Der epistemische Wert von Wissen aus zweiter Hand [1. ed.] 9783957433084, 9783969753088


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Der epistemische Wert von Wissen aus zweiter Hand
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Inhalt
Vorwort
Einleitung
1 Abgrenzung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand
1.1 Stand der gegenwärtigen Diskussion
1.1.1 Verwendung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand in der Wissenschaft
1.1.2 Verwendung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand in der Philosophie
1.2 Möglichkeiten der Bestimmung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand
1.2.1 Der enge Begriff des Wissens aus zweiter Hand und seine Abgrenzung von testimonialem Wissen
1.2.2 Wissen aus zweiter Hand: begriffliches Spannungsfeld
1.3 Der weite Begriff des Wissens aus zweiter Hand
1.3.1 Wissen aus zweiter Hand als polarer Gegenbegriff zu Wissen aus erster Hand und als gradueller Begriff
1.3.2 Der weite Begriff von Wissen aus zweiter Hand und testimoniales Wissen
1.3.3 Der weite Begriff von Wissen aus zweiter Hand und Wissen durch Beschreibung
1.4 Zusammenfassung: was für einen weiten Begriff von Wissen aus zweiter Hand spricht
2 Funktion des weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand
2.1 Nichtbesitz der domänenspezifischen Evidenz und epistemische Abhängigkeit von der Sprecherin
2.1.1 Fehlende domänenspezifische Evidenz
2.1.2 Epistemische Abhängigkeit
2.1.3 Domänenspezifische Evidenz als Relation zwischen dem epistemischen Standort einer Person und einer Aussage
2.1.4 Abweichender epistemischer Standort
2.1.5 Epistemische Abhängigkeit nach dem evidentiellen Modell
2.2 Domänenspezifische Evidenz, die zur Rechtfertigung von Wissen aus zweiter Hand herangezogen wird
2.2.1 Zulässigkeit der Verwendung von domänenspezifischer Evidenz im Falle von Wissen aus zweiter Hand
2.2.2 Die Nutzung domänenspezifischen Wissens zur Evaluation des epistemischen Standorts der Sprecherin
2.2.3 Die Möglichkeit des Erwerbs von Wissen aus erster Hand durch domänenspezifische Evidenz aus zweiter Hand
2.2.4 Die Präemptionsthese
2.3 Die Form, in der domänenspezifische Evidenz vorliegt
2.3.1 Mögliche Unterscheidungskriterien zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand
2.3.2 Argumente für die propositionale Charakterisierung der domänenspezifischen Evidenz
2.3.3 Argumente gegen die propositionale Charakterisierung der domänenspezifischen Evidenz
2.3.4 Konzeptuelle Voraussetzungen an den Evidenzbegriff
3 Definition des Begriffs Wissen aus zweiter Hand
3.1 Definition des Explikats
3.2 Epistemische Folgen der Abhängigkeit von der Sprecherin und des Fehlens von domänenspezifischer Evidenz
3.2.1 Schwache strukturelle Einbettung von Wissen aus zweiter Hand
3.2.2 Wissen aus zweiter Hand wird in verarbeiteter Form weitergegeben
3.3 Einflussfaktoren auf den epistemischen Standort
3.3.1 Arten und Weisen, auf die eine Person epistemisch besser platziert sein kann
3.3.2 Fairer Vergleich der epistemischen Standorte
3.4 Unterschiede zwischen wahrnehmungsabhängigem und wahrnehmungsunabhängigem Wissen aus erster Hand
3.4.1 Der in dieser Arbeit verwendete Begriff von A-priori-Wissen
3.4.2 A priori erwerbbares Wissen aus zweiter Hand
3.4.3 Wahrnehmungswissen und a priori erwerbbares Wissen im Vergleich
3.4.4 Komplexes wissenschaftliches Wissen
4 Isoliertes Wissen aus zweiter Hand
4.1 Der Begriff des isolierten Wissens aus zweiter Hand nach Lackey
4.2 Integriertes Wissen aus zweiter Hand
4.3 Die Unterscheidung zwischen einer beliebigen Expertin und einer spezifischen Expertin
4.4 Wissensarten und Kontexte in denen die Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand problematisch ist
4.4.1 Probleme mit Defeatern bei der Weitergabe von ästhetischem und moralischem Wissen aus zweiter Hand
4.4.2 Die Nutzbarkeit von Wissen aus zweiter Hand als Prämisse praktischen Handelns
4.5 Isoliertes Wissen aus zweiter Hand im Rahmen von Assertionsnormen
4.5.1 Isoliertes Wissen aus zweiter Hand weist einen epistemischen Mangel auf
4.5.2 Verletzt die Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand die Wissensnorm für Assertionen, die Wissensnorm für praktische Rationalität und die Universalitätsnorm?
4.6 Ist isoliertes Wissen aus zweiter Hand von einem Mangel an Verstehen betroffen?
4.6.1 Welche Art von Verstehen fehlt bei isoliertem Wissen aus zweiter Hand?
4.6.2 Der Zusammenhang von domänenspezifischer Evidenz und Verstehen
4.6.3 Verstehen in Fällen, in denen die Meinung einer spezifischen Expertin gefordert ist
5 Sonderfälle von Wissen aus zweiter Hand
5.1 Wissen aus zweiter Hand aus Falschaussagen
5.1.1 Wissen aus zweiter Hand aus Äußerungen, die nur teilweise oder näherungsweise wahr sind
5.1.2 Wissen ohne Kenntnis darüber, was gesagt wurde
5.1.3 Wissen aus invers konsistenten Lügen
5.2 Wissen aus zweiter Hand aus Erinnerungen
5.2.1 Wissen aus zweiter Hand im Falle von vergessener Evidenz
5.2.2 Wissen aus zweiter Hand im Falle generativer Erinnerungen
5.2.3 Wissen aus zweiter Hand im Falle von inhaltsgenerierenden Erinnerungen und Quasi-Erinnerungen
5.3 Zusammenfassung
6 Fazit und Ausblick
Backmatter
Literatur
Personenregister
Sachregister
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Der epistemische Wert von Wissen aus zweiter Hand [1. ed.]
 9783957433084, 9783969753088

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Der epistemische Wert von Wissen aus zweiter Hand

Katharina Keil

Der epistemische Wert von Wissen aus zweiter Hand

Umschlagabbildung: Camilla Korte, Wissensnetze, 2022.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Dissertation (2022) an der Universität zu Köln Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2024 Brill mentis, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. www.brill.com Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-95743-308-4 (paperback) ISBN 978-3-96975-308-8 (e-book)

Für Emilie, die im Alter von fünf Jahren fest davon überzeugt war, dass wir nur auf der Welt sind, um einmal alles zu wissen.

Inhalt .Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xi .Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xiii 1. Abgrenzung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand  . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1. Stand der gegenwärtigen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.1.1. Verwendung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand in der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.1.2. Verwendung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.2. Möglichkeiten der Bestimmung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1.2.1. Der enge Begriff des Wissens aus zweiter Hand und seine Abgrenzung von testimonialem Wissen . . . . . . . . . . . . . . 10 1.2.2. Wissen aus zweiter Hand: begriffliches Spannungsfeld  . . . . . 17 1.3. Der weite Begriff des Wissens aus zweiter Hand . . . . . . . . . . . . . . . 28 1.3.1. Wissen aus zweiter Hand als polarer Gegenbegriff zu Wissen aus erster Hand und als gradueller Begriff . . . . . . . . . 34 1.3.2. Der weite Begriff von Wissen aus zweiter Hand und testimoniales Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1.3.3. Der weite Begriff von Wissen aus zweiter Hand und Wissen durch Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1.4. Zusammenfassung: was für einen weiten Begriff von Wissen aus zweiter Hand spricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2. Funktion des weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand . . . . . . . . 53 2.1. Nichtbesitz der domänenspezifischen Evidenz und epistemische Abhängigkeit von der Sprecherin . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.1.1. Fehlende domänenspezifische Evidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.1.2. Epistemische Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.1.3. Domänenspezifische Evidenz als Relation zwischen dem epistemischen Standort einer Person und einer Aussage . . . . 61 2.1.4. Abweichender epistemischer Standort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2.1.5. Epistemische Abhängigkeit nach dem evidentiellen Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

viii

Inhalt

2.2. Domänenspezifische Evidenz, die zur Rechtfertigung von Wissen aus zweiter Hand herangezogen wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2.2.1. Zulässigkeit der Verwendung von domänenspezifischer Evidenz im Falle von Wissen aus zweiter Hand . . . . . . . . . . . . . 77 2.2.2. Die Nutzung domänenspezifischen Wissens zur Evaluation des epistemischen Standorts der Sprecherin  . . . . 79 2.2.3. Die Möglichkeit des Erwerbs von Wissen aus erster Hand durch domänenspezifische Evidenz aus zweiter Hand . . . . . . 81 2.2.4. Die Präemptionsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2.3. Die Form, in der domänenspezifische Evidenz vorliegt . . . . . . . . . 87 2.3.1. Mögliche Unterscheidungskriterien zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand . . . . . . . . . . . . . 88 2.3.2. Argumente für die propositionale Charakterisierung der domänenspezifischen Evidenz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2.3.3. Argumente gegen die propositionale Charakterisierung der domänenspezifischen Evidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2.3.4. Konzeptuelle Voraussetzungen an den Evidenzbegriff  . . . . . . 103 3. Definition des Begriffs Wissen aus zweiter Hand  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3.1. Definition des Explikats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3.2. Epistemische Folgen der Abhängigkeit von der Sprecherin und des Fehlens von domänenspezifischer Evidenz . . . . . . . . . . . . 111 3.2.1. Schwache strukturelle Einbettung von Wissen aus zweiter Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 3.2.2. Wissen aus zweiter Hand wird in verarbeiteter Form weitergegeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3.3. Einflussfaktoren auf den epistemischen Standort . . . . . . . . . . . . . . 132 3.3.1. Arten und Weisen, auf die eine Person epistemisch besser platziert sein kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3.3.2. Fairer Vergleich der epistemischen Standorte . . . . . . . . . . . . . . 146 3.4. Unterschiede zwischen wahrnehmungsabhängigem und wahrnehmungsunabhängigem Wissen aus erster Hand . . . . . . . . 151 3.4.1. Der in dieser Arbeit verwendete Begriff von A-priori-Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3.4.2. A priori erwerbbares Wissen aus zweiter Hand . . . . . . . . . . . . . 161 3.4.3. Wahrnehmungswissen und a priori erwerbbares Wissen im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 3.4.4. Komplexes wissenschaftliches Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

Inhalt

ix

4. Isoliertes Wissen aus zweiter Hand  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 4.1. Der Begriff des isolierten Wissens aus zweiter Hand nach Lackey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 4.2. Integriertes Wissen aus zweiter Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 4.3. Die Unterscheidung zwischen einer beliebigen Expertin und einer spezifischen Expertin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 4.4. Wissensarten und Kontexte in denen die Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand problematisch ist . . . . . . . . . 202 4.4.1. Probleme mit Defeatern bei der Weitergabe von ästhetischem und moralischem Wissen aus zweiter Hand . . . 202 4.4.2. Die Nutzbarkeit von Wissen aus zweiter Hand als Prämisse praktischen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 4.5. Isoliertes Wissen aus zweiter Hand im Rahmen von Assertionsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 4.5.1. Isoliertes Wissen aus zweiter Hand weist einen epistemischen Mangel auf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 4.5.2. Verletzt die Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand die Wissensnorm für Assertionen, die Wissensnorm für praktische Rationalität und die Universalitätsnorm? . . . . 223 4.6. Ist isoliertes Wissen aus zweiter Hand von einem Mangel an Verstehen betroffen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 4.6.1. Welche Art von Verstehen fehlt bei isoliertem Wissen aus zweiter Hand? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 4.6.2. Der Zusammenhang von domänenspezifischer Evidenz und Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 4.6.3. Verstehen in Fällen, in denen die Meinung einer spezifischen Expertin gefordert ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 5. Sonderfälle von Wissen aus zweiter Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 5.1. Wissen aus zweiter Hand aus Falschaussagen  . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 5.1.1. Wissen aus zweiter Hand aus Äußerungen, die nur teilweise oder näherungsweise wahr sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 5.1.2. Wissen ohne Kenntnis darüber, was gesagt wurde . . . . . . . . . . 261 5.1.3. Wissen aus invers konsistenten Lügen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 5.2. Wissen aus zweiter Hand aus Erinnerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 5.2.1. Wissen aus zweiter Hand im Falle von vergessener Evidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 5.2.2. Wissen aus zweiter Hand im Falle generativer Erinnerungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

x

Inhalt

5.2.3. Wissen aus zweiter Hand im Falle von inhaltsgenerierenden Erinnerungen und Quasi-Erinnerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 5.3. Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 6. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 .Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 .Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 .Sachregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

Vorwort Ich habe in dieser Arbeit versucht herauszufinden, ob der erkenntnistheoretische Wert von Wissen aus zweiter Hand geringer ist als der von Wissen aus erster Hand. Als ich damit begann, dachte ich, dass ich hierzu mit einem klaren Begriff arbeiten könnte, der in der analytischen Philosophie schon breite Verwendung findet. Als sich herausstellte, dass es in der Wissenschaft bisher gar keine einheitliche Verwendung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand gibt und der Gebrauch in der Philosophie problematisch ist, war klar, dass ich zunächst einen eindeutigen Begriff definieren musste, bevor ich weiterarbeiten konnte. Der erste Teil dieser Arbeit widmet sich daher diesem Unterfangen. Mit der anschließend vorliegenden polaren Unterscheidung beider Wissensarten kann tatsächlich gezeigt werden, dass Wissen aus zweiter Hand epistemisch weniger wertvoll ist als Wissen aus erster Hand, da es einen Informationsverlust erfährt und weniger gut in unsere kognitiven Strukturen eingebettet werden kann. Dieser Wertunterschied gilt jedoch nur pro tanto, solange man von einigen unerheblichen praktischen Einflussfaktoren absieht; zum Beispiel der Tatsache, dass wir endliche Agenten mit begrenzten Ressourcen sind. Als endlicher Agent mit begrenzten Ressourcen hätte ich diese Arbeit nicht verfassen können, ohne die Hilfe und Unterstützung vieler anderer. Dass ich diesen Weg gehen konnte, verdanke ich der hervorragenden Betreuung durch Herrn Prof. Thomas Grundmann, der sich immer alle meine Ideen vorbehaltlos angehört hat und mir zu jeder Zeit ein wohlwollender, ehrlicher und gewissenhafter Diskussionspartner war. Auch mein Zweitbetreuer, Prof. Bernecker, hat mir wertvolle Einsichten ermöglicht. Ich habe es als großes Glück empfunden, am philosophischen Seminar der Uni Köln zu promovieren, wo ich zu jeder Zeit freundschaftlich aufgenommen wurde und meine Ideen in verschiedenen wissenschaftlichen Kolloquien entwickeln konnte. Diese Arbeit wäre nicht zustande gekommen ohne die vielen wunderbaren Frauen in meinem Leben, die mich im Privaten – besonders in der Betreuung meiner Kinder – unterstützt haben, während Maike Hensen und Andrea Schnell wertvolle Hilfe im Lektorat meiner Arbeit geleistet haben und Camilla Korte die Gestaltung des Covers übernahm. Ich werde euch das niemals genug danken können. Meinen beiden Kindern, Emilie und Dante, muss ich für außergewöhnliche Inspiration danken: Sie waren, ohne das Ergebnis der Arbeit zu kennen, von Anfang an überzeugt, dass sie lieber alles aus erster Hand erfahren wollen.

Einleitung Ein Großteil unseres Wissens über die Welt stammt aus zweiter Hand. Es ist davon auszugehen, dass die Weitergabe von Wissen einen entscheidenden Motor der kulturellen Evolution darstellt. Seitdem durch die Entwicklung einer erlernten Symbolsprache eine enorme Steigerung der Informationsweitergabe und eine Konservierung von Wissen möglich wurde, wurde dieses Wissen von der Speicherkapazität des Gehirns unabhängig. Was wir sind, sind wir zu einem großen Teil, weil es uns möglich ist, Wissen weiterzugeben und von anderen zu empfangen. Wissen aus zweiter Hand ermöglicht eine Arbeitsteilung, ohne die Wissenschaft in der heutigen Form nicht möglich wäre. Auch in unserem praktischen Leben hängen wir in vielfältiger Weise von Wissen ab, das wir nicht in erster Instanz selbst erworben haben. Und selbst unsere moralischen Intuitionen und Urteile sind von Wissen aus zweiter Hand geprägt.1 Trotzdem genießt Wissen aus zweiter Hand mitunter einen schlechten Ruf. Etwas nur vom Hörensagen zu kennen, bedeutet umgangssprachlich, man könne auf diese Mitteilung nicht bauen und vor Gericht gilt in Deutschland der Unmittelbarkeitsgrundsatz, der für das Zeugnis vom Hörensagen besonders strenge Maßstäbe anlegt. In der Geschichte der Philosophie haben sich Denkerinnen und Denker – von Platon über Kant bis hin zu Michael Lynch – gegen Wissen aus zweiter Hand ausgesprochen. Von Anderen übermitteltes Wissen scheint epistemisch weniger wertvoll zu sein als „etwas für sich selbst zu sehen“2. Es stellt sich die Frage, warum das so ist. In der Rechtslehre werden dafür zwei verschiedene Gründe angeführt: Einerseits der geringere Beweiswert der Aussage, die nicht selbstständig begründet wurde, andererseits das Recht auf konfrontative Befragung, das bei Zeugen vom Hörensagen nicht wahrgenommen werden kann.3 In der Journalistik wird zwischen Quellen unterschieden, die Wissen aus erster Hand weitergeben, und solchen, die Wissen aus zweiter Hand weitergeben, weil von ersteren eine höhere Verantwortlichkeit für ihre Aussagen erwartet und diesen außerdem eine größere Autorität zugestanden wird.4 Die größere Autorität bezüglich der getroffenen Aussagen wird auch in der Linguistik untersucht5 und spielt eine große Rolle in der Kunstwissenschaft. In letzterer wird die bloße Möglichkeit, 1 Vgl. Jones 1999. 2 Originaltitel: „Seeing it for oneself: Perceptual knowledge, understanding, and intellectual autonomy.“ Pritchard 2016. Meine Übersetzung. 3 Vgl. Kirchhoff 2015. 4 Vgl. Roth 2002. 5 Vgl. Smith 2013.

xiv

Einleitung

Wissen über ästhetische Urteile aus zweiter Hand weiterzugeben, von einigen Autorinnen6 sehr pessimistisch betrachtet.7 In der Didaktik und der Psychologie wird hingegen davon ausgegangen, dass Wissen aus erster Hand, aufgrund der besseren Einbettung in das Netz der übrigen Überzeugungen einer Person, Vorteile bei der Abspeicherung und Weiterverwendung von Wissen aufweist.8 Auch in der Philosophie selbst werden vielfältige Gründe für den möglichen geringeren Wert von Wissen aus zweiter Hand angegeben. Für Platon war das entscheidende Moment im Wissen die persönliche Aneignung, ohne die nur Pseudowissen erworben werde.9 Er war der Meinung, dass in Fällen, die Wissen aus erster Hand erfordern, durch das Heranziehen von Informationen aus zweiter Hand nie eigenes Wissen erlangt werden könne, sogar wenn diese Informationen zu einer wahren Meinung führen.10 Kants Einstellung zum Wert von Wissen aus zweiter Hand geht aus seiner Schrift zur Aufklärung hervor: „Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“11 Wissen nicht durch Selbstdenken zu erringen, sondern von anderen zu übernehmen, stellt für ihn eine Form der Faulheit dar, die in selbstverschuldete Unmündigkeit führt.12 Ein weiterer Nachteil von Wissen aus zweiter Hand, auf den Michael Lynch hinweist, wird erst durch die zunehmende Fülle an permanent zugänglichen Informationen im Zeitalter des Internets deutlich: Punktuelles Wissen, das irgendwo vorhanden, aber nicht mit dem restlichen Wissen über die Welt verbunden ist, ist nutzlos, wenn man von diesem Wissen aus keine weiteren Schlüsse ziehen kann und es im Zweifelsfall nicht einmal wiederfindet, wenn 6

Um einerseits den Vorgaben einer geschlechtergerechten Sprache gerecht zu werden und andererseits den Tatsachen der gedanklichen Überrepräsentation von Männern bei Gebrauch des generischen Maskulinums (siehe u.a. Empfehlungen der Gleichstellungsbeauftragten der Universität zu Köln, sowie Klann-Delius 2005) und Bedenken bezüglich der Lesbarkeit bei Verwendung gängiger Alternativen der geschlechtergerechten Formulierung, Rechnung zu tragen, werde ich in dieser Arbeit das generische Femininum als geschlechterneutrale Form der Personenbezeichnung verwenden. In dieser Arbeit gelten grammatisch feminine Personenbezeichnungen gleichermaßen für Personen männlichen und weiblichen Geschlechts. In Einzelfällen werde ich hiervon aufgrund sprachlicher Verständnisvorteile abweichen. So werden Sprecherin und Hörerin beispielsweise durchgängig als Sprecherin und Hörer bezeichnet werden. 7 Vgl. Hopkins 2011. 8 Vgl. Hug und McNeill 2008; Lockhart et al. 2016. 9 Vgl. Böhme 2000, 1. 10 Vgl. Platon 1805, 200–201c. 11 Kant [1784] 1977, 494. 12 Vgl. Kant [1784] 1977, 494.

Einleitung

xv

man es braucht.13 Wissen aus zweiter Hand scheint also aus verschiedenen Gründen epistemisch nicht so wertvoll zu sein, wie Wissen aus erster Hand. In allen Fachrichtungen gibt es jedoch auch immer wieder Stimmen, die den geringeren epistemischen Wert von Wissen aus zweiter Hand anzweifeln.14 Ich möchte in dieser Arbeit der Frage nachgehen, ob Wissen aus zweiter Hand tatsächlich einen geringeren epistemischen Wert als Wissen aus erster Hand aufweist und ob dieser geringere epistemische Wert sich auf eine oder mehrere gemeinsame Gründe zurückführen lässt. Bei einer Bestandsaufnahme des aktuellen Stands der Forschung fällt jedoch auf, dass in den verschiedenen Disziplinen nicht nur unterschiedliche Ursachen für den vermeintlichen geringeren Wert von Wissen aus zweiter Hand angegeben werden, sondern der Begriff des Wissens aus zweiter Hand auch unterschiedlich verwendet wird. So wird in den Naturwissenschaften ein sehr weiter Begriff von Wissen aus zweiter Hand vertreten: Jegliches Wissen, welches nicht durch direkte Beobachtung ohne Hilfsmittel gewonnen werden kann, wird als Wissen aus zweiter Hand betrachtet. Zwischen den Begriffen Wissen aus zweiter Hand und Daten/Informationen aus zweiter Hand wird zudem nicht sauber unterschieden. In den Geisteswissenschaften und der Kunst wird ebenfalls ein weiter Begriff von Wissen aus zweiter Hand vertreten, wobei hier jedoch in der Regel nicht der Wert einer Einzelaussage evaluiert wird, sondern ganze Themenbereiche oder Lebenssituationen hinsichtlich der praktischen Erfahrung, die ein bestimmter Agent innerhalb dieser Bereiche sammeln konnte, verglichen werden. So kann zum Beispiel gefragt werden, ob eine Person die Literatur der Renaissance aus erster Hand oder aus zweiter Hand kennt; oder ob eine andere Person aus erster Hand oder aus zweiter Hand weiß, wie es ist, ein Flugzeug zu fliegen, eine Lehrerin zu sein oder einer diskriminierten Minderheit anzugehören. Hier wird deutlich, dass der Begriff des Wissens aus zweiter Hand in den unterschiedlichen Disziplinen je verschiedene Funktionen erfüllt und daher unterschiedlich bestimmt wird. Ein gemeinsamer Nenner ist seine Funktion als Gegenbegriff zu Wissen aus erster Hand. Soll ein geringerer epistemischer Wert von Wissen aus zweiter Hand jedoch systematisch auf eine oder mehrere gemeinsame Gründe zurückgeführt werden, ist es notwendig, zunächst eine gemeinsame Begriffsbestimmung zu finden. Hier bietet es sich an, sich an die Philosophie zu wenden. Leider wird auch hier der Begriff des Wissens aus zweiter Hand nicht einheitlich verwendet. Während einige Autorinnen den Begriff ähnlich weit wie in den Natur- und 13 Vgl. Lynch 2014, 308. 14 Vgl. z.B. Harris 2008; Vujanović 2013.

xvi

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Geisteswissenschaften verwenden, gibt es auch Autorinnen, die den Begriff des Wissens aus zweiter Hand synonym zum Begriff des Wissens aus Aussagen verwenden und wieder andere Autorinnen, die einen sehr engen Begriff von Wissen aus zweiter Hand in Abgrenzung vom Begriff des Wissens aus Aussagen bzw. des testimonialen Wissens15 verwenden. Bei einer Sichtung der philosophischen Literatur fällt auf, dass die Verwendung des Begriffs des Wissens aus zweiter Hand in einer für die analytische Philosophie untypischen Art und Weise uneinheitlich und unpräzise erfolgt. Dies kann auf verschiedene Ursachen verweisen. Es könnte sein, dass der Begriff des Wissens aus zweiter Hand einfach zu unwichtig ist, um ihn eindeutig definieren zu müssen. Hiergegen spricht die häufige Verwendung in den verschiedenen Wissenschaften und in den philosophischen Fachbereichen. Dem Begriff kommt häufig eine normative Funktion zu, das heißt er wird verwendet, um den geringeren epistemischen Wert einer bestimmten Aussage, trotz der Tatsache, dass deren Wissensstatus nicht angezweifelt wird, zu begründen. Dies spricht dafür, dass der Begriff keineswegs unwichtig ist. Es könnte aber sein, dass es bereits einen anderen Begriff in der analytischen Philosophie gibt, der die Funktion, die der Begriff Wissen aus zweiter Hand erfüllen soll, besser erfüllen kann. Und es ist auch möglich, dass der Begriff gar kein sinnvolles Konzept darstellt, da die Funktionen, die er in den verschiedenen Kontexten erfüllt, zu unterschiedlich sind, um eine Gruppe von Wissen herauszugreifen, deren Mitglieder strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen. Aufgrund der Ambiguitäten, die der Begriff des Wissens aus zweiter Hand im Alltagssprachgebrauch, in der Verwendung in der Philosophie und den übrigen Wissenschaften aufweist, wird eine rein deskriptive Begriffsanalyse nicht in der Lage sein, einen brauchbaren Begriff von Wissen aus zweiter Hand zu liefern. Dieser wird jedoch benötigt, um die Frage nach dem epistemischen Wert von Wissen aus zweiter Hand beantworten zu können. Mein Vorgehen im Rahmen dieser Arbeit folgt daher zunächst grob dem Rahmen einer Begriffsexplikation im Sinne Carnaps.16 Das heißt, dass ich im ersten Kapitel zunächst 15

Ich verwende in dieser Arbeit den Begriff des testimonialen Wissens als deutsche Übersetzung des, in der englischsprachigen analytischen Literatur verwendeten, Begriffs des testimonial knowledge, der Wissen beschreibt, das aus Aussagen gewonnen wurde und bestimmte, je nach Ausgangstheorie verschiedene, Bedingungen vonseiten des Hörers und der Sprecherin erfüllt. 16 Vgl. Carnap und Stegmüller 1959; Carnap [1928] 2017. Diese Explikation kann als Vorgängermodell des in der Philosophie in der neueren Zeit entwickelten Modells des „conceptual engineering“ verstanden werden. Die Vor-  und Nachteile dieses Entwurfs zur Konkretisierung und Rekonstruierung präziser, funktionaler Begriffe werden in der analytischen Philosophie stark diskutiert. Ich möchte an dieser Stelle nur auf diese Debatte hinweisen und bediene mich der älteren, von Carnap skizzierten Methode, da sie für

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überprüfen werde, ob der Begriff des Wissens aus zweiter Hand überhaupt ein sinnvolles Explikandum darstellt und welche anderen Explikate für den Begriff des Wissens aus zweiter Hand infragekommen. Hier gibt es einerseits die Möglichkeit, einen sehr engen Begriff von Wissen aus zweiter Hand zu konzipieren, der voraussetzt, dass eine Aussage, die aus zweiter Hand erworben wurde, nicht nur beim der Zweitbesitzer17, sondern auch schon bei der Erstbesitzerin Wissen darstellen muss, um als Wissen aus zweiter Hand zu gelten. In der analytischen Philosophie wird ein solch enger Begriff von Wissen aus zweiter Hand verwendet, um als Bezugspunkt in der Debatte um die Extension von testimonialem Wissen zu dienen. Der Umfang des Begriffs des testimonialen Wissens ist umstritten, da nicht klar ist, welche Bedingungen Sprecherin und Hörer erfüllen müssen, um testimoniales Wissen weitergeben zu können. Aufgrund dieser Debatte eignet sich der Begriff nicht als Explikat für den Begriff des Wissens aus zweiter Hand. Ich werde im Verlauf des ersten Kapitels den Begriff des Wissens aus zweiter Hand vom Begriff des testimonialen Wissens und des Wissens aus Beschreibung18 als mögliche Explikate abgrenzen und zeigen, dass der Begriff des Wissens aus zweiter Hand von beiden konzeptuell unabhängig ist. Ich werde anschließend ein Spannungsfeld aufzeigen, das entsteht, wenn die Eigenschaft des Aus-zweiter-Hand-Seins mit dem Begriff des Wissens kombiniert wird. Ein enger Begriff von Wissen aus zweiter Hand entsteht, wenn die Eigenschaft des Aus-zweiter-Hand-Seins sich direkt auf die Eigenschaft des positiven Wissensstatus einer Proposition bezieht; ich werde vorschlagen, in diesem Fall von Wissen aus Zweitbesitz zu sprechen. Die Eigenschaft des Aus-zweiter-Hand-Seins kann sich jedoch auch meine Zwecke ausreichend ist und es mir ermöglicht mich dieser Methodik zu bedienen, ohne in die Debatte um die Sinnhaftigkeit des conceptual engineering einzusteigen. Denn dies würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Brun geht davon aus, dass auch die Explikation als eine Form des conceptuel engineering begriffen werden kann. Vgl. Brun 2016. Das Vorhaben in dieser Arbeit lässt sich, im Rahmen der von Chalmers vorgeschlagene Unterscheidung zwischen „de novo conceptual engineering“ und „conceptual re-engineering“, eher als conceptual re-engineering begreifen, da es mir darum geht einen bereits bestehenden Begriff zu präzisieren. Vgl. Chalmers 2020. Ich werde methodisch außerdem Vorschläge von Greimann aufgreifen, der konkretere Empfehlungen für eine Explikation nach Carnap herausgearbeitet hat. Vgl. Greimann 2007. 17 Ich werde im Folgenden die Begriffe Sprecherin und Hörer verwenden, um die Rolle der Erstbesitzerin und des Zweitbesitzers von Wissen zu bezeichnen. Aus Gründen der sprachlichen Klarheit werde ich die Rolle der Sprecherin, bzw. der Erstbesitzerin mit der femininen Form bezeichnen und die Rolle des Hörers, bzw. des Zweitbesitzers mit der maskulinen Form bezeichnen. 18 „Knowledge by description“. Von Russel als Gegenbegriff zum Wissen aus Bekanntschaft (knowledge by acquaintance) eingeführt. Vgl. Russell 1911; Russell 1912. Die Extension dieser Begriffe ist in der Philosophie hoch umstritten.

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auf die Quelle des Wissens beziehen. Dies erlaubt die Konzeption eines weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand. Der Besitzer des Wissens aus zweiter Hand hat in diesem Falle eine Information aus zweiter Hand erworben, die bei ihm selbst Wissen darstellt; ob diese Information bereits bei der Erstbesitzerin Wissen darstellte, ist hingegen irrelevant. Ein solch weiter Begriff von Wissen aus zweiter Hand kann alltagsprachliche und philosophische Intuitionen bezüglich des geringeren Wertes von Wissen aus zweiter Hand bewahren und ermöglicht eine Verwendung, die mit den wichtigsten Funktionen, die der Begriff in den verschiedenen Wissenschaften erfüllt, übereinstimmt. Die Extension eines solchen weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand ist größer als die von testimonialem Wissen, jedoch kleiner als die von Wissen aus Beschreibung, das je nach Ausgangstheorie jegliches Wissen einschließen kann, das in propositionaler Form vorliegt. Ich werde mich im Rahmen dieser Arbeit auf die Abgrenzung von Wissen aus zweiter Hand zu propositional formulierbarem Wissen aus erster Hand beschränken, da es schwierig erscheint, den epistemischen Wert zweier Wissensarten zu vergleichen, wenn diese nicht beide in derselben Form vorliegen. Auch eine des Öfteren vorgebrachte geringere Verlässlichkeit von Wissen aus zweiter Hand gegenüber Wissen aus erster Hand kann an dieser Stelle nicht mehr als Erklärung eines geringeren epistemischen Wertes von Wissen aus zweiter Hand dienen, da ich davon ausgehe, dass beide Wissensarten, da sie Wissen darstellen, denselben quantitativen Ansprüchen an die Verlässlichkeit dieses Wissens genügen müssen. Ich werde dafür argumentieren, dass die Eigenschaft des Aus-zweiterHand-Seins, die sich auf die Wissensquelle bezieht, erhalten bleiben sollte, da es ansonsten zu kontraintuitiven und unpräzisen Klassifikationen kommt und daher ein weiter Begriff von Wissen aus zweiter Hand ein fruchtbareres Explikat darstellt als der enge Begriff. Ein solcher weiter Begriff von Wissen aus zweiter Hand ermöglicht es, einen kontradiktorischen Gegenbegriff zum Begriff des Wissens aus erster Hand zu bilden und kann damit eine Funktion erfüllen, die das Explikandum über die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen hinweg zu erfüllen scheint. Ein solcher Begriff erlaubt auch die Bildung eines komparativen Begriffs von Wissen aus zweiter Hand. Wissen könnte dann mehr oder weniger aus zweiter Hand stammen, in Abhängigkeit von der Stärke der Abhängigkeit des Zweitbesitzers von der Quelle. Zieht man einen engen Begriff von Wissen aus zweiter Hand heran, so bleibt ein Teil an Aussagen übrig, die kein Wissen aus erster Hand im klassischen Sinne sind, jedoch auch kein Wissen aus Zweitbesitz darstellen. Diese Aussagen, die kein Wissen aus zweiter Hand im engen Sinne darstellen, weisen jedoch dieselben epistemischen Nachteile auf, die Wissen aus zweiter Hand generell zugeschrieben werden.

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Ich werde im zweiten Kapitel zeigen, dass die Eigenschaften von Wissen aus zweiter Hand, die einen möglichen epistemischen Nachteil herbeiführen, mit der Eigenschaft des Aus-zweiter-Hand-Seins, bezogen auf die Wissensquelle verbunden sind. Diese Nachteile entstehen aus einer epistemischen Abhängigkeit von der Erstbesitzerin. Denn der Zweitbesitzer des Wissens besitzt die Rechtfertigung für die betreffende Aussage nicht selbst, sondern kann in der Regel nur die Verlässlichkeit der Quelle, von der er die Aussage aus zweiter Hand bezieht, rechtfertigen. Diese Nachteile betreffen alle Fälle von Wissen aus zweiter Hand im weiteren Sinne, auch Grenzfälle, in denen nur Wissen aus Zweitbesitz vorliegt. Die epistemische Abhängigkeit19, die aus dem Nichtbesitz der zur Rechtfertigung der Aussage notwendigen Evidenz herrührt, ist das entscheidende Merkmal, das verschiedenste Fälle von Wissen aus zweiter Hand strukturell zu einer Wissensart vereint. Ich werde diejenige Evidenz, die notwendig ist, um eine bestimmte Aussage vom momentanen epistemischen Standort20 aus, selbstständig rechtfertigen zu können, als domänenspezifische Evidenz bezeichnen. Hiervon wird die domänenunabhängige Evidenz unterschieden, die die Evidenz eines Hörers für eine Aussage, die aus zweiter Hand erworben wurde, beschreibt. Mithilfe domänenunabhängiger Evidenz lässt sich der Inhalt einer Aussage nur mittelbar rechtfertigen, über den Zwischenschritt, dass eine verlässliche oder anderweitig wahrheitsbefördernde Quelle diese Aussage getätigt hat.21 Die epistemische Abhängigkeit entsteht dadurch, dass Erstbesitzerin und Zweitbesitzer unterschiedliche epistemische Standorte aufweisen, sodass der Wahrheitswert einer Aussage vom Standort des Zweitbesitzers aus nicht selbstständig eingesehen werden kann. Erst nachdem diese wichtigen Merkmale identifiziert wurden, kann im dritten Kapitel eine Definition des Begriffs des Wissens aus zweiter Hand 19 20

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Der Begriff der epistemischen Abhängigkeit wurde von Hardwig geprägt, der jedoch davon ausgeht, dass im Falle epistemischer Abhängigkeit, aufgrund des Nichtbesitzes der Evidenz, der Wissensstatus per se in Frage steht. Vgl. Hardwig 1985. Ich entwickele und verwende in dieser Arbeit den Begriff des epistemischen Standorts angelehnt an Ideen von Strawson, Fricker und Goldberg. Ich gehe davon aus, dass eine Person nur Wissen über Dinge in der Welt erlangen kann, wenn sie in der Lage ist, die betreffenden Dinge zu identifizieren und in ihr raumzeitliches und begriffliches Bezugssystem einzubetten. Eine Person kann über die Dinge, die sie zu einem Zeitpunkt selbst raumzeitlich wahrnehmen konnte, Wissen aus erster Hand erlangen. Der epistemische Standort beschreibt daran angelehnt den raumzeitlichen und kognitiven Standort eines Subjekts, der bestimmt welche Propositionen sie zu diesem Zeitpunkt selbst wahrnehmen kann und welche sie darüber hinaus begrifflich rechtfertigen kann. Hierdurch wird nicht die Richtigkeit des Reduktionismus vorausgesetzt. Je nach vertretender Wissenstheorie kann auch der Inhalt der Aussage einer beliebigen Person, in der Abwesenheit von Anfechtungsgründen und in Verbindung mit beispielsweise der Annahme der Gültigkeit von Reids Prinzipien der Gutgläubigkeit und der Wahrhaftigkeit, als domänenunabhängige Evidenz für eine Aussage gelten.

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erfolgen; und es kann begonnen werden, die epistemischen Folgen, die die oben genannten Merkmale für den Wert von Wissen aus zweiter Hand haben, herauszuarbeiten. Ich werde hier unter anderem Erkenntnisse aus der Kognitionswissenschaft hinzuziehen, die zeigen, dass die Frage, wie Wissen in die kognitive Struktur der Besitzerin eingebettet ist, ausschlaggebend dafür ist, ob dieses Wissen sinnvoll weiterverwendet werden kann, um über ähnliche Sachverhalte zu urteilen und neue Sachverhalte zu verstehen. Diese Annahme, die in der Didaktik und der Kognitionswissenschaft empirisch beobachtet und auf verschiedenste Arten bestätigt wurde, kann im Rahmen der in dieser Arbeit herausgearbeiteten Merkmale von Wissen aus zweiter Hand erklärt werden. Da dieses Wissen von einem abweichenden epistemischen Standort aus weitergegeben wird, ist der Zweitbesitzer zur Identifikation der Dinge, über die er Wissen erlangt, auf die Sprecherin angewiesen, um die betreffenden Sachverhalte in sein eigenes raumzeitliches und begriffliches Bezugssystem einzubetten. Wissen aus erster Hand ist hingegen per se in ein raumzeitliches und begriffliches System mit der Person selbst als Bezugspunkt eingebettet. Bei Wissen aus zweiter Hand muss dieser Kontext zunächst hergestellt werden. Wenn eine Person Wissen aus zweiter Hand gewinnt, dann ist sie daher darauf angewiesen, dass ihr außerdem Informationen übermittelt werden, die eine direkte Einordnung der Dinge, über die sie Wissen erlangt, in das System ihrer Kenntnisse der Welt möglich machen. Diese Einordnung ist oft ausreichend, wenn Wissen aus zweiter Hand übermittelt wird, jedoch selten so vollständig, wie dies bei Wissen aus erster Hand der Fall wäre. Dies ist auch nicht verwunderlich, da eine vollständige Einordnung und Qualifizierung der Dinge, über die Wissen vermittelt wird, auch viele für den aktuellen Anlass unwichtige oder unwichtig erscheinende Informationen enthielte und somit zum Beispiel der Konversationsmaxime der Quantität zuwiderliefe.22 Durch den Transport des Wissens von einem epistemischen Standort zu einem anderen geht außerdem häufig die dem Wissen zugrunde liegende Sinneserfahrung oder Argumentation (teilweise) verloren. Hierdurch gehen Informationen verloren, die potentiell mehr Wissen ermöglichen oder mögliche Defeater generieren oder entkräften könnten. Dieser Vorgang ist ein gradueller Prozess, was unter anderem erklären kann, warum ein komparativer Begriff von Wissen aus zweiter Hand sinnvoll erscheint. Ich werde in diesem Kapitel verschiedene Arten und Weisen, auf die eine Person epistemisch besser platziert sein kann, vergleichen und herausarbeiten, dass der Erwerb von Wissen aus zweiter Hand in allen Fällen zu einer strukturell schlechteren Einbettung in das Wissensnetz 22

Laut Grice ist es eine allgemeine Forderung normaler Konversationen den Gesprächsbeitrag nicht informativer, als für den Gesprächszweck nötig, zu machen. Vgl. Grice 1993, 26.

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des Zweitbesitzers führt. Um dies zu erkennen, ist jedoch ein fairer Vergleich der epistemischen Standorte und der betreffenden Wissensinhalte vonnöten. Ich werde außerdem zeigen, dass dieser Nachteil sowohl wahrnehmungsabhängiges als auch wahrnehmungsunabhängig erwerbbares Wissen betrifft. Im vierten Kapitel kann schließlich eine erste Anwendung des Explikats auf angrenzende Begriffe vorgenommen werden. Hierdurch erfolgt eine Prüfung der Fruchtbarkeit und Anschlussfähigkeit des skizzierten Begriffs. Mit Hinblick auf die Fragestellung nach dem epistemischen Wert von Wissen aus zweiter Hand wird hier der von Jennifer Lackey geprägte Begriff des isolierten Wissens aus zweiter Hand im Mittelpunkt stehen.23 Wissen aus zweiter Hand kann in einer so stark isolierten Form vorliegen, dass es nicht mehr zulässig ist, es in dieser Form weiterzugeben, ohne explizit darauf hinzuweisen, dass es sich nur um Wissen aus zweiter Hand handelt. Solcherart isoliertes Wissen aus zweiter Hand tritt auf, wenn ein Subjekt zwar eine bestimmte Proposition p weiß, jedoch nichts anderes Relevantes über den Sachverhalt außer p weiß. Diese Isoliertheit bringt für den Besitzer epistemische Nachteile mit sich und limitiert die zulässige Weitergabe des Wissens. Ich werde zeigen, dass diese Form der Isoliertheit auf den ganzen Bereich des weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand zutreffen kann und sich gut durch die Eigenschaft des Nichtbesitzens der domänenspezifischen Evidenz für p und der daraus folgenden Nachteile erklären lässt. Die epistemischen Nachteile von Wissen aus zweiter Hand kommen in unterschiedlichen Kontexten verschieden zum Tragen. Die fehlende Übertragung von Detailwissen und dispositionalem Wissen wird zu einem epistemischen Nachteil, wenn der Hörer hierdurch keine Kenntnis von potentiellen Defeatern erhält oder er das Wissen aufgrund von mangelnder Redundanz und Übereinstimmung fehlerhaft in sein eigenes Wissensnetz einbettet. Diese Nachteile treten im Falle von ästhetischem und moralischem Wissen und in praktischen und hochrisikoreichen Kontexten besonders gravierend zu Tage. Der Aspekt der Isoliertheit von Wissen aus zweiter Hand kann daher nicht vollständig vom Aspekt des Aus-zweiter-Hand-Seins getrennt werden24, sondern geht als epistemischer Nachteil, in mehr oder minder starkem Ausmaß, aus diesem Merkmal hervor. Die Unangemessenheitsintuition, die mitunter auftritt, wenn isoliertes Wissen aus zweiter Hand weitergegeben wird, zeigt, dass die epistemischen Nachteile von Wissen aus zweiter Hand struktureller Art sind und auch für den nächsten Besitzer noch problematisch sein können. Diese Nachteile können unter anderem durch einen Mangel an Verstehen erklärt werden, der beim Besitzer von isoliertem Wissen aus zweiter 23 Vgl. Lackey 2011, 2013, 2016. 24 Lackey ist hier entgegengesetzter Meinung. Vgl. Lackey 2013.

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Hand vorliegt. Dieser Mangel an Verstehen kann jedoch, unter Annahme eines reduktionistischen Begriffs von Verständnis25, ebenso als Folge des Nichtbesitzes der domänenspezifischen Evidenz erklärt werden. Im fünften Kapitel wende ich den Begriff des Wissens aus zweiter Hand auf Sonderfälle an. Der hier konzipierte Begriff von Wissen aus zweiter Hand ist auch in Situationen des Erwerbs von Wissen aus Falschaussagen und Wissen aus Erinnerungen anschlussfähig. Er erlaubt im Falle von Wissen aus Falschaussagen präzise Klassifizierungen, stößt bei der Einordnung von Wissen aus Erinnerungen jedoch auch an seine Grenzen. Fälle in denen Wissen aus Falschaussagen erworben wird, werden in der Philosophie als problematisch betrachtet, da sie sich nicht einfach als testimoniales Wissen klassifizieren lassen. Es kann auch nicht von Wissen aus zweiter Hand im engen Sinne gesprochen werden, da die Erstbesitzerin des Wissens nicht eindeutig identifiziert werden kann. Trotzdem besitzt der Zweitbesitzer keine ausreichende domänenspezifische Evidenz, um ihm Wissen aus erster Hand zuschreiben zu können. Sein Wissen weist dieselben Nachteile auf wie regulär erworbenes Wissen aus zweiter Hand und sollte daher in Übereinstimmung mit unseren Intuitionen als Wissen aus zweiter Hand klassifiziert werden. Der weite Begriff von Wissen aus zweiter Hand kann dies leisten. Wissen aus Erinnerungen kann, auch wenn es ursprünglich aus erster Hand stammte, strukturelle Gemeinsamkeiten mit Wissen, das aus Aussagen gewonnen wurde, aufweisen.26 Der epistemische Standort einer Person kann sich über die Zeit hinweg ändern. Evidenz kann vergessen werden oder durch neu erworbene Defeater ungültig werden. Ebenso können doxastische Defeater vergessen oder normative Defeater entkräftet werden. Wenn man das Kriterium des Nichtbesitzens der domänenspezifischen Evidenz anwendet, könnten auch Sachverhalte, die man selbst erlebt hat, durch das Verlorengehen von Details zu Wissen aus zweiter Hand werden. Falls die domänenspezifische Evidenz, die zur Rechtfertigung eines Sachverhaltes herangezogen wurde, für das erinnernde Subjekt nicht mehr zugänglich ist, weil sie vergessen wurde, könnte Wissen aus erster Hand, das erinnert wird, zu Wissen aus zweiter Hand werden. Dies mag erst einmal ungewöhnlich erscheinen, bei näherem Hinsehen ist dieser Vorschlag jedoch gut mit der Vorstellung zu vereinbaren, dass das frühere Selbst damals einen epistemischen Standort eingenommen hatte, 25

Ein reduktionistischer Begriff von Verstehen geht von der Annahme aus, dass es grundsätzlich möglich ist Verstehen in propositionaler Form zu formulieren, sodass sich Verstehen einfach als eine ausreichende Menge an propositionalem Wissen, bezogen auf einen bestimmten Sachverhalt, konzipieren lässt. 26 Diese Ansicht vertreten u.a. Plantinga 1993, Ch.  3; Dummett 1994; Lackey 2005a; Fricker 2006a; Audi 2015.

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der mit dem jetzigen epistemischen Standort nicht mehr identisch ist und den man aufgrund des Verlustes von Detailwissen auch nicht mehr rekonstruieren kann. Diese Erkenntnis deckt sich mit den alltäglichen Intuitionen und Erlebnissen, dass man sich manchmal an Dinge erinnert, die vom jetzigen Standort aus ganz anders erscheinen oder dass man sich an einen wohlüberlegten Schluss noch erinnern kann, aber nicht mehr an die Argumentation, die dorthin führte. Die Vorstellung, dass einige Erinnerungen Wissen aus zweiter Hand darstellen, unterstützt die Annahme, dass Erinnerungen eine generative Quelle von Wissen sein können, wenn Defeater vergessen werden oder durch veränderte Umstände ihre Anfechtungskraft verlieren. Wenn man davon ausgeht, dass das Subjekt zu einem späteren Zeitpunkt t2, zu dem es eine gerechtfertigte Überzeugung erinnert, einen vom früheren Zeitpunkt t1 verschiedenen epistemischen Standort einnimmt, kann man gut erklären, weshalb die Überzeugungen, die zu t1 zu unzuverlässig waren, um die Überzeugung zu rechtfertigen, die Überzeugung zu t2 nicht mehr negativ beeinflussen. Allerdings ist es nicht leicht, eindeutig zu bestimmen, wann die Unterschiede zwischen dem Standort eines Subjekts zum Zeitpunkt t1 und dem Standort eines Subjekts zu t2 so groß werden, dass von einem verschiedenen epistemischen Standort gesprochen werden sollte. Daher muss bedacht werden, dass der weite Begriff des Wissens aus zweiter Hand unschärfer wird, sobald er nicht mehr an die personale Verschiedenheit von Quelle und Wissensbesitzerin gebunden ist. Ein Fazit wird im sechsten und letzten Kapitel, das die Ergebnisse dieser Arbeit zusammenfasst, gezogen. Anhand des in dieser Arbeit vorgeschlagenen Begriffs von Wissen aus zweiter Hand kann gezeigt werden, dass die Eigenschaft des Aus-zweiter-Hand-Seins als Merkmal einer von Wissen aus erster Hand abgrenzbaren Klasse von Wissen betrachtet werden kann, deren Mitglieder strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen, die sich auf gemeinsame Ursachen zurückführen lassen und zu einem geringeren epistemischen Wert dieses Wissens führen.

Kapitel 1

Abgrenzung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand Der Begriff des Wissens aus zweiter Hand findet sowohl in der Alltagssprache als auch in den Natur- und Geisteswissenschaften einen breiten Anwendungsbereich. Auffallend ist hierbei jedoch, dass es nicht nur Abweichungen zwischen dem alltagssprachlichen und dem wissenschaftlichen Begriffsgebrauch gibt, sondern dass auch innerhalb der unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen Unterschiede bestehen, was die Extension des Begriffes betrifft. Die Breite des Anwendungsbereichs reicht hierbei von einer oft sehr streng eingegrenzten Verwendung des Begriffs in der Philosophie bis zu einer sehr weiten Anwendung des Begriffs in den Naturwissenschaften. Was jedoch nahezu allen Kontexten, in denen der Begriff Wissen aus zweiter Hand Verwendung findet, gemeinsam ist, ist die Annahme eines strukturellen Unterschieds zum Begriff Wissen aus erster Hand und damit verbunden oft ein geringerer epistemischer oder praktischer Wert dieses Wissens. Zu der Annahme der Existenz eines solchen Artunterschieds passt es jedoch nicht, dass in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen bezüglich der Frage, wo die Grenze zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand verläuft, jeweils unterschiedliche Ansichten vertreten werden. Auch innerhalb der Philosophie gibt es hierzu voneinander abweichende Sichtweisen. Dies behindert nicht nur den interdisziplinären wissenschaftlichen Diskurs, es wirft aus philosophischer Sicht auch die Frage auf, welches die sinnvollste Abgrenzung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand darstellen würde. Diese Unterscheidung sollte im Idealfall einerseits mit dem Gebrauch des Begriffs im Alltag und in der Wissenschaft kompatibel sein und andererseits trennscharf zwei verschiedene Arten von Wissen abgrenzen, die sich nicht allein in ihrer Genese, sondern auch strukturell voneinander unterscheiden. Anhand einer solchen Begriffsbestimmung sollte es dann auch möglich sein, zu entscheiden, ob es auch einen grundlegenden Unterschied im epistemischen Wert von Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand gibt. Im Verlauf dieses Kapitels werde ich zunächst kurz in die unterschiedlichen Gebrauchsweisen des Begriffs des Wissens aus zweiter Hand in der wissenschaftlichen Literatur einführen. Anschließend werde ich den Begriff Wissen aus zweiter Hand von den innerhalb der Philosophie mitunter homöonym1 1 Homöonym: Wort, das mit einem anderen partiell synonym ist.

© brill mentis, 2024 | doi:10.30965/9783969753088_002

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Kapitel 1

gebrauchten Begriffen testimoniales Wissen2 und Wissen durch Beschreibung (knowledge by description) abgrenzen. Da beide Begriffe eine Extension aufweisen, die sich nur teilweise kongruent zum Begriff Wissen aus zweiter Hand verhält, werde ich anschließend vorstellen, welche verschiedenen Möglichkeiten es gibt, den Begriff Wissen aus zweiter Hand zu bestimmen, und auf ein Spannungsfeld aufmerksam machen, das sich durch die Kombination der Begriffe Wissen und Aus-zweiter-Hand-sein ergibt. Abschließend werde ich einen eigenen Vorschlag zur Bestimmung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand machen, den ich auch rechtfertigen werde. Methodisches Vorgehen: Bevor die Explikation eines Begriffs erfolgen kann, muss zunächst der Begriff, der expliziert werden soll, genau festgelegt werden. Dieses Kapitel dient daher der Explikationsvorbereitung, in der die Klärung des Explikandums erfolgen soll. Das Ziel dieses Kapitel ist es, die Referenzbedingungen von Wissen aus zweiter Hand zu bestimmen. Die Methodik folgt daher dem Vorgehen einer Begriffsanalyse angelehnt an Grice. Die Ermittlung der Referenzbedingungen des Ausdrucks Wissen aus zweiter Hand erfolgt über die Anwendung des Ausdrucks in tatsächlichen Situationen und möglichen Situationen.3 Eine solche Begriffsanalyse kann jedoch immer nur für eine bestimmte Verwendungsweise eines Ausdrucks gelten. Sobald ein Begriff in verschiedenen Kontexten unterschiedlich verwendet wird, müssen die dieser Verwendung zugrunde liegenden unterschiedlichen Konzepte auch einzeln analysiert werden.4 2 In der englischsprachigen analytischen Philosophie hat sich der Begriff „testimonial knowledge“ als Begriff für Wissen, das ein Hörer aus Aussagen anderer gewonnen hat, etabliert. Da es keine direkte Übersetzung dieses Begriffes gibt, werde ich im Folgenden den Begriff testimoniales Wissen analog zum englischsprachigen Begriff verwenden. Da die Übersetzung Aussage für den Begriff Testimony inadäquat erscheint, da sie zu weit gefasst ist, die Übersetzungen Zeugnis oder Zeugenaussage jedoch nur einen Teilbereich des Begriffs Testimony abbilden, werde ich in dieser Arbeit den englischen Begriff Testimony beibehalten. 3 Grice formuliert dies folgendermaßen: „To be looking for a conceptual analysis of a given expression E is to be in a position to apply or withhold E in particular cases, but to be looking for a general characterization of the type of cases in which one would apply E rather than withhold it. And we may notice that in reaching one’s conceptual analysis of E one makes use of one’s ability to apply and withhold E, for the characteristic procedure is to think up a possible general characterization of one’s use of E and then to test it by trying to find or imagine a particular situation which fits the suggested characterization and yet would not be a situation in which one would apply E.“ Grice 1993, 174. 4 Grice legt dies aus der eigenen Perspektive als Einzelsubjekt dar. „To reach a conceptual analysis of one’s own use of an expression is often extremely difficult, and you must expect most of

Abgrenzung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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Ich werde in diesem Kapitel zeigen, dass der Begriff des Wissens aus zweiter Hand in den verschiedenen Wissenschaften und im Alltag nicht einheitlich verwendet wird, weshalb die verschiedenen Verwendungsweisen einzeln untersucht werden. Hierdurch kann in diesem Kapitel auch die Explikationsbedürftigkeit von Wissen aus zweiter Hand nachgewiesen werden. Denn diese folgt laut Carnap gerade aus der nicht einheitlichen Verwendung des Explikandums.5 Die Auswahl eines für die Explikation geeigneten Explikats wird anschließend aufgrund von Fruchtbarkeitsüberlegungen stattfinden. Hierzu sollten laut Carnap sowohl konventionelle Komponenten als auch Tatsachenkomponenten eine Rolle spielen.6 Daher werde ich in Kapitel 1.4 einen weiten Begriff von Wissen aus zweiter Hand vorschlagen, der sich inhaltlich nahe genug am konventionellen Gebrauch des Begriffs Wissen aus zweiter Hand orientiert und sich in der Philosophie insofern als fruchtbar erweist, als er sich gut mit anderen Begriffen in Beziehung bringen lässt. Diese Fruchtbarkeitsüberlegungen werden im zweiten Kapitel fortgeführt. 1.1

Stand der gegenwärtigen Diskussion

Der Begriff des Wissens aus zweiter Hand wird sowohl in der Philosophie als auch in der Pädagogik, der Psychologie, der Sprachwissenschaft, der Wirtschaftswissenschaft, der Didaktik der Naturwissenschaften und der Kunst verwendet. Ich werde in Kapitel 1.1.1 einige Beispiele vorstellen. Trotzdem gibt es in keiner der Wissenschaften eine systematische Beschäftigung mit dem my discussion about the conceptual analysis of an expression to relate to this difficulty. But if you think, that I have reached a satisfactory conceptual analysis of my own use, I do not then go on to conduct a poll and see if this analysis fits other people’s use of the expression. For one thing, I assume ( justifiably, I think) that it does in general fit other people’s use, for the expressions with which (as a philosopher) I am normally concerned are pretty commonly used ones; and if a particular expression E was given by some of the people with whom I talk in my daily life a substantially different use from the one which I gave to it, then I should almost certainly have discovered this; one does discover people’s idiosyncrasies. But more important, even if my assumption, that what goes for me goes for others is mistaken, it does not matter; my philosophical puzzles have arisen in connection with my use of E, and my conceptual analyses will be of value for me (and to any others who may find that their use of E coincides with mine). It may also be valuable to those whose use of E is different, though different only in minor respects, from mine; but if this is not so, then we have a different use of E, to be dealt with separately, to be subjected to separate conceptual analysis.“ Grice 1993, 175. 5 Vgl. Carnap und Stegmüller 1959, 12–13. 6 Vgl. Carnap und Stegmüller 1959, 12–15.

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Kapitel 1

Umfang dieses Begriffs. In der Regel wird eine bestimmte Extension einfach implizit vorausgesetzt oder eine für den aktuellen Forschungszweck passende Definition des Begriffs wird stipuliert. Dies geschieht auch innerhalb der einzelnen Disziplinen nicht einheitlich. Dennoch lassen sich Tendenzen ausmachen, die in der Philosophie und in den übrigen Wissenschaften in unterschiedliche Richtungen gehen. Während in den Naturwissenschaften mitunter jegliches Wissen, das nicht vollständig selbst erworben beziehungsweise selbst beobachtet wurde, als Wissen aus zweiter Hand betrachtet wird, tendiert die Mehrheit der analytischen Philosophinnen dazu, die Anwendung des Begriffs des Wissens aus zweiter Hand viel strenger einzugrenzen. Um den Stand der gegenwärtigen Verwendung des Begriffs darzustellen, werde ich in den folgenden Unterkapiteln zunächst seine Nutzung in den verschiedenen wissenschaftlichen Fachdisziplinen exemplarisch nachzeichnen, bevor ich anschließend spezifisch auf die Verwendung in der Philosophie eingehe. These: Die Verwendung des Begriffs des Wissens aus zweiter Hand in der Alltagssprache ist nicht eindeutig, die Extension des Begriffs in der Philosophie ist kleiner als die Extension in den anderen Wissenschaften. Verwendung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand in der Wissenschaft Die Beschäftigung mit dem Begriff des Wissens aus zweiter Hand geht in vielen wissenschaftlichen Disziplinen von der Frage aus, inwiefern dieses Wissen epistemische und/oder praktische Nachteile aufweist. Erkenntnisse aus der Sprachwissenschaft und der Pädagogik sprechen dafür, dass im Alltag eine Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand basal ist. Sie lässt sich anhand semantischer Codes nachvollziehen7 und wird auch von Kindern, unabhängig von der sprachlichen Präsentation, sehr früh erkannt (spätestens ab dem Alter von 5 Jahren).8 Der Begriff von 1.1.1

7 Über ein Viertel der Sprachen weltweit besitzen grammatikalische Marker, die Evidentialität obligatorisch kennzeichnen. Das heißt es ist nicht möglich einen Sachverhalt auszurücken, ohne beispielsweise durch die Auswahl der Verbendung oder eines bestimmten Suffixes kenntlich zu machen, wer die Quelle des Wissens ist. Die einfachste und häufigste Markierung bezieht sich hier auf die Unterscheidung, ob das Wissen aus erster Hand oder aus zweiter Hand stammt. Vgl. Aikhenvald 2006, 1. In der Sprachwissenschaft wird u.a. untersucht, mit welchen sprachlichen Mitteln es Kommunizierenden gelingt, sich über Themen zu unterhalten, für welche nur eine der Teilnehmenden Wissen aus erster Hand heranziehen kann, während die andere Teilnehmende Wissen aus zweiter Hand besitzt. Vgl. Smith 2013. 8 Vgl. Lockhart et al. 2016, 477.

Abgrenzung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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Wissen aus zweiter Hand, der hier zugrunde gelegt wird, ist jedoch ein sehr weiter Begriff, der jegliches Wissen, welches nicht allein durch Nachdenken oder durch direkte Beobachtung ohne Hilfsmittel gewonnen werden kann, als Wissen aus zweiter Hand betrachtet. In diesem Falle würde auch Wissen, das mithilfe von Instrumenten gewonnen wurde, nicht mehr als Wissen aus erster Hand gelten. In der Psychologie wird erforscht, ob Wissen aus zweiter Hand Wissen aus erster Hand bei Lernprozessen unterlegen ist. So wurde zum Beispiel untersucht, inwiefern es möglich ist, Objektwissen über unbekannte Gegenstände allein aus zweiter Hand zu erwerben. Dieses Wissen, das nur durch Beschreibung und Vorstellung des Beschriebenen erworben wurde, erlaubte es durchaus, einige Aspekte unbekannter Objekte korrekt zu repräsentieren, während dies bei anderen Aspekten nicht einfach gelang.9 Diese Fragestellung schließt jedoch auch Aspekte von prozeduralem, nicht propositional repräsentiertem Wissen mit ein, die in der analytischen Philosophie mitunter gar nicht als Wissen betrachtet werden würden. In der Didaktik der Naturwissenschaften wurde untersucht, ob und welche Vor- und Nachteile die Arbeit mit Wissen aus erster Hand im Gegensatz zur Arbeit mit Wissen aus zweiter Hand im Unterricht aufweist. Es konnte gezeigt werden, dass die Frage, ob Daten von den Lernenden selbst erhoben wurden oder aus zweiter Hand stammten, den Umgang mit diesen Daten sowie die Qualität der Diskussion über diese Daten im Klassenzimmer beeinflusste. Sowohl in der Soziologie als auch in der Kunst wird das Wissen, das aus eigenen Erfahrungen gewonnen wurde – sei es mit einem bestimmten Themenbereich, in dem man gearbeitet hat, mit besonderen Lebenssituationen, in denen man sich befand, oder mit der Kunst, die man selbst erlebt hat – einem Wissen aus zweiter Hand gegenübergestellt, das durch eine theoretische Beschäftigung mit diesen Themen erlangt wurde. Es geht dann also nicht primär um das Wissen aus zweiter Hand von Einzelpropositionen, sondern von ganzen Themenbereichen. Hier wird sowohl in der Kunst als auch in der Soziologie zunächst von einer Überlegenheit von Erfahrungen aus erster Hand ausgegangen, wobei dieses Primat in den letzten Jahren häufiger infrage gestellt wird.10 Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass zwar die Reichweite des Begriffs Wissen aus zweiter Hand aufgrund unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen 9 Paulus, van Elk und Bekkering 2012. 10 Vujanović 2013 stellt die Annahme einer Vorrangstellung von Wissen aus erster Hand gegenüber Wissen aus zweiter Hand in der Kunst infrage; Harris 2008 stellt dies für die Erwachsenenbildung infrage.

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Kapitel 1

in verschiedenen wissenschaftlichen Fachbereichen unterschiedlich bestimmt wird, man jedoch zwei Grundtendenzen ausmachen kann. Erstens wird außerhalb der Philosophie in den Wissenschaften angenommen, dass es einen strukturellen Unterschied zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand gibt, der fühl- und messbare, praktische und epistemische Folgen hat. Dieser Unterschied resultiert daraus, dass Wissen aus erster Hand auf eigenen Erfahrungen und Schlussfolgerungen beruht und daher auch ein besseres und direkteres Verständnis der Sachverhalte ermöglicht. Zweitens wird als zumeist unstrittig vorausgesetzt, dass Wissen aus erster Hand daher unter sonst gleichen Bedingungen als wertvoller betrachtet werden kann als Wissen aus zweiter Hand.11 Ergebnis: In den Wissenschaften außerhalb der Philosophie wird von einem Begriff von Wissen aus zweiter Hand ausgegangen, der eine sehr weite Extension hat und alles Wissen umfasst, das nicht eigenständig gewonnen wurde. 1.1.2 Verwendung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand in der Philosophie Obwohl der mit dem Begriff des Wissens aus zweiter Hand verwandte Begriff des testimonialen Wissens in den letzten Jahrzehnten in der analytischen Philosophie eine stärkere Aufmerksamkeit erfahren hat, gibt es bislang noch keine systematische Beschäftigung mit dem Begriff des Wissens aus zweiter Hand. Implizit wird der Begriff des Wissens aus zweiter Hand oft mit dem Begriff des Wissens aus Aussagen anderer gleichgesetzt. Viele Autorinnen benutzen den Begriff in ihren Arbeiten einfach synonym zum Begriff des testimonialen Wissens. Es muss dann davon ausgegangen werden, dass die Extension des Begriffs Wissen aus zweiter Hand analog zur Extension des Begriffs des testimonialen Wissen variiert.12 In einigen Diskursen wird der Begriff des Wissens 11

Auch die Autorinnen, die in ihren Texten teilweise gegen diese Annahme argumentieren, setzen sie zunächst als allgemeinen Konsens voraus. So stellt Vujanović in einem Artikel, in dem sie für den Wert von Wissen aus zweiter Hand in der Kunst argumentiert, fest: „Therefore, saying that second-hand knowledge is a form of knowledge that is characteristic of the region of the former Yugoslavia has a negative connotation, because it places the region in a subordinate position with respect to the centre.“ Vujanović 2013, 128. Und Harris bemerkt, dass diese Vorannahmen über die Überlegenheit von Wissen aus erster Hand durchaus praktische Implikationen haben können: „Assumptions about the necessity, superiority, or insightfulness of “first-hand familiarity“ with a phenomenon (such as working as a police officer or suffering discrimination) can shape hiring decisions, influence how faculty members present themselves, and guide the developmental trajectory of departments.“ Harris 2008, 86. 12 Vgl. hierzu beispielsweise Audi 2015; McDowell 1994; McMyler 2007; Reynolds 2002; Shieber 2015.

Abgrenzung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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aus zweiter Hand als Orientierungspunkt genutzt, um den Begriff des testimonialen Wissens zu bestimmen. Elizabeth Fricker bestimmt Wissen aus zweiter Hand in dem gleichnamigen Artikel „Second-Hand Knowledge“ folgendermaßen: „Zunächst sehen wir, dass Wissen, das durch das Vertrauen in testimony gewonnen wurde, immer und notwendigerweise Wissen aus zweiter Hand ist.“13 Testimoniales Wissen ist daher notwendigerweise Wissen aus zweiter Hand ist. Weiter bestimmt Fricker den Begriff des Wissens aus zweiter Hand nicht. Stattdessen geht sie nach dieser Feststellung dazu über, den Begriff des testimonialen Wissens zu analysieren. Ebenso argumentiert Luzzi in dem Artikel „Is Testimonial Knowledge Second-Hand Knowledge?“14, weshalb testimoniales Wissen weder notwendig noch hinreichend Wissen aus zweiter Hand darstellt. Der Begriff des Wissens aus zweiter Hand wird innerhalb dieses Diskurses zur Abgrenzung verwendet. Dies ist nur möglich, weil implizit vorausgesetzt wird, dass die Extension des Begriffs des Wissens aus zweiter Hand schon feststeht oder sich von selbst ergibt. Es wird als unstrittig angesehen, dass Wissen aus zweiter Hand sowohl Wissen beim Hörer als auch Wissen bei der Sprecherin erfordert und hierdurch ausreichend definiert ist. Da die letztere Bedingung für testimoniales Wissen jedoch umstritten ist, ebenso wie etwaige andere Zusatzbedingungen, wird der Begriff des Wissens aus zweiter Hand als Fixpunkt verwendet, um daran den eigenen Ansatz von testimonialem Wissen deutlich zu machen. Frickers Aussage, dass testimoniales Wissen immer und notwendigerweise Wissen aus zweiter Hand ist, ist also so zu verstehen, dass testimoniales Wissen immer Wissen bei der Sprecherin und beim Hörer voraussetzt. Ebenso ist die Argumentation von Luzzi gegen die „second-handedness of testimonial knowledge“ so zu verstehen, dass das Vorliegen von Wissen bei der Sprecherin und beim Hörer nicht notwendig und nicht hinreichend für testimoniales Wissen ist15. Abweichend von diesem engen Begriff von Wissen aus zweiter Hand gibt es jedoch auch einige wenige Philosophinnen, die den Begriff des Wissens aus zweiter Hand sehr weit fassen. Pritchard16 betrachtet den Begriff des Wissens aus zweiter Hand als Antonym zu einem Begriff von Wissen aus erster Hand, der aktives Bemühen erfordert. Während die aktive Sinneswahrnehmung Wissen aus erster Hand generieren könne, würden nicht nur testimoniales Wissen, sondern auch die passive Sinneswahrnehmung Wissen aus zweiter Hand liefern. Passive Sinneswahrnehmung ist laut Pritchard eine Art der 13 14 15 16

Fricker 2006a, 593. Meine Übersetzung. Vgl. Luzzi 2016. Vgl. Luzzi 2016, 899. Pritchard 2016.

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Wahrnehmung, die durch eine bloße Aufnahme von Sinnesinformationen durch das selbstständige Operieren der zuständigen Sinnesvermögen unter geeigneten Umweltbedingungen, jedoch ohne tieferes Verständnis oder eigenes Bemühen, gekennzeichnet ist. All diese Formen des Wissens aus zweiter Hand seien neben dem Wissen der einzelnen Proposition nicht notwendigerweise auch mit Verständnis verbunden. Dies sei bei Wissen aus erster Hand anders, denn dieses sei, egal ob auf perzeptueller oder intellektueller Ebene, mit einer Art von Einsicht und daher mit Verständnis verbunden, was auch den höheren epistemischen Wert von Wissen aus erster Hand erklären könne.17 Es lässt sich also festhalten, dass es in der philosophischen Literatur eine gewisse Heterogenität gibt, was die Verwendung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand betrifft. Trotzdem lässt sich auch hier eine Tendenz ausmachen, die klar in Richtung eines sehr engen, anspruchsvollen Begriffs von Wissen aus zweiter Hand geht. Ergebnis: Nach konventioneller Sichtweise in der Philosophie ist die Extension des Begriffs Wissen aus zweiter Hand kleiner als die Extension in den anderen Wissenschaften. Es wird von einem engen Begriff von Wissen aus zweiter Hand ausgegangen, der Wissen bei der Erstbesitzerin zwingend voraussetzt. 1.2

Möglichkeiten der Bestimmung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

Der Begriff Wissen aus zweiter Hand soll im Folgenden zu verwandten Begriffen in der Philosophie abgegrenzt werden. Diese sind zum einen der Begriff des testimonialen Wissens, der erst in den vergangenen Jahrzehnten in der philosophischen Debatte eine eigene Bedeutung und eine stärkere Beschäftigung erfahren hat18, zum anderen gibt es den Begriff des Wissens durch Beschreibung 17 Vgl. Pritchard 2016. Auf den Zusammenhang zwischen Verstehen und epistemischem Wert wird außerdem in Pritchard 2009 genauer eingegangen. Pritchard strebt trotzdem keine Gleichsetzung von Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand an, da beide Begriffe sich in Bezug auf ihre Objekte unterscheiden können, da Verstehen sich nicht notwendigerweise auf Einzelpropositionen bezieht und weil Verstehen in Ausnahmefällen mit einer bestimmten Art von „environmental epistemic luck“ vereinbar sei. Vgl. Pritchard 2009, 11, 16. 18 Vgl. hierzu Gelfert 2014. Gelfert datiert die Entstehung einer „Epistemology of Testimony“ als eigene Subdisziplin innerhalb der Erkenntnistheorie ungefähr auf das Jahr 1992, das Jahr der Publikation von Coady’s Monographie „Testimony: A Philosophical Study.“

Abgrenzung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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(knowledge by description), der von Russell als Gegensatz zum Begriff des Wissens aus Bekanntschaft (knowledge by acquaintance) eingeführt wurde19 und daher schon eine längere Tradition der Beschäftigung innerhalb der Philosophie besitzt. Auch der Begriff des Wissens durch Beschreibung wird teilweise synonym zum Begriff des Wissens aus zweiter Hand verwendet, wenn auch seltener.20 Da sowohl der Begriffsumfang des testimonialen Wissens als auch des Wissens durch Beschreibung in der Philosophie Gegenstand von Kontroversen sind, werde ich im Folgenden knapp darstellen, welche Möglichkeiten der Bestimmung beider Begriffe in der Philosophie die gängigsten sind und inwiefern diese mit dem Begriff des Wissens aus zweiter Hand Übereinstimmungen aufweisen. Ich werde im Folgenden zeigen, dass weder der Begriff des Wissens durch Beschreibung noch der Begriff des testimonialen Wissens sich vollständig kongruent zum Begriff des Wissens aus zweiter Hand verhalten. Bei einer Gleichsetzung des Begriffs des Wissens durch Beschreibung mit dem Begriff des Wissens aus zweiter Hand würde jegliches inferentielles Wissen als Wissen aus zweiter Hand gelten; es sollte jedoch auch möglich sein, inferentielles Wissen aus erster Hand zu besitzen. Bei einer Gleichsetzung des Begriffs des testimonialen Wissens mit dem Begriff des Wissens aus zweiter Hand würde je nach Begriffsbestimmung der Begriff des testimonialen Wissens mehr, gleichviel oder weniger Wissen umfassen als ein enger Begriff von Wissen aus zweiter Hand und weniger Wissen als ein weiter Begriff von Wissen aus zweiter Hand. Arbeitsdefinition Wissen aus zweiter Hand eng: Ein enger Begriff von Wissen aus zweiter Hand setzt sowohl das Vorliegen von Wissen bei der Sprecherin als auch das Vorliegen von Wissen beim Hörer voraus. Arbeitsdefinition Wissen aus zweiter Hand weit: Ein weiter Begriff von Wissen aus zweiter Hand setzt nur das Vorliegen von Wissen bei einem Hörer voraus, das nicht aus erster Hand stammt.

Da sowohl der enge als auch der weite Begriff von Wissen aus zweiter Hand als Ausgangspunkt für ein mögliches Explikat infrage kommen, werde ich im Folgenden beide Begriffe nacheinander mit angrenzenden Begriffen in der Philosophie vergleichen. 19 Vgl. Russell 1911 und Russell 1912. 20 Vgl. hierzu DePoe 2020 und Hasan und Fumerton 2020. DePoe verwendet die Begriffe Wissen aus zweiter Hand und Wissen aus Beschreibung synonym; Hasan und Fumerton kritisieren dagegen die synonyme Verwendung der Begriffe Wissen aus erster Hand und Wissen aus Bekanntschaft.

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Methodisches Vorgehen: Auf methodischer Ebene dient dieses Vorgehen der eindeutigen Kennzeichnung des Explikandums. Indem der enge Begriff von Wissen aus zweiter Hand und der weite Begriff von Wissen aus zweiter Hand als mögliche Explikate von den verwandten Begriffen des testimonialen Wissens und des Wissens durch Beschreibung abgegrenzt werden, kann eine Kennzeichnung der Funktionen des Explikandums erfolgen, die bei der Explikation erhalten bleiben sollen.21 Der enge Begriff des Wissens aus zweiter Hand und seine Abgrenzung von testimonialem Wissen Um die Begriffe des Wissens aus zweiter Hand und des testimonialen Wissens zu vergleichen, werde ich im folgenden Unterkapitel zunächst von einem engen Begriff von Wissen aus zweiter Hand ausgehen, der sowohl Wissen beim Hörer als auch Wissen bei der Sprecherin voraussetzt. Diese Bestimmung entspricht der in der analytischen Philosophie vorherrschenden Meinung. Die Variation nur eines der beiden Begriffe bietet den Vorteil größerer Klarheit beim Vergleich. Die in den letzten Jahrzehnten in der Philosophie entstandene Subdisziplin der Epistemologie von Testimony beschäftigt sich mit Testimony als einer möglichen Quelle von Wissen. Hierbei muss zunächst bedacht werden, dass Testimony nicht zwangsläufig Wissen vermittelt; es wird von vielen Autorinnen nicht als faktiv betrachtet22 und auch, wenn es wahr ist, muss es nicht zwangsläufig zu Wissen beim Empfänger führen. Für einen möglichen Vergleich mit dem Begriff des Wissens aus zweiter Hand sollte also nur der Teil von Testimony betrachtet werden, der wirklich Wissen beim Empfänger erzeugt. Doch auch Wissen, das kausal mithilfe von Testimony erzeugt wurde, muss nicht unbedingt testimoniales Wissen sein. Dies liegt daran, dass es sich beim Hervorbringen und Empfangen von Testimony um einen sozialen Prozess handelt, bei dem es auch darum geht, ob von Sprecherin und Hörer bestimmte Regeln der Kommunikation eingehalten werden, die einen Sprechakt erst zu Testimony machen. Dies führt zu mitunter verwirrenden Unterscheidungen. Fricker unterscheidet zwischen Wissen, das durch eine Schlussfolgerung aus Testimony und Wissen, das durch Vertrauen in Testimony entstanden ist, während nur Letzteres auch Wissen aus zweiter Hand darstelle.23 1.2.1

21

Greimann beschreibt dieses Vorgehen als notwendigen Schritt in der Präexplikation als Voraussetzung der Vorbereitung der eigentlichen Explikation. Vgl. Greimann 2007, 277. 22 Vgl. Coady 1994, 25–53; Lackey 2007a. Ein Autor, der Testimony als faktiv betrachtet, ist Timothy Williamson. Vgl. Williamson 2002 Ch. 11. 23 Vgl. Fricker 2006a, 601–602.

Abgrenzung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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Audi unterscheidet zwischen testimony-based knowledge, das er zu Testimony im engeren Sinne zählt, knowledge arising by way of testimony, das auch Wissen einschließt, das aus falschen Aussagen gewonnen wird, und indirect testimony, welches Wissen betrifft, das zwar durch Testimony impliziert wird, jedoch eigentlich inferentiell gewonnen wurde.24 Diese Unterscheidungen weisen auf eine Problematik hin, die dann entsteht, wenn versucht wird, Fälle zu klassifizieren, in denen sich entweder Sprecherin oder Hörer nicht oder nicht vollständig an die Regeln des Äußerns von Testimony gehalten haben und trotzdem irgendwie Informationen weitergegeben wurden. Diskussionspunkte, die hier entstehen, betreffen einerseits die Frage, welche Regeln Sprecherin und Hörer einhalten müssen, damit eine Äußerung überhaupt einen Fall von Testimony darstellt. Hier können sowohl Anforderungen an die Sprecherin als auch an den Hörer oder an beide Akteure gestellt werden. Jennifer Lackey hat versucht, diese Unterscheidung systematisch aufzuarbeiten und vorgeschlagen die Begriffe Sprecherinnen-Testimony und Hörer-Testimony zu unterscheiden, um eine Konfusion beider Aspekte zu vermeiden: […] der Begriff Testimony besitzt zwei distinkte und oft voneinander unabhängige Aspekte. Einerseits beinhaltet Sprecherinnen-Testimony einen intentionalen Akt aufseiten der Sprecherin, während andererseits Hörer-Testimony eine Quelle von Überzeugung oder Wissen für den Hörer herausgreift. Es wird aurgumentiert, dass inadäquate Sichtweisen auf Testimony, entweder aus dem Zusammenfallen beider Aspekte in einen einzigen Ansatz entstehen oder aus dem Unvermögen einen der beiden Aspekte zu erkennen.25

Lackey schlägt daher vor, von einer disjunktiven Sichtweise auf testimoniales Wissen auszugehen (Disjunctive View of the Nature of Testimony): DVNT: S trifft die testimoniale Aussage, dass p, indem sie einen Kommunikationsakt a vollzieht, genau dann, wenn (zumindest teilweise) aufgrund des übertragbaren Inhalts von a (1) S begründet beabsichtigt, die Information, dass p, zu vermitteln oder (2) a vernünftigerweise als Vermittlung der Information, dass p, aufgefasst wird.26

Die Beantwortung der Frage, ob und welche Anforderungen man an Sprecherin und Hörer stellt, bestimmt die Extension des Begriffs Testimony. Je strenger die Anforderungen an Sprecherin und/oder Hörer, umso kleiner der Kreis von Wissen, der als testimoniales Wissen bezeichnet werden darf. Die hieraus 24 Vgl. Audi 2013, 514–517. 25 Lackey 2008, 13. Meine Übersetzung. 26 Lackey 2008, 35. Meine Übersetzung.

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entstehenden Sichtweisen werden daher in der Literatur in narrow views of testimony und broad views of testimony unterteilt.27 Ich werde exemplarisch einige Möglichkeiten, zu dieser Frage Stellung zu beziehen, vorstellen, die in der analytischen Philosophie in der Debatte um die Normen von Aussagen diskutiert werden. Einige Autorinnen fordern, dass Wissen die Norm für die Äußerung von Testimony sein sollte. Wenn der Anspruch hinzutritt, dass diese Norm eine konstitutive Norm sein soll, dann muss jegliches testimoniales Wissen auch schon bei der Sprecherin als Wissen vorgelegen haben. Diese Sichtweise wird besonders von Williamson vertreten.28 In diesem Falle würde die Extension von Wissen aus zweiter Hand mit der Extension von Testimony übereinstimmen, solange keine Zusatzbedingungen aufgestellt werden. Es ist jedoch auch möglich, zusätzlich zum Vorliegen von Wissen bei der Sprecherin vom Hörer zu fordern, dass er der Sprecherin als Aussagende vertraut, wie es zum Beispiel von Fricker formuliert wird: „Testimony, ist die Kommunikation von Wissen durch das Vertrauen des Hörers in das was die Sprecherin als wahr darstellt […].“29 Es gibt einige Theorien von testimonialem Wissen, die zusätzlich zum Vorliegen von Wissen bei der Sprecherin Vertrauen oder ähnliche Zuschreibungen von Verlässlichkeit von Seiten des Hörers fordern30; diese werden unter dem Begriff der interpersonellen Theorien von Testimony zusammengefasst31. Die Extension eines solchen interpersonellen Begriffs von Testimony wäre kleiner als die Extension von Wissen aus zweiter Hand. Andere Autorinnen gehen davon aus, dass eine Äußerung schon dann als Testimony betrachtet werden kann, wenn die Sprecherin die Absicht hatte, Testimony zu übermitteln oder der Hörer meint, Testimony empfangen zu haben. Diese Sichtweise wird prominent von Lackey vertreten.32 Betrachtet man Wissen nicht als die Norm der Äußerung für Testimony, stellt sich die Frage, ob es für einen Hörer auch möglich ist, testimoniales Wissen zu erlangen, wenn die Sprecherin selbst nicht über dieses Wissen verfügte. Diese Frage wird in der Literatur im Rahmen der Debatte um die Generativität von testimonialem Wissen geführt. Bekannteste Vertreterin der Argumentation, dass es möglich sei, testimoniales Wissen zu erlangen, ohne dass Wissen 27 28 29 30

Vgl. hierzu Lackey 2008, 16–23. Vgl. Williamson 2002 Ch. 11. Williamson vertritt die sog. knowledge norm of assertion. Fricker 2006a, 593. Vgl. u.a. Welbourne 1981; Baier 1986; Ross 1986; Govier 1993; Faulkner 2007; Hinchman 2012; Zagzebski 2016; Moran 2006. 31 Vgl. Gelfert 2014, 163–177. 32 Vgl. Lackey 2008, 13–36.

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auf Seiten der Sprecherin vorliegt, ist Jennifer Lackey. Sie nutzt zur Illustration dieser These ihren bekannten Fall der kreationistischen Lehrerin. In diesem Gedankenexperiment stellt sich Lackey die Frage, ob es für Schülerinnen grundsätzlich möglich ist, von einer kreationistischen Lehrerin Wissen über die Evolutionstheorie vermittelt zu bekommen. Diese Lehrerin glaubt aufgrund ihres christlichen Glaubens selbst nicht an die Wahrheit der Evolutionstheorie, ist sich jedoch darüber im Klaren, dass ihre Berufung sie dazu verpflichtet, den Schülerinnen nicht ihren persönlichen Glauben, sondern die empirisch am besten abgesicherten wissenschaftlichen Aussagen zu vermitteln. Lackey ist der Meinung, dass die Schülerinnen in diesem Fall testimoniales Wissen erlangen können, womit gezeigt wäre, dass testimoniales Wissen nicht nur transitiv, sondern auch generativ sein kann. In diesem Fall wäre das Vorliegen von testimonialem Wissen also nicht notwendigerweise an das Vorliegen von Wissen aus zweiter Hand gebunden.33 Während Autorinnen wie Lackey, Luzzi und Graham grundsätzlich von der Generativität von testimonialem Wissen ausgehen34, sprechen sich u.a. Audi, McDowell und Fricker klar dafür aus, dass testimoniales Wissen nur transmissiv sein kann35. Geht man von der Generativität von testimonialem Wissen aus, ist die Extension von Wissen aus zweiter Hand kleiner als die von testimonialem Wissen. Was die hier vorgestellten Ansätze von testimonialem Wissen verbindet, ist die Definition von Regeln, die festlegen, wann eine Aussage als Testimony gelten darf und wann nicht. Coady bestimmt diese folgendermaßen: Der Begriff von Testimony, den ich daher definieren und nutzen werde, ist der eines bestimmten Sprechaktes oder, in J. L. Austins […] Terminologie, eines illokutionären Sprechaktes, der normalerweise und standardmäßig unter bestimmten Bedingungen und mit bestimmten Intentionen ausgeführt werden sollte und wird; sodass wir intuitiv davon ausgehen könnten, dass die Definition des Begriffs uns Konventionen liefert, die die Frage der Existenz des Aktes der Weitergabe von Testimony regeln.36

Auch Fricker bezeichnet den Sprechakt als das zentrale Paradigma für Testimony.37 Eine strukturelle Folge daraus ist, dass es immer einen Bereich an Fällen gibt, in denen die Äußerung einer Sprecherin dafür verantwortlich war, dass ein Hörer Wissen erlangte, dieser Vorgang jedoch nicht nach den jeweils 33 34 35 36 37

Vgl. Lackey 2008, 48. Vgl. Graham 2000b; Lackey 2008, 37–71; Luzzi 2016. Vgl. Audi 2002; McDowell 1994; Fricker 2006a. Coady 1994, 25. Meine Übersetzung. Vgl. Fricker 2006a, 592.

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vorgeschriebenen Regeln der Kommunikation für Testimony ablief. In diesen Fällen entstehen dann Klassifikationsprobleme, die einige Autorinnen mit der Einführung von Begrifflichkeiten wie „indirektes Testimony“ oder „Wissen, das auf andere Weise durch Testimony entstanden ist“ versuchen zu lösen.38 Fricker schreibt in einer Fußnote bezüglich der Fälle von Lackey, dass dort zwar auch ohne Wissen aufseiten der Sprecherin doch Wissen durch Testimony erworben wurde, dass es sich in diesen Fällen jedoch nicht mehr um den Kernmechanismus der testimonialen Wissensweitergabe handele.39 Unklar ist auch, wie Fälle klassifiziert werden sollen, in denen das testimoniale Wissen aus einer Quelle stammt, die nicht über Wissen verfügen kann, da sie keine Bewusstseinszustände besitzt. Coady schlägt vor, dieses Wissen als „extended testimony“ zu bezeichnen. Er zählt hierzu dokumentarisches Testimony, das von Philosophinnen und Geschichtswissenschaftlerinnen genutzt wird und in Geburtsregistern und Stadtchroniken, diplomatischen Dokumenten und anderen historischen Aufzeichnungen vorkommt. Außerdem schlägt er vor, zu diesem erweiterten Testimony auch institutionelles Testimony, das in Form von Straßenschildern, Karten u. ä. vorliegt, zu zählen. Diese Form von erweitertem testimonialem Wissen sei für uns zwar so natürlich und einfach zu erlangen, dass wir es normalerweise als Beobachtungswissen betrachten würden, Coady schlägt jedoch vor, diese Form des Wissens als gefrorene Sprechakte (frozen speech acts) zu betrachten.40 Das Problem mit dieser Art von erweitertem Testimony ist das Fehlen einer Sprecherin. Die Art von Kommunikation, die bei der Vermittlung von Testimony stattfindet, setzt jedoch nach Meinung vieler Autorinnen eine erkenntnisfähige Person voraus, die selbst Subjekt normativer, epistemischer Bewertung sein kann.41 Die Art von Gründen, die auf diese Art auf Vertrauen in die Sprecherin als Informantin basieren, seien grundsätzlich verschieden von der Evidenz, die man aus anderen Informationsquellen erhalten könne.42 Hardwig weist jedoch zu Recht darauf hin, dass, vor allem in unserer Wissensgesellschaft, die gegenseitige Abhängigkeit und die wissenschaftliche Arbeitsteilung so groß sind, dass es komplexes Wissen gibt, das keine einzelne Akteurin alleine erwerben kann. Im Falle der testimonialen Weitergabe dieses Wissens müsste man wenigstens zugestehen, dass nicht nur Einzelpersonen, sondern auch ganze Gruppen die Rolle der Informantin einnehmen können.43 38 39 40 41 42 43

Vgl. Audi 2013, 513–517. Vgl. Fricker 2006a, 603. Vgl. Coady 1994, 51. Vgl. hierzuGoldberg 2012, 186. Vgl. Craig 1999; Moran 2006. Vgl. Hardwig 1985.

Abgrenzung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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Außerdem gibt es Philosophinnen, die grundsätzlich nicht davon ausgehen, dass Wissen immer eine dementsprechende Überzeugung voraussetzt. So schlägt Veber vor, subdoxastisches Wissen als das Vorliegen einer wahren Proposition, für die ein Subjekt propositionale Rechtfertigung besitzt, zu verstehen. So kann subdoxastisches Wissen vorliegen, ohne dass das Subjekt diese Proposition auch selbst glauben muss, da keine doxastische Rechtfertigung erforderlich ist. In diesem Fall könnte gleichzeitig die Wissensnorm für Aussagen beibehalten werden und Lackeys Fall der kreationistischen Lehrerin durch die Weitergabe von subdoxastischem Wissen erklärt werden.44 Grohmann schlägt ein ähnliches Vorgehen vor, allerdings möchte er in diesen Fällen von der Weitergabe von impersonalem Wissen sprechen.45 Wenn testimoniales Wissen jedoch auch weitergegeben werden kann, ohne dass die entsprechenden Bewusstseinszustände bei der Sprecherin vorliegen, stellt sich die Frage, inwiefern instrumentenbasiertes Wissen mit testimonialem Wissen verwandt ist. Elisa Freschi weist darauf hin, dass der Unterschied zwischen einer sprechenden Uhr, die die Uhrzeit als Satz formuliert, und einem anonymen Mitarbeiter in einem Callcenter, der Daten von einem Bildschirm abliest, nicht einfach zu bestimmen ist.46 Auch Neges und Sosa sehen starke Überschneidungen zwischen instrumentenbasiertem Wissen und testimonialem Wissen.47 Der Begriff des testimonialen Wissens ist also ein Begriff, der in der analytischen Philosophie sehr kontrovers diskutiert wird. Die genannten Diskussionspunkte beziehen sich einerseits auf die Natur des vermittelten Wissens und andererseits auf die Art und Weise der Übermittlung. Letztere betreffen den Begriff des Wissens aus zweiter Hand jedoch nicht in gleicher Weise. Für die Frage, ob eine Proposition beim Besitzer Wissen aus zweiter Hand darstellt, ist es unerheblich, wie diese dem Empfänger übermittelt wurde. Es sollte ausreichen, dass die Übermittlung zuverlässig genug funktionierte, um den generellen Ansprüchen an die Rechtfertigung von Wissen beim Empfänger zu genügen48 und dass dieses Wissen aus zweiter Hand stammt. 44 45 46 47 48

Veber 2014. Vgl. Grohmann 2015. Freschi 2017, 151. Vgl. Neges 2018; Sosa 2006. Ich gehe davon aus, dass jegliches Wissen eine epistemische Rechtfertigungsbedingung erfüllen muss, die je nach Wissenstheorie unterschiedlich ausformuliert sein kann. Vgl. hierzu zum Beispiel Chisholm 1989, 8–18; Lehrer 1990, 11–19; Audi 2003, 219–257; Grundmann 2017, 167–205. Soweit ich es nicht anders kennzeichne, beziehe ich mich nicht auf ein bestimmtes externalistisches oder internalistisches Verständnis von epistemischer Rechtfertigung. Im Falle internalistischer Rechtfertigung gehe ich davon aus, dass für Wissen doxastische

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Wissen aus zweiter Hand und testimoniales Wissen sind daher konzeptuell voneinander unabhängig. Je nachdem, welche Anforderungen man an die Übertragung von Testimony stellt, kann der Bereich an Propositionen, die als testimoniales Wissen gelten, umfangreicher oder kleiner sein als der Bereich an Propositionen, die als Wissen aus zweiter Hand betrachtet werden. Nur aufgrund dieser konzeptuellen Unabhängigkeit ist es überhaupt möglich, den Begriff des Wissens aus zweiter Hand in der Debatte um testimoniales Wissen als Referenzpunkt zu verwenden. Dies wäre nicht möglich, wenn beide Begriffe abhängig voneinander variieren würden.49 Der bis hierhin vorgenommene Vergleich ist von einem Begriff von Wissen aus zweiter Hand ausgegangen, der in der Literatur der analytischen Philosophie üblicherweise vertreten wird, jedoch enger gefasst ist, als dies in der übrigen wissenschaftlichen Literatur üblich ist. Ein solcher Begriff von Wissen aus zweiter Hand wäre kontingenterweise mit einem bestimmten Begriff von testimonialem Wissen deckungsgleich. Er würde jedoch auch dieselben Limitierungen aufweisen. Es wäre mit einem solchen engen Begriff von Wissen aus zweiter Hand nicht möglich, Fälle zu klassifizieren, bei denen zwar Wissen beim Zweitbesitzer vorliegt, die genauen Umstände eine Wissenszuschreibung bei der Erstbesitzerin jedoch nicht erlauben. Ergebnis: Der enge Begriff des Wissens aus zweiter Hand stimmt bezüglich seiner Extension nur mit einem bestimmten, transmissiven Verständnis von testimonialem Wissen überein. Beide Begriffe übernehmen unterschiedliche Funktionen in der philosophischen Diskussion und sind konzeptuell voneinander unabhängig. Abbildung 1 illustriert die Extension der vorgestellten gängigsten Begriffe von testimonialem Wissen im Vergleich zu dem in der analytischen Literatur vorherrschenden engen Verständnis von Wissen aus zweiter Hand. Die Extension von testimonialem Wissen und Wissen aus zweiter Hand sind nur dann deckungsgleich, wenn man davon ausgeht, dass Wissen die konstitutive Norm

49

Rechtfertigung nötig ist und eine Zusatzbedingung erfüllt wird, die die wahre gerechtfertigte Meinung gettierresistent macht. Dies wird u.a. deutlich in einer Kontroverse zwischen Fricker 2006a, McMyler 2007. und Luzzi 2016, in der es um die „second-handedness“ von testimonialem Wissen geht. Fricker und McMyler gehen zwar davon aus, dass Testimony notwendigerweise die Eigenschaft besitzt, Wissen aus zweiter Hand zu sein, trotzdem werden beide Begriffe als konzeptuell unabhängig voneinander behandelt.

Abgrenzung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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für die Äußerung von Testimony darstellt50, jedoch keine weiteren Zusatzbedingungen an den Hörer stellt.

Abb. 1

Extension von testimonialem Wissen und Wissen aus zweiter Hand (nicht quantitativ)51

1.2.2 Wissen aus zweiter Hand: begriffliches Spannungsfeld Der oben vorgestellte enge Begriff des Wissens aus zweiter Hand stellt eine zunächst intuitive Eingrenzung dar. Wissen aus zweiter Hand muss als Wissen bei der Erstbesitzerin und beim Zweitbesitzer vorgelegen haben, sonst ist es kein Wissen aus zweiter Hand. Dieser Begriff verhält sich in seiner Extension kongruent zu einem transmissiven Begriff von testimonialem Wissen. Was er 50 Unger 2002; Williamson 2002; Hawthorne und Stanley 2008; Benton 2016; Turri 2016 gehen davon aus, dass Wissen die Norm für zulässige Äußerungen darstellt; Graham 2000b; Weiner 2005; Carter und Gordon 2011 gehen davon aus, dass die konstitutive Norm für Äußerungen nicht Wissen ist, sondern eine davon verschiedene (je nach Autorin anders bestimmte) Norm ist. 51 Keil 2021, Eigene Darstellung.

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jedoch nicht leistet, ist, einen kontradiktorischen Gegenbegriff zum Begriff des Wissens aus erster Hand zu liefern52, da bei einer engen Bestimmung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand ein Bereich an Wissen übrigbleibt, der nicht als Wissen aus zweiter Hand klassifiziert werden kann, jedoch auch kein Wissen aus erster Hand darstellt. Dies ist der Bereich an Wissen, bei dem es zwar eine Erstbesitzerin gibt, die eine wahre, gerechtfertigte Proposition weitergegeben hat, diese Proposition stellt jedoch aus irgendeinem Grund kein Wissen bei der Erstbesitzerin dar. Dies würde alle Propositionen betreffen, die man als generatives testimoniales Wissen bezeichnen würde und alle Sonderfälle, in denen die Erstbesitzerin keine Person oder keine Einzelperson darstellt.53 Dieses Klassifikationsproblem taucht nur in Verbindung des Wissensbegriffs mit dem Begriff des Aus-zweiter-Hand-Seins auf. Normalerweise kann der Ausdruck des Besitzens aus zweiter Hand unkompliziert genutzt werden, um anzuzeigen, dass Dinge gebraucht erworben wurden, diese Dinge also vorher schon einmal von jemand anderem benutzt/besessen wurden. Diese Dinge sind oft, aber nicht immer, materielle Güter. Wer genau diese Dinge wofür benutzt hat, ist dabei für den Besitzer aus zweiter Hand unwichtig. Ein Stuhl, den ich aus zweiter Hand besitze, ist auch dann noch ein Stuhl aus zweiter Hand, wenn die Erstbesitzerin ihn als Tisch benutzt hat. Auch die Überzeugung der Erstbesitzerin, dass es sich wirklich um einen Tisch gehandelt hat, ändert daran nicht viel. Wenn ich einen Gegenstand aus zweiter Hand erwerbe, weiß ich zudem oft gar nicht, wer die vorherige Besitzerin war. Genau dies macht den Vorteil des Begriffs aus. Konzeptuell scheint die Bezeichnung aus zweiter Hand genau diese nichtreferentielle Bezugnahme zu ermöglichen.

52

53

Ich verwende den Begriff der kontradiktorischen Antonymie im Sinne von Horn 1989. Horn geht davon aus, dass ein Gegensatzpaar auch dann einen kontradiktorischen Gegensatz bilden kann, wenn es nicht im streng logischen Sinne kontradiktorisch ist, sondern sich nur für bestimmte Gegenstandsbereiche kontradiktorisch verhält. So würde das Paar Wissen aus erster Hand/Wissen aus zweiter Hand keinen streng kontradiktorischen Gegensatz bilden, da es auch Nichtwissen gibt; innerhalb des Bereichs der Propositionen, die als Wissen zählen, kann dieses Gegensatzpaar jedoch wohl einen kontradiktorischen Gegensatz im Sinne Horns bilden, solange es neben der Möglichkeit, Wissen aus erster Hand oder Wissen aus zweiter Hand zu sein, keine dritte Möglichkeit gibt, Wissen zu sein. Horn nennt diese Gegensatzpaare immediate (strong, logical) contraries. Vgl. Horn 1989, 268–296. Ich setze hier und im Weiteren einen Standardbegriff von Wissen voraus, der Wissen als wahre gerechtfertigte Überzeugung begreift, wobei die Rechtfertigungsbedingung entweder ganz oder teilweise externalistisch verstanden wird, oder die interne Rechtfertigung durch eine externe vierte Zusatzbedingung ergänzt wird. Vgl. zur Standardanalyse des Wissens z.B. Grundmann 2017, 66–162.

Abgrenzung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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Wer die Erstbesitzerin seines gebrauchten Stuhls kennt, der antwortet auf Nachfrage nicht, dass der Stuhl aus zweiter Hand ist, sondern zum Beispiel von Tante Erna. Eben diese Möglichkeit der nichtreferentiellen Bezugnahme stößt bei der Kombination der Eigenschaft des Besitzens aus zweiter Hand mit dem Begriff des Wissens jedoch an ihre Grenzen. Damit eine wahre Proposition beim Zweitbesitzer überhaupt Wissen darstellt, muss diese gerechtfertigt sein. Diese Rechtfertigung schließt nicht grundsätzlich aus, dass die Erstbesitzerin des Wissens dem Zweitbesitzer unbekannt ist: Es ist problemlos möglich, aus einer bekannten Zeitung Wissen zu beziehen und die Autorin nicht genau zu kennen. Allerdings wird es keine Zeitung geben, in der die Autorinnen nicht namentlich genannt und genau zugeordnet und überprüft werden können. Ähnliches gilt für Studien, Fachbücher und andere verlässliche Quellen. Dies hängt mit dem besonderen Charakter des Wissens zusammen, der verlangt, das Wissen auf eine Art erworben wurde, die eine Rechtfertigung voraussetzt54. Daher ist es im Falle des Wissens aus zweiter Hand gar nicht möglich, von der Frage, wer die Vorbesitzerin war, komplett abzusehen, da die Beantwortung dieser Frage auch Folgen für die eigene Rechtfertigung und daher den Wissensstatus des Wissens aus zweiter Hand haben kann. Dieses Merkmal der Bezeichnung aus zweiter Hand kann also in Kombination mit dem Begriff des Wissens nicht mehr einfach angewendet werden. Es kommt jedoch noch eine weitere Schwierigkeit hinzu: Im Falle des Wissens aus zweiter Hand ist es auch nicht möglich zu sagen, es sei einem egal, was die Vorbesitzerin damit angestellt habe. Falls diese die weitergegebenen Informationen zwar besaß, aber nicht genutzt hat, um die entsprechende Überzeugung zu bilden, wenn sie nicht an die Wahrheit der Proposition geglaubt hat, dann hätte sie zwar Informationen besessen, die sie weitergab, aber gar kein Wissen, weil die Überzeugungsbedingung des Wissens nicht erfüllt gewesen wäre. Eine solche Proposition würde dann für den Empfänger, solange für ihn die Rechtfertigungsbedingung erfüllt ist, trotzdem Wissen darstellen. Doch würde ein auf solche Art gewonnenes Wissen auch Wissen aus zweiter Hand darstellen? Es würde kein Zweite-Hand-Wissen im oben beschriebenen engen Sinne darstellen, es könnte jedoch insofern Wissen aus zweiter Hand im weiten Sinne darstellen, als es quellenmäßig aus zweiter Hand kommt und Wissen darstellt. Im Falle des Stuhls scheint es unkompliziert zu sagen, dass der Stuhl auch dann noch ein Stuhl aus zweiter Hand ist, wenn er von der Erstbesitzerin nicht als Stuhl betrachtet und genutzt wurde. Beim Begriff des Wissens aus 54

Diese Rechtfertigung wird je nach Wissenstheorie unterschiedlich bestimmt.

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zweiter Hand könnte man ähnlich argumentieren: Das Wissen ist Wissen aus zweiter Hand, auch wenn es von der Erstbesitzerin nicht als solches betrachtet wurde. Dies würde jedoch gegen die Überzeugungsbedingung des Wissens verstoßen. Ähnlich wie beim Begriff des testimonialen Wissens besteht beim Begriff des Wissens aus zweiter Hand also ein Klassifikationsproblem bei einer bestimmten Gruppe von Fällen, bei denen ein Hörer Wissen von einer Sprecherin erwirbt, die selbst kein Wissen besitzt, weil sie selbst nicht überzeugt ist, dass es sich um Wissen handelt. Solche Fälle, in denen die Erstbesitzerin kein Wissen besitzt, weil sie es selbst nicht als solches betrachtet, können auf verschiedene Art und Weise entstehen und werden unterschiedlich klassifiziert. In Fällen, wie dem der kreationistischen Lehrerin von Lackey stellt die Annahme der Wahrheit des Kreationismus einen irreführenden, jedoch unwiderlegten Defeater (undefeated defeater)55 dar, der mit der Evidenz für die Wahrheit der Evolutionstheorie konfligiert und diese daher direkt entkräftet.56 Evidenz erster Ordnung kann jedoch auch auf verschiedenen Wegen durch Evidenzen auf einer höheren Ebene (higher-order evidence) infrage gestellt werden.57 So können zum Beispiel Fälle von Peer Disagreement zu einem Konflikt zwischen Evidenz erster Ordnung und Evidenz auf einer höheren Ebene führen.58 Konflikte, die zwischen der eigenen Meinung und der einer epistemischen Autorität auftreten, können dazu führen, dass die Meinung der Autorität einen die Evidenz p untergrabenden Defeater (undercutting defeater) darstellt.59 Die Frage, ob und wann in diesen Fällen der Erstbesitzerin und dem Zweitbesitzer Wissen zugeschrieben wird, hängt von Details des Falls und von der Wissenstheorie ab, die herangezogen wird. Es kann jedoch zu Fällen kommen, in denen die Erstbesitzerin die Überzeugungsbedingung nicht erfüllt und trotzdem Wissen beim Zweitbesitzer vorliegt. Es bestehen insgesamt vier verschiedene Möglichkeiten, Fälle dieser Art zu klassifizieren. Alle Möglichkeiten lassen sich exemplarisch anhand des Beispiels der kreationistischen Lehrerin veranschaulichen. Dieses in der analytischen Philosophie bekannte Gedankenexperiment von Lackey wurde 55 Ein Defeater ist eine Bedingung, die den positiven epistemischen Status einer Überzeugung für die Besitzerin herunterstuft oder ganz aufhebt. Lackey und Reed unterscheiden noch einmal zwischen normativen und psychologischen Defeatern. Psychologische Defeater können auch irreführend bzw. falsch sein. Vgl. Lackey 1999; Reed 2006. Defeater können durch andere Gründe widerlegt werden. Nur unwiderlegte (undefeated) Defeater führen dazu, dass eine Proposition den positiven epistemischen Status für ihre Besitzerin verliert. 56 Vgl. Lackey 2008. 57 Vgl. z.B. Christensen 2010; Weatherson 2019, 130–145. 58 Vgl. z.B. Kelly 2010; Weatherson 2019, 204–223. 59 Vgl. Constantin und Grundmann 2020.

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konzipiert, um die Möglichkeit der Generativität von Testimony zu belegen. Für das Thema dieser Arbeit folgt aus dem Gedankenexperiment jedoch die Frage, ob die Schülerinnen, falls sie Wissen erworben haben, dieses Wissen aus zweiter Hand besitzen. Die erste und auf den ersten Blick einfachste Möglichkeit wäre es, den Hörern in solch einem Fall das Wissen abzusprechen. Als Argument würde es ausreichen, davon auszugehen, dass es nur möglich ist, Wissen durch Weitergabe von einer verlässlichen Sprecherin zu erwerben und anschließend festzustellen, dass eine Lehrerin, deren Behauptungen und Überzeugungen nicht übereinstimmen, keine verlässliche Sprecherin ist. Audi schlägt dieses Urteil bei einer bestimmten Auslegung des Falls vor; nämlich dann, wenn davon ausgegangen werden muss, dass die Lehrerin anstelle der korrekten Vermittlung der Evolutionstheorie auch jede andere falsche Theorie gelehrt hätte, wenn es von ihr gefordert worden wäre. Eine solche Lehrerin könne nach Audi keine verlässliche Sprecherin sein, also könnten die Schülerinnen auf diesem Wege auch kein Wissen erlangen. Allerdings sei es laut Audi auch möglich, den Fall so auszulegen, dass die Schülerinnen der kreationistischen Lehrerin wohl Wissen erwerben, und zwar dann, wenn die Lernenden zu Recht davon ausgingen, dass ihnen in der Schule nur die empirisch am besten abgesicherten Theorien vermittelt würden. Dann müsse aber angenommen werden, dass die Überzeugung zu einem großen Teil auf Hintergrundannahmen gestützt sei und daher nicht als testimoniales Wissen im eigentlichen Sinne gelten könne.60 Diese Annahme führt uns zur zweiten Klassifikationsmöglichkeit: Es ist möglich, das Wissen, das die Schülerinnen erwerben, als Wissen aus erster Hand zu betrachten. Sie sind die ersten, die die Aussage ihrer Lehrerin glauben und daher als Wissen besitzen. Allerdings scheint diese Möglichkeit der Klassifikation aus verschiedenen Gründen kontraintuitiv zu sein. Sie würde es verhindern, eine einheitliche Kategorisierung von Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand vorzunehmen. Eine bestimmte Proposition, die Wissen aus erster Hand darstellen würde, wenn ich sie selbst erfahren habe, würde dann zwar Wissen aus zweiter Hand darstellen, wenn ich sie von einer Lehrerin vermittelt bekomme, jedoch wiederum zu Wissen aus erster Hand werden, wenn diese Lehrerin, ohne dass ich es weiß, die Proposition selbst nicht glaubt. Eine solche Kategorisierung müsste dazu führen, dass eine Person oft selbst nicht weiß, ob sie gerade Wissen aus erster Hand oder aus zweiter Hand erwirbt.61 Diese Klassifikation wäre im Rahmen einer externalistischen 60 Vgl. Audi 2006, 29. 61 Die Betonung liegt hier auf der Nichtunterscheidbarkeit zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand im Moment des Erwerbens. Dass es im Nachhinein

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Wissenstheorie zwar möglich, könnte dann jedoch nicht mehr den höheren Wert des Wissens aus erster Hand, der intuitiv vorausgesetzt wird, erklären: Denn im Alltagsprachgebrauch, der sich auch in den übrigen Wissenschaften widerspiegelt, wird wie in 1.1.1 dargelegt davon ausgegangen, dass Wissen aus erster Hand deshalb wertvoller ist als Wissen aus zweiter Hand, weil es stärker auf eigenen Erlebnissen, Beobachtungen und Schlussfolgerungen beruht und ein besseres Verständnis der Sachverhalte ermöglicht, welches auch praktische Vorteile mit sich bringt. Dies trifft jedoch auf das Wissen, das die Schülerinnen im Falle der kreationistischen Lehrerin erwerben, nicht zu, weshalb eine Klassifizierung solcher Fälle als Wissen aus erster Hand einer intuitiv sinnvollen Unterteilung zwischen Wissen, das auf eigenen Erfahrungen beruht, und Wissen, für das man keine direkte eigene Evidenz besitzt, zuwiderlaufen würde. Zusätzlich scheint das Wissen, das die Schülerinnen besitzen, klassischerweise kein Fall von Wissen aus erster Hand zu sein, weil die Hintergrundannahmen, die zur Rechtfertigung ihres Wissens beitragen, viel zu allgemein und domänenunabhängig sind, um die Schülerinnen wirklich in die Lage zu versetzen, die Proposition aus ihrem eigenen Hintergrundwissen zu schlussfolgern. Peter Graham formuliert dies folgendermaßen: Natürlich ist es möglich Fälle zu beschreiben, wo das Wissen aus erster Hand stammt, angetrieben durch Hintergrundwissen. Sicherlich sind solche Fälle möglich. Aber die Beispiele Fossil [so wie kreationistische Lehrerin] und Lügnerin sind nicht so konzipiert. Die Hörer in diesen Fällen sind abhängig vom Informationskanal nicht von Hintergrundwissen. […] Die Kinder reagieren exakt so, wie sie auf eine Lehrerin, die glaubt, was sie sagt, reagieren würden. Falls Kinder jemals durch ihre Abhängigkeit von ihren Lehrerinnen etwas lernen, dann tun sie dies in Fossil [und kreationistische Lehrerin].62

Die Fälle Fossil und Kreationistische Lehrerin gleichen sich in vielen Punkten. Fossil stellt eine von Graham vorgenommene Weiterentwicklung für eine Person teilweise schwierig ist, Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand zu unterscheiden, ist als Phänomen der Quellenverwechslung in der Psychologie bekannt. Vgl. beispielsweise Weingardt, Loftus und Lindsay 1995. Diese Quellenverwechslung kann jedoch auch dazu führen, dass erfundene Sachverhalte aus vermeintlich erster Hand erinnert werden (Fehlinformationseffekt, vgl. beispielsweise Roediger und McDermott 1995). Auch ganze Ereignisse können aus erster Hand erinnert werden, ohne dass diese jemals stattgefunden haben. (Falsche Erinnerungen, vgl. beispielsweise Loftus und Pickrell 1995; Coan 1997). Insofern sollte diese Schwierigkeit, nach einiger Zeit zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand zu unterscheiden, nicht als Zeichen für eine begriffliche Ununterscheidbarkeit aufgefasst werden; ebenso wenig, wie wir die Schwierigkeit, zwischen echten und falschen Erinnerungen zu unterscheiden, als Beleg für deren begriffliche Ununterscheidbarkeit annehmen. 62 Graham 2016, 178. Meine Übersetzung.

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von Lackeys Fall der kreationistischen Lehrerin dar. Die Abwandlung besteht darin, dass Grahams kreationistische Lehrerin die Informationen, die sie den Schülern weitergibt, nicht bloß aus einem Schulbuch bezieht, sondern auf einem Ausflug selbst ein Fossil entdeckt und den Kindern dessen Bedeutung für die Evolutionstheorie erläutert. Hierdurch ist die kreationistische Lehrerin die erste in der Kette, die die Information besitzt und die Schülerinnen sind wirklich die ersten, die die Proposition wissen. Graham hat dieses Beispiel ursprünglich als Argument gegen die schwache Auslegung des Transmissionsmodells für Wissen (weak transmission63) entwickelt. Der Fall der kreationistischen Lehrerin von Lackey zeigt nur, dass es in der Kette der Wissensweitergabe eine Lücke gibt, da die Lehrerin selbst die Information weitergegeben hat, ohne Wissen zu besitzen. Trotzdem gab es Mitglieder der Kommunikationskette, die die betreffende Proposition auch wussten, nämlich die Wissenschaftlerinnen, die das Schulbuch geschrieben haben. Dies erfüllt die Anforderungen an den schwachen Transmissionsbegriff, der nur erfordert, dass es Wissen in der Kette gibt, dieses muss jedoch nicht von jedem Kettenmitglied besessen werden.64 Analog hierzu könnte man argumentieren, dass es für das Vorhandensein von Wissen aus zweiter Hand ausreicht, dass mindestens ein Mitglied der Kommunikationskette die betreffende Proposition wusste, bevor sie die Besitzerin aus zweiter Hand erreichte. Diese dritte Möglichkeit würde es also erlauben, den oben skizzierten engen Begriff von Wissen aus zweiter Hand beizubehalten und den Fall der kreationistischen Lehrerin von Lackey trotzdem als Fall von Wissen aus zweiter Hand zu klassifizieren. Der Fall von Grahams kreationistischer Lehrerin lässt sich so jedoch weiterhin nicht als Wissen aus zweiter Hand klassifizieren, da hier auch kein Wissen in der Kette vorlag. Es erscheint jedoch auch hier unintuitiv, beide Fälle unterschiedlich zu bewerten und den Schülern in Grahams Beispiel Wissen aus erster Hand zuzuschreiben. Denn sowohl die Schülerinnen von Lackeys als auch die Schülerinnen von Grahams kreationistischer Lehrerin befinden sich in einer epistemisch sehr ähnlichen Lage. Graham selbst schlägt vor, in den oben genannten Fällen davon auszugehen, dass nicht Wissen, sondern Information weitergegeben wurde, Letzteres wäre auch ohne die Überzeugung der Sprecherin von der Wahrheit der Proposition möglich. Eine schwächere Bedingung, wie Akzeptanz der Proposition aufseiten der Sprecherin, wäre für eine Übertragung ausreichend.65

63 Vgl. Gelfert 2014, 146–155 zur Unterscheidung von weak transmission und strong transmission. 64 Vgl. Graham 2006, 123–125. 65 Graham 2006, 107–124.

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Doch welchen Status hat nach dieser Annahme die Proposition, die die Schülerinnen der kreationistischen Lehrerin wissen? Sie besitzen ja nicht nur Informationen aus zweiter Hand, sondern auch Wissen. Ob sie dieses Wissen aus erster Hand oder aus zweiter Hand besitzen, kann auch Grahams Ansatz nicht klären. Ähnliche Probleme ergeben sich, wenn man wie Veber davon ausgeht, dass im Falle der kreationistischen Lehrerin subdoxastisches Wissen übermittelt wird oder wenn man wie Grohmann davon ausgeht, dass impersonales Wissen weitergegeben wird.66 Denn das Wissen, das die Schülerinnen am Ende aus zweiter Hand besitzen, soll ja kein subdoxastisches Wissen sein, sondern traditionelles Wissen, das wenigstens eine wahre und auf die richtige Art gerechtfertigte Überzeugung voraussetzt. An dieser Stelle wird deutlich, dass das Problem, bestimmte Fälle von potentiellem Wissen aus zweiter Hand zu klassifizieren, sich analog zu der Schwierigkeit verhält, in einigen Fällen testimoniales Wissen zu klassifizieren. Es handelt sich hierbei um Fälle, in denen nur die Sprecherin oder nur der Hörer die notwendigen Bedingungen für testimoniales Wissen erfüllen, was Lackey zu dem Vorschlag veranlasste zwischen Sprecherinnen-Testimony und Hörer-Testimony zu unterscheiden.67 Bei der Frage, ob eine bestimmte Proposition Wissen aus zweiter Hand darstellt, besteht das Problem darin, dass es sein kann, dass auf der Seite des Hörers die Bedingungen für das Vorliegen von Wissen aus zweiter Hand erfüllt sind: Es liegt Wissen vor und dieses Wissen stammt nicht aus erster Hand. Gleichzeitig sind aufseiten der Sprecherin aber nicht die notwendigen Bedingungen für das Vorliegen von Wissen erfüllt. Dies führt uns zur vierten Möglichkeit, die meines Erachtens viele Vorteile bietet: Es ist, wie im Falle von testimonialem Wissen, durchaus möglich, bei der Zuschreibung von Wissen aus zweiter Hand die Seite der Sprecherin und die Seite des Hörers getrennt zu betrachten. Dann könnte man im Falle der kreationistischen Lehrerin durchaus vom Vorliegen von Wissen aus zweiter Hand aufseiten des Empfängers sprechen. Das Ergebnis wäre ein weiter Begriff von Wissen aus zweiter Hand, der nur die Minimalbedingungen aufseiten des Hörers bestimmt. Ein solcherart bestimmter Begriff von Wissen aus zweiter Hand würde in seiner Extension eher mit einem generativen Begriff von testimonialem Wissen übereinstimmen oder im Umfang noch darüber hinausgehen. Ein solcher weiter Begriff von Wissen aus zweiter Hand wäre eher kompatibel mit dem in 1.1.1 skizzierten Verständnis von Wissen aus zweiter

66 Vgl. Veber 2014, 127–131; Grohmann 2015, 40–74. 67 Siehe S. 11 in dieser Arbeit.

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Hand, das in vielen Wissenschaften vorherrscht. Er wäre wahrscheinlich außerdem in der Lage, einen klaren kontradiktorischen Gegenbegriff Wissen aus erster Hand zu bilden, der auch Intuitionen bezüglich des unterschiedlichen epistemischen Werts von Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand erklären könnte. Zusammenfassung: Die Eigenschaft des Aus-zweiter-Hand-Seins würde sich im Falle eines weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand auf die Quelle des Wissens beziehen. Der Besitzer des Wissens aus zweiter Hand hat in diesem Falle eine Information aus zweiter Hand erworben, die bei ihm selbst Wissen darstellt, dies jedoch bei der Erstbesitzerin noch nicht tun musste. Vorschlag: Der Term Wissen aus zweiter Hand bleibt in dieser Form erhalten, um den weiten Begriff von Wissen aus zweiter Hand zu kennzeichnen, da dieser sich in weiteren Überlegungen als fruchtbarer erweist. Parallel hierzu könnte man einen engen Begriff von Wissen aus zweiter Hand konzipieren, der weiterhin Wissen beim Sender und beim Empfänger voraussetzt und das bislang in der Erkenntnistheorie vorherrschende Verständnis des Begriffs widerspiegelt. Die Eigenschaft des Aus-zweiter-Hand-Seins würde sich im Falle eines engen Begriffs von Wissen aus zweiter Hand direkt auf die Eigenschaft des positiven Wissensstatus einer Proposition beziehen. Vorschlag: Einführung des Terms Wissen aus Zweitbesitz (als englische Übersetzung würde sich pre-owned knowledge anbieten) für den engen Begriff des Wissens aus zweiter Hand, um hervorzuheben, dass die Erstbesitzerin in diesem Falle auch schon Wissen besessen haben muss. Die Eigenschaft des Aus-zweiter-Hand-Seins, die sich auf die Wissensquelle bezieht, sollte erhalten bleiben, da es ansonsten zu unfruchtbaren Klassifikationen kommt. Zieht man einen engen Begriff von Wissen aus zweiter Hand heran, so bleibt ein Teil an Propositionen übrig, die kein Wissen aus erster Hand im klassischen Sinne darstellen, jedoch auch kein Wissen aus zweiter Hand darstellen. Die Eigenschaften von Wissen aus zweiter Hand, die einen möglichen epistemischen Nachteil herbeiführen, sind wahrscheinlich mit der Eigenschaft des Aus-zweiter-Hand-Seins bezogen auf die Wissensquelle verbunden. Diese Nachteile führen zu einer epistemischen Abhängigkeit, da der Zweitbesitzer des Wissens nicht die vollständige Evidenz der Erstbesitzerin besitzt; sie bleiben auch dann bestehen, wenn es sich um Wissen aus zweiter

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Hand im weiteren Sinne handelt, d. h., wenn die Erstbesitzerin selbst kein Wissen besaß. Es ist daher sinnvoller, diese Fälle nicht dem Begriff des Wissens aus erster Hand zuzuordnen, da sie nicht die epistemischen Vorteile aufweisen, die Wissen aus erster Hand üblicherweise mit sich bringt. Ordnet man diese Fälle jedoch nicht dem Begriff des Wissens aus erster Hand zu, so muss man sie dem Begriff des Wissens aus zweiter Hand zuordnen (wodurch sich ein weiter Begriff von Wissen aus zweiter Hand ergibt), sofern man nicht noch einen dritten Begriff einführen möchte. Hierbei gilt es zu bedenken, dass der Fall der kreationistischen Lehrerin nur ein Beispiel darstellt, bei dem das Vorliegen von Wissen aus zweiter Hand beim Hörer bei gleichzeitigem Fehlen der Erfüllung aller Wissensbedingungen bei der Sprecherin zu Klassifikationsproblemen führt. Grundsätzlich betrifft dieses Problem jedoch viele verschiedene Fälle, bei denen beim Hörer Wissen ankommt, bei der Sprecherin jedoch aus den verschiedensten Gründen kein Wissen vorliegt. Dies kann daran liegen, dass keine Überzeugung vorliegt, wie im Falle der kreationistischen Lehrerin, jedoch auch daran, dass die vorliegende Rechtfertigung aus der Perspektive des Senders nicht ausreicht, wie im Falle von Lackeys hartnäckig Glaubender68, wo der Sender aufgrund eines irreführenden psychologischen Defeaters kein Wissen besitzt, der Empfänger jedoch trotzdem Wissen aus zweiter Hand erwirbt, weil er selbst keinen Defeater besitzt und der Sender generell zuverlässig ist69. Auch Fälle, in denen zwar aufseiten des Senders eine nicht sichere Überzeugung vorliegt, die Reaktionen der Umgebung jedoch sicherstellen, dass die Überzeugung, die der Empfänger erwirbt, trotzdem sicher ist, so wie es in einem von Goldberg erfundenen Fall (Milk Carton) geschildert ist70, würden in diese Kategorie eines weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand fallen. Fälle, die zwar Hintergrundwissen aufseiten des Empfängers voraussetzen, bei denen dieses Hintergrundwissen jedoch zu unspezifisch ist, um die betreffende Proposition alleine zu rechtfertigen, zum Beispiel im Falle der invers konsistenten Lügnerin von Lackey71 oder der Mozartkennerin von Edward Craig72, 68 69 70 71 72

Persistent Believer in Lackey 2008, 59. Vgl. Lackey 2008, 59–60. Vgl. Goldberg 2005, 302. Consistent Liar in Lackey 2008, 53. Vgl. Craig 1999, 38–39. Der Titel des Gedankenexperimentes ist von mir gewählt, da Craig selbst keinen Titel gewählt hat. Es geht in der Mozartkennerin um die Frage, ob es möglich ist, das Wissen, dass ein bestimmtes Stück von Mozart stammt, von einer Person

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würden ebenfalls in den Bereich des weiten Wissens aus zweiter Hand fallen (natürlich nur unter der Voraussetzung, dass die Rechtfertigung im Einzelfall als ausreichend genug betrachtet wird, um dem Wissensanspruch generell zu genügen). Methodisches Vorgehen: Aus methodischer Sicht dient das Vorgehen in diesem Kapitel dazu, die Funktion des Explikandums, die erhalten oder verbessert werden soll, eindeutig zu charakterisieren.73 Ich habe herausgearbeitet, dass der Begriff des Wissens aus zweiter Hand grundsätzlich zwei verschiedene Funktionen kennzeichnen kann, die sich zwar zu einem Teil in ihrer Extension decken, jedoch nicht vollständig kongruent sind. Um im zweiten Kapitel mit der Explikation zu beginnen, muss nun zunächst festgelegt werden, welcher der Funktionen des Begriffs erhalten bleiben sollen. Ich werde im folgenden Unterkapitel vorschlagen, die Eigenschaft des Aus-zweiter-Hand-Seins, die sich auf die Quelle des Wissens bezieht, als bestimmende Funktion des Begriffs Wissen aus zweiter Hand zu erhalten. Abbildung  2 zeigt die Extension eines engen und eines weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand im Vergleich. Unter der Annahme eines weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand würden auch Sonderfälle testimonialen Wissens eingeschlossen werden. Der Begriff Wissen aus zweiter Hand würde einen kontradiktorischen Gegenbegriff zum Wissen aus erster Hand bilden. Bei Annahme eines engen Begriffs von Wissen aus zweiter Hand würde der Begriffsumfang von Wissen aus zweiter Hand dem eines transmissiven Begriffs von testimonialem Wissen entsprechen. Der in Abbildung  2 schraffierte Bereich wäre jedoch dann nicht mehr unproblematisch mithilfe der Begriffe Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand klassifizierbar.

73

zu erwerben, die selbst Mozart zwar von Bartok, jedoch nicht von Haydn unterscheiden kann, wenn man selbst die Möglichkeit, dass das Stück von Haydn war, ausschließen kann. Eine ausführliche Fassung des Gedankenexperiments befindet sich auf S. 74 dieser Arbeit. Auch diesen Schritt empfiehlt Greimann explizit im Zuge der Vorbereitung der Explikation. Vgl. Greimann 2007, 277. Nach Carnap lässt sich das Vorgehen der Klärung des Explikandums zuordnen, welche „die Gewinnung eines Verständnisses, welches praktisch hinreichend ist, um in eine Diskussion der möglichen Explikationen eintreten zu können“, zum Ziel hat. Carnap und Stegmüller 1959, 13.

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Abb. 2

1.3

Kapitel 1

Extension eines engen und eines weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand74

Der weite Begriff des Wissens aus zweiter Hand

Die enge Eingrenzung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand kommt zwar dem vorherrschenden Verständnis in der analytischen Philosophie entgegen, kann jedoch nicht alle Fälle einschließen, die in der wissenschaftlichen Diskussion als Wissen aus zweiter Hand betrachtet werden. Ein weiter Begriff von Wissen aus zweiter Hand würde diese Schwäche nicht aufweisen. Im Gegensatz zu einem engen Begriff von Wissen aus zweiter Hand müsste dieser jedoch zunächst ex negativo definiert werden. Ein Subjekt würde dann Wissen aus zweiter Hand besitzen, wenn es Wissen besitzt und dieses Wissen nicht aus erster Hand stammt. Da mit einem engen Begriff von Wissen aus zweiter Hand bereits eine klarere, positive Definition zur Verfügung stünde, sollte eine weite Definition des Begriffs Wissen aus zweiter Hand der engen Definition

74 Keil 2021, Eigene Darstellung.

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des Begriffs nur dann vorgezogen werden, wenn genügend unabhängige Argumente vorliegen, die die Präferenz eines solch weiten Begriffs nahelegen. Ein weiter Begriff von Wissen aus zweiter Hand wäre dann gerechtfertigt, wenn gezeigt werden könnte, dass die so gewählte Unterscheidung eine epistemisch relevante Differenzierung zwischen verschiedenen Wissensarten widerspiegelt. Einen ersten bestätigenden Hinweis hierauf geben Untersuchungen aus der Sprachwissenschaft und der Pädagogik. Die Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand, die u.a. durch grammatikalische Marker angezeigt wird, repräsentiert die Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und einem weiten Begriff von Wissen aus zweiter Hand, für den es ausreichend ist, dass Informationen aus zweiter Hand besessen werden, die jedoch nicht zwangsläufig Wissen bei der Erstbesitzerin darstellen müssen.75 Auch Erhebungen, die in der Pädagogik und Didaktik Unterschiede zwischen dem Gebrauch von Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand untersucht und auch nachgewiesen haben, arbeiteten mit einem weiten Begriff von Wissen aus zweiter Hand.76 Hiergegen kann argumentiert werden, dass der alltagssprachliche Gebrauch eines Begriffs nicht in jedem Falle seinen Inhalt in der Philosophie bestimmen sollte. Doch auch die analytische Philosophie selbst liefert Argumente dafür, dass der weite Begriff von Wissen aus zweiter Hand eine eigene Wissensart erfasst. Die in 1.2.1 dargestellte Problematik, unter der Annahme eines engen Ansatzes von Testimony die Fälle zu klassifizieren, in denen ein Hörer zwar Wissen aus zweiter Hand erwirbt, die Weitergabe des Wissens jedoch nicht alle Ansprüche erfüllt, die an testimoniales Wissen im engen Sinne gestellt werden, ist ein Hinweis darauf, dass alle diese Fälle zwar einer Art von Wissen zugerechnet werden können; dass der Begriff, der diese Art von Wissen am besten beschreibt, jedoch nicht der des testimonialen Wissens ist, sondern der des Wissens aus zweiter Hand. Die Klassifikationsprobleme zeigen, dass in der philosophischen Diskussion ein Bedarf besteht, die Gruppe an Fällen, die ein weiter Begriff von Wissen aus zweiter Hand umfassen würde, begrifflich einheitlich zu erfassen. Für Graham sind diese Klassifikationsprobleme ein Anlass, die Kategorie des testimonialen Wissens so stark auszudehnen, dass alle diese Fälle eingeschlossen werden.77 Dies wird jedoch von den meisten analytischen Philosophinnen nicht als vertretbar betrachtet, wie Graham selbst bemerkt.78 Bei Annahme eines weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand wäre dies gar 75

Vgl. Lockhart et al. 2016, 477. Lockhart et al. verwenden die Termini “indirectly acquired information“ und “knowledge that requires input from others“. 76 Vgl. z.B. Smith 2013, 318–319. Smith definiert Wissen aus zweiter Hand als: „Knowledge, that subject-actors only have access to through their experiences of other individuals.“ 77 Vgl. Graham 2016. 78 Vgl. Graham 2016, 182.

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nicht mehr nötig. Die Frage, welche Bedingungen Sprecherin und Hörer für das Vorliegen von testimonialem Wissen erfüllen müssen, könnte weiterhin unabhängig von der Frage, ob überhaupt Wissen aus zweiter Hand vorliegt, diskutiert werden. Zusammenfassung: Die Annahme eines weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand als fruchtbarer Begriff wird durch Ergebnisse der Pädagogik und Sprachwissenschaft nahegelegt. Darüber hinaus zeigen Klassifikationsprobleme in der Philosophie einen Bedarf für einen solchen Begriff an. Es gibt weitere Anhaltspunkte, die darauf hinweisen, dass ein weiter Begriff von Wissen aus zweiter Hand eine Art von Wissen kennzeichnet, die sich in epistemischer Hinsicht von Wissen aus erster Hand unterscheidet. Ein wichtiger Punkt ist der oft angenommene geringere Wert von Wissen aus zweiter Hand.79 Sowohl Pritchard als auch Fricker weisen darauf hin, dass Wissen aus erster Hand unter sonst gleichen Umständen normalerweise immer Wissen aus zweiter Hand vorgezogen wird und dass von anderen Personen erwartet wird, dass sie eher Wissen aus erster Hand erwerben, wenn dieses ihnen in einem bestimmten Fall ebenso leicht zugänglich ist, wie Wissen aus zweiter Hand.80 Außerdem wird laut Fricker die Basis unseres Wissens über eine Proposition aus zweiter Hand in dem Moment ersetzt, in dem wir Wissen über diese Proposition aus erster Hand erwerben. Und im Falle zweier widersprüchlicher Aussagen würden wir eher die Proposition glauben, die wir aus erster Hand besitzen, als diejenige, die wir aus zweiter Hand erworben haben; dies gilt laut Fricker so lange eine Person bezüglich der Wahrheit der betreffenden Proposition einen mindestens ebenso guten epistemischen Standort besitzt, wie diejenige, von der sie die Proposition aus zweiter Hand erworben hat.81 Dieses Primat von Wissen aus erster Hand gegenüber Wissen aus zweiter Hand, stellt sowohl innerhalb der Philosophie als auch in den übrigen 79 Auch in der Debatte um testimoniales Wissen stellt die Frage, ob es einen Unterschied im epistemischen Wert zwischen testimonialem Wissen und Wissen aus anderen Quellen (vor allem Sinneswahrnehmung und Erinnerung) gibt, eine zentrale Frage dar. Hierbei geht es vor allem um die Frage der Zuverlässigkeit von testimonialem Wissen, deren Ursprung in der Neuzeit bei Hume verortet werden kann und die sich in der Diskussion zwischen Reduktionismus und Erkenntnistheoretischem Fundamentalismus widerspiegelt. Vgl. hierzu Hume und Nidditch 1975. Vgl. zur Einführung in die Debatte um Reduktionismus und Erkenntnistheoretischem Fundamentalismus Coady 1994 und Gelfert 2014. 80 Vgl. Fricker 2006b, Pritchard 2016. 81 Vgl. Fricker 2006b.

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Wissenschaften die vorherrschende Meinung dar.82 Innerhalb der Philosophie findet die Debatte über den Wert von Wissen aus zweiter Hand jedoch vorwiegend unter dem Begriff der Debatte um den Wert von testimonialem Wissen statt, da davon ausgegangen wird, dass der angenommene geringere Wert von testimonialem Wissen eben deshalb zustande kommt, weil es sich um Wissen aus zweiter Hand handelt.83 In diesem Falle wird dann von der „second-handedness“ von testimonialem Wissen gesprochen.84 Diese Annahme erscheint jedoch erst bei Annahme eines weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand wirklich sinnvoll. Unter der Annahme des unter 1.2.1 skizzierten engen Begriffs von Wissen aus zweiter Hand könnte die Eigenschaft des Aus-zweiter-Hand-Seins nur die geringere Wertigkeit eines Teils des testimonialen Wissens erklären, nämlich nur dieses Teils, der normalerweise von einem transmissiven Begriff von testimonialem Wissen erfasst wird (siehe Abb.  1 auf S. 17). Im Falle der kreationistischen Lehrerin von Lackey könnte man nicht sagen, dass das testimoniale Wissen der Schülerinnen über die Evolutionstheorie deshalb weniger wertvoll ist als Wissen aus erster Hand, weil sie es aus zweiter Hand erworben haben. Die Erklärung würde dann nur für diese Schülerinnen gelten, die ihr testimoniales Wissen von einer nichtkreationistischen Lehrerin erworben haben. Diese Annahme erscheint jedoch kontraintuitiv. Sollte es so sein, dass eine Proposition, wenn die Schülerinnen sie wissen, weil sie ihnen im Schulunterricht vermittelt wurde, aus irgendwelchen Gründen epistemisch weniger wertvoll ist, als wenn sie dieselbe Proposition aus erster Hand wissen, so sollte dies ebenso und aus den gleichen Gründen auf diese Proposition zutreffen, wenn die Schülerinnen sie wissen, weil sie ihnen durch die Aussagen einer kreationistischen Lehrerin vermittelt wurde. Diese Intuition würde jedoch die Annahme eines weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand nahelegen, der sich von Wissen aus erster Hand im epistemischen Wert unterscheidet. Zusammenfassung: In der Philosophie und den übrigen Wissenschaften wird von einem Unterschied im epistemischen Wert zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand ausgegangen. Intuitiv scheint diese Unterscheidung nur sinnvoll, wenn sie sich auf den Unterschied zwischen einem weiten Begriff von Wissen aus zweiter Hand und Wissen aus erster Hand bezieht. 82

Vgl. hierzu Kap. 2.1 in dieser Arbeit und Coady 1994. Vgl. Hardwig 1991 für eine Argumentation für die Überlegenheit von Wissen aus zweiter Hand in vielen Fällen. 83 Vgl. Fricker 2006b, 241. 84 Vgl. z.B. Luzzi 2016.

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Kapitel 1

Die Differenz im epistemischen Wert kann nicht auf einem Unterschied in der Zuverlässigkeit der betreffenden Propositionen beruhen. Die Frage nach der Zuverlässigkeit stellt sich zwar für Testimony und wird dort im Rahmen der Debatte um Reduktionismus und Fundamentalismus geführt, sie erscheint jedoch bei der Unterscheidung von Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand nicht sinnvoll, denn Wissen sollte per Definition eine ausreichende Zuverlässigkeit aufweisen, sonst würde es gar nicht als Wissen gelten. Es scheint jedoch einen epistemischen Unterscheid zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand zu geben, der über die Frage nach der Verlässlichkeit des Erwerbs hinausgeht. Dieser Unterschied ist jedoch in der analytischen Philosophie bisher nicht sauber erfasst, vielmehr wird er je nach Autorin anders umschrieben: Pritchard geht davon, dass Wissen aus zweiter Hand von einem Mangel an Verstehen, das heißt von einer mangelnden Einsicht in Abhängigkeitsbeziehungen, betroffen sein kann, der bei Wissen aus erster Hand so nicht auftritt.85 Eine solche Klassifikation wäre nicht nur mit dem Alltagsverständnis kompatibel, sondern würde auch einen geringeren epistemischen Wert von Wissen aus zweiter Hand gegenüber Wissen aus erster Hand erklären, da Pritchard davon ausgeht, dass Verstehen epistemisch wertvoller ist als nicht mit Verstehen einhergehendes Wissen.86 Lackey geht davon aus, dass nur Wissen aus zweiter Hand in einer isolierten Form vorliegen kann, die eine Weitergabe dieses Wissens in bestimmten Kontexten problematisch bzw. unzulässig erscheinen lässt. Diese Form des Wissens, die Lackey isolated second‐hand knowledge87 nennt, kann dann bei Wissen aus zweiter Hand auftreten, wenn der Zweitbesitzer, außer p selbst, nichts (oder nur sehr wenig) Relevantes über eine Proposition p weiß. Die Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand wird dann problematisch, wenn der Hörer zu Recht davon ausgeht, dass die Sprecherin bezüglich der Proposition p nicht nur isoliertes Wissen aus zweiter Hand besitzt, sondern darüberhinausgehendes Wissen bezüglich p besitzt.88 Viele Philosophinnen gehen außerdem davon aus, dass Wissen aus zweiter Hand eine epistemische Abhängigkeit erzeugt, da der Zweitbesitzer die Evidenz nicht selber besitzt.89 Graham betrachtet die epistemische Abhängigkeit als das Hauptmerkmal von Wissen aus zweiter Hand.90 Allerdings wurde bislang 85 86 87 88 89 90

Vgl. Pritchard 2016, 29, 33–35. Vgl. Pritchard 2009, 40–41. Vgl. Lackey 2011. Lackey 2011, 254. Vgl. bspw. Hardwig 1985, 335; Fricker 2006b, 241; McMyler 2007, 517; Audi 2013, 510. Vgl. Graham 2016, 173.

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nicht genau ausformuliert, wie die Beziehung des Zweitbesitzers zur Evidenz für p genau aussehen soll; denn irgendeine Evidenz für p wird man auch dem Zweitbesitzer zuschreiben müssen, da er ansonsten nicht gerechtfertigt wäre, p zu glauben. Fricker geht davon aus, dass der Zweitbesitzer nicht die Originalevidenz, sondern nur eine Rechtfertigung zweiter Ordnung (second order warrant) besitzt.91 Goldberg geht davon aus, dass der Besitzer von Wissen aus zweiter Hand nur indirekte epistemische Unterstützung (indirect epistemic support) für p besitzt.92 Und laut Audi kann Wissen aus zweiter Hand nur nicht grundlegende Rechtfertigung (non-basic justification) liefern.93 Ich denke, dass dem Besitzer von Wissen aus zweiter Hand diejenige Evidenz fehlt, die ihm helfen würde, den Wahrheitswert der betreffenden Proposition selbstständig einzuschätzen. Ich werde in Kapitel 2 eine präzise Charakterisierung dieser Eigenschaft vornehmen. Zusammenfassung: Die Ausführungen in diesem Teilkapitel zeigen, dass es einen die Evidenz betreffenden, epistemischen Unterschied zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand zu geben scheint, der in der analytischen Philosophie durchaus erkannt wurde. Dieser epistemische Unterschied legt nahe einen weiten anstelle eines engen Begriffs von Wissen aus zweiter Hand als eigene Wissensart von Wissen aus erster Hand abzugrenzen. Bislang scheint es in der analytischen Philosophie noch nicht gelungen diesen Unterschied bezüglich der Evidenz präzise zu benennen, anstatt ihn mit relativ allgemeinen Begriffen wie nicht grundlegend oder indirekt zu umschreiben. Methodisches Vorgehen: Der weite Begriff des Wissens aus zweiter Hand wurde in diesem Teilkapitel unter konventionellen und Fruchtbarkeitsüberlegungen betrachtet. Dabei zeigt sich, dass die weite Auslegung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand in der analytischen Philosophie zwar nicht der Mehrheitsmeinung entspricht, dass sie jedoch trotzdem nicht vollkommen unüblich ist. Daher wäre auch die weite Auslegung des Begriffs mit konventionellen Annahmen durchaus vereinbar. Der weite Begriff von Wissen aus zweiter Hand erweist sich insofern als fruchtbar, als er einen philosophisch relevanten epistemischen Unterschied, der die Güte der Evidenz betrifft, erfassen kann. Daher erfüllt der weite Begriff des Wissens aus zweiter Hand eher die

91 Vgl. Fricker 2006a, 604. 92 Vgl. Goldberg 2006, 138. 93 Vgl. Audi 2013, 523.

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Kapitel 1

Adäquatheitsbedingungen für ein mögliches Explikat als der enge Begriff von Wissen aus zweiter Hand.94 Wissen aus zweiter Hand als polarer Gegenbegriff zu Wissen aus erster Hand und als gradueller Begriff In Kapitel 1.2.2 habe ich ausgeführt, warum es sinnvoll erscheint, einen weiten Begriff von Wissen aus zweiter Hand als kontradiktorischen Begriff zu Wissen aus erster Hand zu konzipieren. Intuitiv scheint es neben der möglichen Klassifizierung von Wissen als Wissen aus erster Hand oder Wissen aus zweiter Hand keine dritte Möglichkeit zu geben. Ein weiter Begriff von Wissen aus zweiter Hand würde es jedoch auch erlauben, Wissen aus zweiter Hand als polaren Gegenbegriff zu Wissen aus erster zu konzipieren. Die Konzeption beider Begriffe als polar-konträren Gegensatz würde es erlauben, Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand als die beiden Enden einer Skala aufzufassen.95 Wissen aus zweiter Hand könnte dann als gradueller Begriff betrachtet werden, d.  h., eine Proposition könnte mehr oder weniger aus zweiter Hand sein. Statt einem starken Gegensatzpaar (immediate/strong, logical contrary), welches nach Horn als Kontradiktion betrachtet werden kann, würde ein polar-konträres Gegensatzpaar (polar/absolute contrary) einen konträren Gegensatz darstellen. Ein starkes Gegensatzpaar kann aus einem polaren Gegensatzpaar hervorgehen, wenn durch Überbetonung des Endes beider 1.3.1

94

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Inwiefern konventionelle und Fruchtbarkeitsüberlegungen bei der Auswahl eines Explikats nach Adäquatheitsbedingungen eine Rolle spielen, führt Carnap am Beispiel des Begriffs Fisch aus: „Die Ersetzung des Explikandums Fisch durch das Explikat Piscis kann offenbar nicht dazu führen, daß der frühere Ausdruck in allen Kontexten durch den neuen ersetzbar wird, da ja ein Unterschied in der Bedeutung vorliegt. Der Erfolg des Begriffs Piscis gegenüber dem Begriff Fisch besteht vielmehr darin, daß nur mehr der erstere, nicht hingegen der letztere im wissenschaftlichen Gespräch benötigt wird. Es ist wichtig zu beachten, daß bei diesem Vorgehen sowohl eine konventionelle Komponente wie eine Tatsachenkomponente eine Rolle spielen. Die konventionelle Komponente besteht darin, daß die Zoologen auch einen anderen Begriff, der dem Begriff Fisch ähnlicher ist, hätten einführen können. Der Grund, warum sie dies nicht taten, war der, daß sich der Begriff Piscis als fruchtbarer herausgestellt hat. Ein wissenschaftlicher Begriff ist umso fruchtbarer, je mehr er zur Formulierung von allgemeinen Gesetzen benützt werden kann, und dies bedeutet wiederum: je mehr er sich auf Grund von beobachteten Tatsachen mit anderen Begriffen in Beziehung bringen läßt.“ Carnap und Stegmüller 1959, 14. Zur Begriffserklärung: „Unter den Begriffen in konträrem Gegensatz werden noch die polar-konträren (meist kurz: polaren) Gegensätze besonders ausgezeichnet. Sie liegen dann vor, wenn die Begriffe als die beiden (relativen) Enden einer Skala aufgefaßt werden können, die auf eine Vergleichung, eine zweistellige Beziehung also, zurückgeht, z.B. ‚weiß‘ und ‚schwarz‘ als die Enden der Grauskala, hervorgegangen aus dem Komparativ ‚weißer als‘ (bzw. ‚schwärzer als).“ Carrier und Mittelstraß 2008, 41.

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Pole die Mitte zwischen den Gegensätzen verschwindet. Dieser Vorgang kann in der Sprachentwicklung immer wieder beobachtet werden und ist in der Politik unter dem Phänomen der Polarisierung bekannt.96 Die Begriffe Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand können bei der Annahme eines weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand ebenso als graduell voneinander verschieden betrachtet werden, wobei die beiden absoluten Pole als Kontradiktion betrachtet werden können. Eine solche Möglichkeit der graduellen Abstufung der Unterscheidung von Wissen aus erster und aus zweiter Hand wird von einigen Autorinnen explizit nahegelegt. Pritchard geht davon aus, dass Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand zwei Pole darstellen, die sich in der Direktheit der Erfahrung und der Menge an Verständnis, die erworben wird, unterscheiden. Geht man davon aus, dass Wissen aus erster Hand im Gegensatz zu Wissen aus zweiter Hand immer mit Verständnis einhergeht, scheint diese Annahme natürlicherweise einen abstufbaren Begriff von Wissen aus zweiter Hand nahezulegen, da die in der analytischen Philosophie vorherrschende Meinung Verstehen als graduelle Angelegenheit betrachtet und nicht als Alles-oder-NichtsEntscheidung.97 Pritchard schlägt vor, diese Polarität ebenso auf durch Instrumente vermitteltes Wissen auszudehnen: What goes for directly seeing it for oneself that p also holds, mutatis mutandis, for what we might call ‚mediated seeings‘, as when one’s seeing is mediated by technology. Imagine that one is part of a scientific team working in the wild, observing the unusual behaviour of some creatures in their natural habitat. Now imagine that some scientifically significant behaviour is on display. All other things being equal, it would be better for one’s knowledge about this to be based on one seeing it for oneself directly rather than via binoculars. But it would also be better, all other things being equal, to know this by seeing it for oneself via binoculars rather than via the second-hand means of testimony. Relatedly, it’s better to come to know about this phenomenon by directly seeing it for oneself first-hand than by watching a video recording subsequently. But it is still better to come to know this by seeing it on a video recording rather obtain via the second-hand means of someone’s testimony. Ceteris paribus, the standing desire to see it for oneself enjoins one to see it for oneself as directly as is feasible. Moreover, the more directly one sees that p, the more likely it will be that one’s seeing for oneself that p will become one’s epistemic basis for believing that p.98

McMyler ist der Meinung, dass eine Proposition umso mehr aus erster Hand ist, je stärker die Wissensbesitzerin in der Lage ist, ihre eigenen Schlüsse über 96 Vgl. Horn 1989, 269–271. 97 Vgl. Grimm 2014; Jäger 2016. 98 Pritchard 2016, 31.

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Kapitel 1

den Inhalt von p zu ziehen. Eine Proposition ist dagegen umso mehr aus zweiter Hand, je stärker das Wissen der Proposition nur durch die Autorität und die Vertrauenswürdigkeit der Sprecherin gesichert ist.99 Graham geht davon aus, dass eine Überzeugung, die Wissen darstellt, umso mehr aus zweiter Hand ist, je mehr der Hörer sich für die Zuverlässigkeit der Überzeugung auf die Verlässlichkeit des Informationskanals verlassen muss, anstatt sein eigenes Hintergrundwissen heranziehen zu können.100 Auch Audi101, Fricker102 und Goldberg103 machen die Frage, ob eine Überzeugung Wissen aus zweiter Hand darstellt, von der Frage abhängig, inwiefern die Besitzerin in der Lage ist, ihren Inhalt durch ihr eigenes Hintergrundwissen zu rechtfertigen, anstatt epistemisch von der Sprecherin abhängig zu sein. Sowohl Fricker als auch Goldberg gehen jedoch davon aus, dass die Einschätzung der Verlässlichkeit einer Sprecherin nicht blind erfolgt, sondern eine empirische Basis104 besitzt und insofern von bewussten und unbewussten Hintergrundannahmen105 abhängt. Auch Wissen aus zweiter Hand hängt daher zum Teil von Hintergrundannahmen ab. Goldberg macht daher deutlich, dass eine Überzeugung so lange als Wissen aus zweiter Hand betrachtet werden sollte, solange sie nicht in substantieller Weise auf den eigenen Hintergrundannahmen beruht.106 Und auch Audi gibt zu, dass es neben Wissen, das ausschließlich auf Testimony basiert und deshalb vollständig aus zweiter Hand ist, verschiedene andere Möglichkeiten gibt, wie eine Überzeugung, die Wissen darstellt, auf gemischten Gründen basieren kann. Er nimmt jedoch an, dass es auf die meisten Überzeugungen eher zutrifft, dass sie klar aus erster Hand oder klar aus zweiter Hand stammen.107 Unabhängig von der Menge an Propositionen, auf die es zutrifft, dass sie auf gemischten Gründen basieren, kann man davon ausgehen, dass es  – solange die Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand davon abhängt, inwiefern man direkte oder eigene Evidenz für p besitzt108 oder in der Lage ist seine eigenen Schlüsse 99 Vgl. McMyler 2007, 521. 100 Vgl. Graham 2016, 173. 101 Vgl. Audi 2006. 102 Vgl. Fricker 2006a. 103 Vgl. Goldberg 2007a. 104 Fricker 2006a, 602. 105 Goldberg 2007a, 21–22. 106 Goldberg 2007a, 22. 107 „There are other aspects of what we might call mixed grounds, but we may here set them aside. It is quite enough if we can understand belief based wholly on testimony, as much belief surely is.“ Audi 2006, 27. 108 Vgl. Fricker 2006a; Goldberg 2006; Hardwig 1985.

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zu ziehen109 oder sein eigenes Hintergrundwissen herangezogen hat110 – auch Fälle geben wird, in denen die Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand keine klare binäre Entscheidung erlaubt, sondern eine graduelle Unterscheidung nahelegt. Zusammenfassung: Die Konzeption eines weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand würde gegenüber einer engen Konzeption den Vorteil bieten, dass sie einen polaren Gegenbegriff zu Wissen aus erster Hand liefern kann, der eine graduelle Unterscheidung beider Begriffe erst ermöglicht. Methodisches Vorgehen: Die Konzeption beider Begriffe als polar-konträren Gegensatz würde es erlauben, Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand als die beiden Enden einer Skala aufzufassen. Die Annahme eines weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand würde sich dann als fruchtbar erweisen, weil die Stärke der epistemischen Abhängigkeit des Hörers von der Sprecherin als ausschlaggebend für den Grad, zu dem eine bestimmte Proposition Wissen aus zweiter Hand darstellt, betrachtet werden könnte. Dies würde einen Übergang von einem rein klassifikatorischem zu einem komparativen Begriff von Wissen aus zweiter Hand ermöglichen, was laut Carnap und Brun eine Verfeinerung der Sprache und einen Fortschritt in dem betreffenden Wissensgebiet darstellt, da es eine größere Präzision bei der Beschreibung konkreter Situationen erlaubt.111 Der weite Begriff von Wissen aus zweiter Hand und testimoniales Wissen In Kapitel 1.2.1 haben wir bereits festgestellt, dass der enge Begriff des Wissens aus zweiter Hand und der Begriff des testimonialen Wissens konzeptuell voneinander unabhängig sind. Trotzdem stimmen testimoniales Wissen und der enge Begriff des Wissens aus zweiter Hand unter bestimmten Umständen in ihrem Begriffsumfang überein; nämlich dann, wenn man von einem transmissiven Begriff von testimonialem Wissen ausgeht. Ich möchte in diesem Unterkapitel zeigen, dass auch der weite Begriff von Wissen aus zweiter Hand sich unabhängig vom Begriff des testimonialen Wissens verhält. Der Begriffsumfang des weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand ist größer als der von testimonialem Wissen.

1.3.2

109 Vgl. McMyler 2007. 110 Vgl. Audi 2006; Graham 2016. 111 Vgl. Carnap und Stegmüller 1959, 15–16; Vgl. Brun 2016.

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Kapitel 1

Die konzeptuelle Unabhängigkeit beider Begriffe liegt in ihrer unterschiedlichen Funktion begründet. Die verschiedenen Rollen, die beide Begriffe im wissenschaftlichen Dialog einnehmen, können an der von Craig eingeführten Unterscheidung zwischen Informationsquelle und Informantin illustriert werden, die in ähnlicher Form von vielen Autorinnen als grundlegend für die Unterscheidung zwischen testimonialem Wissen und nicht testimonialem Wissen betrachtet wird. Craig unterscheidet zwischen „informants (people who tell us things) and sources of information (like arboreal growth rings or states of human beings)“.112 Was eine gute Informantin von einer bloßen Informationsquelle unterscheidet, ist ihre Absicht, zu kooperieren und aktiv hilfreich zu sein.113 Zwar kann man auch die Aussagen anderer Subjekte als bloße Informationsquelle gebrauchen und in diesem Falle auch Informationen von einer Person erhalten, die lügt oder die nicht an das glaubt, was sie sagt, jedoch handelt es sich in diesem Falle nicht um testimoniales Wissen. Fricker stimmt dieser Unterscheidung explizit zu114. Sie verweist schon 2006 auf den Unterschied zwischen echtem Wissen aus Testimony, das durch Normen der sozialen Kooperation geregelt ist, und Wissen, das zwar auch mit Hilfe von Testimony gewonnen wurde, wo der Kommunikationspartner jedoch bloß als natürliches Zeichen oder Messinstrument behandelt wurde. Neges beschreibt die konventionelle Funktion des philosophischen Begriffs von testimonialem Wissen folgendermaßen: „With testimony the mediating epistemic work of other agents becomes necessary and they can also be held accountable via epistemic norms.“115 Zu den Autorinnen, die explizit davon ausgehen, dass die Frage, ob eine bestimmte Proposition testimoniales Wissen darstellt, davon abhängt, ob Sprecherin und Hörer sich an bestimmte soziale Normen zur Weitergabe von Testimony gehalten haben, gehören unter anderem Brandom, Hardwig, Faulkner, Lackey, Goldberg, McMyler, Audi und Moran.116 Graham hingegen plädiert dafür, die Kategorie des testimonialen Wissens so stark auszudehnen, dass beinahe der gesamte Bereich an Propositionen erfasst wird, der auch den Umfang des weiten Begriffs von Wissens aus zweiter Hand umfasst. Er nimmt die Klassifikationsprobleme, die auftauchen, wenn Wissen zwar durch Testimony erworben wurde, sich jedoch nicht alle Beteiligten an die Regeln der Weitergabe von testimonialem Wissen gehalten haben, zum Anlass, jegliches 112 Craig 1999, 35. 113 Vgl. Craig 1999, 37. 114 Vgl. Fricker 2012, 249. 115 Neges 2018, 55. 116 Vgl. Brandom 1983; Hardwig 1991; Faulkner 2000, 2007; Lackey 2008; Goldberg 2010; McMyler 2011; Audi 2013; Moran 2018.

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Wissen, bei dem der Besitzer bezüglich seiner Evidenz von einer anderen Person abhängig ist, als testimoniales Wissen zu betrachten.117 Allerdings verwendet er die Begriffe testimoniales Wissen und Wissen aus zweiter Hand auch synonym. Abgesehen von Grahams sehr unorthodoxer Sichtweise gibt es viele Autorinnen, die dafür argumentieren, den Bereich des testimonialen Wissens in die eine oder andere Richtung spezifisch auszudehnen. Coady plädiert dafür, auch Straßenschilder und Karten als gesprochene Sprechakte und daher als testimoniales Wissen zu verstehen118, Gelfert wirft die Möglichkeit von computergeneriertem Testimony auf.119 Die Möglichkeit von institutionellem Testimony und Testimony von Gruppen wird von vielen analytischen Philosophinnen anerkannt und auf verschiedene Arten erklärt.120 Außerdem gibt es einige analytische Philosophinnen, die davon ausgehen, dass Wissen und die zu seiner Übertragung und Generation nötigen Prozesse, sozial-ausgedehnte Prozesse sind, die nicht nur einem Individuum zugeschrieben werden können, sondern in der Wissensgemeinschaft bestehen und erklärt werden müssen.121 Innerhalb all dieser Ansätze wird der Geltungsbereich von testimonialem Wissen in die eine oder andere Richtung erweitert. Doch auch in diesen Fällen stellt der Referenzpunkt der Diskussionen einen Begriff von testimonialem Wissen dar, der funktional dadurch bestimmt ist, welche Regeln für Sprecherin und Hörer bei der Weitergabe von testimonialem Wissen gelten sollen. Zusammenfassung: Die Klassifizierung von Wissen als testimoniales Wissen ist von Vorgängen abhängig, die bestimmen, ob eine Informantin eine gute Informantin ist und sich an die Regeln der Weitergabe von Wissen hält. Sobald diese Informantin nur noch als Quelle von Informationen betrachtet wird, wird das Feld des testimonialen Wissens verlassen. Für die Klassifikation als Wissen aus zweiter Hand reicht jedoch die Betrachtungsweise der Erstbesitzerin als bloße Quelle vollkommen aus. Zwischen beiden Begriffen scheint insofern ein hierarchisches Verhältnis zu bestehen, als testimoniales Wissen immer auch Wissen aus zweiter Hand im weiten Sinne darstellt. Der weite Begriff des Wissens aus zweiter Hand bildet daher ein Hyperonym zum Begriff des testimonialen Wissens. Insofern ist es 117 Vgl. Graham 2016, 172–173. 118 Coady 1994, 51. 119 Vgl. Gelfert 2014, 27–28. 120 Vgl. Coady 1994; Gelfert 2014 für eine Übersicht. Siehe Lackey 2014 für eine Übersicht verschiedener inflationärer und deflationärer Ansätze zu Gruppen-Wissen und GruppenAussagen. Siehe Fricker 2012. 121 Vgl. hierzu zum Bsp. Goldberg 2007a; Bird 2010; Miller 2015; Pritchard 2018.

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Kapitel 1

auch nicht verwunderlich, dass einige Autorinnen bestimmte Nachteile von testimonialem Wissen in dessen „second-handedness“ begründet sehen.122 Laut McMyler ist diese second-handedness dadurch charakterisiert, dass der Empfänger von testimonialem Wissen von der Autorität der Sprecherin abhängt.123 Diese Abhängigkeit resultiert daraus, dass der Besitzer von Wissen aus zweiter Hand die Evidenz für eine bestimmte Proposition nicht selbst besitzt. Laut Gelfert ist der Begriff der epistemischen Abhängigkeit generisch zu verstehen: ‚Epistemic dependence‘ here is to be understood in a generic sense as referring to any situation in which a subject’s belief depends for its formation, sustainment, or reliability on the knowledge (or beliefs, or other cognitive states and processes) of other epistemic agents; to say of a subject H that he is epistemically dependent on S (where S may be, for example, an individual speaker testifying to a particular claim, or a community, such as a scientific institution) is simply to note this sort of dependence. Testimony, on this account, is a paradigmatic – and perhaps the most elementary – case of epistemic dependence.124

Diese epistemische Abhängigkeit, die aus dem Nichtbesitz der Evidenz hervorgeht, betrifft jegliches Wissen aus zweiter Hand im weiten Sinne. Testimoniales Wissen kann demnach als die am weitesten verbreitete Unterkategorie von Wissen aus zweiter Hand im weiten Sinne betrachtet werden. Es ist Wissen aus zweiter Hand im weiten Sinne, das unter Beachtung der Regeln der Weitergabe und des Empfangs von Testimony erworben wurde. Insofern ist es eine wichtige Funktion des Begriffs des testimonialen Wissens eine Diskussion über diese Regeln zu ermöglichen. Im Rahmen dieser Diskussion wird es dann immer auch einzelne Autorinnen geben, die sich dafür aussprechen, die Anforderungen an die Regeln so minimal wie möglich zu halten; dies führt dazu, dass der Begriffsumfang des testimonialen Wissens sich unter diesem Verständnis des Begriffs so stark ausdehnen kann, dass er fast so groß ist wie der Umfang des weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand. Dies ist dann aber als kontingente Erscheinung zu verstehen, die nichts an der konzeptuellen Unabhängigkeit beider Begriffe ändert, da beide Begriffe weiterhin unterschiedliche Funktionen im wissenschaftlichen Diskurs einnehmen. Die Extension eines weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand wird dementsprechend immer größer sein als die von testimonialem Wissen. Selbst bei Annahme eines sehr weiten Verständnisses von testimonialem Wissen würde dieses trotzdem Erinnerungen ausschließen und stößt auch im Falle von 122 Vgl. hierzu Fricker 2006a, McMyler 2007 und Luzzi 2016. 123 Vgl. McMyler 2007, 520. 124 Gelfert 2014, 12.

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computergeneriertem Wissen und Wissen aus konsistenten Falschaussagen an Erklärungsgrenzen. Zusammenfassung: Der weite Begriff von Wissen aus zweiter Hand verhält sich als Hyperonym zum Begriff des testimonialen Wissens, seine Extension ist daher größer als die des testimonialen Wissens.125 Beide teilen das Merkmal der epistemischen Abhängigkeit, die aus dem Nichtbesitz der Evidenz resultiert. Der Begriff des testimonialen Wissens hat darüber hinaus die Funktion die Anforderungen an die regelgerechte Weitergabe von Wissen festzulegen. Daher nehmen beide Begriffe eine unterschiedliche Funktion im wissenschaftlichen Diskurs ein. Testimoniales Wissen kann als die am weitesten verbreitete Unterkategorie von Wissen aus zweiter Hand im weiten Sinne betrachtet werden. Der weite Begriff von Wissen aus zweiter Hand und Wissen durch Beschreibung Bei Annahme eines weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand stellt sich die Frage, inwiefern dieser möglicherweise mit dem von Russell geprägten Begriff126 von Wissen durch Beschreibung (knowledge by description) übereinstimmt. Russell nutzt ihn, um in seiner bis heute bekannten und diskutierten Unterscheidung Wissen aus Bekanntschaft (knowledge by acquaintance) und Wissen durch Beschreibung als zwei verschiedene Wissensarten voneinander abzugrenzen.127 Mitunter wird der Begriff des Wissens aus erster Hand synonym zum Begriff des Wissens aus Bekanntschaft verwendet.128 Ich möchte daher in diesem Kapitel überprüfen, ob die Unterscheidung zwischen Wissen aus Bekanntschaft und Wissen durch Beschreibung analog zur Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand verläuft. 1.3.3

125 Siehe auch Abb. 2 auf S. 28. 126 Russell war jedoch nicht der Erste, der zwischen Wissen aus Bekanntschaft und Wissen aus Beschreibung unterschieden hat. John Grote unterschied in seinem Werk „Exploratorio Philosophica“ 1865 „knowledge of acquaintance“ und „knowledge-about“. Vgl. Grote [1865] 1900. Helmholtz unterscheidet 1868 zwischen „das Kennen“ und „das Wissen“, wobei Ersteres eine Vertrautheit/Bekanntschaft mit Phänomenen und Letzteres sprachlich kommunizierbares Wissen meint. Vgl. Cahan und Helmholtz 1995. Und William James trifft 1890 in seinen „Principles of Psychology“ eine ähnliche Unterscheidung zwischen verschiedenen Wissensarten, wobei er davon ausgeht, dass man eine bestimmte Art von Wissen, die aus Bekanntschaft entsteht, nicht einfach sprachlich an andere vermitteln kann. Vgl. James 2000. 127 Vgl. Russell 1911, 1912. 128 Vgl. Raleigh 2019, 24; Hasan und Fumerton 2020, 3–4.

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Kapitel 1

Wie der Begriff des testimonialen Wissens ist auch der Begriff des Wissens durch Beschreibung Gegenstand anhaltender philosophischer Diskussionen, sodass es nicht leicht ist, einen allgemein akzeptierten Begriffsinhalt festzulegen, der für den Vergleich dienen kann. Fumerton und Hasan bemerken im Lexikonartikel der Stanford Encyclopedia of Philosophy zu Knowledge by Acquaintance129 abschließend, dass zwar viele Philosophinnen die Unterscheidung zwischen Wissen durch Beschreibung und Wissen aus Bekanntschaft plausibel finden, dass jedoch ebenso viele Philosophinnen ehrlich angeben, dass sie nicht genau wissen, was Wissen aus Bekanntschaft sein soll. Und wieder andere geben zwar die Existenz eines Unterschiedes zwischen Wissen aus Bekanntschaft und Wissen durch Beschreibung zu, zweifeln jedoch, dass diese Unterscheidung irgendetwas Nützliches zur epistemischen Rechtfertigung unserer Überzeugungen beitragen kann.130 Doch auch diejenigen, die die Unterscheidung von Wissen aus Bekanntschaft und Wissen durch Beschreibung akzeptieren, ziehen aus dieser Annahme durchaus unterschiedliche Schlüsse: Following Russell, some appeal to acquaintance with particular facts to account for the possibility of foundational empirical knowledge; some appeal to acquaintance with universals to account for the possibility of thought itself; some appeal to acquaintance with complex universals to account of the possibility of foundational a priori knowledge; and some appeal to acquaintance with logical and probabilistic relations to account for the possibility of nonfoundational knowledge or knowledge by description.131

Die Diskussion um Wissen durch Beschreibung und Wissen aus Bekanntschaft konzentriert sich hierbei oft auf die Reichweite des Begriffs Wissen aus Bekanntschaft, während Wissen durch Beschreibung dann dasjenige ist, was nicht Wissen aus Bekanntschaft ist. Ich werde daher zunächst von der ursprünglichen Unterscheidung von Russell ausgehen, bevor ich zur neueren Rezeption beider Begriffe komme. Was Wissen aus Bekanntschaft gegenüber Wissen durch Beschreibung auszeichnet, ist nach Russell die direkte kognitive Beziehung zwischen Wissensbesitzerin und Objekt, die Russell als direktes Gewahrsein des Objekts selbst beschreibt: In order to make clear the antithesis between ‚acquaintance‘ and ‚description‘, I shall first of all try to explain what I mean by ‚acquaintance‘. I say that I am acquainted with an object when I have a direct cognitive relation to that object, i.e. when I am directly aware of the object itself.132 129 130 131 132

Hasan und Fumerton 2020. Vgl. Hasan und Fumerton 2020, 22–24. Hasan und Fumerton 2020, 24. Russell 1911, 108.

Abgrenzung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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Einer der Hauptunterschiede den Russell zwischen beiden Begriffen ausmacht, scheint also in der Direktheit der kognitiven Beziehung zu bestehen. Hier scheint es eine gewisse Parallele zur Unterscheidung der Begriffe Wissen aus erster Hand und zweiter Hand zu geben, da viele Autorinnen die Direktheit der für eine Proposition vorliegenden Evidenz als Hauptunterscheidungsmerkmal beider Begriffe herausstellen.133 Was bei Wissen durch Beschreibung im Gegensatz zu Wissen aus Bekanntschaft laut Russell außerdem fehlt, ist das direkte Gewahrsein des Objekts: Es gibt keinen Geisteszustand, in dem wir uns des Tisches direkt gewahr sind; all unser Wissen über den Tisch ist in Wirklichkeit Wissen von Wahrheiten, und die eigentliche Sache, die der Tisch ist, ist uns strenggenommen gar nicht bekannt. Wir kennen eine Beschreibung und wir wissen, dass es nur ein Objekt gibt, auf das diese Beschreibung zutrifft, aber das Objekt selbst ist uns nicht direkt bekannt. In solch einem Fall sagen wir, dass unser Wissen des Objekts Wissen durch Beschreibung ist.134

Auch diese Charakterisierung würde mit der in Kapitel 1.3 skizzierten Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand übereinstimmen, da viele Autorinnen die Unzugänglichkeit der Evidenz als wichtiges Merkmal für das Vorliegen von Wissen aus zweiter Hand betrachten. Außerdem geht Russell davon aus, dass Wissen aus Bekanntschaft grundlegend für Wissen durch Beschreibung ist: „All our knowledge, both knowledge of things and knowledge of truths, rests upon acquaintance as its foundation.“135 Dies würde der Charakterisierung von Audi, dass Wissen aus zweiter Hand nur nicht grundlegende Rechtfertigung liefern kann136, entsprechen. Russell nimmt auch an, dass wir nur von Wissen durch Beschreibung sprechen, wenn wir kein Wissen aus Bekanntschaft besitzen. Dies würde mit der Feststellung von Fricker und Pritchard übereinstimmen, dass Wissen aus erster Hand, wenn es zur Verfügung steht, Wissen aus zweiter Hand als Basis unserer Überzeugung immer ablöst.137 Ich sollte sagen, dass ein Objekt durch Beschreibung gewusst wird, wenn wir wissen, dass es ‚dieses Soundso‘ ist, das heißt wenn wir wissen, dass es ein einziges Objekt gibt, das eine bestimmte Eigenschaft hat; und es wird normalerweise impliziert, dass wir kein Wissen desselben Objektes durch Bekanntschaft haben.138

133 Vgl. hierzu Kap. 2.3. 134 Russell 1912, 26. Meine Übersetzung. 135 Russell 1912, 26. 136 Vgl. Audi 2013, 523. 137 Vgl. Fricker 2006b; Pritchard 2016. 138 Russell 1911, 113. Meine Übersetzung.

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Kapitel 1 Wenn wir daher Bekanntschaft machen mit einem Objekt, das das Soundso ist, wissen wir, dass dieses Soundso existiert, aber wir können auch wissen, dass das Soundso existiert, wenn wir mit keinem Objekt bekannt sind, von dem wir wissen, dass es das Soundso ist und sogar, wenn wir mit keinem Objekt bekannt sind, das tatsächlich das Soundso ist.139

Wissen aus Bekanntschaft kann also fundierend für Wissen durch Beschreibung sein, während dies anderes herum nicht gilt. Dies würde einen Unterschied im epistemischen Wert zwischen Wissen aus Bekanntschaft und durch Beschreibung nahelegen, der sich analog zu demjenigen verhält, der zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand angenommen wird. Zusammenfassung: Es gibt einige Gemeinsamkeiten zwischen dem Begriff des Wissens aus zweiter Hand und Russels Begriff des Wissens aus Beschreibung: Sowohl für Wissen aus zweiter Hand als auch für Wissen aus Beschreibung wird angenommen, dass sie im Gegensatz zu Wissen aus erster Hand einen weniger direkten Zugang zu der dem Wissen zugrunde liegenden Evidenz ermöglichen. Wissen aus erster Hand wird ebenso wie Wissen aus Bekanntschaft als epistemisch wertvoller und grundlegender betrachtet als Wissen aus zweiter Hand und Wissen aus Beschreibung. Wissen aus Bekanntschaft löst Wissen aus Beschreibung ab, sobald es zur Verfügung steht. Das Gleiche gilt für Wissen aus erster Hand im Verhältnis zu Wissen aus zweiter Hand. Zumindest für perzeptuelles Wissen scheint außerdem zu gelten, dass das Wissen um einen Sachverhalt aus erster Hand auch die Bekanntschaft mit diesem Sachverhalt einschließt. Allerdings ist nicht klar, wie eine Bekanntschaft mit mathematischem Wissen oder Wissen, das aus Inferenz gewonnen wurde, aussehen soll. Hier tauchen daher erste Inkongruenzen zwischen den Begriffen auf, die die möglichen Objekte der Wissenszuschreibung betreffen. Wissen aus erster Hand kann man intuitiv auch von mathematischen Propositionen140 und von Propositionen, die auf bewusster Inferenz basieren, besitzen. Bei Wissen aus Bekanntschaft ist es nicht klar, ob man dieses auch über mathematische 139 Russell 1911, 114. Meine Übersetzung. 140 Auf jeden Fall sollte man die Möglichkeit hierzu nicht von vornherein ausschließen. Wenn man nicht davon ausgeht, dass es möglich ist, Wissen von mathematischen Propositionen aus erster Hand zu besitzen, würde es schwerfallen zu erklären, was im Mathematikunterricht passiert, wenn Schülerinnen eine Formel vermittelt bekommen, die sie zunächst aufgrund der Autorität der Lehrerin akzeptieren und dann jedoch lernen, diese Formel selbst herzuleiten. Vgl. hierzu auch Coady 1994, 249–261. Simon et al. 2000 gehen in der Didaktik der Mathematik davon aus, dass es einen Unterschied zwischen mathematischem Wissen aus erster Hand und aus zweiter Hand gibt.

Abgrenzung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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und inferentielle Sachverhalte besitzen kann. Russell betont einerseits, dass man Wissen aus Bekanntschaft nur über die Gegenstände besitzt, über die man sich direkt bewusst ist, ohne die Zwischenschritte einer Inferenz: „We shall say that we have acquaintance with anything of which we are directly aware, without the intermediary of any process of inference or any knowledge of truths.“141 Demnach wäre es nicht möglich, Wissen aus Bekanntschaft zu besitzen, das inferentiell gewonnen wurde. Einige Jahre früher äußert Russell jedoch noch, dass es möglich sei, Wissen aus Bekanntschaft von mathematischen und inferentiellen Sachverhalten zu besitzen: The discussion of indefinable—which forms the chief part of philosophical logic— is the endeavour to see clearly, and to make others see clearly, the entities concerned, in order that the mind may have that kind of acquaintance with them which it has with redness or the taste of a pineapple.142 But it is plain that where we validly infer one proposition from another, we do so in virtue of a relation which holds between the two propositions whether we perceive it or not: the mind, in fact, is as purely receptive in inference as common sense supposes it to be in perception of sensible objects.143

Ursprünglich schien Russell also davon auszugehen, dass es möglich ist, Wissen aus Bekanntschaft von logischen und mathematischen Sachverhalten auf die gleiche Art und Weise zu erlangen, auf die man auch perzeptuelles Wissen aus Bekanntschaft gewinnt. Die vorherrschende Meinung heute deckt sich jedoch eher mit Russels späterer, strengerer Unterscheidung. Ein grundlegendes Merkmal von Wissen aus Bekanntschaft ist hiernach die Unmittelbarkeit und Nichtinferentialität des Wissens.144 Demnach scheint es also nicht möglich, inferentielles Wissen aus Bekanntschaft zu besitzen. Dass diese Begrenzung von Wissen aus Bekanntschaft philosophisch problematisch werden kann, zeigt sich an Gedankenexperimenten wie dem der gesprenkelten Henne145: Man geht davon aus, dass eine Henne mit 48 Sprenkeln auf ihrem Federkleid bei einer Betrachtung die Wahrnehmung einer vielgesprenkelten Henne hervorruft. Und es ist möglich, Wissen aus Bekanntschaft über die Wahrnehmung dieser vielgesprenkelten Henne zu gewinnen. 141 Russell 1912, 25. 142 Russell 1903, v. 143 Russell 1903, 33. 144 Vgl. Raleigh 2019, 1, 7; DePoe 2020, 2; Hasan und Fumerton 2020, 1–2, 5. 145 Chisholm beschreibt das Problem unter diesem Namen erstmals systematisch in einem gleichnamigen Aufsatz, es wurde jedoch vorher schon von Ayer beschrieben, der statt der gesprenkelten Henne einen Himmel voller Sterne als Beispiel verwendete und laut eigenen Angaben von Ryle auf das Argument hingewiesen wurde. Vgl. Ayer 1940, 123–125; Chisholm 1942.

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Kapitel 1

Allerdings ist es nicht möglich, sich der genauen Anzahl der Sprenkel unmittelbar gewahr zu werden. Man müsste die Anzahl der Sprenkel zunächst zählen. Dann ist es jedoch fraglich, ob das Wissen, dass es sich um eine Henne mit 48 Sprenkeln handelt, noch als Wissen aus Bekanntschaft betrachtet werden kann. Dies entwickelt sich jedoch zu einem grundlegenden Problem für Theorien über Wissen aus Bekanntschaft, wie Chisholm darlegt: And our difficulty is not that there must be characteristics of the many- speckled datum which pass unnoticed; it is, more seriously, the fact that we are unable to make a reliable judgment about what we do notice. The example is clearly not an isolated one. Most presentations ( for instance, those yielded by the marks on this paper or the leaves beyond the window) are similarly multiplex.146

Die Lösungen für dieses Problem sind vielfältig: Nach Ayer sollte man davon ausgehen, dass es in diesem Fall zwar eine zählbare Anzahl von Sprenkeln gibt, aber die Sinnesdaten keine genau spezifizierte Anzahl an Sprenkeln enthalten.147 Eine andere Möglichkeit wäre es zu sagen, dass die 48 Sprenkel zwar unbewusst wahrgenommen werden, dass die gerichtete Aufmerksamkeit jedoch nicht auf 48  Sprenkel gleichzeitig gerichtet sein kann, weshalb man bewusst nur eine vielgesprenkelte Henne wahrnimmt.148 Außerdem ist es möglich davon auszugehen, dass wir zwar phänomenale Konzepte für Farben, grundlegende Formen und kleine Zahlen besitzen, aber nicht das phänomenale Konzept für 48-Sprenkeligkeit.149 Dann scheint es jedoch auch so zu sein, dass man von der Eigenschaft der 48-Sprenkeligkeit nur Wissen durch Beschreibung besitzen kann.150 Dies gilt für Wissen aus erster Hand nicht gleichermaßen. Entweder man zählt die Sprenkel der Henne und weiß dann aus erster Hand, dass vor einem eine Henne mit 48 Sprenkeln steht oder man zählt nicht, dann weiß man aus erster Hand nur, dass vor einem eine vielgesprenkelte Henne steht. Das Problem stellt sich hier also einerseits nicht in gleicher Form und andererseits fällt auch die abschließende Klassifizierung anders aus. Es ist unproblematisch 146 Chisholm 1942, 368. 147 Vgl. Ayer 1940, 124–126. Ayer spricht in seinem Beispiel von Sternen, statt von Sprenkeln, aber die Argumente lassen sich meines Erachtens problemlos übertragen. 148 Vgl. Chalmers 2010. 149 Vgl. Feldman 2004. 150 Vgl. Hasan und Fumerton 2020, 21–22 Es gibt noch viele andere Lösungsansätze für das oben beschriebene Problem, sie lassen sich jedoch größtenteils mit den Worten von Hasan und Fumerton zusammenfassen: „As long as one has an account of why one of the conditions for noninferential justification fails, one is in a position to respond to the objection.“ Hasan und Fumerton 2020, 22.

Abgrenzung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

47

möglich, Wissen aus erster Hand von der Existenz einer 48-sprenkeligen Henne zu besitzen, während es fraglich ist, ob man Wissen aus Bekanntschaft von einer 48-sprenkeligen Henne besitzen kann. Zusätzlich ist nicht klar, ob es möglich ist, Wissen aus Bekanntschaft von physisch existierenden Dingen in der Außenwelt zu besitzen. Russell ging davon aus, dass wir nur Bekanntschaft mit aktuellen oder erinnerten, vergangenen Sinneseindrücken und mentalen Zuständen und einigen Universalien machen können.151 Die Möglichkeit der Bekanntschaft mit materiellen Objekten schließt Russell explizit aus.152 Innerhalb der aktuellen Diskussion gehen die Ansichten dazu, ob man mit den eigenen Sinnesdaten oder externen Objekten153 oder mit beiden Bekanntschaft macht154, auseinander. Auch gibt es abweichende Meinungen dazu, ob wir mit Einzeldingen oder mit einem Sachverhalt oder einem Gedanken Bekanntschaft machen und ob wir zusätzlich mit der Übereinstimmung zwischen Sachverhalt und Gedanken Bekanntschaft machen können.155 Der Begriff des Wissens durch Beschreibung wird also je nach Autorin eine unterschiedliche Extension haben, allerdings ist absehbar, dass sich diese in den meisten Fällen nicht kongruent zur Extension des Begriffs des Wissens aus zweiter Hand verhält. Ob Wissen aus Bekanntschaft in propositionaler Form vorliegt, ist ein weiterer Punkt, der nicht abschließend geklärt ist. Russell stellt Wissen aus Bekanntschaft dem Wissen von Wahrheiten entgegen: Knowledge of things, when it is of the kind we call knowledge by acquaintance, is essentially simpler than any knowledge of truths, and logically independent of knowledge of truths, though it would be rash to assume that human beings ever, in fact, have acquaintance with things without at the same time knowing some truth about them.156

Hasan und Fumerton weisen darauf hin, dass nicht klar ist, ob Russell nur die Bekanntschaft oder auch das hieraus gewonnene Wissen aus Bekanntschaft als unabhängig von propositionalem Wissen versteht157. Hayner geht davon aus, dass Russell die Bekanntschaft selbst als eine nicht propositionale Form von Wissen betrachtet.158 In ähnlicher Weise konzipiert Tye Wissen aus 151 Vgl. Wahl 2014, 270; Raleigh 2019, 4. 152 Vgl. Russell 1912, 51. 153 Vgl. hierzuRaleigh 2019. 154 Vgl. Wishon 2012. 155 Vgl. Fumerton 1990; Bonjour 2003. 156 Russell 1912, 72. 157 Vgl. Hasan und Fumerton 2020, 5. 158 Vgl. Hayner 1969, 423–426.

48

Kapitel 1

Bekanntschaft als eine von Wissen durch Beschreibung unterschiedene Art des Wissens, die nicht-propositional ist.159 Viele zeitgenössische Philosophinnen gehen jedoch davon aus, dass Wissen aus Bekanntschaft propositional charakterisiert ist, während Bekanntschaft an sich zwar propositional charakterisiert sein kann, jedoch nicht immer propositional sein muss.160 Fumerton weist explizit darauf hin, dass es auch möglich ist, Bekanntschaft mit einem Sachverhalt zu machen, der nicht propositional charakterisiert ist.161 Wissen aus Bekanntschaft wird außerdem genutzt, um zu erklären, was die Neurophysiologin Mary in Frank Jacksons berühmt gewordenen Fall gegen den Physikalismus denn Neues dazulernt, wenn sie zum ersten Mal Farben sieht162. Churchland geht davon aus, dass Mary zwar schon jegliches deskriptive Wissen über die Farben und die menschliche Farbwahrnehmung besitzt, jedoch kein Wissen aus Bekanntschaft über diese Dinge.163 Viele Autorinnen verfolgen eine ähnliche Strategie, um Marys veränderten epistemischen Zustand zu erklären und gehen hierzu davon aus, dass es Wissen aus Bekanntschaft von phänomenalen Qualitäten oder Eigenschaften gibt.164 Dieses Wissen liegt nicht in propositionaler Form vor. Zusammenfassung: Die Begriffe Wissen aus zweiter Hand und Wissen aus Beschreibung stimmen in entscheidenden Eigenschaften nicht überein: Aus Inferenzen gewonnenes Wissen muss nicht zwangsläufig Wissen aus zweiter Hand darstellen, man kann auch inferentielles Wissen aus erster Hand besitzen. Dies gilt für Wissen aus Bekanntschaft nicht. Es ist nicht möglich, inferentielles 159 Vgl. Tye 2009, 95–103. 160 Vgl. Fales 1996; Bonjour 2003; Fumerton 2019. 161 Fumerton 2019, 247, 249. 162 Das Originalbeispiel lautet folgendermaßen: „Mary is a brilliant scientist who is, for whatever reason, forced to investigate the world from a black and white room via a black and white television monitor. She specialises in the neurophysiology of vision and acquires, let us suppose, all the physical information there is to obtain about what goes on when we see ripe tomatoes, or the sky, and use terms like ‚red‘, ‚blue‘, and so on. She discovers, for example, just which wave-length combinations from the sky stimulate the retina, and exactly how this produces via the central nervous system the contraction of the vocal chords and expulsion of air from the lungs that results in the uttering of the sentence ‚The sky is blue‘. (It can hardly be denied that it is in principle possible to obtain all this physical information from black and white television, otherwise the Open University would of necessity need to use colour television.) What will happen when Mary is released from her black and white room or is given a colour television monitor? Will she learn anything or not? It seems just obvious that she will learn something about the world and our visual experience of it. But then it is inescapable that her previous knowledge was incomplete. But she had all the physical information. Ergo there is more to have than that, and Physicalism is false.“ Jackson 1982, 130. 163 Vgl. Churchland 1985. 164 Vgl. z.B. Conee 1994; Bigelow und Pargetter 2006; Chalmers 2010.

Abgrenzung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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Wissen aus Bekanntschaft zu besitzen, weshalb Wissen aus Inferenzen immer Wissen aus Beschreibung darstellt. Wissen aus Bekanntschaft schließt in manchen Lesarten Wissen von phänomenalen Qualitäten und Eigenschaften ein, dann liegt es nicht mehr in propositionaler Form vor. Wissen aus erster Hand liegt in propositionaler Form vor. Die Unterscheidung von Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand würde offensichtlich nicht mehr analog zur Unterscheidung von Wissen aus Bekanntschaft und Wissen durch Beschreibung verlaufen, sobald man annimmt, dass Wissen aus Bekanntschaft entweder ganz oder teilweise nicht propositional ist. Trotzdem ist es jedoch je nach Definition des Begriffs Wissen aus Bekanntschaft durchaus möglich, dass manchem Wissen aus erster Hand eine Form von Wissen aus Bekanntschaft zugrunde liegt und in diesen Fällen auch einen Unterschied im epistemischen Wert zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand erklären kann. Dies ist jedoch kein grundsätzliches und auch kein notwendiges Unterscheidungskriterium zwischen Wissen aus erster und aus zweiter Hand, da beide Begriffe auch unabhängig hiervon hinreichend klar voneinander abgegrenzt werden können und konzeptuell unabhängig von den Begriffen des Wissens aus Bekanntschaft und des Wissens durch Beschreibung sind. Methodisches Vorgehen: Die bis hierhin vorgenommene Klärung des Explikandums hat gezeigt, dass weder der Begriff des testimonialen Wissens, noch der Begriff des Wissens durch Beschreibung fruchtbare Explikate für den weiten Begriff des Wissens aus zweiter Hand darstellen. Sie haben jedoch innerhalb der philosophischen Diskussion ihre eigene Berechtigung und lassen sich gut vom weiten Begriff des Wissens aus zweiter Hand abgrenzen. Beide Termini unterscheiden sich aufgrund ihrer Begriffsgeschichte vom Begriff des Wissens aus zweiter Hand und übernehmen in der philosophischen Debatte andere Funktionen als dieser. Der Begriff des testimonialen Wissens schließt normative Forderungen an die Beziehung zwischen Hörer und Sprecherin ein. Er kann daher Fälle, in denen die Erstbesitzerin des Wissens keine unabhängige Einzelperson darstellt, nicht gut klassifizieren. Es gibt zwischen testimonialem Wissen und Wissen aus zweiter Hand Überschneidungen, die wahrscheinlich darauf zurückzuführen sind, dass der weite Begriff von Wissen aus zweiter Hand ein Hyperonym zum Begriff des testimonialen Wissens darstellt; dies deutet jedoch darauf hin, dass beide Begriffe in der philosophischen Diskussion benötigt werden. Ebenso hat der Begriff des Wissens durch Beschreibung schon eine lange Geschichte der philosophischen Diskussion hinter sich. Es ist schwierig, ihn innerhalb der Philosophie klar zu definieren, weshalb er sich als Ausgangspunkt für ein exaktes Explikat nicht eignet. Außerdem nimmt auch er innerhalb der

50

Kapitel 1

philosophischen Philosophie schon eine andere Funktion ein, nämlich die, als Gegenbegriff zu phänomenalem Wissen bzw. Wissen durch Bekanntschaft zu gelten. Der weite Begriff des Wissens aus zweiter Hand soll daher im Folgenden als Explikat für den Begriff des Wissens aus zweiter Hand ausgearbeitet werden.

Abb. 3

Extension von Wissen aus erster Hand, Wissen aus zweiter Hand und Wissen durch Beschreibung165

165 Keil 2021, Eigene Darstellung.

Abgrenzung des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

1.4

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Zusammenfassung: was für einen weiten Begriff von Wissen aus zweiter Hand spricht

Der Begriff Wissen aus zweiter Hand findet sowohl in der Philosophie als auch in den übrigen Wissenschaften Verwendung, ohne dass es in der Philosophie eine systematische Bestimmung des Begriffsinhaltes gibt. Die konservative Verwendung des Begriffs in der Philosophie unterscheidet sich jedoch von der Verwendung in den übrigen Wissenschaften. Methodisch ergibt sich hieraus eindeutig die Explikationsbedürftigkeit166 des Ausdrucks Wissen aus zweiter Hand. Die Annahme eines weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand bietet den Vorteil, dass sie den Begriffsinhalt des Ausdrucks in der Philosophie dem in den anderen Wissenschaften herrschenden Verständnis des Begriffs angleicht. Für die Philosophie selbst bietet eine solche Konzeption eines weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand mehrere Vorteile. Einerseits kann so ein polarer Gegenbegriff zu Wissen aus erster Hand gebildet werden, der es erlaubt, Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand als epistemisch unterschiedene Arten voneinander abzugrenzen. Die Diskussion in verschiedenen Fachbereichen der Philosophie, wie im Bereich des testimonialen Wissens und des Wissens aus Bekanntschaft, zeigen, dass hier durchaus Bedarf besteht an einer stabilen, polaren Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand, die unabhängig von der Diskussion der Begriffe des testimonialen Wissens und des Wissens aus Beschreibung getroffen wird und in den entsprechenden Debatten als Referenzpunkt fungieren kann. Für die Untersuchung eines möglichen Unterschiedes im epistemischen Wert zwischen beiden Begriffen, scheint nur die Annahme eines weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand ein vielversprechender Kandidat, um Wertunterschiede erklären zu können. Denn sollte es so sein, dass Wissen aus zweiter Hand epistemisch weniger wertvoll ist als Wissen aus erster Hand, so sollte dieser Wertunterschied auch dann noch vorhanden sein, wenn das Wissen aus zweiter Hand von einer Gruppe von Personen, von jemandem, der nicht so recht an die Wahrheit der Proposition glaubt, oder von anderweitig nicht alle Ansprüche an die Wissensübertragung erfüllenden Agenten stammt. Die Intuition, dass diese Funktion des Aus-zweiter-Hand-Seins bezogen auf die Quelle des Wissens einen Unterschied im epistemischen Wert erklären kann, wird sowohl in der Philosophie als auch in den übrigen Wissenschaften geteilt. Diese Funktion erfordert jedoch einen weiten Begriff von Wissen aus 166 Vgl. Greimann 2007, 277.

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Kapitel 1

zweiter Hand. Dieser erlaubt es anschließend, auch ungewöhnliche Fälle zu klassifizieren, die durch verwandte Begriffe wie testimoniales Wissen oder Wissen aus Beschreibung nicht vollständig erfasst werden können. Die Konzeption des weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand als polarer Gegensatz zu Wissen aus erster Hand würde außerdem eine graduelle Abstufung beider Begriffe zulassen. Die daraus ermöglichte Bildung eines komparativen Begriffs von Wissen aus zweiter Hand würde aus methodischer Sicht einen begrifflichen Fortschritt hin zu einem genaueren Explikat167 darstellen. Die in diesem Kapitel erfolgte methodische Vorarbeit hatte zum Ziel, ein Verständnis des Begriffs Wissen aus zweiter Hand zu gewinnen, „welches praktisch hinreichend ist, um in eine Diskussion der möglichen Explikationen eintreten zu können“.168 Als wichtigste Funktion169 eines fruchtbaren Begriffs170 von Wissen aus zweiter Hand wurde die Eigenschaft des Aus-zweiter-HandSeins bezogen auf die Quelle des Wissens ausgemacht. Das folgende Kapitel wird nun dazu dienen, diese Funktion genau zu charakterisieren.

167 Vgl. Carnap und Stegmüller 1959, 17. 168 1959, 13. 169 Als eine der wichtigsten Aufgaben der Explikationsvorbereitung nach Carnap sieht Greimann die Regel: „Die Funktion des Explikandums, die erhalten oder verbessert werden soll, muss eindeutig charakterisiert werden.“ Greimann 2007, 277. 170 „Ein wissenschaftlicher Begriff ist umso fruchtbarer, je mehr er zur Formulierung von allgemeinen Gesetzen benützt werden kann, und dies bedeutet wiederum: je mehr er sich auf Grund von beobachteten Tatsachen mit anderen Begriffen in Beziehung bringen lässt.“ Carnap und Stegmüller 1959, 14.

Kapitel 2

Funktion des weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand Im vorangegangenen Kapitel habe ich gezeigt, warum ein weiter Begriff von Wissen aus zweiter Hand ein sinnvolles Explikat für den wissenschaftlichen Begriff des Wissens aus zweiter Hand darstellt. In diesem Kapitel kann daher mit der eigentlichen Explikation begonnen werden. Hierzu muss zunächst die Funktion, die der Begriff des Wissens aus zweiter Hand erfüllen soll, herausgearbeitet werden.1 Ein weiter Begriff von Wissen aus zweiter Hand kann nicht mehr dadurch definiert werden, dass sowohl Wissen bei der Sprecherin als auch beim Hörer vorliegt und er sollte nicht dadurch definiert werden, dass es sich um einen bestimmten Sprechakt handelt, da der Begriff des Wissens aus zweiter Hand als konzeptuell unabhängig von testimonialem Wissen betrachtet wird. Die Abgrenzung von Wissen aus zweiter Hand zu Wissen aus erster Hand muss daher über andere Kriterien erfolgen. Im ersten Unterkapitel werde ich zeigen, dass sowohl der Nichtbesitz der domänenspezifischen Evidenz als auch die daraus folgende epistemische Abhängigkeit von der Sprecherin, wichtige Unterscheidungsmerkmale darstellen, die geeignet sind, um Wissen aus erster Hand von Wissen aus zweiter Hand zu unterscheiden. Diese Merkmale haben jedoch Folgen für die Einbettung und Nutzbarkeit des Wissens, die den epistemischen Wert von Wissen 1 Greimann schlägt vor, die materiale Adäquatheit des Explikats von der Funktion abhängig zu machen. Ein Explikat gilt dann als material adäquat, wenn seine Funktion mit der des Explikandums übereinstimmt. Vgl. Greimann 2007, 269. Carnap nennt zwar 1928 noch die extensionale Übereinstimmung als Kriterium für die Adäquatheit des Explikats, 1959 legt er jedoch dar, dass es aus Gründen der besseren Funktionalität des Explikats im Begriffssystem geboten sein kann, von dem konventionellen Kriterium der Extensionsgleichheit abzuweichen. Vgl. Carnap [1928] 2017, 57–63; Carnap und Stegmüller 1959, 14–15. Auch Quine schlägt vor im Falle einer Explikation auf die Fixierung der Funktion des Ausdrucks zu achten, ebenso wie Goodman, der die Bewahrung der strukturellen Eigenschaften vor der Bewahrung der Extension des Explikandums fordert. Vgl. van Orman Quine [1960] 2013, 238; Goodman [1978] 1995, 100. Daran anschließend macht Brun deutlich, dass zusätzlich zu den von Carnap aufgeführten generellen Anforderungen an jedes Explikat spezifische Anforderungen hinzukommen, die durch die Funktion, die das Explikat in der Zieltheorie erfüllen soll, bestimmt werden. Vgl. Brun 2020, 949. Die Herausarbeitung dieser spezifischen Funktionen, die der Begriff des Wissens aus zweiter Hand erfüllen soll, wird, aufbauend auf die Arbeit aus Kapitel 1, in diesem Kapitel fortgeführt.

© brill mentis, 2024 | doi:10.30965/9783969753088_003

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Kapitel 2

aus zweiter Hand beeinträchtigen können. Domänenspezifische Evidenz kann jedoch auch zur Rechtfertigung von Wissen aus zweiter Hand herangezogen werden, weshalb das Vorliegen von domänenspezifischer Evidenz nicht per se ein Indikator dafür ist, dass die Besitzerin Wissen aus erster Hand besitzt. Ich werde dieses Verhältnis im zweiten Unterkapitel genauer beleuchten, bevor ich im letzten Kapitel die Form betrachten werde, in der domänenspezifische Evidenz vorliegen sollte. Methodisches Vorgehen: Ich werde zunächst den Nichtbesitz der domänenspezifischen Evidenz und die daraus folgende epistemische Abhängigkeit als die wichtigsten Distinktionsmerkmale zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand herausarbeiten. Ausgehend von der These aus Kapitel 1.3.1, dass der Begriff des Wissens aus zweiter Hand als polarer Gegenbegriff zu Wissen aus erster Hand fungiert, gehe ich davon aus, dass diejenigen Merkmale, die Wissen aus zweiter Hand von Wissen aus erster Hand unterscheiden, auch die Funktion kennzeichnen, die der Begriff sprachlich erfüllt. Darauf aufbauend kann im nächsten Kapitel eine Definition des Begriffs Wissen aus zweiter Hand erfolgen, der diese Funktion berücksichtigt. Mit der daran anschließenden Klärung der wichtigsten Grundbegriffe kann mit der Einordnung des Explikats in ein Begriffssystem begonnen werden, welche in den folgenden Kapiteln fortgeführt wird. 2.1

Nichtbesitz der domänenspezifischen Evidenz und epistemische Abhängigkeit von der Sprecherin

Eines der wichtigsten Unterscheidungskriterien zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand bezieht sich auf den Besitz bzw. Nichtbesitz der Evidenz. Dieses Merkmal betrifft die Rechtfertigung des Wissens und führt zu einer Form von epistemischer Abhängigkeit von der Autorität der Sprecherin. Einige Autorinnen gehen deshalb davon aus, dass die Rechtfertigung für Wissen aus zweiter Hand nur in indirekter oder vermittelter Form vorliegt.2 Die Abhängigkeit von der Rechtfertigung, die eine andere Person besitzt, führt jedoch immer dazu, dass die Person, die das Wissen aus erster Hand besitzt, einen anderen epistemischen Standort besitzt als die Person, die das Wissen aus zweiter Hand besitzt. Das heißt, dass der Besitzer von Wissen aus zweiter Hand sich in seiner raumzeitlichen Platzierung und/oder seinen perzeptiven und/oder kognitiven Fähigkeiten solcherart von der Erstbesitzerin 2 Vgl. zum Beispiel Goldberg 2006, 136; Fricker 2006a Vgl. auch Kap. 3.1.1 in dieser Arbeit.

Funktion des weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand

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unterscheidet, dass er die Wahrheit der betreffenden Proposition von seinem eigenen epistemischen Standort aus nicht beurteilen kann. Deshalb ist er abhängig von der Erstbesitzerin. Dieser abweichende epistemische Standort wiederrum führt jedoch dazu, dass Informationen nur in propositionaler Form oder wenigstens in Form anderer konventioneller Repräsentationen weitergegeben werden können, während die der Rechtfertigung zugrundeliegende perzeptuelle Erfahrung oder die argumentative Rechtfertigung nicht vollständig übermittelt werden.3 Dies hat wiederrum zur Folge, dass von der Erstbesitzerin zum Zweitbesitzer der informationelle Gehalt abnimmt. Dispositionales Wissen geht verloren und damit die Möglichkeit, sensitiv auf potentielle Defeater zu reagieren. Wissen aus erster Hand wird immer vom eigenen, aktuellen epistemischen Standort aus erworben, weshalb die Relation zu einem selbst immer miteingeschlossen ist. Diese Informationen über die Relation dessen, was gesehen, gehört oder gedacht wurde, zu einem selbst, sind bei Wissen aus zweiter Hand reduziert.4 Der Hörer ist für die Herstellung des Bezugs auf die Sprecherin angewiesen. Dies hat zur Folge, dass Wissen aus zweiter Hand in das Netz des Wissens einer Person in der Regel schlechter eingebettet ist, als es bei Wissen aus erster Hand der Fall ist.5 Ich werde im Folgenden nur Unterscheidungsmerkmale betrachten, die Unterschiede zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand auf der propositionalen Ebene erklären können und damit unabhängig von einer bestimmten Wissenstheorie sind. Es ist sicherlich möglich, zur Abgrenzung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand Eigenschaften heranzuziehen, die diesem Wissen zugrunde liegen. Dies erscheint zunächst auch intuitiv sinnvoll. So wäre es zum Beispiel möglich, anzunehmen, dass Wissen aus erster Hand deshalb epistemisch wertvoller ist als Wissen aus zweiter Hand, weil die Gründe für Wissen aus erster Hand andere sind als die Gründe für Wissen aus zweiter Hand. So könnte argumentiert werden, dass Wissen aus zweiter Hand nie auf basalen Gründen beruht 3 Hier müssen zwei Fälle unterschieden werden: Im Falle von Evidenz, die zumindest teilweise auf perzeptueller Erfahrung beruht, ist es gar nicht möglich, diese Erfahrung vollständig in propositionaler Form zu vermitteln; im Falle einer Rechtfertigung, die alleine auf logischen/ begrifflichen Beziehungen beruht, werden in der Regel aus Gründen der Relevanz nicht alle der Argumentation zugrundeliegenden Prämissen und Ableitungsbeziehungen weitergegeben, wobei dies jedoch grundsätzlich möglich wäre. Ich werde in Kapitel 2.4 noch ausführlicher darauf eingehen. 4 Vgl. hierzu Millikan 2004, 122–124. 5 Die möglicherweise verringerte Verlässlichkeit, die Testimony aufweisen kann, wird bei der Unterscheidung von Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand kein ausschlaggebendes Kriterium mehr sein, da es sich bei beiden Begriffen um Wissen handelt, das also per Definition zuverlässig genug erworben wurde.

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Kapitel 2

oder keine Bekanntschaft mit phänomenalen Eigenschaften ermöglicht. Dies würde jedoch die Anerkennung einer Form des epistemischen Fundamentalismus voraussetzen6. Vertreterinnen anderer Wissenstheorien könnten sich dann nicht auf diese Unterscheidung beziehen. Die Annahme, dass Wissen aus zweiter Hand sich von Wissen aus erster Hand unterscheide, weil es nur inferentiell gerechtfertigte Überzeugungen hervorbringe, wäre hingegen nicht mit der Annahme eines Antireduktionismus bezüglich testimonialen Wissens (als Teilmenge von Wissen aus zweiter Hand) vereinbar7. Die Argumentation, dass Wissen aus zweiter Hand weniger auf eigenem Verdienst und Tugend basiere8, würde hingegen die Anerkennung einer Tugenderkenntnistheorie voraussetzen. Die Explikation von Wissen aus zweiter Hand, die ich in dieser Arbeit vornehme, sollte jedoch nicht von der Anerkennung einer bestimmten Wissenstheorie abhängig sein. Ich werde daher zur Explikation von Wissen aus zweiter Hand nur diejenigen Merkmale heranziehen, die sich direkt auf das Wissen und dessen Verknüpfung mit anderem Wissen beziehen. Wenn eine Unterscheidung auf dieser Ebene gelingt, hat diese darüber hinaus den Vorteil, dass keine zusätzlichen Annahmen nötig sind, um zu klären, ob sich Wissen aus erster Hand und aus zweiter Hand auch auf der epistemischen Ebene unterscheiden. Denn dies kann dadurch garantiert werden, dass sich schon die grundlegenden Unterscheidungsmerkmale auf der Ebene des in propositionaler Form vorliegenden Wissens bewegen. Andersherum erscheint es zweifelhaft, ob Unterschiede, die auf einer basaleren Ebene zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand bestehen können, überhaupt einen epistemischen Einfluss haben, wenn sie sich nicht auch auf der propositional formulierbaren Ebene niederschlagen. 6 Siehe Kapitel 1.3.3. 7 Antireduktionistische Ansätze von testimonialem Wissen gehen davon aus, dass Testimony selbst eine Quelle von Rechtfertigung sein kann und testimoniales Wissen daher ohne Zwischenschritt über eine Inferenz, bezüglich der Intentionen und der Verlässlichkeit der Sprecherin, direkt erworben werden kann. Siehe für eine Übersicht über die Debatte: Coady 1994, Ch. 4; Gelfert 2014, Ch. 5. Wenn testimoniales Wissen eine Unterart von Wissen aus zweiter Hand darstellt, müsste dieses jedoch dann auch die Eigenschaft aufweisen, dass es nur inferentiell gerechtfertigte Überzeugungen generieren kann. 8 Siehe für eine solche Argumentation: Lackey 2007d, Kallestrup und Pritchard 2012 und Pritchard 2016. Sosa 2007 argumentiert, dass im Falle von testimonialem Wissen die Angemessenheit (Aptness) der Überzeugung nur teilweise der Tugend des einzelnen Hörers zugeschrieben werden kann. Vgl. Sosa 2007, 97. Eine analoge Argumentation wäre für Wissen aus zweiter Hand im Allgemeinen möglich, jedoch nur, wenn man Vertreterin einer Tugenderkenntnistheorie ist.

Funktion des weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand

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Diese Vorannahme stellt eine Entscheidung auf der Erklärungsebene dar. Ein Ansatz, der den Unterschied zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand auf der Ebene der in propositionaler Form vorliegenden Evidenz erklärt, setzt weder einen strengen Evidentialismus voraus, noch ist er unvereinbar mit fundamentalistischen Positionen. Die Menge an in propositionaler Form vorliegender Evidenz wird zwar im Verlauf dieses Kapitel als wichtigstes Unterscheidungsmerkmal zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand herausgearbeitet, dies schließt jedoch nicht aus, dass diese Evidenz auf einem fundamentaleren Level beispielsweise auf basalen Gründen basiert. Es wird jedoch verneint, dass dieser Unterschied das sinnvollste Kriterium für eine Explikation beider Begriffe darstellt. Durch diese Vorentscheidung entstehen jedoch auch Abgrenzungsprobleme. So scheint es auf den ersten Blick, als würde eine Argumentation, die davon ausgeht, dass die Rechtfertigung für Wissen aus erster Hand sich von der Rechtfertigung für Wissen aus zweiter Hand grundsätzlich unterscheidet, besser eine klare Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand ermöglichen. Eine solche grundsätzliche Unterscheidung wäre zum Beispiel möglich bei der Annahme, dass Wissen aus erster Hand im Gegensatz zu Wissen aus zweiter Hand auf basalen Gründen basiert. Ich werde in Kapitel  2.1.3, und 2.2. zeigen, dass eine solche grundsätzliche Unterscheidung anhand der Art der Gründe nicht möglich ist und die Unterscheidung zwischen Gründen, die Wissen aus erster Hand und solchen, die Wissen aus zweiter Hand ermöglichen, immer nur relational in Abhängigkeit von dem, in Kapitel 2.1.4 dargestellten, epistemischen Standort der Wissensbesitzerin, getroffen werden kann. In Kapitel 2.3 werde ich darlegen, welche konzeptuellen Vorteile darüber hinaus eine Unterscheidung zwischen beiden Wissensarten bietet, die auf der Menge an in propositionaler Form vorliegender Evidenz beruht. Da der Nichtbesitz der domänenspezifischen Evidenz für das Wissen als Hauptmerkmal von Wissen aus zweiter Hand betrachtet wird, aus dem die epistemische Abhängigkeit der Sprecherin folgt, werden beide Begrifflichkeiten in den Kapiteln  2.1.1 – 2.1.3 zunächst eingeführt. In Kapitel  2.1.4 wird außerdem der Begriff des epistemischen Standortes eingeführt, der sich bei der Erstbesitzerin und dem Zweitbesitzer von Wissen unterscheidet. Die Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand auf Grundlage der zur Verfügung stehenden Evidenz legt eine bestimmte Sichtweise auf die Wissensübertragung nahe, während sie mit anderen Sichtweisen, wie der Übertragung nach dem Transmissionsmodell nicht so gut vereinbar ist. Dies werde ich in Kapitel 2.1.5 darlegen.

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Kapitel 2

2.1.1 Fehlende domänenspezifische Evidenz Der Nichtbesitz der Evidenz oder der Gründe für das Wissen werden als wichtiges Merkmal von Wissen aus zweiter Hand betrachtet. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um die generelle Abwesenheit von Evidenz oder Gründen, sonst wären die betreffenden Aussagen nicht ausreichend gerechtfertigt, um überhaupt Wissen darzustellen. Die Evidenz des Besitzers von Wissen aus zweiter Hand besteht im Normalfall darin, dass eine verlässliche Person oder Gruppe von Personen die Wahrheit einer bestimmten Proposition bestätigt hat. Trotzdem scheint dem Besitzer von Wissen aus zweiter Hand eine bestimmte Art von Evidenz zu fehlen. Diese Art von Evidenz werde ich im Folgenden mit dem Begriff der domänenspezifischen Evidenz bezeichnen und näher untersuchen. Der Begriff soll ein Merkmal erfassen, das bisher in der philosophischen Literatur zwar bemerkt wurde, jedoch unterschiedlich bezeichnet wurde. Gelfert nennt dieses Merkmal „first-hand evidence“9 und Fricker spricht von persönlich besessener Evidenz10. Goldberg unterscheidet zwischen direkter epistemischer Unterstützung, die im Falle von Wissen aus erster Hand vorliegt, und indirekter epistemischer Unterstützung11. Ich entlehne die Begriffe der domänenspezifischen Evidenz und der domänenunabhängigen Evidenz von Constantin und Grundmann (2018), die zwischen domänenspezifischen Gründen (domain-specific reasons) und domänenunabhängigen Gründen (non-domain-specific reasons) unterscheiden. Domänenspezifische Gründe fallen in die Domäne D des Geltungsbereichs einer Autorität A, die durch die Menge an Propositionen bestimmt ist, die zu einem bestimmten Zeitpunkt exoterisch für A und esoterisch für das Subjekt S sind, demgegenüber A eine Autorität darstellt.12 Exoterisch sind laut Goldman diejenigen Propositionen, deren Wahrheitswert zu einem bestimmten Zeitpunkt von einem epistemischen Standort aus zugänglich ist. Esoterisch sind die Propositionen, deren Wahrheitswert von diesem epistemischen Standort aus nicht mithilfe des persönlichen Wissens einer Person zugänglich ist.13 Domänenunabhängige Gründe stellen hingegen diejenigen Gründe dar, die für die Autorität und den Laien gleichermaßen einsehbar sind, zum Beispiel Wissen über die generelle Zuverlässigkeit der Autorität in dieser Domäne.14 Ich werde den Begriff der domänenspezifischen Evidenz hiervon leicht abweichend verwenden, für genau die Evidenz, die benötigt wird, um den 9 10 11 12 13 14

Gelfert 2014, 11, 77. Fricker 2006b, 228. Vgl. Goldberg 2006, 136. Vgl. Constantin und Grundmann 2020, 4117. Vgl. Goldman 2001, 94, 106. Vgl. Constantin und Grundmann 2020.

Funktion des weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand

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Wahrheitswert einer Proposition vom einem bestimmten epistemischen Standpunk aus selbstständig bewerten zu können. Domänenspezifische Evidenz stellt also diejenige Evidenz dar, die dazu führt, dass eine Proposition für ein Subjekt exoterisch ist. Das Fehlen der domänspezifischen Evidenz führt zu einer epistemischen Abhängigkeit von der Besitzerin des Wissens aus erster Hand. Diese epistemische Abhängigkeit wurde erstmals systematisch von Hardwig beschrieben als „gute Gründe eine Überzeugung zu glauben, falls jemand gute Gründe hat zu glauben, dass Andere gute Gründe haben es zu glauben und dass daher eine Art guter Grund für die meine Überzeugung besteht, die keine Evidenz für die Wahrheit der Aussage darstellt.“15 Auch Fricker geht davon aus, dass wir im Falle von testimonialem Wissen die Evidenz oft nicht besitzen: „Ich glaube viele Dinge, für die ich persönlich nicht die Evidenz besitze und meine Überzeugung beruht auf der Voraussetzung, dass eine andere Person oder eine Gruppe von Personen Zugang zu der Evidenz hat oder hatte und sie korrekt ausgewertet hat.“16 Dies würde jedoch zu der paradoxen Annahme führen, dass es möglich ist, Wissen ohne die entsprechende Evidenz zu besitzen.17 Hardwig relativiert diese Aussage jedoch in demselben Artikel dahingehend, dass eine Person, die gute Gründe in Form von Aussagen anderer besitzt, natürlich schon Evidenz besitzt. Dies sei jedoch nicht diejenige Evidenz, die zählt, um die Wahrheit der betreffenden Proposition begründen zu können.18 In einem späteren Artikel bezeichnet Hardwig die Evidenz, die eine Person in diesem Falle besitzt, als „second hand evidence“19. Fricker qualifiziert ihre Aussage, indem sie später ergänzt, dass sich der Nichtbesitz der Evidenz auf die „echte Evidenz“, die Evidenz, auf der die Konklusion der Expertinnen basiert, beziehe.20 Zusammenfassung: Die oben genannten Philosophinnen stimmen in dem Punkt überein, dass es eine bestimmte Form von Evidenz gibt, über die die Besitzerin von Wissen aus erster Hand verfügt, die dem Besitzer von Wissen aus zweiter Hand jedoch fehlt. Dieses wichtige Distinktionsmerkmal wurde meines Erachtens bisher nicht systematisch erfasst, da voneinander abweichende Formulierungen der verschiedenen Autorinnen die Sicht auf die Gemeinsamkeit erschwert haben. Ich schlage daher vor, für diese Art der persönlich zugänglichen Evidenz für eine Proposition, den Begriff der domänenspezifischen 15 16 17 18 19 20

Hardwig 1985, 336. Meine Übersetzung. Fricker 2006b, 228. Meine Übersetzung. Hardwig 1985, 345. Hardwig 1985, 337. Hardwig 1991, 698. Fricker 2006a, 606.

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Kapitel 2

Evidenz zu verwenden. Die domänenspezifische Evidenz ist diejenige Evidenz, die benötigt wird, um den Wahrheitswert einer Proposition vom eigenen epistemischen Standort aus selbstständig festzustellen. 2.1.2 Epistemische Abhängigkeit Aus dem Nichtbesitz der domänenspezifischen Evidenz geht eine epistemische Abhängigkeit von der Sprecherin hervor. Gelfert betrachtet diese von Form von epistemischer Abhängigkeit als Hauptmerkmal für Wissen, das in irgendeiner Art und Weise von anderen erworben wurde, oder von anderen abhängt, während testimoniales Wissen den wahrscheinlich häufigsten und elementarsten Fall von epistemischer Abhängigkeit ausmache.21 Hardwig war der erste, der diese Art der Abhängigkeit, die aus dem Nichtbesitz der Evidenz folgt, ausführlich beschrieben hat22: Er geht davon aus, dass der Besitzer von Wissen aus zweiter Hand keine Evidenz für die betreffende Aussage besitzt, sondern stattdessen rechtfertigende Gründe, die keine Evidenz darstellen. Dies zeige sich einerseits daran, dass die Evidenz, die die Sprecherin besitzt, keine zusätzliche Evidenz für den Hörer darstellt, da dessen rechtfertigende Gründe ja schon davon abhängen, dass die Sprecherin ausreichend Evidenz besitzt. Andererseits müsse der Hörer davon ausgehen, dass entweder die Sprecherin oder irgendjemand in der Kommunikationskette vor ihr, ausreichend Evidenz besitzt, um die betreffende Aussage selbstständig zu rechtfertigen.23 Die verlässliche Aussage einer anderen Person, von der die Rechtfertigung des Besitzers von Wissen aus zweiter Hand abhängt, stellt jedoch auch eine Art von Evidenz dar, dies gibt auch Hardwig zu.24 Sie stellt jedoch nur domänenunabhängige Evidenz dar, weshalb der Hörer davon abhängig ist, dass die Sprecherin über domänenspezifische Evidenz verfügt. Diese Art der Abhängigkeit sollte von einer bloß kausalen bzw. informationellen Abhängigkeit unterschieden werden.25 So ist es möglich, dass eine Person ihre Aufmerksamkeit aufgrund des Hinweises einer anderen Person auf eine bestimmte Situation lenkt, was sie erst in die Lage versetzt, diesen Sachverhalt wahrzunehmen. In diesem Falle besteht eine kausale Abhängigkeit – jedoch keine epistemische. Ebenso ist es möglich, dass ein Hörer eine bestimmte 21 Gelfert 2014, 11. Ich stimme Gelfert diesbezüglich zu, weshalb ich auch Texte, in denen es um testimoniales Wissen geht, heranziehe, insofern sie diese spezielle Form der epistemischen Abhängigkeit näher beleuchten. 22 Vgl. Hardwig 1985. 23 Vgl. Hardwig 1985, 337. Siehe hierzu auch Fricker 2006a, 605. 24 Hardwig 1985, 337. 25 Sosa unterscheidet beispielsweise zwischen kausaler und epistemischer Abhängigkeit. Vgl. Sosa 2019, 116.

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Argumentation zunächst aus zweiter Hand erwirbt, die er anschließend jedoch durchdenkt und auf dieser Grundlage anschließend selbstständig rechtfertigen kann. Auch hier besteht keine epistemische Abhängigkeit mehr. Zur Unterscheidung von epistemischer und kausaler Abhängigkeit möchte ich einen Vorschlag von Goldman aufgreifen: Er betrachtet zwei Subjekte bezüglich ihrer Überzeugung als nicht-unabhängig, wenn die Überzeugung des einen Subjekts Y bezüglich einer Hypothese H stärker von der Aussage des anderen Subjekts X abhängt als von der Wahrheit der Proposition. The appropriate question is whether Y is more likely to believe H when X believes H and H is true than when X believes H and H is false. If Y is just as likely to follow X’s opinion whether H is true or false, then Y’s concurring belief adds nothing to the agent’s evidential grounds for H.26

Ich gehe davon aus, dass in einem solchen Fall eine epistemische Abhängigkeit vorliegt und möchte den Begriff der epistemischen Abhängigkeit daher folgendermaßen verstehen: Epistemische Abhängigkeit: Ein Subjekt S ist bezüglich des Wissens einer Proposition p epistemisch abhängig von einem Subjekt S2, genau dann, wenn es gleich wahrscheinlich ist, dass S p glaubt, wenn S2 p behauptet und p richtig ist und dass S p glaubt, wenn S2 p behauptet und p falsch ist.27

Domänenspezifische Evidenz als Relation zwischen dem epistemischen Standort einer Person und einer Aussage Goldman bezieht sich in seiner Arbeit auf das Verhältnis von Expertinnen und Novizen. Ich gehe jedoch davon aus, dass dieses Verhältnis der epistemischen Abhängigkeit immer auftritt, wenn eine Person bezüglich eines bestimmten Sachverhaltes epistemisch besser platziert ist als eine andere Person. Dies ist durchaus mit Goldmans Ansatz vereinbar, der davon ausgeht, dass das Verhältnis des Zuhörers zur Augenzeugin einen Sonderfall des Verhältnisses des Novizen zur Expertin darstellt: „We can clarify the nature of the novice/expert problem by comparing it to the analogous listener/eyewitness problem. (Indeed, 2.1.3

26 Goldman 2001, 101. 27 Diese Formulierung beschreibt das Abhängigkeitsverhältnis von zwei Subjekten S und S2, die sich in einer Beziehung befinden, in der S die Verlässlichkeit von S2 gerechtfertigterweise voraussetzen darf, weil S2 zum Beispiel eine (relative) Expertin für S darstellt. Solange die generelle Verlässlichkeit von S2 tatsächlich hoch genug ist, ist daher auch die Überzeugung von S gerechtfertigt, selbst wenn sie mit der Überzeugung von S2 variiert.

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if we use the term “expert” loosely, the latter problem may just be a species of the novice/expert problem.)“28 Dieses Verhältnis drückt sich in einer relativen Beziehung aus, da die Menge an Propositionen, die in die Domäne der Expertin fallen, nicht absolut feststeht, sondern genau die Menge an Propositionen umfasst, deren Wahrheitswert nur für die Expertin zugänglich ist. Die Zugänglichkeit variiert relativ zu einem bestimmten epistemischen Standort.29 It is natural to think that statements are categorically either esoteric or exoteric, but that is a mistake. A given (timeless) statement is esoteric or exoteric only relative to an epistemic standpoint or position. It might be esoteric relative to one epistemic position but exoteric relative to a different position.30

Goldman verdeutlicht diese Beziehung an folgendem Beispiel: Sonnenfinsternis: Die Aussage: „Am 22. April, 2130 wird in Santa Fe, New Mexiko eine Sonnenfinsternis zu sehen sein.“, ist relativ zu dem aktuellen epistemischen Standort eines Durchschnittsbürgers im Jahre 2000 eine esoterische Aussage. Ihr Wahrheitswert ist von diesem Standort aus nicht bewertbar. Diese Aussage fällt daher in die Domäne der Expertin, die diese Frage beantworten kann. Am 22. April, 2130 kann jedoch auch die Durchschnittbürgerin auf der Straße in Santa Fe, New Mexiko diese Aussage leicht bewerten. Von diesem epistemischen Standort aus, ist die Aussage nun nicht länger esoterisch, sondern exoterisch. Sie fällt daher auch nicht mehr in die Domäne der Expertin.31

Die Durchschnittsbürgerin auf der Straße in Indien kann jedoch auch am 22. April, 2130 noch nicht selbstständig bewerten32, ob die Aussage stimmt, da dort zum Zeitpunkt der Sonnenfinsternis in Santa Fe Nacht sein wird. Ich möchte Goldmans Unterscheidung insofern erweitert anwenden, als ich davon ausgehen werde, dass im Falle dieses Beispiels die Durchschnittsbürgerin auf 28 Goldman 2001, 90. 29 Goldman verwendet den Begriff „epistemic standpoint“. Ich habe mich in der Übersetzung für die Verwendung des Begriffs epistemischer Standort entschieden, da die direkte Übersetzung epistemischer Standpunkt zu Verwechslungen mit dem von Alston verwendeten Begriff des „epistemic point of view“ führen könnte. Dieser Begriff wird von Grundmann als epistemischer Standpunkt übersetzt und beschreibt eine Sichtweise der epistemischen Bewertung. Vgl. Grundmann 2017, 145 und Alston 1985, 59. Eine Definition des epistemischen Standortes erfolgt auf S. 65. 30 Goldman 2001, 106. 31 Goldman 2001, 106. 32 Ich verwende den Begriff der selbstständigen Bewertung in diese Arbeit synonym zum Begriff der epistemischen Unabhängigkeit. Es darf in diesem Falle also keine epistemische Abhängigkeit, wie in Kap. 2.1.2 definiert, bestehen.

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der Straße in Santa Fe, New Mexiko eine relative Expertin zu der Bürgerin in Indien darstellt. Ich werde daher im Folgenden den Begriff der relativen Expertin so verstehen wie Fricker vorschlägt: Relative Expertin: Ein Subjekt S ist bezüglich der Proposition P relativ zu Hörer H zum Zeitpunkt t eine Expertin, genau dann, wenn S zum Zeitpunkt t hinsichtlich P epistemisch gut genug positioniert ist, sodass, wenn sie ein Urteil abgeben oder eine bewusste Überzeugung bezüglich der Aussage P bilden würde, ihre Überzeugung mit hoher Wahrscheinlichkeit Wissen wäre; und sie ist besser epistemisch positioniert als H, um zu entscheiden, ob P zutrifft.33

Ich werde also davon ausgehen, dass jede Person, die bezüglich einer bestimmten Aussage H im Vergleich zu einer anderen Person epistemisch insofern besser platziert ist,34 als die Bestimmung des Wahrheitswertes dieser Aussage für sie exoterisch möglich ist, relativ zu einer anderen Person, die epistemisch so platziert ist, dass H für sie esoterisch ist, eine Expertin darstellt. Analog zu dem Begriff der relativen Expertin, soll der Begriff der domänenspezifischen Evidenz die Menge an Fakten beschreiben, die dazu führen, dass eine bestimmte Aussage für eine bestimmte Person von ihrem epistemischen Standort aus betrachtet exoterisch ist. Domänenspezifische Evidenz: Die Evidenz E für eine Hypothese H stellt für ein Subjekt S, das sich an einem bestimmten epistemischen Standort ES befindet, domänenspezifische Evidenz dar, wenn diese Evidenz sich innerhalb der Domäne D bewegt, die die Menge an Propositionen umfasst, die H für S zu einer exoterischen Aussage machen.

Der epistemische Standort wird hierbei nicht nur von der raumzeitlichen Platzierung des Subjektes bestimmt. So ist es zum Beispiel im Falle der Sonnenfinsternis auch möglich, dass sich S an einem raumzeitlichen Standort befindet, an dem es grundsätzlich möglich wäre, die Sonnenfinsternis zu sehen; doch S perzeptive Fähigkeiten reichen nicht aus, weil S blind ist. Der raumzeitliche Standort könnte in diesem Falle nahezu identisch zu dem eines Subjektes S’ sein, für das die Hypothese, dass gerade eine Sonnenfinsternis stattfindet, eine 33

34

„S is an expert about P relative to H at t just if at t, S is epistemically well enough placed with respect to P so that were she to have, or make a judgement to form a conscious belief regarding whether P, her belief would almost certainly be knowledge; and she is better epistemically placed than H to determine whether P.“ Fricker 2006b, 233. Ich gehe davon aus, dass der Ausdruck der epistemischen Platzierung (epistemic placement) von Fricker einen ähnlichen Sachverhalt wie der Begriff des epistemischen Standorts von Goldman beschreiben soll.

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exoterische Aussage darstellt. Der epistemische Standort von S und S‘ ist jedoch verschieden.35 Der epistemische Standort, den eine Person innehat, ist auch von der Menge an Vorwissen abhängig, über das diese Person zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügt. Dieses Wissen selbst kann jedoch ebenfalls aus zweiter Hand stammen. Es handelt sich in diesem Falle um domänenspezifische Evidenz für eine Aussage p, die ihrerseits nicht selbst durch domänenspezifische, sondern nur durch domänenunabhängige Evidenz gerechtfertigt ist. Ich schlage vor in diesem Fall den Begriff der domänenspezifischen Evidenz aus zweiter Hand zu verwenden36. Eine möglicherweise befürchtete Zirkularität der Begriffe tritt hierdurch nicht ein, da gefordert werden kann, dass die Besitzerin von Wissen aus erster Hand vollständig epistemisch unabhängig bezüglich der betreffenden Proposition ist, das heißt, dass Wissen aus erster Hand auch nicht mittelbar auf domänenunabhängiger Evidenz beruhen darf.37 Zusammenfassung: Die epistemische Abhängigkeit des Besitzers von Wissen aus zweiter Hand entsteht aus dem Nichtbesitz der domänenspezifischen Evidenz für dieses Wissen und verhält sich analog zu dem Abhängigkeitsverhältnis, das zwischen Laien und Expertinnen besteht. Dieses Verhältnis tritt dann auf, wenn die Wahrheit einer Proposition für eine Person exoterisch ist, während sie für die andere Person esoterisch ist. Die domänenspezifische Evidenz stellt keine absolute Menge dar, sondern beschreibt die Menge an Evidenz, die ein bestimmtes Subjekt, in Relation zu seinem momentanen epistemischen Standort benötigt, um eine Aussage selbstständig zu rechtfertigen. 2.1.4 Abweichender epistemischer Standort Der Begriff des Standortes beschreibt eine räumliche Position. Es könnten daher Bedenken auftreten, dass die Verwendung des Begriffs des epistemischen Standortes zu Ungenauigkeiten führt. Die räumliche Position allein ist allerdings niemals in der Lage, vollständig zu determinieren, was von einem bestimmten Standort aus wahrnehmbar ist. Denn selbst die einfache demonstrative Identifizierung von Einzeldingen hängt nicht nur von der räumlichen Position einer Person, sondern ebenso von ihren perzeptiven und kognitiven Fähigkeiten ab. So ist die Frage, ob eine Person beispielsweise einen 35

Die Menge an Propositionen, deren Wahrheitswert für eine Person zugänglich ist, wird durch ihren raumzeitlichen Standort und ihre perzeptiven und kognitiven Fähigkeiten beeinflusst. Ich werde in Kapitel 2.1.2.1 noch ausführlicher darauf eingehen. 36 Diese Unterscheidung wird ebenso von Hardwig und Gelfert getroffen. Vgl. Hardwig 1991, 698; Gelfert 2014, 77. 37 Siehe Kapitel 3.1 in dieser Arbeit für eine Definition von Wissen aus zweiter Hand.

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Buchstaben von einer bestimmten räumlichen Position aus erkennen kann, nicht nur von der räumlichen Relation abhängig, sondern ebenso von ihrer Sehfähigkeit und ihrer Lesekompetenz. Ich möchte den epistemischen Standort folgendermaßen verstehen: Epistemischer Standort: Der epistemische Standort bestimmt die Menge an Propositionen p, die für ein Subjekt S zu einem Zeitpunkt t exoterisch sind.

Per Definition wird Wissen aus zweiter Hand daher nur herangezogen, wenn die Wahrheit einer bestimmten Proposition vom eigenen epistemischen Standort aus nicht abschätzbar ist. Das heißt auch, dass der Standort von dem aus, die Proposition beurteilt werden kann, ein Standort ist, der epistemisch von dem Standort des Zweitbesitzers abweicht: Die Wahrheit einer bestimmten Aussage ist vom Standort des Zweitbesitzers aus nicht sichtbar. Im Falle der Sinneswahrnehmung kann man sich leicht vorstellen, was es bedeutet, die Wahrheit einer Proposition von einem bestimmten Standort aus zu sehen. Die Frage, ob die Wahrheit einer bestimmten Aussage von einem bestimmten raumzeitlichen Punkt aus sichtbar ist, ist abhängig vom Standort der Beobachterin und den beobachteten Fakten und von den perzeptiven und kognitiven Fähigkeiten der Beobachterin. So hängt die Frage, ob eine Person von ihrem Standort aus einen Satz in sehr kleiner Schrift lesen kann, von einer perzeptuellen und einer kognitiven Komponente ab und zwar davon, wie gut ihre Sehfähigkeit ausgeprägt ist und davon, ob sie die Schriftzeichen erkennt, weil sie dieses spezielle Alphabet beherrscht. Nun gibt es jedoch auch Aussagen, deren zuverlässige Beurteilung vorwiegend oder ausschließlich von den kognitiven Fähigkeiten abhängt und daher von der Wahrnehmung relativ unabhängig ist. Für das Erkennen dieser Propositionen möchte ich, einen Vorschlag von Pritchard aufgreifend, den Begriff des intellektuellen Sehens verwenden. Was das intellektuelle Sehen und das perzeptuelle Sehen38 laut Pritchard gemeinsam haben, ist, dass bei beiden Zuständen die kognitive Eigentümerschaft der eigenen epistemischen Situation übernommen wird.39 Diese Sichtweise erscheint intuitiv nachvollziehbar. Sowohl im deutschen als auch im englischen Sprachgebrauch legen Ausdrücke wie „I See“, „Siehst du?“ und „einsehen“ nahe, dass der Begriff des Sehens auch auf kognitive Einsicht angewendet werden kann. Ebenso wie der „point of view“ und der „standpoint“, können der „Blickwinkel“ und der „Standort“ eine raumzeitliche oder eine intellektuelle Perspektive 38

Pritchard verwendet die Begriffe „intellectual seeing“ und „perceptuel seeing“. Vgl. Pritchard 2016, 36. 39 Vgl. Pritchard 2016, 36.

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ausdrücken. Der epistemische Standort beschreibt daher den raumzeitlichen und kognitiven Standort einer Person, der bestimmt, welche Propositionen sie zu einem Zeitpunkt selbst wahrnehmen kann und mithilfe ihrer eigenen Gründe selbstständig rechtfertigen kann. Doch was unterscheidet Wissen, das eine Person von ihrem eigenen epistemischen Standort aus erwirbt, von solchem Wissen, das von einem anderen epistemischen Standort aus erworben wurde? Ich möchte an dieser Stelle eine Idee von Strawson aufgreifen. Laut Strawson kann eine Person Wissen, das sie aus zweiter Hand erwirbt, in der Regel nicht ohne den Rahmen der Erzählerin in ihr allgemeines Weltbild einordnen. Dies liegt daran, dass die Einzeldinge, über die Wissen aus zweiter Hand erworben wird, nur kontext-bedingt (kurz bedingt) identifiziert werden können. Denn bei der bedingten Identifikation erfolgt die Identifikation nur „bezüglich eines Bereichs von Einzeldingen […], der seinerseits nur als der Bereich derjenigen Einzeldinge definiert ist, über die der Sprecher gerade redet.“40 Das bedeutet, dass der Besitzer von Wissen aus zweiter Hand die Dinge, um die es geht, nur in sein allgemeines Weltbild einfügen kann, wenn er die Sprecherin, und das von ihr entworfene Bild, in sein eigenes Bild einordnet. „Aber er kann die Figuren nicht ohne den Rahmen aus dem Bild des Erzählers in sein eigenes allgemeines Weltbild einordnen.“41 Demgegenüber stellt Strawson die demonstrative Identifikation, bei der die Person in der Lage ist, das gemeinte Einzelding direkt zu lokalisieren.42 Bei der demonstrativen Identifikation ist die Identität des Bereichs von Einzeldingen, des Ausschnitts aus dem Universum, innerhalb dessen die Identifikation vorzunehmen ist, immer klar43. Daher kann die Frage, über welchen Schauplatz gesprochen wird, nicht auftauchen.44 Strawson nimmt an: […], dass jeder von uns in jedem Augenblick einen solchen Rahmen besitzt – einen geschlossenen Rahmen der Kenntnis von Einzeldingen, in dem wir selbst und gewöhnlich auch die uns unmittelbar umgebenden Dinge einen Platz haben und in dem jedes Element zu jedem anderen in einer eindeutigen Beziehung steht, insbesondere zu uns selbst und zu unserer Umgebung.45

40 41 42 43 44 45

Strawson und Scholz 2003, 21. Strawson und Scholz 2003, 21. Vgl. Strawson und Scholz 2003, 22. Für Einzeldinge, die sich nicht in Zeit und Raum befinden, nimmt Strawson an, dass sie immer in irgendeiner eindeutigen Beziehung zu einem anderen Einzelding stehen, das sich demonstrativ identifizieren lässt. Vgl. Strawson und Scholz 2003, 27. Vgl. Strawson und Scholz 2003, 23. Strawson und Scholz 2003, 29.

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Nun gehe ich nicht davon aus, dass dieser Rahmen zu jeder Zeit absolut bewusst ist, dies würde philosophische Erklärungsprobleme aufwerfen.46 Ebenso zeigt die Psychologie, dass wir innerhalb dieses Rahmens durchaus inkonsistente Überzeugungen besitzen.47 Trotzdem nehme ich an, dass jede Person zu jeder Zeit einen solchen Rahmen besitzt. Das Problematische an Wissen, das wir nicht von unserem eigenen epistemischen Standort aus erwerben, ist, dass dieses Wissen erst in unseren eigenen Rahmen eingefügt werden muss. Laut Millikan weist Wissen aus zweiter Hand daher eine Verminderung des Inhalts dessen, was wahrgenommen wird, auf48. Denn bei Wissen aus zweiter Hand gehen Informationen über die Relation des wahrgenommenen Inhalts zu einem selbst verloren.49 Hieraus kann eine schlechtere Einbettung des Wissens in das Wissensnetz des Subjekts folgen. Dies ist eine graduelle Angelegenheit, die mit sprachlichen Mitteln bedingt ausgeglichen werden kann. Darüber hinaus schließt auch eine demonstrative Identifizierung Fehler nicht vollständig aus, dies gibt auch Strawson zu: Dennoch sei bei der demonstrativen Identifikation wenigstens eins klar: Die Identität des Bereichs von Einzeldingen, des Ausschnitts aus dem Universum innerhalb dessen die Identifikation vorzunehmen ist. Es ist der gesamte Schauplatz. Der gesamte Bereich der gegenwärtig wahrnehmbaren Einzeldinge. […] Die Frage, über welchen Schauplatz gesprochen wird, kann nicht auftauchen, obgleich sehr wohl gefragt werden kann, über welchen Teil, über welches Element in welchem Teil wir sprechen.50

46 47

Vgl. Strawson und Scholz 2003, 204. Wenn inkonsistente Überzeugungen bemerkt werden, entsteht kognitive Dissonanz und hieraus der Wunsch, durch verschiedene Handlungen wieder Konsistenz herzustellen. Allerdings werden nicht alle Inkonsistenzen in den Überzeugungen bewusst; entweder weil sie nicht auffallen oder weil das Subjekt sie absichtlich verdrängt, zum Beispiel durch die Abtrennung bestimmter Überzeugungsbereiche (Kompartmentalisierung). Ein klassisches Beispiel ist das der religiösen Biologin, die an die Genesis und die Evolutionstheorie gleichermaßen glaubt. Vgl. hierzu Smith, Mackie und Claypool 2015. 48 Millikan beschäftigt sich vor allem mit Wahrnehmungswissen. Ich werde in Kapitel 3.2.1.2 zeigen, dass auch bei begrifflichem Wissen aus zweiter Hand in der Regel eine Reduzierung des Inhalts vorliegt. 49 Vgl. Millikan 2004, 124. Ein ähnlicher Effekt kann möglicherweise bei Erinnerungen aus erster Hand auftreten, wenn sie öfter abgerufen wurden. Diese wurden dann zwar ursprünglich mit viel Detailwissen in den eigenen Wissensrahmen eingefügt. Dieses Detailwissen kann jedoch über die Zeit vergessen werden. Dies könnte erklären, weshalb die Wahrscheinlichkeit, dass Erinnerungen verfälscht werden, mit der Abrufrate steigt. 50 Strawson und Scholz 2003, 23.

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Der eigene epistemische Standort ermöglicht also die demonstrative Identifikation von Einzeldingen, während Wissen, das von einem anderen epistemischen Standort aus erworben wurde, nur kontext-bedingt identifiziert werden kann, wofür der Hörer auf die Hilfe der Sprecherin angewiesen ist. Wahrnehmungswissen aus erster Hand weist daher laut Millikan in der Regel eine eindeutige Relation zu einem selbst auf. Dinge, die aus erster Hand wahrgenommen werden, passieren in der Regel zu dem Zeitpunkt, zu dem sie wahrgenommen werden und befinden sich in räumlicher Nähe zum eigenen Standort, in einer mehr oder weniger genau bestimmbaren räumlichen Relation.51 Diese Informationen können zwar auch aus zweiter Hand weitergegeben werden, dies ist jedoch nicht der Regelfall.52 Normalerweise kommt der Sprecherin und dem Hörer die Aufgabe zu, die Relation der Einzeldinge und Ereignisse zum Hörer herzustellen. Informationen, die im Gesprächskontext nicht relevant erscheinen, können hierbei auch einfach wegfallen. Für Wahrnehmungswissen, das aus zweiter Hand erworben wurde, ist also ersichtlich, warum der ursprüngliche Erwerb von einem abweichenden epistemischen Standort zu einer schwächeren Einbettung des Wissens beim Hörer führen kann. Strawson geht davon aus, dass die Referenz auf theoretische Entitäten letzten Endes von der Referenz auf materielle Einzeldinge abhängt.53 Insofern kann davon ausgegangen werden, dass ein abweichender epistemischer Standort auch bei theoretischen Entitäten, die nicht direkt von der Wahrnehmung abhängig sind, Einfluss auf die Einbettung des Wissens hat. Für komplett wahrnehmungsunabhängiges Wissen ist dies zunächst nicht offensichtlich. Ich gehe jedoch davon aus, dass dieses Wissen in propositionalen Netzwerken organisiert ist, die ebenfalls eine bestimmte Struktur aufweisen, die individuell variiert.54 Auch hier kann insofern von einer Einbettung des Wissens in den Rahmen des übrigen begrifflichen Wissen gesprochen werden, die sich je nach epistemischem Standort unterscheidet. Das Problem der Kontextabhängigkeit von Aussagen, die von einem anderen epistemischen Standort aus formuliert wurden, tritt an anderer Stelle schon bei der Interpretation der Bedeutung der Sprecherinnenaussage auf. Da der Erwerb von Wissen aus zweiter Hand voraussetzt, dass es dem Hörer gelingt, den Inhalt des Gesagten so zu rekonstruieren, wie er von der Sprecherin gemeint ist, kann es sein, dass die Aussage, die ein Hörer aus zweiter 51 52 53 54

Vgl. Millikan 2004, 122. Vgl. Millikan 2004, 123–124. Vgl. Strawson und Scholz 2003, Kap. 1, insbesondere 66–73. Vgl. hierzu Anderson 2015, Kap. 5 und Kap. 4.2.1.1 in dieser Arbeit.

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Hand erwirbt, einen anderen Inhalt hat, als von der Sprecherin ursprünglich intendiert wurde.55 Diese Möglichkeit entsteht dann, wenn die Sprecherin sich nicht sensibel gegenüber den verschiedenen Arten und Weisen, auf die sie vom Hörer missverstanden werden könnte, verhält. Das Problem wird als Wiederherstellungsproblem (recovery problem) beschrieben.56 Es wird hervorgerufen durch die eingeschränkte Fähigkeit der Hörer, in jedem Fall zuverlässig den genauen Inhalt von kontextsensitiven Aussagen zu determinieren.57 Da der Inhalt, der den Wahrheitswert komplexer Aussagen bestimmt, sehr feinkörnig sein kann, das Wissen der Hörer um den Äußerungskontext jedoch oft grobkörniger ist als erforderlich, gibt es viele verschiedene Aussagen, die die Sprecherin mit einer bestimmten kontextsensitiven Äußerung gemeint haben könnte. Die Auswahl des richtigen epistemischen Kandidaten durch den Hörer ist daher oft reine Glückssache. Peet argumentiert, dass dies dazu führen kann, dass die Zuverlässigkeitsbedingung für Wissen verletzt wird, selbst dann, wenn der Hörer durch Glück den richtigen epistemischen Kandidaten auswählt.58 Doch selbst wenn man davon ausgeht, dass die Rekonstruktion der Sprecherinnenbedeutung in der Regel zuverlässig genug abläuft, um dem Hörer den Erwerb von Wissen zu ermöglichen, können Ungenauigkeiten in der Rekonstruktion des Kontextes dazu führen, dass das Wissen aus zweiter Hand sich weniger gut epistemisch weiterverwenden lässt und die Möglichkeiten, das Wissen gegen Defeater zu verteidigen, eingeschränkt sind.59 Zusammenfassung: Eine Person kann über die Dinge, die sie zu einem Zeitpunkt von ihrem raumzeitlichen Standort aus selbst wahrnehmen kann, Wissen aus erster Hand erlangen. Der epistemische Standort beschreibt daran angelehnt den raumzeitlichen und kognitiven Standort eines Subjekts, der bestimmt, welche Propositionen es zu einem bestimmten Zeitpunkt selbst 55 Vgl. Peet 2016, 395. 56 Vgl. Peet 2016, 396. Goldberg beschreibt ein ähnliches Problem und fordert daher die Erfüllung einer „reliable comprehension“-Bedingung für testimonial erworbenes Wissen. Vgl. Goldberg 2007b, 40–45. 57 Vgl. Peet 2016, 398. 58 Vgl. Peet 2016, 401. Peets Argumentation wird in Kap. 6.1.2 in dieser Arbeit aufgegriffen. 59 Keysar und Henley zeigen, dass dieses Problem kein theoretisches, sondern durchaus ein praktisches ist. In ihrer Studie „Speakers’ overestimation of their effectiveness“ untersuchten sie, wie gut es Probanden gelang, mithilfe von interpretationsbedürftigen Aussagen trotzdem ein bestimmtes Verständnis bei den Hörern hervorzurufen und außerdem ihren Erfolg einzuschätzen, ihre Aussagen gegenüber den Hörern transparent gemacht zu haben. Es zeigte sich, dass die Sprecherinnen systematisch die Ambiguität ihrer Aussagen unterschätzten und ihre eigene Fähigkeit, den Inhalt durch sprachliche Hinweise transparent zu machen, überschätzten. Vgl.Keysar und Henly 2002, 207.

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wahrnehmen und begrifflich rechtfertigen kann. Ich gehe davon aus, dass Wissen aus erster Hand per se in ein raumzeitliches und begriffliches System eingebettet ist, mit der Person selbst als Bezugspunkt. Bei Wissen aus zweiter Hand muss dieser Kontext zunächst hergestellt werden. 2.1.5 Epistemische Abhängigkeit nach dem evidentiellen Modell Der Nichtbesitz der domänenspezifischen Evidenz bedeutet jedoch nicht, dass der Besitzer von Wissen aus zweiter Hand gar keine Evidenz besitzt. Er verfügt in der Regel über domänenunabhängige Evidenz verschiedenster Art: über die generelle Zuverlässigkeit von Wissen aus zweiter Hand, über die aktuelle Situation, über die spezifische Sprecherin und ihre Zuverlässigkeit und möglicherweise ihre Absichten und Intentionen, ebenso wie über die Vereinbarkeit der Aussage mit seinen restlichen Hintergrundannahmen60. Diese domänenunabhängige Evidenz kann bewusst herangezogen werden, dies muss jedoch nicht der Fall sein. Verschiedene Autorinnen haben Vorschläge gemacht, wie ein unbewusstes Berücksichtigen der domänenunabhängigen Evidenz aussehen kann. Laut Fricker laufe in vielen Fällen ein Monitoring der Zuverlässigkeit der Quelle ab.61 Williamson spricht von einer kausalen Sensitivität für die Evidenz, die implizit evidenzbasierte Schlüsse erlaubt.62 Da es für Wissen aus zweiter Hand ausreicht, dass das Wissen zuverlässig genug erworben wurde, um die Rechtfertigungsbedingung beim Besitzer zu erfüllen, werden darüber hinaus keine besonderen Anforderungen an das Verhältnis zwischen Erstbesitzerin und Zweitbesitzer gestellt. Aus der epistemischen Abhängigkeit des Besitzers von Wissen aus zweiter Hand folgt also nicht, dass der Zweitbesitzer der Erstbesitzerin vertrauen muss. Hardwig setzt dies explizit für das Verhältnis zwischen Expertinnen und Laien voraus und einige Philosophinnen betrachten dies als generelle Voraussetzung an die Transmission testimonialen Wissens.63 Hier weicht der Begriff der epistemischen Abhängigkeit als Merkmal von Wissen aus zweiter Hand daher von dem Begriff der epistemischen Abhängigkeit ab, die für testimoniales Wissen und das Verhältnis zwischen Expertinnen und Laien gefordert wird. Um alle Fälle eines weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand zu erfassen, sollte die epistemische Abhängigkeit des Besitzers von Wissen aus zweiter Hand nicht von

60 61 62 63

Vgl. Goldman 2001 für einen detaillierten Einblick. Vgl. Fricker 2006c. Vgl. Williamson 1997, 722. Dies gilt zum Beispiel für Ross 1986; Moran 2006, 2018; Fricker 2006a; Faulkner 2011. Goldberg 2010 fordert Reliance statt Trust.

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dem Vorliegen bestimmter Bewusstseinszustände, wie Überzeugung oder Wissen bei der Erstbesitzerin, abhängen.64 Die zwei gängigsten Erklärungsmuster für das Zustandekommen der epistemischen Abhängigkeit setzen jedoch entweder voraus, dass die Abhängigkeit des Hörers dadurch entsteht, dass das Wissen der Sprecherin und hierdurch auch ihre Rechtfertigung transferiert wird oder dass die Rechtfertigung des Hörers davon abhängt, dass die Sprecherin einen Sprechakt ausführt, was die Verlässlichkeit des so erworbenen Wissens garantiert. Graham bezeichnet diese Annahmen als Speaker’s Knowledge und Reliable Assertion Bedingung.65 Diese Formulierung der epistemischen Abhängigkeit führt jedoch dazu, dass verschiedene Fälle vom Begriff des Wissens aus zweiter Hand ausgeschlossen werden müssten, die eigentlich unter den Begriff des weiten Wissens aus zweiter Hand fallen würden.66 Die Alternative besteht darin, die epistemische Abhängigkeit des Hörers einzig an das sichere Funktionieren des Informationskanals zwischen Sprecherin und Hörer zu binden.67 Hierbei gibt es jedoch zwei Bedenken: Einerseits besteht laut Aussage einiger Autorinnen die Gefahr, der Sprecherin Unrecht zu tun, wenn man sie als bloße Quelle von Informationen betrachtet. So argumentiert Ross: […] Vertrauen in die Aussagen anderer sollte nicht als Vertrauen in eine Art von Evidenz betrachtet werden. Da die Rede dem Wesen nach freiwillig ist, kann die Sprecherin ihre eigene Wortwahl nicht als Evidenz für ihre Wahrheit betrachten und kann diese Wortwahl daher auch anderen ehrlicherweise nicht als solche anbieten. Stattdessen bietet die Sprecherin, indem sie die Verantwortung für die Wahrheit dessen was sie sagt übernimmt, eine Garantie oder Versicherung der Wahrheit ihrer Rede an und indem der Hörer ihr glaubt, akzeptiert er diese Versicherung.68

Die Sprecherin selbst präsentiert ihr Wissen in einem testimonialen Sprechakt laut Moran also nicht als bloße Evidenz, sondern als bewusste und willentliche Zusicherung, dass etwas der Fall ist. Sie übernimmt damit aktiv Verantwortung für den Inhalt ihrer Aussage. Daher sei es zwar für den Hörer durchaus möglich, ihre Aussage trotzdem als bloße Evidenz zu behandeln, hierdurch werde 64

Obwohl natürlich nichts dagegenspricht, davon auszugehen, dass dies den paradigmatischen Fall für den Erwerb von Wissen aus zweiter Hand darstellt. 65 „Speaker’s Knowledge: A true TBB that P is knowledge that P iff the speaker (or someone in the chain of sources) knows that P. Reliable Assertion: A true TBB that P is knowledge that P iff the speaker’s assertion that P is a reliable indicator that P (it is safe or sensitive that P).“ Graham 2016, 174. 66 Dies zeigt Graham 2016 für den Begriff des testimoniellen Wissens. 67 Vgl. Graham 2016, 177–178. 68 Ross 1986, 69. Meine Übersetzung.

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der Sprecherin jedoch insofern Unrecht getan, als ihr nicht das nötige Vertrauen entgegengebracht wird, um ihre Aussage so anzunehmen, wie sie sie anbietet: nämlich nicht als Evidenz, sondern als willentlichen Sprechakt. Ihr werde hierdurch die Autorität aberkannt, selbst darüber zu verfügen, wie ihre Aussage verstanden werden soll.69 Es handelt sich hier um eine normative Forderung. Eine solche Forderung kann man zwar für testimoniales Wissen erheben, sie sollte jedoch von der Frage, ob etwas Wissen aus zweiter Hand darstellt, getrennt werden. Man kann sogar zugestehen, dass in den meisten Fällen des Erwerbs von Wissen aus zweiter Hand die Sprecherin tatsächlich als Agentin betrachtet wird und nicht bloß als Informationsquelle. Dies schließt jedoch nicht aus, dass es auch möglich ist, die Aussage der Sprecherin als bloße Evidenz zu behandeln und auf diesem Wege trotzdem Wissen aus zweiter Hand zu erwerben.70 Problematisch wäre das nur dann, wenn der Hörer auf diesem Wege gar kein Wissen erwerben kann, weil er nicht mehr ausreichend gerechtfertigt ist, wenn er die Aussage der Sprecherin als Evidenz behandelt. Genau hierin besteht jedoch ein Einwand. Graham geht davon aus, dass Ross und andere Vertreterinnen eines transmissiven Verständnisses von testimonialem Wissen die Betrachtung der Sprecherinnenaussage als Evidenz deshalb strikt ausschließen, weil sie diese mit einem strengen Reduktionismus nach Hume assoziieren.71 Dieser Vorstellung wird die Argumentation von Reid als einzige Alternative gegenübergestellt, die davon ausgeht, dass Menschen eine angeborene Fähigkeit besitzen, den Aussagen einer Sprecherin als Testimony zu vertrauen, die unabhängig von einer wahrnehmungs- oder inferenzbasierten Rechtfertigung im Einzelfall ist.72 Eine nicht-reduktionistische Sichtweise wäre demnach auf das Vertrauen in die Sprecherin angewiesen, da nur diese den Hörer unabhängig von Humes strengen Ansprüchen an die Rechtfertigung von testimonialem Wissen mache. Moran und Graham weisen jedoch darauf hin, dass es unproblematisch möglich ist, die Frage, ob aus zweiter Hand erworbene Überzeugungen eine anfechtbare, prima facie Rechtfertigung genießen, von der Frage zu trennen, ob zwischen Hörer und Sprecherin ein Vertrauensverhältnis besteht.73 Eine solche prima facie Rechtfertigung könnte wie bei der Wahrnehmung auf der generellen Verlässlichkeit unseres Vermögens, Wissen aus den Aussagen anderer zu gewinnen, basieren – eventuell kombiniert mit 69 70 71 72 73

Vgl. Moran 2006, 297–302. Vgl. Graham 2000a, 369 für diese Argumentation. Vgl. Graham 2000a, 369–370. Reid 1764, Ch. 6, 20. Vgl. Graham 2000a, 369–370; Moran 2006, 275.

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einem unterbewussten Monitoring und der Abwesenheit von Defeatern. Es ist daher unproblematisch möglich, die epistemische Abhängigkeit des Hörers von der Sprecherin einfach als Abhängigkeit vom verlässlichen Funktionieren eines Informationskanals, der dem Empfänger Evidenz liefert, zu konstruieren. Eine Antwort darauf, wie ein solcher permissiver Begriff von epistemischer Abhängigkeit aussehen kann, findet sich bei McMyler (2011). Er unterscheidet zwischen drei verschiedenen Modellen, epistemische Abhängigkeit im Falle der Weitergabe von Wissen zu charakterisieren. Das Modell, das am wenigsten Voraussetzungen an Sprecherin und Hörer stellt, bezeichnet er als evidentielles Modell und charakterisiert dies folgendermaßen: „According to the Evidential Model, the audience is epistemically dependent on the speaker for providing the audience with evidence.“ Dieses Verständnis der epistemischen Abhängigkeit weist laut McMyler im Falle der Anwendung auf testimoniales Wissen den Nachteil auf, dass es nicht die fundamentale Verschiedenheit der epistemischen Abhängigkeit im Falle von distinktiv testimonialem Wissen erklären kann. Daher wäre seine Extension zu weit. Für unsere Zwecke scheint dieses Modell aber gerade deshalb geeignet. Die epistemische Abhängigkeit im Falle von Wissen aus zweiter Hand entsteht nur dadurch, dass eine andere Person domänenspezifische Evidenz für das Wissen besitzt, während diese dem Besitzer von Wissen aus zweiter Hand fehlt. Durch diese Konzeption der epistemischen Abhängigkeit werden auch Fälle wie der einer invers konsistenten Lügnerin74, der kreationistischen Lehrerin oder der Mozartkennerin75 als Fälle von epistemischer Abhängigkeit erfasst. Alle diese Fälle werden von verschiedenen Autorinnen als Fälle genuin testimonialen Wissens ausgeschlossen, da nicht die richtige Art und Weise der epistemischen Abhängigkeit vorliege. So fehle laut Fricker im Falle der konsistenten Lügnerin das Vertrauen in die Sprecherin.76 Moran schließt Fälle, in denen das Wissen durch Belauschen Dritter erworben wurde, aus, weil die normative Beziehung zwischen Sprecherin und Hörer nicht stimme und die Sprecherin gegenüber dem Mithörer keine Verpflichtung eingegangen

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Eine konsistente Lügnerin sagt in einer verlässlich vorhersagbaren Weise immer das Gegenteil der Wahrheit, sodass sich aus ihren Aussagen trotzdem zuverlässig Wissen erwerben lässt. 75 Vgl. Craig 1999, 38–39. Beispiel des Erwerbs von Wissen von einer Person, die selbst aufgrund nicht ausreichender Rechtfertigung, kein Wissen besitzt, weil ihr Hintergrundwissen in einem Punkt minimal schlechter ist, als das des Hörers. Fall wird weiter unten erläutert. 76 Vgl. Fricker 2006a, 603–606.

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sei.77 Der Fall der Mozartkennerin und der Fall der kreationistischen Lehrerin stellen laut Craig und Audi kein testimoniales Wissen dar, da unzulässigerweise Hintergrundwissen miteinbezogen wurde. Keren attestiert in diesen Fällen das Fehlen von Vertrauen und die unzulässige Verwendung von Hintergrundwissen Ich möchte diese Problematik am Fall der Mozartkennerin erörtern. Craig konzipierte das Gedankenexperiment ursprünglich, um seine eigene Unterscheidung zwischen einer Informantin, die eigenes Wissen weitergibt und einer bloßen Quelle von Informationen, die nur wahre Aussagen, die als Evidenz genutzt werden können, weitergibt, zu illustrieren. Mozartkennerin: Eine Person, die Mozartkennerin, hört im Radio ein Stück von Mozart, dessen Musik sie sehr wohl von Bartok aber nicht von Haydn unterscheiden kann. Diese Person weiß daher nicht, dass das Stück von Mozart ist, da sie die Alternative, dass das Stück von Haydn ist, nicht sicher ausschließen kann. Sie gibt diese wahre Aussage jedoch dennoch weiter an ihren Bekannten, den Programmkenner. Dieser hat vorab das Programm des Radiosenders überprüft und weiß, dass Haydn den ganzen Tag nicht gespielt wird. Er weiß außerdem, dass seine Bekannte die Stücke von Mozart sehr gut von denen Bartoks, jedoch nicht so gut von denen Haydns, unterscheiden kann. Der Programmkenner kann durch diese Aussage seiner Bekannten daher Wissen erhalten. Laut Craig behandelt er seine Bekannte hierbei jedoch nur als Quelle von Informationen, von der er Evidenz erhält. Diese Evidenz fügt er mit seinem Wissen über die Situation zusammen und leitet hieraus sein Wissen ab. Daher kann der Programmkenner laut Craig in diesem Fall kein testimoniales Wissen erwerben.78 Es handelt sich jedoch trotzdem um einen Fall von Wissen aus zweiter Hand im weiten Sinne. Denn der Programmkenner besitzt nicht ausreichend domänenspezifische Evidenz, um sein Wissen aus erster Hand rechtfertigen zu können. Er hängt daher epistemisch immer noch von der Aussage der Bekannten ab. Er vertraut jedoch nicht ausschließlich auf das Wort seiner Bekannten. Stattdessen fungiert ihre Aussage als Evidenz, die er zusammen mit seinem Hintergrundwissen nutzen kann, um die Überzeugung, dass im Radio ein Stück von Mozart gespielt wurde, zu rechtfertigen. Die oben genannten Fälle, stellen für McMyler die entscheidende Begrün­ dung dar, den evidentiellen Begriff der epistemischen Abhängigkeit als ungeeignet für die Beschreibung der spezifischen Abhängigkeit, die im Falle 77 Vgl. Moran 2006, 295–296. 78 Vgl. Craig 1999, 38–39.

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von testimonialem Wissen vorliegt, zu betrachten.79 Der Begriff des Wissens aus zweiter Hand soll jedoch – anders als der Begriff des testimonialen Wissens – explizit auch Zwischenfälle erfassen, in denen die Beziehung zwischen Sprecherin und Hörer nicht allen Anforderungen an die Übertragung genuin testimonialen Wissens entspricht und/oder der Hörer zusätzlich Hintergrundwissen heranzieht. Daher scheint der evidentielle Begriff der epistemischen Abhängigkeit geeignet, um die Form der Abhängigkeit zu beschreiben, die im Falle von Wissen aus zweiter Hand vorliegt. Zusammenfassung: Die Form der epistemischen Abhängigkeit, die im Falle von Wissen aus zweiter Hand vorliegt, entspricht dem evidentiellen Modell. Das heißt, die Abhängigkeit entsteht dadurch, dass der Zweitbesitzer bezüglich der Bereitstellung der Evidenz von der Erstbesitzerin abhängt. Diese Form der Abhängigkeit stellt, über das Funktionieren des Informationskanals hinaus, keine weiteren Anforderungen an das Verhältnis zwischen Sprecherin und Hörer. 2.2

Domänenspezifische Evidenz, die zur Rechtfertigung von Wissen aus zweiter Hand herangezogen wird

Die Behandlung eine Sprecherinnenaussage als „bloße Evidenz“ für das Vorliegen einer Tatsache ist laut Fricker80, Gelfert81, Keren82, Moran83 und einigen anderen Autorinnen genau das, was ausgeschlossen werden sollte, wenn genuin testimoniales Wissen übertragen wird. Diese Unterscheidung ist nach Fricker Voraussetzung, um eine vertrauenswürdige Sprecherin von einem bloßen Messinstrument zu unterscheiden84 und laut Craig notwendig, um eine Sprecherin, die als bloße Quelle von Informationen dient, von einer echten Informantin zu unterscheiden85. Wenn die Sprecherinnenaussage nun also im Falle von Wissen aus zweiter Hand als bloße (domänenunabhängige) Evidenz

79 80 81 82 83 84 85

Vgl. McMyler 2011, 110. Fricker 2006a, 606. Gelfert 2014, 77. Keren 2007, 374. Moran 2006, 272. Fricker 2006a, 606. Craig führt die Begriffe „Source of Information“ und „Informant“ ein, um die Weitergabe von Wissen durch eine kompetente Sprecherin von der Weitergabe von wahren Propositionen durch eine Sprecherin, die kein Wissen besitzt, zu unterscheiden. Vgl. Craig 1999, Ch. 5.

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für das Vorliegen einer Tatsache betrachtet werden kann, entstehen tatsächlich Klassifikationsprobleme. Das erste Problem, das sich laut Gelfert stellt, wenn die Sprecherinnenaussage als Evidenz betrachtet wird, entsteht dadurch, dass in der Regel davon ausgegangen wird, dass Wissen aus zweiter Hand nur dann herangezogen wird, wenn keine Evidenz vorliegt. Die Unterscheidung zwischen Evidenz aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand drohe daher zu erodieren, wenn man im Falle von Wissen aus zweiter Hand auch Evidenz besitzen sollte.86 Dieser Befürchtung kann leicht mit dem Verweis auf den Unterschied zwischen domänenspezifischer Evidenz und domänenunabhängiger Evidenz begegnet werden. Der Besitzer von Wissen aus zweiter Hand rechtfertigt sein Wissen zwar auch über Evidenz, es handelt sich hier aber um domänenunabhängige Evidenz. Es ergibt sich nun jedoch trotzdem ein Problem bei der Abgrenzung von Wissen aus zweiter Hand zu Wissen aus erster Hand. Dieses entsteht durch die Frage, wieviel Hintergrundwissen der Besitzer von Wissen aus zweiter Hand heranziehen darf und ob dieses teilweise auch domänenspezifisches Wissen enthalten darf. Ist es zulässig einer Person Wissen aus zweiter Hand zuzuschreiben, wenn diese Person selbst Hintergrundwissen heranziehen musste, um die betreffende Aussage zu rechtfertigen? Ich möchte diese Problematik am Fall der Mozartkennerin erläutern, der in Kapitel  2.1.5 vorgestellt wurde. Hier erwirbt der Kenner des Radioprogramms nur deshalb das Wissen, dass im Radio Mozart gespielt wurde, weil er weiß, dass zu der betreffenden Zeit keine Stücke von Haydn im Radio gespielt wurden. Diese Information kann er nutzen, um die Information einer Bekannten zu verifizieren, die zwar ein Stück von Mozart im Radio gehört hat, diesen jedoch nur sicher von Bartok, jedoch nicht ganz sicher von Haydn unterscheiden kann. Die Frage, ob der Programkenner nun Wissen aus zweiter Hand oder Wissen aus erster Hand besitzt, hängt davon ab, als wie groß wir seinen eigenen Beitrag zu seinem Wissen der Aussage im Vergleich zu seiner Abhängigkeit von der Sprecherin betrachten. Denn dass die Einschätzung der Verlässlichkeit einer Sprecherin nicht blind erfolgt, sondern eine empirische Basis besitzt und insofern von Hintergrundwissen abhängt87, ändert zunächst nichts am Status einer Überzeugung als Wissen aus zweiter Hand88. Dies kann jedoch nicht 86 Vgl. Gelfert 2014, 77. 87 Vgl. auch Kapitel 1.3.1. 88 Selbst für testimoniales Wissen wäre dies zulässig. Vgl. zum Beispiel Fricker 2006a, 602; Goldberg 2007a, 21–22.

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unlimitiert gelten. Im Falle der Mozartkennerin scheint es zumindest fragwürdig, ob das Hintergrundwissen, das der Programmkenner heranzieht, um die Richtigkeit der Aussage seiner Bekannten einzuschätzen, noch als domänenunabhängige Evidenz betrachtet werden kann. Nach unserer Definition handelt es sich um domänenspezifische Evidenz, da die Evidenz, dass Haydn an dem besagten Tag nicht im Radio gespielt wurde, direkt zur Rechtfertigung der Hypothese genutzt werden kann. Wenn dem Hörer im Falle der Mozartkennerin jedoch Wissen aus zweiter Hand zugeschrieben werden soll, obwohl er auch domänenspezifische Evidenz zur Rechtfertigung seines Wissens heranzieht, dann droht der Nichtbesitz der domänenspezifischen Evidenz als Distinktionsmerkmal für Wissen aus zweiter Hand zu erodieren. Fragestellung: Es muss geklärt werden, ob im Falle des Besitzes von Wissen aus zweiter Hand der Besitz von domänenspezifischem Wissen komplett ausgeschlossen werden muss, um die Grenze zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand nicht zu verwässern. Zulässigkeit der Verwendung von domänenspezifischer Evidenz im Falle von Wissen aus zweiter Hand In unserem Beispielfall besitzt der Programmkenner zwar domänenspezifisches Wissen, dieses reicht aber nicht aus, um die Aussage selbstständig zu rechtfertigen. Sein Wissen, dass Haydn an dem betreffenden Tag nicht gespielt wurde, hätte ohne die Aussage der Mozartkennerin nicht genügt, um alle anderen Komponistinnen, die stattdessen zu diesem Zeitpunkt im Radio hätten laufen können, auszuschließen. Er kann daher kein Wissen aus erster Hand erwerben, sondern erwirbt Wissen aus zweiter Hand. Der Besitz von Wissen aus zweiter Hand sollte demnach den Besitz von domänenspezifischem Wissen nicht komplett ausschließen. Solange eine Person nicht ausreichend domänenspezifisches Wissen besitzt, um den Wahrheitswert der betreffenden Proposition selbstständig beurteilen zu können, gilt diese Aussage weiterhin als Wissen aus zweiter Hand. Im Fall der Mozartkennerin verwendet der Hörer sein domänenspezifisches Wissen darüber hinaus nicht, um die Aussage selbst zu rechtfertigen, sondern um die Zuverlässigkeit der Sprecherin zu stützen. Die Evidenz, dass Haydn an diesem Tag nicht im Radio gespielt wurde, dient dem Hörer als Indikator, dass die Aussage der Mozartkennerin von ihrem epistemischen Standort aus bewertbar, also exoterisch, war. Eine solche Verwendung von domänenspezifischem Wissen kommt häufiger vor und zeigt, dass im Falle des Besitzes von Wissen aus zweiter Hand die Verwendung von 2.2.1

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domänenspezifischem Wissen nicht per se ausgeschlossen werden kann. Die Begriffe exoterisch und esoterisch stellen selbst keine kategorischen Begriffe dar, sondern beschreiben eine Relation, die zwischen einer Person an einem bestimmten epistemischen Standort und einer bestimmten Aussage besteht.89 Ob eine Person eine relative Expertin für eine Aussage darstellt, kann daher sowohl mithilfe von Hintergrundwissen über die epistemische Platzierung der Sprecherin, als auch über den Inhalt der Aussage selbst, evaluiert werden. Wenn sich das Wissen auf die Aussage selbst bezieht, wird es genutzt, um zu evaluieren, ob eine bestimmte Aussage eine Aussage solcherart ist, dass sie für die Sprecherin wahrscheinlich eine exoterische Aussage darstellt.90 Würde man versuchen, alle Fälle vom Begriff des Wissens aus zweiter Hand auszuschließen, in denen der Hörer teilweise sein eigenes domänenspezifisches Hintergrundwissen zur Rechtfertigung heranzieht, jedoch trotzdem noch von der Aussage der Sprecherin epistemisch abhängig ist, um Wissen zu erwerben, so würde das Merkmal der epistemischen Abhängigkeit die Funktion des Begriffs nur sehr eingeschränkt beschreiben. Ein Hörer, der bezüglich der domänenspezifischen Evidenz für sein Wissen nur teilweise von einer Sprecherin abhängt, ist immer noch epistemisch abhängig, da er ohne die Aussage kein Wissen (bezüglich der betreffenden Aussage) besitzen würde.91 Autorinnen, die die epistemische Abhängigkeit zwischen Sprecherin und Hörer so konstruieren, dass die Rechtfertigung des Hörers von dem Vorliegen von Vertrauen in die Autorität der Sprecherin abhängt, haben jedoch einen zusätzlichen psychologischen Grund, das Heranziehen von domänenspezifi­ schem Wissen zur Evaluation des epistemischen Standortes der Sprecherin als Ausschlusskriterium für das Vorliegen von testimonialem Wissen, bzw. Wissen aus zweiter Hand zu betrachten.92 Denn bei der Mozartkennerin – ebenso wie in anderen Fällen, in denen der Hörer zunächst bewusst sein Hintergrundwissen verwendet, um die Verlässlichkeit der Sprecherin zu evaluieren – könnte eingewendet werden, dass der Hörer deshalb kein Wissen aus zweiter Hand erwirbt, weil er der Sprecherin nicht genügend vertraut.93 Denn sonst würde er ja nicht zunächst die Zuverlässigkeit der Sprecherin überprüfen. Dieses Problem tritt jedoch bei einer Konzeption der epistemischen Abhängigkeit

89 Vgl. Goldman 2001, 106. 90 Ebenso kann die umgangssprachlich negativ konnotierte Feststellung: „Diese Aussage ist doch vollkommen esoterisch.“ kenntlich machen, dass eine bestimmte Aussage nicht überprüfbar ist und daher von jedem Standort aus esoterisch erscheint. 91 Graham 2000a, 374 argumentiert ähnlich. 92 Graham 2000a, 373 arbeitet diese Argumentation gut heraus. 93 Fricker 2006a, 602 argumentiert so in einem ähnlichen Fall (in dem Fall Pinocchio).

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nach dem evidentiellen Modell gar nicht auf, da es in diesem Fall vollkommen akzeptabel ist, die Aussage der Sprecherin als Evidenz zu betrachten. Zusammenfassung: Die Verwendung von domänenspezifischem Wissen zur Rechtfertigung einer Aussage führt nicht automatisch dazu, dass die Akteurin Wissen aus erster Hand erwirbt. Ihr Wissen gilt weiterhin als Wissen aus zweiter Hand, solange sie zur Rechtfertigung in entscheidender Weise von der domänenunabhängigen Evidenz, die sie aus einer anderen Quelle erhalten hat, abhängt. Die Nutzung domänenspezifischen Wissens zur Evaluation des epistemischen Standorts der Sprecherin Einige Fälle, in denen eine Person Wissen aus zweiter Hand erwirbt, sind Fälle, in denen die betreffende Aussage zwar esoterisch für das Subjekt ist, das Subjekt jedoch trotzdem in der Lage ist zu evaluieren, von welchem epistemischen Standort aus die Aussage wahrscheinlich exoterisch ist. So wird beispielsweise in der Forensik die Methode der Tatrekonstruktion systematisch genutzt, um Zeugenaussagen auf ihre Zuverlässigkeit hin zu prüfen. Hierzu ist jedoch nicht eine vollständige Rekonstruktion des Tatherganges erforderlich. Könnte man den Tathergang vollständig rekonstruieren, bräuchte man nicht mehr unbedingt zusätzliche Zeugenaussagen. Es reicht aus, wenn die Ermittlerinnen genügend Wissen zum Tathergang zusammentragen können, um bewerten zu können, ob die Zeuginnen die Tat von ihrem angegebenen Standort aus beobachten konnten oder nicht. Stellt sich im Zuge dieser Rekonstruktion heraus, dass eine vermeintliche Zeugin den Tathergang von ihrem epistemischen Standort aus gar nicht so detailliert beobachten konnte, wie sie angibt, stellt dies einen untergrabenden (undercutting) Defeater94 gegen ihre Aussage dar. Die Ermittlerinnen haben in diesem Fall ausreichend domänenspezifisches Wissen, um bewerten zu können, von wem sie Wissen aus zweiter Hand erwerben können. Trotzdem ist der gesamte Tathergang keine exoterische Angelegenheit für sie und man würde auch nicht sagen wollen, dass sie Wissen aus erster Hand besitzen. Die domänenspezifische Evidenz, die die Hörer besitzen, um den epistemischen Standort der Sprecherin zu evaluieren, beruht bei den Forensikerinnen 2.2.2

94 Pollock definiert einen undercutting defeater folgendermaßen: „DEFINITION: If believing P is a defeasible reason for S to believe Q, M* is an undercutting defeater for this reason if and only if M* is a defeater ( for believing P as a reason for S to believe Q) and M* is a reason for S to doubt or deny that P would not be true unless Q were true.“ Pollock und Cruz 1999, 196.

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ebenso wie im Fall der Mozartkennerin auf domänenspezifischer Evidenz aus zweiter Hand. (Im Falle der Tatrekonstruktion wird die Evidenz, die herangezogen wird, wahrscheinlich teilweise aus erster Hand und teilweise aus zweiter Hand stammen). Man könnte argumentieren, dass das Wissen schon allein deshalb aus zweiter Hand stammt, da die Evidenz, die zur Rechtfertigung der Verlässlichkeit der Sprecherin verwendet wurde, auch aus zweiter Hand stammt. Ich möchte daher einen Fall vorstellen, bei dem die Evidenz, die zur Evaluation des epistemischen Standortes der Sprecherin verwendet wird, aus erster Hand stammt. Autokorso: Eine Person S2 fährt mit ihren Kolleginnen S1 und S3 in verschiedenen Autos über die Autobahn. An einer Stelle ist die Autobahn gesperrt und es geht nicht weiter. S2 kann von ihrem Standort aus nicht genau sehen, welches Ereignis  X die Sperrung verursacht hat, da ihr andere Autos die Sicht versperren. Darunter das Auto von S1, das etwas weiter vorne fährt. S3 befindet sich noch weit hinter S2. S1 teilt S2 nun über ihr Handy mit, dass ein Zusammenstoß von zwei Lastwagen wohl den Stau verursacht hat. S2 könnte nun domänenunabhängige Evidenz, wie die generelle Zuverlässigkeit von S1 bei solchen Aussagen, heranziehen, um zu bewerten, ob sie S1 vertrauen kann. Sie kann jedoch auch bewerten, ob der epistemische Standort von S1 solcherart ist, dass sie die Wahrheit der Aussage von ihrem Standort aus überhaupt abschätzen kann. Hierzu muss sie jedoch nicht nur den Standort von S1 kennen, sondern auch genug über das Ereignis X wissen, um abschätzen zu können, dass es wahrscheinlich von S1 Standort aus sichtbar war. Dieses Wissen ist jedoch zum Teil domänenspezifisches Wissen. Die Aussage: „Am 01.01.2021 um 15.15 Uhr kam es an Kilometer 315 auf der A4 zu einem Zusammenstoß zweier LKWs.“ ist für S2 insofern nachvollziehbar, als sie Evidenz besitzt, dass es zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort ein Ereignis X gab, das einen Stau ausgelöst hat. Sie besitzt jedoch nicht ausreichend domänenspezifische Evidenz, um die Aussage selbstständig zu rechtfertigen. Sollte S3, die in der Vergangenheit ebenso zuverlässig war wie S1, nun jedoch behaupten, bei dem Ereignis, das den Stau verursachte, habe es sich um einen Erdrutsch gehandelt, wird S2 wahrscheinlich ihr Hintergrundwissen über den raumzeitlichen Standort von S1 und S3 und den wahrscheinlichen Schauplatz des Ereignisses X verwenden, um zu entscheiden, dass sie S3 nicht traut, da es unwahrscheinlich ist, dass S3 die Aussage von ihrem epistemischen Standort aus beurteilen kann (sie befindet sich ja noch hinter S2). Das Wissen, das S2 über den ungefähren Standort des Ereignisses, das den Stau verursachte, besitzt, stellt jedoch eindeutig domänenspezifisches Wissen dar und S2 besitzt dieses Wissen aus erster Hand. Trotzdem sollte man nicht

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sagen, dass S2 das Wissen, dass der Stau zu besagtem Zeitpunkt durch einen Zusammenstoß zweier LKWs ausgelöst wurde, aus erster Hand weiß. Dazu ist ihr Wissen zu stark von der Evidenz, die sie von S1 erhält, abhängig. Das Beispiel zeigt, dass eine Aussage auch dann Wissen aus zweiter Hand darstellen kann, wenn ihre Rechtfertigung zum Teil von domänenspezifischer Evidenz abhängt. Zusammenfassung: Der Besitz von domänenspezifischem Wissen allein führt nicht automatisch dazu, dass eine bestimmte Aussage für den Besitzer exoterisch ist. Es ist durchaus gängig, dass eine Person, die eine Aussage aus zweiter Hand weiß, trotzdem vorher teilweise domänenspezifisches Wissen bezüglich dieser Aussage besaß. Trotzdem handelt es sich um eine exoterische Aussage, wenn dieses Wissen nicht ausreicht, um die Aussage eigenständig zu rechtfertigen, sodass zusätzlich in entscheidendem Ausmaß domänenunabhängiges Wissen herangezogen werden muss.95 Die Möglichkeit des Erwerbs von Wissen aus erster Hand durch domänenspezifische Evidenz aus zweiter Hand Da der Begriff des domänenspezifischen Wissens eine Relation zwischen einem epistemischen Standort und einer Aussage darstellt, ist es leicht möglich, dass eine bestimmte Aussage, die selbst mit Hilfe von domänenunabhängiger Evidenz gerechtfertigt wurde, als Evidenz verwendet wird, um eine andere Aussage zu rechtfertigen. Relativ zu dieser Aussage stellt diese Evidenz dann domänenspezifische Evidenz dar. Es sind leicht Fälle denkbar, in denen die Rechtfertigung für eine Aussage komplett auf der eigenen domänenspezifischen Evidenz basiert, diese domänenspezifische Evidenz jedoch zum Teil aus zweiter Hand stammt. Dies tritt besonders häufig bei wissenschaftlichem Wissen auf. Nehmen wir beispielsweise den experimentellen Nachweis für den extrem seltenen Teilchenzerfallsvorgang eines sogenannten geladenen Kaons in ein geladenes Pion und zwei Neutrino, der 2020 erstmals Wissenschaftlerinnen am Europäischen Kernforschungszentrum CERN gelang96. Der Nachweis bedurfte der Forschungsarbeit vieler Wissenschaftlerinnen über mehrere Jahre hinweg. 2.2.3

95 Es gibt auch Umstände, unter denen der Besitzer von Wissen aus zweiter Hand seine domänenspezifische Evidenz nicht verwenden sollte. Dieser Fall tritt dann ein, wenn die betreffende Aussage für den Hörer so stark esoterisch ist, dass auch der epistemische Standort, von dem aus, die betreffende Aussage bewertet werden kann, vom epistemischen Standort des Hörers aus nicht mehr eingeschätzt werden kann. Siehe hierzu Kap. 3.2.4. 96 Vgl. hierzu Molokanova 2020.

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Keine Person hätte dieses Experiment allein durchführen können, da schon die Auswertung der Daten für eine Einzelperson unmöglich gewesen wäre. Es gibt daher verschiedene Möglichkeiten einen solchen Fall zu klassifizieren: Eine strenge Auslegung des Merkmals der epistemischen Abhängigkeit und der Begriffe exoterisch und esoterisch würde dazu führen, dass es per Definition unmöglich ist, dass eine Person ausreichend domänenspezifische Evidenz besitzt, um eine bestimmte Aussage vollkommen selbstständig zu rechtfertigen, falls ihre domänenspezifische Evidenz aus zweiter Hand stammt. Denn ihre domänenspezifische Evidenz selbst wäre in diesem Fall nur unter Zuhilfenahme von zusätzlicher domänenunabhängiger Evidenz gerechtfertigt. Man könnte daher sagen, dass dies zwangsläufig dazu führt, dass die Aussage nicht vollständig exoterisch für diese Person ist. Jede einzelne Wissenschaftlerin wäre epistemisch noch von den Aussagen der anderen Wissenschaftlerinnen abhängig. Dies würde dazu führen, dass es unmöglich ist, bestimmte Aussagen, darunter viele wissenschaftliche Aussagen, aus erster Hand zu wissen. Hierzu würden alle Aussagen zählen, bei denen es unmöglich ist, dass ein einzelnes Individuum alle domänenspezifische Evidenz, die nötig ist, um die Aussage zu rechtfertigen, vollständig aus erster Hand besitzt. Dies ist eine gangbare Alternative. Es mag plausibel erscheinen, dass kein Mensch Aussagen wie: „Der totale Charm-Wirkungsquerschnitt bei 20GeV beträgt 63.“ aus erster Hand wissen kann97, so argumentiert beispielsweise Hardwig98. Trotzdem kann es im Rahmen eines komparativen Verständnisses von Wissen aus zweiter Hand sinnvoll sein, davon auszugehen, dass es Personen gibt, die die Aussage aus erster Hand wissen. Dies sollten die Wissenschaftlerinnen sein, die federführend an der Konzeption, Durchführung und Auswertung des Experiments beteiligt waren und die domänenspezifische Evidenz, die notwendig ist, um die Aussage experimentell zu rechtfertigen, überblicken. Da die beteiligten Wissenschaftlerinnen bezüglich der betreffenden Aussage eine weit überlegene Expertise und mehr domänenspezifische Evidenz besitzen als alle anderen Personen, erscheint diese Bewertung intuitiv naheliegend. Betrachtet man die Begriffe Wissen aus erster und aus zweiter Hand – wie in 97

Hardwig verwendet diese Aussage aus der Teilchenphysik, um zu zeigen, wie verbreitet epistemische Abhängigkeit in der Wissenschaft ist. In seinem Artikel epistemic dependence zitiert er die Ergebnisse dieser Studie zur Lebensdauer von Charm-Partikeln, die nur mit einem enormen mehrjährigen Forschungsaufwand und unter Beteiligung hunderter spezialisierter Wissenschaftlerinnen realisiert werden konnten, als Paradebeispiel für Aussagen, die so komplex sind, dass es unmöglich ist, alle zu ihrer Rechtfertigung nötige Evidenz aus erster Hand zu besitzen. Vgl. hierzu Hardwig 1985, 346–348; Abe, Bacon et al. 1983. 98 Vgl. Hardwig 1991, 698.

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Kapitel 1.3.1 vorgeschlagen – als polar-konträre Gegenbegriffe, ist es möglich den beteiligten Wissenschaftlerinnen Wissen aus erster Hand zuzuschreiben, da keine Person existiert, die dieses Wissen zu größeren Teilen aus erster Hand besitzt. Diese Argumentation wird durch ein Prinzip unterstützt, das erklären kann, weshalb Wissen aus erster Hand Wissen aus zweiter Hand in risikoreichen Kontexten, zum Beispiel vor Gericht, vorgezogen wird. Dieses Prinzip besagt, dass eine Person kein Wissen in einem starken Sinne besitzt, solange es möglich ist, dass eine andere Person für dieselbe Aussage bessere Evidenz oder sicherere Gründe besitzt. Es kann laut Dummett die epistemische Unterlegenheit von testimonialem Wissen erklären, da es hier mit der Sprecherin immer eine Person gibt, die bessere Evidenz hat als der Hörer.99 Die letztere Annahme kann in einer unqualifizierten Form nicht belegt werden, da es Situationen gibt, in denen die Sprecherin mehr domänenspezifische Evidenz besitzt als der Hörer, während die gesamte Evidenz der Sprecherin jedoch nicht als besser betrachtet werden kann. Ein solches Beispiel tritt auf, wenn die Sprecherin unwiderlegte, irreführende Defeater besitzt, die dazu führen, dass sie Teile ihrer Evidenz nicht verwenden kann. Wenn die Sprecherin die betreffenden Aussagen trotzdem weitergibt, kann ein Hörer, dessen Wissen von diesen Defeatern nicht betroffen ist, Evidenz erwerben, die die Sprecherin nicht besitzt.100 Das Prinzip selbst kann hingegen gut im Rahmen einer kom99

„Epistemologists of quite a recent period, on the other hand, were wont to follow an ancient tradition in sundering a genuine, strong sense of the verb ‚to know‘ from its everyday application. […] A principle to which this role may naturally be assigned is that no-one may be said to know that for which it is possible for someone else to have better evidence, or firmer grounds, than this. If I know something by having been told, then my informant must have had better evidence than I do; or if he did not, someone must have had.“ Dummett 1994, 251–252. 100 Vgl. hierzu ein Beispiel von Lackey: „PERSISTENT BELIEVER: Millicent in fact possesses her normal visual powers, but she has cogent reasons to believe that these powers are temporarily deranged. She is the subject of a neurosurgeon’s experiments, and the surgeon falsely tells her that some implants are causing malfunction in her visual cortex. While she is persuaded that her present visual appearances are an entirely unreliable guide to reality, she continues to place credence in her visual appearances. She ignores her well‐supported belief in the incapacitation of her visual faculty; she persists in believing, on the basis of her visual experiences, that a chair is before her, that the neurosurgeon is smiling, and so on. These beliefs are all, in fact, true and they are formed by the usual, quite reliable, perceptual processes. As Millicent is walking out of the neurosurgeon’s office, she is the only person to see a badger in Big Bear Field. On the basis of this visual experience, she forms the corresponding true belief that there was a badger in this field, and then later reports this fact to her friend Bradley without communicating the neurosurgeon’s testimony to him. Bradley, who has ample reason to trust Millicent from their past interaction as friends, forms the corresponding true belief solely on the basis of her testimony. […] In this way, Millicent fails the

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parativen Unterscheidung von Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand angewendet werden. Einer Person könnte dann Wissen aus erster Hand zugesprochen werden, wenn es nicht möglich ist, dass eine andere Person mehr domänenspezifische Evidenz für dieselbe Aussage besitzt. Eine solche Klassifizierung würde es ermöglichen, die Erstbesitzerinnen einer komplexen wissenschaftlichen Aussage von einem Laien zu unterscheiden, der eine Zusammenfassung der Ergebnisse in der Zeitung gelesen hat. Erlaubt man jedoch, dass die domänenspezifische Evidenz selbst auf Wissen aus zweiter Hand beruhen kann, so wäre es möglich, durch Wissen aus zweiter Hand Wissen aus erster Hand zu erlangen, was kontraintuitiv erscheint. Schwierig wird es mit der Bewertung auch in Fällen, in denen der Inhalt der Überzeugung vollständig aus erster Hand stammt, jedoch Wissen aus zweiter Hand zur Rückversicherung herangezogen wird. Wir können uns hierzu einen leicht modifizierten Fall der Mozartkennerin vorstellen: Unsichere Mozartkennerin: In diesem Fall kann die Mozartkennerin Mozarts Musik nicht nur von der Bartoks, sondern auch von der Haydns sicher unterscheiden. Nur ist sie in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Mozart und Haydn immer etwas unsicher. Dies liegt daran, dass ihr ein Kollege einmal gesagt hat, dass sie Mozart und Haydn gar nicht so gut unterschieden könne. Dieser Kollege hatte zwar Unrecht, sie hat sich seine Meinung jedoch trotzdem zu Herzen genommen. Sie kann nun die Versicherung ihres Freundes, dass Haydn an dem betreffenden Tag gar nicht im Radio gespielt wurde, als zusätzliche Evidenz aus zweiter Hand nutzen, um die nötige Sicherheit zu erlangen, sodass sie die Aussage, die sie vorher aufgrund ihrer Unsicherheit nicht ausreichend rechtfertigen konnte, nun weiß. Auch hier fällt die Bewertung, ob die unsichere Mozartkennerin die Aussage nun aus erster oder aus zweiter Hand weiß, schwer. Denn der Anteil an Evidenz aus erster Hand, den die Mozartkennerin besitzt, ist sehr viel größer als der kleine Anteil an Evidenz aus zweiter Hand, den sie zusätzlich zur Rückversicherung heranzieht. In dieser besonderen Situation kommt hinzu, dass die Mozartkennerin den Inhalt ihrer Aussage verlässlich mithilfe ihrer domänenspezifischen Evidenz rechtfertigen könnte, wenn sie nicht einen unwiderlegten psychologischen Defeater durch die Aussage ihres Kollegen erworben hätte. Sie justification or warrant condition of knowledge because she has an undefeated psychological defeater for believing that there was a badger in Big Bear Field, Bradley satisfies the justification or warrant condition of knowledge because he does not have such a psychological defeater, and thus it is possible for a hearer to acquire knowledge […].“ Lackey 2008, 59.

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hängt daher nur insofern von der Evidenz, die sie von der Programmkennerin erhält, ab, als sie diese benötigt, um den zuvor aus zweiter Hand erworbenen Defeater zu widerlegen.101 Man könnte daher argumentieren, dass die Mozartkennerin in Abwesenheit des irreführenden Defeaters durchaus Wissen aus erster Hand besitzen würde, weshalb man ihr dieses Wissen auch zusprechen sollte, sobald der Defeater widerlegt wurde. Ich werde an dieser Stelle keine absolute Entscheidung treffen, denn diese hängt von der Bewertung im Einzelfall ab und ist abhängig von der Frage, ob der Begriff des Wissens aus zweiter Hand von vornherein als komparativer Begriff konzipiert werden soll. Im Regelfall wird es so sein, dass eine bestimmte Proposition nur dann Wissen aus erster Hand darstellt, wenn sie für die Besitzerin vollständig exoterisch ist. Im Einzelfall kann es jedoch möglich sein, dass eine Proposition als Wissen aus erster Hand gewertet wird, obwohl die nötige domänenspezifische Evidenz teilweise aus zweiter Hand stammt. Dies wird vor allem komplexe Aussagen betreffen, bei denen es strenggenommen nicht möglich ist, dass eine Person sie vollständig aus erster Hand weiß. Ein großer Teil unseres wissenschaftlichen Wissens fällt in diesen Teilbereich. Ich werde in Kapitel 3.4.4 noch einmal auf dieses Wissen eingehen. Zusammenfassung: Auch der Besitzer von Wissen aus zweiter Hand kann teilweise domänenspezifische Evidenz zur Rechtfertigung heranziehen. Diese reicht jedoch in diesem Fall nicht aus, um die betreffende Aussage selbstständig zu rechtfertigen. Bei strenger Auslegung des Merkmals der epistemischen Abhängigkeit ist es nicht möglich, eine Proposition aus erster Hand zu wissen, wenn die hierzu notwendige domänenspezifische Evidenz aus zweiter Hand stammt. Anstelle des vollständigen Besitzes oder Nichtbesitzes der domänenspezifischen Evidenz kann die domänenspezifische Evidenz auch nur teilweise aus erster Hand besessen werden. Um diese Fälle zu klassifizieren, eignet sich ein komparativer Begriff von Wissen aus zweiter Hand. 2.2.4 Die Präemptionsthese Das Fehlen der eindeutigen Relation des Wissens zum Subjekt im Falle von Wissen aus zweiter Hand kann in einigen Fällen des Erwerbs von Wissen aus zweiter Hand die Präemptionsthese102 unterstützen. Constantin und Grund101 Sie verwendet die Aussage des Programmkenners also als Defeater-Defeater. Siehe zur Klassifikation von Defeater-Defeatern Sudduth und Michael 2021. 102 Preemption View: Beschreibt eine bestimmte Sichtweise auf die Kommunikation zwischen Autoritäten und Laien. Innerhalb dieser Sichtweise geht man davon aus, dass die Aussage einer Autorität auf einem Gebiet zur normativen Forderung nach einer Präemption der evidentiellen Basis des Laien führt. Aufgrund der präemptiven Bewertung der

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mann zeigen, dass im Falle einer Expertinnen-Laien Beziehung das Urteil einer Expertin einen quellen-sensitiven Defeater103 darstellt und dadurch jegliche Evidenz des Laien nicht mehr verwendet werden sollte.104 Keren geht darüber hinaus davon aus, dass Präemption immer geboten ist, wenn es sich um einen genuinen Fall von testimonialem Wissen handelt. Der Empfänger dieses Wissen sollte jegliche andere Evidenz, die er bezüglich dieser Aussage besitzt, nicht mehr verwenden, da sonst ein Fall von Doppelzählung der Evidenz auftreten könnte. „For just to add her judgment to those reasons which are accessible to me would amount to double-counting of those reasons that are accessible to both of us.“105 Keren begründet seine Bewertung jedoch mit einem transmissiven Verständnis testimonialen Wissens106, das in dieser Arbeit nicht vertreten wird, da es einen zu engen Begriff von Wissen aus zweiter Hand zur Folge hat. Geht man davon aus, dass sich die Erstbesitzerin von Wissen in der Position einer relativen Expertin zum Zweitbesitzer befindet,107 ist anzunehmen, dass es Fälle gibt, in denen Präemption auch vom Besitzer von Wissen aus zweiter Hand gefordert wird. Es stellt sich dann jedoch die Frage, ob Präemption jegliche Fälle von Wissen aus zweiter Hand betrifft und wie die Forderung im Rahmen eines nicht-transmissiven Verständnisses der Wissensweitergabe erklärt werden kann. Die Tatsache, dass Wissen aus zweiter Hand von einem abweichenden epistemischen Standort aus vermittelt wird, kann diese Annahme gut erklären. Solange der epistemische Standort der Erstbesitzerin für den Zweitbesitzer nicht einsehbar ist, kann er auch nicht beurteilen, ob die Evidenz, die er besitzt, für die Bewertung der Aussage relevant ist und ob diese von der Erstbesitzerin schon bedacht wurde. Präemption würde dann diese Fälle Aussage der Autorität als zuverlässiger, ist es für den Hörer nicht mehr zulässig ist, zusätzlich seine eigenen Gründe für oder gegen die betreffende Aussage in die Evaluation mit einzubeziehen. Es wird gefordert, dass die mögliche Evidenz, die der Laie besitzt, durch die Aussage der Expertin schon im Voraus ausgeblendet wird. Der Preemption View geht daher davon aus, dass es im Falle eine Expertin-Laien Beziehung für den Laien nicht rational ist, sein Urteil auf seine eignen domänenspezifischen Gründe zu stützen. Vgl. hierzu Keren 2007, 373–374; Constantin und Grundmann 2020, 4109–4111, 4117. 103 Ein Defeater ist eine Bedingung, die den positiven epistemischen Status einer Überzeugung für die Besitzerin herunterstuft, oder ganz aufhebt. Unter Quellensensitiven Defeatern (source-sensitive defeater) werden diejenigen Defeater zusammengefasst, die nicht nur die Zuverlässigkeit der Überzeugung an sich, sondern die ganze evidentielle Basis für die Überzeugung aufheben. Vgl. Constantin und Grundmann 2020, 4118. 104 Vgl. Constantin und Grundmann 2020, 4109. 105 Keren 2007, 374. 106 Keren 2007, 368. 107 Vgl. zu dem in dieser Arbeit verwendeten Begriff der relativen Expertin ##S. 63.

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betreffen, in denen beim Zweitbesitzer nicht genügend Wissen vorliegt, um den epistemischen Standort der Sprecherin zu evaluieren. Ich habe in diesem Kapitel jedoch gezeigt, dass es auch möglich ist, dass ein Hörer zwar nicht genügend Evidenz besitzt, um den Wahrheitswert einer bestimmten Aussage selbst zu bestimmten, jedoch ausreichend Evidenz besitzt, um den epistemischen Standort der Sprecherin evaluieren zu können. In diesen Fällen wäre Präemption nicht gefordert. Der Hörer wird hierzu jedoch nicht in der Lage sein, wenn er nicht sagen kann, welche Anteile seiner Evidenz tatsächlich domänenspezifisch, sprich für die in Frage stehende Aussage von Belang sind und welche Evidenz von der Erstbesitzerin schon bedacht wurde. In diesen Fällen darf der Zweitbesitzer seine eigene domänenspezifische Evidenz nicht mehr verwenden. Diese Einschätzung stimmt mit der Bewertung von Constantin und Grundmann überein, die davon ausgehen, dass die Aussage einer Autorität in einigen Fällen nur einen partiellen quellen-sensitiven Defeater darstellt. Sobald der Laie davon ausgehen kann, dass die Autorität nur eine Teilmenge der domänenspezifischen Evidenz für eine Aussage bedacht hat, weil beispielsweise neue Evidenz zur Verfügung steht, die die Autorität noch nicht zur Kenntnis nehmen konnte, sollte keine Präemption der eigenen Evidenz gefordert werden.108 Zusammenfassung: Sollte der Hörer nicht ausreichend Wissen besitzen, um den epistemischen Standort der Sprecherin zu evaluieren, darf er seine eigene domänenspezifische Evidenz nicht zusätzlich zur Aussage der Sprecherin verwenden. 2.3

Die Form, in der domänenspezifische Evidenz vorliegt

Ich bin bis hierhin davon ausgegangen, dass das, was Wissen aus erster Hand von Wissen aus zweiter Hand unterscheidet, die Menge an domänenspezifischer Evidenz für eine Proposition p ist, die eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt besitzt. Diese Annahme wirft jedoch die Frage auf, ob die Menge an domänenspezifischer Evidenz wirklich das ausschlaggebende Entscheidungskriterium ist und ob diese in propositionaler Form vorliegt. Meine Begründung, weshalb die Menge an domänenspezifischer Evidenz, die in propositionaler Form vorliegt, das ausschlaggebende Unterscheidungskriterium zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand darstellen sollte, erfolgt auf struktureller Ebene. Das heißt, ich werde nicht 108 Vgl. Constantin und Grundmann 2020, 4119.

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versuchen, zu zeigen, dass die Menge an domänenspezifischer Evidenz das einzige Unterscheidungskriterium zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand darstellt. Ebenso werde ich nicht ausschließen, dass es – neben der in propositionaler Form vorliegenden domänenspezifischen Evidenz – auf einer anderen Ebene so etwas wie nicht-begriffliche Erfahrungsgründe geben kann, auf denen die domänenspezifische Evidenz basiert. Ich werde jedoch zeigen, dass das Kriterium der domänenspezifischen Evidenz sich als das fruchtbarste Kriterium herausstellt, das geeignet ist, einen Begriff von Wissen aus zweiter Hand zu bilden, der über die Grenzen der verschiedenen Wissenstheorien hinaus anwendbar ist. Die Annahme, dass die domänenspezifische Evidenz in propositionaler Form vorliegt, ermöglicht es, dass Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand bezüglich ihres epistemischen Wertes wirklich vergleichbar sind. Ein fruchtbares Unterscheidungskriterium zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand sollte folgende Kriterien erfüllen: Es sollte ein Kriterium sein, das sich auf Wissen aus zweiter Hand anwenden lässt – unabhängig davon, aus welcher Quelle (Wahrnehmung, Vernunft, Introspektion oder Erinnerung) die Rechtfertigung stammt. Es sollte die Unterscheidbarkeit beider Wissensarten gewährleisten, unabhängig davon, welche Wissenstheorie vertreten wird. Es sollte eine Vergleichbarkeit hinsichtlich des epistemischen Wertes zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand ermöglichen. Ich werde im Folgenden zeigen, dass die Menge an domänenspezifischer Evidenz, die in propositionaler Form vorliegt, diese Bedingungen am besten erfüllen kann. Mögliche Unterscheidungskriterien zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand Ich gehe davon aus, dass Wissen aus jeder möglichen Quelle weitergegeben werden kann und so zu Wissen aus zweiter Hand werden kann. Das heißt, es kann Wissen aus zweiter Hand geben, das ursprünglich aus der Wahrnehmung stammt, solches, das aus der Erinnerung stammt, solches, das aus der Introspektion stammt und solches, das aus der Vernunft stammt. Was unterscheidet nun dieses Wissen, solange es aus erster Hand stammt, von dem gleichen Wissen, wenn es aus zweiter Hand stammt? Im Falle der Wahrnehmung könnte man sagen, dass die Erstbesitzerin zusätzlich zum Wissen auch die basalen nicht-begrifflichen Erfahrungsgründe besitzt, auf denen das Wahrnehmungswissen beruht109. Diese Unter2.3.1

109 Vgl. Grundmann 2003 für diese Argumentation.

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scheidung würde jedoch nur eine erkenntnistheoretische Fundamentalistin anerkennen. Eine Vertreterin einer epistemischen Theorie der Wahrnehmung, die davon ausgeht, dass jegliche Sinneserfahrung in propositionaler Form vorliegt, könnte dieses Unterscheidungsmerkmal nicht akzeptieren.110 Die Vertreterin eines indirekten Realismus könnte argumentieren, dass die Besitzerin von Wahrnehmungswissen aus erster Hand unmittelbar bestimmte Sinnesdaten wahrnimmt111, zu denen der Besitzer von Wissen aus zweiter Hand keinen Zugang hat. Die Vertreterin eines direkten Realismus könnte hingegen behaupten, dass der unmittelbare Zugang zur Außenwelt, der bei Erfahrungswissen aus erster Hand in Form einer propositionalen Erfahrungseinstellung vorliegt, bei Wissen aus zweiter Hand verlorengeht112. Würde man eines dieser Kriterien als Unterscheidungsmerkmal für Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand etablieren, würde dieses daher nur im Rahmen der entsprechenden Wahrnehmungstheorie gelten. Es könnte außerdem nur für die Unterscheidung zwischen Wahrnehmungswissen aus erster und aus zweiter Hand herangezogen werden. Je nach vertretener Theorie könnten dieselben Kriterien möglicherweise auch für die Arten von Erinnerungswissen gelten, bei denen man ein Objekt oder ein Ereignis direkt erinnert113. Für das rein propositionale Erinnern-dass müssten jedoch andere Unterscheidungskriterien gefunden werden, falls man in diesem Fall Wissen aus erster Hand weiterhin von Wissen aus zweiter Hand unterschieden möchte.114 Ähnliches gilt für die Introspektion. Ein Teil des aus der Introspektion gewonnenen Wissens könnte man durch den Begriff der Interozeption erfassen und dann analog zu Wahrnehmungswissen erklären115. Jedoch sind nicht alle 110 111 112 113

Vgl. z.B. Pendlebury 1990; Byrne 2001. Vgl. z.B. Jackson [1977] 2009. Vgl. z.B. McDowell [1994] 1998. Bernecker geht davon aus, dass sich Erinnerungen als verzögerte Wahrnehmung oder als verzögerte Selbstwahrnehmung beschreiben lassen. Vgl. Bernecker 2009, 22. 114 Bernecker geht davon aus, dass sich eine scharfe Grenze zwischen auf Erfahrung beruhender Erinnerung und propositionaler Erinnerung nicht ziehen lässt und schlägt daher vor, diese Unterscheidung fallen zu lassen. Vgl. Bernecker 2009, 7–8. Martin und Deutscher gehen davon aus, dass auf Erfahrung beruhende Erinnerung direkter Objekte oder Ereignisse durch einen Wegfall an Detailwissen zu bloß propositionaler Erinnerung werden kann. Sie schlagen dennoch vor, auch bei propositionalen Erinnerungen zwischen denjenigen zu unterscheiden, die auf eigenen Erfahrungen beruhen und solchen Erinnerungen, die von vornherein auf Wissen aus zweiter Hand basierten. Vgl. Martin und Deutscher 1966, 162–164. 115 Unter dem Begriff der Interozeption wird die Wahrnehmung von Informationen aus und über den eigenen Körper und Körperabschnitte verstanden, im Gegensatz zur

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Autorinnen mit der Konzeption der Introspektion als einer Art der inneren Wahrnehmung einverstanden. Introspektion sei laut Shoemaker keine Form innerer Wahrnehmung, da sie nicht-evidentiell sei116 und im Gegensatz zur Wahrnehmung keine Fehlidentifikation erlaube. Je nach philosophischer Hintergrundtheorie könnte man außerdem argumentieren, dass aus der Introspektion gewonnenes Wissen aus erster Hand sich aufgrund seiner besonderen erkenntnistheoretischen Autorität von Wissen aus zweiter Hand unterscheidet117 oder aufgrund von Unfehlbarkeit118 oder einer besonderen Transparenz119. Alle diese Kriterien könnten je nach vertretener Theorie als Distinktionsmerkmale zwischen aus der Introspektion gewonnenem Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand dienen. Bezüglich des Wissens von unmittelbar a priori erkennbaren Propositionen stellt sich die Frage, was in diesen Fällen die Evidenz darstellt. Sollte man denjenigen Propositionen, die unmittelbar a priori gerechtfertigt werden können, Selbstevidenz120 zuschreiben, so entsteht ein Problem, das sich analog zur Evidenz für Wahrnehmungswissen verhält: Es scheint zunächst für die Aussage keine weitere Evidenz zu geben, außer dem Wissen, dass die betreffende Aussage wahr ist.121 Es stellt sich daher die Frage, ob es im Falle der Weitergabe von unmittelbar a priori rechtfertigbaren Aussagen noch einen nennenswerten Außenwahrnehmung als Exterozeption. Die Interozeption umfasst Propriozeption und Viszerozeption. Für eine gute Übersicht siehe A. Craig 2002. 116 Shoemaker weist jedoch auch darauf hin, dass das Nichtvorhandensein von Evidenz nicht zwangsläufig dazu führt, dass das perzeptuelle Modell der Introspektion verworfen werden muss. So ließe sich die Annahme, dass Introspektion eine Form der inneren Wahrnehmung ist, halten, wenn man davon ausgeht, dass introspektive Überzeugungen analog der Wahrnehmung nicht durch Evidenz, sondern durch die Zuverlässigkeit der, diese Überzeugungen produzierenden, Prozesse gerechtfertigt sind. Vgl. Shoemaker 1996, 222. 117 Siehe zum Beispiel Parrott 2015. Parrott verteidigt eine besondere Autorität, die jede Person in Bezug auf psychologische Selbstzuschreibungen genießt. 118 Die prominenteste Vertretung der Unfehlbarkeitsthese erfolgt durch Descartes (1644). Vgl. Descartes [1644] 2007. 119 Vgl. Haag 2001, 42–44 für eine gute Übersicht zur Transparenzthese. Vgl. Williamson 2002, 93–113 für eine Wiederlegung der Transparenzthese. 120 Selbst-Evidenz ist nach Audi der grundlegende Fall von a priori erkennbaren Aussagen. Unmittelbar erkennbare bzw. ultimative a priori Aussagen können ohne weitere Argumente allein durch Rückgriff auf ein angemessenes Verständnis der beteiligten Konzepte gerechtfertigt werden. Solche Aussagen, die zunächst durch Inferenzen abgeleitet werden müssen, da sie nur selbstevidentiell in anderen selbstevidenten Aussagen enthalten sind, bezeichnet Audi als a priori im weiten Sinne. Vgl. Audi 2019, 358. 121 Audi geht davon aus, dass wir im Normalfall von selbstevident gerechtfertigten Überzeugungen eine Intuition bezüglich der Wahrheit der Überzeugung haben, die sich parallel zu dem unmittelbaren, durch die Wahrnehmung hervorgerufenen Erscheinen, dass etwas der Fall ist, verhält. Vgl. Audi 2019, 380.

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Unterschied zwischen dem Besitz aus erster Hand und dem Besitz aus zweiter Hand gibt. Man könnte argumentieren, dass nur die Erstbesitzerin A-prioriWissen besitzt, während der Zweitbesitzer nur a posteriori Wissen besitzt. Diese Annahme ist jedoch von einer bestimmten Konzeption des Begriffs a priori abhängig.122 Folgt man der Argumentation von Audi und Bealer, so beruht die Rechtfertigung der Erstbesitzerin auf ihrer rationalen Intuition, die aus ihrem Verständnis der beteiligten Begriffe hervorgeht.123 Diese Evidenz besitzt der Zweitbesitzer nicht, wenn seine Rechtfertigung nur auf der Aussage der Erstbesitzerin beruht. Er kann in diesem Fall bestenfalls die domänenunabhängige Evidenz besitzen, dass die Aussage für eine andere Person selbstevident erscheint, während ihm das begriffliche Verständnis fehlt, um die Wahrheit der Aussage von seinem eigenen epistemischen Standort aus einzusehen. Es ist jedoch nicht klar, ob diese rationale Intuition ein nichtpropositionales Einleuchten oder ob sie ein propositionales Urteil darstellt, ob sie selbst ein Urteil oder eine Überzeugung darstellt124 oder diese nur nahelegt125 und ob ihr Inhalt die (potentiell) wahre Aussage selbst ist126 oder nur der psychologische Zustand, in dem man sich befindet, wenn es so scheint, als sei eine bestimmte Aussage wahr127. Komplexere mathematische und logische Einsichten lassen sich nicht unmittelbar über die Intuition rechtfertigen, jedoch durch Schlüsse aus anderen intuitiv gerechtfertigten Aussagen herleiten.128 Dass solches Wissen recht gut aus zweiter Hand erworben werden kann, zeigt die Praxis des schulischen und universitären Unterrichts. Die Mathematiklehrerin scheint der Schülerin jedoch auch nach der Vermittlung einer mathematischen oder logischen Aussage noch etwas vorauszuhaben. Sie besitzt aber laut Dretske nicht mehr Informationen129, vielmehr scheinen ihre kognitiven Konzepte besser organi122 Vgl. hierzu Nimtz 2011, 1370. Vgl. für die Argumentation, dass es nicht möglich ist, A-prioriWissen aus zweiter Hand zu besitzen Malmgren 2006. Vgl. für die Argumentation, dass dies doch möglich ist Burge 1995. 123 Vgl. Bealer 1999; Audi 2019. 124 Vgl. Goldman 2002, 73. 125 Sosa geht davon aus, dass eine Intuition nur eine Disposition eine bestimmte Überzeugung zu bilden darstellt. Vgl. Sosa 1998, 258. 126 Vgl. Bealer 1998, 205. 127 Diese Ansicht vertritt sehr klar Goldman 2002. 128 Sie sind laut Audi indirekt selbstevident oder ultimativ a priori. Vgl. Audi 1999, 223. 129 Nach Dretskes Informationsbegriff trägt ein Signal r die Information, dass an der Quelle s der Zustand F vorliegt, genau dann, wenn die bedingte Wahrscheinlichkeit, dass s F ist, wenn r auftritt 1 ist. Da die Wahrscheinlichkeit, dass eine notwendig wahre Aussage wahr ist, immer 1 ist, kann durch die Vermittlung notwendig wahrer Propositionen keine neue Information gewonnen werden. Vgl. Dretske [1981] 2003, 65.

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siert zu sein, sodass die Lehrerin, im Gegensatz zur Schülerin, in der Lage ist, zu erkennen und formal zu beweisen, wie verschiedene mathematische Begriffe notwendigerweise zusammenhängen130. Die Lehrerin besitzt daher trotzdem mehr domänenspezifisches Wissen und zwar über mögliche Konvergenzen, Divergenzen und Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den verschiedenen Begriffen.131 Man könnte außerdem annehmen, dass der Unterschied zwischen der Lehrerin, die die Wahrheit einer mathematischen Proposition aus erster Hand weiß und der Schülerin, die sie aus zweiter Hand weiß, darin besteht, dass die bessere Organisation der Konzepte bei der Lehrerin dazu führt, dass diese die betreffenden Überzeugungen mithilfe ihrer eigenen kognitiven Ressourcen selbstständig generieren konnte. Sie besitzt also mehr Verständnis von den betreffenden Sachverhalten.132 Es ist jedoch umstritten, ob mathematisches Wissen aus erster Hand immer mit Verständnis einhergehen muss.133 Hier scheinen unterschiedlich starke Auffassungen von Verständnis im Spiel zu sein. Bezüglich der Form, in der Verständnis vorliegt, ist die in der Philosophie vorherrschende Meinung zwar, dass dieses in propositionaler Form vorliege134, allerdings gehen auch einige Autorinnen von einem nicht-propositionalen Begriff von Verständnis aus.135 These: Die bisher genannten möglichen Unterscheidungskriterien sind, aus den oben genannten Gründen, zu theoriespezifisch und zu spezifisch auf eine bestimmte Wissensart bezogen, um als allgemeine Unterscheidungsmerkmale zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand fruchtbar zu erscheinen. Argumente für die propositionale Charakterisierung der domänenspezifischen Evidenz Es liegt daher nahe, auf der Suche nach einem theorieübergreifend gültigen, allgemeinen Unterscheidungskriterium zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand den kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen.

2.3.2

130 Vgl. Dretske [1981] 2003, 218. 131 Vgl. Dretske [1981] 2003, 218–219. 132 Vgl. Pritchard 2016, 37–38. 133 Weatherson geht davon aus, dass dies eine zu starke Forderung ist. Vgl. Weatherson 2019, 126–127. Aus der empirischen Forschung ist bekannt, dass es auch bei mathematischen Aussagen möglich ist, diese herzuleiten, ohne explizit angeben zu können, was man tut; was darauf hindeutet, dass in diesen Fällen kein explizit artikulierbares Verständnis vorliegt. Vgl. zum Beispiel Burge 2013, 497–501. 134 Vgl. Grimm 2014, 330. 135 Vgl. zum Beispiel Riggs 2003; Strevens 2013; Grimm 2014.

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Wissen aus zweiter Hand liegt dadurch, dass es zuvor irgendwie von der Erstbesitzerin zum Zweitbesitzer transportiert werden musste, in propositionaler Form vor. Außerdem besteh die allgemeinste Form der Abhängigkeit, die zwischen der Erstbesitzerin und dem Zweitbesitzer von Wissen entstehen kann, offensichtlich darin, dass die Erstbesitzerin dem Zweitbesitzer Evidenz liefert.136 Dies scheinen die Minimalbedingungen für Wissen aus zweiter Hand zu sein. Die Annahme, dass die Rechtfertigung von Wissen aus zweiter Hand von der Menge an in propositionaler Form vorliegender Evidenz abhängt, scheint daher ein guter Ausgangspunkt zu sein. Maximale Vergleichbarkeit des epistemischen Wertes von Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand kann man dann erreichen, wenn man auch bei Wissen aus erster Hand die in propositionaler Form vorliegende Evidenz betrachtet. Diese kann insofern als Unterscheidungskriterium dienen, als im Falle von Wissen aus erster Hand domänenspezifische Evidenz vorliegt, während im Falle von Wissen aus zweiter Hand domänenunabhängige Evidenz vorliegt. Außerdem kann das Vorhandensein von in propositionaler Form vorliegender Evidenz wissenstheorieübergreifend als Unterscheidungsmerkmal akzeptiert werden und stellt hier den kleinsten gemeinsamen Nenner dar. Denn unabhängig davon, ob Wissen aus erster Hand auf nicht-begrifflichen Erfahrungsgründen oder Sinnesdaten basiert oder Erfahrungen von Transparenz oder Selbstevidenz beinhaltet, gibt es keine bekannte Wissenstheorie, die nicht zugeben könnte, dass Wissen aus erster Hand auch durch in propositionaler Form vorliegende Evidenz gerechtfertigt wird. Natürlich ist es durchaus möglich, dass Wissen aus erster Hand zusätzlich zu der in propositionaler Form vorliegenden domänenspezifischen Evidenz noch weitere Unterschiede zu Wissen aus zweiter Hand aufweist, die von dieser Unterscheidung nicht erfasst werden. Aber diese Möglichkeit, also die Möglichkeit, dass die domänenspezifische Evidenz zum Beispiel im Falle von Wahrnehmungswissen auf nicht-begrifflichen Erfahrungsgründen basiert oder im Falle einfacher mathematischer Aussagen zusätzlich mit einem Erleben von Selbstevidenz einhergeht, wird durch diese Unterscheidung nicht ausgeschlossen. Es wird nur vorausgesetzt, dass diese nicht-begrifflichen Erfahrungsgründe ebenso wie der Inhalt unserer rationalen Intuitionen sich grundsätzlich propositional formulieren lassen. Dies wird von den meisten Philosophinnen anerkannt. Williamson weist darauf hin, dass nur Propositionen die Aufgabe erfüllen können, die die Evidenz in unserer Begründungsstruktur übernimmt. Die Rechtfertigung und Erklärung von Hypothesen, der Schluss auf die beste Erklärung und die Bestätigung und Falsifizierung von Aussagen können 136 Siehe Kapitel 2.1.5 in dieser Arbeit.

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nur durch Evidenz geleistet werden, die sich propositional formulieren lässt.137 Sollte die Besitzerin von Wissen aus erster Hand daher tatsächlich zusätzliche Gründe besitzen, die sich prinzipiell nicht propositional formulieren lassen, so würde es fraglich bleiben, inwiefern diese Gründe einen epistemischen Unterschied zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand konstituieren können. Sofern sich die Gründe prinzipiell propositional formulieren lassen, so spricht nichts dagegen, mit dem Vergleich zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand erst auf der Ebene der propositional formulierten Gründe anzusetzen. Dies wäre sogar naheliegend, um eine möglichst gute Vergleichbarkeit zwischen beiden Wissensarten zu gewährleisten, da Wissen aus zweiter Hand bereits in propositionaler Form vorliegt. Darüber hinaus erweist sich das Merkmal des Vorhandenseins der in propositionaler Form vorliegenden domänenspezifischen Evidenz als Unterscheidungskriterium als äußerst fruchtbar, da es eine Differenzierung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand ermöglicht, die über die verschiedenen philosophischen Ansätze hinweg verwendet werden kann. Zusammenfassung: Die Annahme, dass die domänenspezifische Evidenz in propositionaler Form vorliegt, erweist sich als fruchtbar, da sie die theorieübergreifende Gültigkeit des Unterscheidungskriteriums gewährleistet und die Vergleichbarkeit von Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand auf epistemischer Ebene garantiert. Argumente gegen die propositionale Charakterisierung der domänenspezifischen Evidenz Es gibt jedoch einen Einwand, der dagegenspricht, die Form, in der die domänenspezifische Evidenz vorliegt, als propositional zu charakterisieren. Dieser Einwand geht davon aus, dass es eine basalere Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand gibt, die eine eindeutigere Grenzziehung erlaubt. Solange sowohl die domänenunabhängige als auch die domänenspezifische Evidenz in propositionaler Form vorliegen, kann es vorkommen, dass eine Aussage, die aus zweiter Hand erworben wurde, als domänenspezifische Evidenz für die Rechtfertigung einer weiteren Aussage herangezogen wird. Die Definition von Wissen aus zweiter Hand erfordert daher die Qualifizierung, dass das Wissen weder unmittelbar noch mittelbar auf domänenunabhängiger Evidenz beruhen darf. Nun könnte argumentiert werden, dass es sinnvoller sei, die Form, in der die domänenspezifische Evidenz vorliegt als nicht-propositional, oder allgemeiner 2.3.3

137 Vgl. Williamson 2002, 194–201.

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formuliert als nicht-begrifflich, zu konstruieren. Dies würde eine eindeutigere Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand erlauben, da die Besitzerin von Wissen aus erster Hand in diesem Fall Evidenz besitzen würde, die in einer anderen Form vorliegt als die Rechtfertigung des Besitzers von Wissen aus zweiter Hand138. Nicht-begriffliche Repräsentationen haben nach der herrschenden Meinung den Vorteil, dass sie feinkörniger sind als begriffliche Repräsentationen.139 Eben diese größere Feinkörnigkeit könnte verschiedene Vorteile von Wissen aus erster Hand erklären, zum Beispiel eine größeres Detailreichtum und eine stärkere Determiniertheit. Wäre es daher sinnvoller das Unterscheidungskriterium zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand auf der Ebene der nicht-begrifflichen Erfahrung zu etablieren? Hierzu müsste gezeigt werden, dass nicht-begriffliche Repräsentationen wirklich feinkörniger sind als begriffliche Repräsentationen und dass diese größere Feinkörnigkeit einen epistemischen Unterschied für die Wissensbesitzerin macht. McDowell bestreitet die erste Prämisse. Er argumentiert, dass die Feinkörnigkeit unserer Wahrnehmungserfahrung nur dann unsere begrifflichen Möglichkeiten übersteigt, wenn man demonstrative Begriffe ausschließt. So könnte ein ganz bestimmter Farbeindruck möglicherweise nicht mit einem generellen Farbbegriff wie Rot27 oder Rot29 bezeichnet werden, falls ein solch allgemeiner Begriff fehlt, es sei jedoch jederzeit möglich sich auf ihn mit dem demonstrativen Begriff „Dieser Farbton“ oder „etwas, das solcherart koloriert ist“ zu beziehen.140 Was in diesem Fall laut McDowell sicherstellt, dass es sich bei der demonstrativen Bezugnahme um eine begriffliche Fähigkeit handelt, ist eine Fähigkeit solche verschiedenen Farbschattierungen wiederzuerkennen, die über die Dauer der Wahrnehmung selbst hinausgeht: „We can ensure that what we have in view is genuinely recognizable as a conceptual 138 Die Annahme, dass die Evidenz für Wissen aus erster Hand in nicht-begrifflicher Form vorliegt, bedarf der Konkretisierung: Ich gehe hier von der moderaten Annahme aus, dass sich begriffliche und nicht-begriffliche Repräsentationen nur in der Form bzw. ihrem Format unterscheiden, sich jedoch auf die gleichen Inhalte beziehen. Die stärkere Annahme, dass nicht-begriffliche perzeptuelle Zustände und kognitive Zustände unterschiedliche Inhalte haben, wird von wenigen Philosophinnen vertreten. Sie kann nicht ausreichend erklären, wie nicht-begriffliche Zustände zur begrifflichen Rechtfertigung beitragen können. Heck unterscheidet beide Annahmen unter dem Label „state-view“ und „contentview“. Vgl. Heck 2007, 121–122. 139 Evans hat dieses Argument als erstes deutlich formuliert. Eines seiner bekanntesten Beispiele bezieht sich darauf, dass wir nicht so viele verschiedene Begriffe von Farben haben, wie wir tatsächlich in der Wahrnehmung unterscheiden können. Vgl. Evans und McDowell 1996, 229. 140 Vgl. McDowell [1994] 1998, 56–57.

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capacity if we insist that the very same capacity to embrace a colour in mind can in principle persist beyond the duration of the experience itself.“141 Hier setzt einer der Hauptkritikpunkte an dem Konzept der demonstrativen Begriffe an. Wenn die Möglichkeit des Besitzes von solch feinkörnigen Begriffen von der Fähigkeit zur Wiedererkennung abhängt, muss der Vertreter einer Theorie der demonstrativen Begriffe zeigen, dass diese Fähigkeit notwendigerweise besteht. Ansonsten wäre weiterhin die Möglichkeit von Wahrnehmungsrepräsentationen mit nicht-begrifflichem Inhalt gegeben.142 Dies wurde jedoch bislang nicht gezeigt.143 Die empirische Sicht scheint hingegen dafür zu sprechen, dass die Fähigkeiten zur Wiedererkennung und Identifikation wesentlich grobkörniger sind als die Fähigkeiten zur perzeptuellen Diskriminierung.144 Es spricht also zunächst nichts dagegen, anzunehmen, dass wahrnehmungsabhängiges Wissen auf Wahrnehmungserfahrungen basiert, die einen nicht-begrifflichen Gehalt haben, der feinkörniger ist als die begriffliche Evidenz. Grundmann geht davon aus, dass diese nicht-begrifflichen Wahrnehmungserfahrungen die basalen Gründe für unsere Theorien über die Welt darstellen und epistemische Eigenschaften haben.145 Es stellt sich daher die Frage, ob diese Wahrnehmungserfahrungen nicht bessere Anwärterinnen für die Rolle der domänenspezifischen Evidenz darstellen. Da sie sich nur in der Form und nicht im Inhalt von der begrifflichen Evidenz unterscheiden, wäre dies auf jeden Fall eine plausible Möglichkeit, wenn sich hieraus Vorteile für die Unterscheidbarkeit zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand ergeben würden. Ein solcher Vorteil könnte durch die größere Feinkörnigkeit von nicht-begrifflichen Repräsentationen entstehen, da hierdurch erklärt werden könnte, weshalb Wissen aus erster Hand epistemisch wertvoller ist. Schließlich würde die Besitzerin von Wissen aus erster Hand detailliertere und determiniertere Evidenz besitzen als der Besitzer von Wissen aus zweiter Hand, wenn die nicht-begrifflichen Gründe als Evidenz betrachtet würden. Dann muss aber auch gezeigt werden, dass der Besitz dieser nicht-begrifflichen Evidenz wirklich einen epistemischen Unterschied für die Besitzerin macht. Das Argument, das gegen den Besitz von feinkörnigen demonstrativen Begriffen ins Feld geführt wurde, kann hiergegen wieder aufgegriffen werden. 141 McDowell [1994] 1998, 57. 142 Vgl. Kelly 2001, 409–410. 143 Vgl. Kelly 2001, 410. 144 Vgl. Raffman 1995, 294–295. 145 Vgl. Grundmann 2003, 303–304.

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Damit die nicht-begriffliche Evidenz in unserer Begründungsstruktur eine Rolle spielen kann, sollte zumindest eine gewisse Identifizierbarkeit oder Wiedererkennbarkeit gegeben sein. Ansonsten ist nicht ersichtlich, wie eine größere Feinkörnigkeit der Erfahrungen einen epistemischen Vorteil herbeiführen soll, obwohl deren Besitzerin diese Feinkörnigkeit in keiner Weise nutzen kann, um hieraus einen Vorteil in ihren Möglichkeiten zur Begriffsbildung und Begründung zu ziehen. Wenn man hingegen davon ausgeht, dass die nicht-begriffliche Diskriminierungsfähigkeit mit minimalen Fähigkeiten zur Identifizierbarkeit und Wiedererkennung einhergeht, spricht nichts dagegen, dass diese Erfahrung in Form von demonstrativen Begriffen formuliert werden kann. Eine größere Feinkörnigkeit der Erfahrungen scheint also nur insofern einen epistemischen Vorteil zu erzeugen, als die Besitzerin sie begrifflich irgendwie erfassen kann. Eine mögliche größere Feinkörnigkeit der nicht-begrifflichen Erfahrungen stellt daher keinen Grund dar, ein nicht-begriffliches Verständnis der Evidenz einem propositionalen Verständnis vorzuziehen146. Es gibt ein weiteres Argument, das dafürsprechen könnte, eine nicht-begriffliche Konzeption der domänenspezifischen Evidenz einer propositionalen Konzeption vorzuziehen. Dieses – in der Philosophie als erstes von Fodor formulierte Argument – geht von der kognitiven Undurchlässigkeit der (frühen) Wahrnehmung aus. Die (frühen) visuellen Prozesse, die unsere Wahrnehmung erzeugen, sind demnach modular, das heißt sie sind informationell eingekapselt.147 Wenn man davon ausgeht, dass die Wahrnehmung Repräsentationen erzeugt, die unabhängig von unseren sonstigen kognitiven Einstellungen sind, dann würden diese nicht-begrifflichen Repräsentationen eine Basis für unser Wissen liefern, das kontextunabhängig ist. Zwei Subjekte, die den gleichen visuellen Stimuli unter den gleichen externen Bedingungen ausgesetzt sind, müssten in diesem Falle exakt die gleichen visuellen Erfahrungen haben.148 Eine solche Basis würde sich möglicherweise besser als domänenspezifische Evidenz eignen, da sie eine bessere Vergleichbarkeit der Evidenz garantieren könnte. Hiergegen gibt es jedoch zwei Einwände. Der erste bezieht sich auf die 146 Dies schließt nicht aus, dass die propositionale Evidenz auf der nicht-begrifflichen Wahrnehmung basiert. Vgl. auch Williamson 2002, 197. 147 Vgl. Fodor 2008, 37. 148 Das Gegenteil wäre kognitive Durchlässigkeit, die von Siegel folgendermaßen definiert wird: „If visual experience is cognitively penetrable, then it is nomologically possible for two subjects (or for one subject in different counterfactual circumstances, or at different times) to have visual experiences with different contents while seeing and attending to the same distal stimuli under the same external conditions, as a result of differences in other cognitive (including affective) states.“ Siegel 2012, 205–206.

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Wahrheit der Prämisse. Fodor selbst gibt zu, dass die Annahme, dass Wahrnehmungsprozesse informationell eingekapselt sind, unter Psychologinnen umstritten ist.149 Die empirische Forschung hat Nachweise erbracht, dass selbst die frühen visuellen Wahrnehmungsprozesse nicht komplett undurchlässig sind, sondern im Gegenteil von unseren kognitiven Einstellungen150 beeinflusst werden.151 Eines der bekannteren Experimente bezieht sich auf die kognitive Beeinflussbarkeit der Wahrnehmung von Farbschattierungen: Den Teilnehmerinnen wurden die Umrisse verschiedener Objekte gezeigt, die aus dem gleichen orangefarbenem Papier ausgeschnitten waren. Darunter waren Objekte, die typischerweise rot sind, zum Beispiel Lippen oder ein Herz und andere farbneutrale Objekte. Die Teilnehmerinnen wurden angewiesen, die Hintergrundfarbe der Objekte so lange anzupassen, bis die Objekte nicht mehr vom Hintergrund unterschieden werden konnten. Die Ergebnisse konnten zeigen, dass die Teilnehmerinnen Objekte, die typischerweise rot sind, als stärker rot wahrnahmen als die anderen Objekte. Dies lässt darauf schließen, dass die semantische Assoziation die Farbwahrnehmung beeinflusste.152 Dies zeigt jedoch, dass auch das philosophische Musterbeispiel für die nicht-begriffliche Wahrnehmung – die Farbwahrnehmung – nicht vollständig kognitiv undurchlässig ist. Die kognitive Durchlässigkeit kann außerdem nicht dadurch erklärt werden, dass die Anpassung der Farbschattierungen ein Produkt eines späteren begrifflichen Urteils ist, während das Perzept unverändert bleibt, da die feinkörnige Farbunterscheidung ja gerade unabhängig von unseren Begriffen sein soll.153 Newen und Vetter gehen daher davon aus, dass kognitive Durchlässigkeit auf jeder Ebene der kortikalen Verarbeitung auftreten

149 Dies gibt Fodor selbst zu. Vgl. Fodor 2008, 64. Die aktuell vorherrschende Meinung geht davon aus, dass die Wahrnehmung selbst auf den basalen Ebenen grundsätzlich beeinflussbar ist. Vgl. Newen und Vetter 2017. 150 Diese Art der Beeinflussung nennt man top-down Beeinflussung. 151 Vgl. Newen und Vetter 2017. 152 Vgl. Delk und Fillenbaum 1965 für das Originalexperiment. Ein neueres Experiment, das u.a. zeigt, dass Probanden eine graue Banane gelblich wahrnehmen, wurde 2006 durchgeführt. Vgl. Hansen et al. 2006. Bannert und Bartels konnten außerdem mittels fMRI zeigen, dass dieser Einfluss der Identität des Objekts auf die Farbwahrnehmung, selbst wenn das Objekt selbst farblos ist, auf neuronaler Ebene im primären visuellen Kortex V1 nachweisbar ist. Dies bedeuted, dass selbst wenn die im visuellen System ankommende feedforward Information grau ist, stattdessen schon auf der frühesten Stufe der Hierarchie im visuellen System die für das Objekt typische Farbe kommuniziert wird. Vgl. Bannert und Bartels 2013. 153 Vgl. Newen und Vetter 2017, 32.

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kann und auf dieser Grundlage keine klare Grenze zwischen Wahrnehmung und Kognition gezogen werden kann.154 Falls man davon ausgeht, dass die These der Unbeeinflussbarkeit der Sinneswahrnehmungen stimmen sollte, müsste zunächst geklärt werden, auf welcher Ebene die nicht-begriffliche Evidenz angesiedelt werden soll. Die proximalen Reize auf unsere Sinnesorgane scheinen keine geeigneten Kandidatinnen zu sein, da sie zu früh in der Wahrnehmung ansetzen. Peacocke schlägt vor, den Begriff des protopropositionalen Inhalts zu verwenden, um Unterschiede in der Art und Weise zu erfassen, in der dasselbe Objekt in der Wahrnehmung repräsentiert werden kann. Der protopropositionale Inhalt enthält anstelle von Begriffen Objekte, Eigenschaften und Relationen.155 In der Kognitionswissenschaft werden nicht-begriffliche Wahrnehmungsinhalte in der Regel auf der subpersonalen Ebene postuliert,156 die Prozesse auf der dieser Ebene laufen zum Teil unbewusst ab.157 Der nicht-begriffliche Wahrnehmungsinhalt wäre jedoch kein geeignetes Explikat für den Begriff der domänenspezifischen Evidenz, sollte diese nur unbewusst vorliegen. Sollten die nicht-begrifflichen Wahrnehmungserfahrungen die domänenspezifische Evidenz eines Individuums konstituieren, müsste daher zunächst ein theorieübergreifend akzeptierter Ansatz gefunden werden, der festlegt, auf welcher Ebene die Wahrnehmungserfahrung betrachtet werden soll. Selbst wenn auch dieses Problem gelöst werden könnte, besteht noch ein dritter Einwand, der infrage stellt, dass die nicht-begriffliche Wahrnehmung sich überhaupt als Anwärterin für die domänenspezifische Evidenz eines Individuums eignet. Die nicht-begriffliche Wahrnehmung soll eine theorieunabhängige Basis unserer Rechtfertigung liefern.158 Was hierdurch ausgeschlossen werden soll, ist, dass zwei Subjekte, die den gleichen distalen Stimuli unter den gleichen externen Bedingungen ausgesetzt sind, visuelle Wahrnehmungen mit unterschiedlichem Inhalt haben – als Folge von Unterschieden in ihrer 154 Vgl. Newen und Vetter 2017, 35. Diese Schlussfolgerung könnte ein grundsätzliches Problem darstellen für diejenigen Autorinnen, die davon ausgehen, dass die Isolierung der Wahrnehmungsprozesse von den begrifflichen Einstellungen einer Person eine notwendige und hinreichende Bedingung für jede Repräsentation mit nicht-begrifflichem Inhalt darstellt. Vgl. Raftopoulos und Muller 2006 für diese Annahme. Tye 1995, 140–141 argumentiert dagegen. 155 Vgl. Peacocke 1995, 77. 156 Vgl. zum Beispiel Stich 2007. 157 Campbell geht davon aus, dass auch Evans die nicht-begrifflichen Wahrnehmungszustände so lange als unbewusst betrachtet, bis das Subjekt mit seinen begrifflichen Fähigkeiten auf sie einwirkt. Vgl. Campbell 2005, 208–209. 158 Vgl. Grundmann 2003, 303.

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kognitiven Struktur.159 Wenn diese Wahrnehmungsrepräsentationen jedoch die domänenspezifische Evidenz einer Person ausmachen, können zwei Personen dieselbe domänenspezifische Evidenz besitzen und auf dieser Grundlage eine Überzeugung bilden, die jedoch nur bei einer der beiden Personen zu Wissen aus erster Hand führt. Ich möchte dies an einem kurzen Beispiel erläutern: Super-Recognizerin: Polizeikommissar Sam versucht anhand von Videoaufnahmen Verdächtige, die bei einer Massenschlägerei im Fußballstadium beteiligt waren, zu identifizieren. Er kann die Verdächtigen jedoch nicht ausreichend zuordnen und fragt deshalb die Hilfe der Super-Recognizerin160 Marie an. Beide sehen sich die Videoaufnahmen gemeinsam an und Marie erkennt einen Großteil der Verdächtigen. Mit ihrem Wissen gelingt es Sam daher, viele der Verdächtigen zu identifizieren. Intuitiv sollte man Sam kein Wissen aus erster Hand zuschreiben. Dies zeigt sich auch daran, dass er, sollte er vor Gericht aussagen, sein Wissen nur mit Hinweis auf die Aussage von Marie rechtfertigen könnte. Da beide ein ausreichendes Sehvermögen haben und dasselbe Video unter denselben äußeren Umständen betrachten, müssten sie auch im Besitz derselben domänenspezifischen Evidenz sein, falls ihre nicht-begrifflichen Wahrnehmung ihre domänenspezifische Evidenz ausmacht. Es kann nicht argumentiert werden, dass Sams Wissen nicht auf dieser Evidenz basiert. Denn Sams Wissen wird kausal161 durch seine Wahrnehmungsrepräsentation gestützt162 und es ist auch plausibel, davon auszugehen, dass Sams Rechtfertigung dadurch verursacht wird, dass er davon ausgeht, dass die Videoaufnahmen sein Wissen stützen163.

159 Vgl. Siegel 2012, 205–206. 160 Super-Recognizerinnen sind Menschen, die andere Personen bereits nach einem flüchtigen Kontakt zielsicher wiedererkennen können, selbst wenn sie sich zwischenzeitlich äußerlich verändert haben. Sie identifizieren jemanden oft sogar dann, wenn nur spärliche visuelle Informationen zur Verfügung stehen. U.a. die Londoner Metropolitan Police wird von einer Spezialeinheit bestehend aus Super-Recognizerinnen, die bei der Aufklärung ungeklärter Fälle helfen, unterstützt. Vgl. Hanser 2000. 161 Die kausale Analyse der Basierungs-Relation entspricht der Standartsichtweise in der Epistemologie. Vgl. Korez 1997, 171. 162 Moser fordert beispielsweise kausale Stützung für die Basierungsrelation. Vgl. Moser 1999, 156–158. 163 Diese Anforderung stellt Ye an die Basis der Überzeugung, um das Problem der Verursachung durch abweichende Kausalketten zu lösen: „One’s belief that p is based on

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Auch nach Turris „causal-manifestation theory“ basiert Sams Rechtfertigung auf seiner Wahrnehmungserfahrung, da Sam durchaus die kognitive Disposition besitzt, in solchen und ähnlichen Fällen den Rat einer Super-Recognizerin hinzuzuziehen.164 Außerdem basiert Sams Wissen durchaus kompetent auf der domänenspezifischen Evidenz, da das Einholen der Unterstützung der Super-Recognizerin genau das ist, was er in seiner epistemischen Situation tun sollte, wenn er nicht alle Verdächtigen auf dem Video selbstständig identifizieren kann. Das zeigt, dass bei einer Identifizierung der domänenspezifischen Evidenz mit der nicht-begrifflichen Wahrnehmungserfahrung die Rechtfertigung zweier Personen auf derselben domänenspezifischen Evidenz basieren könnte, die allerdings nur eine der beiden Personen in die Lage versetzt, Wissen aus erster Hand zu erwerben. In diesem Falle wäre es nicht mehr plausibel, dass der Besitz der domänenspezifischen Evidenz den Unterschied zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand ausmachen soll. Eine propositionale Charakterisierung der Evidenz führt nicht zu diesem Problem, da Sam und Marie dann unterschiedliche domänenspezifische Evidenz besitzen. Dieses Beispiel ist kein Einzelfall. In vielen Fällen, die Expertentum, Übung und Prozeduralisierung im Bereich der visuellen Wahrnehmung betreffen, ist es problematisch überhaupt zu bestimmen, was die domänenspezifische Evidenz ist, wenn man diese auf der Ebene der nicht-begrifflichen Sinneswahrnehmung ansetzt. Im Falle der Feuerwehrfrau, die sieht, dass ein brennendes Haus gleich einstürzt, weil sie sehr viele Details wahrnimmt, die dem Laien gar nicht auffallen, stellt sich die Frage, ob sich schon ihre nicht-begriffliche Wahrnehmungserfahrung, von der des Laien unterscheidet oder ob beide dieselbe nicht-begriffliche Wahrnehmungserfahrung machen. Erstere Annahme würde gegen das Prinzip der Undurchlässigkeit der Sinneserfahrungen verstoßen. Die Ansicht, dass der Inhalt der Sinneswahrnehmung bei beiden gleich ist, erscheint jedoch auch unplausibel, da die Feuerwehrfrau viel mehr Einzelheiten wahrnimmt. Siegel geht davon aus, dass in diesen Situationen nur kognitive Durchlässigkeit im weiteren Sinne auftritt. Der distale Stimulus von Expertinnen und Laien bleibt zwar bei einer grobkörnigen Betrachtung der gleiche, da dieselben Gegenstände unter denselben Bedingungen wahrgenommen werden;165 dadurch, dass Expertinnen und Laien unterschiedliche reason R just in case R causes the belief and the causation is caused by one’s believing that R supports p.“ Ye 2019, 27. 164 Turri fordert für die Kausalverbindung: „R is among your reasons for believing Q if and only if R’s causing your belief manifests (at least some of ) your cognitive traits.“ Turri 2011, 393. 165 Vgl. Siegel 2012, 204–205.

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Details fixieren würden, ändere sich aber der distale Stimulus bei einer feinkörnigen Betrachtungsweise: In the cases in which background expertise influences fixation points, the distal stimuli (pine trees, tree bark) is held constant in the sense that under the same conditions, expert and novice view the same trees and the same tree bark, and these things don’t change. […] These are cases in which background state has a selective effect. It selects which part of the distal stimulus comes to be represented in subject’s visual experience. If one interpreted ‚distal stimulus‘ in a more fine-grained way, so that distal stimulus could be determined by fixation point and covert attention, then the first pass wouldn’t after all count these as illustrations of cognitive penetrability, since the distal stimuli in that more fine-grained sense would differ in the relevant cases. The distal stimuli would differ for expert and novice in the expertise cases, and would differ depending on priming in the covert attention case. These cases are illustrations of cognitive penetrability, considered broadly.166

Bei der Chicken-Sexerin167, die männliche und weibliche Küken zwar gut voneinander unterscheiden kann, aber nicht genau sagen kann, woran sie das Geschlecht der Küken erkennt, stellt sich ebenfalls die Frage, ob ihre nichtbegriffliche Wahrnehmungserfahrung von der des Laien abweicht, der männliche und weibliche Küken gar nicht unterscheiden kann. Würde man beide nach der Evidenz für ihr Wissen fragen, so würde die Chicken-Sexerin wahrscheinlich angeben, dass sie entweder ein weibliches oder ein männliches Küken sieht, während der Laie einfach nur ein Küken sieht. Man könnte diesen Fall laut Dretske so erklären, dass auch der Laie den Unterschied zwischen einem weiblichen Küken und einem männlichen Küken wahrnimmt. Er würde in diesem Falle dieselbe Evidenz besitzen wie die Expertin, jedoch ohne zu bemerken, dass er diese Evidenz besitzt.168 Auch bei dem Analphabeten und der Schreibkundigen, die auf denselben Text schauen, stellt sich die Frage, ob sie dieselbe Wahrnehmungserfahrung besitzen. In all diesen Fällen ist es schwierig, zu spezifizieren, was die domänenspezifische Evidenz ist, wenn man diese auf der nicht-begrifflichen Ebene ansiedelt. Das heißt zwar nicht, dass dies grundsätzlich nicht möglich ist, es scheint jedoch unnötig, da mit der propositionalen Charakterisierung der Evidenz ein klares Kriterium zur Verfügung steht. Dieses Kriterium hat darüber hinaus den Vorteil, dass in allen oben beschriebenen Situationen der Besitz bzw. Nichtbesitz der Evidenz den 166 Siegel 2012, 205. 167 Als Sexen bezeichnet man die Bestimmung des Geschlechts von Tieren vor allem in der Geflügelzucht. 168 Vgl. Dretske 2004, 8, 16.

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entscheidenden Unterschied zwischen Wissen und Nichtwissen und zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand ausmacht. Zusammenfassung: Wenn man davon ausgeht, dass der Nichtbesitz der domänenspezifischen Evidenz den entscheidenden Unterschied zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand ausmacht, dann ist es ratsam, die domänenspezifische Evidenz propositional zu konstruieren. Die Basierung auf domänenspezifischer Evidenz wird als Unterscheidungskriterium zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand postuliert, weil sie theorieübergreifend gültig ist. Es gibt viele verschiedene Ansichten darüber, was eine Proposition rechtfertigt. Jedoch sind sich alle einig, dass eine Proposition eine andere rechtfertigen kann. Wenn es möglich ist, den Unterschied zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand auf propositionaler Ebene zu beschreiben, dann kann dieser Unterschied als Unterscheidungskriterium betrachtet werden, das mit den Annahmen verschiedener Wissenstheorien kompatibel ist. Würde hingegen der Unterschied zwischen Wissen aus erster Hand und aus zweiter Hand auf propositionaler Ebene nicht mehr gelten, wäre es fraglich, ob es überhaupt einen epistemischen Unterschied zwischen Wissen aus erster und aus zweiter Hand gibt. 2.3.4 Konzeptuelle Voraussetzungen an den Evidenzbegriff Darüber hinaus gibt es noch einige weitere konzeptuelle Voraussetzungen an den Evidenzbegriff, wenn dieser im Rahmen der Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und aus zweiter Hand genutzt werden soll: Bei allen notwendig wahren Propositionen muss davon ausgegangen werden, dass die logische Tatsache, dass eine mathematische oder logische Wahrheit strenggenommen von jeder Aussage impliziert wird, keine ausreichende Evidenz darstellt, um eine beliebige notwendige Wahrheit zu rechtfertigen. Weatherson macht dies am Fall eines jungen Mathematikstudenten deutlich: Der Mathematikstudent Tamati: Tamati, ein junger Mathematikstudent, dem auffällt, dass die Abstände zwischen den Primzahlen größer werden, hat eine plötzliche starke Eingebung, dass es keine größte Primzahl gibt, woraufhin er die entsprechende Überzeugung bildet. Obwohl er auf diese Art zuverlässig einfache arithmetische Überzeugungen, wie die Überzeugung, dass fünf und sieben zwölf ergibt, bildet, entwickelt er normalerweise keine Überzeugungen über komplexe mathematische Sachverhalte auf diese Art und Weise; er ist kein mathematischer Savant. Er besitzt keine weitergehende

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Rechtfertigung für seine Überzeugung, weder aus erster Hand noch aus zweiter Hand; daher sollte ihm kein Wissen zugeschrieben werden.169 Laut Weatherson ist die sinnvollste Erklärung für diese Intuition, dass Tamati nicht genügend Evidenz für seine Überzeugung besitzt. Das, was diejenige, die eine komplexe mathematische Proposition durch Herleitung weiß, von demjenigen, der sie bloß ohne ausreichende Rechtfertigung glaubt, unterscheidet, ist die Menge an Evidenz, die erstere besitzt. Für nicht-offensichtliche Implikationen braucht eine Person daher zusätzliches Wissen, um von den Prämissen auf die Konklusion zu schließen.170 Für offensichtliche Implikationen ist dies nicht nötig. Weatherson versucht mit seinem Beispiel zu zeigen, weshalb diese Erklärung von Tamatis Nichtwissen besser funktioniert als reliabilistische oder fundamentalistische Erklärungsmodelle und daher für den Evidentialismus spricht.171 Für meine Argumentation ist nicht erheblich, ob er hiermit Recht hat. Wichtig ist lediglich die konzeptuelle Einsicht, dass, solange man sich in einem Argumentationsrahmen bewegt, in dem das Vorhandensein von Evidenz den entscheidenden Unterschied zwischen Wissen und Nichtwissen darstellt, man davon ausgehen sollte, dass ein zusätzlicher Schritt in einer mathematischen Rechnung oder einer logischen Schlussfolgerung eine zusätzliche Evidenz darstellt. Man könnte die Intuition, dass Tamati kein Wissen besitzt, auch dadurch erklären, dass Tamati zwar propositionale, jedoch keine doxastische Rechtfertigung besitzt, da sein Schluss nicht auf die richtige Art und Weise auf der Evidenz basiert.172 So könnte man fordern, dass der Schluss kompetent aus der Evidenz hergleitet wird oder eine Anerkennung der Evidenz erfolgt.173 Weatherson gibt jedoch zu bedenken, dass diese starke Fokussierung auf die Beziehung, in der die Wissensbesitzerin zur Evidenz steht, eigene Probleme mit sich bringt. Es muss in diesem Fall darauf geachtet werden, dass diese Beziehung weder zu starke noch zu schwache Anforderungen voraussetzt. Falls die Anerkennung der Evidenz erfordern würde, dass die Wissensbesitzerin versteht, wie und warum die Evidenz die Konklusion stützt und diese Anerkennung grundsätzlich für Wissen gefordert wird, dann würde der Kreis der Aussagen, den die meisten Personen wissen, sehr stark eingeschränkt. So würden viele alltägliche logische Beziehungen nur noch für Logikexpertinnen Wissen darstellen. Falls es für die Anerkennung der Evidenz 169 Vgl. Weatherson 2019, 125–127. 170 Siehe auch Boghossian 2003 für diese Argumentation. 171 Vgl. Weatherson 2019, 125–126. 172 Siehe Korez 1997; Carter und Bondy 2019; Neta 2019 für eine Übersicht zur Basierungsrelation. 173 Fumerton spricht von „appreciation of available evidence.“ Fumerton 2010, 92.

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jedoch ausreichend wäre, eine wahre Überzeugung darüber zu besitzen, dass die Evidenz die Konklusion stützt, so könnte Tamati in obigen Fall nur aufgrund seiner Eingebung wissen, dass es keine größte Primzahl gibt, solange er weiß, dass eine mathematische Wahrheit aus jeder Aussage folgt. Tamati könnte dann seine Überzeugung, dass es keine größte Primzahl gibt, einfach aus der Tatsache, dass sein Kaffee kalt geworden ist, folgern. Diese Forderung scheint wiederum zu schwach zu sein.174 Doch auch wenn es möglich ist, die Beziehung, die zwischen der Wissensbesitzerin und ihrer Evidenz bestehen muss, so zu definieren, dass die genannten Probleme nicht auftreten, ist es fraglich, ob dies wünschenswert ist. Die Forderung, dass im Falle von komplexen mathematischen und logischen Aussagen Evidenz in Form von Zwischenschritten besessen werden sollte, ist einfach zu überprüfen und bietet ein klares Kriterium. Die Menge an Evidenz, die eine Person besitzt, bleibt so auch im Falle von wahrnehmungsunabhängigem Wissen das ausschlaggebende Unterscheidungsmerkmal zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand. These: Da ich davon ausgehe, dass das Vorhandensein domänenspezifischer Evidenz den Unterschied zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand ausmacht, werde ich im Folgenden annehmen, dass auch diejenige Person, die eine komplexe mathematische Proposition aus erster Hand weiß, Evidenz in Form von Zwischenschritten für ihre Überzeugung besitzt. Im Falle von direkten logischen Implikationen setzte ich, wie Weatherson, voraus, dass eine Person keine zusätzliche Evidenz benötigt, um sie zu wissen175. Diese Einschätzung entspricht unseren Intuitionen. Allerdings gehe ich nicht davon aus, dass in einem solchen Fall gar keine Evidenz vorliegt. Vielmehr besitzt eine Person, die unmittelbar weiß, dass fünf plus sieben zwölf ist, die Evidenz, dass sie weiß, dass fünf plus sieben zwölf ist. Im Falle von a priori erkennbaren Wahrheiten könnte man mit Bealer176 argumentieren, dass ihre Evidenz auf der eigenen Intuition bezüglich dieses Sachverhaltes beruht, die unmittelbar aus dem vollständigen Begriffsbesitz hervorgeht. Ich gehe davon aus, dass auch im Falle von einfachem Wahrnehmungswissen, zum Beispiel bei dem Wissen, dass vor der Person S ein Baum steht, das Wissen, dass dort ein Baum steht, ausreichende Evidenz darstellt. Dies mag zunächst kontraintuitiv erscheinen. Man könnte argumentieren, dass es eine Form von nachträglicher Rationalisierung darstellt, wenn man das Wissen einer bestimmten Aussage als 174 Vgl. Weatherson 2019, 126–127. 175 Vgl. Weatherson 2019, 128. 176 Vgl. Bealer 1999.

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Evidenz für eben diese Aussage betrachtet.177 Williamson weist jedoch darauf hin, dass es zwar konversationell unangemessen sein mag, logisch betrachtet jedoch richtig ist, dass eine Evidenz für eine Aussage auch für sich selbst Evidenz darstellt;178 ebenso wie es redundant und daher unangebracht ist auf die Frage: „Wer lebt im gleichen Haus wie Mary?“ mit „Mary.“ zu antworten, obwohl dies trotzdem wahr ist.179 Ich orientiere mich bei dem in dieser Arbeit verwendeten Verständnis von Evidenz an der Ausarbeitung von Williamson, da so ein durchdachtes Konzept zur Verfügung steht.180 Ein Nachteil von Williamsons Vorstellung von Evidenz ist, dass diese in der Philosophie nicht unumstritten ist.181 Ich muss für meine Arbeit jedoch nicht voraussetzen, dass Williamson Recht hat und alle rechtfertigenden Gründe zwangsläufig in Form einer faktiven, propositionalen Einstellung182 vorliegen. Es reicht aus, dass ein ausreichend großer Teil der rechtfertigenden Gründe in Form propositionaler Einstellungen vorliegt und dass Unterschiede in diesem Teil der Gründe systematisch eine Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand erklären können. Im Falle einer Wahrnehmungsüberzeugung wäre die Antwort auf die Frage: „Woher weißt du, dass vor dir eine Linde steht?“ üblicherweise „,weil ich sie sehe.“. Auch die Antwort „,weil ich sie rieche.“ wäre zulässig. Beide Antworten stellen nach Williamsons Verständnis jedoch keine unabhängige neue Evidenz dar, da sehen und hören als faktive mentale Zustände nur eine Unterkategorie von Wissen als allgemeinstem faktiven Zustand darstellen.183 Trotzdem sind diese Antworten nicht redundant, da sie eine Spezifizierung der Evidenz enthalten. Über Nachfragen dieser Art kann jemand, der etwas aus zweiter Hand weiß, von der Erstbesitzerin zusätzliches Detailwissen über den Inhalt der Proposition ebenso wie Wissen über den epistemischen Standort der Erstbesitzerin erwerben. Auf die Frage, woher jemand eine begriffliche Wahrheit, wie das Ergebnis der Rechnung fünf plus sieben weiß, sind auch mehrere Antworten möglich. Eine Antwort könnte sein: „,weil ich gezählt habe.“ Andere Antworten könnten sein: „,weil es eine notwendige Wahrheit ist.“ oder „,weil es der Begriff der ganzen Zahlen und der Operatoren Plus und Gleich implizieren.“ Alle diese 177 Vgl. Grundmann 2009, 67. 178 Vgl. Williamson 2002, 187–188. 179 Vgl. Williamson 2002, 187; Grice 1993. 180 Vgl. Williamson 2002. 181 Vgl. z.B. Grundmann 2009. 182 Vgl. Williamson 2002 Ch. 1 für eine Begriffserklärung. 183 Vgl. Williamson 2002, Ch. 1.

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Antworten transportieren keine neuen Informationen über die Aussage selbst, sondern über die kognitive Organisation der damit verbundenen Begriffe bei der Erstbesitzerin. Die domänenspezifische Evidenz, die die Erstbesitzerin besitzt, muss jedoch nicht bewusst formuliert vorliegen. Da Wissen laut Williamson ein Zustand und keine Aktivität ist, reicht es aus, wenn die Erstbesitzerin in einer Position ist, in der sie die Evidenz wissen bzw. formulieren kann. Im Falle von Wahrnehmungswissen basiert diese Evidenz auf Sinneswahrnehmungen. Davon geht auch Williamson aus.184 Allerdings werden diese Sinneswahrnehmungen erst zu Evidenz nach unserem Verständnis, wenn das Individuum in einer Position ist, in der es sie als Aussage formulieren kann.185 Eine Person, die einfaches Alltagswissen besitzt, muss diesen Schritt aber nicht immer vollziehen. Ihre Überzeugungen können laut Williamson auch implizit evidenzbasiert sein, d.  h. es reicht aus, dass die Person mit der Bildung ihrer Überzeugung ausreichend kausal sensitiv auf die Evidenz für die Wahrheit der Überzeugung reagiert.186 Diese kausale Sensitivität muss nicht über weitere Überzeugungen über die Evidenz von p vermittelt sein.187 Zusammenfassung: Ich werde im Folgenden von einem propositionalen Begriff von Evidenz ausgehen. Ich gehe davon aus, dass neue Inferenzen zu zusätzlichem Wissen führen und dass eine Person für nicht offensichtliche Schlüsse zusätzliches Wissen benötigt, um von den Prämissen auf die Konklusion zu schließen. Ein solches Verständnis von Evidenz hat den Vorteil, dass die meisten Philosophinnen sich einig sind, dass es diese Art der Evidenz gibt. Ich werde in Kapitel 3 zeigen, dass Unterschiede auf dieser Ebene der Rechtfertigung ausreichen, um eine klare Grenze zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand zu ziehen.

184 Williamson formuliert dies folgendermaßen: „Experiences provide evidence; they do not consist of propositions. So much is obvious. But to provide something is not to consist of it.“ Williamson 2002, 197. 185 Vgl. Williamson 2005b, 475. 186 Williamson unterscheidet implicitly evidence-based beliefs und explicitly evidence‐based beliefs. Vgl. Williamson 2002, 191. 187 Vgl. Williamson 2002, 191–192.

Kapitel 3

Definition des Begriffs Wissen aus zweiter Hand Die Menge an domänenspezifischer Evidenz, die einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung steht, um eine Aussage von ihrem epistemischen Standort aus zu rechtfertigen, kann als ausschlaggebendes Unterscheidungskriterium zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand dienen. Im Gegensatz zu anderen Merkmalen, die als Unterscheidungskriterium infrage kommen würden, hat das Merkmal der domänenspezifischen Evidenz den Vorteil, dass es über die Diskursgrenzen in den philosophischen Teildisziplinen hinaus ein allgemein akzeptiertes Unterscheidungskriterium etablieren kann. Die Konzeption beider Begriffe als polar-konträrer Gegensatz erlaubt es, beide Begriffe als Endpunkte einer Skala zu betrachten, die bei Bedarf auch eine graduelle Abstufung zwischen beiden Begriffen zulässt. Hierdurch wird der Übergang von einem rein klassifikatorischen zu einem komparativen Begriff möglich. Methodisches Vorgehen: Auf methodischer Ebene erfolgt in diesem Kapitel die Definition des Explikats, die sich an der oben herausgearbeiteten Funktion, die das Explikat im wissenschaftlichen Diskurs übernehmen soll, orientiert. 3.1

Definition des Explikats

Definition: Wissen aus zweiter Hand Ein Subjekt S weiß eine Proposition p zum Zeitpunkt t aus zweiter Hand genau dann, wenn: i) S zum Zeitpunkt t die wahre, gerechtfertigte und gettierresistente Überzeugung besitzt, dass p, ii) S’ Rechtfertigung für p unmittelbar oder mittelbar1 auf der domänenunabhängigen Evidenz basiert, dass p; die S aus einer verlässlichen oder anderweitig wahrheitsbefördernden Quelle R erhalten hat, die bezüglich p zu t einen anderen epistemischen Standort als S besitzt. 1 S’ Rechtfertigung basiert unmittelbar auf der domänenunabhängigen Evidenz, dass p, wenn S die Aussage, dass p allein aufgrund der domänenunabhängigen Evidenz, dass p, besitzt. S’ Rechtfertigung basiert mittelbar auf der domänenunabhängigen Evidenz, dass p, wenn S domänenspezifische Evidenz für p besitzt, die durch domänenunabhängige Evidenz gerechtfertigt ist. © brill mentis, 2024 | doi:10.30965/9783969753088_004

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Kapitel 3

i) und ii) sind einzeln notwendige und gemeinsam hinreichende Bedingungen für das Vorliegen von Wissen aus zweiter Hand. Durch i) wird sichergestellt, dass das Subjekt überhaupt eine Art von Wissen besitzt. Die Bedingung ii) stellt das Differenzkriterium zu Wissen aus erster Hand dar. Epistemische Basis: Sobald die domänenspezifische Evidenz des Subjekts für eine bestimmte Aussage ausreichend gut und gut genug vernetzt ist, um diese Aussage selbstständig zu rechtfertigen, kann die domänenspezifische Evidenz, die domänenunabhängige Evidenz als Basis des Wissens ablösen. So kann Wissen aus zweiter Hand zu Wissen aus erster Hand werden. Dies ist ein alltäglicher Vorgang, der dann auftritt, wenn eine Person sich persönlich überzeugt, dass vor einem bestimmten Haus wirklich ein Baum steht, wenn Experimente, deren Ausgang man nur vom Hörensagen kannte, selbstständig wiederholt werden oder wenn eine mathematische Aussage, deren Gültigkeit zunächst im Unterricht erlernt wurde, im Verlauf des Studiums selbst hergeleitet werden kann.2 Die obige Definition von Wissen aus zweiter Hand stellt keine besonderen Anforderungen an die Basierungsrelation zwischen Evidenz und Überzeugung.3 Es sollte nur sichergestellt sein, dass es in Fällen, in denen die domänenunabhängige Evidenz von späterer domänenspezifischer Evidenz als Basis der Überzeugung abgelöst wird, nicht zu Fällen von Überdetermination kommt.4 Die Quelle: Die Quelle R muss einen vom Subjekt S verschiedenen epistemischen Standort haben. Ein epistemischer Standort ist zunächst an eine Person gebunden. Allerdings stellt sich die Frage, ob und inwiefern es Fälle gibt, in denen a) Erinnerungen oder b) instrumentelles Wissen einem Subjekt Wissen aus zweiter Hand liefern können. Die Beantwortung dieser Frage ist in diesem Fall davon abhängig, ob a) ein Subjekt in Relation zu sich selbst eine Quelle mit einem abweichenden Standort darstellen kann und b) inwiefern der Besitz eines anderen epistemischen Standorts Bewusstsein voraussetzt. Die Beantwortung der Frage, inwieweit durch Instrumente, Computer oder intelligente Maschinen erworbenes Wissen Wissen aus zweiter Hand darstellt, 2 Fricker sieht dies ebenso. Vgl. Fricker 2006b, 235–240. 3 Siehe Korez 1997; Carter und Bondy 2019; Neta 2019 für eine Übersicht zur Basierungsrelation. 4 Siehe hierzu auch Bondy 2016.

Definition des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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hängt unter anderem davon, ob diese Geräte einen epistemischen Standort aufweisen können.5 Um mit Fällen von Wissen aus zweiter Hand im Falle von Erinnerungen umgehen zu können, kann man erlauben, dass die Quelle R und das Subjekt S sich im Einzelfall auf dieselbe Person beziehen können, solange R und S trotzdem noch unterschiedene Standorte kennzeichnen. Dies kann dann gegeben sein, wenn sich der Standort von R und S zeitlich unterscheiden und S keine domänenspezifische Evidenz mehr besitzt. Hierdurch kann im Falle bestimmter Erinnerungen Wissen aus zweiter Hand zugeschrieben werden, ohne zuzulassen, dass auch die gewöhnliche Sinneswahrnehmung in der Gegenwart eine Quelle R von Wissen im Sinne der Kriterien für Wissen aus zweiter Hand darstellen würde; denn dies würde die Unterscheidung von Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand wieder zunichtemachen. 3.2

Epistemische Folgen der Abhängigkeit von der Sprecherin und des Fehlens von domänenspezifischer Evidenz

Die epistemische Abhängigkeit von der Sprecherin und das Fehlen der domänenspezifischen Evidenz beim Besitzer von Wissen aus zweiter Hand haben weitreichende epistemische Konsequenzen. Da Wissen aus zweiter Hand nur herangezogen wird, wenn der Wahrheitswert einer Proposition vom eigenen epistemischen Standort aus nicht abschätzbar ist, wird Wissen aus zweiter Hand grundsätzlich von einem anderen epistemischen Standort aus vermittelt. Damit das Wissen transportiert werden kann, muss es in verarbeiteter Form, das heißt in propositionaler Form weitergegeben werden. Laut Graham, der als einer von wenigen Autorinnen einen weiten Begriff von testimonialem Wissen vertritt, besteht hierin der Hauptunterschied zwischen Quellen, die den Erwerb von Wissen aus erster Hand erlauben (Wahrnehmung, Introspektion, Gedankenlesen und logisches Denken) und testimonialem Wissen, das nur den Erwerb von Wissen aus zweiter Hand zulässt. Während erstere eine Extraktion, also eine Verarbeitung von Informationen, voraussetzen, erfolgt durch letztere eine Weitergabe bereits verarbeiteter Informationen.6 Diese Sichtweise sollte jedoch nicht mit der orthodoxen Unterscheidung zwischen generativen und konservierenden Wissensquellen verwechselt werden. Denn diese geht davon aus, dass Testimony generell kein neues Wissen 5 Für eine Annäherung von Wissen aus zweiter Hand und Wissen aus Instrumenten plädieren – aus unterschiedlichen Gründen – u.a. Sosa und Neges. Vgl. Sosa 2006; Neges 2018. 6 Vgl. Graham 2006, 105–106.

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Kapitel 3

generieren kann, was wieder auf eine enge Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand hinausliefe. Graham erklärt die intuitive Stimmigkeit der orthodoxen Unterscheidung damit, dass Quellen, die eine Extraktion von Informationen voraussetzen, in der Regel diejenigen Quellen sind, die Wissen generieren, während diejenigen Quellen, die Informationen weitergeben, in der Regel nur konservierend für Wissen wirken.7 Dies ist jedoch keine notwendige Folge der Unterscheidung, wie Lackeys Beispiel der kreationistischen Lehrerin8 und Grahams Weiterentwicklung des Falls im Beispiel Fossil9 zeigen. Auch sollte die Weitergabe von Informationen nicht mit der Weitergabe von Wissen verwechselt werden. Letztere würde die Zustimmung zu einem Transmissionsmodell für Wissen aus zweiter Hand einschließen, was nicht mit einem weiten Begriff von Wissen vereinbar ist.10 Eine der Hauptfolgen der epistemischen Abhängigkeit von der Sprecherin besteht also darin, dass Wissen aus zweiter Hand in verarbeiteter, bereits extrahierter Form vorliegt. Gegen dieses Kriterium kann eingewendet werden, dass jegliches Wissen, und daher auch die domänenspezifische Evidenz der Besitzerin von Wissen aus erster Hand, in propositionaler Form vorliegt.11 Daher sollte sich der Grad der Verarbeitung nicht allzu stark unterscheiden. Hier muss jedoch bedacht werden, dass das Vorliegen des Wissens und der domänenspezifischen Evidenz in propositionaler Form in keiner Weise ausschließen soll, dass dieses Wissen auf nicht-begrifflichen Erfahrungen und Verarbeitungsprozessen basiert. Diese Ebene eignet sich bloß nicht für einen direkten Vergleich von Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand. Alle Extraktionsprozesse haben aber gemeinsam, dass durch die Verarbei­ tung Information verloren geht: So gehen laut Millikan im Falle von Wahrnehmungswissen Informationen über die räumliche und zeitliche Relation des Beobachters zu den beobachteten Dingen verloren12. Laut Dretske gehen feinkörnige Detailinformationen verloren, wenn Informationen, die in der Sinneserfahrung in analoger Form vorliegen, in digitale Form konvertiert werden13 und Nørretranders geht davon aus, dass das Ergebnis jeder Rechnung eine Reduzierung an Informationen bedeutet: „Calculation is a method of getting rid of information in which you are not interested. You throw away what is

7 8 9 10 11 12 13

Vgl. Graham 2006, 120–121. Vgl. ##S. 13 in dieser Arbeit. Vgl. ##S. 22 in dieser Arbeit. Vgl. hierzu Kap. 2.2.2. Siehe hierzu Kap. 3.3.2. Vgl. Millikan 2004, 57–60. Vgl. Dretske [1981] 2003, 135–138.

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not relevant.“14 So gibt es beispielsweise bei einer Addition viele verschiedene Kombinationsmöglichkeiten von Zahlen, die zusammengerechnet dasselbe Ergebnis ergeben, während das Ergebnis selbst keine Informationen mehr darüber enthält, aus welchen Zahlen die Summe ursprünglich errechnet wurde.15 Die Verarbeitungsprozesse, die zum Verlust von Informationen führen, laufen sowohl auf der bewussten als auch auf der subpersonalen Ebene ab. Auch die Besitzerin von Wissen aus erster Hand kann daher nicht über all die Informationen verfügen, die theoretisch ihre Sinnesorgane erreichen. Für die Frage, inwiefern Wissen aus erster Hand seiner Besitzerin einen epistemischen Vorteil verschafft, sind daher diejenigen Informationen relevant, über die sie wenigstens in dispositionaler Form verfügen kann. Deren Umfang ist von den tatsächlich ablaufenden Verarbeitungsprozessen von Informationen und Wissen bei menschlichen Individuen abhängig und kann daher empirisch untersucht werden. Ich werde daher in diesem Kapitel Erkenntnisse aus der Kognitionswissenschaft heranziehen, um diese Verarbeitungsprozesse zu betrachten. Die Besitzerin von Wissen aus erster Hand wird, solange sie den Konversationsmaximen der Quantität und der Relevanz16 auch nur ein wenig folgt, nicht jegliche Evidenz, die sie für eine bestimmte Proposition besitzt, weitergeben. Das, was verlorengeht, sind Detailinformationen über die Rechtfertigung für die Proposition selbst und den exakten epistemischen Standort der Erstbesitzerin, die im Augenblick der Weitergabe redundant erscheinen. Tatsächlich beeinflusst dieser Wegfall an Informationen jedoch die Fähigkeit des Zweitbesitzers, das Wissen aus zweiter Hand in das Netz seines Wissens einzubetten. Da ich annehme, dass Wissen Evidenz für anderes Wissen darstellt, ist davon auszugehen, dass jegliches Wissen, das eine Person besitzt, durch ein Netzwerk an evidentiellen Verbindungen zusammengehalten wird.17 In einem solchen Netzwerk ist Redundanz ein wichtiger Faktor, um neues Wissen strukturell sinnvoll einzuordnen. Je schlechter diese Einordnung gelingt, desto isolierter ist das gewonnene Wissen. Dadurch können potentielle Defeater nicht gut eingeschätzt werden und das Wissen kann in Zukunft schlechter genutzt werden, um neue Sachverhalte zu verstehen. Diese negativen epistemischen Folgen, die sich aus dem Fehlen der domänenspezifischen Evidenz ergeben, möchte ich nun untersuchen.

14 15 16 17

Nørretranders 1999, 31. Vgl. Nørretranders 1999, 30–31. Siehe hierzu Grice 1993. Vgl. Williamson 2002, 204.

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Kapitel 3

3.2.1 Schwache strukturelle Einbettung von Wissen aus zweiter Hand Wenn eine Person Wissen aus zweiter Hand gewinnt, dann ist sie darauf angewiesen, dass ihr außerdem Informationen übermittelt werden, die eine direkte Einordnung der Dinge, über die sie Wissen erlangt, in das System ihrer Kenntnisse der Welt möglich machen. Diese Einordnung ist oft ausreichend, wenn Wissen aus zweiter Hand erworben wird, jedoch selten so vollständig, wie dies bei Wissen aus erster Hand der Fall wäre. Dies ist auch nicht verwunderlich, da eine vollständige Einordnung und Qualifizierung der Dinge, über die Wissen vermittelt wird, auch viele für den aktuellen Anlass unwichtige oder unwichtig erscheinende Informationen enthielte und somit zum Beispiel der Konversationsmaxime der Relevanz zuwiderliefe. Ich gehe davon aus, dass Wissen oft erfolgreich vermittelt wird, weil es gelingt, die Dinge, über die Wissen erlangt wird, ausreichend in das eigene Bezugssystem einzuordnen. Dass dies gelingt, liegt wahrscheinlich zum größten Teil daran, dass Menschen Informationen ähnlich verarbeiten und ähnliche Erfahrungen machen. Dies führt dazu, dass es oft gelingt, aus allen Informationen, die weitergegeben werden könnten, die für den Anlass wichtigen Informationen auszuwählen. Die Annahme, dass Wissen aus zweiter Hand eine schwache strukturelle Einbettung in das Netz des Wissensbesitzers aufweist, geht davon aus, dass propositionales Wissen grundsätzlich in Netzwerken angeordnet ist, die zwar bei verschiedenen Personen ähnlich genug sind, um Wissen weiterzugeben, sich jedoch trotzdem individuell unterscheiden.18 Diese Annahme stammt aus der Kognitionswissenschaft, wird jedoch von den Sozialwissenschaften geteilt und wird auch von Philosophinnen19 nicht bestritten.20 Ich werde diese Annahme im Folgendem mit Erkenntnissen aus der Kognitionswissenschaft näher erläutern und belegen. 3.2.1.1 Propositionale Netzwerke In der Kognitionswissenschaft wird u.a. versucht zu skizzieren, wie das Wissensnetz eines Subjekts, das das Wissen unterschiedlicher Aussagen sinnvoll miteinander verbindet, sich modellhaft darstellen lässt. Einen solchen Modellierungsversuch stellt die Annahme propositionaler Netzwerke dar. Im Rahmen der propositionalen Analyse dieser Netzwerke wird davon ausgegangen, 18 Vgl. Anderson 2015, Ch. 5. 19 In der Philosophie gibt es vor allem eine Debatte darum, wie weit die Bedeutung der Kohärenz für Wissen geht. Siehe hierzu z.B.  Olsson 2021 und Grundmann 2017, Kap.  5 für einen Überblick. Siehe Kornblith 1980; Bonjour 1985; Lehrer 1990; Davidson 1993 für einige der bekanntesten Vertreter erkenntnistheoretischer Kohärenztheorien. 20 Siehe z.B. Gottschalk-Mazouz 2007 für einen interdisziplinären Überblick.

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dass Menschen Wissen in Form von abstrakten Bedeutungseinheiten abspeichern. Diese Bedeutungseinheiten lassen sich Kategorien zuordnen, die untereinander vernetzt und hierarchisch organisiert sind. Verschiedene Studien zeigen hierbei, dass die kategoriale Organisation des Wissens die Art und Weise, wie Erfahrungen kodiert und erinnert werden, stark beeinflusst.21 Abbildung 4 zeigt, wie eine solche hypothetische propositionale Struktur aussehen kann.

Abb. 4

Illustration of the hypothetical memory structure for a 3-level hierarchy.22

Auch wenn es nicht einfach ist, die Existenz einer solchen Struktur in unserem Gehirn nachzuweisen, da es sich hier um eine Modellvorstellung handelt, scheint die Art und Weise, wie Informationen gespeichert und abgerufen werden, darauf hinzudeuten, dass vergleichbare Strukturen existieren. Einer der frühesten Nachweise fand mittels einer Studie statt, in der die Zeit überprüft wurde, die Probandinnen benötigen, um Aussagen wie „Ein Kanarienvogel ist gelb.“ oder „Ein Kanarienvogel ist ein Tier.“ oder „Ein Kanarienvogel hat eine Haut.“ zu verifizieren. Wenn das propositionale Wissen so aufgebaut wäre wie in Abbildung 4, dann wäre die Zeitspanne, die benötigt würde, um Satz 1 zu verifizieren, kürzer als die Zeitspanne, die benötigt wird, um Satz  2 zu verifizieren, dessen Richtigkeit zunächst aus dem übergeordneten Konzept23 Vogel 21 Vgl. Anderson 2015, Ch. 5 für eine Übersicht. 22 Collins und Quillian 1969, 241. 23 Ich verwende den Ausdruck Konzept, um eine individuelle kognitive Bedeutungseinheit zu kennzeichnen. Siehe hierzu Bergius 2022. „Der möglichen Abweichung der begrifflichen

116

Kapitel 3

hergeleitet werden muss. Noch länger würde es dauern, Satz 3 zu verifizieren, dessen Richtigkeit das begriffliche Wissen voraussetzt, dass ein Kanarienvogel ein Vogel und ein Vogel ein Tier ist. Collins und Quillian konnten nachweisen, dass Probandinnen, die im Schnitt 1310 Millisekunden benötigten, um Satz 1 zu bestätigen, tatsächlich 70 Millisekunden länger brauchten, um Satz  2 zu beurteilen und 160 Millisekunden länger brauchten, um Satz 3 zu bestätigen. Zusätzlich wurde die Abrufzeit stark dadurch beeinflusst, wie häufig Informationen zusammen abgerufen wurden. Collins und Quillian gehen davon aus, dass Wissen, das hierarchiehöheren Konzepten zugeordnet ist, auch direkt bei einem untergeordneten Konzept abgespeichert wird, wenn beide Aussagen häufig zusammen abgerufen werden.24 Dies zeigt, dass Wissen kognitiv sehr wahrscheinlich in Netzwerken organisiert ist. Der Ausdruck, dass eine Tatsache von einem bestimmten epistemischen Standort aus sichtbar ist, erscheint daher durchaus passend. Wenn eine begriffliche Tatsache nicht so gut sichtbar ist, ist sie wohl innerhalb der kognitiven Struktur eines Individuums nicht so abgespeichert, dass ihre Wahrheit offensichtlich ist. Dann wird entweder mehr Zeit zum Nachdenken benötigt oder die Schlussfolgerung kann gar nicht gezogen werden. Die Art und Weise, wie Wissen im Einzelnen vernetzt und kategorisiert ist, unterscheidet sich von Individuum zu Individuum. Collins und Quillian weisen darauf hin: A caution is in order here: Dictionary definitions are not very orderly, and we doubt that human memory, which is far richer, is even as orderly as a dictionary. One difficulty is that hierarchies are not always clearly ordered, as exemplified by dog, mammal, and animal. Subjects tend to categorize a dog as an animal, even though a stricter classification would interpose the category mammal between the two. A second difficulty is that people surely store certain properties at more than one level in the hierarchy. For example, having leaves is a general property of trees, but many people must have information stored about the maple leaf directly with maple, because of the distinctiveness of its leaf.25

These: Das Wissen von Individuen ist auf kognitiver Ebene in Netzwerken miteinander verknüpft, die sich individuell in ihrer Struktur unterscheiden und

24 25

Ordnungsstrukturen im Individuum von logischen Begriffen und Kategorien wird in der modernen Ps. dadurch Rechnung getragen, dass für Begriffe auch andere Bez. gebräuchlich sind: Schema, Konzept, Kognition, Konstrukt und gelegentlich auch Idee(idea). Später ist auch der unscharfe Begriff thematisiert worden. Begriff ist demnach eine kogn. Einheit, die nicht direkt durch die sinnliche Wahrnehmung gegeben ist, sondern Verarbeitung von Informationen voraussetzt.“ Bergius 2022. Vgl. Collins und Quillian 1969. Collins und Quillian 1969, 242.

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besser oder schlechter geeignet sein können, die Wahrheit einer bestimmten Aussage selbstständig zu bewerten. 3.2.1.2 Die Einbettung von begrifflichem Wissen aus zweiter Hand Aus der These der Vernetzung unseres Wissens wird ersichtlich, dass begriffliches Wissen aus erster Hand innerhalb des Netzwerks eines Individuums relativ gut mit anderem Wissen vernetzt sein muss, da es durch eine geeignete Vernetzung erst abgeleitet werden kann. Bei a priori erwerbbarem Wissen, das aus zweiter Hand stammt, muss das nicht vorausgesetzt werden. So kann es sein, dass eine Person die binomischen Formeln aus zweiter Hand kennt und anwenden kann, ohne sie zu verstehen oder herleiten zu können. Selbst wenn eine Expertin einem Laien im Detail erklärt, weshalb eine bestimmte begriffliche Wahrheit wahr sein muss, kann bei dem Laien eine Inkongruenz zwischen den verschiedenen kognitiven Konzepten entstehen, wenn das Wissen bei ihm anders in das Gesamtnetz eingebettet ist als bei der Expertin. Die Didaktik beschäftigt sich schon seit längerer Zeit intensiv mit Problemen, die dann entstehen, wenn Wissen aus zweiter Hand erworben wird, das kognitiv nicht ausreichend in vorhandene Strukturen eingebettet werden kann. Das so erworbene Wissen kann dann nicht gut genutzt werden, da es entweder in dysfunktionale oder unvollständige begriffliche Strukturen eingebaut wird oder zwischen den Konzepten einseitige Priorisierungen vorgenommen werden26. Ein weiters Problem entsteht, wenn schon Alltagskonzepte vorhanden sind, die nicht durch das aus zweiter Hand erworbene Wissen über wissenschaftliche Konzepte ersetzt werden, sondern weiterhin koexistieren. Es kommt dann zu einer Kompartmentalisierung von Konzepten. Mandel, Gruber u.a. beschreiben drei verschiedene Arten von Kompartmentalisierungen, die bei der unzureichenden strukturellen Einbettung von Wissen aus zweiter Hand auftreten können: Kompartmentalisierung von inkorrekten und korrekten Konzepten, Kompartmentalisierung von verschiedenen korrekten (Teil-)Konzepten und die Kompartmentalisierung von Symbolsystemen und realen Objekten.27 Die Beispiele für Unterschiede in der strukturellen Einbettung des Wissens zwischen Besitzerinnen von Wissen aus erster Hand und Besitzern von Wissen aus zweiter Hand sind vielfältig: So führt das Erlernen der Operation der 26 Vgl. Mandl, Gruber und Renkl 1993. 27 Compartmentalization of incorrect and correct concepts, compartmentalization of several correct concepts, compartmentalization of symbol systems and real world entities. Vgl. Mandl, Gruber und Renkl 1993, 162.

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Kapitel 3

Division in der Grundschule zunächst oft zu einem unvollständigen Begriff von Division, da die Schülerinnen davon ausgehen, dass die Division durch das Teilen in gleichgroße Teile grundsätzlich zu einer Verringerung der Quantität der Einzelteile führt. Dieser Begrifft ist für die beschränkte Zahl der Rechnungen, die die Schülerinnen bis dahin durchgeführt haben, durchaus richtig, stimmt jedoch nicht mehr, sobald es um die Bruchrechnung geht.28 In der Folge kommt es ebenfalls zu einer Kompartmentalisierung von Wissen. So beschreiben Dahlgren und Marton Universitätsstudentinnen, die nach einem Kurs in Mikroökonomie dennoch an einem Konzept des Preises als einer absoluten Eigenschaft eines Objekts festhielten. Die in dem Seminar aus zweiter Hand vermittelte Vorstellung des Preises als einer relativen Eigenschaft, die durch ein System determiniert wird, hatte diese Vorstellung nicht ersetzt, sondern bestand daneben als vom Alltagskonzept abgetrenntes, zusätzliches Wissen.29 In Biologie haben Schülerinnen noch in der 12. Klasse teilweise unvollständige Begriffe vom Vorgang der Zellteilung, bei denen nicht mitgedacht wird, dass eine Teilung zunächst zu einer Verkleinerung der Zellen führt, die anschließend durch Wachstum ausgeglichen werden muss. Dieselben Schülerinnen haben jedoch unabhängig vom Kontext des Biologieunterrichts eine Vorstellung von Teilung, die die Verkleinerung miteinschließt. Dass dieses begriffliche Wissen jedoch im Kontext der Zellteilung nicht angewendet wird, scheint daher zu kommen, dass das Wissen über Zellteilung als wissenschaftliches Wissen im kognitiven System der Schülerinnen streng vom lebensweltlichen Wissen über Teilungsvorgänge getrennt vorzuliegen scheint.30 Ebenso kann es vorkommen, dass verschiedene Begriffe, die eng miteinander verbunden sind, aus zweiter Hand als einzelne Wissenseinheiten erlernt werden und in verschiedenen Kompartimenten abgespeichert werden. Das auf diese Art erworbene Wissen kann dann nicht mehr so gut verwendet werden, um neue Schlüsse daraus abzuleiten. Empirische Studien weisen darauf hin, dass es systematische Unterschiede in der Art und Weise gibt, wie Expertinnen und Novizen neues domänenbezogenes Wissen in ihr Wissensnetz integrieren.31 Ich nehme an, dass diese Unterschiede in der Vernetzung des Wissens nicht nur zwischen Lehrerinnen 28 29 30 31

Vgl. Mandl, Gruber und Renkl 1993, 165–166. Vgl. Dahlgren und Marton 1978. Vgl. Caroline Jonas, Tanja Riemeier, Dirk Krüger 2004. Vgl. z.B.Anderson 2015, Kap.9; Molinari und Tapiero 2007; Tardieu, Ehrlich und Gyselinck 1992.

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und Schülerinnen und Expertinnen und Novizinnen bestehen. Es sollte davon ausgegangen werden, dass es solche Unterschiede in der Vernetzung des Wissens zwischen allen Individuen gibt. Das heißt auch, dass immer dann, wenn begriffliches Wissen aus zweiter Hand erworben wird, dieses Wissen zunächst in das eigene Wissensnetz integriert werden muss, wobei die Gefahr besteht, dass die Einbettung nicht optimal abläuft. Diese Gefahr wird umso größer, je weniger domänenspezifische Evidenz übermittelt wird, die helfen kann, das Wissen in das eigene propositionale Netzwerk einzubetten. Für begriffliches Wissen gilt daher, dass eine Person dieses durchaus aus zweiter Hand besitzen kann, ohne es vollständig zu verstehen und mit dem eigenen Wissen in Bezug setzen zu können. Zusammenfassung: Ergebnisse aus der Kognitionswissenschaft legen nahe, dass begriffliches Wissen aus zweiter Hand zunächst in die kognitive Struktur des Subjekts eingebettet werden muss. Diese Einbettung kann auch fehlerhaft oder unzureichend erfolgen. In diesem Falle kommt es zur Kompartmentalisierung von Wissen. Dies kann dazu führen, dass das so erworbene Wissen nicht in anderen Kontexten weiterverwendet werden kann. Der Erwerb derselben Aussage aus erster Hand würde hingegen eine korrekte Einbettung garantieren, da in diesem Falle das Wissen nur erworben werden kann, wenn es in der richtigen Art und Weise von der domänenspezifischen Evidenz abgeleitet wurde. 3.2.1.3 Die Einbettung von Wahrnehmungswissen Auch bei Wahrnehmungswissen aus zweiter Hand muss eine Einbettung in das Netz des Wissens des Besitzers zunächst geleistet werden. Dadurch, dass hier vom Besitzer von Wissen aus zweiter Hand nur eine bedingte Identifikation der Einzeldinge, über die Wissen erworben wird, erfolgen kann, ist der Zweitbesitzer von der Einordnung der Aussage der Erstbesitzerin in einen spezifischen Kontext abhängig32. Da beide jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit unterschiedliches Vorwissen besitzen, das auch unterschiedlich strukturiert ist, kann es immer wieder zu Identifikationsproblemen kommen. Dieses Problem kann zwar auch bei wahrnehmungsabhängigem Wissen aus erster Hand auftreten, ist hier jedoch weitaus geringer ausgeprägt, da dieses zuvor demonstrativ identifiziert wurde. Strawson formuliert dies folgendermaßen:

32

Siehe hierzu Kap. 3.1.4.

120

Kapitel 3 Ein Einzelding demonstrativ zu identifizieren, ist nicht immer einfach. Die Szenerie kann unübersichtlich sein, ihre Elemente in Unordnung […] Man macht leicht einen Fehler bei der Anwendung von Beschreibungen wie: ‚der zwölfte Mann von links in der fünfzehnten Reihe von vorn‘. Dennoch ist wenigstens eins bei der demonstrativen Identifikation klar: die Identität des Bereichs von Einzeldingen, des Ausschnitts aus dem Universum, innerhalb dessen die Identifikation vorzunehmen ist.33

Es gibt jedoch noch eine Reihe anderer Gründe, weshalb die Einordnung von Wissen aus zweiter Hand unvollständig sein kann. Viele der Ausdrücke, die wir verwenden, sind nicht trennscharf definiert, sind per se relative Begriffe oder sind abhängig von persönlichem Geschmack. Ob etwas groß, klein, schön, hässlich, voll oder leer oder ein Sandhaufen ist, ist kontextabhängig. Fast alle Orts-  und Zeitangaben, die in der Alltagssprache verwendet werden, sind kontextabhängig. Selten werden Zeit-  und Ortsbezeichnungen mithilfe der exakten Atomzeit und des geographischen Koordinatensystems übermittelt. Verschiedene Studien zeigen außerdem, dass Individuen einer Sprachgemeinschaft zwar ähnliche Kategorisierungen vornehmen, wenn es sich um typische Mitglieder der betreffenden Kategorien handelt, die Kategorisierungen zu den Randbereichen hin jedoch sehr stark variieren. In einer Studie von McCloskey and Glucksberg zu den Grenzen natürlicher Kategorien wurde beispielsweise gezeigt, dass die Teilnehmerinnen zwar übereinstimmten, dass Krebs eine Krankheit sei und Fröhlichkeit nicht, dass jedoch die Hälfte der Teilnehmerinnen einen Schlaganfall als Krankheit klassifizierte und die andere Hälft nicht. Weiterhin wurde ein Apfel übereinstimmend als Frucht und ein Huhn als Nichtfrucht klassifiziert, ein Kürbis hingegen wurde nur von der Hälfte der Teilnehmerinnen als Frucht klassifiziert, von der anderen Hälfte als Nichtfrucht34. Menschen stimmen also in der Frage, welche Dinge Mitglied einer bestimmten Kategorie sind, nicht immer überein. Eine Studie von Labov konnte außerdem zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass nichtklassische Vertreter einer Kategorie als Angehörige dieser Kategorie klassifiziert werden, zusätzlich vom Kontext abhängt. Labov legte den Probandinnen fünf verschiedene Zeichnungen von Tassen bzw. Schüsseln vor, bei denen das Verhältnis von Durchmesser zu Höhe kontinuierlich größer wurde. In einem neutralen Kontext sank die Zahl der Probandinnen, die die Objekte als Tasse klassifizierten, vom ersten bis zum letzten Objekt kontinuierlich, wobei jedoch erst das letzte Objekt mit einem Verhältnis von Durchmesser zu Höhe von 2,5 von einigen Probandinnen als Schüssel klassifiziert wurde. Wurden die Teilnehmerinnen gebeten, sich die Gegenstände in einem Essenkontext vorzustellen, in denen die Behältnisse mit Kartoffelbrei 33 34

Strawson und Scholz 2003, 23. Vgl. McCloskey und Glucksberg 1978.

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gefüllt sind, war die Zahl der Teilnehmerinnen, die die Objekte als Schüssel klassifizierten, deutlich höher. Schon die zweite Figur wurde von einigen Teilnehmerinnen als Schüssel bezeichnet, die vierte Figur wurde von 75  % der Teilnehmerinnen als Schüssel klassifiziert. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Gefäß als Schüssel klassifiziert wird, steigt also, wenn man das Behältnis mit fiktivem Kartoffelbrei füllt. Abbildung  5 zeigt die Klassifizierungen, die die Teilnehmerinnen in den unterschiedlichen Kontexten vornahmen.35

Abb. 5

Der Anteil der Teilnehmerinnen, die die Figuren 1–5 als Tasse oder als Schüssel bezeichneten, in Abhängigkeit des Verhältnisses von Durchmesser zu Höhe in einem neutralen Kontext (durchgezogene Linien) und in einem Essenskontext (gestrichelte Linien).36

Es scheint also interindividuelle Unterschiede in der Klassifizierung von Wahrnehmungswissen bei nicht typischen Vertretern von Begriffen zu geben. Diese Unterschiede halten in der Regel niemanden davon ab, Wahrnehmungswissen aus zweiter Hand zu erwerben. Dieses muss jedoch in die eigene kognitive Struktur integriert werden, und hierbei können Verschiebungen auftreten. Hinzu kommt, dass die Frage, ob eine Person einen Gegenstand oder ein Ereignis als typischen Vertreter einer Kategorie einstuft, ebenfalls variabel ist. Zwar gibt es auch kontextabhängige Unterschiede in der intraindividuellen Klassifizierung, jedoch weiß eine Person in der Regel in welchem Kontext sie selbst sich gerade befindet. In der Kognitionswissenschaft wird davon ausgegangen, dass wir unser Wissen über Kategorien mit Hilfe von Schemata abspeichern. Kategoriales Wissen ist dort in Form von Leerstellen (Slots) repräsentiert. Die typischen 35 Vgl. Labov 1973. 36 Labov 1973, 357.

122

Kapitel 3

Ausprägungen einzelner Attribute werden in diesen Slots als Default-Werte abgespeichert, die bei Bedarf ersetzt werden können, um mit Ausnahmefällen, zum Beispiel einem fensterlosen Haus, umzugehen.37 So könnte sich für ein Haus folgende unvollständige Schemarepräsentation ergeben: Haus: Oberbegriff: Gebäude Teile: Zimmer Material: Holz, Stein Funktion: Wohnraum des Menschen Form: rechteckig, dreieckig Größe: zwischen 10 und 1.000 Quadratmetern38

Schemata repräsentieren also Konzepte in Form von Oberbegriffen, Teilen und anderen Zuweisungen von Ausprägungen zu Attributen.39 Die meisten Menschen gehen davon aus, dass ein Objekt die Default-Werte seiner Kategorie aufweist, solange sie nicht explizit etwas anderes feststellen. Die Organisation des Wissens in Schemata beeinflusst dabei stark die Art und Weise, wie Erfahrungen enkodiert und erinnert werden.40 Dass dies unreflektiert zu Stereotypisierung, dem Entstehen von Vorurteilen und Diskriminierung führen kann, ist ein bekanntes Thema der Sozialwissenschaften. Für diese Arbeit ist jedoch von Bedeutung, dass es aus kognitiver Sicht sehr wahrscheinlich ist, dass unser Wissen mithilfe von Schemata enkodiert wird, deren Organisation sich von Person zu Person unterscheiden kann. Da eine Person, die Wissen aus zweiter Hand erhält, in der Regel nicht genau weiß, wie das Wissen, das sie erwirbt, ursprünglich in die kognitive Struktur der Sprecherin eingebettet war, ist davon auszugehen, dass dieses Wissen aus zweiter Hand beim Hörer intern schlechter vernetzt sein wird. Dieser Effekt ist umso stärker, je isolierter das Wissen ist, das weitergegeben wurde. Die epistemischen Nachteile von stark isoliertem Wissen aus zweiter Hand wurden in der Philosophie von Lackey beschrieben und werden Thema des vierten Kapitels sein. Die Vollständigkeit, mit der die Dinge, über die Wissen aus zweiter Hand vermittelt wird, charakterisiert werden, ist hierbei einerseits vom Kontext abhängig und kann sich mit diesem ändern, und ist andererseits eine Frage der subjektiven Bewertung. Daher kann Wissen aus zweiter Hand in der Regel umso besser in das eigene Wissensnetz eingebettet werden, je besser der epistemische Standort der Sprecherin eingeschätzt werden kann. So kann 37 38 39 40

Vgl. Anderson 2015, 112–113. Anderson 2015, 113. Vgl. Anderson 2015, 112–114. Vgl. Anderson 2015, 109–110, 113–114.

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ich mit Sicherheit sagen, dass meine Tochter, wenn sie mir sagt, sie hätte das größte landlebende Säugetier im Zoo gesehen, von einer Giraffe spricht und nicht von einem Elefanten. Bei anderen Kindern kann ich das nicht so genau abschätzen. Noch schwieriger ist es für den Historiker, die Aussage eines Geistlichen aus dem Mittelalter zu bewerten, der angibt, eine Erfahrung gemacht zu haben, die eine klare Evidenz für die Existenz Gottes sei. Es ist nämlich gut möglich, dass dieser Mann tatsächlich eine bestimmte Erfahrung gemacht hat, nur würde diese Erfahrung nach dem heutigen Verständnis von Evidenz wahrscheinlich eher nicht als klare Evidenz bezeichnet werden. Auch die sogenannte coverage-reliability41, die Goldberg in den epistemischen Diskurs einführt, ist maßgeblich davon abhängig, dass Personen ähnliche Dinge als normal oder unnormal und als erzählenswert bewerten. So ist davon auszugehen, dass Personen dazu tendieren, bei der Vermittlung von Beobachtungswissen über Objekte oder Ereignisse selektiv eher diejenigen Beobachtungen weiterzugeben, die nicht den Erwartungen entsprechen. Wenn eine Person also Wissen über ein Haus oder einen Vogel weitergibt, kann der Zuhörer so lange davon ausgehen, dass es sich um ein durchschnittliches Haus und einen durchschnittlichen Vogel handelt, bis die Person etwas anderes kenntlich macht. Dies trifft jedoch nur zu, solange beide Personen Schemata mit ähnlichen Default-Werten besitzen.42 These: Wissen aus zweiter Hand ist Wissen, das ursprünglich in eine andere kognitive Struktur eingebettet war als in das Wissensnetz des Zweitbesitzers. Daher muss eine Einordnung in ein Bezugssystem, das dieses Wissen mit anderem Wissen über die Außenwelt und mit Wissen über logische und begriffliche Abhängigkeiten verbindet, zunächst geleistet werden. Dies führt dazu, dass 41

42

Goldberg führt die coverage-reliability als eine Inferenz aus der Annahme: „Falls das wahr wäre, hätte ich davon gehört.“ ein. Er geht davon aus, dass auch das Ausbleiben bestimmter Nachrichten ein verlässliches Zeichen sein kann. Dies gilt für alle Aussagen, von denen angenommen werden kann, dass ihr Zutreffen sofort zu einer entsprechenden Nachricht führen würde, die ein normales Mitglied der Gesellschaft über verschiedene Kanäle mitbekommen würde. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass die deutsche Kanzlerin noch lebt, solange niemand etwas Gegenteiliges gehört hat. Ebenso ist das Ausbleiben des Anrufs der Tochter, die in einer anderen Stadt lebt und versprochen hat, dass sie anruft, wenn sie Hilfe braucht, ein Zeichen, dass sie im Moment keine Hilfe braucht. Vgl. Goldberg 2010, Ch. 6. Auf ähnliche Weise können Stereotypisierungen zutage treten. Wenn eine Person im Gespräch als schwarz oder Tochter von homosexuellen Eltern charakterisiert wird, obwohl andere Personen nicht als weiß oder Tochter heterosexueller Eltern hervorgehoben werden, kann davon ausgegangen werden, dass die Default-Werte der Kategorien Person und Tochter weiße Hautfarbe und Kind heterosexueller Eltern beinhalten.

124

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dieses Wissen eine schwächere strukturelle Einbettung in Netz des Wissens des Zweitbesitzers aufweist. 3.2.2 Wissen aus zweiter Hand wird in verarbeiteter Form weitergegeben Die Frage, wie gut es dem Zweitbesitzer gelingt, das Wissen in sein eigenes Wissensnetz einzuordnen, ist auch davon abhängig, wie viele Details bzw. wie viel domänenspezifisches Wissen über das bloße Wissen der Proposition hinaus weitergegeben werden. Laut Grice ist es eine allgemeine Forderung normaler Konversationen den Gesprächsbeitrag nicht informativer als für den Gesprächszweck nötig zu machen.43 Unser Gehirn kodiert Wissen jedoch sehr stark redundant.44 Diese Redundanz hat mehrere sinnvolle Effekte. So können Fehler leichter erkannt und korrigiert werden45, das Wiederauffinden bzw. das Erinnern von Wissen wird erleichtert46 und Interferenzen mit anderem Wissen werden drastisch reduziert47. Wissen aus zweiter Hand wird von einem epistemischen Standort zu einem anderen epistemischen Standort transportiert. Daher liegt es immer in schon verarbeiteter Form vor. Das heißt, dass auf die eine oder andere Weise Informationen extrahiert wurden, die dann in propositionaler Form weitergegeben werden können. Dies ist laut Graham das entscheidende Distinktionsmerkmal zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand; bei Wissen aus zweiter Hand hat eine andere Person die Extraktion der Informationen bereits übernommen.48 Diese Annahme lässt sich auf empirischer Ebene mit Ergebnissen aus der Kognitionswissenschaft stützen, die ich im Folgenden erläutern werde. Diese Ergebnisse stützen den Schluss, dass die Weitergabe von Wissen in verarbeiteter Form eine zentrale Eigenschaft von Wissen aus zweiter Hand ist. Die Verarbeitung äußert sich auf der Ebene des wahrnehmungsabhängig erworbenen Wissens und auf der Ebene des wahrnehmungsunabhängig erworbenen Wissens im Detail unterschiedlich. Im Falle von wahrnehmungsabhängig erworbenem Wissen wird die zugrunde liegende Sinneswahrnehmung, und daher Wissen über mögliche Details und dispositionales Wissen, nicht weitergegeben. Im Falle von wahrnehmungsunabhängig erwerbbarem Wissen wird die dem Wissen zugrunde liegende Argumentationsstruktur oft nicht vollständig weitergegeben. Beide Vorgänge haben auf einer übergeordneten 43 44 45 46 47 48

Vgl. Grice 1993, 26. Vgl. Anderson 2015, 48. Vgl. Anderson 2015, Ch. 1. Vgl. Anderson 2015, 141. Vgl. Anderson 2015, 160–161. Vgl. Graham 2006.

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Ebene den Effekt, dass Informationen verloren gehen können, die zu einem besseren Verständnis und einer besseren Einordnung in die Wissensstruktur des Subjekts führen würden. Natürlich werden all diese Informationen auch bei der Erstbesitzerin über die Zeit hinweg nicht vollständig erinnert. Hier hat jedoch in der Regel bereits eine Einordnung in das Wissensnetz des Subjekts stattgefunden, bevor das Vergessen von Details einsetzt.49 Der Informationsverlust, der von Wissen aus erster Hand zu Wissen aus zweiter Hand auftritt, ist ein gradueller Prozess. Würde es gelingen, alle dem Wissen zugrunde liegenden Erfahrungen und Argumente sowie ihre strukturelle Einbettung mit zu vermitteln, so besäße der Hörer kein Wissen aus zweiter Hand mehr, sondern aus erster Hand.50 Bei a priori erwerbbarem Wissen scheint dies gelegentlich der Fall zu sein. Hier kommt es zu Situationen, in denen die Schülerin über die Lehrerin hinauswächst und beispielsweise eine mathematische Aussage genauso gut oder besser herleiten kann als die Lehrerin selbst. Bei genauerer Betrachtung muss angenommen werden, dass in allen diesen Fällen nicht nur Wissen aus zweiter Hand erworben wurde, sondern dieses Wissen in einer Eigenleistung so in das Wissensnetz der Besitzerin eingebettet wurde, dass entsprechende Aussagen selbstständig abgeleitet werden konnten. Wenn dies der Fall ist, sollte jedoch auch davon ausgegangen werden, dass die Schülerin dies konnte, weil sie ebenso viel oder sogar mehr und besser vernetztes domänenspezifisches Wissen als ihre Lehrerin besitzt. Die Basis des Wissens, die ursprünglich aus zweiter Hand erworben wurde, wird dann also durch Wissen aus erster Hand abgelöst und der ehemaligen Schülern sollte Wissen aus erster Hand zugeschrieben werden.51 Bei Wahrnehmungswissen gestaltet sich die Sachlage etwas komplizierter. Die nicht-begriffliche Wahrnehmungserfahrung, auf der das Wissen basiert, wird offensichtlich nicht weitergegeben. Diese nicht-begriffliche Wahrnehmungserfahrung ist jedoch nicht identisch mit der domänenspezifischen Evidenz der Besitzerin aus erster Hand, denn diese sollte sich grundsätzlich propositional formulieren lassen. Trotzdem weist der Besitz der nichtbegrifflichen Wahrnehmungserfahrung und die eigenständige Extraktion der 49 50

51

Bei einem starken Verlust von Detailwissen stellt sich die Frage, ob die betreffenden Gedächtnisinhalte noch als Wissen aus erster Hand bezeichnet werden können. Vgl. hierzu Kap. 5.2. Dies ist jedoch beinahe unmöglich, da dies voraussetzen würde, dass die kognitiven Strukturen von Sprecherin und Hörer in den relevanten Bereichen nahezu identisch sind, um die unveränderte Übertragung derselben strukturellen Einbettung inferenzlos zu gewährleisten. Siehe hierzu auch Kap. 3.4.2.

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Kapitel 3

Informationen einige Vorteile für die Besitzerin von Wissen aus erster Hand auf, die bis auf die Ebene der propositionalen Evidenz einwirken. Ich möchte im Folgenden betrachten, welcher epistemische Nutzen sich für die Besitzerin von Wissen aus erster Hand dadurch ergibt, dass sie selbst die Verarbeitung der Informationen vornimmt. Ich werde mich hierbei vorwiegend auf wahrnehmungsabhängig erworbenes Wissen konzentrieren. Die Prozesse, die bei wahrnehmungsunabhängig erworbenem Wissen auftreten, werde ich ausführlicher in Kapitel 3.4.2 untersuchen. 3.2.2.1 Aktive Steuerung des Prozesses der Extraktion von Informationen Bei Wissen aus erster Hand wird der Prozess der Extraktion von Informationen über die Umwelt von der Wissensbesitzerin selbst gesteuert. Dieser Prozess besteht zu großen Teilen aus dem Filtern und Reduzieren von Informationen. Abbildung 6 zeigt, wie viele Bits/s an Informationen über die sensorischen Kanäle ankommen und wie viele Bits/s bewusst verarbeitet werden können. Die Menge an Informationen, die an den afferenten Nervenenden ankommt, ist sehr viel größer als die Menge, die bewusst verarbeitet werden kann.52 Bei einer solch starken Reduktion von Information wird deutlich, dass die Frage, welche Informationen aussortiert werden, nicht nebensächlich ist, sondern einen erheblichen Unterschied ausmachen kann. Zwar läuft der Prozess der Sinneswahrnehmung zu großen Teilen automatisiert und bei den meisten Menschen ähnlich ab, trotzdem gibt es starke interindividuelle Unterschiede, die durch Vorlieben, Gewohnheiten und subjektives Interesse entstehen. Manchen Personen entgeht kein Hund, der irgendwo herumläuft, weil sie Hundeliebhaber sind, anderen Personen entgeht kein ungewöhnliches Auto oder Fahrrad. Manche Personen haben ein ausgezeichnetes räumliches Vorstellungsvermögen, wieder andere können Texte in kürzester Zeit querlesen. Wenn von zwei Personen, die nebeneinanderstehen, die eine Person in dem Vogel, der über ihnen kreist, eine Dohle erkennt und die andere nur einen Vogel, kann dies an der unterschiedlichen Sehkraft beider Personen liegen. Es kann jedoch auch sein, dass die eine Person nicht genügend begriffliches Wissen besitzt, um zu wissen, auf welche Details sie achten müsste, um eine Dohle identifizieren zu können. Diese persönlichen Unterschiede in der Informationsverarbeitung können bedingt aktiv beeinflusst werden, zum Beispiel durch Training, Gewöhnungs-  und Lerneffekte. Eine halbwegs reflektierte Person, die Wissen aus erster Hand besitzt, hat gegenüber dem Besitzer von Wissen aus zweiter Hand den Vorteil, dass sie um ihre individuellen Vorlieben, Stärken, Schwächen und Voreinstellungen weiß und mögliche 52 Vgl. Zimmermann 1986, 114–115.

Definition des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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Verzerrungseffekte bei ihrem Wissen berücksichtigen kann. Sie kann also besser einschätzen, was sie möglicherweise nicht weiß, weil sie dazu tendiert, bestimmte Dinge eher zu übersehen als andere. Die nachfolgende Abbildung illustriert, dass die absolute Menge an Informationen, die eine Person kognitiv verarbeiten kann, weit unter der Menge an Informationen liegt, die über die verschiedenen sensorischen Systeme an den afferenten Nervenbahnen ankommt. Wahrnehmung geht daher mit einer sehr starken Filterleistung und Reduktion an Informationen einher.

Abb. 6

Vergleich des neuronalen Informationsflusses (Kanalkapazität) mit dem der bewussten Wahrnehmung. Auf der linken Seite der Tabelle sind Schätzungen der absoluten Anzahl von Rezeptoren und afferenten Neuronen für die fünf sensorischen Systeme abgebildet. Die rechte Seite stellt den maximalen Informationsfluss auf der Ebene der bewussten Wahrnehmung dar – diese Kanalkapazität wird durch psychophysische Experimente bestimmt.53

Zusätzlich zu den mehr oder weniger stabilen persönlichen Unterschieden ist die Gerichtetheit der Aufmerksamkeit einer der stärksten Einflussfaktoren auf die Wahrnehmung. Eines der bekanntesten Beispiele für den starken Einfluss der Aufmerksamkeitssteuerung ist ein Experiment von Simons und Chabris. Dort wurden Probandinnen gebeten, ein Basketballspiel zwischen Mitspielern mit weißer und mit schwarzer Kleidung zu verfolgen. Eine Gruppe sollte die Anzahl der Ballkontakte der weiß gekleideten Mitspieler zählen, während eine andere Gruppe die Anzahl der Ballkontakte der schwarz gekleideten Gruppe zählen sollte. Während des Spiels spazierte eine Person in einem schwarzen Gorillakostüm durch die Halle. Die Probandinnen waren jedoch so damit beschäftigt, die Anzahl der Ballberührungen zu zählen, dass nur 8  % der Teilnehmerinnen, die die weiß gekleideten Spieler beobachten sollten, den Gorilla überhaupt wahrnahmen. Immerhin 68 % der Teilnehmerinnen, die die schwarz gekleideten Spieler beobachteten, bemerkten den Gorilla. Personen, die das Video jedoch nur passiv beobachteten, übersahen den Gorilla nie.54 53 Zimmermann 1986, 115. 54 Vgl. Simons und Chabris 1999.

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Kapitel 3

Dies zeigt den massiven Einfluss der Wahrnehmung auf die Aufmerksamkeit. Obwohl die Aufmerksamkeitssteuerung von unbewussten Prozessen beeinflusst wird55, lässt sie sich auch bewusst steuern. Die Besitzerin von Wissen aus erster Hand, hat daher schon im Augenblick des Wissenserwerbs mehr Möglichkeiten der Steuerung. Außerdem kann sie im Nachhinein angeben, worauf ihre Aufmerksamkeit gerichtet war, und kann daraus Schlüsse ziehen, was ihr vermutlich entgangen sein könnte und was sie nur ungenau wahrgenommen hat. These: Die Extraktion von Informationen aus der Umwelt geht mit einer enormen Reduktion von Details einher. Die Besitzerin von Wissen aus erster Hand kann in diesen Filterprozess zum Teil bewusst steuernd eingreifen und kann im Nachhinein besser angeben, welche Details wahrscheinlich verloren gegangen sind. 3.2.2.2 Verlust von Detailinformationen Die Besitzerin von Wissen aus erster Hand verfügt auch im Falle der Wahrnehmung über weiteres domänenspezifisches Wissen, das in der Regel nicht vollständig weitergeben wird. Unser sensorisches System arbeitet insofern redundant, als Informationen in der Regel über verschiedene Kanäle gleichzeitig kodiert werden.56 Eine Person, die einen Baum vor sich stehen sieht, kann diesen oft auch riechen und seine Blätter rascheln hören, und wenn sie nah genug herangeht, kann sie ihn fühlen. Diese Redundanz im Nervensystem hat zunächst den Vorteil vor Störungen zu schützen.57 Die Person, die einen Baum vor sich stehen sieht, dessen Blätter jedoch nicht vom starken Wind um sie herum bewegt werden, besitzt einen Hinweis darauf, dass an der Situation etwas nicht stimmt; vielleicht handelt es sich um ein Hologramm von einem Baum. Gemessen an der Erstbesitzerin von Wissen, die den Baum gesehen, gerochen und gefühlt hat, verfügt der Zweitbesitzer über weniger domänenspezifisches Detailwissen. Die Person, die von der Existenz eines Baumes vor einem bestimmten Haus aus erster Hand weiß, besitzt in der Regel determiniertes Wissen, das über die Proposition „Vor dem Haus steht ein Baum.“ hinausgeht. Sie kann in der Regel ungefähr sagen, wie groß der Baum ist, was er für Blätter hat, ob er gerade Früchte trägt und Ähnliches. Sie kann sehr wahrscheinlich ungefähr angeben, vor welchem Fenster des Hauses der Baum steht und ob 55 Vgl. Anderson 2015, 77. 56 Vgl. Zimmermann 1986, 114–115. 57 Vgl. Zimmermann 1986, 114.

Definition des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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er das Haus überragt. Sollte eine Person keines dieser Details nennen können, würden wahrscheinlich starke Zweifel aufkommen, on ihr überhaupt Wissen dieser Aussage zugeschrieben werden sollte. Es ist jedoch nicht verwunderlich, wenn eine Person, die diese Aussage aus zweiter Hand weiß, keines dieser Details nennen kann. Dann wurde ihr wahrscheinlich einfach nicht mehr Wissen übermittelt. Laut Dretske kommt dieser Unterschied durch die unterschiedliche Kodierung unserer Wahrnehmung und unserer Sprache zustande. Ein Bild enthält notwendigerweise mehr und stärker determinierte Informationen als ausgedrückt werden können, wenn die wichtigsten Sachverhalte, die das Bild zeigt, sprachlich wiedergegeben werden. Denn unser Wahrnehmungsinhalt sei analog kodiert.58 Der in propositionaler Form transportierte Sachverhalt hingegen liege in digitaler Form vor, d.  h., dass er außer der Information, die in sprachlicher Form weitergegen wird, keine weiteren Informationen über den Sachverhalt transportiert.59 Dafür liegt dieser Sachverhalt dann in begrifflicher Form vor und kann so innerhalb des Wissensnetzes eines Individuums flexibel weiterverwendet werden. Nach Dretske ist dieser Prozess der Versprachlichung, bzw. der begrifflichen Betrachtung grundsätzlich eine Angelegenheit des Ignorierens von Unterschieden (da sie für eine zugrunde liegende Gleichheit irrelevant sind), des Übergangs vom Konkreten zum Abstrakten, des Übergehens vom Besonderen zum Allgemeinen.60 Es ist nicht verwunderlich, dass bei diesem Vorgang Detailinformationen verloren gehen. Da Wahrnehmungswissen aus erster Hand auf der Sinneswahrnehmung basiert, kann davon ausgegangen werden, dass die Besitzerin von Wissen aus erster Hand mehr Detailwissen besitzt als der Besitzer von Wissen aus zweiter Hand. Theoretisch könnte die Erstbesitzerin alle diese Details auch sprachlich weitergeben – da sie ja in der Lage sein sollte, sie in propositionaler Form zu formulieren, solange ihr Wissen über diese Details zugeschrieben werden soll. Allerdings entspricht das nicht unserer sprachlichen Praxis. Vielmehr wird die Erstbesitzerin nur diejenigen Details weitergeben, die ihr in dem jeweiligen Kontext relevant erscheinen. Es wäre allerdings auch extrem schwierig, die gesamten Informationen, die in einem komplexen Wahrnehmungsinhalt erfasst werden, propositional zu formulieren. Dretske weist hierauf hin:

58 59 60

Vgl. Dretske [1981] 2003, 137. Vgl. Dretske [1981] 2003, 137. Diese Ansicht zur unterschiedlichen Kodierung des Inhalts der Sinneswahrnehmung und dem Gehalt propositionaler Aussagen vertritt ebenso Grundmann. Vgl. Grundmann 2003, 299–300. Dretske [1981] 2003, 142. Meine Übersetzung.

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Kapitel 3 Die Informationen, die ein Bild in digitaler Form in sich trägt, können nur durch einen enorm komplexen Satz wiedergegeben werden, ein Satz, der jedes Detail der Situation, über die das Bild Informationen trägt, beschreibt. Zu sagen, dass ein Bild mehr als tausend Worte sagt, bedeutet nur anzuerkennen, dass der Satz, der benötigt würde, um all die Informationen, die in einem Bild enthalten sind, sprachlich auszudrücken, zumindest für die meisten Bilder sehr komplex sein müsste. Die meisten Bilder besitzen einen Detailreichtum und einen Grad an Spezifität, der es fast unmöglich macht, eine wenigstens näherungsweise angemessene sprachliche Wiedergabe der gesamten Informationen, die das Bild in digitaler Form trägt, zu erstellen.61

Dies bedeutet nicht, dass es theoretisch nicht möglich wäre, einen solchen Satz zu formulieren.62 Es ist bloß nicht praktikabel, weshalb die Besitzerin von Wissen aus erster Hand in der Regel selbst entscheidet, welche Details sie propositional formuliert und weitergibt. Der Besitzer von Wissen aus zweiter Hand kann grundsätzlich nur Wissen über diejenigen Details erlangen, die die Sprecherin zur Weitergabe ausgewählt hat. Diese Einschränkung gilt jedoch nicht für die Besitzerin von Wissen aus erster Hand selbst. Ihr kann auch Wissen über diejenigen Details zugesprochen werden, die sie nicht aktiv propositional formuliert hat, da Wissen ein Zustand und keine Aktivität ist.63 Dies bedeutet natürlich nicht, dass das Wissen der Erstbesitzerin mit dem gesamten Inhalt ihrer Sinneserfahrung gleichgesetzt werden kann. Man kann der Besitzerin von Wissen aus erster Hand aber Wissen über diejenigen bewusst wahrgenommenen Details ihrer Sinneserfahrung, die sie grundsätzlich propositional formulieren könnte, zuschreiben. These: Es kann davon ausgegangen werden, dass eine Menge Detailwissen verlorengeht, wenn eine Person, die Wahrnehmungswissen aus erster Hand besitzt, auswählt, was ihr am wichtigsten erscheint und dieses Wissen in propositionaler Form weitergibt. 3.2.2.3 Verlust von dispositionalem Wissen Ergebnisse aus der Kognitionswissenschaft legen außerdem nahe, dass Menschen in der Lage sind, sich geistige Bilder vorzustellen, die ähnliche Eigenschaften aufweisen wie reale Wahrnehmungseindrücke. Diese Bilder können nachträglich in der Vorstellung gescannt und auch räumlich rotiert werden. So sind Menschen in der Lage, in der Erinnerung die Anzahl der Fenster eines Hauses zu zählen oder eine geometrische Figur um eine räumliche Achse zu 61 62 63

Dretske [1981] 2003, 138. Vgl. Dretske [1981] 2003, 138. Hierzu Williamson: „When one is walking, one normally knows that one is walking, without considering the proposition. Knowing is a state, not an activity.“ Williamson 2002, 199.

Definition des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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rotieren.64 Dies ist jedoch in der Regel nur möglich, wenn die Personen die betreffenden Dinge aus erster Hand wahrgenommen haben. Das Wissen, das aus solchen mentalen Prozessen gewonnen werden kann, ist sicherlich nicht im Moment der Wahrnehmung vorhanden. Es erfordert eine zusätzliche Aktion. Auch ein Begriff von Wissen als Zustand kann dieses nachträglich gewonnene Wissen nicht abdecken. Davon auszugehen, dass Wissen aus erster Hand immer mit dem Besitz von mentalen Bildern einhergehen muss, scheint jedoch auch nicht zu stimmen. Außerdem scheinen mentale Bilder oft so unklar zu sein, dass es zum Beispiel nicht gelingt, die ungefähre Anzahl der Streifen des Tigers im Zoo in der Vorstellung abzuschätzen.65 Was daher für die Unterscheidung zwischen Wissen aus erster und aus zweiter Hand interessant ist, ist das zusätzliche Wissen, das aus solchen mentalen Bildern gewonnen werden kann. Dieses Wissen kann als dispositionales Wissen bezeichnet werden66. Dispositionales Wissen kann nicht einfach mit dem gesamten Inhalt der Sinneswahrnehmung gleichgesetzt werden: Eine Person, die einen Tiger im Zoo gesehen hat, hat einen Tiger mit einer definiten Anzahl an Streifen gesehen. Wenn sie im Nachhinein auf Nachfrage die ungefähre Anzahl der Streifen angeben kann, dann besaß sie dieses Wissen vorher als dispositionales Wissen – kann sie dies jedoch nicht, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass das Wissen in dispositionaler Form vorlag. Die Besitzerin von Wahrnehmungswissen aus erster Hand besitzt im Gegensatz zum Besitzer von Wissen aus zweiter Hand oft zusätzliches dispositionales Wissen. Auch die Besitzerin von a priori erwerbbarem Wissen aus erster Hand besitzt in der Regel mehr dispositionales Wissen bezüglich der Propositionen, die sie weiß, als ein Zweitbesitzer dieses Wissens. Damit sie ihr Wissen überhaupt herleiten konnte, muss die betreffende Person über den Besitz verschiedener angrenzender Begriffe verfügen, der vollständig genug ist, um die entsprechenden Schlüsse zu ermöglichen. Da diese Begriffe logisch miteinander verknüpft sind, wird es auch möglich sein, mit ihrer Hilfe weiteres 64 Vgl. Anderson 2015, Ch. 4. 65 Für den Philosophen Dennett ist dies ein Grund dafür, davon auszugehen, dass mentale Bilder bloß epiphenomenalen Charakter haben. Vgl. Dennett 1972, 135–137. 66 Ich möchte hier das, was Audi als „dispositional belief“ bezeichnet, ebenso einschließen wie das, was Audi als „Disposition to believe“ bezeichnet. „The suggested difference between a dispositional belief and a disposition to believe is in part that between accessibility of a proposition by a retrieval process that draws on memory and its accessibility only through a belief formation process. Our unwitting offender cannot be said to remember, or for that matter to have forgotten, that he might be offending, or even to have this proposition preserved in his memory; he hasn’t realized the point at all.“ Audi 2015, 13.

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Kapitel 3

Wissen abzuleiten. So kann davon ausgegangen werden, dass eine Person, deren Zahlbegriffe vollständig genug sind, um zu wissen, dass 1.000 kleiner als 10.000 ist, auch in der Lage ist, aus den vorhandenen Begriffen abzuleiten, dass das Ergebnis von 534+789 kleiner als 10.000, aber größer als 1.000 ist. Insofern lässt sich zwar die Unterscheidung von Audi zwischen Testimony und Wahrnehmung – die besagt, dass nur Testimony notwendigerweise in semantischer und begrifflicher Form vorliege, während dies für die Wahrnehmung nicht gelte67 – nicht auf die Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand anwenden. Denn auch Wissen aus erster Hand liegt als Wissen notwendigerweise in begrifflicher Form vor. Durch seine Genese aus der Wahrnehmung ist Wahrnehmungswissen aus erster Hand jedoch in der Regel determinierter und detailreicher als Wissen aus zweiter Hand. Wahrnehmungsunabhängiges Wissen aus erster Hand ist in der Regel ebenso detailreicher, da die Besitzerin aus erster Hand die Argumentationsstruktur für dieses Wissen selbst besitzt. These: Die Besitzerin von Wissen aus erster Hand besitzt im Gegensatz zur Besitzerin von Wissen aus zweiter Hand zusätzliches dispositionales Wissen, das bei der Transmission von Wissen nur zum Teil vermittelt wird. 3.3

Einflussfaktoren auf den epistemischen Standort

Es gibt verschiedene Arten und Weisen, auf die eine Person epistemisch besser platziert sein kann. Fricker unterscheidet zwischen Fällen, in denen der relative Laie nicht dieselbe Evidenz besitzt wie die Expertin und Fällen, in denen beide dieselbe Evidenz besitzen, die relative Expertin jedoch überlegene kognitive Kapazitäten bezüglich der Bewertung einer bestimmten Proposition besitzt.68 Sie verwendet diese Unterscheidung, um zwischen Fällen von schwacher und starker Unterordnung (weak deference / strong deference) der Meinung des Laien unter die Überzeugung einer Expertin zu differenzieren.69 Fricker geht davon aus, dass in Situationen in denen ein Laie die Überzeugung einer Expertin übernimmt, eine schwache Unterordnung des Laien unter die Überzeugung der Expertin auftritt, solange beide Personen nicht denselben Zugang zur Evidenz besitzen – während in Fällen, in denen Expertin und Laie dieselbe Evidenz besitzen, eine starke Unterordnung erfolgt, wenn der 67 Audi 2013, 512. 68 Vgl. Fricker 2006b, 236–237. 69 Vgl. Fricker 2006b, 233.

Definition des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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Laie seine eigene Überzeugung zugunsten der Überzeugung der Expertin aufgibt.70 Ich denke jedoch, dass die Unterscheidung zwischen Fällen, in denen zwei Personen nicht dieselbe Evidenz besitzen und Fällen, in denen beide dieselbe Evidenz besitzen, eine der beiden Personen jedoch überlegene kognitive Kapazitäten bezüglich der Bewertung einer bestimmten Proposition besitzt, nicht nötig und nicht zielführend ist. Sie ist deshalb nicht nötig, weil Frickers eigene Definition von schwacher und starker Unterordnung unabhängig vom Zugang zur Evidenz getroffen werden kann, denn starke Unterordnung setzt bloß voraus, dass der Laie schon eine Überzeugung bezüglich der Frage, ob eine bestimmte Aussage wahr ist, getroffen hat; hierfür muss er jedoch nicht die gleiche Evidenz besitzen, wie die Expertin: Weak Deferential Acceptance occurs when I form belief that P on the basis of trust in another’s testimony that P, when I myself have no firm pre‐existing belief regarding P; nor would I form any firm belief regarding P, were I to consider the question whether P using only my current epistemic resources, apart from the current testimony to P. Strong Deferential Acceptance occurs when I let another’s trusted testimony regarding P override my own previous firm belief, or disposition to form a firm belief, regarding P.71

Die Unterscheidung ist außerdem auch nicht zielführend, da sie sich nicht gut auf Frickers eigenes Beispiel anwenden lässt. Fricker nimmt an, dass zwei Personen, die sich zur selben Zeit nebeneinander auf demselben Konzert aufhalten, sich aber bezüglich ihrer Sehstärke unterscheiden, Zugang zu derselben Evidenz besitzen. Die größere Sehstärke der einen Person würde ihr jedoch eine größere Expertise bezüglich der Frage, was auf der Bühne zu sehen ist, verleihen; weshalb die Person, die schlechter sehen kann, ihre Meinung in diesem Falle stark unter die Meinung der Expertin unterordnen sollte. Es ist jedoch plausibel, dass sich die Evidenz von zwei Personen, die eine unterschiedliche Sehstärke aufweisen, schon auf der Ebene der Sinnesdaten unterscheidet. Es kann daher nicht von einem identischen Zugang zur Evidenz gesprochen werden. Ich denke, dass es sinnvoller ist, anzunehmen, dass die relative Expertin, die eine Aussage mithilfe ihres domänenspezifischen Wissens selbstständig bewerten kann, immer mehr Evidenz besitzt als der Laie, der dieses Wissen aus zweiter Hand besitzt. Natürlich ist es möglich, dass der Laie ähnliche Evidenz 70 Vgl. Fricker 2006b, 236. 71 Fricker 2006b, 233–234.

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Kapitel 3

besitzt, diese aber für ihn nicht als Basis seines Wissens fungieren kann, weil er nicht in der Lage ist, aus dieser Evidenz die richtigen Schlüsse zu ziehen. Oft wird sich bei genauer Betrachtung jedoch schon die Evidenz, die als Basis des Wissens dienen kann, bei Expertin und Laien stark unterscheiden. Im Falle von wahrnehmungsunabhängigem Wissen muss berücksichtigt werden, dass ich davon ausgehe, dass neue Inferenzen zu zusätzlichem Wissen führen, und dass eine Person für nicht offensichtliche Schlüsse zusätzliches Wissen benötigt, um von den Prämissen auf die Konklusion zu schließen.72 So scheint zwischen der Expertin, die weiß, wieviel Prozent  10 von 40 entsprechen, weil sie weiß, wie man den Prozentsatz mithilfe des Dreisatzes ausrechnet, und dem Laien, der das nicht weiß, zunächst kein Unterschied in der Evidenz zu bestehen, wenn man davon ausgeht, dass beide wissen, welche Faktoren gegeben sind. Es kann stipuliert werden, dass der Laie sogar weiß, was ein Dreisatz ist. Um zu einem Ergebnis zu kommen, benötigt er jedoch zusätzliche Evidenz in Form von Zwischenschritten. Er muss wissen, dass in diesem Fall 10 dem Prozentwert und 40 dem Grundwert entspricht und dass daher 40 dem Ganzen also 100 % entspricht und daher weiter 1 = 2,5 % entspricht und aus diesen ganzen Zwischenschritten kann er schließen, dass 10 = 25 % entspricht. Die Expertin, für die das Ergebnis exoterisch ist, besitzt all diese Zwischenschritte in Form von domänenspezifischer Evidenz, die der Laie nicht besitzt. Es kann daher keine Rede davon sein, dass beide Personen die gleiche Evidenz besitzen. Im Falle von wahrnehmungsabhängigem Wissen sollte zunächst der Fall betrachtet werden, in dem Laie und relative Expertin einen vergleichbaren raumzeitlichen Standort besitzen. In diesem Falle ist davon auszugehen, dass die Expertin aufgrund angeborener oder erworbener Dispositionen eine bessere Sinneswahrnehmung besitzt als der Laie. Im Falle von angeborenen Unterschieden, die zum Beispiel die Güte der Sehstärke betreffen, ist davon auszugehen, dass die relative Expertin einfach mehr Details wahrnimmt, weshalb sie auch mehr domänenspezifische Evidenz besitzt als der Laie. Ähnliches gilt aber auch für die Expertin, die zum Beispiel aufgrund von Übung und erworbener Expertise eine Amsel von einem Star unterscheiden kann und den Laien, der dies nicht kann. Es ist gut möglich, dass beide von einem annähernd gleichen Raumzeitpunkt aus, unter gleichguten Sichtbedingungen und mit ähnlichem Sehvermögen dieselbe Amsel betrachten. Die Sinneswahrnehmung beider Personen ist also wahrscheinlich ähnlich gut. Die Expertin wird nach einer kurzen Zeit des Beobachtens jedoch trotzdem mehr domänenspezifische Evidenz besitzen, weil sie weiß, auf welche Details 72 Siehe Kapitel 2.3.4 in dieser Arbeit.

Definition des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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sie achten muss. Sie kann den Schnabel als etwas länger und spitzer als den typischen Amselschnabel erkennen. Sie kann einen grünlich-violetten Metallglanz auf den Federn als Merkmal des Stars identifizieren und sie kann an der Laufart ebenfalls den Star erkennen, da die Amsel sich leicht hüpfend fortbewegt. Siegel geht davon aus, dass der Unterschied zwischen Expertin und Laie auch in diesen Fällen schon auf den frühen Stufen der Sinneswahrnehmung ansetzt: Da Expertin und Laie nicht dieselben Details fixieren würden, wäre der distale Stimulus bei einer feinkörnigen Betrachtungsweise bei beiden unterschiedlich.73 Dieser Unterschied setzt sich auf der Ebene der propositional formulierbaren Evidenz fort. Da es auch möglich ist, domänenspezifische Evidenz aus zweiter Hand zu besitzen74, stellt sich die Frage, ob es Fälle gibt, in denen der Laie, der von einer anderen Expertin informiert wurde, mehr domänenspezifische Evidenz besitzt als die relative Expertin, die einen bestimmten Sachverhalt selbst beobachtet hat. Diese Möglichkeit hängt vom Verständnis des Begriffs der Expertin und der genauen Bestimmung der Domänen der Expertise ab. Nach der in dieser Arbeit vorgeschlagenen Definition umfasst die Domäne der Expertise einer Expertin diejenigen Aussagen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt für die Expertin exoterisch sind, während sie für den Laien esoterisch sind.75 Der Begriff der relativen Expertin, den ich in dieser Arbeit verwende, ist ebenfalls ein relationaler Begriff: Die relative Expertin besitzt per Definition eine bessere epistemische Position als der Laie.76 Ich kann daher annehmen, dass die relative Expertin, die eine Proposition aus erster Hand weiß, bezüglich dieser Proposition immer mehr und besser vernetzte domänenspezifische Evidenz besitzt als der Laie, der diese Proposition aus zweiter Hand weiß. Es gibt jedoch unterschiedliche Arten und Weisen, auf die eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt bezüglich einer bestimmten Proposition epistemisch besser platziert sein kann als eine andere Person. Ich möchte im Folgenden eine Klassifizierung vorschlagen und einige Beispiele geben. Durch diese Methode hoffe ich, alle relevanten Arten und Weisen, durch die Unterschiede in der epistemischen Platzierung entstehen können, abzudecken und so zu überprüfen, ob in allen diesen Fällen die Menge an domänenspezifischer Evidenz, auf der das Wissen beruht, den entscheidenden Unterschied zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand ausmacht. Ich werde hierzu verstärkt empirische Ergebnisse heranziehen, da die Frage, was 73 74 75 76

Vgl. Siegel 2012, 205 und ##S. 99 in dieser Arbeit. Siehe Kapitel 2.2.3 in dieser Arbeit. Vgl. Constantin und Grundmann 2020, 4117 und ##S. 58 in dieser Arbeit. Vgl. Fricker 2006b, 233 und ##S. 63 in dieser Arbeit.

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Kapitel 3

Menschen von einem bestimmten Standort aus erkennen können, von empirischen Faktoren, wie der tatsächlichen Güte der Sinneswahrnehmung und der kognitiven Fähigkeiten, abhängt. Auf methodischer Ebene dient diese Klärung der Einflussfaktoren, die auf den epistemischen Standort einwirken, dazu, das Explikat in das System angrenzender Begriffe in der Philosophie und der Kognitionswissenschaft einzuordnen. Arten und Weisen, auf die eine Person epistemisch besser platziert sein kann Ich unterscheide innerhalb der nun folgenden Klassifizierung zwischen Faktoren, die zu einer verbesserten Sinneswahrnehmung führen, und Faktoren, die zu einer verbesserten kognitiven Verarbeitung von Informationen führen. Es ist wichtig zu bedenken, dass die verschiedenen Faktoren sich gegenseitig beeinflussen und dass oft mehrere Faktoren zusammenkommen, die den aktuellen epistemischen Standort eines Individuums bestimmen.77 3.3.1

A Faktoren, die zu einer verbesserten Sinneswahrnehmung führen 3.3.1.1 Zu den Faktoren, die zu einer verbesserten Sinneswahrnehmung führen, zählen: A1 Bessere raumzeitliche Platzierung (bezüglich der Proposition p) Eine bessere raumzeitliche Platzierung bezüglich einer Proposition kann bei Wahrnehmungswissen ausschlaggebend sein. Die Proposition, um die es geht, ist dann in der Regel eine beobachtbare Tatsache, und die relative Expertin wird deshalb zur Expertin, weil sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, um p zu beobachten. A2 Überlegene perzeptuelle Vermögen (angeboren) (Angeborene) überlegene perzeptuelle Vermögen können bei (annähernd) gleichem raumzeitlichen Standort dazu führen, dass eine Person mehr Wahrnehmungswissen erwirbt als eine andere Person. Der gleiche raumzeitliche Standort kann also je nach Person zu einem unterschiedlichen epistemischen Standort führen. Hier wird deutlich, dass der epistemische Standort immer eine Relation zwischen einem Individuum, dessen raumzeitlicher Position und einer bestimmten Proposition kennzeichnet. So kann eine bestimmte raumzeitliche Position für Person A ausreichend sein, um die Wahrheit der Aussage: „Auf dem Buchrücken steht Kant.“ zu verifizieren, während dieselbe raumzeitliche Position für Person B nicht ausreicht, um die Aussage zu bestätigen; weshalb die Aussage für B exoterisch ist. Besitzt eine Person eine Brille oder ein 77 Siehe Fricker 2006b, 233–238 für eine andere Klassifikation.

Definition des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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Hörgerät, kann auch dies ihr perzeptuelles Vermögen, und dadurch ihren epistemischen Standort, beeinflussen. A3 Überlegene perzeptuelle Fähigkeiten, durch Training oder zusätzliches Hintergrundwissen erworben Durch Training oder zusätzliches Hintergrundwissen lassen sich die perzeptuellen Fähigkeiten so schulen, dass Muster wahrgenommen werden können, die ohne Training der Aufmerksamkeit entgehen würden. Eines der verbreitetsten Beispiele ist das Erkennen von Buchstaben. Unbekannte Buchstaben erscheinen als willkürliche Anordnung von Mustern, die schwer behalten und wiederabgerufen werden können. Nimmt ein ein geübter Leser hingegen Wörter in einer bekannten Sprache wahr, läuft die Mustererkennung so automatisch ab, dass es für diese Person schwierig ist, ein Wort nicht zu erkennen bzw. zu lesen.78 Die Fähigkeit, ein A zu erkennen, hängt daher nicht bloß von der Sehkraft ab, sondern auch von dem vorhandenen Training und Hintergrundwissen. Ebenso verhält es sich mit der Fähigkeit, eine Amsel von einem Star zu unterscheiden. Training, Kontext und Hintergrundwissen beeinflussen also, was ein Individuum wahrnimmt79, weshalb bei zwei verschiedenen Individuen selbst ein identischer raumzeitlicher Standort, kombiniert mit identischen perzeptuellen Vermögen, nicht automatisch zu dem Vorhandensein der gleichen Evidenz führt. Ich möchte dies an einem Beispiel illustrieren: Peters Buch: Person A weiß aus erster Hand, dass das zweite Buch von links auf Peters Regal die Kritik der praktischen Vernunft von Kant ist, weil sie den Titel auf dem Buchrücken gelesen hat. Person B befindet sich an einer ähnlichen raumzeitlichen Position neben A, kann den Titel jedoch aufgrund ihrer geringeren Sehstärke (oder aufgrund ihrer fehlenden Lesekompetenz) nicht lesen. Aber Person A hat Person B den Namen des Titels mitgeteilt, daher weiß Person B aus zweiter Hand, dass dort die Kritik der reinen Vernunft steht. Anders als in den meisten Fällen, in denen Wissen aus zweiter Hand herangezogen wird, befindet sich Person B mit dem Buch in einem raumzeitlichen Bezugssystem. Sie kann das Buch, um das es geht, auch selbst identifizieren. Dies kann sie jedoch dennoch nicht vollkommen eigenständig durchführen, da sie auf die Hilfe von A angewiesen ist, um zu wissen, dass dieses Buch, um das es geht, das zweite Buch von links ist. Und auch, wenn sie mithilfe von A diese Identifizierung vorgenommen hat, bleibt die Einordnung dieses Wissens in ihr eigenes Wissensnetz unvollständig. Auf die Frage, ob das Buch möglicherweisen 78 79

Dies ist auch als Stroop-Effekt bekannt. Vgl. Stroop 1935. In der Kognitionswissenschaft wird diese Abhängigkeit der Mustererkennung von generellem Kontext und Vorwissen top-down-Verarbeitung genannt. Vgl. Anderson 2015, 47.

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Kapitel 3

antik sei, könnte Person A antworten: „Ja, möglicherweise, denn der Titel ist in Frakturschrift gedruckt.“ Person B würde zunächst zusätzliche Informationen benötigen, um diese Frage zu beantworten. Und hätte Peter das Buch an Karl ausgeliehen, der vergessen hätte es zurückzugeben, könnte Person A, nicht jedoch Person B, das Buch bei Karl zu Hause wiedererkennen. Person B würde wahrscheinlich nicht einmal merken, wenn Peter das Buch auf dem Regal bei seinem nächsten Besuch umgestellt hätte. Die Einordnung in das Netz des Wissens bei Person A könnte folgendermaßen aussehen:

Abb. 7

Hypothetische Gedächtnisstruktur von Person A, die aus erster Hand weiß, dass das zweite Buch von links auf dem Regal bei Peter die ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ ist.80

80 Keil 2022, Eigene Darstellung.

Definition des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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Die Einordnung in das Netz des Wissens von Person B würde wahrscheinlich eher so aussehen:

Abb. 8

Hypothetische Gedächtnisstruktur von Person B, die aus zweiter Hand weiß, dass das zweite Buch von links auf dem Regal bei Peter die ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ ist.81

Dieses Beispiel soll nur mögliche Unterschiede zwischen der Gedächtnisstruktur einer Person, die Wissen aus erster Hand besitzt, und derjenigen einer Person, die Wissen aus zweiter Hand besitzt, illustrieren. Natürlich ist es möglich, dass Person B weiteres Detailwissen über Peters Buch erwirbt, ebenso wie Person A möglicherweise nur einige der Details bewusst wahrnimmt oder nach einiger Zeit noch erinnern kann. Der Unterschied zwischen Person A und Person B wird daher ein gradueller Unterschied sein. Für Person B ist es jedoch nicht ungewöhnlich, dass sie außer der Tatsache, dass das zweite Buch von links auf Peters Regal die Kritik der praktischen Vernunft ist, über keine weiteren domänenspezifischen Informationen verfügt. Würde man dasselbe für Person A annehmen, stellt sich die Frage, ob diese in ihrer Überzeugung überhaupt noch gerechtfertigt ist. Eine Wahrnehmungserfahrung obiger Aussage, die so unpräzise ist, dass ihr Besitzer nicht in der Lage ist, irgendwelche Details wie die Art oder ungefähre Farbe der Schrift zu beschreiben, lässt Zweifel an der Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit der Erfahrung aufkommen. Es kann davon ausgegangen werden, dass Wahrnehmungswissen aus erster Hand normalerweise immer in einer stärker determinierten Form vorliegt. Die stärkere Determiniertheit der Wahrnehmungsinhalte gegenüber begrifflich formuliertem Wissen ist eine Eigenschaft, auf die sich sowohl Vertreterinnen der These, dass Wahrnehmungsinhalte in nicht-begrifflicher Form vorliegen, als auch deren Gegnerinnen einigen können. So argumentiert beispielsweise Heck, dass die stärkere Determiniertheit der Wahrnehmungsinhalte gegenüber den darauf basierenden Wahrnehmungsüberzeugungen zeigt, dass beide sich in ihrem Inhalt unterscheiden.82 McDowell geht hingegen davon aus, dass 81 Keil 2022, Eigene Darstellung. 82 Vgl. Heck 2007, 14–16, 24.

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Kapitel 3

der Informationsverlust, der beim Übergang von der Wahrnehmung zu einer Wahrnehmungsüberzeugung entsteht, nicht als Indiz für das Vorhandensein eines nicht-begrifflichen Wahrnehmungsinhalts verstanden werden sollte, sondern als Übergang von einem Inhalt stärker determinierter Art, zu einem weniger stark determinierten Inhalt betrachtetet werden kann.83 Diese stärkere Determiniertheit drückt sich laut Dretske darin aus, dass ein Signal, das eine bestimmte Information, zum Beispiel die Information, dass s F ist, in analoger Form transportiert, immer noch spezifischere Informationen, die über die Tatsache, dass s F ist, hinausgehen, transportiert: When a signal carries the information that s is F in analog form, the signal always carries more specific, more determinate, information about s than that it is F.84 To illustrate the way this distinction applies, consider the difference between a picture and a statement. Suppose a cup has coffee in it, and we want to communicate this piece of information. If I simply tell you, „The cup has coffee in it,“ this (acoustic) signal carries the information that the cup has coffee in it in digital form. No more specific information is supplied about the cup (or the coffee) than that there is some coffee in the cup. You are not told how much coffee there is in the cup, how large the cup is, how dark the coffee is, what the shape and orientation of the cup are, and so on. If, on the other hand, I photograph the scene and show you the picture, the information that the cup has coffee in it is conveyed in analog form. The picture tells you that there is some coffee in the cup by telling you, roughly, how much coffee is in the cup, the shape, size, and color of the cup, and so on. I can say that A and B are of different size without saying how much they differ in size or which is larger, but I cannot picture A and B as being of different size without picturing one of them as larger and indicating, roughly, how much larger it is.85

Diese stärkere Determiniertheit der Wahrnehmungsinhalte spiegelt sich auch auf der begrifflichen Ebene wider. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass die minimale Menge an domänenspezifischer Evidenz, die die Besitzerin von Wissen aus erster Hand besitzt, wenn ihre Überzeugung als gerechtfertigt gilt, größer ist, als die minimale Menge an domänenspezifischer Evidenz, die der Besitzer von Wissen aus zweiter Hand besitzt. Denn dessen Überzeugung kann auch dann gerechtfertigt sein, wenn er außer der Tatsache, dass s F ist, nichts Weiteres über s weiß. Ob eine Person eine Aussage wirklich aus erster Hand besitzt, wird daher im Alltag über die Menge an Detailwissen, das diese Person über die Aussage hinaus besitzt, geprüft. Die Menge an Detailwissen, die die Besitzerin von Wahrnehmungswissen aus erster Hand erwerben kann, ist jedoch von verschiedenen Faktoren wie der Güte der Sinneswahrnehmung 83 84 85

Vgl. McDowell [1994] 1998, 56–59. Dretske [1981] 2003, 137. Dretske [1981] 2003, 137.

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und der kognitiven Verarbeitungsfähigkeiten abhängig. Daher kann zwar davon ausgegangen werden, dass die Besitzerin von Wahrnehmungswissen aus erster Hand in jedem Fall mehr domänenspezifische Evidenz besitzt als der Besitzer von Wissen aus zweiter Hand. Wie viel mehr domänenspezifische Evidenz das ist, wird sich jedoch von Einzelfall zu Einzelfall stark unterscheiden. 3.3.1.2

B Faktoren, die zu mehr Wissen und einer verbesserten Vernetzung des Wissens führen Zu den Faktoren, die zu mehr Wissen und einer verbesserten Vernetzung des Wissens führen, zählen: B1 Mehr Wissen auf einem Gebiet Je mehr Wissen auf einem bestimmten Gebiet vorhanden ist, umso größer ist in der Regel die Fähigkeit, auf diesem Gebiet neues Wissen dazuzugewinnen. Es lassen sich zwar Fälle konstruieren, in denen eine Person viel Wissen auf einem bestimmten Gebiet besitzt, obwohl dieses Wissen vollständig aus zweiter Hand stammt und so ungünstig vernetzt ist, dass die Person nicht in der Lage ist, daraus neues Wissen abzuleiten. Dies ist jedoch nicht die Regel. Die Arbeitsweise unseres Gehirns tendiert dahin, Wissen nicht isoliert, sondern vernetzt und kategorisiert abzuspeichern.86 Dies führt in der Regel automatisch dazu, dass Personen, die auf einem Gebiet schon über Wissen verfügen, zusätzliches Wissen besser verarbeiten und abspeichern können, da sie in diesem Wissen Muster erkennen können.87 Bei der Abspeicherung von Wissen wird kongruenten Informationen der Vorzug vor inkongruenten Informationen gegeben, wenn genügend Vorwissen vorliegt.88 In der Didaktik konnte außerdem mit quantitativen Methoden gezeigt werden, dass die Menge an vorhandenem Vorwissen den Erwerb von neuem Wissen maßgeblich beeinflusst.89 Der Einfluss der Menge an Vorwissen kann mit zunehmendem Vorwissen für den Erwerb neuen Wissens sogar wichtiger als die Intelligenz werden.90 Das Vorwissen auf einem bestimmten Gebiet kann außerdem auch Wissen um Problemlösestrategien einschließen, was dazu führt, dass sicherer und schneller neues Wissen abgeleitet werden kann und Wissensprobleme

86 Vgl. Anderson 2015, Ch. 5. 87 Dieser Vorgang wird auch chunking genannt und führt dazu, dass in kürzerer Zeit größere Mengen an Information erfasst und verarbeitet werden können. Vgl. Anderson 2015, 223–226. 88 Vgl. Heit, Briggs und Bott 2004. 89 Vgl. Hasselhorn und Gold 2013, Kap. 2.2. 90 Vgl. Langfeldt 2014, 39–41.

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gelöst werden können.91 Wissen von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen führt darüber hinaus in der Regel zu einem besserem Verständnis, was ebenso die Fähigkeit, neues Wissen abzuleiten, steigert. Dieses Wissen ist jedoch in diesem Fall nicht auf propositionales Wissen beschränkt, sondern kann auch prozeduralisiertes92 und implizites93 Wissen einschließen. Hier besteht ein fließender Übergang zu den Faktoren, die den epistemischen Standort über Übung beeinflussen. Mehr Wissen auf einem Gebiet führt daher, unter sonst gleichen Umständen, zu einer besseren epistemischen Platzierung und der Möglichkeit mehr zusätzliches Wissen aus erster Hand zu erwerben. B2 Überlegene Organisation der Begriffe Die Fähigkeit, den Wahrheitswert einer bestimmten Proposition selbstständig zu bestimmen, hängt nicht nur von der absoluten Menge an domänenspezifischer Evidenz ab, die einem Individuum zur Verfügung steht, sondern von der Menge an domänenspezifischer Evidenz, die das Individuum als Basis für weiteres Wissen verwenden kann. Dies ist davon abhängig, ob ein Individuum weiß, dass die Evidenz, die es besitzt, für den Wahrheitswert einer bestimmten Proposition relevant ist.94 Bei A-priori-Wissen ist die Vernetzung sogar das ausschlaggebende Kriterium, um neues Wissen ableiten zu können. Bealer argumentiert, dass die Fähigkeit A-priori-Wissen abzuleiten, aus einem vollen Besitz der entsprechenden Begriffe hervorgeht.95 Laut Dretske erwirbt eine Person, die herausfindet, dass Wasser notwendigerweise H2O ist, keine neuen Informationen, sondern organisiert ihre kognitiven Strukturen neu. Sie erwirbt das Wissen, dass zwei Begriffe, die vorher funktional voneinander getrennt waren, den gleichen Inhalt haben.96 Die große Bedeutung einer sinnvollen kognitiven Organisation von Wissen für die Fähigkeit, neues Wissen zu erwerben, wurde in der Kognitionswissenschaft mehrfach empirisch gezeigt.97 Bei der Lösung von Wissensproblemen ist oft schon die Struktur der Formulierung des Problems ausschlaggebend dafür, dass domänenspezifische Evidenz, die für die Lösung herangezogen werden könnte, auch als solche erkannt wird. 91

Wissen um die Anwendung der passenden Problemlösestrategie ist laut Anderson ein entscheidendes Merkmal, das Expertinnen auf einem Gebiet von Novizen unterscheidet. Vgl. Anderson 2015, 217–222. 92 Vgl. Anderson 2015, 215–217. 93 Vgl. Anderson 2015, 177–178. 94 Siehe hierzu auch Williamson, der zeigt, dass es problematisch ist, Evidenz, die nicht zur Rechtfertigung einer Aussage genutzt wird, trotzdem als wirksame Evidenz für diese Aussage zu betrachten. Vgl. Williamson 2002, 202–203. 95 Vgl. Bealer 1999. 96 Vgl. Dretske [1981] 2003, 218. 97 Vgl. hierzu Kap. 4.1.2.1.

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So finden selbst Neuntklässler die richtige Lösung für das Drei-Türen-Problem, wenn dieses unter Berücksichtigung kognitionspsychologischer Konzepte formuliert wird.98 Die Repräsentation des Wissens in Netzwerken entscheidet also erheblich darüber mit, ob Wissen als Evidenz für anderes Wissen genutzt werden kann. Die Organisation der kognitiven Konzepte einer Person ist daher ausschlaggebend dafür, ob sie in der Lage ist, Wissen aus erster Hand zu erwerben. B3 Schnellere Verarbeitungsrate des Arbeitsgedächtnis Die Struktur des Wissens innerhalb des Wissensnetzes eines Individuums entscheidet, wie schnell Informationen abgerufen werden können.99 Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses wird darüber hinaus von genetischen Faktoren bestimmt. Die Verarbeitungsrate des Arbeitsgedächtnisses hat wiederum einen starken Einfluss auf das Verstehen wissenschaftlicher Aussagen sowie den Erwerb und die Abspeicherung neuen Wissens.100 So hat eine hohe Verarbeitungsrate des Arbeitsgedächtnisses einen positiven Einfluss auf mathematische Leistungen, was bei Schulkindern über mehrere Jahre hinweg zu einem stärkeren Anstieg von Wissen führt.101 Eine hohe Kapazität des Arbeitsgedächtnisses hat außerdem einen starken positiven Einfluss auf die fluide Intelligenz. Ein Einflussfaktor, der die fluide Intelligenz und das Arbeitsgedächtnis gleichermaßen beeinflusst, ist die Fähigkeit zur sinnvollen Kompression von Informationen. Denn je sinnvoller Informationen zusammengefasst werden, desto mehr Kapazität wird im Arbeitsgedächtnis frei.102 Der Erwerb von 98 Das Drei-Türen-Problem ist ein bekanntes mathematisches Problem, dessen Lösung selbst erfahrene Mathematiker vor Probleme stellt, da die richtige Lösung unintuitiv erscheint. In einer Studie mit 139 Schülerinnen an drei Berliner Gymnasien konnten Krauss und Atmaca zeigen, dass ab der 9. Klasse durchschnittlich über 80 % der Schülerinnen in der Lage waren, das Problem zu lösen, wenn es auf eine bestimmte Art und Weise formuliert war. Vgl. Krauss 2004. 99 Vgl. Collins und Quillian 1969 und Kap. 4.2.1.1 in dieser Arbeit. 100 Jung und Reid konnten zeigen, dass die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses, neben positivem Einfluss auf den Erwerb von Verständnis in der Wissenschaft, auch zu Unterschieden in den Strategien zur Wissensabspeicherung führte. Schülerinnen, die eine hohe Kapazität des Arbeitsgedächtnisses aufwiesen, tendierten dazu zu versuchen, wissenschaftliches Wissen zu verstehen, während Schülerinnen mit einer niedrigeren Kapazität des Arbeitsgedächtnisses dazu tendierten, wissenschaftliches Wissen einfach auswendig zu lernen. Vgl. Jung und Reid 2009. Morra et  al. konnten zeigen, dass die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses bei Kindern beeinflusst, wie schnell und vollständig Zahlbegriffe erworben werden können. Vgl. Morra et al. 2019. 101 Vgl. Lee und Bull 2016. 102 Vgl. Chekaf et al. 2018.

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Wissen, die Struktur der Abspeicherung dieses Wissens und die Arbeitsrate des Arbeitsgedächtnisses beeinflussen sich also auf vielfältige Weise gegenseitig. Audi geht davon aus, dass die Geschwindigkeit, mit der Personen A-prioriWahrheiten als richtig erkennen, zwar einen guten Indikator darstellt, jedoch für das Maß an begrifflichem Verständnis, das sie von diesen Aussagen haben, kontingent und nicht systematisch mit diesem Verständnis verknüpft ist.103 Die oben zitierten Studien aus der Kognitionswissenschaft weisen hingegen darauf hin, dass auch ein systematischer Zusammenhang zwischen der Güte der Organisation der kognitiven Konzepte und der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses besteht. Aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive lässt sich bis hierhin festhalten, dass die Fähigkeit neues Wissen zu erwerben davon abhängt, wieviel Vorwissen auf einem Gebiet bereits vorhanden ist und wie gut dieses Vorwissen vernetzt ist. Es ist daher plausibel anzunehmen, dass das Vorhandensein eines überlegenen epistemischen Standortes der Erstbesitzerin auch daher rühren kann, dass sie mehr und besser vernetztes Wissen auf dem betreffenden Sachgebiet besitzt, was in der Folge dazu führt, dass neues Wissen ebenfalls besser in das bestehende Wissensnetz eingefügt werden kann. Ich möchte dies an folgendem Beispiel illustrieren. Der Satz des Euklid: Wenn eine Person A den Satz des Euklid, dass es unendlich viele Primzahlen gibt, selbstständig beweisen kann, dann besitzt sie dieses Wissen aus erster Hand. Eine Person B weiß diese Aussage aus zweiter Hand, wenn sie diese von einer verlässlichen Expertin erworben hat. Sie kann die Aussage dann nicht selbst beweisen. Sobald B jedoch den Satz selbst mithilfe ihrer eigenen rationalen Einsicht beweisen kann, sollte ihr Wissen aus erster Hand zugeschrieben werden. Es muss dann davon ausgegangen werden, dass sie die Begriffe, die hierzu nötig sind, in der Art vollständig besitzt, dass sie in der Lage ist, den Beweis selbst zu führen und die Notwendigkeit der einzelnen Schritte einsieht. Es reicht allerdings nicht aus, dass die Person den Beweis nur korrekt wiedergeben kann, ohne Einsicht und Verständnis der einzelnen Schritte. Audi argumentiert, dass das bloß linguistische Verständnis, das durch das semantische Erfassen einer Formulierung einer A-priori-Aussage entsteht, nicht automatisch dazu führt, dass eine Person gerechtfertigt ist, die Aussage zu 103 Vgl. Audi 2019, 371.

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glauben.104 Eine Person, die an die Wahrheit einer a priori belegbaren Aussage nicht aufgrund der rationalen Einsicht in ihre Selbstevidenz glaubt, kann daher, falls sie in ihrer Überzeugung gerechtfertigt ist, nur durch die Aussage einer anderen Person gerechtfertigt sein. Daher besitzt sie das Wissen der Aussage nur aus zweiter Hand. Der Besitz dieses Wissen aus erster Hand, setzt hingegen voraus, dass die Vernetzung der für den Beweis notwendigen Begriffe wie die Unendlichkeit der ganzen Zahlen und der Reductio ad absurdum so gut ist, dass die Herleitung des Beweises auf dem Verständnis dieser Begriffe als Evidenz beruht und nicht bloß auf der Aussage der Expertin. Bealer geht davon aus, dass eine Person, die einen auf diese Art determinierten Begriff besitzt, sowohl einen qualitativen Zuwachs an Wissen (auch in dispositionaler Form) als auch eine quantitative Verbesserung der beteiligten Begriffe erfährt.105 Insofern kann auch im Falle von A-priori-Wissen aus erster Hand davon ausgegangen werden, dass dessen Besitzerin mehr domänenspezifische Evidenz besitzt und diese besser vernetzt ist. Audi unterscheidet bei A-priori-Wissen noch einmal zwischen Wissen, das a priori im engen Sinne ist und Wissen, das a priori im weiten Sinne ist.106 Beide sind unabhängig von der Sinneserfahrung107. Jedoch können nur Aussagen, die A-priori-Wissen im engen Sinne darstellen, direkt über die Intuition, dass sie einem selbstevident erscheinen, gerechtfertigt werden. Das obige Beispiel würde daher eine A-priori-Aussage im weiten Sinne beschreiben, da zu ihrer Rechtfertigung zusätzliche Prämissen notwendig sind. Bei A-priori-Aussagen im weiten Sinne ist einfach ersichtlich, dass die Besitzerin dieses Wissens aus erster Hand mehr Evidenz besitzt als der Besitzer aus zweiter Hand, da erstere auch Wissen über notwendige Inferenzen und beteiligte Begriffe besitzen muss. Bei A-prioriWissen im engen Sinne, das also direkt auf der Intuition bzw. dem Erscheinen der Selbstevidenz beruht, ist nicht ohne Weiteres ersichtlich, dass die Besitzerin von Wissen aus erster Hand über mehr Evidenz verfügt als der Besitzer dieses 104 Vgl. Audi 2019, 358. 105 „This leads to the thought that determinate concept possession might be explicated in terms of the metaphysical possibility of relevant truth tracking intuitions (in appropriately good cognitive conditions and with appropriately rich conceptual repertories). The idea is that determinateness is that mode of possession which constitutes the categorical base of this possibility. When a subject’s mode of concept possession shifts to determinateness there is a corresponding shift in the possible intuitions accessible to the subject (or the subject’s counterparts). In fact, there is a shift in both quantity and quality. The quantity grows because incomplete understanding is replaced with complete understanding, eliminating ‚don’t knows.‘ The quality improves because incorrect understanding is replaced with correct understanding.“ Bealer 1999, 41. 106 Vgl. Audi 1999, 210. 107 Vgl. Audi 1999, 221.

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Wissens aus zweiter Hand. Denn inhaltlich scheinen beide dieselbe Evidenz zu besitzen.108 Bei der Besitzerin von Wissen aus erster Hand basiert diese Evidenz jedoch auf ihrer rationalen Einsicht, weshalb nur sie domänenspezifische Evidenz besitzt. Dieser Besitz der domänenspezifischen Evidenz bringt für die Besitzerin weitere Vorteile mit sich. So kann davon ausgegangen werden, dass die Basierung auf der eigenen rationalen Einsicht dazu führt, dass die Überzeugung stabiler im Netz der übrigen Überzeugungen verankert ist als bei dem Zweitbesitzer; bei dem die Überzeugung nur auf der domänenunabhängigen Evidenz basiert, dass die betreffende Aussage einer anderen Person selbstevident erscheint. Es kann auch davon ausgegangen werden, dass die Kapazität und Geschwindigkeit des Arbeitsgedächtnisses durch den Besitz der Aussage aus erster Hand positiv beeinflusst werden. Zusammenfassung: Der größte Teil unserer Wahrnehmung, über die Klassifizierung von Einzelgegenständen, das Lesen von Buchstaben bis hin zum Hören von Tönen und Melodien, ist auf die eine oder andere Art und Weise stark von dem vorhandenen Vorwissen, den verfügbaren Begriffen sowie von Erfahrung und Training abhängig. Ebenso sind unser begriffliches Wissen und unsere Einsichtsfähigkeit von der Vernetzung und Organisation unserer Begriffe und der Kapazität unseres Arbeitsgedächtnisses abhängig. Daher ist es schwierig, eine exakte Grenze zwischen den Faktoren zu ziehen, die über die Sinneswahrnehmung und denjenigen, die über die Ebene des Begriffsbesitzes unsere Erkenntnisfähigkeit beeinflussen.109 Die von mir vorgeschlagene Klassifizierung darf daher nur als sehr grobe Unterscheidung verstanden werden. Sie illustriert auf welch vielfältige Art und Weise der epistemische Standort beeinflusst wird. Ein epistemischer Standort, der so gut ist, dass er den Erwerb von Wissen aus erster Hand ermöglicht, ist insofern überlegen, als das Wissen, das von diesem Standort aus erworben wird, determinierter ist und durch eine größere Menge an domänenspezifischer Evidenz gestützt wird, als Wissen, das von einem Standort aus erworben wurde, der nur den Erwerb aus zweiter Hand ermöglichte. 3.3.2 Fairer Vergleich der epistemischen Standorte Die bis hierhin genannten Vorteile von Wissen aus erster Hand gelten nur pro tanto. Hazlett illustriert dies an folgendem Beispiel: 108 Audi geht zwar explizit davon aus, dass auch für unmittelbar selbstevidente Aussagen mithilfe expliziter Prämissen argumentiert werden kann, dies ist dort jedoch nicht nötig, um eine ausreichende Rechtfertigung zu besitzen. Vgl. Audi 1999, 223. 109 Fricker 2006b, 235–236 sieht das ähnlich.

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Betrachte die Aussage, dass der Klimawandel menschengemacht ist und stelle dir vor, dass angekündigt wurde, dass neue Daten erhoben wurden, die eindeutig entweder diese Aussage oder ihre Negation unterstützen. Aus Sicherheitsgründen können diese ausschlaggebenden Daten nicht öffentlich gemacht werden, aber du hast bei einer Verlosung gewonnen und der Preis ist, dass du Zugang zu den Daten erhältst. Du hast die Wahl zwischen einem direkten und einem indirekten Zugang: Du kannst bezüglich der Frage, ob der Klimawandel menschengemacht ist, entweder eindeutige testimoniale Evidenz erhalten oder du kannst eindeutige nicht-testimoniale Evidenz bezüglich der Frage erhalten. Falls du dich für Letzteres entscheidest, bekommst du Zugang zu den Daten, zusammen mit einem Serum – ein natürlicher und glutenfreier Mix aus Vitaminen, der wissenschaftliches Verständnis und Denkfähigkeit verbessert – das dich befähigt die Beweiskraft der Daten bezüglich der Frage, ob der Klimawandel menschengemacht ist, zu verstehen. Da die Evidenz in jedem Fall eindeutig sein wird, besteht deine Wahl zwischen testimonialem und nicht-testimonialem Wissen. Welche Version des Preises würdest du wählen?110

Hazlett möchte mit ihrem Beispiel zeigen, dass die meisten Menschen sich für den Zugang zu nicht-testimonialer Evidenz, das heißt zu Wissen aus erster Hand entscheiden würden, wenn alle anderen Faktoren gleich wären. Wissen aus zweiter Hand wird in der Regel nur dann gewählt, wenn die raumzeitliche Position oder die perzeptiven und kognitiven Ressourcen einer Person den Erwerb von Wissen aus erster Hand nicht erlauben oder dieser zu zeitaufwändig wäre. So leicht vergleichbar wie in obigem Beispiel sind die epistemischen Standorte von Personen in der Regel nicht. Dies wirft die Frage auf, wie Fälle bewertet werden sollen, in denen eine Person A aus erster Hand relativ isoliertes Wissen erwirbt, weil sie wenig Hintergrundwissen hat und auch nicht auf Beobachtungen dieser Art trainiert ist, während eine andere Person B aus zweiter Hand sehr viel Details über denselben Sachverhalt erfährt, sodass sie mehr domänenspezifische Evidenz aus zweiter Hand besitzt und ihr Wissen besser eingebettet ist als bei Person A. In diesem Falle könnte man nicht mehr sagen, dass Wissen aus erster Hand den Besitz von mehr domänenspezifischer Evidenz garantiert und zu einer besseren Einbettung des Wissens in das Wissensnetz der Besitzerin führt. Ich möchte einen solchen Fall kurz an einem von Fricker entlehnten Beispiel verdeutlichen: Cricket-Spiel  1: Die Expertin Lisa und der Novize Tom wohnen demselben Cricket-Spiel bei. Sie besitzen annähernd die gleiche raumzeitliche Position und sie besitzen eine vergleichbar gute Sehstärke. Trotzdem besitzen 110 Hazlett 2016, 131. Meine Übersetzung.

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sie nicht dieselben perzeptuellen Fähigkeiten zur Abschätzung der Wahrheit bestimmter Propositionen, da sie sich bezüglich ihres Hintergrundwissens und ihres Trainings, bestimmte Sachverhalte zu erkennen, unterscheiden. Das, was während des Spiels vor sich geht, ist für Lisa exoterisch; sie kann Folgendes erkennen und beschreiben: „Es war ein schneller Ball, der von außerhalb des OffStump hereinkam und der Schlagmann erwischte eine Ecke davon, woraufhin der Ball vom Fänger gefangen wurde.“ Der Novize Tom hat währenddessen nichts Spezifisches dieser Art wahrgenommen.111 Wenn die Expertin dem Novizen anschließend erklärt, was passiert ist, und dass das bedeutet, dass der Schlagmann ausgeschieden ist, erwirbt der Novize dieses Wissen aus zweiter Hand. Denn obwohl der Novize wahrscheinlich ähnliche Sinneseindrücke, wie die Expertin hatte, konnte der Novize die Wahrheit der Aussagen von seinem epistemischen Standort aus nicht sehen, sie waren esoterisch für ihn. Die Expertin besitzt in diesem Fall Wissen aus erster Hand und mehr domänenspezifische Evidenz112, während der Novize durch den Nichtbesitz dieser Evidenz epistemisch von ihr abhängig ist. Nun ist jedoch ein modifizierter Fall denkbar, in dem die Rollen anders verteilt sind: Cricket-Spiel 2: Lisa und Tom besitzen Wissen über dasselbe Cricket-Spiel. Sie wissen beide, dass Mannschaft A gewonnen hat. Lisa hat dem Spiel persönlich beigewohnt und weiß die Aussage daher aus erster Hand. Sie besitzt jedoch gerade genügend Verständnis, um zu begreifen, dass Mannschaft A gewonnen hat. Sie hat darüber hinaus jedoch nicht viel mehr Spezifisches über das Spiel und die Spielzüge wahrgenommen. Tom besitzt sein Wissen aus einer Fachzeitschrift, in der die einzelnen Spielzüge dezidiert analysiert wurden. Er besitzt sehr viel mehr domänenspezifisches Wissen, als die Novizin, jedoch besitzt er dieses Wissen aus zweiter Hand. Dieses Beispiel zeigt, dass es möglich ist, mehr domänenspezifisches Wissen über einen Sachverhalt aus zweiter Hand als aus erster Hand zu besitzen. Es scheint daher so, als würde Wissen aus erster Hand nicht immer mehr domänenspezifische Evidenz voraussetzen. 111 Beispiel entlehnt aus Fricker 2006b, 235. 112 Die Expertin besitzt mehr domänenspezifische Evidenz, da ich mit Siegel davon ausgehe, dass der Unterschied zwischen Expertin und Laien im Beispiel schon auf den frühen Stufen der Sinneswahrnehmung ansetzt; da Expertin und Laie nicht dieselben Details fixieren und der distale Stimulus daher bei einer feinkörnigen Betrachtungsweise bei beiden unterschiedlich ist. Vgl. hierzu ##S. 99 in dieser Arbeit.

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Die Einschätzung basiert jedoch auf einem unfairen Vergleich der Wissensobjekte, da die Person, die Wissen aus zweiter Hand besitzt, in dem Fall Cricket-Spiel 2 per Stipulation mehr Detailwissen als eine andere Person besitzt. Die Annahme, dass die Besitzerin von Wissen aus erster Hand mehr domänenspezifische Evidenz besitzt als der Besitzer von Wissen aus zweiter Hand, bezieht sich jedoch auf Fälle, in denen dieselben Wissensinhalte verglichen werden. Die epistemischen Nachteile des Besitzes von Wissen aus zweiter Hand zeigen sich also nur unter den Bedingungen eines fairen Vergleichs113. Dieser Vergleich kann auf zwei Arten geführt werden. Einerseits kann gefordert werden, dass das Wissen des Zweitbesitzers mit dem Wissen der Erstbesitzerin verglichen werden sollte, von der der Zweitbesitzer bezüglich der betreffenden Aussage epistemisch abhängig ist. Dies ist folgerichtig, da das Fehlen der domänenspezifischen Evidenz und die schwächere Einbettung des Wissens des Zweitbesitzers aus der epistemischen Abhängigkeit von der Erstbesitzerin hervorgehen. Daher sollte die domänenspezifische Evidenz, die dem Zweitbesitzer zur Verfügung steht, nicht mit der domänenspezifischen Evidenz, die irgendeine beliebige Erstbesitzerin für die infrage stehende Aussage besitzt, verglichen werden. Im Fall Cricket-Spiel 2 bedeutet dies, dass die domänenspezifische Evidenz, die Lisa zusätzlich zu der Aussage, dass die Mannschaft A gewonnen hat, aus zweiter Hand besitzt, mit der domänenspezifischen Evidenz der zuständigen Reporterin der Fachzeitschrift verglichen werden muss, von der Lisa epistemisch abhängig ist. Diese Reporterin114 wird jedoch sehr wahrscheinlich mehr domänenspezifische Evidenz aus erster Hand besitzen, als Lisa bezüglich des Spielausgangs aus zweiter Hand aus der Zeitung erfahren konnte. Hiergegen kann jedoch eingewendet werden, dass Tom und Lisa in CricketSpiel  2 dieselbe Aussage wissen, nämlich dass Mannschaft A gewonnen hat, weshalb es auch erlaubt sein sollte, ihr Wissen und ihre Evidenz zu vergleichen. Dass Lisa über die betreffende Aussage hinaus noch zusätzliches Wissen bezüglich der Aussage erworben hat, was ihr zusätzliche domänenspezifische Evidenz verschafft, sollte einen fairen Vergleich nicht ausschließen. 113 Ich entlehne die Idee eines fairen Vergleichs von Khalifa, der diese Bedingung nutzt, um Objektverstehen und explanatorisches Verstehen zu vergleichen. Er bezeichent die Anforderung als fair comparison requirement: “[…] the embedded question that characterizes a case of explanatory understanding should be matched with its proper correlate in objectual understanding. Call this the Fair Comparison Requirement.“ Khalifa 2013, 1164. 114 Die Reporterin befindet sich tatsächlich in dem Verhältnis einer relativen Expertin zu der Expertin aus Cricket-Spiel 1 und 2, die in Relation zur Reporterin die Position eines relativen Laien einnimmt. Ich habe die Bezeichnung in diesem Fall nicht angepasst, um Verwirrung vorzubeugen.

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Denn die Besitzerin von Wissen aus erster Hand besitzt ja auch deshalb mehr domänenspezifische Evidenz, weil sie zusätzliches Detailwissen und dispositionales Wissen bezüglich der betreffenden Aussage besitzt. Ein fairer Vergleich erfordert es daher, Bedingungen dafür zu formulieren, welches Wissen in die Bewertung des epistemischen Wertes miteinbezogen werden darf. In den Vergleich miteinbezogen werden sollte dasjenige Wissen, das eine Person auf jeden Fall besitzt, wenn sie Wissen einer bestimmten Aussage aus erster Hand oder aus zweiter Hand besitzt. Auf jeden Fall besitzen muss eine Person das Wissen und die Evidenz, die sie zur Rechtfertigung einer bestimmten Aussage benötigt. Um einen fairen Vergleich zu gewährleisten, sollte daher die Minimalmenge an Evidenz, die zur Rechtfertigung einer Aussage benötigt wird, verglichen werden. Diese schließt im Falle von Wissen aus erster Hand eine bestimmte Menge an domänenspezifischer Evidenz mit ein, im Falle von Wissen aus zweiter Hand wird nur die domänenunabhängige Evidenz, dass eine verlässliche Quelle eine bestimmte Aussage bestätigt hat, benötigt. Die Minimalmenge an domänenspezifischer Evidenz, die zur Rechtfertigung einer Aussage benötigt wird, ist größer, wenn eine Person Wissen aus erster Hand besitzt. Dass beide Personen noch zusätzliche Evidenz erwerben können, ändert daher nichts daran, dass Wissen aus erster Hand pro tanto den Besitz von mehr domänenspezifischer Evidenz garantiert, als der Besitz von Wissen aus zweiter Hand. Angewendet auf das Beispiel Cricket-Spiel 2 würde dies bedeuten, dass die Minimalmenge an domänenspezifischer Evidenz, die Lisa besitzt, wenn ihre Überzeugung als Wissen und daher als gerechtfertigt gilt, größer ist, als die Minimalmenge an domänenspezifischer Evidenz, die Tom besitzen muss, wenn seine Überzeugung als Wissen gilt. Denn Lisa wird auf jeden Fall Wissen über Einzelheiten des Spielablaufs als domänenspezifische Evidenz besitzen, da ihre Rechtfertigung anders nicht erklärt werden kann. Toms Rechtfertigung kann auch erklärt werden, wenn man davon ausgeht, dass er nur die Aussage über den Ausgang des Spiels aus einer verlässlichen Quelle erworben hat. Wenn man von zusätzlich erworbener Evidenz, die nicht direkt zur Rechtfertigung der in Frage stehenden Aussage notwendig ist, absieht, ist daher auch im Fall Cricket-Spiel 2 die domänenspezifische Evidenz der Besitzerin von Wissen aus erster Hand größer als des Besitzers von Wissen aus zweiter Hand. These: Die Minimalmenge an domänenspezifischer Evidenz, die eine Person auf jeden Fall besitzt, wenn sie gerechtfertigt ist, ist im Falle des Besitzes von Wissen aus erster Hand größer als im Falle des Besitzes von Wissen aus zweiter Hand. Dies wird bei durch einen fairen Vergleich der epistemischen Standorte deutlich. Wissen aus erster Hand garantiert daher pro tanto den Besitz

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einer größeren Menge an domänenspezifischer Evidenz als Wissen aus zweiter Hand. 3.4

Unterschiede zwischen wahrnehmungsabhängigem und wahrnehmungsunabhängigem Wissen aus erster Hand

Die oben unter A aufgeführten Einflussfaktoren auf den epistemischen Standort wirken stärker auf Wissen, das von der Wahrnehmung abhängig ist, diejenigen, die unter B dargestellt wurden, beeinflussen hingegen stärker dasjenige Wissen, das größtenteils von der Wahrnehmung unabhängig erworben werden kann. Sowohl wahrnehmungsabhängiges als auch wahrnehmungsunabhängig erwerbbares Wissen aus erster Hand sind daher epistemisch vorteilhaft, weil sie besser in das Wissensnetz der Besitzerin eingebettet sind und diese über mehr domänenspezifische Evidenz verfügt. Trotzdem gibt es Unterschiede in der Verarbeitung von wahrnehmungsunabhängig erwerbbarem und wahrnehmungsabhängigem Wissen, die auch die Möglichkeiten des Erwerbs dieses Wissens aus zweiter Hand beeinflussen. Diese werde ich im Folgeneden evaluieren. Die Verwendung beider Begriffe bedarf jedoch zunächst einiger Präzisierung, da die Unterscheidung philosophisch nicht unproblematisch ist. Wahrnehmungsunabhängig erwerbbares Wissen wird in der Philosophie traditionellerweise als A-priori-Wissen bezeichnet wird. Ich gehe davon aus, dass es möglich ist, A-priori-Wissen von logischen und mathematischen Tatsachen zu besitzen, ebenso wie vom modalen Status dieser Tatsachen.115 Ich möchte den Begriff jedoch als Arbeitsbegriff verstanden wissen. Das heißt, dass ich es im Rahmen dieser Arbeit nicht für sinnvoll erachte, in den philosophischen Dissens über die Frage, ob es A-priori-Wissen überhaupt gibt und ob die Unterscheidung zwischen A-priori-  und A-posteriori-Wissen kohärent und sinnvoll ist oder ob es sich um eine oberflächliche Unterscheidung ohne philosophischen Mehrwert handelt, einzutreten.116 Williamson geht davon aus, dass die Unterscheidung 115 Vgl. Audi 2019, 378. Vgl. Kipper 2018 für die Argumentation, dass es nicht bei allen notwendig wahren Aussagen möglich ist, A-priori-Wissen über ihren modalen Status zu erlangen, sondern nur bei denjenigen Aussagen, deren Status im Gegensatz zu a priori opaken Aussagen a priori transparent ist. 116 Vgl. van Orman Quine [1960] 2013 für eine der ältesten und bekanntesten Argumentationen gegen die Möglichkeit von A-priori-Wissen. Vgl. Kitcher 2000; Hawthorne 2007; Williamson 2010, 2013 für neuere Argumentationen gegen die Möglichkeit einer kohärenten Unterscheidung zwischen A-priori- und A-posterior- Wissen und gegen die philosophische Relevanz dieser Unterscheidung. Vgl. Jenkins 2013 für eine Argumentation,

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zwischen A-priori-Wissen und A-posteriori-Wissen eine zu grobe Unterscheidung darstellt, die zwar historisch betrachtet ihre Rechtfertigung besitzt, jedoch nun durch angemessenere, feinkörnigere Unterscheidungen abgelöst werden sollte117: As our understanding deepens, we may recognize the need to reclassify the phenomena on less obvious dimensions of greater explanatory significance. Distinctions that aided progress in the early stages may hinder it later on. The a priori–a posteriori distinction is a case in point.118

Williamson schlägt vor, im Zuge neuerer Klassifizierungsversuche, Erkenntnisse aus der kognitiven Psychologie miteinzubeziehen119 und empfiehlt eine komplexere Unterscheidung auszuarbeiten, die der Interdependenz der verschiedenen Überzeugungen eines Subjektes Rechnung trägt: „To make progress, we need a more developed model, on which an individual belief has its own epistemic status, but that status depends in principle on the epistemic status of each other belief.“120 Insgesamt ist Williamsons deflationäre Sichtweise auf die Unterscheidung zwischen A-priori- und A-posteriori-Wissen umstritten.121 Der in dieser Arbeit ausgearbeitete Begriff von Wissen aus zweiter Hand wäre durchaus mit einem feinkörnigeren Modell der Unterscheidung zwischen a priori und a posteriori erwerbbaren Aussagen und der Annahme, dass diese Unterscheidung in einigen Fällen keine absolute Angelegenheit ist, kompatibel. Denn ich gehe davon aus, dass empirische Wahrnehmung und begriffliche Kompetenzen sich grundsätzlich wechselseitig beeinflussen. Ich nehme jedoch an, dass die von Kritikern der Unterscheidung vorgebrachten Argumente, falls sie gültig sind, nur Grenzfälle betreffen und die Begriffe a priori und a posteriori eine Unterscheidung kennzeichnen, die trotzdem von philosophischer Bedeutung ist.122 Ich werde die Unterscheidung daher verwenden, die versucht A-priori-Wissen mit naturalistischen Begriffen in Einklang zu bringen. Vgl. Casullo 2013 für eine Gegenargumentation gegen moderne Angriffe auf den Begriff des A-priori-Wissens. Vgl. Grundmann 2015 für eine Zurückweisung der Argumente von Hawthorne u. Williamson. Vgl. außerdem Bealer 1999; Audi 1999, 2019 für den Begriff von A-priori-Wissen, der in dieser Arbeit verwendet wird. 117 Williamson 2013, Vgl. 118 Williamson 2013, 308. 119 Vgl. Williamson 2013, 309. 120 Williamson 2013, 306. 121 Vgl. zum Beispiel Jenkins 2013; Casullo 2013; Grundmann 2015. 122 Dies gesteht auch Williamson zu. Vgl. Williamson 2013: „Since the terms ‚a priori‘ and ‚a posteriori‘ are not meaningless by normal standards, some difference between a priori and a posteriori knowledge remains.“ Williamson 2013, 309.

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um sicherzustellen, dass die verschiedenen Quellen, aus denen Wissen erworben werden kann, gleichermaßen abgedeckt werden. Da der Begriff der propositionalen Evidenz, den ich verwenden werde, eng an den Begriff der Evidenz von Williamson angelehnt ist, muss zunächst geklärt werden, ob die Einwände, die Williamson gegen die Unterscheidung a priori/a posteriori vorbringt, notwendig aus seinem Verständnis der Evidenz hervorgehen oder ob es grundsätzlich möglich ist, einen Begriff von A-prioriWissen zu vertreten, der mit Williamsons Verständnis propositionaler Evidenz kompatibel ist. Ich werde in 3.4.1 zunächst zeigen, dass die Unterscheidung a priori/a posteriori auch bei Annahme eines nicht-psychologistischen, faktiven Begriffs von Evidenz sinnvoll verwendet werden kann123, um anschließend kurz den in dieser Arbeit verwendeten Begriff von A-priori-Wissen zu skizzieren. In Kapitel 3.4.2 werde ich darauf aufbauend Wahrnehmungswissen und a priori erwerbbares Wissen vergleichen. In Kapitel 3.4.3 werde ich die Frage aufgreifen, inwiefern es a priori erwerbbares Wissen aus zweiter Hand geben kann. 3.4.1 Der in dieser Arbeit verwendete Begriff von A-priori-Wissen In der Philosophie gibt es drei verschiedene Hauptansichten darüber, was die Rechtfertigung für A-priori-Aussagen darstellt.124 Eine Sichtweise, die unter anderem von Williamson vertreten wird, besagt, dass der Unterschied zwischen empirischer und A-priori-Rechtfertigung nicht signifikant ist.125 Eine weitere Strömung geht davon aus, dass die Rechtfertigung von A-prioriAussagen keiner zusätzlichen Evidenz bedarf, z.B., weil alle A-priori-Aussagen durch die Tatsache, dass ein Subjekt sie glaubt, auch ohne zusätzliche Evidenz prima facie gerechtfertigt sind126 oder dass es eine Art von „Entitlement“ gibt, das dazu berechtigt, A-priori-Aussagen ohne zusätzliche Evidenz zu glauben, da diese allgemeine Voraussetzungen unseres Denkens darstellten127. Beide Sichtweisen würden keine zusätzliche Beschäftigung mit den Unterschieden zwischen wahrnehmungsabhängig und wahrnehmungsunabhängig rechtfertigbaren Aussagen auf der Ebene der Evidenz erfordern. Da ich davon ausgehe, dass der Besitz oder Nichtbesitz der Evidenz den entscheidenden Unterschied zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand ausmacht, ist es jedoch wichtig zu überprüfen, ob sich die Evidenz von 123 Ich werde hier einer Argumentation von Cath 2012 folgen. 124 Vgl. Russell 2020. 125 Vgl. Williamson 2013, 294–297. 126 Vgl. zum Beispiel Field 2000; Harman 2001. 127 Vgl. Wright 2004a, 2004b.

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Kapitel 3

erfahrungsunabhängig und erfahrungsabhängig erworbenem Wissen unterscheidet. Dies setzt aber voraus, dass A-priori-Aussagen der Rechtfertigung durch Evidenz bedürfen und dass sich diese Evidenz von derjenigen Evidenz unterscheidet, die zur Rechtfertigung empirischer Aussagen herangezogen wird. Daher ist für die Überprüfung möglicher, die Evidenz betreffender Unterschiede zwischen erfahrungsabhängig und erfahrungsunabhängig erwerbbarem Wissen, vor allem eine dritte Strömung von Bedeutung, innerhalb derer davon ausgegangen wird, dass A-priori-Aussagen durch Evidenz gerechtfertigt werden. Die meisten Vertreter dieser Ansicht gehen davon aus, dass diese Evidenz in Form von rationalen Intuitionen vorliegt.128 Diese Sichtweise setzt eine bestimmte Vorstellung von Intuitionen voraus, die im Wesentlichen auf vier Annahmen beruht, die in der folgenden oder ähnlichen Versionen von vielen Philosophinnen geteilt werden.129 (E1) Intuitionen wird in der Philosophie eine wichtige evidentielle Rolle zugeschrieben. (E2) Intuitionen wird diese evidentielle Rolle zu Recht zugeschrieben (E3) Die Intuitionen, denen diese evidentielle Rolle zugeschrieben wird, können nicht gleichgesetzt werden mit einer bloßen Überzeugung oder der Disposition, eine solche Überzeugung zu bilden. (E4) Die Intuitionen, denen diese evidentielle Rolle in der Philosophie zugeschrieben wird, sind rationale Intuitionen.130

Diese Annahmen werden unter anderem von Bealer131, Goldman132, Huemer133, Grundmann134, Sosa135, Hales136 und Pust137 geteilt. Williamson akzeptiert jedoch weder E2 noch E3 und E4. Er geht vielmehr davon aus, dass der Begriff der rationalen Intuitionen von dessen Vertretern psychologistisch interpretiert wird, weshalb rationale Intuitionen keine faktive Evidenz darstellen könnten.138 Philosophische Intuitionen, die laut den Vertretern des Begriffs der rationalen Intuitionen die Evidenz für A-priori-Wissen ausmachen, sind daher laut Williamson bloß Urteile oder Dispositionen zu bestimmten Urteilen, die sich in keiner signifikanten Weise von Urteilen in anderen Fachbereichen 128 Vgl. Russell 2020. 129 Vgl. Cath 2012, 311–312. 130 Vgl. Cath 2012, 311–312. 131 Bealer 1998. 132 Goldman 2002. 133 Huemer 2005. 134 Grundmann 2007. 135 Sosa 2007, Ch. 3. 136 Hales 2012. 137 Pust 2013. 138 Williamson 2010, 4–5, Ch. 7.

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unterscheiden würden: „In particular, so-called intuitions are simply judgments (or dispositions to judgment); neither their content nor the cognitive basis on which they are made need be distinctively philosophical.“139 Das Problem der Psychologisierung der Evidenz entsteht laut Williamson dadurch, dass die Vertreter des Begriffs der rationalen Intuitionen von einem Prinzip ausgingen, das er als „Evidence Neutrality“ bezeichnet. Dieses besagt, dass es grundsätzlich immer möglich sein sollte zu entscheiden, welche Aussagen Evidenz darstellen: Although the complete elimination of accidental mistakes and confusions is virtually impossible, we might hope that whether a proposition constitutes evidence is in principle uncontentiously decidable, in the sense that a community of inquirers can always in principle achieve common knowledge as to whether any given proposition constitutes evidence for the inquiry. Call that idea Evidence Neutrality.140

Darüber, welche konkreten rationalen Intuitionen Evidenz darstellen, herrscht in der Philosophie jedoch keine Einigkeit. Vielmehr basieren philosophische Debatten oft nicht nur auf Dissensen über die Gültigkeit der Argumentation, sondern auch über die Schlüssigkeit, also über die Frage, ob eine bestimmte Aussage wirklich Evidenz in Form einer rationalen Intuition darstellt. Um das Prinzip der Neutralität der Evidenz trotzdem zu bewahren, können die Vertreter des Begriffs der rationalen Intuitionen daher laut Williamson keinen faktiven Begriff von Evidenz vertreten. Der einzige gemeinsame Nenner, den zwei Personen, die einander widersprechende rationale Intuitionen besitzen, aufweisen, ist demnach, dass es beiden so scheint, als wäre ihre Aussage (notwendigerweise) wahr.141 Dies führe jedoch zu denselben skeptischen Problemen, die auch die nicht-faktive, konjunktivistische Auffassung von Evidenz im Falle der Sinneswahrnehmungen mit sich bringe.142 Williamson geht davon aus, dass die meisten Vertreterinnen des Begriffs der rationalen Intuitionen ein solches psychologistisches Verständnis der Evidenz im Falle von rationalen Intuitionen unterstützen würden: For the sceptic about judgement, often the only evidential base to hand short of the disputed proposition itself is the conscious inclination to assent to that proposition, to make the judgement. If scepticism about judgement is treated by analogy with scepticism about perception, then its evidential base will be described as intellectual appearances, somehow analogous to perceptual appearances.143 139 Williamson 2010, 3. 140 Williamson 2010, 210. 141 Vgl. Williamson 2010, 210–211. 142 Vgl. Williamson 2004, 116–117. 143 Williamson 2004, 117.

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Kapitel 3

Ich möchte daher im Folgenden zwei Fragen überprüfen: Erstens, ob Williamsons Einschätzung über die Haltung der Philosophinnen, die rationale Intuitionen als Evidenz betrachten, stimmt. Und zweitens, ob die von Williamson aufgezeigten Probleme kontingent sind oder notwendigerweise mit der Vorstellung, dass rationale Intuitionen Evidenz darstellen können, verbunden sind. Ich werde anschließend skizzieren, wie ein Begriff von rationalen Intuitionen aussehen könnte, der mit einem faktiven, nicht-konjunktivistischen Verständnis von Evidenz kompatibel ist. Bezüglich des Problems der Psychologisierung der Evidenz stellt Cath fest, dass zwar einige Philosophinnen rationale Intuitionen als intellektuelle Erscheinungen oder „Seemings“ betrachten144, dass dies jedoch nicht notwendig zu einer Psychologisierung der Evidenz führen muss.145 Der Anspruch, dass eine bestimmte Intuition Evidenz für eine philosophische Aussage darstellt, kann auf zwei verschiedene Arten interpretiert werden. Die Annahme, dass die Intuition: „Die Protagonistin im Gettier-Fall besitzt eine wahre, gerechtfertigte Überzeugung, jedoch kein Wissen.“ die Evidenz für die Inkorrektheit der Standardanalyse des Wissens darstellt, kann beispielsweise folgendermaßen interpretiert werden: (i) dass die eigene Evidenz in der psychologischen Aussage besteht „Ich habe die Intuition, dass die Protagonistin im Gettier-Fall eine wahre gerechtfertigte Überzeugung, jedoch kein Wissen besitzt“; oder (ii) dass die eigene Evidenz aus dem nicht-psychologische Inhalt der Intuition, also der Aussage „Die Protagonistin im Gettier-Fall besitzt eine wahre, gerechtfertigte Überzeugung, jedoch kein Wissen.“, besteht.146

Die zweite Interpretation ist laut Cath ebenso legitim wie die erste und zeigt, dass der Begriff der Intuition prinzipiell so interpretiert werden kann, dass unsere Evidenz in der Philosophie nicht psychologisiert wird.147 Aus der Annahme, dass rationale Intuitionen die Evidenz im Falle von A-priori-Wissen darstellen, folgt also nicht notwendig eine psychologistische Interpretation der Evidenz. Es ist jedoch auch nicht so, dass alle Vertreterinnen dieser Sichtweise kontingenterweise eine psychologistische Auffassung rationaler Intuitionen vertreten würden, wovon Williamson vorschnell ausgeht.148 Cath zeigt, dass es zwar einige Philosophinnen gibt, die nicht klar definieren, ob 144 Darunter z.B. Bealer 1998; Bonjour 1998; Audi 2019. 145 Vgl. Cath 2012, 315. 146 Cath 2012, 315. Meine Übersetzung. 147 Cath 2012, 315. 148 Vgl. Williamson 2004, 119.

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ihr Begriff rationaler Intuitionen psychologistisch oder nicht-psychologistisch zu verstehen ist. Darüber hinaus gibt es jedoch nur sehr wenige Vertreterinnen, die explizit einer psychologistischen Interpretation zustimmen149, während andere dezidiert eine nicht-psychologistische Interpretation vertreten, darunter Bealer: „When I say that intuitions are used as evidence, I of course mean that the contents of the intuitions count as evidence.“150 Williamsons Einwand der Psychologisierung der Evidenz ist also nicht haltbar. Trotzdem vertritt Bealer, so wie andere Verfechterinnen des Begriffs der rationalen Intuitionen, ein nicht-faktives Verständnis dieser Intuitionen. Außerdem geht er davon aus, dass rationale Intuitionen nicht automatisch zur Bildung der entsprechenden Überzeugung führen.151 Da Evidenz laut Williamson jedoch nicht-konjunktivistisch, faktiv und überzeugungsenthaltend ist152, scheint es so, dass rationale Intuitionen nicht mit diesem Begriff der Evidenz vereinbar sind. Sollte ein nicht-faktives Verständnis der Evidenz eine notwendige Folge der Vorstellung, dass rationale Intuitionen die Evidenz für A-priori-Wissen darstellen, sein, dann würden tatsächlich starke Spannungen mit Williamsons Evidenzbegriff auftreten. Cath zeigt jedoch, dass die nicht-faktive Sichtweise auf den Begriff der rationalen Intuitionen bei Bealer und anderen Autorinnen einfach kontingent aus einem nicht-faktiven Verständnis von Evidenz resultiert.153 Es gibt hingegen keine notwendige Begründung, weshalb der Begriff der rationalen Intuitionen nicht mit einem Begriff von Evidenz als faktiver, propositionaler Einstellung kompatibel sein sollte.154 So wäre es möglich, den Ausdruck des intuitiven Erkennens als Erfolgsverb und nicht als Versuchsverb zu verstehen und analog zu den Verben sehen und hören als eine spezifische Art, etwas zu wissen, aufzufassen.155

149 Siehe z.B. Goldman 2002. 150 Bealer 1998, 205. 151 Vgl. Bealer 1998, 208, 214–215. 152 Vgl. Williamson 2002, 21. 153 Vgl. Cath 2012, 326. 154 Vgl. Cath 2012, 318. 155 Vgl. Cath 2012, 323. Cath weist darauf hin, dass zumindest in der englischen Sprache eine faktive Auslegung des Verbs „to intuit“ nicht unüblich ist und der lexikalischen Bedeutung entspricht: To intuit: „2 a. intr. or absol. To receive or assimilate knowledge by direct perception or comprehension. 2 b. trans. To know anything immediately, without the intervention of any reasoning process; to know by intuition.“ OED Online 2012, zitiert nach Cath 2012, 323.

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Kapitel 3

Um das nicht-faktive, nicht-überzeugungsenthaltende Verständnis des Begriffs der rationalen Intuitionen zu wahren, könnte man davon ausgehen, dass rationale Intuitionen im guten Fall echte rationale Einsichten sind und dann eine spezielle Art einer faktiven, propositionalen Einstellung darstellen.156 Bealer geht davon aus, dass rationale Intuitionen analog zu Wahrnehmungserfahrungen (perceptual seemings) intellektuelle Erscheinungen (intellectual seemings) darstellen.157 Auch diese Sichtweise ist mit einer faktiven, nichtkonjunktivistischen Auffassung der Evidenz vereinbar, wenn man die Einschränkung akzeptiert, dass diese intellektuellen Erscheinungen analog zu den Wahrnehmungserfahrungen nicht die Evidenz selbst darstellen, sondern im guten Fall die Basis für die Evidenz bilden.158 Ich werde mich daher in dieser Arbeit an dem Begriff des A-priori-Wissens von Audi und Bealer orientieren, jedoch mit der Einschränkung, dass rationale Intuitionen nur im guten Falle Evidenz in Form echter rationaler Einsichten darstellen. Audi und Bealer gehen davon aus, dass Aussagen dann a priori gerechtfertigt werden können, wenn das Verständnis der beteiligten Begriffe einer Person vollständig159 und determiniert genug160 ist, um bezüglich der Anwendungsregeln des Begriffs rationale Intuitionen161 zu besitzen. Diese Sichtweise setzt voraus, dass der Übergang von einem nominalen162 bzw. bloß semantischen Verständnis163 zu einem determinierten Begriff164 durch einen Zuwachs an Wissen bezüglich dieser Begriffe ermöglicht wird.165 Sie ist daher mit der oben skizzierten Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand kompatibel. Audi stellt explizit heraus, dass sein Ansatz mit externalistischen ebenso wie mit internalistischen Wissenstheorien Diese Definition stimmt mit der anderere Wörterbücher überein, z.B.: „Definition of intuit: transitive verb: to know sense or understand by intuition.“ Merriam Webster; n.d. 2021. 156 Wissen stellt laut Williamson die allgemeinste Art einer faktiven, propositionalen Einstellung dar. Vgl. Williamson 2002, 33–34. 157 Bealer geht explizit von einer Analogiebeziehung bezüglich der Nicht-Überzeugungsenthaltung zwischen „intellectual seemings“ und „perceptual seemings“ aus. Bealer 1999, 31. Audi scheint eine ähnliche Haltung zu vertreten: „In occurrent cases of self-evidentially justified belief, a kind of intuition is normally parallel to a sensory seeming.“ Audi 2019, 380. 158 Vgl. Cath 2012, 314. 159 Vgl. Audi 2019, 360. 160 Vgl. Bealer 1999, 38. 161 Vgl. Bealer 1999, 30. Audi nimmt zwar eine sehr enge Verbindung zwischen kognitiven Intuitionen und Selbstevidenz an, geht aber nicht von einer in jedem Falle hinreichenden und notwendigen Verbindung aus. 162 Vgl. Bealer 1999, 37. 163 Audi 2019, 358. 164 Bealer 1999, 38. 165 Vgl. Bealer 1999, 41.

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kompatibel ist166, weshalb er genügend Spielraum bietet, um im Rahmen eines theorieübergreifenden Begriffs von Wissen aus zweiter Hand verwendet zu werden. Wenn ich im Folgenden von a priori rechtfertigbarem Wissen spreche, meine ich Aussagen, die grundsätzlich durch ein angemessenes Verständnis der beteiligten Begriffe gerechtfertigt werden können. Ich habe oben mithilfe des Beispiels von Weatherson gezeigt, dass eine Aussage, die für eine Person a priori rechtfertigbares Wissen darstellt, nicht zwangsläufig für eine andere Person ebenso rechtfertigbar sein muss. Audi unterscheidet hierzu zwei Verwendungsweisen des Begriffs der Selbstevidenz: Selbstevidenz in ihrer nicht relativierten Form bedeutet, dass eine Aussage grundsätzlich von einer Person allein auf Basis des Verständnisses dieser Aussage gerechtfertigt werden kann und beschreibt ein stabiles Merkmal von Aussagen.167 Man kann eine Aussage, die in diesem allgemeinen Sinne selbstevident ist, auch als A-priori-Aussage bezeichnen; dies bedeutet, dass es sich um eine Aussage handelt, die a priori rechtfertigbar ist, in dem minimalen Sinne, dass das Erwerben eines adäquaten Verständnisses der Aussage einer Person ausreichend Rechtfertigung liefert, um sie wissen zu können.168 Die Eigenschaft, dass eine Aussage selbstevident für eine bestimmte Person ist, beschreibt hingegen eine Relation zwischen einer Aussage und einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt und variiert daher.169 Es ist daher möglich, dass eine bestimmte Aussage für eine Person selbstevident ist, während dieselbe Aussage für eine andere Person nicht selbstevident erscheint. Diese Person würde dann zusätzliche Evidenz, entweder in Form von Zwischenschritten oder in Form von testimonialem Wissen benötigen, um trotzdem das Wissen dieser Aussage zu erwerben. Ich möchte dies an einem Beispiel von Weatherson illustrieren: Socken im Trockner: A, B, und C versuchen herauszufinden, wie viele Socken im Trockner sind. Sie wissen alle, dass dort sieben grüne Socken und fünf blaue Socken sind, dass das alle Socken sind und dass keine Socke gleichzeitig blau und grün ist. Aus diesen Informationen ziehen sie alle den Schluss und wissen daher, dass im Trocken sieben plus fünf Socken sind. A ist eine Erwachsene mit statistisch durchschnittlichen arithmetischen Fähigkeiten, sie zieht daher schnell den Schluss, dass im Trockner zwölf Socken sind. B ist ein dreijähriges Kind, dass in Arithmetik 166 Vgl. Audi 2019, 375–376. 167 Audi nennt dies „self-evidence simpliciter“. Audi 2019, 361. 168 Vgl. Audi 1999, 211. 169 Audi nennt dies “relativized self-evidence for some subject S“. Relativized self-evidence: “p is self-evident for S if and only if (1) p is self-evident simpliciter, and (2) S adequately understands p.“ Audi 2019, 362.

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Kapitel 3 komplett unzuverlässig ist. Sie rät, dass es zwölf Socken sind. Bis hierhin können wir sagen, dass A weiß, dass im Trockner 12 Socken sind und B dies nicht weiß. Aber bei C, die vier Jahre alt ist, handelt es sich um einen subtileren Fall. Sie sagt zu sich selbst: ‚Ich denke es sind zwölf, aber ich überprüfe es lieber.‘ Das ist eine gute Reaktion; sowie B ist sie nicht so zuverlässig, dass sie das Ergebnis ohne Überprüfung wissen kann. Daher verwendet sie eine Methode zur Addition; sie beginnt mit ihren Fingern zu zählen. […] Sie schaut anschließend auf ihre Hände […] und schließt, dass die Antwort zwölf ist. Am Ende dieses Prozesses, jedoch nicht vorher, weiß sie, dass zwölf Socken im Trockner sind. In der Tat befindet sie sich erst am Ende dieses Prozesses in der Position wissen zu können, dass zwölf Socken im Trockner sind. Denn weil sie herausgefunden hat, dass sieben plus fünf zwölf sind, besitzt sie ausreichende Evidenz, um zu wissen, dass zwölf Socken im Trockner sind. Dies suggeriert, dass auch A nur wissen kann, dass zwölf Socken im Trockner sind, weil sie weiß, dass sieben plus fünf zwölf ist. Sie mag nicht bewusst zu sich selbst gesagt haben, dass sieben plus fünf zwölf sind, aber wenn dieses Wissen nicht Teil ihrer Evidenz wäre, wäre sie nicht in einer Position gewesen, um wissen zu können, dass im Trockner zwölf Socken sind.170

Während die Lösung der Aufgabe für A selbstevident erscheint, benötigt C zusätzliche Evidenz, kann aber das Ergebnis auch erster Hand wissen, während B das Ergebnis gar nicht selbstständig einsehen kann, weshalb sie es nur aus zweiter Hand über die Aussagen von A oder C wissen kann. Eine a priori rechtfertigbare Aussage kann daher bei einer bestimmten Person durchaus a posteriori gerechtfertigt sein. Ich gehe davon aus, dass dies dann der Fall ist, wenn eine Person Wissen von a priori rechtfertigbaren Aussagen aus zweiter Hand besitzt. In diesem Fall würde die Person ausreichend semantisches Verständnis171 besitzen, um die beteiligten Begriffe nominal zu verstehen172, jedoch nicht genügend adäquates Verständnis173 vorweisen können, um den Begriff vollständig zu besitzen174, sodass sie nicht in der Lage ist, die betreffende Proposition selbstständig über die eigene rationale Intuition175 einzusehen. Die Evidenz der Besitzerin von A-priori-Wissen besteht in dem unmittelbaren Erscheinen der Selbstevidenz oder in dem Wissen, dass die betreffende Aussage durch Inferenzen von anderen selbstevidenten Aussagen abgeleitet werden kann.176 Audi unterscheidet an dieser Stelle nochmal Aussagen, die 170 Weatherson 2019, 128–129 171 Vgl. Audi 2019, 358. 172 Vgl. Bealer 1999, 37. 173 Vgl. Audi 2019, 358. 174 Vgl. Bealer 1999, 37. 175 Vgl. Bealer 1999, 30; Audi 2019, 374. 176 Ich folge hier der Argumentation von Audi, dass auch Wissen, das nicht unmittelbar selbstevident ist, sondern durch Inferenz aus selbstevidenten Aussagen abgeleitet werden kann, insofern als A-priori-Wissen im weiten Sinne betrachtete werden kann, als es unabhängig

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a priori im engen Sinne sind, von Aussagen, die a priori im weiten Sinne sind. Erstere können nicht-inferentiell, allein auf Basis des adäquaten Verständnisses der Aussage gerechtfertigt werden. Sie sind unmittelbar selbstevident. A-priori-Aussagen im weiten Sinne weisen hingegen indirekte Selbstevidenz auf, wenn sie entweder selbstevident begrifflich impliziert werden von einer Aussage, die ihrerseits selbstevident ist oder sie durch selbstevidente Zwischenschritte von einer Aussage, die selbstevident ist, ableitbar sind. Letztere werden als ultimativ a priori bezeichnet.177 Ich gehe in dieser Arbeit davon aus, dass unmittelbar selbstevidente Aussagen keiner weiteren Evidenz bedürfen, die über das Wissen, dass die Aussage wahr ist, hinausgeht. A-priori-Aussagen im weiteren Sinne müssen hingegen durch Evidenz in Form von Zwischenschritten gerechtfertigt werden. 3.4.2 A priori erwerbbares Wissen aus zweiter Hand Mit dem oben definierten Begriff von A-priori-Wissen ist es auch möglich zu der Frage, ob es A-priori-Wissen aus zweiter Hand gibt, Stellung zu beziehen. Ich greife hier eine Debatte auf, die in der analytischen Philosophie ursprünglich unter der Fragestellung geführt wird, ob es A-priori-Wissen aus Testimony geben kann. Befürworter dieser These ist Tyler Burge, der nicht nur davon ausgeht, dass es in einigen Fällen eine A-priori-Berechtigung gibt, testimoniales Wissen zu glauben178, sondern auch, dass in diesen Fällen der A-priori-Status der betreffenden Aussagen bewahrt werden kann179, wodurch es möglich sei, über Testimony a priori gerechtfertigtes Wissen zu erwerben180. Burge geht davon aus, dass während der Übermittlung von testimonialem Wissen die Wahrnehmung nur als kausal ermöglichende Bedingung fungiert und nicht zur eigentlichen Rechtfertigung beiträgt: „In interlocution we have a general a priori prima facie (pro tanto) entitlement to rely on seeming understanding as genuine understanding.“181 Er illustriert dies an zwei Analogien: Zum einen vergleicht er die Rolle der Wahrnehmung bei testimonialem Wissen mit der Rolle von der Erfahrung gerechtfertigt werden kann. Vgl. Audi 1999, 221. Einige Philosophinnen würden Wissen, das auf mehrschrittigen Ableitungen beruht, explizit aus dem Bereich des A-priori-Wissens ausschließen. Vgl. beispielsweise Chisholm 1987, 124. 177 Vgl. Audi 1999, 221. 178 Vgl. beispielsweise Burge 1995: „A justification or entitlement is apriori if its justificational force is in no way constituted or enhanced by reference to or reliance on the specifics of some range of sense experiences or perceptual beliefs.“ Burge 1995, 272. Diese Argumentation wird u.a. auch von Reid und Coady vertreten. Vgl. Reid [1785] 2002; Coady 1994, Ch. 8. 179 Burge spricht in diesem Falle von „content preservation“. Vgl. bspw. Burge 1995, 293, 1997, 37. 180 Dies trifft laut Burge nicht nur auf testimoniales Wissen, sondern auch auf Wissen durch Erinnerungen zu. Vgl. Burge 1997. Ich werde in Kapitel 5.2 auf diese Annahme eingehen. 181 Burge 1997, 46.

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Kapitel 3

der Wahrnehmung von Symbolen und Diagrammen beim Triggern von Verständnis von mathematischen Wahrheiten. Beiden würde in diesen Fällen nur eine kausal ermöglichende (causal enabling condition) Rolle zukommen.182 Zum anderen vergleicht er die Rolle der Wahrnehmung bei testimonialem Wissen mit der Rolle der Erinnerung im Falle längerer Beweise. Beide hätten eine rein konservierende Rolle, weshalb der Status der Rechtfertigung nicht verändert würde.183 Da ich annehme, dass testimoniales Wissen als Unterkategorie von Wissen aus zweiter Hand betrachtet werden kann, stellt sich die von Burge aufgeworfene Frage ebenso für Wissen aus zweiter Hand. Ich werde die verschiedenen Reaktionen auf Burges These und ihre Bedeutung für den Begriff des Wissens aus zweiter Hand im Folgenden kurz erläutern: Angegriffen wurde Burges These unter anderem von Christensen und Kornblith, die argumentierten, dass Testimony im Falle von a priori erwerbbarem Wissen nicht eine rein ermöglichende Rolle besitzt – wie die Wahrnehmung im Falle der schriftlichen Berechnung eines mathematischen Beweises –, sondern substantiell zur Rechtfertigung beiträgt, die der Empfänger von testimonialem Wissen besitzt.184 Die Bewertung dieser Argumente ist von der Haltung in der Debatte um die Unterscheidung zwischen einer ermöglichenden und einer evidentiellen Rolle der Wahrnehmung abhängig, die in verschiedenen Bereichen der Philosophie geführt wird. Hier stellt sich die Frage, ob A-priori-Wissen vollständig unabhängig von der Wahrnehmung erworben sein muss185 und inwiefern eine saubere Unterscheidung zwischen ermöglichender und evidentieller Rechtfertigung möglich ist.186 Sollte die Erfahrung auch im Falle von A-priori-Wissen eine evidentielle Rolle einnehmen, so stellt sich die Frage, unter welchen Umständen die domänenspezifische Evidenz für dieses Wissen weitergegeben werden kann und wie die Fälle, in denen die Aussage einer anderen Person eine ermöglichende Rolle spielt, von den Fällen abgegrenzt werden können, in denen sie eine evidentielle Rolle spielt. Ähnlich wie bei der 182 Vgl. Burge 1997, 23. 183 Vgl. Burge 1995, 277. 184 Vgl. Christensen und Kornblith 1997, 2–11. 185 Barwise und Etchemendy 1996 gehen davon aus, dass die Wahrnehmung in mathematischen Beweisen eine Rolle einnehmen kann, die zwar nicht strikt evidentiell ist, jedoch auch nicht bloß ermöglichend. Die Wahrnehmung sei in diesem Fall zwar nicht essentiell, da ihre Rolle ersetzbar sei, sie könne jedoch auch nicht einfach ohne Ersatz weggelassen werden, da sie nicht überflüssig sei. 186 Williamson geht davon aus, dass eine strikte Trennung zwischen einer ermöglichenden und einer evidentiellen Rolle der Erfahrungen nicht möglich ist. Vgl. Williamson 2013, 291.

Definition des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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Wahrnehmungserfahrung sollte sich der Status eine Aussage, die ursprünglich aus zweiter Hand erworben wurde, ändern können, wenn sich die Basis der Rechtfertigung ändert. Die Aussage einer anderen Person kann dann als bloß ermöglichende Evidenz aufgefasst werden, wenn die Bedingungen für die Definition von Wissen aus zweiter Hand nicht erfüllt sind, d. h., die Rechtfertigung für eine Aussage weder unmittelbar noch mittelbar auf domänenunabhängiger Evidenz beruht.187 Um zu testen, ob diese Bedingungen erfüllt sind, kann geprüft werden, welche Disposition, die betreffende Proposition zu glauben, ein Subjekt in kontrafaktischen Fällen besitzt. Würde das Subjekt eine bestimmte Aussage weiterhin gerechtfertigterweise glauben, selbst wenn die domänenunabhängige Evidenz, die das Subjekt für die Aussage besaß, sich als ungerechtfertigt herausstellen sollte, so kann davon ausgegangen werden, dass die domänenspezifische Evidenz ausreicht, um die betreffende Aussage selbständig zu rechtfertigen.188 Da A-priori-Wissen nicht wie Wahrnehmungswissen über seine Ätiologie, sondern über die Art und Weise der Rechtfertigung bestimmt wird189, stellt sich außerdem die Frage, inwiefern Erinnerungen Quelle von A-priori-Wissen sein können.190 Ich gehe, ebenso wie Malmgren, davon aus, dass es keine plausible Lesart des von Burge verwendeten Ausdrucks „entitlement to rely on understanding“ gibt, bei der diese Berechtigung gleichzeitig a priori ist und außerdem die Möglichkeit von A-priori-Wissen durch Testimony erklären kann. Man müsste, wenn man Burges Ansatz folgt, davon ausgehen, dass das Wissen, von dem was 187 Siehe Kapitel 3.1 in dieser Arbeit. 188 Ich orientiere mich hier an einem Gedanken von Roush, die einen ähnlichen Ansatz ausführt, um zu prüfen, ob eine Person Wissen von einer notwendig wahren Aussage besitzt. Vgl. Roush 2005, 136–139. 189 Vgl. Nimtz 2011, 1372. 190 Christensen und Kornblith weisen zu Recht darauf hin, dass eine Bestimmung der Frage, ob das Wissen einer Person aus der Erinnerung a priori oder a posteriori erworben wurde, nicht in jedem Fall ausreicht, um den aktuellen Status einer Aussage zu bestimmen: „One might hold that whether the justification of a person’s memory-based belief is a priori or not depends on historical factors, such as how the person acquired the belief in the first place. This would limit to some extent the explosion of a prioricity that seems to be entailed by the proposal just considered. However, this proposal too has consequences that will be unattractive to many. For it entails that two people could remember the same fact – indeed, they could share all the same present beliefs, reasons, cognitive abilities, and memories – and one of them be justified a priori and the other justified a posteriori, because one of them had done the proof 20 years ago, while the other had taken a student’s word for it after self- consciously considering the possibility that he was lying. A priori justification would then be a function neither of the believer’s present reasons for belief nor, indeed, of anything else about the believer’s present cognitive states and capacities.“ Christensen und Kornblith 1997, 14.

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Kapitel 3

gesagt wurde, bei dem Erwerb von Wissen durch Testimony in einigen Fällen eine bloß kausale Rolle spielt, nämlich im Falle der Übertragung von a priori erwerbbarem Wissen; während dies im Falle der Weitergabe von empirischem Wissen nicht ausreichen würde. Diese ungleiche Behandlung erscheint jedoch ad hoc.191 Die Vorstellung, dass es möglich ist, über Testimony nicht nur Wissen zu teilen, sondern auch die unveränderte, komplette Rechtfertigung für dieses Wissen weiterzugeben, müsste auch dazu führen, dass die komplette DefeaterStruktur der Überzeugungen mit weitergegeben wird, was zu konterintuitiven Resultaten führen würde192. Burges Annahme, es gäbe eine Berechtigung, sich im Falle von testimonialem Wissen auf das eigene scheinbare Verständnis der Aussage zu verlassen, um A-priori-Wissen zu erwerben, kann daher nur durch eine doppeldeutige Verwendung des Begriffs der Berechtigung erklärt werden kann. Denn Burge verwendet den Begriff der Berechtigung systematisch auf zwei verschiedene Arten und Weisen: Einerseits, um die generelle Berechtigung, uns auf die Wahrnehmung als Quelle von Wissen zu verlassen, zu kennzeichnen.193 Andererseits als Berechtigung für den Besitz einer Überzeugung auf Grundlage dieser Fähigkeit in einem bestimmten Einzelfall. Daher folgt selbst aus der A-priori-Berechtigung einer Person, sich auf ihr Vermögen zum Erwerb testimonialen Wissens zu verlassen, meines Erachtens nicht, dass sie hierdurch automatisch A-priori-Wissen erwirbt. Darüber hinaus scheint Burges Argumentation nur plausibel, wenn man die externalistische Art der Rechtfertigung, die Burge als entitlement bezeich­ net, nicht von der internalistischen Rechtfertigung, die er als justification bezeichnet, unterscheidet194. Ein Vorteil des in dieser Arbeit verwendeten propositionalen, faktiven Begriffs von Evidenz ist, dass bei der Zuschreibung von Wissen aus zweiter Hand solche Unklarheiten nicht auftreten. Die obige Debatte zeigt, dass die Argumentation Burges auf einem streng transmissiven Verständnis der Weitergabe von testimonialem Wissen beruht. Der in dieser Arbeit vorgeschlagene Begriff von Wissen aus zweiter Hand, der eine Abhängigkeit nach dem evidentiellen Modell nahelegt, ist von dieser 191 Vgl. Malmgren 2006, 236. 192 Vgl. Malmgren 2013, 178–184. 193 Vgl. hierzu Graham: „To understand Burge’s distinction between entitlement and justification, you need to know that he systematically uses ‚entitlement‘ in two different senses. In the first, we have an entitlement to rely on a belief-forming competence. This is an entitlement that attaches to our reliance on the competence in general. In the second, we have entitlements for beliefs – entitlements to hold or form particular beliefs through exercises of a competence. Here the entitlement attaches to the belief formed or sustained by the competence exercised on a given occasion. When Burge distinguishes between entitlement and justification, he primarily has this second sense in mind.“ Graham 2020, 94. 194 Vgl. Neta 2010, 194.

Definition des Begriffs Wissen aus zweiter Hand

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Argumentation daher nicht betroffen, was als Vorteil betrachtet werden kann, wenn man die Ansicht Burges nicht teilt. Um das Problem der Unterscheidung zwischen der ermöglichenden und der evidentiellen Rolle von Wissen aus zweiter Hand zu lösen, ist es sinnvoll, zwischen einem rudimentären semantischen Verständnis, das benötigt wird, um den Inhalt einer Aussage zu begreifen und einem adäquaten Verständnis, das als Grundlage der eigenen Rechtfertigung für eine a priori erkennbare Aussage dienen kann195, zu unterscheiden. Die bis hierhin getroffene Unterscheidung von Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand, die auf der in propositionaler Form vorliegenden Evidenz als Unterscheidungskriterium beruht, erlaubt dann in Verbindung mit dem oben vorgestellten Begriff von a priori erwerbbarem Wissen eine eindeutige Aussage zu der Frage, ob es möglich ist, A-priori-Wissen aus zweiter Hand zu besitzen. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen a priori erwerbbarem Wissen und dem A-priori-Wissen einer Einzelperson kann davon ausgegangen werden, dass es durchaus möglich ist, a priori erwerbbares Wissen aus zweiter Hand zu besitzen. Es sollte auch möglich sein, dass ursprünglich aus zweiter Hand erworbenes Wissen beim Subjekt als A-priori-Wissen vorliegt. In diesem Falle ist aber anzunehmen, dass die domänenspezifische Evidenz, die das Subjekt besitzt, ausreichend und gut genug vernetzt ist, um die entsprechende Aussage vom eigenen epistemischen Standort aus selbstständig zu rechtfertigen und die Bedingungen für den Besitz von Wissen aus zweiter Hand gar nicht mehr vorliegen. Bei komplexeren Beweisen setzt der Besitz der domänenspezifischen Evidenz auch den Besitz und die Basierung auf den zur Rechtfertigung notwendigen Zwischenschritten voraus, bei unmittelbar selbstevidenten Aussagen besteht die Evidenz in der echten rationalen Einsicht, dass der Inhalt der Aussage wahr ist.196 Die Basis des Wissens des Subjekts würde sich in diesen Fällen ändern, wodurch das ursprünglich aus zweiter Hand erworbene Wissen zu Wissen aus erster Hand würde. Die Rechtfertigung beruht in diesem Falle nicht mehr auf der domänenunabhängigen Evidenz, die das Subjekt aus zweiter Hand erhalten hat.197 Ich möchte diese Bewertung an zwei Beispielfällen deutlich machen: einmal für den Fall von unmittelbar selbstevidenten Aussagen198 und einmal für den Fall von A-priori-Aussagen im weiten Sinne, also

195 196 197 198

Vgl. zu dieser Unterscheidung Bealer 1999, 37. Siehe hierzu die Analyse des Gedankenexperiments Socken im Trockner auf S. 159. Siehe hierzu Definition von Wissen auf #S. 109. Unmittelbar selbstevidente Aussagen sind nach Audis Terminologie ultimativ a priori. Vgl. Audi 1999, 221.

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Aussagen, die über mehrschrittige Inferenzen aus selbstevidenten Aussagen gerechtfertigt sind. Die Existenz von Urgroẞeltern: Dieses Beispiel einer selbstevidenten Aussage p entlehne ich von Audi: Die Existenz von Urgroßeltern ist nur möglich, wenn 4 direkt miteinander verwandte Generationen existieren.199 Diese Aussage geht selbstevident aus dem Begriff Urgroßeltern hervor. Sie ist in dem Wissensnetz von A außerdem direkt bei dem Konzept Urgroßeltern abgespeichert200, sodass sie nicht zunächst die interne Inferenz ziehen muss, dass die Urgroßeltern die Eltern von Großeltern sind, die selbst die Eltern der Eltern eines Kindes sind.201 A kann die Aussage daher a priori wissen, ohne zusätzliche Argumente zu benötigen. Ihre Evidenz besteht in diesem Falle in der rationalen Einsicht, dass p. Wenn A nun ihr Wissen mit B teilt, weiß B diese Aussage aus zweiter Hand. Jedenfalls dann, wenn B die Aussage nicht sowieso schon wusste oder die Aussage für B, nachdem sie ihr übermittelt wurde, selbstevident erscheint. Denn in letzterem Fall besitzt B selbst die domänenspezifische Evidenz, dass die Aussage ihr selbstevident erscheint. Sie kann die Aussage also selbst aus erster Hand rechtfertigen. Insofern scheint es nicht möglich, dass B A-priori-Wissen aus zweiter Hand erhält. Was B jedoch sehr wohl aus zweiter Hand besitzen kann, ist a priori erwerbbares Wissen. Also Wissen, das grundsätzlich von der Erfahrung unabhängig erworben werden kann202, auch wenn B dieses Wissen nur a posteriori besitzt. Die Evidenz von A und B unterscheidet sich in diesem Falle. Während A die domänenspezifische Evidenz in Form der rationalen Einsicht, dass p, besitzt, besitzt B die domänenunabhängige Evidenz, dass p von dem Standort einer anderen Person aus selbstevident erscheint, was für B unüberprüfbar ist und daher eine exoterische Aussage darstellt. Nun ist jedoch auch denkbar, dass p für B nur zunächst nicht selbstevident erscheint. Vielleicht hat B nicht richtig nachgedacht oder denkt, dass eine 199 Vgl. Audi 1999, 207. 200 Siehe hierzu die Ergebnisse aus 3.3.1. 201 Selbst wenn eine Person diese Inferenz benötigt, könnte die Aussage für sie trotzdem noch selbstevident sein; Audi würde sie dann als „mediately self-evident“ bezeichnen, diese Form der Selbstevidenz lässt interne Inferenzen, die nur als gedankliche Hilfen verwendet werden, zu. Nur externe Inferenzen, die auf zusätzlichen, nicht im Begriff selbst enthaltenen Prämissen beruhen, werden hiervon ausgeschlossen. Audi 1999, 218. 202 Um diesen Unterschied deutlich zu machen, definiert Audi den Begriff „Relativized selfevidence“: p is self-evident for S if and only if (1) p is self-evident simpliciter, and (2) S adequately understands p. Audi 2019, 361–362.

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Generation immer eine bestimmte Anzahl von Lebensjahren beinhaltet oder denkt, dass der Begriff Urgroßeltern die Großeltern der Großeltern, anstellte der Eltern der Großeltern bezeichnet. Wenn B die Aussage nun von A übermittelt wird und A Glauben schenkt, weiß B die Aussage zunächst aus zweiter Hand. Nach einiger Zeit des Nachdenkens oder nach einigen Erklärungen von A kann B aber auch eine qualitative und/oder quantitative Verbesserung ihrer Begriffe erfahren. Sie gewinnt quantitativ neues Wissen hinzu, wenn sie lernt, dass die Vorsilbe Ur- eine Generation mehr meint, also die Eltern von Großeltern. Oder sie organisiert ihr Konzept des Begriffs Generation qualitativ neu, indem sie die falsche Vorstellung, dass eine Generation immer genau 30 Jahre dauert, verwirft. Das Wissen, das sie aus zweiter Hand erworben hat, kann ihr also auch helfen, den Begriff Großeltern in einem determinierten Sinn zu entwickeln, anstelle des vorherigen bloß nominalen Begriffsbesitzes.203 Sobald B den Begriff der Urgroßeltern nun jedoch in einem ausreichend determinierten Sinne besitzt, ist sie auch in der Lage, die Wahrheit von p selbst mithilfe ihrer eigenen rationalen Intuition zu rechtfertigen. P wird für B somit exoterisch. Ab diesem Zeitpunkt weiß B die Aussage aus erster Hand. These: Für A-priori-Aussagen im engen Sinne gilt also: Es kann nur A-prioriWissen dieser Aussagen aus erster Hand geben. Es kann Wissen von a priori erwerbaren Aussagen aus zweiter Hand geben, dieses Wissen wurde dann jedoch a posteriori erworben. Die Rechenaufgabe: Als Beispiel einer nicht unmittelbar selbsteviden­ ten, jedoch trotzdem a priori rechtfertigbaren Aussage dient die Aussage:  16 + 225 − 25 = 14 Wenn eine Schülerin diese Aussage aus zweiter Hand erwirbt, besitzt sie nicht genügend domänenspezifische Evidenz, um sie selbstständig zu rechtfertigen. Sie besitzt nicht die domänenspezifische Evidenz in Form der Zwischenschritte, dass  = 16 4= ; 225 15; 25  = 5; 4 + 15 = 19 und 19 – 5 = 14 ist. Solange die Schülerin die Aufgabe nicht selbst berechnet, beruht ihr Wissen daher nur auf der domänenunabhängigen Evidenz, die sie durch die Aussage der Lehrerin erhält. Sollte die Schülerin grundsätzlich in der Lage sein, die Aufgabe selbst zu berechnen, besitzt sie laut Audi zwar ein schwaches dispositionales Verständnis der Aussage, dies ist jedoch nicht ausreichend, um als Basis ihres Wissens zu dienen204. Allenfalls könnte der Schülerin die Disposition, 203 Vgl. Bealer 1999, 37–42. 204 Vgl. Audi 1999, 209.

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das Ergebnis zu wissen, zugeschrieben werden, die jedoch einen weiteren überzeugungsbildenden Prozess voraussetzen würde, um sich zu manifestieren205. Rechnet sie die einzelnen Schritte tatsächlich selbstständig nach, so besitzt sie anschließend das Wissen der Aussage aus erster Hand. Dies gilt auch, wenn die Lehrerin ihr jeden einzelnen Schritt erklären muss. Laut Bealer passiert dann Folgendes: When a subject’s mode of concept possession shifts to determinateness there is a corresponding shift in the possible intuitions accessible to the subject (or the subject’s counterparts). In fact, there is a shift in both quantity and quality. The quantity grows because incomplete understanding is replaced with complete understanding, eliminating „don’t knows.“ The quality improves because incorrect understanding is replaced with correct understanding.206

Es kann also unproblematisch erklärt werden, weshalb Schülerinnen über Unterweisungen aus zweiter Hand, sobald sie ein ausreichendes Verständnis entwickelt haben, Wissen aus erster Hand entwickeln können. Dies stimmt mit der Beobachtung überein, dass Schülerinnen manchmal als Erwachsene sogar ihre Lehrerinnen überflügeln und eine größere Expertise erwerben als die ursprünglichen Expertinnen. Es muss vorausgesetzt werden, dass die Schülerin dann ein angemessenes Verständnis der involvierten mathematischen Operatoren besitzt. Verfügt eine Schülerin beispielsweise noch nicht über den Wurzelbegriff und die Lehrerin teilt ihr die Ergebnisse der Zwischenschritte einfach mit, so muss davon ausgegangen werden, dass die Schülerin weiterhin nur über Wissen aus zweiter Hand verfügt, da die Basis ihrer Evidenz weiterhin zu entscheidenden Teilen aus zweiter Hand stammt. Dies würde auch dann gelten, wenn die Schülerin von der Lehrerin jeden einzelnen Zwischenschritt mitgeteilt bekommt. Denn es reicht in diesem Falle nicht aus, dass sie theoretisch über ausreichend domänenspezifische Evidenz verfügt, um die Aussage zu rechtfertigen. Sie muss diese Evidenz auch als Basis ihrer Überzeugung verwenden. Dies ist jedoch nur möglich, wenn sie die einzelnen Zwischenschritte nicht nur kennt, sondern auch versteht. Andernfalls ist davon auszugehen, dass die domänenunabhängige Evidenz in Form der Aussage ihrer Lehrerin, dass die Aussage wahr ist, weiterhin diejenige Evidenz bleibt, auf der ihre Rechtfertigung basiert. Bei nicht unmittelbar a priori rechtfertigbaren Aussagen kann man also davon ausgehen, dass eine Person diese dann aus erster Hand und a priori weiß, wenn sie in der Lage ist, jeden einzelnen Zwischenschritt mithilfe ihres 205 Vgl. Audi 2015, 13. 206 Bealer 1999, 41.

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Verständnisses der beteiligten Begriffe selbstständig zu rechtfertigen. Ansonsten besitzt sie das Wissen aus zweiter Hand und a posteriori. Diese Argumentation zeigt, dass es zwar möglich ist, das Wissen, das zum Verständnis notwendig ist, aus zweiter Hand zu erwerben  – was mitunter unmittelbar Verständnis beim Zweitbesitzer hervorruft –, dass es jedoch nicht möglich ist, das Verständnis selbst auf diese Art zu transportieren. Die Vorstellung, dass dies trotzdem möglich sei, die Burge vertritt, lässt sich auch dadurch erklären, dass das sich bei unmittelbar selbstevidenten Aussagen oft unverzüglich einstellende Verständnis nicht inferentiell ist und nicht durch zusätzliche Prämissen gerechtfertigt werden muss.207Hieraus kann der Eindruck entstehen, als sei auch das Verständnis der Aussage transportiert worden. Diese Missinterpretation ist jedoch nur möglich, wenn zwischen einem bloß semantischen Verständnis und einem adäquaten Verständnis nicht unterschieden wird. Zusammenfassung: Burges Begründung für die Möglichkeit der A-Priorität von testimonialem Wissen208, ist meines Erachtens unproblematisch, solange Burge ein vollständiges Verständnis der beteiligten Begriffe im Sinne hat. Dann wäre das Wissen, das auf diese Art gewonnen wurde, nach dem hier vorgestellten Ansatz, jedoch kein Wissen aus zweiter Hand, sondern Wissen aus erster Hand. Man sollte dann aber nicht mehr davon sprechen, dass es sich um testimoniales Wissen handele, da sich in diesem Falle die Basis der Rechtfertigung der Aussage ändert, wodurch Wissen, das ursprünglich über Testimony erworben wurde, nun aufgrund des eigenen Verständnisses gerechtfertigt werden kann.209 Diese Deutungsmöglichkeit ist davon abhängig, welche Bedingungen an die Weitergabe von testimonialem Wissen gestellt werden und welches Verständnis von Evidenz vertreten wird. Der in dieser Arbeit vertretene Begriff des Wissens aus zweiter Hand weist den Vorteil auf, dass die obige eindeutige Antwort auf die Fragestellung möglich ist. 3.4.3 Wahrnehmungswissen und a priori erwerbbares Wissen im Vergleich Der Begriff des Wissens aus zweiter Hand fasst sehr heterogene Wissensarten zusammen, da sowohl wahrnehmungsabhängiges als auch a priori erwerbbares Wissen aus zweiter Hand besessen werden können. Im Folgenden möchte ich daher kurz Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser beiden 207 Vgl. Audi 2019, 361. 208 „So our understanding of content in interlocution can be intellectual in a way that allows our entitlement to the understanding – and beliefs based upon it – to be a priori.“ Burge 1997, 36. 209 Fricker geht davon aus. Vgl. Fricker 2006b, 226.

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Wissensarten herausstellen. Dieses Vorgehen wird später hilfreich zu sein, um im Rahmen der Frage nach dem epistemischen Wert genauer beantworten zu können, was auf dem Weg von Wissen aus erster Hand zu Wissen aus zweiter Hand verlorengeht. Folgt man der Argumentation von Audi und von Pritchard, dann erfordern sowohl wahrnehmungsabhängiges als auch wahrnehmungsunabhängiges Wissen aus erster Hand, dass man in der Lage ist, dessen Richtigkeit zu sehen bzw. einzusehen. Audi geht davon aus, dass das Einsehen von unmittelbaren A-prioriAussagen einige wichtige Gemeinsamkeiten mit der Sinneswahrnehmung aufweist: In beiden Fällen läge ein unmittelbares, nicht inferentielles Erfassen der Wirklichkeit vor. Beide würden propositionale und referentielle Faktivität aufweisen. Beide würden in de re und de dicto Formen vorkommen.210 Bealer geht davon aus, dass intellektuelle Einsicht (die rationale Intuition), ebenso wie perzeptuelles Sehen, bloß eine weitere Form einer propositionalen Einstellung darstellt.211 Pritchard geht davon aus, dass sowohl Wahrnehmungswissen als auch wahrnehmungsunabhängiges Wissen aus erster Hand einen größeren epistemischen Wert aufweisen, als Wissen aus zweiter Hand, da beide intellektuelle Autonomie fördern würden und voraussetzen würden, dass das Subjekt in der Lage ist, relevante Informationen bewusst so zu konstruieren, dass ein selbstständiges Verständnis entstehen kann. Es zeigen sich jedoch auch Unterschiede zwischen Wahrnehmungswissen und a priori erwerbbarem Wissen. So scheint a priori erwerbbares Wissen aus erster Hand mehr Verständnis vorauszusetzen als Wahrnehmungswissen aus erster Hand. Audi und Bealer legen ausführlich dar, welche Aspekte ein vollständiges begriffliches Verständnis erfordert, das eine Person in die Lage versetzte, Dinge a priori einzusehen. Bei wahrnehmungsabhängigem Wissen aus erster Hand scheint hingegen nicht klar, ob dieses immer mit Verständnis einhergehen muss. Pritchard möchte daher eine rein passive Art perzeptueller Wahrnehmung, die er von aktiver Beobachtung unterscheidet, aus dem Bereich des Wissens aus erster Hand ausschließen.212 Ich denke jedoch, dass diese Einschränkung nur auf Sinneseindrücke angewandt werden sollte, die nicht propositional artikulierbar sind, und daher auch kein Wissen darstellen. Wahrnehmungswissen aus erster Hand setzt hingegen Propositionalität voraus und damit ein Mindestmaß an begrifflichem Verständnis. Selbst die Wahrnehmung eines verschwommenen Farbeindrucks ist in der Regel determiniert als ein bestimmter Farbeindruck 210 Vgl. Audi 2019, 376. 211 „My view is simply that, like sensory seeming, intellectual seeming (intuition) is just one more primitive propositional attitude.“ Bealer 1999, 31. 212 Vgl. Carter et al. 2018, 30.

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von einer bestimmten Dauer in einer bestimmten Richtung zum Standort des Subjekts. Das heißt, das Subjekt muss in der Lage sein, diesen Eindruck in seine Begriffe von Farbe, Zeit und Bezug zu sich selbst aktiv einzuordnen, wenn ihm Wissen zugeschrieben werden soll. Die Sinneswahrnehmung in einer durchschnittlichen Alltagssituation bildet darüber hinaus die Basis für vielfältiges Detailwissen. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Besitzerin dieses Wissens über genug begriffliches Verständnis verfügte, um die so erworbenen Informationen aktiv in ihr Wissensnetz zu integrieren. Diese aktive Sichtweise auf die menschliche Wahrnehmung wird durch die Forschung der Kognitionswissenschaft unterstützt, die zeigt, dass Voreinstellungen, Emotionen und Konzepte die Sinneswahrnehmung beeinflussen213. Zagzebski geht aus diesem Grund ebenfalls davon aus, dass Wahrnehmungswissen niemals vollständig passiv erworben wird.214 Es scheint jedoch auch klar, dass das begriffliche Verständnis, das die Wahrnehmung voraussetzt, kein vollständiges Verständnis im Sinne Audis oder Bealers einschließt. Dies liegt unter anderem daran, dass es für ein nominales Begriffsverständnis laut Bealer ausreicht, wenn eine Person zu dem betreffenden Begriff propositionale Einstellungen aufgrund der Zuschreibungspraktiken Dritter besitzt: „Possessing a concept in the nominal sense is also compatible with having propositional attitudes merely by virtue of attribution practices of third-party interpreters.“215 Eine Person kann durchaus ihren Urgroßvater als Urgroßvater identifizieren, ohne zu wissen, dass dies notwendigerweise bedeutet, dass zwischen ihr und ihm 3 Generationen liegen. Dieses Wissen wurde dann jedoch zwangsläufig wahrnehmungsabhängig erworben. Wahrnehmungsunabhängig erworbenes Wissen aus erster Hand setzt hingegen einen determinierten Begriffsbesitz voraus, der wenigstens in Bezug auf die Eigenschaften, die zur Rechtfertigung des begrifflichen Wissens genutzt werden, frei von Missverstehen ist.216 Dies schließt jedoch nicht aus, dass ein Begriff auch dann im determinierten Sinne besessen werden kann, wenn dieser Begriff Fälle einschließt, die über das begriffliche Repertoire der Besitzerin hinausgehen: „There is no requirement that, in order to possess a concept determinately, a person must already have experiential and/or conceptual resources sufficient for deciding the possible extensions of the concept.“217 Wissen kann also auch dann wahrnehmungsunabhängig erworben werden, wenn bezüglich bestimmter Begriffe nur ein 213 Sogenannte top-down Verarbeitung von Sinnesreizen. Vgl. Anderson 2015, 47 und Kap, 3.3.1. 214 Zagzebski 2012. 215 Bealer 1999, 37. 216 Vgl. Bealer 1999, 38. 217 Bealer 1999, 40.

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partielles Verständnis besteht. Dieses muss jedoch wenigstens bezüglich des Bereichs der Fälle, in denen der Begriff verwendet wird, determiniert genug sein, um eine ausreichende Rechtfertigung der Besitzerin zu garantieren, da eine Rechtfertigung aufgrund der Zuschreibungspraktiken dritter, wie im Falle von wahrnehmungsabhängig erworbenem Wissen nicht möglich ist. Die Minimalbedingungen, die an das Verständnis der Besitzerin gestellt werden, sind daher im Falle von wahrnehmungsunabhängig erworbenem Wissen höher als im Falle von wahrnehmungsabhängig erworbenem Wissen. These: Wahrnehmungsbasiertes Wissen und A-priori-Wissen aus erster Hand setzten gleichermaßen begriffliches Verständnis voraus, jedoch ist davon auszugehen, dass A-priori-Wissen in der Regel ein vollständigeres Verständnis voraussetzt, während Wahrnehmungswissen auch mit einem sehr rudimentären Verständnis vereinbar ist. Ein weiterer Unterschied zeigt sich in Hinblick auf die Möglichkeit der Weitergabe der domänenspezifischen Evidenz: Während es im Falle von A-prioriWissen aus erster Hand unkompliziert möglich ist, die Evidenz, die eine Person in Form von Zwischenschritten besitzt, weiterzugeben, sodass eine andere Person mithilfe dieser Unterweisung Wissen aus erster Hand erwerben kann, scheint dies im Falle von Wahrnehmungswissen nicht so leicht möglich. Auch wenn eine Person sehr genau erzählt bekommt, wie ein bestimmtes Ereignis stattgefunden hat, wird sie trotzdem kein Wissen aus erster Hand erwerben können, wenn sie nicht dabei war. Dies liegt daran, dass Wissen aus zweiter Hand in verarbeiteter Form weitergegeben wird.218 Dadurch, dass nur die in propositionaler Form vorliegende Evidenz weitergegeben wird und nicht die Wahrnehmungserfahrung, auf der diese Evidenz basiert, wird Wahrnehmungswissen also nicht so detailreich und determiniert weitergegeben, wie es bei der Besitzerin aus erster Hand vorliegt.219 Dieser Unterschied ist jedoch nicht so entscheidend, wie er scheint. Denn auch im Falle von wahrnehmungsunabhängig erworbenem Wissen ist es nicht möglich, einfach die Basis für dieses Wissen, das auf der rationalen Einsicht basiert, weiterzugeben. Im Unterschied zum Inhalt der Wahrnehmungserfahrung liegt jedoch der Inhalt der rationalen Einsicht in propositionaler Form vor. Daher ist es zwar möglich diesen Inhalt im Fall von wahrnehmungsunabhängig erworbenem Wissen weiterzugeben, ohne dass ein Verlust an dispositionalem 218 Siehe Kapitel 3.2.2 in dieser Arbeit. 219 Dies gilt auch dann, wenn die Erstbesitzerin einen Teil dieses Wissens nur in dispositionaler Form besitzt.

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Wissen auftritt. Dies garantiert jedoch nicht, dass beim Zweitbeisitzer automatisch ein ausreichendes Verständnis der Aussagen hervorgerufen wird.220 Der Zweitbesitzer besitzt in diesem Falle die domänenspezifische Evidenz weiterhin aus zweiter Hand. Versteht der Zweitbesitzer die Aussage der Erstbesitzerin ausreichend, kann er anschließend auf dieser Grundlage selbstständig eine echte rationale Einsicht generieren. Erst dann besitzt er ebenfalls die domänenspezifische Evidenz für diese Aussage aus erster Hand. Dieser Wandel in der Basis des Wissens ist bei wahrnehmungsbasiertem Wissen oft nicht möglich, da der Standort des Besitzers von Wissen aus zweiter Hand raumzeitlich von dem der Erstbesitzerin abweicht. Befinden sich jedoch beide an einem ähnlichen raumzeitlichen Standort, ist es durchaus möglich, dass eine Expertin einem Novizen Vorgänge, die beide sehen können, erklärt, und den Novizen so in die Lage versetzt, selbst Wissen aus erster Hand zu erwerben. So könnte man sich vorstellen, dass eine Expertin einem Novizen erklärt, dass der Vogel vor ihnen eine Amsel und kein Star ist. Der Novize besitzt dieses Wissen dann zunächst aus zweiter Hand. Beobachten beide den Vogel weiterhin, könnte die Expertin erklären, anhand welcher Details die Amsel vom Star unterschieden werden kann, was daraufhin den Novizen in die Lage versetzen kann, die Amsel selbstständig als Amsel zu erkennen. Er besitzt dieses Wissen dann ebenfalls aus erster Hand. Zusammenfassung: Wahrnehmungsbasiertes Wissen und wahrnehmungsunabhängig erwerbbares Wissen unterscheiden sich hinsichtlich der Art der domänenspezifischen Evidenz, auf der das Wissen basiert. Im Falle von wahrnehmungsunabhängig erwerbbarem Wissen ist es möglich, den Inhalt, auf dem die Evidenz basiert, ohne Verlust in propositionaler Form weiterzugeben, weshalb es für den Zweitbesitzer möglich ist, mithilfe dieses Inhalts selbst Verständnis und somit domänenspezifische Evidenz aus erster Hand zu generieren. Was jedoch nicht einfach weitergegeben werden kann, ist das Verständnis, bzw. die rationale Einsicht selbst. Bei Wahrnehmungsbasiertem Wissen kann die Detailliertheit und Determiniertheit der unmittelbaren Wahrnehmungserfahrung nicht übermittelt werden kann. Ich werde in Kapitel 4.6 auf die bis hierhin skizzierten Unterschiede zurückkommen und versuchen zu zeigen, dass bei beiden Wissensarten durch die Vermittlung ein Verlust an domänenspezifischer Evidenz und hierdurch ein Mangel an Verstehen eintreten kann.

220 Vgl. hierzu Boyd 2017, 105.

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3.4.4 Komplexes wissenschaftliches Wissen Eine Besonderheit tritt auf, wenn es um komplexes Wissen geht, das sowohl erfahrungsabhängiges als auch erfahrungsunabhängiges Wissen voraussetzt, dies betrifft unter anderem wissenschaftliches Wissen. Während Wissen, das größtenteils entweder wahrnehmungsabhängig oder wahrnehmungsunabhängig erworben wurde, zu erfordern scheint, dass die gesamte domänenspezifische Evidenz aus erster Hand besessen wird, wenn Wissen aus erster Hand zugeschrieben werden soll, so scheint dies bei komplexem, auf wahrnehmungsabhängiger und wahrnehmungsunabhängiger Evidenz basierendem Wissen nicht gefordert zu werden. Daher entscheidet bei der wahrnehmungsabhängigen Aussage, dass Frank die Süßigkeiten gestohlen habe, die Frage, ob die Wissensbesitzerin denn dabei gewesen sei, darüber, ob diese das Wissen aus erster oder zweiter Hand besitzt. Bei der wahrnehmungsunabhängigen Behauptung, dass der Satz des Euklid wahr sei, entscheidet die Frage, ob die Wissensbesitzerin vollkommen selbstständig den Beweis führen kann, darüber, ob sie dieses Wissen aus erster oder aus zweiter Hand besitzt. Bei komplexerem Wissen, das auf einer großen Menge an domänenspezifischer Evidenz beruht, stellt sich die Frage, ob es in jedem Falle erforderlich ist, dass ebenfalls die gesamte domänenspezifische Evidenz aus erster Hand stammt. Diese Frage betrifft einen Großteil unseres wissenschaftlichen Wissens, das so komplex ist, dass es strenggenommen unmöglich ist, dass eine einzelne Person die gesamte domänenspezifische Evidenz vollständig aus erster Hand besitzt. In Kapitel 2.2.3 habe ich bereits darauf hingewiesen, dass eine Möglichkeit mit solchen Fällen umzugehen, eine komparative Konzeption von Wissen aus zweiter Hand ist. Für die Physikerinnen, die Messungen zum Zerfall von Elementarteilchen konzipieren und durchführen, könnte es bei einer komparativen Sichtweise ausreichen, dass sie so viel domänenspezifische Evidenz bezüglich der infrage stehenden Aussage besitzen wie möglich oder dass sie mehr domänenspezifische Evidenz aus erster Hand besitzen als jeder andere Mensch. Das oben vorgeschlagene Explikat wurde jedoch zunächst als absoluter Begriff definiert. Dies verhindert, dass es möglich ist, aus Wissen aus zweiter Hand Wissen aus erster Hand zu gewinnen, da dies konterintuitiv erscheint. Diese Absolutheit gilt jedoch nur relativ zu einem bestimmten Standard. Es gibt daher zwei Möglichkeiten, in Fällen von komplexem Wissen trotzdem Wissen aus erster Hand zuzuschreiben. Zum einen kann man der Argumentation von Hardwig folgen und davon ausgehen, dass bestimmte wissenschaftliche Aussagen nicht von Einzelpersonen, sondern nur von Gruppen gewusst werden können.221 Ein einzelner 221 Vgl. Hardwig 1991, 697. Hardwig plädiert daher dafür, die epistemische Rechtfertigungsstruktur solcher Forschungsgruppen systematisch zu untersuchen. Hardwig 1991, 697.

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Wissenschaftler könnte dann als Teil der Gruppe Wissen aus erster Hand besitzen. Hierzu müsste anhand eines bestehenden Ansatzes von GruppenRechtfertigung und Gruppen-Wissen ausgearbeitet werden, wann eine Gruppe Wissen aus erster Hand besitzt.222 Lackey hat kürzlich einen Ansatz vorgestellt, der den Anspruch hat, inflationäre und deflationäre Sichtweisen zur Rechtfertigung von Gruppen gleichermaßen zu berücksichtigen. Sie geht davon aus, dass Gruppen eigenständige epistemische Agenten darstellen, deren Rechtfertigung von Evidenz und normativen Anforderungen abhängt, die nur auf der Ebene der Gruppe entstehen, die jedoch ebenso wesentlich durch den epistemischen Status der Überzeugungen der einzelnen Gruppenmitglieder bestimmt werden.223 Lackey definiert ihren Ansatz, den Group Epistemic Agent Account, folgendermaßen: Eine Gruppe G glaubt gerechtfertigterweise, dass p genau dann, wenn: (1) Ein signifikanter Prozentsatz der operativen Mitglieder von G (a) gerechtfertigtweise glaubt, dass p und (b) das Zusammenführen der Basis ihrer gerechtfertigten Überzeugungen, dass p, zu einer kohärenten Überzeugungsmenge führt. (2) Eine vollständige Offenlegung der relevanten Evidenz für die Proposition p, begleitet von rationaler Abwägung der Evidenz unter den Mitgliedern von G gemäß ihren individuellen und gruppenbezogenen epistemischen normativen Anforderungen, nicht zu weiterer Evidenz führen würde, die, wenn sie zur Basis der Überzeugungen der Mitglieder von G hinzugefügt würde, zu einer Gesamtüberzeugungsmenge führen würde, die p nicht ausreichend wahrscheinlich macht.224

Die Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand ist an einen solchen Ansatz anschlussfähig. So könnten die obigen Bedingungen für Wissen aus erster Hand um Bedingungen für komplexes Wissen von Gruppen ergänzt werden. Im Falle von Gruppenwissen sollte durch eine vollständige Offenlegung der für eine Aussage relevanten Evidenz überprüft werden, ob die Rechtfertigung der Gruppe insofern auf domänenspezifischer Evidenz beruht, dass jede Einzelaussage wenigstens von einem Gruppenmitglied unmittelbar durch domänenspezifische Evidenz gerechtfertigt werden kann. Man könnte dann entweder der gesamten Gruppe oder nur den operativen Mitgliedern, die die Aussage wenigstens durch domänenspezifische Evidenz aus zweiter Hand225 rechtfertigen können, Wissen aus erster Hand zuschreiben. Der absolute Begriff von Wissen aus zweiter Hand gilt in

222 Vgl. Lackey 2014 für eine gute Zusammenfassung der Mechanismen, die Rechtfertigung und Wissen von Gruppen ermöglichen. 223 Vgl. Lackey 2020, 56. 224 Lackey 2020, 97. Meine Übersetzung. 225 Vgl. hierzu S. 64.

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diesem Falle nur für Subjekte, die nicht Teil einer Gruppe sind, der Gruppenwissen zugeschrieben wird. Zum anderen kann Wissen aus erster Hand, zu dem das oben definierte Explikat den Gegenbegriff darstellt, als absoluter Begriff verstanden werden, der ein bestimmtes Limit kennzeichnet.226 Wissen aus erster Hand wäre dann nur gegeben, wenn ein Subjekt eine Aussage vollkommen selbstständig in Abwesenheit jeglicher domänenunabhängigen Evidenz rechtfertigen kann. Auch die minimale Basierung der Rechtfertigung auf domänenunabhängiger Evidenz würde dazu führen, dass das Subjekt nur noch Wissen aus zweiter Hand besitzt. Es ist aber plausibel, dass die Frage welche domänenspezifische Evidenz benötigt wird, um als gerechtfertigt zu gelten und ab wann davon gesprochen werden kann, dass die Rechtfertigung auf einer bestimmten Evidenz basiert, weiterhin kontextabhängig bestimmt wird.227 So reicht es für die Mitarbeiterin der Bürgermeisterin in einem Alltagkontext aus, dass sie höchstpersönlich gesehen hat, wie ihre Chefin in einer Videoschalte mit dem Bürgermeister von Kiew telefonierte, um über dieses Wissen aus erster Hand zu verfügen. Ihre domänenspezifische Evidenz, die sie durch ihre Wahrnehmung erworben hat, reicht aus, um die Aussage selbstständig zu rechtfertigen. Es ist aber vorstellbar, dass aufgrund eines Verdachts im Vorfeld extra eine IT-Sicherheitstechnikerin hinzugezogen worden ist, die kontrollieren soll, ob es sich bei dem vermeintlichen Videoanruf wirklich um eine Verbindung zum Bürgermeister von Kiew handelt oder die Bürgermeisterin stattdessen mit einem, mittels Deepfake-Technologie erzeugten, Doppelgänger spricht. Die Evidenz, dass die Sicherheitsexpertin vermeintlich sieht, wie beide miteinander telefonieren, ist in diesem Fall für sie nicht mehr ausreichend, um als gerechtfertigt zu gelten. Da sich aufgrund einer Kontextänderung die Menge an relevanten Alternativen, die ausgeschlossen werden müssen bzw. die Menge an möglichen Welten, in denen die Aussage sicher sein muss, um

226 Unger bezeichnet solche Begriffe als „absolute limit terms“. Unger 2002, 55. Ich möchte Ungers Einsichten zur Funktion absoluter Begriffe übernehmen, ohne jedoch die skeptischen Konsequenzen zu teilen, die er hieraus für den Wissensbegriff zieht. 227 Ein klassisches Beispiel für einen absoluten Begriff im Sinne Ungers ist der Begriff „flach“. Dieser kennzeichnet die Abwesenheit jeglicher Unebenheit. Was jedoch als Unebenheit gilt, variiert mit dem Kontext. So gelten minimale Erhebungen auf einer Straße nicht als Unebenheit, auf einem Spiegel jedoch schon. Doch selbst auf einem Spiegel sind unter mikroskopischer Betrachtung noch Unebenheiten vorhanden, die jedoch nur in dem entsprechenden Untersuchungskontext als Unebenheit gelten. Vgl. Unger 2002, 53–64.

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als Wissen zu gelten,228 geändert hat, benötigt die Expertin mehr domänenspezifische Evidenz, um die Aussage selbstständig rechtfertigen zu können. Sollte diese Evidenz teilweise auf domänenunabhängiger Evidenz basieren, so müsste der Expertin in diesem Falle Wissen aus zweiter Hand zugeschrieben werden. Dies erscheint zwar im direkten Vergleich mit der einfachen Mitarbeiterin, der aufgrund ihrer unqualifizierten Wahrnehmungserfahrung Wissen aus erster Hand zugesprochen wurde, unplausibel. Die unterschiedliche Bewertung zeigt jedoch, dass die Zuschreibung von Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand auch bei einer absoluten Unterscheidung insofern kontextabhängig bleibt, als die Menge an domänenspezifischer Evidenz, die gefordert wird, um als gerechtfertigt zu gelten, mit dem Zuschreibungskontext variiert. Es stellt sich hier zusätzlich die Frage, welche Basierungsrelation angenommen wird und wie weit die Kette der Rechtfertigung, die die Basis des Wissens darstellen soll, zurückverfolgt werden muss.229 Um diese Frage zu beantworten, kann die Unterscheidung zwischen der epistemischen und der bloß kausalen Abhängigkeit herangezogen werden.230 Ausgehend von dieser Unterscheidung kann argumentiert werden, dass es im 228 Die genaue Beschreibung variiert je nach vertretener Wissenstheorie. Dretske geht beispielsweise davon aus, dass alle relevanten Alternativen zu der Möglichkeit, dass der Zustand an der Quelle nicht so ist, wie angenommen, ausgeschlossen werden müssen. Vgl. Dretske [1981] 2003, 108–116. Williamson geht davon aus, dass es keine nahe mögliche Welt geben darf, in der die Wissensbesitzerin nicht sicher davor ist, einen Fehler zu machen. Vgl. Williamson 2009, 14. 229 So erscheint es intuitiv sinnvoll, einem Zeitungsleser, der nur aufgrund eines Artikels weiß, dass die Präsidentin die ganze Woche in Texas verweilen wird, und der aus dieser Evidenz und dem aktuellen Datum schließt, dass die Präsidentin auch am Mittwoch, den 18.06.2021 in Texas sein wird, nur Wissen aus zweiter Hand zuzuschreiben. Das Wissen des Zeitungslesers, dass die Präsidentin die ganze Woche in Texas verweilen wird, stellt zwar domänenspezifische Evidenz für die Aussage, dass die Präsidentin am Mittwoch in Texas sein wird, dar; diese domänenspezifische Evidenz beruht jedoch auf domänenunabhängiger Evidenz, weshalb folgerichtig nur Wissen aus zweiter Hand zugeschrieben werden sollte. Die persönliche Assistentin der Präsidentin, die mit ihr in Texas verweilt, kann die Aussage, dass die Präsidentin am Mittwoch, den 18.06.2021 in Texas sein wird, aus erster Hand wissen. Denn sie kann diese Aussage auf den ersten Blick selbstständig von ihrem epistemischen Standort aus rechtfertigen. Bei genauerer Betrachtung wird aber wahrscheinlich auch das Wissen dieser Assistentin, wenn man es weit genug zurückverfolgt, mittelbar auf domänenunabhängiger Evidenz basieren. So wird sie wahrscheinlich Evidenz aus zweiter Hand heranziehen müssen, um die Überzeugung, dass die Stadt, in der sie sich aufhalten wirklich Texas ist oder dass die Präsidentin die Person ist, die sie vorgibt zu sein, zu rechtfertigen. So weit zurück muss die Kette der Rechtfertigung in der Regel jedoch nicht verfolgt werden, da keine Letztbegründung gefordert wird. 230 Siehe zu dieser Unterscheidung ##S. 60 in dieser Arbeit.

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Kapitel 3

Falle von komplexen wissenschaftlichen Aussagen generell nicht nötig ist, die gesamte domänenspezifische Evidenz aus erster Hand zu besitzen, solange bestimmten Faktoren, wie dem Sammeln der Daten, nur eine kausale bzw. informationelle Rolle zukommt. Diese Aussagen könnten dann aus erster Hand gewusst werden, wenn sichergestellt ist, dass eine Person die zur Rechtfertigung notwendige domänenspezifische Evidenz wenigstens aus zweiter Hand besitzt und diese Person außerdem von ihrem eigenen epistemischen Standort den Standort der Erstbesitzerin der Evidenz evaluieren kann. Dies wäre dann gegeben, wenn die betreffende Person zum Beispiel die Konzeption der Studie bis zum validen Sammeln der Daten selbst entwirft. Die epistemische Abhängigkeit von anderen Personen wäre dann stark reduziert. Pritchard vertritt einen solchen Begriff von Wissen aus erster Hand, der erlaubt, dass bei komplexen, gleichermaßen von wahrnehmungsabhängiger und wahrnehmungsunabhängiger Evidenz abhängigem Wissen nicht die gesamte domänenspezifische Evidenz aus erster Hand besessen werden muss. Bei Wissen aus erster Hand, welches auf intellektueller Einsicht beruht, ist diese Einsicht entscheidend und nicht die Frage, ob jegliche domänenspezifische Evidenz selbst aus erster Hand stammt.231 Zusammenfassung: Im Falle von komplexem wissenschaftlichem Wissen, das sowohl wahrnehmungsabhängig als auch wahrnehmungsunabhängig erwerbbare Evidenz voraussetzt, ist es nicht in jedem Falle erforderlich, dass die gesamte domänenspezifische Evidenz aus erster Hand besessen wird. Diese Einschätzung kann auch im Rahmen einer absoluten Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand vertreten werden. Denn der Begriff von Wissen aus zweiter Hand bleibt in diesem Falle weiterhin insofern kontextabhängig, als die Menge an domänenspezifischer Evidenz, die benötigt wird, um eine bestimmte Aussage vom eigenen Standort aus selbstständig rechtfertigen zu können und die Bestimmung der Evidenz, auf der das Wissen basiert, mit dem Kontext variieren.

231 Vgl. Pritchard 2016, 36.

Kapitel 4

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand Der von Jennifer Lackey geprägte Begriff des isolierten Wissens aus zweiter Hand findet in Situationen Anwendung, in denen ein Subjekt zwar eine bestimmte Proposition p weiß, jedoch nichts anderes Relevantes über den Sachverhalt außer p weiß.1 Diese Isoliertheit bringt für den Besitzer epistemische Nachteile mit sich und limitiert die zulässige Weitergabe des Wissens: Eine erneute Weitergabe des Wissens würde laut Lackey in bestimmten Fällen die Unangemessenheitsintuition hervorrufen; die Intuition, dass eine unqualifizierte Weitergabe des Wissens epistemisch unzulässig ist. Ich werde in diesem Kapitel zeigen, dass sich die Isoliertheit von Wissen aus zweiter Hand gut durch die Eigenschaft des Nichtbesitzens der domänenspezifischen Evidenz für p und der daraus folgenden Nachteile erklären lässt. Dies legt nahe, dass Isoliertheit eine Eigenschaft ist, die den ganzen Bereich des weiten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand betrifft. Diese hat je nach Grad der Isoliertheit und Gesprächskontext unterschiedliche Auswirkungen, sodass es ebenso Situationen gibt, in denen eine mehr oder weniger stark ausgeprägt Isoliertheit von Wissen aus zweiter Hand aufgrund des Kontextes komplett unproblematisch erscheint. Lackey verwendet statt der Bezeichnung Wissen aus zweiter Hand später auch den Begriff des defizitären testimonialen Wissens.2 Hinter dieser Änderung der Bezeichnung steht ein Begriffswandel im Zuge dessen Lackey versucht, den Aspekt der Isoliertheit von Wissen in der Analyse von dem Aspekt des Aus-zweiter-Hand-Seins zu unterscheiden.3 Ich werde diese Unterscheidung in Kapitel  4.2 im Rahmen des in dieser Arbeit vorgeschlagenen Begriffs von Wissen aus zweiter Hand untersuchen und darlegen, dass eine strikte Trennung des Aspekts der Isoliertheit des Wissens von dem Aspekt des Aus-zweiter-Hand-Seins nicht möglich ist, da der erste Effekt eine Folge des zweiten Effektes ist. Ich werde anschließend in Kapitel 4.3 die von Benton4 im Rahmen dieser Debatte eingeführte Unterscheidung zwischen einer spezifischen Expertin und einer beliebigen Expertin aufgreifen und zeigen, dass das Bestehen auf 1 2 3 4

Vgl. hierzu Lackey 2011, 2013, 2016. Vgl. Lackey 2013. Vgl. Lackey 2013. Vgl. hierzu Benton 2016.

© brill mentis, 2024 | doi:10.30965/9783969753088_005

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Kapitel 4

dem Urteil einer spezifischen Expertin in der Regel durch die vorangehende Bewertung des epistemischen Standortes der Expertin durch den Laien begründet ist.5 Beide Begriffe sind anschlussfähig an den Begriff des Wissens aus zweiter Hand in dieser Arbeit und können verwendet werden, um unterschiedliche Anforderungen an den Grad der Integriertheit des Wissens in verschiedenen Kontexten zu erfassen. In Kapitel  4.4 werde ich auf die epistemischen Nachteile von Wissen aus zweiter Hand eingehen, die in unterschiedlichen Kontexten verschieden zum Tragen kommen. Die fehlende Übertragung von Detailwissen und dispositionalem Wissen wird zu einem epistemischen Nachteil, wenn der Hörer hierdurch keine Kenntnis von potentiellen Defeatern erhält oder er das Wissen aufgrund von mangelnder Redundanz und Übereinstimmung fehlerhaft in sein eigenes Wissensnetz einbettet. Diese Nachteile treten im Falle von ästhetischem und moralischem Wissen und in praktischen und hochrisikoreichen Kontexten besonders gravierend zu Tage. Aufgrund dieser Nachteile kann es in einigen Fällen unzulässig sein, Wissen weiterzugeben, das nur aus zweiter Hand stammt. In Kapitel 4.5 werde ich der Frage nachgehen, ob hierdurch die Wissensnorm als Konversationsmaxime in Frage gestellt wird oder ob die Unzulässigkeit in einigen Fällen Wissen aus zweiter Hand weiterzugeben nur aus einer konversationellen Implikatur entsteht. Ich werde zeigen, dass der Begriff des Wissens aus zweiter Hand mit beiden Annahmen vereinbar ist. Darüber hinaus gehen einige Autorinnen davon aus, dass Wissen aus zweiter Hand auch von einem Mangel an Verstehen betroffen sein kann. Diese These werde ich Kapitel 4.6 überprüfen. Bei Annahme einer reduktionistischen Auffassung von Verstehen kann der Nichtbesitz der domänenspezifischen Evidenz, der im Falle von Wissen aus zweiter Hand auftritt, ebenso einen Mangel an Verstehen erklären. Methodisches Vorgehen: Auf methodischer Ebene erfolgt in diesem Kapitel eine erste Anwendung des Explikats auf den Begriff des isolierten Wissens aus zweiter Hand. Hierdurch wird eine Einordnung in das System angrenzender Begriffe möglich und es erfolgt eine weitere Präzisierung des Begriffs. Dadurch, dass überprüft wird, ob sich der Begriff sinnvoll mit benachbarten Begriffen in Beziehung setzten lässt, erfolgt außerdem die Kontrolle der Adäquatheit des Explikats. Es zeigt sich, dass der in den Kapiteln 2 und 3 ausgearbeitete weite Begriff von Wissen aus zweiter Hand ein fruchtbares Explikat darstellt, da er das Phänomen der Isoliertheit von Wissen aus zweiter Hand gut erklären kann. 5 Vgl. hierzu auch Kap. 3.1.1.5 in dieser Arbeit.

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand

4.1

181

Der Begriff des isolierten Wissens aus zweiter Hand nach Lackey

Lackey prägt den Begriff des isolierten Wissens aus zweiter Hand 2011 in dem Artikel „Assertion and Isolated Second‐Hand Knowledge“.6 Sie versucht anhand verschiedener Fallbeispiele zu zeigen, dass es eine Reihe von Situationen gibt, in denen Wissen aus zweiter Hand nicht ausreichend ist, um die Sprecherin zur Weitergabe des Wissens zu berechtigen. Hierzu zählen Situationen, in denen Expertinnenwissen gefragt ist, in denen (moralische oder ästhetische) Urteile gefällt werden und risikoreiche Situationen und Fälle, in denen direkte Zeugenschaft vorausgesetzt wird. Lackeys Analyse hat in der Epistemologie testimonialen Wissens eine rege Debatte ausgelöst. Ich werde daher in diesem Unterkapitel zunächst nur in den Begriff und die wichtigsten Beispiele nach Lackey einführen, bevor in den folgenden Kapiteln eine Diskussion von Lackeys Annahmen erfolgt. Nach Lackey soll die Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand in einigen Fällen die von vielen Autorinnen akzeptierte Annahme in Frage stellen, dass Wissen die (alleinige) Assertionsnorm darstellt.7 Lackey bietet eine allgemeine Formulierung dieser Annahme als Knowledge Norm of Assertion (im Folgenden KNA) an: Wissensnorm für Assertionen (KNA): Eine Person ist genau dann epistemisch angemessen positioniert, um die Aussage p zu äußern, wenn sie weiß, dass p.8

Diese Formulierung basiert auf zwei verschiedenen Annahmen: Der Annahme, dass Wissen die notwendige Norm für Aussagen darstellt,9 (im Folgenden KNA-N) und der Annahme, dass Wissen hinreichend ist10 für die regelgerechte Weitergabe von Aussagen (im Folgenden KNA-S). Lackey formuliert diese Annahmen folgendermaßen: Wissensnorm für Assertionen – Notwendigkeitsbedingung (KNA-N): Eine Person ist nur dann epistemisch angemessen positioniert, um p zu äußern, wenn sie weiß, dass p. 6 7 8 9 10

Vgl. hierzu Lackey 2011. Bekanntester Vertreter dieser Norm ist Williamson, der auch explizit darauf besteht, dass Wissen die alleinige Assertionsnorm sein sollte. Vgl. bspw. Williamson 2002, 238–243. „KNA: One is properly positioned to assert that p if and only if one knows that p.“ Lackey 2011, 251. Brown schlägt einige ähnliche Formulierungen vor und zeigt, dass alle funktionierende Auslegungen von KNA darstellen. Vgl. Brown 2008, 89–90. Vertreter dieser Annahme sind u.a. Brandom 1983; Adler 2002; Unger 2002; Reynolds 2002; Hawthorne 2003; Stanley 2005; Fricker 2006c; Hawthorne und Stanley 2008; Reynolds 2013. Vertreter dieser Annahme sind u.a. DeRose 2002; Reynolds 2002; Hawthorne 2003; Stanley 2008.

182

Kapitel 4 Wissensnorm für Assertionen – Suffizienzbedingung (KNA-S): Eine Person ist epistemisch angemessen positioniert, um eine Aussage p zu äußern, wenn sie weiß, dass p.11

Lackeys Beispiele, in denen isoliertes Wissens aus zweiter Hand vorliegt, richten sich gegen die Annahme, dass Wissen immer hinreichend ist, um epistemisch so positioniert zu sein, dass es zulässig ist, dieses Wissen weiterzugeben.12 Bereiche, in denen es nach Lackey unter Umständen unangemessen sein kann, Aussagen allein aufgrund von isoliertem Wissen aus zweiter Hand zu treffen, sind entweder Bereiche, in denen es um Aussagen von Expertinnen geht oder Kontexte, in denen (moralische oder ästhetische) Urteile gefragt sind und risikoreiche Kontexte oder Fälle, in denen direkte Zeugenschaft vorausgesetzt wird.13 Einer der meistzitierten Fälle, der eine unzulässige Aussage im Falle der Weitergabe von Expertinnenwissen illustriert, ist der Fall der Onkologin Matilda: Onkologin 1: Matilda ist Onkologin an einem Lehrkrankenhaus und diagnostiziert und behandelt seit 15 Jahren verschiedene Krebsarten. Sie untersucht Derek, einen Patienten, der wegen Abdominalschmerzen in die Klinik kommt, auf Krebs und erfragt einen Ultraschall und ein MRI. Da die Ergebnisse jedoch an ihrem freien Tag eintreffen, werden sie von Nancy, einer sehr kompetenten Kollegin in der Onkologie, gesichtet. Da Nancy und Matilda nur einen kurzen Augenblick haben, um über die Ergebnisse zu sprechen, teilt Nancy Matilda nur mit, dass die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs lautet, ohne irgendwelche Details der Testresultate oder eine Begründung ihres Schlusses zu nennen. Kurz darauf hat Matilda einen Termin mit Derek, bei dem sie ihm alleine aufgrund von Nancys verlässlicher Aussage mitteilt: „Es tut mir sehr leid, Sie haben Bauchspeicheldrüsenkrebs.“14

Laut Lackeys Analyse erlaubt Matildas epistemische Situation ihr nun nicht, diese Aussage einfach so zu vermitteln, ohne kenntlich zu machen, dass es sie kein Wissen aus erster Hand besitzt. Da Nancys Aussage sehr zuverlässig ist, besitzt Matilda eindeutig Wissen. Dieses weist jedoch zwei Defizite auf: Es ist erstens aus zweiter Hand und es ist zweitens isoliert. Das heißt Matilda besitzt

11 „KNA-N: One is properly positioned to assert that p only if one knows that p. KNA‐S: One is properly positioned to assert that p if one knows that p.“ Lackey 2011, 251. 12 Vgl. Lackey 2011, 274. Carter und Gordon 2011; Coffman 2011; McKinnon 2012; Gerken 2014; Green 2014 gehen ebenfalls davon aus, dass Lackey Beispiele Einfluss auf KNA-S oder damit verbundene Normen haben. Benton 2016 geht hingegen davon aus, dass Lackey Fallbeispiele zu unpräszise und instabil sind, um für die Assertionsnorm relevant zu sein. 13 Lackey 2011. 14 Lackey 2011, 253

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand

183

außer dem Wissen, dass Derek Bauchspeicheldrüsenkrebs hat, kein weiteres Detailwissen.15 Problematisch ist diese Äußerung, weil beide Konversationsteilnehmer sich in einem Kontext befinden, in denen der Hörer gerechtfertigterweise davon ausgehen darf, dass die Sprecherin mehr als nur isoliertes Wissen aus zweiter Hand besitzt und weil die Sprecherin ihre epistemische Position bezüglich der Aussage nicht kenntlich gemacht hat.16 Das zeigt laut Lackey, dass die Aussage, obwohl sie Wissen darstellt, trotzdem ein epistemisches Defizit aufweist. Es werde nicht nur eine sprachliche Implikatur, sondern eine grundlegende Assertionsnorm verletzt. Dies werde dadurch deutlich, dass die Äußerung von Matilda auch dann noch unangemessen erscheint, wenn sie Derek direkt im Anschluss mitgeteilt hätte, dass sie die Diagnose ihrer verlässlichen Studentin übernommen hat, da sie die Ergebnisse noch nicht selbst ansehen konnte. Handele es sich in diesem Falle nur um eine fehlerhafte sprachliche Implikatur, so sollte diese durch die anschließende Aussage aufgehoben werden können; das sei aber nicht der Fall.17 Zusätzlich hält Lackey fest, dass es in diesem Falle für Matilda auch unangemessen sei, auf Grundlage dieses isolierten Wissens aus zweiter Hand zu handeln. Die Annahme, dass Wissen in jedem Falle ausreichend ist, um praktisch rational zu handeln, sei daher im Falle von isoliertem Wissen aus zweiter Hand ebenso angreifbar. Lackey formuliert diese Annahme als Wissensnorm für praktische Rationalität (Knowledge Norm of Practical Rationality – Sufficiency Claim; im Folgenden KNPR-S).18 Wissensnorm für praktische Rationalität (KNPR-S): Eine Person ist epistemisch angemessen positioniert, um die Aussage, dass p in ihren praktischen Urteilen zu verwenden, wenn sie weiß, dass p.19

Lackey geht nun zunächst davon aus, dass epistemische Probleme nur auftauchen, wenn das Wissen gleichzeitig aus zweiter Hand und isoliert ist. Sollte Matilda zusätzlich zu dem Wissen aus zweiter Hand, dass Derek Bauchspeicheldrüsenkrebs hat, auch noch weitere Evidenz besitzen, wie detaillierte 15 16 17 18 19

Vgl. Lackey 2011, 254. Vgl. Lackey 2011, 261–263. Vgl. Lackey 2011, 253–256. Vgl. Lackey 2011, 266–267. „KNPR‐S One is properly epistemically positioned to use the proposition that p in practical reasoning if one knows that p.“ Lackey 2011, 266. McKinnon geht ebenfalls davon aus, dass es in einigen Fällen unangemessen ist, alleine aufgrund von Wissen aus zweiter Hand zu handeln. Vgl. McKinnon 2012, 565. Hawthorne 2003; Stanley 2005; Williamson 2005a; Hawthorne und Stanley 2008, vertreten die Norm KNPR-S in unterschiedlicher Formulierung.

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Kapitel 4

Informationen über die Ergebnisse der Ultraschallaufnahmen oder des MRI, so würde ihre Aussage nicht mehr epistemisch unangemessen erscheinen.20 Ebenso scheint es nicht problematisch zu sein, wenn nur isoliertes Wissen vorliegt, dieses jedoch aus erster Hand stammt. Um dies zu illustrieren, muss Lackey jedoch ein anderes Beispiel wählen, da es schlicht schwer vorstellbar ist, wie die Onkologin in Lackeys Beispiel ihr Wissen aus erster Hand besitzen soll, sodass dieses gleichzeitig isoliert ist. Denn allein das Erkennen des Tumors anhand von Ultraschall und MRI-Aufnahmen erfordert ein nicht zu unterschätzendes Maß an Expertise und Verstehen, was mit einer vollständigen Isoliertheit des Wissens nicht vereinbar ist. In dem Fall Expertinnen-Konferenz21 argumentiert Lackey, dass das isolierte Wissen aus zweiter Hand des NASA-Experten John Smith nicht ausreicht, um zur uneingeschränkten Weitergabe der Aussage – die Explosion der Raumfähre Challenger sei auf ein Versagen eines O-Dichtungsringes beim Start zurückzuführen – zu berechtigen. Dieselbe Aussage könne jedoch unproblematisch weitergegeben werden, falls sie durch die eigene Wahrnehmung von John Smith begründet sei, selbst wenn er weiterhin keinerlei zusätzliche Informationen habe. Dies zeige, dass Wissen aus erster Hand, auch wenn es in isolierter Form vorliege, ausreicht, um die Weitergabe von Wissen zu legitimieren.22 Lackey unternimmt jedoch zunächst keine weitere Analyse, was die Fälle, in denen isoliertes Wissen aus zweiter Hand vorliegt, epistemisch derart defizitär erscheinen lässt, dass die zulässige Wissensweitergabe limitiert wird. Da die Sprecherinnen auch in den Beispielfällen, in denen Wissen aus zweiter Hand vorlag, ausreichend gerechtfertigt waren, geht Lackey davon aus, dass die Stärke der Rechtfertigung des Wissens und damit die Quantität an epistemischer Unterstützung in diesen Fällen nicht die ausschlaggebende Rolle spielte. Vielmehr gebe es bei isoliertem Wissen aus zweiter Hand ein Problem mit der Qualität der epistemischen Unterstützung.23 Mit dem oben entwickelten Begriff von Wissen aus zweiter Hand lässt sich das Problem, das im Falle von isoliertem Wissen aus zweiter Hand auftritt, jedoch genauer formulieren: Sowohl Matilda als auch John Smith fehlen domänenspezifische Evidenz. Matilda besitzt nur die domänenunabhängige Evidenz aus Nancys Aussage und John Smith besitzt nur die domänenunabhängige Evidenz eines seiner Mitarbeiter. Das Problem wäre nicht aufgetreten, wenn Matilda von Nancy weitere domänenspezifische Evidenz über 20 21 22 23

Vgl. Lackey 2011, 256. Im Original Expert Panelist. Vgl. Lackey 2011, 256–257. Vgl. Lackey 2011, 274.

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand

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Dereks Krebserkrankung erhalten hätte oder wenn John Smith durch seine eigne Wahrnehmung des fehlerhaften Dichtungsringes domänenspezifische Evidenz erworben hätte. Insofern scheint das ausschlaggebende Kriterium die Menge an domänenspezifischer Evidenz zu sein, die der Sprecherin zur Verfügung steht. Falls Lackeys Analyse zutrifft, lässt sich die Unangemessenheit der Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand durch einen Mangel an domänenspezifischer Evidenz erklären. Für diese Annahme spricht, dass das Problem nur im Falle der Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand auftritt, während es bei Wissen aus erster Hand sowie bei Wissen aus zweiter Hand, das durch zusätzliche domänenspezifische Evidenz gestützt wird, nicht auftritt. Zusammenfassung: Es kann bis hierhin festgehalten werden, dass in einigen anspruchsvollen epistemischen Kontexten die Weitergabe von Wissen nur dann legitimiert ist, wenn bei der Sprecherin ein gewisser Anteil an domänenspezifischer Evidenz vorliegt. Da die Intuitionen über Lackeys Fälle in der Literatur jedoch nicht eindeutig sind und verschiedene Erklärungen der Unangemessenheitsintuition diskutiert werden, muss zunächst überprüft werden, ob in den von Lackey beschriebenen Fällen tatsächlich ein epistemisches Defizit vorliegt und ob dieses durch den Besitz zusätzlicher domänenspezifischer Evidenz behoben werden kann. 4.2

Integriertes Wissen aus zweiter Hand

Ich werde in diesem Unterkapitel zunächst prüfen, ob die Unangemessenheitsintuition in Lackeys Fällen tatsächlich durch einen Mangel an domänenspezifischer Evidenz ausgelöst wird. Falls dies zutrifft, sollte der Mangel nicht auftreten, wenn ausreichend domänenspezifische Evidenz vorliegt. Diese domänenspezifische Evidenz könnte sowohl aus erster Hand als auch aus zweiter Hand stammen. Im ersteren Falle würde es sich einfach um Wissen aus erster Hand handeln, für den zweiten Fall möchte ich den Begriff des integrierten Wissens aus zweiter Hand einführen. Integriertes Wissen aus zweiter Hand liegt dann vor, wenn ein Subjekt zwar nicht ausreichend domänenspezifische Evidenz aus erster Hand besitzt, dafür jedoch ausreichend domänenspezifische Evidenz aus zweiter Hand besitzt, um eine bestimmte Aussage selbstständig zu rechtfertigen.

Sollte das von Lackey diagnostizierte Defizit durch einen Mangel an domänenspezifischer Evidenz ausgelöst werden, so ist zu erwarten, dass sowohl die

186

Kapitel 4

Weitergabe von Wissen aus erster Hand als auch von integriertem Wissen aus zweiter Hand keine Unangemessenheitsintuitionen hervorrufen. Ein Einwand gegen diese Annahme kommt jedoch von Lackey selbst, die in einem späteren Artikel davon ausgeht, dass auch die Weitergabe von integriertem Wissen aus zweiter Hand in bestimmten Fällen unangemessen sein kann.24 Ausgehend von einer Debatte zwischen Optimisten und Pessimisten25 bezüglich der Weitergabe von Wissen aus zweiter Hand im Bereich des ästhetischen 24 Vgl. Lackey 2013, 34. Lackey verwendet in diesem Artikel den Begriff des defizitären testimonialen Wissens, anstelle des Begriffs des Wissens aus zweiter Hand. Da sie den Begriff des defizitären testimonialen Wissen jedoch auch darüber definiert, dass es sich um Wissen handelt, das aus zweiter Hand stammt und isoliert vorliegt und da sie 2016 wieder auf den Begriff des Wissens aus zweiter Hand, anstelle des Begriffs des defizitären testimonialen Wissens, zurückkommt, nehme ich für die folgende Diskussion an, dass ihre Argumente für Wissen aus zweiter Hand ebenso zutreffen. Vgl. Lackey 2013; Lackey 2016. Ich gehe davon aus, dass Lackey 2013 den Begriff des testimonialen Wissens verwendet, um an die Debatte über die Weitergabe von ästhetischem und moralischem Wissen anzuschließen, da dort häufig der Begriff des testimonialen Wissens gebraucht wird, der jedoch oft einem Begriff von Wissen aus erster Hand gegenübergestellt wird. Vgl. Wollheim 1980, 233; Jones 1999, 76; Meskin und Robson 2015, 128. Ebenso gibt es auch in dieser Debatte Autorinnen, die den Begriff des Wissens aus zweiter Hand verwenden. Vgl. Jones 1999; Vujanović 2013. Deshalb ist es meines Erachtens legitim, anzunehmen, dass die in dieser Debatte vorgebrachten Argumente ebenfalls für Wissen aus zweiter Hand gelten. 25 Die von Hopkins als Pessimismus (bezüglich moralischen und ästhetischen testimonialen Wissens) bezeichnete Strömung innerhalb der Ästhetik und der Ethik geht davon aus, dass es nicht (einfach) möglich ist, ästhetisches oder moralisches Wissen durch Aussagen Dritter zu erwerben. Vgl. Hopkins 2007, 611. Hopkins unterscheidet Pessimisten bezüglich der Möglichkeit der Weitergabe von ästhetischem und moralischem Wissen von Optimisten, die davon ausgehen, dass es möglich ist, Wissen über ästhetische und moralische Tatsachen über Aussagen ebenso weiterzugeben, wie Wissen über andere Tatsachen. Vgl. Hopkins 2007, 613. So betrachtet Tormey Augenzeugenbegegnungen als Voraussetzung zulässiger ästhetischer Urteile (Vgl. Tormey 1973, 39.), während Wollheim, ebenso wie Meskin und Robson, davon ausgeht, dass ästhetische Urteile Erfahrungen aus erster Hand voraussetzen und ästhetisches Wissen nur in Ausnahmefällen durch Aussagen weitergegeben werden kann. Vgl. Wollheim 1980, 233; Meskin und Robson 2015, 128. Vujanovic geht hingegen davon aus, dass ästhetisches Wissen aus zweiter Hand weit verbreitet ist und eine wichtige Diskursgrundlage in der Kunst darstellt. Die These, dass dieses epistemisch weniger wertvoll sei, lasse sich argumentativ nicht gut stützen, sondern sei vielmehr Ausdruck einer bestimmten Machtkonstellation im Diskurs. Vgl. Vujanović 2013, 128. Die Möglichkeit und Notwendigkeit, moralisches Wissen aus zweiter Hand zu erwerben, wird, zumindest für die Periode der Kindheit, von den meisten Philosophinnen anerkannt. Siehe hierzu beispielsweise Anscombe 1981, 43; Coady 1994, 72; Jones 1999, 55. Einige Autorinnen gehen darüber hinaus davon aus, dass moralisches Wissen, ebenso wie Wissen von anderen Tatsachen, weitergegeben werden kann (Vgl. Jones 1999, 77–78; Audi 2015, 79.), während andere annehmen, dass moralisches Wissen zwar weitergegeben werden kann, jedoch gegenüber eigenen moralischen Urteilen

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand

187

und moralischen Wissens beschäftigt Lackey sich 2013 mit der Frage, ob es möglich ist, den Aspekt der Isoliertheit des Wissens vom Merkmal des Auszweiter-Hand-Seins zu trennen.26 Da die Vertreterinnen der als Pessimismus bezeichneten Strömung davon ausgehen, das der Besitz ästhetischen und moralischen Wissens aus zweiter Hand generell nicht zur Weitergabe dieses Wissens berechtigt, gilt dies auch für integriertes Wissen aus zweiter Hand. In diesem Falle würde der von Lackey beschriebene Mangel jedoch nicht durch die Isoliertheit von Wissen aus zweiter Hand ausgelöst, da diese im Falle von integriertem Wissen aus zweiter Hand ja durch zusätzliche domänenspezifische Evidenz aus zweiter Hand behoben wurde, sondern durch das Merkmal des Aus-zweiterHands-seins an sich. Diese Argumentation Lackeys setzt voraus, dass es möglich ist, das Merkmal des Aus-zweiter-Hand-Seins vom Merkmal der Isoliertheit zu trennen.27 Ich werde in diesem Kapitel zeigen, dass diese Annahme unplausibel ist, da die Isoliertheit in den von Lackey beschriebenen Fällen aus der Eigenschaft des Aus-zweiter-Hand-Seins hervorgeht und daher auch im Falle von integriertem Wissen aus zweiter Hand nicht völlig aufgehoben werden kann. Ich werde zunächst die Diskussion in Grundzügen darstellen. Lackey stützt ihre Argumentation auf verschiedene Gedankenexperimente: Kunstexperte Ken: Jennifer Lackey erhält von ihrem Nachbarn Ken, der für sie seit Jahren ein zuverlässiger Kunstexperte ist, die Information, dass die neuen Ausstellungsstücke im Art Institute of Chicago wunderschön sind. Ken kann ihr jedoch nicht mehr mittteilen, da er in Eile ist. Jennifer erklärt daraufhin gegenüber ihrer Freundin Vivienne, die sich fragt, was sie ihren Gästen, die die Stadt besuchen, zeigen soll, dass die Gemälde in der neuen Ausstellung im Art Institute wunderschön sind.28 Moralexpertin Miriam: Miriam, eine als verlässlich bekannte moralische Expertin, teilt Sylvester mit, dass es moralisch falsch ist, nichtmenschliche Tiere zu essen. Dies tut sie, ohne ihr Urteil weiter zu begründen. Sylvester teilt dieses Urteil anschließend, ohne weitere Einschränkung, seiner Tochter mit.29

26 27 28 29

defizitär ist, zum Beispielweil es kein eigenes Verstehen beinhaltet. Vgl. zum Beispiel Wolff [1970] 1998, 13; Hills 2009, 126. Auch die Frage, ob es moralische Expertinnen geben kann, von denen man moralisches Wissen erwerben könne, wird kontrovers diskutiert. Vgl. Coady 1994, 71–76. Vgl. Lackey 2013, 34. Vgl. Lackey 2013, 34. Vgl. Lackey 2013, 34 Im Original „Aesthetic Testimony“. Vgl. Lackey 2013, 34. Im Original „Moral Testimony“.

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Kapitel 4

Da Lackey davon ausgeht, dass die epistemischen Defizite, von denen Wissen aus zweiter Hand betroffen sein kann, nicht nur auf den Bereich des ästhetischen und des moralischen Wissens zutreffen, verwendet sie auch ein Beispiel, das dem in Kapitel 4.1 vorgestellten Beispiel von Matilda, der Onkologin, ähnelt. Onkologin 2: Eliza ist Onkologin an einem Lehrkrankenhaus und diagnostiziert und behandelt seit 20 Jahren verschiedene Krebsarten. Sie untersucht Lucas, einen Patienten, der wegen Abdominalschmerzen in die Klinik kommt auf Krebs und erfragt einen Ultraschall und ein MRI. Bei Lucas wurde kürzlich Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert und er möchte hierzu eine zweite Meinung einholen. Lucas hat sich für Eliza als Ärztin entschieden, weil er nach intensiver Recherche herausgefunden hat, dass sie eine der erfolgreichsten Onkologinnen in den Vereinigten Staaten ist. Da die Ergebnisse jedoch an Elizas freiem Tag eintreffen, werden sie von Anna, einer sehr kompetenten Kollegin in der Onkologie, gesichtet. Da Eliza und Anna nur einen kurzen Augenblick haben, um über die Ergebnisse zu sprechen, teilt Eliza Anna nur mit, dass die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs lautet, ohne irgendwelche Details der Testresultate oder eine Begründung ihres Schlusses zu nennen. Kurz darauf hat Eliza einen Termin mit Lucas, bei dem sie ihm alleine aufgrund von Annas verlässlicher Aussage mitteilt: „Es tut mir sehr leid, Sie haben Bauchspeicheldrüsenkrebs.“30

Laut Lackey haben alle Beispiele gemeinsam, dass die Aussagen zuverlässig genug erworben wurden, um Wissen beim Zweitbesitzer darzustellen: What the above considerations suggest, then, is that there are no general epistemological reasons to deny that the subjects in the above cases possess the knowledge in question. All of the beliefs are true, reliably or virtuously produced, internally well grounded, and are not true merely through luck or chance.31

Die Hörer besitzen in jedem Beispielfall zusätzliche nicht-testimoniale Gründe, die ihre Akzeptanz der Aussagen rechtfertigen. Trotzdem liege intuitiv ein epistemisches Defizit vor, das die unqualifizierte Weitergabe des Wissens – also die Weitergabe, ohne kenntlich zu machen, dass es sich um Wissen aus zweiter Hand handelt – unangemessen erscheinen lässt.32 Lackey nimmt an, dass in allen drei Fällen im Hörer gewisse Erwartungen geweckt werden, dass die Sprecherin zusätzliche Evidenz und Detailwissen besitze, die die Rechtfertigung ihrer Aussage weiter stützen und als Erklärung für den Hörer dienen können. Es scheint klar, dass die domänenunabhängige 30 Vgl. Lackey 2013, 34–35. Im Original „Expert Testimony“. 31 Lackey 2013, 36. 32 Vgl. Lackey 2013, 36–37.

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand

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Evidenz, die die Sprecherinnen in allen Fällen besitzen, nicht ausreicht, um die Hörer in diesem Falle zu befriedigen.33 Anders als in einem früheren Artikel geht Lackey 2013 nicht mehr davon aus, dass in den Beispielfällen alle epistemischen Defizite beseitigt werden können, wenn das Wissen aus zweiter Hand um domänenspezifische Evidenz ergänzt wird und daher nicht in isolierter Form vorliegt.34 Diese neue Bewertung geht mit einer veränderten Beschreibung der Beispielfälle einher. Am deutlichsten wird dies im Vergleich der Fälle Onkologin 1 und Onkologin 2. Während der Patient im ersten Fall nur die Diagnose einer ausreichend verlässlichen Onkologin sucht, kennt der Patient im Fall Onkologin 2 die Diagnose bereits und wünscht eine Zweitmeinung, die jedoch von einer ganz bestimmten Onkologin stammen soll, nämlich von Eliza, die er nach ausführlicher Recherche als besonders erfolgreiche Onkologin ausfindig gemacht hat.35 Lackey stellt zunächst fest, dass bestimmte Arten, die Isoliertheit von Wissen aus zweiter Hand einzuschränken, nicht dazu führen, das epistemische Defizit zu beseitigen. Dies ist dann der Fall, wenn beispielsweise reflexives Wissen im Sinne Sosas36 vorliegt. Dies führt zwar dazu, dass das Wissen weniger isoliert ist, da der Besitzer in diesem Falle eine epistemische Perspektive aufweist, die ihm erlaubt, die Zuverlässigkeit der Quelle abzuschätzen. Er besitzt hierdurch jedoch nur zusätzliche Evidenz über die Quelle und keine zusätzliche Evidenz über den Sachverhalt p.37 Im Rahmen der in dieser Arbeit eingeführten Terminologie kann man sagen, dass reflexives Wissen nur zusätzliche domänenunabhängige Evidenz liefert, während weiterhin nicht ausreichend domänenspezifische Evidenz vorliegt. Doch auch der Erwerb zusätzlicher domänenspezifischer Evidenz führt laut Lackey nicht dazu, dass der epistemische Mangel in den Beispielfällen beseitigt wird. Geht Lackey 2011 noch davon aus, dass zusätzliche domänenspezifische Evidenz dazu führen würde, dass die Aussagen epistemisch betrachtet nicht mehr problematisch sind, da die jeweiligen Besitzer von Wissen aus zweiter Hand auf eventuelle Nachfragen oder Zweifel mit weiterem 33 34 35 36

Vgl. Lackey 2013, 37–38. Vgl. Lackey 2011. Vgl. hierzu Lackey 2013, 34–35. Sosa unterscheidet animal knowledge und reflective knowledge: „Belief is a kind of performance, which attains one level of success if it is true (or accurate), a second level if it is competent (or adroit), and a third if its truth manifests the believer’s competence (i.e., if it is apt). Knowledge on one level (the animal level) is apt belief. My solution distinguishes orders of performance normativity, including a first order where execution competence is in play, and a second order where the performer must assess the risks in first-order performance. This imports a level of reflective knowledge, above the animal level.“ Sosa 2010, 1. 37 Vgl. Lackey 2013, 40.

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Kapitel 4

domänenspezifischem Wissen antworten könnten38, so geht sie 2013 davon aus, dass diese Möglichkeit in den neueren Beispielfällen nicht gegeben ist. Vielmehr bestehe die Gefahr, dass die Hörer sich umso mehr getäuscht sehen, sollte die Sprecherin auf Nachfragen mit weiterem domänenspezifischem Wissen antworten, ohne kenntlich zu machen, dass es sich nicht um Wissen aus erster Hand handelt.39 Es ist also die Eigenschaft des Aus-zweiter-Hand-Seins ist, die laut Lackey unabhängig von der Isoliertheit des Wissens dazu führt, dass es in bestimmten Fällen unangebracht ist, dieses Wissen weiterzugeben.40 Ich möchte im Folgenden zeigen, dass es nicht möglich ist, beide Aspekte voneinander zu trennen. Der Mangel an domänenspezifischer Evidenz äußert sich im Falle von wahrnehmungsunabhängig und wahrnehmungsabhängig erworbenem Wissen aus zweiter Hand unterschiedlich. Bei wahrnehmungsabhängigem Wissen aus zweiter Hand führt ein Mangel an domänenspezifischer Evidenz zu einer Unterdeterminiertheit des Wissens und einem Mangel an Detailwissen, wahrnehmungsunabhängig erwerbbares Wissen geht mit einem Mangel an rationaler Einsicht und hierdurch bedingt weniger dispositionalem Wissen einher. Ich werde daher Lackeys Fall des Kunstexperten Ken als Beispiel für wahrnehmungsabhängiges Wissen aus zweiter Hand und den Fall der moralexpertin Miriam als Beispiel für wahrnehmungsunabhängiges Wissen aus zweiter Hand betrachten.41

38 Vgl. Lackey 2011, 258–259. 39 „So, for example, my knowledge in AESTHETIC TESTIMONY that the paintings at the new exhibit at the Art Institute are beautiful is supplemented with additional information that is also acquired purely on the basis of Ken’s testimony. Perhaps he also shared with me details about the artist’s technique and the difficulty of the brush strokes. Or suppose that Sylvester’s knowledge in MORAL TESTIMONY that eating nonhuman animals is morally wrong includes further information supplied entirely by Miriam’s testimony. She may, for instance, have explained that there is no way to justify eating nonhuman animals without also justifying the moral permissibility of eating severely cognitively disabled humans. Despite this, the recipients of the testimony would still feel epistemically cheated upon hearing that their sources were offering only more secondhand knowledge to support their secondhand knowledge.“ Lackey 2013, 41–42. 40 Vgl. Lackey 2013, 42. Obwohl Lackey annimmt, dass es möglich ist, die Isoliertheit des Wissens vollständig von der Eigenschaft des Aus-zweiter-Hand-Seins zu trennen, gesteht sie trotzdem zu, dass beide Eigenschaften oft Hand in Hand gehen, da beispielsweise im Falle von Wahrnehmungswissen aus erster Hand die perzeptuelle Basis dieses Wissens weitere relevante Informationen liefern kann. Vgl. Lackey 2013, 39. 41 Natürlich ist es strittig, ob moralisches Wissen erfahrungsunabhängiges Wissen darstellt. Der Fall der moralischen Expertin dient jedoch nur zur Illustration und kann bei Bedarf durch ein Beispiel, das unstrittiger wirkt, ersetzt werden.

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand

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Im Falle des Kunstexperten kann festgehalten werden, dass Jennifer Lackeys Evidenz, selbst wenn Ken ihr einige Details über die Maltechnik und Pinselführung mitgeteilt hat, in einem erheblichen Maße unterbestimmt bleibt. Hiervon ist in jedem Falle auszugehen, in dem es sich um die Weitergabe von wahrnehmungsbasiertem Wissen handelt, da nicht die gesamte Basis des Wissens in propositionaler Form weitergegeben wird, sondern nur die Aspekte, die im Gesprächskontext relevant erscheinen. So kann es zum Beispiel sein, dass Vivienne eine Rot-Grün Schwäche hat, die Jennifer Lackey durchaus bekannt ist. Nun könnte es auch sein, dass in der neuen Ausstellung ungünstigerweise besonders viele Bilder mit diesen Farbkombinationen hängen, was dazu führen würde, dass Vivienne viele Bilder dieser Ausstellung nicht gut erkennen könnte. Ken hätte diesen Aspekt der Farbwahl möglicherweise nicht weitergegeben, weil er nicht sehr relevant erscheint. Jennifer selbst weiß jedoch, dass dies für ihre Freundin durchaus wichtig ist, und sie hätte ihr auf jeden Fall einen Hinweis gegeben, wenn sie selbst in der Ausstellung gewesen wäre und daher davon gewusst hätte. Darüber hinaus haben die meisten Menschen keinen Kunstgeschmack, der sich anhand kunstwissenschaftlicher Klassifizierungen ausrichtet, sondern einen individuelleren Geschmack, den gute Freunde und Bekannte in der Regel einschätzen können. Wäre Jennifer selbst in der Ausstellung gewesen, wäre sie daher in der Lage eine Empfehlung abzugeben, die die idiosynkratischen Vorlieben und Abneigungen ihrer Freundin berücksichtigt.42 Es ist gut möglich, dass Vivienne nicht das Urteil irgendeines Kunstexperten hören wollte – denn zu diesem Zweck hätte sie sich auch eine Rezension in der Zeitung durchlesen können – sondern genau das Urteil ihrer Freundin. Vielleicht hat Vivienne Jennifer Lackey gerade deshalb gefragt, weil sie weiß, dass ihre Freundinnen, denen sie die Stadt zeigen möchte, einen ähnlichen Geschmack wie sie haben. Wissen aus zweiter Hand, das aus der Wahrnehmung stammt, ist auch dann noch unterbestimmt und daher zu einem gewissen Maße isoliert, wenn es durch zusätzliche domänenspezifische Evidenz ergänzt wird. Der Aspekt der Isoliertheit kann daher nicht vom Aspekt des Aus-zweiter-Hand-Seins getrennt werden. Ob diese Isoliertheit dazu führt, dass das Wissen nicht mehr weitergegeben werden sollte, hängt von der Situation und den Erwartungen des Hörers ab. In einer Situation, in der die Erwartungen des Hörers an die epistemische Position der Expertin sehr hoch sind, wird die Unangemessenheitsintuition auch dann auftreten, wenn die Expertin Wissen aus zweiter 42

Laut Meskin sind wir oft an so einer Art von Beurteilungen aus der Erste-Person Perspektive interessiert, weil sie uns erlauben abzuschätzen, was uns selbst gefallen würde. Er hält solche Aussagen jedoch nicht für objektive ästhetische Urteile. Vgl. hierzu Meskin 2004, 72.

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Hand vermittelt, das durch zusätzliche domänenspezifische Evidenz aus zweiter Hand gestützt wird. Denn auch dieses ist im direkten Vergleich zum Wissen dieser Aussage aus erster Hand weiterhin von einem Mangel an unmittelbarer domänenspezifischer Evidenz betroffen. Der Fall Moralexpertin kann als Beispiel für weitestgehend von der Wahrnehmung unabhängiges Wissen betrachtet werden.43 Im Beispielfall der moralischen Expertin könnte die zusätzliche Übermittlung von domänenspezifischer Evidenz in Form einer Erklärung, warum das Essen von Tieren moralisch falsch ist, entweder dazu führen, dass Sylvester ausreichend domänenspezifische Evidenz erwirbt, um die Aussage aufgrund seiner eigenen rationalen Einsicht zu rechtfertigen. Hierzu ist es jedoch nicht ausreichend, wenn ihm bloß Prämissen übermittelt werden, diese müssen bei Sylvester auch zu einer echten eigenen Einsicht führen; dann würde ihm per Definition Wissen aus erster Hand zugeschrieben werden.44 Oder ihm soll weiterhin nur Wissen aus zweiter Hand zugeschrieben werden; dann kann dies nur dadurch erklärt werden, dass er von Miriam zwar zusätzliche domänenspezifische Evidenz aus zweiter Hand erhält, diese jedoch nicht ausreicht, um ein Verstehen hervorzurufen, das die Aussage für Sylvester selbstevident erscheinen lässt. In diesem Falle lässt sich jedoch auch erklären, warum dieses Wissen gegenüber Wissen aus erster Hand defizitär erscheint. Es liegt immer noch in relativ isolierter Form vor, da die Begriffe nicht vollständig verstanden und miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Lackey erwägt im Falle des moralischen Wissens von Sylvester einen Fall, bei dem Sylvester zwar Verstehen im Sinne Kvanvigs besitzt, dieses Verstehen jedoch auch komplett aus zweiter Hand stammt und unvollständig ist. Ich denke, dass diese Stipulation irreführend ist, da Kvanvig davon ausgeht, dass Verstehen holistischer funktioniert. Es erfordert: “… an internal grasping or appreciation of how the various elements in a body of information are related to 43

44

Ross geht zum Beispiel davon aus, dass die grundlegenden moralischen Prinzipien ebenso selbstevident sind, wie mathematische Axiome: „It [The general principles of duty, KK] is self‐evident just as a mathematical axiom, or the validity of a form of inference, is evident.“ Vgl. Ross und Stratton-Lake [1930] 2002, 29–30. In diesem Falle sollten für den Erwerb solcher Aussagen dieselben Bedingungen gelten wie für den Erwerb anderer selbstevidenter Aussagen. Diese Annahme ist selbstverständlich umstritten. Bekannte Vertreter dieser Ansicht sind Kant [1785] 2016; Ross und Stratton-Lake [1930] 2002; Lazari-Radek und Singer 2014. Der Fall der Moralexpertin dient daher nur als Beispiel für die Weitergabe wahrnehmungsunabhängig erworbenen Wissens, wenn man Ross Bewertung teilt, ansonsten kann ein anderer Beispielfall verwendet werden. Vgl. hierzu Kap. 3.4.2.

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand

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each other in terms of explanatory, logical, probabilistic, and other kinds of relations that coherentists have thought constitutive of justification.“45 Für den Fall, dass Sylvester von Miriam ausreichend domänenspezifische Evidenz erhalten hat, um im Sinne Kvanvigs zu verstehen, warum es moralisch falsch ist, nichtmenschliche Tiere zu essen, müsste man daher davon ausgehen, dass er auch die explanatorischen und logischen Beziehungen begreift, die dieses Verstehen konstituieren. Man müsste dann annehmen, dass er auch genügend Verstehen besitzt, um die Aussage aufgrund seiner eigenen rationalen Einsicht zu rechtfertigen. In diesem Falle wäre die Basis seines Wissens nicht mehr das Wissen aus zweiter Hand, sondern sein eigenes Verstehen, das ihm Wissen aus erster Hand ermöglichen würde. Seine Aussage gegenüber seiner Tochter wäre dann nicht mehr defizitär, aber auch nicht mehr aus zweiter Hand. Kvanvig geht des Weiteren davon aus, dass, während Wissen durchaus bruchstückhaft vorhanden sein kann, Verstehen eine gewissen Vollständigkeit verlangt. Daher ist es nicht möglich, etwas Wichtiges über einen Sachverhalt, den man vollständig versteht, zu übersehen. Selbst das Konzept des relativen Verstehens verfolgt diejenigen Sachverhalte, die in der Gesamtheit der Informationen wichtig sind, sodass die Unfähigkeit signifikante Elemente dieser Menge zu verstehen dazu führt, dass eine Person kein Verstehen besitzt.46 Es wäre also widersprüchlich, davon auszugehen, dass Sylvester ausreichend Verstehen im Sinne Kvanvigs besitzt, um Miriam erklären zu können, warum es falsch ist, Tiere zu essen, aber nicht genügend Verstehen, um die Aussage selbstständig aufgrund dieses Verstehens rechtfertigen zu können. Man könnte jedoch stipulieren, dass Sylvester von Miriam ausreichend domänenspezifische Evidenz aus zweiter Hand erworben hat, um die Aussage formal rechtfertigen zu können, ohne dass er die Richtigkeit der Aussage aufgrund seiner eigenen rationalen Einsicht erfassen kann. Er könnte die Aussage von Miriam dann seiner Tochter erklären, seine eigene Rechtfertigung würde aber nicht auf dieser domänenspezifischen Evidenz, sondern weiterhin bloß auf der domänenunabhängigen Evidenz basieren, dass Miriam die Aussage für richtig hält. Es ist wahrscheinlich, dass Sylvester in diesem Fall nicht ausreichend sensitiv auf eventuelle Defeater reagieren könnte und dass weiterhin 45 Kvanvig 2009a, 193–194. 46 „Whereas knowledge can be piecemeal, understanding requires more completeness. Thus, it is not possible for one to miss something important about which one has perfect understanding. Moreover, the concept of relative understanding tracks what is important in a body of information, so that failure to grasp significant items within that body of information renders a person lacking in understanding.“ Kvanvig 2009a, 203.

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eine gewisse Isoliertheit und mangelnde Einbettung seines Wissens bestehen bleibt, die zu epistemischen Nachteilen, wie beispielsweise einer Kompartmentalisierung führen können.47 Die genauere Betrachtung von Lackeys Beispielfällen zeigt daher, dass sich der Aspekt der Isoliertheit nicht vollständig vom Aspekt des Aus-zweiterHand-Seins trennen lässt. Im Falle von wahrnehmungsunabhängigen Aussagen resultiert die Isoliertheit per Definition direkt aus der Eigenschaft des Aus-zweiter-Hand-Seins. Wahrnehmungsunabhängig erwerbbares Wissen stellt nur solange Wissen aus zweiter Hand dar, solange nicht die gesamte domänenspezifische Evidenz aus erster Hand besessen wird.48 Der Erwerb zusätzlicher domänenspezifischer Evidenz bezüglich dieser Aussage führt dazu, dass die Aussage besser in das Begriffsnetz der Besitzerin eingebettet werden kann, dies gilt auch, wenn die zusätzliche Evidenz aus zweiter Hand stammt. Diese Integration der zusätzlichen domänenspezifischen Evidenz aus zweiter Hand ist jedoch defizitär gegenüber dem Besitz dieser Evidenz aus erster Hand. Die Besitzerin der Evidenz aus erster Hand wäre in der Lage, alle logischen und explanatorischen Beziehungen, auf denen die domänenspezifische Evidenz basiert, auf Grundlage ihrer eigenen rationalen Einsicht zu rechtfertigen. Gelingt dem Besitzer von Wissen aus zweiter Hand diese perfekte Integration seiner domänenspezifischen Evidenz, muss davon ausgegangen werden, dass die epistemische Basis seines Wissens sich hierdurch geändert hat und er nun Wissen aus erster Hand besitzt. So würde man der Mathematiklehrerin, die die binomischen Formeln selbstständig herleiten und erklären kann, auch kein Wissen aus zweiter Hand zuschreiben, nur weil sie ihr Wissen ursprünglich selbst als Schülerin aus zweiter Hand erworben hat. Sicherlich gab es auch eine Zeitspanne, in der die heutige Mathematiklehrerin ihr Wissen über die binomischen Formeln nur mithilfe der Autorität ihrer eigenen Lehrerin rechtfertigen konnte. Da ihr Verständnis aller beteiligten Begriffe nun aber so vollständig ist, dass sie die Aussage selbstständig herleiten kann, wird ihr Wissen aus erster Hand zugeschrieben. Solange wahrnehmungsunabhängig erwerbbares Wissen aus zweiter Hand besessen wird, ist daher immer von einer gewissen Isoliertheit auszugehen, mit allen negativen epistemischen Folgen, wie der Unfähigkeit die Aussage vollständig erklären zu können oder gegen mögliche Einwände zu verteidigen. Im Falle von wahrnehmungsabhängigen Aussagen aus zweiter Hand, liegt eine Unterdeterminiertheit vor, die ebenfalls dazu führt, dass das Wissen bei dem Besitzer isoliert vorliegt. Der Besitzer von Wahrnehmungswissen aus 47 48

Siehe hierzu Kap. 4.2.1.2. Siehe hierzu Kap. 4.4.2.

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand

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zweiter Hand besitzt weniger Detailwissen, das ihm helfen würde, die Aussage in seinen Rahmen der Kenntnis von Einzeldingen einzuordnen. Diese Problematik kann durch den zusätzlichen Erwerb von domänenspezifischem Wissen reduziert werden. Es muss jedoch davon ausgegangen werden, dass eine gewisse Unterbestimmtheit bestehen bleibt, da nicht die gesamte domänenspezifische Evidenz übermittelt werden kann.49 Dies kann wiederum zu Fehlidentifikationen und Missverständnissen führen und mit einer verminderten Fähigkeit auf Defeater zu reagieren, einhergehen. Zusammenfassung: Lackeys Aussage, dass bei Wissen aus zweiter Hand eine gewisse Defizienz unabhängig von der Isoliertheit bestehen bleiben würde50, ist irreführend, da die Isoliertheit bei Wissen aus zweiter Hand zwar stark reduziert, jedoch nicht komplett behoben werden kann. Die Isoliertheit geht unmittelbar aus der Eigenschaft des Aus-zweiter-Hand-Seins hervor und kann nicht vollständig von ihr getrennt werden. Ob und in welchen Fällen eine geringere Isoliertheit, die durch den Erwerb von zusätzlicher domänenspezifischer Evidenz erreicht werden kann, ausreicht, um Wissen aus zweiter Hand weitergeben zu dürfen, soll im nächsten Kapitel geprüft werden. 4.3

Die Unterscheidung zwischen einer beliebigen Expertin und einer spezifischen Expertin

Lackeys Beispiele zeigen, dass an die Sprecherin in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Erwartungen bezüglich der Integration ihres Wissens gestellt werden. Benton geht davon aus, dass dies dafür spricht, dass die von Lackey vorgestellten Fälle keine stabilen Intuitionen hervorrufen können.51 Er unterscheidet hierzu zwischen der Forderung nach einer spezifischen Expertin und der Forderung nach einer beliebigen Expertin52 und argumentiert, dass die von Lackey vorgestellten Beispielfälle zu unterschiedlichen Intuitionen führen würden, je nachdem welche Vorstellung einer Expertin man voraussetzt.53 Lackeys eigene Verwendung des Begriffs der Expertin ist tatsächlich nicht vollständig konsistent.54 Ich gehe davon aus, dass Benton insofern Recht hat, dass je nach Gesprächskontext unterschiedliche Erwartungen an eine Expertin 49 50 51 52 53 54

Siehe Kapitel 3.2.2 in dieser Arbeit. Vgl. Lackey 2013, 34. Vgl. Benton 2016, 492. Vgl. Benton 2016, 496–497. Benton verwendet die Begriffe Any-Expert und Specific-Expert. Vgl. Benton 2016, 497–500. Siehe Kapitel 4.1 und 4.2 in dieser Arbeit. Vgl. Lackey 2011, 2013, 2016.

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gestellt werden können und dass dies unterschiedliche Intuitionen in der Bewertung der Fälle erklärt. Ich werde jedoch zeigen, dass es entgegen Bentons Ansicht55, gut möglich ist, die Unterscheidung zwischen einer spezifischen Expertin und einer beliebigen Expertin systematisch zu treffen und sinnvoll innerhalb des Rahmens von isoliertem Wissen aus zweiter Hand zu integrieren. Dass die Annahme eines Kontextes, in dem das Wissen einer spezifischen Expertin gefordert ist, andere Intuitionen hervorruft, als die Annahme eines Kontextes, in dem das Wissen einer beliebigen Expertin gefordert ist, kann dann nicht mehr als Argument für eine mögliche Instabilität der Intuitionen verwendet werden. Denn die in dieser Arbeit vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand kann voraussagen, in welchen Fällen es ausreicht, wenn die Expertin zusätzlich zu ihrem Wissen aus zweiter Hand über domänenspezifische Evidenz (aus zweiter Hand) verfügt und in welchen Kontexten gefordert wird, dass die Expertin Wissen aus erster Hand besitzt. Sie kann darüber hinaus erklären, durch welche Anforderungen an das Wissen der Expertin die unterschiedlichen Intuitionen hervorgerufen werden. Ich werde zunächst in die Debatte zwischen Lackey und Benton einführen und anschließend eine eigene Lösung der Problematik vorstellen. Die Gedankenexperimente von Lackey zeigen, dass es nicht immer gleichermaßen wichtig ist, ob das Wissen, das weitergegeben wird, aus erster Hand oder aus zweiter Hand stammt. So zeigt die Untersuchung von isoliertem Wissen aus zweiter Hand, dass es in manchen Kontexten unzulässig ist, Wissen aus zweiter Hand weiterzugeben, wenn dieses in stark isolierter Form vorliegt. In einigen dieser Fälle ist es möglich, diese Isoliertheit durch zusätzliche domänenspezifische Evidenz aus zweiter Hand auszugleichen. In anderen Fällen scheint dies nicht auszureichen56. 55 Vgl. Lackey 2016 für einen anderen Versuch Benton zu widerlegen. 56 Green bietet eine weitere Erklärung der Unangemessenheitsintuition. Er nimmt an, dass es in folgenden Kontexten unzulässig ist, isoliertes Wissen aus zweiter Hand weiterzugeben: „– When chains with very different structures could easily look the same to someone at the end of the chain. – When intermediate links in testimonial chains could easily fail to be discriminating. – When the desirable qualities of a chain originator are rare or contested. – In high stakes cases in general.“ Green 2014, 223. Er geht außerdem davon aus, dass im Falle von ästhetischem und moralischem Wissen oft mehrere dieser Merkmale erfüllt sind, während Fälle von Expertinnen-Wissen aus zweiter Hand nur risikoreiche Kontexte darstelen. Greens Unterscheidung erlaubt es jedoch nicht, Voraussagen darüber zu treffen, in welchen Fällen der epistemische Mangel durch den Erwerb zusätzlicher domänenspezifischer

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Benton versucht zu zeigen, dass die Annahme von unterschiedlichen Anforderungen an die Expertin zu abweichenden Bewertungen von Lackeys Beispielfällen führt, sodass die Unangemessenheitsintuition nur unter ganz bestimmten Vorannahmen hervorgerufen wird. So werde die Intuition, dass die Weitergabe von Wissen aus zweiter Hand generell unangemessen sei, nur bei der Annahme eines Kontextes, in dem die Meinung einer spezifischen Expertin erwartet wird, hervorgerufen. Benton nimmt an, dass Lackey im Beispielfall Onkologin 1 eine solche Vorannahme trifft, ohne sie explizit kenntlich zu machen.57 Er illustriert die Unterscheidung zwischen einer spezifischen und einer beliebigen Expertin an diesem Beispielfall. Diesen könne man entweder so verstehen, dass Derek die Meinung einer beliebigen Expertin hören möchte oder dass er die Meinung einer spezifischen Expertin, also Matildas eigene Expertinnenmeinung hören möchte. Im ersteren Falle würde die Intuition, dass Matildas Aussage epistemisch unzulässig sei, gar nicht auftreten. Im letzteren Falle wäre die Intuition, dass Matildas Aussage unzulässig sei, da sie nicht ihre eigene Expertinnenmeinung vertritt, durchaus nachvollziehbar, es handele sich hier jedoch nicht um eine epistemische, sondern um eine pragmatische Unzulässigkeit.58 Bentons Argumentation hierfür beruht auf der Annahme, dass es im Falle der Onkologin ausreiche, wenn die Meinung einer beliebigen Expertin weitergegeben wird. Er konstruiert hierzu eine leichte Abwandlung des Falls Onkologin 1: Onkologin 1a59: Matilda ist Onkologin an einem Lehrkrankenhaus und diagnostiziert und behandelt seit 15 Jahren verschiedene Krebsarten. Sie untersucht einen Patienten, der wegen Abdominalschmerzen in die Klinik kommt, auf Krebs und erfragt einen Ultraschall und ein MRI. Da die Ergebnisse jedoch an ihrem freien Tag eintreffen, werden sie von Nancy, einer sehr kompetenten Kollegin in der Onkologie gesichtet. Da Nancy und Matilda nur einen kurzen Augenblick haben, um über die Ergebnisse zu sprechen, teilt Nancy Matilda nur mit, dass die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs lautet, ohne irgendwelche Details der Testresultate oder eine Begründung ihres Schlusses zu nennen. Kurz darauf hat Matilda einen Termin mit Derek in Anwesenheit von Nancy, bei dem sie ihm alleine aufgrund von Nancys verlässlicher Aussage mitteilt: „Es tut mir sehr leid, Sie haben Bauchspeicheldrüsenkrebs.“60

57 58 59 60

Evidenz beim Zweitbesitzer behoben werden kann und in welchen Fällen dies nicht ausreichend ist. Vgl. Benton 2016, 496. Vgl. Benton 2016, 496–497. Ich werde in Kap. 5.5.1 auf die Frage, ob es sich um einen epistemischen oder pragmatischen Mangel handelt eingehen. Vgl. Benton 2016, 499. Vgl. Benton 2016, 499. Siehe S. 182 für den Fall Onkologin 1 von Lackey.

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Der einzige Unterschied zum Fall Onkologin 1 ist, dass in diesem Fall Nancy, die Dereks Ergebnisse aus erster Hand kennt, ebenfalls anwesend ist. Laut Benton tritt in Onkologin 1a nicht die Intuition auf, dass Matildas Aussage unzulässig sei. Ihre epistemische Position hat sich jedoch im Vergleich zu Onkologin 1 nicht verändert. Dies zeige laut Benton, dass die Unzulässigkeit die Aussage in Onkologin 1 weiterzugeben, nicht aus einem epistemischen Defizit herrühren kann.61 Benton geht daher davon aus, dass die Unangemessenheitsintuition im Fall Onkologin nur dann entsteht, wenn implizit die Vorannahme getroffen wird, dass das Wissen einer spezifischen Expertin gefordert ist.62 Diese Annahme setzte voraus, dass Matilda ihre eigene Expertinnen-Meinung äußert, weshalb die Weitergabe ihres Wissens, ohne kenntlich zu machen, dass dieses aus zweiter Hand stammt, unzulässig erscheint. Der Fall Onkologin 1a zeige laut Benton jedoch, dass die Annahme einer beliebigen Expertin ausreichend sei, da hier die Unangemessenheitsintuition nicht auftaucht.63 Bentons Argumentation, dass je nach Gesprächskontext unterschiedliche Erwartungen an eine Expertin gestellt werden und dass hierdurch unterschiedliche Intuitionen in der Bewertung der Fälle erklärt werden können, ist durchaus überzeugend. Diese Unterschiede weisen jedoch nicht auf eine Instabilität der Beispielfälle hin, sondern können im Rahmen des Begriffs von Wissen aus zweiter Hand systematisch erklärt werden. Die Annahme einer spezifischen Expertin ist nicht, wie von Benton suggeriert, überflüssig, sondern kann in einigen Kontexten angebracht sein, um einer bestimmten Art von Isoliertheit vorzubeugen, die dazu führt, dass die Verlässlichkeit der Originalquelle nicht mehr sensitiv eingeschätzt werden kann. Die von Lackey vorgestellten Beispielfälle des Kunstexperten Ken, der Moralexpertin Miriam und der Onkologin  2 haben alle gemeinsam, dass es sich um Fälle handelt, in denen nicht nur erfolgreich Wissen vermittelt wird; dieses Wissen wird auch von einer kompetenten Quelle weitergegeben; über eine Zwischenbesitzerin, die in der Lage ist die Verlässlichkeit der Originalquelle von ihrem epistemischen Standort aus einzuschätzen.64 Die Zwischenbesitzerin wird vom Letztbesitzer des Wissens als kompetente und verlässliche Quelle bezüglich der Wahrheit der in Frage stehenden Aussage betrachtet und wird spezifisch aufgrund dieser Kompetenz vom Letztbesitzer 61 Vgl. Benton 2016, 500. 62 Er unterscheidet zwischen der Forderung nach einer spezifischen Expertin und der Forderung nach einer beliebigen Expertin und verwendet die Begriffe Any-Expert und Specific-Expert. Vgl. Benton 2016, 496–497. 63 Vgl. Benton 2016, 500. 64 Zu dieser Einschätzung kommen ebenfalls Henning und Schweikard 2013, 7.

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des Wissens ausgewählt. Die Rechtfertigung des Letztbesitzers basiert daher zum Teil auf der Möglichkeit die Verlässlichkeit der Quelle von seinem eigenen epistemischen Standort aus einzuschätzen. Diese Annahme ist nicht im Mindesten eine zwingende Voraussetzung für den Erwerb von Wissen auf testimonialem Wege. Geht der Empfänger von Wissen jedoch davon aus, dass er die Meinung einer spezifischen Expertin erhält, dann sollte die Expertin Wissen aus erster Hand besitzen. Ansonsten könnte der Hörer einen Defeater erwerben, sobald er herausfindet, dass seine als kompetent eingeschätzte Quelle selbst nur Wissen aus zweiter Hand besaß. Er kann dann nicht mehr einschätzen, ob die Originalquelle tatsächlich so verlässlich ist, wie er vorausgesetzt hat. Ob diese Einschränkung gilt, hängt jedoch vom jeweiligen Gesprächskontext ab. Deutlich wird dies beim Vergleich der Fälle Onkologin  1 und Onkologin 2. Die Intuition im Falle Onkologin 1, dass es genügen würde, wenn Matilda ausreichend domänenspezifische Evidenz von Nancy erworben hätte, um ihre Aussage epistemisch akzeptabel zu machen,65 würde bei Annahme einer beliebigen Expertin folgen, an die nur die Anforderungen gestellt werden, die Laien generell an Expertinnen stellen. Dies trifft auf das Verhältnis von Derek und Matilda in Onkologin 1 zu, da Derek die Erstdiagnose einer beliebigen, verlässlichen Onkologin sucht.66 Das reicht bei Annahme einer spezifischen Expertin reicht allerdings nicht mehr aus; hier wird an die Expertin die Anforderung gestellt, dass ihr Wissen in keiner Art und Weise isoliert ist, was erfordert, dass es sich um Wissen aus erster Hand handelt.67 So lässt sich die Intuition erklären, dass zusätzliches domänenspezifisches Wissen im Fall Onkologin 2 nicht ausreichend ist, um den defizitären Charakter des Wissens aus zweiter Hand zu beseitigen.68 Dies liegt daran, dass Lucas bereits eine Erstdiagnose besitzt. Er sucht daher nicht die Meinung einer weiteren, ausreichend verlässlichen Onkologin, sondern die Meinung genau der Onkologin, die er als die erfolgreichste Onkologin der Vereinigten Staaten ausgemacht hat. Es handelt sich also um einen Fall, den der Hörer als so risikoreich bewertet hat, dass er annimmt, die Meinung einer beliebigen Expertin genüge nicht, um eine ausreichende Verlässlichkeit zu garantieren, weshalb er vorher den epistemischen Standort der Sprecherin genau evaluiert hat. In diesem Fall beruht die Rechtfertigung seines Wissens teilweise darauf, dass er abschätzen kann, 65 Vgl. Lackey 2011, 256. 66 Vgl. hierzu Lackey 2011, 253. 67 Ich gehe davon aus, dass Wissen aus zweiter Hand generell in einigen Aspekten eine Isoliertheit aufweist. Siehe hierzu Kap. 4.2. 68 Vgl. hierzu Lackey 2013, 42.

200

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dass die infragestehende Aussage, vom Standort der Sprecherin aus, eine exoterische Aussage darstellt. Diese Einschätzung gilt nur für den epistemischen Standort dieser spezifischen Sprecherin. Würde der Hörer herausfinden, dass die Aussage auch von dem aktuellen epistemischen Standort der Sprecherin esoterisch war, würde er einen unterminierenden Defeater erwerben, der den Teil seiner Rechtfertigung, der darauf basiert, dass er den epistemischen Standort der Sprecherin richtig eingeschätzt hat, erschüttern würde.69 Auch die Fälle der moralischen Expertin und des Kunstexperten sind so konzipiert, dass der Hörer die Sprecherin persönlich kennt und eine besondere Beziehung zu ihr hat, durch die die Verlässlichkeit der Sprecherin sichergestellt wird. Auch in diesen Fällen muss also insofern von der Annahme einer spezifischen Expertin ausgegangen werden, als die Sprecherin nicht einfach ausgetauscht werden kann, ohne dass dies die Rechtfertigung des Hörers beeinflusst. Bentons Unterscheidung kann daher sinnvoll im Rahmen des Begriffs von Wissen aus zweiter Hand erklärt werden. Davon ausgehend, dass auch integriertes Wissen aus zweiter Hand immer noch zu einem gewissen Grad isolierter ist als Wissen aus erster Hand, lässt sich gut erklären, dass einige Gesprächskontexte die Weitergabe von Wissen aus erster Hand erfordern. Das trifft auf Kontexte zu, in denen das Urteil einer spezifischen Expertin gefragt ist, während Kontexte, in denen das Urteil einer beliebigen Expertin erfragt wird, bloß Wissen erfordern, das nicht vollständig isoliert ist; diese Kontexte erlauben auch die Weitergabe von Wissen aus zweiter Hand, das um domänenspezifische Evidenz ergänzt wurde, also von integriertem Wissen aus zweiter Hand.70 Diese Einschätzung kann systematisch erklären, warum es im Falle der Onkologin  1/1a und der Onkologin  2 zu unterschiedlichen Intuitionen kommt. Während die Annahme einer beliebigen Expertin im Fall Onkologin 1 nur erfordert, dass die Expertin intergiertes Wissen aus zweiter Hand besitzt, erfordert die Annahme einer spezifischen Expertin in Onkologin 2, dass die Expertin Wissen aus erster Hand besitzt. Die Frage, ob eine Aussage so stark isoliertes Wissen aus zweiter Hand darstellt, dass ihre Weitergabe, ohne diesen Status kenntlich zu machen, unangemessen ist, ist von dem jeweiligen Gesprächskontext und den Erwartungen

69 Green 2014, 223 sieht dies ebenso. 70 Vgl. Benton 2016, 496–497.

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand

201

des Hörers abhängt71. Unter dieser Annahme kann die Unterscheidung zwischen einer beliebigen und einer spezifischen Expertin sinnvoll herangezogen werden, um unterschiedliche Erwartungshaltungen des Hörers zu unterscheiden. Die Unterscheidung kann mithilfe des in Kap. 3.1.3 erläuterten Begriffs der relativen Expertin auf alle Fälle der Weitergabe von Wissen aus zweiter Hand angewendet werden.72 Der Begriff einer relativen Expertin trifft auf jede Person S1 zu, die zu einer anderen Person S2 zu einem bestimmten Zeitpunkt t insofern epistemisch besser platziert ist, als die Wahrheit eines bestimmten Sachverhaltes p für S1 exoterisch ist, während p für S2 esoterisch ist. Daher kann die Unterscheidung zwischen einer spezifischen und einer beliebigen Expertin grundsätzlich auf alle Bereiche angewendet werden kann, in denen ein solches Verhältnis vorliegt.73 Zusammenfassung: Die Begriffe der spezifischen Expertin und der beliebigen Expertin können genutzt werden, um verschiedene Erwartungshaltungen des Hörers beim Erwerb von Wissen aus zweiter Hand zu unterscheiden, die durch je unterschiedliche epistemische Anforderungen an die Sprecherin charakterisiert sind. Eine Verletzung dieser Hörererwartungen führt dazu, dass die Weitergabe von Wissen im jeweiligen Gesprächskontext intuitiv unangemessen erscheint, da die Verlässlichkeit der Originalquelle vom Letztbesitzer nicht mehr adäquat eingeschätzt werden kann. Zusätzlich zu der Forderung nach genereller Verlässlichkeit kann daher in einigen Kontexten die Forderung nach dem Urteil einer beliebigen oder einer spezifischen Expertin bestehen. Während es in Kontexten, in denen das Wissen einer beliebigen Expertin gefordert ist, genügt, wenn das Wissen, das weitergegeben wird, wenigstens integriertes Wissen aus zweiter Hand darstellt, erfordern Kontext, in denen das Urteil einer spezifischen Expertin erwartet wird, dass Wissen aus erster Hand weitergegeben wird. 71

Lackey sieht das ebenso: „It is worth noting that the isolation component of isolated secondhand knowledge is a purpose-relative notion. In particular, whether an instance of knowledge is isolated in the sense that is problematic for epistemically proper expert assertion will depend upon the expert’s ability to adequately respond to relevant challenges or questions.“ Lackey 2016, 513. 72 Vgl. ##S. 63 in dieser Arbeit. 73 Laut Benton sollte eine eigene Expertinnenmeinung folgendermaßen begründet sein: “[…] Giving one’s own expert opinion typically (perhaps constitutively) requires that the expert have either first-hand acquaintance with some relevant data in the domain of expertise from which one employs one’s expertise in drawing a conclusion, or for it to be thorough knowledge of all the relevant details if it is all second-hand.“ Benton 2016, 496.

202

Kapitel 4

4.4

Wissensarten und Kontexte in denen die Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand problematisch ist

Die Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand ist in einigen Kontexten besonders problematisch. In Wissensbereichen, in denen starke Dissense bestehen, darunter die Bereiche des ästhetischen und moralischen Wissens, kann die mangelnde Einschätzbarkeit der Verlässlichkeit der Originalquelle im Falle der Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand dazu führen, dass beim Letztbesitzer ein Defeater für sein Wissen vorliegt. Die Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand kann aufgrund des Fehlens der domänenspezifischen Evidenz außerdem die praktische Anwendbarkeit des Wissens beeinträchtigen. Das ist besonders in risikoreichen Kontexten problematisch, kann jedoch auch im Falle von Gruppenwissen zum Problem werden. Der Mangel an Detailwissen und dispositionalem Wissen kann zwar theoretisch bis zu einem gewissen Grad durch die Weitergabe zusätzlicher Evidenz ausgeglichen werden. Auf der Anwendungsebene entsteht jedoch das Problem, dass die beteiligten Akteure im Moment der Weitergabe nicht wissen können, welche Details potentiell relevant werden könnten. Probleme mit Defeatern bei der Weitergabe von ästhetischem und moralischem Wissen aus zweiter Hand Ästhetisches und moralisches Wissen aus zweiter Hand sind bei einer isolierten Weitergabe von Problemen mit Defeatern betroffen.74 Dies liegt daran, dass Wissen in diesen Bereichen in der Regel stärker von Dissensen betroffen ist als in anderen Wissensbereichen.75 Wissen aus zweiter Hand im weiten Sinne ist darüber hinaus nach dem evidentiellen Modell und nicht nach dem Transmissionsmodell gerechtfertigt.76 Die beiden Modelle führen bezüglich der Rechtfertigung, die ein Hörer für sein Wissen aus zweiter Hand besitzt, zu einem entscheidenden Unterschied. Im Falle der Rechtfertigung nach dem evidentiellen Modell ist die Frage ausschlaggebend, ob die eigne proprietäre Rechtfertigung des Hörers ausreicht, um durch die Aussage der Sprecherin Wissen zu erwerben. Die Rechtfertigung nach dem Transmissionsmodell ermöglicht dem Hörer stattdessen die gesamte

4.4.1

74

Das Vorliegen unwiderlegter Defeater ist sowohl bei Annahme von reduktionistischen, als auch von nicht-reduktionistischen Ansätzen ein Ausschlusskriterium für den erfolgreichen Erwerb von Wissen aus zweiter Hand. Vgl. z.B. Gelfert 2014, 150; Lackey 2013, 36. 75 Vgl. hierzu Hopkins 2000, 2007; Meskin 2004; Meskin und Robson 2015; Axtell 2019. 76 Siehe Kapitel 2.1.5 in dieser Arbeit. Hopkins geht davon aus, dass das Vorhandensein von Dissensen im Bereich des ästhetischen Wissens die Weitergabe dieses Wissen nach dem Transmissionsmodell einschränkt. Vgl. Hopkins 2000, 225–226. Wissen aus zweiter Hand im weiten Sinne ist jedoch grundsätzlich nach dem evidentiellen Modell gerechtfertigt.

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Rechtfertigungsstruktur der Vorbesitzerin des Wissens zu übernehmen.77 Dies hat unter anderem den Nachteil, dass Wissen nach dem Transmissionsmodell nur dann von einer Vorbesitzerin erworben werden kann, wenn diese auch Wissen besitzt. Die Rechtfertigung nach dem evidentiellen Modell erlaubt es jedoch einem Hörer, auch dann Wissen aus zweiter Hand zu erwerben, wenn die Erstbesitzerin selbst kein Wissen besitzt, weil sie einen unwiderlegten Defeater besitzt. Dies liegt daran, dass im Falle der Rechtfertigung nach dem evidentiellen Modell nicht die gesamte Rechtfertigungsstruktur der Erstbesitzerin vererbt wird. Dies gilt natürlich nur für die Fälle, in denen die Defeater der Erstbesitzerin das Wissen des Zweitbesitzers nicht in Frage stellen. Eine solche Situation kann einerseits dadurch entstehen, dass die Erstbesitzerin einen doxastischen Defeater besitzt, den der Zweitbesitzer nicht besitzt. So ist es beispielsweise möglich, von einer unsicheren Freundin Wissen über die Öffnungszeiten eines bestimmten Cafés zu erwerben, selbst wenn diese Freundin selbst gerade so stark von skeptischen Hypothesen überzeugt ist, dass die Möglichkeit, dass ein böser Dämon sie täuscht, einen doxastischen Defeater für jede ihrer Überzeugungen darstellt. Solange der Zweitbesitzer diesen Defeater nicht besitzt, steht auch seine Rechtfertigung nicht in Frage.78 Andererseits ist es auch möglich, Wissen aus zweiter Hand von einer Sprecherin zu erwerben, die selbst einen unwiderlegten propositionalen Defeater besitzt, solange der Zweitbesitzer seinerseits in der Lage ist, diesen Defeater zu entkräften. Lackey präsentiert hierzu einen interessanten Fall: Wissen über Fake Barn Country: Person A ist gut mit Farmer Brown befreundet, der ihr neulich erzählte, dass in seiner Nachbarschaft in letzter Zeit vermehrt Scheunenfassaden aufgestellt werden, um die Gegend hübscher und florierender aussehen zu lassen. Er selbst ist vehement dagegen und versichert glaubhaft, dass er so etwas niemals selbst machen würde. Person B berichtet Person A kurze Zeit später, dass sie an Farmer Browns Farm vorbeigefahren ist und gesehen hat, dass dieser wohl eine neue Scheune hat. Person B weiß zwar nicht von dem massiven Aufkommen der Scheunenfassaden in dieser Gegend, besitzt hierdurch jedoch trotzdem einen propositionalen Defeater, den sie nicht entkräften kann und daher kein Wissen. Person A kann diesen Defeater 77

78

Faulkner formuliert diese Bedingung für das Transmissionsmodell folgendermaßen: „If the audience is warranted in forming a testimonial belief, then whatever warrant in fact supports a speaker’s testimony continues to support the proposition the audience believes.“ Faulkner 2000, 591. Siehe Faulkner 2011, Ch. 3; McMyler 2011, Ch. 3 für eine gute Unterscheidung beider Modelle. Vgl. z.B. Lackey 1999, 484.

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jedoch aufgrund ihres Hintergrundwissen entkräften und kann daher leicht Wissen von Person A erwerben.79 Die Rechtfertigung nach dem evidentiellen Modell ermöglicht hier den Erwerb von Wissen aus zweiter Hand in einem Fall, in dem die Erstbesitzerin einen propositionalen Defeater besitzt, den der Zweitbesitzer entkräften kann. Dasselbe gilt für Fälle, in denen die Erstbesitzerin einen doxastischen Defeater besitzt, den der Zweitbesitzer nicht besitzt. Das Modell der evidentiellen Rechtfertigung weist auf der anderen Seite jedoch den Nachteil auf, dass es auch möglich ist, dass der Hörer kein Wissen erwerben kann, weil er Defeater besitzt, die die Sprecherin nicht besitzt oder entkräften konnte, da er nicht die gesamte Rechtfertigungsstruktur der Sprecherin erbt.80 Dieser Unterschied zwischen den beiden Modellen der Rechtfertigung kommt im Falle der Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand in Bereichen, in denen es häufige Dissense gibt, zum Tragen, da konträre Meinungen unter epistemischen Peers propositionale Defeater für diese Meinung darstellen können.81 Im Falle des Kunstexperten Ken und der Moralexpertin Miriam könnten die Zweitbesitzer des Wissens diese propositionalen Defeater zwar entkräften. Es ist jedoch nicht klar, dass die Letztbesitzer dieses isolierten Wissens diese Defeater ebenfalls entkräften können. Im Bereich von ästhetischem und moralischem Wissen wird das Verhältnis zwischen Expertinnen und Laien in der Regel nicht nur auf eine bessere raumzeitliche Platzierung, sondern auf überlegene kognitive Fähigkeiten zurückzuführen sein. Dies bedeutet, dass es für den Laien in der Regel nicht einfach möglich ist, den epistemischen Standort der Sprecherin unter Zuhilfenahme zusätzlicher domänenspezifischer Evidenz einzuschätzen, da er nicht in der Lage ist, ihre Evidenz zu bewerten. Er ist daher darauf angewiesen, die Glaubwürdigkeit der vermeintlichen Expertin auf anderem Wege zu überprüfen. Dem Hörer stehen hierzu verschiedene Möglichkeiten offen. Eine Möglichkeit besteht darin, dass der Hörer eine besondere persönliche Beziehung zur Sprecherin hat und er ihre Aussagen in der Vergangenheit wiederholt als verlässlich erlebt hat.82 Eine solche Beziehung liegt im Beispielfall des Kunstexperten zwischen Jennifer Lackey und Vivienne vor. Diese Möglichkeit der Auswahl einer geeigneten Sprecherin ist aber auf die Beziehung zu dieser 79 80 81 82

Vgl. z.B. Lackey 1999, 487. Vgl. z.B. Lackey 1999, 488. Hiervon gehen u.a. Hopkins 2000; Grundmann 2013; Axtell 2019 aus. Vgl. z.B. Hopkins 2000, 224–226.

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besonderen Sprecherin beschränkt. Denn die Verlässlichkeit der relativen Expertin, zu bestimmten ästhetischen oder moralischen Fragestellungen wahre Urteile abzugeben, muss nicht zwangsläufig mit ihrer Fähigkeit, weitere verlässliche Expertinnen auf diesem Gebiet zu identifizieren, korrelieren. Der Laie darf daher nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass die relative Expertin ebenso verlässlich ist, wenn sie isoliertes Wissen aus zweiter Hand weitergibt. Angewendet auf das Beispiel des Kunstexperten hieße das, dass Lackeys Freundin Vivienne möglicherweise ausreichend domänenspezifische Evidenz besitzt, um beurteilen zu können, dass es sich in der neuen Ausstellung um Exponate handelt, mit denen Lackey sich normalerweise gut auskennt; sie kann also einschätzen, dass die Aussage von ihrem epistemischen Standort aus wahrscheinlich exoterisch ist. Sie kann aber möglichweise nicht genau einschätzen, ob Lackey gut darin ist, die Kunstexpertise von anderen Menschen einzuschätzen; und sie besitzt nicht ausreichend domänenspezifische und domänenunabhängige Evidenz, um den epistemischen Standort von Ken einschätzen zu können. Die Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand stellt daher einen untergrabenden propositionalen Defeater für Vivienne dar. Es ist zwar gut möglich, dass Lackey mit ihrer Einschätzung von Kens Expertise Recht hat, nur ist dies von Viviennes epistemischen Standort aus nicht zweifelsfrei abschätzbar. Für ästhetisches Wissen kann daher festgehalten werden, dass in Fällen, in denen die Einschätzung der Verlässlichkeit der Sprecherin über die persönliche Beziehung zwischen der relativen Expertin und dem relativen Laien erfolgte, die Forderung nach der Meinung einer spezifischen Expertin besteht. Wird diese Anforderung verletzt, kann der Hörer untergrabende propositionale Defeater gegen die Verlässlichkeit der Quelle nicht mehr ausschließen. Diese Einschätzung kann generell auf Domänen mit kontroversen Sichtweisen ausgeweitet werden. Um dies zu zeigen, möchte ich mich an einer Argumentation von Axtell orientieren. Dieser geht davon aus, dass es in Domänen mit kontroversen Sichtweisen, wozu er unter anderem den moralischen, politischen und philosophischen Bereich zählt83, im Rahmen der Erziehung erworbene Überzeugungen84 gibt, deren Inhalt von der epistemischen

83

Axtell folgt bei dieser Klassifizierung Carter, der religiöse, moralische, politische und philosophische Überzeugungen zu den Domänen zählt in denen besonders häufig kontroverse Sichtweisen (controversal views) vorliegen. Vgl. Carter 2018, 1358 und Axtell 2019, 275. 84 „Nurtured Beliefs“. Ich werde den Begriff als gewachsene Überzeugungen übersetzen.

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Lokalisierung85 einer Person mitbestimmt wird.86 Die Persönlichkeitsabhängigkeit87, die solche Überzeugungen aufweisen, wird jedoch nur dann problematisch, wenn sie zu Voreingenommenheit und Vorurteilen führt.88 Um umweltbedingtes Glück89 auszuschließen, ist es daher in diesen Bereichen wichtig, nicht nur die Verlässlichkeit der einzelnen Kette der Wissensweitergabe zu betrachten, sondern auch das Vorkommen von kontroversen Überzeugungen in der Umgebung der Wissensbesitzerin.90 Axtell geht im Falle kontroverser Sichtweisen davon aus, dass der positive epistemische Status von Wissen aus zweiter Hand selbst dann nicht garantiert ist, wenn die spezifische Kette der Weitergabe der Überzeugungen de facto verlässlich ist.91 Das Vorhandensein und die Verbreitung komplett gegensätzlicher Überzeugungen in der Gesellschaft führt in diesen Fällen dazu, dass diese gegensätzlichen Überzeugungen untergrabende propositionale Defeater zu der eigenen aus zweiter Hand erworbenen Überzeugung darstellen.92 Diese Problematik entsteht jedoch nur, wenn die Überzeugungen der Erstbesitzerin evidentiell unterdeterminiert sind, das heißt es liegt abgesehen von der individuellen Prägung nicht ausreichend Evidenz vor, die ihre Überzeugung rechtfertigt. Eine gleichzeitige Überdetermination mit persönlichkeitsabhängigen Überzeugungen kann in solchen Fällen dazu führen, dass der 85

86 87 88 89

90 91 92

Axtell verwendet den Begriff der epistemischen Lokalisierung folgendermaßen: „Let a person’s epistemic location refer us to how the individual is located demographically ( family; broader culture; class, etc.), in addition to geographically and historically. We will use the term epistemic location problem to highlight etiological challenges to controversial views that bear marks of contingency and of what John K. Davis (2009) terms the impact of traitdependence upon our cognitive judgments.“ Axtell 2019, 275. Vgl. Axtell 2019, 275. Im Orginal „trait dependence“. Axtell 2019, 287. Vgl. Axtell 2019, 287. Umweltbedingtes Glück (environmental luck) ist ebenso wie das Glück in StandardGettier-Szenarien unvereinbar mit dem Erwerb von Wissen, selbst wenn eine wahre gerechtfertigte Überzeugung vorliegt. Goldman illustriert diese Art von Glück an „FakeBarn“-Fällen. Vgl. Goldman 2012. Vgl. Axtell 2019, 283. “[…] the positive epistemic status of beliefs based on testimonial transmissions is not guaranteed, even if it is maintained that the particular testimonial chain that sources the beliefs to be assessed is a trustworthy testimonial chain.“ Axtell 2019, 284. Es sollte angemerkt werden, dass der unter anderem von Benton vertretene Einwand, dass die zusätzliche Bestätigung einer Aussage durch mehrere Expertinnen zusätzliche Evidenz für ihre Gültigkeit darstellen sollte (vgl. Benton 2016, 496), im Falle von Aussagen aus dem Bereich kontroverser Sichtweisen nicht anwendbar ist, da es üblicherweise zu jeder vertretenen Sichtweise eine ganze Gruppe an Expertinnen gibt, die einstimmig dafür oder dagegen argumentieren.

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Person selbst dieser Mangel an Evidenz nicht auffällt.93 Der Hörer kann auch hier nur, wenn er eine persönliche Beziehung zur Sprecherin hat, einschätzen, ob ihre Überzeugung wirklich Wissen darstellt oder nur aufgrund von umweltbedingtem Glück wahr ist. Ein solche persönliche Beziehung liegt im Falle der Moralexpertin zwar zwischen Sylvester und seiner Tochter vor, jedoch nicht zwischen der Tochter und Miriam, was die Unangemessenheitsintuition in diesem Beispielfall erklärt. Das Vorhandensein kontroverser Sichtweisen in einem Bereich könnte daher generell die Forderung nach einer spezifischen Expertin nahelegen, um untergrabende Defeater auszuschließen.94 Allerdings besteht für den Laien auch die Möglichkeit, die vermeintliche Expertin mithilfe von Metaexpertise, einschließlich formalen Qualifikationsnachweisen (akademische Titel), der Anerkennung in der akademischen Community und der Erfolgsbilanz der in der Vergangenheit getätigten Aussagen zu identifizieren.95 In diesem Fall muss man nicht unbedingt davon ausgehen, dass das Vorliegen kontroverser Sichtweisen grundsätzlich zum Vorliegen von Defeatern bei der Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand führt. Für den Fall, dass sowohl die Erstbesitzerin als auch der Zweitbesitzer des Wissens beide ausreichend formale Qualifikationsnachweise besitzen und Anerkennung in der wissenschaftlichen Community genießen, darf der Laie zunächst davon ausgehen, dass die Übertragungskette verlässlich ist. Dies gilt auch für Bereiche, in denen kontroverse Sichtweisen vorherrschen. Grundmann argumentiert, dass kontroverse Meinungen nur bei echter Peerness96 und stabilen, gleichwertigen Dissensen zurückweisende Defeater für die Konfliktparteien darstellen.97 In der Philosophie führt das Vorhandensein stabiler Dissense dazu, dass die Frage, ob im Falle einer Meinungsverschiedenheit unter Expertinnen echte Peerness vorliegt, weder über die Erfolgsbilanz der vergangenen Aussagen der Expertinnen, noch über andere gängige Methoden der Metaexpertise ermittelt 93 Vgl. Axtell 2019, 291–292. 94 Mogensen vertritt die Ansicht, dass es bei moralischem Wissen ein Ideal der Authentizität gebe, was dazu führen würde, dass es als unakzeptabel gelte, sich in moralischen Fragestellungen vollständig auf die Meinung anderer zu verlassen. Vgl. Mogensen 2017. Auch diese Vorstellung könnte die Forderung nach dem Urteil einer spezifischen Expertin begünstigen. 95 Vgl. Goldman 2001, 93. 96 Grundmann definiert “epistemic peerhood“ folgendermaßen: „Two epistemic agents, A and B, are epistemic peers with respect to a certain proposition p if and only if (i) A and B have access to the same evidence relevant to p and (ii) A and B are equally competent in assessing the relevant evidence.“ Grundmann 2013, 73. 97 Grundmann bezeichnet dies als „GSE-disagreement“ = „genuine and roughly symmetric disagreement among epistemic peers“. Grundmann 2013, 74.

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werden kann.98 Die kontroverse Meinung einer anderen Expertin auf dem betreffenden Gebiet, stellt daher im Bereich der Philosophie keinen zurückweisenden Defeater dar, solange nicht gezeigt werden kann, dass zwischen den Konfliktparteien echte Peerness besteht. Der Laie würde nur einen zurückweisenden doxastischen Defeater erwerben, wenn er von dem Dissens erfährt und gleichzeitig davon ausgehen muss, dass es sich um einen Konflikt zwischen echten epistemischen Peers handelt. Zusammenfassung: Im Falle der Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand in Bereichen mit kontroversen Sichtweisen, kann das Vorhandensein abweichender Sichtweisen einen Defeater für den Letztbesitzer darstellen. Diese Problematik ist jedoch abhängig davon, auf welche Art und Weise die Verlässlichkeit der relativen Expertin ermittelt wird. Wurde die Verlässlichkeit der relativen Expertin über das Vorhandensein einer persönlichen Beziehung zwischen Sprecherin und Hörer sichergestellt, stellt die Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand einen untergrabenden propositionalen Defeater für den Letztbesitzer des isolierten Wissens aus zweiter Hand dar. Erfolgte die Identifikation der Expertin jedoch über Metaexpertise, so stellt das Vorhandensein kontroverser Sichtweisen nur dann einen zurückweisenden doxastischen Defeater für den Letztbesitzer dar, wenn dieser davon ausgehen muss, dass es sich bei dem vorliegenden Konflikt um einen symmetrischen Dissens zwischen echten epistemischen Peers handelt. Die Nutzbarkeit von Wissen aus zweiter Hand als Prämisse praktischen Handelns Das vorangegangene Unterkapitel hat gezeigt, dass die Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand in Kontexten mit kontroversen Meinungen problematisch sein kann, da diese Konflikte potentielle Defeater darstellen, die der Letztbesitzer des Wissens nicht in jedem Fall ausschließen kann. Das Beispiel Onkologin 2 stammt jedoch nicht aus einem solchen Bereich, in dem kontroverse Meinungen vorherrschen und ruft trotzdem die Unangemessenheitsintuition für die Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand hervor. Die Unangemessenheitsintuition wird hier nicht deshalb hervorgerufen, weil der Bereich besonders anfällig für Defeater wäre, sondern, weil der Fall sich in einem Kontext bewegt, der so risikoreich ist, dass das Übersehen eines potentiellen Defeaters besonders problematische Folgen hätte. In solchen hochrisikoreichen Kontexten darf isoliertes Wissen aus zweiter Hand unter Umständen nicht weitergegeben werden, da nicht ausgeschlossen werden 4.4.2

98 Vgl. Grundmann 2013, 93.

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kann, dass durch den Wegfall von domänenspezifischem Detailwissen und dispositionalem Wissen auch potentielle Defeater vom Letztbesitzer nicht bemerkt werden. Dieses Problem kann auch in alltäglichen praktischen Kontexten auftreten, da es dadurch entsteht, dass sich bei der Weitergabe von Wissen über mehrere Mitglieder einer Kette die Maßstäbe dafür, welche Details relevant und irrelevant sind, unbemerkt verändern können. Daher ist auch die Aggregation von Gruppenwissen von dieser Problematik betroffen. Dass sich die Maßstäbe dafür welche Details relevant und irrelevant sind von Individuum zu Individuum unterscheiden ist Folge unterschiedlicher Klassifikationen und abweichende Kategorisierungen, die Menschen vornehmen.99 Daher ist zu erwarten, dass auch in Bereichen, in denen Menschen häufiger abweichende Kategorisierungen vornehmen oder in denen diese Abweichungen einen größeren praktischen Einfluss haben, die Unangemessenheitsintuition bei der Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand auftritt. Ich werde am Ende dieses Unterkapitels zeigen, dass dies auf den Bereich des ästhetischen Wissens und den Bereich des praktischen Handlungswissens zutrifft. 4.4.2.1

Die Nutzbarkeit von Wissen aus zweiter Hand als Prämisse praktischen Handelns in hochrisikoreichen Kontexten Der Wegfall von domänenspezifischem Detailwissen ist ein Defizit, das besonders die praktische Nutzbarkeit des Wissens betrifft. Dies äußert sich darin, dass isoliertes Wissen aus zweiter Hand den Besitzer nicht in die Lage versetzt, dieses Wissen als Prämisse für weitere Erklärungen, Schlüsse oder praktisches Handeln zu verwenden. So sollte die Onkologin Eliza in Lackeys Beispielfall die weitere Behandlung nicht auf der Grundlage ihres isolierten Wissens planen.100 Dieses praktische Problem entsteht jedoch auf Grundlage eines epistemischen Problems. Eliza weiß auf Grundlage ihres isolierten Wissens nicht, wie groß der bösartige Tumor ist. Sie weiß nicht, ob er schon gestreut hat. Sie weiß nicht, ob es sinnvoller wäre den Tumor sofort herauszuoperieren oder ihn zunächst durch eine Chemotherapie zu verkleinern. Sie weiß nicht, ob es sinnvoll wäre eine Chemotherapie mit einer Strahlentherapie zu kombinieren. Sie weiß auch nicht, ob der Tumor sich überhaupt noch herausoperieren lässt.

99 Vgl. hierzu Kap. 4.2.1. 100 Laut Lackey zeigt dies, dass die Wissensnorm der praktischen Rationalität, die davon ausgeht, dass Wissen ausreichend für praktisches Handeln ist, in Fällen von isoliertem Wissen aus zweiter Hand nicht gilt. Vgl. Lackey 2011, 266; und Lackey 2013, 38.

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Dies sind alles epistemische Mängel; denn Eliza fehlt Wissen, das sie mithilfe ihrer Expertise hätte herleiten können, wenn sie die Diagnose aus erster Hand gestellt hätte.101 Die praktischen Mängel, die sich darin äußern, dass sie dieses Detailwissen nicht an Lukas weitergeben kann, weil sie es nicht besitzt und dass sie auf dieser Grundlage keine OP planen kann, folgen aus dem epistemischen Defizit.102 Lackey geht davon aus, dass die Überzeugungen einer Expertin nicht alleine auf isoliertem Wissen aus zweiter Hand beruhen dürfen.103 Diese Forderung könnte auf den ersten Blick jedoch auch erfüllt werden, wenn man von einer beliebigen Expertin ausgeht, die ausreichend domänenspezifische Evidenz aus zweiter Hand besitzt. Es stellt sich daher die Frage, weshalb im Beispielfall Onkologin 2 die Unangemessenheitsintuition trotzdem die Weitergabe der Meinung einer spezifischen Expertin zu erfordern scheint. Diese Besonderheit kann durch die Beobachtung erklärt werden, dass es in hochrisikoreichen Kontexten angebracht sein kann, auch die Meinung einer beliebigen Expertin als unzureichend zu betrachten, da die Anforderung besteht, dass das Wissen der Expertin aus erster Hand stammt.104 Dies ist dann sinnvoll, wenn man davon ausgeht, dass bei der Weitergabe von Wissen aus zweiter Hand immer Detailwissen und dispositionales Wissen verloren gehen kann, das sich im Nachhinein als wichtig erweisen könnte. Da Wissen keine perfekte Gewissheit erfordert, sollte davon ausgegangen werden, dass grundsätzlich jedes Wissen durch neue Evidenz anfechtbar ist.105 Daher sollte in hochrisikoreichen Kontexten immer die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass das vermeintliche Wissen, das die eigene Handlungsgrundlage bildet, auch durch zukünftige Defeater unterminiert werden könnte. Der Besitz von Detailwissen und dispositionalem Wissen bezüglich einer bestimmten Aussage erlauben es den beteiligten Personen, auch auf solche Defeater sensitiv zu reagieren, die sich erst nachträglich zeigen. 101 Lackey geht davon aus, dass Wissen aus erster Hand niemals vollständig isoliert vorliegt, da die perzeptuelle Basis des Wissens und die Begründung für die Konklusion bei Schlüssen, weitere Informationen beinhaltet. Vgl. Lackey 2013, 39. Ich gehe davon aus, dass die Besitzerin von Wissen aus erster Hand allein durch die domänenspezifische Evidenz, die sie zur Rechtfertigung benötigt, zusätzliches Detailwissen besitzt. Siehe Kapitel 3.2.2 und 3.3.2 in dieser Arbeit. 102 Vgl. Green 2014, 225; Lackey 2011, 264; und Lackey 2016, 514 für eine ähnliche Argumentation. Benton 2016, 497 geht davon aus, dass dieser Fall nicht zeigen kann, dass es sich nicht um ein pragmatisches Problem handelt. 103 Vgl. Lackey 2016, 513. 104 Lackey nimmt an, dass die testimoniale Natur des Wissens für einen epistemischen Mangel verantwortlich ist, der sich nicht durch zusätzliche domänenspezifische Evidenz ausgleichen lässt. Vgl. Lackey 2013, 49. 105 Vgl. zum Beispiel Williamson 2002, 205.

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Diese Möglichkeit besteht jedoch nicht mehr, wenn das Wissen über Ketten von mehreren beteiligten Personen weitergegeben wird. Ich möchte hierzu ein Gedankenexperiment vorstellen. Die vergessenen Fäden: Der Patient Eduard wird nach einem Unfall mit mehreren Brüchen noch einige Wochen im Krankenhaus behandelt. Die meisten Narben werden mit selbstauflösenden Fäden vernäht. Eine lange Narbe an einer stark belasteten Stelle wird jedoch mit einem nichtresorbierbaren Faden vernäht. Dieser sollte nach 14 Tagen gezogen werden, da er sonst beginnt festzuwachsen. Die behandelnde Ärztin geht jedoch nach einer Woche in Urlaub und übergibt den Fall an einen Kollegen, mit der Bitte, auf den ordnungsgemäßen Heilungsverlauf der Wunden zu achten. Sie kommuniziert nicht, dass noch ein Faden gezogen werden muss. Wahrscheinlich denkt sie, dass der Kollege das bei der Visite selbst sieht. Beide Fadenarten lassen sich gut aufgrund der Farbe (nichtresorbierbare Fäden sind in der Regel schwarz, resorbierbare durchsichtig) unterscheiden. Der Kollege lässt jedoch Ärzte im Praxisjahr die Visite durchführen. Diese schauen sich die Wunden an und stellen eine ordnungsgemäße Wundheilung fest. Dies geben sie dem Arzt weiter, der daraufhin keine Veranlassung sieht, selbst nachzuschauen. Die Ärzte im Praxisjahr weisen jedoch nicht darauf hin, dass es sich teilweise um nichtresorbierbare Fäden handelt, denn dies ist etwas, was ihnen nicht auffällt. Obwohl sich nach einiger Zeit das starre Fadenende durch die Haut des Patienten bohrt – was ein weiterer Hinweis darauf ist, dass es sich um einen nichtresorbierbaren Faden handelt, da resorbierbare Fäden weicher sind – wird von dem zu diesem Zeitpunkt diensthabenden Arzt in Nachtschicht nur die Anweisung gegeben, jeweils das überstehende Ende zu kappen. Die Ärztin, die Eduard operierte, kommt kurz vor Eduards Entlassung zurück, verlässt sich auf die Aussage ihres Kollegen, dass die Nähte komplikationslos heilen würden, und entlässt den Patienten. Die Fäden werden erst fünf Wochen später gezogen, als sie bereits anfangen festzuwachsen und Komplikationen verursachen. Dieses Beispiel zeigt, dass es in risikoreichen Kontexten problematisch sein kann, Wissen aus zweiter Hand weiterzugeben, weil Details, die wichtig sein könnten, nicht weitergegeben werden. Das Problem entsteht dann, wenn diejenige Person, die wissen könnte, welche Details wichtig sind und was sie für eine Bedeutung haben könnten, und die Person, die die Beobachtungen aus erster Hand macht, nicht dieselbe Person sind. In obigem Beispielfall war jede Einzelperson gerechtfertigt und hat ihr Wissen, aus ihrer Sicht, angemessen weitergegeben. Der sich durch die Haut bohrende Faden stellte, ebenso wie

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die Farbe des Fadens, einen propositionalen Defeater106 dar, für die Annahme, dass die Wundheilung ordnungsgemäß verläuft; denn eine ordnungsgemäße Wundheilung ist auch davon abhängig, dass zur richtigen Zeit die Fäden wieder entfernt werden. Um sensitiv darauf reagieren zu können, hätte die Ärztin, die den Patienten entlassen hat, jedoch davon erfahren müssen. Diese Information wurden jedoch nie weitergegeben, da weder die Ärzte im Praxisjahr noch der diensthabende Arzt auf Nachtschicht, sie für relevant hielten. Alle beteiligten Personen besaßen ausreichend Detailwissen oder dispositionales Wissen, um gemeinsam erkennen zu können, dass dort ein Patient entlassen wurde, dessen Fäden noch nicht vollständig entfernt waren. Allerding gaben sie jeweils nur den Teil ihres Wissens weiter, der ihnen im Gesprächskontext relevant erschien, weshalb wichtige Evidenz nicht ausgetauscht wurde. Wichtig ist, dass sich diese Problematik nicht einfach durch die zusätzliche Weitergabe von domänenspezifischem Wissen lösen lässt. Denn die Frage, welche Details in Zukunft relevant sein werden, um auf potentielle Defeater sensitiv reagieren zu können, ist für die beteiligten Personen im Moment der Weitergabe des Wissens nicht ersichtlich. Zusammenfassung: Es ist verständlich, wenn in hochrisikoreichen Kontexten das Urteil einer spezifischen Expertin gefordert wird, die über Wissen aus erster Hand verfügt, da die Gefahr, dass durch die Nichtweitergabe von zunächst unwichtig erscheinenden Details nicht sensitiv auf zukünftige Defeater reagiert wird, zu groß ist. Das hier beschrieben Problem tritt zwar in hochrisikoreichen Kontexten besonders prägnant zutage, es kann aber grundsätzlich immer entstehen, wenn Wissen über Ketten von mehreren beteiligten Personen weitergegeben wird. Es tritt daher auch bei der Aggregation von Gruppenwissen auf.107 Ich werde dies im folgenden Unterkapitel zeigen und mich hierzu an einer Argumentation von Lackey orientieren. 4.4.2.2

Die Nutzbarkeit von isoliertem Wissen aus zweiter Hand im Falle von Gruppenwissen Der Wegfall von domänenspezifischem Detailwissen bei der Weitergabe von Wissen aus zweiter Hand kann immer dazu führen, dass nicht sensitiv auf potentielle Defeater reagiert wird. Die Gefahr steigt, je mehr Mitglieder in einer 106 Ein propositionaler Defeater ist ein Anfechtungsgrund, der durch einen äußeren Umstand ausgelöst wird und nicht durch den mentalen Zustand des Subjekts. Ob das Subjekt ihn glaubt oder nicht ist in diesem Fall für die Anfechtungswirkung irrelevant, da die Information grundsätzlich in der Umgebung des Subjekts verfügbar ist. 107 Vgl. Lackey 2020, 77–84

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Kette der Wissensweitergabe involviert sind. Dies zeigt sich besonders im Falle der Aggregation von Gruppenwissen. Für die Beantwortung der Frage, ob eine Gruppe gerechtfertigt ist, reicht es daher nicht aus, die gerechtfertigten Einzelüberzeugungen der Mitglieder zusammenzuzählen, ohne deren Basis auf dem Gruppenlevel zu überprüfen. Lackey zeigt dies an folgendem Beispiel108: Gruppenwissen: G ist eine Gruppe, deren Mitglieder aus 100 Wächterinnen des Britischen Museums bestehen, von denen jede gerechtfertigterweise davon ausgeht, dass eine von 5 bestimmten Wächterinnen als Insider den Diebstahl eines bekannten Gemäldes plant. Die betroffenen Verdächtigen sind Albert, Bernard, Cecile, David, und Edmund. Die Mitglieder M1-M20 besitzen als Basis ihrer Überzeugung Evidenz, dass es sich bei dem Dieb nur um Albert handeln kann, da ihre Evidenz Bernard, Cecil, David, und Edmund ausschließt. Sie schließen daraus gerechtfertigterweise, dass eine der Wächterinnen einen Diebstahl plant. Die Mitglieder M21-M40 besitzen jedoch Evidenz, dass es sich bei dem Dieb nur um Bernard handeln kann, da sie alle anderen Wächter anhand ihrer Evidenz ausschließen können. Die Mitglieder M41-M60 gehen wiederum davon aus, dass Cecile die Diebin ist, da sie mithilfe ihrer Evidenz Albert, Bernard, David, und Edmund ausschließen. Die Mitglieder M61-M80 gehen davon aus, dass David den Diebstahl plant, da sie Albert, Bernard, Cecile und Edmund als Diebe ausschließen, während die Mitglieder M81-M100 davon ausgehen, dass Edmund der Dieb ist, da sie die restlichen vier Wächterinnen als Diebe ausschließen.109

Lackey weist nun darauf hin, dass bei einer bloßen Aggregation der gerechtfertigten Einzelüberzeugungen die Gruppe in dem Glauben, dass einer der fünf verdächtigen Wächter einen Diebstahl plant, als gerechtfertigt bezeichnet werden sollte. In Wirklichkeit stellt jedoch jede Basis der Überzeugungen einer der Subgruppen jeweils einen Defeater für die Basis der Überzeugungen der restlichen Subgruppen dar. Für Lackey ist dies ein Argument gegen die vertikale Aggregation von Überzeugungen auf dem Gruppenlevel.110 Diese Unzulässigkeit der vertikalen Aggregation bedeutet jedoch, dass auf dem Gruppenlevel die Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand per se problematisch ist. Dieses Problem betrifft meines Erachtens alle Kontexte, in denen Menschen in formellen oder informellen Kontexten als Gruppe ihr Wissen teilen, wenn die Basis der Überzeugung nicht vollständig mittransportiert wird. Dann kann bei der Verwendung von isoliertem Wissen aus zweiter Hand als Prämisse für weitere Schlussfolgerungen immer das Problem entstehen, dass die domänenspezifische Evidenz, die dem Zweitbesitzer nicht 108 Das Gedankenexperiment ist an einen Fall von Goldman angelehnt, der jedoch von nichtkonfligierenden Basen ausgeht. Vgl. Goldman 2014, 15–17. 109 Vgl. Lackey 2020, 77–78. 110 Vgl. Lackey 2020, 81–87.

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vorliegt, Defeater für die weiteren Schlussfolgerung des Zweitbesitzers enthält. Der Einwand, dass es ausreichen würde, wenn relevantes Detailwissen ebenfalls weitergegeben würde, übersieht, dass es weder für die Sprecherin noch für den Hörer möglich ist, im Vorhinein sicher zu bestimmen, welche Details in Zukunft von Bedeutung sein könnten. Natürlich ist auch nicht davon auszugehen, dass die Besitzerin von Wissen aus erster Hand alle für die Zukunft wichtigen Details weiß, da sie nur diejenigen Dinge weiß, die sie als propositionale Evidenz formulieren kann. Man kann jedoch annehmen, dass die Besitzerin über die Aussagen hinaus, die sie im Moment weiß und weitergibt, dispositionales Wissen besitzt, welches sie befähigt, sensitiv auf mögliche zukünftige Defeater gegen die Aussage selbst zu reagieren. Zusammenfassung: Bei der Aggregation von Gruppenwissen, reicht es nicht aus, die gerechtfertigten Einzelüberzeugungen der Gruppenmitglieder zusammenzuzählen, ohne deren Basis auf dem Gruppenlevel zu überprüfen, da das Nichtteilen der domänenspezifischen Evidenz ansonsten dazu führen kann, dass Defeater übersehen werden, die sich erst bei der Aggregation des Detailwissens bzw. der epistemischen Basis zeigen. Die Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand ist daher in diesen Kontexten problematisch. Klassifikationsprobleme, die die praktische Nutzbarkeit von ästhetischem Wissen einschränken Aus der Tatsache, dass Menschen voneinander abweichende Klassifikationen und Kategorisierungen vornehmen,111 können bei Weitergabe von Wissen aus zweiter Hand Klassifikationsprobleme folgen, die, aufgrund der Verringerung der Möglichkeit der Integration des Wissens in das eigene Wissensnetz, die praktische Nutzbarkeit des Wissens für den Zweitbesitzer einschränken. Dieses Problem trifft besonders diejenigen Kontexte, in denen Menschen besonders häufig abweichende Klassifikationen und Kategorisierungen vornehmen, und tritt daher deutlich bei ästhetischem Wissen zu Tage. Je isolierter das Wissen ist, das weitergegeben wird, umso größer ist die Gefahr, dass es beim Empfänger zu Missverständnissen und einer fehlerhaften Einordnung des Wissens in das eigene Wissensnetz kommt. Diese Gefahr besteht zwar grundsätzlich bei Wissen aus zweiter Hand, tritt jedoch im Bereich ästhetischer Urteile verstärkt auf. Meskin formuliert dies prägnant: „Even those who hold that actual (semantic) intentions are irrelevant to artistic interpretation recognize the importance of actual categorial intentions to the understanding of works of art.“112 4.4.2.3

111 Vgl. hierzu Kap. 4.2.1.3. 112 Meskin 2004, 89.

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand

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Individuelle Unterschiede in der Kategorisierung können selbst dann, wenn eine bestimmte Aussage zuverlässig genug erworben wurde, um Wissen aus zweiter Hand darzustellen, dazu führen, dass dieses Wissen stark abweichend in das Wissensnetz des Zweitbesitzers eingebettet wird, weil dieser eine andere Kategorisierung vornimmt. Im Falle der Weitergabe des Wissens ist der nächste Besitzer jedoch darauf angewiesen, dass er das Wissen mithilfe des Rahmens der Erzählerin in sein eigenes allgemeines Weltbild einordnen kann.113 Im Falle der Weitergabe von Wissen aus erster Hand erfordert dies nur, dass die Kategorisierungen von Erstbesitzerin und Zweitbesitzer des Wissens übereinstimmen. Ob dies der Fall ist, kann der Zweitbesitzer eher abschätzen, wenn er die Erstbesitzerin kennt oder schon Erfahrung mit ihren Urteilen gesammelt hat. Dies ist jedoch nicht möglich, wenn die Sprecherin selbst Wissen aus zweiter Hand weitergibt. Daher ist es im Falle der Weitergabe von ästhetischem Wissen verständlich, dass öfter das Urteil einer spezifischen Expertin gefordert wird. Das gilt besonders dann, wenn für den Hörer nicht ein allgemeingültiges Urteil über die Qualität eines ästhetischen Objekts im Vordergrund steht, sondern ein persönliches Geschmacksurteil gesucht wird. Diese Erwartung stellt eine häufige Intention beim Heranziehen von Rezensionen als Informationsquelle dar: So werden Restaurant-, Film-  und Kunstkritiken dann als verlässliche Quelle von Informationen behandelt, wenn der Leser in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht hat, dass das Urteil der Rezensentin häufig mit seinem eigenen Geschmack übereinstimmt.114 Der Leser ist in diesem Falle weniger an einem objektiven Urteil interessiert als an der Frage, ob eine bestimmte Arbeit ihm selbst gefallen würde.115

113 Vgl. Strawson und Scholz 2003, 21. 114 Zusätzlich kann auch das Urteil einer Rezensentin, bei der der Leser die Erfahrung der Nichtübereinstimmung gemacht hat, für den Leser eine Informationsquelle darstellen, solange diese Nichtübereinstimmung systematisch erfolgt. 115 Vgl. hierzu Meskin: „Imagine that a film reviewer, whose reviews I have found to be reliable indicators of my own responses, writes that a film is terrible. It might seem that I would be likely to believe her and, moreover, be justified in doing so. The very institutions of the art and film review appear to rest on the possibility of gaining aesthetic information from others. Art reviews would appear to have little value if this could not be achieved. […] What I am apt to judge on the basis of a favorite reviewer’s judgment is not that the film in question is terrible, but that it is likely that I would find the film terrible if I were to watch it, or perhaps merely that I would dislike it a great deal. If this is right, then it would be these judgments, judgments with first person and subjunctive content, that I am justified in making after hearing or reading the reviewer’s testimony. Perhaps I even know, on the basis of the reviewer’s testimony, that I would find the movie terrible and/or dislike it. But these judgments are not aesthetic judgments.“ Meskin 2004, 72.

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Kapitel 4

Auch im Beispiel des Kunstexperten Ken stellt die Weitergabe von Wissen darüber, wie Jennifer Lackey selbst die Ausstellung bewertet, für ihre Freundin Vivienne eine wichtige Information dar, die nicht übermittelt werden kann, wenn Lackey selbst nur Wissen aus zweiter Hand besitzt. Denn die betreffende Information stellt kein allgemeingültiges ästhetisches Urteil, sondern ein Urteil aus der Ich-Perspektive mit konditionalem Inhalt dar. Dieses ist jedoch nicht objektiv genug, um als zusätzliches ästhetisches Wissen zu gelten.116 Die Abwesenheit dieser Informationen bei der Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand erklärt das Bestehen der Unangemessenheitsintuition, obwohl die Zuverlässigkeit des weitergegebenen Wissens hierdurch nicht eingeschränkt wird. Die Forderung nach der Sicht einer spezifischen Expertin wird daher auch dann bestehen bleiben, wenn man davon ausgeht, dass echtes ästhetisches Wissen keine subjektiven Elemente enthalten sollte. In diesem Falle wäre das Vorkommen abweichender Kategorisierungen zwar kein Problem, das die Verlässlichkeit des ästhetischen Urteils in Frage stellt – denn diese kann mit dem Verweis auf die Möglichkeit objektiver ästhetischer Kategorien sichergestellt werden. Da dieses Wissen aber nicht nur unter Kunstexpertinnen ausgetauscht wird, sondern auch an Personen weitergegeben wird, die keine Kunstexpertinnen sind, stellt das Vorkommen abweichender Kategorisierungen und Klassifikationen im ästhetischen Bereich trotzdem ein Problem dar, das die praktische Verwendbarkeit von isoliertem Wissen aus zweiter Hand für Laien stark einschränkt. Diese benötigen das Urteil einer spezifischen Expertin, um die objektiven Aussagen sinnvoll in ihr eigenes, von subjektiven Präferenzurteilen geprägtes, ästhetisches Weltbild einordnen zu können. So kann ein Laie von einer Musikexpertin das Wissen erwerben, dass die letzte Aufführung in der örtlichen Philharmonie ein beeindruckendes Beispiel der klassischen Zwölftonmusik im Stil der Mannheimer Schule war, ohne eine Verbindung zu seinem Wissen über seine eigenen Präferenzen herstellen zu können; weil er nicht weiß, dass diese Zwölftonmusik dieselbe Art von Musik 116 Meskin geht davon aus, dass Urteile über Präferenzen aus der Ich-Perspektive keine ästhetischen Urteile darstellen, da sie zu subjektiv sind, um als verlässlich zu gelten. Daher stellten solche Urteile auch kein Wissen dar. Vgl. Meskin 2004, 72, 85–88. Jennifer Lackey stipuliert in ihrem Bespielfall jedoch, dass die Zuverlässigkeit von Kens Aussage ausreichend ist, um als Wissen zu gelten. Vgl. Lackey 2013, 35. Diese Möglichkeit ist laut Meskin zwar auch gegeben, stellt jedoch nicht den Standardfall dar. Obwohl Urteile im Bereich des ästhetischen Wissens aus den genannten Gründen öfter als in anderen Bereichen unzuverlässig sind, gibt es trotzdem Expertinnen, die innerhalb enger Bereiche zuverlässige ästhetische Urteile fällen können. Vgl. Meskin 2004, 91. In solchen Fällen kann dann auch Wissen aus zweiter Hand weitergegeben werden.

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand

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ist, die er als schrecklich unharmonisch und anstrengend erlebt hat, als er sie neulich zufällig im Radio hörte. Diese Problematik wird reduziert, wenn man fordert, dass die Quelle des ästhetischen Wissens von dem Hörer selbst über einige Zeit hinweg als verlässliche Quelle ästhetischer Urteile, erfahren wurde.117 In diesem Falle ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die ästhetischen Urteile nicht nur objektiv verlässlich sind, sondern auch mit den subjektiven Präferenzen und Konzepten des Hörers in Einklang gebracht werden können und von diesem sinnvoll in sein eigenes Wissensnetz integriert werden können. Nur dann kann der Hörer sein aus zweiter Hand erworbenes Wissen praktisch nutzen, um beispielsweise im Alltag entscheiden zu können, ob er eine bestimmte Ausstellung besucht oder sie seiner Freundin weiterempfiehlt. 4.5

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand im Rahmen von Assertionsnormen

Im Anschluss an die Feststellung, dass im Falle der Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand Defizite auftreten können, stellt sich die Frage, ob diese Defizite epistemischer oder pragmatischer Natur sind und ob die Weitergabe dieses Wissens gegen Assertionsnormen verstößt oder nur falsche Implikaturen weckt.118 Die Antwort auf diese Frage hat weitergehende Folgen. Wenn isoliertes Wissen aus zweiter Hand in einigen Fällen aufgrund epistemischer Mängel nicht weitergegeben werden sollte, wird die Norm, dass Wissen alleine für angemessene Assertionen ausreichend (KNA-S)119 ist, in Frage gestellt.120 Sollte Wissen in einigen Kontexten als Assertionsnorm nicht hinreichend sein, dann müsste in diesen Fällen eine stärkere Norm gelten.121 Dies würde wiederum verschiedene Assertionsnormen in unterschiedlichen Kontexten 117 Lackey stipuliert dies im Beispiel des Kunstexperten Ken: „For example, in AESTHETIC TESTIMONY, I have excellent reasons that have been acquired over years for regarding Ken as a reliable source of information about art.“ Lackey 2013, 35. 118 Lackey 2011, 2013, 2016; Carter und Gordon 2011; Carter 2017 gehen davon aus, dass epistemische Defizite vorliegen und die Sprecherin in diesem Falle gegen Konversationsnormen verstößt. Green 2014 geht ebenfalls davon aus, dass ein epistemischer Mangel vorliegt und dass die Sprecherin gegen eine Norm für konversationelle Implikatur verstößt. Milne 2010 und Benton 2016 gehen davon aus, dass ein pragmatischer Mangel vorliegt und soziale Normen verletzt werden, weil falsche Implikationen geweckt werden. 119 Siehe ##S. 182 in dieser Arbeit für eine Definition. 120 Vgl. z.B. Lackey 2011, 251–253. 121 Vgl. Carter 2017, 1474–1476.

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Kapitel 4

nahelegen.122 Hierdurch wird die verbreitete Annahme von der Universalität der Assertionsnormen (UAN in Frage gestellt. Die Annahme, dass es sinnvoll sei, von nur einer Norm auszugehen, die alle Assertionen regelt, wird u.a. von Williamson vertreten.123 In Fällen, in denen Wissen trotzdem nicht hinreichend oder nicht notwendig für eine angemessene Weitergabe ist, scheine es nur so, als sei Wissen nicht die Norm für Assertionen. In Wirklichkeit werde die Wissensnorm in solchen Fällen nur durch eine andere soziale Norm überschrieben, sie werde jedoch nicht außer Kraft gesetzt.124 Lackeys Beispiele für die Unangemessenheit der Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand stellen daher die Annahme der Universalität der Assertionsnormen in Frage, da in den Beispielfällen KNA-S verletzt wird. Darüber hinaus wird auch Wissen als ausreichende Norm für praktische Rationalität (KNPR-S)125 in Frage gestellt, wenn für die praktische Rationalität dieselben Regeln gelten, wie für Assertionen.126 Die Argumente für oder gegen KNA-S und KNPR-S hängen jedoch davon ab, ob bei der Bewertung der Beispielfälle tatsächlich ein epistemischer Mangel diagnostiziert werden kann. Ich werde in Kapitel 4.5.1 zunächst zeigen, dass es anhand der Beispielfälle möglich ist, einen epistemischen Mangel im Falle von isoliertem Wissen aus zweiter Hand festzustellen. Anschließend werde ich in Kapitel  4.5.2 prüfen, ob aus dem Vorliegen eines epistemischen Mangels im Falle der Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand eindeutige Schlüsse für oder gegen KNA-S und KNPR-S gezogen werden können. Die Bewertung der Gültigkeit von KNA-S und KNPR-S setzt neben dem Nachweis des Vorliegens eines epistemischen Mangels jedoch weitere Annahmen voraus, die allein durch die Bewertung der Unangemessenheitsintuition im Falle der Weitergabe von Wissen aus zweiter Hand nicht überprüfbar sind. Die Thesen, dass die Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand die Normen KNA-S und KNPR-S verletzten würde, sind daher nicht haltbar.

122 Carter und Gordon 2011; Carter 2017 vertreten diese Ansicht. 123 Vgl. Williamson 1996. 124 Vgl. Williamson 2002, 256. Ähnliche Erklärungsansätze verfolgen Milne und Benton. Vgl. Milne 2010; Benton 2016. 125 Siehe ##S. 183 in dieser Arbeit für eine Definition. 126 Diese Annahme vertreten u.a. Lackey und McKinnon. Vgl. Lackey 2011, 266; McKinnon 2012, 569. Gerkken möchte anhand von Lackeys Beispielen von isoliertem aus zweiter Hand zeigen, dass es zwar keine Äquivalenz zwischen der Norm für Assertion und der Norm für Wissen praktische Rationalität gibt, wohl jedoch strukturelle Gemeinsamkeiten. Vgl. Gerken 2014, 738–740.

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand

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Isoliertes Wissen aus zweiter Hand weist einen epistemischen Mangel auf Vor Beantwortung der Frage, ob Fälle von isoliertem Wissen aus zweiter Hand die Assertionsnorm für Wissen verletzen, muss zunächst geklärt werden, ob es sich bei dem Mangel, der bei isoliertem Wissen aus zweiter Hand vorliegt, um einen epistemischen Mangel oder ein pragmatisches Defizit handelt.127 Lackey geht davon aus, dass es sich um einen epistemischen Mangel handelt. Es sei die epistemische Position der Sprecherin, also ihre Position als Besitzerin von Wissen aus zweiter Hand und ihr mangelndes zusätzliches Wissen über die Aussage, die zu einem Defizit führten.128 Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass der Mangel beseitigt werden kann, wenn man in den Beispielfällen davon ausgeht, dass die Sprecherin eine andere epistemische Position besitzt, da sie Wissen aus erster Hand besitzt oder zusätzliches domänenspezifisches Wissen erworben hat.129 Die in der Literatur vorgebrachten Argumente gegen diese Annahme basieren einerseits auf einer fehlenden Unterscheidung der domänenspezifischen Evidenz von der domänenunabhängigen Evidenz und andererseits auf einer unsauberen Trennung der Stärke der epistemischen Unterstützung von der epistemischen Positionierung. So bleibt die Forderung nach zusätzlichem Wissen bezüglich einer Aussage unklar, solange nicht zwischen domänenspezifischem und domänenunabhängigem Wissen unterschieden wird, da eine Expertin auch über zusätzliches Wissen bezüglich ihrer Aussage verfügen kann, obwohl ihr Wissen trotzdem noch in dem von Lackey beschriebenen Sinne isoliert vorliegt.130 Dies wäre der Fall, wenn Matilda im Beispiel Onkologin 1 Wissen aus verschiedenen testimonialen Quellen erhält. So wäre es vorstellbar, dass Matilda zusätzlich zu Nancys Aussage noch die Aussagen von Dr. X und Dr. Y besitzt, die die Testergebnisse unabhängig geprüft haben und zu demselben Urteil wie 4.5.1

127 Lackey 2011, 2013, 2016; Carter und Gordon 2011; Green 2014; Carter 2017 gehen davon aus, dass es sich um einen epistemischen Mangel handelt. Milne 2010 und Benton 2016 gehen davon aus, dass ein pragmatischer Mangel vorliegt. 128 Vgl. Lackey 2011, 256–258, 2013, 38, 2016, 514. 129 Vgl. Lackey 2011, 272, 2013, 37; Lackey 2016, 513. Benton wendet hiergegen ein, dass die von Lackey vorgestellten Beispielfälle nur dann die entsprechenden Intuitionen hervorrufen, wenn man in einigen Fällen die Forderung einer spezifischen Expertin annimmt. Die Unterscheidung zwischen einer beliebigen Expertin und einer spezifischen Expertin kann jedoch sinnvoll mit dem Begriff des isolierten Wissens aus zweiter Hand in Beziehung gesetzt werden und erklärt dann, weshalb in einigen Kontexten für eine angemessene Wissensweitergabe nur zusätzliches domänenspezifisches Wissen erforderlich ist, während andere Kontexte den Besitz von Wissen aus erster Hand erfordern. Vgl. Benton 2016, 496–497. Siehe hierzu Kap. 4.3 in dieser Arbeit. 130 Dieser Einwand wird u.a. von Benton vorgebracht. Vgl. Benton 2016, 496–497.

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Kapitel 4

Nancy gekommen sind. Die epistemische Unterstützung, die Matilda für ihre Aussage besitzt, wäre in diesem Fall stärker als zuvor. Die Stärke der epistemischen Unterstützung ist hier unabhängig von der Frage, ob eine Person Wissen aus erster Hand oder Wissen aus zweiter Hand besitzt. Matilda würde zwar über zusätzliches Wissen verfügen, wenn sie weiß, dass Dr. X und Dr. Y in ihrer Diagnose mit Nancy übereinstimmen und dass beide Ärzte auf dem Gebiet kompetent sind und unabhängig zu ihrem Urteil gekommen sind.131 Dieses zusätzliche Wissen beseitigt die Unangemessenheitsintuition jedoch nicht. Die Unangemessenheitsintuition tritt unabhängig von der Stärke der epistemischen Unterstützung und dem Vorliegen von zusätzlichem Wissen trotzdem auf. Dies würde nahelegen, dass es sich nicht um ein epistemisches, sondern um ein pragmatisches Problem handelt, falls es für diese Einschätzung keine andere Erklärung gibt. Matildas zusätzliches Wissen über die Kompetenz der Ärzte X und Y stellt jedoch domänenunabhängiges Wissen dar. Damit ihr Wissen nicht mehr in dem problematischen Sinne isoliert wäre, müsste Matilda über zusätzliche domänenspezifische Evidenz verfügen. Das Problematische an Matildas Aussage besteht darin, dass sie nicht ausreichend in domänenspezifischer Evidenz begründet liegt, was ein epistemisches Defizit auslöst. Matilda könnte nicht auf Folgefragen von Derek antworten oder ihre Aussage begründen, was dazu führt, dass ihre Aussage für Derek epistemische Mängel aufweist.132 Die Stärke der epistemischen Unterstützung kann tatsächlich unabhängig von der Frage, ob eine Person Wissen aus erster Hand oder Wissen aus zweiter

131 Benton illustriert diesen Punkt an einer Abwandlung des Beispiels Onkologin: „Though the idea of knowing a proposition entirely second-hand seems clear enough, one might wonder exactly what it is for one’s knowledge to be isolated in the relevant sense. Considering cases of multiple testimonial sources may seem to make one’s knowledge isolated, yet it provides more knowledge about the matter than simply that p. For example, had Matilda received not only the testimony from Nancy as in DOCTOR1 but also similar testimony from three other competent oncologists (Drs. X, Y, and Z) who also reviewed the test results independently and testified to Matilda solely that their own diagnosis is cancer, without discussing any more details, would Matilda’s knowledge still be isolated? After all, Matilda now knows not only that Nancy concluded that p, but also that Dr. X concluded that p, and that Dr. Y concluded that p, and that Dr. Z concluded that p. Moreover, Matilda also knows that Dr. Y and Dr. Z agree in their diagnoses, that Nancy and Dr. X agree in their diagnoses, that each oncologist reached their conclusions independently, and so on. This is a lot of additional knowledge compared with the DOCTOR1 case; would this added knowledge make Matilda’s knowledge that p non-isolated?“ Vgl. Benton 2016, 496. 132 Vgl. Lackey 2016, 510–514. Auch die von Green genannten Folgen der unzulässigen Weitergabe von Wissen aus zweiter Hand bezeichnen durchweg epistemische Defizite. Vgl. Green 2014, 223.

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand

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Hand besitzt, bewertet werden.133 Von der Stärke der epistemischen Unterstützung muss jedoch die epistemische Positionierung unterschieden werden. Die epistemische Positionierung Matildas, als Besitzerin von Wissen aus zweiter Hand, ändert sich nicht, wenn sie zusätzliches Wissen über die Urteile von Dr. X und Dr. Y gewinnt. Daher bleibt auch die Unangemessenheitsintuition bestehen. Die Unangemessenheitsintuition entsteht also aus einem Defizit, das nicht die Stärke der epistemischen Unterstützung, sondern die epistemische Positionierung betrifft. Diese kann nicht unabhängig von der Frage, ob eine Wissensbesitzerin ihr Wissen aus erster oder aus zweiter Hand besitzt, festgestellt werden. Dennoch muss dieses Defizit nicht zwangsläufig einen epistemischen Mangel begründen. Vielmehr könnte die Ursache der Unangemessenheitsintuition auch auf einen pragmatischen Mangel zurückgeführt werden. Dieser pragmatische Mangel könnte zum Beispiel durch die besonderen Erwartungen, die ein Laie an die Expertin in ihrer professionellen Rolle stellt, hervorgerufen werden.134 Die Unangemessenheitsintuition würde dann auf ein Versagen im Erfüllen von Rollenerwartungen hinweisen.135 Dies zeigt jedoch noch nicht, dass es sich zwangsläufig um einen rein pragmatischen Mangel handelt. Die Rollenerwartungen und sozialen Normen in risikoreichen Kontexten könnten auch deshalb isoliertes Wissen aus zweiter Hand als problematisch kennzeichnen, weil es epistemisch problematisch ist.136 Es ist wahrscheinlich, dass die oben beschriebenen, unterschiedlichen Rollenerwartungen an die Sprecherinnen in unterschiedlichen Kontexten aufgrund von epistemischen Anforderungen entstehen.137 Denn pragmatische und epistemische Anforderungen 133 Hierdurch wird McGraths Einwand entkräftet, Lackeys Beispiele könnten nicht zeigen, dass Wissen epistemisch nicht hinreichend sei, um in jedem Falle eine angemessene Wissensweitergabe zu garantieren, da die Stärke der epistemischen Position einer Sprecherin unabhängig von der Frage sei, ob diese Wissen aus erster Hand oder aus zweiter Hand besitze. Vgl. McGrath 2010, 401. Der Einwand basiert auf der unsauberen Trennung der Stärke der epistemischen Unterstützung einerseits von der epistemischen Positionierung andererseits. 134 So argumentiert Benton. Vgl. Benton 2016, 505. 135 So argumentiert Milne. Milne 2010, 16 in: Carter und Gordon 2011, 624. 136 Diese Ansicht vertritt u.a. Lackey: „The upshot of these considerations is that Matilda’s assertion being pragmatically misleading does not provide an alternative explanation to its being epistemically improper. Rather, Matilda’s assertion is epistemically improper because it lacks the appropriate grounding—i.e., a grounding in expertise, which requires that it not be isolated second-hand knowledge. This epistemic explanation, in turn, explains why Matilda’s assertion might seem pragmatically misleading, not the other way around.“ Lackey 2016, 514. Carter und Gordon argumentieren ähnlich. Vgl. Carter und Gordon 2011, 623–624. 137 Vgl. Green 2014, 225.

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Kapitel 4

überschneiden sich oft. Da aus einem epistemischen Defizit ein pragmatischer Mangel entstehen kann, gibt es keine Möglichkeit, beide Dimensionen klar voneinander zu trennen. Es ist jedoch zu erwarten, dass ein epistemischer Mangel sehr oft einen pragmatischen Mangel nach sich zieht. Eine rein pragmatische Erklärung sollte daher nur angenommen werden, wenn das Defizit nur auf eine pragmatische Ursache verweist und nicht auch gleichzeitig auf eine epistemische.138 Die These, dass das Problem im Falle von isoliertem Wissen aus erster Hand ein rein pragmatisches Problem ist, kann aber durch die bislang vorgebrachten Argumente nicht unterstützt werden. Daher sollte davon ausgegangen werden, dass die Unangemessenheitsintuition in den Beispielfällen durch einen epistemischen Mangel ausgelöst wird. Diese Annahme wird durch die Beobachtung unterstützt, dass die Defizienz im Falle von isoliertem Wissen aus zweiter Hand aufgehoben wird, wenn die Sprecherin Wissen aus erster Hand oder zusätzliche domänenspezifische Evidenz besitzt. Dass hieraus auch pragmatische Probleme folgen können, stellt kein Gegenargument dar. Um ein solches zu erhalten, müsste vorausgesetzt werden, dass das Vorhandensein zusätzlicher domänenspezifischer Evidenz in den Beispielfällen nur einen instrumentellen Mehrwert darstellt, um das pragmatische Ziel der Erfüllung der Rollenerwartungen zu erreichen. Dies ist eine Stipulation, die grundsätzlich immer möglich, jedoch zirkulär ist. So lange stipuliert wird, dass ein bestimmtes Gut G1 grundsätzlich nur instrumentell wertvoll ist, um ein anderes Gut G2 zu erreichen, muss hieraus folgen, dass G1 keinen zusätzlichen epistemischen Wert besitzen kann.139 In solch einem Falle würde durch das Wegfallen von G1 auch kein zusätzlicher epistemischer Mangel entstehen, solange G2 trotzdem erreicht werden kann. Es ist jedoch nicht möglich, einen Fall zu konstruieren, in dem eine Sprecherin die Rollenerwartung erfüllt, die darin besteht, dass sie zusätzliche 138 Vgl. hierzu Green 2014: „There being a pragmatic dimension to the deficiency in Lackey’s cases is not a reason to think that the deficiency is not also epistemic. Whether the objection succeeds is a function of whether the deficiency in these cases is purely or merely pragmatic. An example of something that has mere pragmatic value is the belief that one is attractive. The belief that one is attractive makes one more likely to make a good impression on potential mates whether it is true or not. Believing that one is bad at math has pragmatic disvalue whether it is true or not. In contrast, believing that one can use one’s martial arts training to disarm a mugger without harm coming to oneself or one’s loved ones is a belief that has a great deal of pragmatic value if it is true and a great deal of pragmatic disvalue if it is false. Pragmatic value in this last case should not be detached from the epistemic properties of the belief in question.“ Green 2014, 225. 139 Ähnlich argumentiert Pritchard in einer Kritik der Verwendung des Begriffs des epistemischen Werts. Vgl. Pritchard 2010, 9, 2013, 15–16.

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand

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domänenspezifische Evidenz besitzt (G2 ist vorhanden), ohne dass sie eine, durch diese zusätzliche domänenspezifische Evidenz, verbesserte, epistemische Position besitzt (G1 ist nicht vorhanden). Die These, dass isoliertes Wissen aus zweiter Hand in risikoreichen Kontexten bloß ein pragmatisches Defizit aufweist, kann daher nicht überprüft werden, ohne diese Annahme bereits vorauszusetzen. Das Defizit, das die Unangemessenheitsintuition auslöst, kann daher als epistemischer Mangel bewertet werden. Zusammenfassung: Da nicht gezeigt werden kann, dass isoliertes Wissen aus zweiter Hand ein bloß pragmatisches Defizit darstellt, sollte davon ausgegangen werden, dass ein epistemischer Mangel vorliegt. Verletzt die Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand die Wissensnorm für Assertionen, die Wissensnorm für praktische Rationalität und die Universalitätsnorm? Da die Unangemessenheitsintuition bei der Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand durch ein epistemisches Defizit dieses Wissens verursacht wird, muss nun geprüft werden, ob hierdurch Wissen als hinreichende Bedingung für zulässige Assertionen in Frage gestellt wird.140 Ich werde im Folgenden zeigen, dass die Feststellung, dass es Fälle gibt, in denen ein epistemischer Mangel bei der Weitergabe von Wissen aus zweiter Hand die Unangemessenheitsintuition auslöst, nicht genügt, um die Universalität der Assertionsnormen in Frage zu stellen. Ich gehe von folgender, qualifizierter Formulierung der Wissensnorm aus: 4.5.2

Wissensnorm für Assertionen – Suffizienzbedingung (KNA‐S) Eine Person ist epistemisch angemessen positioniert, um eine Aussage p zu äußern, wenn sie weiß, dass p.141

Die Qualifizierung der Positionierung als epistemisch dient der Abgrenzung von Fällen, in denen sich eine Person aus anderen, beispielsweise moralischen oder sozialen Gründen, nicht in einer Position befindet, in der es angemessen 140 Hiervon gehen auch Lackey, Carter und Gordon aus. Vgl. Lackey 2011, 2016; Carter und Gordon 2011; Carter 2017. 141 Übernommen von Lackey: „Knowledge Norm of Assertion (Sufficiency Claim): KNA‐S One is properly epistemically positioned to assert that p if one knows that p.“ Lackey 2011, 252; Lackey 2016, 509. Vgl. auch Carter und Gordon 2011, 616. Die qualifizierte Form der Suffizienzbedingung der Wissensnorm für Assertionen stellt die zu diesem Zweck spezifizierte Form der allgemeinen Suffizienzbedingung der Wissensnorm für Assertionen dar, die auf ##S. 182 dieser Arbeit zitiert wird.

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wäre, ihr Wissen über p weiterzugeben.142 So kann es zum Beispiel sein, dass die epistemische Position einer Person sie zwar dazu berechtigt eine bestimmte wahre Aussage über das Aussehen oder das Verhalten einer anderen Person zu treffen, obwohl das Äußern dieser Aussage aus Gründen der Höflichkeit unterlassen werden sollte.143 In den von Lackey angeführten Beispielfällen werden Aussagen vorgestellt, die zwar Wissen darstellen, deren angemessene Weitergabe jedoch durch ein eindeutig epistemisches Defizit eingeschränkt ist. Lackey geht daher davon aus, dass diese Beispielfälle zeigen, dass KNA-S nicht uneingeschränkt gültig ist. In diesem Fall müsste jedoch auch die, unter anderem von Williamson vertretene, Ansicht von der Universalität der Assertionsnormen in Frage gestellt werden. Diese These kann folgendermaßen definiert werden: Universalität der (epistemischen) assertorischen Normen (UAN) Eine epistemische Norm R regelt nur dann einige Assertionen, wenn sie alle Assertionen gleichermaßen regelt.144

UAN beschreibt also die These, dass es nur eine Norm gibt, die alle Assertionen reguliert und diese sowohl notwendig als auch hinreichend für regelkonforme Assertionen ist.145 Diese Regel ist laut Williamson für Wissen konstitutiv. Sie kann zwar absichtlich oder unabsichtlich verletzt werden und sie kann in konkreten Situationen von anderen Normen überschrieben werden, gilt jedoch auch in diesen Fällen weiterhin. Sollte eine Person die Norm absichtlich oder unabsichtlich verletzen, handelt es sich nicht mehr um eine regelkonforme Assertion. Sollten in einer Situation zusätzliche Ansprüche an Assertionen gestellt werden, so genügt es dennoch, die Wissensnorm zu erfüllen, um in diesem Sinne regelkonform zu handeln. Williamson formuliert dies folgendermaßen: Furthermore, the envisaged account takes the C rule to be individuating: necessarily, assertion is the unique speech act A whose unique rule is the C rule. In mastering the speech act of assertion, one implicitly grasps the C rule, in whatever sense one implicitly grasps the rules of a game or language in mastering it. As already noted, this requires some sensitivity to the difference in both oneself and others between 142 Vgl. Lackey 2016, 509. 143 Vgl. Lackey 2011, 252 für ein Beispiel. 144 Übernommen von Carter und Gordon: „Universalisability of (epistemic) assertoric norms (UAN): Some epistemic rule R governs some assertions only if it governs all assertions uniformly.“ Carter und Gordon 2011, 632. 145 Williamson formuliert diese Norm folgendermaßen: „The knowledge rule: One must: assert p only if one knows p.“ Williamson 2002, 243.

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand

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conforming to the rule and breaking it. All other norms for assertion are the joint outcome of the C rule and considerations not specific to assertion. If an assertion satisfies the rule, whatever derivative norms it violates, it is correct in a salient sense. Call this account the C account, and any account of this form simple.146

Es ist aber auch denkbar, dass Assertionen statt durch eine universelle Norm durch mehrere Normen oder eine komparative Norm geregelt sind. In der Literatur wurden bislang keine zwingenden Argumente für die These UAN vorgelegt. Eines der gängigsten Argumente für die Universalität der Assertionsnormen ist die Einfachheit, die durch eine singuläre Regel gewährleistet wird; weshalb man UAN dann präferieren sollte, wenn gezeigt werden kann, dass eine einzige Norm, die alle Assertionen regelt, grundsätzlich möglich ist.147 Wenn Lackeys Beispielfälle tatsächlich zeigen können, dass Wissen nicht in jedem Fall hinreichend für regelkonforme Assertionen ist, dann wäre auch UAN nicht mehr haltbar, da die Wissensregel dann nicht mehr in jedem Falle gelten würde. Sollten für Assertionen und für praktische Rationalität dieselben Normen gelten, dann würde eine Verletzung von KNA-S in den genannten Fällen ebenso eine Verletzung der Wissensregel für praktische Rationalität (KNPR-S)148 in ähnlich gelagerten Fällen nahelegen.149 Isoliertes Wissen aus zweiter Hand, das im Falle der Weitergabe ein epistemisches Defizit aufweist, sollte dann auch nicht als Prämisse für praktisches Handeln verwendet werden. McKinnon konstruiert hierzu den Fall Lunchbox  1, im dem die Protagonistin Jill ihrem, von Kolleginnen aus zweiter Hand erworbenen, isolierten Wissen über die Auslaufsicherheit einer Lunchbox nicht genug traut, um diese Lunchbox ohne zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen zu transportieren.150. Die Feststellung, dass Effekte isolierten Wissens aus zweiter Hand nicht nur bei Assertionen, sondern auch im Rahmen der praktischen Rationalität zum Tragen kommen, spricht dafür, dass beide Bereiche ähnlichen Normen unterliegen. Diese Argumentation setzt jedoch einerseits voraus, dass isoliertes Wissen aus zweiter Hand tatsächlich die Norm KNA-S verletzt,151 und sie setzt außerdem voraus, dass KNA-S und KNPR-S derselben Norm unterliegen. 146 Williamson 2002, 241. 147 Vgl. Williamson 2002, 241–242. 148 Siehe ##S. 183 für eine Definition. 149 Hiervon gehen Carter und Lackey aus. Vgl. Lackey 2011, 266–267; Carter 2017, 1471–1476. Vgl. Hawthorne und Stanley 2008; Montminy 2013 für eine Argumentation für die Universalität der Normen für Assertion und praktische Rationalität. Vgl. Brown 2019 für eine Gegenargumentation. 150 Vgl. McKinnon 2012. 151 Vgl. McKinnon 2012, 566.

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Die letztere Annahme kann jedoch mit einer Modifizierung von McKinnons Beispielfall widerlegt werden, in denen das Wissen aus zweiter Hand der Sprecherin zwar nicht ausreichend für eine angemessene Weitergabe ist, jedoch ausreichend, um als Prämisse ihres praktischen Handelns zu dienen. Gerken präsentiert den modifizierten Fall auslaufsicherer Behälter, in dem ein Wissenschaftler nur isoliertes Wissen aus zweiter Hand über die Auslaufsicherheit eines bestimmten Behältnisses besitzt. Die epistemische Position dieses Wissenschaftlers ist nicht gut genug, um sein Wissen bezüglich der Sicherheit des Behältnisses mit seinem Kollegen, der eine Flüssigkeit mit gefährlichen Bakterien über den Universitätscampus transportieren will, zu teilen. Es ist jedoch für ihn selbst ausreichend, um auf dieser Grundlage zu handeln, wenn er nur sein Mittagessen in einem solchen Behältnis transportieren möchte.152 Dieses Beispiel widerlegt die Annahme einer Äquivalenzbeziehung zwischen KNA-S und KNPR-S.  Zwischen beiden Normen scheint eine strukturelle Gemeinsamkeit zu bestehen. Diese Entsprechung kann nicht bis zur Äquivalenz reichen, weil es durch Kommunikation möglich ist, Sachverhalte zu implikieren153, auf deren Grundlage man nicht handeln würde, während dies bei praktischem Handeln nicht möglich ist: Man kann nicht auf Grundlage eines Sachverhaltes handeln, ohne auf Grundlage dieses Sachverhaltes zu handeln.154 Da es sich bei der Übereinstimmung von KNA-S und KNPR-S nur um eine strukturelle Gemeinsamkeit handelt, ist zu erwarten, dass Fälle von isoliertem Wissen aus zweiter Hand keine stabilen Intuitionen bezüglich der Frage der völligen Übereinstimmung von KNA-S und KNPR-S hervorrufen: Sie können genutzt werden, um die Äquivalenz von KNA-S und KNPR-S zu begründen, aber auch um sie zu widerlegen. Im Folgenden soll geprüft werden, ob die Unangemessenheitsintuition bei der Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand notwendig die Verletzung von KNA-S belegt.

152 Vgl. Gerken 2014, 739. Gerkens Beispiel lautet folgendermaßen: „LEAK-PROOF CONTAINER: Gil’s colleague from the biochemistry department, Scott, is about to carry a liquid sample containing a dangerous species of bacteria across campus. He is considering which token of two types of plastic containers to use. Scott tells Gil that their colleagues have told him that both types of container are leakproof. Since Gil has isolated second-hand testimony that container type 1 is leak-proof from the very same people as Scott, he says nothing. Eventually, Scott makes an online search on the basis of which he opts for the plastic container of type 2 and heads out. Gil himself is a tad late for his physically demanding gym class and realizes that he has forgotten his water bottle. So, he quickly fills the remaining plastic container of type 1 with water, puts it in his gym bag and heads for the gym.“ Gerken 2014, 739. 153 Jäger schlägt vor entweder „implikatieren“ oder „implikieren“ als Verbform des Substantives Implikatur zu verwenden. Vgl. Jäger 2010, 411. 154 Vgl. Gerken 2014, 740–741.

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Laut Lackey spricht unter anderem unsere Sprachpraxis für das Vorhandensein verschiedener Assertionsnormen. Würde beispielsweise Derek im Fall Onkologin  1 klar, dass Matilda nur isoliertes Wissen aus zweiter Hand besitzt, so würde er sich zu Recht unangemessen behandelt fühlen und Matilda würde sich wahrscheinlich entschuldigen.155 Dieses Problem würde nicht auftauchen, wenn die Sprecherin ihren epistemischen Standort deutlich machen würde. Die qualifizierte Aussage von Matilda: „Meine Kollegin hat mir mitgeteilt, dass sie Krebs haben.“ oder die Aussage von Sylvester gegenüber seiner Tochter: „Miriam hat mir erklärt, dass das Essen von Tieren moralisch falsch ist.“ wären unproblematisch.156 Diese Ansicht von Lackey wird durch Kenntnisse aus der Sprachwissenschaft unterstützt, die zeigen, dass die semantische Kodierung es erlaubt, kenntlich zu machen, ob Wissen aus erster oder aus zweiter Hand weitergegeben wird157 und dass dieser Unterschied schon von kleinen Kindern erkannt wird158. Ebenso gibt es sprachliche Marker, die deutlich machen, dass von der Weitergabe von Wissen aus zweiter Hand zu Wissen aus erster Hand gewechselt wird und Redewendungen, die die Sprecherin dazu auffordern offenzulegen, ob es sich um Wissen aus erster Hand oder aus zweiter Hand handelt.159 Solche sprachlichen Marker transportieren, wenn sie verwendet werden, Informationen über die epistemische Position der Sprecherin.160 Der Mangel, den Lackey in Fällen von isoliertem Wissen aus zweiter Hand identifiziert, kann daher als Mangel an Transparenz gewertet werden, der daraus entsteht, dass der Besitzer von Wissen aus zweiter Hand seine Rolle in der Kommunikation nicht deutlich macht.161 Eine Sprecherin, die in bestimmten Kontexten isoliertes Wissen aus zweiter Hand weitergibt, ohne dies kenntlich zu machen, verstößt daher gegen Normen, die die epistemische Verantwortung betreffen.162 Green geht davon aus, dass es sich hier um den Verstoß gegen eine soziale Norm handelt, die regelt, wie eine Sprecherin sich, aus einer teambezogenen Perspektive betrachtet, verhalten sollte, wenn sie Wissen weitergibt.163 Die Annahme ist jedoch sowohl mit der These vereinbar, dass es sich bei dem von Lackey diagnostizierten Verstoß um ein Gegenbeispiel gegen KNA-S 155 Vgl. Lackey 2011, 262. 156 Vgl. Lackey 2011, 261–262. 157 Vgl. Aikhenvald 2006, 23–104. 158 Vgl. Lockhart et al. 2016, 477. 159 Vgl. Smith 2013. 160 Vgl. Green 2014, 221. 161 Vgl. Green 2014, 220. 162 Vgl. Green 2014, 225–226. 163 Vgl. Green 2014, 223.

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handelt164, als auch mit der gegenteiligen These, dass in den Beispielfällen gegen eine soziale Norm oder eine Norm für konversationelle Implikaturen verstoßen wurde.165 Eine Sprecherin kann beispielsweise aus einer individuellen Perspektive durchaus angemessen handeln, indem sie die Wissensnorm erfüllt, die insofern weiterhin konstitutiv gilt und trotzdem aus einer teambezogenen Perspektive gegen eine operative Norm verstoßen, die die geforderte Authentizität der eigenen Aussage reguliert. Diese Auslegung wäre weiterhin mit Williamsons Annahme vereinbar, dass KNA-S in solchen Fällen gar nicht verletzt wird, sondern von einer anderen Norm überschrieben wird.166 Laut Lackey handelt es sich in den Beispielfällen jedoch nicht nur um die Verletzung einer Norm für konversationelle Implikaturen. Dies werde daran deutlich, dass in diesen Fällen die Unangemessenheit der Aussage bestehen bleibt, auch wenn die falsche Implikatur, dass die Sprecherin mehr als isoliertes Wissen aus zweiter Hand besitzt, zurückgenommen wird.167 Die Implikatur ist also nicht anfechtbar. Dies würde tatsächlich dafürsprechen, dass es sich in den von Lackey angeführten Fällen um eine Verletzung der Assertionsnorm KNA-S handelt. Die Anfechtbarkeit wird als entscheidender Unterschied zwischen einer konversationellen Implikatur und einer Implikation betrachtet.168 Würde die Unangemessenheitsintuition durch die Verletzung einer Implikatur hervorgerufen, so wäre dies ein Argument dafür, dass die Wissensnorm auch in den Beispielfällen nicht wirklich verletzt wurde und weiterhin konstitutiv gilt.169 So ist es möglich, die Unangemessenheit von konversationellen Implikaturen dadurch aufzuheben, dass man die Implikatur ausdrücklich zurücknimmt, während dies bei einer Norm, die konstitutiv für den Sprechakt ist, nicht einfach möglich sein sollte.170 Sollte die Unangemessenheitsintuition also nicht anfechtbar sein und trotz einer nachträglichen Kenntlichmachung der epistemischen Position der Sprecherin bestehen bleiben, dann wäre das ein Beleg dafür, dass eine Implikatur-Tilgung171 in den Beispielfällen nicht 164 Vgl. Carter und Gordon 2011; Lackey 2011, 2016. 165 Vgl. Benton 2016, 505. 166 Vgl. Williamson 2002, 225. 167 Vgl. Lackey 2011, 264–265. 168 Konversationelle Implikaturen sind laut Grice im Unterschied zu Implikationen und zu konventionellen Implikaturen anfechtbar, da sie nicht Teil der der lexikalisch fundierten und kompositional berechneten Bedeutung eines Satzes sind. Vgl. Jäger 2010, 411, 414. 169 Williamson betrachtet den Unterschied bezüglich der Rücknehmbarkeit der Implikation als entscheidenden Unterschied zwischen der Wissensnorm und möglichen anderen Normen. Vgl. Williamson 2002, 248. 170 Vgl. Williamson 2002, 242. 171 Vgl. Liedtke 2016, Kap. 4.1 zum Begriff der Implikatur-Tilgung.

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möglich ist. Dies wäre tatsächlich ein überzeugendes Argument gegen die Allgemeingültigkeit der Wissensnorm. Das Problem mit dieser Argumentation ist meines Erachtens, dass sich ihre Prämisse nicht anhand der genannten Beispielfälle beweisen lässt. So führt Lackey an, dass Derek sich im Fall Onkologin 1 immer noch hinters Licht geführt fühlen würde, auch wenn sie direkt hinterher betonen würde, dass sie die Aussage selbst nur von ihrer Kollegin übermittelt bekommen hat und nicht mehr dazu sagen kann.172 Diese Intuition ist jedoch nicht eindeutig. So kann es für Matilda Gründe geben, die es sinnvoll erscheinen lassen, dass sie Derek die Prognose trotzdem schon mitteilt. Und selbst wenn Derek enttäuscht wäre, zu hören, dass Matilda über kein weiteres domänenspezifisches Wissen verfügt, sollte man nicht annehmen, dass er sich getäuscht fühlt. Matildas epistemische Positionierung wäre für Derek auf jeden Fall transparent. Auch eine Betrachtung der philosophischen Literatur zeigt, dass die Intuitionen bezüglich der Tilgbarkeit der Implikatur in Lackeys Beispielfällen keinesfalls eindeutig sind173. Lackeys Beispielfälle können daher nicht herangezogen werden, um die eingeschränkte Gültigkeit von KNA-S und eine Verletzung von UAN zu belegen. Auch Carter174 konstruiert zusätzliche Fälle gegen KNA-S, in denen er stipuliert, dass eine Person epistemisch so positioniert ist, dass sie zwar Wissen besitzt, jedoch nicht auf Grundlage ihres Wissens handeln würde. Er geht davon aus, dass es auch in diesen Fällen nicht angebracht ist, das Wissen ohne Einschränkung weiterzugeben. Die Sprecherin würde sich ansonsten der epistemischen Heuchelei schuldig machen. In Fällen, in denen eine Person zwar Wissen aus zweiter Hand besitzt, ihre epistemischen Gründe jedoch nicht stark genug sind, um auf ihrer Grundlage zu handeln, wird laut Carter die Forderung nach epistemischer Integrität verletzt. Diese Forderung stellt den Anspruch, dass eine Person ihr Wissen nur dann weitergibt, wenn sie auch breit wäre, auf dieser Grundlage zu handeln. Ein solcher Anspruch sollte jedoch keine generelle Anforderung an Wissen 172 Vgl. Lackey 2011, 264–265. 173 Benton und Green gehen davon aus, dass es sich bloß um die Verletzung einer konversationellen Implikatur handelt. Vgl. Green 2014, 226; Benton 2016, 505. Carter und Gordon gehen ebenso wie Lackey davon aus, dass die Beispielfälle zeigen können, dass die Wissensregel nicht in allen Fällen hinreichend für korrekte Assertionen ist. Darüber hinaus argumentieren sie jedoch, dass in den Beispielfällen sowohl eine Assertionsnorm, als auch eine Norm für konversationelle Implikatur verletzt wird. Die Griecesche Konversationsmaxime, keine irreführenden Implikationen zu wecken, werde deshalb verletzt, weil suggeriert wird, dass die epistemische Position der Sprecherin besser ist, als tatsächlich der Fall ist. Vgl. Lackey 2011, 262–264; Carter und Gordon 2011, 625, 629. 174 Vgl. hierzu Carter 2017.

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sein, da auch diese Anforderung anfällig für Gegenbeispiele ist. Aus der Tatsache, dass sich sowohl gegen KNA-S als auch gegen eine Norm der epistemischen Integrität Gegenbeispiele finden lassen, schließt Carter, dass UAN grundsätzlich nicht haltbar ist.175 Carter Beispielfällen können aber ebenso wenig wie Lackeys Fälle zweifelsfrei beweisen, dass KNA-S verletzt wird, da beide Autorinnen implizite Vorannahmen treffen, die sie nicht belegen. Beide Argumentationen setzten voraus, dass die Unangemessenheit einer Aussage aufgrund eines spezifischen epistemischen Merkmals ausreicht, um epistemische Unangemessenheit zu diagnostizieren. Das heißt, sie setzten die Annahme voraus, dass ein (epistemisches) Defizit automatisch (epistemische) Defektivität impliziert: Defekt impliziert Defektivität (DID): Wenn ein epistemisch bewertbares Gut (beispielsweise eine Überzeugung) unangemessen erscheint, weil ihm eine bestimmte epistemische Eigenschaft fehlt, dann ist dieses Gut epistemisch unangemessen.176

In diesem Fall bedeutet das, dass ein epistemisches Defizit dazu führt, dass die Assertionsnorm verletzt wird. Dies folgt jedoch nicht automatisch. Auch auf der moralischen Ebene und auf der Ebene der praktischen Rationalität wird nicht generell davon ausgegangen, dass ein einziger Mangel, auch wenn er auf moralischen oder praktischen Gründen basiert, zwangsläufig dazu führt, dass eine Handlung insgesamt unmoralisch oder irrational ist.177 So ist beispielsweise die Handlung einem ungerechtfertigterweise politisch Verfolgten Unterschlupf zu gewähren, um sein Leben zu retten, sicherlich insgesamt als moralisch angemessen zu bewerten, selbst wenn sie, aufgrund des Umstandes, dass im Rahmen der Handlung gelogen werden musste, um den Aufenthaltsort des Verfolgten geheim zu halten, ein moralisches Defizit aufweist. Ebenso kann eine Überzeugung aufgrund eines epistemischen Mangels moralisch ungerechtfertigt sein. In diesem Fall würde ein epistemischer Defekt nicht automatisch zu epistemischer Defektivität führen. Die Überzeugung könnte, trotz dieses epistemischen Mangels, noch epistemisch gerechtfertigt sein. So könne es beispielsweise sein, dass eine Person moralisch dazu verpflichtet ist, von ihren Freundinnen und nächsten Angehörigen anzunehmen, dass diese loyal und ehrlich sind, selbst wenn sie dies nicht mit Sicherheit 175 Carter 2017, 1470–1476. 176 Vgl. hierzu Coffmann: „Defect Implies Defective (DID): If an epistemically evaluable item (e.g., a belief ) is in some way improper because it lacks a particular epistemic feature, then the item is epistemically improper. In a slogan: „Impropriety due to epistemic defect implies epistemically defective.“ Coffman 2011, 471. 177 Vgl. Coffman 2011, 480–481 für Beispielfälle.

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weiß. Es könnte auch sein, dass eine Person beim Vorliegen von Evidenz, die nahelegt, dass eine ihrer Angehörigen unehrlich ist, trotzdem moralisch dazu verpflichtet ist, davon auszugehen, dass diese Angehörige ehrlich ist, solange auch nur die leisesten Zweifel an ihrer Unehrlichkeit bestehen.178 Die Überzeugung, dass ihre Angehörige unehrlich ist, wäre für diese Person epistemisch gerechtfertigt, da der epistemische Standard für Wissen erfüllt ist; sie wäre jedoch moralisch ungerechtfertigt, und zwar aus epistemischen Gründen.179 Isoliertes Wissen aus zweiter Hand kann darüber hinaus zwar epistemisch wertvolle Güter, wie Verstehen, entbehren, hieraus kann aber nicht in jedem Falle eine epistemische Defektivität abgeleitet werden, weil diese Güter für den Rezipienten testimonialen Wissens auch superogatorisch sein können.180 Zusammenfassung: Solange keine unabhängigen Argumente für die These, dass ein einzelner epistemischer Mangel automatisch zu epistemischer Defektivität führt, vorgebracht werden können, kann die Feststellung, dass isoliertes Wissen aus zweiter Hand einen epistemischen Mangel aufweist, nicht genutzt werden, um KNA-S zu widerlegen. Fälle von isoliertem Wissen aus zweiter Hand können daher in der Frage der Gültigkeit von KNA-S und KNPRS keinen eindeutigen Beitrag leisten. Zwar weist isoliertes Wissen aus zweiter Hand eindeutig ein epistemisches Defizit auf, das im Falle der Weitergabe und der praktischen Verwendung des Wissens problematisch werden kann; es kann jedoch nicht zweifelsfrei gezeigt werden, dass deshalb Wissen als universelle, hinreichende Norm für angemessene Assertionen und praktische Rationalität aufgegeben werden muss. Es wäre ebenso möglich, die Wissensnorm aufrechtzuerhalten und auftretende Probleme bei isoliertem Wissen aus zweiter Hand in diesen Fällen durch eine Überschreibug der Norm durch zusätzliche soziale Normen, fehlende Transparenz oder konversationelle Implikaturen zu erklären. 4.6

Ist isoliertes Wissen aus zweiter Hand von einem Mangel an Verstehen betroffen?

Da die Unangemessenheitsintuition durch einen epistemischen Mangel von Wissen aus zweiter Hand hervorgerufen wird, stellt sich nun die Frage, worin dieser Mangel genau besteht. In der Literatur wird Verstehen als das 178 Chisholm geht zum Beispiel davon aus, dass Personen moralisch verpflichtet sein können, bestimmte positive Dinge über unsere Nächsten anzunehmen, solange nicht das Gegenteil zweifelsfrei bewiesen ist. Vgl. Chisholm 1989, 12–13. 179 Vgl. Coffman 2011, 481–482. 180 Vgl. Green 2014, 217.

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epistemische Gut diskutiert, dessen Mangel die Unangemessenheitsintuition am Ehesten erklären kann.181 Die Ergebnisse dieser Arbeit legen bislang nahe, dass Wissen aus zweiter Hand auf jeden Fall von einem Mangel an domänenspezifischer Evidenz betroffen ist. Ich möchte im folgenden Kapitel zeigen, dass sich die Annahme, dass isoliertes Wissen aus zweiter Hand von einem Mangel an Verstehen betroffen ist, gut mit der Abwesenheit von domänenspezifischer Evidenz, die als Basis des Verstehens fungieren kann, erklären lässt. Diese Annahme legt jedoch die Verwendung eines reduktionistischen Begriffs von Verstehen nahe. Ein reduktionistischer Begriff von Verstehen geht von der Annahme aus, dass es grundsätzlich möglich ist, Verstehen in propositionaler Form zu formulieren. Ein solcher Begriff von Verstehen weist gegenüber einem nicht-reduktionistischen Begriff Vorteile auf, die die Übersetzbarkeit und die Integrationsfähigkeit in eine allgemeine Theorie betreffen. Ich werde daher in diesem Kapitel zunächst prüfen, welche Art von Verstehen bei isoliertem Wissen aus zweiter Hand fehlt und zeigen, warum es vorteilhaft ist, davon auszugehen, dass Verstehen sich in propositionaler Form ausdrücken lässt. Anschließend werde ich in Kapitel  4.6.2 darstellen, wie sich ein Mangel an Verstehen, in Abhängigkeit von der Menge und Integration der domänenspezifischen Evidenz, die einer Person zu einem bestimmten Sachverhalt als Basis ihres Verstehens zur Verfügung stehen, beschreiben lässt. Ein Mangel an domänenspezifischer Evidenz, wie er bei isoliertem Wissen aus zweiter Hand auftritt, kann auch zu einem Mangel an Verstehen führen und somit die Intuition erklären, dass isoliertes Wissen aus zweiter Hand in einigen Fällen nicht ausreicht, um die Sprecherin zur Weitergabe dieses Wissens zu qualifizieren. Die Frage, inwieweit Wissen aus zweiter Hand von fehlendem Verstehen betroffen ist, ist eine graduelle Angelegenheit. Ebenso ist die Frage, inwiefern fehlendes Verstehen bei der Weitergabe von Wissen aus zweiter Hand problematisch ist, kontextabhängig. In 5.6.3 werde ich darstellen, dass die Forderung des Besitzes von Wissen aus erster Hand in Kontexten, in denen die Meinung einer spezifischen Expertin erwartet wird, durch die Annahme erklärt kann, dass eine solche Expertin hohe Ansprüche an den Grad von Verstehen bezüglich des in Frage stehenden Sachverhaltes erfüllen kann, wenn ihr Wissen aus erster Hand stammt. Der in Kapitel 2 vorgestellte Begriff von Wissen aus zweiter Hand erweist sich insofern als fruchtbar, als er sinnvoll an ein System angrenzender Begriffe, wie den des Verstehens, angeschlossen werden kann.

181 Vgl. hierzu Lackey 2013; Carter und Gordon 2011; Green 2014.

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Welche Art von Verstehen fehlt bei isoliertem Wissen aus zweiter Hand? Lackey stellt die Frage, ob Wissen aus zweiter Hand epistemisch weniger wertvoll ist, weil es von einem Mangel an Verstehen betroffen ist.182 Während sie diese Frage negativ beantwortet, gehen sowohl Carter und Gordon183, als auch Hills184 und Green185 davon aus, dass Wissen aus zweiter Hand in einigen Fällen von einem Mangel an Verstehen betroffen ist. Hier müssen jedoch verschiedene Diagnosen unterschieden werden. So sollte die Annahme, dass das Fehlen von Verstehen nur isoliertes Wissen aus zweiter Hand betrifft,186 von einer generellen Skepsis gegenüber der Möglichkeit des Erwerbs von Verstehen durch Wissen aus zweiter Hand187 unterschieden werden. Die Skepsis gegenüber Wissen aus zweiter Hand als möglicher Quelle von Verstehen geht auf die Indirektheits-Annahme zurück; das ist die Annahme, dass Verstehen generell nicht direkt auf testimonialem Wege hervorgerufen werden kann, sondern testimoniales Wissen höchstens als indirekte Quelle Verstehen bei einem Hörer unterstützen oder fördern könne. Das heißt, dass Mitteilungen einen eigenständigen Verstehensprozess auslösen können, aber Verstehen selbst nicht testimonial übertragen wird.188 Diese Sichtweise ist besonders unter den Autorinnen prävalent, die davon ausgehen, dass Verstehen sich grundsätzlich von Wissen unterscheidet, weil es in nicht-propositionaler Form vorliege oder eine besondere Fähigkeit beinhalte.189 Unter dieser Vorannahme ist die Folgerung, dass Verstehen nicht direkt auf dem Wege der Weitergabe propositionalen Wissens erworben werden kann, nicht überraschend. Wenn man davon ausgeht, dass Verstehen sich grundsätzlich nicht auf testimonialem Wege übertragen lässt, kann fehlendes Verstehen zwar als Begründung für ein generelles Defizit von Wissen aus zweiter Hand dienen, es kann jedoch nicht gut den Nachteil von isoliertem Wissen aus zweiter Hand gegenüber integriertem Wissen aus zweiter Hand erklären. Wenn 4.6.1

182 Vgl. Lackey 2013. 183 Vgl. Carter und Gordon 2011. 184 Vgl. Hills 2009, 2016. 185 Vgl. Green 2014. 186 Vgl. Carter und Gordon 2011; Green 2014. 187 Hills nimmt an, dass durch Wissen aus zweiter Hand generell kein Verstehen weitergegeben werden kann. Vgl. Hills 2009; Hills 2016. Diese Bedenken teilt sie mit Autorinnen wie Zagzebski, Sosa und Pritchard. Vgl. Zagzebski 2009; Pritchard 2016; Sosa 2019. 188 Vgl. hierzu Zagzebski 2009, 145; Hills 2009, 123; Hills 2016, 672–673. Boyd kennzeichnet diese verbreitete Annahme als indirectness requirement: „Testimony cannot be a direct source of understanding; at best, it can be an indirect source of understanding by laying the groundwork for potential understanding.“ Boyd 2017, 105. 189 Vgl. hierzu Zagzebski 2009, 143–146; Pritchard 2010, 2014; Hills 2016.

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man hingegen davon ausgeht, dass Verstehen ebenso wie Wissen aus zweiter Hand testimonial erworben werden kann, setzt dies voraus, dass Verstehen sich grundsätzlich in propositionaler Form ausdrücken lässt.190 Sollte isoliertes Wissen aus zweiter Hand von einem Mangel an Verstehen betroffen sein, muss daher zunächst die Frage geklärt werden, welche Art von Verstehen in diesem Falle fehlt. Hier kann einerseits zwischen dem Objekt des Verstehens in Verstehen-Wie, Verstehen-Warum und holistischem Objektverstehen unterschieden werden.191 Verstehen-Wie wird oft als eine praktische Fähigkeit betrachtet, die eine Form von know-how darstellt.192 VerstehenWarum kann als Wissen von Ursachen oder von modalen Fakten über Einzelaussagen betrachtet werden, es wird jedoch nicht von allen Autorinnen als eine Art von propositionalem Wissen betrachtet.193 Holistisches Objektverstehen liegt vor, wenn ganze Sachgebiete in den Fokus des Verstehens rücken, wie bei dem Verstehen der Relativitätstheorie oder des New Yorker U-Bahnsystems.194 Es kann außerdem zwischen reduktionistischen Ansätzen unterschieden werden, die nahelegen, dass sich Verstehen grundsätzlich in Form von propositionalem Wissen beschreiben lässt und nicht-reduktionistischen Ansätzen, die davon ausgehen, dass Verstehen zusätzlich zu propositionalem Wissen noch etwas anderes voraussetzt, zum Beispiel eine besondere Fähigkeit, Zusammenhänge zu begreifen. Verstehen-Wie wird öfter als nicht reduzierbar auf propositionales Wissen betrachtet, weshalb Autorinnen, die Verstehen-Wie als paradigmatische Form von Verstehen betrachten oder Verstehen-Warum und Verstehen-Wie als artähnlich gruppieren, dazu tendieren, Verstehen generell nicht-reduktionistisch zu betrachten.195 Kvanvig hingegen geht davon aus, dass Verstehen deshalb 190 Vgl. hierzu Boyd 2017; Sullivan 2018; Malfatti 2020. 191 Siehe für eine Unterscheidung der verschiedenen Verstehensarten Grimm 2011 und Boyd 2017, 108–109. 192 Siehe Sullivan 2018 für eine gute Übersicht hierzu. Vgl. Stanley und Williamson 2001 für eine propositionale Konzeption von Verstehen-Wie. 193 Grimm geht davon aus, dass die Betrachtung von Verstehen als Wissen von Ursachen die traditionelle Sicht von Verstehen widerspiegelt. Vgl. Vgl. Grimm 2014, 329. Er geht jedoch auch davon aus, dass Verstehen-Warum keine Art von propositionalem Wissen darstellen muss. Vgl. Grimm 2014, 334–335. 194 Vgl. hierzu Pritchard, Millar und Haddock 2010, 74; Vgl. Grimm 2011, 5–6. 195 Vgl. hierzu zum Beispiel Carter und Pritchard, die argumentieren, dass Verstehen-Warum ebenso eine besondere kognitive Leistung voraussetzt, wie Verstehen-Wie und daher gemeinsam mit Verstehen-Wie und nicht mit propositionalem Wissen-Warum gruppiert werden sollte. Vgl. Carter und Pritchard 2015, 193. Hills argumentiert, dass bei VerstehenWarum eine Art von intellektuellem Know-How beteiligt ist und sich dieses deshalb von propositionalem Wissen unterscheidet. Vgl. Hills 2016, 661. Auch Zagzebski scheint

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nicht auf propositionales Wissen reduzierbar ist, weil die paradigmatische Form von Verstehen Objektverstehen sei, welches sich nicht auf explanatorische Konzepte reduzieren lasse.196 Obwohl von verschiedenen Philosophinnen unterschiedliche Arten von Verstehen als beispielhaft identifiziert werden, betrachten die meisten Autorinnen Verstehen-Warum als paradigmatisch für Verstehen.197 Ich werde in dieser Arbeit davon ausgehen, dass Verstehen-Warum den Standardfall von Verstehen darstellt. Sowohl Objektverstehen als auch Verstehen-Wie scheinen darüber hinaus zu anspruchsvoll zu sein, um durch ihr Fehlen die Unangemessenheitsintuition erklären zu können. Im Falle der Onkologin Matilda würde Objektverstehen voraussetzen, dass Matilda auch weiß, wie und warum Tumore generell in menschlichen Wesen entstehen und wie man sie in jedem Einzelfall behandeln kann. Diese Fragen wird jedoch auch eine sehr gute Onkologin nicht restlos klären können und dies wird auch nicht von ihr gefordert.198 Objektverstehen scheint drüber hinaus nicht in jedem Falle hinreichend, um die Unangemessenheitsintuition beseitigen zu können. So könnte beispielsweise im Falle der Onkologin angenommen werden, dass Matilda ausreichend Wissen über das Sachgebiet der Tumore besitzt, um ihr Objektverstehen von Tumoren zuzuschreiben, während ihr Wissen von Dereks Tumor weiterhin zu isoliert ist, um eine angemessene Weitergabe zu garantieren.199 Dieses Argument hängt jedoch stark davon ab, was im konkreten Fall als Objekt des Wissens identifiziert wird. So könnte mit gleicher Berechtigung Dereks Tumor als Objekt von Matildas Wissen identifiziert werden. In diesem Falle wäre Objektverstehen hinreichend, um die Unangemessenheit von Matildas Aussage zu beseitigen. Auch das Objektverstehen von Dereks Tumor wäre aber noch zu anspruchsvoll, da es zum Beispiel auch voraussetzen würde, dass Matilda weiß, wie Dereks Tumor entstanden ist. Hierzu müsste sie jedoch noch viel mehr Details über seine Familiengeschichte, seine genetische Disposition und die genaue Genese des Tumors besitzen.200 Dies wird von ihr als Ärztin jedoch klarerweise nicht erwartet.

196 197 198 199 200

eine nicht propositionale Form von Verstehen-Wie als paradigmatisch für Verstehen zu betrachten. Vgl. Zagzebski 2009, 142. Vgl. hierzu Kvanvig 2009b. Vgl. Khalifa 2013 für eine Gegenargumentation. Pritchard, Millar und Haddock 2010; Khalifa 2013; Strevens 2013; Hills 2016; Sullivan 2018 betrachten Verstehen-Warum als Standardfall von Verstehen. Kvanvig 2009b; Wilkenfeld 2013; Kelp 2015 betrachten Objektverstehen als paradigmatisch für Verstehen. Vgl. hierzu Sosa 2019, 627–628. Vgl. Carter und Gordon 2011, 627–628. Vgl. auch Carter und Gordon 2011, 628–629.

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Eine Darstellung der Fähigkeiten, die nach einem nicht-reduktionistischen Verständnis für Verstehen notwendig sind, liefert Hills, die davon ausgeht, dass Verstehen intellektuelle Fähigkeiten voraussetzt, die relevantes Wissen-Wie involvieren.201 So sollte eine Person, um Verstehen nach Hills zu besitzen, folgende Fähigkeiten haben, sie muss: i) einer Erklärung, warum p der Fall ist, folgen können; ii) sie muss in ihren eigenen Worten erklären können, warum p der Fall ist; iii) sie muss die den Schluss, dass p aus der Information, dass q, folgern können; iv) sie muss den Schluss, dass p‘ aus der Information, dass q‘ folgern können (wenn p‘ und q‘ Ähnlichkeit zu p und q aufweisen, aber nicht mit ihnen identisch sind); v) sie muss, konfrontiert mit der Information, dass p, die richtige Erklärung, q geben; vi) sie muss konfrontiert mit der Information, dass p‘, die richtige Erklärung, q‘ geben.202 Angewandt auf den Fall der Onkologin Matilda scheinen diese Forderungen zu anspruchsvoll zu sein. So ist es durchaus möglich, dass Matilda auch als Expertin nicht jeden Fall von Krebs eindeutig identifizieren und klassifizieren kann, wenn dieser sehr kompliziert gelagert sein sollte. Diese Forderung ist für den Besitz ausreichenden Verstehens, das Matilda im Falle von Dereks Krebsdiagnose zu einer Aussage berechtigt, auch nicht nötig. Hierfür sollte es ausreichen, wenn Matilda generell verlässlich Tumore identifizieren kann und ausreichendes Verstehen von Dereks Fall besitzt.203 Hills nichtreduktionistischer Begriff von Verstehen eignet sich daher nicht, um den Mangel bei der Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand zu erklären. Das für diese Arbeit wichtige Verstehen-Warum wird ebenso häufig unter reduktionistischen, wie unter nicht-reduktionistischen Gesichtspunkten

201 Vgl. Hills 2016. 202 Hills 2016, 664. Meine Übersetzung. 203 Vgl. hierzu auch Lackey 2013, 46–48. Jennifer Lackey geht davon aus, dass der epistemische Mangel von isoliertem Wissen aus zweiter Hand nicht durch einen Mangel an Verstehen erklärt werden kann. Sie überprüft jedoch nur ein holistisches Objektverstehen nach Kvanvig und Hills fähigkeitsbasierte Version von Verstehen und diagnostiziert, dass beide Arten von Verständnis zu anspruchsvoll seien. Vgl. Lackey 2013. Dies bedeutet jedoch nicht, dass im Falle der Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand nicht eine andere Art von Verstehen fehlt, die das Defizit in Lackey Beispielfällen besser erklären kann. Siehe auch Green 2014, 217 für diese Argumentation.

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betrachtet.204 Beide Betrachtungsweisen führen jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen bezüglich der Frage, ob isoliertes Wissen aus zweiter Hand von einem Mangel an Verstehen betroffen ist. So führt eine nicht-reduktionistische Betrachtungsweise eher dazu, dass die Möglichkeit, Verstehen auf testimonialem Wege weiterzugeben, generell skeptisch betrachtet wird. Geht man wie Zagzebski, Grimm oder Pritchard davon aus, dass Verstehen wesentlich von einer Fähigkeit abhängt, Zusammenhänge zu begreifen, dann ist verständlich, dass diese Fähigkeit nicht einfach aus zweiter Hand erworben werden kann. Wissen aus zweiter Hand kann in diesem Falle höchstens unterstützend wirken, indem es die Grundlage schafft, mit deren Hilfe eigenes, aktives Verstehen möglich ist. Unterschieden werden sollte innerhalb dieser Ansätze noch einmal zwischen denjenigen Autorinnen, die zugestehen, dass es trotzdem möglich ist, die Sachverhalte, die verstanden werden, propositional zu formulieren und denjenigen Autorinnen, die davon ausgehen, dass sich einige Arten von Verstehen grundsätzlich nicht propositional formulieren lassen.205 Die Annahme, dass einige Formen von Verstehen sich grundsätzlich nicht propositional formulieren lassen, würde zu einer generellen Ablehnung von Wissen aus zweiter Hand als Quelle von Verstehen führen. In diesem Falle wäre es jedoch auch nicht weiter nötig, zwischen isoliertem und integriertem Wissen aus zweiter Hand zu unterscheiden, da beide Arten nicht mit Verstehen einhergehen würden.206 Die Annahme, dass Verstehen sich zwar nicht auf propositionales Wissen reduzieren lässt, jedoch grundsätzlich in propositionaler Form formuliert werden kann, wird unter anderem von Carter und Gordon, Hills und Pritchard vertreten.207 Sie gehen ebenso alle davon aus, dass Wissen aus zweiter Hand von einem Mangel an Verstehen betroffen ist. Während Carter und Gordon ihre

204 Riggs 2003; Zagzebski 2009; Grimm 2014; Pritchard 2014 gehen davon aus, dass Verstehen sich nicht auf propositionales Wissen reduzieren lässt. Achinstein 2001; Kitcher 2002; Lipton 2003; Woodward 2004; Kelp 2015; Khalifa 2013; Sliwa 2015 gehen davon aus, dass sich Verstehen auf propositionales Wissen reduzieren lässt. Pritchard stellt fest, dass innerhalb der Wissenschaftstheorie reduktionistische Ansätze vorherrschen. Vgl. Pritchard, Millar und Haddock 2010, 74. 205 Diese Ansicht wird u.a. von Zagzebski 2009, Ch. 6 und Grimm 2014 vertreten. 206 Eine solche Sichtweise kann bestimmte pessimistische Haltungen bezüglich moralischen und ästhetischen testimonialen Wissens erklären. Vgl. Hopkins 2007, 611. Wenn man davon ausgeht, dass echtes Verstehen über ästhetische und moralische Zusammenhänge nur aus erster Hand begriffen werden kann, erklärt dies, warum Wissen aus zweiter Hand in diesen Bereichen immer defizitär bleiben muss. Siehe Sosa 2019, 122 für diese Argumentation. 207 Vgl. Carter und Gordon 2011.

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Diagnose auf isoliertes Wissen aus zweiter Hand beschränken,208 nehmen Hills und Pritchard an, dass Wissen aus zweiter Hand grundsätzlich kein Verstehen transportiert.209 Diese Annahme ist bei näherem Hinsehen problematisch. In philosophischen und moralischen Kontexten sind wir in vielfältiger Hinsicht von Wissen aus zweiter Hand abhängig, ohne dass dies in jedem Falle mit mangelndem Verstehen einhergeht. So basiert unsere moralische Urteilsfähigkeit zum Teil auf der Prägung, die wir als Kinder aus zweiter Hand erfahren haben. Moralische ebenso wie philosophische Fragestellungen sind von Erkenntnissen aus anderen Wissenschaftsbereichen abhängig, die nicht alle aus erster Hand gewusst werden können.210 Hills gesteht daher zu, dass Menschen natürlich in Einzelfällen durch testimoniales Wissen auch Verstehen erwerben können.211 Malfatti weist darüber hinaus darauf hin, dass beispielsweise unsere Lehr- und Lernpraxis grundsätzlich nicht darauf angelegt ist, bloß Faktenwissen zu vermitteln, sondern dass selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass es möglich ist, Einsicht und Verstehen zu vermitteln.212 Diese Zugeständnisse stellen aber zunächst kein ausreichendes Gegenargument gegen die These dar, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, Verstehen an sich testimonial zu transportieren. Denn auch die Vermittlung von Verstehen im Unterricht könnte eigene Einsicht und Fähigkeiten voraussetzen, die bei der Schülerin bereits vorhanden sind.213 Setzt man dies voraus, gibt es trotzdem zwei verschiedene Möglichkeiten, wie Menschen mithilfe von Wissen aus zweiter Hand Verstehen erwerben können: Einerseits indem nur teilweise auf Wissen aus zweiter Hand zurückgegriffen wird, zum Beispiel zum Zweck der Datenerfassung, während die eigentliche Fragestellung selbstständig aus erster Hand beantwortet wird.214 Andererseits indem den Aussagen anderer nicht blind gefolgt wird, sondern diese als Ratschläge betrachtet werden, die trotzdem einer selbstständigen Prüfung unterzogen werden müssen.215 208 Vgl. Carter und Gordon 2011. 209 Vgl. Hills 2009, 2016; Pritchard 2016. 210 Siehe Jones 1999 für eine Argumentation dafür, dass Wissen aus zweiter Hand auch in moralischen Fragestellungen Verstehen befördern kann. 211 Vgl. Hills 2009, 119. Hills Äußerungen beziehen sich zunächst nur auf moralisches Wissen und Verstehen, sie zeigt jedoch 2016, dass ihre Ausführungen zu moralischem Wissen sich auf Verstehen-Warum im Allgemeinen ausweiten lassen. Vgl. Hills 2016. 212 Vgl. Malfatti 2020, 55. 213 Vgl. hierzu Grundmann forthcoming. 214 Vgl. Hills 2009, 121. Sosa 2019, 115 sieht dies ebenso. Siehe hierzu auch Kap. 4.4.4 in dieser Arbeit. 215 Vgl. Hills 2009, 123.

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand

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Beide Möglichkeiten setzten voraus, dass der Wissensbesitzerin nicht nur isoliertes Wissen aus zweiter Hand zur Verfügung steht, sondern sie wenigstens so viel domänenspezifische Evidenz bezüglich der betreffenden Aussage besitzt, dass sie die Bewertung selbstständig nachvollziehen kann. Man könnte dann argumentieren, dass der Zweitbesitzer zwar kausal jedoch nicht epistemisch von der Erstbesitzerin abhängig ist.216 Wissen aus zweiter Hand muss daher im Rahmen nicht-reduktionistischer Ansätze nur dann als unzureichend betrachtet werden, um Verstehen beim Empfänger hervorzurufen, wenn es isoliert vorliegt. Diese Annahme trifft nur eine Aussage über die Möglichkeit Verstehen über Wissen aus zweiter Hand zu erwerben. Ebenso wie der erfolgreiche Erwerb von Wissen mithilfe von Aussagen anderer ein gewisses Maß an Hintergrundwissen und den wenigstens nominalen, bzw. semantischen Besitz der beteiligten Begriffe voraussetzt, setzt der erfolgreiche Erwerb von Verstehen die Entstehung einer eigenen Einsicht auf Basis des erworbenen Wissens voraus. Wenn die eigene Einsicht nötig ist, um Verstehen zu ermöglichen, stellt sich jedoch die Frage, ob es sich dann noch um Wissen aus zweiter Hand handelt. Pritchard vertritt einen Begriff von Wissen aus erster Hand, der zulässt, dass im Falle von Wissen, das auf wahrnehmungsabhängiger und wahrnehmungsunabhängiger Evidenz basiert, nicht die gesamte domänenspezifische Evidenz aus erster Hand besessen werden muss. Er unterscheidet hierzu Wissen aus 216 Siehe für diese Unterscheidung ##S. 60 in dieser Arbeit. Sosa betrachtet die Frage, ob man der Aussage von Dritten in seinem Urteil blind folgt oder diese Aussagen nur als Anleitung betrachtet werden, als Hauptunterschied zwischen Wissen aus zweiter Hand und Wissen aus erster Hand, welches grundsätzlich mit Verstehen einhergeht. Er spricht in diesem Falle davon, dass der Zweitbesitzer zwar kausal von der Aussage einer anderen Person abhängig ist, jedoch nicht epistemisch: „When the testifier reveals a good argument, we might see the light thereby and make it our own. Here we’d rely causally on the testimony, without doing so epistemically. The validity and even soundness of the argument may be something we can appreciate fully on our own, with no need to rely epistemically on the endorsement of the testifier. This sort of knowledge can still be entirely firsthand even if causally it relies essentially on someone else’s say-so.“ Sosa 2019, 116. Diese Argumentation funktioniert meines Erachtens gut für wahrnehmungsunabhängig erwerbbares Wissen. Es entsteht dann eine Situation, wie sie bereits in Kapitel  3.4.2 beschrieben wurde, nämlich dass Wissen, das aus zweiter Hand erworben wurde, zu Wissen aus erster Hand wird, sobald die Person die Aussage vollständig versteht. Dies ist im Falle von wahrnehmungsunabhängigem Wissen möglich, weil es relativ einfach möglich ist, den Inhalt der domänenspezifischen Evidenz testimonial zu transportieren. Im Falle von wahrnehmungsabhängigem Wissen ist das jedoch nicht so leicht möglich, daher geht Sosa davon aus, dass es beispielsweise im Falle von ästhetischem Wissen unmöglich ist, allein über Wissen aus zweiter Hand Verstehen zu erwerben. Vgl. Sosa 2019, 112, 121.

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erster Hand, das auf perzeptueller Wahrnehmung beruht, von Wissen aus erster Hand, welches auf intellektueller Einsicht beruht. Bei Wissen aus erster Hand, welches auf intellektueller Einsicht beruht, sei diese Einsicht entscheidend und nicht die Frage, ob jegliche domänenspezifische Evidenz selbst aus erster Hand stammt.217 Die in dieser Arbeit vertretene Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand ist mit einer graduellen Abstufung zwischen beiden Wissensarten vereinbar, die es erlauben würde, in einigen Fällen Wissen aus erster Hand zuzuschreiben, selbst wenn die hierzu nötige domänenspezifische Evidenz zum Teil aus zweiter Hand stammt.218 Trotzdem sollte nicht in jedem Fall, in dem das Verstehen einer Aussage durch eigene Einsicht ermöglicht wird, davon ausgegangen werden, dass der Besitzer automatisch Wissen aus erster Hand erwirbt. So könnte die Antwort einer Freundin auf die Frage: „Warum hast du deinen Essay nicht rechtzeitig abgegeben?“ lauten: „Weil ich die Grippe hatte und dazu tendiere zu halluzinieren, wenn ich starkes Fieber habe und ich keinen Unsinn schreiben wollte.“219 Das Verstehen der Fragestellerin bedarf in diesem Fall zwar ihrer eigenen Einsicht und ihres Hintergrundwissens über die Auswirkungen und Symptome der Grippe im Allgemeinen und von hohem Fieber und daraus folgenden Halluzinationen im Besonderen. Aber es handelt sich nicht um eine Erklärung, die sie selbstständig mithilfe ihres Hintergrundwissen hätte herausfinden können.220 Ihr Wissen hängt daher so stark von der domänenunabhängigen Evidenz, die sie durch die Aussage ihrer Freundin erwirbt, ab, dass ihr kein Wissen aus erster Hand zugeschrieben werden kann. Wissen aus zweiter Hand kann daher im Rahmen nicht-reduktionistischer Ansätze dann von einem epistemischen Mangel betroffen sein, der durch fehlendes Verstehen ausgelöst wird, wenn es isoliert vorliegt und die domänenspezifische Evidenz, die zur Stützung vorhanden ist, auch im besten Fall nicht ausreicht, um Verstehen beim Empfänger hervorrufen zu können. Der Annahme, dass Verstehen zwar grundsätzlich in propositionaler Form formuliert werden kann, sich jedoch nicht auf propositionales Wissen reduzieren lässt, steht die Sichtweise der Autorinnen gegenüber, die davon ausgehen, dass sich Verstehen selbst vollständig auf propositionales Wissen reduzieren 217 Vgl. Pritchard 2016, 36. 218 Siehe Kapitel 2.2.3 in dieser Arbeit. 219 Beispiel entlehnt von Malfatti. Vgl. Malfatti 2020, 59. 220 Selbst das Wissen, das die Freundin eine Grippe hatte, reicht nicht aus, um selbstständig diese bestimmte Erklärung der Ursache herauszubekommen. Es hätte ebenso gut sein können, dass die Freundin sich aufgrund der Grippe zu schlapp fühlte, um den Artikel rechtzeitig zu Ende zu schreiben.

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand

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lässt.221 Der größte Unterschied zwischen beiden Ansätzen scheint zunächst die Indirektheits-Annahme zu sein.222 Denn im Rahmen nicht-reduktionistischer Ansätze lässt sich Wissen zwar auf testimonialem Wege erwerben, es ist jedoch von der Eigeninitiative des Empfängers abhängig, ob dies wirklich gelingt. Die reduktionistische Annahme wirkt hingegen unproblematisch damit vereinbar, dass Verstehen über Wissen aus zweiter Hand erworben wird.223 Dieser Unterschied ist jedoch nur scheinbar entscheidend. Denn dass eine gewisse Anstrengung aufseiten des Empfängers geleistet werden muss, um die erworbenen Informationen zu verarbeiten und in das eigene Wissensnetz zu integrieren, gilt für die Übertragung jeglichen testimonialen Wissens ebenso, wie für den Erwerb von Verstehen, dies zeigen Boyd, Sullivan und Malfatti auf unterschiedliche Weise.224 Auch im Rahmen reduktionistischer Ansätze, ist der Erwerb von Verstehen daher von Einsicht aufseiten des Empfängers abhängig. Der Unterschied zwischen dem bloß semantischen Verstehen einer Aussage – das für die bloße Möglichkeit des Erwerbs testimonialen Wissens vorausgesetzt werden muss – und dem vollständigen Verstehen einer Aussage ist kein absoluter Unterschied, sondern ein gradueller Unterschied, der von der Menge der korrekten inferentiellen Beziehungen abhängt, die eine Person zu anderen Begriffen herstellen kann. Reduktionistische Ansätze, die die Möglichkeit des Erwerbs von Verstehen in Abhängigkeit zur Menge an Evidenz, die zur Verfügung steht, um solche Beziehungen herzustellen, formulieren, sind in der Lage dieser Skalierbarkeit Rechnung zu tragen. Reduktionistische Ansätze von Verstehen erlauben es trotzdem, einige Arten von Wissen aus zweiter Hand als ungenügend für den Erwerb von Verstehen zu klassifizieren: So geht Kitcher davon aus, dass der Wert von Erklärungen, die 221 Unter anderem Achinstein 2001; Kitcher 2002; Lipton 2003; Woodward 2004; Kelp 2015; Khalifa 2013; Sliwa 2015. 222 Siehe hierzu ##S. 233 in dieser Arbeit. 223 Siehe Boyd 2017; und Malfatti 2020 für eine detailliertere Argumentation. 224 Boyd stellt Fälle des Erwerbs von einfachem Verstehen, Fällen des Erwerbs von testimonialem Wissen gegenüber, um zu zeigen, dass in beiden Fällen eine Verarbeitung der Informationen vom Empfänger geleistet werden muss. Vgl. Boyd 2011. Sullivan nimmt an, dass die Fähigkeiten, die notwendig sind, um Verstehen zu erwerben, dieselben Fähigkeiten sind, die notwendig sind, um testimoniales Wissen zu erwerben. Vgl. Sullivan 2018. Malfatti argumentiert, dass die Annahme, der Erwerb von Verstehen bedürfe einer besondere Form der kognitiven Anstrengung, der Übermittlung von Verstehen auf testimonialem Wege ebenso wenig im Wege steht, wie die Annahme, die Übertragung von testimonialem Wissen setze eine besondere Form von Vertrauen voraus, die mit dem Erwerb von Verstehen unvereinbar sei oder die Annahme, dass ein bestimmter, für Verstehen notwendiger Aspekt des Begreifens nicht auf testimonialem Wege transportiert werden könne. Vgl. Malfatti 2020.

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Kapitel 4

wissenschaftliches Verstehen konstituieren, nicht einzeln, sondern nur systematisch betrachtet werden kann: „Science supplies us with explanations whose worth cannot be appreciated by considering them one-by-one but only by seeing how they form part of a systematic picture of the order of nature.“225 Khalifa geht davon aus, dass Wissen dann wertvoll ist, wenn es in Form von Verstehen vorliegt: „In other words, not all forms of knowledge are of equal value, but perhaps understanding is plausibly seen as an exemplary form of knowledge.“226 Und Kelp macht die Frage, ob und wieviel Verstehen eine Person von einem Phänomen besitzt, davon abhängig, wie vollständig ihr Wissen bezüglich dieses Phänomens ist: „Knowing everything there is to know about a phenomenon is understanding it as well as it can be understood.“227 Auch im Rahmen reduktionistischer Theorien von Verstehen muss demnach isoliertes Wissen aus zweiter Hand als unzureichend für den Erwerb von Verstehen betrachtet werden. Anders als nichtreduktionistische Ansätze erlauben sie jedoch eine genauere Aussage darüber, was in dem Falle, in dem durch Wissen aus zweiter Hand kein Verstehen erworben wird, ausbleibt. Nichtreduktionistische Ansätze diagnostizieren in der Regel das Fehlen einer Form von Begreifen (Grasping), die nicht vorhanden ist, wenn Wissen aus zweiter Hand erworben wird, ohne Verstehen hervorzurufen.228 Das Heranziehen dieses Merkmals als Unterscheidungskriterium wirft jedoch verschiedene Probleme auf: Zunächst scheint keine Einigkeit darüber zu bestehen, wie genau dieses Begreifen konstruiert sein soll, es wird meistens metaphorisch erklärt.229 Darüber hinaus wird die Frage, ob Verstehen erworben wird, abhängig von der Fähigkeit des Subjekts, wenn man das Merkmal des Begreifens als Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen dem Erwerb von bloßem Wissen und Verstehen, betrachtet: „One consequence of the grasping requirement seems to be gaining understanding is something that has to be primarily attributable to the subject, since grasping is something that the subject has to do for themselves.“230 Natürlich soll hier nicht geleugnet werden, dass die Frage, ob Verstehen erworben wird, auch von der Fähigkeit des Empfängers abhängt, die erworbenen Informationen zu begreifen. Dies gilt aber generell für den Erwerb testimonialen Wissens. Selbst isoliertes Wissen aus zweiter Hand kann nur 225 226 227 228 229 230

Kitcher 1989, 430. Khalifa 2011, 110. Kelp 2015, 3809. Vgl. hierzu Boyd 2017, 104, 113–114. Boyd 2017, 113; Malfatti 2020, 65–66 arbeiten dies heraus. Boyd 2017, 115.

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erworben werden, wenn ausreichend semantische Fähigkeiten vorliegen, um den Inhalt der betreffenden Aussage zu begreifen. Das Kriterium des Begreifens hilft aber nicht weiter, um zu erklären, weshalb und inwiefern isoliertes Wissen aus zweiter Hand von einem Mangel an Verstehen betroffen sein soll. Denn der Mangel liegt hier ja schon aufseiten der Sprecherin vor, die das isolierte Wissen weitergibt. Das Merkmal des Begreifens ist zu unspezifisch, um einen Mangel an Verstehen, der bei isoliertem Wissen aus zweiter Hand vorliegt, erklären zu können. Daher sind Ansätze von Verstehen, die diesen Begriff durch eine spezifischere Erklärung ersetzen können, im Vorteil. Genau diese Anforderung können reduktionistische Ansätze von Verstehen gut erfüllen. Hiervon geht auf jeden Fall Khalifa aus: […] talk of grasping can always be replaced by a more specific epistemic status (e.g., approximately true beliefs, non-scientific knowledge, scientific knowledge). In other words, we can always swap out the placeholder – the buzzword „grasping“ – with something more pedestrian and informative.231

Der Begriff des Begreifens kann im Rahmen reduktionistischer Ansätze auf den Besitz einer Erklärung für ein Phänomen oder einer Aussage reduziert werden und Verstehen kann daher auf den Besitz zusätzlichen Wissens bezüglich der betreffenden Aussage reduziert werden. Der in der Wissenschaftsphilosophie vorherrschende, reduktionistischen Ansatz kann folgendermaßen definiert werden: Die reduktionistische Sichtweise von Verstehen in der Wissenschaftsphilosophie: S versteht, dass p genau dann, wenn es eine Aussage q gibt, für die gilt, dass q erklärt, warum p der Fall ist.232

Wenn Verstehen auf den Besitz von zusätzlichem Wissen bezüglich p reduzierbar ist, dann lässt sich ein Mangel an Verstehen durch die Abwesenheit von domänenspezifischem Wissen erklären. Im Rahmen des reduktionistischen Ansatzes würde sich daher nicht die Frage stellen, ob Wissen aus zweiter Hand zusätzlich von einem Mangel an Verstehen betroffen sein könnte. Vielmehr entsteht der Mangel an Verstehen durch den Mangel an domänenspezifischer Evidenz, der bei isoliertem Wissen aus zweiter Hand vorliegt.233 231 Khalifa 2017, 14. 232 „The received view: S understands why p if and only if there exists some q such that S knows that q explains why p.“ Khalifa 2017, 18. 233 Natürlich gibt es trotzdem viele Situationen, in denen isoliertes Wissen aus zweiter Hand für den Empfänger vollkommen ausreichend ist, weshalb keine Konversationsnormen verletzt werden. Und zwar ist dies dann der Fall, wenn mit dem Erwerb des Wissens,

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Kapitel 4

Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Besitz zusätzlicher domänenspezifischer Evidenz automatisch zu mehr Verstehen führt. Die domänenspezifische Evidenz muss zusätzlich als Grund bzw. Basis für weiteres Wissen in der Domäne fungieren, um Verstehen zu ermöglichen. Der Besitz von domänenspezifischer Evidenz (aus erster oder aus zweiter Hand) bezüglich einer Aussage kann daher als notwendige, aber nicht allein hinreichende Bedingung für Verstehen betrachtet werden. Zusammenfassung: Die Verwendung eines reduktionistischen Begriffs von Verstehen hat im Rahmen dieser Arbeit folgende Vorteile: Obwohl in der Epistemologie gleichermaßen reduktionistische wie nicht-reduktionistische Ansätze von Verstehen koexistieren234, wird in der Wissenschaftsphilosophie gemeinhin angenommen, dass sich Verstehen auf propositionales Wissen reduzieren lässt.235 Für den reduktionistischen Ansatz spricht in diesem Falle die bessere Übersetzbarkeit. Da in der Philosophie die meisten Vertreterinnen nicht-reduktionistischer Ansätze davon ausgehen, dass sich Verstehen trotzdem grundsätzlich in propositionaler Form formulieren lässt,236 ist ein reduktionistischer Begriff von Verstehen mit mehr philosophischen Positionen vereinbar als ein nicht-reduktionistischer Begriff von Verstehen. Zwar können sowohl reduktionistische als auch nicht-reduktionistische Ansätze erklären, weshalb isoliertes Wissen aus zweiter Hand von einem Mangel an Verstehen betroffen sein soll. Nicht-reduktionistische Ansätze propagieren aber entweder zu anspruchsvolle Begriffe von Verstehen oder sie greifen auf den Begriff des „Grasping“ zurück, der nicht hinreichend klar ist. Ein reduktionistischer Ansatz kann einen Mangel von Verstehen, der bei der Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand schon aufseiten der Sprecherin vorliegt, durch die Abwesenheit von domänenspezifischem Wissen erklären. Hierdurch kann die Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter dass p der Fall ist, das Ziel der Nachfrage erreicht ist, weil kein zusätzliches Verstehen benötigt wird. Diese Bewertung sollte jedoch unabhängig davon stattfinden, inwiefern bei dem Besitzer von isoliertem Wissen aus zweiter Hand Verstehen vorliegt. Hier stimmen die Bewertungen von Vertretern verschiedener Ansätze zum Begriff des isolierten Wissens aus zweiter Hand und zum Begriff des Verstehens überein: siehe zum Beispiel Zagzebski 2009, 146–147; Carter und Gordon 2011, 631–632; Pritchard 2016, 34; Carter 2017, 1472; Sosa 2019, 117. 234 Vgl. z.B. Sullivan 2018, 224. 235 Vgl. z.B. Pritchard, Millar und Haddock 2010, 74; Rohwer 2014, 958. 236 Vgl. Boyd 2017, 111–112; Pritchard 2014, 327, 2016, 33; Sullivan 2018, 226. Auch die sechs Fähigkeiten, die Verstehen laut Hills voraussetzt, lassen es zu, den Inhalt des Verstehens in propositionaler Form zu formulieren. Vgl. Hills 2016, 664 und ##S. 233 in dieser Arbeit.

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Hand durch dieselbe Ursache erklärt werden, die auch die Abwesenheit von Verstehen erklärt. Die Verwendung eines reduktionistischen Begriffs von Verstehen würde daher Carnaps Forderung nach Einfachheit besser erfüllen als ein nicht-reduktionistischer Begriff.237 Ein reduktionistischer Begriff von Verstehen ermöglicht es außerdem, zu modellieren, dass Wissen aus zweiter Hand mit mehr oder weniger Verstehen einhergehen kann. Dies ist von Vorteil, da eines der wenigen Merkmale, auf das sich die meisten Philosophinnen einigen können, die komparative Natur von Verstehen ist.238 Ich werde im nun folgenden Kapitel zeigen, inwiefern die Vollständigkeit des Verstehens, das eine Person von einem Sachverhalt besitzt, von der Menge an domänenspezifischer Evidenz abhängt, die dieser Person zur Verfügung steht. Der Zusammenhang von domänenspezifischer Evidenz und Verstehen Vertreterinnen nicht-reduktionistischer Ansätze von Verstehen gehen zwar von einem graduellen Begriff von Verstehen aus, sie besitzen jedoch keine ausgearbeiteten Vorschläge, was diese Graduierbarkeit konstituiert. Sosa beschreibt den Übergang von bloßem Wissen aus zweiter Hand zu mit Verstehen einhergehendem Wissen aus erster Hand folgendermaßen: „Fortunately, this deferential knowledge eventually graduates to something more general and ingrained. But it rarely if ever does so in a way that can be manifest in a sentence of English, except trivially, […].“ Grimm und Pritchard versuchen, mittels Fallbeispielen zu klären, was genau nötig ist, um minimales Verstehen zu besitzen. Grimm verwendet hierzu das Beispiel des Verstehens der Vorgänge beim Zwiebelschneiden.239 Mithilfe ihrer Gedankenexperimenten können sie jedoch selbst bezüglich der Frage, welche Voraussetzungen für minimales Verstehen erfüllt sein müssen, keine stabilen Intuitionen herstellen. Grimm stellt fest, dass die Frage, ob das Wissen der Ursache für Verstehen ausreichend ist, von der Frage abhängt, wie der Ausdruck vom „Wissen der Ursache“ konzipiert wird.240 Da Vertreter nichtreduktionistischer Theorien nicht einfach auf die Menge an zusätzlichem Wissen bezüglich der Ursache zurückgreifen können, um den Unterschied 4.6.2

237 238 239 240

Vgl. Carnap und Stegmüller 1959, 15. Vgl. z.B.Jäger 2016, 179. Vgl. bezüglich dieser Debatte: Grimm 2014, 337; Pritchard 2014, 323. „[…] whether or not we take […] [someone] to understand will depend a great deal on which of these ways of we have in mind“. Grimm 2014, 336.

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Kapitel 4

zwischen mehr und weniger Verstehen zu erklären, fehlt ihnen eine Möglichkeit, diesen Unterschied präzise zu erfassen. Im Rahmen reduktionistischer Sichtweisen gibt es bereits ausgearbeitete Theorien, die den Unterschied zwischen mehr oder weniger Verstehen in direkter Abhängigkeit von der Menge an zur Verfügung stehenden domänenspezifischen Evidenz bezüglich einer Aussage erklären können; daher sollten diese Ansätze bevorzugt werden, solange sie keine anderweitigen Nachteile aufweisen. Ich möchte nun zwei dieser Theorien genauer betrachten. Sowohl Kelp241, als auch Khalifa242 legen Konzeptionen von Verstehen vor, die dessen Graduierbarkeit in den Mittelpunkt stellen, was Kelp als Fortschritt betrachtet243: Early accounts of understanding have tended to focus mainly on outright understanding. That is to say, they have ventured to give an account of the state one is in when a statement of the form ‚A understands P‘ is true of one. In contrast, both Wilkenfeld and especially Khalifa are acutely aware that understanding comes in degrees and venture to give an account of what it takes for an agent to have a certain degree of understanding. I think this is an important improvement.244

Beide Autoren gehen davon aus, dass der Grand an Verstehen, den eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer Aussage oder einem Phänomen besitzt, abhängig ist von der Menge an Wissen, das zur Erklärung dieser Aussage oder dieses Phänomens herangezogen werden kann und der Frage, wie gut dieses Wissen vernetzt ist.245 Diese Beschreibung lässt sich problemlos in die Begriffe übersetzen, die im Rahmen dieser Arbeit zur Unterscheidung zwischen Wissen aus erster und zweiter Hand verwendet werden: Die Frage, ob eine Aussage Wissen aus erster Hand darstellt, hängt von der Menge an domänenspezifischer Evidenz ab, die eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt bezüglich dieser Aussage besitzt und der Güte der Vernetzung dieser Evidenz. Die Güte der Vernetzung der domänenspezifischen Evidenz bestimmt, inwiefern eine Person in der Lage ist, ihre Evidenz als Basis der Erklärung verschiedener Phänomene zu verwenden. Kelp zeigt, dass es möglich ist, anhand dieser beiden Merkmale eine Definition für maximales Verstehen zu erarbeiten: 241 Vgl. Kelp 2015. 242 Vgl. Khalifa 2017. 243 Auch Carnap betrachtet den Übergang von einem klassifikatorischen zu einem komparativen Begriff als Fortschritt. Vgl. Carnap und Stegmüller 1959, 15–16. 244 Kelp 2015, 3809. 245 Vgl. Kelp 2015; Khalifa 2017.

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Maximales Verstehen (nach Kelp): Wenn eine Person ein vollständig umfassendes und maximal gut vernetztes Wissen über ein Phänomen p besitzt, dann besitzt diese Person maximales Verstehen von p.246

Hiervon ausgehend ist es dann möglich, verschiedene Grade von Verstehen als Funktion der Distanz, die zwischen diesem Verstehen und maximalem Verstehen von p besteht, zu definieren: Je näher eine Person an vollständig umfassendes und maximal gut vernetztes Wissen von p herankommt, desto höher ist ihr Grad an Verstehen von p.247 Bei Annahme eines reduktionistischen Begriffs von Verstehen, kann daher erklärt werden, weshalb ein Mangel an domänenspezifischer Evidenz248, wie er bei isoliertem Wissen aus zweiter Hand vorliegt, zu einem Mangel an Verstehen führt. Diese Diagnose trifft nur für isoliertes Wissen aus zweiter Hand zu und schließt somit nicht aus, dass Verstehen auch mithilfe von Wissen aus zweiter Hand hergestellt werden kann, wenn dieses in nicht isolierter Form vorliegt. Bei einem fairen Vergleich zweier Aussagen, die unter sonst gleichen Bedingungen einmal aus erster und einmal aus zweiter Hand gewusst werden, kann aber davon ausgegangen werden, dass der Besitz von Wissen aus erster Hand auch den Besitz von mehr domänenspezifischer Evidenz bezüglich dieser Aussage voraussetzt.249 Es gibt jedoch Aussagen, bei denen es nicht auf den ersten Blick ersichtlich scheint, dass mehr domänenspezifische Evidenz mit mehr Verstehen einhergeht. So scheint die einfache wahrnehmungsabhängige Aussage: „Es ist schwierig, aus dem zweiten Fenster von links im ersten Stock der Universitätsbibliothek zu schauen, weil ein Baum die Sicht versperrt.“ zunächst nicht mit mehr Verstehen einherzugehen, wenn sie aus erster Hand gewusst wird. Das Wissen dieser Aussage aus erster Hand führt bestenfalls dazu, dass detaillierter 246 „Maximal Understanding (Max-U): If one has fully comprehensive and maximally wellconnected knowledge about a phenomenon P, then one has maximal understanding of P.“ Kelp 2015, 3811. 247 „Degrees of understanding (Deg-U): Degree of understanding of P is a function of distance from fully comprehensive and maximally well-connected knowledge of P: the closer one approximates fully comprehensive and maximally well-connected knowledge of P, the higher one’s degree of understanding of P.“ Kelp 2015, 3812. 248 Der Begriff der domänenspezifischen Evidenz garantiert hierbei, dass die Evidenz auch wirklich als Basis des Wissens genutzt wird. Denn die domänenspezifische Evidenz ist diejenige Evidenz, die eine bestimmte Aussage für ein Subjekt zu einer exoterischen Aussage macht, dies ist nur möglich, wenn das Wissen des Subjektes auch wirklich auf dieser Evidenz basiert. 249 Vergleiche hierzu Kap. 4.3.2.

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beschrieben werden kann, um was für einen Baum es sich handelt und welche Bereiche von welchem Winkel aus verdeckt werden250. Die Annahme, dass Wissen aus erster Hand in diesem Falle mit mehr Verständnis einhergeht, bedarf der zusätzlichen Prämisse, dass ein größerer Detailreichtum auch mit einem stärkeren, weil determinierteren Verständnis einhergeht. Diese Annahme kann im Rahmen eines komparativen, reduktionistischen Begriffs von Verstehen erklärt werden; dies zeigt die Arbeit von Khalifa. Er liefert ein ausgearbeitetes Konzept, das es erlaubt, ausgehend von einem Minimalbegriff von Verstehen und in Abhängigkeit von der Menge der domänenspezifischen Evidenz, die als Basis des Verstehens fungieren kann, verschiedene Grade an Verstehen zu unterscheiden: Minimales Verstehen: S besitzt minimales Verstehen davon, warum p der Fall ist, genau dann, wenn es ein q gibt, für das gilt, dass S glaubt, dass q erklärt, warum p der Fall ist und q ist annähernd wahr.251

Ausgehend von dieser Minimalvorstellung ist es möglich, einen komparativen Begriff von Verstehen zu definieren: Komparatives Verstehen: S1 versteht besser als S2, warum p der Fall ist, genau dann, wenn: A) Unter sonst gleichen Bedingungen, begreift S1 den explanatorischen Nexus von p vollständiger als S2; oder B) Unter sonst gleichen Bedingungen hat die Auffassung von S1 des explanatorischen Nexus von p mehr Ähnlichkeit zu wissenschaftlichem Wissen als die Auffassung von S2.252

Dieser komparative Begriff kann anschließende dazu dienen ideales Verstehen, als den Zustand einer Person zu definieren, in dem es nicht möglich ist, dass irgendjemand besser versteht, warum p der Fall ist.253 Zwar verwendet Khalifa ebenso den Begriff des „Grasping“ wie verschiedene Vertreterinnen 250 Hier wird keine Vollständigkeit vorausgesetzt. Der Besitzer von Wissen aus erster Hand kann möglicherweise nur grob abschätzen, ob es sich eher um einen Laub- oder Nadelbaum handelt. 251 „Minimal understanding: S has minimal understanding of why p if and only if, for some q, S believes that q explains why p, and q explains why p is approximately true.“ Khalifa 2017, 14. 252 „Better understanding: S1 understands why p better than S2 if and only if: (A) Ceteris paribus, S1 grasps p’s explanatory nexus more completely than S2; or (B) Ceteris paribus, S1’s grasp of p’s explanatory nexus bears greater resemblance to scientific knowledge than S2’s.“ Khalifa 2017, 14. 253 „Ideal Understanding: S ideally understands why p if and only if it is impossible for anyone to understand why p better than S.“ Khalifa 2017, 4.

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nicht-reduktionistischer Theorien, er erklärt diesen jedoch präzise über die Menge an verfügbarem Wissen: Vollständigkeit des Begreifens: Die Vollständigkeit des Begreifens einer Person verhält sich proportional zu: der Anzahl korrekter Erklärungen und sich gegenseitig erklärenden Beziehungen, die begriffen werden; der Qualität/Wichtigkeit der Erklärungen und Beziehungen, die begriffen werden; dem Grad an Detailliertheit der Erklärungen und Beziehungen, die begriffen werden.254

Ausgehend von den Begriffen des minimalen und des idealen Verstehens kann ein Begriff von ausreichendem Verstehen definiert werden, der kontextabhängig ist und der im jeweiligen Kontext oft einfach als Verstehen ohne weitere Qualifikation gekennzeichnet wird: Ausreichendes Verstehen: „S versteht, warum P der Fall ist“, ist wahr in Kontext C, genau dann, wenn S minimales Verstehen von p besitzt und dem idealen Verstehen von p so nahekommt, wie es in C erforderlich ist.255

Mithilfe dieser Begrifflichkeiten ist es möglich, die unterschiedlichen Intuitionen bezüglich der Unangemessenheitsintuition im Falle der Weitergabe von Wissen aus zweiter Hand zu erklären. Ich werde im Folgenden zeigen, dass in allen Fällen ein Mangel an Verstehen diagnostiziert werden kann. In den Fällen, in denen es zunächst so scheint, als werde die Unangemessenheitsintuition nicht durch einen Mangel an Verstehen ausgelöst, wird dieser Eindruck dadurch hervorgerufen, dass in der Tat minimales Verstehen vorliegt, jedoch kein für diesen Kontext ausreichendes Verstehen. So argumentiert Lackey im Falle der Onkologin 1, dass Matilda ja sicherlich über ein gewisses Maß an Verstehen bezüglich Dereks Krebserkrankung verfüge, da sie als Expertin generelles Wissen über die Entstehung von Krebs besitzt und dieses einfach mit der Diagnose, die sie von ihrer Kollegin erhalten hat, in Beziehung setzten kann. Es sei daher nicht klar, dass im Falle von isoliertem Wissen aus zweiter Hand Verstehen fehle.256 Carter und Gordon argu254 „Completeness of Grasp“. Khalifa 2017, 10. Meine Übersetzung. 255 Khalifa 2017, 5. Meine Übersetzung. Kelp definiert einen ähnlichen, kontextabhängigen Begriff von ausreichendem Verstehen: „Outright Understanding (Out- U): is true in context c if and only if S approximates fully comprehensive and maximally well-connected knowledge of P closely enough to be such that S would (be sufficiently likely to) successfully perform any task concerning P determined by c, if, in addition, S were to have the skills needed to do so and to exercise them in suitably favourable conditions.“ Kelp 2015, 3813. 256 Vgl. Lackey 2013, 41.

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Kapitel 4

mentieren hingegen, dass im Falle der Onkologin nur eine bestimmte Art von Verstehen fehlen würde, nämlich Verstehen-Warum (Genauer: Verstehen, warum Dereks Diagnose genauso gestellt wurde).257 Ausgehend von einem graduellen Ansatz von Verstehen, wie ihn Kelp und Khalifa skizzieren, kann Matilda im Fall Onkologin 1 minimales Verstehen von Dereks Diagnose zugeschrieben werden, das jedoch im gegebenen Kontext nicht ausreicht, um Dereks Ansprüche an Matilda im Rahmen der Konversation zu erfüllen. Matildas domänenspezifische Evidenz ist also zu gering, um ihr in diesem Falle ausreichendes Verstehen zuzuschreiben, was die epistemische Mangelhaftigkeit ihrer Aussage erklärt. Dieser Mangel kann durch den zusätzlichen Erwerb von domänenspezifischer Evidenz, der zu einem größeren Grad an Verstehen führen würde, ausgeglichen werden. Im Fall Onkologin 1 könnte Matilda diese zusätzliche domänenspezifische Evidenz ebenfalls aus zweiter Hand von ihrer Kollegin erwerben. Sie besäße dann zwar immer noch kein maximales bzw. ideales Verstehen, aber ein für den Kontext ausreichendes Verstehen. Diese Ansprüche können sich je nach Konversationskontext ändern. Dies kann Lackeys Beobachtung erklären, dass die unqualifizierte Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand auch in hochrisikoreichen Kontexten unangemessen scheint.258 Ebenso kann die Feststellung von Carter, Gordon und Green erklärt werden, dass Verstehen nur bei einer bestimmten Klasse von Fällen die Konversationsnorm zur zulässigen Weitergabe von Wissen beeinflusst und demgegenüber viele Fälle stehen, in denen isoliertes Wissen aus zweiter Hand weitergegeben wird, ohne dass es zu dem von Lackey beschriebenen Eindruck der Defizienz kommt.259 Zusammenfassung: Bei Verwendung eines reduktionistischen Begriffs von Verstehen beschränkt die Menge an domänenspezifischer Evidenz, die einer Wissensbesitzerin bezüglich einer Aussage zur Verfügung steht, den Grad an Verstehen, den diese maximal besitzen kann. Je weniger domänenspezifische Evidenz zur Verfügung steht, desto geringer ist das Verstehen. Ob der Grad an Verstehen, den eine Person bezüglich einer Aussage besitzt, ausreicht, um sie zur Weitergabe ihres Wissens zu berechtigen, ist abhängig vom Kontext. Die Entstehung der Unangemessenheitsintuition im Falle der Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand kann daher durch das Fehlen einer dem

257 Vgl. Carter und Gordon 2011, 629. 258 Vgl. Lackey 2011, 259–260. 259 Vgl. Carter und Gordon 2011, 631–632; Green 2014, 217–218.

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand

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Kontext angemessenen Menge an Verstehen erklärt werden, ausgelöst durch einen Mangel an domänenspezifischer Evidenz. Verstehen in Fällen, in denen die Meinung einer spezifischen Expertin gefordert ist Unter Verwendung eines reduktionistischen Begriffs von Verstehen kann davon ausgegangen werden, dass es grundsätzlich kein Problem ist, über Wissen aus zweiter Hand auch Verstehen zu erwerben. Lackey argumentiert jedoch, dass es auch Fälle der Weitergabe von Wissen aus zweiter Hand gibt, bei denen die Sprecherin zwar ausreichend domänenspezifische Evidenz besitzt, um die Aussage, die sie weitergibt, erklären zu können, bei denen der Gesprächskontext jedoch die Weitergabe von Wissen aus erster Hand erfordert.260 In diesen Fällen, in denen die Meinung einer spezifischen Expertin gefordert ist, ist die Weitergabe von Wissen aus zweiter Hand generell unzulässig, selbst wenn die Wissensbesitzerin zusätzliche domänenspezifische Evidenz besitzt. Es stellt sich daher die Frage, ob diese Einschätzung ebenfalls durch einen Mangel an Verstehen begründet werden kann. Hier zeigt sich die Anschlussfähigkeit der entwickelten Begrifflichkeiten: Mithilfe eines graduellen Begriffs von Verstehen und dem Konzept eines kontextabhängigen Begriffs von ausreichendem Verstehen ist es möglich, zu erklären, weshalb die Unangemessenheitsintuition in einigen Fällen schon bei einem Mangel an Wissen aus erster Hand ausgelöst wird und sich dieser Mangel in den Fällen in denen die Meinung einer spezifischen Expertin erwartet wird, nicht durch den Besitz zusätzlicher domänenspezifischer Evidenz beheben lässt. Da die Vollständigkeit des Begreifens mit dem Grad der Detailliertheit der Erklärung steigt, kann die Unangemessenheitsintuition dadurch erklärt werden, dass der Mangel an Wissen aus erster Hand über eine geringere Detailliertheit, bzw. Determiniertheit der Erklärung zu einem geringeren Verständnis führt. Dieses Verständnis würde normalerweise zwar genügen, ist in Situationen, in denen die Meinung einer spezifischen Expertin gefordert wird, jedoch zu gering, um in diesem Kontext als ausreichend zu gelten. Ein Vergleich zwischen den Fällen Onkologin 1 und 2 kann die Problematik illustrieren. In Fall Onkologin 1 ist es für Matilda möglich, die epistemische Mangelhaftigkeit ihrer Aussage durch den zusätzlichen Erwerb domänenspezifischer Evidenz aus zweiter Hand auszugleichen.261 Sie erfüllt 4.6.3

260 Vgl. Lackey 2013, 41–42. 261 Vgl. Lackey 2011, 256.

252

Kapitel 4

also die Forderung von Carter und Gordon262; das heißt sie besitzt genügend Verstehen, um zu erklären, warum Dereks Diagnose so gestellt wurde, wie sie gestellt wurde. Lackey stellt jedoch fest, dass Eliza im Fall Onkologin 2 diese Möglichkeit nicht offenzustehen scheint. In diesem Kontext, der die Aussage einer spezifischen Expertin erfordert, reicht es nicht aus, wenn Eliza zusätzliche domänenspezifische Evidenz aus zweiter Hand besitzt.263 Da auch Elizas integriertes Wissen aus zweiter Hand nicht genügt, um es in einem Kontext, in dem das Urteil einer spezifischen Expertin gefordert ist, weiterzugeben, nimmt Lackey an, dass hier die Unangemessenheit im Falle der Weitergabe nicht auf einem Mangel an Verstehen beruhen könne. Eine solche fehlerhafte Schlussfolgerung geht von einer absoluten Unterscheidung von Verstehen und Nicht-Verstehen aus. Bei Annahme eines komparativen Begriffs von Verstehen wäre es möglich, dass Eliza, zwar viel, aber immer noch nicht ausreichend Verstehen besitzt, um in diesem besonders anspruchsvollen Kontext zur Weitergabe ihres Wissens berechtigt zu sein. Dies liegt daran, dass Wissen aus zweiter Hand selbst dann, wenn es um das Wissen zusätzlicher domänenspezifischer Evidenz ergänzt wurde, im Vergleich zu Wissen aus erster Hand immer noch weniger determiniert und detailreich ist. Im Falle Onkologin 2 kann zwar davon ausgegangen werden, dass Eliza, wenn sie erklären kann, warum bei Derek Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert wurde, ausreichend Verstehen zugeschrieben werden kann, um die Ansprüche, die an die Sprecherin im Kontext einer beliebigen Expertin gestellt werden, zu erfüllen. Es ist aber anzunehmen, dass ihr Verstehen noch detaillierter wäre, würde sie die domänenspezifische Evidenz aus erster Hand besitzen. So würde Eliza, wenn ihr ausreichendes Verstehen der Erklärung von Dereks Krebsdiagnose zugeschrieben werden soll, zum Beispiel angeben können, wo sich der diagnostizierte Tumor ungefähr befindet und wie groß er im Ultraschall oder CT erscheint. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass Elizas Kollegin Anna, die diese domänenspezifische Evidenz aus erster Hand besitzt, noch besser dazu fähig ist, die exakte Lage und Form des Tumors zu beschreiben. Da Matilda und Anna ansonsten gleich kompetent sind, wäre dieser zusätzliche Detailreichtum der einzige Unterschied. In diesem Falle ist Matildas Verstehen daher bei einer graduellen Sichtweise nicht so gut wie das ihrer Kollegin. Sie hat auch kein ideales bzw. maximales Verstehen nach Khalifa oder Kelp. Da Lucas im Beispiel Eliza als Ärztin genau deshalb ausgewählt hat, weil er nach intensiver Recherche herausgefunden hat, dass sie eine der erfolgreichsten

262 Vgl. Carter und Gordon 2011, 629. 263 Vgl. Lackey 2013, 42.

Isoliertes Wissen aus zweiter Hand

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Onkologinnen in den Vereinigten Staaten ist, kann davon ausgegangen werden, dass er eine Ärztin suchte, die ein solches ideales Verstehen besitzt. Diese Bewertung setzt allerding eine weitere Annahme voraus, die Khalifa als Bedingung für die Vollständigkeit des Begreifens formuliert: dass der Detailreichtum und die Determiniertheit einer Erklärung zu mehr Verstehen führen.264 Diese Annahme ist intuitiv nicht sofort ersichtlich, wie Ylikoski und Kuorikoski zeigen. Sie identifizieren Präzision als eine von fünf Dimensionen, die die Güte einer Erklärung bestimmen265 und beschreiben Präzision als Eigenschaft des Explanandums: „Precision, is an attribute of the explanandum. The question is how precisely the explanation characterizes the explanandum phenomenon. The more detailed the account given of the explanandum, the better the explanation.“266 Sie weisen aber darauf hin, dass es bei der Bestimmung der Güte der Erklärung zu einem Zielkonflikt zwischen der Präzision des Explanandums und der ebenfalls gewünschten Störunanfälligkeit der Erklärung kommen kann, da diese unter Umständen unter einer größeren Präzision leiden kann. In diesen Fällen sei die Entscheidung, wie detailliert die Erklärung sein sollte, kontextabhängig, auch hier sei es jedoch grundsätzlich immer von Vorteil, über mehr Informationen zu verfügen, die bei Bedarf eine feinkörnigere Bestimmung zulassen würden.267 Ein größeres Detailreichtum führt daher nur dann zu mehr Verstehen, wenn Erklärungen verglichen werden, die ansonsten gleich gut sind. Dies kann erklären, warum wir im Alltag nicht immer den Eindruck haben, dass das zusätzliche Hinzufügen von Details zu einer Erklärung zu mehr Verstehen führen würde. Unter sonst gleichen Umständen führen ein größerer Detailreichtum und eine größere Präzision der Erklärung aber zu mehr Verstehen. Ein Begriff von maximalem Verstehen schließt daher einen möglichst großen Detailreichtum der Erklärung mit ein. Lackeys Diagnose, dass selbst integriertes Wissen aus zweiter Hand in Kontexten, die eine spezifische Expertin erfordern, immer noch defizitär ist, kann also dadurch erklärt werden, dass hier der Anspruch gestellt wird, dass die Expertin maximales Verstehen besitzt oder ihr Verstehen möglichst nahe an maximales Verstehen herankommt. In diesen Kontexten würde dann Wissen aus zweiter Hand per se nicht ausreichen.

264 Vgl. Khalifa 2017, 10. 265 Vgl. Ylikoski und Kuorikoski 2010, 201. 266 Ylikoski und Kuorikoski 2010, 210. 267 Vgl. Ylikoski und Kuorikoski 2010, 211.

254

Kapitel 4

Zusammenfassung: Wissen aus zweiter Hand ermöglicht im Vergleich zu Wissen aus erster Hand, unter sonst gleichen Umständen einen geringeren Grad an Verstehen. Dieser Unterschied resultiert bei isoliertem Wissen aus zweiter Hand aus der Abwesenheit von domänenspezifischer Evidenz. Bei integriertem Wissen aus zweiter Hand entsteht ein geringerer Grad an Verstehen dadurch, dass die domänenspezifische Evidenz nicht vollständig und/oder nicht aus erster Hand besessen wird und das Verstehen dadurch weniger detailreich und determiniert ist. Dieser geringere Grad an Verstehen ist aus epistemischer Sicht ein Mangel. Ob dieser Mangel jedoch aus epistemischer und aus praktischer Sicht relevant ist, wird durch den Kontext bestimmt. Wie stark eine Aussage, die nur aus zweiter Hand gewusst wird, bezüglich des Grads an Verstehen – im Vergleich zum Wissen derselben Aussage aus erster Hand – reduziert ist, kann nur in Abhängigkeit von der Menge an domänenspezifischer Evidenz, die zur Verfügung steht und der Güte der Integration dieser Evidenz bestimmt werden. Daher wird ein epistemischer Mangel oft so gering ausfallen kann, dass er praktisch nicht ins Gewicht fällt und nur deutlich wird, wenn das Wissen in besonders anspruchsvollen Kontexten weitergegeben wird.

Kapitel 5

Sonderfälle von Wissen aus zweiter Hand Im folgenden Kapitel möchte ich einige Sonderfälle von Wissen aus zweiter Hand betrachten und zeigen, dass sich die Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand auch auf Wissen aus Falschaussagen und Wissen aus Erinnerungen anwenden lässt. Der in dieser Arbeit skizzierte Begriff des Wissens aus zweiter Hand erweist sich hier insofern als fruchtbar, als er auch im Rahmen dieser Sonderfälle zu einer sinnvollen Klassifizierung des Wissensstatus der betreffenden Aussagen beitragen kann. Auf methodischer Ebene erfolgt durch die Anwendung auf unmittelbar angrenzende Begriffe eine Kontrolle der Adäquatheit des Explikats. Durch die Nutzung des Begriffs im Rahmen von Erinnerungen erfolgt eine zweckmäßige Erweiterung und Präzisierung. 5.1

Wissen aus zweiter Hand aus Falschaussagen

Wissen aus Falschaussagen wird von verschiedenen Autorinnen nicht als testimoniales Wissen im eigentlichen Sinne betrachtet. Es stellt auch kein Wissen aus zweiter Hand im engen Sinne dar, da das Wissen in diesen Fällen entweder nicht bei der Sprecherin vorlag oder im Falle von Wissen aus konsistenten Lügen, nicht in Form einer wahren Aussage weitergegeben wurde. Es gibt jedoch viele Fälle, in denen der Empfänger trotzdem Wissen erwerben kann. Der in dieser Arbeit skizzierte Begriff von Wissen aus zweiter Hand kann diese Fälle zuverlässig klassifizieren. Es sollten zunächst grundsätzlich verschiedene Fälle von Wissen auf Basis von Falschaussagen unterschieden werden: Wissen aus Äußerungen, die nur teilweise oder näherungsweise wahr sind. Wissen ohne Kenntnis darüber, was gesagt wurde. Wissen aus Lügen. In Kapitel 5.1.1 werde ich die Möglichkeit erörtern, Wissen aus Äußerungen, die nur teilweise wahr sind, zu erwerben. Dies setzt voraus, dass der Hörer in der Lage ist, nur einen Teil der Aussage zu akzeptieren. Er besitzt dann in der Regel zusätzliches Hintergrundwissen, dieses reicht jedoch nicht aus, um die Aussage

© brill mentis, 2024 | doi:10.30965/9783969753088_006

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Kapitel 5

selbstständig zu rechtfertigen; er hängt daher trotzdem in entscheidendem Maße von der domänenunabhängigen Evidenz durch die Sprecherin ab. Der Erwerb von Wissen aus Aussagen, die näherungsweise wahr sind, stellt einen Sonderfall der Möglichkeit dar, Wissen aus Schlüssen über falsche Prämissen zu erwerben. In beiden Fällen liegt kein Wissen bei der Sprecherin vor. Es ist außerdem auch möglich, Wissen zu erwerben, ohne genaue Kenntnis dessen, was gesagt wurde. Ich werde in Kapitel 5.1.2 solche Fälle diskutieren, in denen die von der Sprecherin intendierte Bedeutung des Gesagten nicht mit der Interpretation des Hörers übereinstimmt. Die Nichtübereinstimmung von Sprecherinnen- und Hörerbedeutung kann durch die Kontextsensitivität der Sprache oder durch Fehlannahmen aufseiten der Sprecherin hervorgerufen werden. Solange die Weitergabe von Informationen trotzdem verlässlich erfolgt, sollten auch diese Beispiele als Weitergabe von Wissen aus zweiter Hand klassifiziert werden. Fälle des Erwerbs von Wissen aus invers konsistenten Lügen zeigen, dass es für den Hörer nicht unbedingt notwendig ist, dass die Sprecherin die Absicht hat, die Wahrheit zu sagen und ihr Wissen weiterzugeben, um Wissen aus zweiter Hand zu erwerben. Wenn die Sprecherin so konsistent lügt, dass jeweils die Kontradiktion ihrer Aussage wahr ist, ist es für den Hörer trotzdem möglich, Wissen zu erwerben. Ich werde diese Fälle in Kapitel 5.1.3 diskutieren. Wissen aus zweiter Hand aus Äußerungen, die nur teilweise oder näherungsweise wahr sind Der Erwerb von Wissen aus Aussagen, die nur teilweise wahr sind, erfordert immer den Besitz zusätzlichen Hintergrundwissens aufseiten des Hörers. Solange dieses nicht ausreicht, um die betreffende Aussage selbstständig zu rechtfertigen, ist der Hörer auf domänenunabhängige Evidenz angewiesen, die er von der Sprecherin erhält. Diese besitzt selbst kein Wissen, wenn ihre Überzeugung nur teilweise wahr ist. Der Teil ihrer Äußerung, der wahr ist, kann jedoch trotzdem als Evidenz genutzt werden, solange diese auf zuverlässige Art und Weise gebildet wurde. Goldberg konstruiert ein Gedankenexperiment, das einen solchen Fall illustriert: 5.1.1

Pinkes T-Shirt: Martha, eine sehr verlässliche Freundin von George, erzählt diesem, dass sie auf der Party, der sie letzte Nacht beiwohnte, Jones gesehen habe, der ein pinkes T-Shirt trug. George weiß jedoch, dass Jones die Party nicht besuchte, da er sich im letzten Moment entschied, den Abend mit ihm zuhause zu verbringen. Er weiß außerdem, dass es in der Stadt mehrere Männer gibt, die Jones ähnlichsehen und öfter mit ihm verwechselt werden. Es gibt darüber hinaus keine Hinweise, die auf eine Unehrlichkeit oder eine eingeschränkte Farbwahrnehmung Marthas hindeuten. George akzeptiert Marthas Aussage daher insoweit, als sie die Information

Sonderfälle von Wissen aus zweiter Hand

257

transportiert, dass irgendjemand, der Jones ähnlichsah, auf der Party ein pinkes T-Shirt trug.1

Goldberg geht davon aus, dass George in diesem Falle testimoniales Wissen von Martha erwirbt.2 Er erwirbt aber kein Wissen aus zweiter Hand im engen Sinne, da Martha das betreffende Wissen nicht besitzt. Im Rahmen der Ansätze, die fordern, dass testimoniales Wissen immer Wissen aus zweiter Hand im engen Sinne sein muss, kann daher kein testimoniales Wissen zugeschrieben werden3. Um dies zu zeigen, kann davon ausgegangen werden, dass Martha wirklich nur die Überzeugung, dass Jones ein pinkes T-Shirt trug, gebildet hat. Selbst wenn sie das Wissen, dass irgendjemand auf der Party ein pinkes T-Shirt trug, in dispositionaler Form besaß, war dieses Wissen nicht Grundlage ihrer Äußerung, weshalb es auch nicht die Grundlage von Georges Wissen aus zweiter Hand im engen Sinne sein kann. Goldbergs Bedingungen für den Erwerb testimonialen Wissen erfordern jedoch nur, dass die betreffende Überzeugung durch eine testimoniale Aussage erworben wurde, die denselben Inhalt wie den der Überzeugung des Hörers als wahr präsentiert und deren epistemischer Status den Status der Überzeugung des Hörers als gerechtfertigt begründet.4 Falls es reicht, dass diese Bedingungen nur von einem Teil der Aussage erfüllt werden, könnte im Fall pinkes T-Shirt trotzdem testimoniales Wissen zugeschreiben werden. Goldberg prägt hierzu den Begriff der P-Akzeptanz für eine Aussage, deren informationeller Gehalt nur partiell vom Hörer akzeptiert wird.5 Man müsste hierzu davon ausgehen, dass Marthas Aussage zwei verschiedene Informationsteile enthält, einerseits die Information, dass der Mann, den sie auf der Party sah, ein pinkes T-Shirt trug und andererseits die Information, dass dieser Mann Jones war. George würde dann ihre Autorität gegenüber der zweiten Aussage, nicht jedoch gegenüber der ersten Aussage akzeptieren.6 Eine solche Art des Wissenserwerbs setzt beim Hörer 1 Im Original in Goldberg 2001, 516. 2 Vgl. z.B. Goldberg 2001, 516–517. 3 Vgl. z.B.  Fricker 2006a. Ob diese Bewertung auch für generative Ansätze testimonialen Wissens gilt, müsste an anderer Stelle untersucht werden. Der Fall pinkes T-Shirt weist insofern Parallelen zum Fall kreationistische Lehrerin von Lackey (siehe Kapitel 1 in dieser Arbeit) auf, als auch in diesem Beispiel die Sprecherin kein Wissen besitzt. Ihre Äußerung ist jedoch – anders als im oben vorgestellten Falle – wahr. 4 Goldberg 2001, 513–514. 5 Goldberg schlägt Folgendes vor: „Perhaps we could use ‚P-accepts‘, where ‚P‘ indicates that what is accepted is part, but only part, of the informational content of the proposition attested to.“ Goldberg 2001, 516. 6 Vgl. Goldberg 2001, 525.

258

Kapitel 5

ausreichendes Hintergrundwissen voraus, was der Klassifikation als rein testimoniales Wissen im Wege steht. Es ist fraglich, ob die von Goldberg aufgestellten Bedingungen für testimoniales Wissen erfüllt werden. Hierzu muss sichergestellt sein, dass Marthas Aussage wirklich die oben beschriebenen Informationsteile enthält und beispielsweise George sein Wissen nicht einfach aus der falschen Prämisse, dass Jones auf der Party ein pinkes T-Shirt trug, hergeleitet hat. In diesem Falle würde es sich bei Georgs‘ Wissen auch nach Goldbergs liberaler Einschätzung nicht mehr um testimoniales Wissen im eigentlichen Sinne handeln, sondern um Wissen, das aus einer Inferenz über testimoniales Wissen gewonnen wurde.7 Die Einschätzung, ob Georges Wissen testimoniales Wissen darstellt, hängt daher von Einzelheiten in der Beschreibung des Beispiels ab. Es ist aber schwierig, genau zu bestimmen, welche, möglicherweise unbewussten, Prämissen und Schlüsse bei George die Überzeugung ausgelöst haben, dass Marthas Aussage die Information enthält, dass irgendjemand ein pinkes T-Shirt trug. Daher kann nur über Stipulation bestimmt werden, ob der Anteil an Hintergrundwissen und inferentiellem Wissen so klein ist, dass noch testimoniales Wissen zugeschrieben werden kann. Die Frage, ob es sich bei Georges Wissen um Wissen aus zweiter Hand in dem, in dieser Arbeit vorgeschlagenen, weiten Sinne handelt, kann hingegen eindeutig beantwortet werden: Georges Wissen basiert in entscheidendem Maße auf der domänenunabhängigen Evidenz, dass Martha ausgesagt hat, sie habe auf der Party Jones in einem pinken T-Shirt gesehen. Diese Einschätzung bleibt auch dann bestehen, wenn George seine Überzeugung über eine Inferenz aus der Prämisse, dass Martha meint, sie habe Jones in einem pinken T-Shirt gesehen, herleitet. Sein Wissen basiert in diesem Falle mittelbar auf der domänenunabhängigen Evidenz, die er von Martha erhalten hat. Sollte George seine Überzeugung hingegen direkt aus der falschen Prämisse, dass Jones auf der Party ein pinkes T-Shirt trug, hergeleitet haben, wäre seine Überzeugung nicht mehr gerechtfertigt, da sein Wissen über Jones tatsächlichen Aufenthaltsort einen Defeater darstellt, den er ignorieren würde. Das Beispiel kann jedoch leicht modifiziert werden, sodass George nicht weiß, dass Jones gar nicht auf der Party war. Wenn er nun aus der falschen Aussage von Martha, dass Jones auf der Party ein pinkes T-Shirt trug, schlussfolgert, dass irgendjemand auf der Party ein pinkes T-Shirt trug, erhält man einen klassischen Wissen-aus-Falschheit Fall. Einen solchen Fall möchte ich im Folgenden analysieren. 7 Vgl. Goldberg 2001, 524.

Sonderfälle von Wissen aus zweiter Hand

259

Die These, dass das inferentielle Wissen einer Konklusion in jedem Falle erfordert, dass die relevanten Prämissen wahr sind, wird in der Philosophie kontrovers diskutiert.8 Falls die Gegner dieser These Recht haben und es unter bestimmten Umständen möglich ist, Wissen aus falschen Prämissen zu gewinnen, so sollte diese Möglichkeit auch dann bestehen, wenn die betreffenden Prämissen aus zweiter Hand stammen. Obwohl der Wissensbesitzer in diesem Fall selbst eine Schlussfolgerung zieht, sollte ihm trotzdem Wissen aus zweiter Hand zugeschrieben werden, solange seine Evidenz zu entscheidenden Teilen aus zweiter Hand stammt. Ich möchte dies an einem Beispielfall für Wissenaus-Falschheit von Warfield illustrieren: Kims Party  1: Jaegwon Kim fragt Christopher Hill, was er am Samstag macht, da er ihn zu einer Party einladen möchte. Dieser antwortet, dass er am Samstag nach Fayetteville fliegt. Kim geht davon aus, dass es sich um Fayetteville, Arkansas handelt, da er weiß, dass Hill dort mehrere Jahre gelehrt hat. Er kommt zu dem Schluss, dass Hill daher am Samstag nicht zu seiner Party kommen kann. Kim weiß diese Konklusion, seine Prämisse ist jedoch falsch: Hill fliegt nach Fayetteville, North Carolina.9

Dieses Beispiel lässt sich leicht so modifizieren, dass man einen Fall von Wissen aus einer falschen Aussage erhält: Kims Party 2: Während der Party fragt Jennifer Lackey Jaegwon Kim, warum Hill nicht teilnimmt. Kim antwortet daraufhin, dass er nicht vorbeikommen konnte, weil er nach Fayetteville in Arkansas geflogen ist. Sie schließt daraufhin, dass Hill nicht der Party beiwohnt, weil er in eine andere Stadt geflogen ist. Falls man der Einschätzung Warfields folgt und Kim im Beispielfall Kims Party 1 Wissen zuschreibt, so sollte man auch Lackey Wissen ihrer Konklusion zugestehen. Es stellt sich nun die Frage, ob Lackey dieses Wissen aus erster Hand oder aus zweiter Hand besitzt. Da sie in entscheidendem Ausmaß von der domänenunabhängigen Evidenz, die sie durch die Aussage Hills erhält, abhängt, liegt es nahe, ihr Wissen aus zweiter Hand zuzuschreiben. Diese Bewertung ist jedoch innerhalb eines engen Begriffs von Wissen aus zweiter Hand nicht möglich, da 8 Befürworter diese Position sind zum Beispiel Harman [1973] 2015, Ch. 9; Lehrer 1974, 219–220; Audi 2003, 159; Feldman 2003, 33–37. Gegner der Position sind u.a. Warfield 2005; Klein 2008; Fitelson 2010; Veber 2014, 125–132; Turri 2019, [2020] forthcoming. 9 Im Original in Warfield 2005, 407.

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Kapitel 5

Kims Aussage kein Wissen darstellt. Es ist auch nicht klar, ob es sich um einen Fall von Wissen aus Testimony oder Wissen aus Inferenz handelt. Warfield10 präsentiert, ebenso wie Klein11 und Fitelson12, noch weitere Beispiele, die in ihrer Summe nahelegen, dass es in der Praxis nicht unüblich ist, dass aus falschen Prämissen Wissen gewonnen werden kann. Eine Studie von Turri konnte außerdem zeigen, dass eine überwiegende Mehrheit der Teilnehmer den Protagonisten in ähnlich gelagerten Fällen von Wissen-ausFalschheit intuitiv Wissen der Konklusion zuschreiben. Was die Fälle gemeinsam haben, ist, dass die Prämissen jeweils näherungsweise stimmen. Der Schluss enthält eine Abstraktion13, weshalb hierdurch Wissen gewonnen werden kann. In diesen Fällen kann kein Wissen aus zweiter Hand im engen Sinne zugeschrieben werden, da die Sprecherin kein Wissen besitzt. Ihre Evidenz reicht nicht aus, um die spezifische Prämisse zu rechtfertigen, die sie übermittelt. Dem Hörer, der den notwendigen abstrahierenden Schluss gezogen hat, sollte jedoch trotzdem kein Wissen aus erster Hand zugeschrieben werden. Denn ansonsten wäre es möglich, aus jeder Aussage, die eine Person aus zweiter Hand besitzt, Wissen aus erster Hand zu gewinnen, indem man einen verallgemeinernden Schluss zieht. Die Aussage, dass der Eifelturm im 19. Jahrhundert erbaut würde, könnte eine heute lebende Person dann aus erster Hand wissen, solange sie sie aus der Aussage, dass der Eifelturm von 1887–1889 erbaut wurde, herleitet. Dies spricht klarerweise gegen das intuitive Verständnis von Wissen aus erster Hand. Für Lackey ist es jedoch nicht möglich, die Überzeugung, dass Hill nicht zur Party kommt, weil er in eine andere Stadt fliegt, ohne Verweis auf die domänenunabhängige Evidenz – dass Kim ihr mitteilte, Hill sei nach Fayetteville in Arkansas geflogen – zu rechtfertigen. Ihre Rechtfertigung hängt in entscheidendem Ausmaß von domänenunabhängiger Evidenz ab. Der in dieser Arbeit vorgestellte Begriff von Wissen aus zweiter Hand bietet die Möglichkeit, diesen und ähnliche Fälle von Wissen-aus-falschen-Aussagen eindeutig als Wissen aus zweiter Hand zu klassifizieren. Zusammenfassung: Wissen, das ein Hörer aus Äußerungen erwirbt, die nur teilweise oder näherungsweise wahr sind, stellt auch dann, wenn der Hörer

10 11 12 13

Warfield 2005. Klein 2008. Fitelson 2010. Fitelson 2010, 667 versucht einen Fall zu entwerfen, in dem die Prämisse auch nicht näherungsweise stimmt.

Sonderfälle von Wissen aus zweiter Hand

261

einen abstrahierenden Schluss vornimmt, Wissen aus zweiter Hand dar, da sein Wissen weiterhin mittelbar auf domänenunabhängiger Evidenz beruht. 5.1.2 Wissen ohne Kenntnis darüber, was gesagt wurde Der Fall Kims Party 1 zeigt, dass es möglich ist, Wissen zu erwerben ohne, dass der Hörer genaue Kenntnis darüber besitzt, was gesagt wurde.14 Denn Kim identifiziert im Beispiel nicht den richtigen Referenten für die Kennzeichnung Fayetteville. Er erfasst daher nicht die von Hill intendierte Bedeutung der Aussage. Da es Hill somit nicht gelingt, seine Überzeugung auf testimonialem Wege weiterzugeben, kann er auch sein Wissen nicht so weitergeben, dass es Kim möglich wäre, Wissen aus zweiter Hand im engen Sinne zu erwerben. Dieses Beispiel ist deshalb nicht unkontrovers, da es Autorinnen geben würde, die Kim gar kein Wissen zugestehen würden, da die Überzeugung, die er aufgrund von Kims Aussage bildet nur teilweise wahr ist. Die Rekonstruktion des Inhalts des Gesagten wird in der Linguistik aufgrund der Kontextsensitivität der Sprecherinnenäußerungen generell nicht als unproblematisch betrachtet.15 Da der Inhalt, der den Wahrheitswert der Aussage bestimmt, sehr feinkörnig sein kann, das Wissen der Hörer um den Äußerungskontext jedoch oft grobkörniger ist als erforderlich, gibt es viele verschiedene Aussagen, die die Sprecherin mit einer bestimmten kontextsensitiven Äußerung gemeint haben könnte. Daher ist davon auszugehen, dass es im Alltag immer wieder Fälle gibt, in denen der Hörer zwar nicht adäquat den von der Sprecherin intendierten Inhalt der Äußerung rekonstruiert, seine grobkörnigere Interpretation jedoch trotzdem wahr ist. In diesen Fällen sollte man dem Hörer auf jeden Fall Wissen zuschreiben, wenn man nicht die generelle Zuverlässigkeit von Wissen, das auf testimonialem Wege erworben wurde, in Frage stellen möchte.16 Verschiedene gut belegte Theorien in der Linguistik und der Sprachphilosophie zeigen, dass diese Form der Nichtübereinstimmung von feinkörniger 14 15

Siehe hierzu auch Peet 2018. Bezuidenhout nennt 6 Faktoren, die die Möglichkeiten der Hörer kontextsensitive Äußerungen zu dekodieren, maßgeblich mitbestimmen. Vgl. Bezuidenhout 2002, 117. In der Epistemologie scheint hingegen die Annahme, Hörer würden in der Regel unproblematisch und zuverlässig den Inhalt des Gesagten rekonstruieren, die meisten Debatten zu beherrschen. Darauf weist Goldberg hin. Vgl. Goldberg 2007a, 54. 16 Goldberg geht dagegen davon aus, dass in Fällen, in denen der Hörer den Inhalt des Gesagten nicht zuverlässig rekonstruieren kann, der Zufall auch dann ein Wissen unterminierendes Element darstellt, wenn der Hörer durch Glück die Aussage richtig interpretiert. Vgl. Goldberg 2007c, 44. Peet zeigt, dass solche Fälle ein Problem für die Sensitivitäts- und Safetybedingung für Wissen darstellen können. Vgl. Peet 2016.

262

Kapitel 5

Sprecherinnen-  und Hörerbedeutung häufig vorkommt.17 Die Anerkennung dieser Theorien führt daher entweder in einen generellen Skeptizismus bezüglich der Möglichkeit, Wissen aus Aussagen zu erwerben oder zu der Akzeptanz der Möglichkeit, in einigen Fällen auch dann Wissen zu erwerben, wenn der Hörer nicht genau weiß, was gesagt wurde.18 Peet präsentiert ein Beispiel, in dem der Hörer zwar nicht genau weiß, was gesagt wurde, jedoch trotzdem verlässlich Wissen erwirbt: Mörder: Sally und Matt untersuchen eine Reihe von zusammenhängenden Morden. Sally steht über den grausam zugerichteten Überresten von Frank, dem letzten Opfer. Die Details der Szene zeigen deutlich, dass der Mörder wahnsinnig gewesen sein muss. Sally und Matt wissen außerdem, dass Frank von demselben Individuum ermordet wurde, das auch die vorangegangenen Morde verübt hat. Sally ruft daher Matt an und sagt: „Der Mörder ist eindeutig wahnsinnig.“ Die Beschreibung von Sally ist unvollständig und könnte auf verschiedene Arten vervollständigt werden: Sally könnte die Aussage „Der Mörder von Frank ist eindeutig wahnsinnig.“ intendiert haben. Sie könnte aber auch die Aussage „Der Mörder, den wir ermitteln, ist eindeutig wahnsinnig.“ intendiert haben. Matt geht davon aus, dass Sally die Aussage „Der Mörder, den wir ermitteln, ist eindeutig wahnsinnig.“ trifft und erwirbt so Wissen auf Basis von Sallys Aussage.19

Die Aussage, die Matt erwirbt, ist sicher und sensitiv erworben und stellt daher Wissen dar. Auch wenn Sally die erste Aussage gemeint hätte, wäre ihre Aussage wahr gewesen. Da Matt jedoch nicht mit Sicherheit sagen kann, welche Aussage Sally intendierte, weiß er auch nicht genau, was Sally eigentlich gesagt hat. Er erwirbt also Wissen, ohne Wissen davon, was gesagt wurde.20 Es ist umstritten, ob es sich in diesem Fall um testimoniales Wissen handelt.21 Es ist auch nicht klar, ob es sich um Wissen aus zweiter Hand im engen Sinne handelt, da Matt nur durch einen glücklichen Zufall dieselbe Aussage rekonstruiert, die auch den Inhalt von Sallys Wissen darstellt. Die Klassifizierung von Matts Wissen als Wissen aus zweiter Hand bereitet jedoch keine Probleme. Denn Matt besitzt die domänenunabhängige Evidenz, dass Sally äußerte: „Der Mörder ist eindeutig wahnsinnig.“, als Basis seines Wissens, unabhängig von der konkreten Interpretation der Aussage. Matts Abhängigkeit

17 18 19 20 21

Vgl. Sperber und Wilson 1994; Bezuidenhout 1997; Heck 2002; Récanati 2006; Carston 2010. Vgl. Peet 2016, 397. Im Original in Peet 2018, 74–75. Vgl. Peet 2018, 75. Peet geht davon aus, dass dieses Beispiel zeigen kann, dass testimoniales Wissen nicht in jedem Fall Wissen darüber, was gesagt wurde, voraussetzt. Vgl. Peet 2018.

Sonderfälle von Wissen aus zweiter Hand

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von Sally ist in diesem Falle eine evidentielle Abhängigkeit, die nicht zwangsläufig voraussetzt, dass Matt genau weiß, welchen Inhalt Sally intendierte.22 Der in dieser Arbeit entwickelte Ansatz von Wissen aus zweiter Hand kann darüber hinaus erklären, warum Probleme bei der Weitergabe von Sallys Wissen auftreten. Dadurch, dass das Wissen, das Sally besitzt, von einem von Matts epistemischen Standort abweichenden, anderen epistemischen Standort aus erworben wurde, ist keine eindeutige Beziehung von Matt selbst, zu dem was Sally wahrgenommen hat, gegeben. Matt fehlen Informationen über die Relation des wahrgenommenen Inhalts zu ihm selbst. Er ist auf die Einbettung der Aussage durch Sally angewiesen, doch die ist nicht völlig eindeutig. Im Vergleich zu Sally befindet er sich daher epistemisch im Nachteil, da er nicht weiß, ob der Mörder von Frank oder der Mörder, den sie beide ermitteln, gemeint ist. Dies führt in diesem Fall jedoch nicht zu einem pragmatischen Nachteil, wenn man davon ausgeht, dass beide Kennzeichnungen auf dieselbe Person referieren. Es ist jedoch problemlos möglich, ein Beispiel zu finden, bei dem der epistemische Nachteil auch zu einem pragmatischen Nachteil führt: Essensbestellung: Matt und Sally sind bei Matt zuhause. Sally sagt, dass sie hungrig ist und fragt, ob es etwas zu essen gibt. Matt antwortet: „Tut mir leid. Es gibt nichts zu essen. Lass uns eine Pizza bestellen.“ Sally ist einverstanden und sie bestellen eine Pizza. Klarerweise hat Matt nicht gesagt, dass es nirgends etwas zu essen gibt. Er hat gesagt, dass es kein Essen in einer eingeschränkten Domäne gibt. Es gibt jedoch viele verschiedene Arten, die Domäne einzuschränken. Matt könnte gesagt haben: „Es gibt kein Essen, das Matt gehört.“ „Es gibt kein Essen, das Matt oder Tom (Matts Mitbewohner) gehört.“ „Es gibt kein Essen, das Matt teilen möchte.“ „Es gibt kein Essen, das Sally mag und die oben genannten Kriterien erfüllt.“ „Es gibt kein Essen, das schnell und einfach zubereitet werden kann.“23

Sally kann nicht klar unterscheiden, welche dieser Aussagen Matt gemeint hat. Wenn sie trotzdem Wissen erwirbt24, dann kann sie nur eine sehr viel grobkörnigere Aussage wissen. Zum Beispiel die Aussage, dass entweder die erste oder die zweite oder die dritte oder die vierte oder die fünfte Aussage wahr sind. Sally ist daher epistemisch und praktisch Matt gegenüber im Nachteil. Matt könnte, wenn er weiß, dass die erste Aussage wahr ist, überlegen, ob er Tom fragt, ob er noch etwas zu essen hat. Sollte jedoch die letzte Aussage wahr 22 23 24

Vgl. hierzu Kap. 3.1.5 in dieser Arbeit. Im Original in Peet 2016, 401. Peet befürchtet, dass Sally in diesem Fall möglicherweise gar kein Wissen erwirbt, da das Risiko, dass sie eine Aussage rekonstruiert, die nicht unter die Extension der von der Sprecherin intendierten Eigenschaft fällt, zu groß ist. Vgl. Peet 2016, 414.

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Kapitel 5

sein, könnte er entscheiden, doch noch etwas Aufwändigeres zu kochen. Sally stehen diese Möglichkeiten nicht offen. Sie kann ihr Wissen auch nicht gut gegen mögliche Defeater verteidigen, da sie diese nicht klar identifizieren kann. Sollte sie zufällig in den Kühlschrank schauen und sehen, dass dieser gefüllt ist, könnte sie nicht sagen, ob diese Beobachtung einen Defeater gegen ihr Wissen darstellt. Ein gefüllter Kühlschrank würde einen Defeater gegen die Annahme darstellen, dass es kein Essen im Haus gibt, das Matt oder Tom gehört. Bei genauerem Hinschauen könnte Sally auch verifizieren, ob der Kühlschrank derart gefüllt ist, dass er einen Defeater gegen die Aussage, dass es kein Essen gibt, das sie selbst mag oder die Aussage, dass es kein Essen gibt, das schnell und einfach zubereitet werden kann, darstellt. Da Matt mit seiner Aussage jedoch auch gemeint haben könnte, dass es kein Essen gibt, das ihm gehört (wohl aber Essen, das seinem Mitbewohner gehört) oder, dass es kein Essen gibt, dass er teilen möchte, kann Sally nicht sagen, ob ein gefüllter Kühlschrank tatsächlich einen Defeater gegen Matts Aussage darstellt. Aufgrund der epistemischen Mängel von Sallys Wissen und ihrer Abhängigkeit von Matt, sollte Sallys Wissen nicht als Wissen aus erster Hand betrachtet werden. Das Beispiel kann jedoch auch nicht als Wissen aus zweiter Hand im engen Sinne klassifiziert werden, da Sally nicht dieselbe Aussage weiß, die Matt weiß. Die Klassifizierung als Wissen aus zweiter Hand im weiteren Sinne kann die oben genannten Mängel von Sallys Wissen erklären. Sie besitzt keine domänenspezifische Evidenz und die domänenunabhängige Evidenz, die sie besitzt, wurde von einem anderen epistemischen Standort aus formuliert, weshalb es für Sally schwierig ist, die Aussage in den Kontext ihres eigenen Wissens einzubetten. Im Beispiel Essensbestellung gibt es wenigstens eine teilweise Übereinstimmung zwischen der von Matt intendierten Aussage und Sallys Interpretation der Aussage. Der hier vorgestellte Begriff von Wissen aus zweiter Hand kann darüber hinaus auch auf Fälle angewendet werden, in denen gar keine Übereinstimmung zwischen dem Wissen der Sprecherin und dem des Hörers besteht. Farbinversion: Alan lebt in Malibu Beach, California. Er ist der Doppelgänger von Alan, der auf der Inversionserde lebt, wo die Farbwahrnehmungen, Farbbegriffe und Farbausdrücke invertiert sind. Beide wurden ohne ihr eigenes Wissen vor kurzem vertauscht und denken, sie seien noch auf ihren jeweiligen Heimatplaneten. Eddie, ein guter Freund aus Collegezeiten, der in Chicago lebt, ruft Alan regelmäßig an, um nach dem Wetter zu fragen: „Meilenweit blauer Himmel.“ antwortet Alan. Da Alans Farbwahrnehmung jedoch ebenso wie seine Farbbegriffe und seine Farbausdrücke invertiert ist, sieht der Himmel für ihn gelb aus, wenn er aus dem Fenster

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schaut und er glaubt auch, dass er gelb ist. Wenn er sagt, dass der Himmel blau ist, meint er daher, dass er gelb ist. Weder Alan noch Eddie wissen, dass Alan mit seinem Doppelgänger vertauscht wurde und diese Besonderheit aufweist. Eddie verlässt sich auf seine Interpretation von Alans Aussage und bildet daraufhin die wahre Überzeugung, dass der Himmel blau ist.25

Die domänenunabhängige Evidenz, die Eddie durch Alans Aussage erhält, stellt für ihn einen verlässlichen Indikator dar, dass der Himmel in Malibu Beach blau ist. Allerdings weiß Alan nicht, dass der Himmel blau ist, da er denkt, dass er gelb ist.26 Alans Aussage kann daher kein Wissen aus zweiter Hand im engen Sinne darstellen. Der hier vorgestellte Begriff von Wissen aus zweiter Hand kann Eddies Wissen trotzdem als Wissen aus zweiter Hand klassifizieren. Diese Klassifizierung kann eine Einordnung liefern, die mit den Intuitionen zu dem Fall übereinstimmt, die dahin gehen, dass Eddie zwar Wissen besitzt, dieses Wissen jedoch nicht aus erster Hand stammt.27 Diese Einordnung scheint angemessen, da Eddie alle Voraussetzungen erfüllt, um ihm Wissen zuzuschreiben. Er hat eine wahre Überzeugung gebildet, die er auf verlässliche Art erworben hat. Seine Überzeugung stellt jedoch kein Wissen aus erster Hand dar, da er außer der domänenunabhängigen Evidenz, die er durch Alans Aussage erhält, keinerlei domänenspezifische Evidenz besitzt. Zusammenfassung: Der in dieser Arbeit vorgeschlagene Begriff von Wissen aus zweiter Hand, kann die verschiedenen Beispielfälle von Wissen ohne Kenntnis darüber, was gesagt wurde, zuverlässig als Wissen aus zweiter Hand klassifizieren. Er kann darüber hinaus erklären, warum die in diesem Kapitel dargestellten Probleme bei der Einordnung der Aussagen durch den Zweibesitzer auftreten. Da die domänenunabhängige Evidenz des Zweitbesitzers aus einer Quelle stammt, die einen anderen epistemischen Standort als der Zweitbesitzer selbst besitzt, ist der Hörer für die Einordnung seines Wissens auf die Sprecherin angewiesen. Bei dem Versuch, das Wissen der Sprecherin in den allgemeinen Gesprächsrahmen einzufügen, können die oben beschriebenen 25

Im Original in Graham 2016, 180. Graham möchte anhand des Beispiels zeigen, dass der Transmissionsbegriff nicht die gesamte Bandbreite der Möglichkeiten testimoniales Wissen weiterzugeben, erfassen kann. Er hat für dieses Beispiel das bekannte Gedankenexperiment Invertierte Erde von Ned Block abgewandelt. Vgl. Block 1990. 26 Wenn ein semantischer Externalismus angenommen wird, könnte sich der Inhalt von Alans invertierten Überzeugungen und daher auch die Bedeutung seiner Worte, mit der Zeit ändern. In diesem Falle kann das Gedankenexperiment so modifiziert werden, dass klar ist, dass sich Alans invertierte Begriffe zu diesem Zeitpunkt noch nicht geändert haben. 27 Vgl. Graham 2016, 177–180.

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Kapitel 5

Missverständnisse entstehen, die zwar den epistemischen Wert des Wissens für den Zweitbesitzer einschränken, jedoch nicht zwangsläufig dazu führen, dass kein Wissen erworben wird. 5.1.3 Wissen aus invers konsistenten Lügen Alan hat im Beispiel Farbinversion nicht die Absicht, die Unwahrheit zu sagen, denn für ihn sieht der Himmel gelb aus; und er weiß nicht, dass er für seine Mitmenschen blau erscheint. Es sind jedoch auch Situationen vorstellbar, in denen die Sprecherin gar nicht die Absicht hat, Wissen weiterzugeben und daher die Unwahrheit sagt. Auch in diesen Fällen sollte Wissen aus zweiter Hand zugeschrieben werden, solange man davon ausgeht, dass überhaupt Wissen erworben wird. Eines der bekannteren Beispiele für eine solche Situation stammt von Lackey: Invers konsistente Lügnerin  1: Aufgrund einer Kopfverletzung in der Jugend lügt Berta konsistent über ihre Sinneswahrnehmungen von wilden Tieren. Ihr behandelnder Neurochirurg kann die Verletzung nicht heilen, daher verändert er operativ ihre Sinneswahrnehmung so, dass Berta meint, andere Wildtiere zu sehen, als in Wirklichkeit vor ihr stehen. Dieses Wahrnehmungsmuster entspricht dem Muster ihrer Lügen so, dass sie wieder eine sehr verlässliche Berichterstatterin über das Vorkommen von Wildtieren in ihrer Umgebung wird. Denn jedes Mal, wenn sie denkt, sie sähe ein Reh und lügt, dass sie ein Pferd gesehen habe, stand in Wirklichkeit ein Pferd vor ihr. Jedes Mal, wenn eine Giraffe vor ihr steht, denkt sie, sie sähe einen Elefanten und behauptet daher, dass sie eine Giraffe gesehen habe, usw. Niemand in ihrer Umgebung weiß von diesen Auswirkungen der Operation durch den Neurochirurgen. Daher halten alle Berta einfach für eine verlässliche Informantin. Berta ist jedoch hochgradig unzuverlässig in ihrer Überzeugungsbildung und eine radikale Lügnerin. Aufgrund der Konsistenz ihrer Fehlüberzeugungen und ihrer Lügen könne die Menschen um sie herum trotzdem verlässlich wahre Überzeugungen und daher Wissen über die Tiere in Bertas Umgebung erwerben.28

Nach Lackey soll dieses Beispiel zeigen, dass bei der Übertragung testimonialen Wissens nicht die Überzeugungen, sondern die Aussagen der Sprecherin ausschlaggebend sind. Diese Sichtweise wird als „Statement view“ beschrieben.29 Das Beispiel lässt sich allerdings so modifizieren, dass auch die Aussage der Sprecherin nicht mehr mit der Überzeugung, die der Hörer bildet, übereinstimmt: Invers konsistente Lügnerin  2: Da sich Bertas Kopfverletzung nicht heilen lässt, beschließen die Eltern offen mit ihrer Disposition, im Bereich der Wildtierwahrnehmung zu lügen, umzugehen. Da in ihrer näheren Umgebung 28 Lackey 2008, 53–55. 29 Vgl. Lackey 2008, 55.

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nur drei verschiedene Wildtiere heimisch sind, erklären sie einfach allen Bekannten und Lehrern, welches Tier Berta eigentlich sieht, wenn sie eine Aussage über die Wahrnehmung eines bestimmten Wildtieres in ihrer Umgebung trifft. Die Menschen in Bertas Umkreis können so über Bertas Aussagen verlässliche Informationen über die Sichtung von Wildtieren in ihrer Umgebung erwerben. Obwohl die Hörer so Wissen erwerben können, handelt es sich auch nach der Statement-Sichtweise nicht um testimoniales Wissen. Denn Bertas Aussage allein reicht nicht aus, um Wissen zu erwerben; die Hörer benötigen eine große Menge an Hintergrundwissen, um Bertas Aussagen richtig interpretieren zu können. Beide Beispiele können nicht als Wissen aus zweiter Hand im engen Sinne klassifiziert werden. Im Beispiel invers konsistente Lügnerin  1 besitzt Berta gar kein Wissen, im Beispiel invers konsistente Lügnerin 2 besitzt Berta zwar Wissen, dieses gibt sie jedoch nicht weiter. Beide Fälle lassen sich jedoch als Wissen aus zweiter Hand klassifizieren. Denn Berta stellt auch dann, wenn man ihre Aussage zunächst interpretieren muss, weiterhin eine Akteurin mit einem eigenen, vom Hörer abweichenden, epistemischen Standort dar30. Der Hörer erwirbt durch ihre Aussage domänenunabhängige Evidenz. Auch das Hintergrundwissen, das der Hörer heranziehen muss, um Bertas Aussage zu interpretieren, stellt domänenunabhängiges Wissen dar, da es sich um Wissen über die Quelle, in diesem speziellen Beispiel, um Bertas Disposition zu lügen, handelt. Hierbei muss bedacht werden, dass es sich bei Berta selbst nicht um eine verlässliche Quelle handelt. Im ersten Fall ist ihre Überzeugungsbildung unzuverlässig31, im zweiten Fall entspricht ihre Aussage nicht der Wahrheit. In beiden Fällen ist jedoch der gesamte Prozess der Überzeugungsbildung durch den Hörer mithilfe von Bertas Aussagen durchaus als verlässlich bzw. gettieresistent zu bewerten, weshalb dem Hörer Wissen zugeschrieben werden sollte. Der in Kapitel 3 entwickelte Begriff von Wissen aus zweiter Hand kann dies abbilden, da es ausreicht, wenn die Evidenz aus einer verlässlichen oder anderweitig wahrheitsbefördernden Quelle stammt32. Dies ist unter den konkreten Bedingungen in den Beispielen invers konsistente Lügnerin 1 und 2 der Fall. Dass eine Person, die ständig lügt, eine wahrheitsbefördernde Quelle darstellen soll, mag zunächst kontraintuitiv erscheinen, ist jedoch unproblematisch,

30 Dies sieht auch Lackey so. Vgl. Lackey 2008, 55–56. 31 Vgl. Lackey 2008, 55. 32 Siehe ##S. 109 für die Definition.

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Kapitel 5

wenn von einem evidentiellen Modell von Evidenz ausgegangen wird.33 Bei dieser Annahme wird die epistemische Abhängigkeit des Hörers einzig an das sichere Funktionieren des Informationskanals zwischen Sprecherin und Hörer gebunden. Das sichere Funktionieren dieses Kanals kann dann auch die Verlässlichkeit des Gesamtprozesses garantieren, in dessen Rahmen die Sprecherin eine wahrheitsbefördernde Quelle darstellt, selbst wenn sie lügt. Wissen aus zweiter Hand kann auch in alltäglicheren Fällen aus Lügen erworben und weitergegeben werden. Das zeigt Kleins Beispiel von den Geschwistern, die wissen, dass am Weihnachtsmorgen Geschenke unter dem Tannenbaum liegen werden, weil ihre Mutter ihnen gesagt hat, dass der Weihnachtsmann welche bringen werde.34 Audi geht davon aus, dass die Geschwister dann Wissen erwerben können, wenn ihre Mutter diese Aussage trifft, weil sie die Geschenke unter den Baum legen wird. Dieser Teil ihrer Aussage – dass Geschenke unter dem Baum liegen werden – ist daher wahr. Es stellt für die Geschwister eine verlässliche Methode dar Wissen zu erwerben, wenn sie sich auf die Worte ihrer Mutter verlassen, selbst wenn ein Teil ihrer Aussage – genauer gesagt der Teil der Aussage, der die Erklärung für das zukünftige Ereignis liefert – falsch ist. Audi unterscheidet hier noch einmal zwei Fälle voneinander. In dem einen Fall hat die Mutter die Konjunktion geäußert, dass unter dem Baum Geschenke liegen werden und dass der Weihnachtsmann sie über Nacht bringen werde. In diesem Fall basiert das Wissen der Geschwister direkt auf dem Teil der Aussage der Mutter, der stimmt.35 Es entsteht so Wissen aus zweiter Hand aus einer Aussage, die nur teilweise wahr ist, wie in Kapitel 5.1.1 beschrieben. Im anderen Fall äußert die Mutter nur, dass der Weihnachtsmann über Nacht Geschenke bringen wird. Es entsteht so laut Audi Wissen, das zwar nicht direkt auf Testimony basiert, jedoch mittelbar durch Testimony erworben wurde, da es durch die Aussage der Mutter begrifflich impliziert wurde.36 Auch diese Fälle lassen sich als Wissen aus zweiter Hand im weiten Sinne klassifizieren, da die Mutter durch die Kenntnis ihrer eigenen Intention die domänenspezifische Evidenz besitzt, die garantiert, dass der für die Kinder entscheidende Teil ihrer zukünftigen Aussage wahr sein wird.

33 34

Siehe hierzu Kap. 3.1.5 in dieser Arbeit. Im Original von Klein. Vgl. Klein 2008, 37. Klein geht davon aus, dass der Fall ein echtes Beispiel von Wissen aus einer nützlichen falschen Überzeugung (useful falsehood / useful false belief ) darstellt. Vgl. Klein 2008, 37–38. 35 Vgl. Audi 2013, 514. 36 Audi unterscheidet im Original „testimony-based knowledge“ von „knowledge by way of testimony“. Audi 2013, 514, 516.

Sonderfälle von Wissen aus zweiter Hand

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Zusammenfassung: Der in dieser Arbeit vorgestellte Begriff von Wissen aus zweiter Hand kann Wissen, das über Lügen gewonnen wurde, richtig klassifizieren. Die vorliegenden Beispiele können zeigen, dass in einer Vielzahl an Sonderfällen, in denen Wissen aus zweiter Hand über ungewöhnliche Wege erworben wird, in Übereinstimmung mit unseren Intuitionen Wissen aus zweiter Hand zugeschrieben werden kann. Dies ist, im Gegensatz zur Klassifikation als testimoniales Wissen auch dann möglich, wenn die Hörer Hintergrundwissen heranziehen müssen, solange sie trotzdem in entscheidendem Maße von der Sprecherin abhängen. Der weite Begriff von Wissen aus zweiter Hand zeigt sich so einmal mehr als ein Begriff, der unabhängig vom Begriff des testimonialen Wissens eine klassifikatorische Leerstelle im philosophischen Diskurs sinnvoll füllen kann. 5.2

Wissen aus zweiter Hand aus Erinnerungen

In der Literatur wird von verschiedenen Autorinnen eine große Ähnlichkeit zwischen Wissen aus Erinnerungen und Wissen aus Aussagen angenommen; sowohl hinsichtlich der Möglichkeit als Quelle von Wissen und Rechtfertigung zu fungieren und Wissen über Raum und Zeit hinweg zu bewahren, als auch in Hinblick auf den epistemischen Wert im Vergleich zu Wissen aus anderen Quellen. So plädiert Burge für die folgende Analogie: Bei der Weitergabe von Aussagen ermöglicht die Wahrnehmung der Äußerungen die Weitergabe des propositionalen Inhaltes von einem Geist zum anderen, ebenso, wie rein preservatives Erinnern die Bewahrung eines propositionalen Inhaltes von einem Zeitpunkt zu einem anderen Zeitpunkt ermöglicht. Erinnerungen und die Wahrnehmung von Äußerungen funktionieren, was ihre Rolle im logischen Argumentieren und der Kommunikation betrifft, ähnlich.37

Dummett geht davon aus, dass sowohl Wissen aus Erinnerungen als auch Wissen aus Aussagen von einem Prinzip betroffen ist, das dazu führt, dass der epistemische Wert von beiden Wissensarten aufgrund ihrer Abhängigkeit von einer anderen Quelle grundsätzlich geringer ist als der epistemische Wert derselben Aussage aus der Originalquelle.38 Dieser Zusammenhang wird im folgenden Kapitel noch ausführlich untersucht werden, ist jedoch in dieser unqualifizierten Form nicht haltbar, da sowohl Testimony, als auch Erinnerungen von einigen Autorinnen als generativ betrachtet werden. Insbesondere 37 Burge 1995, 293. 38 Vgl. Dummett 1994, 252.

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Kapitel 5

muss auch hier auf einen fairen Vergleich und eine genauere Bestimmung des epistemischen Werts geachtet werden, das heißt es muss untersucht werden, welche Aussagen sich mit der vorhandenen Evidenz rechtfertigen lassen und ob mit ihrer Hilfe Wissen aus erster oder aus zweiter Hand erworben werden kann. Hinsichtlich der Möglichkeit, als Quelle von Wissen und Rechtfertigung zu fungieren, wird Wissen aus Erinnerungen über Diskursgrenzen hinweg analog zu Wissen aus Aussagen betrachtet: Diejenigen Autorinnen, die davon ausgehen, dass Aussagen weder Quelle von Rechtfertigung noch Quelle von Wissen sein können, nehmen dies ebenso für Erinnerungen an.39 Autorinnen, die annehmen, dass Aussagen zwar Quelle von Rechtfertigung, nicht jedoch von Wissen sein können, gehen davon aus, dass dies ebenso auf Erinnerungen zutrifft.40 Demgegenüber stehen diejenigen Autorinnen, die davon ausgehen, dass Erinnerungenneues Wissen generieren können; sie schließen diese Möglichkeit in der Regel auch für Testimony nicht aus.41 Es liegt daher nahe, zu überprüfen, inwiefern die Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand ebenso auf Wissen aus Erinnerungen angewandt werden kann. Wissen aus Erinnerungen, das schon von vornherein vollständig auf testimonial erworbenen Aussagen beruhte, lässt sich unkompliziert auch weiterhin als Wissen aus zweiter Hand klassifizieren.42 Komplizierter wird es jedoch bei der Erinnerung von Wissen aus erster Hand in Fällen von vergessener Evidenz. Ein 39

40 41

42

Vgl. hierzu Fricker: „Memory and testimony do not on their own generate new items of knowledge, but only (I speak loosely!) transmit them.“ Fricker 2006a, 604; Plantinga: „Memory beliefs are like testimonial beliefs (see pp. 83ff.): the warrant they have is dependent upon the warrant enjoyed by an earlier belief.“ Plantinga 1993, 64. Vgl. hierzu Audi: „Memory and testimony can (in different ways) both generate justification; but they are not generative with respect to knowledge: characteristically, the former is preservative, the latter transmissive.“ Audi 2015, 225. Vgl. hierzu Lackey: „In this paper, I shall argue that the Preservation View of Memory is false. Specifically, I shall claim that it is not necessary for memorial knowledge ( justification/rationality) that the belief in question be known ( justifiedly believed/rationally believed) when it was acquired earlier and, accordingly, that it need not be known ( justifiedly believed/rationally believed) in a non- memorial way at this time. […] I develop a similar line of argument against the Transmission View of Testimony, that is, against the view that testimony can only transmit, rather than generate epistemic features, in my (1999 and 2003).“ Lackey 2005b, 638. Audi wirft die Frage auf, ob es zu einer Art Zirkularität kommen könnte, wenn Wissen aus Erinnerungen, das aus zweiter Hand auf testimonialem Wege gewonnen wurde, verwendet wird, um die Verlässlichkeit anderen testimonialen Wissens zu rechtfertigen. Vgl. Audi 2015, 234. Da es in diesem Kapitel jedoch nur um Aussagen aus Erinnerungen geht, die ausreichend gerechtfertigt sind, um als Wissen zu gelten, gehe ich dieser Frage hier nicht nach.

Sonderfälle von Wissen aus zweiter Hand

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wichtiges Kriterium für die Zuschreibung von Wissen aus erster Hand, nämlich der Besitz der domänenspezifischen Evidenz für eine bestimmte Aussage, wird in diesen Fällen von der erinnernden Person nicht mehr erfüllt. Man könnte in solchen Fällen die Möglichkeit, durch Erinnerungen Wissen zu erwerben, ganz ausschließen43, dies würde jedoch zu weitreichenden skeptischen Konsequenzen führen. So geht Fumerton davon aus, dass in diesem Falle große Teile unseres Wissens über die physische Welt in Frage gestellt würden.44 Als Mittelweg würde sich anbieten, in solchen Fällen den Besitz von Wissen aus zweiter Hand zuzusprechen. Der weite Begriff des Wissens aus zweiter Hand wäre dann nicht mehr an die personale Verschiedenheit von Zweitbesitzer und Quelle gebunden, wenn erlaubt wird, dass die Quelle der domänenunabhängigen Evidenz und der Besitzer des Wissens aus zweiter Hand sich im Einzelfall auf dieselbe Person beziehen können, solange beide unterschiedene epistemische Standorte haben (weil sich ihr Standort raumzeitlich unterscheidet). Ich werde in Kapitel 5.2.1 Argumente für diese Möglichkeit untersuchen. Fälle von vergessenen Defeatern ermöglichen es Subjekten hingegen, dass sie Aussagen erinnern, die sie aufgrund des Besitzes unangefochtener Defeater ursprünglich nicht wissen konnten. Hier sind besonders diejenigen Beispiele interessant, in denen der Besitz von Wissen durch den Wegfall normativer Defeater in der Umgebung des Subjekts ermöglicht wird. Was sich ändert, ist dann nicht die Menge der Evidenz, die das Subjekt besitzt, sondern der epistemische Standort des Subjektes. Da Wissen aus zweiter Hand per Definition dann vorliegt, wenn S‘ Rechtfertigung auf Evidenz basiert, die S aus einer verlässlichen oder anderweitig wahrheitsbefördernden Quelle R erhalten hat, die bezüglich p zu t einen anderen epistemischen Standort als S besitzt, stellt sich auch hier die Frage, ob die Quelle der Evidenz sich personal vom Besitzer des Wissens aus zweiter Hand unterscheiden muss oder ob die Veränderung des epistemischen Standortes ausreicht, um für das spätere Selbst eine Quelle von Wissen aus zweiter Hand darzustellen. Ich werde diese Fälle in Kapitel 5.2.2 untersuchen. Es sind auch Fälle vorstellbar, in denen der Inhalt der Erinnerung zwar einen indexikalischen Bezug zu dem Erinnernden enthält45, der Erinnernde und diejenige Person, die die ursprüngliche Erfahrung machte, jedoch nur numerisch 43 44

45

Dies legt bspw. Bonjour nahe. Vgl. Bonjour 1985, 155. Vgl. z.B. Fumerton 1985, 186. Siehe hierzu auch Audi: „[…] what we think of as “our knowledge,“ in an overall sense, would collapse if memory did not sustain it: we could know only what we could hold in consciousness at the time.“ Audi 2002, 74. Dies betrifft alle Fälle in denen Inhalte aus der Ich-Perspektive erinnert werden.

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Kapitel 5

identisch sind.46 Dies betrifft Fälle, in denen Gedächtnisspuren kopiert und transplantiert werden, Fälle von Fission, Fälle von Fusion und Fälle von multiplen Persönlichkeitsstörungen. Da wir in einer Welt leben, in der Erinnerungen und physische Identität untrennbar miteinander verbunden sind, sind solche Fälle schwer vorstellbar. Was genau mit unseren Erinnerungen passieren würde, wenn es möglich wäre, Gedächtnisspuren von einem Gehirn in ein anderes zu transferieren, spielt sich daher im Bereich philosophischer Fiktion ab und kann nur mithilfe von Gedankenexperimenten evaluiert werden. Bernecker geht trotzdem davon aus, dass der Umstand, dass Erinnerungen personale Identität voraussetzen, eine kontingente und keine logisch notwendige Tatsache ist.47 Fälle von dissoziativen Identitätsstörungen legen darüber hinaus nahe, dass der Inhalt von Ich-Erinnerungen sich grundsätzlich vom Gefühl der Eigentümerschaft dieser Erinnerungen trennen lässt. Der Erinnernde kann dann Inhalte in der ersten Person erinnern, obwohl er scheinbar keine personale Identität mit dieser Person aufweist. So kann es vorkommen, dass eine Person mit einer multiplen Persönlichkeitsstörung Inhalte aus erster Hand erinnert, die eine ihrer anderen Persönlichkeiten gemacht hat, die andere Vorlieben, Werte und Charaktereigenschaften aufweist.48 In solchen Fällen kann es vorkommen, dass die beiden Persönlichkeiten zu den unterschiedlichen Zeitpunkten t1 und t2 einen verschiedenen epistemischen Standort aufweisen und die Person zu einem späteren Zeitpunkt trotzdem die gesamte domänenspezifische Evidenz der Person zum früheren Zeitpunkt besitzt. Sie erhält bzw. erinnert in diesem Falle zwar Evidenz von einer Quelle, die einen abweichenden epistemischen Standort aufweist, diese Evidenz ist jedoch domänenspezifische Evidenz. Es stellt sich auch in diesen Fällen die Frage, ob es sich um Wissen aus zweiter Hand handelt. Ich werde diese letzte Frage, die auch zugleich die Grenzen des in dieser Arbeit entwickelten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand aufzeigt, in Kapitel 5.2.3 behandeln. Was passiert mit Wissen aus erster Hand, wenn es erinnert wird? Bleibt die Rechtfertigung in ihrer Originalstruktur erhalten oder ist sie generell schwächer als zu dem Zeitpunkt, als das Wissen aus erster Hand gewonnen wurde? Dummett formuliert diese Problematik folgendermaßen: „Erinnerungen könnten als das Zeugnis des eigenen früheren Selbst betrachtet werden. Erlauben die

46

Diese Fälle setzten einen Begriff von Quasi-Erinnerungen voraus, der von den Begriffen der veridischen und ostensiblen Erinnerungen unabhängig ist. Vgl. Bernecker 2009, 46. 47 Vgl. Bernecker 2009, 31. 48 Vgl. Bernecker 2009, 53–54.

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Prinzipien der Epistemologin ihr von irgendetwas, das sie nur durch die Erinnerung an ihre Erfahrungen weiß, echtes Wissen aus erster Hand zu beanspruchen?“49 Ein großer Teil unseres Wissens ist aber davon abhängig, dass wir in der Lage sind, Erinnerungen als Evidenz für neue Schlüsse in unserem Gedächtnis zu speichern. Wenn wir einen komplizierten Beweis durchdenken, ist es oft nicht möglich, die gesamte Evidenz gleichzeitig in unserem Arbeitsgedächtnis abzuspeichern. Erinnerungen haben in diesen Fällen die Aufgabe, die Rechtfertigung durch die Originalevidenz zu bewahren.50 Spricht man Erinnerungen diese Fähigkeit ab, so würde dies bedeuten, dass komplexe Beweise immer nur aus zweiter Hand gewusst werden können. Ich möchte in diesem Kapitel der Frage nachgehen, welche Art von Wissen zugeschrieben werden kann, wenn die domänenspezifische Evidenz, die das Wissen aus erster Hand stützte, verloren gegangen ist. Solange die Erinnernde trotzdem ausreichend gerechtfertigt ist, um Wissen zu besitzen51, stellt sich die Frage, ob sie dieses Wissen weiterhin aus erster Hand oder aus zweiter Hand besitzt. In der Epistemologie der Erinnerungen und in der Psychologie finden die Begriffe des Wissens aus erster Hand und aus zweiter Hand jedoch zunächst keine Anwendung. Stattdessen ist es in der Philosophie verbreitet, zwischen propositionalen Erinnerungen und erfahrungsgemäßen oder personalen Erinnerungen zu unterscheiden. Während personale Erinnerungen sich auf Sachverhalte beschränken, die eine Person selbst erlebt hat, beschränken sich propositionale Erinnerungen nicht auf diejenigen Dinge, mit denen eine Person direkte Bekanntschaft gemacht hat. Im Gegensatz zu personalen Erinnerungen werden sie daher auch nicht in der Ich-Perspektive gespeichert.52 Personales Erinnern geht in der Regel mit bildhaften Erinnerungen und qualitativem Wiedererleben des Erfahrenen einher.53 In der Psychologie wird hingegen zwischen episodischen und semantischen Erinnerungen unterschieden. Während semantische Erinnerungen Faktenwissen ohne Repräsentation des Lernkontextes und der Quelle wiederabrufen, 49 Dummett 1994, 252. 50 Siehe hierzu zum Beispiel Burge 1995, 294. 51 Vertreter der weit verbreiteten epistemischen Theorie von Erinnerungen gehen davon aus, dass echte Erinnerungen Wissen voraussetzen. Hierzu zum Beispiel Audi 2002, 74. In diesem Fall wäre die Frage, ob eine Erinnerung ausreichend gerechtfertigt ist, um Wissen darzustellen, redundant. Bernecker zeigt jedoch, dass erinnern zwar ein faktives Verb ist, jedoch nicht automatisch Wissen impliziert. Vgl. Bernecker 2008, Ch. 2.6; Bernecker 2009, Ch.  3. Da in dieser Arbeit nur diejenigen Erinnerungen, die auch Wissen darstellen, untersucht werden, bleibt die Extension des Untersuchungsgegenstandes unter beiden Annahmen unverändert. 52 Vgl. Bernecker 2009, 14–15. 53 Vgl. Bernecker 2009, 15.

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Kapitel 5

enthalten episodische Erinnerungen immer auch einen Hinweis auf die spezifische Erfahrungs-  bzw. Lernsituation, in der die Informationen erworben wurden.54 Die Begriffe des semantischen und des propositionalen Erinnerns auf der einen Seite und des personalen und des episodischen Erinnerns auf der anderen Seite verhalten sich daher nicht äquivalent, da episodisches Erinnern im Gegensatz zu personalem Erinnern nicht auf Sachverhalte beschränkt ist, mit denen das Subjekt direkte Bekanntschaft gemacht hat. So würde die Erinnerung von Clara, die noch detailreich erinnert, wie entsetzt sie war, als der Arzt sie am Telefon über den Tod ihres Vaters informierte, als episodische Erinnerung gelten, auch wenn sie mit dem Sachverhalt des Todes ihres Vaters keine direkte Bekanntschaft gemacht hat, da sie nicht anwesend war, als er starb. Es ist ebenso schwierig eine eindeutige Grenze zwischen personalem und propositionalem Erinnern zu ziehen, wie es nicht überzeugend gelingt, eine eindeutige Grenze zwischen Wissen aus Bekanntschaft und Wissen aus Beschreibung zu ziehen.55 Personale und episodische Erinnerungen weisen jedoch in ihrer Abgrenzung zu propositionalem und semantischem Erinnern Gemeinsamkeiten auf, die im Rahmen der Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand fruchtbar genutzt werden können. Ich werde mich im Folgenden auf diese Aspekte der Begriffe beschränken, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Sowohl personale als auch episodische Erinnerungen sind eingebettet in den spezifischen raumzeitlichen Kontext der Erfahrungs- bzw. Lernsituation.56 Das bedeutet, dass der eigene epistemische Standort der Besitzerin der Erinnerungen zum Zeitpunkt des Erwerbs des Wissens miterinnert wird. Dies bedeutet jedoch nicht in jedem Falle, dass die Besitzerin der Erinnerungen 54 Vgl. Anderson 2015, 179. 55 Siehe hierzu Kap. 2.3.2 in dieser Arbeit und Bernecker 2009, 19. Bernecker schlägt daher vor, zwischen propositionalem Wissen auf der einen Seite und nicht-propositionalem Wissen auf der anderen Seite zu unterscheiden, während letzteres Objekterinnerungen, Eigenschaftserinnerungen und Ereigniserinnerungen umfasst. „In lieu of the philosopher’s tripartite classification scheme, I propose a classification in terms of the grammatical objects of the verb ‚to remember‘ and of its (near) synonyms, such as ‚to recall‘, ‚to memorize‘, ‚to reminisce‘, and ‚to recollect‘. Given this approach, there are four main kinds of remembering. One can remember persons and things (e.g. S remembers the Colosseum), properties (e.g. S remembers the elliptical shape of the Colosseum), events (e.g. S remembers visiting (p.20) the Colosseum), and facts or propositions (e.g. S remembers that the Colosseum was completed in AD 80). Consequently, I will speak of object, property, event, and propositional memory. Object, property, and event memory may collectively be labeled non‐propositional memory.“ Bernecker 2009, 19–20. 56 Renoult et al. 2019, 1042.

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domänenspezifische Evidenz für die erinnerten Sachverhalte besitzt.57 Da episodische Erinnerungen sich auch auf den Erwerb von Wissen aus zweiter Hand beziehen können, wird die Erinnernde dann nur den Erwerb domänenunabhängiger Evidenz von ihrem damaligen epistemischen Standort aus erinnern können. Ich werde im Folgenden nur Fälle betrachten, in denen die Erinnernde ursprünglich Wissen aus erster Hand besaß. Sowohl personale58 als auch episodische Erinnerungen werden zudem von einem Gefühl der Eigentümerschaft begleitet59; im Falle episodischer Erinnerungen muss sich dieses Gefühl der Eigentümerschaft aber nicht auf die direkte Bekanntschaft mit den erinnerten Sachverhalten beziehen, sondern kann sich auch auf den Lernkontext, in dem die notwendige domänenunabhängige Evidenz zur Stützung des Sachverhaltes erworben wurde, beziehen. Das Gefühl der Eigentümerschaft, das dadurch hervorgerufen wird, dass Sachverhalte vom eigenen epistemischen Standort aus erlebt werden, lässt sich bei Erinnerungen von dem Besitz der domänenspezifischen Evidenz trennen, wenn man davon ausgeht, dass es möglich ist Quasi-Erinnerungen zu besitzen60. Auch in diesem Falle ist offen, ob dann noch Wissen aus erster Hand vorliegt. Ich werde die Frage in Kapitel 5.2.3 untersuchen. Episodische Erinnerungen weisen im Gegensatz zu semantischen Erinnerungen einen größeren Detailreichtum auf61, dies sollte auch für personale Erinnerungen im Vergleich zu propositionalen Erinnerungen gelten. Es lässt sich sowohl aus psychologischer Sicht als auch aus philosophischer Sicht argumentieren, dass eine Reduzierung des Detailreichtums dazu führt, dass personale Erinnerungen den Status propositionaler Erinnerungen erwerben62 und episodische Erinnerungen zu semantischen Erinnerungen werden63, während dies anders herum nicht möglich ist. Wenn man davon ausgeht, dass der zusätzliche Detailreichtum personalen und episodischen Erinnerns zum Besitz zusätzlicher domänenspezifischer Evidenz für die erinnerte Aussage führt, verhält sich diese Eigenschaft analog zur Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand. Auch hier wird der Unterschied zwischen 57

Bei personalem Wissen könnte es sein, dass die Erinnernde immer Wissen aus erster Hand besitzt, solange ihre Erinnerungen Wissen darstellen. 58 Vgl. Bernecker 2009, 17. 59 Vgl. Fernández 2019, 112. 60 Siehe hierzu Bernecker 2009, Ch. 2. Evans geht davon aus, dass sich das Gefühl der Eigentümerschaft nicht vom personalen bzw. erfahrungsgemäßen Erinnern abtrennen lässt. Vgl. Evans und McDowell 1996, 243–245. 61 Renoult et al. 2019, 1042. 62 Vgl. Martin und Deutscher 1966, 162. 63 Vgl. Renoult et al. 2019, 1048.

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beiden Wissensarten durch eine unterschiedliche Menge an domänenspezifischer Evidenz begründet, während der Verlust der domänenspezifischen Evidenz dazu führt, dass Wissen den Status des Aus-erster-Hand-Seins verliert. Ich werde daher im Folgenden den Begriff des personalen Erinnerns verwenden, um Erinnerungen zu kennzeichnen, die vom eigenen epistemischen Standort der Erinnernden aus erworben wurden und zum Zeitpunkt des ursprünglichen Erwerbs mutmaßlich Wissen aus erster Hand darstellten,64 das durch den Besitz domänenspezifischer Evidenz gestützt wurde. Ich werde davon ausgehen, dass personales Erinnern mit qualitativem Erleben und visuellen Bildern einhergehen kann.65 Da es in dieser Arbeit jedoch um propositionales Wissen geht, werde ich nur den Anteil personaler Erinnerungen betrachten, der sich grundsätzlich propositional formulieren lässt und wenigstens dispositionales Wissen darstellen kann. Wenn dies sinnvoll erscheint, werde ich ebenfalls Kenntnisse aus der Psychologie zum episodischen Erinnern heranziehen. Da es auch möglich ist, erfahrungsunabhängig erwerbbares Wissen aus erster Hand zu besitzen, stellt sich die Frage, ob dieses personal erinnert wird. Ich werde diese Frage offenlassen, gehe aber davon aus, dass es auf jeden Fall möglich sein sollte, episodische Erinnerungen über den Erwerb erfahrungsunabhängiger Aussagen zu besitzen. 5.2.1 Wissen aus zweiter Hand im Falle von vergessener Evidenz Wenn Wissen aus erster Hand erinnert wird, sollte zunächst davon ausgegangen werden, dass der epistemische Status des Wissens sich nicht verändert hat. Die Eigentümerin besitzt in diesem Falle personale Erinnerungen. Es gibt jedoch viele Erinnerungen, bei denen die ursprüngliche Evidenz vergessen wurde.66 Für internalistische Wissenstheorien führt dies zum „Problem der vergessenen Evidenz“67, da das Subjekt keine doxastische Rechtfertigung

64

Ich spreche von mutmaßlichem (putativem) Wissen aus erster Hand, da Fälle vorstellbar sind, in denen die Erinnernde zum Zeitpunkt des Erwerbs der Aussage nicht ausreichend gerechtfertigt war, um Wissen zu besitzen, zum Zeitpunkt des Erinnerns jedoch schon. Siehe hierzu Lackey 2005a. und Bernecker 2009, Ch. 3. 65 Die Stärke des Wiedererlebens qualitativer Eigenschaften und bildhafter Eindrücke variiert je nach Person und spezifischer Situation des Erlebnisses und ist Abhängig von Alter und emotionaler Betroffenheit (Vgl. z.B.Cordon et al. 2013; Anderson 2015, 145–148), Tiefe der Elaboration (Vgl. Makovski, Jiang und Swallow 2013; Anderson 2015, 141–143), Häufigkeit des Wiederabrufens (Vgl. Reagh und Yassa 2014; Zhang und Hupbach 2020] und weiteren Faktoren. 66 Vgl. Goldman 1999, 280; Williamson 2007, 110–111. 67 Goldman 1999, 280.

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mehr besitzt. Dieses Problem betrifft nur internalistische Wissenstheorien68, da externalistische Wissenstheorien sich auf die grundlegende Verlässlichkeit des überzeugungsbildenden Prozesses des Erinnerns berufen können. Hierzu können sie sich des Prinzips der fortwährenden Rechtfertigung bedienen. Bernecker formuliert dieses folgendermaßen: Das Prinzip der fortwährenden Rechtfertigung: Zum Zeitpunkt t2 ist die Überzeugung des Subjekts S, dass p, die aus t1 stammt, weiterhin gerechtfertigt, selbst wenn S seine wissensgenerierende Evidenz vergessen hat und zwischenzeitlich keine neue Evidenz erworben hat.69

Dieses Prinzip trifft jedoch keine Aussage über die Art des Wissens, die ein Subjekt im Falle von Wissen trotz vergessener Evidenz besitzt. Die Frage, ob erinnertes Wissen aus erster Hand in Fällen von vergessener Evidenz weiterhin Wissen aus erster Hand darstellt, hängt unter anderem von der konkreten Begründung des Prinzips der fortwährenden Rechtfertigung ab. Eine von Burge vertretene Begründungsstrategie beruht auf der Annahme, dass eine bestimmte Form von Erinnerungen, nämlich erhaltende Erinnerungen, es ermöglicht, dass nicht nur eine bestimmte Überzeugung, sondern auch die Struktur ihrer Rechtfertigung70 über die Zeit hinweg bewahrt werden kann.71 Eine Person, die eine erfahrungsunabhängig erwerbbare Aussage, zum Beispiel ein mathematisches Theorem, ursprünglich aus erster Hand wusste, weil sie sie selbst hergeleitet hat, wäre demzufolge durch ihre Erinnerung des Theorems auch dann noch a priori gerechtfertigt, wenn sie zwischenzeitig alle Evidenz, die sie hatte, vergessen hat und das Theorem nicht mehr selbstständig herleiten kann. Diese Person besäße dann aufgrund ihrer Erinnerungen immer noch Wissen aus erster Hand, während eine andere Person, die das Theorem ursprünglich nur aus zweiter Hand wusste, durch ihre Erinnerungen auch nur 68 Vgl. Goldman 1999; Williamson 2007; Bernecker 2009, 72–73. Es ist fraglich, inwieweit das Problem auch auf evidentialistische Formen externalistischer Theorien zutrifft (beispielsw. diejenigen von Comesaña 2010; und Goldman 2011). Siehe zum BeispielConee und Feldman 2004; Audi 2015 für internalistische Lösungsansätze des Problems. 69 Bernecker 2009, 72. Meine Übersetzung. 70 Burge unterscheidet zwischen justification und entitlement. 71 Burge stellt diese Art des Erinnerns, die er „preservative memory“ nennt, einer anderen Form des Erinnerns, dem „substantive memory“ gegenüber. Beide unterscheiden sich in ihrer Funktion: „Preservative and substantive memory are distinguished by their function, not their degree of explicitness; […] Preservative memory preserves thoughts and their assertive mode, and does not contribute new elements in a justification, or add to justificational force. Substantive memory refers to events or objects and provides elements in a justification, whether or not the justification is explicit (or conscious).“ Burge 1997, 37.

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Wissen aus zweiter Hand wieder erwerben kann.72 Dies würde selbst dann gelten, wenn beide Personen zu dem Zeitpunkt, zu dem sie die Aussage erinnern, dieselbe Evidenz besitzen: Nämlich nur diese, dass sie die Aussage erinnern.73 Die Begründung für die kontinuierliche Rechtfertigung dieser Aussagen erfolgt preservationistisch: Es wird davon ausgegangen, dass die Originalrechtfertigung über die Zeit hinweg unverändert bewahrt wird, selbst wenn sie der Person selbst nicht mehr bewusst zugänglich sein sollte. Diese Einschätzung ist möglich, da die Erinnerung in diesem Falle nicht selbst zur Rechtfertigung beitragen muss, sondern nur eine ermöglichende Rolle einnimmt. Eine Person, die ein Theorem erinnert, das sie ursprünglich aus erster Hand wusste, wäre daher berechtigt, diese Überzeugung auch weiterhin zu bilden und besäße aufgrund dieser Berechtigung dann Wissen aus erster Hand. Eine Person, die das gleiche Theorem erinnert, es jedoch ursprünglich aus zweiter Hand wusste, erhält durch ihre Erinnerung die Berechtigung, die es ihr ermöglicht, dieses Theorem weiterhin aus zweiter Hand zu wissen.74 Diese Sichtweise hat sowohl Vorteile als auch Nachteile: Ein Vorteil ist, dass sie in der Lage ist, unsere Intuitionen bezüglich der Rechtfertigung langer, mehrschrittiger Beweise, die die Kapazitäten des Arbeitsgedächtnisses übersteigen, richtig vorherzusagen. Einer Person, die einen solchen Beweis korrekt führen kann, sollte Wissen aus erster Hand zugeschrieben werden, auch wenn sie nicht alle Zwischenschritte gleichzeitig im Arbeitsgedächtnis behalten kann und daher auf ihre Erinnerungen zurückgreifen muss. Diese Intuition kann am besten gewahrt werden, wenn man davon ausgeht, dass die Originalrechtfertigung ohne Änderungen in der Erinnerung bewahrt wird.75 72

Laut Burge führt der Umstand, dass eine Person eine Aussage testimonial erworben hat, nicht automatisch dazu, dass diese Person nur Wissen aus zweiter Hand besitzt, da sie die Berechtigung besitzt sich auf ihr (scheinbares) Verständnis dieser Aussage zu verlassen und dann auch A-priori-Wissen dieser Aussage erwerben kann. Insofern könnte diese Person dann auch Wissen aus erster Hand, durch die Aussage anderer erwerben. Es stellt sich hier jedoch die Frage, ob das Wissen dann noch auf der Aussage einer anderen oder auf dem Verständnis basiert. Siehe hierzu die Diskussion in Kap. 4.2.2 in dieser Arbeit. 73 Diese Einschätzung wird durch die von Burge eingeführte Unterscheidung zwischen „entitlement“ und „justification“ ermöglicht. Die Berechtigung, eine Überzeugung zu bilden, kann das Wissen einer Person begründen, ohne, dass diese in der Lage sein muss, rechtfertigende Gründe zu nennen. Denn es bestehe die generelle Berechtigung von Personen, bestimmten Quellen, wie der Sinneswahrnehmung, der Erinnerung oder den Aussagen anderer prima facie zu vertrauen, solange keine Gegengründe in Form von defeatern vorliegen. Vgl. Burge 1995, 272, 273. Vgl. hierzu auch Graham 2020, 94, 101. 74 Vgl. Burge 1997, 38–39. 75 Vgl. Burge 1995, 276. Chisholm geht davon aus, dass es nicht möglich ist, in diesem Falle A-priori-Wissen zu erwerben. Vgl. Chisholm 1989, 30. Welcher dieser Bewertungen man zustimmt, hängt vom konkreten A-priori-Begriff ab, der vertreten wird.

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Die betreffende Intuition könnte aber auch auf andere Art und Weise erklärt werden. Nämlich dadurch, dass bei einer Person, die einen Beweis selbstständig führen kann, das Wissen und die zur Rechtfertigung notwendigen Prämissen anders in das Gesamtnetz ihres Wissens integriert sind als bei einer Person, die hierzu nicht in der Lage ist. Ein entscheidender Nachteil von Burges preservationistischer Erklärung des Prinzips der fortwährenden Rechtfertigung ist, dass es möglich ist, dass zwei Personen, die in der Gegenwart exakt das gleiche Wissen, die gleiche Evidenz und die gleichen Erinnerungen besitzen, trotzdem durch ihre Erinnerungen unterschiedliche Arten von Wissen generieren, wenn eine der Personen ihr Wissen ursprünglich aus erster Hand erworben hat, während die andere Person dieses Wissen nur aus zweiter Hand besaß. Dies würde auch dann gelten, wenn erstere Person in der Zwischenzeit jegliche domänenspezifische Evidenz, die sie besaß, vergessen hat. Diese Vorhersage ist jedoch kontraintuitiv, da in diesem Falle zwei Überzeugungen, die sich weder in ihrem epistemischen Wert noch in anderen Eigenschaften unterscheiden, zu unterschiedlichen Wissensarten gezählt werden würden.76 Diese Einschätzung trifft sowohl für erfahrungsabhängig erworbenes Wissen als auch für wahrnehmungsabhängig erworbenes Wissen aus erster Hand zu. Wenn zwei Personen einen Sachverhalt erinnern, den Person A zwar ursprünglich aus erster Hand wusste, während Person B diesen Sachverhalt nur aus zweiter Hand erfahren hat, dann sollte dieser Unterschied nur so lange verschiedene Wissensarten begründen, solange Person A auch mehr domänenspezifische Evidenz bezüglich dieses Sachverhaltes erinnern kann. Ich möchte dies kurz anhand eines Gedankenexperiments deutlich machen: Der Bücherdieb77: Zwei Bibliotheksmitarbeiterinnen, Arthur und Birgit, sehen, wie eine Person, die vermeintlich Tom Grabit (ein bekannter Besucher) ist, ein Buch stiehlt. Sie informieren ihre Chefin Carol, nennen jedoch keine nennenswerten Details des Falls. Beide Mitarbeiterinnen hatten zum 76

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Dieses Argument wird von Kornblith und Christensen vertreten: „However, this proposal too has consequences that will be unattractive to many. For it entails that two people could remember the same fact – indeed, they could share all the same present beliefs, reasons, cognitive abilities, and memories – and one of them be justified a priori and the other justified a posteriori, because one of them had done the proof 20 years ago, while the other had taken a student’s word for it after self- consciously considering the possibility that he was lying. A priori justification would then be a function neither of the believer’s present reasons for belief nor, indeed, of anything else about the believer’s present cognitive states and capacities.“ Christensen und Kornblith 1997, 14. Dies ist ein abgewandeltes Beispiel von einem von Peter Klein vorgestellten Fall. Vgl. Klein 2008, 34.

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Tatzeitpunkt gute Sicht auf das Vorgehen und besaßen eine große Menge domänenspezifische Evidenz über den Täter, sein Aussehen und den Tathergang. Zu diesem Zeitpunkt t1 besitzen Arthur und Birgit Wissen aus erster Hand darüber, wer der Täter ist. Ihre Chefin besitzt Wissen aus zweiter Hand. Einige Monate später wird ihr Wissen wieder relevant, da es aufgrund des Diebstahls zu einem Ausschlussverfahren gegen Tom Grabit kommen soll. Dieser wehrt sich mit der Begründung, dass die Mitarbeiterinnen ihn gar nicht zweifelsfrei hätten identifizieren können, da er einen Zwilling, Jerry Grabit, hat. In diesem Verfahren wird auch die Mutter angehört, die aussagt, dass beide Zwillinge anhand der Oberteile, die sie trügen, unterschieden werden könnten. Tom würde oft Wollpullover tragen, da er schneller frieren würde, während Jerry wegen einer Allergie niemals Wollpullover, sondern meistens Hemden tragen würde. Beide Mitarbeiterinnen werden daraufhin befragt, inwieweit sie sich noch an den Tathergang erinnern. Arthur hat aufgrund seines hohen Alters ein außergewöhnlich schlechtes Gedächtnis und kann nicht mehr erinnern als, dass es vermeintlich Tom Grabit war, der das Buch gestohlen hat. Er besitzt ebenso wenig domänenspezifische Evidenz wie Carol, die die Aussage nur aus zweiter Hand weiß. Birgit erinnert hingegen den genauen Tathergang ebenso wie Toms Aussehen und Kleidung zu dem Zeitpunkt der Tat. Sie besitzt also noch eine Menge domänenspezifische Evidenz, um ihre Aussage zu stützen. Sie ist die Einzige, die den Defeater, der durch die neue Erkenntnis entsteht, dass Tom einen Zwillingsbruder hat, entkräften kann, da sie sich erinnert, dass der Dieb einen Wollpullover trug. Arthur kann zu diesem Zeitpunkt t2 ebenso wenig wie Carol etwas Substantielles zum Fall beitragen. Dieses Beispiel zeigt, dass eine Person, die die gesamte domänenspezifische Evidenz für eine Aussage vergessen hat, epistemisch nicht besser dasteht als eine Person, deren Wissen von vornherein aus zweiter Hand stammte. Es legt daher nahe, in Fällen vergessener Evidenz Wissen aus zweiter Hand zuzuschreiben. Ich möchte zusätzlich einen Vorschlag von Martin und Deutscher aufgreifen, die anregen, zwei Typen propositionaler Erinnerungen zu unterscheiden. Propositionales Erinnern vom Typ1 tritt auf, wenn eine Person eine bestimmte Aussage von Anfang an nur aus zweiter Hand wusste. Propositionales Erinnern vom Typ2 tritt auf, wenn eine Person eine Aussage erinnert, die sie ursprünglich aus erster Hand wusste, von der sie nun jedoch aufgrund des Vergessens jeglicher Details nicht mehr erinnert als die Aussage an sich. So kann es sein, dass eine Person ein Ereignis erinnert, das stattfand, bevor sie geboren wurde. Dieses Ereignis befindet sich klarerweise außerhalb der Reichweite ihrer Erfahrungen und kann daher nur propositionales Erinnern ermöglichen. Es

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ist jedoch auch möglich, dass eine Person ein Ereignis erinnert, das sie persönlich erfahren hat, das sie jedoch nicht wegen dieser Erfahrung erinnert, sondern weil sie die Tatsache vorher herausgearbeitet hat oder von einer anderen Person erfahren hat. So ist es möglich, dass eine Person sich erinnert, dass sie in einer bestimmten Stadt gewohnt hat, als sie klein war. Wenn sie darüber hinaus jedoch keinerlei Detailwissen erinnert, sondern nur erinnert, dass ihre Mutter ihr dies gesagt hat oder dass sie diese Tatsache ihrer späteren Lehrerin erzählte, kann ihr auch nur propositionales Erinnern zugeschrieben werden.78 Erinnerungen können daher durch den Wegfall von Detailwissen zu propositionalen Erinnerungen werden. Martin und Deutscher geben hierzu folgendes, anschauliche Beispiel: Wenn eine Person gefragt wird, ob sie sich erinnert, was sie letzten Freitagmittag getan hat, könnte sie sagen, dass sie die Straße herunterging. Es könnte jedoch sein, dass diese Person sich trotzdem nicht dazu in der Lage fühlt, zu sagen, dass sie sich tatsächlich an das Heruntergehen der Straße erinnert. Was diese Person bräuchte, um sagen zu können, dass sie sich an das Heruntergehen der Straße erinnert, wäre wenigstens etwas mehr Erinnern-dass2 bestimmte Dinge passierten, als sie die Straße hinunterging. Diese zusätzlichen Details sollten durch die ursprüngliche Wahrnehmung zustande gekommen sein. Dieser zweite Fall von Erinnern-dass erlaubt es, Fälle zu beschreiben, bei denen nur sehr wenige Details erinnert werden können, […].79

Dies spricht dafür, dass Erinnerungen einem ähnlichen Mechanismus unterliegen wie Wissen, das über Aussagen anderer weitergegeben wird: Sie können durch den Wegfall von Detailwissen von Wissen aus erster Hand zu Wissen aus zweiter Hand werden; während dies andersherum nicht einfach möglich ist.80 78 Vgl. Martin und Deutscher 1966, 162. 79 Martin und Deutscher 1966, 162–163. 80 Eine Stützung dieser Annahme kann durch die von Timothy Williamson vertretene Ansicht, dass das propositionale Wissen einer Person seine Evidenz darstellt, erfolgen. Vgl. Williamson 2002, 193–194. Wenn eine Person eine bestimmte Aussage vollständig vergessen hat, dann würde man ihr auch kein Wissen dieser Aussage mehr zuschreiben. Nun kann das Wissen dieser Aussage jedoch Evidenz für eine andere Aussage darstellen, die die Person erinnert. Es wäre in diesem Falle inkonsistent zu behaupten, dass die Person die erstere Aussage zwar nicht weiß, da sie sie nicht erinnert, jedoch noch in Form von Evidenz besitzt. Mithilfe der von Williamson vertretenen Ansicht, dass Wissen der allgemeinste, faktive mentale Zustand ist, könnte man allerdings auch argumentieren, dass eine Person im Falle von Erinnerungen mit vergessener Evidenz Wissen aus erster Hand erwirbt. Dies wäre dann der Fall, wenn man davon ausgeht, dass erinnern, ähnlich wie wahrnehmen, ein Zustand ist, der eine Unterkategorie von Wissen darstellt. Die Konzeption von Erinnerungen, analog zur Wahrnehmung, als Unterart von Wissen ist jedoch aus unabhängigen

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Diese Annahme würde gegen die These, dass das Gedächtnis preservationistisch funktioniert, sprechen. Die preservationistische Auffassung von Erinnerungen ist außerdem aus empirischen und aus philosophischen Gründen nicht haltbar. Der Begriff der preservationistischen Speicherung von Erinnerungen suggeriert die Vorstellung, dass unser Gedächtnis einfach wie ein Festplattenspeicher funktioniert und Daten auf Wunsch unverändert zum Wiederabruf bereitstellt.81 Dieses Bild der Arbeitsweise unseres Gedächtnisses steht allerdings im Widerspruch mit den aktuellen empirischen Daten zur tatsächlichen Arbeitsweise unserer kognitiven Systeme. Die empirische Forschung deutet darauf hin, dass unser Gedächtnis hochgradig konstruktiv arbeitet und bei jedem erneuten Abruf aktiv eigene Schlüsse aus Hintergrundinformationen einfügt, Kohärenz herstellt, Sachverhalte an bekannte Schemata anpasst und komprimiert.82 Auch aus philosophischer Sicht ist die These, dass Erinnerungen rein preservationistisch funktionieren, intuitiv nicht plausibel. Dies zeigen u.a. Bernecker und Lackey mithilfe diverser Gedankenexperimente.83 Beide gehen davon aus, dass Erinnerungen generativ funktionieren, das heißt, dass sie nicht nur in der Lage sind, den ursprünglichen Status der Rechtfertigung einer Aussage zu bewahren, sondern diesen auch zu verändern. Dies würde jedoch dafürsprechen, dass man sich den Status der Rechtfertigung zum Zeitpunkt des Wiederabrufens der Erinnerung anschauen sollte, um zu entscheiden, ob eine Aussage ausreichend gerechtfertigt ist, um Wissen darzustellen und die Art dieses Wissens zu bestimmen. Wissen könnte dann seinen Status des Aus-erster-Hand-Seins verlieren und zu Wissen aus zweiter Hand werden, sollte die gesamte domänenspezifische Evidenz vergessen worden sein. Eine Stützung dieses Wissens nach dem Prinzip der Gründen nicht überzeugend, dies zeigt u.a. Bernecker. Vgl. Bernecker 2008, 112–113; Bernecker 2009, Ch. 3. Vgl. auch Martin und Deutscher 1966, 167–168 für ein Gegenbeispiel. 81 Kornblith formuliert dies treffend: „What the term [purely preservative Anm. d. Verf.] seems to suggest is that memory functions, when it is working properly, as a passive recording device. By accurately preserving beliefs or perceptions, it allows our other cognitive capacities to go to work, at a later time, on this untainted data. Memory is a kind of Hall of Records, where files are kept for future use, as the occasion should arise.“ Christensen und Kornblith 1997, 15. 82 Vgl. Anderson 2015, 109–110, 161–165 für einen allgemeinen Überblick zum Stand der empirischen Forschung. Vgl. Bernecker 2008, 144–154; Michaelian 2013 für philosophische Interpretationen der kognitionswissenschaftlichen Ergebnisse. Vgl. Piaget und Inhelder [1971] 2015 für eine entwicklungspsychologische Sichtweise. Vgl. Reder 1982; Reder und Kusbit 1991; Weingardt, Loftus und Lindsay 1995; Dunning und Sherman 1997; Dodson und Schacter 2002; Schacter 2002; Wade et al. 2002 für empirische Einzelnachweise. 83 Vgl. Lackey 2005b, 2007b; Bernecker 2009, Ch. 3.

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kontinuierlichen Rechtfertigung wäre dennoch möglich, müsste dann jedoch reliabilistisch – also unter Berufung auf die generelle Verlässlichkeit des Erinnerns als Methode, um in Abwesenheit unterminierender Defeater Wissen zu generieren – begründet werden84. Wissen aus erster Hand weist in der Regel den epistemischen Vorteil der besseren Einbettung in das Netz des Wissens der Besitzerin auf85. Vergessen ist ein normaler Prozess der Gedächtnisökonomie86, der nicht komplett willkürlich erfolgt, sondern so, dass weniger wichtige Details eher vergessen werden als wichtige Informationen. Schlecht integrierte Aussagen überdauern den zeitlichen Verfall der Gedächtnisspuren nicht so leicht, wie gut eingebettetes und stark verknüpftes Wissen87. Deswegen sollte auch in Fällen von vergessener Evidenz untersucht werden, ob das erinnerte Wissen, soweit es ursprünglich aus erster Hand stammte, nicht doch Vorteile gegenüber Wissen aufweist, das von vornherein aus zweiter Hand stammt. Zu diesem Zweck kann überprüft werden, wie die inferentielle Verbindung einer bestimmten Überzeugung zu anderen Überzeugungen des Subjektes aussieht, ob das Wissen gut und sinnvoll verknüpft ist und ob die Disposition besteht, es als Prämisse für weitere Schlüsse verwenden zu können.88 Christensen und Kornblith entwickeln ein Gedankenexperiment, um dies zu illustrieren:

84 Vgl. Goldman 1999, 275–284. 85 Siehe Kapitel 3.2 in dieser Arbeit. 86 Hierauf weist beispielsweise Harman hin: „Ordinary inquiry shares features with the jurors’ predicament. Until an inquiry is ended, one needs to keep a record of reasons for various conclusions, possible counters to these reasons, counters to those counters, and so on. This means one must keep track of dependencies among one’s tentative hypotheses. If one had unlimited powers of record keeping and an unlimited ability to survey ever more complex structures of argument, replies, rebuttals, and so on, it would be rational always to accept things only tentatively as working hypotheses, never ending inquiry. But since one does not have such unlimited powers of record keeping and has a quite limited ability to survey reasons and arguments, one is forced to limit the amount of inquiry in which one is engaged and one must fully accept most of the conclusions one accepts, thereby ending inquiry. Tentative acceptance must remain a special case of acceptance. It cannot be the general rule.“ Harman 1989, 50. Der in dieser Arbeit vertretene Begriff von Wissen aus zweiter Hand kann diese Einsicht problemlos akkommodieren, da der Besitz von mehr domänenspezifischer Evidenz zwar pro tanto einen epistemischen Vorteil darstellt, die abschließende Bewertung jedoch im Einzelfall unter der Prämisse, dass Menschen endliche Wesen mit begrenzter Zeit und Gedächtniskapazitäten sind, erfolgen muss. 87 Vgl. hierzu z.B.Anderson 2015, 158–165, 335. 88 Hierfür argumentieren Christensen und Kornblith: „For it seems to us that the justificatory status of the background beliefs that help preserve a memory does affect the justificatory status of beliefs based on that memory.“ Christensen und Kornblith 1997, 16.

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Kapitel 5 Columbus: Sowohl Sophie als auch Sam erinnern die Überzeugung, dass die Wikinger lange vor Columbus Amerika entdeckten. Beide hatten ursprünglich gute Gründe für ihre Überzeugung, die sie jedoch bereits vergessen haben. Beide scheinen daher zunächst nach dem Prinzip der kontinuierlichen Rechtfertigung ausreichend gerechtfertigt zu sein. Allerding sind die Aussagen bei beiden Personen unterschiedlich in das Netz ihrer restlichen Überzeugungen integriert. Während Sophies Überzeugung inferentiell mit vielen anderen Überzeugungen über die Wikinger verbunden ist, die alle wahr sind und die sie in einem exzellenten Geschichtskurs an der Universität erworben hat, erinnert Sam die Überzeugung, dass die Wikinger vor Columbus Amerika entdeckten, weil diese in ein Netz unwahrer und unsinniger Aussagen über die Wikinger eingebettet ist. Diese Aussagen stammen aus dem Werk eines geistig verwirrten Geschichtsfreak, der Sam vor Jahren sein Werk gab. Unglücklicherweise glaubt Sam alle Aussagen in diesem Buch. Und obwohl seine Überzeugung, dass die Wikinger Amerika vor Columbus entdeckten, nicht aus diesem Werk stammt, sondern ursprünglich seriös erworben wurde, erinnert er sie nur, weil er sie in sein Netz der übrigen unwahren und verrückten Aussagen über die Wikinger integriert hat.89

Christensen und Kornblith argumentieren daher dafür, dass Sams und Sophies Überzeugungen einen unterschiedlichen Rechtfertigungsstatus aufweisen; und zwar aufgrund ihrer Einbettung in das Netz ihrer übrigen Überzeugungen. Sie schließen daraus, dass die genetische Abhängigkeit einer Überzeugung von ihrer inferentiellen Integration signifikantes epistemisches Gewicht hat.90 Obwohl im Beispiel von Christensen und Kornblith beide Protagonisten nur Aussagen aus zweiter Hand erinnern, lässt sich eine analoge Argumentation meines Erachtens auf die Frage nach dem Status einer Überzeugung als Wissen aus erster Hand oder Wissen aus zweiter Hand anwenden. Im Falle der vergessenen Evidenz für einen komplexen Beweis könnte der Unterschied in der Art des Wissens von zwei Personen – von denen die erste Person ursprünglich Wissen aus erster Hand besaß, da sie den Beweis vor Jahren selbst herleitete, während die zweite Person von Anfang an nur Wissen aus zweiter Hand besaß – folgendermaßen begründet werden: Die erste Person besitzt aufgrund der Einbettung dieser Aussage innerhalb ihres übrigen, mit dieser Überzeugung verbunden mathematischen Wissens, Wissen einer anderen Art. Sie besitzt einen epistemischen Vorteil gegenüber der Person, die ihr Wissen von vornherein aus zweiter Hand besaß und dieses niemals besonders nachhaltig in das Netz ihres restlichen Wissens integrierte, obwohl beide dieselbe Proposition wissen. Dieser Unterschied wird sich unter anderem darin zeigen, dass die erstere Person auch nach Jahren noch die Disposition besitzt, den Beweis mit einigem Nachdenken erneut erbringen zu können, während die zweite Person hierzu nicht in der Lage ist. Es ist ebenso 89 90

Christensen und Kornblith 1997, 16–17. Meine Übersetzung. Vgl. Christensen und Kornblith 1997, 17.

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intuitiv ersichtlich, dass ein Professor, der an Demenz erkrankt ist, und eine bestimmte, a priori erwerbbare Aussage zwar noch isoliert erinnert, jedoch nicht mehr selbstständig herleiten kann, diese Aussage ebenso wenig aus erster Hand weiß, wie der demente Professor, der dieselbe Aussage nur noch weiß, weil er sie sich in seinem Tagebuch notiert hat und sich daher zur Rechtfertigung der Aussage nur auf das Zeugnis seines früheren Selbsts verlassen kann. Die Annahme, dass die Art des Wissensstatus einer Aussage durch die Erinnerungen in jedem Falle gewahrt bleibt, kann daher ebenso zurückgewiesen werden, wie dies in Kapitel  3.4.2 für Aussagen, die über Testimony weitergegeben wurden, dargelegt wurde. Die Erinnerung kann den Status einer Aussage als Wissen aus erster Hand genauso wenig unter allen Umständen bewahren wie die testimoniale Weitergabe. Zusammenfassung: Die Abhängigkeit der Art des Wissensstatus einer Aussage von ihrer Genese ist kein Beleg für die Richtigkeit preservationistischer Theorien, sondern zeigt nur, dass die Genese in der Regel die Güte der inferentiellen Integration einer Aussage in das Wissensnetz der Besitzerin mitbestimmt. Im Falle von vergessener Evidenz erscheint es unter Annahme eines generativen Verständnisses von Erinnerungen plausibel, dass sich der Status des Wissens ändert und einer Person, die ursprünglich Wissen aus erster Hand besaß, nur noch Wissen aus zweiter Hand zugeschrieben werden kann, wenn ihre Erinnerungen derart reduziert sind, dass sie jegliche domänenspezifische Evidenz für die betreffende Aussage vergessen hat und ihre Integration der betreffenden Aussage in ihr eigenes Wissensnetz nicht besser ist, als wenn sie dieses Wissen aus zweiter Hand erworben hätte. 5.2.2 Wissen aus zweiter Hand im Falle generativer Erinnerungen Der generative Ansatz von Erinnerungen geht im Gegensatz zum preservationistischen Ansatz davon aus, dass sich der Rechtfertigungsstatus einer erinnerten Aussage derart ändern kann, dass durch die Erinnerungen nicht nur Evidenz verloren gehen kann, sondern auch Rechtfertigung gewonnen und somit Wissen neu generiert werden kann.91 Dies setzt voraus, dass für die Bestimmung des Wissensstatus vorrangig die Evidenz zählt, die das Subjekt gegenwärtig zur Verfügung hat.92 In diesem Kapitel möchte ich der Frage nachgehen, welchen Status Erinnerungen haben, die neues Wissen aus Aussagen 91 92

Hierzu zum Beispiel Bernecker 2009, 103. Hierdurch sollen aktuelle normative Defeater, die das Subjekt nicht besitzt, natürlich nicht ausgeschlossen werden. Ausgeschlossen werden sollten nur normative Defeater, die vom aktuellen epistemischen Standort des Subjektes aus keine Anfechtungsgründe darstellen, ebenso wie vergessene positive Evidenz nicht uneingeschränkt zur gegenwärtigen Rechtfertigung herangezogen werden sollte.

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generieren, die zwar aus erster Hand erworben wurden, jedoch ursprünglich nicht gerechtfertigt waren. Hierbei gilt es zu bedenken, dass es verschiedene Arten und Weisen gibt, die Generativität von Erinnerungen zu konstruieren, die jeweils unterschiedliche Versionen des Generativismus unterstützen. So wird grundsätzlich zwischen einer moderaten und einer starken Version des Generativismus unterschieden, wobei im Falle des moderaten Generativismus nur behauptet wird, dass Erinnerungen generell in der Lage sind, Wissen zu generieren, indem sie den Status der Rechtfertigung einer Aussage ändern.93 Dies kann auch über die Bereitstellung von ultima facie Rechtfertigung erreicht werden, wenn eine andere Quelle als die Erinnerung zuvor die prima facie Rechtfertigung generiert hat.94 Fälle, in denen Erinnerungen dadurch Wissen generieren, dass die Rechtfertigung zuvor behindernde Defeater nicht mehr erinnert werden, unterstützen daher einen moderaten Generativismus.95 Eine starke oder robuste Version des Generativismus setzt hingegen voraus, dass Erinnerungen auch in der Lage sind, prima facie Rechtfertigung zu generieren.96 Diese Form des Generativismus wird von seinen Vertretern durch Fälle von abstrahierenden Erinnerungen, zum Beispiel durch das Phänomen der Nivellierung von Erinnerungsinhalten und Fälle von konstruktiven Erinnerungen, zum Beispiel durch Phänomene wie die Grenzerweiterung von Erinnerungsinhalten97 93 „Basic Epistemic Generativism about Memory: S can justifiedly believe (know) at time t2 that p on the basis of memory even if S did not justifiedly believed (knew) at t1 that p* on the basis of a source other than memory.“ Bernecker und Grundmann 2019, 527. 94 Vgl. zur Unterscheidung von prima facie / ultima facie Rechtfertigung zum Beispiel Senor: „A belief is prima facie justified if it attains the level of justification which, in the absence of undefeated epistemic defeat, will be sufficient for its being ultima facie justified.“ Senor 2007a, 206. 95 Vgl. hierzu Bernecker und Grundmann 2019, 528. 96 „Robust Epistemic Generativism about Memory: S can justifiedly believe (know) at time t2 that p on the basis of memory even if the prima facie justification (warrant) of S’s belief at t2 is not solely due to evidence ( justificatory factors) that S already possessed at t1 and that was provided by a source other than memory.“ Bernecker und Grundmann 2019, 528. Senor argumentiert hingegen, dass nur eine starke Form des Generativsmus, bei der prima facie Rechtfertigung generiert wird, überhaupt als echte Form des Generativismus anerkannt werden sollte. Vgl. Senor 2007a, 207. 97 Im Original „boundary extension“. Boundary extension beschreibt das Phänomen, dass Erinnerungen für eine erlebte Szene oder ein Bild oft Details enthalten, die nicht wirklich gesehen werden konnten, jedoch hinter den Grenzen des Bildes hätten sein können. So wird zum Beispiel die Form von Figuren, die durch das Format am Rand abgeschnitten sind, in der Erinnerung ergänzt. Vgl. Intraub und Richardson 1989. Es ist in der Psychologie nicht abschließend geklärt, ob dieser Effekt die antizipatorische Natur der Wahrnehmung nachahmt oder durch wiederholten Wiederabruf der Erinnerungen hervorgerufen wird,

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und die nachträgliche Einfügung von Informationen98 belegt. Generativität kann daher sowohl mit der Generierung von Erinnerungsinhalten als auch mit der Elimination von Inhalten einhergehen.99 In allen Fällen wird jedoch Wissen generiert, das vor dem Prozess des Erinnerns noch nicht in dieser Form zur Verfügung stand. Für dieses Wissen stellt sich die Frage, inwiefern es aus erster Hand stammt, wenn es sich um personale Erinnerungen handelt. Ich möchte im Folgenden Fälle von weggefallenen normativen und vergessenen doxastischen Defeatern betrachten und zeigen, dass beide voraussetzen, dass sich der epistemische Standort des Subjektes von t1 zu t2 ändert und der epistemische Standort und die zur Verfügung stehende Evidenz zum Zeitpunkt des Erinnerns ausschlaggebend für die Rechtfertigung des Subjekts sind. Solange ein Subjekt domänenspezifische Evidenz erinnert, kann daher davon ausgegangen werden, dass es Wissen aus erster Hand besitzt. Wenn die Generativität der Erinnerungen jedoch darauf aufbaut, dass sich der epistemische Standort des Subjekts durch den Wegfall von Defeatern ändert und gleichzeitig domänenspezifische Evidenz nicht mehr erinnert wird, stellt sich die Frage, ob der Erinnernden noch Wissen aus erster Hand zugeschrieben werden kann. Ich möchte zunächst auf Fälle von weggefallenen normativen Defeatern eingehen. Ich werde hierzu ein bekannteres Beispiel von Lackey so umformen, dass es den Fall des Erwerbs einer Aussage aus erster Hand darstellt. Korruption:100 Veronika, die Besucherin des Bürgermeisters einer großen Stadt, wird Augenzeugin, wie dieser Bürgermeister nach einer Durchsuchung der Amtsräume festgenommen wird. Der einzige weitere Zeuge ist ein Reporter, der den Sachverhalt sofort der Presseagentur durchgibt. Um die politische Reputation des Bürgermeisters zu schützen, wird der Sachverhalt in den großen Zeitungen der Stadt jedoch anschließend so präsentiert, dass es sich bei der Durchsuchung um einen Irrtum gehandelt habe und die vermeintliche obwohl Ersteres mittlerweile als wahrscheinlicher gilt. Vgl. Intraub 2002; Munger und Multhaup 2016. Vgl. Michaelian 2011. für eine epistemische Einordnung des Phänomens. 98 Im Original „information effect“ oder „misinformation effect“. Der (Miss-) Informationseffekt tritt auf, wenn Augenzeugen wahre oder falsche Aussagen, die sie aus zweiter Hand erworben haben, beim Wiederabruf unwissentlich in ihre eigenen personalen Erinnerungen einbauen. Vgl. Loftus und Pickrell 1995; McClelland 1997; Loftus 2005; McClelland 2010. Vgl. Michaelian 2013 für eine epistemische Einordnung des Phänomens. 99 Vgl. Michaelian 2011. 100 Siehe Lackey 2005a, 640 für das Orginalbeispiel.

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Festnahme gar keine Festnahme gewesen sei. Der Bürgermeister sei freiwillig mit den Beamten mitgegangen, um in der Sache als Zeuge auszusagen. Die Sekretärin, die den Sachverhalt anfangs völlig richtig einschätzte, hätte durch diese massive Gegendarstellung in allen wichtigen Medien in ihrer Stadt eigentlich einen Defeater erwerben müssen, der sie an der Richtigkeit ihrer Wahrnehmung hätte zweifeln lassen müssen. Sie war jedoch so stark mit privaten Problemen beschäftigt, dass sie von dieser Berichterstattung nichts mitbekommt. Zu diesem Zeitpunkt t1 glaubt sie zwar weiterhin, dass der Bürgermeister wegen Bestechung verhaftet wurde, jedoch besitzt sie kein Wissen, da die Darstellung in den Medien einen unangefochtenen normativen Defeater darstellt, der ihr Wissen unterminiert.101 Zu einem späteren Zeitpunkt t2, als Veronika die Verhaftung des Bürgermeisters erinnert, haben investigative Medien jedoch bereits die Wahrheit über die Verhaftung aufgedeckt, da der Skandal so groß wurde, dass er sich nicht mehr vertuschen ließ. Der normative Defeater, der zu t1 Veronika daran hinderte, Wissen zu erwerben, ist zum Zeitpunkt t2 weggefallen, weshalb Veronika durch ihre Erinnerung Wissen generieren kann, das sie vorher nicht besaß.102 Dieses Beispiel wird deshalb als Beleg für die Generativität von Erinnerungen gewertet, weil Veronika zu t2 durch ihre Erinnerung ultima facie Rechtfertigung erwirbt, die sie zu t1 nicht besaß.103 Es muss hier berücksichtigt werden, dass Veronika keine neue domänenspezifische Evidenz erwirbt. Vielmehr hat sich ihr epistemischer Standort geändert, weshalb die domänenspezifische Evidenz, die sie bereits besaß, nun ausreicht, um die betreffende Aussage zu rechtfertigen. Die Annahme, dass sich Veronikas epistemischer Standort geändert hat, ist meines Erachtens zwingender Bestandteil der Argumentation. Ansonsten kann der Einwand der Preservationistin, dass der

101 Man könnte im Gegensatz zu Lackeys Originalfall, in dem die Akteurin von vornherein nur Wissen aus zweiter Hand erwirbt, hier auch argumentieren, dass Veronikas epistemische Platzierung so viel besser als die der Journalisten ist, dass für ihr Wissen aus erster Hand durch die Medienaussagen gar kein normativer Defeater entsteht. Dieser Einwand kann aber entkräftet werden, da auch bei Wissen aus erster Hand durch die massive Übereinstimmung gegenteiliger Aussagen ein Defeater erworben werden kann, selbst wenn diese Aussagen aus Quellen stammen, die nur Wissen aus zweiter Hand besitzen. Siehe hierzu Fricker 2006b, 236–237. 102 Siehe hierzu auch Lackey 2005a, 640–641. 103 Bernecker und Grundmann 2019, 528.

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normative Defeater, der zum Zeitpunkt t1 bestand, zu t2 fortbesteht, nicht entkräftet werden.104 Die Annahme, dass sich der epistemische Standort von Veronika ändert, ist daher Voraussetzung für die These, dass in diesem Fall durch die Erinnerung Wissen generiert wird. Unter der Vorannahme, dass sich Veronikas epistemischer Standort geändert hat, liegt jedoch der Gedanke nicht fern, zu überprüfen, ob Veronika dann noch Wissen aus erster Hand erinnert. Hier sollten zwei mögliche Fälle unterschieden werden: In Fall A erinnert Veronika zu t2 noch die gesamte oder einen Großteil der domänenspezifischen Evidenz in Form von Wahrnehmungsdetails. In Fall B ist so viel Zeit vergangen, dass Veronika keinerlei Details mehr erinnert.105 Sie erinnert bloß die Tatsache, dass der Bürgermeister verhaftet wurde. In Fall A scheint es unproblematisch, Veronika weiterhin Wissen aus erster Hand zuzuschreiben. In Fall B erfüllt sie jedoch offensichtlich die Bedingungen für die Zuschreibung von Wissen aus zweiter Hand: Sie besitzt bloß die Evidenz, dass p, die sie aus einer verlässlichen oder anderweitig wahrheitsbefördernden Quelle R erhalten hat, die bezüglich p zu t2 einen anderen epistemischen Standort als sie selbst besitzt. Es stellt sich hier weiterhin die Frage, ob Veronikas früheres Selbst zu t1 die Position einer Quelle zu ihrem jetzigen Selbst zu t2 einnehmen kann. Falls diese Frage positiv beantwortet wird, sollte Veronika in Fall B Wissen aus zweiter Hand zugeschrieben werden. Die Zuschreibung von Wissen aus zweiter Hand bietet in diesem Falle die Möglichkeit, den Einwand der Preservationistin, dass der normative Defeater fortbestehe, entschieden zu entkräften. Denn die Rechtfertigung des Wissens wird in diesem Fall eindeutig nicht über die Bewahrung der Originalrechtfertigung von Zeitpunkt t1 zu Zeitpunkt t2 erreicht, sondern durch die Verlässlichkeit des überzeugungsbildenden Prozesses, der es erlaubt, die domänenunabhängige Evidenz, die von einer Quelle mit einem anderen epistemischen Standort erworben wurde, vom gegenwärtigen Standort aus neu zu bewerten. Eine ähnliche Argumentation kann im Falle eines vergessenen doxastischen Defeaters sicherstellen, dass dieser vergessene Defeater nicht einfach zu einem unangefochtenen normativen Defeater wird. Ich möchte auch 104 Siehe für diese Argumentation Senor 2007b, 204–205. 105 Ich gehe davon aus, dass Veronika in diesem Falle weiterhin Wissen besitzt, obwohl sie keine domänenspezifische Evidenz mehr erinnert. Lackey gibt jedoch zu bedenken, dass nicht klar ist, ob es sich in einem solchen Fall überhaupt noch um Wissen handelt. Vgl. Lackey 2007c, 212–213. Dieser Einwand kann aufgrund der Grenzen des Umfangs dieser Arbeit hier nicht behandelt werden.

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hierzu kurz ein Beispiel von Lackey vorstellen und auf die preservationistischen Gegenargumente eingehen: Skeptische Zweifel: Claire hat, nachdem sie in einem Philosophiekurs das Argument des bösen Dämons kennengelernt hat, ernste skeptische Zweifel an ihrer Sinneswahrnehmung. Diese sind so stark, dass sie überzeugt ist, dass sie das Opfer einer solchen Täuschung sein könnte und ihrer Sinneswahrnehmung zeitweise nicht traut. Tatsächlich ist sie jedoch kein Opfer einer solchen Täuschung und ihre Sinneswahrnehmung funktioniert sehr zuverlässig. Als sie gedankenverloren aus dem Fenster der Uni schaut und einen Rotschwanzbussard über dem Gelände kreisen sieht, bildet sie, aus alter Gewohnheit, trotzdem die Überzeugung, dass gerade ein Rotschwanzbussard über das Universitätsgelände hinweggeflogen ist. Sie kann jedoch zu diesem Zeitpunkt t1 kein Wissen erwerben, da ihre skeptischen Zweifel einen unangefochtenen doxastischen Defeater darstellen. Einige Zeit später studiert Claire hingegen Betriebswirtschaftslehre, ihre skeptischen Zweifel von damals sind vollständig verschwunden. Ihre Kommilitoninnen sprechen gerade über heimische Wildvögel, weshalb sie sich erinnert, dass sie letztes Semester einen Rotschwanzbussard über dem Universitätsgelänge kreisen sah. Da Claire ihre skeptischen Zweifel jedoch zwischenzeitlich verloren hat, besitzt sie nun keinen unangefochtenen doxastischen Defeater gegen ihre Überzeugung mehr. Ihr kann daher zu diesem Zeitpunkt t2, zu dem sie die Aussage erinnert, Wissen zugeschrieben werden, das sie zum früheren Zeitpunkt t1 nicht besaß.106

Dieser Fall zeigt, dass auch der Wegfall doxastischer Defeater Wissen durch Erinnerungen generieren kann, indem Aussagen, die ursprünglich keine ultima facie Rechtfertigung besaßen, diese beim Wiedererinnern erwerben.107 Senor argumentiert hiergegen jedoch, dass der unangefochtene doxastische Defeater den Claire zu t1 besitzt, zu t2 nicht einfach verschwindet, nur weil Claire ihn nicht mehr erinnert. Stattdessen würde dieser Defeater durch das Nichterinnern bloß zu einem unangefochtenen normativen Defeater. Claire sei daher auch zu t2 weiterhin nicht gerechtfertigt, die Aussage zu glauben und besitze daher kein Wissen. Die Generativistin und die Preservationistin befinden sich argumentativ in einer Patt-Situation, wie Senor und Lackey richtig bemerken. Diese Pattsituation entsteht, weil beide nicht dieselben Hintergrundannahmen teilen: Die Generativistin geht davon aus, dass im Falle vergessener Defeater die Evidenzlage der Gegenwart gilt, während die Preservationistin davon ausgeht, dass die historische Genese und die Evidenzlage zum Zeitpunkt des ursprünglichen Erwerbs der Aussage ausschlaggebend sind.108 106 Im Original in Lackey 2005a, 646. 107 Vgl. Senor 2007b, 207–208. 108 Senor argumentiert hierzu folgendermaßen: „Lackey is here assuming that the belief is defeated at t only if there is a doxastic or normative defeater at t. But this assumption is rejected by the preservationist. For it is part and parcel of the preservationist claim that,

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Diese Situation könnte die Vertreterin des Generativismus dadurch auflösen, dass sie darauf besteht, dass sich der epistemische Standort des Subjektes von t1 zu t2 geändert hat. In diesem Falle ist klar, dass auch etwaige doxastische Defeater, die zu t1 auf das Subjekt eingewirkt haben, insofern sie zu t2 nicht mehr bestehen, ihre Anfechtungswirkung verloren haben. Aus dieser Argumentation folgt dann jedoch auch, dass der Wissensbesitzerin nur Wissen aus zweiter Hand zugeschrieben werden sollte, falls sie zu t2 keine domänenspezifische Evidenz mehr erinnert. Eine ähnliche Argumentation könnte im Falle von abstrahierenden Erinnerungen herangezogen werden, falls durch Erinnerungen prima facie Rechtfertigung generiert werden kann.109 Hier stößt der Begriff jedoch aufgrund der Komplexität der Beispielfälle an seine Grenzen; u.a. da die Bewertung auch davon abhängt, inwiefern es sich bei den zugrundeliegenden Prozessen um bedingt zuverlässige Prozesse handelt.110 Die Zuschreibung von Wissen aus zweiter Hand in den obigen Beispielfällen könnte das Problem lösen, dass die generativistische Bewertung der Fälle zwar intuitiv richtig erscheint, jedoch mit einer anderen Intuition bezüglich Erinnerungen in Konflikt steht: Nämlich derjenigen; dass der epistemische Status einer Überzeugung, die unvollständig erinnert wird, nicht besser sein sollte als der epistemische Status zu der Zeit, zu der die Überzeugung gebildet wurde.111 Sollte eine Person zu t2 durch ihre generative Erinnerung Wissen aus zweiter Hand besitzen, so ist der epistemische Status dieses Wissens besser als der der Aussage zu t1, falls die Aussage zu t1 gar kein Wissen darstellte. Hätte dieselbe Person jedoch zu t1 alle Bedingungen erfüllt, um ihre Überzeugung zu wissen, without the addition of an epistemic boost, the epistemic status of a memory belief cannot be greater than its status at the time the belief was formed. That is to say, in the absence of new evidence, a belief’s being defeated at an earlier time is sufficient for its being defeated at the later time. The response that the preservationist should give to the case of Nora [this case is analogue to Claire’s case – Anm. d. Verf.] is that since the original belief was defeated by her belief […] then, ceteris paribus, her having that defeater at the earlier time serves to defeat her belief at the later time. That is, the defeater continues its work when the belief is remembered even if it is neither a doxastic nor a normative defeater, indeed even if it no longer exists.“ Senor 2007b, 203–204. Lackey entgegnet auf diese Argumentation: „As far as I can tell, this response does little more than reiterate the very view that is being targeted by my counterexamples – preservationism.“ Lackey 2007c, 210. 109 Das von Bernecker und Grundmann entworfene Gedankenexperiment Sitzplatzzähler illustriert die Möglichkeit eines solchen robusten Generativismus am Beispiel des, in der Psychologie gut belegten, Phänomens der Nivellierung von Gedächtnisinhalten. Vgl. Bernecker und Grundmann 2019, 529. 110 Vgl. hierzu Grundmann 2021, 9. 111 Dies ist Voraussetzung der preservationistischen Argumentation. Vgl. z.B. Senor 2007b, 203.

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so hätte sie Wissen aus erster Hand besitzen können, welches determinierter und daher epistemisch wertvoller gewesen wäre als das Wissen aus zweiter Hand, das sie zu t2 besitzt. So kann die Intuition, dass der epistemische Status einer Überzeugung, die unvollständig erinnert wird, sich eigentlich nicht verbessern kann, trotz eines generativen Ansatzes gewürdigt werden. Denn die betreffende Person kann so zwar durch die Erinnerungen Wissen generieren, bei diesem handelt es sich jedoch nicht mehr um Wissen aus erster Hand. Die Zuschreibung von Wissen aus zweiter Hand in diesen Fällen, setzt jedoch voraus, dass das frühere Selbst einer Person eine Quelle an Informationen für deren späteres Selbst darstellen kann. Diese Einschätzung steht jedoch in Spannung mit dem Verständnis des Begriffs der Quelle, wie er in der Psychologie der Erinnerungen verwendet wird. Hier wird davon ausgegangen, dass Erinnerungen in Form von Gedächtnisspuren abgespeichert werden.112 Ausschlaggebend für die Bewertung, ob etwas eine episodische Erinnerung darstellt, ist die Kausalgeschichte der Gedächtnisspur und die Frage, ob es bei der Bildung der Erinnerungsspur eine andere Quelle gab als die Erfahrung der betroffenen Person selbst. Der Detailreichtum und die Einbettung einer erinnerten Information sind die ausschlaggebenden Faktoren, die im Rahmen der Quellenerinnerung zur Kontrolle herangezogen werden, um zu entscheiden, ob eine Erinnerung personalen Ursprungs ist oder nicht: „Erinnerungen, die der Wahrnehmung entstammen, weisen typischerweise mehr Details oder Eigenschaften (zum Beispiel Farbe, Klang) aus der Wahrnehmung auf, mehr kontextuelle Details, wie Zeitpunkt und Ort, mehr semantische Details und mehr affektive Informationen.“113 Diese Marker stellen jedoch bloß Indikatoren dar, die auch fehlerhaft sein können. Die tatsächliche Bestimmung der Quelle erfolgt über die Frage, ob das erinnernde Individuum wirklich eine persönliche Erfahrung gemacht hat, die ursächlich für die Bildung der Erinnerung war oder von diesem Ereignis beispielweise nur gehört hat.114 Eine episodische Erinnerung behält daher ihren Status unabhängig vom tatsächlichen Vorhandensein oder Verlust weiterer domänenspezifischer Evidenz. Es wird außerdem angenommen, dass das Monitoring der Quelle der Erinnerungen ein Prozess ist, der die Verlässlichkeit der Erinnerungen als Methode der Wissensgewinnung sicherstellt.115 Eine fehlerhafte Quellenerinnerung schränkt daher die generelle Verlässlichkeit der 112 Vgl. Anderson 2015, Ch. 6, 7. 113 Johnson 1997, 1734. 114 Vgl. Johnson und Mitchell 2000. 115 Vgl. Michaelian 2011, 329.

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betreffenden Erinnerungen ein. Die Grenze zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand kann daher nicht analog zu der Unterscheidung zwischen Wissen, das aus semantischen und episodischen Erinnerungen gewonnen wird, bestimmt werden. Zusammenfassung: In Fällen von generativen Erinnerungen, bei denen der positive Wissensstatus dadurch erreicht wird, dass Defeater vergessen werden, sollte Wissen aus zweiter Hand zugeschrieben werden, da davon ausgegangen werden muss, dass die Defeater ihre anfechtende Wirkung deshalb verlieren, weil das erinnernde Subjekt zu t2 einen anderen epistemischen Standort aufweist als zu t1. Der weite Begriff von Wissen aus zweiter Hand kann daher einerseits herangezogen werden, um generativistische Erinnerungstheorien zu unterstützen. Er kann erklären, weshalb es möglich ist, durch Erinnerungen Wissen zu generieren und gleichzeitig die Intuition würdigen, dass der Wegfall von Informationen eigentlich zu einer Verschlechterung der epistemischen Ausgangsposition eines Subjektes führen sollte. Denn die Agentin erwirbt in den oben dargelegten Fällen zwar Wissen, das sie zuvor nicht besaß, hierbei handelt es sich jedoch um Wissen aus zweiter Hand. Andererseits zeigt die obige Diskussion, dass der unabhängige Beleg der Richtigkeit des Generativsmus auch für die Fruchtbarkeit des hier entwickelten Begriffs von Wissen aus zweiter Hand sprechen würde, da beide eine wichtige Grundannahme teilen: Nämlich, dass für die Bestimmung des Wissensstatus einer Proposition grundsätzlich die Evidenzlage der Gegenwart zählt. Die Bedeutung der historischen Dimension, die einige Autorinnen annehmen, kann im Rahmen der vorgeschlagenen Begrifflichkeiten dadurch erklärt werden, dass die Genese des Wissens in der Regel die Menge an zur Verfügung stehender domänenspezifischer Evidenz und die Güte der Einbettung des Wissens in das Wissensnetz der Besitzerin mitbestimmt. Wissen aus zweiter Hand im Falle von inhaltsgenerierenden Erinnerungen und Quasi-Erinnerungen Bislang haben wir uns in diesem Kapitel damit beschäftigt, ob Wissen aus erster Hand zu Wissen aus zweiter Hand werden kann, wenn domänenspezifische Evidenz verloren geht. Nun ist es jedoch auch möglich, dass im Erinnerungsprozess domänenspezifische Evidenz hinzugewonnen wird. Dies kann beispielweise bei Wissen aus konstruktiven Erinnerungen oder beim Besitz von Quasi-Erinnerungen auftreten. Hier stellt sich dann die Frage, ob Wissen, das ursprünglich aus zweiter Hand besessen wurde, im Laufe des Erinnerungsprozesses zu Wissen aus erster Hand werden kann. 5.2.3

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Inhaltsgenerierende Erinnerungen sind Erinnerungen, bei denen zusätzliche Informationen, die zur Zeit der Erinnerungsbildung nicht vorhanden waren, zum Zeitpunkt des Widerabrufens neuen Inhalt generieren.116 Dieser Inhalt kann wahr oder falsch sein. Im Falle der Einfügung falschen Inhaltes kommt es zum Fehlinformationseffekt.117 Michaelian plädiert dafür, diesen Effekt im Rahmen eines generellen Informationseffekts zu verstehen und den Einbau zusätzlicher Informationen in Erinnerungen als den normalen konstruktiven Arbeitsmodus unseres Gedächtnisses zu begreifen.118 Denn dieses diene nicht dazu, Informationen in ihrer ursprünglichen Form zu bewahren, sondern für den späteren Gebrauch relevante Informationen zu speichern.119 Er geht daher davon aus, dass Akteuren, die während des episodischen Wiedererinnerns ihr Wissen unbemerkt um Wissen ergänzen, das sie erst nach dem Zeitpunkt der Erinnerungsbildung von anderen Personen erhalten haben, trotzdem Wissen aus Erinnerungen zugeschrieben werden kann. Diese These ist strittig, da einerseits nicht klar ist, ob es sich in diesem Falle um Erinnerungen handelt120, andererseits ist nicht klar, ob es sich noch um Wissen handelt, da die Akteure über diese Art von unwillkürlicher Inkorporation von zusätzlichen Informationen in der Regel keine willentliche Kontrolle ausüben können. Deshalb kann nicht klar bestimmt werden, inwiefern die Übereinstimmung der Erinnerungen mit der Wirklichkeit auf Glück basiert oder auf eine verlässliche Methode zurückgeführt werden kann.121 Trotzdem gibt es Autorinnen, die davon ausgehen, dass episodische Erinnerungen, die vom Informationseffekt betroffen sind, Wissen aus Erinnerungen darstellen können.122 116 Vgl. Michaelian 2011, 325. 117 Im Original „Misinformation effect“. Vgl. Michaelian 2013, 2429. Vgl. Weingardt, Loftus und Lindsay 1995; Loftus 2005 für die empirische Evidenz. 118 Vgl. Michaelian 2013, 2429, 2452. 119 Vgl. Michaelian 2013, 2431. 120 So geht beispielsweise Bernecker davon aus, dass der Einbau zusätzlicher Informationen in die Erinnerungen nicht mit der Wahrheits-Bedingung vereinbar ist. Vgl. Bernecker 2008, 162. Auch bei Annahme eines reflexiven Verständnisses des Inhaltes von episodischen Erinnerungen, das heißt wenn davon ausgegangen wird, dass der Inhalt einer episodischen Erinnerung notwendig auf eine Erfahrung des Akteurs aus der Perspektive, aus der die Erfahrung gemacht wurde, referiert, würden nachträglich inkorporierte Informationen gegen die Wahrheitsbedingung verstoßen. Vgl. Fernández 2019, Ch. 3. Außerdem könnte die Anerkennung von vermeintlich episodischen Erinnerungen, die inkorporierte Informationen aus den Aussagen anderer enthalten, inkompatibel mit der kausalen Theorie von Erinnerungen sein. Vgl. Michaelian 2013, 2452. 121 Vgl. Michaelian 2013, 2443, 2450. 122 Vgl. beispielsweise Michaelian 2011, 2013.

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Da es sich bei Wissen aus episodischen Erinnerungen in der Regel um Wissen aus erster Hand handelt, das inkorporierte Wissen jedoch aus zweiter Hand stammt, stellt sich die Frage, ob der gesamten Erinnerung noch der Status von Wissen aus erster Hand zugeschrieben werden kann. Ich möchte dies an einem Beispiel erläutern: Stoppschild: Eine Person erinnert sich an einen Autounfall an einer Kreuzung, den sie als Augenzeugin miterlebt hat. Sie kann aus ihrer Perspektive ein Schild sehen, sieht jedoch nicht bewusst genug hin, um zu erkennen, dass es sich um ein Stoppschild handelt. Bei einer späteren Befragung wird ihr suggeriert, dass dort ein Stoppschild stand; diese Aussage ist auch wahr. Die Information baut sie beim erneuten Wiederabruf in ihre Erinnerung ein, ohne dass es ihr bewusst ist.123 Die Beantwortung der Frage, ob es sich bei dieser Erinnerung um Wissen aus erster Hand oder Wissen aus zweiter Hand handelt, ist von zwei Vorentscheidungen abhängig. Zunächst muss die Aussage, die erinnert wird, genau eingegrenzt werden. Geht es um die Erinnerung der Aussage, dass dort (an Position XY, zum Zeitpunkt t) ein Stoppschild stand, so kann die Zeugin die Aussage sicherlich nur aus zweiter Hand wissen. Die Erinnerung an den komplexen Unfallhergang – dass der schwarze Mercedes an der Kreuzung vor dem Stoppschild zunächst nicht langsamer wurde, dann aber relativ abrupt abbremste und einen Auffahrunfall mit dem gelben Toyota provozierte, der dem Mercedes sehr dicht und ohne den Mindestabstand einzuhalten, folgte – könnte jedoch weiterhin als Wissen aus erster Hand bewertet werden. Entscheidend ist hier, wie streng die Begrifflichkeiten ausgelegt werden sollten; dies kann abhängig vom jeweiligen Zuschreibungskontext sein. Bei einer weniger strengen Auslegung, wenn von dem Unfall im Bekanntenkreis erzählt wird, könnte die Schilderung des Unfallherganges weiterhin als Wissen aus erster Hand gewertet werden. Strenggenommen beruht die Schilderung jedoch in Teilen mittelbar auf domänenunabhängiger Evidenz. Daher könnte in einem hochrisikoreichen Kontext oder in einem Kontext, in dem direkte Zeugenschaft vorausgesetzt wird, der Status der Erinnerung als Wissen aus erster Hand in Frage gestellt werden. In solch einem Fall könnte die Weitergabe des Unfallherganges als Wissen aus erster Hand, ohne die Anteile kenntlich zu machen, die auf domänenunabhängiger Evidenz beruhen, die 123 Das Beispiel ist angelehnt an einen Vorschlag von Michaelian 2013, 2435 und folgt im Aufbau einer Untersuchung von Loftus 2005.

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Unangemessenheitsintuition auslösen und Zweifel an der Verlässlichkeit der Sprecherin hervorrufen. In einem Gerichtsprozess, in dem direkte Zeugenschaft vorausgesetzt wird, würde die Glaubwürdigkeit der Sprecherin in Zweifel gezogen, wenn gezeigt werden könnte, dass sie das Stoppschild, auf das sie in ihrer Aussage referiert, aus ihrer Perspektive gar nicht als Stoppschild erkennen konnte. In einem anspruchsvollen Gesprächskontext sollte der Akteurin, deren episodische Erinnerungen vom Informationseffekt betroffen sind, daher nur Wissen aus zweiter Hand zugeschrieben werden. Anders verhält es sich bei Wissen, das aus Quasi-Erinnerungen gewonnen wird. Der Begriff der Quasi-Erinnerungen beschreibt Erinnerungen, die kein Urteil über die Identität der Erinnernden enthalten, weshalb es grundsätzlich möglich ist, die Gedächtnisinhalte einer anderen Person quasi zu erinnern.124 In diesem Falle könnte es möglich sein, dass eine Person Wissen aus erster Hand erwirbt, obwohl die domänenspezifische Evidenz für dieses Wissen von einem anderen epistemischen Standort aus erworben wurde. Fälle, in denen Personen die personalen Erfahrungen anderer Akteure erinnern, beschränken sich jedoch auf hypothetische Fälle in anderen möglichen Welten oder personale Zustände infolge komplexer Störungsbilder, zum Beispiel in Fällen dissoziativer Identitätsstörungen, in denen eine Person verschiedene, voneinander abgegrenzte Persönlichkeitszustände besitzt, die das Erleben, Denken und Erinnern der Person bestimmen.125 In der Philosophie ist der Begriff der Quasi-Erinnerungen umstritten, da einige Autorinnen anzweifeln, dass es möglich ist, einen Begriff von QuasiErinnerungen nicht-zirkulär von einem von der Kontinuität der personalen Identität abhängigen Begriff von Erinnerungen abzugrenzen.126 Bernecker zeigt jedoch, dass diese Abhängigkeit eine kontingente Tatsache ist und es durchaus möglich ist, einen Begriff von Quasi-Erinnerungen zu konzipieren, 124 Vgl. Shoemaker 1970, 271–275. Parfit definiert Quasi-Memory folgendermaßen: „I have an accurate quasi‐memory of a past experience if (1) I seem to remember having an experience, (2) someone did have this experience, and (3) my apparent memory is causally dependent, in the right kind of way, on that past experience.“ Parfit 1986, 220. 125 Diese Persönlichkeitszustände können voneinander vollständig verschiedenen Identitäten konstituieren, die eigenständig handeln und unterschiedliche Charakterzüge, Überzeugungen und Vorlieben haben. Diese Erkenntnis wird von Befürwortern des Konzeptes der Quasi-Erinnerungen als Beleg für deren Möglichkeit gewertet. Vgl. Bernecker 2009, 53–54. Vgl. Dorahy et al. 2014 für eine Übersicht der empirischen Erkenntnise zu diesem Störungsbild. 126 Vgl. zum Beispiel McDowell 1997; Cassam 1999, Ch. 5.

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der von den Begriffen der veridischen und der scheinbaren Erinnerungen gleichermaßen konzeptuell unabhängig ist.127 Mit der Anerkennung der Möglichkeit der Existenz von Quasi-Erinnerungen ergeben sich interessante Fragen für den Begriff des Wissens aus zweiter Hand. Denn die epistemische Abhängigkeit vom Zweitbesitzer entsteht unter anderem deshalb, weil es normalerweise nicht möglich ist, die gesamte domänenspezifische Evidenz für eine Aussage vom epistemischen Standort einer Person zum epistemischen Standort einer anderen Person zu transportieren. Der Besitz der Erinnerungen einer anderen Person würde genau dies ermöglichen. Diejenige Person, die die Erfahrungen einer anderen Person erinnert, wäre in diesem Falle nicht einmal mehr mittelbar von der domänenunabhängigen Evidenz einer anderen Person abhängig. Hier sollten jedoch zwei verschieden Fälle unterschieden werden. Quasi-Erinnerungen können einerseits durch die Transplantation aller Gedächtnisspuren eines Individuums im Rahmen einer umfassenden psychologischen Kontinuität auftreten. Dies wäre beispielweise in Fällen von Fission und Fusion der Fall128. Parfit konstruiert hierzu folgende Gedankenexperimente: Drillinge: Parfit ist einer von drei Drillingen. Sein Körper sowie die Gehirne der übrigen zwei Zwillinge wurden bei einem Autounfall unwiderruflich zerstört. Sein Gehirn wird daraufhin so geteilt, dass zwei äquivalente Teile entstehen und jeweils eine Hälfte in einen der Körper der drei Zwillinge eingesetzt werden kann. Jeder der beiden überlebenden Drillinge hat nun einen ähnlichen Körper und einen identischen Gedächtnisinhalt.129 Natürliche Fusion: In einer möglichen Welt ist Fusion ein natürlicher Prozess. Zwei Individuen kommen zusammen und wachsen ineinander, ihre Gehirne verschmelzen und ein neues Individuum entsteht, das alle Erinnerungen an seine beiden vorherigen Leben, als Quasi-Erinnerungen besitzt.130

In beiden Fällen scheint es klar zu sein, dass die entstehenden Individuen die gesamte domänenspezifische Evidenz erben, die ihre Vorgänger besaßen. Dies 127 Vgl. Bernecker 2009, Ch. 2. 128 Der Begriff der Fission beschreibt die Möglichkeit, dass der Gedächtnisinhalt eines Individuums gleichmäßig auf zwei neue Individuen aufgeteilt wird. Der Begriff der Fusion beschreibt die Vorstellung, dass die kompletten Gedächtnisinhalte zweier zuvor getrennter Individuen verschmelzen. 129 Parfit 1986, 254–255. Meine Übersetzung. Das Gedankenexperiment dient eigentlich dazu, zu veranschaulichen, dass psychologische Kontinuität für personale Identität nicht ausreichend ist. Dieser Punkt soll hier ebenso wenig diskutiert werden wie die praktische Plausibilität des Gedankenexperiments. 130 Parfit 1986, 298.

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bedeutet jedoch nicht, dass sie auch alles wissen, was ihre Vorgänger wussten. Da sich ihr epistemischer Standort, im Vergleich zu dem ihrer Vorgänger, geändert hat, ist es möglich, dass die domänenspezifische Evidenz, die einst ausreichte, um eine bestimmte Aussage zu rechtfertigen, nun nicht mehr ausreicht. So ist es beispielsweise vorstellbar, dass bei der Fusion der Gehirne einer Biologin und einer Kreationistin, die domänenspezifische Evidenz, die die Biologin einst für die Richtigkeit der Evolutionstheorie besaß, nicht mehr ausreicht, da einige kreationistische Ansichten doxastische Defeater gegen die Richtigkeit der Evolutionstheorie darstellen. Dies ist jedoch ebenso der Fall, wenn ein Einzelindividuum von t1 zu t2 Defeater erwirbt (oder vergisst). Bei der Übertragung aller Erinnerungen einer Person A mit einem bestimmten epistemischen Standort zu einer Person B mit einem anderen epistemischen Standort kann der letzteren Person daher Wissen aus erster Hand derjenigen Aussagen zugeschrieben werden, die Person A aus erster Hand wusste. Ausgenommen sind diejenigen Aussagen, die sich vom aktuellen epistemischen Standort von Person B nicht mehr mithilfe der domänenspezifischen Evidenz von A rechtfertigen lassen. Erinnerungen, für die die domänenspezifische Evidenz verloren gegangen ist, können hingegen nur aus zweiter Hand gewusst werden. Die Bewertung verhält sich insofern analog zu den unter 5.2.1 und 5.2.2 skizzierten Fällen, mit dem Unterschied, dass die Quelle – von deren abweichendem epistemischem Standort aus, die Evidenz erworben wurde – sich in Fällen der Übertragung von Quasi-Erinnerungen tatsächlich personal von der erinnernden Person unterscheidet. Die Vorstellung von Quasi-Erinnerungen kann den oben gemachten Vorschlag, dass bei Erinnerungen, die ursprünglich aus erster Hand stammen, im Falle des Verlustes von domänenspezifischer Evidenz Wissen aus zweiter Hand zugeschrieben werden sollte, stützen. Denn würde man in Fällen von vergessener Evidenz aufgrund einer preservationistischen Überzeugung davon ausgehen, dass durch die Kontinuität der Erinnerungen ihr Status als Wissen aus erster Hand bewahrt würde, so würde die Kontinuität der personalen Identität spätestens dann unterbrochen werden, wenn die Erinnerungen transplantiert würden. Spätestens dann würde die Evidenz daher aus einer Quelle mit einem abweichenden epistemischen Standort stammen. Man müsste dann dahingehend argumentieren, dass bei einer kompletten Übertragung aller Gedächtnisspuren in Fällen von vergessener Evidenz der ursprüngliche Besitzer der Erinnerungen Wissen aus erster Hand besitzt, während der Besitzer der Quasi-Erinnerungen nur Wissen aus zweiter Hand besitzt. Dies erscheint unplausibel, da der Ausgangspunkt des Konzeptes der Quasi-Erinnerungen ja gerade die Annahme ist, dass sie exakte Duplikate der ursprünglichen Erinnerungen sind.

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Von den Gedankenexperimenten, in denen das gesamte Gedächtnis transplantiert wird, abzugrenzen sind Fälle, in denen nur einzelne Gedächtnisspuren von einer Person zur anderen übertragen werden. Diese Möglichkeit gilt in der philosophischen Literatur als weitaus strittiger.131 Sie wird vor allem von Vertreterinnen des konstitutiven Holismus angezweifelt.132 Da der Inhalt eines Erinnerungszustandes von der An-  und Abwesenheit anderer Zustände – sowohl beim ursprünglichen Besitzer der Erinnerungsspur, als auch beim Rezipienten – abhängt, kann sich der Inhalt einer Erinnerung sehr stark verändern, wenn nur eine einzelne Gedächtnisspur kopiert wird.133 Bernecker geht davon aus, dass sich dieses Problem lösen lässt, wenn man statt einer holistischen Sichtweise von einer externalistischen Sichtweise auf Erinnerungen ausgeht.134 Denn dann hängt die Bestimmung eines mentalen Inhaltes von den systematischen Beziehungen ab, die das Subjekt zu den verschiedenen Zuständen seiner physischen und sozialen Umwelt unterhält. Der Inhalt einer Erinnerung würde sich dann auch bei der Übertragung einer einzelnen Gedächtnisspur nicht ändern, solange beide Individuen eine ausreichend ähnliche physische und soziale Umwelt bewohnen.135 Doch auch bei gleichbleibendem Inhalt kann sich der Wissensstatus einer Überzeugung vom ursprünglichen Besitzer zum Rezipienten ändern. So ist es zum Beispiel möglich, dass der Rezipient die domänenspezifische Evidenz für eine Aussage vom ursprünglichen Besitzer erhält. Wenn diese jedoch nicht so in sein eigenes Überzeugungsnetz eingebaut wird, dass das Wissen, das der Rezipient erinnert, auf der domänenspezifischen Evidenz basiert, ist es möglich, dass er trotzdem nur Wissen aus zweiter Hand besitzt. Um dies zu zeigen, möchte ich ein bekanntes Gedankenexperiment von Parfit zitieren, das ich anschließend leicht modifizieren werde. Der Originalfall lautet folgendermaßen: Venezianische Erinnerungen: Jane hat sich einverstanden erklärt, dass einige von Pauls Erinnerungsspuren in ihr Gehirn übertragen werden. Nachdem sie im Aufwachraum wieder zu Bewusstsein kommt, durchlebt sie eine Reihe sehr lebhafter neuer Erinnerungseindrücke. Es scheint ihr, als würde sie sich erinnern, wie sie über einen mit Marmor gepflasterten Platz geht, den Flügelschlag umherfliegender Tauben und die Schreie von Möwen hört und Lichtreflexe über grünem Wasser funkeln sieht. Eine der scheinbaren Erinnerungen ist sehr klar. Sie scheint

131 Vgl. Roache 2006, 332–344 für eine Übersicht der Gegenargumente. 132 Vgl. auch Bernecker 2009, 52–55. 133 Vgl. Wollheim 1984, 112–114. 134 Vgl. Bernecker 2009, 55. 135 Vgl. Bernecker 2009, 55.

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Kapitel 5 sich zu erinnern, wie sie über das Wasser zu einer Insel blickt, auf der sich eine weiße palladianische Kirche eindrucksvoll vor einer dunklen Gewitterwolke erhebt. Was soll Jane von diesen augenscheinlichen Erinnerungen halten? Da sie die Kirche schon auf Fotos gesehen hat, weiß sie, dass es sich um San Giorgio in Venedig handelt. Sie weiß auch, dass sie niemals in Italien war, während Paul Venedig regelmäßig besucht. Da sie auch weiß, dass sie Kopien von einigen von Pauls Gedächtnisspuren erhalten hat, kann sie zu Recht annehmen, dass sie einige von Pauls Erfahrungen aus Venedig quasi-erinnert.136

Man kann sich nun eine modifizierte Version, Venezianische Erinnerungen 2, vorstellen. Hier erinnert Jane dieselben Details wie in der Originalversion, nur besitzt sie weder genug Kenntnisse, um die Kirche San Giorgio, noch um Venedig selbstständig zu erkennen. Sie erinnert jedoch auch die folgenden, verbal formulierten Gedanken von Paul: „Die Kirche dort hinten muss San Giorgio sein. Venedig ist echt wunderschön.“ Da Jane weiß, dass Paul ein echter Italienkenner ist und schon oft dort war, kann sie aus diesen QuasiErinnerungen das Wissen gewinnen, dass die Kirche, die sie erinnert hat, San Giorgio in Venedig ist. Dieses Wissen basiert jedoch nicht auf der domänenspezifischen Evidenz, die sie quasi erinnert. Denn diese reicht von ihrem epistemischen Standort aus nicht aus, um die Aussage zu rechtfertigen. Stattdessen basiert ihr Wissen auf der domänenunabhängigen Evidenz, die sie aus den Quasi-Erinnerungen von Pauls Gedanken zu der Szenerie enthält. Sie besitzt daher durch ihre Quasi-Erinnerungen im Gegensatz zu Paul kein Wissen der betreffenden Aussage aus erster Hand, sondern nur Wissen aus zweiter Hand. Die Vorstellung von Quasi-Erinnerungen kann zeigen, dass der Besitz der domänenspezifischen Evidenz, der in Kapitel  2 als entscheidendes Abgrenzungsmerkmal zwischen dem Begriff des Wissens aus erster Hand und dem Begriff des Wissens aus zweiter Hand herausgearbeitet wurde, auch bei Wissen, das aus Erinnerungen gewonnen wird, das wichtigste Unterscheidungskriterium bleibt, um die Art des Wissens zu bestimmen. Dass die domänenspezifische Evidenz bei erfahrungsabhängigem Wissen in der Regel nicht von einem epistemischen Standort zu einem anderen epistemischen Standort transportiert werden kann, scheint zunächst eine kontingente Tatsache zu sein, wie die Möglichkeit der Existenz von Quasi-Erinnerungen zeigt. Trotzdem kann auch im Falle der Möglichkeit der Weitergabe der domänenspezifischen Evidenz von einem epistemischen Standort zu einem anderen epistemischen Standort nicht davon ausgegangen werden, dass der Rezipient hierdurch in jedem Fall Wissen aus erster Hand erwirbt, da es möglich ist, dass sein epistemischer Standort eine andere/größere Menge an 136 Parfit 1986, 220. Meine Übersetzung.

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domänenspezifischer Evidenz erfordert, um eine bestimmte Aussage aus erster Hand rechtfertigen zu können. Fälle von Quasi-Erinnerungen können daher zeigen, dass sowohl die epistemische Abhängigkeit, die durch den Nichtbesitz der Evidenz entsteht, als auch das Vorhandensein eines abweichenden epistemischen Standortes dazu führen können, dass sich die Art des Wissensstatus einer Aussage ändert. Anders als im Falle testimonialen Wissens setzt der abweichende epistemische Standort bei Erinnerungen nicht voraus, dass Sprecherin und Hörer sich numerisch oder personal unterscheiden137, dies stellt nur den häufigsten Grund für einen abweichenden epistemischen Standort dar. 5.3

Zusammenfassung

Die Anwendung des Begriffs des Wissens aus zweiter Hand auf Fälle von Falschaussagen und Wissen aus Erinnerungen zeigt, dass der Begriff von Wissen aus zweiter Hand im philosophischen Diskurs eine wichtige Funktion einnehmen kann. Da er unabhängig vom Begriff des testimonialen Wissens ist, kann er eine Leerstelle füllen, die bei der Klassifikation von Wissen aus Falschaussagen und Erinnerungen auftritt. Wissen, das aus Falschaussagen gewonnen wird und ein Teil des Wissens, das aus Erinnerungen stammt, weisen dieselben epistemischen Nachteile auf wie Wissen, das über den traditionellen Weg aus Aussagen gewonnen wurde. Diese Nachteile lasen sich darüber hinaus strukturell durch die gleichen Ursachen erklären, die auch im Falle von Wissen aus Aussagen zu einem geringeren epistemischen Wert führen: nämlich durch den Nichtbesitz der domänenspezifischen Evidenz, die von einem abweichenden epistemischen Standort aus weitergegeben wird. Auf der fachwissenschaftlichen Ebene zeigt sich der Begriff daher als fruchtbar, da er strittige Fälle in der Literatur über testimoniales Wissen klassifizieren kann, ohne in die Diskussion um Bedingungen der Weitergabe testimonialen Wissens einzusteigen. Des Weiteren kann er im Rahmen von Erinnerungen auch Arten, die gar nicht zum testimonialen Wissen gehören, jedoch strukturell ähnliche epistemische Mängel aufweisen, erfassen. Die Diskussion in diesem Kapitel legt im Falle von Erinnerungen die Richtigkeit einer bestimmten Auffassung, nämlich die einer generativistischen 137 Bei testimonialem Wissen ist diese Voraussetzung auch umstritten. So stellt sich die Frage, wie Fälle bewertet werden sollen, in denen eine Person ihre eigenen Aussagen aus der Vergangenheit, zum Beispiel in Form eines Tagesbucheintrags, als Basis ihres Wissens verwendet.

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Kapitel 5

Theorie von Erinnerungen, nahe. Unter dieser Vorannahme bietet der weite Begriff des Wissens aus zweiter Hand insofern eine Reduzierung der Komplexität des philosophischen Diskurses, als er erklären kann, weshalb die rein preservationistische Annahme, der Wissensstatus einer Aussage würde sich bei seiner Weitergabe nicht verändern, weder für testimoniales Wissen noch für Wissen aus Erinnerungen gelten kann. In beiden Fällen kann die Frage nach der Art des Wissens, die besessen wird, nur beantwortet werden, wenn man die dreistellige Relation zwischen der Proposition, die gerechtfertigt werden soll, Menge und Art der Evidenz, die vorliegt und epistemischen Standortes des Subjektes betrachtet. Sobald sich entweder die Menge an domänenspezifischer Evidenz oder der epistemische Standort des Subjektes ändert, kann sich auch die Art des Wissens, die besessen wird, ändern. Die Diskussion um Erinnerungen und Quasi-Erinnerungen zeigt außerdem, dass es in unserer aktualen Welt einen kontingenten Zusammenhang zwischen Genese bzw. Erwerb einer Aussage und der Menge an domänenspezifischer Evidenz, die besessen wird, sowie Güte der strukturellen Einbettung des Wissens gibt. Denn es ist in der Regel so, dass eine Person, die eine Aussage von ihrem eigenen epistemischen Standort aus erworben und selbstständig herausgearbeitet hat, mehr domänenspezifische Evidenz besitzt und ihr Wissen besser einbetten kann. Der entscheidende Faktor ist hier aber die Detailliertheit, Vernetzung und Güte der Integration ihres Wissens. Diese führt zu einem epistemischen Vorteil. Darüber hinaus ist die geschichtliche Perspektive nicht ausschlaggebend. Eine Person, die die gesamte domänenspezifische Evidenz für eine Aussage vergessen hat und diese Aussage bloß noch isoliert erinnert, ist epistemisch nicht in einer besseren Ausgangslage als eine Person, die von vornherein nur Wissen aus zweiter Hand besaß. Darüber hinaus können Fälle von QuasiErinnerungen zeigen, dass selbst der Transport der gesamten domänenspezifischen Evidenz von einem epistemischen Standort zum anderen nicht unbedingt ausreicht, um die Art des Wissens unverändert zu erhalten. Der weite Begriff von Wissen aus zweiter Hand kann somit den geringeren epistemischen Wert von Wissen aus zweiter Hand erklären, ohne an eine historische Dimension gebunden zu sein oder bestimmte Vorannahmen über die Identität von Sprecherin und Hörer vorauszusetzen.

Kapitel 6

Fazit und Ausblick Die zu Beginn dieser Arbeit gestellte Frage, ob Wissen aus zweiter Hand tatsächlich einen geringeren epistemischen Wert aufweist als Wissen aus erster Hand, konnte im Verlauf dieser Arbeit positiv beantwortet werden. Der in der Alltagspsychologie angenommene Zusammenhang zwischen der Eigenschaft des Aus-zweiter-Hand-Seins von Wissen und einem geringeren epistemischen Wert stellt keine kontingente Erscheinung dar, sondern geht aus den strukturellen Eigenschaften von Wissen aus zweiter Hand hervor. Der im Verlauf dieser Arbeit entwickelte weite Begriff von Wissen aus zweiter Hand kann zeigen, dass der geringere epistemische Wert trotz einer ausreichenden Verlässlichkeit dieses Wissens besteht und aus der epistemischen Abhängigkeit des Wissensbesitzers von anderen, aufgrund des Nichtbesitzes der domänenspezifischen Evidenz für sein Wissen, entsteht. Um diesen Zusammenhang nachvollziehen zu können, war es zunächst nötig, einen fruchtbaren Begriff von Wissen aus zweiter Hand zu erarbeiten, der sowohl mit dem Alltagssprachgebrauch als auch mit der Verwendung des Begriffs in der Philosophie und den übrigen Wissenschaften kompatibel ist. Hierbei zeigte sich zunächst die Schwierigkeit, dass – trotz der weiten, auch fachwissenschaftlichen Verbreitung des Begriffs – in den verschiedenen Wissenschaften keine einheitliche Verwendung vorherrscht. Ein gemeinsames Merkmal der unterschiedlichen Verwendungsweisen ist die Funktion, einen Gegenbegriff zum Begriff des Wissens aus erster Hand zu bilden. Hierzu ist es notwendig, von einem weiten Begriff von Wissen aus zweiter Hand auszugehen, da nur ein solch weiter Begriff es erlaubt, Wissen aus zweiter Hand und Wissen aus erster Hand als polar-konträres Gegensatzpaar zu konzipieren. Eine solche Konzeption erlaubt es, Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand als die beiden Enden einer Skala aufzufassen und kann hierdurch sowohl eine absolute Unterscheidung zwischen beiden Wissensarten begründen, als auch eine graduelle Abstufung zulassen. Eine solche graduelle Abstufung scheint in einigen Fällen sinnvoll, da bei einer absoluten Unterscheidung einige Wissensinhalte niemals als Wissen aus erster Hand klassifiziert werden können. Dies betrifft Aussagen, deren Beweis so komplex ist, dass es unmöglich ist, dass eine einzelne Person jegliche hierzu notwendige domänenspezifische Evidenz unmittelbar aus erster Hand besitzt. Auch wenn es unter absoluten Gesichtspunkten folgerichtig erscheint, solche Aussagen und damit einen Großteil des komplexen wissenschaftlichen

© brill mentis, 2024 | doi:10.30965/9783969753088_007

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Wissens als Wissen aus zweiter Hand zu klassifizieren, kann eine komparative Unterscheidung in einigen dieser Fälle hilfreich sein: Sie würde es ermöglichen, das Wissen der Atomphysikerin, die ihr Wissen über die Geschwindigkeit des Zerfalls von Elementarteilchen dadurch erworben hat, dass sie die erforderliche Studie konzipiert und ausgewertet hat, von dem Wissen eines Laien zu unterschieden, der die gleiche Aussage aus der Zeitung erworben hat. Das Wissen der Atomphysikerin stammt nicht vollständig unmittelbar aus erster Hand, da sie nicht alle erforderlichen Daten selbst erhoben hat, aber es stammt zu einem sehr viel größeren Teil aus erster Hand als das Wissen des Laien, der dieselbe Aussage in einer Zeitung gelesen hat. Der hier vorgeschlagene Begriff von Wissen aus zweiter Hand bietet grundsätzlich zwei Möglichkeiten, mit solchen Fällen umzugehen. Einerseits ist es möglich, Wissen aus zweiter Hand von vornherein als komparativen Begriff zu konzipieren, andererseits ist es auch möglich, den Begriff als absoluten Begriff zu konzipieren, der aber kontextabhängig ist. Die Bedingung, dass S Rechtfertigung für p unmittelbar oder mittelbar auf domänenunabhängiger Evidenz für p basiert, lässt die Möglichkeit zu, dass die Standards dafür, welche Evidenz als unbedingt notwendig für die selbstständige Rechtfertigung einer Aussage betrachtet wird, sich je nach Gesprächskontext verändern. Diese Standards kovariieren mit den Standards, die an Wissen gestellt werden. Die sich hieraus ergebenden Probleme spiegeln sich in der Praxis wider. So wird in einem Gerichtsprozess möglicherweise gefragt, ob die Gerichtsmedizinerin als Expertin aus erster Hand bezeugen kann, dass im Blut des Angeklagten Drogen gefunden wurden. Wann darf die Expertin diese Frage positiv beantworten? Reicht es dafür aus, dass sie selbst die Probe geprüft hat? Oder muss sie bei der Blutabnahme dabei gewesen sein, um unmittelbar domänenspezifische Evidenz zu besitzen, dass es sich auch um das Blut des Angeklagten handelt? Muss sie aus erster Hand wissen, wie der Test funktioniert, um Fehlerquellen selbstständig ausschließen zu können oder reicht es aus, dass sie weiß, dass der Test verlässlich funktioniert? Muss die Expertin von dem Augenblick der Probenentnahme bis zum Testergebnis die Probe permanent im Auge behalten oder reicht es, dass die Probe von einer Mitarbeiterin unverwechselbar gekennzeichnet wurde? Diese Fragen wird auch ein absoluter Begriff von Wissen aus zweiter Hand nicht abschließend beantworten können, sie bieten jedoch interessante Anknüpfungspunkte für zukünftige Debatten. Eine weitere Thematik, die im Rahmen dieser Arbeit nicht diskutiert werden konnte und im Rahmen zukünftiger Forschung an die vorliegende Diskussion angeschlossen werden sollte, ist die Frage nach dem Status von Wissen aus Instrumenten. Der Laie kann möglicherweise unkompliziert aus erster Hand wissen, wie hoch die Temperatur in einem Raum ist, indem er

Fazit und Ausblick

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einfach das Thermometer abliest. Die Expertin, die extra gerufen wurde, um die Raumtemperatur und die Eichung des Thermostats zu überprüfen, wird sehr viel mehr domänenspezifische Evidenz benötigen, um ihr Wissen über eine bestimmte Raumtemperatur rechtfertigen zu können, da sie in diesem Kontext einen höheren Standard für die Rechtfertigung ihres Wissens erfüllen muss. Sollte diese Expertin jedoch auch nur das Thermometer ablesen und das Prüfzertifikat der Kollegin, die vor einiger Zeit die Eichung bestätigt hat, kontrollieren, so stellt sich die Frage, ob diese Expertin noch ausreichend domänenspezifische Evidenz besitzt, um ihr Wissen über die Raumtemperatur aus erster Hand zuzuschreiben. Allgemeiner betrachtet muss festgestellt werden, dass Wissen, das aus Instrumenten gewonnen wurde, für die Normalverbraucherin immer in einem gewissen Sinne opak ist. Eine Person, die domänenspezifische Evidenz mithilfe von Instrumenten gewonnen hat, hängt epistemisch stark von einer Reihe anderer Personen ab: Sie muss sich darauf verlassen, dass die Instrumente verlässlich konstruiert wurden und wirklich den infrage stehenden Zusammenhang abbilden können und dass ihre Funktionsfähigkeit fortwährend garantiert oder in regelmäßigen Abständen überprüft wird. Neges schlägt daher vor, Wissen aus Instrumenten analog zu testimonialem Wissen zu bewerten.1 In diesem Falle wäre es naheliegend, dass es sich auch um Wissen aus zweiter Hand handelt. Diese Frage wird in Zukunft durch die Fortschritte im Bereich des maschinellen Lernens und der Künstlichen Intelligenz sehr wahrscheinlich stark an Stellenwert gewinnen. Fijten, Putora und Schmidt weisen auf eine bereits jetzt bestehende Diskussion im Bereich der Medizinethik hin, in der die komplette Opazität von Wissen, das mithilfe von selbstlernenden Algorithmen erworben wurde, mit Bedenken betrachtet wird.2 Diese Algorithmen werden aktuell beispielsweise genutzt, um in der Behandlung und Prävention von Krebserkrankungen Hochrisikopatientinnen zu identifizieren. Das Problematische hieran ist, dass die Ärztinnen, die diese Ergebnisse nutzen, nicht wissen, welche Evidenz die Programme nach welchen Mustern zur Auswertung heranziehen. Bei selbstlernenden Maschinen sind diese Auswertungsmuster zum Teil nicht einmal mehr für die Entwicklerinnen komplett nachvollziehbar. Trotzdem können diese Algorithmen interne Programmfehler in sich bergen und durch Datensätze, deren Repräsentativität für alle Variablen nicht überprüft werden kann, Vorurteile aufweisen. Dies könnte beispielsweise dazu führen, dass Symptome unterrepräsentierter Patientinnen, zum Beispiel Frauen 1 Vgl. Neges 2018. Siehe auch Sosa 2006. 2 Vgl. Putora, Fijten und Schmidt 2022.

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oder Menschen einer bestimmten ethnischen Herkunft, nicht schnell genug erkannt werden.3 Fijten, Putora und Schmidt überprüfen in ihrer Arbeit, ob Ärztinnen, wenn sie sich auf solche Programme verlassen, überhaupt noch Wissen zugeschrieben werden kann. Da die Verlässlichkeit der Algorithmen jedoch durchaus überprüft werden kann, ist die Wissensbedingung in diesen Fällen nicht verletzt. Die Bedenken, die bei der Nutzung dieses Wissens entstehen, können mithilfe der Begrifflichkeiten der vorliegenden Arbeit gut erklärt werden: Es handelt sich um hochrisikoreiche Kontexte, in denen von den Expertinnen erwartet wird, dass sie auf der Grundlage von Wissen aus erster Hand handeln. Der epistemische Standort, von dem aus die Algorithmen agieren, ist für die Ärztinnen jedoch nicht einsehbar. Sie müssen daher auf der Grundlage von isoliertem Wissen aus zweiter Hand arbeiten, was das Auftreten einer Unangemessenheitsintuition in diesen Fällen erklären kann. Diese Auslegung würde für den hier vertretenen Begriff von Wissen aus zweiter Hand die Frage aufwerfen, ob Instrumente oder Maschinen einen epistemischen Standort aufweisen können, da Wissen aus zweiter Hand von einem abweichenden epistemischen Standort aus erworben wird. Diese Problemstellung müsste im Rahmen weiterer Forschung geklärt werden und würde eventuell eine Modifikation der von mir vorgeschlagenen Definition erfordern. Trotz dieser offenen Fragen kann der hier erarbeitete Begriff von Wissen aus zweiter Hand schon jetzt einen wichtigen Beitrag zur Bestimmung des epistemischen Werts dieses Wissens liefern. Wissen aus zweiter Hand weist aufgrund des Nichtvorhandenseins der domänenspezifischen Evidenz immer einen epistemischen Nachteil gegenüber Wissen aus erster Hand auf. Der Nichtbesitz der domänenspezifischen Evidenz führt dazu, dass Wissen aus zweiter Hand in der Regel schlechter in das Wissensnetz des Zweitbesitzers eingebettet ist. Diese These ist mit den gängigen kognitionswissenschaftlichen Annahmen über die Struktur und Funktionsweise unseres Gedächtnisses kompatibel, die nahelegen, dass Wissen in propositionalen Netzwerken abgespeichert wird. Die mangelnde Einbettung, die isoliertes Wissen aus zweiter Hand im Wissensnetz des Besitzers aufweist, wird durch verschiedenste psychologische Annahmen und Beobachtungen bestätigt. Dies zeigt sich etwa im Vorkommen von Kompartmentalisierung von Wissen, das aus zweiter Hand erworben wurde, oder in der mangelnden Determiniertheit und fehlenden Redundanz von Wissen aus zweiter Hand, die eine strukturierte Einbettung in das eigene Wissensnetz erschweren. 3 Vgl. Putora, Fijten und Schmidt 2022.

Fazit und Ausblick

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Die Minderung des epistemischen Wertes von Wissen aus zweiter Hand gilt jedoch nur pro tanto, weshalb bislang der Eindruck entstehen konnte, dass Wissen aus zweiter Hand zwar in vielen Fällen kontingenterweise – aber nicht aus strukturellen Gründen – einen epistemisch geringeren Wert aufweist. Denn es sind problemlos Fälle vorstellbar, in denen eine Person A aus erster Hand wenig Wissen erwirbt, weil sie wenig Hintergrundwissen hat, während eine andere Person B aus zweiter Hand sehr viele Details über den gleichen Sachverhalt erfährt, sodass sie mehr domänenspezifische Evidenz aus zweiter Hand besitzt und ihr Wissen besser eingebettet ist als bei Person  A.  In diesem Falle könnte man nicht mehr sagen, dass Wissen aus erster Hand den Besitz von mehr domänenspezifischer Evidenz garantiert und zu einer besseren Einbettung des Wissens in das Wissensnetz der Besitzerin führt. Diese Einschätzung basiert aber auf einem unfairen Vergleich, da nicht dieselben Wissensobjekte verglichen werden. Ein fairer Vergleich würde fragen: Wenn eine Person vor die Wahl gestellt würde, dieselbe Aussage ohne weitere Kosten entweder aus erster Hand oder aus zweiter Hand zu erwerben, welche Wissensart sollte sie wählen? Die vorliegende Arbeit kann erklären, weshalb es epistemisch sinnvoller wäre in diesem Falle Wissen aus erster Hand zu wählen. Denn die minimale Menge an domänenspezifischer Evidenz, die die Person in den jeweiligen Fällen zweifelsfrei besitzen müsste, um als gerechtfertigt zu gelten, wäre im Falle von Wissen aus erster Hand größer. Unabhängig davon, wie gering die Menge an domänenspezifischer Evidenz ist, die in diesem Fall das Wissen aus erster Hand ermöglicht: Die minimale Evidenz, um dieselbe Aussage aus zweiter Hand zu rechtfertigen, wird in jedem Falle geringer sei, da sie nur die domänenunabhängige Evidenz, dass p der Fall ist, voraussetzt. Dieses Ergebnis ermöglicht es nicht, in jedem Fall eine Aussage über den praktischen Wert von Wissen aus zweiter Hand treffen, wenn man alle Bedingungen endlicher Akteurinnen berücksichtigt. Aufgrund unserer zeitlichen und kognitiven Begrenzungen kann es durchaus sinnvoll sein, Wissen aus zweiter Hand, Wissen aus erster Hand vorzuziehen: zum Beispiel dann, wenn der Erwerb von Wissen aus erster Hand wahrscheinlich keinen großen praktischen oder epistemischen Gewinn verspricht, jedoch viel Zeit oder kognitive Ressourcen erfordert. Die Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand erfüllt trotzdem eine wichtige Funktion, die nicht nur eine philosophische Bedeutung hat, sondern für die Bewertung unseres eigenen Wissens und des Wissens anderer Personen praktisch wichtig ist. Diese Bedeutung wird in unserer Sprachpraxis dadurch deutlich, dass schon sehr kleine Kinder zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand unterscheiden können und wir spezifische Sprachmuster besitzen, um im Gesprächsverlauf

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Kapitel 6

deutlich zu machen und festzustellen, ob Wissen aus erster Hand geteilt wird.4 In einigen Kontexten wird erwartet, dass die Gesprächspartnerin Wissen aus erster Hand besitzt, weshalb die Weitergabe von Wissen aus zweiter Hand in diesen Fällen intuitiv unangemessen erscheint.5 Dies betrifft unter anderem Kontexte, in denen moralische und ästhetische Urteile oder die Urteile von Expertinnen weitergegeben werden sowie Situationen, in denen direkte Zeugenschaft vorausgesetzt wird und hochrisikoreiche Kontexte. Die Unangemessenheitsintuition lässt sich durch den geringeren epistemischen Wert von Wissen aus zweiter Hand erklären, der in oben genannten Situationen dazu führt, dass die Weitergabe von isoliertem Wissen aus zweiter Hand praktische Nachteile nach sich zieht, die auch den Hörer betreffen. Daher gilt die Zeugin in einem Prozess gar nicht als Tatzeugin, wenn sie ihr Wissen über die Tat nur aus zweiter Hand besitzt. Die Expertin, die in einem hochrisikoreichen Kontext auf Grundlage von Wissen aus zweiter Hand agiert, übersieht möglicherweise einen Defeater, der dagegenspricht, dass die Instrumente, wie von ihrer Kollegin angenommen, funktionieren. Während die Ärztin, ohne den Besitz ausreichender domänenspezifischer Evidenz, die weitere Behandlung der Patientin nicht planen und erklären kann. Allen genannten Akteurinnen in den obigen Beispielen fehlt bei näherem Hinsehen ein ausreichendes Verstehen, um die Weitergabe ihres Wissens zu rechtfertigen. Im Alltag lässt sich zwischen beiden Faktoren zwar ein kontingenter Zusammenhang ausmachen, es ist jedoch nicht ersichtlich, ob beide Eigenschaften strukturell korreliert sind. Die Ergebnisse des vierten Kapitels legen einen solchen Zusammenhang unter bestimmten Voraussetzungen nahe. Hierzu ist es notwendig, sowohl von einem reduktiven als auch von einem graduellen Begriff von Verstehen auszugehen, bei dem die Vollständigkeit des Verstehens mit dem Grad der Detailliertheit der Erklärung steigt. So versteht die Ärztin, die eine Diagnose auf Grundlage von isoliertem Wissen aus zweiter Hand weitergibt, diese Diagnose sehr wahrscheinlich in einem allgemeinen Sinne. Es ist aber plausibel, dass sie kein ausreichendes Verstehen dieser spezifischen Diagnose in diesem besonderen Fall besitzt, um der Patientin den Befund und das weitere mögliche Vorgehen detailliert erklären zu können.6 4 Vgl. Smith 2013; Lockhart et al. 2016. 5 Vgl. Lackey 2011, 2016. 6 Es ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich, warum dies für die Augenzeugin, die Beobachterin eines Mordes wurde, ebenso gilt. Denn auch auf Grundlage von Wissen aus zweiter Hand ist es möglich, auf einer minimalen Ebene zu verstehen, dass das Opfer starb, weil die Angeklagte es mit einem Messer erstach. Dieses Wissen ist in dem spezifischen Kontext aber nicht ausreichend. Die Augenzeugin besitzt ein größeres Verstehen, wenn sie detaillierter

Fazit und Ausblick

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Die Ärztin, die die Diagnose auf Grundlage ihres Wissens aus erster Hand stellt, muss ein detailliertes Verständnis der Diagnose besitzen, da sie sie sonst nicht hätte stellen können. Wenn man einen reduktiven Begriff von Verstehen voraussetzt, wird ersichtlich, dass auch das mangelnde Verstehen, das in einigen Fällen die Weitergabe von Wissen aus zweiter Hand problematisch erscheinen lässt, eine strukturelle Eigenschaft dieses Wissens ist, die sich durch den Mangel an domänenspezifischer Evidenz erklären lässt. Hier muss jedoch von einem fairen Vergleich ausgegangen werden: Denn die obige Beurteilung trifft nur für isoliertes Wissen aus zweiter Hand zu und schließt somit nicht aus, dass Verstehen auch mithilfe von Wissen aus zweiter Hand hergestellt werden kann, wenn dieses in nicht isolierter Form vorliegt. Bei einem fairen Vergleich zweier Aussagen, die unter sonst gleichen Bedingungen einmal aus erster und einmal aus zweiter Hand gewusst werden, kann aber davon ausgegangen werden, dass die minimale Menge an domänenspezifischer Evidenz, die der Besitz dieses Wissens voraussetzt und deren Vorhandensein beim Eigentümer daher garantiert werden kann, bei Wissen aus erster Hand größer ist als bei Wissen aus zweiter Hand. Diese zusätzliche domänenspezifische Evidenz würde bei der Besitzerin von Wissen aus erster Hand zu mehr Verstehen führen, solange sie diese Evidenz verwendet, um hierdurch ihr Wissen zu erklären, bzw. zu rechtfertigen. Dass dies der Fall ist, kann garantiert werden, da ihr Wissen per Definition auf der domänenspezifischen Evidenz basiert, wenn es aus erster Hand stammt.7 Der Besitz von Wissen aus zweiter Hand führt daher nicht automatisch dazu, dass kein oder nur wenig Verstehen vorliegt. Aber der Grad an Verstehen der minimalerweise vorausgesetzt werden muss, um überhaupt Wissen einer Aussage zuschreiben zu können, ist im Falle des Besitzes von Wissen aus erster Hand größer, als im Falle des Besitzes von Wissen aus zweiter Hand. Sobald die Unterscheidung zwischen Wissen aus erster Hand und Wissen aus zweiter Hand an der An- oder Abwesenheit der domänenspezifischen Evidenz festgemacht wird, wird ersichtlich, dass der Status des Aus-erster-Hand-Seins erklären kann, dass das Opfer starb, weil die Angeklagte es zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einem bestimmten Messer an einer bestimmten Region seines Körpers derart verletzte, dass es den Tod zur Folge hatte. 7 In Fällen von einfachem Wahrnehmungswissen ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich, wie dieses mit mehr Verstehen verbunden sein soll, wenn er aus erster Hand stammt. Solange man in diesen Fällen jedoch zugesteht, dass es möglich ist, dass eine Person eine Aussage wie „Vor der Universität steht ein Baum“ besser versteht als eine andere, kann ein größerer Grad an Verstehen eigentlich nur dadurch begründet werden, dass der Grad der Detailliertheit der Aussage größer ist. Dies kann auch bei einfachem Wahrnehmungswissen durch das Vorhandensein von mehr domänenspezifischer Evidenz bei Wissen aus erster Hand im Falle eines fairen Vergleichs zu Wissen aus zweiter Hand gewährleistet werden.

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Kapitel 6

eine Eigenschaft ist, die die Besitzerin von Wissen auch wieder verlieren kann, wenn sie die domänenspezifische Evidenz für die Aussage vergisst. Mithilfe der in dieser Arbeit vorgestellten Begrifflichkeiten lässt sich die Intuition erklären, dass in Fällen von vergessener Evidenz zwar einerseits ein epistemischer Nachteil für die Wissensbesitzerin erwartet wird, dieser aber nicht zum Verlust des Wissensstatus der Aussage führen muss. Wenn die Prozesse des Wissenserwerbs und des Widerabrufens verlässlich von Statten gingen, ist die Besitzerin nach dem Prinzip der fortwährenden Rechtfertigung weiterhin gerechtfertigt. Wenn sie ursprünglich Wissen aus erster Hand besaß, ist es jedoch möglich, dass ihr Wissen nur noch aus zweiter Hand gerechtfertigt ist, falls sie die domänenspezifische Evidenz für die betreffende Aussage vergessen hat. Folgt man dieser These, kann der weite Begriff des Wissens aus zweiter Hand aber nicht mehr an die personale Verschiedenheit von Zweitbesitzer und Quelle gebunden werden, sondern es müsste zugestanden werden, dass die Quelle der domänenunabhängigen Evidenz und der Besitzer des Wissens aus zweiter Hand sich im Einzelfall auf dieselbe Person beziehen können, solange beide verschiedene epistemische Standorte aufweisen. Diese Einschätzung hat auch zur Folge, dass preservationistische Theorien zur Rechtfertigung von Erinnerungen aufgegeben werden müssen. Dies mag auf den ersten Blick kontraintuitiv erscheinen, steht jedoch mit den empirischen Erkenntnissen aus der Psychologie zur tatsächlichen Funktionsweise unseres Gedächtnisses in Einklang. Die in dieser Arbeit festgestellten epistemischen Eigenschaften und strukturellen Nachteile von Wissen aus zweiter Hand betreffen jegliches Wissen aus zweiter Hand in dem hier vorgestellten weiten Sinne; wobei das vorgeschlagene Explikat den Vorteil aufweist, dass es gleichermaßen auf erfahrungsabhängiges und erfahrungsunabhängig erwerbbares Wissen angewendet werden kann. Aufgrund der epistemischen Nachteile von Wissen aus zweiter Hand kann die Unterscheidung dieses Wissens von Wissen aus erster Hand sowohl im Alltag als auch in den verschiedenen Fachwissenschaften von großer praktischer Bedeutung sein. Nichtsdestotrotz wurde der Begriff des Wissens aus zweiter Hand in der Philosophie bislang nicht hinreichend untersucht. Da der in der zeitgenössischen Philosophie stark diskutierte Begriff des testimonialen Wissen nicht unabhängig vom Streit um die Bedingungen der Weitergabe von Wissen aus Aussagen bestimmt werden kann, besteht eindeutig der Bedarf an einem weiten Begriff, der den gesamten Bereich von Wissen aus zweiter Hand erfassen kann. Bislang wurde sich in der Philosophie zu diesem Zweck mit Behelfskonstruktionen ausgeholfen, wie „abhängiges Wissen“ oder „Wissen, das über Testimony entstanden ist“. Solche Begrifflichkeiten stellen jedoch keine

Fazit und Ausblick

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fruchtbaren Explikate dar und sind mit unserem Alltagsprachgebrauch und der Sprachpraxis in den übrigen Wissenschaften nicht vereinbar. Ich hoffe mit dieser Arbeit einen Beitrag dazu zu leisten, den Begriff des Wissens aus zweiter Hand als eigenständigen Begriff in der Philosophie künftig systematisch zu erschließen.

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Personenregister Audi, R. 11, 13, 21, 33, 36, 38, 43, 74, 91, 132, 144–145, 158–160, 166–171, 268 Ayer, A. 46 Bealer, G. 105, 142, 145, 154, 157–158, 168, 170–171 Benton, M. A. 179, 195–198, 200 Bernecker, S. 272, 277, 282, 296, 299 Boyd, K. 241 Brandom, R. 38 Brun, G. 37 Burge, T. 161–165, 169, 269, 277–279 Carnap, R. xvi, 3, 37, 245 Carter, J. A. 229–230, 233, 237, 249–250, 252 Cath, Y. 156–157 Christensen, D. 162, 283–284 Churchland, P. M. 48 Coady, C. A. J. 13–14, 39 Collins, A. M. 116 Constantin, J. 58, 85, 87 Deutscher, M. 280–281 Dretske, F. 91, 102, 112, 129, 140, 142 Dummett, M. 83, 269, 272 Faulkner, P. 38 Fijten, R. 305–306 Fitelson, B. 260 Fodor, J. A. 97–98 Freschi, E. 15 Fricker, E. 7, 10, 13, 30, 33, 36, 38, 43, 58–59, 63, 70, 73–75, 132–133, 147 Fumerton, R. 42, 47–48, 271 Gelfert, A. 39–40, 58, 60, 75–76 Gerken, M. 226 Goldberg, S. C. 26, 33, 36, 38, 58, 123, 256–258 Goldman, A. I. 58, 61, 154, 256–258 Gordon, E. C. 233, 237, 252 Graham, P. 13, 22–24, 29, 32, 36, 38–39, 71–72, 111, 124 Green, A. 227, 233, 250

Grice, P. 2, 124 Grimm, S. R. 237, 245 Grohmann, T. 15, 24 Grundmann, T. 58, 85–87, 96, 154, 207 Hales, S. 154 Hardwig, J. 14, 38, 59–60, 70, 82, 174 Hayner, P. 47 Hazlett, A. 146–147 Heck, R. 139 Hills, A. 233, 236–238, 259 Horn, L. R. 34 Huemer, M. 154 Hume, D. 72 Jackson, F. 48 Kelp, C. 242, 246–247, 250, 252 Keren, A. 74–75, 86 Khalifa, K. 242–243, 246–250, 252–253 Kitcher, P. 241 Klein, P. D. 260, 268 Kornblith, H. 162, 283–284 Kuorikoski, J. 253 Kvanvig, J. L. 192–193, 234 Labov, W. 120–121 Lackey, J. xxi, 11, 20–24, 31–32, 38, 112, 122, 175, 179–198, 203–205, 209–210, 212–213, 216–230, 233, 249–253, 266, 282, 287–290 Luzzi, F. 7, 13 Lynch, M P. xiii–xiv Malfatti, F. I. 238, 241 Malmgren, A. S. 163 Martin, C. B. 280–281 McDowell, J. H. 13, 95, 139 McKinnon, R. 225–226 McMyler, B. 35, 38, 40, 73–74 Meskin 214 Michaelian, K. 294 Millikan, R. 67–68, 112 Moran, R. 38, 71–73, 75

332 Neges, S. 15, 38, 305 Newen, A. 98 Nørretranders, T. 112 Parfit, D. 297, 299 Peacocke, C. 99 Peet, A. 69, 262 Pritchard, D. 7, 30, 32, 35, 43, 65, 170, 178, 237–239, 245 Pust, J. 154 Putora, P. M. 305–306 Quillian, M. R. 116 Reid, N. 72 Ross, G. 71–72 Russell, B. 9, 41–45, 47 Schmidt, E. 305–306 Senor, T. D. 290

Personenregister Shoemaker, S. 90 Siegel, S. 101, 135 Sosa, E. 15, 154, 189 Strawson 66–68, 119 Sullivan, E. 241 Turri, J. 101, 260 Tye, M. 47 Veber, M. 15, 24 Vetter, P. 98 Warfield, T. A. 259–260 Weatherson, B. 103–105, 159 Williamson, T. 12, 70, 93, 106–107, 151–157, 218, 224, 228 Ylikoski, P. 253 Zagzebski, L. T. 171, 237

Sachregister Adäquates Verständnis Siehe Determinierter/ Vollständiger Begriffsbesitz 160 Autorität der Sprecherin 20, 36, 54, 58–59, 78, 86–87, 194, 257 Basale Gründe 50, 55, 57, 88, 96 Bedingte Identifikation Siehe Kontextbedingte Identifikation 66 Begriffliche Wahrnehmungserfahrung 102 Beliebige / Spezifische Expertin Unterscheidung 197 Coverage-reliability 123 Defeater doxastischer 203–204, 208, 287, 289–291, 298 irreführender 20, 26, 83, 85 normativer 271, 287–290 propositionaler 203–206, 208, 212 psychologischer 26, 84 quellen-sensitiver 86–87 untergrabender 20, 79, 205, 208 unwiderlegter 20, 83–84, 203, 288–290 vergessener 271 widerlegter 287 Defekt impliziert Defektivität (DID) Arbeitshypothese 230 Demonstrative Begriffe 95–97 Demonstrative Identifikation 66–68 Determinierter/Vollständiger Begriffsbesitz 145, 158, 160, 171 Direkte epistemische Unterstützung 58 Diskriminierung, perzeptuelle 96–97 Domäne D 58 Domänenspezifische Evidenz Arbeitsdefinition 63 Verwendung des Begriffs 58, 60 Evidenz aus zweiter Hand Verwendung des Begriffs 64 Gründe 58 Domänenunabhängige Gründe Verwendung des Begriffs 58

Doppelzählung der Evidenz 86 Eigenschaft des Aus-zweiter-Hand-Seins  25–27, 31, 52, 187, 190, 194–195 Entitlement 153, 164 Epistemische Abhängigkeit Arbeitsdefinition 61 Evidentielles Modell 73, 75, 79 Permissiver Begriff 73 Epistemische Basis Verwendung des Begriffs 110 Epistemische Positionierung / Stärke der epistemischen Unterstützung Unterscheidung 221 Epistemischer Standort Arbeitsdefinition 65 Erinnerungen Episodische Verwendung des Begriffs 273–274 Erhaltende 277 Externalistische Sichtweise 299 Generativer Ansatz 285–286 Moderater Generativismus 286 Robuster Generativismus 286 Holismus 299 Inhaltsgenerierende Verwendung der Begriffs 294 Personale Verwendung des Begriffs 273, 276 Preservationistischer Ansatz 278, 282, 285, 288–290, 302 Propositionale Verwendung des Begriffs 273 Propositionales Erinnern Typ1/Typ2 Unterscheidung 280–281 Quasi-Erinnerungen 275, 293, 296–298, 300, 302 Quellenerinnerung 292 Semantische Verwendung des Begriffs 273–274 Esoterisch Verwendung des Begriffs 58 Evidentialismus 57, 104 Exoterisch Verwendung des Begriffs 58

334 Extension Testimoniales Wissen 11–13, 16, 40–41 Transmissiver Begriff 17 Wissen aus Bekanntschaft / aus Beschreibung 47, 50–51 Wissen aus zweiter Hand 1–4, 6–8, 24, 73 Wissen aus zweiter Hand, eng und weit 27–28 Externalistische Wissenstheorie 22, 158, 277 Extraktion von Information 112, 124–126, 128 Fairer Vergleich Bedingungen 150 Faktive mentale Zustände 106 Falsifizierung 93 Feinkörnigkeit 69, 91, 95, 135, 253, 261 Fission 272, 297 Fundamentalismus, epistemischer 56–57, 89 Fusion 272, 297–298 Gedankenexperiment 137, 144 Auslaufsicherer Behälter 226 Autokorso 80 Bücherdieb, der 279 Cricket-Spiel 1 147 Cricket-Spiel 2 148 Die vergessenen Fäden 211 Drillinge 297 Essensbestellung 263 Existenz von Urgroßeltern 166 Expertinnen-Konferenz 184 Farbinversion 264 Fossil 22 Gesprenkelte Henne 45 Gruppenwissen 213 Invers konsistente Lügnerin 1 266 Invers konsistente Lügnerin 2 266 Kims Party 1 259 Kims Party 2 259 Korruption 287 Kreationistische Lehrerin 13 Kunstexperte Ken 187 Lunchbox 1 225 Mary 48

Sachregister Moralexpertin Miriam 187 Mörder 262 Mozartkennerin 74 Natürliche Fusion 297 Onkologin 1 182 Onkologin 1A 197 Onkologin 2 188 Persistent Believer 83 Peters Buch 137 Pinkes T-Shirt 256 Rechenaufgabe, die 167 Satz des Euklid 144 Skeptische Zweifel 290 Socken im Trockner 159 Sonnenfinsternis 62 Stoppschild 295 Super-Recognizerin 100 Tamati, der Mathematikstudent 103 Unsichere Mozartkennerin 84 Venezianische Erinnerungen 299 Venezianische Erinnerungen 2 300 Gefühl der Eigentümerschaft 272, 274–275 Gerichtete Aufmerksamkeit 46 Gordon, E. C. 249–250 Grammatikalische Marker 29 Grasping/Begreifen 242–244 Group Epistemic Agent Account 175 Gruppenwissen 175–176, 202, 209, 212–214 Hochrisikoreiche Kontexte 180, 208–210, 212, 295 Implikatur 180, 183, 217, 228–229, 231 Implizit evidenzbasierte Schlüsse 70 Indirekte epistemische Unterstützung 33, 58 Indirekte Selbstevidenz Verwendung des Begriffs 161 Indirektheits-Annahme 233, 241 Informantin 14, 38–39, 75 Informationskanal 22, 36, 71, 73, 75 Informationsquelle 38–39, 71, 74 Informationsverlust 125 Integriertes Wissen aus zweiter Hand Arbeitsdefinition 185 Internalistische Wissenstheorie 158, 276

335

Sachregister Interozeption 89 Introspektion 88–90 Kausale Abhängigkeit 60 Kausale Sensitivität 70, 107 Knowledge Norm of Assertion (KNA) Siehe Wissensnorm für Assertionen 181 Kognitive Durchlässigkeit 98, 101 Kognitive Undurchlässigkeit 97, 101 Kommunikationskette 23, 60 Kompartmentalisierung 117–119, 194 Kontext-bedingte Identifikation 66, 119 Kontextsensitivität 68–69, 256 Konversationsmaximen 113–114 Minimale Menge an domänenspezifischer Evidenz 140, 150 Modularität der Wahrnehmung 97 Monitoring 70 Nicht-begriffliche Erfahrungsgründe 88, 91, 93 Evidenz 97, 99 Repräsentationen 91, 95 Wahrnehmungserfahrung 101–102, 125 Nicht-begrifflicher Wahrnehmungsinhalt  140 Nichtinferentialität 45 Nichtreferentielle Bezugnahme 18 Nominales Verständnis Siehe Semantischer Begriffsbesitz 160, 171 P-Akzeptanz 257 Peer Disagreement 20, 204, 207 Personale Identität 268, 272 Phänomenale Konzepte 46 Physikalismus 48 Präemptionsthese 85 Präzision als Eigenschaft des Explanandums 253 Primat von Wissen aus erster Hand 30 Prinzip der fortwährenden Rechtfertigung Arbeitsdefinition 277 Problem der vergessenen Evidenz 276 Propositionale Erfahrungseinstellung 89 Propositionales Netzwerk 68, 114, 119, 306

Protopropositionaler Inhalt 99 Proximale Reize 99 Psychologisierung der Evidenz 155–157 Quelle R Verwendung des Begriffs 111 Rationale Einsicht 144–146, 158, 165, 172, 192 Rationale Intuition 91, 154–158, 160, 167, 170 Raumzeitliche Platzierung 54, 63 Realismus direkter 89 indirekter 89 Rechtfertigende Gründe 60 Rechtfertigung Doxastische 15, 104, 276 Externalistische 164 Internalistische 164 Prima facie 72, 153, 286, 291 Propositionale 15, 104 Ultima facie 286, 288, 290 zweiter Ordnung 33 Redundanz 113 Relative Expertin Arbeitsdefinition 63 Selbstevidenz Verwendung des Begriffs 159 Semantischer Begriffsbesitz Verwendung des Begriffs 159, 160 Sinnesdaten 46–47, 89, 93, 133 Speaker’s Knowledge und Reliable Assertion Bedingung 71 Sprachliche Marker 227 Sprechakt 10, 13, 39, 53, 71, 228 gefrorener 14 Statement view 266 Stimulus, distaler/visueller 97, 99, 101, 135 Strong Deferential Acceptance Arbeitsdefinition 133 Testimoniales Wissen Antireduktionismus 56 Defizitäres 179 Disjunktive Sichtweise Arbeitsdefinition 11

336 Testimoniales Wissen (fortges.) Fundamentalistische Sichtweise  32 Generativer Ansatz 12–13, 21 Reduktionismus 32, 72 Transmissionsmodell 57 schwache Auslegung 23 Transmissiver Begriff 37 Testimony Boad views 12 Extended 14 Hörer- 11, 24 Indirect 11 Narrow views 12 Sprecherinnen- 11, 24 Testimony-based knowledge 11 Tugenderkenntnistheorie 56 Unangemessenheitsintuition Verwendung des Begriffs 179 Universalien 47 Universalität der (epistemischen) assertorischen Normen Arbeitsdefinition 224 Unmittelbar selbstevidente Aussagen 161, 165 Verstehen Ausreichendes Verstehen Arbeitsdefinition 249 Holistisches Objektverstehen Verwendung des Begriffs 234 Komparatives Verstehen Arbeitsdefinition 248 Maximales Verstehen Arbeitsdefinition 247 Minimales Verstehen Arbeitsdefinition 248 Reduktionistische/Nichtreduktionistische Ansätze Unterscheidung 234 Reduktionistischer Ansatz Arbeitsdefinition 243 Verstehen-Warum Verwendung des Begriffs 234–235

Sachregister Verstehen-Wie Verwendung des Begriffs 234 Vollständigkeit des Begreifens Arbeitsdefinition 249 Weak deference / strong deference 132 Weak Deferential Acceptance Arbeitsdefinition 133 Weak transmission Siehe Transmissionsmodell, schwache Auslegung 23 Wiederherstellungsproblem 69 Wissen aus Bekanntschaft 9, 41 aus Instrumenten 15 Dispositionales 124, 131–132, 209 durch Beschreibung 9, 41 Impersonales 15 Inferentielles 9, 48 Reflexives 189 Subdoxastisches 15, 24 Wissen-aus-Falschheit 258–260 Wissen aus zweiter Hand Definition 110 Enger Begriff Arbeitsdefinition 9 Wissen aus Zweitbesitz 25 Hyperonym 39, 49 komparativer Begriff 37, 52, 82, 85 kontradiktorischer Gegenbegriff 18, 25, 34 polarer Gegenbegriff 34, 37, 51, 83 weiter Begriff Arbeitsdefinition 9 Wissensnorm für Assertionen Arbeitsdefinition 181 Notwendigkeitsbedingung (KNA-N) 181 Suffizienzbedingung (KNA-S) 182, 223 Wissensnorm für praktische Rationalität (KNPR-S) Arbeitsdefinition 183