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German Pages 208 Year 1989
Schriften zum Prozessrecht Band 91
Der Einfluß von Behörden auf die Einleitung und den Ablauf von Zivilprozessen Ein Weg zur Durchsetzung und Bewährung privater Rechte und Institutionen?
Von Matthias Richard Brenner
Duncker & Humblot · Berlin
MATTHIAS RICHARD BRENNER
Der Einfluß von Behörden auf die Einleitung und den Ablauf von Zivilprozessen
Schriften zum Prozessrecht Band 91
Der Einfluß von Behörden auf die Einleitung und den Ablauf von Zivilprozessen Ein Weg zur Durchsetzung und Bewährung privater Rechte und Institutionen?
Von Dr. Matthias Richard Brenner
Duncker & Humblot * Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Brenner, Matthias Richard: Der Einfluss von Behörden auf die Einleitung und den Ablauf von Zivilprozessen: ein Weg zur Durchsetzung und Bewährung privater Rechte und Institutionen? / von Matthias Richard Brenner. — Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 (Schriften zum Prozessrecht; Bd. 91) Zugl.: Kiel, Univ., Diss., 1987 ISBN 3-428-06652-9 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 3-428-06652-9
Vorwort D i e Schrift hat i m Wintersemester 1987/1988 der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität i n K i e l als Dissertation vorgelegen. Sie wurde am 1. November 1987 abgeschlossen. H e r r Prof. D r . Horst-Eberhard H e n k e hat das Thema angeregt u n d die A r b e i t beständig unterstützt und durch fruchtbare K r i t i k gefördert. E r hat sich weiterhin für die A u f n a h m e der A b h a n d l u n g i n die Reihe „Schriften zum Prozeßrecht" eingesetzt. H i e r f ü r danke ich i h m herzlich. Tatkräftige Unterstützung habe ich von M i t a r b e i t e r n der von m i r angesprochenen Behörden erfahren. D i e bereitwilligen A u s k ü n f t e über die praktischen Erfahrungen m i t den untersuchten Regelungen waren eine wertvolle Hilfe. M e i n D a n k gilt schließlich meiner Familie, die m i t G e d u l d u n d steter A n t e i l n a h m e auf ihre Weise zum Gelingen der A r b e i t beigetragen hat. B o n n , i m März 1989 Matthias Richard
Brenner
Inhaltsverzeichnis Einleitung Α . Die Einleitung des Zivilprozesses
17
I. Der Grundsatz: Die Einleitung des Verfahrens durch den einzelnen Rechtsinhaber oder Betroffenen
18
1. Die Bedeutung des Verfügungsgrundsatzes
18
2. Der Prozeßzweck
19
II. Die Ausnahmen: Klagen von Behörden und Verbänden I I I . Der ideologische Einfluß auf die prozessuale Verfügungsfreiheit B. Zielsetzung und Gang der Untersuchung
21 24 25
1. Abschnitt
Staatliche Einflußnahme auf die Einleitung von Zivilprozessen im bundesdeutschen Recht 1. Teil Klage- und Antragsrechte der Staatsanwaltschaft A . Grundlagen
27 27
I. Möglichkeiten staatsanwaltschaftlicher Mitwirkung im Zivilprozeß . . . .
27
II. Entwicklung im deutschen Recht seit der Civilprozeßordnung vom 30. 1. 1877
30
B. Die gesetzlichen Regelungen I. Ehenichtigkeitssachen
35 35
1. Grundzüge des Verfahrens
35
2. Die Einleitung des Verfahrens
37
II. Entmündigungssachen 1. Grundzüge des Verfahrens 2. Die Einleitung des Verfahrens a) Entmündigung wegen Geisteskrankheit und -schwäche b) Entmündigung aus sonstigen Gründen I I I . Klagen auf Feststellung des Bestehens von in der D D R geschiedenen Ehen
38 38 39 39 40 40
1. Meinungsstand
41
2. Stellungnahme
42
nsverzeichnis
8 C. Die gewahrten Interessen
43
I. Ehenichtigkeitssachen
43
1. Der Schutz des „Instituts Ehe"
43
2. Der Schutz subjektiver Rechte und privater Belange
45
3. Die Stellung der Staatsanwaltschaft
48
a) Meinungsstand
48
b) Stellungnahme
49
II. Entmündigungssachen
50
1. Der im öffentlichen Interesse verfolgte Schutz des zu Entmündigenden
50
2. Der Schutz subjektiver Rechte und privater Belange
52
3. Die Stellung der Staatsanwaltschaft
53
D. Praktische Erfahrungen
54
I. Umfang staatsanwaltschaftlicher Tätigkeit in Zivilrechtsachen
54
1. Umfang der Verfahrenseinleitung in Ehenichtigkeitssachen
56
2. Umfang der Verfahrenseinleitung in Entmündigungssachen II. Kenntnisnahme von Ehenichtigkeits- und Entmündigungssachen III. Die Handhabung der Einleitungsbefugnisse, insbesondere die Ermessensfrage 1. Ehenichtigkeitssachen
56 57 58 59
a) Allgemeines
59
b) Speziell: Ehenichtigkeitsklagen wegen Doppelehe
60
aa) Die Nichtigkeitsklage bei Bestehen von Erst- und Zweitehe . .
60
bb) Die Nichtigkeitsklage nach Auflösung der Erst-Ehe
61
cc) Die Nichtigkeitsklage nach Auflösung der Zweitehe
65
2. Entmündigungssachen
66
E. Zusammenfassung
67
2. Teil Die sogenannte „Amtsklage" im Bereich des Arbeitsrechts A . Die „Amtsklage" des § 25 H A G I. Grundlagen
67 69 69
1. Die Entgeltregelung im Heimarbeitsrecht und ihr Einfluß auf das privatrechtliche Heimarbeitsverhältnis
69
2. Der Entgeltschutz in der Heimarbeit
70
a) Die Nachzahlungsaufforderung des § 24 H A G b) Die Klagebefugnis des Landes nach § 25 H A G
70 71
aa) § 25 H A G als Fall einer gesetzlichen Prozeßstandschaft . . . .
71
bb) Umfang der Klagebefugnis
72
nsverzeichnis II. Die von § 25 H A G gewahrten Interessen
73
1. Die Ziele des Heimarbeitsgesetzes unter Berücksichtigung der Situation der Heimarbeiter und der Entstehungsgeschichte
73
2. Die Interessen des Heimarbeiters: § 25 H A G als Mittel zur Durchsetzung des Arbeitnehmerschutzes
75
3. Der Schutz der übrigen Heimarbeiter
77
4. Die Interessen der gesetzestreuen Auftraggeber
77
5. Interessen der Allgemeinheit
78
6. Das Verhältnis der berührten Interessen
79
III. Praktische Erfahrungen
82
1. Die Bedeutung des Entgeltschutzes, insbesondere der Amtsklage
. .
82
2. Gründe für Entgeltabweichungen
84
3. Die Feststellung von Verstößen gegen Entgeltregelungen
84
a) Die Tätigkeit von Entgeltprüfern und sonstigen mit der Entgeltüberwachung beauftragten Stellen b) Kenntnisnahme von seiten der Heimarbeiter 4. Die Handhabung des § 25 H A G , insbesondere die Ermessensfrage
84 86
. .
a) Die Ermessensfrage
86 87
aa) Allgemeine Kriterien
87
bb) Speziell: Der entgegenstehende Wille des Heimarbeiters . . .
88
b) Praktische Handhabung
89
B. Die „Amtsklage" des § 14 M A B G
90
I. Grundlagen
90
II. Die gewahrten Interessen
91
I I I . Praktische Bedeutung
92
C. Zusammenfassung
93
3. Teil Klagen von Behörden zur Durchsetzung des Tarifzwangs im Güterfernverkehr und in der Binnenschiffahrt A . Die Regelung im Güterfernverkehr I. Grundlagen
95 96 96
1. Der Tarifzwang im Güterfernverkehr und seine Auswirkungen auf den privatrechtlichen Frachtvertrag
96
2. Der Tarifausgleich durch die Bundesanstalt für den Güterfernverkehr
97
a) Die Ausgleichsforderung bei nichtvorsätzlichem Tarifverstoß; § 23 Abs. 1 und 2 GüKG
98
b) Die Ausgleichsforderung bei vorsätzlichem Tarifverstoß; § 23 Abs. 3 GüKG
99
nsverzeichnis
10
II. Die von § 23 GüKG gewahrten Interessen
100
1. Die Ziele des Güterkraftverkehrsgesetzes unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte 100 2. Die Aufgabe des § 23 GüKG 3. § 23 GüKG als Ausnahme vom Verfügungsgrundsatz I I I . Praktische Erfahrungen
103 103 106
1. Die Bedeutung des Tarifschutzes, insbesondere des Forderungsübergangs nach § 23 GüKG
106
2. Gründe für Tarifverstöße
107
3. Die Feststellung von Tarifverstößen
108
4. Die Handhabung des § 23 GüKG
109
B. Die Regelung im Bereich der Binnenschiffahrt I. Grundlagen
113 113
1. Die Frachtenbildung und ihre Auswirkungen auf den privatrechtlichen Frachtvertrag 113 2. Die Durchsetzung der festgesetzten Frachten durch die Wasser- und Schiffahrtsdirektionen nach § 31 BSchVG 113 II. Die von § 31 BSchVG gewahrten Interessen
115
1. Die Ziele des Binnenschiffahrtsverkehrsgesetzes unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte 115 2. Die Aufgabe des § 31 Abs. 3 BSchVG I I I . Praktische Bedeutung
118 119
1. Die Bedeutung der Frachtenkontrolle, insbesondere des Forderungsübergangs nach § 31 Abs. 3 BSchVG 119 2. Gründe für Tarif abweichungen
119
3. Die Feststellung von Frachtenabweichungen
120
4. Praktische Handhabung
120
C. Zusammenfassung
121
4. Teil Sonstige Fälle
123
A . Vollziehung einer Auflage nach § 525 und § 2194 BGB
123
B. Weitere behördliche Einleitungsbefugnisse in Entmündigungssachen
125
Inhaltsverzeichnis
11
2. Abschnitt
Die Einflußnahme der Staatsanwaltschaft der D D R auf die Einleitung von Zivilprozessen A . Grundlagen I. Die Funktion des Rechts im sozialistischen Staat II. Privatautonomie und subjektives Recht I I I . Der Prozeßzweck und die Geltung der Dispositionsmaxime B. Die gesetzlichen Regelungen I. Allgemeine Stellung und Aufgaben der Staatsanwaltschaft II. Verfahrenseinleitende Antrags- und Klagerechte im Zivilprozeß 1. Familienrechtssachen
126 126 128 130 132 132 135 135
a) Ehenichtigkeitsklage; § 35 Abs. 2 S. 2 FGB
135
b) Ehelichkeitsanfechtung; §§ 62 Abs. 2, 61 Abs. 1 S. 2 FGB
137
c) Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit der Anerkennung der Vaterschaft (§59 FGB) und der durch gerichtliche Entscheidung getroffenen Vaterschaftsfeststellung (§ 60 FGB) 138 2. Zivilrechtssachen a) Entmündigung; § 140 Abs. 1 ZPO D D R
139 139
b) Das Verfahren zur unbefristeten Einweisung in stationäre Einrichtungen für psychisch Kranke; § 11 Abs. 2 EinwG 140 c) Verfahren zur Todeserklärung und zur Feststellung der Todeszeit; § 136 Abs. 1 ZPO D D R
141
d) Einziehung des aus einem nichtigen Vertrag zu Unrecht Erlangten; § 69 Abs. 2 Z G B
142
e) Drittschuldnerklage; § 111 Abs. 2 ZPO D D R
143
f) Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen nach § 198 Abs. 2 StPO D D R 145 g) Einspruch gegen zivilrechtliche Entscheidungen gesellschaftlicher Gerichte; § 53 Abs. 3 K K O , § 48 Abs. 3 SchKO 3. Arbeitsrechtssachen I I I . Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen
147 147 149
1. Rechtsmittel
150
2. Außerordentliche Rechtsbehelfe
151
a) Kassation
151
b) Wiederaufnahmeklage
153
C. Praktische Bedeutung I. Allgemeine Kriterien II. Umfang der Mitwirkung in Zivilverfahren 1. Einflußnahme auf Verfahren vor gesellschaftlichen Gerichten
153 153 155 155
12
nsverzeichnis 2. Die Einleitung von Verfahren vor staatlichen Gerichten
156
3. Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen
159
3. Abschnitt Nutzen und Gefahren staatlicher Einflußnahme auf die Einleitung des Zivilprozesses A . Zusammenfassende Würdigung
161
I. Die Befugnisse der Staatsanwaltschaft der D D R II. Die bundesdeutschen Regelungen
161 164
1. Unterschiedliche Ausgestaltung und Nutzen
164
2. Gefahren behördlicher Klagen
170
B. Ausblick
176
I. Der Schutz der objektiven Rechtsordnung
176
II. Die Durchsetzung subjektiver Privatrechte
179
Ergebnis
185
Anhang Die wichtigsten zitierten Vorschriften des DDR-Rechts
186
Literaturverzeichnis
197
Abkürzungsverzeichnis a. Α .
anderer Ansicht
a.a.O.
am angegebenen Ort
Abs.
Absatz
AcP
Archiv für civilistische Praxis
ÄndG
Änderungsgesetz
a. F.
alte Fassung
AG
Amtsgericht, Ausführungsgesetz
AGB
Arbeitsgesetzbuch der D D R
AGB G
Gesetz zur Regelung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen
AGBGB
Ausführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch
Anm.
Anmerkung
AOG
Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit
AP
Arbeitsrechtliche Praxis (Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts)
ArbG ArbPlSchG
Arbeitsgericht Gesetz über den Schutz des Arbeitsplatzes bei Einberufung zum Wehrdienst
Art.
Artikel
Aufl.
Auflage
BAG
Bundesarbeitsgericht
BAnz
Bundesanzeiger
BArbBl.
Bundesarbeitsblatt
BB
Der Betriebs-Berater
Bd.
Band
B DA
Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände
BG
Bezirksgericht
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch
BGBl.
Bundesgesetzblatt
BGH
Bundesgerichtshof
BGHZ
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen
BlStSozArbR
Blätter für Steuerrecht, Sozialversicherung und Arbeitsrecht
BRat
Bundesrat
BRD
Bundesrepublik Deutschland
BSchVG
Gesetz über den gewerblichen Binnenschiffsverkehr (Binnenschiffahrtsverkehrsgesetz)
14
Abkürzungsverzeichnis
BT-Drucksache
Drucksachen des Deutschen Bundestages
BUrlG
Mindesturlaubsgesetz für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz)
BVerwG
Bundesverwaltungsgericht
BVerwGE
Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts
CPC
Code de Procédure Civile
CPO
Civilprozeßordnung
DB
Der Betrieb
DDR
Deutsche Demokratische Republik
ders.
derselbe
DGV
Der Güterverkehr
DGWR
Deutsches Gemein- und Wirtschaftsrecht
d. h.
das heißt
Die Justiz
Amtsblatt des Justizministeriums Baden-Württemberg
DJ
Deutsche Justiz
DJT
Deutscher Juristentag
DM
Deutsche Mark
DÖV
Die Öffentliche Verwaltung
DR
Deutsches Recht
DuR
Demokratie und Recht
EheG
Ehegesetz
1. EheRG
Erstes Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts
Einl.
Einleitung
EinwG
Gesetz über die Einweisung in stationäre Einrichtungen für psychisch
f
folgende (Seite)
FamRZ
Ehe und Familie im privaten und öffentlichen Recht, ab 9. 1962 (4):
FDGB
Freier Deutscher Gewerkschaftsbund
FGB
Familiengesetzbuch der D D R
FLZG
Gesetz zur Regelung der Lohnzahlung an Feiertagen
Kranke (DDR)
Zeitschrift für das gesamte Familienrecht
Fn.
Fußnote
GBl.
Gesetzblatt der D D R
GG
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
GGG
Gesetz über die gesellschaftichen Gerichte der D D R
GüKG GüKTV GVG
Güterkraftverkehrsgesetz Verordnung über Tarifüberwachung im Güterfernverkehr und grenzüberschreitenden Güterkraftverkehr Gerichtsverfassungsgesetz
GVG DDR
Gesetz über die Verfassung der Gerichte der D D R
GWB
Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
HAÄG
Heimarbeitsänderungsgesetz
Abkürzungsverzeichnis HAG
Heimarbeitsgesetz
h. M.
herrschende Meinung
HzA
Handbuch zum Arbeitsrecht (herausgegeben von Stahlhacke)
i.d.F.
in der Fassung
i. ü.
im übrigen
i. V. m.
in Verbindung mit
jew.
jeweils
JuS
Juristische Schulung
JZ
Juristenzeitung
Kap.
Kapitel
KG
Kammergericht
KKO
Beschluß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Tätigkeit der Konfliktkommissionen (Konfliktkommissionsordnung) Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall
LFZG
(Lohnfortzahlungsgesetz) LG
Landgericht
Lit.
Literatur
MABG
Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen
MDR
Monatsschrift für Deutsches Recht
m. E.
meines Erachtens
MuSchG
Gesetz zum Schutz der erwerbstätigen Mutter (Mutterschutzgesetz)
m. w. Ν.
mit weiteren Nachweisen
NJ
Neue Justiz
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
Nr.
Nummer
NRW
Nordrhein-Westfalen
NzA
Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht
ÖTV
Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (Gewerkschaft)
OG
Oberstes Gericht der D D R
OGZ
Entscheidungen des Obersten Gerichts der D D R in Zivilsachen
OLG
Oberlandesgericht
OVG
Oberverwaltungsgericht
prGS
preußische Gesetzessammlung
RabG
Gesetz über Preisnachlässe (Rabattgesetz)
RdA
Recht der Arbeit
Rdn(rn).
Randnummer(n)
RGBl. RGZ RIW/AWD
Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Recht der Internationalen Wirtschaft/Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters
16
Abkürzungsverzeichnis
Rspr.
Rechtsprechung
S.
Seite
SchKO
Beschluß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Tätigkeit der Schiedskommissionen (Schiedskommissionsordnung)
SchlHA
Schleswig-Holsteinische Anzeigen
SchwBG
Schwerbehindertengesetz
SED
Sozialistische Einheitspartei Deutschland
sog.
sogenannt
StAG
Staatsanwaltschaftsgesetz
StAG D D R
Gesetz über die Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik
StPO
Strafprozeßordnung
StPO D D R
Strafprozeßordnung der D D R
StuR
Staat und Recht
SVO
Verordnung zur Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten (DDR)
u. a.
unter anderen (anderem)
u.s.w.
und so weiter
UWG
Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb
v.
von, vom
Verf.
Verfasser
VerfDDR
Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik
VerschG
Verschollenheitsgesetz
vgl.
vergleiche
VO
Verordnung
Vorb.
Vorbemerkung
VwGO
Verwaltungsgerichtsordnung
VwVfG
Verwaltungsverfahrensgesetz (Bund)
WSD
Wasser- und Schiffahrtsdirektion
WP
Wahlperiode
ZAkDR
Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht
ζ. B.
zum Beispiel
ZfB
Zeitschrift für Binnenschiffahrt
ZGB
Zivilgesetzbuch der D D R
zit.
zitiert
ZPO
Zivilprozeßordnung
ZPO D D R
Gesetz über das gerichtliche Verfahren in Zivil-, Familien und
ZZP
Zeitschrift für Zivilprozeßrecht
Arbeitsrechtssachen (Zivilprozeßordnung der D D R )
Einleitung Anlaß für die vorliegende Arbeit ist die Frage, ob die herkömmliche, an individueller (d. h. privater) Betroffenheit orientierte Rechtsverfolgung ausreichend ist. Als Problemfeld hat sich auf dem Gebiet des Privatrechts der Vertrags- und Verbraucherschutz erwiesen. Dabei wird in der Diskussion unter dem Stichwort „Verbandsklage" eine vielbeachtete Lösungsmöglichkeit angeboten, deren sich der Gesetzgeber in einigen Bereichen bedient hat. Daneben besteht aber auch die Möglichkeit, neben dem persönlich betroffenen Bürger eine staatliche Stelle zur Einleitung eines Zivilprozesses zu berufen. Seit je sind solche Fälle im Personen- und Familienrecht bekannt, seit einigen Jahrzehnten auch im Vertrags- und Arbeitsrecht. Die insoweit bestehenden Regelungen sind im Schrifttum bisher vernachlässigt worden. 1 A . Die Einleitung des Zivilprozesses Der Ausnahmecharakter der angesprochen Fälle verdeutlicht sich an zwei recht einfachen, aber anschaulichen Beispielen: Beispiels fall 1: A hat mehrere hilflose alte Leute betrügerisch um ihre gesamten Ersparnisse gebracht. Er wird von der Staatsanwaltschaft angeklagt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Er weigert sich jedoch, den Schaden wieder gutzumachen, obwohl er das erschwindelte Geld noch besitzt. Seine Opfer sehen etwa deshalb von einer Klage ab, weil sie bisher noch nie „etwas mit dem Gericht zu tun hatten" und dies auch so bleiben soll oder weil sie einfach den Klageweg scheuen.
Beispielsfall 2: Ein in erster Ehe noch verheirateter Mann schließt mit einer anderen Frau eine weitere Ehe. Beide Frauen wissen von der Doppelehe, unternehmen jedoch nichts.
Kann in den Beispielsfällen eine staatliche Stelle einen Zivilprozeß einleiten, um den Schadensersatzanspruch durchzusetzen bzw. das nach § 23 EheG 1 Die Problematik der in Rede stehenden Fälle sprechen an: Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, S. 119 ff; Bötticher, ZZP 85 (1972) 1 ff (23 f); Jauernig, Studienbuch, § 1 I I 2 (S. 2), § 241, I I (S. 70 f); zuletzt Henke, Grundriß, § 18 I I (S. 362 ff). Mit einzelnen Vorschriften befassen sich die älteren Dissertationen von Czaja, Stabenow und Schmick. Daneben findet sich in der Literatur der fälschliche Hinweis, der Staat verhalte sich bezüglich der Einleitung eines Zivilprozesses - abgesehen von den Befugnissen der Staatsanwaltschaft in Ehenichtigkeits- und Entmündigungssachen - neutral; Schiwy/Wetzke, R I W / A W D 1978, 368 ff (368).
2 Brenner
18
Einleitung
zur Berufung auf die Nichtigkeit der bigamischen Ehe erforderliche Urteil zu erreichen? I. Der Grundsatz: Die Einleitung des Verfahrens durch den einzelnen Rechtsinhaber oder Betroffenen 1. Die Bedeutung des Verfugungsgrundsatzes
Als Antwort auf die Frage zum 1. Beispielsfall seien zwei Rechtssprichwörter genannt, die treffend den Grundsatz unseres Zivilprozeßrechts kennzeichnen. Sie lauten: „Wo kein Kläger, da kein Richter" und „Ne procedat iudex ex officio" 2 . In beiden kommt zum Ausdruck, daß nicht das Gericht von sich aus einen Prozeß zwischen den Parteien einleiten darf. Niemand kann Kläger und Richter zugleich sein. Auch eine andere staatliche Stelle kümmert sich grundsätzlich nicht darum, ob - wie im 1. Beispielsfall - etwa die Opfer die ihnen zustehende Entschädigung bekommen. Mag die Entscheidung nicht zu klagen noch so töricht sein - die Rechtsordnung respektiert sie, weil sie die Selbstbestimmung des einzelnen in der Gestaltung seiner Rechtsverhältnisse anerkennt. Sie folgt dem „individualistischen Prinzip" 3 der Privatautonomie. Diese Entscheidungsfreiheit des einzelnen wird allgemein als Ausfluß der sogenannten „Dispositionsmaxime" - zu deutsch: des Verfügungsgrundsatzes - bezeichnet.4 Man darf ihn als einen der wichtigsten Grundsätze des Zivilprozesses bezeichnen. Nach dem Lehrbuch von Rosenberg! Schwab „dürfte er durch Art. 2 Abs. 1 GG geboten sein". 5 Das die bürgerliche materielle Rechtsordnung beherrschende Prinzip der Privatautonomie spiegelt sich hier auf prozessualer Seite wider: Da der Zivilprozeß dem Schutz privater, meist subjektiver Rechte dient, über welche der einzelne regelmäßig nach seinem Belieben verfügen kann, muß es der Staat ihm auch überlassen, ob, wann und in welchem Umfang er den Richter anruft 6 .
2
Zitiert nach Blomeyer, Zivilprozeßrecht, § 13 11 (S. 90). Vgl. Flume , Allgemeiner Teil, § 1, 9 (S. 15). 4 Zutreffend Henke, Grundriß, § 18 I (S. 353 ff); Zeiss , Zivilprozeßrecht, § 26 I (S. 63); Blomeyer, Zivilprozeßrecht, § 13 (S. 89 f); Brüggemann, S. 100 ff m.w.N.; abweichend etwa Rosenberg! Schwab y Zivilprozeßrecht, § 79 I 2 (S. 463), wo hinsichtlich des Ingangsetzens und -haltens vom „Prozeßbetrieb" gesprochen wird. 5 Rosenberg! Schwab, Zivilprozeßrecht, § 1 V I I (S. 7). 6 Henke, Grundriß, § 18 11 a (S. 353). 3
Α. Die Einleitung des Zivilprozesses
19
2. Der Prozeßzweck
Die Geltung der Dispositionsmaxime steht somit im engen Zusammenhang mit dem Prozeßzweck. Im Rahmen dieser Arbeit sei davon abgesehen, auf die mannigfachen Auffassungen zum Prozeßzweck näher einzugehen. Dies würde notwendigerweise zu einer Wiederholung eines vielfach behandelten Stoffes führen 7 . Immerhin kann die Frage nicht völlig offen gelassen werden. Für das Verständnis der bestehenden staatlichen Einleitungsbefugnisse sowie die Frage des Nutzens und der Zulässigkeit dieser Einflußnahme ist der (jeweilige) Prozeßzweck von Bedeutung. Insbesondere wirkt er sich auf die Stellung der Verfahrensbeteiligten im Prozeß, aber auch auf die Frage der Einleitungsbefugnis aus. Eine Prozeßordnung, die auf den Schutz und die Durchsetzung subjektiver Rechte gerichtet ist, wird es dem Bürger weitgehend überlassen, über den Ablauf und die Beendigung eines Verfahrens frei zu entscheiden, weil die Befugnis zur Verfügung über das subjektive Recht im Prozeß weiterwirkt. Ausgangspunkt für die Untersuchung soll die herrschende Meinung sein, nach der im bundesdeutschen Recht der Zweck des Zivilprozesses grundsätzlich im Schutz privater Rechte liegt 8 . Erst in zweiter Linie dient der Zivilprozeß auf dieser Grundlage Belangen der Allgemeinheit, wie etwa dem öffentlichen Interesse an der Bewährung der Privatrechtsordnung, dem allgemeinen Rechtsfrieden, der Rechtssicherheit u.s.w. 9 Allerdings besteht auch über das Verhältnis des primär geschützten subjektiven Interesses der Parteien zum öffentlichen Interesse am Zivilprozeß Streit. Teilweise wird vertreten, daß ein Mehr an objektiver Interessenwahrung ein Weniger an Schutz subjektiver Parteiinteressen bedinge 10 . Nach anderen besteht zwischen den beiden Zielen kein Gegensatz, und der Zivilprozeß diene um so mehr dem öffentlichen Interesse, als der Schutz subjektiver Belange gewährleistet sei 11 . Eine dritte Richtung sieht den Schutz öffentlicher Interessen lediglich als Begleiterscheinung, nicht aber als selbständigen Zweck an. 12 Diese Ansicht soll Ausgangspunkt bei der Untersuchung der Klagemöglichkeiten von Behörden sein. Sieht man mit der herrschenden Meinung die Durchsetzung subjektiver Rechte als Zweck des Zivilprozesses an, so ergibt 7 Ausführlich zum Prozeßzweck etwa Thiere, Dissertation, S. 3 ff; Stein! JonasISchumann, ZPO, Einl. I C; jeweils m.w.N. 8 SteintJonas!Schumann, ZPO, Einl. I C I ; Rosenberg! Schwab, Zivilprozeßrecht, § 1 I I I (S. 2 f); Nikisch, Zivilprozeßrecht, Einführung § 1 (S. 2); Jauernig, JuS 1971, 329 ff (329); derselbe, Studienbuch, § 1 I I , I I I (S. 2 ff). 9 Vgl. im einzelnen Thiere, Dissertation, S. 8 f, m.w.N. 10 Bericht 1961, S. 166; Stein!Jonas!Schumann, ZPO, Einl. I C V I . 11 Beispielsweise Pawlowski, ZZP 80 (1967) 345 ff (389). 12 Grunsky, Grundlagen, § 1 I I (S. 6), der von einem „angenehmen Nebenprodukt" spricht.
2*
20
Einleitung
sich i n der T a t , daß dem einzelnen jedenfalls grundsätzlich das Klagerecht zur Durchsetzung seiner Interessen z u k o m m t . D i e übrigen berührten öffentlichen Belange sind hingegen nicht u m ihrer selbst w i l l e n geschützt. Sie folgen vielmehr als Reflex der Durchsetzung des privaten Rechts, dessen A u s ü b u n g oder Nichtausübung letztlich der privaten „ W i l l k ü r " des einzelnen überlassen i s t 1 3 . O b dies allerdings i m m e r gilt, insbesondere i n den Fällen, i n denen eine Behörde einen Prozeß einleiten kann, mag hier noch dahingestellt bleiben. Dieser Frage ist bei der Untersuchung der einzelnen Fälle nachzugehen. Im Hinblick auf den oben gebildeten 2. Beispielsfall ist bereits an dieser Stelle auf die Auffassung von Jauernig 14 hinzuweisen, die Klagen im privaten und öffentlichen Interesse unterscheidet. Im 2. Beispielsfall kann gemäß § 24 EheG auch die Staatsanwaltschaft die sogenannte Ehenichtigkeitsklage erheben. Nach Jauernig geht es im Ehenichtigkeitsprozeß nicht - auch nicht bei der Klage eines Ehegatten - um die Durchsetzung subjektiver Rechte. Der Prozeß diene allein der Durchsetzung eines Teils des objektiven Rechts, nämlich der Bewährung eines Rechtsinstituts im öffentlichen Interesse 15 . Wenn die Ehegatten auf Vernichtung der zweiten Ehe klagen, handeln sie nach Jauernig als „Funktionäre der Gesamtrechtsordnung". Dies werde daran deutlich, daß die gleiche Klage auch von der Staatsanwaltschaft erhoben werden kann 16 . Der Zivilprozeß bezwecke also nur zum Teil die Durchsetzung subjektiver Rechte, zum Teil aber auch allein den Schutz öffentlicher Interessen. Beide Zwecke schlössen einander aus. Diese Ansicht wirkt sich auf die Frage der Einleitung eines Verfahrens aus: Dort, wo der Zweck allein im Schutz öffentlicher Interessen besteht, liegt das Klagerecht einer Behörde nahe oder ist sogar unverzichtbar. Ob sich allerdings bei dem von Jauernig angeführten Beispiel der Ehenichtigkeitsklage das Klagerecht der Ehegatten allein damit erklärt, daß diese „Sachwalter" 17 der geschützten öffentlichen Interessen sind, ist zweifelhaft. So verletzt beispielsweise die Doppelehe das Eheband mit dem ersten Gatten. Diese Beeinträchtigung berührt den klageberechtigten ersten Gatten persönlich. Im Ehenichtigkeitsprozeß sind somit auch private Interessen betroffen. Diese werden von Jauernig nicht berücksichtigt 18 . D e r Vollständigkeit halber ist zu bemerken, daß i m Zusammenhang m i t der Diskussion über einen „sozialen Zivilprozeß" die als Ausgangspunkt gesetzte Prozeßzwecklehre nicht unwidersprochen geblieben ist. So w i r d abweichend beispielsweise die Konfliktlösung als Hauptaufgabe des Zivilprozesses angese13
Vgl. Jauernig, JuS 1971, 329 ff (331). Jauernig, JuS 1971, 329 ff (331 f); derselbe, Studienbuch, § 1 I I 2 (S. 2); im Anschluß an Raisers „Lehre vom Institutionenschutz im Zivilprozeß?", wonach das materielle Recht neben dem Schutz subjektiver Rechte gleichberechtigt auch den Schutz von Rechtsinstitutionen bezweckt; vgl. Raiser , Summum ius, S. 145 ff (152 ff). 15 Beispielsweise der Bewährung des Instituts „Einehe" im Fall des § 20 EheG; Jauernig, JuS 1971, 329 ff (331 f). 16 Vgl. Jauernig, Studienbuch, § 1 I I 2 (S. 2); vgl. auch Gernhuber, Familienrecht, § 13 I I 2 (S. 124), der von den Ehegatten als „Sachwalter der gestörten Eheordnung" spricht. 17 Vgl. Gernhuber, Familienrecht, § 13 I I 2 (S. 124). 18 Z u den im Ehenichtigkeitsprozeß berührten privaten Belangen und ihrem Verhältnis zu den öffentlichen Interessen vgl. im einzelnen unten 1. Abschnitt, 1. Teil, C I. 14
Α. Die Einleitung des Zivilprozesses
21
hen 19 . Nach anderen ist der Zivilprozeß „die Art und Weise, in der sich die einzelnen Rechtsgenossen über die richtige Gestaltung der gemeinsamen Zukunft einigen" 20 . Derartige „soziale Prozeßziele" führen notwendig zu einer anderen Betonung der Prozeßgrundsätze, da dem Individualrechtsschutz nicht mehr die erste Stelle eingeräumt ist. Sie „fordern aber von ihrer Natur aus viel stärker die Ermittlung der materiellen Wahrheit im Prozeß als lediglich subjektive(r) Prozeßziele" 21 . Eine Konsequenz, die sich folgerichtig auch auf die Frage nach der Verfahrenseinleitung auswirkt. Diese vorrangig auf „soziale Ziele" abstellenden Ansichten bergen indessen die Gefahr in sich, das materielle Recht vom Verfahrensrecht her auszuhöhlen:22 Der bürgerliche Rechtsstaat gewährt dem einzelnen subjektive Privatrechte, über die er nach Belieben verfügen kann. Dem Zivilprozeß kommt insoweit eine dienende Funktion zu, welche die Durchsetzung dieser Rechte ermöglicht und gewährleistet 23. Der Prozeß ist daher vorrangig Mittel zur Feststellung und Verwirklichung des materiellen Rechts und hat sich in seiner Ausgestaltung an diesem zu orientieren 24 . Ein Verfahren, welches als Hauptzweck soziale Ziele verfolgt, paßt nicht mehr zu dieser Aufgabe: Der Richter müßte dann als „Sozialarzt" oder „Sozialingenieur" tätig werden, dessen Aufgabe es wäre, auf das Verhältnis der Parteien „zukunftsgestaltend" einzuwirken 25 . Maßstab wäre nicht mehr das private Recht, sondern - wie sich Jauernig 26 ausdrückt - eine „diffuse Billigkeit". I I . Die Ausnahmen: Klagen von Behörden und Verbänden Wird der Zivilprozeß als Folge der Dispositionsmaxime in der Regel von dem einzelnen Rechtsinhaber eingeleitet, so läßt er sich gleichwohl nicht mit der Geltung dieses Grundsatzes ganz erfassen. Wer dies versucht, fällt in die 19 Wolf; Gerichtliches Verfahrensrecht, 1. Kapitel, § 1 I I I (S. 16 ff); vgl. auch Hagen, ZZP 84 (1971) 385 ff (390). 20 So Pawlowski, ZZP 80 (1967) 345 ff (364, 370, 389 f). 21 So Zettel, S. 153, der sich u. a. für die Abschaffung des Verhandlungsgrundsatzes ausspricht (S. 188 ff). 22 Vgl. Jauernig, Studienbuch, § 1 I I I 2 (S. 3 f). 23 Vgl. Rimmelspacher, S. 24; Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, S. 6 f; Jauernig, Studienbuch, § 11 (S. 1 f), § 1 I I I (S. 3 f); vgl. auch Henke, Grundriß, Einl. I 1 a (S. 1 f). 24 Vgl. Rimmelspacher, S. 24; Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, S. 6 f. Dies heißt i. ü. nicht, daß der Zivilprozeß daneben - in zweiter Linie - nicht auch überindividuelle Belange bezweckt, wie die Bewährung der Rechtsordnung, die Ermittlung der materiellen Wahrheit u.s.w.; vgl. etwa Thiere, Dissertation, S. 11 ff m.w.N. 25 So ζ. B. Rasehorn, Justizreform, S. 45 ff; derselbe, JZ 1970, 574 ff (575 f); Wassermann, Justizreform, S. 15 ff (21 ff); jew. m.w.N.; vgl. auch Hagen, ZZP 84 (1971) 385 ff (390 ff). 26 Jauernig, Studienbuch, § 1 I I I 2 (S. 4).
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Einleitung
Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts zurück. Er leitet aus Prinzipien die Lösung von Einzelproblemen ab und erspart sich damit ein „weiteres Erforschen und Bewerten der besonderen Wirklichkeit" 2 7 . „Maximen" oder „Grundsätze" sind vielmehr - um mit einem Bild von Menger zu sprechen Material im Arsenal des Gesetzgebers, auf das er bei der Ausgestaltung der einzelnen Verfahrensordnungen zurückgreift; Tendenzen also, die in den jeweiligen Prozeßgesetzen vorherrschen 28. Dementsprechend gibt es, wie eingangs erwähnt, Fälle, in denen abweichend vom Verfügungsgrundsatz ein Zivilprozeß auch ohne und sogar gegen den Willen der beteiligten Privatpersonen in Gang gebracht werden kann. Dabei interessieren im Rahmen dieser Arbeit nicht die Fälle, in denen der Gesetzgeber einem nichtstaatlichen Verband ein Klagerecht zugebilligt hat. Immerhin können sie als „Mittelweg", der ohne direkte Einschaltung des Staates einen Einfluß auf den Zivilprozeß ermöglicht, nicht unerwähnt bleiben. So hat beispielsweise § 13 Abs. 1 U W G rechtsfähigen Verbänden zur „Förderung gewerblicher Interessen" und § 13 Abs. 1 a U W G rechtsfähigen Verbraucherverbänden ein Klagerecht verliehen: Diese Verbände dürfen einen eigenen Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch gegen Geschäftsleute mit „unreiner Gangart" erheben 29 . § 13 A G B G vertraut Verbraucherverbänden, Berufsverbänden, den Industrie- und Handelskammern sowie den Handwerkskammern eigene Unterlassungs- und Widerrufsansprüche an, die sich gegen die Verwendung und Empfehlung unzulässiger Geschäftsbedingungen richten30. Weitere Fälle einer Verbandsklage finden sich in § 12 RabG und § 35 Abs. 3 GWB. Zwar nimmt der Verband in den angeführten Fällen zunächst seine eigenen, satzungsmäßig festgelegten Interessen wahr 31 . Jedoch wird beispielsweise der durch eine Wettbewerbshandlung unmittelbar verletzte Mitbewerber durch die dem Verband zugesprochenen Ansprüche und deren Durchsetzung mittelbar geschützt. Sein Eigeninteresse deckt sich mit dem durch § 13 Abs. 1, Abs. 1 a U W G geschützten Allgemeininteresse 32. Doch zurück zu den Fällen, in denen eine staatliche Stelle einen Prozeß einleiten kann, ohne daß es auf den Willen des einzelnen Bürgers ankommt. Genannt werden im allgemeinen folgende Fälle, die vor der näheren Betrachtung kurz aufgezeigt werden sollen 33 : 27
v.Hippel Wahrheitspflicht, S. 189, 191; Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, S. 118. 28 Menger y Allgemeine Prozeßrechtsgrundsätze, S. 427 ff (433). 29 Vgl. dazu mit illustrativen Beispielen Henke, Grundriß, § 18 I I I 3 a, b (S. 367 ff). 30 Vgl. i.e. Henke, Grundriß, § 18 I I I 3 a, b (S. 367 f). 31 Vgl. Henckel, Parteilehre und Streitgegenstand, S. 84; zum Ganzen - m.w.N. zu abweichenden Meinungen - auch Rosenberg! Schwab, Zivilprozeßrecht, § 46 I I 4 (S. 254 f). 32 Vgl. Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, S. 120; Henke, Grundriß, § 18 I I I 3 (S. 365 ff).
Α. Die Einleitung des Zivilprozesses
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(1) Seit jeher bedient sich der Gesetzgeber auch im Bereich des Zivilprozesses dem „geborenen Wahrer der öffentlichen Interessen", nämlich der Staatsanwaltschaft. Diese kann nach § 632 ZPO, § 34 EheG die Ehenichtigkeitsklage erheben. Daneben kann sie nach § 646 Abs. 2 ZPO den Antrag auf Entmündigung wegen Geisteskrankheit und -schwäche stellen. Gleiches gilt nach § 675 ZPO für den Antrag auf Wiederaufhebung der Entmündigung. Zudem kann sie nach § 664 Abs. 2 i.V.m. § 646 Abs. 2 ZPO die Anfechtungsklage gegen den die Entmündigung aussprechenden und nach § 679 Abs. 2 ZPO gegen den die Wiederaufhebung ablehnenden Beschluß erheben. Über die gesetzlich geregelten Fälle hinaus ist streitig, ob die Staatsanwaltschaft auf Feststellung des Bestehens einer Ehe klagen kann. Dies läßt die Rechtsprechung und ein Teil der Literatur 34 dann zu, wenn es um die Frage geht, ob ein in der D D R ergangenes Ehescheidungsurteil anerkannt werden kann. Andere lehnen eine Klagebefugnis in diesen Fällen ab 35 . (2) Nach § 25 H A G 3 6 kann das Land, vertreten durch die Oberste Arbeitsbehörde des Landes oder die von ihre bestimmte Stelle, in gesetzlicher Prozeßstandschaft auf Nachzahlung der Differenz zwischen einem zwingend vorgeschriebenen 37 und dem tatsächlich bezahlten, niedrigeren Entgelt klagen. Eine dem § 25 H A G entsprechende Regelung findet sich in § 14 M A B G 3 8 für Ansprüche aus staatlich festgesetzten „Mindestarbeitsbedingungen". (3) § 23 des G ü K G 3 9 eröffnet den Weg, daß eine staatliche Stelle - die Bundesanstalt für den Güterfernverkehr - einen vom Tarif abweichenden Unterschiedsbetrag im eigenen Namen einklagen kann. Eine mit § 23 GüKG vergleichbare Regelung findet sich in § 31 Abs. 3 BSchVG 40 für den Bereich der Binnenschiffahrt. 33
Vgl. zu sonstigen Fällen, die nur am Rande berücksichtigt werden, im folgenden 1. Abschnitt, 4.Teil. 34 Vgl. Β G H Z 34, 134 ff (149); im Anschluß daran B G H FamRZ 1963, 431 ff (433); O L G Frankfurt NJW 1964, 730; Habscheid, Urteilsanmerkung zu B G H FamRZ 1963, 431 ff, ZZP 74 (1961) 360 ff; Zeiss , Zivilprozeßrecht, § 70 I V 5 b (S. 204); Thiere, Dissertation, S. 224. 35 Beitzke, JZ 1961, 649 ff; Drobnig, FamRZ 1961, 341 ff; Hofherr, Dissertation, S. 31; Wieczorek, ZPO, § 638 Anm. D. 36 Heimarbeitsgesetz vom 14.3.1951, BGBl. I S. 191; zuletzt geändert durch Heimarbeitsänderungsgesetz ( H A Ä G ) vom 29.10.74, BGBl. I S. 2879. 37 Durch entsprechende „Entgeltregelungen"; dazu noch im folgenden 2. Abschnitt, 2. Teil, A . I . l . 38 Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen vom 11.1.1952, BGBl. I S. 17. 39 Güterkraftverkehrsgesetz i.d.F. der Bekanntmachung vom 10.3.1983, BGBl. I S. 256.
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Einleitung
I I I . Der ideologische Einfluß auf die prozessuale Verfugungsfreiheit Die prozessuale Verfügungsbefugnis ist abhängig von der Ausgestaltung des materiellen Rechts, vor allem aber auch von ideologischen Einflüssen. Während man sich bei Erlaß der CPO von 1877 weitgehend einig war, daß der Zivilprozeß dem Schutz subjektiver Rechte diene, wurde diese Schau insbesondere durch die nationalsozialistische Prozeßauffassung zurückgedrängt 41. Verbunden damit waren Bestrebungen, der Staatsanwaltschaft weitgehende Einflußnahmemöglichkeiten auf den Zivilprozeß, u . a . auch auf dessen Einleitung zu verschaffen 42. Aufschlußreich zeigt sich für die beschriebene Abhängigkeit aus heutiger Sicht das Prozeßrecht der D D R . Ist das Recht der D D R parteilich 43 , so verwundert es nicht, daß die Zivilprozeßordnung der D D R 4 4 der Staatsanwaltschaft die Macht gibt, in bestimmten Fällen ein streitiges Verfahren unabhängig vom Bürger zu beginnen oder weiterzutreiben, selbst wenn der Kläger und/oder der Beklagte 45 für sich den Streit beilegen würden. § 7 dieser Prozeßordnung lautet: „§ 7 Mitwirkung des Staatsanwaltes Der Staatsanwalt kann in Erfüllung seiner Aufgaben zur Wahrung der sozialistischen Gesetzlichkeit, zur Sicherung der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung, zum Schutze des sozialistischen Eigentums und der Rechte der Bürger in jedem Verfahren mitwirken, Rechtsmittel einlegen und in den in Rechtsvorschriften vorgesehenen Fällen Klage einreichen." 46
Durch diese Vorschrift ist die Grundlage für einen weitreichenden Einfluß des Staates auf den Zivilprozeß geschaffen. Im Rahmen der über der Arbeit stehenden Frage bietet sich deshalb der vergleichende Blick auf die Befugnisse und die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft der D D R an. Wirkt sich die staatliche Einflußnahme zum Nutzen des einzelnen und/oder der Allgemeinheit aus?
40 Gesetz über den gewerblichen Binnenschiffsverkehr vom 1.10.53, BGBl. I S . 1453, i.d.F. der Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes vom 8.1.1969, BGBl. I S . 65. 41 Vgl. den Vorspruch zur Novelle vom 27.10.1933, RGBl. I S. 780, neu bekanntgemacht S. 812; dazu Stein!Jonas!Schumann, ZPO, Einl. I C Rdn. 133. 42 Vgl. etwa die Äußerungen von Freisler, D G W R 1941, 217 ff; zu der Entwicklung im NS-Staat im übrigen noch im folgenden 1. Abschnitt, 1. Teil, A . I I . 43 In dem Sinne, daß es zur Durchsetzung ideologischer Ziele als Instrument der Politik eingesetzt wird; vgl. im folgenden 2. Abschnitt, A . I . 44 Gesetz über das gerichtliche Verfahren in Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen vom 19.6.1975, GBl. I S. 535 (ZPO DDR). 45 In der D D R „Verklagter" genannt. 46 Inhaltsgleich § 21 des Gesetzes über die Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik vom 7.4.1977, GBl. I S. 93 (StAG DDR).
Β. Zielsetzung und Gang der Untersuchung
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Oder findet sich die These von Jauernig bestätigt: „Wer das subjektive Recht beseitigen will, ruft nach dem Staatsanwalt im Zivilprozeß" 47 .
B. Zielsetzung und Gang der Untersuchung Zielsetzung der Arbeit ist zunächst, eine zusammenfassende Bestandsaufnahme der Fälle zu erstellen, in denen ein Zivilprozeß von einer staatlichen Stelle eingeleitet und durchgeführt werden kann. Dabei erstreckt sich die Arbeit aus den vorgenannten Gründen nicht allein auf das bundesdeutsche Recht. Berücksichtigung finden auch die weitreichenden Befugnisse der Staatsanwaltschaft der D D R . Dabei soll i. ü. weniger auf die in den einzelnen Bereichen auftretenden „Streitfragen" eingegangen werden. Der Grund der Darstellung ist vielmehr, eine Antwort auf die über der Arbeit stehende Frage zu finden: Mit welchem Nutzen für das private und das allgemeine Wohl liegt die Verfolgung bürgerlicher Rechte in der Hand einer Behörde? Zu diesem Zweck werden in einem ersten Abschnitt die Fälle dargestellt, in denen nach bundesdeutschem Recht seitens einer Behörde ein Verfahren eingeleitet werden kann. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den Fragen der Notwendigkeit und der Wirksamkeit staatlicher Einflußnahme. Aufschluß vermag die Betrachtung geben, welche Belange in den einzelnen Fällen berührt und durchgesetzt werden. Die Formel, daß hier neben dem privaten Recht zumindest im gleichen Maße „öffentliche Interessen" berührt seien 48 , vermag keine Erklärung zu liefern. Die einzelnen Fälle sind vielmehr nur verständlich mit Blick auf den jeweiligen Bereich sowie die geschichtliche Entwicklung, die zu einem staatlichen Einfluß führte. Letztere gibt zudem Auskunft darüber, mit welchen anderen Mitteln und mit welchem Erfolg den auftretenden Schwierigkeiten in den einzelnen Bereichen entgegengetreten werden kann. Anhaltspunkte für den Nutzen staatlicher Einflußnahme auf den Zivilprozeß finden sich schließlich in den praktischen Erfahrungen der jeweils zuständigen Behörde. Ein Schwerpunkt liegt hier auf der Frage, unter welchen Gesichtspunkten der Staat sich zur Einleitung eines Verfahrens entschließt. In einem zweiten Abschnitt werden die Befugnisse der Staatsanwaltschaft der D D R dargestellt. Auch hier liegt der Schwerpunkt auf der Herausarbeitung der verfolgten Interessen und der Untersuchung der praktischen Bedeutung. Da es für einen Außenstehenden schwer ist, sich in den Geist einer grundverschiedenen Rechtsordnung hineinzuversetzen, sind dem Abschnitt einige grundsätzliche Bemerkungen zur marxistisch-leninistischen Rechtsauffassung und zu den Besonderheiten des sozialistischen Zivilprozesses vorange47
Jauernig, JuS 1971, 329 ff (332). Vgl. beispielsweise Zeiss, Zivilprozeßrecht, § 26 I (S. 63); Blomeyer, Zivilprozeßrecht, § 13 11 (S. 90). 48
26
Einleitung
stellt. Insbesondere ist auf den Zweck des sozialistischen Zivilprozesses einzugehen, der sich auch in der D D R an der Durchsetzung des materiellen Rechts orientiert 49 . Allerdings ist - wie bereits angesprochen - eine Verfahrensordnung, die vornehmlich die Anerkennung und Geltung des objektiven Rechts im Interesse der Allgemeinheit gewährleisten will, von sich aus darauf ausgerichtet, dem einzelnen geringe Befugnisse zur Beeinflußung des Verfahrens einzuräumen. Somit ist auch klarzustellen, inwieweit das sozialistische Recht den Interessen des einzelnen oder der Allgemeinheit dient. Im dritten Abschnitt ist der Nutzen der staatlichen Einflußnahme auf die Einleitung und Durchführung des Zivilprozesses herauszuarbeiten. Zudem ist auf die damit verbundenen Gefahren einzugehen. Nur eine Abwägung des Nutzens und der Gefahren läßt eine Antwort auf die rechtspolitische Frage zu, ob und in welchem Maße der Staat am Zivilrechtsschutz Interesse nehmen soll. Zudem soll eine Antwort darauf gefunden werden, ob sich gegebenenfalls eine allgemeine Linie aufzeigen läßt, in welchen Fällen der Staat eingreift und eingreifen darf. Verbunden damit ist außerdem die Frage, welche prozeßtechnische Methode der Gesetzgeber zu wählen hat und welcher Behörde entsprechende Befugnisse zu verleihen sind.
49 Wünsche, NJ 1970,161 ff (161); Grundriß Zivilprozeßrecht, S. 15; Lehrbuch Zivilprozeßrecht, S. 18.
1. Abschnitt
Staatliche Einflußnahme auf die Einleitung von Zivilprozessen im bundesdeutschen Recht 1. Teil
Klage- und Antragsrechte der Staatsanwaltschaft A . Grundlagen Bevor im einzelnen auf die Fälle eingegangen wird, in denen die Staatsanwaltschaft einen Zivilprozeß einleiten kann, sollen die Möglichkeiten aufgezeigt werden, die für eine Mitwirkung der Staatsanwaltschaft überhaupt bestehen. Dies ist von Bedeutung, da neben dem Weg, unabhängig von den betroffenen Bürgern einen Prozeß einzuleiten, auch andere Formen staatlicher Einflußnahme in Betracht kommen. Zudem soll aufgezeigt werden, in welcher Weise das deutsche Recht seit der Civilprozeßordnung vom 30.1.1877 von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht hat. Gerade die geschichtliche Entwicklung läßt Rückschlüsse darauf zu, inwieweit die Ausgestaltung des materiellen Rechts die prozessuale Verfügungsbefugnis beeinflußt. I. Möglichkeiten staatsanwaltschaftlicher Mitwirkung im Zivilprozeß Die Staatsanwaltschaft wird nach bundesdeutschem Recht lediglich im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit tätig. 1 Die Einrichtung der Staatsanwaltschaft hat das deutsche Recht aus Frankreich übernommen 2 . 1 Innerhalb der Verwaltungsgerichtbarkeit dient - allerdings ohne große praktische Relevanz - der Wahrnehmung der öffentlichen Interessen die Einrichtung des sogenannten „Vertreters des öffentlichen Interesses"; vgl. dazu §§ 125-137 VwGO; im übrigen etwa Kern/Wolf, Gerichtsverfassungsgesetz, § 33 (S. 195 ff); Hofherr, Dissertation, S. 41,80 ff. 2 Vgl. Plathner, S. 109 ff (110); Rosenberg! Schwab, Zivilprozeßordnung, 11. Aufl., § 28 I I (S. 129); ausführlich etwa Hofherr, Dissertation, S. 37 ff; Kerbel, Dissertation, S. 30 ff.
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1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA
Die für die Aufgaben und den Aufbau der französischen Staatsanwaltschaft maßgebenden Vorschriften reichen bis in die Zeit der französischen Revolution und die napoleonische Kaiserzeit zurück 3 . Die Befugnisse der Staatsanwaltschaft haben sich dabei trotz verschiedener Gesetzesänderungen und -neuerungen bis in die heutige Zeit in den wesentlichen Punkten nicht geändert 4. Vom gegenwärtigen Stand aus ergibt sich folgendes Bild: Auch in Frankreich liegt das hauptsächliche Betätigungsfeld der Staatsanwaltschaft im Bereich der Strafrechtspflege 5. Daneben kommt ihr eine starke Stellung im hier interessierenden Bereich des Zivilprozesses zu. Diesbezüglich sind ihre Befugnisse in Artt. 421 ff des neuen „Code de Procédure Civile" 6 (CPC) geregelt. Art. 421 S. 1 CPC unterscheidet zwischen der Beteiligung der Staatsanwaltschaft als „partie principale" und derjenigen als „partie jointe". „Partie principale" bezeichnet die Stellung der Staatsanwaltschaft als Hauptpartei des Prozesses, also jene Fälle, in denen sie selbst als Klägerin oder Beklagte auftreten kann 7 . Nach Art. 422 CPC kann die Staatsanwaltschaft von Amts wegen dort Klage erheben, wo ihr diese Befugnis gesetzlich ausdrücklich zugewiesen ist 8 . So kann sie etwa die Ehenichtigkeitsklage erheben (Art. 184 Code Civile) 9 , klageweise die Aufhebung der elterlichen Gewalt beantragen (Art. 378-1 Abs. 3 Code Civile) und die Entmündigung betreiben (Art. 491 Code Civile). 1 0 Weiterhin kann die französische Staatsanwaltschaft auch dort selbständig Klage erheben, wo ihr eine solche Befugnis nicht ausdrücklich zugewiesen ist. Nach Art. 423 CPC 11 ist dies dann möglich, wenn der „ordre public" - also das öffentliche Interesse - betroffen ist. 12 Als „partie jointe" wirkt die Staatsanwaltschaft als Nebenpartei an einem zwischen privaten Parteien anhängigen Rechtsstreit mit 1 3 . Die dahingehenden Befugnisse regeln Artt. 425 ff CPC. Nach Art. 425 CPC hat das Gericht in den dort aufgeführten Rechtssachen - etwa Vormundschafts-, Pflegschafts- und Adoptionssachen, Abstammungsund Ehenichtigkeitsklagen sowie Regelungen der elterlichen Gewalt - die Staatsanwaltschaft von entsprechenden Verfahren in Kenntnis zu setzen, und diese muß sich hierzu äußern (sog. „Communication légale") 14 . Nach Art. 426 CPC kann die Staatsanwalt-
3 4 5 6 7 8
loi."
Vgl. Thiere, Dissertation, S. 236; Hofherr, Dissertation, 39 ff, 80 ff. Vgl. Thiere, Dissertation, S. 236 m.w.N. Thiere, Dissertation, S. 236 m.w.N. Fn. 145. Vom 5.12.1975. Im einzelnen etwa Hoßerr, Dissertation, S. 87 ff m.w.N. Vgl. Art. 422 CPC: „Le ministère public agit d'office dans les cas spécifiés par la
9 Von 1804; zur Bedeutung und Entwicklung des Code Civile vgl. Constantinesco/ Hübner, § 20 I (S. 111 ff). 10 Vgl. im übrigen Thiere, Dissertation, S. 236 f m.w.N. 11 Art. 423 CPC bestimmt unter der Unterschrift „Le ministère public est partie jointe" folgendes: „ E n dehors de ce cas, il peut agir pour la défense de l'ordre public à l'occasion des faits qui portent atteinte à celui-ci". 12 Vgl. zum vor Erlaß des neuen CPC bestehenden Streit, ob die Staatsanwaltschaft über die geregelten Fälle hinaus Klage erheben kann, Hofherr, Dissertation, S. 88 f, m.w.N. 13 Im einzelnen etwa Hoßerr, Dissertation, S. 90 ff; Thiere, Dissertation, S. 214, 238; jeweils m.w.N. 14 Vgl. Hoßerr, Dissertation, S. 90 f.
Α. Grundlagen
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schaft immer dann, wenn sie es für nötig erachtet, aufgrund eigenen Entschlusses an einer Verhandlung mitwirken (sog. „Communication facultative") 15 . Schließlich kann gemäß Art. 427 CPC das Gericht die Staatsanwaltschaft zur Stellungnahme hinsichtlich eines zwischen privaten Parteien anhängigen Rechtsstreites auffordern (sog. „Communication judicaire") 16 . Bemerkenswert ist, daß die französische Staatsanwaltschaft von ihren umfassenden Mitwirkungsbefugnissen im Bereich des Zivilprozesses nur selten Gebrauch macht 17 .
Während die Staatsanwaltschaft im französischen Recht also gleichermaßen zivil- und strafrechtliche Aufgaben zu erfüllen hat, wurden in das deutsche Recht im wesentlichen nur die strafrechtlichen und strafprozessualen Funktionen übernommen. Die Einführung der Staatsanwaltschaft vollzog sich dabei im Laufe des 19. Jahrhunderts in den deutschen Partikularstaaten sehr unterschiedlich 18 . Dies gilt insbesondere für die hier interessierenden Rechte im Zivilprozeß. Erster deutscher Staat, der die Staatsanwaltschaft - allerdings auf den strafrechtlichen Bereich beschränkt - einführte, war Württemberg (1843) 19 . Baden (1845), Preußen (1846), Bayern (1848) und Hannover (1848) folgten 20 . Während es zum Teil bei der Staatsanwaltschaft als Organ der Strafrechtspflege blieb, wurde ihr beispielsweise in Preußen die Stellung einer Hauptpartei für das Ehenichtigkeits- und Entmündigungsverfahren zuerkannt 21 . Seit der Civilprozeßordnung von 1877 wurde die Staatsanwaltschaft in unterschiedlichem Umfang im Bereich der Zivilgerichtsbarkeit tätig 22 . Die verschiedenen Beteiligungsformen, die im folgenden im einzelnen aufgezeigt werden, hat das deutsche Recht dabei ebenfalls vom französischen Vorbild übernommen 23 . Zum einen kann die Staatsanwaltschaft als Klägerin oder Antragstellerin auftreten. Sie leitet in diesen Fällen aufgrund einer eigenen Befugnis ein Verfahren ein und ist eine der beiden Parteien des Prozesses. Weiterhin besteht die Möglichkeit, daß die Staatsanwaltschaft Beklagte eines Verfahrens ist bzw. Antragsgegnerin. Im französischen Recht wird in beiden Fällen von der Staatsanwaltschaft als „partie principale" gesprochen 24.
15
Vgl. Hofherr, Dissertation, S. 91. Vgl. Hofherr, Dissertation, S. 91. 17 Hofherr, Dissertation, S. 94 f; Thiere, Dissertation, S. 239 f. 18 Vgl. etwa Hofherr, Dissertation, S. 42 ff, m.w.N. 19 Vgl. hierzu und zum folgenden Elling, S. 64 ff; Hofherr, Dissertation, S. 42 ff; Thiere, Dissertation, S. 216. 20 Hofherr, Dissertation, S. 42 ff, m.w.N. 21 Vgl. Hahn, Materialien zum G V G , S. 141 ff; Hofherr, Dissertation, S. 46. 22 Vgl. dazu im folgenden 1. Abschnitt, 1. Teil, A . I I . 23 Vgl. Kerbel, Dissertation, S. 47; Rosenberg! Schwab, Zivilprozeßordnung, 11. Aufl., §28 I I (S. 129). 24 Vgl. vorstehend. 16
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1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA
Eine Beteiligung der Staatsanwaltschaft ist zum anderen in der Weise vorgesehen, daß sie als „Dritte" an einem unter privaten Parteien bereits anhängigen Verfahren mitwirkt. Sie tritt in diesen Fällen in ein bereits eingeleitetes Verfahren ein und nimmt lediglich im Rahmen der ihr zugebilligten Befugnisse am Prozeß teil. Dies entspricht der Stellung der französischen Staatsanwaltschaft als „partie jointe" 2 5 . I I . Entwicklung im deutschen Recht seit der Civilprozeßordnung vom 30.1.1877 Das deutsche Recht hat im Bereich der streitigen Gerichtsbarkeit von allen aufgezeigten Möglichkeiten der Beteiligung der Staatsanwaltschaft Gebrauch gemacht. Ursprünglich sah die Civilprozeßordnung vom 30.1.187726 Klage- und Antragsrechte lediglich in Ehenichtigkeits- 27 und Entmündigungssachen28 vor. Darüber hinaus waren der Staatsanwaltschaft in Entmündigungssachen Befugnisse im Rahmen einer oben beschriebenen „partie jointe" zugewiesen, soweit der Entmündigungsantrag nicht schon von ihr gestellt worden war 29 . Dahingehende Mitwirkungsbefugnisse standen der Staatsanwaltschaft auch in allen Ehesachen zu 30 . Weitere Befugnisse führte die Änderungsnovelle vom 14.6.189831 für die Bereiche der Kindschafts- Und Todeserklärungsverfahren ein. Jedoch hatte sie nicht die Macht, solche Verfahren einzuleiten 32 . Erst der 1. Weltkrieg brachte als Folge der Verordnung über die Todeserklärung Kriegsverschollener vom 18.4.191633 ein selbständiges Antragsrecht der Staatsanwaltschaft in Todeserklärungsverfahren. Das Todeserklärungsverfahren war dabei bis 1939 der 25 Vgl. vorstehend; dabei ist der Ausdruck „partie jointe" nicht ganz exakt, weil die Staatsanwaltschaft bei dieser Form der Beteiligung nicht Partei wird. 2 * RGBl. I S. 83. 27 Vgl. § 586 Abs. 1 CPO vom 30.1.1877. 28 Vgl. §§ 595 Abs. 2 (Entmündigungsantrag), 616 (Aufhebungsantrag), 605 Abs. 1 (Anfechtungsklage), 620 Abs. 2 (Aufhebungsklage) der Civilprozeßordnung vom 30.1.1877. 29 § 597 Abs. 3 der CPO vom 30.1.1877; die Staatsanwaltschaft konnte vor allem durch Stellung von Anträgen das Verfahren betreiben. 30 Die Staatsanwaltschaft konnte nach ihrem Ermessen allen Terminen beiwohnen, sich über die zu erlassenden Entscheidungen gutachtlich äußern und - sofern es sich um die Aufrechterhaltung der Ehe handelte - neue Tatsachen und Beweismittel vorbringen; vgl. § 569 der CPO vom 30.1.1877 sowie zu den Motiven Hahn, S. 399 f. 3 1 RGBl. I S. 410. 32 In Kindschaftssachen wurden der Staatsanwaltschaft durch die Verweisung der §§ 640, 641 auf § 607 die gleichen Befugnisse wie in Ehesachen - mit Ausnahme der Ehenichtigkeitssachen - zugewiesen; § 974 CPO a. F. 33 Vgl. zu den Nachweisen Leiss, S. 13 f.
Α. Grundlagen
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streitigen Gerichtsbarkeit zugewiesen und wurde erst mit dem Verschollenheitsgesetz vom 4.7.1939 in den Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit überführt 34 . In der Zeit des Nationalsozialismus erreichten die Mitwirkungsbefugnisse der Staatsanwaltschaft ein großes Ausmaß. Von den hier nicht abschließend aufzählbaren Fällen 35 seien nur die wichtigsten erwähnt: Aufgrund der Bedeutung, die der Nationalsozialismus den Ehesachen entgegenbrachte 36, wurden bereits vor dem Ehegesetz des Jahres 1938 die Ehenichtigkeitsgründe und damit auch die Befugnis, die Ehenichtigkeitsklage zu erheben, erweitert. Das „Gesetz gegen Mißbräuche bei der Eheschließung" vom 23.11.193337 führte die Nichtigkeit von sog. „Namensehen" ein. Danach war eine Ehe nichtig, wenn sie ausschließlich oder vorwiegend zu dem Zwecke geschlossen wurde, der Frau die Führung des Familiennamens zu ermöglichen, ohne daß die eheliche Lebensgemeinschaft begründet werden sollte 38 . Das sog. „Blutschutzgesetz" vom 15.9.193539 erklärte Ehen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes für nichtig (§ 1 Abs. 1 des Gesetzes). Nach § 1 Abs. 2 des Gesetzes konnte allein die Staatsanwaltschaft die Ehenichtigkeitsklage erheben. Das „Ehegesundheitsgesetz" vom 18.10.193540 führte schließlich die Nichtigkeit von Ehen ein, die „erbkranken Nachwuchs" hervorbringen konnten. Auch hier durfte allein die Staatsanwaltschaft die Ehenichtigkeitsklage erheben (§ 3 Abs. 1 S. 2 des Gesetzes). Die Erweiterung der Nichtigkeitsgründe beruhte im wesentlichen auf der damaligen Rassenpolitik. Durch das Gesetz vom 12.4.193841 erhielt die Staatsanwaltschaft das Recht, die Ehelichkeit von Kindern anzufechten, wenn sie dies im öffentlichen Interesse oder im Interesse des Kindes für notwendig erachtete; § 1595 a BGB a. F. In diesem Bereich verdeutlicht sich die wechselvolle Geschichte eines staatsanwaltschaftlichen Klagerechts und seiner Gefahren. Bis zur Einführung des § 1595 a BGB 34 RGBl. I S . 1186; im Rahmen der freiwilligen Gerichtsbarkeit kann die Staatsanwaltschaft gemäß §§ 16 Abs. 2 a, 30 Abs. 1,40 VerschG das Todeserklärungs- und Aufhebungsverfahren sowie das Verfahren auf Feststellung des Todeszeitpunktes einleiten. Dazu und zu den übrigen Mitwirkungsbefugnissen nach § 17 VerschG vgl. Hofherr, Dissertation, S. 31 f. 35 Im einzelnen Leiss, S. 13 ff. 36 Dazu aus nationalsozialistischer Sicht Volkmar, Z A k D R 1941,238 ff (238) m.w.N. 37 RGBl. I S. 979. 38 Vgl. § 1325 a BGB a. F. 39 Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre; RGBl. I S. 1146. 40 Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes; RGBl. I S. 1246. 41 Gesetz über die Änderung und Ergänzung familienrechtlicher Vorschriften und über die Rechtsstellung Staatenloser; RGBl. I S. 380.
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1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA
a. F. stand das Anfechtungsrecht nur dem Ehemann der Kindesmutter und bei dessen Tod auch Dritten wegen ihrer erbrechtlichen Interessen zu. Das Anfechtungsrecht wurde als „subjektives Recht" verstanden 42 . Der nationalsozialistische Gesetzgeber führte es hingegen hauptsächlich zur Klarstellung der rassischen Abstammung ein 43 . Der Prozeß diente mithin in diesem Fall der Bewährung eines Teils der objektiven Rechtsordnung - dem Rechtsinstitut der „blutmäßigen Abstammung" 44 . Nach 1945 blieb die Anfechtung im Interesse des Kindes praktisch bedeutsam. Das Bestreben, der privaten Sphäre der Familie und deren Schutz wieder mehr als bisher Rechnung zu tragen 45 , führte mit dem FamRÄndG vom 11.8.196146 dazu, die Anfechtung wieder allein in die Hand des Vaters, des Kindes und der Großeltern zu legen. Der Hintergrund dieser Regelung war, daß Anfechtungen gegen den Willen der Mutter, gelegentlich sogar aus rein fiskalischen Interessen - wie beispielsweise zur Einsparung von Fürsorgeleistungen bei Inanspruchnahme des wirklichen Erzeugers - das Klagerecht der Staatsanwaltschaft in Mißkredit gebracht hatten 47 . Das Ehegesetz v o m 6.7.1938 4 8 behielt i n §§ 20, 23 die vorstehend aufgezeigte 4 9 Erweiterung der Ehenichtigkeitsgründe bei. § 23 E h e G a. F. erklärte darüberhinaus die sog. „Staatsangehörigkeitsehe" für nichtig, die nur zu dem Zweck geschlossen wurde, der Frau den E r w e r b der deutschen Staatsangehörigkeit des Mannes zu ermöglichen. Eine weitreichende Veränderung erfuhr die M i t w i r k u n g der Staatsanwaltschaft
i m Zivilprozeß
durch das sogenannte
„Staatsanwaltschaftsgesetz"
( S t A G ) v o m 15.7.1941 5 0 . A l s wesentliche Befugnisse erhielt die Staatsanwaltschaft zum einen durch § 1 S t A G das Recht zur generellen M i t w i r k u n g i n allen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten. I n §§ 2 ff S t A G war zudem die Befugnis zur außerordentlichen Wiederaufnahme i n bestimmten Fällen geregelt. § 1 A b s . 1 S t A G lautete: „(1) In bürgerlichen Rechtssachen der ordentlichen Gerichte ist der Staatsanwalt zur Mitwirkung befugt, um die vom Standpunkt der Volksgemeinschaft im Verfahren und bei der Entscheidung zu berücksichtigenden Umstände geltend zu machen. 42 Vgl. Mugdan, Materialien Bd. I V , S. 350 ff, 353, 357, 939 ff, 1250; Lehmann,, Familienrecht, S. 192 ff; vgl. auch Jauernig, JuS 1971, 329 ff (332). 43 Vgl. die amtliche Begründung des Gesetzes vom 12.4.1938 in DJ 1938, 619 ff (620): „zu Art. 2 § 5: . . . ein öffentliches Interesse an der Klarstellung der Abstammung (wird) stets bestehen, wenn diese Klarstellung aus erb- und rassepflegerischen Gründen notwendig wird"; vgl. auch Β G H Z 2, 130 ff (132); Beitzke, Familienrecht, § 22 I I 1 (S. 200). 44 Vgl. Mugdan, Materialien Bd. I V , S. 350 ff, 939 ff, 1250; amtliche Begründung des Gesetzes vom 12.4.1938 in DJ 1938, 619 ff (620); i. ü. Jauernig, JuS 1971, 329 ff (332). 45 Staudingerl Lauterbach, BGB, Vorb. § 1591 Rdn. 5. 46 BGBl. I S . 1221. 47 Beitzke, Familienrecht, § 22 I I 1 (S. 200). 4 » RGBl. I S. 807. 49 Vgl. vorstehend. so RGBl. I S. 383.
Α. Grundlagen
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Hierzu kann der Staatsanwalt an allen Verhandlungen teilnehmen, Tatsachen und Beweismittel vorbringen und sich über die zu erlassenden Entscheidungen gutachterlich äußern." 51 E i n den Streitgegenstand betreffendes
(Sach-) Antragsrecht wurde der
Staatsanwaltschaft durch diese Regelung zwar nicht gegeben, jedoch bestand eine weitreichende Mitwirkungsbefugnis. Z u d e m blieben andere Ermächtigungsnormen nach § 1 A b s . 2 St A G unberührt. D i e das außerordentliche Wiederaufnahmerecht betreffende Vorschrift des § 2 St A G hatte folgenden W o r t l a u t : „ I n rechtskräftig entschiedenen bürgerlichen Rechtssachen der ordentlichen Gerichte kann der Oberreichsanwalt beim Reichsgericht binnen eines Jahres nach Eintritt der Rechtskraft die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen, wenn gegen die Richtigkeit der Entscheidung schwerwiegende rechtliche oder tatsächliche Bedenken bestehen und er wegen der besonderen Bedeutung der Entscheidung für die Volksgemeinschaft die erneute Verhandlung und Entscheidung für erforderlich hält." Schon der W o r t l a u t beider Vorschriften verdeutlicht, daß die Erweiterung der Mitwirkungsbefugnisse der Staatsanwaltschaft i m Zivilprozeß auf dem damaligen V o r r a n g des „ G e m e i n w o h l s " i n allen Bereichen b e r u h t e 5 2 . Demgemäß läßt sich i n der zeitgenössischen Literatur der Standpunkt erkennen, daß nicht mehr das I n d i v i d u u m , sondern die „Volksgemeinschaft" - m . a . W . also die Allgemeinheit - i m M i t t e l p u n k t auch des Zivilprozesses stehe 5 3 . H i e r i n findet die verstärkte Beteiligung der Staatsanwaltschaft i m Zivilprozeß ihre formale Begründung 5 4 . Daneben ist jedoch nicht zu verkennen, daß die E i n führung der Befugnisse durch das St A G u n d die Bestrebungen zu weiteren Antrags- und Klagerechten 5 5 auf ein M i ß t r a u e n des nationalsozialistischen Gesetzgebers gegenüber den Gerichten zurückzuführen i s t 5 6 . D u r c h die ver51
Vgl. aus zeitgenössischer Sicht: Jonas, DJ 1941, 871 f; Staud, DJ 1941, 785 f. Vgl. etwa Barth, D R 1941, 1681 ff (1682); Freister, D G W R 1941, 217 ff (223), sowie Volkmar, Z A k D R 1941, 238 ff (238), der wörtlich ausführt: „. . . nur für die liberalistische Auffassung konnte es grundsätzlich den Beteiligten überlassen bleiben, wie sie sich über die zwischen ihnen bestehenden Rechtsverhältnisse auseinandersetzen wollen. Nach nationalsozialistischer Auffassung, die nicht vom Individuum, sondern von der Volksgemeinschaft ausgeht und für die jedes sogenannte subjektive Recht des einzelnen in der Rücksicht auf die Volksgemeinschaft seine notwendige Begrenzung findet, kann unter Umständen in jeder Privatrechtsstreitigkeit der Fall eintreten, daß ihre Erledigung über die Interessen der beteiligten Parteien hinaus das Interesse der Volksgemeinschaft und damit das öffentliche Interesse aufs engste berührt. . .". 53 Vgl. Barth, D R 1941,1681 ff (1682); Staud, DJ 1941, 785 ff (785); Jonas, DJ 1941, 871 ff (871); Volkmar, Z A k D R 1941, 238 ff (238); im einzelnen auch Leiss, S. 15 ff. 54 Staud, DJ 1941, 748 ff; Jonas, DJ 1941, 871 ff; zu dieser sog. „reformistischen Richtung" vgl. Hofherr, Dissertation, S. 56 ff. 55 Für umfassende, über jene im St A G hinausgehende Befugnisse sprach sich ζ. B. Freister, D G W R 1941, 217 ff, aus. 5 * Vgl. Bülow, AcP 150 (1949) 289 ff (297); Hofherr, Dissertation, S. 55 ff. Freister, D G W R 1941, 217 ff (222) führt aus: „. . . Vor allem aber können Gesichtspunkte der 52
3 Brenner
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1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA
stärkte Mitwirkung der Staatsanwaltschaft sollte eine Verbindung zwischen den Gerichten und der Staatsführung hergestellt werden, um auf diese Weise die Rechtsprechung im Sinne der politischen Führung zu beeinflussen 57. Letztlich läßt sich die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft im Zivilprozeß im NS-Staat also auf eine ideologische Zielsetzung zurückführen. Hinsichtlich der praktischen Bedeutung der durch das StAG erweiterten Befugnisse bleibt ergänzend zu bemerken, daß die Staatsanwaltschaft nur im beschränkten Umfang davon Gebrauch machte: Sie widmete sich im wesentlichen den überkommenen Bereichen der Ehe-, Kindschafts-, Entmündigungs- und Todeserklärungsverfahren 58 .
Nach teilweise wechselhafter Geschichte wurden die seit Erlaß der CPO erweiterten Mitwirkungsbefugnisse der Staatsanwaltschaft im Zivilprozeß wieder zurückgenommen. Wie bereits erwähnt, wurde das Todeserklärungsverfahren in den Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit überführt und das Anfechtungsrecht in Kindschaftssachen abgeschafft. Zudem wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Novelle des Jahres 195059 insbesondere das Staatsanwaltschaftsgesetz außer Kraft gesetzt. Die Mitwirkungsbefugnisse waren im wesentlichen wieder auf den vor 1933 bestehenden Zustand zurückgeführt 60 . Eine solche Befugnis bestand danach nur noch in Ehe- und Entmündigungssachen. In Ehesachen wurden die Möglichkeiten durch das 1. EheRG 6 1 weiter beschränkt. Das Gesetz schaffte die nach § 607 Abs. 3 ZPO a. F. vorgesehene Befugnis ab, am Verfahren im Sinne der oben beschriebenen „partie jointe" mitzuwirken. Die Staatsanwaltschaft konnte nach dieser Vorschrift insbesondere eheerhaltende Tatsachen und Beweismittel in den Prozeß einführen. Der Grund der Änderung bestand darin, daß die Mitwirkung in diesem Bereich seit Jahrzehnten aus der Übung gekommen war 62 .
politischen Führung und Belange der von ihr gewünschten Entwicklung im Rahmen des Rechts sehr wohl auf dem Spiel stehen und den Staatsanwalt zur Beteiligung veranlassen . . . " und „. . . Der Führer muß also in sich alle Macht vereinigen; also auch die Rechtspflege . . . " 57 Barth, D R 1941,1681 ff; Freister, D G W R 1941,217 ff; zu dieser sog. „revolutionären Richtung" vgl. Hofherr, Dissertation, S. 58 ff. Dieser Beweggrund verdeutlicht sich i. ü. hinsichtlich des Umstandes, daß das Gesetz gegen den Willen sämtlicher Oberlandesgerichtspräsidenten erlassen wurde und vorher in der Literatur Ablehnung erfuhr; vgl. Damrau, S. 440 ff; Bülow, AcP 150 (1949) 289 ff (310); jeweils m.w.N. Das Gesetz entsprach somit nicht einem praktischen Bedürfnis. 58 Während für die Mitwirkung nach § 1 StAG keine Zahlenangaben vorliegen, wurde die Wiederaufnahme nach §§ 2 ff StAG nach einer unveröffentlichten Statistik lediglich in etwa 5% der zur Entscheidung anstehenden Fälle beantragt; vgl. Bülow, AcP 150 (1949) 289 ff (310); i. ü. auch Leiss, S. 14 ff. 59 Gesetz vom 12.9.1950, BGBl. I S. 455. 60 Ein detaillierter Nachweis der einzelnen aufgehobenen Befugnisse und Gesetze ist im Rahmen dieser Darstellung nicht möglich; vgl. dazu etwa Bülow, AcP 150 (1949) 289 ff (295). 61 Vom 14.6.1976, BGBl. I S. 1421.
Β. Die gesetzlichen Regelungen
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Nach heutigem Recht kann die Staatsanwaltschaft in Ehesachen nur noch die Ehenichtigkeitsklage erheben und an diesen Verfahren mitwirken. Darüber hinaus hat sie in Verfahren auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens einer Ehe die Stellung einer „partie jointe". Nach Einleitung des Verfahrens durch eine private Partei kann sie sich hier am Verfahren beteiligen und insbesondere selbständig Sachanträge stellen und Rechtsmittel einlegen; §§ 638 S. 1, 634 ZPO 6 3 . Eine weitgehende Einleitungs- und Anfechtungsbefugnis kommt der Staatsanwaltschaft schließlich in Entmündigungssachen zu 64 . Neben diesen gesetzlich geregelten Fällen herrscht Streit, ob der Staatsanwaltschaft in Ehefeststellungssachen eine Klagebefugnis zukommt, soweit es um eine in der D D R geschiedene Ehe geht 65 . B. Die gesetzlichen Regelungen Im folgenden sollen die gesetzlichen Befugnisse der Staatsanwaltschaft aufgezeigt werden, in Ehenichtigkeits- und Entmündigungssachen einen Zivilprozeß einzuleiten. Weiterhin ist der Frage nachzugehen, ob die Behörde auch auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens einer in der D D R geschiedenen Ehe klagen kann. I . Ehenichtigkeitssachen 1. Grundzüge des Verfahrens
Das Ehegesetz enthält eine Reihe von Form Vorschriften für die Eheschließung. Ihre Nichtbeachtung hat teilweise auf die Gültigkeit der Ehe keinen Einfluß, wie etwa ein fehlendes Aufgebot nach § 12 EheG. Weiterhin kann die Nichtbeachtung dazu führen, daß eine Ehe überhaupt nicht existiert. Dies 62 Insoweit liegt genaues Zahlenmaterial nicht vor. In den Jahren 1969/1970 hat allerdings ein Erfahrungsaustausch der Landesjustizverwaltungen stattgefunden, der zu dem Ergebnis führte, daß nahezu in allen LG-Bezirken die Staatsanwaltschaft von ihren Mitwirkungsbefugnissen in Scheidungs-, Aufhebungs- und Herstellungsverfahren keinen Gebrauch mehr machte; vgl. BT-Drucksache 7/650, S. 202; Zeiss , Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., § 91 I I I 3 (S. 302). 63 Auch die verbleibenden Befugnisse in Ehesachen wurden unter den Vorbehalt einer späteren Reform gestellt, ohne daß allerdings zunächst angedeutet wurde, wie eine solche aussehen könnte; vgl. BT-Drucksache 7/650, S. 203; Bericht 1977, S. 197. Nunmehr liegt der Entwurf eines „2. Eherechtsreformgesetzes" - erstellt vom Bundesjustizministerium - vor. Dessen §§ 1323, 1324 sehen u. a. eine Neuregelung der Antragsbefugnis im Nichtigkeitsverfahren vor. A n die Stelle der Staatsanwaltschaft soll künftig die „höhere Verwaltungsbehörde" bzw. die „Oberste Landesbehörde" treten; vgl. zum Entwurf Bosch, FamRZ 1982, 862 ff, insbesondere 873 ff. 64 Hier sind Bestrebungen erkennbar, das Verfahren in die freiwillige Gerichtsbarkeit zu überführen; vgl. Bericht 1961, 327 f; Lent, ZZP 66 (1953) 267 ff (275); Münzet, ZZP 66 (1953) 334 ff (336); zuletzt Thiere, Dissertation, S. 372. 65 Vgl. schon oben Einleitung, A . I I .
3*
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1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA
ist nach § 11 A b s . 1 E h e G der Fall, wenn die Eheschließung nicht vor einem Standesbeamten stattgefunden hat. Schließlich gibt es Formvorschriften, bei deren Nichtbeachtung die Ehe aufhebbar oder nichtig ist. D i e Nichtigkeitstatbestände sind i n den §§ 17 bis 21 E h e G abschließend aufgezählt 6 6 u n d auf die schwersten Formmängel beschränkt 6 7 . I n dem durch die §§ 17 bis 21 E h e G vorgegebenen Rahmen können die Ehegatten nicht über den Bestand oder die Gültigkeit ihrer Ehe frei verfügen 6 8 . Z u beachten bleibt, daß der Begriff der „ N i c h t i g k e i t " einer Ehe ein anderer ist als bei den Rechtsgeschäften des bürgerlichen Vermögensrechts. A u f die Nichtigkeit k a n n sich nicht jedermann v o n A n f a n g an berufen. E i n derartiges V o r b r i n g e n ist nach § 23 E h e G vielmehr erst dann zugelassen, wenn die Ehe durch ein gerichtliches Gestaltungsurteil 6 9 für nichtig erklärt worden i s t 7 0 . D e r Staat behält sich angesichts der Bedeutung des Instituts Ehe vor, die Nichtigkeit auszusprechen. Bis zur Nichtigerklärung entfaltet die „vernichtbare" Ehe i m wesentlichen die gleichen W i r k u n g e n wie eine gültige E h e 7 1 . D i e Nichtigkeit der Ehe kann nur i n dem durch die § § 6 3 1 bis 637 Z P O speziell geregelten Verfahren durch Erhebung der sogenannten Ehenichtigkeitsklage geltend gemacht werden. Das Verfahren ist der streitigen Gerichtsbarkeit u n d hier den sog. „Ehesachen" zugeordnet. Das Verfahren weist gegenüber dem herkömmlichen Zivilprozeß neben der in § 24 EheG einschränkend geregelten Klagebefugnis weitere Besonderheiten auf. So ist gemäß § 612 Abs. 1 ZPO ein Versäumnisurteil gegen den Beklagten unzulässig, und ein Versäumnisurteil gegen den Kläger spricht aus, daß die Klage als zurückgenommen gelte. Zudem soll das Gericht nach § 613 ZPO das persönliche Erscheinen der Parteien anordnen, und es kann Ermittlungen von Amts wegen anstellen. Der Partei sind das Anerkenntnis, der Verzicht und das Geständnis verwehrt ( § 617 ZPO). Das Verfahren steht unter der sog. „Offizialmaxime"; neben der zusätzlichen Klagebefugnis des Staates ist die Verfügungsmacht der Parteien deutlich eingeschränkt 72. 66 Es handelt sich dabei um die Nichtigkeitsgründe des „Formmangels" (§ 17 EheG), des „Mangels der Geschäfts- und Urteilsfähigkeit" (§ 18 EheG), der „Doppelehe" (§ 20 EheG) und der „Ehe zwischen Verwandten und Verschwägerten" (§ 21 EheG). Durch das 1. EheRG vom 14.6.1976, BGBl. I S. 1421, sind die Nichtigkeitsgründe der Namensehe (§ 19 EheG a. F.) und des „Ehebruchs" (§ 22 EheG a. F.) außer Wirksamkeit gesetzt. 67 Die Eheverbote sind dabei teilweise „dispensabel", d. h. bei Nichteinhaltung ist eine Heilung möglich. Demgegenüber ist eine Heilung im Fall der Blutsverwandschaft (§ 21 Abs. 1 EheG) und im Fall der Doppelehe (§ 20 EheG) jedenfalls grundsätzlich nicht möglich. 68 Vgl. Gernhuber, Familienrecht, § 12 (S. 119 ff) m.w.N.: „. . . Ehe ist privater Disposition entzogen, ist Institut sodann, das Statik und Transparenz v e r l a n g t . . . " 69 Für die heute h. M. vgl. Dölle, Familienrecht, § 23 I 2 d (S. 279 f) m.w.N. 70 Klarstellend Β G H Z 30, 140 ff (142). Damit ist die ursprüngliche Regelung des BGB (§ 1329 a. F.) insoweit grundlegend verändert, als sich damals jedermann ohne vorherige Nichtigerklärung auf die Nichtigkeit berufen konnte, wenn die nichtige Ehe aufgelöst war. 71 Dazu etwa Soergell Siebertl Häberle, BGB, § 23 EheG Anm. 2.
Β. Die gesetzlichen Regelungen
37
2. Die Einleitung des Verfahrens
Die Befugnis zur Erhebung der Ehenichtigkeitsklage ist in § 24 Abs. 1 EheG abschließend geregelt. Bei der Bestimmung der Klageberechtigten unterscheidet das Gesetz danach, ob die vernichtbare Ehe formal noch besteht oder aufgelöst ist. Während des Bestehens der Ehe ist gemäß § 24 Abs. 1 EheG zunächst jeder Ehegatte selbst klagebefugt. Im Falle der Nichtigkeit wegen Doppelehe, § 20 EheG, kann auch der Ehegatte der früheren Ehe Klage erheben. Neben den privaten Klageberechtigten ist in jedem Fall die Staatsanwaltschaft klagebefugt. Bei mehreren Berechtigten steht jede Befugnis für sich 73 . Nach Auflösung der vernichtbaren Ehe durch den Tod eines Ehegatten oder aus sonstigen Gründen kann hingegen nur noch die Staatsanwaltschaft die Ehenichtigkeitsklage erheben; § 24 Abs. 1 S. 2 EheG 7 4 . Wenn beide Ehegatten verstorben sind, erlischt auch das Klagerecht der Staatsanwaltschaft; § 24 Abs. 2 EheG. Aus der Sperre des § 23 EheG, die eine Geltendmachung der Nichtigkeit auf Dauer verhindert, ergibt sich in diesem Fall, daß die an sich nichtige Ehe einer wirksamen gleichkommt 75 . Die Regelung des § 24 EheG beschränkt damit die Klagebefugnis auf bestimmte Personen. Abgesehen von der Klagebefugnis des Ehegatten der früheren Ehe im Fall der Doppelehe können Dritte keine Nichtigkeitsklage erheben. Der Umstand, daß jemand (private) Rechte oder Verpflichtungen hat, die von der Gültigkeit oder Nichtigkeit der Ehe abhängen, rechtfertigt nach dem Gesetz keine Klagebefugnis. Anders stellte sich noch die Rechtslage bis zum Erlaß des EheG von 1938 dar. Das damalige bürgerliche Recht enthielt keine Regelung über die Klagebefugnis. Man hielt deshalb die Klage jedes rechtlich Interessierten für zulässig76. 72 Vgl. Henke, Grundriß, § 18 I I 1 (S. 362); Jauernig, Studienbuch, § 24 I V (S. 72). Die „Offizialmaxime" betrifft dabei die Untersuchung von Amts wegen, also die Aufklärung des Sachverhalts. Dies ist begrifflich vom Vorgehen von Amts wegen zu unterscheiden; Henke y a.a.O., Fn. 1. 73 Vgl. Müller-Gindullis in Münchener Kommentar, § 24 EheG Rdn. 5; Stein!Jonas! Schlosser, ZPO, § 632 Rdn. 7. 74 Kritisch dazu Ramm, JZ 1963, 81 ff (83). 75 Hierzu Müller-Gindullis in Münchener Kommentar, § 24 EheG Anm. 4; kritisch auch hier Ramm, JZ 1963, 81 ff (83). Die Regelung führt in der Tat vornehmlich auf erbrechtlichem Gebiet zu u.U. bedenklichen Ergebnissen. Denn es ist möglich, daß ein Ehegatte mit Hinterlassung mehrerer „legitimer" Ehegatten verstirbt; vgl. den illustrativen Fall bei Dölle, Familienrecht, § 23 V 3 (S. 285), und die dortigen Nachweise zu unterschiedlichen Lösungsansätzen. Der Entwurf zum 2. EheRG sieht in seinem § 1324 Abs. 2 die gleiche Regelung vor; kritisch dazu Bosch, FamRZ 1982, 862 ff (874), der von einer „absoluten Fehllösung" spricht. 76 Vgl. Dölle, Familienrecht, § 23 I I 4 (S. 281); Müller-Gindullis in Münchener Kommentar, § 24 EheG Rdn. 9; StaudingerIDietz, § 24 EheG Rdnrn. 11 ff.
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1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA
I I . Entmündigungssachen 1. Grundzüge des Verfahrens
Die Frage, ob eine Person durch einen A k t der Staatsgewalt ganz oder zum Teil die Geschäftsfähigkeit verlieren kann, richtet sich nach bürgerlichem Recht. In § 6 BGB ist nach dem Grad der Entmündigung zwischen derjenigen wegen Geisteskrankheit einerseits und derjenigen wegen Geistesschwäche, Verschwendung, Trunk- und Rauschgiftsucht andererseits zu unterscheiden. Die ZPO hat das zur Entmündigung führende Verfahren zu einem Bestandteil der streitigen Gerichtsbarkeit gemacht 77 . Seiner Natur nach ist das Entmündigungsverfahren jedoch eine Angelegenheit der freiwilligen Gerichtsbarkeit 7 8 . Es bezweckt nicht die Entscheidung über das Bestehen von Rechts- und Tatfragen im Wege des Parteienstreits. Ohne Rücksicht auf einen möglichen Streit, geht es vielmehr um die Herbeiführung eines rechtsgestaltenden Staatsaktes, dem Ausspruch der Entmündigung 79 . Das Entmündigungsverfahren ist somit formell eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit. Es weist jedoch gegenüber dem herkömmlichen Zivilprozeß Besonderheiten auf. Die Entmündigung bzw. ihre Aufhebung geschieht durch die Amts- bzw. Landgerichte im Wege eines Verfahrens, welches nach §§ 645 Abs.2, 646 ZPO zwar nur auf Antrag eingeleitet wird, in dem aber gemäß §§ 649, 653 ff ZPO alle erforderlichen Erhebungen von Amts wegen angestellt werden. Das Verfahren steht - ebenso wie das Ehenichtigkeitsverfahren unter der im einzelnen geschilderten „Offizialmaxime" 80 . Sowohl das Verfahren auf Anordnung der Entmündigung als auch das auf Wiederaufhebung sind Βeschlußverfahren vor dem Amtsgericht; §§ 645, 675 ZPO. Gegen den Beschluß, durch welchen die Entmündigung abgelehnt wird, ist gemäß § 663 Abs. 1 ZPO das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde zulässig. Gleiches gilt gemäß § 678 Abs. 2 ZPO für die Aufhebung der Entmündigung. Zu einem Verfahren, welches sich auch äußerlich in den Formen des Parteienstreits abspielt, kommt es nach § 664 ZPO im Fall der Anfechtungsklage gegen einen die Entmündigung aussprechenden Beschluß sowie im Fall der Wiederaufhebungsklage nach § 679 ZPO, wenn der Antrag auf Wiederaufhebung vom Amtsgericht abgelehnt wurde. 77
Das gemeine Recht und die meisten Partikulargesetzgebungen hatten die Entmündigung als Art der freiwilligen Gerichtsbarkeit behandelt. Das französische Recht sowie die württembergische CPO von 1868 hatten das Verfahren demgegenüber dem Zivilprozeß zugewiesen; vgl. im einzelnen Levis, S. 2 ff. 78 Allein Levis, S. 58 ff, sieht das Anfechtungsverfahren als streitiges Verfahren an; vgl. die zutreffende Kritik bei Koll, ZZP 30 (1902) 242 ff. 79 Rosenberg! Schwab, Zivilprozeßrecht, § 171 I 1 b-d (S. 1072); ZöllerlPhilippi, ZPO, Vor § 645 Rdn. 8; aus der Rspr. B G H Z 43, 396 ff (397); 46, 106 ff mit Verweis auf R G Z 135, 182 ff. 80 Vgl. Henke, Grundriß, § 18 I I 1 (S. 362), sowie oben 1. Abschnitt, 1. Teil, B . I . l .
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Β. Die gesetzlichen Regelungen 2. Die Einleitung des Verfahrens
Die Entmündigung wegen Geisteskrankheit und -schwäche und diejenige wegen Trunksucht, Rauschgiftsucht und Verschwendung sind mit verschiedenen Antragsbefugnissen verbunden. a) Entmündigung wegen Geisteskrankheit
und -schwäche
Das Entmündigungsverfahren wird nach § 645 Abs. 2 ZPO nur auf Antrag in Gang gesetzt. Das Recht zur Einleitung des Verfahrens ist in § 646 ZPO erschöpfend geregelt. Die Antragsbefugnis steht nach § 646 Abs. 1 ZPO zunächst den Ehegatten und demjenigen gesetzlichen Vertreter des zu Entmündigenden zu, dem die Personensorge obliegt. Im beschränkten Umfang können auch Verwandte aller Grade 81 das Verfahren einleiten 82 . Neben diesen privaten Antragsberechtigten kann gemäß § 646 Abs. 2 ZPO in jedem Fall auch die Staatsanwaltschaft das Entmündigungsverfahren in Gang setzen. Wird der Antrag auf Entmündigung abgelehnt, so steht der Staatsanwaltschaft zudem das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde zu; § 663 Abs. 1 ZPO 8 3 . Weiterhin kann sie den Antrag auf Wiederaufhebung der Entmündigung stellen; § 675 ZPO. Auch wenn sie den Antrag auf Wiederaufhebung selbst gestellt hat, kann die Staatsanwaltschaft sofortige Beschwerde einlegen, wenn dem Antrag entsprochen wird; § 678 Abs. 2 ZPO. Im Urteilsverfahren ist der Staatsanwaltschaft schließlich ein Klagerecht verliehen. Sie kann die Anfechtungsklage gegen den die Entmündigung aussprechenden Beschluß erheben; §§ 664 Abs. 2, 646 Abs. 2 ZPO. Dabei ist eine formelle Beschwer nicht erforderlich 84 , d. h. es kommt nicht darauf an, ob dem Rechtsmittelkläger in der Vorinstanz versagt wurde, was er beantragt hatte 85 . Wird die Anfechtungsklage von einem anderen Klageberechtigten erhoben, ist die Staatsanwaltschaft Beklagte; § 666 Abs. 1 ZPO. Die gleiche Regelung ergibt 81
Im Sinne des § 1589 BGB; vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers,
ZPO, § 646 Anm.
IB. 82 Das Antragsrecht für Verwandte besteht nach § 646 Abs. 1 S. 2 ZPO nur dann, wenn der zu Entmündigende nicht unter elterlicher Sorge oder unter Vormundschaft steht. Verwandte des Ehegatten sind nach § 646 Abs. 1 S. 3 ZPO nur dann antragsberechtigt, wenn der andere Ehegatte zur Stellung des Antrags - etwa wegen langen Auslandsaufenthalts - außerstande ist, der Aufenthalt des anderen Ehegatten dauernd unbekannt oder die häusliche Gemeinschaft der Ehegatten aufgelöst ist; vgl. Baumbachi Lauterbacht Albers, ZPO, § 646 Anm. 1. 83 Dabei kommt es nicht darauf an, ob sie den Entmündigungsantrag gestellt hat oder beschwert ist; vgl. Steint Jonas! Schlosser, ZPO, § 663 Rdn. 1. 84 Stein!Jonas!Schlosser, ZPO, § 664 Rdn. 7. 85 Z u dieser grundsätzlich bei Rechtsmitteln erforderlichen Zulässigkeitsvoraussetzung vgl. Thomas/Putzo, ZPO, Vorbem. § 511 Anm. I V 2; B G H NJW 1984, 371.
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1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA
sich nach § 679 ZPO für die sogenannte Wiederaufhebungsklage, mit welcher ein die Wiederaufhebung der Entmündigung ablehnender Beschluß angefochten wird. Der Staatsanwaltschaft stehen auch dann umfangreiche Mitwirkungsbefugnisse im Sinne einer eingangs erwähnten „partie jointe" zu, wenn sie nicht als Antragstellerin, Beschwerdeführerin, Klägerin oder Beklagte auftritt. Nach § 652, §§ 663 Abs. 1, 652 und §§ 676 Abs. 3, 652 ZPO kann sie in allen Fällen, d. h. im Entmündigungs-, im Beschwerde- und im Wiederaufhebungsverfahren, den Fortgang der Sache betreiben, Anträge stellen und den Terminen beiwohnen. Zur Sicherung dieser Rechte ist die Staatsanwaltschaft seitens des Gerichts von jeder Einleitung eines Verfahrens, der Überweisung an ein anderes Gericht und von allen Terminen in Kenntnis zu setzen; § 652 S. 2 ZPO.
b) Entmündigung aus sonstigen Gründen A n den Entmündigungsverfahren wegen Trunksucht, Rauschgiftsucht und Verschwendung ist die Staatsanwaltschaft nicht beteiligt (§ 680 Abs. 4 ZPO) 8 6 . Der Grund hierfür liegt darin, daß bei Erlaß der CPO in diesen Fällen ein öffentliches Interesse an der Herbeiführung der Entmündigung nicht angenommen wurde 87 . Eine Ausnahme bildet allerdings die nachrangige Stellung der Staatsanwaltschaft bei der Anfechtungsklage nach § 684 Abs. 3 ZPO sowie bei der Wiederaufhebungsklage nach § 686 Abs. 3 ZPO. In beiden Fällen findet diese Beteiligung statt, wenn der eigentliche Beklagte - d. h. derjenige, der die Entmündigung beantragt hatte - verstorben, unbekannten Aufenthalts oder im Ausland ist. Die Staatsanwaltschaft tritt dann als Beklagte ein. Die gekünstelte Situation eines Streitverfahrens wird hier besonders deutlich. I I I . Klagen auf Feststellung des Bestehens von in der D D R geschiedenen Ehen Wie sich aus der Verweisung des § 638 S.l ZPO auf § 634 ZPO ergibt, kann die Staatsanwaltschaft im Verfahren auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens einer Ehe die Stellung einer Partei mit allen sich hieraus ergebenden Rechten und Pflichten haben. Das Recht, die Feststellung durch 86 Nach Maßgabe der landesgesetzlichen Regelungen sind nach § 680 Abs. 5 ZPO aber Gemeinden, Gemeindeverbände und Träger der Sozialhilfe antragsbefugt; vgl. im folgenden 1. Abschnitt, 4. Teil, B. 87 Vgl. Hahn, Materialien, S. 905. Diese Nichtbeteiligung der Staatsanwaltschaft an den Entmündigungsverfahren wegen Trunk-, Verschwendungs- und Rauschgiftsucht ist gerügt worden; vgl. Lent! Jauernig, Studienbuch, 17. Aufl., § 93 I I I (S. 282). Es ist in der Tat nicht einzusehen, warum beispielsweise ein Heroinsüchtiger nicht genauso schutzbedürftig wie ein Geisteskranker ist, zumal hier wie dort nach heutiger medizinischer Erkenntnis eine pathologische Situation vorliegt.
Β. Die gesetzlichen Regelungen
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eigene Klage zu betreiben, ist demgegenüber nicht geregelt. U m s t r i t t e n ist, ob es eine Feststellungsklage der Staatsanwaltschaft auf die A n e r k e n n u n g oder Nichtanerkennung eines i n der D D R ergangenen Scheidungsurteils gibt. D i e Frage verdeutlicht sich an dem folgenden Beispiel: Beispielsfall
5: 88
Die Ehefrau F und der Ehemann M hatten 1920 geheiratet. Der letzte gemeinsame Aufenthalt war nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. 1953 hatte sich M als politischer Flüchtling in die Bundesrepublik begeben. Von hier aus klagte er gegen die an dem früheren gemeinsamen Wohnort verbliebene F vor dem dortigen Kreisgericht auf Scheidung seiner Ehe. Während dieses Verfahrens siedelte auch die F in die Bundesrepublik über. Die Ehe wurde nach der damals geltenden sowjetzonalen Eheverordnung geschieden. K a n n die Staatsanwaltschaft i n dem Beispielsfall auf Feststellung des Bestehens oder des Nichtbestehen der Ehe klagen? D i e Frage ist teils bejaht, teils verneint. 1. Meinungsstand ι D e r Bundesgerichtshof hat i n einer Entscheidung aus dem Jahr 1961 8 9 ein dahingehendes Klagerecht der Staatsanwaltschaft bejaht, wenn die A n e r k e n nung des Urteils gegen die „guten Sitten oder den Zweck eines deutschen Gesetzes" verstoßen w ü r d e 9 0 . Begründet w i r d diese Auffassung m i t einer entsprechenden A n w e n d u n g der §§ 1593, 1595 a B G B a. F . , welche die Ehelichkeitsanfechtung betrafen, des § 607 Z P O a. F . , des § 634 Z P O sowie des § 24 EheG. Nach § 607 ZPO a. F., welcher ein allgemeines Mitwirkungsrecht der Staatsanwaltschaft in Ehesachen vorsah 91 , habe die Staatsanwaltschaft dafür Sorge zu tragen, daß Ehen nicht geschieden würden, wenn kein Scheidungsgrund bestehe92. § 24 EheG gewähre der Staatsanwaltschaft die Befugnis, die Ehenichtigkeitsklage zu erheben, damit sie „das sittliche Ärgernis, das (beispielsweise) durch eine Doppelehe geschaffen wird, im allgemeinen öffentlichen Interesse beseitigen kann." 9 3 Dies rechtfertige es, der «β Angelehnt an B G H Z 34, 134 ff. 89 B G H Z 34, 134 ff (149); im Anschluß daran B G H Z 38, 1 ff = FamRZ 1963, 431 ff (433); O L G Frankfurt, NJW 1964,730. Auffallend ist, daß es in beiden Entscheidungen des B G H auf die Frage, ob die Staatsanwaltschaft klagen kann, nicht ankam, da jeweils ein Ehepartner geklagt hatte. 90 Hintergrund ist, daß durch Art. 7 des Familienrechtsänderungsgesetzes vom 18.8.1961 (BGBl. I S. 1221) die Anerkennung ausländischer Ehescheidungsurteile der Zuständigkeit der Landesjustizverwaltungen belassen ist, gegen deren Entscheidung der Weg eines Sonderverfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit eröffnet ist. D D R Scheidungsurteile sind als innerdeutsches Recht hingegen ohne förmliches Anerkennungsverfahren zunächst wirksam. Offen bleibt allein eine Feststellungsklage nach § 638 ZPO; näher dazu m.w.N. etwa Steint Jonas/Schlosser, ZPO, Vor § 606 Rdn.17. 91 Vgl. oben 1. Abschnitt, 1. Teil, A . I I . 92 B G H FamRZ 1963, 431 ff (433). 93 B G H FamRZ 1963, 431 ff (433).
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1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA
Staatsanwaltschaft für in der D D R geschiedene Ehen das Recht auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens der Ehe zu geben: „Dadurch soll", wie der Bundesgerichtshof wörtlich ausführt, „vermieden werden, daß eine Ehe auf dem Gebiet der B R D in Widerspruch zu den Zwecken unserer Gesetzgebung und zu den guten Sitten geschieden wird." 9 4
Die Position des Bundesgerichtshofes ist von einem großen Teil der Literatur gebilligt worden, die im wesentlichen der Argumentation des B G H folgt 95 . Nach anderen Stimmen kann sich aus den vom B G H angeführten Gründen kein Klagerecht ergeben 96. 2. Stellungnahme
Maßgeblich ist zunächst, daß die Einleitung eines Zivilprozesses durch eine staatliche Stelle eine Ausnahme von dem Grundsatz darstellt, dem betroffenen Bürger die Entscheidung über die Führung von Rechtsstreitigkeiten zu überlassen. In Ehesachen sieht das bundesdeutsche Recht - aus noch zu erörternden Gründen - allein bei Ehenichtigkeitssachen die Klagebefugnis einer staatlichen Stelle vor. Zweifelhaft ist, ob sich - jedenfalls auf der Grundlage des heutigen Rechts - die vom B G H angeführte Analogie aufrecht erhalten läßt. Dafür müßten eine vergleichbare Interessenlage und eine planwidrige Gesetzeslücke vorliegen 97 . Die Analogiebasis des B G H ist aber bereits durch den Wegfall des Anfechtungsrechts in Kindschaftssachen 98 wesentlich erschüttert worden. Zudem läßt sich ein Umkehrschluß daraus ziehen, daß das 1. EheRG, welches zum Wegfall der nach § 607 Abs. 3 ZPO a. F. vorgesehenen Mitwirkungsbefugnisse der Staatsanwaltschaft in allen Ehesachen führte 99 , die Klagebefugnis der Staatsanwaltschaft in Ehesachen gerade nicht erweiterte. Auch ist zu Recht darauf verwiesen worden, daß die Parallele zu § 24 EheG fehl geht, da es ein Unterschied ist, ob eine Ehe zu Unrecht geschlossen oder aber zu Unrecht gelöst worden ist 1 0 0 . Zum anderen muß der denkbare Fall beachtet werden, daß ein Gericht der D D R eine tatsächlich zerrüttete Ehe scheidet, aber mit einer Begründung, in welcher die hiesige Staatsanwaltschaft 94
B G H FamRZ 1963, 431 ff (433). Habscheid, Urteilsanmerkung zu Β G H Z 34, 134 ff, ZZP 74 (1961) 360 ff; Thiere, Dissertation, S. 224; Steint Jonas!Schlosser, ZPO, Vor § 606 Rdn. 17. 96 Beitzke, JZ 1961, 649 ff; Drobnig, FamRZ 1961, 341 ff; Hoßerr, Dissertation, S. 31; Wieczorek, ZPO, § 638 Anm. D. 97 Grundlegend zu den Voraussetzungen der Analogie Larenz, Methodenlehre, Kap. 5, 2 b (S. 365 ff). 98 Vgl. dazu oben 1. Abschnitt, 1. Teil, A . I I . 99 Vgl. dazu oben 1. Abschnitt, 1. Teil, A . I I . 100 Beitzke, JZ 1961, 649 ff (650). 95
C. Die gewahrten Interessen
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einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung sieht 101 . Schließlich ist nicht erkennbar, inwieweit ein allgemeiner Verweis auf die von der Staatsanwaltschaft zu wahrenden „öffentlichen Interessen" die Analogie stützt 102 . Sind diese Interessen nicht durchaus verschieden 103 , und werden sie nicht auf verschiedenen Wegen verfolgt? 104 Die Aufgabe der Staatsanwaltschaft im bundesdeutschen Zivilprozeß geht jedenfalls nicht soweit, daß ihr über die gesetzlich geregelten Fälle hinaus ein Klagerecht zukommt, um - wie der B G H sich ausdrückt - die „guten Sitten" oder den „Zweck eines deutschen Gesetzes" zu schützen 105 . Nach allem läßt sich hier - jedenfalls nach der heutigen Rechtslage - kein Klagerecht der Staatsanwaltschaft begründen.
C. Die gewahrten Interessen Im folgenden soll untersucht werden, welche Belange in den in Rede stehenden Ehenichtigkeits- und Entmündigungssachen berührt sind. Das Hauptaugenmerk gilt der Frage, inwieweit es in diesen Verfahren überhaupt - wie im herkömmlichen Zivilprozeß - um private Rechte geht. Weiterhin ist die Frage zu beantworten, welche rechtliche Stellung die Staatsanwaltschaft in diesen Verfahren hat. Die Antwort darauf erklärt, aus welchen Gründen sich der Staat in das bürgerliche Verfahren einmischt. I. Ehenichtigkeitssachen 1. Der Schutz des „Instituts Ehe"
Die Frage, welche Interessen in Ehenichtigkeitssachen betroffen sind, läßt sich mit dem Blick auf Art. 6 GG beantworten. Art. 6 Abs. 1 GG stellt Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Dabei ist dieses Grundrecht nicht allein im klassischen Sinne als Abwehrrecht der Ehegatten gegen staatliche Eingriffe zu verstehen 106 . Vielmehr schützt die Norm auch das „Institut Ehe" und garantiert den Bestand der einzelnen Verbindung sowohl gegenüber dem Staat als auch gegenüber dem anderen Gatten, ist doch die Ehe die Grundlage jeglicher funktionsfähiger, staatlich verfaßter Gemeinschaft 107 . 101
Beitzke, JZ 1961, 649 ff (650). Diesen Weg geht offenbar Thiere, Dissertation, S. 224. 103 Ygi d a z u n o c h im folgenden 1. Abschnitt, 1. Teil, C.
102
104
Vgl. oben 1. Abschnitt, 1. Teil, A . I . Vgl. im einzelnen im folgenden 1. Abschnitt, 1. Teil, C. 106 Z u der klassischen Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte vgl. nur v. Münch, Grundgesetz, Vorb Rdn. 16 m.w.N. 105
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1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA I m H i n b l i c k auf diese sogenannte „Institutionsgarantie" w i r d deutlich, daß
die Grundrechte öffentliche
Interessen zum Ausdruck bringen, die dem
Schutz des jeweiligen Instituts - i m Falle des A r t . 6 A b s . 1 G G dem der Ehe dienen108. A u c h die Ehenichtigkeitsgründe der §§ 17 ff E h e G sind auf dieser Grundlage auf den Schutz des Instituts „ E h e " ausgerichtet. Das Recht, eine Ehe einzugehen, unterliegt den Schranken, „ d i e der Schutz der Ehe i n ihrer wesentlichen Struktur e r f o r d e r t " 1 0 9 . Infolge des grundsätzlichen Schutzes der Ehe ist allerdings die W e r t u n g einer Ehe als nichtig auf die schwersten Mängel beschränkt u n d die Geltendmachung der Nichtigkeit - wie geschildert - an ein richterliches U r t e i l gebunden. Z i e l ist die Sicherung grundlegender A n f o r d e rungen an den E h e s c h l u ß 1 1 0 u n d der Schutz der Ehe vor Verstößen gegen die Grundprinzipien der E h e 1 1 1 . Für den bedeutsamen Nichtigkeitsgrund der Doppelehe, der die Einehe schützen soll 1 1 2 , führt beispielsweise der B G H aus 113 : „. . . Eine Ehe kann nach der in der Bundesrepublik herrschenden sittlichen Anschauung als grundsätzlich dauernde und uneingeschränkte Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau in einer der Würde der Ehegatten entsprechenden Weise nur als Einehe geführt werden. Die Einehe ist es, die nach Art. 6 GG unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung steht. Die mit der Nichtigkeit notwendig verknüpfte Sanktion des Gebotes der Einehe stellt einen erheblichen sittlichen Wert dar, dessen Verwirklichung im öffentlichen Interesse liegt u
D i e Nichtigkeitsgründe dienen somit dem Schutz des Instituts „ E h e " . D e r Staat ist aus A r t . 6 A b s . 1 G G gehalten, für den Schutz des Instituts „ E h e " zu sorgen - m . a . W . für die Einhaltung der Ehegebote u n d gegebenenfalls die Beseitigung der vernichtbaren E h e 1 1 4 . A u s dieser Aufgabe folgt die Klagebefugnis der Staatsanwaltschaft, da ihre V e r w i r k l i c h u n g nicht allein durch ein 107 Dazu etwa Beitzke, Familienrecht, § 6 (S. 31 ff); Gernhuber, Familienrecht, § 5 (S. 35 ff); Dölle, Familienrecht, § 3 I I I (S. 32 ff). 108 Zu den Institutsgarantien allgemein v. Münch, Grundgesetz, Vorb. Rdnrn. 17 ff, sowie speziell zu Art. 6 GG Gernhuber, Familienrecht, § 5 I (S. 35 ff). 109 Katholnigg, FamRZ 1964, 123 ff (125). 110 So verfolgt der Nichtigkeitsgrund des „Formmangels" (§ 17 EheG) die Einhaltung der durch § 13 EheG vorgeschriebenen Form; § 18 EheG betrifft die für den Eheschluß erforderliche Geschäfts- und Urteilsfähigkeit; vgl. dazu etwa Gernhuber, Familienrecht, § 13 11 (S. 123 f). 111 § 20 EheG soll das Eheverbot der Doppelehe (§ 5 EheG) sichern, § 21 EheG das Eheverbot der Verwandtschaft oder Schwägerschaft (§ 4 EheG); vgl. etwa Gernhuber, § 10 V (S. 99 ff), § 10 I I , I I I (S. 96 ff). 112 Vgl. etwa Dölle, Familienrecht, § 9 (S. 113 ff); Müller-Gindullis in Münchener Kommentar, § 20 EheG Rdn. 1; B G H FamRZ 1959, 450 ff; 1962, 299 ff. 113 B G H FamRZ 1975, 332 ff (333); dahingehend auch B G H FamRZ 1959, 450 ff. 114 Vgl. Müller-Freienfels, JZ 1959, 635 ff; Ramm, JZ 1963, 81 ff; Müller-Gindullis in Münchener Kommentar, § 24 EheG Rdn. 2; B G H FamRZ 1964, 418 ff; SchlHOLG SchlHA 1953, 205 ff.
C. Die gewahrten Interessen
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Klagerecht der privat Betroffenen gewährleistet werden kann. Sie haben auch nicht die Verfügungsfreiheit über die Anforderungen an eine Ehe. Da das Gericht nicht von sich aus tätig werden kann, mußte zur Sicherung des mit der Ehenichtigkeitsklage verfolgten Zwecks ein anderes staatliches Organ mit der Einleitung des Verfahrens betraut werden. Es wäre widersinnig, den privat Betroffenen die prozessuale Verfügungsfreiheit über die Ehe zu überlassen, die ihnen materiell nicht zusteht. 2. Der Schutz subjektiver Rechte und privater Belange
Offen bleibt, inwieweit es in Ehenichtigkeitssachen um private Belange oder sogar um subjektive Rechte geht. Ausgangspunkt ist, daß der Schutz des Instituts „Ehe" es jedenfalls grundsätzlich erfordert, eine mit einem Nichtigkeitsgrund behaftete Ehe für nichtig zu erklären. Andererseits bedingt der durch Art.6 Abs.l GG gewährte Schutz der Ehe, daß nur in diesen Fällen die Nichtigkeit von Staats wegen ausgesprochen werden kann. Das öffentliche Interesse ist somit darauf gerichtet, den wahren Status der Parteien zu erforschen, festzustellen und gegebenenfalls die gestörte Eheordnung wieder herzustellen 115 . Die derart mit dem Ehenichtigkeitsverfahren verfolgten öffentlichen Interessen verdeutlichen, daß es in den Verfahren nicht um subjektive, streitige Rechte der privaten Beteiligten geht 116 . Es fehlt bereits an dem wesentlichen Merkmal eines „subjektiven Rechts", daß der Rechtsinhaber nach freiem Belieben von seinem Recht Gebrauch machen und darüber verfügen kann. Dies verdeutlicht sich - neben dem der Staatsanwaltschaft verliehenen Klagerecht daran, daß Anerkenntnis, Verzicht und Geständnis ausgeschlossen sind; § 617 ZPO. Folgerichtig ist zudem die Beschaffung des Tatsachenmaterials nicht den Parteien überlassen. Die Klärung des Sachverhalts ist, wie sich an § 616 ZPO zeigt, stets eine öffentliche und keine private Aufgabe. Den privaten Parteien obliegt es also weder über das Vorliegen eines Nichtigkeitsgrundes noch über die im Verfahren bezweckte Wahrung des Instituts „Ehe" zu verfügen.
Allerdings ist nicht zu verkennen, daß die klagenden Ehegatten durchaus persönlich betroffen sind. So „verletzt" der Mangel der Geschäfts- und Urteilsfähigkeit 117 die Entschließungsfreiheit und die Doppelehe das Eheband mit dem ersten Ehegatten. Auch ist zu beachten, daß die klagenden Ehegatten 115
Insoweit ist das Ehenichtigkeitsverfahren „Statusverfahren", in dem das Interesse in besonderer Weise auf die Feststellung des wahren Status, d. h. der materiellen Wahrheit gerichtet ist; vgl. Beitzke, Familienrecht, § 11 I I I (S. 57); Boehmer, Grundlagen, S. 119 ff; derselbe, NJW 1959, 2185 ff (2185); Müller-Freienfels, JZ 1959, 625 ff (635). 116 Anders insoweit Grunsky, Grundlagen, S. 24, der vom Schutz subjektiver Rechte spricht, an deren Realisierung die Allgemeinheit ein Interesse habe. 117 Vgl. § 18 EheG; dazu Gernhuber, Familienrecht, § 13 I 2 (S. 123 f).
46
1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA
durchaus eigene Interessen verfolgen und ihr Vorgehen an diesen orientieren. Zu denken ist etwa an den Fall, daß sich der klagende Ehegatte von der vernichtbaren Ehe lösen will, um Freiheit für eine neue Ehe zu erlangen 118 . Das den Ehegatten verliehene Klagerecht läßt sich also nicht allein damit erklären, daß sie lediglich „Sachwalter der gestörten Eheordnung" 119 oder „Werkzeug des übergeordneten Zwecks der Rechtsordnung, die Einehe zu schützen und durchzusetzen" 120 seien. Vielmehr haben die Ehegatten aufgrund ihrer persönlichen Betroffenheit ein „individuelles Klageinteresse" 121 . In diesem findet das den Ehegatten verliehene Klagerecht seinen Grund. Aus der persönlichen Betroffenheit der klagenden Ehegatten und aus dem Charakter als Gestaltungsklage läßt sich aber nicht schließen, daß mit der Ehenichtigkeitsklage gleichzeitig ein materielles Gestaltungsrecht ausgeübt wird. Weitgehend wird zwar der Antrag auf Gestaltung nicht lediglich als eine Prozeßhandlung verstanden, sondern zugleich als Ausübung eines privaten Gestaltungsrechts 122. Die Gestaltungsklagen sind jedoch vielschichtig und durchaus unterschiedlich zu deuten 123 . So finden sich im Bereich des Familienrechts eindringliche Überlegungen 124 , ob etwa in der Ehelichkeitsanfechtung (§§ 1593 ff BGB) oder in dem Antrag, eine gescheiterte Ehe aufzulösen (§ 1564 BGB), gleichzeitig die Ausübung eines Gestaltungsrechts liegt; oder um es untechnisch auszudrücken: Enthält die Prozeßhandlung hier auch das Rechtsgeschäft auf „Lossagung" von dem gesetzlich aufgezwungenen Vater und - im Fall des Scheidungsantrags - eine „Ehekündigung"? 125 In der Tat spricht etwa für die prozessuale und rechtsgeschäftliche Anfechtung der Ehelichkeit die persönliche Vornahme auf der Seite des Mannes (§ 1595 BGB), das Anfechtungsrecht der Großeltern nach seinem Tod (§ 1595 a BGB) und das Lossagungsrecht des Kindes, mit dem sich persönliche Vorwürfe gegen den gesetzlichen Vater verbinden können (§ 1596 B G B ) 1 2 6 . Treffend erklären 118
Vgl. zu einer solchen Motivation im Fall einer Doppelehe B G H Z 30, 140 ff; der B G H setzte dem klagenden Ehegatten allerdings den Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegen; vgl. dazu auch Gernhuber, Familienrecht, § 13 I I I 2 (S. 125 f). 119 So Gernhuber, Familienrecht, § 13 I I 2 (S. 124). 120 So Dölle, Familienrecht, § 23 I I 4 (S. 280). 121 Vgl. hierzu K G NJW 1987, 197. 122 Vgl Rosenberg! Schwab, Zivilprozeßrecht, § 95 12 (S. 559 f); Blomeyer, Zivilprozeßrecht, § 38 I I I (S. 224); Bötticher, Festschrift für Dölle, S. 41 ff (55); zurückgehend auf Seckel, Festgabe für Koch, S. 205 ff (S. 237 ff); a. A . etwa Schlosser, Zivilprozeßrecht, Rdn. 209; Grunsky, Grundlagen, § 5 I I I 2 (S. 38 ff); Stein!Jonas!Schumann, ZPO, Vor § 253 Rdn. 44, m.w.N. 123
Vgl. die Ausführungen von Henke, Grundriß, S. 1003 ff. 1 24 Vgl. Seckel, Festgabe für Koch, S. 205 ff (239 ff); Gaul, FamRZ 1963, 630 ff; Bötticher, Festschrift für Dölle, S. 41 ff (54 ff); Dölle, Festschrift für Bötticher, S. 93 ff (99); Rosenberg! Schwab, Zivilprozeßrecht, § 95 I 2 (S. 559 f); Stein!Jonas!Schumann, ZPO, Vor § 253 Rdn. 44, m.w.N. 125 Vgl. Henke, Grundriß, S. 1010, 1012; Dölle, Festschrift für Bötticher, S. 93 ff (95).
C. Die gewahrten Interessen
47
127
hierzu die Gesetzesmaterialien und die von Seckel entwickelte Lehre vom „Doppeltatbestand" (Gestaltungsgeschäft und Gestaltungsstaatsakt)128, daß die Gestaltungsklage eine doppelte Bedeutung habe: Einerseits enthalte sie die Anfechtung durch ein Rechtsgeschäft. Andererseits stelle sie einen prozessualen A k t dar, der den Rechtsstreit anhängig mache und die Feststellung der Ehelichkeit zum Gegenstand habe. Für die Ehescheidung finden sich Anhaltspunkte für ein privates und insoweit verfügbares Gestaltungsrecht in dem einverständlich gestellten Scheidungsantrag (§ 1566 Abs. 1 BGB) und in dem zeitweiligen Verzicht auf das materielle Scheidungsrecht 129. Für die Ehenichtigkeitsklage spricht der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung aus dem Jahr 1959 130 einerseits von einem „Klagerecht", andererseits von der „Geltendmachung des mit der Klage verfolgten Gestaltungsrechts", während Müller-Freienfels in einer Besprechung dieses Urteils 1 3 1 bewußt nur die Bezeichnung „Klagerecht" verwendet und wörtlich hinzufügt: „Wie von einem materiellen Vernichtungsrecht der in § 24 EheG genannten Personen gesprochen werden kann, ist methodisch und sachlich unerfindlich". Die Ehenichtigkeitsklage unterscheidet sich in der Tat von der Ehelichkeitsanfechtung und dem Scheidungsantrag. Der nach § 24 EheG klageberechtigte Ehepartner hat keine Befugnis, über die Anforderungen, die §§ 17 ff EheG an die Ehe stellen und bei deren Verstoß die Nichtigkeit auszusprechen ist, zu verfügen. Die begehrte Gestaltung - die Nichtigerklärung der Ehe - kann nicht anders als durch Richterspruch geschehen. Das „Recht" des betroffenen Ehegatten erschöpft sich darin, daß er klagen kann. Seine Entscheidung, nicht zu klagen, ist demgegenüber angesichts des Klagerechts der Staatsanwaltschaft wirkungslos. Die Ehenichtigkeitsklage des Ehegatten kann aus diesen Gründen nicht zugleich als Ausübung eines materiellen Gestaltungsrechts verstanden werden. Festhalten läßt sich mithin, daß die Ehenichtigkeitsklage auch private Belange berührt. Davon zu unterscheiden ist jedoch, daß der Zweck des Ehenichtigkeitsverfahrens selbst - wie dargelegt - nicht der Durchsetzung eines subjektiven Privatrechts dient. Insoweit weicht das Ehenichtigkeitsverfahren
126
Vgl. Henke, Grundriß, S. 1009 f. Mugdan, Materialien, 4. Band, S. 357. 128 Seckel, Festgabe für Koch, S. 205 ff (237 ff). 129 Vgl. Henke, Grundriß, S. 1012, und B G H NJW 1986, 2046 ff (2047), wo von einem „materiellrechtlichen Gestaltungsrecht neben dem öffentlichrechtlichen Anspruch auf Erlaß eines Scheidungsurteils" die Rede ist. Die Parteien hatten hier vereinbart: „Beide Eheleute haben sich darauf geeinigt, sich nicht scheiden zu lassen und auch vor dem 1.11.1987 kein Scheidungsverfahren gegeneinander einzuleiten". Der am 24.9.1982 geschlossene Verzichtsvertrag war nach Auffassung des Bundesgerichtshofs längstens bis zum 23.9.1985 in Kraft. 130 B G H FamRZ 1959, 450 ff. 1 31 Müller-Freienfels, JZ 1959, 635 ff (636 zu Fn. 14). 127
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1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA
vom herkömmlichen Zivilprozeß 132 ab. Es geht vorrangig - im öffentlichen Interesse - um den Schutz des Instituts „Ehe". Dies verdeutlicht sich wiederum mit Blick auf die Regelung im Fall einer Doppelehe. Ist etwa eine bigamische Ehe durch den Tod des zweimal verheirateten Ehemanns aufgelöst, so können weder die erste, noch die zweite Frau die Vernichtung der aufgelösten Ehe betreiben; § 24 Abs. 1 S. 2 EheG. In diesem Fall ist vielmehr allein die Staatsanwaltschaft zur Erhebung der Ehenichtigkeitsklage befugt. Das rein private Interesse der Ehegatten wird mithin nicht als hinreichender Grund für die rückwirkende Vernichtung der Ehe erachtet. Die Verfolgung des öffentlichen Interesses an der Vernichtung der Ehe ist hier allein dem Staat vorbehalten.
3. Die Stellung der Staatsanwaltschaft
Fraglich bleibt, welche Stellung die Staatsanwaltschaft inne hat, wenn sie die Ehenichtigkeitsklage erhebt. Dies ist insbesondere für die Frage von Interesse, von welchen Gesichtspunkten sie sich bei ihrer Tätigkeit leiten zu lassen hat 1 3 3 . a) Meinungsstand In der Rechtsprechung findet sich lediglich in einer neueren Entscheidung des Bundesgerichtshofs 134, der sich mit dem Fall einer bigamischen Ehe zu befassen hatte, eine einschlägige Äußerung. Dort heißt es, daß die Staatsanwaltschaft mit der Ehenichtigkeitsklage ein „materiellrechtliches Gestaltungsrecht im eigenen Namen als Partei im Eheprozeß" verfolge 135 . Die Äußerungen im Schriftum gehen in der Regel dahin, die Staatsanwaltschaft als „Partei kraft Amtes" zu bezeichnen 136 . Andere - ältere Stimmen sprechen von der Staatsanwaltschaft als „Organ des Staates" 137 . Weiterhin wird die Staatsanwaltschaft als „Partei kraft besonderer Bestimmung" bezeichnet, die von der „Partei kraft Amtes" abzugrenzen sei 138 . Davon abweichend wird neuerdings die Auffassung vertreten, die Staatsanwaltschaft habe im Ergebnis nur eine prozessuale Stellung 139 .
132
Vgl. oben Einleitung, A.I.2. 133 Vgl noch im folgenden 1. Abschnitt, 1. Teil, D . I I I . 134
B G H NJW 1975, 872 ff = FamRZ 1975, 332 ff. 135 B G H NJW 1975, 872 ff (873). 136 Thomas/Putzo, ZPO, Anm. zu § 632; Stein/Jonas/Pohle, ZPO, Vor § 50 Rdn. 35; Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, § 632 Rdn. 4. 137 SeufferWaismann, ZPO, § 632 Anm. 1 B (S. 217); Hellwig, System I I , S. 12. 138 Rosenberg! Schwab, Zivilprozeßrecht, § 40 I I 2 (S. 214). 139 Jauernig, JuS 1971, 329 ff (331 f); derselbe, Studienbuch, § 1 I I 2 (S. 2); vgl. bereits oben Einleitung, A.I.2.
C. Die gewahrten Interessen
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b) Stellungnahme Wie dargelegt, werden mit der Ehenichtigkeitsklage keine subjektiven Rechte der Ehegatten geltend gemacht, unabhängig davon, daß im Ehenichtigkeitsverfahren auch private Interessen berührt werden. Die Annahme der überwiegenden Meinung, die Staatsanwaltschaft sei „Partei kraft Amtes", läßt sich auf dieser Grundlage nicht aufrecht erhalten. Bei der Definition besteht jedenfalls insoweit Einigkeit, als die „Partei kraft Amtes" ein fremdes, subjektives Recht im eigenen Namen geltend macht, also gesetzlicher Prozeßstandschafter ist 1 4 0 . Als ein fremdes, subjektives Recht kommt im übrigen auch nicht ein solches des Staates als rechtsfähiger Körperschaft in Betracht 141 . Wie dargelegt ist der Staat aus Art. 6 Abs. 1 GG gehalten, für den Schutz des Instituts Ehe zu sorgen. Durch die Verleihung der Klagebefugnis an die Staatsanwaltschaft kommt der Staat damit seiner aus Art. 6 GG folgenden Verpflichtung nach, für die Aufrechterhaltung und gegebenenfalls die Wiederherstellung der Eheordnung Sorge zu tragen. Von der für das subjektive Recht kennzeichnenden Willensmacht des Rechtsinhabers, von seinem Recht frei Gebrauch machen zu können, kann nicht gesprochen werden 142 .
Entscheidend ist, daß es im Ehenichtigkeitsprozeß der Staatsanwaltschaft primär um die Durchsetzung und den Schutz des Rechtsinstituts „Ehe" geht, also um einen Teil der objektiven Rechtsordnung 143 . Da das Verfahren der streitigen Gerichtsbarkeit zugewiesen ist, bedurfte es der Sicherung der Verfahrenseinleitung, die nicht allein den privaten Betroffenen überlassen bleiben sollte. Dazu dient die der Staatsanwaltschaft verliehene Befugnis, einen Ehenichtigkeitsprozeß in Gang zu bringen. Die Staatsanwaltschaft gibt m.a.W. im öffentlichen Interesse den Anstoß dazu, daß ein Gericht, welches von sich aus nicht tätig werden kann, eine Ehe für nichtig erklärt. Aufgrund dieser Gestaltung ist es zutreffend, daß der Staatsanwaltschaft das Klagerecht allein zum Schutz des Instituts „Ehe" verliehen ist 1 4 4 . Ihr kommt die prozessuale Befugnis zu - ohne ein eigenes oder fremdes Recht geltend zu machen - , im öffentlichen Interesse ein Verfahren in Gang zu bringen.
140 Vgl nur Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, § 40 I I 2 (S. 214 ff). Diese Definition wird i. ü. auch von den Vertretern der h. M. selbst nicht eingehalten. So findet sich beispielsweise der Hinweis, die Staatsanwaltschaft habe eine „rein prozessuale Parteistellung kraft Amtes" inne, „in der sie das öffentliche Interesse" vertrete; vgl. Steint Jonas/Pohle, ZPO, Vor § 50 Rdn. 35. 141 Diesen Gedanken wirft Thiere, Dissertation, S. 232, auf. 142 Vgl. Thiere, Dissertation, S. 232. 143 Vgl. Jauernig, JuS 1971, 329 ff (331 f); derselbe, Studienbuch, § 1 I I 2 (S. 2). 144 Vgl. Jauernig, JuS 1971, 329 ff (331 f); derselbe, Studienbuch, § 1 I I 2 (S. 2); ebenso K G NJW 1987, 197; im Ergebnis auch Thiere, Dissertation, S. 233 ff, der allerdings bei der Bezeichnung „Partei kraft Amtes" bleibt.
4 Brenner
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1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA
Davon zu unterscheiden ist allerdings auch hier die Frage, welche Interessen und Belange im Ehenichtigkeitsverfahren durchgesetzt bzw. berührt werden. Die hier im Ansatz vertretene Ansicht von der rein prozessualen Stellung der Staatsanwaltschaft verweist darauf, daß es allein um die Bewährung eines Rechtsinstituts im öffentlichen Interesse gehe 145 . Wie oben dargelegt, schließt dies jedoch nicht aus, daß im Einzelfall durchaus private Belange berührt sind. Die Besonderheit liegt jedoch darin, daß sie nicht um ihrer selbst willen geschützt und verwirklicht werden.
I I . Entmündigungssachen 1. Der im öffentlichen Interesse verfolgte Schutz des zu Entmündigenden Das Wesen des Entmündigungsverfahrens verdeutlicht sich zunächst am materiellen Recht. Es dient i m Fall der Geisteskrankheit dem Schutz des zu Entmündigenden vor nachteiligen Folgen seiner eigenen
Handlungen146.
D a b e i geht der Schutz des nach § 104 Ziffer 3 B G B Geschäftsunfähigen, dessen Willenserklärung nach § 105 A b s . 1 B G B nichtig ist, dem Verkehrsschutz, d. h. dem Schutz der A l l g e m e i n h e i t , v o r 1 4 7 . Ä h n l i c h stellt sich die Situation bei einem wegen Geistesschwäche E n t m ü n d i g t e n dar, dessen W i l lenserklärungen grundsätzlich schwebend unwirksam sind; §§ 106 ff B G B . A u c h diese Regelung dient dem Schutz des Betroffenen, nicht aber - jedenfalls nicht primär - dem seiner Familie oder der A l l g e m e i n h e i t 1 4 8 . Lediglich im Rahmen der Entmündigung wegen Verschwendung ( § 6 Abs. 1 Ziffer 2 BGB) sind die Interessen der Familie, die gegen die Gefahr des „Notstandes" geschützt werden soll 1 4 9 , ausdrücklich berücksichtigt und im Fall der Entmündigung wegen Trunk- oder Rauschgiftsucht die Interessen anderer, d. h. der Allgemeinheit (§ 6 Abs. 1 Ziffer 3 BGB). Geschützt werden soll beispielsweise die persönliche Sicherheit Dritter und deren Eigentum und Vermögen 150 . Ein anderer Gesichtspunkt ist die Einsparung von Sozialfürsorge 151. I m Bereich des § 6 B G B , der die Entmündigungsgründe aufzählt, hat der zu Entmündigende keine Verfügungsmacht über seine Geschäftsfähigkeit oder 145
Jauernig, JuS 1971, 329 ff (331 f); derselbe, Studienbuch, § 1 I I 2 (S. 2). Bülow, AcP 150 (1949) 289 ff (293, 299); Koch, S. 113; Gitter in Münchener Kommentar, § 6 Rdn. 3; Larenz, Allgemeiner Teil, § 6 I I I 3 (S. 97) m.w.N. 147 Vgl. Larenz, Allgemeiner Teil, § 6 I I I c (S. 101) zu Fn. 1; R G Z 120,170 ff (174). 148 Vgl. Gitter in Münchener Kommentar, § 6 Rdn. 3. 149 Es soll beispielsweise verhindert werden, daß jemand sein Vermögen verschleudert, ohne seinen Unterhaltsverpflichtungen der Familie gegenüber nachzukommen; vgl. Gitter in Münchener Kommentar, § 6 Rdn. 29. 150 Vgl. RGRK-Krüger-Nieland, § 6 Rdn. 43. 151 Etwa für den Fall, daß der Süchtige aus öffentlichen Zuwendungen (ζ. B. nach dem Bundesozialhilfegesetz) Mittel empfängt und sie zur Anschaffung von Alkohol und Rauschmitteln verwendet; vgl. RGRK-Krüger-Nieland, § 6 Rdn. 42. 146
C. Die gewahrten Interessen
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Geschäftsunfähigkeit. Die Geschäftsunfähigkeit und die beschränkte Geschäftsfähigkeit knüpft das Gesetz vielmehr an einen staatlichen A k t , den Ausspruch der Entmündigung. Obwohl materiell eine Angelegenheit der freiwilligen Gerichtsbarkeit, ist das Verfahren der streitigen Gerichtsbarkeit zugewiesen. Aufgrund des einschneidenden Aktes der Entmündigung für den Bürger 152 soll es dabei einerseits Ziel der Verfahrensregeln 153 sein, daß niemand zu Unrecht entmündigt wird. Andererseits soll zum Schutz des Bürgers bei Geisteskrankheit und -schwäche die Entmündigung ausgesprochen werden. Das Entmündigungsverfahren ist deshalb gegenüber dem herkömmlichen Zivilprozeß als „Offizialverfahren" ausgestaltet, nach dessen Einleitung das Verfahren der sog. amtlichen Wahrheitsfindung dient 1 5 4 . Der Sache nach handelt es sich um ein sog. „Statusverfahren" 155 , in dem es ohne Rücksicht auf einen möglichen Streit um die Herbeiführung eines rechtsgestaltenden Staatsaktes geht, nämlich den Ausspruch der Entmündigung. Dabei steht die Feststellung des richtigen Status und die allgemeine Gültigkeit des Status gegenüber jedermann im Vordergrund 156 . Das mit dem Entmündigungsverfahren verfolgte öffentliche Interesse liegt auf dieser Grundlage im Schutz des zu Entmündigenden vor sich selbst. Der Staat - und damit die Allgemeinheit - wird fürsorgerisch tätig. Zu dieser Fürsorge ist er letztlich aus dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet. Soweit dem Bürger die uneingeschränkte Fähigkeit zum Abschluß von Rechtsgeschäften fehlt, hat die Allgemeinheit helfend einzugreifen 157 . Die Entscheidung über die mit dem Entmündigungsverfahren bezweckte Hilfe kann nicht dem Kranken selbst, nicht einmal den privaten Antragsberechtigten überlassen bleiben. Da das Verfahren zum Bestandteil des Zivilprozeßrechts gemacht wurde, bedurfte es ebenso wie im Fall der Ehenichtigkeitssachen der Sicherung, daß ein das Verfahren einleitender Antrag, wo nötig, auch gestellt wird. Der Gesetzgeber hat sich auch hier - neben dem Ehegatten, einem Pfleger oder einem Verwandten - für die Staatsanwaltschaft entschieden. Der im öffentlichen Interesse verfolgte Schutz des zu Entmündigenden, aber auch das besondere Interesse an der Feststellung der materiellen Wahrheit verdeutlichen sich insbesondere bei der Regelung der Rechtsmittelbefugnis. Die Staatsanwaltschaft kann die Anfechtungsklage gegen den die Entmündigung aussprechenden Besehluß erheben, ohne daß es darauf ankommt, ob sie den Entmündigungsantrag selbst gestellt 152 Rechtlich hebt die Entmündigung mit konstitutiver Wirkung die Geschäftsfähigkeit auf, beschränkt sie oder verhindert ihren Eintritt. Hinzu treten die weitreichenden tatsächlichen Folgen, wie etwa die Einweisung in entsprechende Anstalten. 153 Etwa § 652 ZPO (Amtsermittlung), § 654 ZPO (persönliche Vernehmung). 154 Vgl. dazu oben 1. Abschnitt, 1. Teil, B . I I . l . 155 Vgl. Boehmer, Grundlagen, S. 126; Thiere, Dissertation, S. 132, 201. 156 Vgl. Hahn, Materialien, S. 407, 764, mit Votum des Abgeordneten Zinn; Boehmer, Grundlagen, S. 126; Lent, ZZP 66 (1953) 267 ff (275). 157 Lent, ZZP 66 (1953) 267 ff (275); Münzet, ZZP 66 (1953) 334 ff (336).
4*
52
1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA
hat 1 5 8 . Dabei kommt es nicht auf den Willen des zu Entmündigenden oder der übrigen Antragsbefugten des § 646 Abs. 1 ZPO an. Dem Entmündigten soll vielmehr ein seinen wahren Status sicherndes Urteilsverfahren gewährt werden, selbst wenn er den Entmündigungsbeschluß hinnehmen will 1 5 9 . Es handelt sich anders ausgedrückt um eine staatliche Garantie der Geschäftsfähigkeit und der ungehinderten Teilnahme am Rechtsverkehr. Folgerichtig bleiben die Verfahrenseinleitung und die Rechtsmittelbefugnis nicht dem einzelnen überlassen. 2. Der Schutz subjektiver Rechte und privater Belange D i e materiellrechtliche Regelung u n d die darauf beruhende Ausgestaltung des Entmündigungsverfahrens verdeutlichen, daß es nicht u m streitige, subj e k t i v e Rechte der privaten Verfahrensbeteiligten geht. Jedoch ist nicht zu verkennen, daß auch die privaten Antrags- und Klageberechtigten ein i n der Regel gutzuheißendes Interesse an der E n t m ü n d i g u n g haben. Dies verdeutlicht sich an folgendem Beispielsfall 1 6 0 : Beispielsfall
4:
Eine Ärztin des Gesundheitsamtes trug der Staatsanwaltschaft folgenden Sachverhalt vor, den sie bei einem Hausbesuch wahrgenommen hatte: Bei dem knapp 26-jährigen A , der mit weiteren Geschwistern bei seinen Eltern lebt, hat sich seit etwa 4 bis 5 Jahren eine sog. „paranoide Schizophrenie" entwickelt. Er geht seit Jahren keiner Arbeit mehr nach und weigert sich, einen Sozialhilfeantrag zu stellen und eine Krankenversicherung abzuschließen. Diverse ärztliche Rechnungen kann er nicht bezahlen. Er ist unfähig, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Seine Eltern verfügen selbst nur über ein geringes Einkommen. A sitzt fast ausschließlich in der Küche seiner Eltern, blickt aus dem Fenster und hat jeglichen Kontakt mit seiner Umwelt verloren. Er erkennt seine Mutter nicht mehr, ruft nach nicht vorhandenen Personen und unterhält sich mit Engeln. Wiederholt hat er Familienmitglieder tätlich angegriffen. Er ist ständig gereizt und schreit häufig. D i e neben dem Schutzbedürfnis des A bestehenden menschlichen u n d finanziellen Belange der antragsberechtigten E l t e r n liegen auf der H a n d . A u c h hier bleibt allerdings zu beachten, daß es sich - ungeachtet, wer das Verfahren einleitet - nicht u m einen Rechtsstreit handelt, i n dem private Belange oder gar subjektive Rechte verfolgt werden. E i n „ R e c h t " auf E n t m ü n d i g u n g besteht weder gegenüber dem zu Entmündigenden noch gegenüber dem G e r i c h t 1 6 1 . Das Individualinteresse ist nicht u m seiner selbst willen geschützt,
158 Zudem kann sie unabhängig vom Willen des zu Entmündigenden die Wiederaufhebung der Entmündigung beantragen und die sog. Wiederaufhebungsklage erheben; vgl. oben 1. Abschnitt, 1. Teil, B.II.2.a. 159 Diesen Gesichtspunkt hebt Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, S. 119 f, hervor. 160 Der Sachverhalt lag der Staatsanwaltschaft Bonn im Jahre 1983 zur Entscheidung vor. Sie stellte den Antrag auf Entmündigung, dem entsprochen wurde.
C. Die gewahrten Interessen
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wie dies im herkömmlichen Zivilprozeß der Fall ist. Die Besonderheit liegt darin, daß die privaten Belange sog. „Reflexe" oder Ausstrahlungen des Entmündigungsverfahrens sind. Die den privaten Personen zugewiesene Antragsbefugnis dient nicht dazu, private Interessen durchzusetzen. Zutreffend wird darauf verwiesen, daß sich das private Antrags- und Klagerecht lediglich als „Anregung" oder „Anstoß" an das Gericht darstellt 162 , damit dieses eine Art „Fürsorgepflicht" erfüllen kann 1 6 3 . Hier verdeutlicht sich das Wesen des Entmündigungsverfahrens als Angelegenheit der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Sowohl das zur Entmündigung führende Beschlußverfahren als auch die Anfechtungsklage 164 sind nur „künstlich" in das Schema eines Zivilprozesses hineingepreßt 165 . Zur Einleitung des dem Schutz des zu Entmündigenden dienenden Verfahrens bedarf es eines Antrags, da das Gericht nicht von sich aus tätig werden kann. Die den privaten Antragsberechtigten zugewiesene Einleitungsbefugnis dient dazu, diesem Erfordernis Genüge zu tun. 3. Die Stellung der Staatsanwaltschaft
Hinsichtlich der Stellung der Staatsanwaltschaft in Entmündigungsverfahren kann auf die Ausführungen zum Ehenichtigkeitsverfahren 166 verwiesen werden. Wie dargestellt, handelt es sich bei den Entmündigungssachen um eine Angelegenheit der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Subjektive Rechte werden demgegenüber nicht verfolgt. Es geht um den Schutz des zu Entmündigenden. Die Antrags- und Klagebefugnis der Staatsanwaltschaft dient der Sicherung der Verfahrenseinleitung. Ihr kommt insoweit auch hier allein eine prozessuale Stellung zu: Sie gibt den Anstoß an das Gericht, die Entmündigung auszusprechen und damit den Schutz des Geisteskranken oder -schwachen zu verwirklichen.
161 Darauf verweisen zutreffend Lent, ZZP 66 (1953) 267 ff (275); Nikisch, Zivilprozeßrecht, § 14111 (S. 574). 162 Lent, ZZP 66 (1953) 267 ff (275); Nikisch, Zivilprozeßrecht, § 141 I I I 2 (S. 576). 163 Vgl. oben 1. Abschnitt, 1. Teil, C . I I . l . 164 Gleiches gilt für den Wiederaufhebungsantrag und die Wiederaufhebungsklage. 165 Der Entwurf der CPO sah sogar eine Klage auf Entmündigung vor dem Landgericht vor; vgl. Hahn, Materialien, S. 72. Schon in den Beratungen wandte sich ζ. B. der Abgeordnete Struckmann gegen diese Regelung. Das Verfahren sei „unnatürlich, da es einen Prozeß, oft zwischen den nächsten Angehörigen fingiere"; vgl. Hahn, a.a.O., S. 770; Kritik an der heutigen gesetzlichen Regelung etwa bei Blomeyer, Zivilprozeßrecht, § 1211 2 (S. 718 f); Bericht 1961, S. 327, m.w.N. 166 Vgl. dazu oben 1. Abschnitt, 1. Teil, C.I.3.
54
1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA
D . Praktische Erfahrungen 167 I. Umfang staatsanwaltschaftlicher Tätigkeit in Zivilrechtssachen Die Bedeutung von verfahrenseinleitenden Anträgen der Staatsanwaltschaft in Zivilrechtssachen verdeutlicht sich an dem Aufkommen von Zivilsachen, in denen eine Mitwirkung im weitesten Sinne in Betracht kommt. Als Beispiel mögen die entsprechenden Zahlen für den Bereich der Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Bonn dienen. Die gesamten registrierten Eingänge in Zivilsachen beliefen sich hier für das Jahr 1980 auf 261, für das Jahr 1981 auf 283 und für das Jahr 1982 auf 198 Vorgänge 168 . Die Verteilung auf die einzelnen Verfahrensarten stellt sich wie folgt dar: Ehenichtigkeitssachen 1980: 1981: 1982:
2 3 2
Entmündigungssachen 1980 1981 1982
148 145 98
Wiederbemündigungssachen 1980: 1981: 1982:
22 22 20
Verschollenheitssachen 1980: 1981: 1982:
83 107 69
Sonstige Vorgänge, ohne eine Mitwirkungsbefugnis der Staatsanwaltschaft 169 1980: 1981: 1982: 167 Der Verf. hatte Gelegenheit, Einblick in die Tätigkeit des zuständigen Dezernenten bei der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Bonn zu nehmen. Soweit nicht anders vermerkt, beziehen sich die Ausführungen auf die dort erlangten Informationen.
D. Praktische Erfahrungen
55
Im Bereich der streitigen Gerichtsbarkeit (Ehenichtigkeits- und Entmündigungssachen) lagen somit 1980 insgesamt 172 Vorgänge vor, bei denen eine Befugnis der Staatsanwältschaft zur Einleitung des Verfahrens vorgesehen ist. Für das Jahr 1981 belief sich die Zahl auf 161 und für das Jahr 1982 auf 120. Die geringe Zahl der Ehenichtigkeitssachen entspricht dabei i. ü. der auf das gesamte Bundesgebiet einschließlich West-Berlin bezogenen Situation. Das Aufkommen von Ehenichtigkeitsklagen ist im Laufe der Jahre zurückgegangen. Fälle der Doppelehe sind vor allem in den Kriegs- und Nachkriegswirren praktisch bedeutsam geworden 170 . Dementsprechend war die Zahl der Nichtigkeitsklagen nach dem Zweiten Weltkrieg angewachsen und erreichte in den Jahren 1949 und 1950 mit über 800 Nichtigkeitsklagen ihren Höhepunkt 1 7 1 . Seitdem ist sie kontinuierlich zurückgegangen. In den letzten Jahren beliefen sich die Zahlen auf 37 (1975), 54 (1980), 45 (1981) und 54 (1982) 172 . In knapp der Hälfte der Fälle wird die Klage von der Staatsanwaltschaft erhoben 1 7 3 . Dabei ist bemerkenswert, daß auch die heute noch bekannt werdenden Fälle von Ehenichtigkeitsklagen zum Teil auf die Zustände in den Kriegs- und Nachkriegsjahren zurückzuführen sind. Dies verdeutlicht sich an folgendem, durchaus typischen Vorgang, mit dem sich die Staatsanwaltschaft Bonn im Jahr 1983 zu befassen hatte: 1 7 4 Beispielsfall 5: Seitens der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte wurde der Staatsanwaltschaft Bonn angetragen, Nichtigkeitsklage wegen bigamischer Ehe zu erheben. Der Hintergrund des Verfahrens war, daß etwa zwei Jahre zuvor ein Deutscher in Brasilien verstorben war. Dieser hatte 1936 eine erste Ehe in Deutschland geschlossen, 1956 eine weitere. Nunmehr beantragten beide Ehefrauen eine Hinterbliebenenrente. Da - anders als bis zum Erlaß des EheG von 1938 - nicht mehr jeder rechtlich Interessierte die Klage erheben kann, blieb der Bundesversicherungsanstalt nur der Weg zur Staatsanwaltschaft, die Klage erhob. Allerdings ist hier zweifelhaft, ob noch der Schutz des Instituts Ehe oder aber die Klärung rentenrechtlicher Folgen den eigentlichen Anlaß zur Klagerhebung darstellt 175 . 168 f ü r die folgenden Jahre bestehen keine wesentlichen Abweichungen. 169 Hierbei handelt es sich um Mitteilungen von Zivilverfahren. Eine solche Mitteilung ist beispielsweise bei Verfahren zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung nach § 807 ZPO sowie in einigen anderen Zwangsvollstreckungssachen vorgesehen; vgl. i.e. „Mitteilungen in Zivilsachen" i.d.F. vom 23.6.1976, JMB1. N W 1976, 158, unter Ziffer XI1. 170 Vgl. Ramm, JZ 1963, 81 ff (81); Beitzke, M D R 1952, 388 ff (388 f). 171 Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland, 1984, S. 79. 172 Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland, 1984, S. 79. 173 Müller-Gindullis in Münchener Kommentar, § 24 EheG Rdn. 15. 174 Vgl. auch die Entscheidung des O L G München, FamRZ 1980, 365 ff, die sich mit einem ähnlich gelagerten Sachverhalt befaßt. 175 Vgl. dazu noch im folgenden 1. Abschnitt, 1. Teil, D.III.b.cc.
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1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA
Hinsichtlich der zur Entscheidung vorliegenden Fälle in den Jahren 1980 bis 1982 wurden seitens der Staatsanwaltschaft Bonn nur in beschränktem Umfang Verfahren eingeleitet. Im einzelnen ergibt sich folgendes Bild: 1. Umfang der Verfahrenseinleitung in Ehenichtigkeitssachen
Von den 1980 bis 1982 insgesamt 7 Ehenichtigkeitssachen oblag es der Staatsanwaltschaft in 5 Fällen, über die Erhebung der Nichtigkeitsklage zu entscheiden. In den beiden verbleibenden Fällen erhielt sie lediglich eine Mitteilung über eine Ehenichtigkeitsklage durch einen privaten Antragsberechtigten. Von der nach § 634 ZPO bestehenden Befugnis, an diesen Verfahren mitzuwirken, machte sie keinen Gebrauch. Die Staatsanwaltschaft klagte in 3 Fällen. 2. Umfang der Verfahrenseinleitung in Entmündigungssachen
In den Jahren 1980 bis 1982 lagen insgesamt 391 Eingänge 176 in Entmündigungssachen vor. Davon wurde in 171 Fällen von den privaten Antragsberechtigten ein Verfahren eingeleitet. In der Mehrzahl der Fälle geschah dies durch die Eltern des zu Entmündigenden. Die Staatsanwaltschaft erhielt hier nach § 652 S. 2 ZPO Mitteilung von der Einleitung des Verfahrens durch das angerufene Gericht, ohne daß sie selbst hinsichtlich der Einleitung des Verfahrens tätig wurde. Darüber hinaus machte die Staatsanwaltschaft in diesen Fällen in der Regel von ihrer Mitwirkungsbefugnis nach § 652 S. 1 ZPO keinen Gebrauch 177 . Sie stellte 1980 und 1981 lediglich in jeweils einem und 1982 in drei Fällen neben den privaten Antragsberechtigten den Antrag auf Entmündigung. Von den verbleibenden 221 Eingängen oblag es der Staatsanwaltschaft nur in insgesamt 150 Fällen, über die Verfahrenseinleitung zu entscheiden. In den übrigen 71 Vorgängen bestand keine Veranlassung, den Antrag auf Entmündigung zu stellen oder davon abzusehen. Insoweit handelte es sich um die Mitteilung einer Klinik über die Aufnahme, die Entlassung, die Verlegung oder den Tod eines Patienten, Fälle, in denen der Vorgang von einer anderen Staatsanwaltschaft übernommen wurde oder die betreffende Person vor der Entscheidung über die Verfahrenseinleitung verstorben war. In den verbliebenen 150 Fällen stellte die Staatsanwaltschaft in insgesamt 120 Sachen den Antrag auf Entmündigung und nahm ihn in 30 Verfahren nach Änderung des Kraftkheitsbildes wieder zurück. Der Befugnis, den Antrag auf Wiederaufhebung der Entmündigung zu stellen sowie die Anfechtungsklage oder die Wiederaufhebungsklage zu erheben, kommt in den untersuchten Jahren keine praktische Bedeutung zu. Bei den 62 176
Der Übersichtlichkeit halber wird die Summe der entsprechenden Fälle für die Jahre 1980 bis 1982 angeführt. 177 Vgl. dazu oben 1. Abschnitt, 1. Teil, B.II.2.a.
D. Praktische Erfahrungen
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Wiederaufhebungssachen stellten ausnahmslos der Entmündigte oder dessen Vormund den Antrag auf Wiederaufhebung oder es wurde die Wiederaufhebungsklage von dem Vormund erhoben. Die Staatsanwaltschaft trat hier gemäß §§ 679 Abs. 4, 666 Abs. 1 ZPO lediglich als Beklagte in Erscheinung. Insgesamt läßt sich festhalten, daß der Verfahrenseinleitung durch die Staatsanwaltschaft in Ehenichtigkeits- und Entmündigungssachen nach wie vor praktische Bedeutung zukommt, obwohl sie sich zahlenmäßig nur gering niederschlägt. Hinsichtlich der übrigen Mitwirkungsbefugnisse bleibt die tatsächliche Ausübung hinter den rechtlichen Möglichkeiten zurück.
I I . Kenntnisnahme von Ehenichtigkeitsund Entmündigungssachen Kenntnis über die Ehenichtigkeitssachen, in denen die Staatswaltschaft Bonn über die Verfahrenseinleitung zu entscheiden hatte, erhielt sie durchgehend von anderen Behörden. Kennzeichnend ist etwa der Fall, daß die bigamischen Ehepartner beim Standesamt die Anlegung eines Familienbuches beantragen und sich dabei herausstellt, daß ein Ehepartner im Zeitpunkt der zweiten Eheschließung noch verheiratet war. Hinzu kommen Vorgänge, die der Standesamtsaufsicht wiederum von anderen Behörden zugetragen werden. So wurde die Standesamtsaufsicht seitens der Polizei vom Bestehen einer Scheinehe 178 zwischen einem ausländischen Staatsangehörigen und einer Deutschen unterrichtet. In einem anderen Fall teilte ihr das Ausländeramt die Eheschließung einer Deutschen und eines Inders, der noch in erster Ehe verheiratet war, mit. In beiden Fällen übersandte die Standesamtsaufsicht den Vorgang der Staatsanwaltschaft Bonn zur weiteren Veranlassung.
Zu erwähnen bleibt der bereits geschilderte Fall, daß die beiden hinterbliebenen Ehefrauen eines verstorbenen bigamischen Ehepartners Hinterbliebenenrente beantragen und die Staatsanwaltschaft Kenntnis von seiten der Bundesversicherungsanstalt erhält 179 . Mitteilung von den Vorgängen, bei denen ein Entmündigungsverfahren noch nicht eingeleitet war, erhielt die Staatsanwaltschaft Bonn in der Mehrzahl der Fälle durch öffentliche Stellen, denen die Fürsorge für psychisch Kranke zufällt, sowie durch Kliniken, in denen sich die betreffenden Personen 178 Der Tatbestand einer „Scheinehe" - etwa um einen Aufenthalt in der Bundesrepublik zu ermöglichen - ist hingegen kein Nichtigkeitsgrund. Dementsprechend veranlaßte die Staatsanwaltschaft lediglich eine dahingehende Mitteilung an die Standesamtsaufsicht. Für den Nichtigkeitsgrund der „Scheinehe" und ein entsprechendes Klagerecht der Staatsanwaltschaft de lege ferenda spricht sich wohl Bosch, FamRZ 1982, 862 ff (872 f), aus. 179 Vgl. Beispielsfall 5, oben 1. Abschnitt, 1. Teil, D . I . l .
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1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA
befanden. Lediglich vereinzelt erhält die Staatsanwaltschaft von Seiten der Angehörigen Hinweise. Dies beruht zum einen auf der Unkenntnis darüber, daß die Staatsanwaltschaft zur Einleitung des Entmündigungsverfahrens berechtigt ist. Zum anderen ist die Scheu festzustellen, ein Entmündigungsverfahren selbst oder mittelbar durch die Staatsanwaltschaft einzuleiten. Mit Blick auf den oben geschilderten 4. Beispielsfall 180 verdeutlicht sich in tatsächlicher Hinsicht eine weitere Besonderheit des Entmündigungsverfahrens: Trotz der dort aufgezeigten krassen Umstände sahen die antragsberechtigten Eltern des A über Jahre hinweg davon ab, das Entmündigungsverfahren einzuleiten. Es zeigt sich eine verständliche Scheu, die von seiten der Staatsanwaltschaft wiederholt festgestellt wurde. Immer wieder kommt es etwa vor, daß sich Familienangehörige mit der Bitte an die Staatsanwaltschaft wenden, den Entmündigungsantrag zu stellen, ohne sich selbst in Erscheinung treten zu lassen. Die Staatsanwaltschaft sieht ihre Tätigkeit in diesen Fällen insbesondere auch als Hilfe für die Familienangehörigen an. Auch soweit seitens einer Klinik zu einer Entmündigung angeregt wird, sind regelmäßig antragsberechtigte Angehörige vorhanden. Die Fälle sind dadurch gekennzeichnet, daß sich Minderjährige aufgrund erheblicher psychischer Erkrankungen auf Dauer in einer Klinik oder Anstalt befinden. Vor Eintritt der Volljährigkeit wird in diesen Fällen zumeist seitens der Klinik eine Antragstellung bei der Staatsanwaltschaft angeregt, da die Angehörigen hier ebenfalls Zurückhaltung üben.
Von den übrigen Fällen erhielt die Staatsanwaltschaft seitens der Polizei oder anderer Abteilungen der Staatsanwaltschaft, die bei entsprechenden Anhaltspunkten die Vorgänge übersenden, Kenntnis. In Pflegschaftssachen wird seitens des zuständigen Gerichts der Vorgang zur Entscheidung über eine Antragstellung übersandt, wenn entsprechende Anzeichen für eine Geisteskrankheit oder -schwäche vorliegen.
I I I . Die Handhabung der Einleitungsbefugnisse, insbesondere die Ermessensfrage Im folgenden soll untersucht werden, inwieweit der Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Tätigkeit in Ehenichtigkeits- und Entmündigungssachen ein Ermessen zukommt und wie sie ein solches gegebenenfalls handhabt. Beides ist für die Frage des Nutzens und der Gefahren staatlicher Einflußnahme in den entsprechenden Verfahren aufschlußreich. Dabei soll neben der Untersuchung der in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Ansichten die praktische Handhabung - wiederum am Beispiel der Tätigkeit der Staatsanwaltschaft Bonn - berücksichtigt werden.
18
Vgl.
eiel
oben 1. Abschnitt, 1. Teil, C . I . .
D. Praktische Erfahrungen
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1. Ehenichtigkeitssachen a) Allgemeines A l l g e m e i n w i r d vertreten, daß die Staatsanwaltschaft in Ehenichtigkeitssachen nach pflichtgemäßem Ermessen über die Verfahrenseinleitung zu entscheiden h a b e 1 8 1 . Abweichend wurde in der Vergangenheit gegen diese heute allgemein vertretene Auffassung darauf verwiesen, daß eine Pflicht zur Erhebung der Nichtigkeitsklage bestehe 182 . Zudem wurde die Ansicht vertreten, daß der Legalitätsgrundsatz des § 152 StPO sinngemäß dann anzuwenden sei, wenn dies im öffentlichen Interesse erforderlich sei 183 . Zurecht haben sich diese abweichenden Ansichten nicht durchgesetzt. Nach dem Wortlaut des § 24 EheG „kann" die Staatsanwaltschaft neben den sonstigen Berechtigten die Ehenichtigkeitsklage erheben, sie „muß" es jedoch nicht. Zudem fehlt eine dem § 152 StPO entsprechende Vorschrift für die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft in Zivilsachen. Der Legalitätsgrundsatz ist für diesen Bereich gerade nicht ausgesprochen 184. B e i ihrer Entscheidung hat sich die Staatsanwaltschaft i n Anbetracht des Zwecks des Ehenichtigkeitsverfahrens grundsätzlich daran zu orientieren, ob die Nichtigerklärung zum Schutz des Instituts Ehe i m öffentlichen Interesse erforderlich i s t 1 8 5 . Soweit i n den Fällen der §§ 17, 18, 21 E h e G weitgehend Heilungsmöglichkeiten vorgesehen sind, k o m m t hier zum A u s d r u c k , daß das öffentliche Interesse am Schutz des Instituts Ehe weniger ausgeprägt ist als etwa i m Fall der bigamischen Ehe, w o - abgesehen von der engen Regelung des § 20 A b s . 2 E h e G 1 8 6 - jedenfalls v o m W o r t l a u t her keine Heilungsmöglichkeit vorgesehen i s t 1 8 7 . B e i der Ermessensausübung ist dieser U m s t a n d zu berücksichtigen 1 8 8 . N i c h t zuletzt deshalb hat fast ausschließlich der Nichtigkeitsgrund der Doppelehe, § 20 E h e G , praktische Bedeutung erlangt. Beispielsweise handelte es sich bei den 1980 bis 1984 bei der Staatsanwaltschaft
181 Vgl. Staudingerl Dietz, BGB, § 24 EheG Rdn. 16; Müller-Gindullis in Münchener Kommentar, § 24 EheG Rdn. 2; Beitzke, Familienrecht, § 11 I I I 1 (S. 57). 182 Ramm, JZ 1963, 81 ff (83). 183 Robrecht, JR 1952, 389 ff (390). 184 Müller-Gindullis in Münchener Kommentar, § 24 EheG Rdn. 2. 185 Vgl. Gernhuber, Familienrecht, § 13 I I 3 (S. 124). 186 § 20 Abs. 2 EheG wurde durch Ziffer 16 des Gesetzes über die Prozeßkostenhilfe vom 13.6.1980, BGBl. I S. 677, angefügt. Danach ist die Heilung einer vor Rechtskraft eines Scheidungs- oder Aufhebungsurteils geschlossenen Ehe ausgesprochen, wenn die Rechtskraft nachträglich eintritt; dazu und zur praktischen Bedeutung und Notwendigkeit der Regelung vgl. Beitzke, Familienrecht, § 10 I I 2 a (S. 53); PalandtlDiederichsen, § 20 EheG Anm. 4. 187 Zum umstrittenen Fall bei Auflösung der Erst-Ehe vgl. im folgenden 1. Abschnitt, 1. Teil, D.III.l.b.bb. 188 Beitzke, Familienrecht, § 11 I I I 1 (S. 57), verweist darauf, daß die Ausübung des staatsanwaltschaftlichen Klagerechts da fragwürdig sei, wo das EheG noch Heilungsmöglichkeiten vorsieht; ähnlich Gernhuber, Familienrecht, § 13 I I 4 (S. 124).
60
1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA
Bonn zur Entscheidung vorliegenden Fällen ausnahmslos um solche, die eine bigamische Ehe betrafen. b) Speziell: Ehenichtigkeitsklagen
wegen Doppelehe
Aufgrund der praktischen, rechtlichen und sittlichen Bedeutung der Nichtigkeitsklage wegen Doppelehe bedarf diese einer näheren Betrachtung. Insbesondere im Hinblick auf die Regelung.des § 23 EheG, die zur Folge hat, daß zunächst zwei wirksame Ehen bestehen, stellt sich die Frage, ob hier das Ermessen der Staatsanwaltschaft eingeschränkt ist. aa) Die Nichtigkeitsklage bei Bestehen von Erst- und Zweitehe Wenn im Fall einer Doppelehe beide Ehen nebeneinander bestehen, wirken diese mit allen ehelichen Rechten und Pflichten 189 . Hier wird allgemein die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft angenommen, die Nichtigkeitsklage zu erheben 190 . Im Hinblick auf die gestörte Eheordnung sei das ihr grundsätzlich zustehende Ermessen „auf Null geschrumpft" 191 . Entscheidend ist auf den Zweck des Ehenichtigkeitsverfahrens abzustellen. Durch Art. 6 Abs. 1 GG wird das Prinzip der Einehe geschützt 192 , welches auch in § 5 EheG seinen Ausdruck gefunden hat. Im Fall des § 20 EheG dient die Ehenichtigkeitsklage dazu, im Hinblick auf dieses Prinzip die gestörte Eheordnung wieder herzustellen. Bei einem Nebeneinander zweier wirksamer Ehen ist dies jedoch nur möglich, wenn die „vernichtbare" Ehe für nichtig erklärt wird. Zurecht wird deshalb grundsätzlich die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zur Klageerhebung angenommen, soweit Erst- und Zweitehe noch nebeneinander bestehen. Eine Ausnahme ließe sich allein für den Fall denken, daß die Nichtigkeitsklage der Staatsanwaltschaft als rechtsmißbräuchlich anzusehen wäre. Hier ließe sich schwerlich eine Verpflichtung zur Klageerhebung begründen. Die Frage verdeutlicht sich an einem illustrativen Beispielsfall, mit dem sich der Bundesgerichtshof im Jahre 1975 zu befassen hatte 193 :
189 Zu den erb- und familienrechtlichen Konsequenzen etwa Dölle, Familienrecht, § 23 V 3 (S. 285) m.w.N. 190 B G H Z 30, 140 ff (142); SteintJonas!Schlosser, ZPO, § 632 Rdn. 4; Baumbacht Lauterbacht Albers, ZPO, § 636 a Anm. 1; vgl. auch Dölle, Familienrecht, § 23 V 1, 2 (S. 284). 191 Vgl. Thiere, Dissertation, S. 225. 192 Dahingehend auch B G H FamRZ 1975, 332 ff; L G Frankfurt NJW 1976, 1096. 193 B G H FamRZ 1975, 332 ff, mit Anmerkung von Ruthe.
D. Praktische Erfahrungen
Beispielsfall
61
6:
Die Beklagten hatten in der Nachkriegszeit (1946) die Ehe geschlossen, aus der 1948 ein Sohn hervorgegangen ist. Zu dieser Zeit war M (der Ehemann) noch in erster Ehe mit F verheiratet, mit der er 1931 die Ehe geschlossen hatte. Von F lebte M seit 1937/1938 getrennt. Die Staatsanwaltschaft erhob erst nach rund 25-jähriger Kenntnis von der Doppelehe und nach 29-jährigem Bestehen der Zweitehe im Jahre 1973 die Ehenichtigkeitsklage 194 .
Die Beklagten erblickten in der Klageerhebung eine unzulässige Rechtsausübung, da sie mit einer solchen nicht mehr hätten rechnen müssen. Der B G H hob hingegen hervor, daß der reine Zeitablauf von nahezu 25 Jahren, in denen die Staatsanwaltschaft Kenntnis von der bigamischen Ehe hatte, nicht als unzulässige Rechtsausübung zu werten sei 195 . Dem B G H ist Recht zu geben, da die Zeit hier nicht alle Wunden heilt 1 9 6 : A n der durch das Bestehen zweier wirksamer Ehen eingetretenen Störung der Eheordnung hat auch der Zeitablauf nichts geändert. Die Störung kann bei Berücksichtigung des Art. 6 Abs. 1 GG nicht geduldet und nur durch Nichtigerklärung der bigamischen Ehe beseitigt werden. bb) Die Nichtigkeitsklage nach Auflösung der Erst-Ehe Neben dem aufgezeigten Fall ist jedoch auch eine andere Sachlage denkbar und praktisch bedeutsam 197 : Der Tatbestand einer Doppelehe entfällt nachträglich, weil der Ehepartner der ersten Ehe inzwischen verstorben ist oder aber die erst Ehe durch Scheidung oder Aufhebung aufgelöst wurde. Die Frage verdeutlicht sich an nachfolgenden Beispielen: Beispielsfall
7: 1 9 8
M und F schlossen 1964 vor dem Botschafter der Bundesrepublik in Beirut die Ehe. M war zu diesem Zeitpunkt noch in erster, 1962 geschlossener Ehe verheiratet. Diese erste Ehe wurde 1967 geschieden. Die zweite Ehe wird harmonisch geführt. Aus ihr sind zwei Kinder hervorgegangen.
194
Bereits 1949 wurde M unter anderem wegen Doppelehe zu 10 Monaten Gefängnis verurteilt. 195 Kritisch dazu Ruthe, Anm. zu B G H FamRZ 1975, 332 ff (334 f). 19 * So Henke, Grundriß, § 25 I V 2 c (S. 509) zu Fn. 6. 197 Diese Fälle waren gerade in der Kriegs- und Nachkriegszeit relevant, in der die Umstände eine längere Trennung der Ehepartner herbeigeführt hatten, ein Ehepartner erneut geheiratet hatte und die erste Ehe danach geschieden wurde; vgl. Beitzke, M D R 1952, 388 ff (389). Aus der Rspr. etwa die Fälle des SchlHOLG SchlHA 1953, 205; B G H FamRZ 1964, 418 ff. 198 Der Entscheidung L G Frankfurt, NJW 1976, 1096, nachgebildet.
62
1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA
Beispielsfall
8:m
Ein Sikh-Inder (I) Schloß im November 1982 in Indien die Ehe mit einer Deutschen (D). Zu dieser Zeit war I noch mit einer Inderin verheiratet. Diese Ehe wurde erst 1983 rechtswirksam geschieden. Hintergrund des Falles war, daß I bereits 1976 in West-Berlin Antrag auf politisches Asyl gestellt hatte, der abgelehnt wurde. Die D hatte ihrerseits bereits 1981 versucht, mit einem türkischen Staatsangehörigen die Ehe zu schließen, um diesem zu einer Aufenthaltsgenehmigung in der Bundesrepublik zu verhelfen. Der Versuch scheiterte daran, daß der Standesbeamte bereits die Bestellung des Aufgebots ablehnte 200 . Auch die Ehe zwischen I und D sollte dazu dienen, dem I den Aufenthalt in der Bundesrepublik zu ermöglichen. K a n n die Staatsanwaltschaft i n den Beispielsfällen noch „ i m öffentlichen Interesse" die Ehenichtigkeitsklage erheben, o b w o h l die Erst-Ehen aufgelöst sind? D i e i n Rede stehenden Fälle werden i m allgemeinen i m Zusammenhang m i t der Frage diskutiert, ob die Auflösung der Erst-Ehe die H e i l u n g der Zweitehe bewirkt. D i e Auffassungen hierzu sind kontrovers. Eine liberale M e i n u n g n i m m t die H e i l u n g der Zweitehe an, wenn sie nach Auflösung der Erst-Ehe fortgesetzt w i r d 2 0 1 . D e r Nichtigkeitsklage hält sie den E i n w a n d der unzulässigen Rechtsausübung entgegen 2 0 2 . E i n T e i l der L i t e r a t u r 2 0 3 u n d zunächst auch die Rechtsprechung 2 0 4 sind zwar dieser Auffassung entgegengetreten. Das m i t dem 7. Beispielsfall befaßte Landgericht F r a n k f u r t 2 0 5 führt jedoch überzeugend aus, daß - gemessen an A r t . 6 A b s . 1 G G - das öffentliche Interesse an der Auflösung der bigamischen Ehe dann hinter dem Schutz dieser Ehe zurücktreten kann, wenn die erste Ehe aufgelöst ist u n d die zweite, aus der i m entschiedenen Fall K i n d e r hervorgegangen waren, harmonisch verläuft. 199 Dieser Sachverhalt entspricht (verkürzt) einem Fall, mit dem sich die Staatsanwaltschaft Bonn im Jahre 1984 zu befassen hatte. 200 Standesbeamte weigern sich weithin, bei einem solchen Tatbestand mitzuwirken, wenn die Nichternstlichkeit des Ehewillens erkannt wird; vgl. Bosch, FamRZ 1982, 862 ff (872), m.w.N. 201 Gernhuber, Familienrecht, § 13 I I 4 (S. 125); Stein!JonasISchlosser, ZPO, § 632 Rdn. 2; ausführlich m.w.N. Beitzke, M D R 1952, 391 ff; ähnlich Boehmer, NJW 1959, 2185 ff, der eine Nichtigkeitsklage dann für ausgeschlossen hält, wenn die Erst-Ehe nicht mehr hergestellt werden kann. Nach § 1317 Abs. 1 des Entwurfs des 2. EheRG soll die Nichtigerklärung nur solange erfolgen können, wie „die frühere Ehe noch besteht"; vgl. Bosch, FamRZ 1982, 862 ff (873). 202 Nach Boehmer, NJW 1959, 2185 ff (2189), soll allerdings das Klagerecht der Staatsanwaltschaft unberührt bleiben. 203 Ramm, JZ 1963, 81 ff (83); Dölle, Familienrecht, § 22 I 3 b (S. 270); Baumbach! Lauterbach!Albers, ZPO, § 636 a Anm. 1. 204 SchlHOLG SchlHA 1953, 205 ff; B G H FamRZ 1962, 299 ff; 1964, 418 ff; O L G München, FamRZ 1980, 565 ff; O L G Karlsruhe, Die Justiz 1985, 296 ff; offengelassen allerdings von B G H FamRZ 1975, 332 ff. 205 L G Frankfurt NJW 1976, 1096; ablehnende Kritik bei Müller-Gindullis in Münchener Kommentar, § 24 EheG Rdn. 13, wo die Entscheidung als „unhaltbar" bezeichnet wird; vgl. auch O L G Karlsruhe, Die Justiz 1985, 296 ff.
D. Praktische Erfahrungen
63
Auch ein Allgemeininteresse darf nicht um jeden Preis durchgesetzt werden. Zudem lassen sich angesichts dessen, daß die bigamischen Ehepartner ohnehin sofort erneut heiraten könnten 206 , kaum Gesichtspunkte für die Vernichtung der Ehe anführen. Die Nichtigerklärung liefe auf eine „feierliche öffentliche Feststellung" hinaus, daß die Ehe zum Zeitpunkt ihres Abschlusses unzulässig gewesen sei 207 . Verdeutlicht man sich demgegenüber den 8. Beispielsfall - der Heirat eines Inders mit einer Deutschen - , so wird deutlich, daß im Einzelfall das Interesse an der Vernichtung der bigamischen Ehe überwiegen kann, und zwar auch wenn die Erst-Ehe aufgelöst ist 2 0 8 . Insoweit ist bemerkenswert, daß bei der Staatsanwaltschaft Bonn eine flexible Handhabung festgestellt werden konnte. Im 8. Beispielsfall erhob sie zu Recht die Nichtigkeitsklage, da kein Interesse am Bestand der vernichtbaren Ehe erkennbar war. In einem dem 7. Beispielsfall entsprechenden Sachverhalt erhob sie zwar auch die Ehenichtigkeitsklage. In einer schriftlichen Stellungnahme gab sie danach aber - unter Hinweis auf die Entscheidung des L G Frankfurt - zu bedenken, daß die Klage u.U. wegen Art. 6 GG abzuweisen sei. In einem weiteren vergleichbaren Fall sah die Staatsanwaltschaft von der Klageerhebung ab, wobei darauf abgestellt wurde, daß die - mittlerweile geschiedene - Ehe bereits seit langem zerrüttet war und der bigamischen Ehe drei Kinder entstammten.
Nach alledem wird man anerkennen müssen, daß die privaten Belange der (bigamischen) Eheleute und der Schutz der wirksamen, wenn auch vernichtbaren Ehe gegenüber dem Interesse an der Nichtigerklärung überwiegen können. Die Nichtigkeitsklage der Staatsanwaltschaft ist dann unbegründet 209 . Dies entspricht dem mit der Ehenichtigkeitsklage verfolgten Schutz des Instituts Ehe, der gegebenenfalls für die Zweitehe spricht. Die vom Landgericht Frankfurt 210 an Art. 6 Abs. 1 orientierte Abwägung stellt eine flexible Anwendung des § 20 Abs. 1 EheG dar 2 1 1 . Sie läßt einerseits - wie etwa im 8. Beispielsfall - die Verteidigung des Instituts „Ehe" zu. Andererseits ermöglicht sie den Schutz einer an sich vernichtbaren, gleichwohl aber intakten Ehe sowie 206 Stein!Jonas/Schlosser, ZPO, § 632 Rdn. 2; ebenso auch Beitzke, Familienrecht, § 11 I I I 2 a (S. 58 f); ZöllerlPhilippi, ZPO, § 632 Rdn. 4. 207 So Beitzke, M D R 1952, 388 ff (391); zustimmend Boehmer, NJW 1959, 2185 ff. 208 Die vom Entwurf des 2. EheRG vorgesehene Lösung, die Nichtigerklärung nur solange zuzulassen, wie die Erst-Ehe noch besteht, erscheint demgegenüber zu unflexibel; vgl. auch Bosch, FamRZ 1982, 862 ff (873). 209 Gleiches hätte in diesem Fall für die Klage eines privaten Antragsberechtigten, etwa des ersten Ehepartners zu gelten. 210 L G Frankfurt, NJW 1976, 1096. 211 Der Nachteil des Wegs über den Einwand der unzulässigen Rechtsausübung ist evident: Die verschiedenen Klagerechte folgen verschiedenen Grundsätzen; vgl. etwa Boehmer, NJW 1959, 2185 ff (2189), der das Klagerecht der Staatsanwaltschaft unberührt läßt, sowie B G H Z 30, 140 ff, und 37, 51 ff, wo dem bigamischen Ehepartner der Einwand entgegengehalten wird, weil er die Vernichtung der Ehe nur wünscht, um eine weitere Ehe einzugehen, das Klagerecht der Staatsanwaltschaft aber offenbar nicht als betroffen angesehen wird.
1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA
64
die Berücksichtigung der privaten Belange. Letztere bilden zwar nicht den G r u n d des staatsanwaltschaftlichen Klagerechts, u n d die Nichtigkeitsklage der Staatsanwaltschaft bezweckt i m öffentlichen Interesse den Schutz des Instituts E h e 2 1 2 . Indessen kann aber auch i n der Beseitigung einer bigamischen Ehe kein Z i e l erblickt werden, welches ohne Rücksicht auf die Gatten durchgesetzt werden m u ß 2 1 3 . Das Bedürfnis des Schutzes einer bigamischen Ehe - sowohl im öffentlichen, als auch im privaten Interesse - verdeutlicht sich wiederum an dem vom L G Frankfurt entschiedenen Fall. Die bigamische Ehe hatte bei Erhebung der Klage bereits über zehn Jahre bestanden und wurde intakt geführt. Darüber hinaus waren aus dieser Ehe zwei Kinder hervorgegangen. Die erste Ehe war indessen seit nahezu zehn Jahren geschieden. Es wird deutlich, daß eine mit § 20 EheG verfolgte Ordnungsfunktion angesichts der Ehe und Familie entgegengebrachten Bedeutung zurückzutreten hat 2 1 4 . Für die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft bedeutet dies, daß sie, soweit i m Fall einer Doppelehe die erste Ehe aufgelöst ist, nicht i n j e d e m Fall die Ehenichtigkeitsklage zu erheben braucht. I h r steht das ihr gesetzlich gewährte Ermessen zu. Regelmäßig ist es dabei sachgerecht, von der Klage abzusehen, wenn die Erst-Ehe aufgelöst ist u n d die Zweitehe fortgesetzt wird. D i e A u f l ö sung der Erst-Ehe setzt eben die Intensität der Störung der Eheordnung h e r a b 2 1 5 , u n d die Fortsetzung der Zweitehe begründet deren Schutz durch A r t . 6 Abs. 1 G G . Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob eine Klage der Staatsanwaltschaft als unzulässig oder unbegründet abzuweisen ist, wenn die Abwägung tatsächlich zugunsten der bigamischen Ehe ausfällt 216 . Zu denken wäre etwa daran, daß der Klage das Rechtsschutzbedürfnis fehlt, da sie keine „Interessenförderung" bewirkt 217 , oder daß die Klage wegen Rechtsmißbrauchs unzulässig wäre. Beides wird jedoch der rein prozessualen Stellung der Staatsanwaltschaft in Ehenichtigkeitssachen nicht gerecht. Sie gibt allein den Anstoß an das Gericht, im öffentlichen Interesse über den Bestand einer Ehe zu entscheiden 218 . Nimmt die Staatsanwaltschaft - aber auch der private Klageberechtigte - im Einzelfall zu Unrecht einen Nichtigkeitsgrund an, so führt dies aufgrund dieser Gestaltung nicht zur Unzulässigkeit der Klage. Zu entscheiden ist darüber, ob die sach212
Hier: der Einehe; vgl. i.e. oben 1. Abschnitt, 1. Teil, C . I . l . Zutreffend Gernhuber, Familienrecht, § 13 I I 2, 3, 4 (S. 124). 214 Die reine Ordnungsfunktion heben demgegenüber etwa Ramm, JZ 1963, 81 ff (83), und Müller-Gindullis in Münchener Kommentar, § 24 EheG Rdn. 10, hervor. 215 Gernhuber, Familienrecht, § 13 I I I 2 (S. 126 f). 216 Die Äußerungen in Lit. und Rspr. sind unklar: L G Frankfurt, NJW 1976, 1096, führt i. E. aus, daß dem „Anspruch der Staatsanwaltschaft auf Nichtigerklärung" Art. 6 GG entgegenstehe; im Anschluß daran spricht Palandt/Diederichsen, BGB, § 24 EheG Anm. 2, von der Unzulässigkeit der Klage; ebenso wohl O L G München, FamRZ 1980, 565 ff (566); dahingehend auch Beitzke, Familienrecht, § 11 I I I 2 a (S. 58); derselbe, M D R 1952, 388 ff (390); Boehmer, NJW 1959, 2185 ff. 217 Zum fehlenden Rechtsschutzbedürfnis in diesen Fällen nur Zeiss, Zivilprozeßrecht, § 43 I V (S. 115 ff) m.w.N. 218 Vgl. dazu im einzelnen oben 1. Abschnitt, 1. Teil, C.I.3. 213
D. Praktische Erfahrungen
65
liehen Voraussetzungen der Nichtigkeitsklage vorliegen. Soweit kein Nichtigkeitsgrund eingreift, ist die Klage als unbegründet abzuweisen 219 .
cc) Die Nichtigkeitsklage nach Auflösung der Zweitehe Zu erwähnen bleibt der Fall, daß die bigamische Ehe aufgelöst ist. Die Klagebefugnis ist in diesem Fall eingeschränkt: Nach § 24 Abs. 1 S. 2 EheG kann nur noch die Staatsanwaltschaft die Ehenichtigkeitsklage erheben. Die obige Argumentation, die zu einer Klagepflicht der Staatsanwaltschaft führt 2 2 0 , läßt sich auf diesen Fall nicht übertragen. Eine Störung der Eheordnung liegt nicht darin, daß zwei Ehen irgendwann einmal nebeneinander bestanden. A n der einschränkend geregelten Klagebefugnis verdeutlicht sich zudem die mit dem Ehegesetz von 1938 einsetzende Tendenz, formell fehlerfrei geschlossene Ehen in gewissen Grenzen aufrechtzuerhalten 221 . Vereinzelt wird hier darauf verwiesen, daß § 24 Abs. 1 S. 1 EheG praktisch zu einem Heilungsgrund führe 222 . Bei der Auflösung der bigamischen Ehe beträfen die Wirkungen der Nichtigerklärung nur das Vermögensrecht. A n der vermögensrechtlichen Auseinandersetzung der Ehegatten bestehe aber kaum ein öffentliches Interesse 223 . In der Tat besteht die Gefahr, daß der mit der Ehenichtigkeitsklage verfolgte Schutz des Instituts Ehe verlagert wird. Ein anschauliches Beispiel bietet eine Entscheidung des O L G München aus dem Jahre 1980 224 : Beispielsfall
9:
Die Frau F hatte im Januar 1978 die Ehe mit M geschlossen. Die Ehe blieb kinderlos, und M verstarb bereits im April 1978. Bereits 1938 war M die Ehe mit einer anderen Frau eingegangen, deren Scheidung er 1977 begehrte. Die Scheidung wurde zwar formell rechtskräftig bereits im Oktober 1977 ausgesprochen, zu einer materiell wirksamen Scheidung kam es aufgrund des Todes des M aber nicht mehr 2 2 5 . Beide Ehefrauen des M hatten sich nach dessen Tod privat über die Aufteilung der Witwenrente je zur Hälfte geeinigt. 219
Im Ergebnis ebenso Stein!Jonas!Schlosser, ZPO, § 632 Rdn. 2; Bruns, JZ 1959, 151 ff; wohl auch Müller-Freienfels, JZ 1959, 635 ff. 220 Vgl. im einzelnen oben 1. Abschnitt, 1. Teil, D.III.l.b.bb. 221 Vgl. Beitzke, M D R 1952, 388 ff (389); Erdsiek, NJW 1961, 2246 ff (2248), und insbesondere Boehmer, NJW 1959, 2185 ff (2186), der von der Tendenz spricht, die vernichtbare Ehe „bis zur Grenze des sozial Erträglichen" aufrecht zu erhalten. 222 Boehmer, NJW 1959, 2185 ff (2186). 223 Beitzke, Familienrecht, § 11 I I I 2 a (S. 58). 224 O L G München, FamRZ 1980, 365 ff; der Sachverhalt ist hier auf die interessierenden Punkte verkürzt. 225 Aufgrund der besonderen Regelung in Art. 1 Nr. 7 des 1. EheRG war die Ehe noch nicht materiell wirksam geschieden, da über den Versorgungsausgleich noch keine erstinstanzliche Entscheidung vorlag. 5 Brenner
66
1. Abschn., 1. Teil: Klage- und Antragsrechte der StA
Die Staatsanwaltschaft erhob Ehenichtigkeitsklage, der sowohl erst- als auch zweitinstanzlich entsprochen wurde. Das O L G München führt aus, daß es „vor allem" darum gehe, „die rentenrechtlichen Folgen dieser Eheschließung zu klären". Daran bestehe „ein öffentliches Interesse, das der Staatsanwalt pflichtgemäß wahrnehme" 2 2 6 . Dies kann angesichts des oben geschilderten Zwecks der Nichtigkeitsklage - der im vorliegenden Fall im Schutz der „Einehe" liegt - nicht überzeugen. Die vom O L G München angeführten Gründe sprechen in dem entschiedenen Fall vielmehr gegen die Erhebung der Nichtigkeitsklage durch die Staatsanwaltschaft.
Insgesamt läßt sich festhalten, daß die Staatsanwaltschaft grundsätzlich nach freiem Ermessen zu entscheiden hat, ob sie die Ehenichtigkeitsklage erhebt. Allein dann, wenn Erst- und Zweitehe nebeneinander bestanden und weiter bestehen, ergibt sich aus Art. 6 Abs. 1 GG die Pflicht, die Klage zu erheben. 2. Entmündigungssachen
In den Entmündigungssachen wird darauf verwiesen, daß die Staatsanwaltschaft vom „Standpunkt der Allgemeinheit" aus zu handeln habe 227 . Darin liege zugleich die Dienstpflicht, im öffentlichen Interesse einzugreifen, wenn von seiten der privaten Antragsberechtigten kein Antrag gestellt werde oder sich ein antragsberechtigter Dritter an sie wende. Dieser Ansicht ist im Ergebnis Recht zu geben: Angesichts der mit dem Entmündigungsverfahren verfolgten Hilfe muß die Staatsanwaltschaft eingreifen, wenn ihr die rechtsgeschäftliche oder persönliche Gefährdung von Rechten der Bürger angezeigt wird. Neben dem Schutz des zu Entmündigenden haben die Regeln des Entmündigungsverfahrens im gleichen Maße zum Ziel, daß niemand zu Unrecht entmündigt wird 2 2 8 . Die Staatsanwaltschaft ist somit auch verpflichtet, die Wiederaufhebung der Entmündigung zu beantragen sowie die Anfechtungs- oder Wiederaufhebungsklage zu erheben. Die Tätigkeit in Entmündigungssachen wird von dem zuständigen Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Bonn in erster Linie als soziale Aufgabe angesehen und durchaus engagiert ausgeübt. Dies gilt insbesondere für die am 4. Beispielsfall verdeutlichten Fälle, in denen sich die privaten Antragsberechtigten scheuen, ein - erforderliches Entmündigungsverfahren einzuleiten. Im übrigen geschieht die Bearbeitung der Vorgänge i.d.R. geschäftsmäßig in der Weise, daß bei genügenden Anhaltspunkten ein fachärztliches Gutachten eingeholt wird. Die Entscheidung, ob ein Antrag zu stellen ist, beruht auf dem Ergebnis dieses Gutachtens.
226 227 228
O L G München, FamRZ 1980, 365 ff (366). Baumbach/Lauterbach/Albers, ZPO, § 646 Anm. 1 D. Vgl. oben 1. Abschnitt, 1. Teil, C . I I . l .
E. Zusammenfassung
67
E. Zusammenfassung Allein in Ehenichtigkeits- und Entmündigungssachen ist der Staatsanwaltschaft ein verfahrenseinleitendes Antrags- und Klagerecht verliehen. Die Besonderheit liegt allerdings weniger darin, daß neben den privaten Betroffenen eine staatliche Stelle auf die Einleitung und Durchführung eines Zivilprozesses Einfluß nehmen kann. Vielmehr liegt der Ausnahmecharakter darin, daß es abweichend vom „normalen" streitigen Zivilprozeß nicht um subjektive Privatrechte geht 229 . Verfolgt werden in erster Linie Interessen der Allgemeinheit: Im Fall der Ehenichtigkeitsklage ist der Zweck vorrangig der aus Art. 6 Abs. 1 GG folgende Schutz des Institus „Ehe" 2 3 0 . Das Entmündigungsverfahren gewährt zugunsten des Antragsgegners staatliche Hilfe und Fürsorge 231 . Zur Verwirklichung der öffentlichen Belange dienen die Antrags- und Klagerechte der Staatsanwaltschaft. Sowohl dem Klagerecht d£r Staatsanwaltschaft in Ehenichtigkeitssachen als auch den Mitwirkungsbefugnissen in Entmündigungssachen kommt auch heute noch eine praktische Bedeutung zu 2 3 2 . A m Beispiel der Tätigkeit der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Bonn zeigt sich, daß die Einleitungsbefugnisse engagiert ausgeübt und insbesondere die privaten Belange berücksichtigt werden. 2. Teil
Die sogenannte „Amtsklage" im Bereich des Arbeitsrechts Im Bereich des Arbeitsrechts finden sich zwei Fälle, in denen von einer staatlichen Stelle neben dem Betroffenen ein Zivilprozeß eingeleitet werden kann. Nach § 25 des Heimarbeitsgesetzes 1 kann der Staat den Anspruch eines Heimarbeiters 2 auf die den Entgeltregelungen 3 entsprechende Vergütung 229 Vgl. oben 1. Abschnitt, 1. Teil, C.I.2., II.2. 230 Vgl. oben 1. Abschnitt, 1. Teil, C . I . l . 231 Vgl. oben 1. Abschnitt, 1. Teil, C . I I . l . 232 Vgl. oben 1. Abschnitt, 1. Teil, D.I. 1 H A G vom 14.3.1951, BGBl. I S. 191; zuletzt geändert durch Heimarbeitsänderungsgesetz ( H A A G ) vom 29.10.1974, BGBl. I S. 2879. 2 Korrekt müßte es heißen: Der „in Heimarbeit Beschäftigten" und der ihnen „Gleichgestellten". Der Einfachheit halber werden im folgenden die dem Schutz des H A G unterfallenden Personen als „Heimarbeiter" bezeichnet. Zum geschützten Personenkreis vgl. i. ü. etwa Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 163 11 (S. 947) m.w.N. 3 Zu den Entgeltregelungen vgl. i.e. im folgenden 1. Abschnitt, 2. Teil, A . I . l . 5*
68
1. Abschn., 2. Teil: Die sogenannte „Amtsklage" im Arbeitsrecht
gegen den Auftraggeber 4 gerichtlich geltend machen. Diese Befugnis bezieht sich inhaltlich auf Minderbeträge i.S.d. § 24 H A G . D i e §§ 24, 25 H A G lauten: „(§24, Aufforderung zur Nachzahlung der Minderbeträge) Hat ein Auftraggeber oder Zwischenmeister einem in Heimarbeit Beschäftigten oder einem Gleichgestellten ein Entgelt gezahlt, das niedriger ist als das in einer Entgeltregelung gemäß den §§17 bis 19 festgesetzte, so kann ihn die Oberste Arbeitsbehörde des Landes oder die von ihr bestimmte Stelle auffordern, innerhalb einer in der Aufforderung bestimmten Frist den Minderbetrag nachzuzahlen und den Zahlungsnachweis zu erbringen. Satz 1 gilt entsprechend für sonstige Vertragsbedingungen, die gemäß den §§17 bis 19 festgesetzt sind und die Geldleistungen an einen in Heimarbeit Beschäftigten oder einen Gleichgestellten zum Inhalt haben. Die Oberste Arbeitsbehörde des Landes soll von einer Maßnahme nach Satz 1 absehen, wenn glaubhaft gemacht worden ist, daß ein Gleichgestellter im Falle des § 1 Abs. 6 nicht oder wahrheitswidrig geantwortet hat. (§25, Klagebefugnis der Länder) Das Land, vertreten durch die Oberste Arbeitsbehörde oder die von ihr bestimmte Stelle, kann im eigenen Namen den Anspruch auf Nachzahlung des Minderbetrages an den Berechtigten gerichtlich geltend machen. Das Urteil wirkt auch für und gegen den in Heimarbeit Beschäftigten oder Gleichgestellten. § 24 Satz 3 gilt entsprechend." Die
Möglichkeit
dieser
sogenannten
„Amtsklage"
war
im
deutschen
Arbeitsrecht zunächst eine „völlige Neuschöpfung" 5 . Bis heute hat sie nur noch einmal eine entsprechende gesetzliche Wiederholung gefunden: Das „Gesetz über die Festsetzung v o n Mindestarbeitsbedingungen" 6 sieht vor, daß das L a n d i m eigenen N a m e n den Anspruch eines Arbeitsnehmers aus sogenannten „Mindestarbeitsbedingungen" gerichtlich geltend machen kann. D e r maßgebliche § 14 M A B G lautet: „(§ 14) Das Land, vertreten durch die Oberste Arbeitsbehörde oder die von ihr bestimmte Stelle, kann im eigenen Namen den Anspruch eines Arbeitnehmers aus Mindestarbeitsbedingungen gerichtlich geltend machen. Das Urteil wirkt auch für und gegen den Arbeitnehmer."
4 Gemeint sind Personen und Unternehmen, die Heimarbeit an die unter den Schutz des H A G fallenden Personen ausgeben. 5 Vgl. Herschel, BArbBl. 1951, 13 ff (16); Molitor, RdA 1954, 83 ff (83, 86). 6 M A B G vom 11.1.1952, BGBl. I S. 17.
. Die „Amtsklage" des §
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A . Die „Amtsklage" des § 25 H A G L Grundlagen 1. Die Entgeltregelung im Heimarbeitsrecht und ihr Einfluß auf das privatrechtliche Heimarbeitsverhältnis
Die Heimarbeit stellt eine besondere Form der Erwerbstätigkeit dar. Die h. M. zählt den Heimarbeiter zu den sogenannten „arbeitnehmerähnlichen Personen", die wirtschaftliche Abhängigkeit mit persönlicher Selbständigkeit verbinden 7 . Die Heimarbeiter stehen danach zwischen Arbeitnehmern und freien Mitarbeitern, die Werkvertragsleistungen erbringen. Die Arbeitsvergütung der Heimarbeiter kann frei vereinbart werden, soweit nicht sog. „Entgeltregelungen" bestehen. Hierzu zählen zum einen gesetzliche Ansprüche, die zwingend den Inhalt des Heimarbeitsverhältnisses bestimmen 8 . Zum anderen richtet sich die Arbeitsvergütung nach den in § 17 Abs. 2 H A G genannten Entgeltregelungen. Dies sind Tarifverträge, bindende Festsetzungen von Entgelten und sonstigen Vertragsbedingungen sowie Mindestarbeitsbedingungen für fremde Hilfskräfte 9 . Da Heimarbeiter keine Arbeitnehmer im Rechtssinne sind, stellt § 17 Abs. 1 H A G klar, daß die dort genannten schriftlichen Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Auftraggebern oder deren Vereinigungen als Tarifverträge gelten. Die Wirkungen der schriftlichen Vereinbarungen sind damit die gleichen wie bei Tarifverträgen im engeren Sinne 10 . Gleiches gilt für die nach § 19 H A G von - paritätisch aus Kreisen der Auftraggeber und Heimarbeiter besetzten - Heimarbeitsausschüssen11 durch Rechtssetzungsakt12 getroffenen bindenden Festsetzungen; § 19 Abs. 3 H A G . Die Regelungen gelten nach § 4 Abs. 1 T V G unmittelbar und zwingend. Abweichende Abmachungen sind nach § 4 Abs. 3 T V G nur zulässig, wenn die Vereinbarung für den Heimarbeiter günstiger ist. Die schriftlichen Vereinbarungen i.S.d. § 17 Abs. 1 H A G und die bindenden Festsetzungen sind objektives Recht. Abmachungen, die von einer Ent7 Vgl. etwa HuecklNipper dey, Arbeitsrecht I, § 10 11 (S. 55); Nikisch, Arbeitsrecht I, § 16 I I 1 (S. 136 f); Söllner, Arbeitsrecht, § 3 I I (S. 28); zu den abweichenden Ansichten vgl. die Darstellung von Drygala, BIStSozArbR 1978, 356 ff (358). « Vgl. i.e. Brecht, H A G , § 24 Rdnrn. 6 ff; Maus/Schmidt, H A G , § 24 Rdnrn. 7, 21; Glass, RdA 1962, 172 ff (174); jew. m.w.N. 9 Vgl. Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 163 I V (S. 950 ff). 10 Über die Einordnung besteht i.e. Streit, der aber keine praktische Auswirkung hat; vgl. Brecht, H A G , § 17 Rdnrn. 6 ff (8). 11 Diese werden nach § 4 H A G von der Obersten Arbeitsbehörde des Landes eingesetzt. 12 In dem Streit um die Rechtsnatur der bindenden Festsetzung hat das BVerfG (E 34, 307 ff) mittlerweile einen Schlußpunkt gesetzt. Zum ursprünglichen Streitstand vgl. nur Schwedes, Dissertation, S. 44 ff m.w.N.
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1. Abschn., 2. Teil: Die sogenannte „Amtsklage" im Arbeitsrecht
geltregelung zu Ungunsten des Heimarbeiters abweichen, sind wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot nach § 134 BGB nichtig. A n die Stelle der nichtigen Vereinbarung tritt die Festsetzung der jeweiligen Entgeltregelung 13 . 2. Der Entgeltschutz in der Heimarbeit
Im Bereich des Arbeitsrechts findet ein Entgeltschutz durchgehend in der Weise statt, daß die Vertragsabreden unabdingbar gestaltet werden. Dem einzelnen Arbeitnehmer bleibt es jedoch überlassen, seinen Anspruch geltend zu machen und gegebenenfalls gerichtlich durchzusetzen 14. Auch im Bereich der Heimarbeit hat der Gesetzgeber den Entgeltregelungen eine dem Tarifrecht entsprechende Durchschlagskraft verliehen, die ansonsten dem bürglichen Recht fremd ist. Der Gesetzgeber hat sich jedoch - aus Gründen, die noch aufgezeigt werden - nicht mit dem Eingriff in das private Heimarbeitsverhältnis begnügt. Darüber hinaus sieht das Heimarbeitsgesetz in seinen §§ 23 ff einen besonderen Entgeltschutz vor, in dessen Zusammenhang auch die Regelung des § 25 H A G steht. Die Verantwortung für einen wirksamen Entgeltschutz liegt nach § 23 H A G bei den Obersten Arbeitsbehörden der Länder. Maßgebliches Mittel zur Durchsetzung der Entgeltansprüche des Heimarbeiters sind die in §§ 24, 25 H A G geregelten Befugnisse. a) Die Nachzahlungsaufforderung
des § 24 HAG
Hat ein Auftraggeber ein Entgelt gezahlt, das niedriger ist als ein bindend geregeltes Mindestentgelt, so kann die Oberste Arbeitsbehörde des Landes oder die von ihr bestimmte Stelle den Zahlungspflichtigen auffordern, innerhalb einer Frist den Minderbetrag an den Heimarbeiter nachzuzahlen und den Zahlungsnachweis zu erbringen; § 24 H A G . Die Nachzahlungsaufforderung erstreckt sich auf die verbindlich nach den §§ 17 ff H A G festgelegten Entgelte und sonstigen Vertragsbedingungen mit Geldleistungscharakter, wie beispielsweise vermögenswirksame Leistungen, Urlaubsentgelte und Weihnachtsgratifikationen. 15 Über seinen Wortlaut hinaus findet § 24 H A G auch Anwendung auf diejenigen Leistungen, auf die der Heimarbeiter kraft gesetzlicher Regelung einen Anspruch hat, also etwa auf den Anspruch auf einen Zuschlag zum Arbeitsentgelt als wirtschaftliche Sicherung für den Krankheitsfall nach § 8 LFZG, den Anspruch auf Stillgeld für werdende Mütter nach § 7 Mutterschutzgesetz und den Anspruch auf Urlaubsentgelt nach § 12 BUrlG 1 6 . Ein 13
Vgl. etwa Söllner, Arbeitsrecht, § 16 I I (S. 116 ff, insbesondere 120, 122). Zur gesetzlich vorgesehenen Ausnahme im M A B G vgl. noch im folgenden 1. Abschnitt, 2. Teil, B. 15 Vgl. i.e. Brecht, H A G , § 24 Rdn. 6. 14
. Die Amtsklage" des §
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Minderbetrag liegt auch dann vor, wenn überhaupt keine Zahlung geleistet ist". Eine unmittelbare Rechtsfolge knüpft sich nicht an die Nachzahlungsaufforderung. Insbesondere ist sie kein Verwaltungsakt, da sie keinerlei verbindliche Wirkungen für die Beteiligten erzeugt 18 . Der Aufforderung kommt lediglich der Charakter einer „Erinnerung" zu. b) Die Klagebefugnis
des Landes nach § 25 HAG
aa) § 25 H A G als Fall einer gesetzlichen Prozeßstandschaft § 25 H A G bestimmt, daß das Land, vertreten durch die Oberste Arbeitsbehörde oder die von ihr bestimmte Stelle das Recht hat, den Anspruch auf Nachzahlung des Minderbetrages an Stelle des Heimarbeiters im eigenen Namen gerichtlich geltend zu machen. Diese Befugnis ist dem Land durch den Verweis in § 26 Abs. 1 H A G auch für Fälle eingeräumt, in denen ein Hausgewerbetreibender oder ein Gleichgestellter einer fremden Hilfskraft das ihr zustehende Entgelt vorenthält. Die Klagebefugnis besteht hinsichtlich des Anspruchs „auf Nachzahlung des Minderbetrages" an den Berechtigten. Damit verweist § 25 H A G inhaltlich auf § 24 H A G . Der Umfang ist begrenzt auf die Fälle, in denen das Entgelt des Berechtigten der Nachzahlungsaufforderung nach § 24 H A G unterliegt 19 . § 25 S. 2 H A G spricht aus, daß das Urteil auch „für und gegen" den Heimarbeiter wirkt. Einigkeit besteht heute insoweit, daß § 25 H A G nur den privatrechtlichen Zahlungsanspruch des Heimarbeiters betrifft, der allein den Streitgegenstand des vom Land eingeleiteten Zivilprozesses bestimmt 20 . Dies verdeutlich der Wortlaut der Vorschrift. § 25 S. 1 H A G spricht allein vom „Anspruch auf Nachzahlung des Minderbetrages". Dieser Anspruch ergibt sich aus dem privatrechtlichen Heimarbeitsverhältnis. Es handelt sich also um eine private Forderung, deren Gläubiger der Heimarbeiter und deren Verpflichteter der Auftraggeber ist. Der Heimarbeiter bleibt auch bei der Klage durch das Land 16
Teilweise wird in den einzelnen Gesetzen ausdrücklich Bezug genommen: § 8 Abs. 5 LFZG, § 7 Abs. 4 MuSchG, § 12 Nr. 1 BUrlG, § 2 Abs. 5 F L Z G , § 46 Abs. 3 SchwBG und § 7 ArbPIG. Im übrigen verweist die allgemeine Ansicht auf den unmittelbaren Entgeltcharakter; vgl. Brecht, H A G , § 24 Rdnrn. 3 ff, 8; ausführlich auch Schmick, Dissertation, S. 91 ff. 17 Allgemeine Ansicht: Glass, RdA 1962, 172 ff (176); Brecht, H A G , § 24 Rdn. 4; Gröninger/Rost, Heimarbeit, § 24 Anm. 1. 18 Brecht, H A G , § 24 Rdn. 14, m.w.N. aus der unveröffentlichen Rechtsprechung. 19 Vgl. im einzelnen B A G N Z A 1984, 42 ff; Maus/Schmidt, H A G , § 25 Rdn. 15, § 24 Rdnrn. 3 ff. 20 Brecht, H A G , § 25 Rdnrn. 1 ff, 10; Maus/Schmidt, H A G , § 25 Rdn. 11; Glass, RdA 1962, 172 ff (173).
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1. Abschn., 2. Teil: Die sogenannte „Amtsklage" im Arbeitsrecht
Gläubiger des Zahlungsanspruchs 21. Das Gesetz verleiht einem Dritten, hier einer staatlichen Stelle, die Befugnis, im eigenen Namen einen Prozeß über ein ihr fremdes Rechtsverhältnis zu führen. Die Anspruchsberechtigung und die Prozeßführungsbefugnis fallen damit auseinander. Folglich stellt sich § 25 H A G als Fall einer gesetzlichen Prozeßstandschaft dar 22 . bb) Umfang der Klagebefugnis Die Prozeßstandschaft des § 25 H A G beinhaltet das Recht, im Klageweg den Entgeltanspruch des Heimarbeiters durchzusetzen. Insoweit ist anerkannt, daß dem Land alle Prozeßarten zur Verfügung stehen, die für einen Aktivprozeß 23 in Frage kommen. Es kann Leistungsklage in Form der Zahlungsklage, aber auch Widerklage, Klage auf Auskunft oder Rechnungslegung 24 und Feststellungsklage25 erheben. Von praktischer Bedeutung ist hauptsächlich die Leistungsklage26. Daneben kann das Land ein Mahnverfahren nach §§ 688 ff ZPO einleiten, denn dieses stellt lediglich einen besonderen und einfacheren Weg der gerichtlichen Geltendmachung dar 27 . Im Prozeß stehen dem Land alle prozessualen Befugnisse zu, die der Durchsetzung des materiellen Zahlungsanspruchs dienen 28 . Allerdings ist zu beachten, daß der Heimarbeiter Inhaber des materiellen Rechts bleibt. Daraus folgt, daß die Prozeßführungsbefugnis des Landes keine Berechtigung beinhaltet, über den privaten Anspruch rechtsgeschäftlich zu verfügen. Zu solchen Verfügungen bedarf es der Zustimmung (Einwilligung oder Genehmigung, §§ 183, 184 BGB) des materiell Berechtigten 29 .
21 Glass, RdA 1962, 172 ff (173); Henke, Grundriß, § 18 I I 2 c (S. 364); Maust Schmidt, H A G , § 25 Rdnrn. 1, 11; Fitting/ Karpf, H A G , § 25 Anm. 4. 22 Allgemeine Ansicht: B A G in AP Nr. 2 zu § 25; B A G N Z A 1984, 42 ff; Fitting/ Karpf; H A G , § 25 Anm. 4; Brecht, H A G , § 25 Rdn. 1; Maus!Schmidt, H A G , § 25 Rdn. 11; Henke, Grundriß, § 18 I I 2 c (S. 364); abweichend nur Molitor, RdA 1954, 83 ff, der von einem „zumindest uneigentlichen" Fall spricht, da eine Prozeßstandschaft im allgemeinen eine materiell-rechtliche Befugnis voraussetze; vgl. dazu die zutreffende Kritik bei Schmick, Dissertation, S. 51 ff. 23 Dafür, daß das Land dem Heimarbeiter unterstützend beitreten kann, wenn dieser vom Auftraggeber verklagt wird, finden sich keine Anhaltspunkte; vgl. Maus!Schmidt, H A G , § 25 Rdn. 15. 24 Dazu Brecht, H A G , § 25 Rdn. 15, § 28 Rdnrn. 11, 13. 25 Maus/Schmidt, H A G , § 25 Rdn. 15. 26 Auskunft des Staatlichen Gewerbeaufsichtsamtes Minden. 27 Maus/Schmidt, H A G , § 25 Rdn. 16. 28 Vgl. Brecht, H A G , § 25 Rdn. 18. 29 Im einzelnen etwa Brecht, H A G , § 25 Rdnrn. 18 ff; Maus/Schmidt, H A G , § 25 Rdnrn. 24 ff; ausführlich Schmick, Dissertation, S. 121 ff.
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I I . Die von § 25 H A G gewahrten Interessen 1. Die Ziele des Heimarbeitsgesetzes unter Berücksichtigung der Situation der Heimarbeiter und der Entstehungsgeschichte
Die Heimarbeit ist aufgrund ihrer Struktur und ihrer starken Abhängigkeit von konjunkturellen Schwankungen stets ein Bereich sozialer Mißstände. Seit ihrem Bestehen ist sie durch unzureichende Bezahlung der Heimarbeiter, durch zu lange Arbeitszeiten, mangelnde Schutzbestimmungen und Kinderarbeit gekennzeichnet. Mißstände, die der Heimarbeit den Namen „Elendsindustrie" eingetragen haben 30 . Die mangelnde Organisation erschwerte es den Heimarbeitern, sich für ihre Interessen einzusetzen31. Hinzu kommt der auch heute noch bedeutsame Umstand, daß der Heimarbeiter in besonderer wirtschaftlicher Abhängigkeit zu seinem Auftraggeber steht. Dies beruht im wesentlichen darauf, daß die Möglichkeit, Aufträge zu erhalten, für den Heimarbeiter meistens nur bei wenigen Firmen besteht; Heimarbeiter sind wenig mobil, also „ortsgebunden". Dies gilt vor allem für Frauen mit Kindern, die im Interesse der Kindererziehung eine Voll- oder Teilbeschäftigung in einem Betrieb weder annehmen können noch wollen 32 . Des weiteren bietet die Heimarbeit noch Verdienstmöglichkeiten für Personen, die aus gesundheitlichen Gründen den normalen betrieblichen Anforderungen nicht gewachsen sind 33 .
Schließlich arbeiten Heimarbeiter nicht - wie etwa der selbständige Handwerker - mit eigenem unternehmerischen Risiko. Heimarbeiter überlassen den Vertrieb ihrer Arbeit dem Auftraggeber, der den Absatz auf dem Markt organisiert 34 . Die Gesetzgebung in Deutschland befaßte sich trotz dieser bereits in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts an die Öffentlichkeit getragenen Mißstände nur zögernd mit dem Heimarbeiterschutz 35 . Eine erste gesetzliche Regelung brachte das Hausarbeitsgesetz vom 20.12.191136. Es verlangte die offene Auslage von Lohnverzeichnissen und 30
Dockendorf\ S. 68; Wehrle in Staatslexikon, 4. Bd., S. 51 ff (51); Voigt in Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 5. Bd., S. 103 ff (104); Brecht, H A G , Einf. S. 29. 31 Begründung des Regierungsentwurfs des H A G , BT-Drucksache 1/1357, S. 17 ff (26), Drygala, BIStSozArbR 1978, 356 ff (356). 32 Lauber, Dissertation, S. 9 ff (9). 33 Lauber, Dissertation, S. 9 ff (9), auch zu weiteren Gründen. 34 Dry gala, BIStSozArbR 1978, 356 ff (356); Lauber, Dissertation, S. 9 f. 35 Parallel zu dahingehenden Bestrebungen erhoben sich auch Stimmen, die sich für ein gesetzliches Verbot der Heimarbeit aussprachen; vgl. Dockendorf, S. 68 m.w.N. 36 RGBl. I S. 976; näher dazu Schwedes, Dissertation, S. 23 ff.
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1. Abschn., 2. Teil: Die sogenannte „Amtsklage" im Arbeitsrecht
Lohnbüchern, die Führung von Lohnbüchern, setzte eine Registrierpflicht fest und erließ Vorschriften zum Schutze der Gesundheit der Heimarbeiter. Eine staatliche Einflußnahme auf Entgeltfestsetzung und -Überwachung wurde indessen als „erster Schritt in den sozialistischen Staat" abgelehnt 37 . Während des Ersten Weltkrieges wurde die Heimarbeit verstärkt in Anspruch genommen. Dies führte in den für die Ausführung von Heeresaufträgen bedeutsamen Industriezweigen dazu, daß die Militärverwaltungen für die Heimarbeiter im Verordnungswege Löhne festsetzen konnten 38 . In der Neufassung des Hausarbeitsgesetzes vom Jahre 192339 fanden aufgrund der Erfahrungen aus dieser Zeit die Bereiche des Entgeltschutzes und der Entgeltüberwachung Berücksichtigung. Paritätisch besetzte Fachausschüsse, die u. a. Entgelte festsetzen konnten, hatten die Befugnis, im Wege eines „BüßVerfahrens" die Beachtung der Entgelte zu erzwingen. Dieses Verfahren stand neben dem materiellrechtlichen Anspruch des Heimarbeiters und diente als staatliches Druckmittel zur Erfüllung der Zahlungsverpflichtung. Das Gesetz über die Heimarbeit vom 23.3.193440 und seine Neufassung vom 30.11.193941 brachten neben weiteren Schutzbestimmungen eine ausgedehnte Sicherung der angemessenen Vergütung der Heimarbeiter. Entsprechend der autoritären Arbeitsverfassung des NS-Staates wurden Entgeltfestsetzung und Entgeltüberwachung in die Hände des auch sonst für die Lohngestaltung zuständigen „Reichstreuhänders der Arbeit" gelegt 42 . Der Reichstreuhänder konnte zur Zahlung des Minderentgeltes auffordern, ein Bußgeld verhängen sowie gegebenenfalls das Minderentgelt zwangsweise einziehen 43 . Während das Hausarbeitsgesetz von 1923 wegen der Schwerfälligkeit seines Verfahrens in seiner praktischen Anwendung litt 4 4 , wurden die Regelungen in der nationalsozialistischen Zeit auch in der Nachkriegszeit noch positiv bewertet. So führte beispielsweise die Begründung zum Regierungsentwurf des H A G aus 45 : „Das Gesetz über die 37
Vgl. Pechau in Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 1. Bd., S. 245 ff. Vgl. Dockendorf\ S. 8; Maus/Schmidt, H A G , Einl. Rdn. 4. 39 Heimarbeitslohngesetz v. 27.6.1923, RGBl. I S. 467, i.d.F. der Bekanntmachung v. 30.6.1923, RGBl. I S. 472; zum Ganzen Dockendorf, S. 10 f. 40 RGBl. I S. 214. 41 RGBl. I S. 2143; im einzelnen Dockendorf, S. 56 ff. 42 Beim Reichstreuhänder waren die wesentlichen Aufgaben auf dem Gebiet des Arbeitsrechts vereint. Hintergrund war, daß auch das Arbeitsrecht durch die Einführung und Umsetzung nationalsozialistischer Ideologie geprägt und beeinflußt war. Ziel war, mit der Verstärkung des staatlichen Einflusses die Durchsetzung des politischen Willens der Reichsführung zu erreichen; vgl. Zöllner, Arbeitsrecht, § 3 I V (S. 34 f); Söllner, Arbeitsrecht, § 3 V (S. 24 f). 43 In den §§ 26, 27 des Gesetzes i.d.F. von 1939 hieß es u. a.: (§ 26 Abs. 2) „Der Reichstreuhänder kann in der Zahlungsaufforderung verlangen, daß der Minderbetrag an ihn gezahlt wird . . ."; (§27 Abs. 1) „. . . wird die Zahlungsaufforderung nicht befolgt, so kann er die Verzugsbuße zusammen mit der Minderzahlung einziehen . . . " 44 Dockendorf, S. 12 f; Schwedes, Dissertation, S. 31 f. 38
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Heimarbeit von 1939 war eine allerdings den Rechtsformen des nationalsozialistischen Staates angepaßte, im übrigen aber durchweg brauchbare Grundlage für eine wirksame Regelung des Heimarbeitsschutzes, des öffentlichen Gefahrenschutzes, der Entgeltfestsetzung und der Entgeltüberwachung in der Heimarbeit."
Der Fortfall der Einrichtung des „Reichstreuhänders" 46 sowie die Aufhebung des dem Heimarbeitsgesetzes von 1934/1939 zugrunde liegenden „Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit" 4 7 legten den Schutz - vor allem die Entgeltfestsetzung und -Überwachung - in der Heimarbeit in der Nachkriegszeit praktisch lahm. Das Bedürfnis wuchs, für die im starken Maße Frauen und Flüchtlinge beschäftigende Heimarbeit eine neue gesetzliche Grundlage zu schaffen 48. Aufgrund der unzureichenden Entlohnung lag dabei das Schwergewicht auf der angemessenen Bezahlung der Heimarbeiter 49 . Die notwendigen Bestrebungen führten in dieser Situation zum Heimarbeitsgesetz von 1951, mit dem vor allem die bis heute im wesentlichen unverändert gebliebene 50 Regelung des § 25 H A G eingeführt wurde 51 . Es läßt sich festhalten, daß die Entwicklung der Gesetzgebung von dem Ziel gekennzeichnet ist, den in Heimarbeit Beschäftigten einen umfassenden Schutz zu gewährleisten. Dieses Ziel hat seinen Ausdruck auch im heutigen H A G gefunden, wobei aufgrund der historischen Erfahrungen die angemessene Entlohnung der Heimarbeiter im Mittelpunkt steht. 2. Die Interessen des Heimarbeiters: § 25 H A G als Mittel zur Durchsetzung des Arbeitnehmerschutzes
Dem Grundgesetz liegt das in Artt. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1, 79 Abs. 3 enthaltene Sozialstaatsprinzip zugrunde. Einigkeit besteht darüber, daß aufgrund dieses Prinzips der Gesetzgeber seine Tätigkeit an den sozialen Notwendigkeiten auszurichten hat 52 . Im Bereich des Arbeitsrechts hat er den Arbeitnehmer 45 BT-Drucksache 1/1357, S. 17 ff (19); zustimmend auch Maus/Schmidt, H A G , Einl. Rdn. 5. 46 Durch Kontrollratsgesetz Nr. 40 vom 30.10.1946, Amtsblatt des Kontrollrates, Nr. 12, S. 229. 47 A O G vom 20.1.1934, RGBl. I S. 45. 48 Vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs zum H A G , BT-Drucksache 1/1357, S. 17 ff (18); Herschel, BArbBl. 1951, 13 ff (13). 49 Aus den Berichten der Länder ging hervor, daß zwar in einzelnen Zweigen der Heimarbeit die Beschäftigten eine angemessene Bezahlung erhielten. In anderen Gewerbezweigen hingegen wurde ein außerordentlich niedriges Entgelt gezahlt, wie beispielsweise ein Stundenentgelt von 0,20 D M ; vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs zum H A G , BT-Drucksache 1/1357, S. 17 ff (18); im übrigen auch Protokolle, 1. WP, 89. Sitzung S. 3296, 105. Sitzung S. 3869 A , 3875 C. 50 Durch das H A Ä G v. 1974 wurde nur S. 3 ergänzt, der auf die gleichzeitig neu eingeführte Regelung des § 24 S. 3 verweist. 51 Daneben betrifft das H A G den Arbeitszeit- und Gefahrenschutz sowie allgemeine Schutzvorschriften.
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1. Abschn., 2. Teil: Die sogenannte „Amtsklage" im Arbeitsrecht
vor den nachteiligen Folgen seiner Abhängigkeit zu schützen und einen Ausgleich gegenüber der wirtschaftlichen Überlegenheit des Arbeitgebers zu schaffen 53. Der Gesetzgeber verwirklicht dieses Ziel durch Normierung bestimmter Pflichten der am Arbeitsverhältnis Beteiligten. Ein solches Hineinwirken zumeist nach öffentlich-rechtlichen Maßstäben - in das Arbeitsrecht faßt man unter dem Begriff des „Arbeitnehmerschutzes" zusammen54. Als neuer Möglichkeit bediente sich der Gesetzgeber der „Amtsklage" des § 25 H A G . Hier bleibt allerdings zu beachten, daß das Arbeitnehmerschutzrecht herkömmlich den Gefahren- und Betriebsschutz verfolgt, also Bereiche, in denen Belange der Allgemeinheit im Vordergrund stehen 55 . Im Rahmen der Vertragsgestaltungen und der Lohnsicherung bildet hingegen regelmäßig das Individualinteresse den ausschlaggebenden Grund für eine staatliche Regelung 56 . Deshalb begnügt sich der Staat in diesem Bereich i.d.R. mit der zwingenden Gestaltung einzelner Vertragsabreden. Keine Behörde überwacht etwa das Zahlungs- und Kündigungsverhalten des Arbeitgebers oder nimmt dem Arbeitnehmer die Erhebung der Zahlungs- und Kündigungsschutzklage ab. Warum nun geht der Gesetzgeber im Bereich der Heimarbeit über die herkömmliche Sicherung einer angemessenen Entlohnung hinaus? Die Antwort verdeutlicht sich an einem ebenso einfachen wie kennzeichnenden Beispielsfall: Beispiels fall 10: Ein Auftraggeber zahlt einem Heimarbeiter ein zu geringes Entgelt. Der Heimarbeiter scheut sich, seinen Anspruch geltend zu machen oder sogar gerichtlich durchzusetzen. Er fürchtet, dadurch den Arbeitgeber zu verärgern und keine weiteren Aufträge zu erhalten.
In der Tat hat die Vergangenheit gelehrt, daß sich Heimarbeiter scheuen, ein ihnen zustehendes Entgelt zu fordern oder sogar einzuklagen 57 . Grund ist vor allem die wirtschaftliche Abhängigkeit und die im Beispielsfall angesprochene Furcht, keine weiteren Aufträge zu erhalten.
52 Vgl. Fechner, RdA 1955, 161 ff; Drygala, BIStSozArbR 1978, 356 ff (360); Zöllner, Arbeitsrecht, § 7 V (S. 93). 53 Ausführlich etwa Fechner, RdA 1955, 161 ff; Nikisch, Arbeitsrecht I, § 5 I I 3 (S. 37). 54 Zum hier umfassend verstandenen, also auch die privatrechtliche Ausgestaltung des Arbeitnehmerschutzes erfassenden Begriff, vgl. Zöllner, Arbeitsrecht, § 29 I I I (S. 278 ff); Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht I, § 79 I (S. 804). 55 Zöllner, Arbeitsrecht, § 29 I (S. 276 f). 56 Schmick, Dissertation, S. 17. 57 Vgl. Begründung des Regierungsentwurfs zum H A G , BT-Drucksache 1/1357, S. 17 ff (2); Stahlhacke/Brecht, HzA Heimarbeit, S. 69; Herschel, BArbBl. 1951, 13 ff (14).
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Aufgrund dieser Umstände und der Erfahrung, daß gerade die unzureichende Entlohnung erhebliche Mißstände nach sich zieht, läßt sich folgendes Ziel der Amtsklage nach § 25 H A G zeigen: Dem Heimarbeiter soll - unbeschadet der besonderen Drucksituation, unter der er steht - das ihm zustehende und angemessene Entgelt zukommen. Die Klagemöglichkeit des Landes enthebt den Heimarbeiter zu seinen Gunsten der Notwendigkeit, sein privates Recht gegen den Auftraggeber selbst geltend zu machen. Die Regelung des § 25 H A G dient somit primär dem betroffenen Heimarbeiter selbst 58 .
3. Der Schutz der übrigen Heimarbeiter
Das Heimarbeitsgesetz dient mittelbar neben dem einzelnen Betroffenen auch den übrigen in Heimarbeit tätigen Personen. Jede Maßnahme wirkt beispielhaft auf den Kreis der übrigen Beschäftigten 59. § 25 H A G verwirklicht ebenso wie die sonstigen Vorschriften des Gesetzes den allgemein verfolgten Schutz im Bereich der Heimarbeit.
4. Die Interessen der gesetzestreuen Auftraggeber
Der Vorteil, den die Regelungen des H A G für den gesetzestreuen Auftraggeber bedeuten, wird oft nicht erkannt. Zu bedenken ist im Ausgangspunkt, daß die Beschäftigungsmöglichkeiten von Heimarbeitern ein weites Feld umfassen 60. Zudem kann trotz der im Laufe diese Jahrhunderts fortgeschrittenen Automatisierung auf die Beschäftigung von Heimarbeitern nicht verzichtet werden, was sich an der offiziell genannten Zahl von rund 150 000 Heimarbeitern verdeutlicht 61 . Der Grund ist wohl darin zu suchen, daß die Heimarbeit trotz ihrer teilweise hohen Lohnintensität in den heute noch bedeutsamen Gewerbezweigen - etwa in der Textil- und Bekleidungsindustrie, der Eisenund Metallverarbeitung sowie im Holz- und Schnitzstoffgewerbe 62 - weiterhin billiger als die Betriebsarbeit ist 63 . Die Heimarbeit erspart den Auftraggebern 58
Anders aber Brecht, H A G , § 25 Rdn. 4; dazu noch im folgenden. Vgl. Schmick, Dissertation, S. 15; Stahlhacke/Brecht, HzA Heimarbeit, S. 72; B A G in AP N r . l zu § 25 H A G . 60 Man vergleiche etwa die Statistik der B D A für die Jahre 1965 bis 1978 in Hauptergebnisse 1979, S. 36, die eine Vielzahl von Beschäftigungsmöglichkeiten aufweist; i. ü. Reichelt/Schlieper, H A G , S. 6 ff ; Lauber, Dissertation, S. 23 ff. 61 Die Zahl der Heimarbeitsverhältnisse betrug 1980 nach dem Jahresbericht der B D A 1981, S. 55, insgesamt 148 306; vgl. i. ü. noch im folgenden 2. Abschnitt, 2. Teil, 62 Zu den unterschiedlichen Gewerbezweigen vgl. etwa die Statistik in Hauptergebnisse 1979, S. 36; Lauber, Dissertation, S. 7. 63 Vgl. Maus/Schmidt, H A G , Einl. Rdn. 3; Drygala, BIStSozArbR 1978, S. 356 ff (356); Lauber, Dissertation, S. 14. 59
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1. Abschn., 2. Teil: Die sogenannte „Amtsklage" im Arbeitsrecht
einen nicht unbeachtlichen Teil der Betriebskosten, beispielsweise für Einrichtung, Anmietung, Erwerb und Pflege von Arbeitsmaschinen, Energiekosten, Heizkosten u.s.w. Zudem belasten Heimarbeiter in auftragsschwachen Zeiten nicht den Betrieb des Auftraggebers und bilden in Stoßzeiten eine Arbeitsreserve. Auch insoweit ergibt sich in dieser Situation die Notwendigkeit der Entgeltfestsetzung und -Überwachung. Dies verdeutlicht sich daran, daß im Bereich der Heimarbeit die Gefahr, Entgeltregelungen zu umgehen, besonders groß ist 64 . Zudem kann die Beschäftigung von Heimarbeitern leichter als die von Betriebsarbeitern verborgen bleiben. Durch die leicht mögliche Zahlung von Minderentgelten oder die Nichtabführung von Lohnsteuergeldern und Sozialversicherungsbeiträgen werden Unterangebote auf dem Arbeitsmarkt ermöglicht. Auftraggeber, die sich bemühen, die verbindlichen Mindestentgelte einzuhalten und auch sonst ihren nach dem H A G vorgesehenen Pflichten 65 nachkommen, ist es im Verhältnis zu unseriösen Unternehmern unmöglich, wettbewerbsfähig zu bleiben. Wegen der Einhaltung der vorgeschriebenen Entgelte sind ihre Betriebskosten höher, und sie können ihre Preise nicht wettbewerbsgerecht gestalten. Das H A G dient daher auch den gesetzestreuen Auftraggebern. Dies zeigt sich gerade bei der Sicherung einer angemessenen Entlohnung der Heimarbeiter nach den §§ 23 ff H A G . Daher dient mittelbar die Nachzahlungsaufforderung und die Klageerhebung durch das Land ebenfalls dem Interesse der vielen seriösen Auftraggeber vor unredlichem Gebaren sogenannter „Schmutzkonkurrenz" 66 . 5. Interessen der Allgemeinheit
Wie dargelegt, dienen die Regelung und die Sicherung des Entgelts durch das H A G als Maßnahmen des Arbeitnehmerschutzrechts neben dem einzelnen Heimarbeiter den übrigen in Heimarbeit Beschäftigten und den Auftraggebern. Gerade der letztgenannte Aspekt verdeutlicht das allgemeine Interesse an geregelten Verhältnissen. Insoweit dient die Vorschrift des § 25 H A G ebenfalls dazu, im Interesse der Allgemeinheit das gesamte Heimarbeitswesen „sauber" zu halten 67 . Zudem 64 Vgl. Drygala, BIStSozArbR 1978, 356 ff (356); Maus/Schmidt, H A G , Einl. Rdnrn. 3,6; Stahlhacke/ Brecht, HzA Heimarbeit, S. 69. 65 Etwa die in § 6 H A G ausgesprochene Verpflichtung, halbjährlich der zuständigen Behörde sog. „Heimarbeitslisten" vorzulegen, die sämtliche Heimarbeiter erfassen müssen; vgl. im einzelnen noch im folgenden 1. Abschnitt, 2. Teil, A.III.3.a. 66 Vgl. Stahlhacke/Brecht, Hz A Heimarbeit, S. 72, Herz in Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 1. Bd., S. 249 ff (252). 67 Dahingehend Maus/Schmidt, H A G , § 25 Rdn. 14; Schmick, Dissertation, S. 16.
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soll mit der Durchsetzung des einzelnen Anspruchs den Entgeltregelungen die erforderliche Geltung verschafft werden 68 . Schließlich ist zu beachten, daß unkontrollierbare Verhältnisse im Lohnbereich etwa die Abgabe von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen beeinflussen. Gerade im Beschäftigungszweig der Heimarbeit ist diese Möglichkeit ernst zu nehmen, da Heimarbeit unauffällig und versteckt ausgeübt werden kann. Aufgrund dieser Gesichtspunkte läßt sich festhalten, daß die in § 25 H A G geregelte Prozeßführungsbefugnis des Landes im weitesten Sinne dem Staat und der in ihm verkörperten Allgemeinheit, also öffentlichen Interessen, dient 69 . 6. Das Verhältnis der berührten Interessen
Die Amtsklage nach § 25 H A G berührt demnach sowohl das subjektive Recht des einzelnen Heimarbeiters, als auch die Interessen der übrigen in Heimarbeit Tätigen, der Auftraggeber und der Allgemeinheit. Daran schließt sich die Frage an, ob dem Land die Prozeßführungsbefugnis - ungeachtet des privaten Rechts - allein zur Durchsetzung der übrigen berührten Interessen zusteht. Werden diese um ihrer selbst willen geschützt und im Prozeß verwirklicht, liegt es nahe, dem einzelnen Heimarbeiter nicht die Initiative zur Durchsetzung zu überlassen. Das Bundesarbeitsgericht hat diese Frage in seiner ersten zu § 25 H A G ergangenen Entscheidung 70 unter dem Gesichtspunkt des Rechtsschutzbedürfnisses angesprochen. Anhand dieser Entscheidung läßt sich zum einen das Verhältnis der unterschiedlichen berührten Interessen aufzeigen. Zum anderen verdeutlicht sie, in welch auffälliger Weise sich der Staat in ein privates Rechtsverhältnis einmischt und mit welchen Folgen die beabsichtigte Hilfe verbunden sein kann. Das B A G hatte sich mit folgendem Fall zu befassen 71: Beispielsfall 11: Das Land Η klagte für den Hausgewerbetreibenden Sch gegen die Beklagte, eine Unternehmerin in der Pelzwarenfabrikation, die Heimarbeiter beschäftigte, auf Nachzahlung in Höhe von insgesamt 2150,- D M . Die Klageforderung berechnete sich aus nicht gezahlten Zuschlägen für Urlaub und Feiertage sowie Krankengeld68 Brecht, H A G , § 25 Rdn. 3; Fitting/ Karpf H A G , § 25 Anm. 1; Glass, RdA 1962, 172 ff (172). 69 So Schmick, Dissertation, S. 16; allgemein im Zusammenhang mit der Kostenpflicht des Staates Fitting/ Karpf H A G , § 25 Anm. 1; a. A . wohl Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, S. 123, der ausführt, daß § 25 H A G allein den Interessen des Rechtsinhabers und nicht der Allgemeinheit dient. 70 B A G in AP N r . l zu § 25 H A G . 71 Der nachgebildete Sachverhalt ist verkürzt.
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1. Abschn., 2. Teil: Die sogenannte „Amtsklage" im Arbeitsrecht
Zuschüssen für die Zeit vom 1.5.1959 bis zum 22.3.1962. In dieser Zeit bestanden für den Beschäftigungszweig keine schriftlichen Vereinbarungen i.S.d. § 17 Abs. 1 H A G und auch keine bindenden Festsetzungen nach § 19 H A G . Das Entgelt hatten Sch und die Beklagte frei vereinbart. Sch war bereits im ersten Rechtszug auf Seiten der Beklagten als Nebenintervenient dem Rechtsstreit beigetreten. Sch hatte in der Berufungsverhandlung übereinstimmend mit der Beklagten erklärt, er verzichte auf die vom Land geltend gemachten Ansprüche. Bei einer etwaigen Verurteilung werde er von der Zwangsvollstreckung absehen und zudem eine ihm zufließende Summe der Beklagten erstatten oder in sonstiger Weise verrechnen. Ferner hatten Sch und die Beklagte übereinstimmend erklärt, daß mittlerweile eine Entgel tprüfung stattgefunden habe, die zu einer Festsetzung des Entgelts geführt habe. Die Stückpreise seien dabei im Verhältnis zum frei vereinbarten Entgelt um den Prozentsatz niedriger angesetzt worden, der für die pauschale Abgeltung der o.g. Zuschläge zu zahlen war. M.a.W.: Die Festsetzung habe im Ergebnis zur gleichen Entlohnung geführt, die Sch aufgrund der freien Vereinbarung erhalten habe.
Das B A G verweist in seiner Entscheidung u. a. darauf, daß das Rechtsschutzbedürfnis des klagendenden Landes auch darin bestehe, anhand von Einzelfällen Rechtsfragen klären zu lassen , die für die Heimarbeiter und Hausgewerbetreibenden von allgemeiner Bedeutung seien. Damit werde das Land in die Lage versetzt, sein Verhalten in gleichgelagerten Fällen einzurichten. Die Entscheidung des B A G hat dazu geführt, daß die Klagebefugnis des Landes nach § 25 H A G vereinzelt auf ein rein öffentliches Interesse zurückgeführt wird 7 2 . Es wird darauf verwiesen, daß die Länder im Rahmen der Entgeltüberwachung nicht allein und auch nicht in erster Linie zur Durchsetzung individueller Ansprüche tätig werden 73 . Dies komme dadurch zum Ausdruck, daß die Klagebefugnis auf Ansprüche, die ihre Grundlage in Gesetzen oder gesetzesgleichen Regelungen haben, beschränkt sei 74 . Die Prozeßstandschaft sei im öffentlichen Interesse geschaffen worden 75 . Diese Auffassung verkennt, daß es sich bei § 25 H A G um den Fall einer gesetzlichen Prozeßstandschaft handelt, durch welche der private Anspruch des Heimarbeiters keine Änderung erfährt. Allein dieser bildet den Streitgegenstand des vom Land geführten Prozesses76. Aus der gesetzestechnischen Konstruktion lassen sich ebensowenig wie aus dem Wortlaut Anhaltspunkte dafür entnehmen, daß § 25 H A G staatliche und andere, über die Belange des einzelnen Heimarbeiters hinausgehende Interessen durchsetze. Darauflaufen jedoch die Ausführungen des B A G hinaus. Denn letztlich räumt das B A G einer staatlichen Behörde die Befugnis ein, einen Zivilprozeß gegen den Wil72
Brecht, H A G , § 25 Rdn. 4; Gröninger/Rost, Heimarbeit, § 25 Anm. 3; Koch, S. 232. 73 So Brecht, H A G , § 25 Rdn. 4. 74 Brecht, H A G , § 25 Rdn. 4. 75 Koch, S. 232 f, der im übrigen auf die Begründung des B A G verweist. 7 * Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A.I.2.b.
. Die „Amtsklage" des §
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len des Berechtigten einzuleiten, um Maßstäbe für ihre Tätigkeit im Arbeitnehmerschutz zu erhalten. Die Folge davon wäre, daß der Nutzen für das private Recht den zweiten Rang einnähme. Dies steht aber im Widerspruch zum Grund der Entgeltregelung und -Überwachung. Dieser liegt in dem praktisch notwendig gewordenen Schutz der Heimarbeiter, deren private Rechte gesichert werden sollen 77 . Ein staatliches Interesse, welches für sich genommen die Einleitung des Zivilprozesses gegen den Willen des Heimarbeiters rechtfertigen würde, ist demgegenüber nicht erkennbar. Offen bleibt, wie die neben dem privaten Recht des Heimarbeiters berührten übrigen Interessen einzuordnen sind. Diese Belange fanden zwar Berücksichtigung bei der Einführung des § 25 H A G . Die Gründe für ein gesetzlich anerkanntes Prozeßführungsrecht sind hingegen zu trennen von den Interessen, die im konkreten Zivilprozeß durchgesetzt und verwirklicht werden 78 . Im Vergleich mit den oben kennengelernten Mitwirkungsbefugnissen der Staatsanwaltschaft im Zivilprozeß läßt sich vielmehr folgender Schluß ziehen: Dort sind in dem durch die Staatsanwaltschaft eingeleiteten Zivilprozeß neben den öffentlichen Interessen auch private Belange betroffen. Diese sind ihrerseits jedoch weder der entscheidende Grund für die der Staatsanwaltschaft eingeräumte Einleitungsbefugnis noch primärer Zweck des von der Staatsanwaltschaft geführten Prozesses79. Die Besonderheit liegt etwa im Entmündigungsverfahren darin, daß die privaten Belange als „Reflex" mit der Durchsetzung der öffentlichen Interessen verwirklicht werden 80 . Für die Amtsklage im Bereich der Heimarbeit läßt sich der umgekehrte Schluß ziehen. Die Klagebefugnis ist dem Land nicht dazu verliehen, Interessen der Allgemeinheit oder der übrigen von der Heimarbeit Betroffenen durchzusetzen. Das Land macht aufgrund der besonderen Situation des Heimarbeiters dessen subjektives Recht geltend. Der Schutz der Belange der übrigen Betroffenen und der Allgemeinheit folgt dabei als Reflex der Durchsetzung der einzelnen Zahlungsansprüche. Für den vom B A G entschiedenen Fall ergibt sich hingegen daraus nicht, daß eine Klageerhebung mangels Rechtsschutzbedürfnisses ausgeschlossen war. Wurde § 25 H A G aus der Überlegung geschaffen, dem Heimarbeiter frei von dem besonderen wirtschaftlichen Druck die ihm zustehende Vergütung 2u verschaffen, so ist die Regelung nur praktikabel, wenn es auf den Willen des Heimarbeiters bei der Klageerhebung durch das Land nicht ankommt 81 . Die 77
Dazu vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A . I I . Vgl. SteintJonas!Leipold, ZPO, Vor § 50 Rdn. 40. 79 Vgl. oben 1. Abschnitt, 1. Teil, C.I.2., Π.2., E. 80 Vgl. oben 1. Abschnitt, 1. Teil, C.II.2. 81 So die allgemeine Ansicht: Maus/Schmidt, H A G , § 25 Rdn. 4; Brecht, H A G , § 25 Rdn. 18; Schmick, Dissertation, S. 75. 78
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1. Abschn., 2. Teil: Die sogenannte „Amtsklage" im Arbeitsrecht
Bestimmung des § 25 H A G ist damit aber nur dann zweckmäßig, wenn das Land Klage erheben kann, ohne ein eigenes Rechtsschutzbedürfnis darlegen zu müssen. Der Zutritt zu Gericht rechtfertigt sich allein aus dem Umstand, daß das Land die Befugnis hat, zum Schutz des Heimarbeiters dessen privates Recht durchzusetzen. Eines Eigeninteresses des Landes bedarf es nicht 82 . Der Umstand, daß Sch im Beispielsfall beabsichtigte, eine ihm zufließende Klagesumme wieder der Beklagten zurückzugewähren, vermag an der Zulässigkeit der Klage ebenfalls nichts zu ändern. Es geht allein um die Durchsetzung des Anspruchs, nicht aber um die Aufrechterhaltung der damit gegebenenfalls geschaffenen Vermögenslage. Der vom B A G im Ergebnis somit richtig entschiedene Fall verdeutlicht allerdings, wie leicht eine beabsichtigte staatliche Hilfe zu einer Bevormundung des geschützten Kreises führen kann. I I I . Praktische Erfahrungen 83 1. Die Bedeutung des Entgeltschutzes, insbesondere der Amtsklage
Die Heimarbeit ist kein Relikt der Vergangenheit. Ihr kommt auch heute noch eine besondere Bedeutung zu, was sich an rund 150 000 registrierten Heimarbeitsverhältnissen im Jahr 1980 verdeutlicht 84 . Hingegen bietet Heimarbeit, die versteckt geleistet werden kann, einen breiten Raum für ein Dunkelfeld 85 , welches von den offiziellen Statistiken nicht erfaßbar ist. Die tatsächliche Beschäftigungszahl dürfte wesentlich höher als die offizielle sein 86 . Zu beachten ist, daß die Heimarbeit nicht nur aus Gründen des Nebenerwerbs geleistet wird. Vielfach ist sie - und hier tritt das Bedürfnis nach angemessener Entlohnung klar hervor - auch Haupterwerbsquelle für die Bestreitung des Lebensunterhalts 87. 82
So auch Herschel, BB 1977, 1161 ff (1162), der jedoch den Schwerpunkt auf die „Ordnungs- und Schutzaufgabe" und somit im wesentlichen wieder auf die öffentlichen Interessen legt. 83 Die folgenden Ausführungen beziehen sich - soweit nicht anders vermerkt - auf Informationen, die der Verfasser bei einem Gespräch beim Staatlichen Gewerbeaufsichtsamt Minden erhielt, welches für die Entgeltüberwachung zuständig ist. 84 Jahresbericht der B D A 1981, S. 55; die Zahl entspricht etwa denen für die Jahre 1975 bis 1978; vgl. Hauptergebnisse 1979, S. 36. 85 So auch Information der Landesregierung NRW - 486/7/84 - vom 16.7.1984, mit Verweis auf Äußerungen Friedhelm Farthmanns, nach denen eine hohe Dunkelziffer von Heimarbeitern illegal beschäftigt und häufig ausgebeutet werden. 86 Bei Maus/Schmidt, H A G , Einl. Rdn.2, findet sich der Hinweis auf 200000, bei GröningerlRost, H A G , Einf. S.l, auf 300000 Heimarbeiter. 87 Vgl. Heimarbeit in Bayern 1977, S. 24, wo die Zahl auf Vi geschätzt wird.
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Α. Die „Amtsklage" des § 25 HAG
Die Frage, ob es auch heute noch eines Entgeltschutzes und insbesondere der Befugnisse der §§ 24, 25 H A G bedarf, soll am Beispiel des Landes Nordrhein-Westfalen 88 betrachtet werden. Die Bedeutung der Entgeltkontrolle und -Sicherung zeigt sich an folgender Tabelle für die Jahre 1980 bis 1984, die über die Entgeltverstöße und die behördlichen Maßnahmen Auskunft gibt 89 .
Jahr
1980 1981 1982 1983 1984
Beschäftigte Heimarbeiter
Nachzahlungsaufforderungen nach § 24 H A G
Beschäftigte, die Nachzahlungen erhielten
30 538 27 736 26 543 24 831 25 264
296 261 185 186 228
2 870 2 322 1 758 2 732 2 708
Höhe 9 0 der Nachzahlungen in D M
389 819 412 839 520
128 044 540 901 602
Klagen 91 nach § 25 H A G
7 4 5 3 4
Diese Zahlen verdeutlichen, daß sich die zugunsten der Heimarbeiter bestehenden Entgeltregelungen nur durch ständige Kontrollen durchsetzen lassen. Immerhin erhielten etwa im Jahre 1984 über 10 % der in NRW in Heimarbeit Beschäftigten nicht das ihnen zustehende Entgelt. Die Zahlen weisen im übrigen nach, daß in der Mehrzahl der Fälle Aufforderungen nach § 24 H A G ausreichen, um die Nachzahlungen durch die Auftraggeber zu erreichen 92 . Demgegenüber wird - nicht allein auf das Land Nordrhein-Westfalen beschränkt - von der Befugnis nach § 25 H A G nur selten Gebrauch gemacht. So waren 1982 von 386789 eingereichten arbeitsgerichtlichen Klagen in der Bundesrepublik lediglich 137 Amtsklagen nach § 25 H A G 9 3 . Die Auftraggeber scheinen somit regelmäßig nach Aufforderung durch die Behörden freiwillig ihren Verpflichtungen nachzukommen. Jedoch ist zum einen der Einfluß nicht zu verkennen, daß eine staatliche Behörde zur Nachzahlung auffordert. Zum anderen ist trotz der zahlenmäßig geringen Bedeutung die Vorschrift des § 25 H A G nicht ohne Bedeutung oder gar über88 Neben Nordrhein-Westfalen ist in Bayern und Baden-Württemberg das Aufkommen an Heimarbeit besonders hoch; vgl. RdA 1981, 113 ff (114). 89 Quelle: Jahresbericht der Gewerbeaufsicht des Landes NRW, 1980, S. 86 f; 1981, S. 101; 1982, S. 85; 1983, S. 85; 1984, S. 91. 90 Aufgerundet auf volle DM-Beträge. 91 Einschließlich Mahnverfahren. 92 Vgl. schon die Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Gerlach u. a. vom 9.6.1971, BT-Drucksache 6/2278, S. 3. 93 Gegenüber 188 im Jahre 1981; vgl. BArbBl. 1983, S. 116, Tabelle über die Tätigkeit der Arbeitsgerichte.
6*
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1. Abschn., 2. Teil: Die sogenannte „Amtsklage" im Arbeitsrecht
flüssig. Der Einfluß der Klagemöglichkeit des Landes auf die Zahlungswilligkeit der Auftraggeber ist nicht von der Hand zu weisen.
2. Gründe für Entgeltabweichungen
Angesichts des großen Umfangs der Entgeltabweichungen, ist nach den Ursachen zu fragen. Diese sind unterschiedlich: Ein maßgeblicher Grund ist, daß - durchgehend seriöse - Auftraggeber nicht mit den in der Praxis weit verbreiteten bindenden Festsetzungen94 umgehen können. Daneben steht die schlichte Unkenntnis der zu zahlenden Beträge 95 . Jedoch wird auch böswillig von den Entgeltregelungen abgewichen, insbesondere von unseriösen Unternehmern, die vor allem bei wirtschaftlicher Rezession auf dem Markt auftauchen. Hingegen ergibt sich aus der Höhe der festgesetzten Entgelte i.d.R. kein Grund für eine Abweichung; die bindenden Festsetzungen sind zumindest nicht unangemessen hoch 96 .
3. Die Feststellung von Verstößen gegen Entgeltregelungen
Ein wirksamer Entgeltschutz und vor allem eine effektive Handhabung der Befugnisse der §§ 24, 25 H A G steht und fällt mit der Kenntnisnahme durch die zuständige Behörde. Wann ein zu niedriges Entgelt gezahlt ist, läßt sich in manchen Fällen nur schwer nachweisen, da nicht selten zwischen den Beteiligten Einverständnis über die Umgehung der Entgeltregelung besteht. Auf Seiten der Beschäftigten spielt dabei die Sorge um die Erhaltung der Arbeitsmöglichkeiten eine wichtige Rolle. a) Die Tätigkeit von Entgeltprüfern und sonstigen mit der Entgeltüberwachung beauftragten Stellen Wichtigste Erkenntnisquelle sind die Meldungen sogenannter Entgeltprüfer oder sonstiger mit der Entgeltprüfung beauftragter Stellen. § 23 Abs.l H A G geht davon aus, daß die Obersten Arbeitsbehörden der Länder Entgeltprüfer 94 Gröninger/Rost, Heimarbeit, § 19 A n m . l ; Brecht, H A G , § 19 Rdn. 1; im übrigen die Nachweise über die umfangreichen bindenden Festsetzungen in der Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Gerlach u. a. vom 9.6.1971, BT-Drucksache 6/2278. 95 Dies beruht größtenteils auf praktischen Gründen, insbesondere darauf, daß bei der Erstellung der bindenden Festsetzungen erhebliche Zeitverzögerungen auftreten und diese erst verspätet in den fachlichen Mitteilungsblättern veröffentlicht werden. 96 Drygala, BIStSozArbR 1978, 356 ff (357), verweist darauf, daß die Angleichung der Entgelte an die entsprechenden Löhne der Betriebsarbeiter noch nicht stattgefun-, den habe.
. Die „Amtsklage" des §
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bestellen. § 23 Abs.3 H A G gibt zudem die Möglichkeit, anderen Stellen - insbesondere den Gewerbeaufsichtsämtern - die Aufgaben der Entgeltprüfung zu übertragen. Die Obersten Arbeitsbehörden der Länder haben in der Regel bei den Gewerbeaufsichtsämtern Entgeltüberwachungsstellen eingerichtet 97 . Nach zuletzt veröffentlichten Zahlen werden in den Ländern insgesamt 89 Entgeltprüfer beschäftigt 98 , die fachlich geschult sind. Das H A G stellt eine Reihe von Vorschriften auf, die es den staatlichen Kontrollorganen ermöglichen sollen, die Zahl der Heimarbeitsverhältnisse zu erfassen und die gezahlten Entgelte auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Die Tätigkeit der Entgeltprüfer und der anderen mit der Entgeltüberwachung beauftragten Stellen läßt sich wie folgt aufzeigen: Zunächst sind alle im Bezirk einer Entgeltprüf stelle ansässigen Auftraggeber, Zwischenmeister, Heimarbeiter, Hausgewerbetreibenden und Gleichgestellten zu erfassen. Dazu dienen die nach § 6 H A G vorgeschriebenen Heimarbeitslisten, die halbjährlich der zuständigen Behörde vorzulegen sind und alle in Heimarbeit Beschäftigten erfassen müssen99. Neben der Listenführung wird zudem zur Kenntlichmachung der Zahlungsverpflichtungen die Pflicht aufgestellt, die erstmalige Ausgabe von Heimarbeit gegenüber den Arbeitsbehörden anzuzeigen ( § 7 H A G ) . Weiterhin sind Entgeltverzeichnisse für die Heimarbeiter offen auszulegen (§ 8 H A G ) und Entgeltbücher bzw. -belege an die Heimarbeiter auszugeben (§ 9 H A G ) . Bei den erfaßten Personen werden laufend Kontrollen durchgeführt, die sich neben der Einhaltung der Ordnungsvorschriften vor allem auf die richtige Entgeltzahlung erstrecken. Das Schwergewicht liegt bei Firmenbesuchen. Häufig schafft erst ein vorheriger Besuch bei einzelnen Heimarbeitern die Voraussetzungen für eine effektive Kontrolle. So ist eine sachgemäße Entgeltprüfung oft nur möglich, wenn zuerst bei den Heimarbeitern Feststellungen getroffen werden können, ob ζ. B. die Entgeltabrechnungen den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen. § 28 H A G gibt den Entgeltprüfern und anderen mit der Entgeltprüfung beauftragten Stellen das Recht, von allen Beteiligten - also sowohl von den Auftraggebern als auch von den Beschäftigten - Auskunft über die Entgelte berührenden Fragen zu erhalten und insbesondere die Vorlage von Unterlagen für die Entgeltprüfung zu verlangen. Allerdings ist bei der Auskunftsertei97 Die Entgeltprüfer sind danach in der Regel an die Gewerbeaufsichtsämter angegliedert; vgl. im einzelnen etwa Stahlhacke/Brecht, Hz A Heimarbeit, S. 69; Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 163 I V 5 (S. 952). Vgl. Brecht, H A G , § 23 Rdn. 5; Stahlhacke/Brecht, HzA Heimarbeit, S. 69; die Zahl dürfte heute höher liegen. 99 Aus den Jahresberichten der Gewerbeaufsicht des Landes Nordrhein-Westfalen für die Jahre 1980 bis 1984 ergibt sich, daß in 47 bis 63 % die Auftraggeber dieser Pflicht nicht nachgekommen sind; vgl. Jahresbericht 1980, S. 86 f; 1981, S. 101; 1982, S. 85; 1983, S. 85; 1984, S. 91.
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1. Abschn., 2. Teil: Die sogenannte „Amtsklage" im Arbeitsrecht
lung durch die Heimarbeiter eine deutliche Zurückhaltung zu spüren. Dies liegt zum einen an der einverständlichen Entgeltabweichung. Zum anderen steht das Interesse des Heimarbeiters an der Nachzahlung häufig hinter dem am Arbeitsplatz zurück. Hier bestätigt sich die vom Gesetzgeber angenommene und in der Vergangenheit hervorgetretene Gefahr: Der einzelne Heimarbeiter unterläßt aus Furcht vor der Machtstellung des Auftraggebers die Geltendmachung seiner Ansprüche 100 . Als Mittel zur Verhinderung von Verstößen gegen Entgeltregelungen ist schließlich zu nennen, daß die Entgeltprüfer nach § 23 Abs. 3 H A G auf Antrag Berechnungshilfe zu leisten haben 101 . Allerdings scheint davon nicht häufig Gebrauch gemacht zu werden. In Nordrhein-Westfalen wurde etwa 1982 in 154, 1983 in 180 und 1984 in 436 Fällen eine derartige Hilfe in Anspruch genommen 102 . b) Kenntnisnahme von selten der Heimarbeiter Wie bereits ausgeführt, ist von seiten der Heimarbeiter eine deutliche Zurückhaltung bei der Auskunftserteilung festzustellen. Gleichwohl erhalten die zuständigen Behörden auch durch Heimarbeiter selbst Kenntnis von Minderentlohnungen. Dies gilt insbesondere dann, wenn diese nicht mehr für den Auftraggeber tätig sind und die Drucksituation folglich nicht mehr besteht. Die Heimarbeiter klagen im übrigen - jedenfalls solange sie noch beim Auftraggeber beschäftigt sind - in der Regel nicht selbst, obwohl sie von den zuständigen Behörden auf ihre Klagemöglichkeit hingewiesen werden. Dies beruht einerseits auf der beschriebenen Scheu. Andererseits mag auch die Überlegung von Bedeutung sein, daß die Kosten bei Klageerhebung durch das Land von diesem, ohne Rückgriffsmöglichkeit auf den Heimarbeiter, zu tragen sind 103 . 4. Die Handhabung des § 25 H A G , insbesondere die Ermessensfrage
Aufschluß über den Nutzen der Amtsklage gibt eine Betrachtung der Kriterien, welche die Anwendung des § 25 H A G bestimmen. Bevor die praktische Handhabung der Klagebefugnis des Landes dargestellt wird, sollen die 100 Dies gilt insbesondere in Zeiten wirtschaftlicher Rezession; vgl. Jahresbericht der Gewerbeaufsicht des Landes Nordrhein-Westfalen 1983, S. 85. 101 Antragsberechtigt sind sowohl Auftraggeber als auch Heimarbeiter. Zum Ganzen etwa Stahlhacke/Brecht, Hz A Heimarbeit, S. 69; Gröninger/Rost, Heimarbeit, § 23 Anm. 3. 102 Jahresbericht der Gewerbeaufsicht des Landes Nordrhein-Westfalen 1982, S. 85; 1983, S. 85; 1984, S. 91. i° 3 Brecht, H A G , § 25 Rdn. 28.
. Die „Amtsklage" des §
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Gesichtspunkte aufgezeigt werden, welche in Literatur und Rechtsprechung genannt werden. Besonderer Betrachtung gilt der Frage, inwieweit der entgegenstehende Wille des Heimarbeiters zu berücksichtigen ist. a) Die Ermessensfrage Die Klageerhebung nach § 25 H A G steht im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde 104 . aa) Allgemeine Kriterien Unproblematischer Gesichtspunkt ist die Erfolgsaussicht der Klage 105 . Die Kostentragungspflicht des Landes wird als Kriterium abgelehnt 106 . In der Tat kann die Verwirklichung des mit § 25 H A G verfolgten staatlichen Schutzes des Heimarbeiters und die ihm gewährte Hilfe nicht von Kostenfragen abhängen. Kein Gesichtspunkt soll die Berücksichtigung der Vermögensverhältnisse des Auftragsgebers bilden. Hier soll im Wege der Amtsklage angesichts der kurzen Verjährungsfrist des Zahlungsanspruchs von 2 Jahren 107 ein der 30jährigen Verjährungsfrist unterliegender Titel erlangt werden. Ziel ist es, dem Heimarbeiter die Chance zu sichern, irgendwann eine erfolgreiche Vollstrekkung durchführen zu können 108 . Hier tritt der Nutzen für den Heimarbeiter deutlich hervor. Ein privater Kläger wird angesichts der mit einer Klage verbundenen Risiken und der Kosten davon absehen, gegen einen zahlungsunfähigen Schuldner vorzugehen. Fraglich ist, ob der Schutz gewährt werden soll, wenn das Heimarbeitsverhältnis nicht mehr besteht. Die Erfahrungen zeigen, daß die Klagebereitschaft der Heimarbeiter hier größer ist, da die Drucksituation weggefallen ist. Im Hinblick auf die von der Heimarbeit berührten Interessen soll jedoch die Amtsklage möglich bleiben 109 . Ansonsten bestünden Umgehungsmöglichkeiten, da der Auftraggeber durch eine - möglicherweise unter Absprache mit dem Heimarbeiter nur vorübergehende - Beendigung des Vertragsverhältnisses einer Amtsklage zuvor kommen könnte 110 . 104 Vgl. etwa Schmick, Dissertation, S. 72. i° 5 Maus/Schmidt, H A G , § 25 Rdn. 6. 106 Brecht, H A G , § 25 Rdnrn. 11, 21; Maus/Schmidt, H A G , § 25 Rdnrn. 23, 48; Fitting/ Karpf H A G , § 25 Anm. 5. 107 Vgl. B A G BB 1966, 33; 1972, 620. 108 Zum Vorstehenden Maus/Schmidt, H A G , § 25 Rdn. 6. 109 Ähnliches gilt für den Fall der Abtretung der Forderung; vgl. Brecht, H A G , § 25 Rdn. 5; Maus/Schmidt, H A G , § 25 Rdn. 14. 110 Vgl. auch Schmick, Dissertation, S. 76, 87.
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Anders ist es im Fall des Todes des Heimarbeiters, da hier die Umgehungsmöglichkeit als Grund behördlichen Vorgehens ausscheidet. Der Erbe des Heimarbeiters steht nicht unter Druck und bedarf deshalb auch nicht des Schutzes des H A G 1 1 1 . In Anlehnung an § 24 S. 3 H A G stellt § 25 S. 3 H A G eine Einschränkung des Ermessens auf: § 1 Abs. 6 H A G bestimmt, daß Gleichgestellte 112 bei Entgegennahme von Heimarbeit auf Befragen des Auftraggebers ihre Gleichstellung bekannt zu geben haben. Hat der Gleichgestellte trotz dieser Mitteilungspflicht nicht oder wahrheitswidrig geantwortet, so entfällt nach § 24 S. 3 H A G für den Regelfall die Nachforderung von Minderbeträgen und aufgrund des Verweises auf diese Vorschrift in § 25 S. 2 H A G auch deren klageweise Geltendmachung durch die zuständige Behörde. Das Interesse des Auftraggebers, er könne mit seinem Vertragspartner ohne Berücksichtigung verbindlicher Entgeltregelungen Vereinbarungen treffen, wird hier als vorrangig vor dem Interesse des Gleichgestellten angesehen, seine ihm zustehenden Ansprüche voll zu erhalten 113 . bb) Speziell: Der entgegenstehende Wille des Heimarbeiters Fraglich ist, ob der einer Amtsklage entgegenstehende Wille des Heimarbeiters zu berücksichtigen ist. Maßgeblich ist der mit § 25 H A G verfolgte Zweck, zu Gunsten des Heimarbeiters den privaten Zahlungsanspruch durchzusetzen und zwar frei von der erfahrungsgemäß bestehenden Drucksituation. Dieses Ziel würde unterlaufen, wollte man die Amtsklage von der Zustimmung des Heimarbeiters abhängig machen. Das Land kann demnach grundsätzlich auch gegen den ausdrücklichen Willen des Heimarbeiters klagen 114 . Offen bleibt, in welcher Weise der abweichende Wille des Heimarbeiters zu berücksichtigen ist. Letztlich beruht die Einschränkung der privaten Dispositionsfreiheit auf dem Gedanken, daß dem Heimarbeiter Hilfe gewährt werden muß. Dies bedeutet aber nicht, daß der Heimarbeiter bei jeder Ent111 Brecht, H A G , § 25 Rdnrn. 11, 21; Maus/Schmidt, H A G , § 25 Rdnrn. 23, 48; Fitting/ Karpf, H A G , § 25 Anm. 5. 112 Gleichgestellte sind nach § 1 Abs. 2 H A G ,,a) Personen, die in der Regel allein oder mit ihren Familienangehörigen (§ 2 Abs. 5) in eigener Wohnung oder selbstgewählter Betriebsstätte eine sich in regelmäßigen Arbeitsvorgängen wiederholende Arbeit im Auftrage eines anderen gegen Entgelt ausüben, ohne daß ihre Tätigkeit als gewerblich anzusehen oder daß der Auftraggeber ein Gewerbetreibender oder Zwischenmeister (§ 2 Abs. 3) ist; b) Hausgewerbetreibende, die mit mehr als zwei fremden Hilfskräften ( § 2 Abs. 6) oder Heimarbeitern ( § 2 Abs. 1) arbeiten; c) andere im Lohnauftrag arbeitende Gewerbetreibende, die infolge ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit eine ähnliche Stellung wie Hausgewerbetreibende einnehmen; d) Zwischenmeister ( § 2 Abs. 3)." 113 Vgl. Brecht, H A G , § 25 Rdn. 6, § 24 Rdnrn. 16 ff, § 1 Rdnrn. 72 ff. IM Vgl. Fitting/ Karpf, H A G , § 25 Anm. 3; Maus!Schmidt, H A G , § 25 Rdn. 4.
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geltabweichung dieser Hilfe bedarf. Eine von der grundgesetzlich garantierten Handlungsfreiheit bestimmte Rechtsordnung hat gesetzliche Ziele nicht um jeden Preis durchzusetzen. Wie leicht die Prozeßführungsbefugnis des § 25 H A G zu einer sozialen Bevormundung führen kann, verdeutlicht der oben geschilderte 10. Beispielsfall 115 . Das mit dem Fall befaßte B A G räumt im Ergebnis einer staatlichen Behörde die Befugnis ein, einen Zivilprozeß gegen den Willen des Berechtigten einzuleiten, um der Behörde Maßstäbe für ihre Tätigkeit zu verschaffen 116. Die Grenze einer notwendigen und nützlichen Einschränkung der privaten Verfügungsfreiheit ist hier erreicht. Es läßt sich also festhalten, daß bei einer sachgerechten Anwendung des § 25 H A G die zuständige Behörde auch die Gründe zu prüfen hat, weshalb ein Heimarbeiter eine ablehnende Haltung einnimmt. Sind diese anerkennenswert und werden sie im weitesten Sinne vom Schutzgedanken des H A G getragen, so ist auch die negative Haltung des Heimarbeiters - gegebenenfalls entscheidend - zu berücksichtigen 117 . Denkbar ist zudem der Fall, daß dem Heimarbeiter bei der Klage durch das Land der Verlust weiterer Aufträge droht. Zwar ist in der Regel deshalb allein nicht von einer Klage abzusehen, da ansonsten der Entgeltschutz vom Verhalten des Auftraggebers abhinge. Anders kann es aber etwa sein, wenn die Entgeltregelung wirtschaftlich mittlerweile überholt ist, nämlich durch Herabsetzung der Vergütung für das hergestellte Stück 118 . b) Praktische Handhabung 119 Die Entgeltprüfung wird engagiert ausgeübt. Die Entscheidung, von der Prozeßstandschaft des § 25 H A G Gebrauch zu machen, wird im wesentlichen von den vorgenannten Kriterien bestimmt. Dabei wird der Zahlungsanspruch flexibel verfolgt. Die Interessen des einzelnen Heimarbeiters, aber auch die des Auftraggebers, werden im einzelnen Fall abgewogen. Dabei kann insbesondere die Erhaltung des Arbeitsplatzes eine entscheidende Rolle spielen. Die Klageerhebung wird als „ultima ratio" angesehen, also als letztes Mittel, wenn andere Wege versagen. Dementsprechend wird zunächst regelmäßig der Auftraggeber nach § 24 H A G zur Nachzahlung aufgefordert. Soweit er 115
Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A.II.6. Vgl. B A G in AP N r . l zu § 25 H A G ; i.e. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A.II.6.; in dem vom B A G entschiedenen Fall hatte sich der Heimarbeiter nicht nur gegen die Klage des Landes ausgesprochen und war dem Rechtsstreit auf Seiten der Beklagten beigetreten. Die Entgeltgestaltung war zudem von der wirtschaftlichen Entwicklung überholt. 117 Dahingehend auch Maus/Schmidt, H A G , § 25 Rdn. 4. 118 Wie im vom B A G in AP Nr. 1 zu § 25 H A G entschiedenen Fall. 119 Die Ausführungen beziehen sich auf Informationen des Staatlichen Gewerbeaufsichtsamtes Minden. 116
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1. Abschn., 2. Teil: Die sogenannte „Amtsklage" im Arbeitsrecht
dieser nicht nachkommt, was jedoch meistens der Fall ist, wird allerdings geklagt. Die Kenntnis der Auftraggeber hiervon verstärkt die Wirksamkeit der Regelung des § 24 H A G . Vor Klageerhebung findet weiterhin immer eine Abstimmung mit dem Heimarbeiter statt, der auf seine Klagemöglichkeit hingewiesen wird. Das Land sieht in der Regel von einer Klage ab, wenn der Heimarbeiter selbst seine Ansprüche gerichtlich geltend macht 120 . B. Die „Amtsklage" des § 14 M A B G I. Grundlagen Kommen in bestimmten Wirtschaftsbereichen oder Unternehmen keine Tarifverträge zustande oder zur Geltung, weil die gewerkschaftliche Kraft hierfür nicht ausreicht, so können nach §§ 1 ff M A B G unter bestimmten Voraussetzungen sogenannte „Mindestarbeitsbedingungen" festgesetzt werden 121 . Durch diese wird nach § 4 Abs. 3, 4 M A B G die unterste Grenze der Entgelte (Löhne, Gehälter) und der sonstigen Arbeitsbedingungen (ζ. B. Mindesturlaub) festgelegt. Den Mindestarbeitsbedingungen kommen nach § 8 Abs. 1 M A B G die gleichen Wirkungen wie einem Tarifvertrag zu. Der Gesetzgeber hat sich aber nicht damit begnügt, den Mindestarbeitsbedingungen eine dem Tarifrecht angepaßte besondere Durchschlagskraft zu verleihen. Er hat darüber hinaus ihre staatliche Überwachung angeordnet. Die entsprechenden Vorschriften sind denen des H A G nachgebildet. Insbesondere kann die Oberste Arbeitsbehörde des Landes bzw. die von ihr bestimmte Stelle nach § 13 M A B G zur Nachzahlung von Minderbeträgen auffordern 122 . Zudem sieht das Gesetz eine dem § 25 H A G entsprechende Regelung vor: Das Land, vertreten durch die Oberste Arbeitsbehörde oder die von ihr bestimmte Stelle, kann nach § 14 M A B G im eigenen Namen den Anspruch eines Arbeitnehmers aus Mindestarbeitsbedingungen geltend machen. Auch hier handelt es sich um den Fall einer gesetzlichen Prozeßstandschaft 123. 120 Davon zu unterscheiden ist die umstrittene Frage, ob der späteren Klage des Landes der Einwand der Rechtshängigkeit bzw. der Rechtskraft entgegensteht; bejahend etwa Gröninger/Rost, Heimarbeit, § 25 Anm. 4; Fitting/ Karpf, H A G , § 25 Anm. 3, 4; a. A . Maus/Schmidt, H A G , § 25 Rdn. 38; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht I , § 89 V 3 b (S. 867) Fn. 46; Molitor, RdA 1954, 83 ff (85). 121 Zu den Voraussetzungen Fitting , RdA 1952, 5 ff; Herschel, BArbBl. 1952, 36 ff; allgemein zum M A B G auch Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, 1. Aufl., § 162 (S. 604 ff). 122 Dies entspricht der Regelung des § 24 H A G ; vgl. i. e. Fitting , RdA 1952, 5 ff (9); Herschel, BArbBl. 1952, 36 ff (37). 123 Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, S. 120; Herschel, BArbBl. 1952, 36 ff (36) ; Fitting, RdA 1952, 5 ff (9); zweifelnd - wie im Fall des § 25 H A G - Molitor, RdA 1954, 83 ff (84), dazu bereits oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A.I.2.b.
Β. Die „Amtsklage" des § 14 MABG
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I I . D i e gewahrten Interessen D i e M ö g l i c h k e i t staatlicher Festsetzung v o n Mindestarbeitsbedingungen dient dem Schutz der A r b e i t n e h m e r . I h n e n sollen wenigstens ein bescheidenes A u s k o m m e n u n d menschenwürdige Lebensbedingungen gesichert w e r d e n 1 2 4 . Für den Bereich, i n dem es überhaupt zu staatlich festgesetzten Mindestarbeitsbedingungen k o m m e n kann, wurde die Gefahr vermutet, daß die A r b e i t nehmer aufgrund ihrer Abhängigkeit nicht immer auf die Einhaltung der M i n destarbeitsbedingungen drängen u n d ihre Ansprüche durchsetzen 1 2 5 . Der im M A B G vorgesehene staatliche Einfluß auf die Gestaltung des Arbeitsvertrags beruht auf der Situation in der Nachkriegszeit. Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staates sah sich der Gesetzgeber einem Zustand gegenüber, in dem die Gewerkschaften aufgelöst und das kollektive Arbeitsrecht beseitigt war 1 2 6 . Die Gestaltung der Arbeitsverträge oblag also in weiten Bereichen der Freiheit der Vertragsparteien. Das erwünschte kollektive Arbeitsrecht hingegen war erst im Wiederaufbau begriffen. Das M A B G sollte unter diesen Bedingungen eine Kompromißlösung darstellen. Es erkennt einerseits den Vorrang des Tarifvertrags an und gewährt andererseits die Möglichkeit, dort zu helfen, wo dieser versagt und nach Auffassung des Gesetzgebers geholfen werden muß. Diese Hilfe wurde jedoch nicht für jeden Fall des Versagens der Tarifautonomie vorgesehen. Lediglich die unterste Grenze der Entgelte und sonstigen Arbeitsbedingungen soll durch das M A B G gesichert werden. Maßgeblicher Gesichtspunkt ist, der Verelendung bestimmter Arbeitsbereiche vorzubeugen 127 . A u s vergleichbaren Gründen, die zur Regelung des § 25 H A G führten, stellt sich § 14 M A B G somit als M i t t e l des Arbeitnehmerschutzes d a r 1 2 8 . A l s Maßnahme des Entgeltschutzes dient die Vorschrift dabei vorrangig dem A r b e i t n e h m e r , dessen privates Recht durchgesetzt werden s o l l 1 2 9 . D i e Amtsklage des § 14 M A B G w i r k t - ebenso wie die des § 25 H A G 1 3 0 mittelbar auch zugunsten der übrigen A r b e i t n e h m e r . A l s Maßnahme des Arbeitnehmerschutzes berührt die Regelung zudem auch Interessen der A l l gemeinheit. Dies verdeutlicht sich zum einen daran, daß mit der Amtsklage den Mindestarbeitsbedingungen eine besondere Durchschlagskraft verliehen werden soll 1 3 1 . Zum anderen 124 Vgl. auch Herschel, BArbBl. 1952, 36 ff (36), der von einem „lohnpolitisch letzten Verteidigungswall" spricht. Abweichend sollen die Entgeltregelungen in der Heimarbeit das angemessene Entgelt verschaffen. 125 Vgl. Nikisch, Arbeitsrecht I I , § 89 I I I 3 (S. 524); Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, 1. Aufl., § 163 V 3 (S. 606). 126 Dazu Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht I, § 5 I 1 ( S. 20 f); Söllner, Arbeitsrecht, § 3 V (S. 24 f). 127 Fitting , RdA 1952, 5 ff (9). 128 So ausdrücklich Molitor, RdA 1954, 83 ff; Schmick, Dissertation, S. 1, 175. 129 Zur entsprechenden Gestaltung im Fall des § 25 H A G vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A . I I . 2 . , 5 . 130 Vgl. dazu oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A.II.3. 131 Herschel, BArbBl. 1952, 36 ff (37).
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1. Abschn., 2. Teil: Die sogenannte „Amtsklage" im Arbeitsrecht
zeigt sich das Interesse der Allgemeinheit am Schutz des Arbeitnehmers vor sozialem Notstand daran, daß der Staat Träger der Sozialhilfe ist. Das besondere Interesse besteht darin, daß der in Arbeit stehende Mensch wenigstens soviel mehr verdient als der Sozialhilfeempfänger, damit ihm die Arbeit noch lohnend erscheint 132 .
Der Schutz der insoweit von der Amtsklage des § 14, M A B G berührten Interessen und Belange wird nicht um seiner selbst willen gewährt. Wie im Falle des § 25 H A G folgt er als Reflex mit der Durchsetzung des privaten Anspruchs aus Mindestarbeitsbedingungen 133. I I I . Praktische Bedeutung Bei Erlaß des M A B G war noch nicht überschaubar, wie sich das Gesetz auswirken würde, vor allem, ob und in welchem Umfang Mindestarbeitsbedingungen erlassen würden. Zeitgenössische Stimmen sprachen die Hoffnung aus, daß das Gesetz eher geringe Bedeutung erlangen und die Sozialpartner anregen sollte, vom Tarifvertrag einen „erweiterten und verfeinerten" Gebrauch zu machen 134 . In der Tat ging die Entwicklung seit Erlaß des M A B G in diese Richtung. Die Bedeutung des Tarifvertrags als Regelungsinstrument für die Praxis ist groß. Zahlenmäßig wird dies daran sichtbar, daß jährlich rund 7000 bis 8000 Tarifverträge abgeschlossen werden. Die Zahl der in Geltung befindlichen Tarifverträge lag 1982 bis 1983 bei etwa 42000. Unmittelbar dürften Tarifverträge für etwas weniger als 7 Millionen Arbeitnehmer gelten. Mittelbar kraft einzelvertraglicher Vereinbarung oder tatsächlicher Handhabung dürften sie dagegen auf 17 bis 18 Millionen Arbeitnehmer Anwendung finden 135 .
Mindestarbeitsbedingungen sind in der Bundesrepublik hingegen noch nicht erlassen worden 136 . Dementsprechend hat die hier vornehmlich interessierende Regelung des § 14 M A B G bisher keine praktische Anwendung gefunden. Der Grund ist einmal darin zu sehen, daß die kollektive Regelung durch Tarifvertrag erhebliche Bedeutung hat. Zum anderen ist der staatliche Eingriff nur in einem engen Bereich zulässig.
132 133
Herschel, BArbBl. 1952, 36 ff (36). Vgl. die ausführliche Darstellung zu § 25 H A G , oben 1. Abschnitt, 2. Teil,
A.II.6. 134
Fitting, RdA 1952, 5 ff (9); vgl. auch Herschel, BArbBl. 1952, 36 ff (39). Vgl. Clasen, BArbBl. 1983, 11 f. 136 Vgl. Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 162, 3 (S. 946); Söllner, Arbeitsrecht, § 18 I I (S. 136). 135
C. Zusammenfassung
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C. Zusammenfassung Im Unterschied zu den Befugnissen der Staatsanwaltschaft in Ehenichtigkeits- und Entmündigungssachen betrifft die durch die Regelungen der § 25 H A G und § 14 M A B G vorgesehene staatliche Einflußnahme auf den Zivilprozeß das subjektive Recht einer privaten Vertragspartei 137 . Die in § 25 H A G geregelte Prozeßstandschaft des Landes bezweckt vorrangig die Sicherung einer angemessenen Entlohnung des Heimarbeiters 138 . Die „Amtsklage" enthebt ihn zu seinen Gunsten von der Notwendigkeit, sein privates Recht geltend zu machen. Sie dient primär dem Nutzen des einzelnen 139 . Die Regelung findet ihren Grund in den besonderen Umständen der Heimarbeit 140 . Die Abhängigkeit des Heimarbeiters von seinem Auftraggeber hat zur Folge, daß der Heimarbeiter sich scheut, ein ihm zustehendes Entgelt zu fordern oder sogar einzuklagen. Die Parteiinitiative versagt 141 . Der materiell verfolgte Schutz, nämlich die verbindliche und unverzichtbare Gewährung einer angemessenen Vergütung, wäre ohne staatliche Einflußnahme nicht sichergestellt 142 . Im Vordergrund des staatlichen Eingriffs steht damit der Sozialschutz des wirtschaftlich Schwächeren 143. Die geschichtlichen Erfahrungen haben gezeigt, daß diese Hilfe erforderlich ist 1 4 4 . Daran hat sich bis heute nichts geändert 145 . Hervorzuheben bleibt, daß die Amtsklage neben der Durchsetzung des privaten Rechts auch den Interessen der Allgemeinheit sowie speziell den übrigen in Heimarbeit Beschäftigten und den Auftraggebern dient 1 4 6 . Diese Belange sind allerdings nicht um ihrer selbst willen geschützt. Sie folgen vielmehr als „Reflex" der Durchsetzung des privaten Zahlungsanspruchs 147. Die Amtsklage dient damit gleichzeitig dem allgemeinen Ziel, „saubere Verhältnisse" im Beschäftigungszweig der Heimarbeit zu schaffen 148.
137
Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A.I.2.b. (für § 25 H A G ) ; 1. Abschnitt, 2. Teil, B.II, (für § 14 M A B G ) . 138 Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A.II.2. 139 Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A.II.2., 6. 140 Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A . I I . l . 141 Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A.II.2., I I I . l . 142 Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A.II.2. 143 Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A.II.2. 144 Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A . I I . l . Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A . I I I . 146 Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, Α.Π.3., 4. 1 47 Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A.II.6. 148 Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A.II.5.
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1. Abschn., 2. Teil: Die sogenannte „Amtsklage" im Arbeitsrecht
Die Amtsklage hat sich praktisch bewährt. Die Tätigkeit der zuständigen Behörden ist sowohl im Hinblick auf die Interessen des Heimarbeiters als auch seiner Arbeitgeber als engagiert zu bezeichnen 149 . Umfassende Aufsichts- und Überwachungsbefugnisse der Behörde, ihre Sach- und Rechtskunde sowie der Einsatz geschulten Personals gewährleisten einen wirksamen Entgeltschutz 150 . Auch wenn die Bedeutung der Amtsklage zahlenmäßig gering ist, beeinflußt sie die Zahlungswilligkeit der Auftraggeber 151 . Der Amtsklage kommt insoweit - wie der Entgeltüberwachung überhaupt - eine „generalpräventive" Wirkung zu: Sie mahnt die Unternehmer zur Einhaltung der Entgeltregelungen. Die Vorschrift des § 25 H A G ist nach alledem grundsätzlich zu begrüßen 152 . Kritisch zu bemerken ist vor allem 153 , daß die staatliche Hilfe zu einer nicht mehr vom Zweck des § 25 H A G erfaßten Bevormundung des Heimarbeiters führen kann. Dies verdeutlicht sich am 10. Beispielsfall 154 . Hier ging es nicht mehr um den beabsichtigten Schutz des Heimarbeiters, sondern um die Klärung von Rechtsfragen, die für die Entgeltüberwachung der Behörde und allgemein für die in Heimarbeit Beschäftigten von Bedeutung waren. Weiterhin ist mit der Amtsklage die Gefahr einer Beschränkung der Eigeninitiative verbunden. Es zeigt sich, daß Heimarbeiter nicht allein aufgrund ihrer Abhängigkeit von einer eigenen Klage absehen, sondern beispielsweise das fehlende Kostenrisiko der entscheidende Grund dafür ist, die Behörde klagen zu lassen 155 . Die Regelung des § 14 M A B G entspricht der des § 25 H A G . Auch hier bildet der Schutz des wirtschaftlich Schwächeren den Hauptgrund der vorgesehenen staatlichen Einflußnahme 156 . Die Vorschrift hat indessen keine praktische Bedeutung gefunden, da Mindestarbeitsbedingungen bis heute nicht erlassen worden sind 157 .
149 Verdeutlicht am Beispiel Nordrhein-Westfalens, vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A.III. 150 Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A.III.3.a. 151 Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A.III.3. 1 52 Vgl. zur abschließenden Würdigung noch im folgenden, 3. Abschnitt. 1 53 Vgl. zu den mit einer Amtsklage weiterhin verbundenen Gefahren noch im folgenden, 3. Abschnitt. 154 Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, Α.Π.6., III.4.b. 155 Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, A.III.4. 156 Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, B.II. 157 Vgl. oben 1. Abschnitt, 2. Teil, C.
1. Abschn., 3. Teil: Klagen zur Durchsetzung des Tarifzwangs 3. T e i l
Klagen von Behörden zur Durchsetzung des Tarifzwangs im Güterfernverkehr und in der Binnenschiffahrt Eine weitere Ausnahme v o n dem Grundsatz, daß es dem einzelnen Rechtsinhaber oder Betroffenen überlassen bleibt, über die Einleitung des Z i v i l p r o zesses zu entscheiden, findet sich bei Klagen, m i t denen Behörden die Erfüllung eines gesetzlich angeordneten Tarifzwangs durchsetzen. Dahingehende Regelungen sind i m Güterkraftverkehrsgesetz ( G ü K G ) 1 u n d i m Binnenschifffahrtsverkehrsgesetz ( B S c h V G ) 2 getroffen. D i e hier maßgeblichen Vorschriften des § 23 G ü K G und des § 31 A b s . 3 B S c h V G bestimmen u. a. folgendes: § 23 GüKG „(1) Ist Beförderungsentgelt unter Tarif berechnet, so hat der Unternehmer den Unterschiedsbetrag zwischen dem tarifmäßigen und dem tatsächlich berechneten Entgelt nachzufordern und erforderlicherfalls gerichtlich geltend zu machen und im Wege der Zwangsvollstreckung beizutreiben. Kommt der Unternehmer dieser Verpflichtung innerhalb einer von der Bundesanstalt für den Güterfernverkehr (§ 53) festzusetzenden angemessenen Frist nicht nach, so geht die Forderung auf die Bundesanstalt über, die das zuwenig berechnete Entgelt im eigenen Namen einzuziehen hat. . . (2) Ist Beförderungsentgelt über Tarif berechnet oder sind andere tarifwidrige Zahlungen oder Zuwendungen geleistet, so muß der Leistende diese zurückfordern und erforderlichenfalls gerichtlich geltend machen und im Wege der Zwangsvollstreckung beitreiben. Kommt der Leistende dieser Verpflichtung innerhalb einer von der Bundesanstalt festzusetzenden angemessenen Frist nicht nach, so geht die Forderung auf die Bundesanstalt über, die das zuviel berechnete Entgelt im eigenen Namen einzuziehen hat. . . (3) Hat ein nach den Absätzen 1 oder 2 Forderungsberechtigter vorsätzlich gehandelt, so geht die Forderung in dem Zeitpunkt auf die Bundesanstalt über, in dem diese dem Schuldner den Übergang mitteilt . . . " § 31 Abs. 3 BSchVG „Vereinbaren die Vertragsparteien in Kenntnis oder in grob fahrlässiger Unkenntnis des festgesetzten Entgelts ein von diesem abweichendes Entgelt, so ist der Unterschiedsbetrag an den Bund zu entrichten. Er ist von der nach § 39 zuständigen Wasser- und Schiffahrtsdirektion einzuziehen."
1
In der Fassung der Bekanntmachung vom 10.3.1983, BGBl. I S. 256. Gesetz über den gewerblichen Binnenschiffsverkehr vom 1.10.1953, BGBl. I S. 1453, in der Fassung der Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes vom 8.1.1969, BGBl. I S. 65. 2
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1. Abschn., 3. Teil: Klagen zur Durchsetzung des Tarifzwangs
A . Die Regelung im Güterfernverkehr I. Grundlagen 1. Der Tarifzwang im Güterfernverkehr und seine Auswirkungen auf den privatrechtlichen Frachtvertrag
Der Güterfernverkehr ist in der Bundesrepublik Deutschland Beschränkungen unterworfen. Neben seiner Genehmigungspflicht und der Kontingentierung in diesem Verkehrsbereich unterliegen Verträge über die Beförderung von Gütern gemäß §§ 7, 20 ff GüKG der Tarifpflicht. Die nach den §§ 20 ff GüKG durch Tarifkommissionen festgesetzten Tarife bilden die Grundlage für die Höhe des im jeweiligen Frachtvertrags - also einer Spielart des Werkvertrags 3 - zu zahlenden Beförderungsentgelts. § 22 Abs. 2 GüKG legt im einzelnen fest, welche Leistungen im Rahmen eines Frachtvertrags tarifwidrig sind. Es sind hierbei insbesondere nicht nur Umgehungen hinsichtlich des Entgelts unzulässig (Abs. 2 S. 2), sondern alle anderen Vergünstigungen, die der Beförderungsunternehmer gewährt, sofern sie nur eine wirtschaftliche oder die Wettbewerbssituation beeinträchtigende Bedeutung haben4. Entscheidend ist danach, ob sich die betreffenden Verhaltensweisen wirtschaftlich als Tarifunter- oder Tarifüberschreitung darstellen. Abgesehen vom Fall des offenen Tarifverstoßes gibt es zahlreiche Möglichkeiten, auf mehr oder weniger versteckte Weise dem Auftraggeber oder anderen Personen wirtschaftliche Vorteile zukommen zu lassen. So stellen die Rückzahlung eines zunächst richtig berechneten und gezahlten Entgelts5 sowie die Zahlung von Schmiergeldern an Angestellte des Auftraggebers 6 oder an Verlader, die als Gesellschafter am Kraftverkehrsunternehmen beteiligt sind 7 , ebenso einen Tarifverstoß dar, wie eine unrichtige Frachtberechnung 8. Die praktische Abgrenzung zwischen zulässigen und unzulässigen Absprachen ist nicht leicht zu treffen 9 .
Der Tarif ist für die Vertragsparteien im Güterfernverkehr verbindlich und nach § 22 GüKG grundsätzlich unabdingbar. Während § 22 Abs. 2 GüKG die Frage regelt, welche Abreden im Zusammenhang mit Frachtverträgen tarifwidrig sind, betrifft Absatz 3 die Auswirkungen auf die Wirksamkeit des Ver-
3 Zur Rechtsnatur des Beförderungsvertrags vgl. Helm, Frachtrecht, § 425 Anm. 51; Baumbach/Duden/Hopt, H G B , § 425 Anm. 2 A . 4 B G H VersR 1960, 435 ff (437); 1963, 156 ff (157); B G H NJW 1972, 390 ff (390); Helm, Frachtrecht, § 22 GüKG Anm. 1. 5 B G H NJW 1960, 284 ff (284); B G H VersR 1960, 508 ff. 6 B G H Z 38, 171 ff (174 f). 7 B G H NJW 1967, 1322 ff. 8 Zum Ganzen Hein! Eickhoff! PukalUKrien, Güterkraftverkehrsrecht, Anm. zu § 22 GüKG. 9 Vgl. für die hier nicht abschließend mögliche Darstellung und Würdigung der Fälle Konow, D B 1970, 2109 ff; vgl. auch Liebert, BB 1987,1754 ff, zu den ähnlichen Bestrebungen im Güternahverkehr.
Α. Die Regelung im Güterfernverkehr
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trags. Ein Verstoß gegen das gesetzliche Verbot, vom Tarif abweichende Abreden zu treffen, führt danach nicht zur Nichtigkeit des ganzen Rechtsgeschäfts, wie es § 134 BGB grundsätzlich für andere Rechtsgeschäfte vorsieht. Er hat vielmehr zur Folge, daß die tarifwidrige Abrede nichtig ist. A n die Stelle des vereinbarten Entgelts tritt die Tarifbestimmung, nach der sich die Höhe des zu zahlenden Entgelts richtet. Neben dieser öffentlich-rechtlichen Verpflichtung zur Tarifeinhaltung besteht zusätzlich die Bußgeldandrohung wegen Tarifverstoßes nach § 98 Nr. 1 GüKG 1 0 , die sich an alle am Frachtvertrag Beteiligten richtet 11 . Ist die Gestaltung der Tarife der Partei Vereinbarung entzogen, so bleibt den Parteien nur die Abschluß- und Aufhebungsfreiheit. 2. Der Tarifausgleich durch die Bundesanstalt fur den Güterfernverkehr
Das Gesetz beläßt es nicht dabei, daß sich die Leistungen nach dem Tarif richten und ein Bußgeld angedroht wird 1 2 . Die Einhaltung des Tarifzwangs wird vielmehr durch die Einschaltung einer Behörde, der Bundesanstalt für den Güterfernverkehr, sichergestellt 13. § 54 GüKG stellt den Pflichtenkatalog der Bundesanstalt auf. Nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 GüKG hat sie „vor allem" dafür zu sorgen, „daß die Tarife, die Beförderungsbedingungen und die Bestimmungen über Sonderabmachungen eingehalten werden". Die maßgeblichen gesetzlichen Mittel zur Herstellung des tarifmäßigen Zustands stellen die Möglichkeiten und Befugnisse dar, die der Bundesanstalt für den Güterfernverkehr nach § 23 GüKG zukommen. Die Nachforderungsansprüche des Unternehmers und die Rückforderungsansprüche seines Vertragspartners auf Zahlung des Unterschiedsbetrags zwischen dem tarifmäßigen und dem tatsächlich gezahlten Entgelt gehen unter den Voraussetzungen des § 23 GüKG auf die Bundesanstalt über. Zur Durchsetzung des Tarif10
Daneben sind die speziellen Bußgeldvorschriften des § 98 Nr. 3, der unzulässige und zu hohe Provisionen betrifft, und der Nr. 4, die Abweichungen vom festgesetzten Entgelt eines Abfertigungsspediteurs anbelangt, zu beachten. 11 Also an Transportunternehmer, Absender, Frachtagent, Mieter und Vermieter eines Fahrzeugs etc.; vgl. Hein! Eickhoff! PukalUKrien, Güterkraftverkehrsrecht, § 98 Anm. 3 d. 12 Die Bußgeldandrohung ist i. ü. vom privatrechtlichen Tarifausgleich unabhängig; vgl. nur BVerwG NJW 1957, 1569 ff. 13 Rechtsgrundlage für die Einrichtung der Bundesanstalt ist § 53 GüKG, nach dessen Abs. 2 in den Bundesländern zudem Außenstellen einzurichten sind. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß die Haushaltsmittel für die Bundesanstalt nicht im Haushaltsplan des Bundes bereit gestellt werden. Nach § 75 GüKG haben vielmehr die Unternehmer des Güterfernverkehrs zur Deckung der Kosten beizutragen. 7 Brenner
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1. Abschn., 3. Teil: Klagen zur Durchsetzung des Tarifzwangs
zwangs kann sie die Forderungen geltend machen und gegebenenfalls gerichtlich durchsetzen. § 23 GüKG will also sicherstellen, daß die Tarife im Güterfernverkehr eingehalten werden 14 . § 23 GüKG unterscheidet zum einen zwischen Tarifunter- und Tarifüberschreitung und zum anderen zwischen vorsätzlichen und nicht vorsätzlichen Tarifabweichungen. Die entsprechenden Regelungen sind im folgenden auszuführen. a) Die Ausgleichsforderung bei nicht vorsätzlichem Tarifverstoß; § 23 Abs. 1 und 2 GüKG § 23 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 S. 2 GüKG sprechen im Fall des nicht vorsätzlichen Tarifverstoßes die Verpflichtung des jeweiligen Gläubigers aus, die Ausgleichsforderung geltend zu machen. Die Pflicht zur Herstellung des tarifmäßigen Zustands legt die Vorschrift in erster Linie den Beteiligten auf. Die Bundesanstalt soll demgegenüber erst in zweiter Linie tätig werden und für den Ausgleich sorgen, wenn sie feststellt, daß die Beteiligten ihrer Verpflichtung zur Nach- oder Rückforderung innerhalb einer von der Bundesanstalt gesetzten Frist 15 nicht nachgekommen sind 16 . Der Gläubiger der Ausgleichsforderung erfüllt seine Verpflichtung, wenn er den Anspruch „ernstlich" geltend macht 17 : Der Berechtigte hat unter Beachtung der Verjährungsfristen nötigenfalls gerichtlich vorzugehen, um den Ausgleich herbeizuführen 18 . Er ist also gehalten, Klage zu erheben oder den Erlaß eines Mahnbescheides zu beantragen 19 , wenn der Schuldner auf Mahnung nicht binnen einer angemessenen Frist zahlt 20 . Sobald der Berechtigte einen vollstreckbaren Titel erlangt hat, muß er die Zwangsvollstreckung ins Auge fassen 21. Die entsprechenden Anträge an das Gericht müssen rechtzeitig 14 Zu Sinn und Zweck des § 23 GüKG im einzelnen vgl. noch im folgenden 1. Abschnitt, 3. Teil, 1.II.2. 15 Vgl. dazu noch im folgenden zu Fn. 25. 16 Hein!EichhoffIPukalUKrien, Güterkraftverkehrsrecht, § 23 GüKG Anm. 2; Helm, Frachtrecht, § 23 GüKG Anm. 2 a) aa); vgl. auch Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, S. 120 f. 17 So die allgemeine Ansicht: Hein/Eichhoff/PukaW Krien, Güterkraftverkehrsrecht, § 23 GüKG Anm. 3 b; Balfanziv. Tegelen, GüKG, § 23 Anm. 5; Münzl Haselaul Liebert, GüKG, § 23 Anm. 2 a; Stabenow, S. 40. 18 Vgl. Heini Eichhoff/Pukall! Krien, Güterkraftverkehrsrecht, § 23 GüKG Anm. 3 b, zu den Pflichten des Anspruchsberechtigten. 19 Ob der Forderungsinhaber Klage erhebt oder ein Mahn verfahren einleitet, bleibt ihm immerhin überlassen. Das Prozeßrisiko trägt i. ü. auch nach Einschaltung der Bundesanstalt der Forderungsinhaber selbst; vgl. Balfanziv. Tegelen, GüKG, § 23 Anm. 5. 20 Schon hier verdeutlicht sich, daß es sich der Sache nach um einen „Klagezwang" handelt; vgl. Jauernig, Studienbuch, § 24 I I (S. 71); Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, S. 120 ff; Bötticher, ZZP 85 (1972) 1 ff (23 f); im einzelnen noch im folgenden 1. Abschnitt, 3. Teil, A.II.3.
Α. Die Regelung im Güterfernverkehr
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gestellt werden, da der Berechtigte nicht die Verjährungsfrist schuldhaft verstreichen lassen darf 22 . Die Verpflichtung zur Nach- oder Rückforderung besteht neben der Androhung eines Bußgeldes nach § 98 Nr. 1 GüKG. Sie setzt nicht die Feststellung voraus, daß der Tarifverstoß mit einem Bußgeld zu belegen ist 23 . Wer der Verpflichtung zur Nach- oder Rückforderung nicht nachkommt, verwirkt gemäß § 99 Abs. 1 Nr. 5 GüKG eine weitere Geldbuße. Werden die Nach- und RückZahlungsansprüche nicht geltend gemacht, so klagt nicht etwa der Staat die Ansprüche für den Berechtigten ein. Vielmehr werden die Ansprüche von der Bundesanstalt für den Güterfernverkehr „konfisziert" 24 . Die vorausgesetzte Fristsetzung durch die Bundesanstalt25 ist ein privatrechtsgestaltender Verwaltungsakt, der den Inhaber der Ausgleichsforderung dazu anhält, seine Ansprüche innerhalb der gesetzten Frist ernstlich geltend zu machen 26 . Einer weiteren Handlung bedarf es für den Übergang der Forderung auf die Bundesanstalt, einer gesetzlich angeordneten Zession 27 , nicht 28 . Der bürgerlichrechtliche Charakter der Ausgleichsforderung wird durch den Übergang auf die Bundesanstalt ebensowenig geändert wie die Höhe des Anspruchs 29 . Nach dem Übergang klagt die Bundesanstalt die Forderung im eigenen Namen ein. b) Die Ausgleichsforderung bei vorsätzlichem Tarifverstoß; § 23 Abs. 3 GüKG Bei vorsätzlicher Tarifabweichung ist die Bundesanstalt für den Güterfernverkehr gemäß § 23 Abs. 3 GüKG berechtigt, den Übergang der Forderung auf sich zu bewirken und sie im eigenen Namen einzuziehen. Dazu bedarf es in Abweichung zum unvorsätzlichen Verstoß keiner Fristsetzung. Es ist jedoch eine Mitteilung an den Schuldner erforderlich, daß die Forderung auf die Bundesanstalt übergeht. Bei der Mitteilung handelt es sich um einen Ver21
Hein! Eichhoff ! PukalUKrien, Güterkraftverkehrsrecht, § 23 GüKG Anm. 3 b) (2). Heini Eickhoff! PukalUKrien, Güterkraftverkehrsrecht, § 23 GüKG Anm. 3 b) (1). 23 Hein!Eickhoff!PukalUKrien, Güterkraftverkehrsrecht, § 23 GüKG Anm. 2 a.E. 24 So Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, S. 121. 25 Eine bestimmte Frist ist nicht vorgesehen. Sie ist nach freiem Ermessen zu setzen, wobei vor allem die drohende Verjährung berücksichtigt wird; vgl. Stabenow, S. 40; Hein!Eickhoff!PukalUKrien, Güterkraftverkehrsrecht, § 23 G Ü K G Anm. 2 a. 26 Vgl. Münz! Haselau! Liebert,*}üKG, § 23 Anm. 2 a, m.w.N. 27 Hein!Eickhoff!PukalUKrien, Güterkraftverkehrsrecht, § 23 GüKG Anm. 3 d); Stabenow, S. 42; Lüke, ZZP 76 (1963) 1 ff (18). 28 Der Fristsetzung wird in der Praxis grundsätzlich die Unterschiedsberechnung über das tarifmäßige und das tatsächlich gezahlte Entgelt beigefügt. Zudem wird sie mit dem Hinweis auf die Folgen der Fristversäumung verbunden. 29 B G H NJW 1960, 335 ff (335); Helm, Frachtrecht, § 23 GüKG Anm. 1; Münz! HaselaulLiebert, GüKG, § 23 Anm. 2 a). 22
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1. Abschn., 3. Teil: Klagen zur Durchsetzung des Tarifzwangs
waltungsakt, der mit dem Zeitpunkt wirksam wird, in dem er dem Schuldner zugeht; §§ 35, 43 VwVfG 3 0 . Daneben wird allgemein angenommen, daß die Bundesanstalt dem Gläubiger, dem die Forderung entzogen wird, den Forderungsübergang mitzuteilen habe 31 . Das Gesetz spricht in § 23 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 S. 2 GüKG lediglich für den Fall des nicht vorsätzlichen Tarifverstoßes die Verpflichtung des Forderungsberechtigten zum Tarif ausgleich aus. Die Verpflichtung zur Nach- oder Rückforderung ist jedoch nach heute allgemein vertretener Auffassung vom Verschulden unabhängig 32 . Sie besteht danach auch bei vorsätzlichen Abweichungen, solange die Bundesanstalt nicht den Übergang der Forderung nach § 23 Abs. 3 GüKG bewirkt hat 33 . In Rechtsprechung 34 und Literatur 35 ist gleichfalls anerkannt, daß es sich trotz der mißverständlichen Fassung des § 23 GüKG - im Fall des § 23 Abs. 3 GüKG ebenfalls um einen Forderungsübergang kraft Gesetzes handelt 36 .
I I . Die von § 23 GüKG gewahrten Interessen 1. Die Ziele des Güterkraftverkehrsgesetzes unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte
Sinn und Zweck des § 23 G Ü K G verdeutlichen sich an der Zielsetzung des Güterkr aft Verkehrsgesetzes. Die Wettbewerbsbedingungen in der Nachkriegszeit führten dazu, daß die Leistungen des Güterfernverkehrs dem Tarifzwang unterworfen wurden. Seit dem Ersten Weltkrieg hatte sich der Kraftwagen immer mehr gegen das Beförderungsmonopol der Eisenbahn durchgesetzt. Dies hatte zur Folge, daß sich zum Schutz der Eisenbahn ein spezielles Gewerberecht für den Kraftwagenverkehr entwickelte 37 . Der Zweite Weltkrieg führte dazu, daß diese 30 Gegenstand ist zum einen die Feststellung, daß der Forderungsberechtigte überhaupt vorsätzlich gehandelt habe und zum anderen die Mitteilung über den Forderungsübergang; vgl. HeiniEickhoff/Pukall! Krien, Güterkr aftverkehrsrechti, § 23 G Ü K G Anm. 4. 31 B G H Z 38, 171 ff; Stabenow, S. 42 ff; Hein/Eickhoff! Pukallf Krien, Güterkraftverkehrsrecht, § 23 GüKG Anm. 4. 32 Vgl. BVerwG NJW 1957,1569 ff; L G Köln, D G V 1957, 23; Seilmann, D G V 1954, 104 ff; Hein/Eickhoff/PukalüKrien, Güterkraftverkehrsrecht, § 23 GüKG Anm. 3 a). 33 Vgl. Hein/Eickhoff!Pukall/Krien, Güterkraftverkehrsgesetz, § 23 GüKG Anm. 3 a). 34 B G H Z 31, 88 ff; 38, 171 ff; BVerwGE 21, 324 ff; BVerwG D Ö V 1980, 49 ff. 35 Hein!Eichhoff!Pukall!Krien, Güterkraftverkehrsrecht, § 23 Anm. 4 c) (2). 36 Abweichend in der Vergangenheit Lüke, JZ 1959, 270 ff (270); derselbe, NJW 1960, 1707 ff; wonach es sich um eine Forderungsübertragung durch einen Hoheitsakt handele; ähnlich O L G Celle NJW 1957, 228 ff; O L G Hamburg, BB 1956, 644 ff.
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Ordnung nach Kriegsende nicht mehr bestand 38 . Zunächst galt weiterhin das „Gesetz über Güterfernverkehr mit Kraftfahrzeugen" 39 . Danach waren sämtliche Unternehmer zu einem „Reichskraftwagenbetriebsverband" zusammengeschlossen, zu dessen Hauptaufgaben die Tariffestsetzung und -Sicherung gehörte. Allein ihm stand der Anspruch auf das Beförderungsentgelt zu, welches er berechnete, einzog und an die einzelnen Unternehmer auszahlte40. Nach dem Krieg wurde der „Reichskraftwagenbetriebsverband" jedoch teilweise aufgelöst, teils durch die Beschlagnahme seines Vermögens und die anderweitige Vergabe seiner Aufgaben praktisch ausgeschaltet. Infolgedessen waren die Transportunternehmer in der Tarifgestaltung wieder sich selbst überlassen. Während sich das Kraftfahrzeuggewerbe bald wieder günstig entwickelte, stellte sich die Situation bei der Bundesbahn anders dar 41 . Zu den Vernachlässigungen durch den nationalsozialistischen Staat und die umfangreichen Kriegszerstörungen trat hinzu, daß die Bundesbahn gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen unterworfen war, wie der Betriebs- und Beförderungspflicht, dem Tarifzwang und der Verpflichtung zur Gewährung niedriger Tarife im Güterfernverkehr. Neben den zwar zu berücksichtigenden kaufmännischen Gesichtspunkten hatte die Bundesbahn nach § 4 BundesbahnG 42 vornehmlich die Interessen der Volkswirtschaft zu wahren. In dieser Situation hielt es der Gesetzgeber für erforderlich, mit dem Güterkraftverkehrsgesetz weiter in die Auseinandersetzung zwischen den Verkehrsträgern einzugreifen. Die unterschiedlichen Gesetzesentwürfe suchten mit den Mitteln der Kontingentierung, der Tarifbindung und -Überwachung die Konkurrenz zwischen den einzelnen Verkehrsträgern unter staatlicher Kontrolle zu halten 43 .
37 Z u dieser Entwicklung und den einzelnen gesetzlichen Regelungen vgl. Stabenow, S. 9 ff, 17 f. 38 Vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs eines Gesetzes über den Güterfernverkehr, BT-Drucksache 1/1343; Initiativantrag des Deutschen Bundesrates für ein Gesetz über den Güterfernverkehr, BT-Drucksache 1/1344; Stabenow, S. 9; vgl. auch Balfanz/v. Tegelen, GüKG, § 23 Anm. 8, wo von einer „Tarifverwilderung" in dieser Zeit die Rede ist. 39 GFG vom 26.6.1935, RGBl. I S. 788. 40 Zum Reichskraftwagenbetriebsverband und der Entwicklung in der Nachkriegszeit vgl. Bartholomeyczik, GüKG, Einl. S. 2 f ; Hein!Eickhoff/PukalUKrien, Güterkraftverkehrsrecht, Vorwort S. 8. 41 Hierzu und zum folgenden vgl. Stabenow, S. 9 ff, 17 f. 42 Bundesbahngesetz i.d.F. vom 13.12.1951, BGBl. I S. 955; vgl. auch § 28 Bundesbahngesetz i.d.F. des ÄndG vom 1.8.1961, BGBl. I S. 1161. 43 Vgl. Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drucksache 1/1343; Initiativantrag des Deutschen Bundesrates, BT-Drucksache 1/1344.
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Auf dem Gebiet der Tarifüberwachung sind diese Bestrebungen an dem Wortlaut der getroffenen Regelungen zu erkennen. So bestimmt § 22 Abs. 1 S. 2 GüKG, daß bei der Festsetzung der Beförderungsentgelte „unbillige Benachteiligungen landwirtschaftlicher und mittelständischer Wirtschaftskreise sowie wirtschaftlich schwacher und verkehrsungünstig gelegener Gebiete" zu verhindern sind. Diese Zielrichtung verdeutlicht sich zudem an der Einrichtung der Bundesanstalt für den Güterfernverkehr. Nach § 53 Abs. 1 GüKG wird die Anstalt errichtet, um die „Ordnung im Güterfernverkehr innerhalb seiner verschiedenen Zweige und im Verhältnis zu anderen Verkehrsträgern" zu gewährleisten. Schließlich legt § 7 GüKG das Ziel der Tarife dahingehend fest, daß die „Wettbewerbsbedingungen angeglichen werden und daß durch marktgerechte Entgelte und einen lauteren Wettbewerb der Verkehrsträger eine volkswirtschaftlich sinnvolle Aufgabenverteilung ermöglicht wird." Das Güterkraftverkehrsgesetz will darüber hinaus die Kraftverkehrsunternehmer vor einem existenzgefährdenden Wettbewerb innerhalb der eigenen Branche schützen44. Die teilweise vertretene Auffassung, daß das Gesetz allein die verschiedenen Verkehrsträger (Bundesbahn, Binnenschiffahrt, Güterkraftverkehr) vor einem ruinösen Wettbewerb schützen wolle 4 5 , erschöpft nicht den Sinn des Gesetzes; denn Konkurrenz droht bei freier Preisbildung auch zwischen den Unternehmern eines einzigen Verkehrskreises. Dies zeigen auf dem Gebiet des Güterfernverkehrs die Bestrebungen der Kraftverkehrsunternehmer, die Preise gegenseitig zu unterbieten oder Preisnachlässe durch sogenannte „Umgehungsgeschäfte" zu gewähren 46 . Dieser Wettbewerb ist vor allem für kleinere und mittlere Unternehmer der Güterkraftverkehrsbranche existenzgefährdend. Durch die Verstöße wird gerade der tariftreue Unternehmer, der zwar auf der Grundlage der Tarife, nicht aber darunter befördern kann, betroffen.
Es läßt sich festhalten, daß das Güterkraftverkehrsgesetz das im allgemeinen Interesse liegende Verkehrs- und wirtschaftspolitische Ziel eines geordneten und leistungsfähigen Güterverkehrs verfolgt.
44 Vgl. BVerwGE 8, 336 ff; BVerwG D Ö V 1980,49 ff; B G H NJW 1972, 390 ff (390); Heini Eichhoff/PukalUKrien, Güterkraftverkehrsrecht, § 23 GüKG Anm. 2; Münzt Haselaul Liebert, GüKG, § 23 Anm. 1; enger noch B G H VersR 1966, 157 ff (159), wo der Zweck der Tarifbindung noch ausschließlich im Schutz der Bundesbahn gegen einen ruinösen Wettbewerb durch den freien Unternehmer gesehen wurde. 45 So B G H Z 8, 66 ff (68 f); 38,171 ff (176); B G H D B 1964,475 ff (476); B G H VersR 1966, 157 ff (159); ähnlich Konow, D B 1970, 2109 ff (2110). 46 Vgl. insoweit auch Konow, D B 1970, 2109 ff (2110); i. ü. verweist schon BVerwG NJW 1957,1569 ff, darauf, daß die Ordnung des Güterfernverkehrs durch diese Bestrebungen gefährdet sei.
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2. Die Aufgabe des § 23 GüKG
Aus den Überschneidungen und der Wettbewerbssituation innerhalb der unterschiedlichen Verkehrskreise ergibt sich das Bedürfnis nach einem gesicherten und umfassenden Tarif gefüge. Um den Tarifzwang durchzusetzen, erschien dem Gesetzgeber die Bestrafung eines Verstoßes nicht ausreichend. Er hielt es daneben für erforderlich, durch die Kontrolle und das Vorgehen der Bundesanstalt die Einhaltung des Tarifs zu gewährleisten 47. Die Vorschrift stellt sich daher als staatliche Lenkungsmaßnahme zur Durchsetzung der mit der verbindlichen Gestaltung der Beförderungsentgelte verfolgten Ziele dar 48 . Die Regelung dient dem im Allgemeininteresse verfolgten Ziel eines geordneten und leistungsfähigen Güterverkehrs. Dadurch, daß die Vorschrift des § 23 GüKG die Verpflichtung zur Geltendmachung und Durchsetzung der Tarifausgleichsforderung ausspricht, richtet sie sich an den jeweiligen privaten Gläubiger 49 . Seine Rechte aus dem Frachtvertrag treten jedoch - bedenkt man den angedrohten Verlust der Forderung - hinter dem Tarifzwang und der Tarif Sicherung, mithin dem allgemeinen Interesse, zurück. Unabhängig von den Gründen, die zur Regelung des § 23 GüKG und dem dort vorgesehenen Forderungsübergang geführt haben, bildet der privatrechtliche Zahlungsanspruch den Streitgegenstand des von der Bundesanstalt eingeleiteten und geführten Zivilprozesses. Das öffentliche Interesse folgt dann als „Reflex" der Geltendmachung der Ausgleichsforderung. Im Unterschied zum Recht der Heimarbeit bildet es nicht den Grund für das Klagerecht einer staatlichen Stelle. Es ist nur Anlaß für den vorgesehen Forderungsübergang.
3. § 23 GüKG als Ausnahme vom Verfügungsgrundsatz
Weicht die Vorschrift des § 23 GüKG von dem Grundsatz ab, daß allein der Rechtsinhaber über die Einleitung eines Zivilprozesses entscheidet? Zweifel ergeben sich insoweit, als der Staat 50 nicht etwa für den Berechtigten Ansprüche geltend macht, sondern auf ihn übergegangene, also eigene Forderungen einklagt. So wird teilweise davon gesprochen, daß diese Ansprüche in Wahrheit keine subjektiven Rechte, sondern lediglich formale Zuordnungen im Sinne rechtstechnischer Mittel zur Wahrnehmung wirtschaftlicher Ordnungs47 BVerwG NJW 1957ΓΪ569 ff (1569); BVerwGE 8, 283 ff; BVerwG D Ö V 1980, 49 ff (50); B G H NJW 1960, 1057 ff (1058); Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, S. 120 ff (121); Balfanziv. Tegelen, GüKG, § 23 Anm. 2; Hein!Eickhoff!Pukall!Krien, Güterkraftverkehrsrecht, § 23 GüKG Anm. 2. 48 Vgl. nur BVerwG D Ö V 1980, 49 ff (50); Hein!Eickhoff!Pukall!Krien, Güterkraftverkehrsrecht, § 23 GüKG Anm. 2; jeweils m.w.N. 49 So ausdrücklich BVerwG NJW 1957, 1569 ff (1569). 50 Durch die Bundesanstalt für den Güterfernverkehr.
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1. Abschn., 3. Teil: Klagen zur Durchsetzung des Tarifzwangs
prinzipien seien 51 . Dies zeige sich an ihrer Anfälligkeit gegenüber der staatlichen Konfiskation 52 . Von einer wirklichen Dispositionsfreiheit kann aber nur dann die Rede sein, wenn der Entschluß des einzelnen, von einer Klage abzusehen, unangreifbar ist 53 . Dies trifft jedoch im Fall des § 23 GüKG nicht zu. Die tarifliche Preisbindung und die gesetzlich ausgesprochene Verpflichtung, gewährte Preisnachlässe rückgängig zu machen und Überzahlungen wieder abzugleichen, stellen sowohl materiell- als auch prozeßrechtlich eine Einmischung in den privaten Frachtvertrag dar 54 . Berechtigter und Verpflichteter aus diesem Vertrag - insbesondere im Hinblick auf das Beförderungsentgelt - sind vorrangig die Parteien. Deshalb obliegt es ihnen, einen Unterschiedsbetrag gegebenenfalls auch gerichtlich - auszugleichen. Erst wenn sie ihrer Verpflichtung nicht nachkommen, ist der Ausgleich Sache der Bundesanstalt55. Die Ausgleichsforderung ist ein privater Anspruch der am Frachtvertrag beteiligten Parteien, der unter bestimmten Voraussetzungen auf eine Behörde übergeht. Letzteres ist erst dann der Fall, wenn sich die privaten Parteien nicht an das tariflich festgesetzte Entgelt halten und die entsprechenden Unterschiedsbeträge nicht geltend machen. Von einer rein formalen Zuordnung an den einen oder den anderen Vertragspartner kann weder bei tarifgerechtem noch tarifwidrigem Entgelt gesprochen werden. Bei einer anderen Gestaltung hätte der Gesetzgeber auf eine Prozeßstandschaft der Parteien im Interesse des Staates zurückgegriffen 56. Außerdem müßte die Betrachtungsweise, daß die „Fracht" kein subjektives Recht sei, dann auch für den Tariflohnanspruch oder die aus der Überschreitung von Höchstpreisvorschriften erwachsenen Forderungen gelten, da sie ebenfalls im Widerspruch zu den vertraglichen Vereinbarungen geltend gemacht werden können 57 . Die Besonderheit der Regelung des § 23 GüKG liegt nach der aufgezeigten Gestaltung darin, daß sie den Vertragspartnern - als Ausnahme vom Verfügungsgrundsatz 58 - eine Pflicht zur Geltendmachung einer Forderung auferlegt. Diese Forderung wird von der Bundesanstalt für den Güterfernverkehr eingezogen, wenn der Gläubiger seiner Verpflichtung nicht nachkommt 59 . Für 51 So Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, S. 121; kritisch dazu Bötticher, ZZP 85 (1972) 1 ff (24). 52 Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, S. 121. 53 Jauernig, Studienbuch, § 24 I I (S. 71). 54 Henke, Grundriß, § 18 I I 2 b (S. 364). 55 Vgl. oben 1. Abschnitt, 3. Teil, A.I.2. 56 Für die Begründung einer Prozeßführungsbefugnis zumindest im Bereich der fahrlässig begangenen Tarifverstöße spricht sich Lüke, ZZP 76 (1963) 1 ff (18), aus. 57 Vgl. Bötticher, ZZP 85 (1972) 1 ff (24). 58 So ausdrücklich: Jauernig, Studienbuch, § 24 I I (S. 71); Henke, Grundriß, § 18 I I 2 b (S. 363). 59 Vgl. Henke, Grundriß, § 18 I I 2 b (S. 363); Bötticher, ZZP 85 (1972) 1 ff (24).
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den Gläubiger bedeutet dies, den Tarif ausgleich von sich aus gegenbenenfalls auch gerichtlich durchzuführen und die Durchsetzung nicht der Bundesanstalt zu überlassen 60. Diese soll erst in zweiter Linie tätig werden. In der Praxis zeigt sich dies beispielsweise daran, daß seitens der Bundesanstalt selbst im Falle eines vorsätzlichen Tarifverstoßes von weiteren Maßnahmen abgesehen werden kann, wenn der Gläubiger den Anspruch nachhaltig und mit einiger Aussicht auf den Ausgleich einer Über- oder Unterzahlung verfolgt 61 . Im Hinblick auf den Verfügungsgrundsatz ist auch zu beachten, daß bereits im Vorfeld eines Zivilprozesses Einfluß auf die Parteien eines Frachtvertrages genommen wird. Durch den Tarifzwang und die Verpflichtung, für den Tarifausgleich zu sorgen, zwingt der Gesetzgeber den Parteien Ansprüche auf. Das von ihnen Gewollte findet weder materiell- noch prozeßrechtlich Berücksichtigung. Vielmehr wird durch die Androhung des Verlustes der Forderung 62 und zusätzlich einer nach § 98 oder § 99 GüKG zu zahlenden Geldbuße ein unmittelbarer Klagezwang auf den Berechtigten ausgeübt63. Die private Verfügungsbefugnis, die auch das Recht umfaßt, eine Forderung nicht geltend zu machen, ist insoweit aufgehoben. Zusammenfassend zeigt sich der Ausnahmecharakter des § 23 GüKG im Hinblick auf den Verfügungsgrundsatz in zweifacher Weise: (1) Auf den jeweiligen Gläubiger wird ein Zwang ausgeübt, die Tarifausgleichsforderung gerichtlich geltend zu machen. Dies stellt eine Ausnahme von dem Grundsatz dar, daß die Einleitung eines Zivilprozesses der Verfügungsfreiheit des einzelnen obliegt. (2) Dem Berechtigten wird auch die Entscheidung darüber genommen, seinen Anspruch nicht geltend zu machen. Nötigenfalls setzt sich eine Behörde an die Stelle des Gläubigers.
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3 a).
Vgl. Heini Eichhoff/Pukallf
Krien, Güterkraftverkehrsrecht, § 23 GüKG Anm. 2,
61 Vgl. BVerwG NJW 1957, 1569 ff; Heini Eickhoff! Pukallf Krien, Güterkraftverkehrsrecht, § 23 GüKG Anm. 4 a). 62 In der Praxis wird bei fahrlässigen Tarifverstößen die Fristsetzungsverfügung mit einem dahingehenden Hinweis verbunden. 63 So Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, S. 121; Bötticher, ZZP 85 (1972) 1 ff (23 f); Jauernig, Studienbuch, § 24 I I (S. 71 f).
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1. Abschn., 3. Teil: Klagen zur Durchsetzung des Tarifzwangs I I I . Praktische Erfahrungen 64 1. Die Bedeutung des Tarifschutzes, insbesondere des Forderungsübergangs nach § 23 GüKG
D i e Tarifüberwachung u n d die Durchführung des Tarifausgleichs nach § 23 G ü K G 6 5 sind die Hauptaufgaben der Bundesanstalt 6 6 . D i e Überwachungsund Tarifsicherungsaufgaben werden dabei i m wesentlichen bei den A u ß e n stellen durchgeführt 6 7 . D i e Bedeutung des Tarifausgleichs nach § 23 G ü K G zeigt sich an folgender Zusammenstellung über Tarifsausgleichsverfahren nach den Absätzen 1 u n d 3 für die Z e i t v o n 1972 bis 1984 6 8 :
Tarifausgleichsverfahren nach § 23 Abs. 1 und 3 GüKG
Jahr 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984
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Anzahl der Unterschiedsberechnungen davon übergegangene insgesamt ^ ο © ο Forderungen 39 087 42 962 47 659 40 886 46 723 53 913 49 544 48 885 61 902 48 700 48 874 49 246 50 557
10 424 11 241 9 300 9 120 14 487 15 186 8 111 9 484 15 249 8 720 9 245 11 962 10 358
Der Verfasser hatte Gelegenheit, einen Einblick in die Tätigkeit der Bundesanstalt für den Güterfernverkehr in Köln und in ihrer Außenstelle in Kiel zu nehmen. Soweit nicht anders vermerkt, beziehen sich die Ausführungen auf die dort erhaltenen Informationen. 65 Zu den übrigen Aufgaben vgl. § 54 GüKG und die entsprechende Kommentierung bei Heini Eickhoff! PukalUKrien, Güterkraftverkehrsrecht, zu § 54 GüKG.