nicht uninteressanten Programms des genetischen Strukturellsten Goldmann liegt jedoch darin, daß es an dem kohärenzkonstituierenden Begriff der Totalität festhält und sich dadurch den Weg verbaut, avantgardistische Texte - per se kohärenzdestruierend - fassen zu können. Darüber hinaus kommt dem Weltanschauungskonzept dadurch ebenso eine zu idealistische und vereinheitlichende Auslegung zu, die eine Querverbindung zwischen Literatur und Ideologie durch die denotative Annäherung zu grob ansetzt und sich der eigentlichen Leistungsfähigkeit des Ansatzes begibt. Zu beachten wäre in diesem Zusammenhang weiterhin, daß Lucien Goldmann sich deutlich vom französischen stark synchronisierenden Strukturalismus der 60er Jahre abhebt und mit seinem Ansatz der radikalen Trennung von Struktur und Genese entgegentreten wollte. Allerdings machte er die Herausbildung neuer Strukturen an den schichten- und gruppenspezifischen Kollektivsubjekten fest, was ihm aus heutiger Perspektive mit Bezug auf die moderne Literatur zweifelsohne zum Nachteil gereicht. In der Folge der hegelianisch-marxistischen Ästhetik und der damit einhergehenden dominierenden gesellschaftsbezogenen Literaturbetrachtung ist auch die Soziokritik und Textsoziologie anzusiedeln, von der Peter V. Zima9, insbesondere mit Roman und Ideologie, im zeitgenössischen europäischen Kontext als einer der wichtigsten Vertreter bezeichnet werden kann. Seine Interpretationen charakterisieren sich - wie oben gezeigt wurde - durch eine schichtenspezifische Auslegung der Problematik, durch eine gruppenspezifische soziolektale Situierung der literarischen Texte, womit jene ebenso Gefahr laufen, von postmodernen/übermodernen polyfokalen Ereigniszusammenhängen eingeholt und als irrelevant stigmatisiert zu werden. Ähnlich diskurstheoretisch konzipiert sind Henri Mitterands literatursoziologische Studien zur Funktion des Romans vor dem Hintergrund der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Sowohl der Discours du roman wie auch Le regard et le signe10 stellen eine Poetik des Realismus und Naturalismus dar und befassen sich eingehend mit der Problematik der Modellierung von Ideologie durch textuelle und metatextuelle Strategien. Mitterands Poetik, die gegen Lukäcs die erste groß angelegte Rehabilitierung des Zolaschen Romanwerks durchführt, geht von einem alles durchdringenden discours social" im Sinne Marc Angenots aus
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Goldmann (1955; 1973: 30). Darin exemplifiziert der genetische Strukturalist die Strukturhomologien zwischen der tragischen jansenistischen Weltanschauung des vom absolutistischen Regime des 17. Jahrhunderts benachteiligten Amtsadels und den paradox-tragischen Strukturen der Pensees sowie der Racineschen Dramen. Vgl. Kap. I, Abschnitt 2.2.3.2., vor allem Zima (1986). Mitterand (1980 und 1987). „On reve d'une histoire de la littörature qui apporterait, pour toute ipoque chamifere [...] une analyse globale de ce qui se disait, de ce qui s'icrivait, dans l'arrifere-texte des grands textes. Ce serait lä une νέπtable sociocritique, la sociocritique des totalitds, ou au moins des intertextualitis." Mitterand (1980:263f.).
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und konstruiert von dieser Basis aus ihre Beobachtungen, wobei den metatextuellen Elementen eine auffallend große Bedeutung im interpretatorischen Prozeß zugemessen wird. Die Leserorientierung läuft demnach nicht nur über den Text, sondern vor allem über dessen prefaces und prologues sowie über sämtliche textbegleitende und -kommentierende Aussagesegmente, da der diskursive Aspekt darin am stärksten ausgeprägt ist: „la premifere page de couverture, qui porte le titre, le nom de l'auteur et de l'dditeur, la bande-annonce; la demifere page de couverture [...] ou le dos de la page de titre, qui dnumfere les ceuvres du me me auteur." 12 Textkritik als semiotisches Verfahren steht infolgedessen bei Mitterand wie bei Zima nach wie vor hoch im Kurs.
1.2. Ideologie und Literatur im Interaktionismus Was die interaktionistische Version der Annäherung an die Ideologie-Text-Problematik betrifft, so stellt man eine Schwerpunktsetzung auf der ersten und dritten Rahmung von Ideologie fest. Max Weber, der Hauptvertreter dieser Richtung, ging - wie in diesem Zusammenhang an anderer Stelle schon festgestellt wurde - vom Subjekt und dessen Implikationen im allgemeinen Handlungssystem aus. Nicht die qualitative Differenz der Handlungsmodi des materialistischen Ansatzes, sondern eine qualitative Äquivalenz steuert die Betrachtungsweise der weberianischen Schule. Wenn bei Weber die vier Typen des subjektiv sinnhaften Handelns als zweckrational, wertrational, affektuell und traditional festgelegt werden, verweist das Modell bereits auf dessen anthropologisch allgemeingültige Implikationen. 13 Talcott Parsons übernahm in den 30er Jahren die von Weber entwickelten Hauptthesen und führte sie in Richtung Kybernetik weiter, indem er das „Persönlichkeitssystem" von einem „Sozialen System" differenzierte und den Rollenaspekt des Individuums in seiner gesellschaftlichen Aktion hervorhob.' 4
1.3. Systemtheoretische Beobachtungsinnovationen Sowohl mit Parsons' Elaboraten wie auch mit den anonymen, nicht-subjektiven Ansätzen des Materialismus verwandt, obgleich zeitgemäßer und differenzierter, ist die aus der Kybernetik, Biologie und dem Konstruktivismus hervorgegangene systemtheoretische Theoriekonfiguration, deren oben bereits erwähnter Vertreter Niklas Luhmann die Soziologie auf eine paradigmatisch neue Basis zu stellen beabsichtigte. Nicht so sehr wie die Parsons'sehe Soziologie privilegiert Luhmanns Ansatz die binäre systemstabilisierende Codierung von Normen, wie
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Mitterand (1980: 15). Die Basisdifferenzierung Mitterands hält sich an die inzwischen klassisch gewordene Unterscheidung Benvenistes, wonach grundsätzlich zwei Formen von enonces (Aussagen) vorliegen, der discours (Diskurs) und der recit (Erzählung). „Les traits pertinents de cette opposition sont la structure des relations de personne, la structure des relations de temps, le jeu des deictiques, les modalitäs de Γέηοηςέ, et sa disposition rhitorique. II est assez facile de montrer que la preface porte tous les traits du discours, c'est-ä-dire, Selon la definition de Benveniste, de ,tout type d'inonci dans lequel quelqu'un s'adresse ä quelqu'un et organise ce qu'il dit dans la catigorie de la personne'." Mitterand (1980: 21f.). Vgl. dazu auch Benveniste (1966b). Vgl. Weber ( 5 1972). Vgl. Parsons (1951).
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sie in intra- und transkulturellen Kommunikationsprozessen in Erscheinung tritt, sondern bringt die Problematik von Norm und Wert in einen neuen systematischen Zusammenhang.15 Er geht allerdings nicht von Hegels Theorem der Einheit von Einheit und Differenz aus, sondern legt sein Hauptaugenmerk auf dessen Gegenteil, auf die Differenz von Einheit und Differenz. Daraus ergibt sich zwar neuerdings ein Totalitätskonzept, das aber vom einzelnen System nicht dialektisch gefaßt werden kann, sondern als Umwelt ausgegrenzt vorliegt. Sofort wird hier der Paradoxievorwurf hörbar, auf den sich die postmoderne Gesellschaft inzwischen aber eingestellt hat und mit dem der systemtheoretische Begriffsapparat auf logischer Ebene im Anschluß an die Dichotomie Medium/Form16 umzugehen weiß. „Systeme entstehen durch Wiederholung [...] des Zeichengebrauchs, als ein Prozessieren von „tokens", und Realität ist für sie nicht anders gegeben als in der Faktizität dieses Prozessierens."17 So ließe sich auch die Eingelassenheit von Ideologien in ihre respektiven Umwelten leichter dekonstruieren, und Positionalität und Disposition der ideologischen Systeme, wie es die interaktionistischen Ansätze vertreten, könnten dadurch besser ins Licht gerückt werden. In weiterer Folge stellt sich nun aber für die Systemtheorie die heikle Frage nach dem Subjekt. Ein kommunikationsorientierter Ansatz dieser Art setzt sich grundsätzlich immer wieder dem Vorwurf aus, das Subjekt als solches auszugrenzen und eine Gesellschaft ohne Individuen schaffen zu wollen. Bringt aber andererseits nicht gerade die Neuorientierung nach dem Paradigma der System/Umwelt-Differenz und der selbstreferentiellen Mechanismen eine Loslösung von eingefahrenen Denkmustern, was sich in einem derart heiklen Problemfeld wie dem der ideologischen Festlegungen durch das damit einhergehende Reflexionspotential nur positiv auswirken könnte? Darüber hinaus wäre zu bedenken, daß Luhmann das Subjekt ausschließlich auf der kommunikationszentrierten Ebene aus dem episte-
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„Anders als in der alteuropäischen Gesellschaftstheorie gehen wir nicht von normativen Präsuppositionen aus. Anders als in der Soziologie eines Dürkheim oder eines Parsons sehen wir im Normbegriff auch nicht die letzte Erklärung der Faktizität oder der Möglichkeit sozialer Ordnung schlechthin." Luhmann (1984: 444). Auch Luhmann sieht unmittelbar nach dieser Feststellung ein, daß Norm und Wertkanon bei der Selbstbeschreibung und Selbstidealisierung von Gesellschaften eine essentielle Funktion einnehmen. Welche Aufgaben Normen nichtsdestoweniger erfüllen, soll im folgenden nur kurz unterstrichen werden: „[...] chaque soci6t£ tend ä proposer comme modfele comportemental une sorte d'id£alisation de ses propres normes. [...] les normes s'6rigent pour riduire l'incertitude, diminuer la confusion, augmenter la coherence [...]." Jucquois (1988: 15). „Le caractfere binaire des jugements de valeurs correspond d'ailleurs ä l'opposition fondamentale des regies d'inclusion et des rfegles d'exclusion du groupe." Jucquois (1988: 22).
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Die auf wahrnehmungspsychologische Untersuchungen Heiders zurückgehende Differenzierung von Ding und Medium wurde von Luhmann als Medium/Form-Dichotomie rezipiert und nimmt in den systemtheoretischen Diskursen eine zentrale Rolle ein. Vgl. Heider (1926). Es geht darin um das paradoxe Wiedervorkommen von Form in der Form, von Unterscheidung in der Unterscheidung. Vgl. etwa Baecker (1993a/b). Luhmann (1993b: 46). Auf den Referenzverlust des Zeichens nach Saussure und die daraus entstehende Paradoxieproblematik reagiert der Soziologe durchweg positiv und optimistisch: „[...] wenn es so wäre, wäre eine Theorie des Zeichens damit nicht am Ende, sondern am Anfang. Sie müßte sich dann ihrer eigenen Paradoxie widmen, müßte ihre Paradoxie „entfalten", müßte sie durch eine Unterscheidung ersetzen, an der dann nur noch die Einheit der Unterscheidung, aber nicht das Unterschiedene selbst einen paradoxen, Beobachtung blockierenden Status hätte." Luhmann (1993b: 46f.). Dieses Konzept übernimmt Luhmann von George Spencer Browns Formenkalkül, das mit einer Paradoxie einsetzt. Es soll nämlich eine Grenzlinie gezogen werden, die aus zwei Teilen besteht, aus distinction und indication, die jedoch als einziger Operator zu denken ist. Daraufhin wird die Unterscheidung wieder in das Unterschiedene eingeführt, was sich re-entry nennt. Vgl. Brown (1977).
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mologischen Feld schafft; auf bewußtseinsoperierender Systembasis bleibt es weiterhin als eine unübersehbare Instanz von Bedeutung erhalten. In unserem Kontext könnte diese Sichtweise die verfestigten Strukturen beleben und dem zwischen Ideologie und Literatur bestehenden - seit den ideologiekritischen Arbeiten der 60er und 70er Jahre aber paradigmatisch erstarrten - Zusammenhang neue Dimensionen verleihen. Hebt man die beiden Kategorien Ideologie und Literatur auf die Systemebene, kommt einem erstens die jeweilige Position des spezifischen Systems deutlicher in den Blick, was eine genauere Standortbestimmung und -beschreibung ermöglicht, zweitens erhöht sich durch die begriffliche Standardisierung die Vergleichbarkeit verschiedenartiger Systeme. So erlaubt Luhmanns Design die Einsicht in die genetischen Mechanismen von Ideologie und Literatur und legt damit offen, mit welchen Aus- und Einschließungskriterien solche Konstrukte operieren und wie sie sich vor dem Hintergrund einer komplexen Umwelt gegen entropische Kräfte behaupten und perpetuieren. Zusammenführen läßt sich der so verstandene Systembegriff18 insbesondere mit einem Modell, das vom Semiotiker Jurij M. Lotman entworfen wurde und die Querverbindungen zwischen Ideologie und Literatur auf originelle Weise andeutet.19 Lotman zufolge bilden sowohl Kunst als auch Mythen oder Religion sekundäre modellierende Systeme aus, die auf der Basis von natürlichen Sprachen funktionieren und ihr Material von diesen beziehen. Auch wenn sie nicht alle Aspekte der natürlichen Sprachen reproduzieren, so konstruieren sie sich selbst dennoch nach dem Modell semiologischer Systeme als Sprache. Ihre Struktur mag meist komplexer ausfallen als die der ihnen zugrundeliegenden natürlichen Sprache und kann nicht mittels linguistischer Grundstrukturen wiedergegeben werden. Zu groß ist dabei das ihnen inhärente Informationsvolumen. Sekundäre modellierende Systeme wie Ideologie und Literatur können über die Sprache beobachtet werden und legen auf Diskursebene ohne Zweifel bedeutende isotopische Besonderheiten frei. Dieses Ziel verfolgen die Diskurstheoretiker und Textsoziologen nicht ohne Erfolg. Sie gehen damit weit über die von Widerspiegelungstheorie und Strukturhomologie privilegierten Denotationen hinaus und vermögen die Beziehung zwischen Gesellschaft und Literatur auf fraktalerem Wege nachzuweisen. Über den Umweg linguistischer Untersuchungen erfassen sie die Feinstrukturen der beiden Ebenen und können auf grobe Direktzuschreibungen und Kausalverbindungen verzichten. Systemisch gesehen entspricht dies durchaus dem Beobachtungsmodus, wie er in Lotmans richtungwei-
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Bekanntlich sprach nicht erst die Systemtheorie von Systemen. Der Begriff tauchte um die Mitte des 16. Jahrhunderts im Sinne der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Terminus sustema („Zusammenstellung" bzw. „Komposition") auf. Im Laufe der Entwicklung verstand man unter System Theorie, Methode, Doktrin, Meinung, ja sogar Ideologie. Auch bei Hegel ist der Begriff in einem moderneren Sinn gebräuchlich. Dort wird die Phänomenologie des Geistes als erster Teil unter dem Titel System der Wissenschaft subsumiert Vgl. Hegel (1807). „Die poetische Sprache stellt eine Struktur von großer Komplexität dar. [...] Daraus folgt, daß die betreffende Information (der Inhalt) außerhalb der betreffenden Struktur weder vorhanden sein noch übertragen werden kann. [...] Die Methodik isolierter Betrachtung des „gedanklichen Gehaltes" und der „künstlerischen Besonderheiten", wie sie sich in der Schulpraxis fest eingebürgert hat, beruht dabei auf mangelndem Verständnis für die Grundlagen der Kunst..." Lotman (1973: 24f ). Lotman erklärt auch die Funktionen solcher Systeme, wie sie später von Luhmann theoretisiert wurden: „Die künstlerische Literatur imitiert die Realität, schafft aus ihrem zutiefst systemhaften Material ein Modell der Systemexternität. Um als .zufallig' zu erscheinen, muß das Element im künstlerischen Text mindestens zwei Systemen angehören, sich auf ihrem Schnittpunkt befinden. Das, was vom Standpunkt der einen Struktur in ihm systemhaft ist, wird bei der Betrachtung vom Standpunkt der anderen aus als .zufällig' erscheinen." Lotman (1973: 100).
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sender Studie angelegt ist und wie er von Luhmann, und auch dem Konstruktivismus, theoretisch ausgearbeitet wurde. „Das sekundäre modellierende System des künstlerischen Typus konstruiert sein eigenes System von Denotaten, das keine Kopie, sondern ein Modell der Welt der Denotate in allgemeinsprachlicher Bedeutung darstellt."20 Literatur wie Ideologie scheint somit wie jedes System gleichzeitig als offenes und geschlossenes System zu fungieren, und zwar insofern, als es zu seiner Umgebung hin offen ist und diese mit eigenen Strukturen, die wiederum auf operationale Geschlossenheit verweisen, prozessieren kann. Beide bilden füreinander ihre Umwelt, beide können das andere als Fremdbeobachtung registrieren. Ein derartiger Befund entlastet die materialistische Kritik von der Kausalitätsproblematik. Ideologie als sekundäres modellierendes System reizt mit anderen Worten Literatur als sekundäres modellierendes System und kann auf diese Weise - und nur auf diese Weise - als beobachtetes Phänomen in der Literatur ihren Niederschlag finden. Für den ideologieanalytisch orientierten Literatursoziologen bedeutet dies nun, innerhalb des literarischen, „entereigneten" Texts über Form und Medium und über Selbst- und Fremdzuschreibung solche Ereignisse aufzuspüren. Wie kann eine so konzipierte Arbeit geleistet werden? Einerseits bietet sich nach wie vor das Instrumentarium der Textsoziologie an, das die Ideologie mehr oder minder im soziolektalen, schichtenspezifisch gedachten Diskurs ortet und dessen „lexikalisches Repertoire, die semantischen Gegensätze und die kodifizierten Klassifikationen"21 im Text sichtet. Zusätzlich liefert das bereits erwähnte Greimas'sche Begriffspanorama als eine Semiotik des Diskurses in transphrastischer Hinsicht wertvolle Unterstützung bei der Betrachtung von semantischen Implikationen in literarischen Texten.22 Vorbild dafür waren Vladimir Propps23 allgemein bekannt gewordene formalistische Märchenanalysen. Aber Greimas beschränkt sich keineswegs auf die Literarizität von Schriften, sondern weitet den Gültigkeitsradius seiner Thesen auch auf nicht-literarische Texte aus. In der Auflistung von binären Oppositionen befindet sich der Ansatz nicht zuletzt auch in direkter Verwandtschaft zu Luhmanns dichotomisch angelegter Theorie, unterscheidet sich aber von ihr darin, daß er die grobe Subjekt-/ObjektZuschreibung der russischen Taxonomie übernimmt und wenig Rücksicht auf komplexe Zusammenhänge aufbringen kann. Textsoziologische Untersuchungen wie die strukturalsemantischen Analysen haben nunmehr bereits eine jahrzehntelange Tradition und sollten auf einzelne Aspekte hin überarbeitet werden. Es hat wenig Sinn, konjunkturell verfestigte, grob gewordene oder abgestumpfte Definitionen weiterzuschleppen, und so scheint gerade in einem Arbeitsfeld wie dem hier vorgeschlagenen ein dringender Bedarf an Umstrukturierung vorzuliegen.
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Lotman (1973: 81). An dieses Verständnis knüpft auch Petersens (1993) Modell der Fiktionalität in Erzählsystemen implizit an. In seiner Bibliographie wird man den Namen Lotman aber vergeblich suchen. Zima (1991: 383). Vgl. Greimas (1986). Vgl. Propp (1972).
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2. Erzähltheoretische Implikationen
Bei der Aufarbeitung der zwischen Ideologie und Literatur bestehenden Beziehungen ist die Berücksichtigung der Erkenntnisse aus dem erzähltheoretischen Bereich unumgänglich. Insofern könnte man den Ausgangspunkt der vorliegenden Studie in Jean-Fran5ois Lyotards oft zitierter und vieldeutiger Verwendung des Begriffs metarecit situieren. So verstanden, erhielte Ideologie wieder den Aspekt eines sekundären modellierenden Systems, nur daß der Pariser Philosoph sie - übrigens zum ersten Mal im Auftrag der Qu6becer Provinzregierung noch expliziter unter dem Konzept der Metaerzählung faßte: „[...] en ldgitimant le savoir par un metaricit, qui implique une philosophie de l'histoire, on est conduit ä se questionner sur la validit6 des institutions qui r6gissent le lien social: elles aussi demandent ä etre 16gitim6es." 24 Ohne den gesamten Argumentationszusammenhang der Postmoderne damit pauschal übernehmen zu wollen, liegt es nahe, diesen narratologischen Ansatz mit den bisherigen Befunden der Textsoziologie und Systemtheorie zusammenzuführen. Für manchen orthodox verfahrenden Kritiker dürfte das die Quadratur des Kreises bedeuten, doch sollte dabei bedacht werden, daß diese Konstellation in der zeitgenössischen Gesellschaft zumindest auf kommunikationeller Ebene operationalisierbar geworden ist und die Forschung, vor allem deren sozialwissenschaftlicher Zweig, damit umgehen lernen sollte. Am besten ist die erzählorientierte Auslegung der Wirklichkeit in den Untersuchungen zur Funktion der Historie nachvollziehbar geworden. Spätestens seit den 70er Jahren, insbesondere seit Hayden Whites richtungweisender Arbeit zur historischen Einbildungskraft im 19. Jahrhundert, hat sich gezeigt, über welches Erklärungsvermögen narratologische Untersuchungen nicht nur in bezug auf fiktionale, sondern auch hinsichtlich historischer Texte verfügen. Hayden White geht davon aus, daß durch die Modellierung von Erzählstrukturen (Handlung) eine zusätzliche Bedeutung der Fabel erreicht werden kann, die auch die Art der Geschichte maßgeblich bestimmt. Das bezeichnet er als Erklärung: „Wenn der Historiker im Verlauf der Erzählung seine Geschichte mit der Handlungsstruktur einer Tragödie ausstattet, dann pflanzt er ihr eine bestimmte Erklärung ein." 25 Seine groß angelegte Poetik der Geschichte weist nicht zuletzt auf, daß das Erklären und die Darstellung von tatsächlichem Geschehen stets gedankliche Operationen impliziert, die eng mit Erzählstrategien in Verbindung stehen und auch bei nichtliterarischen Texten in aller Deutlichkeit zur Anwendung kommen. Auf hermeneutischer Ebene hat Paul Ricceur die strukturelle Identität zwischen Geschichtsschreibung und fiktionalisierten Texten fruchtbar gemacht, indem er über die Zeitproblematik Querverbindungen zwischen beiden herstellte. Die in Erzählwerken dargestellte Welt sei immer eine zeitliche Welt, und jede Form von Wahrheitsanspruch könnte nur über
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Lyotard (1979: 7). Und Lyotard setzt seine Darstellung der postmodemen Befindlichkeit fort, indem er immer häufiger auf die Bedeutung der Erzählung im öffentlichen Kontext zurückkommt: „La justice se trouve ainsi referee au grand recit, au meme titre que la verite. En simplifiant ä 1'extreme, on tient pour .postmoderne' I'incr6dulit6 ä l'egard des mitarecits. [...] La fonction narrative perd ses foncteurs, le grand heros, les grands perils, les grands periples et le grand but. Elle se disperse en nuages d'61ements langagiers narratifs, mais aussi denotatifs, prescriptifs, descriptifs, etc, chacun vehiculant avec soi des valences pragmatiques sui generis. Chacun de nous vit aux carrefours de beaucoup de celles-ci." Lyotard (1979: 7f.). White (1973; 1994: 21).
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den zeitlichen Charakter der menschlichen Erfahrung gewonnen werden: „le temps devient temps humain dans la mesure oü il est articuld de mantere narrative; en retour le ricit est signiflcatif dans Ia mesure oü il dessine les traits de l'expdrience temporelle."26 So gelangt er zu unterschiedlichen Zeitauffassungen, die einander gegenüberstehen und gleichzeitig eng miteinander verwirkt sind, und zwar die Zeit(en) der Erzählung und die Zeit des Lebens, unter der die Zeit der menschlichen Existenz verstanden wird. Mit einem beeindruckenden philosophischen Weitblick geht der französische Hermeneutiker in weiterer Folge auf die Konfiguration der Zeit in fiktionalen Texten sowie auf die Problematik der Erzählbarkeit von Zeit ein. Das Thema Zeit nimmt auch bei der Modellierung von Ideologie und deren Beobachtung durch fiktionale Texte eine nicht unbedeutende Rolle ein und wird uns zu gegebener Zeit beschäftigen. Wenngleich die Thematik der Welterklärungsmöglichkeiten auf narratologischer Ebene in den 80er und 90er Jahren stark rezipiert wurde und im interdisziplinären Strudel bisweilen interessante27, bisweilen seltsame28 Blüten trieb, wollen wir nichtsdestoweniger an die gängigen Modelle der Narratologie anschließen und im Hinblick auf die Thematik den für die Ideologie relevanten Teilbereich ausformulieren, der einerseits in der schwierig zu fassenden Instanz des implied author, andererseits in den rein narratologischen Kategorien des point de vue (Blickwinkel) oder der voix narrative (Erzählerstimme) zu liegen scheint.
2.1. The Implied
Author
Die nach wie vor umstrittene Instanz des impliziten Autors dürfte in einer Arbeit über die Frage der ideologischen Implikationen von Erzählliteratur, sei diese nun mehr oder weniger referentiell angelegt, keineswegs fehlen. Der implizite Autor wurde als Konzept erstmals von Wayne C. Booth in einem inzwischen zum Klassiker avancierten Theoriewerk, The Rhetoric of Fiction, entwickelt und kehrte ein Problem hervor, das Edgar Allan Poe29 bereits im 19. Jahrhundert in bezug auf Charles Dickens' Einsatz der gebräuchlichen Erzählkonventionen für die mystery tale angesprochen hatte: Können sich erzählte Erzähler in einem narrativen Werk irren und den Leser hinters Licht führen? Gilt dies auch für eine nicht als Erzähler, sondern als eine dem Autor nahestehende Erzählinstanz einer Erzählung auftretende Funktion? Die erste Frage bejahte der Kritiker Booth und machte daran seinen berühmten unreliable narrator fest, die zweite verneinte er und exemplifizierte daran den implied author zu
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Ricoeur (1983/1: 17). Auch die beiden weiteren Bände führen die Diskussion theoretisch fort. Daß das Problem der Wirklichkeitsabbildung durch Erzählung der Welt sich in den letzten Jahren immer stärker in den Mittelpunkt der Epistemologie drängt, unterstreicht etwa auch Heinrichs - gewollt (?) - inkohärentes Buch über die Lesarten der Wirklichkeit in der Ubermodernen Welt. Heinrichs (1996) scheint sich gegenüber einer methodisch-systematischen Absicherung der Forschungssituation durchsetzen zu wollen und glaubt so, die Diversität der Wirklichkeit in einer Art Ethnopoetik besser zur Entfaltung zu bringen und die Sprachlichkeit der Fremderfahrung bewußt machen zu können. Bedauerlicherweise begibt er sich dadurch der Anschlußmöglichkeiten an wissenschaftlich Geleistetes und produziert so - epistemologisch gesehen - ins Leere. Ein anderes, besseres Beispiel für diese Entwicklung in Richtung Erzähltheoretisierung bieten Höfner/Schoell (1996). Vgl. etwa Hofstadter (1979). Poe (1902: 51).
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Die Beobachtung von Ideologie durch Literatur
einer Zeit, in der noch nicht systematisch zwischen (realem) Autor und Erzähler unterschieden wurde.30 Die Bildhaftigkeit, mit der ein solcher implizierter Autor gefaßt wird, zeigt dessen Bedeutung in der Frage nach den ideologischen Komponenten eines Textes. Wertet ein unverläßlicher Erzähler oder die dem eigentlichen Autor nahestehende Erzählinstanz, ein vom realen Autor modelliertes zweites Selbst? „The implied author is always distinct from the ,real man' [...] who creates a superior version of himself [...] as he creates his work."31 Die Differenzierung zwischen dem Erzähler und dem wirklichen Autor fungiert wie ein zusätzliches Interpretationsangebot, indem es einen neuen Perspektivierungsrahmen einzieht, innerhalb dessen Wertungen sichtbar werden können. „Even the novel in which no narrator is dramatized creates an implicit picture of an author who stands behind the scenes."32 Booth weist selbst darauf hin, daß an diesem Rahmen Ideologisches zum Vorschein kommt und vom gewieften Leser beobachtet werden kann: „In short, the author's judgement is always present, always evident to anyone who knows how to look for it. [...] we must never forget that though the author can to some extent choose his disguises, he can never choose to disappear."33 Das an sich überzeugende Modell aus der neo-aristotelischen Chicago School situiert sich selbst in der Gegenposition zum formalistischen New Criticism und beschränkt sich in seinen Analysen nicht auf die innersprachliche Ebene des literarischen Kunstwerks, sondern achtet auch auf dessen rhetorische, außerliterarische Wirkung. Im Anschluß an den impliziten Autor dürfte Wolfgang Iser das Konzept des impliziten Lesers entwickelt haben, das rezeptionsseitig allerdings keine genaue begriffliche Entsprechung dafür darzustellen scheint. Dennoch kann man Booth nicht vorwerfen, den formalen Aspekten in der literarischen Interpretation den Rücken gekehrt zu haben. Booths Kritiker sind zahlreich und bringen in ihren Falsifizierungsversuchen immer wieder den Aspekt des Ideologischen ins Spiel. So argumentiert etwa Mieke Bai gegen die grundlegenden Annahmen der Rhetoric of Fiction: der Begriff des impliziten Autors habe etwas versprochen, was er nicht einlösen konnte, nämlich eine vom realen Autor unabhängige Instanz für die Ideologie des Textes zu liefern.34 Aus einem anderen, explizit narratologischen Blickwinkel nimmt Gärard Genette die Instanz des impliziten Autors aufs Korn. Ihn stört die mentale, schwer greifbare Konstruktion dieses Ansatzes, und er sieht sich nicht in der Lage, eine solche als zusätzliche narrative Instanz anzuerkennen. Eine Fiktionserzählung werde demnach fiktiv von ihrem Erzähler produziert, faktisch von ihrem (realen) Autor, eine dritte Instanz sei ihm nicht einleuchtend. Dennoch räumt der französische Narratologe ein, daß es „seltene" Ausnahmen gäbe, in denen ein impliziter Autor nicht völlig dem realen Autor gleichkomme: dies läge im Falle eines perfekten Imitats, eines unentdeckten Apokryphs vor bzw. auch in Texten, die von Ghostwritern oder von mehreren Autoren verfaßt worden seien. Daß ein Text eine Vorstellung,
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„For practical criticism probably the most important of these kinds of distance is that between the fallible or unreliable narrator and the implied author who carries the reader with him in judging the narrator. If the reason for discussing point of view is to find how it relates to literary effects, then surely the moral and intellectual qualities of the narrator are more important to our judgement than whether he is referred to as „I" or „he", or whether he is privileged or limited." Booth (1961: 158). Booth (1961: 151). Booth (1961: 151). Booth (1961: 20). Vgl. Bal (1981: 42).
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Implikationen
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eine Idee vom Autor vermittle, möchte er daher nicht bestreiten, bloß die narrative Instanz akzeptiere er keineswegs.35 Wie dem auch sei, ob man die Problematik nun von einem rein formalistischen Standpunkt aus beurteilt und sie außerhalb des narratologischen Feldes ansiedelt wie Genette oder ob man sich um die theoretische Anerkennung einer solchen die Ich/Er-Grenze mißachtenden Instanz bemüht, die Differenzlinie des implied author nimmt für Untersuchungen von moralund wertungslastigen Elementen in literarischen Texten keine unbedeutende Position ein und sollte nicht leichtfertig übergangen werden. Wir möchten allerdings an dieser funktionalen Gelenkstelle zwischen Textexternem und Textinternem nicht unbedingt ein ideelles Autorbewußtsein setzen, mit dem Booths Bild vom Bild gerne wiedergegeben wird,36 sondern versuchen, an der Position des impliziten Autors eine systemische Funktion der Beobachtung von Beobachtung und Bewertung von Weiten einer konkreten Gesellschaft festzumachen, gewissermaßen ein „ent-ereignetes" axiologisches Konstrukt, an dem vom sekundären modellierenden System Literatur ein anderes sekundäres modellierendes System (Ideologie) zur Beobachtung gelangt. Mag die Instanz des impliziten Autors auch oft mit einem mehr oder weniger dramatisierten Erzähler zusammenfallen oder bloß auf paratextueller Ebene verortet werden können, heuristisch hat der Einzug einer solchen Beobachtungsperspektive für ideologieanalytische Untersuchungen sicherlich einen großen Wert. Der Klarheit halber soll die Perspektive im folgenden jedoch „abstrakter Autor" genannt und mit den paratextuellen Merkmalen verbunden werden.
2.2. Standpunkt, point de vue und voix narrative Bereits Boris Uspenskij brachte die Kategorie des Blickwinkels mit seiner Kompositionspoetik in Zusammenhang und unterstrich darin, welche Auswirkungen verschieden angelegte Perspektivierungsvorgänge auf die Konfiguration eines Kunstwerkes haben können. Er entwickelte im Anschluß an Bachtins Dostoevskij-Poetik eine Typologie „der Standorte, von denen aus im Wortkunstwerk die Erzählung erfolgt" 37 , in der er gleich eingangs auf die allgemeinste, d.h. ideologische Funktion des Blickwinkels verwies. In seiner Poetik der Komposition setzt der russische Kritiker Ideologie konzeptuell ganz undifferenziert mit Wertung gleich und versteht darunter ein System ideengebundener Weltauffassung. Uspenskij zeigt sich in diesem Werk jedoch bereits an den nach Autor, Erzähler und Figur gestaffelten Wertungskonstruktionen interessiert und bringt sie mit kompositorischen Aspekten in Zusammenhang. Je komplexer die Zusammenhänge zwischen den Wertungen und den dazugehörenden Instanzen sich ausnähmen, je polyphoner die Stimmen im literarischen Text seien, um so aussagekräftiger komme dies auf der kompositorischen Ebene zum Vorschein. Wenig
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Vgl. Genette (1994: 286ff.). Ohne auf Booth' Modell zu verweisen, elaborieren Kahrmann/Reiß/Schluchter in ihrer oft zu simplifizierenden erzähltheoretischen Propädeutik an dieser Stelle ein Autorbewußtsein: „Der reale Autor ist als organisierendes Prinzip beim Erzähltext stets implizit, manifest in den Merkmalen des Textes. Zur Unterscheidung vom Bewußtsein des realen Autors (Autorbewußtsein) wird die Summe dieser Textmerkmale bezeichnet als Autorbewußtsein im Text. Das Autorbewußtsein ist eine textinteme Kategorie." Kahrmann/Reiß/Schluchter (1986: 49). Uspenskij (1975: 7).
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Aufmerksamkeit finden dabei sonderbarerweise Texte, deren ideologische Struktur so angelegt ist, daß ein einziger Standpunkt alle anderen dominiert und sie aus einer übergeordneten Position bewertet. Doch auch in solchen Fällen lassen sich ebenso inhärente Standpunktdivergenzen feststellen, die je nach Ebene Aufschluß über die Orientierungs- und Perspektivierungsmöglichkeiten liefern und den Zielvorstellungen des Ideologieanalytikers ohne Einschränkungen gerecht werden könnten. Die einzelnen Standpunkte bzw. Wertsysteme innerhalb des Werkes treten also in ganz bestimmte Beziehungen zueinander und bilden so ein ziemlich kompliziertes System von Oppositionen, Unterschieden und Identitäten [...]. Ein derartiges System von Wechselbeziehungen läßt sich unter bestimmten methodischen Voraussetzungen als die auf der entsprechenden Schicht beschreibbare Kompositionsstruktur dieses Werkes fassen. 38
Wenngleich Uspenskij mit seinen grundlegenden Arbeiten zur Ideologie/Literatur-Problematik wertvolle Orientierungshilfen leistete und damit ohne Zweifel als einer der Begründer moderner ideologieanalytischer Literaturinterpretation eingeschätzt werden darf, so hat er den eigentlichen Problembereich, die Ideologie als vielschichtige Manifestation im literarischen System, nur sehr eingeschränkt zur Darstellung gebracht. Das hängt selbstverständlich damit zusammen, daß es dem Kritiker vorrangig um die formale Eingrenzung des point de vue ging, und erst in zweiter Linie erfolgte die daraus resultierende Bearbeitung von Ideologie auf allgemeiner Ebene. Darüber hinaus wies er des öfteren darauf hin, wie schwer die ideologische Schicht einer formalisierten Untersuchung zugänglich sei und man sich bei deren Analyse auf Intuition verlassen müsse. Leichter fiel ihm dann in den folgenden Kapiteln die Beobachtung der Standpunkte auf phraseologischer, auf raumzeitlicher sowie auf psychologischer Ebene. Betrachtet man die Zusammenhänge zwischen Ideologie und Literatur unter dem formaltheoretischen Aspekt der Narratologie, wird eine ähnliche Dimensionierung sichtbar. Erstens scheint Ideologie an der Problematik des point de vue am besten nachweisbar zu sein. Weiters greift man mit Vorliebe auf eine Instanz zurück, die etwa der Phraseologie im oben verstandenen Sinne entspricht, hier aber als Stimme, als voix de narration, die Standpunktproblematik verbalisiert. Wie können beide Instanzen gedacht werden? Geschieht es nicht gerade auf der axiologischen Isotopie, daß die Werte und Normen in den Text eingeführt werden und infolgedessen dem Blickwinkel eine wichtige funktionale Bedeutung zukommt? Und versteht man unter Ideologie nicht auch das System, das die konzeptuelle(n) Weltsicht(en) im Text bezeichnet? Es geht also im folgenden darum, die Gewichtung von Modus und Stimme neu zu überdenken und deren spezifische ideologiebezogene Implikationen in die Diskussion miteinzubeziehen. Somit verweist diese mehr ideologieanalytische als ideologiekritische Studie auch auf eine formalistische, textimmanente Untersuchungsmethode. Das mag den aufmerksamen Leser überraschen, doch hat bislang kaum jemand die beiden Instanzen Modus {point de vue) und Stimme (voix) so sauber voneinander getrennt wie Gerard Genette39 mit seiner grundlegend strukturalistisch ausgerichteten Untersuchung Discours du recit. Er legte damit die unum-
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Uspenskij (1975: 18f.). Genette (1972 und 1983; 1994).
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gängliche Basis für neuere erzähltheoretische Untersuchungen und zeigte in unübertroffener Klarheit auf, wie und auf welchen Ebenen Erzählen funktioniert.40 Rufen wir uns vorerst in Erinnerung, was Genette in seinem Discours du recit ursprünglich unter Modus verstand. Aufhänger für die Entwicklung des Blickwinkel-Theorems war bei ihm Littrds Definition der Modalverben, deren Formen eine Sache mehr oder minder nachdrücklich behaupten und auf verschiedene Blickwinkel Bezug nehmen können. Im Anschluß daran formulierte Genette die Modalität in der Erzählung so aus: On peut en effet raconterplus ou moins ce que l'on raconte, et le raconter selon tel ou tel point de vue; [...] la ,repr6sentation', ou plus exactement I'information narrative a ses degr£s; le ricit peut fournir au lecteur plus ou moins de ditails, et de fagon plus ou moins directe, et sembler ainsi [...] se tenir ä plus ou moins grande distance de ce qu'il raconte; il peut aussi choisir de legier l'information qu'il livre, non plus par cette sorte de filtrage uniforme, mais selon les capacitds de connaissance de teile ou teile partie prenante de l'histoire (personnage ou groupe de personnages), dont il adoptera ou feindra d'adopter ce que l'on nomme couramment la .vision' ou le ,point de vue', semblant alors prendre ä l'ägard de l'histoire. 41
An der zoomartigen Funktionsbeschreibung des modalen Aspekts der Erzähltheorie wird deutlich, wie verschiebbar die Sichtweisen werden, wie proteisch sich der Blick an das Vorliegende anpassen kann, welches Darstellungs- wie auch Interpretationspotential einer solchen Offenheit zugrundeliegt. Die zahlreichen verschiebbaren Komponenten in der Definition wie mehr oder weniger {nachdrücklich direkt, detailliert, groß) oder diesem oder jenem, verschiedene Grade u.a. deuten auf das inhärente plasmatische Potential hin. Wendet man diese Offenheit nun nicht, wie Genette, auf die bloße Wiedergabe von tangibler Wirklichkeit an, sondern wird dafür die axiologische Formatierung eingesetzt, könnte man die Beobachtung von Ideologie durch Literatur auf systemischer Ebene konkret in den Blick bekommen. Wie ist das gemeint? Im Anschluß an die antike Staatslehre Piatons sowie an die Poetik Aristoteles' reflektiert Genette die Möglichkeiten, in welche Distanz eine Erzählung gegenüber dem Erzählten rükken kann, und kommt zum Ergebnis, daß Mimesis eine solche Distanz verringert, Diegesis sie aber erhöht. Demnach ist die „reine Erzählung" von ihr distanzierter als die „Nachahmung". Zu bedenken wäre in diesem Zusammenhang, daß Mimesis auf der Ebene von Sprache immer nur Mimesis von Sprachlichem sein kann. Alles übrige muß zwangsläufig auf verschiedene Einstellungen von Diegesis zurückgeführt werden, die Genette ihrerseits in eine „Erzählung von Ereignissen" und eine „Erzählung von Worten" unterteilt. Die erstere ist aufgrund ihrer pragmatischen Funktion stets die Umsetzung von „Nichtsprachlichem in Sprachliches", ihre Mimesis immer nur eine Mimesis-Illusion, eine Art von effet de reel, wie Roland Barthes sagen würde. Nach dem englischen Modell von telling und showing verhalten sich Informationsquantum und Anwesenheit des Informanten 40
Um so erstaunlicher mutet es an, insbesondere die Romanisten, denen der Originaltext von Anfang an als bedeutende Studie auffiel, daß das Werk erst nach Uber zwei Jahrzehnten ins Deutsche übersetzt wurde. Noch überraschender ist es allerdings, daß ein Erzähltheoretiker wie Petersen (1993) eine Poetik epischer Texte verfassen konnte, ohne überhaupt auf den französischen Vordenker zurückzukommen. So findet sich diesbezüglich weder im Text noch in der Bibliographie, noch im Titelregister der geringste Hinweis auf Genettes Klassiker. Das wäre auch nicht so schlimm, wenn nicht zentrale terminologische Anlehnungen, die wahrscheinlich über Dritte eingeflossen sind, von einer der neuesten Poetiken im deutschen Sprachraum, Erzählsysteme, indirekt rezipiert worden wären. Beispielsweise geht Petersen im Zusammenhang mit Doppelrahmungen und Binnenerzählungen auf die Problematik von Hetero- und Homodiegesis ein, beschreibt sie aber in geringfügig modifizierter Weise.
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Genette (1972: 183).
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Die Beobachtung von Ideologie durch Literatur
verkehrt proportional zueinander, „wobei die Mimesis durch ein Informationsmaximum und ein Informantenminimum, die Diegesis durch das umgekehrte Verhältnis definiert ist."42 Dieser theoretische Zusammenhang erklärt auch, warum Marcel Prousts A la recherche du temps perdu eine um so größere Faszination auf Genette ausüben konnte, war dies doch nicht zuletzt ein Text, der sich durch die eigenwillige Strategie der memoire involontaire dem klassischen Kanon der Erzählanalyse massiv widersetzte und die logische Kategorisierung von Mimesis und Diegesis torpedierte. Anders funktioniert die „Erzählung von Worten", die vom Grad der Narrativisierung der Rede abhängt, d.h., ob es sich um direkte/berichtete, indirekte/transponierte oder erzählte Rede handelt. Der moderne Roman hat mit der Inszenesetzung des inneren Monologs eine Rede geschaffen, in der die Mimesis der Rede bis an ihre Grenzen getrieben wird und die Spuren der narrativen Instanz ausgelöscht werden.43 Wir halten uns in der Bestimmung von Modus und Stimme selbstverständlich auch an die überarbeitete Version Genettes Nouveau recit du discours, in die der Autor kritische Beiträge seiner Fachkollegen einarbeitete und einige überkommene Konzepte einer Art Generalüberholung unterzog. In diesem Zuge ließ er sich auf ein genaueres siebenstufiges Differenzierungsmodell - mit steigendem Grad an Mimetismus - ein, das die „Erzählung von Worten" etwas schärfer zu fassen vermag.44 Außerdem zeigte er sich geneigt, den Abschnitt auf „(Re)produktionsweisen der Rede und des Denkens der Figuren in der schriftlichen literarischen Erzählung" umzubenennen. Dorrit Cohn hatte nämlich am ursprünglichen Modell ausgesetzt, Genette würde unter dem Gesichtspunkt seiner narrativen Bearbeitung das Denken mit der Rede gleichsetzen. Grundsätzlich hat er nach längerer Überlegung an seinem Modell keine Veränderung angebracht, zumindest was die vorliegende Fragestellung betrifft. Wie oben angeführt, zeigt sich neben den Distanzierungsmitteln der zweite Modus von Informationsregulierung an den verschiedenen Graden der Einschränkung des Blickwinkels, der Perspektive. Am deutlichsten kommt die Problematik in Genettes Schema zum point de vue bzw. focus of narration zum Ausdruck.45 Die für unsere Zwecke einschneidendste Umgestaltung im Nouveau discours du recit erfolgte an diesem zweiten Modus, wo Genette den Blickwinkel oder point de vue durch die weniger personenbezogene Instanz focalisation ersetzte. Der französische Formalist bedauert darin die visuellen Implikationen der modalen Frage „wer sieht?", die im Gegensatz zur Frage der Stimme „wer spricht?" eingeführt wurde. Auch mit einer erweiterten Version etwa von der Art „wer nimmt wahr?" - gibt er sich nicht zufrieden, weil die fokale Position 42
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Genette (1994: 118f.). Telling und showing als mittlerweile omnipräsent gewordene Begriffe dürften auf Wellek und Warren zurückgehen. Dies behauptet zumindest Ringler (1981) in ihrer Dissertation. Zit. nach Genette (1994: 221). Eine ähnlich scheinbare Auslöschung des Erzählers schaffen auch intertextuelle Elemente wie etwa historiographische Vorlagen, die ein historisch ausgerichteter Erzähltext zu integrieren vermag. Dem vorliegenden Ansatz zufolge trägt der Erzähler auch Züge einer impliziten Systematisierungsinstanz, welche die Auswahl und Konstellation des herangezogenen Textmaterials steuert. Vgl. Kap. IV, Abschnitt 1. Das Modell stammt von Brian McHale: 1. das „diegetische Summary", das den sprachlichen Akt erwähnt, ohne seinen Inhalt zu spezifizieren; 2. das „weniger rein diegetische Summary", das den Inhalt spezifiziert; 3. „indirekte Paraphrase des Inhalts"; 4. die „partiell mimetische [sie] regierte indirekte Rede", die in bestimmten stilistischen Punkten der (re)produzierten Rede treu bleibt; 5. erlebte Rede; 6. direkte Rede; 7. „freie direkte Rede". McHale (1978: 259) und Genette (1994: 228f.). Genette (1994: 132).
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Implikationen
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nicht immer an einer Person festzumachen sei. Konsequenterweise führen ihn seine Überlegungen an eine neutralere Formulierung heran: „wo liegt das Zentrum, der Fokus der Wahrnehmung? - wobei dieser Fokus [...] in einer Person verkörpert sein kann oder nicht."44 Wir wollen an dieser Stelle einhaken.
2.3. Ideologieanalytische Erweiterungen Als Genette die visuelle und personenbezogene Konnotation des point de vue relativierte und teilweise zurücknahm, dachte er vor allem an den externen Fokalisierungsmodus, der als „Außensicht" den behavioristischen und objektiven Techniken der Wirklichkeitserfassung entsprechen sollte. Wir hingegen möchten einen weiteren Beobachterstatus einbauen, der bislang in soziokritischen Ansätzen als gesellschafts- oder schichtenorientierte Fokalisierung bekannt war und vom Diskurs, im besonderen dem discours social, getragen wurde. Eine solche soziokritische Auslegung der Problematik basierte auf der gesellschaftlich vorgegebenen Einschränkung von Sichtweisen, wie sie in den Diskussionen um den Ideologiebegriff ausformuliert wurden. Im vorigen Großkapitel wurde festgestellt, wie vor allem die zweite Rahmung von gesellschaftlichen Vorgaben Ideologie und deren Perspektivierung prägt und prädestiniert. Stratisch verfahrende Ansätze griffen den partikularen Aspekt von Soziolekten auf und brachten damit Modus und Stimme in einen unmittelbaren Funktionszusammenhang. So kam es, daß unter diesem Gesichtspunkt gesellschafts- wie ideologiekritische Studien durchgeführt wurden und die narrative Trinität von Autor, Erzähler und Figur mit den soziolektalen Vorgaben eine mehr oder minder zwingende Verknüpfung erfuhr. Das mochte noch in bezug auf segmentäre oder stratifikatorisch ausdifferenzierte Gesellschaftssysteme seine Richtigkeit gehabt haben, in modernen, funktional ausdifferenzierten Systemen dürfte eine solche Zuschreibung nicht mehr adäquat sein. Dennoch möge das Kind nun nicht gleich mit dem Bade ausgeschüttet werden. Der gesellschafts- bzw. ideologiebezogene Ansatz soll in diesem Zusammenhang weiterhin seine Gültigkeit behalten. Ein Großteil von Ideologie entsteht eben nach wie vor - auch in verändertem Kontext - unter gesellschaftlichen Bedingungen. Die Beobachtungsmodalitäten haben sich in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft allerdings maßgeblich verändert. Sie sind dynamischer, polyfokaler, schnellebiger geworden und ändern sich unter den immer neu gegebenen Kommunikationszusammenhängen um so rascher. Einschlägige Forschungsarbeiten konnten diese Mutationen bereits in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts erfassen. Denken wir etwa an Bachtins47 auf einzelne Schriftsteller bezogene Analysen oder Voloäinovs48 relevante Beobachtungen zum Thema Fokalisation und Ideologie. Dem poetischen Sprechakt vorgelagert ist nun, um mit Genette zu sprechen, ein Zentrum, ein Fokus der Wahrnehmung. Und solche Zentren müssen eben nicht mehr reine Personen sein, sondern können unseres Erachtens ebenso systemischen Charakters sein, mit symbolisch generalisierten Kommunikationscodes, die aufgrund ihrer binären Konstellation eigene autopoietische Fokalisationsbedingungen entwickelt haben. Insofern mag zwar eine Figur, ein Erzähler, ein abstrakter Autor mit einem teilweise nach außen offenen Bewußtseinssy-
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Genette (1994: 235). Bachtin (1971) und (1987). Vgl. Bachtin/Voloäinov (1975).
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Die Beobachtung von Ideologie durch Literatur
stem das Zentrum der Fokalisierung darstellen, dieses allerdings kann für das betreffende Bewußtsein eine als Umwelt angelegte Konfiguration sein, was sich wiederum auf die Perspektivierung auswirkt. Wir wollen diese Problematik anhand eines konkreten Beispiels aus dem literarischen System Frankokanadas kurz erläutern. Denken wir etwa an die wirtschaftlichen, religiösen, politischen Systemzusammenhänge und deren spezifische Kommunikationscodes, in die ein habitant (Landwirt) - eine emblematische Figur im Kontext der frankokanadischen 30er Jahre - eingelassen ist. Demnach sollte die Modalanalyse eines Landromans zwar nach wie vor auf dessen Figurenbestand wie auf dessen Erzähler und abstrakten Autor das Augenmerk richten und auch auf dessen personenbezogene Perspektivenführung achten, gleichzeitig dürfen allerdings die kommunikationscodespezifischen Eigenheiten der sozialen Systeme mit ihrem Konfigurationsvermögen nicht vernachlässigt werden. Denn auch letztere verfügen über spezifische Beobachtungspotentiale. Das hätte in eine nicht zu kurz greifende Modalbeschreibung einzufließen. Wenn somit Systemereignisse über binäre Oppositionen wie zahlen/nicht zahlen für Wirtschaft, glauben/nicht glauben für Religion oder Macht/Schwäche für Politik im Landroman polyfokal modelliert werden, sollte dies der Kritik nicht entgehen. Den Landroman mit seinem ihn umgebenden discours social allerdings ausschließlich über stratifikatorische Parameter zu bestimmen, wie dies von den herkömmlichen, oft materialistisch orientierten Ansätzen bisweilen noch propagiert wird, wäre im modernen Kontext zusehends anachronistisch. Eine solche Sichtweise würde dem genetischen Unterbau der Gattung, welcher in der epochenspezifischen Auflösung der traditionellen Familienstrukturen, der sozialen Zersplitterung der Großfamilie bestand, nicht mehr gerecht und könnte die neuen daraus hervorgehenden Dimensionen wie etwa Verstädterung, berufliche Parzellierung oder Kapitalisierung nur Uber die zu starre Konzeption von Produktionsmitteln und Produktionskräften fassen. Eine flexiblere Multiperspektivik kommt unserem Ermessen nach aber erst mit der systembezogenen Beobachtung zweiter Ordnung (Beobachtung der Beobachtung) und deren Analyse auf modaltheoretischer Ebene zum Tragen. Eine Vermengung von Kategorien, wie es in unserer Studie geschieht, ließe ein Kritiker vom Schlage Genettes allerdings nicht zu. Wer sich dem reinen Formalismus verschrieben hat und nicht einmal die Figuren eines Erzähltextes als diskurskonstituierend versteht, wer auch die Kategorie des abstrakten Autors als schattenhaften Doppelgänger vom Tisch kehrt, kann und will außerliterarische Bezüge nicht herstellen. So verteidigt Genette - systemintern gesehen sogar mit Recht - sein dichotomisierendes Modell, das jeden Geruch einer Einmischung in die reine Erzählung von seiten der Außenwelt negiert. „Jeder beschäftigt sich mit dem, was ihm liegt, und wenn die Formalisten nicht da wären, um die Formen zu untersuchen, wer wollte es an ihrer Stelle tun? Es wird immer genug Psychologen geben, um zu psychologisieren, genug Ideologen, um zu ideologisieren..."49 Unser Zugang erinnert an die Darstellung und Kritik der russischen Formalisten durch den Bachtinschen Kreis5" oder auch an die Einschätzung der Formalisten durch die Soziokritiker 49 50
Genette (1994: 295). Vgl. Medvedev (1976) bzw. das Vorwort von Godzich zur englischen Übersetzung des Buches von Bachtin/Medvedev (1985): „For what is at stake is not polemical denunciations of the Formalists from a Marxist perspective [...] nor even a statement of the theses of a sociological poetics, but rather the elaboration, through the critique of the Formalists, of the fundamental instruments for a poetics yet to come. [...] it is the very attempt to work out the principles, methods, and procedures of such a poetics through a sustained critical reading of, and reflections upon, the writings of the Formalists." Godzich (1985: VII).
Erzähltheoretische
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Implikationen
und Textsoziologen.51 Allerdings soll in dieser Untersuchung nicht marxistisches Denken den Angelpunkt der Analyse stellen, sondern ein systemtheoretisches Denkmuster, das, wie an anderer Stelle mit Luhmann gesagt wurde, die Grundannahmen des Marxismus auf eine höhere Ebene zu transformieren sucht. Als theoretisches Ergebnis kann man sich davon eine gesellschaftsadäquatere Auslegung von Ideologie und deren Bezug zum literarischen System in modernem Kontext wie auch neue Dimensionen in der Behandlung der point-de-vueProblematik erwarten. Der formalistische Ansatz Genettes wäre daher um den systemtheoretischen Aspekt zu erweitern, und es stellt sich deshalb nicht mehr bloß die Frage, wie der narrative Text Ereignisse, Worte oder Gedanken erzählt, sondern wie und mit welchen Mitteln komplexe soziale Systeme der modernen Gesellschaft beobachtet und durch erzählerische Gestaltung integriert werden, wie und mit welchen Mitteln auch außerhalb von abstraktem Autor, von Erzähler und Figur liegende Differenzierungsvorgänge im literarischen Werk - denotativ oder konnotativ - zum Ausdruck kommen. Vor der schematischen Umsetzung der komplextheoretischen Überlegungen soll in einem ersten Schritt an Genettes point-de-vue- bzw. voix-narrative-Modell angeknüpft werden, um für den ideologieanalytischen Ansatz gezielte Erweiterungen vornehmen zu können. Ebenenqualität52
Beziehung Erzähler kommt in der von ihm erzählten Geschichte als Figur nicht vor: heterodiegetisch Erzähler kommt in der von ihm erzählten Geschichte als Figur vor: homodiegetisch
Erzähler erster Stufe: extradiegetisch
Bewertung anderer Wertungen, die nochmals von einem abstrakten Autor überschritten werden kann Bewertung anderer Weitungen - die vor allem auch die eigenen gewesen sein mögen und nochmals von einem abstrakten Autor überschritten werden kann
Erzähler zweiter Stufe: intradiegetisch
In der Erzählung beobachtbare Wertung erster Ordnung wie auch Bewertung von Weitung In der Erzählung beobachtbare Wertung erster Ordnung
Genette definiert den Status des Erzählers über dessen narrative Ebene (extra- oder intradiegetisch) wie auch über dessen Beziehung zur Geschichte (hetero- oder homodiegetisch). Aus den sich daraus ergebenden Kombinationen gewinnt er vier fundamentale Erzählertypen, die er mit klassischen Literaturbeispielen belegt: Demnach entspricht der extradiegetisch-heterodiegetische Typus dem Homerschen Epos, weil darin ein Erzähler erster Stufe eine Geschichte erzählt, in der er selbst nicht vorkommt. Der extradiegetisch-homodiegetische Typus wird mit dem pikaresken Roman Gil Blas von Lesage belegt: in diesem Fall erzählt ein Erzähler erster Stufe seine eigene Geschichte. Als dritten Fall ergibt sich aus dem Schema der
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„II n'y a done pas opposition, mais compMmentariti, entre une critique ,matirialiste', essentiellement prioccup^e des ddterminations historiques de l'ceuvre, et la critique .formaliste'." Mitterand (1980: 17). Die Stufen der Ebenenqualität nach dem Modell Genettes können irreführend wirken, da sie verkehrt proportional den Beobachtungen erster und zweiter Ordnung entsprechen.
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Die Beobachtung von Ideologie durch Literatur
intradiegetisch-heterodiegetische Erzählerstatus, der in Scheherazade eine Erzählerin zweiter Stufe ausmacht, die Geschichten erzählt, in denen sie im allgemeinen nicht vorkommt. Als intradiegetisch-homodiegetisch wird der Odysseus der Gesänge IX bis ΧΠ exemplifiziert, weil er als Erzähler zweiter Stufe seine eigene Geschichte erzählt. So überzeugend die Kategorisierung Genettes auch klingen mag, sie bedarf dennoch einiger grundlegender Ergänzungen. Erstens mißachtet die Aufstellung, daß die intradiegetische Erzählung durch die untergeordnete Position der Erzählinstanz der Figur oder einer erzählenden Figur gleichgestellt werden könnte und daher nach logischem Prinzip einer ersten Ordnung zugeschrieben werden müßte. Sie wird von einer ihrer Diegesis nicht angehörenden Erzählinstanz zweiter Ordnung beobachtet bzw. erzählt, die ihrerseits von weiteren Instanzen gerahmt werden kann. Insofern sind auch die Bezeichnungen extra und intra unglücklich gewählt,53 denn sie tragen diesen vielfältigen Verschachtelungsmöglichkeiten einer Erzählung nicht Rechnung und verstellen auch den Blick auf den abstrakten Autor, dem die letzte und höchste Erzählerinstanz untergeordnet ist.54 Hand in Hand mit der Erzählung erster und zweiter Stufe (zweiter und erster Ordnung) geht auch die textvermittelte Einschätzung von Normen und Wertungen, deren Grenzstellen insbesondere an den intra- und extradiegetischen Ebenen wie auch an der Differenz zwischen der hetero- oder homodiegetischen Beziehung des Erzählers zum Erzählten festzumachen sind. An der obigen Erzähltypologie kommt daher auch die Wertungsproblematik zum Vorschein. Am besten läßt sich der Wertkonflikt nach dem extradiegetisch-heterodiegetischen Typus verdeutlichen, da eine doppelte Exteriorität vorliegt, von der aus Wertaufbau und Wertzerstörung beobachtbar wird. Die nächsthöhere Instanz erkennt aufgrund der Verschachtelungen, daß sie nicht sehen kann, was sie nicht sehen kann, und vermag daraus ihre Schlüsse zu ziehen. Ein solcher Beobachtungszusammenhang kommt in ideologisch unzweideutig formulierten Texten häufig vor: Als Beispiel möge F61ix-Antoine Savards hymnischer Thesenroman Menaud, maitre-draveur angeführt sein.55 Ein abstrakter Autor überschreitet schließlich die Erzählerinstanz durch eine Reihe von paratextuellen Merkmalen.56 Ein Erzähler erster Stufe, der seine eigene Geschichte erzählt, bewertet im extradiegetischhomodiegetischen Erzählerstatus nicht nur die Wertungen anderer, sondern stellt auch die eigenen zur Schau. Eine solche Stimme findet man in Jean-Charles Harveys Les Demicivilisis in leicht verzerrter Form, weil der Ich-Erzähler zum Großteil, nicht immer, diese Figurenposition bekleidet.57 Für den intradiegetischen Erzähler wird die Wertung auf einer höheren Ebene - aber noch immer innerhalb der Diegesis - sichtbar, da dieser Erzähltypus einer textinternen second 53
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Die Undeutlichkeit der Begriffe entsteht dadurch, daß Genette die Schichten der Erzählung nicht nach dem logisch-linguistischen Gebrauch bezeichnet: Demzufolge nennt er eine vom intradiegetischen Erzähler hervorgebrachte Erzählung metadiegetisch statt hypodiegetisch. Für Genette selbst ergibt sich daraus aber nicht das geringste Problem: „Was den Widerspruch zum linguistischen Gebrauch angeht, so kann ich damit leben [...]" Genette (1994: 254). In thesenhaften Erzähltexten verschmelzen beide Instanzen meist zu einer dominanten Erzählerfigur, weil diese in verständnisinniger Harmonie mit einem übergeordneten axiologischen System koordiniert - mehr oder minder präsent - auftritt. Der abstrakte/ideelle Autor geht dann aus den paratextuellen Elementen hervor. Vgl. Zweiter Teil: Kap. II, Abschnitt 1. Mit Paratext sind bei Genette (1987) textbegleitende Elemente wie Autorenname, Titel, Vorwort etc. gemeint. Vgl. Zweiter Teil: Kap. III, Abschnitt 2.
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order observation unterliegt und von diegesisabhängigen Figuren von außen beobachtet werden kann. Einen kategoriellen Unterschied macht es allerdings dabei noch, ob der Erzähler seine eigene oder eine fremde Geschichte erzählt. Bei der intradiegetisch-heterodiegetischen Version läßt sich die Beobachtung der Beobachtung auch auf diegetisch höherer Ebene noch beobachten, bei der intradiegetisch-homodiegetischen Funktion wird die Beobachtung erster Ordnung überwiegen, es sei denn, diese Ebene bildet ihrerseits wieder tiefer angesetzte second order observations aus. Die Extrapolation soll allerdings nur vor dem Hintergrund der übrigen Träger von Ideologie stattfinden. Damit sei gemeint, daß neben den systembezogenen Aspekten die drei Hauptträger von Ideologie, insbesondere Bewußtsein, Sprache und Praxis, nicht außer acht gelassen werden dürfen, um der vorliegenden Komplexität gerecht zu werden. Ideologische Erzählsysteme können sich infolgedessen über diese Mechanismen durch systemische Reizung im Text bemerkbar machen oder, anders gedacht, der Text als geschlossenes und offenes System zugleich beobachtet ideologische Systeme in seiner Umwelt und baut mit eigenen Mitteln in operativer Geschlossenheit sekundäre Modelle aus, welche über die autopoietischen Prozesse auf ideologische Träger verweisen. Über die theoretische Ebene von Erzählung und Fokalisierung ziehen wir deshalb eine weitere Grenze ein, die an gesellschaftliche Systembedingungen gekoppelt ist und die das Erzählen, die Erzählerrede (voix), auf indirekte Weise steuert. Auf eine getrennte Auflistung einer Rubrik zum abstrakten Autor können wir vorerst verzichten, weil dessen Funktion auf paratextueller Ebene nachvollziehbar wird.
Bewußtsein Sprache/Worte System Praxis
Systemkoppelung Erzählerrede psycho-narration und narrated monologue narrativisierte oder transponierte Rede Systembeobachtung erster oder zweiter Ordnung Erzählung eines champ/habitusAusschnittes
Figurenrede quoted monologue und narrated monologue58 berichtete oder transponierte Rede Systembeobachtung erster Ordnung hypodiegetische Erzählung eines champ/habitusAusschnittes
Ausgehend von Genettes Fragestellung, ob es neben der Erzählung von Ereignissen und Worten auch eine der Gedanken gäbe, konnten diese schematischen Orientierungsfelder eingerichtet werden. Der französische Formalist hatte im zehnten Kapitel des Nouveau discours du recit auf Dorrit Cohns Kritik an seinem simplifizierten Modell reagiert, demzufolge er das Denken ganz allgemein mit der Rede gleichsetzen und das Seelenleben als gesprochenen monologue interieur betrachten will. Genette wies das gesamte Erweiterungsangebot seiner Fachkollegin pauschal mit dem Argument ab, die Erzählung führe Gedanken immer entweder auf Reden oder auf Ereignisse zurück, tertium non datur, ein dritte Möglichkeit existiere eben nicht. Auch das Seelenleben könne nur eines von beiden sein: Ereignis oder Rede. Zur Veranschaulichung erstellte Genette dazu eine seiner charakteristischen Tabellen, 58
Die englische Terminologie stammt aus Cohn (1978/1981: 24ff.).
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Die Beobachtung von Ideologie durch Literatur
die wir im folgenden wiedergeben wollen, um die oben durchgeführte Modifikationen besser hervortreten zu lassen: 59 Modus Gegenstand Ereignisse Worte
Erzählerrede
Personenrede
primäre Erzählung narrativisierte Rede und transponierte Rede
sekundäre Erzählung berichtete Rede und transponierte Rede
Ein Vergleich der beiden Modelle läßt die Genese der um die ideologieanalytischen Kategorien erweiterten Version deutlich erkennen. Wir beschränken uns insofern nicht nur auf Genettes Basismodell, das die Gegenstände der literarischen Beobachtung auf Worte und Ereignisse reduziert, sondern erweitern auch Dorrit Cohns Ansatz um die für unsere Studie relevanten Elemente. Auf diese Weise wird es dem Kritiker ermöglicht, ideologische Einsprengsel im Text besser zu orten und funktional zu bestimmen. Darüber hinaus kommt ein differenzierterer Ideologiebegriff zur Geltung, der die Diversität von Ideologieträgern berücksichtigt und in die Untersuchung einbringt. Je nach ihrer Funktion werden Bewußtsein, Sprache, System und Praxis vom Erzähler oder der Figur modelliert und mit dem umgebenden Text in fruchtbaren Zusammenhang gebracht. Von den Vordenkern Genette und Cohn mögen die Kerngedanken bezüglich Bewußtsein und Sprache übernommen sein, die Erweiterung geschieht vorrangig auf dem Niveau der Beobachtung erster und zweiter Ordnung. Am bedeutendsten scheint uns die Reizung des literarischen, im besonderen des Erzählsystems durch andere Gesellschaftssysteme zu sein. Als Funktionen stehen dazu die einzelnen „Bewußtseine" zur Verfügung, welche die angebotene Komplexität auf Erzähl- und Verstehbares, besser Sinnhaftes, „heruntertransformieren" bzw. reduzieren. Auf diese Weise entsteht Anschlußfähigkeit auf den entsprechenden Rezeptionsebenen der Adressatengruppen. Noch deutlicher in Erscheinung tritt die Verarbeitung von Ideologieangeboten durch den Text über die Praxis, die vor allem als typische Verhaltensformen im Sinne Bourdieus champ und habitus interpretiert werden soll. Praxis gewinnt demnach ebenso wie Systeme über Differenzierungslinien Bedeutung, nur daß die binären Oppositionen weniger abstrakt angelegt sind. So kommt Ereignishaftigkeit über Semantisches in den Text und kann als primäre (diegetische) oder sekundäre (hypodiegetische) Erzählung eines engeren oder weiteren champ/habitus-Ausschnittes erfaßt werden. Bei der Bewertung von Praxen tritt die Differenzierung am krassesten auf und kann auf der Textebene unschwer beobachtet werden. Schließlich sei noch daran erinnert, daß sowohl Erzählerrede als auch Figurenrede selbst systemgekoppelt vorkommen. Es wird also nicht bloß Systembezogenes in den Text aufgenommen, von Erzähler- oder Figurenrede modelliert, sondern der Modellierungsvorgang hängt seinerseits von systemischen Prästrukturen ab, auf die beide Bewußtseinsinstanzen prozessual reagieren. So nehmen laut Luhmannscher Dogmatik die systemischen Interpenetrationen von einer außerhalb des Bewußtseins liegenden Ebene ihren Ausgang. Insofern wäre eine konsequent verfahrende Systemtheorie dazu verurteilt, nur Literatursoziologie im engsten Sinne zu betreiben und ausschließlich auf institutionelle Besonderheiten der Literatur
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Genette (1994: 233).
Erzähltheoretische
Implikationen
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einzugehen. 60 Das wäre jedoch für eine gründliche Ideologieanalyse der literarischen Texte zu oberflächlich und könnte große Bereiche von Ideologie nicht fassen. Weiterhin wird daher sowohl das Bewußtsein als auch Sprache, System und Praxis als Basis für unsere Darstellungen dienen und für die Analyse der Träger von Ideologie im literarischen Kontext herangezogen.
2.4. Ideologische metarecits und narrative Ebenen Wir wollen Ideologie nun zum Zwecke einer heuristischen Erkenntnismethode aus einer anderen Perspektive betrachten, in der es nicht vorrangig um Komplexität und deren Bewältigung geht. Wie erwähnt, kann Ideologie auch als Erzählung interpretiert werden. Es wäre also möglich, das Ideologische als Minimaldiskurs, etwa mit den Mitteln der Greimas'sehen Strukturalsemantik, auf syntagmatischer und paradigmatischer Ebene zu situieren und als kleinsten gemeinsamen Nenner eines komplexen gesellschaftlichen Zusammenhangs festzuschreiben. Eine solche Formulierung liefe allerdings ausschließlich Uber Sprache und müßte der narratologischen Kategorie „Erzählen von Worten" zugeschrieben werden, womit vor allem wiederum „Distanz" und „Fokalisation" eine theoretisch ausschlaggebende Funktion einnehmen könnten. Dabei käme dem diskursiven System eine nicht unbedeutende Rolle zu. Im betreffenden Text wäre jeweils nachzuweisen, welche homogenen und heterogenen Elemente aktiv werden und das Ideologische aufbereiten, und auf welche Weise dies geschehe. So könnten auch mehr oder minder feste wie lose Kopplungen zwischen ideologisch festgelegten diskursiven Strukturen und den literarischen Texten ausgemacht und beschrieben werden. Darüber liegen auf diskurstheoretischer Seite bereits aufschlußreiche und brauchbare Forschungsergebnisse vor.61 Eine besondere Gewichtung bekommt diese Darstellung und Analyse von Ideologie im Kontext der Theorie narrativer Ebenen. Seitdem der traditionelle Begriff der „Schachtelung", den man damit einer Systematisierung unterzieht, nun sichtbare und unsichtbare narrative Schwellen zwischen den einzelnen Diegesen zu markieren imstande ist, erhält diese Theorie im vorliegenden Zusammenhang eine wichtige Bedeutung. Mit ihrer klaren Schwellendifferenzierung erlaubt sie dem Kritiker eine möglichst gut erkennbare Zuordnung von ideologischen Elementen. Es geht bei einer so gestalteten Annäherung an den Text vorerst darum, in einem ersten Schritt den Minimaldiskurs als erzählerisch kohärentes Konstrukt zu definieren und seine diegetische Position zu formulieren. In einem nächsten Schritt müssen die zwiebeiförmig angelegten Nachbardiegesen ausdifferenziert werden, dann erst können die Funktionen der einzelnen Erzähler, der einzelnen Figuren oder des ominösen abstrakten Autorenbewußtseins im Hinblick auf den ideologischen Minimaldiskurs zur Situierung und Beschreibung gelangen. Festzustellen wäre demnach, wo sich der Minimaldiskurs befindet, wie abgeschlossen oder offen er auftritt, welche Figuren, welche Erzähler sich mit ihm in wertender Form auseinandersetzen. Dadurch tritt auch zutage, welche Kohärenz das betreffende ideologische
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Darüber hinaus würde der zentrale Begriff des Ereignisses die Bedeutung des Textes ausschließlich auf die Geneseebene oder die Rezeptionsebene verlagern. Man vergleiche dazu den Abschnitt 2.2.3. zu den Themen ,X>iskurstheorie/Soziokritik/Textsoziologie" in Kap. I.
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Die Beobachtung von Ideologie durch
Literatur
System aufweist und wie hartnäckig oder schwach es sich im Text manifestiert. Schematisch wurden solche Ebenen oder Schachtelungen bislang etwa von Genette selbst im Nouveau recit du discours62 wie auch von Umberto Eco in seinen Analysen zum Narrativen63 einleuchtend dargestellt, beim ersten ohne persönliche Zuschreibung der qualitativen Veränderung zwischen den Ebenen, beim zweiten mit expliziter Skizzierung der narrativen Instanzen wie empirischer Autor, abstrakter Autor (autore modello), Erzähler und Figuren. Mit den Ebenen lassen sich aber nicht nur unterschiedliche Grade literarischer Verarbeitung von ideologischen metarecits bezeichnen, sondern auch die Bewertung derselben von seiten der übrigen diegetischen Zusammenhänge in übergeordneter oder untergeordneter Form. Damit können auch ideologische Mikroerzählungen eine funktionale Wirkung auf die Erzählung an sich ausüben und fallen in die Kategorisierung, die Genette für die Verhältnismöglichkeiten zwischen Diegesis und Metadiegesis ausgearbeitet hat. Demnach kann durch eine Metadiegesis auf primärdiegetischer Ebene ein unmittelbares Kausalverhältnis entstehen, das jener eine explikative Funktion zuschreibt. Die narrative ideologische Mikrostruktur würde sich klärend auf die umgebende Erzählung auswirken. Als zweiten funktionalen Typus nennt Genette die thematische Beziehung, die einen starken Einfluß auf die diegetischen Zusammenhänge ausüben und im vorliegenden Kontext am stärksten zur Wirkung gelangen kann. Die damit einhergehende persuasive Funktion entspricht dem Ideologiebegriff in seiner klassischen Ausprägung als Exemplum, Parabel oder thesenhafte Narratio. Beim dritten Typus besteht keine explizite Beziehung zwischen den Geschichtsebenen, der Narrationsakt übernimmt bloß eine Funktion des narrativen Hinauszögerns bzw. der Zerstreuung.64
2.5. Ideologische metarecits im sozialen Kontext Die Fragen, die nun zu stellen sind, gehen wiederum in eine andere Richtung: Welche Rolle übernehmen konkrete ideologische Erzählungen in bestimmten sozialen Kontexten? Wie massiv und kompakt treten sie in der Alltagskultur in Erscheinung? Wie überkommen oder hoffnungsträchtig wirken sie auf eine bestimmte Gesellschaft, auf einen bestimmten Sektor? Auf semiologischer Ebene wurde diese Problematik von Pierre Barb6ris ausführlich untersucht. In seinen bisher vorliegenden Studien zum Verhältnis zwischen Text und Ideologie hebt er hervor, wie bedeutsam eine solche Differenzierung der Zeichenkonstituierung für einschlägige Studien geworden ist. Ihm zufolge bestehen zumindest drei Möglichkeiten der ideologischen Konfiguration, welche nicht miteinander verwechselt werden sollten: 1. die ideologischen Zeichen des Textes, 2. die ideologischen Zeichen im Text sowie 3. die Konstituierung ideologischer Zeichen durch den Text:
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Vgl. oben wie auch Genette (1994: 250). Eco (1994: 23ff.). An dieser Stelle sei auf Ecos Konzept des lettore modello verwiesen, da eine solche Instanz die interpretatorische Wertung mitführt: „Questo tipo di spettatore (o di lettore di un libro) lo chiamo Lettore Modello - un lettore-tipo che il testo non solo prevede come collaboratore, ma che anche cerca di creare." Eco (1994: 11). Bei Iser schwinge - Eco zufolge - diesbezüglich sogar der point de vue mit: „Iser assegna al lettore un privilegio che έ stato considerato prerogativa dei testi, vale a dire quello di Stabilire un ,punto di vista', in tal modo determinando il significato del testo." Pugliatti (1989: 5f.) bzw. Eco (1994: 20). Vgl. Genette (1994: 166f.).
Erzähltheoretische Implikationen
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1. Les signes, plus ou moins figes des iddologies contemporaines, que le texte entend comme transcender, signes prösents, nomm6s ou signalös dans le texte comme des 616ments du däcor contemporain. [...] Le texte ä ce niveau, ne parle pas tant les idiologies qu'il η 'en parle, qu'il en reproduit, non sans νοίοηίέ de satire, les divers discours et rhdtoriques, les tics. Le texte, ici, fait allusion [...] ä des idiologies refroidies, dipassies, tyranniques parfois, et qui ont cessd, röellement, d'inventer et de parier. 2. Les signes de I'idöologie englobante que le texte, ä son insu, hors de son total contröle en tout cas, vehicule, reproduit, manifeste, eventuellement s'int6riorise et s'approprie. [...] Cette id6ologie lä n'est pas creee par le texte; mais eile est diffusee par lui; 3. Les signes enfin de l'idöologie [forgöe] qu'elabore et produit le texte dans son .traitement' du reel [...] le littiraire ne peut plus recouvrir exactement les iddologies itablies ou re purees.65
Folglich ist bei einer literaturspezifischen Interpretation der Ideologie nicht nur darauf zu achten, aus welcher Distanz Werte und Bewertungen aufgenommen und in welcher Form und auf welcher Ebene sie von den erzählerischen Instanzen beobachtet und konfiguriert werden. Auch der im Außerliterarischen bereitgehaltene ideologische Fundus, der in Form von mikronarrativ aufbereiteten Einheiten in einer bestimmten Gesellschaft zirkuliert und je nach Konjunktur mehr oder minder kompakt und greifbar auftritt, hat für das zu untersuchende Werk daher eine nicht geringe Aussagekraft. Letzten Endes geht es nun darum, die Fiktionalisierungsprozesse der ideologischen metarecits im Text systemisch nachzuvollziehen und einer analytischen Untersuchung zuzuführen. Die Referentialität sichert sich in solchen Darstellungen wiederum ihren Platz in der Literaturkritik; von einer direkten ontologischen Abbildbarkeit der Realität kann allerdings in diesem Rahmen nicht die Rede sein, da es sich bei den beobachteten metarecits um sekundäre selbstreferentiell modellierende Systeme handelt. In diesem Zusammenhang verliert eine Theorie sprachontologischer Divergenzen, wie Jürgen H. Petersen sie zwischen fiktionalem Sprechen und Wirklichkeitsaussagen herausarbeitet, an Relevanz, handelt es sich doch bei ideologischen metarecits um keine falsifizierbaren Unterscheidungen von richtig oder falsch, sondern um eine Agglutinierung von beiden Urteilen. 66 Nicht zuletzt spielt eine solche Vermengung auch für das literarische System eine konstitutive Rolle. Daher stellt sich die Frage anders: Welche Spuren und Grundzüge der erzählten Wirklichkeit einer Gesellschaft sind in den Text eingearbeitet und wie können sie als solche erkannt werden?
2.6. Ideologieeffekte ex negativo betrachtet An einer anderen Stelle setzt der Ideologiekritiker und Literaturwissenschaftler Philippe Hamon das Problem an. Für ihn als Vertreter der vierten Rahmung von Ideologie (als Panideologie) kommen nicht so sehr deutlich interpretierbare metarecits als Studienobjekt in Frage, sondern Spuren und unsichtbare Elemente (Ichnographie), denen der Text auf transcodierter Ebene verpflichtet scheint. Hamon zufolge sei das Binom Ideologie-Text in der aktuellen Form grundsätzlich unausgeglichen, zumal der Ideologiebegriff jeder genauen Festle-
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Barb&is (1980:41ff.). Petersens emblematischer Beispielsatz „Gestern regnete es in Köln" wirkt ja nicht „losgelöst von allen Regeln und Bestimmungen, denen die Wirklichkeitsaussagen unterliegen" (Petersen 1993: 5), zumal Köln allein schon eine Reihe ideologischer Zusammenhänge loszutreten vermag und axiologisch eben wesentlich anders einzustufen wäre als etwa ein Satz wie „Gestern regnete es in Managua" (insbesondere im Managua der 70er Jahre).
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Die Beobachtung von Ideologie durch Literatur
gung entbehre und einem wesentlich besser faßbaren Begriff Literatur gegenüberstünde. So hätte es keinen Sinn, nach dem Modell von Pierre Baiberis a) die Ideologie „des" Textes, b) die Ideologie „im" Text oder c) ihre „Beziehungen" zum Text epistemologisch ins Visier zu nehmen. Im Gegenteil, nur ein in den Text eingeschriebener konstruier- und dekönstruierbarer effet-ideologie sei als Effekt-Affekt vertretbar und könne aus dem Textuellen erschlossen werden. Im Gefolge der Greimas'sehen Strukturalsemantik empfiehlt der Autor für das Studium des effet-ideologie sowohl eine paradigmatische Dimension nach binärem oder skalarem Modell als auch eine syntagmatisch-praxeologische Dimension, wobei darunter narrativ gestaltete Handlungsprogramme für Akteure verstanden werden sollen. Insofern schließt er aber nolens volens wieder an die metarecit-Ebene an, deren Homogenität und Greifbarkeit er allerorts bestreitet. Hamon geht es vorrangig um eine Analyse des effet-ideölogie unter dem Gesichtspunkt einer Semiotik des Wissensbestandes einer Gesellschaft, um dessen Manipulationsstrategien, Evaluierung, um dessen Überzeugungskraft etc., womit er durchaus in die Reihe der soziokritischen Diskurstheoretiker gestellt werden kann. Als Vertreter des omnipräsenten Ideologiebegriffes kehrt er die Hauptthese der vierten Rahmung „tout le texte (le tout du texte) est Ideologie" um und postuliert in symmetrischer Gegenkonstruktion die für ihn relevante Untersuchungsmethode: „c'est l'absence qui est (qui Signale) l'id6ologie". So entsteht eine unübersehbare isotopische Ebene, unter deren Rekurrenz den Werten, Bewertungen und Hierarchien im literarischen Werk ex negativo beigekommen werden soll, und die Begriffe absence, lacune, degre, trou, ellipse, non-dit, implicite, blanc avancieren in ihrer Kohärenz zum fundamentalen Konzept, „pluridisciplinaire et cecumönique par excellence, passe-partout explicatif pour toutes les analyses et universel methodologique pour tous les mötalangages, ouvrant toutes les serrures textuelles".67 Verwertbar scheint uns Hamons Theoriegebäude vor allem in bezug auf die Konstruktion des Helden wie der Figuren im Text. Sie fungieren einerseits als interne Erzählstrategien, wobei die Figurenkonstellation üblicherweise vom Helden als „personnage mis en relief par des moyens differentiels" 68 ausgeht oder sich in ihm trifft, andererseits fußen sie im kulturellen Kontext der umgebenden Gesellschaft und vehikulieren Werte ihrer Epoche. In der nach wie vor vage definierten Funktion des Helden wird der Leser sich der Systemhaftigkeit von Gesellschaft bewußt, zumal durch diese Instanz nicht zuletzt auch die wichtigsten moralbesetzten Oppositionen verlaufen. So erfaßt Hamons Ansatz sowohl die funktionale, narrativistische Seite des Helden wie auch seine Stellung in der und zur axiologischen Hierarchie seiner Zeit, wobei die eine Funktion mit der anderen nicht notwendigerweise konform zu gehen braucht. Eine Poetik des Normativen nach Hamons Modell hat insofern ihre Vorzüge, als sie die Problematik der Beobachtung von Ideologischem durch das literarische System am Beispiel der Helden- und Personenfunktionen aufzeigt, sie bleibt allerdings zu sehr in der vierten Rahmung eines omnipräsenten Ideologieverständnisses stecken, ohne alternative Sichtmöglichkeiten und ohne dessen historische Implikationen mitzureflektieren. Wenn schon die übrigen Rahmungen bei ihm keine Beachtung finden, so kommen im Gegenteil die Träger von Ideologie in zahlreichen Varianten zur Sprache: Tout romancier est un encyclopidiste du normatif; la relation aux regies, le savoir-vivre (au sens large de ce terme), avec son appareil de normes, de prineipes, de .maniferes' (de table et autres), de sanctions, d'6va-
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Hamon (1984: 9ff.). Hamon (1984: 47).
Ideologie als gattungskonstituierendes
Phänomen
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luations et de canevas plus ou moins codis, qu'ils soient prohibitifs, prescriptifs ou permissifs, constitue le matiriau et le sujet principal du roman. [...] Mais le texte romanesque suggfere d'abord, par divers procidös cumulis, que le rdel n'est pas relevable d'une norme unique, qu'il est fondamentalement carrefour de normes, carrefour d'univers de valeurs [... qui] se chevauchent, se transforment, se surddterminent, se transposent... 69
Eine so verstandene Poetik des Normativen ist in ihrer Komplexität insofern nicht leicht zu fassen, als sie sowohl erzählfunktionale (intraliterarische) wie auch axiologische (extraliterarische) Elemente in die Analyse einzubeziehen hat, und sollte in kleinen Schritten angepeilt werden. Auch hier bietet die Systemtheorie eine grundlegende Stütze, zumal sie die in Hamons Werk mehr oder minder frei zirkulierenden Elemente in einen systematischen Zusammenhang bringt und paradoxe Differenzerscheinungen der modernen Gesellschaft - und auch der Literaturkritik - mit ihrem Begriffsinstrumentarium schärfer in den Blick zu rücken weiß. Diese Ergänzungen mögen vor allem auf Hamons Überlegungen zur Vielfältigkeit und zum Kreuzungspunkt der einzelnen univers de valeurs bezogen sein.
3. Ideologie als gattungskonstituierendes Phänomen
Nach der polyfokalen Beleuchtung der ideologischen Bedingung literarischer Texte oder der Beobachtung (Modellierung) von Ideologischem durch das literarische System bleibt eine Frage offen, die sich auf die gattungskonstituierende Problematik bezieht. Wann kommt ein literarischer Text in den Geruch des Thesenhaften, des Belehrenden, des Didaktischen? Warum enthält eine solche Kategorisierung für den Durchschnittsleser eine im allgemeinen negative Konnotation? Können hier nicht Parallelen zum Konzept Ideologie hergestellt werden? Im Hinblick auf die Wertungsproblematik und deren offenliegende Behandlung und Verarbeitung durch die textuellen und metatextuellen Strategien lassen sich vor allem auf der Gattungsebene des lesbaren, belehrenden, argumentativen Textes äußerst relevante Ergebnisse erzielen. Voraussetzung dafür ist allerdings ein komplexer, vielschichtiger Zugang, um die von der traditionellen Kritik als homogen und monolog beschriebenen Charakteristiken zu nuancieren und mit dem die Texte umgebenden Zeitgefüge in eine systematische und fruchtbare Beziehung zu bringen. Wie es mit dem Begriff Ideologie im ersten Großkapitel dieser Studie geschah, sollte daher auch der thesenhafte Text einer offeneren Interpretation und einer undogmatischen Auslegung zugeführt werden, die der Komplexität der Bedingungszusammenhänge solcher Texte Rechnung zu tragen vermag und auf diese Weise neue Ergebnisse zugunsten einer Poetik der Wertung, d.h. einer Poetik des Ideologischen, erwarten lassen kann. Hierbei dürfte die systemtheoretische Umorientierung oder Auflösung gewohnter Paradigmata ebenso von Nutzen sein. Eine erste groß angelegte Aufarbeitung der nach wie vor undeutlich formulierten Gattung des engagierten und didaktischen Romans hat bislang Susan Rubin Suleiman vorgelegt, in der sie den einschlägigen französischen Roman von Barrls bis Nizan vor allem aus rezeptionsästhetischer Sicht beleuchtete und auf gattungspoetische Gemeinsamkeiten hin unter-
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Hamon (1984: 220).
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Die Beobachtung von Ideologie durch Literatur
suchte. Sie legte damit die Funktionen von thesenhafter Literatur insofern frei, als sie im Anschluß an Genette die potentielle leserbezogene Poetizität eines literarischen Textes hervorhob, was in bezug auf die vorliegende Gattung von höchster Relevanz ist: „Tout texte 6crit a le potentiel d'etre ou n'etre pas littörature, selon qu'il est re9u (plut6t) cömme spectacle ou (plutöt) comme message."70 Die Vermengung beider Aspekte kommt im thesenhaften Text deutlich zum Vorschein, allerdings wird dem referentiellen, dem sinnkonstituierenden Aspekt eine stärkere Gewichtung eingeräumt. Wie sehr eine solche vorliegt, ist von Text zu Text verschieden und sollte in ihrer Differenz stärker untersucht werden. Was macht den Thesenroman zu dem, was man gemeinhin darunter versteht? Suleiman stellt mit Recht die Hypothese auf, daß die im Thesenroman erzählte Geschichte teleologisch angelegt sei und mit ihrem redundanten Schema wenig Interpretationsspielraum offen lasse. Sie vermittle dem Leser ein unverwechselbares Wertsystem und darüber hinaus eine klar formulierte - zumindest virtuelle - Handlungsanweisung. Textauslegung und Handlungsanweisung würden entweder von einem Erzähler „im Namen der Wahrheit" mit absoluter Autorität verordnet oder vom Leser dem Textgefüge entnommen, was eine plurielle Lektüre unmöglich werden lasse. Da Suleiman sowohl von einem engeren Ideologieverständnis wie auch von einem engeren Literaturprinzip ausgeht, zwei Aspekte, die einander heute oft auszuschließen belieben,71 setzt sie das Thesenhafte in einem dem Werk externen doktrinären Intertext an. Dies entspricht mehr oder minder dem Schema der sekundären modellierenden Systeme, nur daß sich Suleiman im Gegensatz zum hier dargelegten polyfokalen Ideologieverständnis eben auf einen eng gefaßten Ideologiebegriff zurückzieht. Was ihre Ideologieinterpretation angeht, so unterscheidet sie deshalb auch, ob es sich in einem literarischen Kunstwerk wie etwa der Fabel um allgemein gültige Werte (sagesse commune) handelt oder um ein spezifisches doktrinäres Denksystem aus deren inter- und kontextuellem Bereich. Nur diesem schreibt sie ein epistemologisches Interesse zu, anthropologische Konstanten hingegen bleiben von ihren Betrachtungen ausgegrenzt.72 Was einen Roman demnach zum Thesenroman macht, ist nicht diese oder jene Geschichte, sondern „la prise en charge d'une histoire par un systdme de signification sp6cifique"73, die Vereinnahmung einer Geschichte durch ein spezifisches Bedeutungssystem. So nimmt es nicht wunder, daß Suleiman den Bildungsroman in seiner unproblematischen und vereinfachten, entambiguisierten Version als emblematische Ausprägung des Thesenromans be-
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Genette (1966: 146). Vgl. Skizze. Vgl. Suleiman (1983: 69ff.). Mit ihrem theoretischen Konstrukt faßt sie daher in aller Absicht nur „starke" Ideologien, übersieht jedoch auch nicht, Selbstreflexivität - wie etwa die vom Poststrukturalismus propagierte - an den Tag zu legen und die Präsuppositionen der eigenen Situation kritisch zu prüfen. „Que la doctrine soit le marxisme, le fascisme, le nationalisme, le catholicisme ou tout autre isme (ou variation sur isme), n'importe. U n'importe non plus que la doctrine soit explicitement inoncde dans le roman - par le narrateur ou un de ses doubles didgdtiques - ou qu'elle paraisse seulement comme un pr€suppos6. D'une manifcre ou d'une autre, eile est toujours ,lä\ et c'est sa presence qui ditermine, en fin de compte, la thfese du roman." Suleiman (1983: 73). In diesem Sinne propagiert die Kritikerin mehr Ideologieanalyse denn Ideologiekritik und scheint sich der paradoxen Position auch bewußt zu sein: „Impossible d'ichapper ä Γ impasse commune. Pourtant [...], il me semble plus utile d'analyser que de dinoncer, plus utile d'£tablir et de maintenir des distinctions que de les niveler toutes pour mieux pouvoir rejeter l'ensemble. Si l'entreprise analytique relfeve aussi d'une Ideologie (cela est d'ailleurs certain), tant pis." Suleiman (1983: 284). Suleiman (1983: 79).
Ideologie als gattungskonstituierendes
Phänomen
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zeichnet. Am Beispiel von Paul Bourgets L'Etape,7* der als einer der gelungensten Thesenromane bezeichnet werden kann und auch in Qu6bec während der 30er Jahre gemeinhin als anzustrebendes literarisches Modell betrachtet wurde, illustriert die Kritikerin in Anlehnung an das Greimas'sche Aktantenmodell wie an das Bachtinsche Polyphonieschema, wie monologisch in Bourgets Text das vorgegebene doktrinäre Modell funktioniert. Im Gegensatz zum dialogischen Text, dessen Stimmen ihre Autorität beibehalten, wird in einem monologischen Gefüge jeder ideologische Konflikt von einer übergeordneten Instanz, einem alles entscheidenden supersysteme na rrat if, entschieden bzw. wertkonform zugeordnet: „[...] l'61ement pertinent η'est pas la prdsence ou Γabsence d'un narrateur, mais celle d'un supersystfeme ideologique selon lequel une seule fa^on de voir les choses est ,bonne', toutes les autres itant errondes." 75 Demnach muß der Held die im Supersystem des Werks eingeschriebenen Auflagen erfüllen, was oft in einem behavioristischen Lernprozeß abläuft und als Läuterung den Bildungsroman charakterisiert. Damit geht auch eine auffallend starke Reduktion von rhetorischer Komplexität einher, die den Thesenroman auf eine vereinfachende Argumentationsebene transformiert. Dessen Mechanismen gilt es allerdings noch zu klären. Daß man geneigt ist, in diesem Zusammenhang immer wieder auf das Aktantenmodell des strukturalsemantischen Ansatzes zurückzugreifen, versteht sich von selbst. Allerdings geht es im thesenhaften Prozeß der Suche nach dem Objekt nicht um die materielle Erfüllung des forschenden Subjekts, sondern um die ideelle Erkenntnis und die Verschmelzung mit der doktrinären Struktur. Liebesbeziehungen oder die Suche nach dem anderen sind, wie Suleiman daran anknüpfend behauptet, nicht vom Thesenroman kategoriell ausgeschlossen, sondern nehmen im Hinblick auf den Weg zur Erleuchtung und zur ideellen Apotheose des Helden eine eher untergeordnete Position ein. Zur Untermalung des positiven Codes benötigt der thesenhafte Text eine verkehrt proportionale Wertung, die als Negation des Vorliegenden bezeichnet werden kann und in der das Supersystem alles systemlogisch Abnorme degradiert. Negative Helden können zwar innerhalb ihrer eigenen Doktrin entsprechend authentisch entscheiden, im Kontext des Supersystems gerät ein solcher konkreter Wertungszusammenhang jedoch in ein schiefes Licht und wird über kurz oder lang als negativ abgetan oder eliminiert. Wie im erzähltheoretischen Kontext der allwissende Erzähler bisweilen als gottähnlich gezeichnet wurde, etwa von F r a n c i s Mauriac in den 30er Jahren, so sieht man auf der Wertungsebene eine parallellaufende Allmacht, die Suleiman auf analoge Weise in Worte faßt: „En mattere de jugement, la loi qui r6git le roman ä thfcse n'est gufere moins absolue que celle qui rfcgne sur les regions infernales et celestes."76 Deshalb verfügt der allwissende Erzähler nicht nur Uber die Erzählstränge und die Aufbau- bzw. Zerstörungsmechanismen von Illusion, wie es Werner W o l f 7 für den englischen Bereich überzeugend nachgewiesen hat, sondern auch über die Konstruktion von Wertungen und Ideologien vor dem Hintergrund eines ideologischen Supersystems, das in der Regel seinem eigenen entspricht. Etwa die Position eines dominanten Systems und einer letztgültigen Instanz auf weitere Komponenten und Zusammenhänge hin zu überprüfen, wird nicht zuletzt auch die Aufgabe der vorliegenden Studie sein.
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Vgl. Bourget( 1902). Suleiman (1983: 89). Suleiman (1983: 123). Vgl. Wolf (1993).
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Die Beobachtung von Ideologie durch Literatur
Der Argumentationslinie Suleimans folgend, ergibt sich neben dem Interiorisierungsprozeß von Werten für den positiven wie negativen Helden auch die äußere Auseinandersetzung, die „antagonistische Struktur" genannt wird. Im Gegensatz zum agonistischen Prinzips des homo ludens,78 das wie Bachtins Polyphonie den einander widerstreitenden Kräften eine gleiche Machtfülle zugesteht, zeichnet sich die antagonistische Struktur durch einen Helden aus, der einem Ideal verpflichtet gegen seine Widersacher auftritt. Mehr für seine Gruppe wirkend als für persönliche Interessen, verkörpert er durch die Geschichte hindurch die positiven Werte und setzt diese in mehr oder minder anonymer Form zugunsten des Kollektivs ein: „[...] le personnage ne subit aucune transformation dans sa faijon de voir le monde."79 So personifiziert der antagonistische Held idealiter die Vorgaben des soziolektal gebundenen Diskurses, wie sich Peter V. Zima dies in seinen zahlreichen Schriften vorstellt.80 Im Vordergrund steht deshalb nicht die psychologische Entwicklung des Protagonisten, sondern der ideologische Kampf selbst, für dessen Sieg der Held eintritt. Suleiman erläutert die Funktion des antagonistischen Helden am Beispiel von Paul Nizans engagiertem Werk Le cheval de Troietl, zeigt allerdings die Macht des Rezipienten, der diese Gattung mit einer gezielten Fragestellung sehr wohl seiner Autorität berauben kann: „Le roman ä theise le plus autoritaire, s'il est interroge d'une certaine fa9on, finit par contester sa propre autorite."82 Zugleich stellt Suleiman die Gespaltenheit des roman ä these in unserer Moderne fest, als sie mit ihrer These eines tendenziell geschlossenen Sinnsystems gegen den komplexen, universalen, Totalität fassenden Roman antritt. Definitorisch legt sie den Thesenroman als Gattung schließlich folgendermaßen fest: Je difinis comme roman ä thöse un roman ,r6aliste' (fond6 sur une esthitique du vraisemblable et de la representation) qui se Signale au lecteur principalement comme porteur d'un enseignement, tendant ä demontier la vdrite d'une doctrine politique, philosophique, scientifique ou religieuse. 83
Mit dieser zu grob formulierten Festlegung begibt sie sich allerdings der Möglichkeit, eine gattungsrelevante Studie des Thesenromans zu erstellen. Damit scheint der Zugang zur Thematik verfehlt, denn es sollte sich im Grunde nicht bloß um den Roman, sondern auch um kürzere Erzählformen handeln. Das Thesenhafte an einem Erzähltext verbindet Exempla, Kurzgeschichten, Fabeln, Novellen, allegorische oder philosophische Erzählungen sowie den Thesenroman und sollte nicht auf den Bereich des letzteren eingeschränkt werden. Ihnen allen liegt eine didaktische und persuasive Intention zugrunde, die nur über die allgemeinen Charakteristika des thesenhaften literarischen Textes zu fassen wäre. Die Länge des Textes trägt - wie Suleiman nicht zuletzt selbst hervorhebt - zur intern angelegten Interpretationsvielfalt, zur Vervielfältigung der Perspektivierung bei. Damit treten auch Widersprüchlichkeiten an den Tag, deren Frequenz mit der Textlänge zunimmt. „Plus le röcit s'allonge, plus la possibilite des failles se multiplie. On pressent lä une difference qu'il faudrait explorer entre Γexemplum (genre ,court' par excellence) et le roman ä these."84 Grundsätzlich bleiben die kürzeren Formen mit dem roman ά these aber in engster kategorieller Verwandtschaft und sollten im vorliegenden Zusammenhang als solche nicht ausgegrenzt sein. Im Gegenteil, ihre 78
Huizinga( 1951: 151).
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Suleiman ( 1 9 8 3 : 133).
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Vgl. Zimas Textsoziologie; Kap. I, Abschnitt 2.2.3.2. Nizan ( 1 9 3 5 ) . Suleiman ( 1 9 8 3 : 284).
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Suleiman ( 1 9 8 3 : 14).
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Suleiman ( 1 9 8 3 : 49).
Ideologie als gattungskonstituierendes
Phänomen
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verdichtende Funktion läßt es aus unserer Sicht zu, daß ideologische Formen des Supersystems (oder metarecits) leichter beobachtet und beschrieben werden können.85 Der zweite Stolperstein von Suleimans Ansatz liegt in der Heranziehung eines schillernden Begriffes, der trotz erläuternder Klärungsversuche in die Irre führen kann. Gemeint ist damit die Definition des Thesenromans als „realistischer" Roman, die im Gefolge der Realismus-Naturalismus-Debatte des vorigen Jahrhunderts eine falsche Einschätzung nach sich ziehen und die Problematik ins Mißverständliche verzerren könnte. Die Autorin sieht im Realistischen hingegen eine auf Referentialität und Wahrscheinlichkeit gründende Ästhetik, die als Gattung heute pauschal vernachlässigt werde, womit das Thesenhafte, Ideologische in der Literatur aus dem Blickfeld trete. Insofern geht es ihr um die Ehrenrettung einer spezifischen Gattung. Den letzten Abschnitt der oben angeführten Definition des Thesenromans können wir ohne große Einwände übernehmen, zumal er im großen und ganzen den sozialen Systemen der neueren Kybernetik entspricht. Zu ergänzen wären aber die wirtschaftliche Doktrin, die mit dem Liberalismus und seinen neuen Ausprägungen gerade in der Zeit des „Realistischen" eine wichtige Rolle einnimmt, sowie das Kunstsystem, in dem der Thesenroman bzw. die thesenhafte Erzählung einen höheren Grad an Selbstreflexivität zu erlangen imstande ist, wenngleich Suleiman ihm diese Fähigkeit ungern zugesteht: „[...] il est indeniable que la rhetorique du roman ä thfese est une rh6torique simple - c'est-ä-dire sans retour ironique sur elle-meme."86 Störend in diesem Abschnitt wirkt zusätzlich die Absenz des graduellen Aspekts im thesenhaften Aufbau literarischer Texte. Eine solche Abstufung ließe die Problematik besser ins Licht rücken und würde den Texten und ihrer Bewertung durch die Kritik besser gerecht. Eine Studie über die literarische Beobachtung ideologischer Phänomene sollte sich im Sinne der vorliegenden Arbeit daher nicht auf das was beschränken, sondern auch untersuchen, in welcher Form Thesenhaftes - von ideologischen Kompaktkonstruktionen bis zu feinsten Spurenelementen an Ideologismen reichend - durch die Erzählmechanismen einer Behandlung unterzogen wird. Dazu gehört die Darstellung der Standpunktproblematik von abstraktem Autor, Erzähler und Figuren ebensogut wie die narratologische Untersuchung der Ebenenunterscheidung oder der Systembezogenheit fest umrissenener metarecits. Wer oder vielmehr welche Instanz urteilt wie über welche ideologischen Fokalisierungen anderer? Aus welchem Kontext heraus geschieht dies? Steht der abstrakte Autor oder der allwissende Erzähler auch den ideologischen Zusammenhängen so erhaben gegenüber wie seiner Erzählung? Erst eine umfassende Betrachtung solcher Faktoren kann einen Einblick in die dem literarischen Text mehr oder minder sichtbar eingewobenen Spruchbänder vermitteln.
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„Pour une analyse de I'Ideologie, le texte narratif court repräsente [...] un module pertinent puisque, en peu d'espace, il contient, vihicule et, s'il le faut, diffuse les systfcmes idiologiques avec toutes les redondances possibles, que ce soit au niveau des discours narratifs, interpritatifs ou autre. Le texte doit se constituer d'un mode trfcs compact s'il veut r6ussir ä ce que le lecteur comprenne et fasse sienne la thfese divulgude." Eitler (1994a: 81). Suleiman (1983: 92).
ΠΙ. Metaerzählungen der frankokanadischen 30er Jahre
Bei einer ideologieanalytischen Annäherung eines in temporaler und lokaler Hinsicht genau abgezirkelten symbolischen Terrains, wie es in der vorliegenden Arbeit die erzählerische Produktion dieser Periode darstellt, ist es ratsam, den diskursiven Zustand der betreffenden Gesellschaft zu messen und deren Beschreibungs- und Selbstbeschreibungsmechanismen schematisch zu umreißen. So soll noch vor der spezifischen Auseinandersetzung mit den Erzähltexten eine Bestandsaufnahme der bedeutendsten und für diese Analyse relevantesten metarecits vorgenommen werden, damit im Anschluß deren mimetische und diegetische Einschreibprozesse in die fiktionale Welt besser zum Vorschein kommen können. Als Vorlage mögen dabei vier herausragende Zeitungen und Zeitschriften der betreffenden Epoche dienen: L'Action nationale, La Relive, Les Idees und Le Jour. Anhand der darin enthaltenen aussagekräftigen Artikel und Essays gilt es zu zeigen, welche semantischen Isotopien die Argumentationszusammenhänge durchziehen und welche dialogischen Verflechtungen sie untereinander aufweisen. Als Träger des Ideologischen werden deshalb in diesem Kapitel die auf Sprache reduzierbaren axiologischen Strukturen herangezogen, wie sie die strukturalsemantische Richtung der Greimas'sehen Schule elaborierte und wie sie im einführenden Kapitel unter der zweiten, sozial-orientierten Rahmung von Ideologie eingehend beschrieben wurden. Darüber hinaus sollte aber eine weitere Dimension der Beobachtung, die den ideologischen Diskurs auch als systemischen zu denken und auf folgende Fragen zu antworten vermag, etwas näher betrachtet werden: Welche sozialen Systeme stehen hinter einer bestimmten diskursiven Modellierung? Welche binären Kommunikationscodes liegen den einzelnen Metaerzählungen zugrunde? Wo setzen sie ihre Innen- und Außengrenzen an? Wie kommt die Unterscheidungslinie des de-finire, des Abgrenzens, zum Ausdruck, wie geht die gleichzeitige Funktion der Bezeichnung im Sinne der George Spencer Brownschen Logik vor sich? Ganz unabhängig von der radikalen Trennung von Selbstreferenz und Fremdreferenz, wie sie bei einer diskurskritischen Darstellung der metarecits einer spezifischen Epoche notwendig ist, kann Systemreferenz aber nicht beobachtet werden. Denn Systemreferenz ist nämlich an sich wiederum systemeigene Referenz und operiert ihrerseits nicht anders als mit Selbst- und Fremdzuschreibungen. Die Einheit einer solchen Unterscheidung wird allerdings blind durch operative Verfahren verwendet, und zwar als Bedingung der Möglichkeit, mit ihrer Hilfe etwas zu beobachten und zu bezeichnen. Eine so gestaltete Beschreibung des Systems muß paradoxerweise im System selbst geschehen, d.h. Beschreibungen müssen sich selbst mitbeschreiben können. Es stellt sich dann die Frage, wie die Diskurse eigentlich generiert werden bzw. sich selbst generieren. Finden sich Selbstbeobachtungsmechanismen, die bereits das Beobachten beobachten? Damit sind die ideologieträchtigen und homogen anmutenden Diskurse der 30er Jahre erläuterungsbedürftig geworden und harren einer adäquaten strukturellen Beschreibung. Eine Deskription dieser Art kann an dieser Stelle jedoch nur in begrenztem Ausmaß geleistet werden, ihr Schwerpunkt soll auf der Untersuchung relevanter literarischer Texte liegen.
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Metaerzählungen der frankokanadischen
30er Jahre
Systemtheoretisch gesehen, bilden die metarecits in modernen funktional differenzierten Gesellschaften „Gesichtspunkte der sachlichen Identifikation von Erwartungszusammenhängen" aus und können als Programme und Werte verstanden werden.1 Sie übersteigen normative, moralorientierte Regeln, mit der ältere Gesellschaftsformen noch operierten und die in der frankokanadischen Realität zu Beginn unseres Jahrhunderts eine noch maßgebliche Rolle einnahmen. Der Paradigmenwechsel von der segmentären und stratifikatorischen zur funktional ausdifferenzierten Gesellschaftssystemierung kündigte sich in den frankokanadischen 30er Jahren - mit einiger Verzögerung - an. „Diese Innovation revolutioniert dann den Gesamtaufbau der Identifikation von Erwartungszusammenhängen: [...] Das rein Wertmäßige kann herausgezogen und in Differenz zu Programmanforderungen stärker ideologisiert werden." 2 Ein Programm ist nach Luhmann „ein Komplex von Bedingungen der Richtigkeit (und das heißt: der sozialen Abnehmbarkeit) des Verhaltens. Die Programmebene verselbständigt sich, [...] wenn [...] das Verhalten von mehr als einer Person geregelt werden muß."3 Werte hingegen sind „allgemeine, einzeln symbolisierte Gesichtspunkte des Vorziehens von Zuständen und Ereignissen."4 Damit sollen für die Beobachtung von Metaerzählungen nur einige theoretische Perspektiven gegeben sein, mit denen wir uns vorerst begnügen wollen. Eine genauere Beschreibung der einzelnen sozialen Funktionssysteme der Epoche wird weiter unten durchgeführt. In diesem Zusammenhang sei aber auch auf andere Ideologieträger wie Praxis oder Bewußtsein verwiesen. Was nun die thematische Auffaltung der Metaerzählungen betrifft, so wurden sie - wie erwähnt - auf der Basis von repräsentativen Zeitungen und Zeitschriften ausgewählt, die für die ideologischen Hauptströmungen genügend Aussagekraft besitzen und eines Mindestmaßes an Einflußvermögen auf die zeitgenössische Leserschaft nicht entbehren. Tendenziell könnte man diese Erzählungen einer orthodoxen und einer heterodoxen Geistesströmung zuordnen. Die nachstehenden Tabellen zeigen die ideologischen Differenzierungsmodelle und deren Isotopien, wobei deutlich wird, wie sehr das segmentär-stratifikatorische Muster mit orthodox-nationalistischen Argumentationslinien verknüpft ist und in welchem Ausmaß der funktionalistische Bereich sich über weiter ausholende Ideologeme definiert. Auf der einen Seite dominiert die axiologische Verschmelzung von Sprache, Religion und Nationalismus, auf der anderen werden diese Elemente auseinandergezogen und an internationale Parameter angeschlossen.
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Luhmann (1984a: 429). „Erst Erwartungen, die durch solche Identitäten gebündelt werden, können mehr oder weniger normiert werden je nachdem, wie eine etwaige Enttäuschung behandelt wird." Luhmann (1984a: 429). Luhmann (1984a: 435). Luhmann (1984a: 432f.). „Da sich alles Handeln unter positive und unter negative Wertgesichtspunkte bringen läßt, folgt aus der Wertung nichts für die Richtigkeit des Handelns." Luhmann (1984a: 433).
Metaerzählungen der frankokanadischen 30er Jahre
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Gesellschaftsbild mit segmentär-stratifikatorischer Funktionsdifferenzierung sowie mit gleichzeitiger Verschmelzung von Sprache, Religion und Nationalismus
Gesellschaftsbild mit funktionaler Ausdifferenzierung von Sprache, Religion und Nationalismus
Markante positive Isotopien: Rurale Welt Wirtschaftliche Autarkie Familie Ständegesellschaft Personalismus Enzyklika Antiintellektualismus Caritas als Modus der Liebe
Markante positive Isotopien: Urbane Welt Wirtschaftlicher Liberalismus Freiheit Fortschritt Heterodoxie Intellektualisierung Diskussion Eros als Form der Liebe Erfolg
Medien: L'Action nationale Jeune-Canada-Gmppe L'Ecole Sociale Populaire La Releve
Medien: Les Idees Le Jour
Aus anderer Perspektive betrachtet mögen die positiven und negativen Konnotierungen der ideologischen Grenzziehungen zwischen der orthodox-nationalistischen und der (nationalistisch-)liberalistischen Metaerzählung nochmals in taxonomischer Auflistung miteinander konfrontiert werden.5 Katholizismus Französisch Nationale Unabhängigkeit Frankokanadier/Franzosen Rurale Welt Rodung und Ackerbau Großfamilie Autarkie Korporatismus/Personalismus Zensur in Film und Theater Agrikulturistische, regionalistische oder universale Romanliteratur
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Christentum/Atheismus Französisch/Englisch bzw. andere Sprachen Föderalismus Frankokanadier/Franzosen/Angelsachsen Urbane Welt Moderne Landwirtschaft/Industrialisierung Kleinfamilie bzw. Single Marktwirtschaft/Konsum Liberalismus Freiheit in Film und Theater Universale Romanliteratur
Die beiden Extreme faßt Desmarchais (1941: IS) folgendermaßen zusammen: „Queis sont les reves, les ambitions des Canadiens-fran9ais? Les uns pi&endent que nous r6ussirons l'hdgimonie du Canada entier, d'autres ne reculent pas devant l'idde de conqudrir les Etats-Unis. Certains de nos compatriotes, tombant dans I'excfes oppos6, assurent que la seule solution raisonnable, c'est de nous angliciser ä outrance, de nous transformer en Anglais ou en Am€ricains. Entre ces reves, si grands qu'ils en deviennent inconsistants et cette abdication sans honneur, ce suicide, il existe des solutions moyennes."
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30er Jahre
1. Die orthodox-nationalistische Metaerzählung und ihre Medien
Der Inbegriff einer traditionell ausgerichteten Gesellschaftsbeschreibung findet sich in der Monatszeitschrift L'Action nationale, die aus dem Geiste des heute umstrittenen Nationalmystikers Lionel Groulx 6 hervorgegangen ist und die auch dessen Auffassungen zur Kreation eines frankokanadischen, laurentinischen Nationalstaates durch die Krisenzeit der 30er Jahre hindurch perpetuierte. Das Magazin, das im Winter 1932/33 als nationalistisch orientiertes Projekt ins Leben gerufen und zum ersten Mal im Januar 1933 publiziert wurde, stand ganz im Zeichen seiner ideologisch verwandten qu6b6cischen Vorläuferin L'Action frangaise, welche vom Historiker Groulx eine lebhafte ideelle Unterstützung erhalten hatte. Parallel zur Action frangaise und im Anschluß an die ideologischen Vorgaben der christlich-sozialen und thomistisch orientierten Enzyklika Rerum novarum von Papst Leo ΧΙΠ. aus dem Jahre 1891 war in der Hauptstadt Quöbec schon 1907 eine Tageszeitung mit dem aussagekräftigen Titel L'Action catholique entstanden, die dem Erzbistum Qudbec unterstellt war und vor allem bei der Landbevölkerung eine interessierte Leserschaft fand. Insbesondere während der Krisendekade erlebte dieses Qu6becer Tagblatt einen Höhepunkt und wurde längere Zeit hindurch sogar zur auflagenstärksten Zeitung des Landes. L'Action catholique enthielt bereits sämtliche Ingredienzien eines orthodox-traditionellen Nationalismus, wie er später von L'Action nationale vertreten werden sollte, und diente mehr oder minder als Sprachrohr für die Verbreitung religiöser Schriften, von Enzykliken und Pastoralbriefen. 7 Einschlägige Themen wie Familie, Erziehung, Politik oder Wirtschaft bestimmten den norm- und wertgenerierenden Argumentationsduktus und verstärkten das offizielle Diskursschema, wie es auch im folgenden zum Ausdruck kommen wird. Als journalistisches Pendant gründete Henri Bourassa 1910 das in Monträal erscheinende Tagblatt Le Devoir, das sich als Plattform der nationalistischen Bewegung erhalten konnte und seiner Aura bis heute nicht verlustig ging. Schon sehr frühzeitig hatte es sich auf die Fahnen geschrieben, eine fähige Führungsschicht aus dem mittleren und höheren Bürgertum, aus dem Klerus und den liberalen Berufen heranzubilden, um der Provinz in dieser Form eine tragfähige Integrationskraft zu verschaffen. Erst in einer kürzlich veröffentlichten historischen Selbstdarstellung würdigte die Redaktion ihre Zeitung als Spiegel des 20. Jahrhunderts und leistete ein großes Stück Vergangenheitsbewältigung, in der sie sehr kritisch mit den weltanschaulichen Tendenzen des eigenen Blattes während der 30er Jahre umging: „Ä son pire, durant les ann6es trente [...], il aura ete aussi un rejet de l'etranger, une Xenophobie manifeste, une meflance ou une tiedeur envers les combats pour la libert6 en Europe, parfois meme un rejet des pers6cut6s, et presque une volonte d'ignorance." 8 Dem Meister Groulx schien die Zeitung jedoch nicht nationalistisch genug. Seiner Meinung nach habe sie wäh-
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Lionel Groulx (1878-1967) war als Vertreter einer nationalen Mystik bekannt geworden, mit der er Generationen von jungen Frankokanadiem zu beeinflussen vermochte. Er leitete von 1920 bis 1928 die Zeitschrift L'Action franfaise und hatte von 1915 bis 1949 den ersten Lehrstuhl für kanadische Geschichte an der Universit6 Laval ä Montreal inne. Während der 30er Jahre fanden seine doktrinären Ideen eine besonders starke Resonanz. ^'Action nationale, qui vient de naitre, veut porter son tribut d'hommage au grand quotidien de Quibec [...]. A plusieurs reprises, les derniers Papes avaient insistd sur la nicessitd d'une Presse catholique." Perrier (1933: 85). Lahaise (1994: 10).
Die orthodox-nationalistische
Metaerzählung
und ihre Medien
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rend der 30er Jahre stark an Argumentationskraft eingebüßt und an ideologischer Wirksamkeit verloren.9 Darüber hinaus wurde 1911 unter der Leitung des Jesuitenpaters Joseph Papin-Archambault eine Institution ins Leben gerufen, die zur Verbreitung der christlichen Soziallehre dienen und im Sinne der Rerum novarum den aufkommenden freien Arbeitergewerkschaften einen konfessionell organisierten Widerpart liefern sollte: L'Ecole socialepopulaire. Zu aktuellen Problemen wurden Seminare und Reflexionsgruppen organisiert, deren geistige Ergebnisse sich in einer monatlichen themenzentrierten Publikation niederschlugen und bei der frankokanadischen Bevölkerung im allgemeinen ein großes Echo fanden. Eines der Hauptziele der Institution bestand in der Schulung von Priestern, damit diese in ihren Gemeinden neben den seelsorgerischen Aktivitäten auch die Rolle von Gewerkschaftsführern übernehmen konnten. Aus diesem Gedanken entwickelte sich die mächtige katholische Gewerkschaft, die Confederation des Travailleurs Catholiques du Canada (CTCC), die im Jahre 1931 bereits mit 121 Lokalen im öffentlichen Leben vertreten war und 25000 Mitglieder zählte.10 Ab 1931 häuften sich in den Monatsheften der Ecole sociale populaire überaus engagierte Beiträge gegen den Kommunismus. Im März desselben Jahres veröffentlichte die Institution einen wenig schmeichelhaften Band über das sowjetische Rußland, der mit einem päpstlichen Brief als Einleitung und mit zahlreichen Daten, Fakten und Dokumenten versehen war," im April erschien eine gut dokumentierte Doppelnummer Manuel antibolchivique, in der die theoretischen Grundannahmen des sowjetischen Modells explizit gemacht und in negativer Denotation vor dem Hintergrund des christlichen Gesellschaftsmodells abgehandelt wurden. Das Redaktionskomitee zeigte sich darin kämpferisch und denigrierte die marxistischleninistische Doktrin aufs schärfste. Zwischen den Artikeln stößt der Leser auf eine Aufzählung von Titeln agitatorischer Werbeplakate, die als zweisprachige und illustrierte Propaganda mit Mengenrabatt zum Verkauf angeboten wurden.12 Ein Jahr später folgte ein antikommunistisches Heft, das bereits in seinem Übersichtsplan folgende dogmatische Einteilung vornimmt: „Le communisme est: a) injuste b) antisocial c) antifamilial d) antireligieux."13 Während des gesamten Dezenniums kamen die bolschewistischen Tendenzen unter das Kreuzfeuer der klerikalen Kritik, antikommunistische Tage wurden gefeiert, in einschlägigen Seminaren wurden die politischen Themen ausgiebig diskutiert. Schließlich unterstützte man noch im Jahre 1939 den von der konservativen Regierung durchgeführten Gesetzesbeschluß zum Verbot kommunistischer Aktivitäten in Quebec, die berühmte loi du cadenas. Ein Re-
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„Vers 1930,I'icole (nationaliste) a presque fini de se disperser. Par son itrange evolution d'esprit, Bourassa ddconcerte ses meilleurs amis. [...] Le vide se fait autour du chef; le Devoir perd sa vitality." Groulx (1972/ΠΙ: 183). Vgl. dazu auch Dandurand (1978: 49) und Gingras (1985). Dickinson/Young ( 2 1993: 222). Vgl. Ecole sociale populaire (1931a). Am Ende der Broschüre findet sich ein unmißverständlicher Propagandaaufruf der Redaktion zur Verteidigung des Christentums: „Contre le Bolch6visme. Le Bolch6visme nous menace. Π faut le montrer sous son vrai visage et empecher qu'il ne s'impose par le mensonge. Aideznous dans notre Campagne. Tracts, dessins, affiches, brochures, conferences." Ecole sociale populaire (mars 1931: 32). .Affiches anticommunistes: 1. Le Communisme c'est le feu et le sang; 2. Le Bolchivisme d6vore la Russie; 3. Le Travail du dimanche conduit l'ouvrier au communisme; 4. Le Paysan russe dans l'6tau communiste; 5. La Liberie en Russie, c'est l'esclavage; 6. L'CEuvre libiratrice de Karl Marx! 7. La Russie se jette ä l'abime; 8. Toi me gu6rir! Toi qui as tud la Russie!" Ecole sociale populaire (1931: 25). Ecole sociale populaire (1932: 2).
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dakteur einer anderen Zeitschrift, Edouard Laurent iL'Action catholique), untersuchte die Lage des Kommunismus in Quebec, ein weiterer Beitrag nahm die antikommunistischen Gesetzesbeschlüsse in anderen Ländern etwas genauer unter die Lupe.14 Nirgendwo kommt das diskursive Repertoire des orthodox-nationalistischen Argumentationszusammenhanges so deutlich zum Ausdruck wie in den Broschüren der Ecole sociale populaire. In didaktisch ausgeklügelten Darstellungen, wie es den jesuitischen Publikationen im allgemeinen entspricht, beschränken sich die Beiträge allerdings nicht nur auf die Ausprägungen der kommunistischen Gesellschaftsform. Es geht den Vertretern dieser Richtung vor allem darum, die eigenen christlichen Werte und deren politische Umsetzung vor dem dunklen Hintergrund der denigrierten Sozialform um so brillanter in Erscheinung treten zu lassen. Neben L'Action catholique und der Ecole sociale populaire sei noch eine stark aktionistische Jugendgruppe erwähnt, die mit verwandten Selbst- und Fremdbeschreibungsmodellen operierte und auf axiologischer Ebene ähnliche Isotopien entwickelte: die Jeune-CanadaBewegung. Berühmtheit erlangte die Gruppe unmittelbar nach ihrer offiziellen Gründung im Dezember 1932 durch ihre massive Öffentlichkeitsarbeit, die von jugendlichem Enthusiasmus und einer klar definierten nous- und e («-Abgrenzung gekennzeichnet war. In drei großen Vortragsreihen wurden die Probleme der Provinz von namhaften Intellektuellen des frankokanadischen Establishments, wie Edouard Montpetit oder Esdras Minville, beleuchtet und diskutiert, woraus die ephemeren Publikationen Les Cahiers des Jeune-Canada entstanden. Die Mitarbeiter schrieben sich hinsichtlich ihrer weltanschaulichen Identität großflächig in das von L'Action nationale vertretene Symbolgefüge ein, fokalisierten ihre Gegner jedoch wesentlich schärfer und genauer. Ihr Kampf richtete sich gegen die als überkommen erachtete liberale Demokratie und deren Vertreter im öffentlichen Leben, gegen die - vorrangig liberalen - Politiker, alle Antinationalisten im weiteren Sinne wie auch gegen die jüdische Bevölkerung. Dabei nährten sie sich gerne aus dem geistigen Fundus des Meisters Lionel Groulx und scheuten auch nicht davor zurück, dessen nationalistisch konzipierte Rassegedanken bis an die Grenzen der Belastbarkeit auszuschlachten. „Le Canada franfais n'a pas ete peuple par des aventuriers, des emigrants de qualite douteuse ou des formats, comme l'Australie, les Etats-Unis, voire meme le Canada anglais."15 In einer solchen Selbstbeschreibung ex negativo verlaufen die axiologischen Isotopen an den Grenzlinien der französischen Sprache und der katholischen Religion und lassen die frankokanadische Bevölkerung geradezu als auserwähltes Volk in reinstem Lichte erstehen. Ein renommiertes Mitglied der JeuneCanada, Pierre Dansereau, versuchte sich in der Definition einer gruppenspezifischen Doktrin, die sich aber ebenso über die negative Schiene entwickelte und daher eher ausdrückte, was die Gruppe nicht war, als das Gegenteil. Les Jeune-Canada sont une association de jeunes gens qui se consacrent aux intdrets nationaux et catholiques. La religion catholique est notre religion traditionnelle. C'est eile aussi qui nous dicte notre doctrine sociale; nous ne sommes ni democrates, ni monarchistes, ni communistes, ni meme national-socialistes; nous sommes catholiques. Ce que nous voulons en meme temps que la prospirite de la race canadiennefranfaise, c'est qu'elle continue de pratiquer la foi qui a fait la grandeur de ses ancetres.' 6
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Laurent (1939) bzw. Ecole sociale populaire (1939). Dumas (1934: 14f.). Dansereau (1933a: 13). An anderer Stelle beschreibt derselbe Autor die Jeune-Canada als lose und inkohärente Gruppierung, die sich auf der Suche nach einem Betätigungsfeld befand: „Nous 6tions peut-etre douze ou quinze, de tendances trfcs diverses, pour la plupart itudiants, appartenant ä diffdrentes facultis de l'Universite de Montreal. De doctrine precise, sauf les principes g6n6raux elabores dans notre manifeste -
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So harrte man der nächstbesten Möglichkeit eines pronationalistischen Einsatzes. Die Gelegenheit dazu ließ nicht lange auf sich warten. Beim Aufbau ihres gruppenspezifischen Aktionsradius konnten die jungen katholischen Nationalisten nicht umhin, sich kontraproduktiv in die aktuell gewordenen jüdischen Protestkundgebungen gegen die antisemitische Deutschlandpolitik einzumischen. Man zeigte sich empört darüber, daß kanadische Politiker am 6. April 1933 an einer solchen Versammlung in Montreal beifällig teilgenommen hätten, und veranstaltete daraufhin am 20. April in der Salle du Gesü eine frankokanadische Aufklärungskampagne, die nach Aussage der Leitung von großem Erfolg gekrönt gewesen war. Die dort gehaltenen Reden wurden in der ersten Nummer der Cahiers veröffentlicht und zeigen den virulenten antisemitischen Ton der Gruppe. Pierre Dansereau spricht darin in abfälliger Weise vom jüdischen Einfluß auf die kanadische Bevölkerung. Ihm zufolge sei es nicht angebracht, die Protestkundgebungen der Juden auf offizieller Seite zu unterstützen: „[...] ils n'ont pas craint d'engager la parole [...] de tout le Canada dans un vote de dol6ances auprfes des autarkes allemandes qui font du tort ä la ploutocratie juive. C'est done que l'616ment juif reprösente, au Canada, une puissance plus forte que la voix du sang?" 17 In Argumentation und Rhetorik unterscheiden sich diese Aussagen wenig von deutschem antisemitischen Propagandamaterial und hinterlassen den Eindruck, als liege ein hoher Grad an ideologischer Verständnisinnigkeit zwischen dem deutschen und qu6becischen Diskurssystem vor. Gilbert Manseau stellt in seinem Beitrag die Frage, ob die Juden überhaupt eine (anerkannte) Minderheit in Kanada ausmachten und ob sie eine bevorzugte Behandlung verdienten. Beides verneint er im weiteren Verlauf des Artikels, da das Judentum mit dem Christentum unvereinbar sei. Dies schlage sich im alltäglichen konfliktuellen Panorama der Stadt Montrdal nieder: „[...] une seule chose a pu leur rendre la vie insupportable, c'est le caractöre public que revet ici la religion et le culte chr6tien. De tous temps, lä oü il y a des Juifs, ces Juifs ont cherchö ä detruire ce caractöre; [...]."18 Pierre Dagenais hingegen bringt das Judentum mit dem Kommunismus in Verbindung und fragt sich, ob die jüdische Immigration in Kanada nicht mehr Schaden als Gewinn für die Einheimischen bringen würde. Dabei tritt das in den Augen eines katholischen Nationalisten so unheilvolle Stereotyp des entwurzelten und nomadischen Juden in den Vordergrund. „Ignorant de ce que peut etre un attachement ä un sol natal, parce qu'il n'en a jamais eu, le peuple juif, qui a de ses representants dans tous les pays, professe malgr6 Iui un esprit international. C'est cet esprit juif international qui est n6faste [...]."" Die Angst, im modernen Wirtschaftsprozeß nicht nur von den Anglophonen, sondern auch von den Juden verdrängt zu werden, drückt Ren6 Monettes Artikel über die Differenzen zwischen dem jüdischen und dem frankokanadischen Handelswesen aus. Der Frankokanadier habe sich umzustellen, müsse seinen Egoismus aufgeben und in patriotischer Gesinnung die Zusammenarbeit mit seinen Landsleuten forcieren. Ansonsten wäre ein Konkurrenzverhältnis zum „unlauter agierenden" Juden keineswegs denkbar. „Un esprit d'economie qui va jusqu'ä la frugalitd, une pers6v6rance dans le travail que rien ne rebute, une servilit6 qui ne recule devant aueun abaissement extdrieur font du Juif le plus redoutable concurrent qui soit dans l'6conomie mondiale." 20
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nous n'en avions gufere. [...] Nous attendions une occasion d'entrer activement dans la vie." DanseFeau (1933b: 273). Dansereau (1933a: 10). Manseau (1933: 21). Dagenais (1933: 31). Monette (1933: 46).
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Andr6 Laurendeau, der zukünftige Herausgeber von L'Action nationale, greift das Problem der jüdischen Protestveranstaltung vom 6. April nochmals auf und gibt zu bedenken, daß die üblen Nachrichten aus Deutschland auch einer jüdisch dominierten, internationalen Pressemaschinerie entsprungen sein könnten. „Les Juifs ont convoqu6, au commencement d'avril, une assemble pour protester contre les pr&endues persöcutions d'Hitler contre leurs cong6nferes. Je dis ,pr6tendues\ parce que des atrocit6s qu'on rapporte, rien n'est absolument prouv6."21 Somit weisen die ersten Nummern der Cahiers des Jeune-Canada einen hohen Grad an Antisemitismus auf, der den europäischen Leser wahrscheinlich zu überraschen vermag. Wirft man einen Blick auf das soziale Klima der Universit6 de Montr6al, aus dem die Jeune-Canada-Gruppe hervorging, wird auch der Hintergrund dieser Aussagen klarer. Die frankophone Universität betrachtete sich als streng katholische Institution, die nach der kanonischen Vorgabe der Vatikanischen Doktrin von ihrem Hörerpublikum ein täglich praktiziertes Glaubensbekenntnis forderte und daher weit weniger jüdische Studierende anzog als die angloprotestantische Rivalin McGill. Darüber hinaus schienen sich die jüdischen Hörer in der englischen Sprache wohler zu fühlen als in der französischen. Das Verhältnis lag in dieser Zeit etwa bei 5% Hörem jüdischer Abstammung in der neu errichteten Universite de Montreal und 25% Hörern in der anglophonen Universität McGill.22 Als es in den frühen 30er Jahren zu öffentlichen Debatten23 um die jüdischen Beteiligungen an den frankokanadischen Ausbildungsstätten kam, machte sich an der katholischen Universität unter der Hörerschaft der dezidierte Wunsch nach Ausgrenzung der jüdischen Kollegen bemerkbar. Es ist daher nicht überraschend, daß sich diese Bestrebungen in den Aktivitäten und Diskursen der JeuneCanada-Bewegung am deutlichsten niederschlugen. Frankokanadischen Kritikern zufolge hätte die engagierte Gruppierung jedoch - von einigen Ausnahmen abgesehen - seltener den Grad an Polemik erreicht als größtenteils exogene, d.h. vor allem an Deutschland orientierte Blätter wie Vivre, Cahiers noirs, Independance und La Nation,24 Wie sehr nun welcher Argumentationstypus dem Faschismus zugerechnet wird bzw. wie sehr in dieser Frage Abwehrmechanismen in Gang kommen, hängt sehr stark vom systemischen Erwartungszusammenhang ab. Auch den qu6b6cischen Historikern der neueren Zeit scheinen endogene Ideologemkonstruktionen nicht unter Faschismus subsumierbar zu sein. Eigene, auf die historische Selbstbefreiungsbewegung zurückgehende Nationalismusargumentationen unterliegen somit einem Rechtfertigungsschema, das als faschistisch zu kritisieren oder zu entwürdigen offensichtlich sträflich wäre. Dies sollte den Leser nicht überraschen, gehören doch zahlreiche Intellektuelle, insbesondere Historiker oder Soziologen wie
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Laurendeau (1933: 55f.). Anetil (1992: 145). „[...] Jewish students could hardly be comfortable in an institution where most of the teachers and administrators were priests, where crucifixes were common in the classrooms, and where prayers before instruction were a daily habit in certain faculties." Anctil (1992: 145). Einen Höhepunkt in den hitzigen Auseinandersetzungen von 1934 lieferte die Aussage eines konservativen Abgeordneten im Unterhaus, deren Wortlaut von Adrien Arcands nationalsozialistischem Blatt Le Patriote in einem mit Hakenkreuz versehenem Pamphlet La Griffe rouge sur l'Universite de Montreal wiedergegeben wurde: „Si vous l'aimez tant que cela, notre race, allez done epurer l'Universiti de Montr6al de son ilement rouge qui la domine, de la juiverie qui y contamine notre jeunesse, des professeurs athees qui y forment nos jeunes gens." Arcand (1934: 9). Vgl. etwa Comeau (1978).
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Andr6-J. B61anger oder Fernand Dumont,25 auch heute noch der nie enden wollenden Unabhängigkeitsbewegung an und würden sich mit einer solchen Darstellung - zumindest in Ansätzen - der eigenen Argumentationsgrundlage begeben. Sogar die höchst aufschlußreiche und gut dokumentierte Studie zum Antisemitismusproblem in Frankokanada von Pierre Anetil, Professor für Jewish Studies und Leiter des McGill French Canada Studies Program, schwächt den Montröaler Antisemitismus der 20er und 30er Jahre insofern ab, als der Autor objektiv darzustellen versucht, wie sehr die jüdische Bevölkerung den nationalistischen Aspirationen der Provinz im Wege stand. Demnach hätten die Juden sowohl den Refranzösisierungsprozeß als auch den angestrebten ökonomischen Aufschwung der Frankokanadier blokkiert und wären darüber hinaus gegen die allgemein erwünschte Einschränkung der Immigration aufgetreten. 26 Die gemäßigte Haltung dem endogenen Argumentationsschema gegenüber erklärt auch die heftige Polemik, die kürzlich in den qu£b6cischen Medien27 durch die umstrittene Dissertation von Esther Deslisle Le traitre et le juif8 vom Zaune gebrochen wurde, zumal sie dieses endogen nationalistische Substrat des Antisemitismus bezichtigte und es mit den faschistischen Bewegungen Europas in engen Zusammenhang brachte. Wesentlich anders verläuft die Argumentation, wenn es um geistige Direktimporte des faschistischen Ideenguts - was immer man darunter verstehen mag - aus dem Ausland geht, die dadurch auch auf offizieller Ebene in eine schiefe Optik rücken. So stützt man sich etwa in der modernen Historiographie Quebecs nach wie vor auf solche Unterscheidungen und Bezeichnungen. Daraus folgt die oben erwähnte und offizielle explizite Zurechnung der vier Zeitschriften Vivre, Cahiers noirs, Independance und La Nation zum faschistoiden Denksystem, während L'Action nationale, die Jeune-Canada-Bewegung oder die Ecole sociale populaire trotz ihrer polemischen Parolen sowie ihrer oft virulent antisemitischen Sprache unter dem Prädikat eines Nationalismus im üblichen Stil gehandelt werden.29
1.1. L 'Action
nationale
1.1.1. Programmatik Wir wollen uns im folgenden dem orthodoxen Blatt L'Action nationale eingehender zuwenden und die Komponenten der darin divulgierten Metaerzählung für die betreffende Zeit25
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Zum evidenten Antisemitismus der Jeune-Canada-Bewegung äußert sich Fortin (1978: 220) in nicht minder verhüllender Rhetorik: „Done, il ne s'agit pas pour les JC de racisme, mais d'un vague antisdmitisme, ou plutöt d'une peur reelle de la puissance 6conomique et idiologique juive dans le milieu national canadien-franfais." Vgl. Anetil (1992: 156). Vgl. Chartrand (1997) sowie L'Actualite (15. Juni 1991). Delisle (1992). Delisle veröffentlichte geheime Aufzeichnungen eines jungen wegen nationalsozialistischer Propaganda in den USA festgenommenen Studenten namens Tardif, dessen Aufzeichnungen das bis heute wirkende Charisma des Nationalmystikers Lionel Groulx schwer in Mißkredit brachten. Vgl. Bilanger (1974). „Les deux [L'Action nationale und Jeune-Canada] paitagent les memes aspirations de base et, mises ä part des distinctions d'accent et de ton, elles occupent une aire iddologique commune. D ne serait pas possible d'en dire autant, par exemple, de la tradition plus fascisante de Vivre, des Cahiers noirs, de Independance et de la Nation, qui puisent parfois ä des sources exogenes au nationalisme des premiferes heures sans pour autant le Heuser du moins dans ses axes principaux." B61anger (1974: 256).
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Metaerzählungen der frankokanadischen 30er Jahre
spanne im einzelnen nachvollziehen.30 Auf dem Titelblatt der ersten Nummer von Januar 1933 prangte der Name Harry Bernards,31 der die Leitung der Monatszeitschrift übernommen hatte und für die programmatische Einführung verantwortlich zeichnete. Dem informierten Leser war der erste Herausgeber von L'Action nationale zweifelsohne ein Begriff, denn Bernard eilte zu dieser Zeit bereits der Ruf eines bekannten regionalistischen Schriftstellers und Essayisten voraus, von dessen Romanen im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch die Rede sein wird. Theoretische Vorbildung zum Thema Regionalismus brachte der neue Chefredakteur ebenso mit, zumal er an der Universität Montrial bereits 1921 eine Dissertation mit dem einschlägigen Thema Le roman regionaliste aux Etats-Unis32 verfaßt hatte, die auf seine Neigungen schließen ließen. So nimmt es nicht wunder, wenn seine Einführung bereits zahlreiche Aspekte der doxa auf einen gemeinsamen Nenner brachte: „La revue que nous lan9ons aujourd'hui n'a gufcre besoin de Präsentation. Son programme est connu. II est simple. II se resume en deux mots: catholique et canadien-fran9ais."33 Die einleitenden Worte der Zeitschrift weisen auf den axiologischen Kern des Vordenkers Lionel Groulx hin, an dessen ideologisches Programm das neue Magazin implizit anzuschließen beabsichtigt. Auf einfache und verständliche Weise - fast exemplarisch anmutend - sollen die großen zeitgenössischen Fragen dieser Provinz wie dieser Welt dem naiven Leser nähergebracht werden, was das ausgeprägt didaktische, beinahe missionarische Selbstverständnis der qu6b6cischen Intelligentsia zu erkennen gibt. Wie agglutierend die Funktionssysteme der Gesellschaft der frankophonen Provinz dabei gedacht werden sollen, darüber legt die auf einen semantisch beladenen microrecit zusammengefaßte Präambel ein beredtes Zeugnis ab. Katholisch und frankokanadisch möge das Blatt ausgerichtet sein. In dieser Aussage verschmelzen vorerst drei Funktionssysteme, das religiöse, das politische und das sprachliche, das in protestantischen Gefilden etwa dem allseits bekannten WASP (White Anglo-Saxon Protestant) entsprechen würde. Nur daß letzteres sich über Wirtschaft einer Art Globalität verschrieben hat, auf die der regionalistisch ausgerichtete, „holzschnittartig" konstruierte Zeitgeist Quebecs eben heftig reagiert. Bei der Verschmelzung der drei Funktionssysteme sollte es allerdings nicht bleiben. In weiterer Folge erfährt der Leser der nationalen Aktion, daß ihn noch weitere Agglutinierungsprozesse erwarten: „[...] qu'elle [L'Action nationale] mettra au premier rang de ses preoccupations le catholicisme au Canada fran?ais et les rapports intimes du catholicisme avec la vie sociale, politique, economique, artistique et litteraire, voire scientifique, de notre pays."34 30
Eine Beschreibung der Gesamtentwicklung der Zeitschrift über die Dauer von siebenunddreißig Jahren wurde von Fortin (1956) erstellt. Darin versuchte der Autor, die interne Dynamik von L'Action nationale vor dem Hintergrund der sozialen Entwicklung der Provinz Quebec, angesichts dessen Industrialisierung und Urbanisierung zu erfassen und in vier Unterkategorien einer genauen Analyse zuzuführen. Methodisch erwartete der Autor sich von einem dynamischeren Zugang der Ideologieanalyse ein größeres Erkenntnispotential, das in dieser Form am besten von Langzeituntersuchungen geleistet werden kann: ,,L'analyse statique se situe toujours dans un contexte a-temporel ou a-situationnel. Elle ne peut done saisir la dialectique constante entre les modifications de la situation et les ajustements de l'idiologie. Ces ajustements se traduisent ordinairement par un changement de l'accent placi sur les differents elements." Fortin (1963: 224).
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Der Schriftsteller und Journalist Harry Bernard (1898-1979) wurde in London geboren und verbrachte seine Kindheit in Frankreich. Seine Person steht nicht nur in enger Verbindung zu L'Action nationale, sondern auch zum Courrier de Saint-Hyacinthe, dem er von 1923 bis 1970 als Herausgeber und Chefredakteur angehörte. Bernard (1949). Bernard (1933a: 3). Bernard (1933a: 3).
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Die orthodox-nationalistische
Metaerzählung und ihre Medien
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Auf die eigene Geschichte des Volkes und daher auf die fragile Situation des Französischen als Gründersprache auf dem amerikanischen Kontinent zurückgreifend, versteht sich das Magazin als sprachlich - und nicht zuletzt auch als politisch - integrativ. Damit rückt auch die erwähnte missionarische Vokation in den Vordergrund, den die Provinz Quöbec gleichsam als kultureller Katalysator für sich in Anspruch zu nehmen pflegt, um über das spezifische Kommunikationsmedium der französischen Sprache sämtliche Sozialsysteme mitanzusprechen. Elle [L'Action nationale] s'occupera, il va sans dire, de tout ce qui interesse notre originalite ethnique et l'avenir de notre peuple. Elle mettra au premier plan le respect des droits constitutionnels des nötres et d6fendra inergiquement, dans tous les milieux, la langue fran