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German Pages [352] Year 2004
Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben
Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker Band 155
Vandenhoeck & Ruprecht
Martin Holtermann
Der deutsche Aristophanes Die Rezeption eines politischen Dichters im 19. Jahrhundert
Vandenhoeck & Ruprecht
Verantwortlicher Herausgeber: Albrecht Dihle
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-25254-4 Hypomnemata ISSN 0085-1671
Zugleich: Diss., Heidelberg 1999
© 2004, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Gesamtherstellung: Hubert & Co. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort....................................................................................................... 9 Einleitung .................................................................................................. 11 1. Die Rezeption des Politischen bei Aristophanes von der Antike bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ........................................................ 23 1. 1
Aristophanes über Aristophanes und die zeitgenössische Rezeption der Alten Komödie ......................................................................... 23
1.2 1.3
Platons Ausgrenzung der Invektive ................................................... 30 Aristoteles: Vom Iambos zum Mythos .............................................. 32
1.4
Theophrast: Ständeklausel und Alltagsdarstellung .............................. 35
1.5
Literaturgeschichtliche Konstruktionen des Hellenismus ..................... 37
1.6
Cicero: Der Komödiendichter wird zum Censor. ............................... .40
1. 7
Das Moralsatire-Interpretament bei Horaz ........................................ .42
1.8 1.9
Antike Rezeptionen des Politischen ................................................. .46 Aristophanes im Mittelalter und während der Renaissance ................. .49
1.10 Französische Angriffe auf Aristophanes im 17 . Jahrhundert ................ 54 1.11 Die >Entdeckung< des Politischen bei Aristophanes in der deutschen Aufklärung ..................................................................................... 57 2. Wegbereiter: Schlosser und Wieland ..................................................... 61 2.1
Johann Georg Schlosser: Des Aristophanes' »andre Aussichten« ......... 61 2.1.1 Schlosser über Funktion und Möglichkeit von Personalsatire ....... 62 2.1.2 Die Parabase der Frösche ......................................... ............... 65 2.l.3 Schlossers Interesse an den Fröschen ........................................ 70
2.2
Christoph Martin Wieland ............................................................... 74 2.2.1 Die Französische Revolution als »Schlüssel« fur Aristophanes .... 74 2.2.2 Die antirevolutionäre Indienstnahme der Antike ......................... 77 2.2.3 Wielands Aktualisierung des Aristophanes ................................ 80 2.2.4 Folgen-, aber nicht zwecklos: Wieland über Intention und Wirkung der Aristophanischen Komödie ..................................... 84
5
Inhalt
2.2.5 Wielands Entschärfung der Aristophanischen Personalsatire: das Wolken-Problem ... .................................................................... 88 3. Philosophische Vorgaben ...................................................................... 91 3.1
Friedrich Schlegel ........................................................................... 92 3.1.1 Freude, Freiheit und Formlosigkeit der Komödie ....................... 92 3.1.2 Die Komödie als genuin demokratische Kunstform .................... 96 3.1.3 Zweckfreiheit der Komödie ..................................................... 98
3.2
Komödientheorien im Anschluß an Friedrich Schlegel... ................... 10 1 3.2.1 Symbolisierung: Friedrich Wilhelm Schelling .......................... 102 3.2.2 Subjektivität und Selbstvernichtung: Friedrich Ast.. ................. 104
3.3
Distanzierungen von Aristophanes und Schlegel .............................. 106 3.3.1 JeanPaul ............................................................................. 106 3.3.2 Solger. ................................................................................. 108
3.4
Hegel. .......................................................................................... 109 3.4.1 Objektivität - Subjektivität - Aufspreizen ............................... 110 3.4.2 Politischer Ernst mittels »Selbstzerstörung des Nichtigen« ........ 114 3.4.3 Aristophanes als Verkörperung seiner zwiespältigen Zeit .......... 116
3.5
Komödientheorien nach Hegel ....................................................... 117
4. Der neue, gefährliche, blutbespritzte Aristophanes. Aristophanische Komödien bis 1850 ................................................... 122 4.1
Die Entwicklung des aristophanischen Lustspiels bis 1829 ................ 122 4. 1.1 Ludwig Tieck ....................................................................... 122 4.1.2 Rückerts Napoleon-Trilogie ... ................................................ 127 4.1.3 August von Platen ................................................................. 129
4.2
Der Platen-Heine-Streit ................................................................. 132 4.2.1 Heine als Aristophanes .......................................................... 132 4.2.2 Der Sohn des Aristophanes .................................................... 139
6
4.3
Vormärz ...................................................................................... 143 4.3.1 Wolkenzug, von Moritz Rapp (1836) ....................................... 143 4.3.2 König Kodrus, von Karl Goedeke (1839) ................................ 147 4.3.3 Der Philosoph über die Komödie, Komödien über Philosophen: HegeL .............................................. 153 4.3.4 Die Mondzügler, von Heinrich Hoffmann (1843) ..................... 157 4.3.5 Die politische Wochenstube, von Robert Prutz (1844) .............. 160
4.4
Revolution. Die Wände, von SeemannlDulk (1848) .......................... 163
Inhalt
4.5
Reaktion ...................................................................................... 165 4.5.1 Keck, Die Kaiserwahl zu Franlifurt (1850) .............................. 166 4.5.2 A. Fr. v. Schack, Der Kaiserbote (1850) ................................. 167 4.5.3 Glaßbrenner, Kaspar, der Mensch (1850) ................................ 169
4.6 4.7 4.8
Warum Aristophanes? ................................................................... 171 Kritiker ........................................................................................ 177 Resümee: Die Komödien des Aristophanes in ihrer transformativen Rezeption..................................................................................... 182
5. Tendenzen in der Beurteilung des Politischen bei Aristophanes .......... 185 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9
Von der Posse zum tiefen Ernst.. .................................................... 185 Kanngiesser: Die Alte Komödie als demokratische Institution ........... 189 Kämpfer fur die alte Sitte - Kind der neuen Zeit .............................. 194 Droysens Verabschiedung des Moralisten und Politikers Aristophanes ................................................................................ 198 Arnold Ruge und die Parteilichkeit des Aristophanes ........................ 203 Ludwig Seeger: Aristophanes, der Anhänger der »Zopfzeit« ............. 208 Der Romantiker Aristophanes ........................................................ 215 Vom tiefen Ernst zur Posse ............................................................ 219 Grundzüge der interpretativen Rezeption des Politischen bei Aristophanes ................................................................................ 227
6. Aristophanes in der Sozialismus-Debatte ............................................ 230 6.1 6.2
Julius Richters Komödien gegen Ultramontanismus und Kommunismus ................................................................................... 232 Die Vereinnahmung der Ekklesiazusen im Deutschen Reich nach 1890 .................................................................................... 241
6.2.1 Heinrich Dietzel ................................................................... 246 6.2.2 Robert von Pöhlmann ............................................................ 252 6.2.3 Aristophanes und der Kampf gegen die Sozialdemokratie in der Schule ................................................................................ 255
6.3 6.4 6.5
Sozialismus und Aristophanes ........................................................ 258 Frauenemanzipation bei Aristophanes und am Ende des 19. Jahrhunderts: Ivo Bruns ........................................................... 261 Griechische Emanzen und Kommunisten auf der Bühne ................... 263
7
Inhalt
7. Synthesis ............................................................................................. 266 7. 1
Grundzüge der Rezeption des Aristophanes von der Antike bis zum 18. Jahrhundert ............................................................................. 267
7.2
Die Entdeckung des Politischen bei Aristophanes zur Zeit der
7.3
Aristophanes-Rezeption zur Zeit der Französischen Revolution
deutschen Aufklärung und des Sturm und Drang .............................. 269 und im Deutschen Idealismus ......................................................... 271 7.4
Die Aktualisierung des Aristophanes im Vormärz ............................ 274
7.5
Die Instrumentalisierung des Aristophanes im späten Kaiserreich ...... 276
7.5
»Aristophanes, ein Spiegel unserer Zeit« ......................................... 278
8. Anhang: Aristophanes lesen. Die materiellen Grundlagen der Aristophanes-Rezeption: Edition - Kommentar - Übersetzung - Aufführung ............................ 279 8.1
Editionen - Kommentare - Textkritik ............................................. 280 8.1.1 Gesamtausgaben cum notis variorum ...................................... 280 8.1.2 Gesamtausgaben ohne Kommentar ......................................... 282 8.1.3 Kommentare ........................................................................ 285 8.1.4 Kurze Charakterisierung der deutschen Editionsphilologie zu Aristophanes ................................................................................ 287 8.1.5 Ein schmutziger Wettkampf: Friedrich Thierschs Konjektur zu Wolken v. 1366 ........................................................................ 289
8.2
Übersetzungen .............................................................................. 292 8.2.1 Überblick ............................................................................. 292 8.2.2 Spezifische Probleme der Aristophanes-Übersetzung ................ 294 8.2.2 Die Leistungen der Aristophanes-Gesamtübersetzungen ........... 300
8.3
Aristophanes auf der Schule ........................................................... 306
8.4
Auffiihrungen ............................................................................... 312
Summary ................................................................................................. 317 Abkürzungsverzeichnis ........................................................................... 319 Literaturverzeichnis ................................................................................. 320 Namenregister ......................................................................................... 348
8
Vorwort
Diese Untersuchung wurde 1999 der Fakultät für Orientalistik und Altertumswissenschaften der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg unter dem Titel »Die Rezeption des Aristophanes als eines politischen Dichters im Deutschland des 19. Jahrhunderts« als Dissertation vorgelegt und erscheint hier in überarbeiteter Form. Professor Dr. Dr. Glenn W. Most danke ich dafür, daß er die Arbeit stets förderlich betreut und mich in sein Leibniz-Preis-Projekt »Nachleben der Antike« aufgenommen hat. Der unvergleichlichen Diskussionskultur dieses Kreises verdankt die Arbeit wesentliche Impulse; allen Mitgliedern danke ich herzlich für ihre Anregungen. Professor Dr. Herwig Görgemanns danke ich für die bereitwillige Übernahme des Korreferats. Dr. Olaf Hildebrand, PD Dr. Markus Janka, Professor Dr. Peter von Möllendorffund Professor Jürgen Werner haben das Manuskript bzw. Teile davon zu unterschiedlichen Stadien der Bearbeitung gelesen. Ihnen allen gilt mein Dank für ihre vielfältigen kritischen und weiterführenden Anmerkungen. PD Dr. Markus Asper, der mir den ersten Anstoß zur Beschäftigung mit der Aristophanes-Rezeption gegeben hat, Dr. Manuel Baumbach, Dr. Helga Köhler sowie lic. phi!. Anja Kalinowski haben mich nicht nur beim Korrekturlesen unterstützt, sondern mir auch durch inhaltliche und formale Verbesserungsvorschläge unschätzbare Hilfe geleistet. Ermöglicht wurde die Promotion durch ein Doktorandenstipendium der Studien stiftung des deutschen Volkes, von der ich auch schon im Studium wertvolle Unterstützung erfahren habe. Herrn Professor Dr. Albrecht Dihle möchte ich meinen Dank aussprechen, daß er die Arbeit zur Aufnahme in die Reihe Hypomnemata vorgeschlagen hat, dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, namentlich Frau Dr. Ulrike Blech, danke ich für die reibungslose Betreuung bei der Drucklegung.
Mannheim, im Februar 2004
Martin Holtermann
9
Einleitung
Schon früh hat der junge Aristophanes mit seiner Art zu dichten Anstoß erregt. Kleon, der zu den einflußreichsten Politikern seiner Zeit gehörte, führte 426 v. ehr. vor dem Rat Athens Klage gegen Kallistratos, den Produzenten von Aristophanes' zweiter Komödie, den Babyioniern (nicht erhalten): In Anwesenheit der athenischen Bundesgenossen seien die Stadt Athen und ihre Beamten lächerlich gemacht worden. l Kleon nahm diesen Aspekt der Komödie offensichtlich sehr ernst und stufte ihr! als gefährlich ein, drang aber mit seiner Klage bei den Athenern nicht durch. In den Acharnern des folgenden Jahres reflektiert Aristophanes - nicht ohne Stolz, den Angriff schadlos überstanden zu haben - seine Rolle als Komödiendichter: Anstatt der Polis zu schaden, sei er vielmehr verantwortlicher Urheber »vieler guter Dinge« (vv. 633, 641). In ihm hätten die Athener einen Berater (~;6!lßOUAOC;), der das Gerechte in seinen Komödien zum Thema mache (KCD!lCpÖELV 'tu ÖlKUlU) und so mit seiner Belehrung ('tu ßEA'tLO'tU ÖLMoKELV) zu Glück und Wohl der Polis beitrage (vv. 643-658). Im Jahr 1845 wird der Publizist und Dichter Robert Prutz von den preußischen Behörden der strafbaren Majestätsbeleidigung beschuldigt: Seine Komödie Die politische Wochenstube zeige die Tendenz, sowohl die bestehende Verfassung und die öffentlichen Zustände Deutschlands, als auch insbesondere Preußens so darzustellen, daß dadurch Mißvergnügen und Unzufriedenheit der Bürger gegen die Regierung erregt werde. 2
In seinem Immediatgesuch vom 18. Okt. 1845 an König Wilhelm IV. von
Preußen bittet Prutz den Monarchen um Niederschlagung des gegen seine Person anhängigen Verfahrens. Die inkriminierte Schrift sei »ein Produkt ihrer Zeit, bei welchem, so wenig wie von persönlichem Verdienst, ebensowenig von persönlicher Verschuldigung die Rede sein« könne (li). Wenn 1 Ar. Ach. vv. 377-382 mit Scholion zu v. 378. Es ist nicht mehr exakt zu eruieren, von welcher Art dieser Vorgang war (siehe MacDowell, Ar. and Athens [1995], S. 43-44). »But at least one conclusion can clearly be drawn from the meagre evidence about this play: it dealt with important political topics in a maIlller which provoked a violent reaction from the leading politician ofthe day« (ebd. S. 33). 2 R. Protz, Lit. d. Ggw. (1847), S. xxxii. Zitate aus dieser Schrift weise ich im folgenden Haupttext in Klammem nach.
11
1. Einleitung
in ihr überhaupt eine Schuld vorliege, so sei es »die allgemeine Verschuldung der Zeit, welche nach Entwicklung ringt« (1). Denn alle Kunst sei »nur ein Spiegel und Abbild des wirklichen Lebens« (xlviii) und müsse »aus ihrer Zeit und als unwillkürliches Organ derselben« beurteilt werden (xlix). Jetzt, da seit einigen Jahren »das politische Leben des deutschen Volkes, in allen Gauen und Stämmen, eine völlig neue, frische Entfaltung gewonnen« habe (xlix), müsse sich notwendigerweise auch der Inhalt der Kunst ändern. So sei auch Prutz, von der Macht der Geschichte »ergriffen und beherrscht«, gegen seinen Willen gezwungen worden, eine neuartige Form von Komödie mit politischer Thematik zu schreiben (1-li). Die Ähnlichkeit dieser beiden Episoden ist, trotz aller Unterschiede, augenfällig. In beiden Fällen geraten in einer juristischen Kollision ein Dichter und die Macht des Staates bzw. eines ihn für diesen eintretenden Politikers aneinander; es eröffnet sich jeweils ein Spannungsfeld zwischen Kunst, Komik und Politik. Aufgrund des Abstandes von beinahe 2500 Jahren, der zwischen den Begebenheiten liegt, überrascht diese Ähnlichkeit. Handelt es sich um eine zufällige Parallelerscheinung, für die auch noch aus ganz anderen Zeiten und Kulturen ähnliche Beispiele angeführt werden könnten? Die preußischen Behörden werden kaum an den >Präzedenzfall< »Kleon versus Aristophanes« gedacht haben, als sie gegen Prutz mit juristischen Mitteln vorgingen. Und doch besteht zwischen den beiden Ereignissen ein Zusammenhang. Robert Prutz erklärt, er habe in der Politischen Wochenstube den Versuch gemacht, die deutsche Komödie, aus der Misere der Liebesgeschichten, der getäuschten Väter, geprellten Vormünder etc. heraus, in eine geistig erweiterte Sphäre hinüberzuführen und solchergestalt auch diese wichtige, bei uns so wenig gepflegte Kunstgattung mit dem gegenwärtigen Bewußtsein der Nation in Einklang zu bringen. Diesen Uebergang auf ganz neue und selbständige Weise zu machen, war mein Talent nicht ausreichend; mich anschließend an die Griechen, diese ewigen und allgemeinen Lehrer alles Schönen, die uns auch für die Komödie in Aristophanes das unvergänglichste Vorbild hinterlassen haben, wagte ich es, Form und Wesen der aristophanischen Komödie in unsere Zeit zu übertragen. (li-lii)
Die Ähnlichkeit der beiden eingangs geschilderten Episoden erklärt sich also zum Teil daraus, daß sich Prutz mit seiner politischen Komödie bewußt an Aristophanes >angeschlossen< hat. Daß sein Talent für einen eigenständigen Vorstoß in dieser Richtung nicht ausreichend gewesen sei, ist erkennbar ein Versuch von Prutz, seinen Anteil an der inkriminierten Schrift und
12
l. Einleitung
damit seine Schuld herunterzuspielen. Was war also der eigentliche Grund, warum Prutz sich auf das Vorbild Aristophanes berief? Prutz war weder der einzige noch der erste Deutsche, der als Künstler bzw. Gelehrter auf den griechischen Komödiendichter zurückgriff. In dieser Arbeit werde ich eine Vielzahl weiterer Dokumente untersuchen, deren Autoren sich - aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedenen Erkenntnisinteressen - auf Aristophanes und seine Komödien beziehen und dabei das Verhältnis von Kunst, speziell Dichtkunst, und Politik reflektieren. Dieses Phänomen ist in einem bestimmten kulturellgeographischen Raum und während einer begrenzten Zeit verortet: Eine wirklich intensive und umfassende Beschäftigung mit Aristophanes unter dem Aspekt des Verhältnisses von Kunst und Politik ist zum ersten Mal im Deutschland des 19. Jahrhunderts zu beobachten. Der Einfachheit halber spreche ich von »Deutschland«, wo ich das deutsche Sprachgebiet bzw. das Staatsgebiet des Deutschen Bundes von 1815 meine. Der angegebene zeitliche Rahmen beschränkt sich nicht auf die Jahre 1800 bis 1899, sondern steht für den Zeitabschnitt von ca. 1770 bis 1915. Die Kontinuität der deutschen Aristophanes-Rezeption während dieser Zeit ist durch die thematisch einheitliche Ausrichtung gegeben, wie sich erweisen wird. Hier soll geklärt werden, - warum sich gerade die Deutschen für diesen Dichter so sehr mit Blick auf das Politische interessieren, - und warum es gerade Aristophanes ist, der als politischer Dichter die Aufmerksamkeit deutscher Intellektueller des 19. Jahrhunderts auf sich zieht. Zusammen mit diesem kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Thema wird das Entstehen und die Geschichte einer Fragestellung dargestellt, die noch heute kontrovers in der Altertumswissenschaft erörtert wird: die Frage nach dem politischen Potential in den Komödien des Aristophanes. Trotz vielfältiger Bemühungen und Ansätze der jüngsten Zeit wird sie immer noch von Kenneth Dover als »the most difficult question in the study of Old Comedy« bezeichnet. 3 Es wird sich zeigen, daß diese Frage nicht schon immer >da< war, sondern zu einem bestimmten Zeitpunkt und unter besonderen historischen, politischen und kulturellen Bedingungen entstand. Von der Formulierung und Entwicklung dieser Fragestellung ist auch noch die heu3 KennethDover, Art. »comedy (Greek), Old«, in: Oxford Classical Dictionary, Oxford '1996, S. 369, so schon in der 2. Aufl. 1970.
13
1. Einleitung
tige Forschung beeinflußt, so daß mit ihrer Untersuchung die Grundlage für einen Vergleich und damit ein besseres Verständnis der heutigen Forschungssituation geschaffen wird.
*** Der Sinn einer solchen wirkungs geschichtlichen Fragestellung läßt sich mit Hans-Georg Gadamer wie folgt bestimmen: [... ] Die Meinung ist nicht die, als solle die Forschung eine solche wirkungsgeschichtliche Fragestellung entwickeln, die neben die auf das Verständnis des Werkes unmittelbar gerichtete trete. Die Forderung ist vielmehr theoretischer Art. Das historische Bewußtsein soll sich bewußt werden, daß in der vermeintlichen Unmittelbarkeit, mit der es sich auf das Werk oder die Überlieferung richtet, diese andere Fragestellung stets, wenn auch unerkannt und entsprechend unkontrolliert, mitspielt. Wenn wir aus der für unsere hermeneutische Situation im ganzen bestimmenden historischen Distanz eine historische Erscheinung zu verstehen suchen, unterliegen wir immer bereits den Wirkungen der Wirkungsgeschichte. Sie bestimmt im voraus, was sich uns als fragwürdig und als Gegenstand der Erforschung zeigt, und wir vergessen gleichsam die Hälfte dessen, was wirklich ist, ja mehr noch, wir vergessen die ganze Wahrheit dieser Erscheinung, wenn wir die unmittelbare Erscheinung selber als die ganze Wahrheit nehmen. 4
Auch der Altgeschichtler und Wissenschaftshistoriker Arnaldo Momigliano sieht dies, wenn auch zu ausschließlich und einseitig, als das Ziel von Wissenschaftsgeschichte an: The only justification for the history of scholarship is the promotion of scholarship itself. This means that we must go into the past of the discipline we profess in order to leam something new or to be reminded of something which we had forgotten, which is almost the same. Generally speaking, the history of classical scholarship should point to new desirable directions of classical scholarship. Thus a history of classical scholarship should not only be organized according to problems, but some distinction should be established between viable themes and dead issues. It is ultimately the discovery that certain scholars of the past still have something to teach that makes the study of past scholarship acceptable. 5
Im Unterschied zu Momigliano ist mein Erkenntnisziel ein doppeltes, das im Kern jedoch identisch ist: Ich möchte analysieren, wie das Interesse an den politischen Aspekten in Aristophanes' Komödien entstand, und versuche herauszuarbeiten, daß die Auseinandersetzung mit Aristophanes einen 4 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Henneneutik (1960), Tübingen (Mohr) 6 1990 (=Gesarnme1te Werke, Bd. 1), S. 305-306. 5 Amaldo Mornigliano, New Paths of C1assicism in the Nineteenth Century, Wesleyan University Press 1982, Iutroduction.
14
l. Einleitung
bedeutenden Strang in der Entwicklung des politischen Bewußtseins bei den Deutschen darstellt. Aus diesem zweifachen Erkenntnisinteresse folgt, daß die hier vorgelegte Untersuchung mit einem weiten Begriff von Rezeption arbeiten muß. Er soll hier sowohl Wissenschaftsgeschichte als auch das >Nachleben< des Aristophanes in künstlerischen, literarischen, musikalischen und philosophischen Umsetzungen umfassen. Denn auch solche Rezeptionen setzen ein bestimmtes Verständnis des rezipierten Textes voraus, das sich sicht- und nutzbar machen läßt: Literarische, produktive Rezeptionen - also was gewöhnlich als >Nachleben< bezeichnet wird - haben ihren Wert nicht nur in sich als Objekte eigener Forschung, sondern auch als Interpretationen des rezipierten Textes [... ]. Man darf und muß nach ihrem jeweiligen Erkenntniswert fragen. 6
Um verschiedene Rezeptionsmodi zu unterscheiden, gleichzeitig aber mißverständliche Klassifikationen wie z.B. in wissenschaftliche und künstlerische Rezeptionen zu vermeiden, 7 verwende ich folgende terminologische Unterscheidung: -
-
-
Als interpretative Rezeptionsdokumente bezeichne ich Texte, die ihre einzige Funktion in der Interpretation des rezipierten Werkes (ohne das sie sinnlos sind) haben; zu dieser Rezeptionsform zähle ich Kommentare, Auslegungen und Übersetzungen des Aristophanes. Bei transformativen Rezeptionen (sonst meist >produktive< oder >künstlerische< genannt) entsteht ein eigenständiges, neues Werk, in das Aspekte des rezipierten Werkes einfließen, dessen Aussagewert sich aber nicht auf die Abhängigkeit vom Rezipierten beschränkt. Hierzu zählen. insbesondere die aristophanischen Komödien deutscher Dichter im 19. Jahrhundert. Performative Rezeptionen sind Aufführungen, aber z.B. auch Rezitationen; je nach Bearbeitungsgrad können sie eine mehr interpretative oder eine mehr transformative Funktion haben.
6 Reinhold F. Glei, Der Vater der Dinge. Interpretationen zur politischen, literarischen und kulturellen Dimension des Krieges bei Vergil, in: Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium Bd. 7, Trier 1991, S. 19. 7 Vgl. etwa Boeckh, Encyklopädie (1877), S. 25: »Die Philologie macht Anspruch darauf, Wissenschaft zu sein; zugleich aber ist sie eine Kunst, inwieferu nämlich die historische Konstruktion selbst etwas Künstlerisches ist. «
15
1. Einleitung
Einbindungen in philosophische Theorien, wie sie für die deutsche Rezeption des Aristophanes im 19. Jahrhundert typisch sind, nehmen eine Mittelstellung ein: Von Seiten der Rezipienten her betrachtet stellen sie in einem System mit eigenständigem Erkenntnisinteresse einen von vielen Bestandteilen dar; für den Rezeptionsforscher sind sie dagegen vor allem hinsichtlich ihres interpretativen Potentials von Interesse.
*** Was den Leitbegriff des Politischen betrifft, so verstehe ich darunter in dieser Arbeit alles, was sich aktuell auf konkrete Ereignisse, Personen und Institutionen bezieht, die das staatliche Zusammenleben einer Gemeinschaft betreffen. Eine solche Arbeitsdefinition des Politischen mußte hier aus zwei Gründen aufgestellt werden: erstens, um innerhalb der weiten Bedeutungsfülle dieses historisch sehr wandelbaren Begriffes 8 so etwas wie einen Kern einzugrenzen, der dem Phänomen und damit seiner Untersuchung den inneren Zusammenhalt gewährt und der es ermöglicht, die unterschiedlichen Auffassungen des Politischen aufeinander zu beziehen; zweitens, um die Kriterien für die Auswahl der Untersuchungs gegenstände offenzulegen, so daß diese Auswahl entweder als sinnvoll und ausreichend akzeptiert oder als erweiterungs- und korrekturbedürftig kritisiert werden kann. Eine solche Begriffsfestlegung ist aber gerade für den Fall des Politischen mit vielfältigen Problemen verbunden. Mögliche Lösungen hat Christian Meier zusammengefaßt: Aus den [... ] Schwierigkeiten gibt es zwei grundverschiedene Auswege, die man nicht verwechseln oder kontaminieren solllte. Entweder man definiert ausdrücklich, was das Politische sein solL Darin ist man frei. Solche Definitionen können scharf und zugespitzt sein; um so mehr werden sie gegenüber vielem von dem, was politisch heißt, zu kurz greifen. Es wird notwendigerweise viele Definitionen geben, und jede hat recht, aber nur indem sie eine solche ist. Es wäre nur umstritten, wie praktisch sie sind. Oder man versucht einen Begriff zu finden, in dem all das, was der Sprachgebrauch meint, aufzuheben ist in einer umfassenden Einheit. Dann ließe sich darüber streiten, ob man das Politische an dem, was politisch heißt, richtig bestimmt hat, zumal es ohne eine gewisse Konzentration in einem Begriffskern nicht abgehen wird. Aber man hätte einen deutlich zu umreißenden Gegenstand: nicht was das Politische sein soll, sondern was politisch in der Fülle seiner Bedeutungen meint. 9
8 Grundlegend der Artikel »Politik« von Volker Selin in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 789-874. 9 Meier, Entstehung des Pol. (1983), S. 35 Anm. 30.
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1. Einleitung
Möglicherweise läßt sich aber eine Grenze zwischen den beiden von Meier genannten Wegen nicht klar ziehen, denn schon in die Auswahl dessen, was ich als politisch ansehe und auf seine Bedeutungen hin untersuchen will, fließen Vorannahmen ein. Insofern ist jede Begriffsbestimmung - auch die oben gegebene - ein Akt der Konstruktion. Sie vollzieht sich aber nicht im luftleeren Raum, sondern wird außer von gesellschaftlichen und persönlichen Vorprägungen auch von den Untersuchungsgegenständen beeinflußt. Entsprechend habe ich im Laufe meiner Untersuchung den Begriff des Politischen immer wieder modifiziert und den Gegenständen meiner Untersuchung angepaßt. Beispielhaft läßt sich der hier gewählte Begriff des Politischen durch die eingangs geschilderten juristischen Auseinandersetzungen um die Babyionier von Aristophanes bzw. Die politische Wochenstube von Prutz verdeutlichen: In beiden Fällen hatten sich die Autoren in ihren Komödien kritisch über staatliche Institutionen bzw. prominente Personen des öffentlichen Lebens geäußert; in beiden Fällen waren es öffentliche Organe, die sich genötigt sahen, gegen die Autoren dieser Komödien vorzugehen, im Falle des Aristophanes ein Politiker, der den Staat verteidigen zu müssen glaubte, bei Prutz die preußischen Behörden. In beiden Fällen ist das Politische in diesen Komödien dadurch quasi von außen bezeugt. Von den vielfältigen und weitverzweigten Rezeptionen des Aristophanes im 19. Jahrhundert kommen entsprechend dieser Begriffsfestlegung hier diejenigen in Betracht, die in den Blick nehmen, thematisieren und interpretieren, Wie Ereignisse, Personen und Institutionen der demokratischen Polis Athen von Aristophanes in seinen Komödien behandelt worden sind. Die deutschen Rezipienten des Aristophanes haben sich im 19. Jahrhundert explizit und implizit vor allem auf seine im obigen Sinne politischen Komödien bezogen: Acharner, Frieden und Lysistrata behandeln alle ein und dasselbe aktuelle Ereignis, den Pe1oponnesischen Krieg; in den Rittern wird mit Kleon eine konkrete Person des öffentlichen Lebens verspottet; in den Wespen und den Ekklesiazusen stehen Institutionen der Polis (Gerichtswesen bzw. Volksversammlung) im Mittelpunkt. Mit den Wespen allerdings beschäftigte man sich außerhalb philologischer Kreise nicht, wohl weil die darin enthaltene Behandlung des attischen Gerichtswesens zu zeitgebunden erschien.
17
I. Einleitung
Drei Komödien des Aristophanes nehmen eine Mittelstellung zwischen politischen und unpolitischen Komödien ein: Die Frösche handeln über weite Strecken von der Tragödie, beziehen aber auch zu aktuellen tagespolitischen Fragen Stellung; der Plutos mit seinen Allegorien von Armut und Reichtum ließ sich nicht nur rein moralisch und ahistorisch, sondern auch konkret sozialpolitisch interpretieren, wie das im 19. Jahrhundert gelegentlich geschah; die Vögel zeigen einen utopischen Auszug in ein ideales Vogelreich, der im 19. Jahrhundert teilweise als pure Phantasie, teilweise mittels allegorisierender Lesarten - als konkret-politisch verstanden wurde. lo Dagegen sind im Rahmen dieser Untersuchung diejenigen Komödien, die vor allem von Literatur, Kunst, Philosophie oder Religion handeln, als Ausgangsgegenstände der Rezeption nur am Rande zu berücksichtigen. Das trifft für Thesmophoriazusen zu, die eine Weiber- und Literatensatire im Zusammenhang mit einem religiösen Fest präsentieren. Auch die berühmten Wolken, insofern sie eine Komödie gegen Intellektuelle darstellen, haben keinen unmittelbaren Bezug auf Fragen des staatlichen Zusammenlebens. Diese beiden Komödien wurden dann auch im Deutschland des 19. Jahrhunderts entweder gar nicht (Thesmophoriazusen) oder jedenfalls nicht unter politischen Vorzeichen (Wolken) rezipiert, 11 obwohl Religion und Philosophie zu dieser Zeit zentrale Themen des öffentlichen Diskurses waren - man denke nur an den Kulturkampf und die verschiedenen Strömungen des Hegelianismus. Zentral in dieser Phase der deutschen Aristophanes-Rezeption ist die Frage, welche Rolle die Alte Komödie innerhalb des politischen Diskurses Athens gespielt hat. Im Hintergrund steht das allgemeine Interesse deutscher Intellektueller des 19. Jahrhunderts daran, ob und wie Kunst politisch wirken kann. Man fragt daher nach den äußeren Rahmenbedingungen, die eine politische Komödie wie die des Aristophanes
10 Behaghel, Vögel-Auffassung (1879) hat die Rezeptionsgeschichte dieser Komödie detailliert dokumentiert, weshalb hier auf eine eingehendere Behandlung der Vögel-Rezeption verzichtet werden konnte. 11 Die Thesmophoriazusen sind außerhalb von einigen wenigen fachphilologischen Publikationen praktisch nicht rezipiert worden, und in den Wolken hat man zwar manchmal einen philosophischen Gegensatz angelegt gesehen, aber eben nie einen aktuell-politischen. Aristophanes' Darstellung der Götter allgemein wurde zwar gelegentlich diskutiert (in der Regel, um den Dichter damit zu diskreditieren), jedoch selten im 19. Jahrhundert und auch dann nie mit Bezug auf die eigenen religiösen Probleme.
18
l. Einleitung
ermöglicht haben, und den Darstellungsmitteln, die er und seme Dichterkollegen eingesetzt haben.
*** Eine diachron ausgerichtete Untersuchung, die zugleich einen bestimmten Themenkomplex in den Mittelpunkt stellt, ist unter den bisherigen Arbeiten zur Aristophanes-Rezeption ein neuartiger Versuch. Diese sind entweder rein chronologisch aufgebaut,12 erforschen spezifische Rezeptionsgattungen 13 oder untersuchen einzelne Rezipienten. 14 Möglicherweise noch stärker als bei diesen macht sich bei der hier vorgelegten Untersuchung das Problem bemerkbar, daß die Aristophanes-Rezeption, wie jede Rezeption, nur scheinbar ein einheitliches Phänomen ist. Schon den Ausdruck »die Rezeption des Aristophanes« zu gebrauchen, könnte die irrtümliche Vorstellung nahelegen, es handle sich dabei um einen einheitlichen historischen Untersuchungsgegenstand. Zwar kommen alle hier untersuchten Rezeptionen darin überein, auf Aristophanes ausgerichtet zu sein; doch ob man für eine Untersuchung der Aristophanes-Rezeption unter dem Leitthema des Politischen Einheitlichkeit und geschichtliche Kontinuität annehmen kann, ist zunächst ungewiß und muß durch die Ergebnisse der Arbeit erst erwiesen werden. Deshalb setzt sich diese Untersuchung aus einer heterogenen Mischung inhaltlich geschlossener Kapitel zusammen, mit der versucht werden soll, möglichst unterschiedliche Zugangsweisen zur Rezeption des Aristophanes im genannten Zeitraum zu gewinnen. Das erste Kapitel präsentiert die Vorgeschichte der deutschen Aristophanes-Rezeption im 19. Jahrhundert: Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert 12 Die Geschichte der Aristophanes-Rezeption von der Antike bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts untersuchen Süß, Nachwelt (1908), Lord, Influence (1925) und Weinreich, Nachleben (1952/53); einiges dazu findet sich auch bei W. Sclunid, Griech. Lit. IV (1946) und Solomos, The Living Aristophanes (1974), S. 244-276. Räumlich und zeitlich enger begrenzt sind Zelle, Beurteilung (1900), Hilsenbeck, 18. Jh. (1908), Rechner, Ar. in England (1914) und Friedländer, Ar. in Deutschland (1932/33). 13 Zu den aristophanischen Komödien siehe Hille, Einwirkung (1907), Walzei, Aristophanische Komödien (1935) und die verschiedenen Arbeiten von Denkler, besonders Aristophaniden (1970). Die Geschichte der Aristophanesverdeutschung hat 1. Wemer untersucht: Ar.Verdeutschung (1965), Ar.-Übersetzung (1969). 14 Im einzelnen gibt es Darstellungen und Analysen zu Wieland von Steinhorst (1988) und in dem Buch von Cölln (1998), zu FA Wolf von Chirico (1997), zu Welcker von 1. Werner (1994), zu Platen und Heine zuletzt von Rieks (1993), zu Prutz von Stemplinger (1906) und zu Wilamowitz von Kassel (1982). Kloft, (Un-)Demokratisches Gelächter (1995) untersucht mit thematischer Konzentration auf die politische lnstrumentalisierung des Aristophanes im ausgehenden 19. Jahrhundert die Rezeptionen von Richter, Dietzel und Pöhlmann.
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1. Einleitung
werden Grundzüge der Aristophanes-Rezeption, mit dem Schwergewicht auf der Einschätzung des Politischen, dargestellt. Das zweite Kapitel analysiert dann die ersten Anfänge einer Rezeption des Politischen bei Schlosser und Wieland. Die verschiedenen Versuche, Aristophanes' Komödien zur Konstruktion philosophischer Komödientheorien heranzuziehen, bilden den Gegenstand des dritten Kapitels. Gattungsorientiert ist das vierte Kapitel über die aristophanischen Komödien mit politischer Thematik; in diesem Zusammenhang wird auch der folgenreiche Streit zwischen August von Platen und Heinrich Heine dargestellt. Im fünften Kapitel werden in chronologischer Abfolge Grundtendenzen in der interpretativen, vornehmlich philologischen Rezeption des Politischen bei Aristophanes aufgezeigt. Das sechste Kapitel schließlich widmet sich einem speziellen Rezeptionskomplex, der Rezeption des Aristophanes (v.a. der Ekklesiazusen) in der Debatte um Sozialismus und Emanzipation im späten Kaiserreich. Das Schlußkapitel soll mehr als eine zusammenfassende Wiederholung der Ergebnisse bieten; es wird dort versucht, die gewonnenen Aspekte zusammenzufügen und daraus eine Geschichte der Rezeption des Aristophanes als eines politischen Dichters zu konstruieren. Die Untersuchung wird durch eine Appendix ergänzt, in der ich einen Überblick über die materiellen Grundlagen der Aristohanes-Rezeption im 19. Jahrhundert zu geben versuche, also über Ausgaben, Kommentare, Übersetzungen, aber auch über Aufführungen und Rezitationen. Was die Darbietung betrifft, so habe ich mich entschieden, reichlich und ausführlich wörtliche Zitate beizubringen, um dem Leser möglichst viele Dokumente der Rezeption des Aristophanes im 19. Jahrhundert direkt vor Augen zu führen und ihm so das Nachschlagen an zum Teil sehr entlegenen und weit verstreuten Orten zu ersparen. 15 Mindestens bei wenig verbreiteten Ausgaben, versteckten Rezensionen, Artikeln in allgemeinen Zeitungen und dergleichen erschien mir ein solches Vorgehen den dadurch etwas ange-
15 Bei wörtlichen Zitaten ist die originale Schreibung (einschließlich der Zeichensetzung) der zitierten Autoren bzw. Veröffentlichungen unverändert übernommen worden. Ändemngen in den Zitaten, die die Flexion betreffen sind mit zwei Punkten in eckigen Klammem (»[ .. ]«) angezeigt. In lateinischen Texten der Neuzeit sind, wenn nötig, Nasalstriche und Abkürzungen (außer »&« fiir et) stillschweigend aufgelöst und »u« von »v« durchweg unterschieden. Alle Übersetzungen stanunen, sofern nicht anders gekennzeichnet, von mir.
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l. Einleitung
wachsenen Umfang dieser Arbeit zu rechtfertigen. Nachweise gebe ich mit Autorname, abgekürztem Titel bzw. Schrifttypus (bei Editionen, Kommentaren und Übersetzungen) und Erscheinungs- bzw. Entstehungsjahr. Diese ausführliche Form schien angesichts der Menge der besprochenen Rezeptionszeugnisse angebracht, damit sich der Leser über Titel bzw. Art und Datierung der jeweiligen Schrift auch ohne beständiges Nachblättern im Literaturverzeichnis in Kenntnis gesetzt sieht. Im Literaturverzeichnis selbst ist nicht zwischen sogenannter Primär- und Sekundärliteratur unterschieden worden. Ist eine solche Unterscheidung bei rezeptionsgeschichtlichen Untersuchungen ohnehin schon fragwürdig (auch Arbeiten über Rezeptionen sind selbst Rezeptionsdokumente, wenn auch höherer Ordnung), so gilt für den speziellen Fall dieser Arbeit, daß sich die analysierten Rezeptionsdokumente des 19., frühen 20. Jahrhunderts und die ersten Untersuchungen über die Aristophanes-Rezeption zeitlich und manchmal auch strukturell überlappen und deshalb nur willkürlich voneinander hätten getrennt werden können. Um, wo das erforderlich erschien, die Komödien des Aristophanes deutlich von ihrer Rezeption abzugrenzen, mache ich mir eine Eigenheit der deutschen Orthographie zunutze: Die Werke des Aristophanes,16 des Sohnes von Philippos aus Kydathen, bezeichne ich mit Großschreibung als »Aristophanisch«, während ich das, was die Rezipienten daran als »aristophanisch« empfanden, durch die Kleinschreibung des Adjektivs kennzeichne.
16 Stellen aus Aristophanes, die ich nenne, aber nicht zitiere, lese ich nach dem Text der folgenden Editionen: die Wolken nnd die Frösche nach den Ausgaben von K. Dover (1968 bzw. 1993), die Wespen in der Ausgabe von D.M. MacDowell (1971), den Frieden und die Acharner nach den Ausgaben von D. Olson (1998 bzw. 2002), die Vögel in der Ausgabe von N. Dunbar (1995), die Lysistrata in der Ausgabe von J. Henderson (1987) und die EkkIesiazusen in der Ausgabe von R.G. Ussher (1973), alle in Oxford erschienen; Thesmophoriazusen und Plutos lese ich nach der Ausgabe von V. Coulon (5 Bde., Paris 1923-30); die Fragmente sind aus R. Kassel/ C. Austin (Hg.), Poetae Comici Graeci (pCG), BerlinlNew York (1983ff.) zitiert.
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1. Die Rezeption des Politischen bei Aristophanes von der Antike bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
Die Rezeptionsgeschichte eines Autors hat, so ist oft zu lesen, mit der Selbstinterpretation des Dichters zu beginnen. Während bei den meisten literarischen Werken der Antike diese rezeptionsgeschichtliche Maxime mangels entsprechender Selbstzeugnisse nicht anzuwenden ist, gehört es zu der Gattungsbestimmung der Alten Komödie, über ihr eigenes Wesen explizit zu reflektieren. So fmden wir in den Komödien des Aristophanes reichlich Aussagen über sich, die Komödie, seine Kunst und seine Ziele. Im folgenden sollen davon einige Stellen betrachtet werden, an denen sich Aristophanes zu seiner politischen Rolle und der politischen Funktion seiner Komödien äußert.
1.1 Aristophanes über Aristophanes und die zeitgenössische Rezeption der Alten Komödie Gleich in seiner ersten uns erhaltenen Komödie, den Acharnern von 425 v. ehr., stellt sich Aristophanes 1 als politischer Berater und Wohltäter der Polis dar (vv. 628-658): Seitdem unser Meister die Verantwortung für Komödienchöre übernommen hat, ist er noch nie vor das Publikum getreten, um zu sagen, wie klug er ist. 630 Da er aber von seinen Gegnern im Angesicht der wetterwendischen Athener verleumderisch beschuldigt worden ist, daß er unsere Stadt verspotte und das Volk beleidige, muß er jetzt vor den wankelmütigen Athenern Rede und Antwort stehen. Er sagt, er habe euch viel Gutes getan, indem er euch davon abgebracht hat, daß ihr euch zu leicht von den Reden der Fremden betrügen laßt, 1 Souverän löst schon Nietzsche, KGW Bd. 11.5, S. 163-164 die heiß diskutierte Frage, wer das »er« in der folgenden Passage der Acharner sei, der >Regisseur< Kallistratos oder der Autor Aristophanes: »Der Staat fragte nur nach dem XOQoöLÖliOKaA.OC; hier lCOl/icpöLÖliOKaA.oc;; gewöhnlich war Dichter, Chormeister u. erster Schauspieler eine Person. Die Alten haben ganz recht, wenn sie sich an die Aufftlhrung halten; so wie Demosth. den Vortrag für das wichtigste Stück der Rhetorik hielt.« Vgl. noch MacDowell, Ar. and Athens (1995), S. 42-43.
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l. Von der Antike bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
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euch über Schmeicheleien freut und politische Hohlköpfe seid. Früher, wenn die Gesandten aus den Bundesstädten euch betrügen wollten, nannten sie euch als erstes >veilchenbekränztKränze< mit euren süßen kleinen Hintern auf den Sitzen ganz nach vorne gerutscht. Und wenn einer euch schmeicheln wollte und vom >glänzenden< Athen sprach, hat er alles von euch bekommen wegen dieses >glänzendAlten OligarchenÖflV ö' uD Kui KUKW~ AEynv Tav IlEV Öii/lov OVK eWaLv, 'lvu IllJ UVToi aKOUOtJaL KUKW~' iöiq ÖE KfAfUOtJaLV, er Ti~ TLVU ßOUAfTUL, fD elö6Tf~ ÖTL OVXi TOU öTJIl0tJ eaTiv OVÖE TOU :JtATJ{}OtJ~ 6 KCOIlq>öoullfVO~ ffi~ e:Jti Ta :JtOAU, an' tj :JtAOUaLO~ tj YfWaIo~ tj ÖtJV6.llfVO~, oAiyOL öE TLVf~ TWV :JtfVTJTCOV Kui TWV ÖTjIlOTLKWV KCOIlq>ÖOUVTUl Kui Ovö' 0-0TOl eav IllJ Öla :JtOA1J:JtgUYIl0aUVTjV Kui ÖU1. Ta STjTflV :JtAEOV TL EXnv TOU öi]ll0tJ, waTf ovöE TOU~ TOLOUTOtJ~ ÜX{}OVTUL Kcollq>ÖOtJIlEVOtJ~.
Sie (die Angehörigen des Demos) lassen es nicht zu, daß der Demos (insgesamt) verspottet und ihm Übles nachgesagt wird, damit sie nicht selbst in üblen Ruf geraten. Im Fall von Privatpersonen fordern sie jedoch dazu auf, wenn einer einen verspotten will. Denn sie wissen ganz genau, daß der Verspottete in der Regel nicht zum Demos und nicht zur Masse gehört, sondern entweder reich oder von edler Herkunft oder einflußreich ist. Von den Armen und Angehörigen des Demos werden nur recht wenige verspottet, und diese auch nur dann, wenn einer durch allzu große Geschäftigkeit und Betriebsamkeit auffällt und versucht, mehr als der Demos zu haben. Daher ärgern sie sich auch nicht darüber, daß solche Personen verspottet werden. 3
Dieser Text enthält zwei grundlegende Oppositionen: erstens eine soziale zwischen den reichen Aristokraten und den armen Volksschichten, zweitens eine politische zwischen der souveränen Körperschaft des öiilloc; als ganzem und der einzelnen Privatperson (tMq.). Aristophanes verteidigt sich auf der Ebene der zweiten Opposition gegen den Vorwurf, er habe den öiilloc; als solchen verhöhnt, indem er auf seine herausragenden Leistungen für die Polis hinweist. Zwei Verse, in denen er das betont (vv. 633, 641), rahmen ringkompositorisch seine - wenn man so will 4 - >außenpolitische< Leistung: Er öffne den Athenern die Augen über die trügerischen Gesandten der mit
Aristophanes' illusions to an indictment by Cleon as one element of a fiction of hostility between them propagated by the poet. Such a fiction would be eminently self-serving and selfcongratulatory, since the more trouble the poet claims to have received from Cleon, the more this would reflect the power and effectiveness of his 'lj!6yoC;.« Doch aus der Benutzung traditioneller literarischer Mittel kann nicht geschlossen werden, daß die Verspottung ohne realen Anlaß gewesen sei. 3 Ps.-Xenoph. rep. Ath. 2.18, Übers. Bemhard Zimmermann (in: Drama 11 [2002], S. 1). Sommerstein, Komodoumenos (1996), S. 332 Anm. 26 und wiederholt in: Das Unsagbare (2002), S. 134 Anm. 30 hält diese Stelle vom Fall der Baby/onier angeregt und sieht sprachliche Anklänge an die entsprechenden Stellen bei Aristophanes. 4 Gerade eine solche Stelle wie die Parabase der Acharner zeigt, daß hmen- und Außenpolitik für den Athener untrennbar verquickt waren, und daß deshalb diese modemen Kategorien nur mit Vorsicht angewendet werden dürfen.
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1. Von der Antike bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
Athen verbündeten Städte und über ihre eigene Leichtgläubigkeit. >Innenpolitisch< erhelle er, auch den öiillOl in anderen Städten, das Wesen der Demokratie, denn er sage den Athenern die Wahrheit (»das Rechte«, vv. 645, 655), was oft viel Kritisches (»Schlechtes«, v. 649) bedeute. In einer typisch komischen Hyperbel präsentiert sich Aristophanes wegen seiner erzieherischen Wirkung (vv. 656-658) auch als militärische Macht: Wer ihn zum Berater hat, wird sogar nach Meinung des persischen Großkönigs im Peloponnesischen Krieg siegen (v. 651), und deshalb wollen ihn auch die Spartaner ihren athenischen Gegnern entwenden (vv. 652-654). Dieses Bild vom Dichter als politischer Ratgeber und Erzieher zieht sich bis zum Ende des fünften Jahrhunderts durch fast alle Komödien des Aristophanes. 5 In den Fröschen fmdet es eine programmatische Formulierung, die zwar die Aufgabe der Tragödie beschreibt, vor dem Hintergrund anderer Stellen aber genauso für die Komödie zu gelten hat (Ra. vv. 1009-1010): Aischylos. Antworte mir: Weswegen soll man einen Dichter bewundern? Euripides. Wegen seines Talents und guten Rates, und weil wir die Menschen in den Städten besser machen.
Bisweilen erhält dieses Bild auch eine rituelle und religiöse Überhöhung. In den Wespen bezeichnet sich Aristophanes einmal als »übelabwehrenden Reiniger dieses Landes« (v. 1043), und der Komödienchor der Frösche ruft die Göttin Demeter an (vv. 389-393): Auf daß ich viel Scherzhaftes sage, aber auch viel Ernstes, deines Festes würdig scherze und spotte und dann dafür die Siegesbinde erhalte!
In der Parabase desselben Stückes heißt es (vv. 686-687): »Es ist recht, daß der heilige Chor der Stadt Nützliches rät und lehrt.« Einen solchen >nützlichen Rat< gibt Aristophanes gleich im Anschluß an diese Stelle der Frösche (vv. 686-705): Man solle die im Zuge der gescheiterten oligarchischen Revolution von 411 Verbannten und Entrechteten wieder in die Bürgerschaft eingliedern. Kurz nach der Aufführung wurde genau dies beschlossen, und für diesen Rat verlieh, wie zuverlässig bezeugt ist, 6 die Polis Aristophanes einen Kranz und ließ die Frösche ein zweites 5 Z.B. Ach. 497-508, Eq. 510,650-651,1037, Pax 759-760,764. 6 Vita Aristophanis, PCG Bd. UI.2, 2-3, Z. 32-37: »Er wurde sehr gelobt und von seinen Mitbürgern außerordentlich geschätzt, weil er sich in seinen Dramen bemühte zu zeigen, daß die Ver-
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1.1 Aristophanes über Aristophanes und die zeitgenössische Rezeption der Alten Komödie
Mal auffuhren, was in der Geschichte der Alten Komödie sonst ohne Parallele ist.? Beide Vorgänge, die Bekränzung als Wohltäter der Stadt und die Wiederaufführung des Stücks, stellen exzeptionelle Ehrungen dar. Aristophanes scheint sich auf dem Gebiet der politischen vou'l}WtU (»Zurechtweisung«) besonders viel zugute gehalten zu haben. 8 Er, der sich wiederholt rühmt, immer wieder neue Ideen zu haben,9 streicht unter anderem heraus, daß er in den Rittern den Angriff gegen eine Person des politischen Lebens zum Mittelpunkt einer ganzen Komödie gemacht habe, eine Idee, die jetzt von seinen Rivalen ausgeschlachtet würde (Nu. vv. 545-562). Aristophanes bezieht sich darauf im Frieden, wenn er sich brüstet, »daß er nicht unbedeutende Privatleute oder Frauen verspottet, sondern mit dem Grimm eines Herakles den Mächtigsten nachgestellt habe.«10 Man darf hierbei allerdings den beträchtlichen Anteil an Selbststilisierung nicht übersehen, denn Aristophanes nimmt sehr wohl Personen zum Ziel seines Spottes, die - zumindest unserer Überlieferung nach - nicht als Inhaber politi-
fassung der Athener frei ist und von keinem Tyraunen unterdrückt wird, sondern daß sie eine Demokratie ist und der freie Demos über sich selbst herrscht. Deswegen wurde er belobigt und mit einem Zweig des heiligen Ölbaumes bekränzt, was einem goldenen Kranz gleichkommt, weil er folgendes in den Fröschen über die Entrechteten gesagt hatte: [w. 686f.].« - flUAHTtU öE E:n:nVE{}ll Kui 1']ya:n:1Wll im:o -rrov :n:OM-rrov mpooQu, E:n:elOi] oUI -rrov uirro"Ü OQuflu-rOW Eo:n:guten Ton< (euaXll/l0auvr»
24 Halliwell, Aristotle's Poetics (1986), S. 273; FuhnnatUl, Dichtungstheorie (1992), S. 62-63; Flashar, Das Lachen (1994), S. 61. 25 Heath, Aristotelian Comedy (1989), der schärfste Gegner der communis opinio, bestreitet die ersten beiden Punkte und schließt seinen Artikel mit dem Fazit (S. 353): »Aristotle's account of comedy has proved to be consistent with Aristophanic practice in each of the aspects we have considered.« Während Heaths scharfsinnige Analysen der einschlägigen Passagen bei Aristoteles zu Recht einer voreiligen Treunung zwischen Aristotelischer Theorie und Aristophanischer Praxis entgegenwirken köunen, ist seine Grundannahrne zu optimistisch: Wir besitzen eben keine ausgearbeitete und vollständige Komödientheorie des Aristoteles, sondern nur Bruchstücke eines Ganzen, dessen Lücken sich inuner nur extrapolierend füllen lassen. Man muß beachten, daß die nacharistotelische Komödientheorie, die in so vielen Punkten Aristoteles älmelt und wohl, weun auch nur indirekt, auf ihm aufbaut, die >Lücken< genau in der Weise ergänzt, die Heath bestreitet (ethische Sichtweise, Abwertung des övo!1uan 1CooWflÖE1V). Dies kaun kein schlagender Einwand gegen Heaths Rekonstruktion der Aristotelischen Theorie sein, muß aber die Plausibilität seines Ansatzes geringer erscheinen lassen.
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l.3 Aristoteles: Vom rambos zum Mythos
führt Aristoteles den Unterschied zwischen der aischrologischen Alten und
der nur andeutenden Neuen (bzw. Mittleren) Komödie an (1128a22-25). Auch die Rhetorik verdeutlicht den Nexus zwischen Ausdrucksweise und ethischer Disposition am Beispiel der Komödiendichter (1384b9-11). Weiter glaubt Aristoteles, daß die Entscheidung, in einer bestimmten Gattung wie etwa der Komödie zu dichten, vom spezifischen Charakter, von der spezifischen Natur der Dichter abhängig ist (olKE1u t]'Ö'l1/oln:Tu qn)(Jlbessere< nachahme (Poet.1448a17-18, b26, 1449a32-33).27 Deren Schlechtigkeit (KUKlU) und Fehlgehen (U!lUQTll!lU )28 äußert sich in einer primär visuellen, sekundär auch moralischen >HäßlichkeitSpiegel des Lebens< für die Dichtung allgemein rührt von Alkidamas her (Süß, Nachwelt [1911], S. 9). Nach Plebe, Teoria deI Comico (1952), S. 44 zielt schon Theophrast auf eine Theorie der Komödie als »imitazione e specchio della vita«, doch berücksichtigt Plebe nicht, daß Theophrast den Mimos als J.l.iJ.l.TJOL~ ßiou definiert, nicht die Komödie (frg. 708 Fortenbaugh, Z. 27). Aristophanes von Byzanz wendet den Gedanken von der >Nachalunung des Lebens< auf die Komödie an, bezeichnenderweise aber auf den Hauptvertreter der Neuen Komödie: ~ n MtvavögE Kai ßiE, :n:6-rEgO~ äg' uJ.l.öiv :n:6-rEgov a.:n:EJ.I.lJ.l.i]aa-ro; »Als Definition des Wesens der eigentlichen Komödie, mit der also Aristophanes nicht eben viel zu tun hat, gilt das Wort der imitatio vitae, dem speculum consuetudinis, der imago veritatis (Cicero de re publ. IV, 11), das bis zum Überdruß in der Renaissance und über sie hinaus als kanonisch kolportiert worden ist« (Süß, Nachwelt [1911], S. 14).
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1.5 Literaturgeschichtliche Konstruktionen des Hellenismus
1.5 Literaturgeschichtliche Konstruktionen des Hellenismus Theophrast stellt den Höhepunkt einer von Platon herrührenden normativen Ästhetik dar, die darauf abzielt, namentliche Invektive von der Komödie auszuschließen. Bald entstand jedoch auch der Bedarf nach einer deskriptiven Ästhetik bzw. Literaturgeschichte der Komödie. Diese dürfte im Bereich der hellenistischen Philologie entstanden sein, als man die Komödien des Aristophanes und anderer nicht nur herausgab und kommentierte, sondern auch klassifizieren mußte. Eine literaturgeschichtliche Einführung wurde auch bald im Unterricht der Rhetorenschule benötigt, wo man Komödien las. Die stoffliche Ausrichtung auf politische Themen und Personen wurde zum Unterscheidungsmerkmal zwischen der Alten Komödie auf der einen und der Mittleren bzw. Neuen auf der anderen Seite. 40 Dabei griff man auf den aristotelischen Gedanken vom Ursprung der Komödie zurück, nach dem die Komödianten ihren Namen vom Umherirren in den Dörfern hätten, nachdem man sie ehrlos aus der Stadt vertrieben habe. 41 In den spätantiken Komödientraktaten wurde daraus eine Geschichte gesponnen, in der sich fünf Stufen unterscheiden lassen. 42 Zunächst seien Bauern, denen von den Bewohnern der Stadt Unrecht getan wurde, nachts umherzogen und hätten ihre Übeltäter mit Rügeliedern geschmäht (1). Die Polis habe die moralische Nützlichkeit (avoxi] -rmv aÖLKLmv, »Beendigung der Ungerechtigkeiten«) solcher Rügelieder erkannt (2) und sie deshalb im Theater institutionalisiert und Dichter damit beauftragt (3). Doch der persönliche Spott der Komödie sei immer mehr entartet und habe durch gesetzliche MaßnalImen eingeschränkt werden müssen (4). Dadurch habe sich das Wesen der Komödie gewandelt: Es enstand zuerst die Mittlere, dann die Neue Komödie, deren Abgrenzung an ereignisgeschichtliche Vorkommnisse, nämlich die Verbote des ÖVOIlUO-rlKffillepÖElv, gebunden wird (5). 40 Siehe Nesselrath, Mittlere Komödie (1990), S. 30; Halliwell, Comic Satire (1991), S. 63. 41 Poet. 1448a37-38: cbc; lWolken-ProblemEntdeckung< des Politischen bei Aristophanes in der deutschen Aufklärung
steht sich beinahe von selbst." 6 Aufgrund der Dominanz der französischen Literaturkritik war Aristophanes damit von der Mitte des 17. bis weit ins 18. Jahrhundert in Europa ein weitgehend verschriener Autor. 1769 bündelte Voltaire die verschiedenen Vorwürfe gegen Aristophanes zu einem vielzitierten Verdikt zusammen: 117 Ce poete comique, qui n'est comique ni poete, n'aurait pas ete admis parmi nous a donner ses farces a la foire Saint-Laurent; il me parait beaucoup plus bas et plus meprisable que Plutarque de le depeint. [... ] C'est donc [... ] l'homme qui prepara de loin de poison dont des juges infämes firent perir l'homme le plus vertueux de la Grece.
Erst verschiedene historische und kulturelle Entwicklungen des 18. Jahrhunderts haben diese Front der Ablehnung aufgebrochen.
1.11 Die >Entdeckung< des Politischen bei Aristophanes in der deutschen Aufklärung Die französische Literaturkritik hat auch das Aristophanes-Bild im Deutschland des 18. Jahrhunderts maßgeblich geprägt. Seine Obszönität und ausschweifende Personalsatire werden dem Dichter immer wieder zum Vorwurf gemacht. 118 So benutzt Gottsched die schon aus der Antike stammende Ständeklausei, nach der die Komödie »ordentliche Bürger, oder doch Leute von mäßigem Stande« darstellen müsse, 119 um Aristophanes eines Verstoßes gegen dieses Prinzip zu überführen. Dieser habe in den Acharnern (vv. 81-82) »den Xerxes mit einer Armee von 40000 Mann auf einen ganz güldenen Berg marschieren, und ihn also in einer königlichen Pracht seine Nothdurft verrichten« lassen. Den Grund für dieses unverzeihliche Vorgehen sieht Gottsched in der politischen Orientierung des Aristophanes und seines Publikums: »[ ... ] Das war ein republikanischer Kopf, der
116 Der entschiedenste Anwalt der modernes, ehades Perrault, sieht in seiner Paralele des anciens et des modernes (1688-1696) die französische Komödie der antiken überlegen (Bd. 3 [1692], S. 203-204) und stellt Aristophanes noch unter Plautus und Terenz (ebd. S. 208-210). 117 Voltaire, Dictionaire philosophique. Art. »Atheisme« (1769), S. 208. 118 Daneben ist es auch Aristophanes' Spott über die Götter, der dem christlichen Religionsverständnis der Zeit schwer verständlich ist. Einen Rettungsversuch unternalun K.A. Böttiger, Aristophanes impunitus deorum gentilium irrisor, Leipzig 1790, der Aristophanes als geistigen Verbündeten der Aufklärung im Kampf gegen Aberglauben, übertriebene Frömmigkeit und ausuferndes Priesterwesen darstellte: Süß, Nachwelt (1911), S. 111-112. 119 Gottsched, Critische Dichtkunst ('1742) Bd. 2, S. 351, vgl. oben S. 36.
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1. Von der Antike bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
wohl wußte, daß die Griechen am liebsten über die Könige lachten [.. .].«120 Wie in Frankreich liegt auch hier der ästhetisch-moralischen Theorie die hierarchische Gesellschaftsordnung der absolutistischen Monarchie zu Grunde, die von der poetischen Praxis nicht gestört oder in Frage gestellt werden dürfe. Die namentliche Verspottung zeitgenössischer, schon gar hochgestellter Persönlichkeiten gilt als so anstößig, daß man sie von der Satire ausschließen will. 121 Indes läßt sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter deutschen Literaten eine neue Wertschätzung des Aristophanes beobachten. Obwohl seine Obszönitäten und personalsatirischen Verspottungen immer noch heftig kritisiert werden, werden sein Witz, seine Erfmdungsgabe und seine dichterische Qualität emphatisch gepriesen. 122 Der dem Kreis der >Berliner Spätaufklärung< zugehörige Schweizer Ästhetiker Johann George Sulzer ist einer dieser begeisterten Aristophanes-Verehrer: »Es wäre vielleicht nicht übertrieben, wenn man sagte: daß in einer einzigen von seinen Comödien, mehr Wiz und Laune ist, als man auf den meisten neuern Bühne[n] in einem ganzen Jahr hört.«123 Aber auch Sulzer kritisiert, daß Aristophanes seine Personalsatiren aus »Bosheit« zu bloßen »Beschimpfungen bekannter Personen« mißbraucht habe. 124 Bei Sulzer läßt sich jedoch ein erster entscheidender Wandel im Umgang mit der für die Alte Komödie charakteristischen Personalsatire feststellen. Sulzer beschränkt sich nicht darauf, das personalsatirische Element der Alten Komödie zu kritisieren, sondern führt es auf die spezifischen historischen Bedingungen ihrer Zeit zurück. Denn für die Personalsatire in seinen Komödien sei Aristophanes nicht alleine verantwortlich zu machen: Ausgelassener Muthwillen, Personen von Athen durch zu ziehen; ein unbedingter Vorsatz, das Volk, es koste, was es wolle, lachen zu machen, und ihm
120 Ebd. S. 351. 121 Ebd. S. 359 will Gottsched der Komödie generell untersagen, reale Personen mit Neunung ihrer Namen einzuführen, »nicht, als wenn die Großen dieser Welt keine Thorheiten zu begehen pflegten, die lächerlich wären; nein, sondern weil es wider die Ehrerbiethung läuft, die man ihnen schuldig ist, sie als auslachenSWÜIdigvorzustellen« (ebd. S. 351). 122 Diese zwiespältige Phase der deutschen Aristophanes-Rezeption untersuche ich nälier in einem bald erscheinenden Buch: Apologien des Aristophanes. Der Wandel der deutschen Aristophanes-Auffassung im 18. Jahrhundert (voraussichtlich DRAMA-Beihefte). 123 Sulzer, Allgemeine Theorie (1777), Bd. 1.1, 108. 124 »Personalsatyren«: Ebd. Bd. 1.1, S. 294; - »Bosheit«: Bd. 11.2, S. 558; - »Beschimpfungen«: Bd. 11.2., S. 253. Wie seine Vorgängervemrteilt auch Sulzer generell die namentliche Verspottung in Komödien (ebd. Bd. 1I.2, S. 554). Zu Aristophanes als »Satiriker« siehe ebd. Bd. 11.2, S. 559 und Bd. 1.1, S. 294-295.
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1.11 Die >Entdeckung< des Politischen bei Aristophanes in der deutschen Aufklärung
Fasnachtspossen vorzuspielen, scheinet damals der Charakter der comischen Bühne gewesen zu sem. Diese Fehler der Eimichtung sind also nicht Fehler des Aristophanes, der sich nach der, vielleicht zum Gesetz gewordenen, Mode seiner Zeit richten mußte. 125
Doch auch so bleibt die Aristophanische Personalsatire für Sulzer ein drängendes Problem. Sulzer, als Anhänger der Aufklärung primär an Wirkungsästhetik interessiert,126 fragt nach der Wirkung von Aristophanes' Komödien; darin ist Sulzer beileibe nicht der erste, aber zum ersten Mal wirft er diese Frage als eine politische auf: Es entsteht über die Comödien dieses außerordentlichen Geistes noch ein Zweifel, den meines Wissens niemand aufgelöst hat. Wie hat ihm eine so große Schmähsucht gegen die vornehmsten Männer des Staates, gegen das ganze Volk selbst, und so gar gegen die Götter, so ungerochen hingehen können?127
Schon die in der Fragestellung enthaltene Behauptung, daß Aristophanes' »Schmähsucht« ohne konkrete Folgen geblieben sei, schließt aus, daß Sulzer sich, um die Wirkung der Alten Komödie zu erklären, des alten horazischen Moralsatire-lnterpretamentes hätte bedienen können, das er vielmehr bewußt zu meiden scheint. 128 Statt dessen führt er das in den letzten Jahren im Gefolge Bachtins so beliebt gewordene Karnevalslnterpretament 129 in die Diskussion ein, vielleicht zum allerersten Mal. 130 Aristophanes' »Schimpfen« gegen herausragende Persönlichkeiten
125 Ebd. Bd. 1.1, S. 107. Eine älmliche Erklärung der Personalsatire findet sich in einem anonymen Aufsatz, der möglicherweise von Johann Caspar Friedrich Manso stanmIt (?Manso, Beyfall [1788], S. 17): Es sei »nicht verwerfliche Tadelsucht, nicht Frevel, wenu er die Großen der Republik hervorzieht nud ihre Entschlüsse und Handlungen zur Schau aufstellt; es ist Schuld des Zeitalters, das seinem Witze keine andem Gegenstände gewährte, und Bedürfniß des Volkes, dessen Geschmack sich an dergleichen Spöttereyen und Ausfällen weidete.« 126 Siehe Karl R Menges, in: Rolf Günter Renuer I Engelbert Habekost (Hg.), Lexikon literaturtheoretischer Werke, Stuttgart 1995, S. 23-24. 127 Sulzer, Theorie (1777) Bd. 1.1, S. 108. 128 Ebd. S. 295 zitiert Sulzer die entsprechende Horaz-Stelle, stellt ihr aber unmittelbar folgend seine eigene Erklärung entgegen. Außerdem setzt er sich ebd. auch von der Auffassung ab, die Athener hätten Aristophanes' Spott geduldet, »nur danrit sie lachen könnten.« 129 Was die Festlizenz betrifft, so erscheint dieser Gedanke innuerhin schon bei Lukian Piscator 25 explizit, wo über die Verspottung des Sokrates durch Aristophanes und Eupolis gesagt wird: »Jene wagten diesen Spott nur gegen einen einzigen Manu und noch dazu erlaubterweise im Dionysos-Theater, und der Spott war anscheinend ein Bestandteil des Festes.« - [... ] EKElVOl !lEV Kaß' Evoe; avbeoe; E'tOA.!lCOV 'ta. 'tOlama, KaL EV ~lovU(JOU ECPEl!lEVOV amo iiberov, KaL 'to OKOO!l!la t06KEl !lEeoe; 't'l 'tiie; Eoe'tiie; [... ]. »A distinction between the norms of social intercourse and those of comedy« sieht Heath, Aristotelian Comedy (1989), S. 344-345 schon bei Aristoteles; Riu, Dionysism (1999), S. 16-19 versucht das mit weiteren ArgLllUenten zu stützen. 130 Z.B. J. C. carriere, Le carnaval et la politique. Une introduction a1a comedie grecque snivie d'un choix des fragments, Paris 1979; Peter von Möllendorff, Grundlagen einer Ästhetik der
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1. Von der Antike bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
mag in der ursprünglichen Form der griechischen Comödie so gegründet gewesen seyn, wie noch itzt im Carneval unter der Maske manches erlaubt ist, das sonst nicht würde geduldet werden. 13l
Zwei Prämissen Sulzers lassen sich hier erkennen. Zum einen geht er unberechtigterweise von der Folgenlosigkeit der Alten Komödie aus. 132 Zum anderen liegt der ganzen Fragestellung die Auffassung zugrunde, namentliche Personal satire sei moralisch verwerflich und hätte deshalb Konsequenzen für den Dichter nach sich ziehen müssen: Man wundert sich jetzo darüber, daß damals den Comödienschreibem eine so ausgelassene Freyheit verstattet worden, da es heute zu Tage einem sehr übel bekommen würde, wenn er den geringsten Bürger auf der Schaubühne beschimpft. 133
So paradox es klingen mag: Es ist gerade die moralisierende Vorstellung von der Rolle der Kunst im 18. Jahrhundert, die Sulzer dazu bringt, die Frage nach der Wirkung der Aristophanischen Komödie nicht-moralisch zu stellen. Doch gleich nach seiner Geburt aus dem Geiste der Moral wird das Politische bei Aristophanes vom Karnevals-Interpretament wieder verschüttet. 134 Indes liegt auch dies in dem Ursprung der Fragestellung begründet: Während der namentliche Spott aus moralischen Gründen zu einem Problem geworden war, sollte Aristophanes' Stellung als herausragender Dichter nicht aufgegeben werden. So mußte man eine Lösung für dieses Problem entwickeln, die darauf hinauslief, der Alten Komödie eine Ausnahmestellung zuzuschreiben (»Festfreyheit«), die zumindest direkte moralische und politische Wirkungen ausschließt.
Alten Komödie. Untersuchungen zu Aristophanes und Michail Bachtin, Tiibingen 1995. (= Classica Monacensia 9). 131 Sulzer, Theorie (1777) Bd. 1.1, S. 108-109, ebenso S. 296 und Bd. 11.2, S. 553-554. Die unbeschränkte »Festfreyheit« (ebd. S. 296) erklärt also für Sulzer die Folgen- und Wirkungslosigkeit der Alten Komödie. 132 Das kann - wie gesehen - angesichts der Tatsache, daß Aristophanes aufgrund seiner Komödien gerichtlich behelligt wurde, nicht als selbstverständlich hingenommen werden, und Sulzer, Theorie (1777) Bd. 1.1, S. 295 erwähnt selber Beispiele, »daß dem Volke selbst die persönliche Satyre anstößig gewesen sey [... ]« (bei dem dort genannten Dichter Anaxandrides handelt es sich allerdings um einen Dichter der Mittleren Komödie; dafür, daß er wegen Verspottung der Polis der zitierte Vers ist jetzt frg. 66 PCG - von Staats wegen hingerichtet wurde, ist die zweifelhafte Quelle das Scholion zu Ovid Ibis v. 523). 133 Sulzer, Theorie (1777) Bd.l.I, S. 296. 134 Beste Kritik an der Übertragung des Kamevals-Interpretamentes auf die Alte Komödie bei Goldhili, Poet's Voice (1991), S. 183-188; siehe auch Henderson, Comic Competition (1990), S. 274-275.
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2. Wegbereiter: Schlosser und Wieland
2.1 Johann Georg Schlosser: Des Aristophanes' ))andre Aussichten«
Zu den deutschen Literaten, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Geringschätzung, ja Verdammung des Aristophanes im französischen Klassizismus ablehnen und statt dessen eine zunehmende Wertschätzung bekunden, gehört auch Johann Georg Schlosser, badischer Beamter in Emmendingen und Schwager Goethes. I Als literarischer Dilettant im besten Sinne des Wortes hat Schlosser viele griechische Werke zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt,2 darunter auch in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts die Frösche des Aristophanes. 3 Wie man es von einem Verehrer des Aristophanes erwarten konnte, setzt sich Schlosser im Vorwort zu der 1783 publizierten Übersetzung mit den traditionellen Vorwürfen gegen den Dichter auseinander. 4 Für das WolkenProblem schlägt er eine originelle, wenn auch fragwürdige Lösung vor. 5 1 Zu Schlossers Person siehe J. v. d. Zande, Bürger und Beamter. J. G. Schlosser, Wiesbaden 1986. 2 Siehe dazu Rhein, Schlosser u. d. gr. Ant. (1989); zu Schlossers Übersetzung von Aristoteies' Politik siehe Riedei, Aristote1es-Tradition (1963), zu seiner Übertragung von P1atons Briefen Bubner, Schwärmerei (1992). 3 Schlosser, Frösche-Übers. (1783), S. 130: Schlosser habe seine Aristophanes-Übersetzung unterbrochen, als Herwig eine Wolken-Übersetzung ankündigte; diese erschien 1772. - Seitenangaben im Haupttext (in Klanunem) beziehen sich im folgenden auf Schlossers Frösche-Übers. in der Fassung seiner Kleinen Schriften, 3. Theil. 4 Ungewöhnlich dabei ist, daß sich Schlosser gegen etwaige Verteidigungen ausspricht. Er erklärt die »Kunstgriffe[ .. ] der edlen Dacier« und »des Frischlius pedantische Apologie« für uonötig und koustatiert: »[... ] Ein großer Mann braucht überhaupt keine Apologie« (Frösche-Übers. [1783], S. 137). So schon in der zwar anonymen, aber ganz offensichtlich von Schlosser verfaßten (Hi1senbeck, 18. Jh. [1908], S. 13, 44) Rezension von Herwigs Wolken-Übersetzung, S. 237: »Vertheidigungen des Aristophans, dergleichen die Vorrede [Herwigs] enthält, erwarten wir nicht. Man nehme doch die Alten und die Neuen wie sie sind. Das Vertheidigen ist so advocatenmäßig; und der beste Advocat denkt vornehmlich an seinen Clienten, und nur beyläufig an die Wahrheit.« 5 Schlosser, Frösche-Übers. (1783), S. 136: Ein Genie wie Aristophanes könne sich in den »Eingebungen seines Witzes« nicht mäßigen; außerdem habe zwischen Sokrates und Aristophanes eine persönliche Feindschaft bestanden; vor allem aber habe Aristophanes »als ein ächter Athenienser« Alkibiades, den schädlichen Frontenwechsler, gehaßt und deshalb dessen Freund Sokrates mit seinem Spott angegriffen. Allerdings empfiehlt in Ra. vv. 1431-32 der Aristophanische Aischy1os, eben diesen Alkibiades wieder in Amt und Würden zu setzen, und wird nieh! znletzt deshalb mit dem Sieg im Dichter-Agon belohnt. D.h., genau das Stück, in dessen Übersetzung Schlosser seine Lösung zum Wolken-Problem vorschlägt, widerspricht dieser. Ein befremdlicher Befund.
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2. Wegbereiter: Schlosser und Wieland
2.1.1 Schlosser über Funktion und Möglichkeit von Personalsatire In eine lange Tradition reiht sich Schlosser auch ein, wenn er Aristophanes als Satiriker präsentiert, der die Absicht hatte, seine Zeitgenossen zu bessern. Doch sind es in Schlossers Darstellung nicht mehr allgemeinmenschliche Laster, die zu bekämpfen Aristophanes sich vorgenommen habe, sondern die spezifischen Auswüchse des Ehrgeizes in der athenischen Demokratie. Es hatte also jeder, wer sich in Athen nur etwas fühlte, keine Ruhe, biß er sich empor schwingen konnte, und jeder wählte dazu die Mittel, die ihm am nächsten lagen. Diese Mittel sind in einem demokratischen Staat, Blendung, Ueberaschung, Gunst des Volks; und die Athenienser, dieses wunderbare Volk, war leicht zu blenden, und zu überraschen; und seine Gunst hängte, wie überhaupt bei den glüklichen Leuten, größtentheils von Kaprizen ab. (132)
Schlossers Aristophanes ist also nicht ein moralischer Satiriker wie bei Horaz, sondern primär ein politischer Satiriker, der Mißstände der Polis anprangert, »um zu erleuchten, um Vorurtheile zu verjagen, um Blendung zu vertreiben« (135).6 Des weiteren begnügt sich Schlosser nicht damit, die satirische Wirkungsabsicht der Aristophanischen Komödie zu konstatieren, sondern er erörtert eingehend die Funktionsweise dieser politischen Satire. Zunächst geht es ihm darum zu erklären, warum Aristophanes seine Mitbürger gerade auf komischem Wege bessern wollte; den Grund dafür leitet Schlosser aus dem Charakter der Athener her: [... ] Aristophanes sahe allein daß ein Volk wie seines nicht durch weise Reden, nicht durch Vorstellungen, nicht einmal durch Erfahrungen, klüger gemacht werden könnte, sondern daß, wenn etwas seinen schiefen, unsinnigen Enthusiasmus, seine unbegreiflichen Kaprizen heilen sollte, allein das lächerliche, das an die Idole des Volks gehängt würde, Wirkung thun könnte. (132-133f
6 In Übereinstimmung mit dieser Interpretation hebt Schlosser, Frösche-Übers. (1783), S. 209 die Verse Ra. 1054-55 in seiner Übersetzung typographisch hervor, wo es heißt: »[ ...] Was den Knaben der Schulmeister ist, das ist der Dichter den Männem; darmn sollte unser einer nichts als gute Sachen sagen.« 7 Aus allgemeinen Erwägungen war Schlosser aber skeptisch, daß Aristophanes auf diese Weise sein Ziel erreichen konnte. Siehe Schlosser, Rez. Herwig Wolken-Übers. (1772), S. 238: Die Satire schwäche den Haß gegen das Laster, »weil sie lachen macht, wo man verabscheuen sollte.« So auch John Brown (1748), zitiert bei Brummack, Theorie (1971), S. 317. Siehe außerdem Schlosser, Frösche-Übers. (1783), S. 134: »Wurde das Volk aber klüger und besser dadurch? Viel nicht! Der Spott macht selten klüger, und selten besser, er hindert meist nur daß man nicht noch unkluger und schlimmer werde.« Ähnlich schon Dio Chrysost. or. 33.10, zitiert oben S. 45.
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2.1 Johann Georg Schlosser: Des Aristophanes' »andre Aussichten«
Sodann nimmt Schlosser die Verwendung von Personalsatire in der Alten Komödie zum Anlaß, allgemein über deren Gefahren und Vorzüge zu reflektieren: Die alte Komödie zu welcher Aristophanes Werke [ ... ] gehören, hat allerdings viele Fehler gehabt, und mag viele Grausamkeiten begangen haben! Es ist hart wenn ein Mann, zumahl ein Mann der auf einem öffentlichen Plaz steht, der Brandmarkung eines jeden muthwilligen Dichters, ausgesezt ist; es ist aber auch auf der andem Seite wieder traurig, daß die Schlachtopfer des Geizes, der Eitelkeit, der Dummheit ihrer Obern, nun gar kein Mittel mehr haben, den Druck worunter sie seufzen, auf eine Art an den Tag zu legen, und ihrer Galle auf eine Art Luft zu schaffen! Kein Mittel mehr, den in den Hofkreis eingeschlossenen Regenten zu erleuchten [... ]. (138)
Die moralsatirische Auffassung läßt Schlosser hier gleich in zweifacher Hinsicht hinter sich: Zwar hält auch er die namentliche Verspottung nicht für unproblematisch, doch nicht wie meist aufgrund von Standesrücksichten, g sondern aus psychologischen Gründen, weil er eine solche öffentliche »Brandmarkung« für jede Person als »hart« empfmdet. Trotz dieses Nachteils plädiert Schlosser für eine solche Personalsatire. Deren Funktion sieht er jetzt nicht mehr wie die auf Horaz fußenden Satiretheoretiker in einer Einwirkung - zumeist als moralische Besserung verstanden - entweder auf die Opfer (durch bestrafende Bloßstellung) oder die Adressaten (durch Abschreckung); statt dessen beschreibt er sie als ein Ventil für die Frustration der unterdrückten >Untertanender Spötter aus Sachsenaristophanischen< Lustspiels gelten muß«, übernommen von Lord, Influence (1925), S. 121. Dagegen sprechen sich aus: Rosenkranz, Romantische Schule (1838), Sp. 1260; Haym, Romantische Schu1e (1870), S. 97, 101; Rille, Einwirknng (1907), S. 129; Friedländer, Ar. in Deutschland (1932/33), S. 555; Weinreich, Nachleben (1952/53), S. clxxi. 17 Überspitzt von Heine, Romantische Schule (1836), DHA Bd. 8/1, S. 177: »Die poetische Polemik, die Herr Tieck, in dramatischer Form, gegen die Gegner der [schlege1schen] Schule führte, gehört zu den außerordentlichsten Erscheinungen unserer Literatur.« Ebd. S. 180: »Diese reiche Brust [Tiecks] war die eigentliche Schatzkanuuer, wo die Schlegel für ihre literärischen Feldzüge die Kriegskosten schöpften. Herr Tieck mußte für die Schule die schon erwähnten satyrischenLustspiele schreiben [... ].«
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4. 1 Die Entwicklung des aristophanischen Lustspiels bis 1829
Sinne gehören Tiecks Lustspiele in die Geschichte der AristophanesRezeption: Weder direkte Transformation der Komödien des Aristophanes noch indirekte Aristophanes-Rezeption als Umsetzung der schlegelschen Komödienauffassung, !8 werden sie gleichwohl von ihren Rezipienten als aristophanisch aufgefaßt.!9 Tieck wählt für seine Lustspiele eine primär literaturparodistische Ausrichtung, verwehrt sich wie die Schlegels gegen jegliche Parteilichkeit der Satire20 und ist sparsam mit Verspottungen realer, namentlich genannter Personen?! Dagegen suchen seine Lesern offenbar geradezu nach politischer Satire. 22 Anlaß dazu ließ sich leicht fmden: Nicht einmal wenige Bemerkungen in Tiecks Lustspielen wirken auf den ersten Blick politisch provokant,23 und Tieck hat das selbst empfunden, da er eine ganze Reihe von
18 lnunerwahr, Esthetic Intent (1953), S. 82: »Tieck, before he knew of the Schlegels' discovery and probably before he had acquired any intirnate familiarity of his own with Aristophanes, embodied in Der gestiefelte Kater a number of the same comic principles [... ]. One cannot help noticing the similiarity of comic teclmique, a similarity which is most impressive precisely in those comedies where there is the least reason to suspect direct imitation.« 19 Walzei, Aristophanische Komödien (1916), S. 503 entwirft eine Typologie der für die Komödien des Aristophanes konstitutiven Momente, um davon ausgehend die Ähnlichkeit mit Tiecks Lustspielen zu erweisen. Wenn Walzel dabei die Illusionszerstörung an erster Stelle nennt, so stellt er sich eindeutig in die Tradition von Fr. Schlegel, dessen Aufsatz von 1794 Walzel ausfiihrlieh würdigt (S. 490-495). Über die Einschätznngen des 19. Jahrhunderts (vgl. oben S. 124 Amu. 16) konunt Walzel deshalb nicht hinaus. 20 Tieck, Bemerkungen (1800), S. 38-39, 71-72 (>individuell< vs. >allgemeinWespen< des Aristophanes nachgebildet«. Fürst, Rez. Rückert. Jahnnarkt (1913), S. 2, Sp.1: »Man darf wohl an Lützows schwarzes Freikorps denken.« 38 Die Übersetzung findet sich in Rückert, Nachlaß (1867), S. 175-289. 39 Rückert an de la Motte-Fouque, 24. Dez. 1814 (Briefe Bd. 1, S. 47). 40 Die Rückert-Forschung übersieht dies und qualifiziert Rückerts Lustspiele deshalb ohne Einschränkungen als aristophanisch: Prang, Friedrich Rückert (1963), S. 144-145; Kranz, Rückert u. d. Ant. (1965), S. 62-63. 41 Zwar ist Rückerts Komödie genauso wenig nur >außenpolitischinnenpolitischKünstlichkeit< Rückerts beeindruckt, doch zu Aristophanes führt ihn erst mehr als vier Jahre später die erste Gesamtübersetzung dieses Dichters von Johann Heinrich Voß. 50 1826 dichtet Platen dann seine erste »aristophanische[ .. ] Komödie«,51 Die Verhängnißvolle Gabel, der 1829 Der romantische Oedipus folgt. Im ersten Stück wendet sich Platen gegen die florierende Schicksalstragödie eines Müllner, Houwald, Raupach, Werner oder auch Grillparzer, indem er eine für diese Richtung typische Handlung entwirft, parodisch zuspitzt und sich so selbst ad absurdum führen läßt. Der romantische Oedipus enthält in ganz ähnlicher Weise »die Geschichte des Oedipus [ ... ], wie sie von einem deutschen Romantiker behandelt wird,«52 45 Ich greife nur Stemplinger, Ar. u. d. Wochenstube (1906), S. 369, Hille, Einwirkung (1907), S. 85, H. Protz, Pol. Komödie (1919), S. 9 und Friedländer, Ar. in Deutschland (1932-33), S. 556 heraus, da sie ihre Kritik mit der Erleichterung verbinden, daß Rückert auf die Abfassung des dritten Stückes verzichtet habe - welches 1913 publiziert wurde. 46 Fürst, Rez. Rückert. Jahrmarkt (1913), S. 2, Sp. 2. 47 Hirschberg, Unbekannte Dichtung (1910/11), S. 248, Sp.l: Rückert sei »einen Posttag zu spät ans Licht« getreten. 48 H. Protz, Pol. Komödie (1919), S. 9: »Von den Idealen, auf welche die Helden des Freiheitskampfes ihre Blicke gläubig gerichtet hielten, leuchtet bei ihm keines auf, und selbst keines von den Schlagworten begegnet uns bei ihm, welche in den großen Tagen der Entscheidung die Menge zu kühnen Taten fortrissen.« 49 Platen, Tagebücher Bd. 2, S. 41-42. 50 Ebd. S. 548 (3. Sep. 1822), S. 587 (14. Aug. 1823). 51 Ebd. S. 791 (14 Apr. 1826). 52 Ebd. S. 840 (20. Sep. 1827).
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4. Aristophanische Komödien bis 1850
ergänzt durch eine Rahmenhandlung, in der Karl Immermann, das Hauptziel von Platens Spott, kaum verhüllt als »Nimmermann« auftritt und antisemitische Seitenhiebe gegen dessen Freund Heinrich Heine fallen. In letzter Zeit überwiegt das Bemühen, Platens Komödien nicht nur als Literatursatire zu begreifen, sondern ihre politische Tendenz herauszuheben: Hinter der von Platen angegriffenen Schicksalstragödie stehe »die Ideologie der omnipotenten Staatsa11macht« des Restaurationszeitalters. 53 Platens Äußerungen deuten allerdings nirgends auf einen Willen zur politischen und gesellschaftlichen Einflußnahme hin; vielmehr schließt er an der einzigen Stelle, die danach klingt, eine politische Thematik gerade aus: 54 Größres wollt' er wohl vollenden; doch die Zeiten hindern es: Nur ein freies Volk ist würdig eines Aristophanes. Zwar der Dichter freut sich eines großgesinnten Königs Gunst, Doch Europa's Seufzer steigen um ihn her als Nebeldunst! Da der Sonnenstrahl der Freiheit seine Tage nicht erhellt, Gibt er, statt des Weltenbildes, nur ein Bild des Bilds der Welt. Mag er wissen, was vom deutschen Schaugerüst man sich verspricht, Wie es steht in deutschen Landen, frage man Poeten nicht! Einem spätem Meister überläßt er die berühmte That, Volk und Mächtige zu geißeln, ein gefürchtet Haupt im Staat.
Denn für Platen steht fest, daß »in Deutschland, da alles Oeffentliche und Politische ausgeschlossen bleiben muß, weiter kein Stoff für die wahre Comödie ist.«55 Die persönliche Satire will Platen auch im achten seiner Aphorismen, besonders über dramatische Kunst (1824) vom Theater verbannt sehen,56 und in keiner der Rezensionen von Platens Komödien wird das Politische als deren Hauptanliegen gesehen oder dessen Fehlen bemängelt. Der bedeutendste der späteren politischen Aristophaniden, Robert Protz, 53 Teuchert, Platen-Rezeption (1980), S. 40; G. Voigt, Einleitung (1957), S. xxi-xxvii; Denkler, Einleitung (1979), S. 5, 8, 16-17,20,22, zustimmend Rieks, Aristophanesstreit (1993), S. 120. Besonders fragwürdig muß dieser Ansatz werden, wenn man wie Denkler, Einleitung (1979), S. 24-25 eine »ideologische[ .. ] Geistesverwandtschaft« zwischen Platen, Immermann nnd Reine konstatiert. 54 Platen, Gabel (1826), vv. 1042-51. Vgl. Platen, Briefwechsel Bd. 4, S. 187, 190. 55 Platen an G. Schwab, 26. Mai 1826 (Briefwechsel Bd. 4, S. 225); dazu Buchwald, Platen und Ar. (1867), S. 742: »Dieser ersten Erkenntniß ist er bis auf einige beiläufige Bemerknngen, die harmlos in politische Gebiet hinüberschweifen, treu geblieben.« Ebd. S. 780: So »verzichtet der Dichter völlig auf die Rolle eines Tadlers und Rathgebers in politischen Fragen und beschränkt sich lediglich auf die literarischen.« Muff, Platen als Aristophanide (1873), S. 204: »Der Platen'schen Komödie muß [... ] jeder politische Charakter abgesprochen werden.« Ungenau daher W. Schmid, Ar.-Übersetzungen (1910), S. 19: »Auch er [platen] hätte schon gern auf das politische Gebiet übergegriffen, wenn hier gegen die Gewalt der Polizei aufzukommen gewesen wäre.« 56 Platen Tagebücher Bd. 2, S. 644 (Aug. 1824).
130
4.1 Die Entwicklung des aristophanischen Lustspiels bis 1829
bestätigt diese Sicht: Er macht darauf aufmerksam, daß es einerseits zu Platens Zeiten zu wenig politisch interessierte Leser als potentielle Adressaten für entsprechende Politsatire gegeben habe, andererseits Platens Komödien ihrem politischen Gehalt nach wesentlich hinter seiner nach der großen Zäsur von 1830 entstandenen Lyrik (»Polenlieder«) zurückstünden. 57 Daß auch dieser Ausschluß der Politik letztlich eine politische Entscheidung ist, bleibt davon natürlich unbenommen. 58 Daß sich Platen selbstbewußt den Titel eines »Aristophaniden« beilegt (Verhängnißvolle Gabel v. 1326), fmdet nicht nur keinen Widerspruch; vielmehr loben seine Leser die Aristophanes-Nachahmung durchweg als gelungen. 59 Im Gegensatz zu Rückert haben Platens Komödien mit ihrer Kritik an den Schicksalstragödien den Nerv seiner Zeitgenossen offensichtlich getroffen. Die späteren Aristophaniden fmden in Platens Komödien eine klar strukturierte Großform und metrische Gestalt vor, die nicht nur allgemein geschätzt wurde, sondern sich auch durch Befolgung der zugrunde liegenden Regeln scheinbar leicht nachahmen ließ; und mit der neu eingeführten Parabase 60 ist ihnen von Platen ein Mittel bereitgestellt, ihrem Bedürfnis nach direkter Mitteilung nachzukommen. Vor allem aber dürfte der Erfolg und das Aufsehen, das Platen zu teil wird, für andere Autoren eine Verlockung bedeutet haben, ihm als Aristophaniden nachzufolgen. »Platen ist der einzige unter den großen deutschen Dichtem, in dessen Leben Aristophanes Epoche macht. «61 Seine Verhängnißvolle Gabel sieht Platen »reißend abgehen«; sie verschafft dem Dichter einen »Achtungserfolg«.62 Folgenschwer ist der Skandal, den Der Romantische Oedipus 1829
57 R. Prutz, Wochenstube (1844), S. 111-112. 58 Friedländer, Ar. in Deutschland (1932/33), S. 561: »So sind denn diese unpolitischen Komödien auf eine sehr verschwiegene, ironische und dabei universale Art, man möchte sagen auf eine sehr deutsche Art, doch wiederum politisch, indem sie nämlich die Unmöglichkeit der echten politischen Komödie nachdrücklich aussagen.« 59 Platen war überzeugt, daß seine Verhängnißvol/e Gabel »eine neue Epoche in [s]einem Würkungskreis und auch in der deutschen Litteratur beginnen wird« (Briefwechsel Bd. 4, S. 190), und freut sich, »dieses Lustspiel als eine Art von deutschem Muster in dieser Gattung hingestellt zu haben [... ]« (Briefwechsel Bd. 4, S. 225). - G. Schwab, Rez. Platen. Gabel (1826), S. 387, Sp. 2; Anonymus, Rez. Platen. Gabel (1827), S. 630-631; Rosenkranz, Centrum (1840), S. iii; R. Prutz, Wochenstube (1844), S. 109; Goedeke, Rez. R. Prutz. Wochenstube (1845), S. 17, Sp. 2; Anonymus, Platen als Dramatiker (1845), S. 473. 60 Für Platen, Briefwechsel Bd. 4, S. 198 ist »die Parabase ein wesentlicher Theil des ächten Lustspiels [... ], keineswegs etwas, das man bloß verzeihen möchte.« 61 Friedländer, Ar. in Deutschland (1932/33), S. 559. 62 Platen, Tagebücher Bd. 2, S. 894; - Denkler, Einleitung (1979), S. 5.
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4. Aristophanische Komödien bis 1850
durch seine Ausfälle gegen Immermann und Heine auslöst. 63 Mit Immermanns Erwiderung in der Schrift Der im Irrgarten der Metrik umhertaumelnde Cavalier (1829) entwickelt sich der offene Streit, dessen Höhepunkt Heines beißender Gegenangriff in den Bädern von Lucca (1830) bildet. Und eine zentrale Rolle in diesem Streit spielt der Name des Aristophanes.
4.2 Der Platen-Heine-Streit 4.2.1 H eine als Aristophanes Platens Romantischer Oedipus (1829), mit dem Platen den viel besprochenen Streit64 erst richtig ins Leben ruft, gilt vor allem Immermann als typischem, wenn auch wohl ungeschickt gewähltem Vertreter der Schicksalstragödie. Dem auf literarische Fragen ausgerichteten Angriff fehlen weitgehend persönliche Züge,65 und auch Immermanns Erwiderung Der im Irrgarten der Metrik umhertaumelnde Cavalier (1829)66 konzentriert sich auf das allgemeine Problem der Übertragbarkeit antiker Formen,67 wenn auch ganz am Rande gewisse persönliche Züge Platens (Eigenlob, adlige Herkunft, Homosexualität) miteinfließen. 68 Doch im Ganzen folgt Immermann in der Auseinandersetzung mit Platen dem Grundsatz: »Ueberhaupt ist die Polemik nicht Poesie.«69 Daher bleibt die Debatte zwischen Platen und Immermann vornehmlich eine ästhetische, und Immermann wird auch heute 63 Marggraff, Platen-Hallennünde (1842), S. 96: »Das Aufsehen, das diese Dichtung machte, war groß und beinahe allgemein.« 64 Die Literatur vor 1979 verzeichnet Denkler im Neudruck von Platens Gabel und Oedipus, S. 223-224. AusjÜllgerer Zeit sind vor allem zu nennen: Teuchert, Platen-Rezeption (1980), S. 3142; Ho1ub, Graecophilia (1981), S. 87-110; Hennand, Heine contra Platen (1986), passim; Alfred Opitz, in: DHA Bd. 7/2 (1986), S. 1066-1149; Derks, Päderastie (1990), S. 511-593; Rieks, Aristophanes-Streit (1993), S. l20-123. 65 P1aten, Oedipus (1829), vv. 1379-1381 weist nur einmal am Rande auf Immennanns Tätigkeit als Jurist hin, ein >VorwmfDurchschnitts antisemitismus< handelt oder um unmögliche, längst überholte Klischees, die gerade einem Außenseiter wie Platen nicht anstünden,73 diese Frage zu entscheiden, fällt nicht in den Rahmen unserer Untersuchung. Vielmehr gilt es zu beachten, welche Funktion Platen selbst dieser Art von Polemik gegen Heine beimißt: »Daß er ein Jude ist oder war, ist kein moralisches Gebrechen; aber ein komisches Ingrediens. Einsichtige werden beurteilen, ob ich es nicht mit aristophanischer Feinheit benutzt habe.«74 Platen formuliert darin - mit Bezug auf Aristophanes - ein Grundprinzip satirisch-komischer Polemik: den Angriff auf den Gegner vermittels einer Attacke gegen einen gesellschaftlich tabuisierten persönlichen Zug des Rivalen. Bei Heine, der die ästhetische Form-Diskussion zu einer gesellschaftlich-politischen erweitert, 75 kehrt eben dieses Prinzip wieder, doch beschränkt sich Heine nicht auf das Gebiet der Religion (Platens angeblicher Hang zum Katholizismus), sondern nimmt das der Sexualität für seinen Feldzug hinzu. Die ausgedehnte, skatologisch geprägte Polemik Heines gegen Platens Homosexualität in den Schlußkapiteln der Bäder von Lucca (1830)76 erregt heftig das Entsetzen und den Ekel der Zeitgenossen, was viel über die Gesellschaft jener Zeit aussagt; 77 aber auch in der modemen Germanistik sind 70 Vgl. Cholevius, Antike Elemente 11 (1856), S. 536: »[ ...] Platen spricht von seinen Gegnern mit einer nnanständigen Gereiztheit nnd oft in einem Tone, der zu niedrig ist, um noch witzig zu sein.« 71 Weimeich, Nachleben (1952/53), S. clxxvii. 72 Platen, Oedipus (1829), vv. 1387-1392, 1570-1582. 73 Hermand, Heine contra Platen (1986), S. 117. 74 Platen an Fugger, 12. März 1828 (Briefwechsel Bd. 4, S. 393-394). Ich will allerdings nicht leugnen, daß in dieser Formuliernng, besonders in der fragwürdigen Alternative von >moralischem Gebrechen< oder >komischem IngrediensPerson< (und nicht der Repräsentant der >AdelsdekadenzAuftragsrezension< der Bäder von Lucca her: 83 Der ganze Hergang mit diesen beiden Juden [Gumpelino und Hyazinth], wiewol nur in schlichter (doch in äußerst gebildeter und wohltönender) Prosa dünkt uns, wenn denn doch einmal von Aristophanes die Rede sein soll, Aristophanischer als Alles, was Graf Platen bisher in gekünstelten schweren und doch leeren Versen nach solchem Muster zu arbeiten versucht hat. Und nicht sowol durch die materielle Belastung, durch die Ersäufung in Satyre und Hohn, sondern vielmehr dadurch hat Hr. Heine den Gegner völlig abgetödtet, daß er ihn in dem Fache, auf das derselbe sich am meisten zu Gute thun wollte, in seiner Blöße gezeigt, und ihn nicht nur an Grimm und Spott, sondern auch an Kunst, und gerade an Aristophanischer Kunst, unendlich überboten hat! Wollt Ihr aristophanisiren, so müßt Ihr es so machen; habt Ihr dazu nicht Muth und Geschick, so bleibt in Gottesnamen dabei, daß ihr Kotzebuisirt, oder Müllnerisirt! Wenn von Aristophanes die Rede ist, so kann man nicht umhin, sich auf Frechheit einzulassen. Frech allerdings ist dieses Buch, wie eine schnöde Vertheidigung auf schnöden Angriff nur sein kann; frech auch in Nebendingen, in willkürlicher Feindschaft, in allgemeinem Spotte.
Bei Aristophanes gehört gerade der Kontrast zwischen >normaler< und >perverser< Sexualität zum Grundrepertoire der persönlichen Polemik gegen politische Gegner. So wie Heine, der Platen als »Pathikos« bloßstellt, 84 fokussiert auch schon Aristophanes mit besonderer Vorliebe seine Kritik an unliebsamen Zeitgenossen auf deren angebliche Analität. 85 Ob Satire das darf, steht hier nicht zur Debatte; die Satire Heines will es jedenfalls.
82 Heine an K.A. Vamhagen von Ense, 4. Febr. 1830, HSA Bd. XX, S. 385. Vgl. K. Isaak Coppenhagen in einer Rezension von Platens Romantischem Oedipus aus dem Jahr 1829, noch vor Erscheinen von Heines Die Btider von Lucca (bei GalleylEstermann, Zeitgenossen Bd. 1, S. 366): »Lustig wird es gewiß werden, wenn Heine sich über Platen hermachen sollte. Die Parabase, die er alsdann als Chorus sprechen wird, wird ohne Zweifel das Unterhaltendste dieser ganzen polemischen Comödie werden.« 83 Bei GalleylEstermann, Zeitgenossen Bd. 1, S. 397-398. 84 Heine, DHA Bd. 7/1, S. 141, Z. 21. Daß Gumpelino Platen auf dem Klo liest, ist eine retractio der Klolektüre/-dichtung Nimmermanns im Romantischen Oedipus. DeIks, Päderastie (1990), S. 549: Eine zentrale Rolle in Heines Platen-Polemik spielt »das breit ausgefaltete anale Bildfeld. [... ] Neu ist hier [... ] die Erweiterung des Analen zum Fäkalen, dem inuner schon der Ekel bürgerlicher Reinheit zukam.« Es geht also in der Kritik an Platens Homoerotik nicht nur um »anachronistic attitudes, artificiality, and pretense«, nicht nur um »superficiality and hollowness« in Parallele zu Platens Fonnfixierung auf literarischem Gebiet (Holub, Sexual Assau1ts [1981], S. 423). 85 Vgl. Dover, Greek Homosexuality (1978), S. 140-145; Henderson, Ma.culate Muse (1975), S. 209-214; Winkler, Constraints ofDesire (1990), S. 61-62.
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4. Aristophanische Komödien bis 1850
Heine eröffnet mit seiner Art der Polemik gegen Platen der Satire seiner Zeit neue Dimensionen. War diese bisher vor allem Typensatire, die sich ohne Namensnennung gegen moralische Verfehlungen wandte, so verspottet Heine in den Bädern von Lucca einerseits unter Namensnennung eine bekannte Person des öffentlichen Lebens 86 und richtet seinen Spott andererseits auf gesellschaftlich tabuisierte Züge seines Gegners. 87 Mit beiden Neuerungen lehnt er sich an Aristophanes an, der für ihn bereits in einer frühen Äußerung »der größte Satiriker« ist. 88 Die Auffassung des Aristophanes als Satiriker ist dabei an sich alles andere als ungewöhnlich; sie liegt auf der üblichen Linie des vorherrschenden Aristophanes-Verständnisses bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, deren Beginn bei Horaz, Satire 1.4 liegt. Doch während man dabei Aristophanes als Satiriker meist auf eine solche Weise vereinnahmt, daß viele charakteristische Merkmale seiner Komödien geleugnet oder ignoriert werden, bewirkt Heine gerade eine Revitalisierung von vorher aus geblendeten oder gering geschätzten Aspekten dieses Dichters und gibt so der Rezeption des Aristophanes neue Impulse. Zugleich zeichnet Heine der Satire eine neue Ausrichtung vor, von der seine Zeitgenossen zunächst überrascht sind, die sie aber bald als typisch aristophanisch verstehen. Heines Leistung hat Fingerhut zusammengefaßt: Implizit verpackt in die satirische Destruktion von Platens Anspruch auf den Titel eines deutschen Aristophanes wird - via negativa - das Profil einer wirklich aristophanischen Satire deutlich. Es gleicht demjenigen der Heineschen Himichtung Platens. 89
86 Oesterle, Integration u. Konflikt (1972), S. 87: »In der Erkenntnis der Ohnmacht traditioneller literarischer Mittel gegenüber den deutschen Zuständen greift Reine zu einer Personalsatire, die, gezielt gegen feudale Reaktion, die Schranken dessen sprengt, was, jedenfalls dem deutschen Publikum, Kritik als goutabel erscheinen läßt.« Den Punkt des Übergangs von der klassischromantischen Typensatire zur aristophanischen Personalsatire sieht Fingerhut, Reine der Satiriker (1991), S. 34,43 am Beginn der letzten beiden Kapitel der Bäder von Lucca. 87 Rolub, Sexual Assaults (1981), S. 415: »[... ] Reine must be credited with introducing, on a more consistent and forceful basis than his predecessors, the sub-geme of the sexual polemic.« Später, im Vorwort zu Deutschland Ein Wintermärchen (1844), beruft sich Reine für seine »nackten Gedanken« in einer praeteritio auf Aristophanes (DHA Bd. 4, S. 300). Vgl. schon Goethe bei Böttiger, Lit. Zustände (1838), S. 251: »Die ursprüngliche vis comica liegt in den Obszönitäten und Anspielungen auf Geschlechterverhältnisse und kann von der Komödie gar nicht entfernt gehalten werden.« 88 Reine zu Eduard Wedekind (Juni 1824), in: M. Wemer, Begegnungen mit Reine Bd. 1, S. 98: »Aristophanes ist der größte Satiriker, und ich möchte wünschen, daß die persönliche Satire bei uns wieder eingeführt wäre.« - Daß Reine zudem in den Bädern von Lucca einmal ein Motiv literarischer Kritik aus Aristophanes verwendet, hat Brandes, Rauptströmungen VI (1891), S. 209 nachgewiesen; man vgl. Reine, DHA Bd. 7/1, S. 130, Z. 9-17 mit AristophanesRa. vv. 1197ff. 89 Fingerhut, Reine der Satiriker (1991), S. 46.
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4.2 Der Platen-Heine-Streit
Auch Platen hatte, wie gesehen, seine antisemitischen Anwürfe gegen Heine nicht als Hinweis auf ein »moralisches Gebrechen«, sondern als »ein komisches Ingrediens« verstanden. Heine geht indes in seiner auf Platens Homosexualität konzentrierten Sexualpolemik weit darüber hinaus und führt damit der Satire ein neuartiges Darstellungsmittel zu, gerade auch der politischen Satire, denn Heine wollte in Platen ja die »Aristokraten und Pfaffen« treffen. Zwar ist den zeitgenössischen Rezensenten der aufgezeigte Zusammenhang zwischen Sexualpolemik und persönlicher Politsatire nicht so ausdrücklich bewußt gewesen wie etwa heutigen Heine-Forschern,90 doch ihre Kritik an Heine dreht sich beharrlich um die Begriffe des »Schmutzes« und der Gehässigkeit. 91 Und earl Herloßsohn, der in keiner persönlichen Beziehung zu Heine stand, aber Heine und sich gemeinsam zu den Liberalen zählte, streicht heraus, daß es in dem Streit zwischen Platen und Heine um politische Fragen und Positionen geht: 92 [00'] Dieser gräfliche Dichter oder dichterische Graf hat unsem Heine auf eine gemeine, stark nach Aristokratismus (einem christlichen oder gräflichen) riechende Weise
90 Vgl. Holub, Sexual Assaults (1981), S. 426: »The intimate sphere in Heine's attack cannot be separated from the public position. Or, to translate Heine's polemical approach into the language of recent years, the personal is the political.« Und ebd. S. 416: »[00'] The sexual aspects of his polemics are not merely ad hominem attacks; they are also central components of the text in which they are found - if not structurally integrated, than at least ideologically consistent with the political and critical tendencies in the total work.« Zwei zeitgenössische Stimmen, jedoch charakteristischerweise in bezug auf Heines Lyrik, kommen diesem Zusammenhang recht nalIe und sehen die Ähnlichkeit zu Aristophanes. Zum einen Anonymus, Rez. Heine, Neue Gedichte, in: [Augsburger] Allgemeine Zeitung, Nr. 276, 2. Okt 1844 (zitiert nach DHA Bd. 2, S. 258): »Sie werden große Sensation und heftige Angriffe auf den Dichter erregen. Eigentlich politische Lieder schreibt Heine auch in diesem Bande nicht, sondern läßt in seiner Muse das erotische Moment vorwalten; er geißelt Freund und Feind, Hoch und Niedrig, schneidet in eigenes wie in frerndes Fleisch, und bleibt der >ungezogene Liebling der Grazieneigentlichen< Aristophaniden in ihren Komödien wagen, und sind den Attacken eines Aristophanes, z.B. gegen Kleon, würdig an die Seite zu stellen. Heine, so empfand man, begründete damit eine Tradition, die ganz im Gegensatz zu der unfruchtbaren Hochzeit mit Hammonia l07 durchaus fruchtbar werden konnte. In einer Nachdichtung des Wintermärchens von 1846 verlängert der Autor (Ludwig Reinhard?) die Abstammungslinie von Vater Aristophanes über Sohn Heine bis in seine Zeit l08 Aristophanes, den Jeder nennt Den Liebling der Camönen, Der hat den Heinrich Heine erzeugt Mit einer Hamburger Schönen. Ich aber stamme von Heine ab; Der liberale Sünder
tennärchen-Rezeption [1985], S. 205-212) preist Ruge Heines Wintermarchen als »absolute Komödie« (S. 210) und vergleicht Heines Vorrede mit Aristophanes' Parabasen (S. 211). 105 Heine hatte seit 1825 eine eigentümliche, »tragische« Deutung der Vögel entwickelt und oft wiederholt: Heine an Friederike Robert, 12.10.1825, in: HSA Bd. XX, S. 218-219;Ideen. Das Buch Le Grand (1827), Kap. XI, DHA Bd. 6, S. 200-201, vgl. S. 179; Die Bader von Lucca (1830), DHA Bd. 7/1, S. 148; Die Romantische Schule (1833), DHA Bd. 8/1, S. 178; siehe dazu Schillemeit, Das Grauenhafte (1975), S. 327-333. Die Deutung, die Heine in der Romantischen Schule von der Hochzeit des Peisetairos mit Basileia bei Aristophanes gegeben hat, läßt sich aber höchstens mit großen Modifikationen auf das Wintermärchen übertragen; die nabeliegende, eiufache Gleichsetzung: Peisetairos = Narrheit = Ich-Erzähler, Basileia = Macht = Hanunonia, gelingt jedenfalls nicht. 106 Fingerhut, Heine der Satiriker (1991), S. 16-18, 86-89; ders., Heine. Wintennärchen (1992), S. 83-86. 107 Heine wird ja vom Zensor kastriert: Wintennärchen (1844), cap. XXVI, vv. 99-104. 108 Zitiert nach Bellmann, Erläuterungen (1980), S. 144.
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4. Aristophanische Komödien bis 1850
Hat außer mir in die Welt gesetzt Viel illegitime Kinder. Nur liberal und heinisch dabei Sind diese Strophen gesungen; Und wie sie Anno Dreißig sang'n So zwitschern jetzt die jungen. 109
Heinrich Heines transformative Rezeption des Aristophanes und die Diskussion um den Satiriker Heine bilden somit einen ganz wichtigen Strang innerhalb der Aristophanes-Rezeption im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Dabei geht es den Rezipienten und Meta-Rezipienten vornehmlich gar nicht um die Komödien, d.h. die Texte des Aristophanes, sondern in gegenseitiger Auseinandersetzung bilden sie ein Bild von Aristophanes heraus, dessen Hauptgesichtspunkt der des politischen Satirikers ist. Die Verkörperung dieses Aristophanes-Bildes sieht man in Heine: »Der Titel eines >deutschen Aristophanes( wird Heine in der Wintermärchen-Rezeption nicht mehr bestritten.«110 Es ist anzunehmen, daß auch in der Diskussion um die transformative Aneignung des Aristophanes in den Komödien der Aristophaniden dieses Aristophanes-Bild und damit der alternative Weg Heines im Hintergrund steht, selbst wenn von Heine dabei nicht die Rede ist. Die Auffassung Heines als Aristophanes erwies sich im übrigen als sehr langlebig. Adolph Stahr prägt um 1850 für den im Pariser Exil krank darniederliegenden Heine den Ausdruck des »sterbenden Aristophanes«, der dann schnell zum Schlagwort wird. 11 1 Die Verbreitung dieses Wortes
109 Die Ähnlichkeit zwischen Reine und Aristophanes, was die politische Situation betrifft, betont einige Zeit später anch Luise Roffmann in ihrer dranJatischen Scene Heines Ankunft im Schattenreich (1857). Die Autorin läßt den Schatten des Aristophanes zur Verteidigung Reines vor dem Totengericht der Unterwelt auftreten (S. 244-245): »Aristophanes. Seine Zeit war wie die meine, Deutschland zerrissen wie Griechenland, der Glaube vom Unglauben angefressen und darum die Sitten schlecht und die Jugend entnervt und ein KaJJJpf zwischen ihr und den Alten. In diesen Ideen aufgesäugt, war er ein Kind und Abdruck seiner Zeit. Durfte ich Wolken, Frösche und Wespen schreiben, warum nicht er, der Deutsche, denAtta Troll?« 110 Fingerhut, Reine der Satiriker (1991), S. 89, Anm. 45. Laut Alberto Destro, in: Reine, DHA Bd. 3/2, S. 461, schuf Adolph Stahr die Formel vom »deutschen Aristophanes« (um 1850; bei M. Wemer, Begegnungen Bd. 2, S. 195), doch findet sich diese Bezeichnung von Reine schon viel früher gebraucht, spätestens 1844/45 (siehe DHA Bd. 4, S. 987; Bd. 2, S. 809). 111 Zuerst öffentlich in Adolph Stahr, Zwei Monate in Paris, Bd. 2, Oldenburg 1851, jetzt bei M. Wemer, Begegnungen Bd. 2 (1973), S. 205, und in einer Rezension von Reines Romanzero vom 2. Nov. 1851 (in: Reine, DHA Bd. 3/2, S. 731). Vgl. Moritz Hart:mann., schon Ende 1850 (bei M. Wemer, Begegnungen [1972] Bd. 2, S. 249, Nr. 878) und Saint-Rene Taillandier (zitiert in: Reine, DHA Bd. 3/2, S. 1014-1015). Und vom »sterbenden Aristophanes« war es daJJJInicht mehr weit zur Bezeichnung Reines als eines PrometlJeus: RSA Bd. XX-XXVII (Reg.), S. 352 (Georg
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4.3 Vormärz
konnten selbst gelegentliche Versuche, seine Berechtigung zu bezweifeln, eher nur noch verstärken. 112 Heine selbst, spätestens jetzt von diesem Ehrentitel geschmeichelt, 113 nimmt den Vergleich dann in seinen Geständnissen von 1854 auf. Angesichts des Widerspruches zwischen seinem Ruhm (zumindest in Frankreich) und seinem körperlichen Leiden erhebt er ihn auf ironische Weise quasi zu einer »negativen Theodizeeerzpfäffischen Pisias< gegeben, während Pheidias bei dem Kommunisten Knakias kuriert werden soll. Nach Richters Überzeugung stehen sich, worauf er schon mit dem »bedrohlichen W ortungetüm [Ultramontanokommunisten] nach echt aristophanischer Manier in der Überschrift« hinweist,24 Kommunisten und Ultramontane in der Verachtung des Vaterlandes und der Schädlichkeit für Staat und Gesellschaft in nichts nach. 25 In der Fiktion der Komödie heben sich nun die bei den negativen Extreme gegenseitig auf: Durch die Konfrontation mit den Lehrern der jeweiligen Gegenpartei werden die bei den verirrten Jünglinge zum positiven Ideal des treuen, patriotischen Staatsbürgers bekehrt. 26 22 Kloft, (Un-)Demokratisches Gelächter (1995), S. 357. Richter, Chelidones (1873), vv. 4345 spielt auf den Anfang der Wolken an: TU öE :rr:ULOla / QEyKcl KcKaAUflflEva ToTe; aLaUQOle; Kai :rr:EQOCTUL / roa:rr:cQ fla{)TjTliiiVTa :rr:aQu TC\> KWf1LKC\>' in Richters eigener >ÜbersetzungNaturrechten< oder >MenschenrechtenBassermannschen Gestalt< eigentlich nur für sich selbst gefordert, in der Form gedacht, wie sie selbst ihn gerade am notwendigsten braucht, aber - da man ja nicht wohl auf dem Markt sagen kann, die Wohlfahrt des Staates und der Bürger beruhe darauf, dass Genosse Euaion einen Rock und ein Obdach erhalte - sich gebend als eine sozialpolitische Massregel zu Nutzen aller in ähnlicher Lage befindlichen zerlumpten Pennbrüder; dann freudig aufgenommen und erweitert zum Programm der täglichen Brodausteilung von der Masse der Armen und Elenden. [... ] Von diesem partiellen, ad hominem berechneten und contra hominem, bezw. einige Untemehmerschichten - Walker, Kürschner - zugespitzten Kommunismus, bis zu dem ganzen, alle Güter und alle Individuen in Gemeinschaft zusammenschliessenden Kommunismus, wie ihn Praxagora vertritt, ist sicher der Übergang nicht bloss einmal vollzogen worden, wenn auch die Geschichte die Namen der Konsequenten uns verschweigt und nur, in ihrer Laune, den des bescheideneren Herm Euaion uns meldet. (381-382)
Gutgläubig benutzt Dietzel Aristophanes als verläßliche Quelle und hält damit die Historizität von Euaion und der von ihm vertretenen kommunistischen Bewegung für gesichert. Dietzel übersieht einerseits, daß Euaion einen für fiktive Komödienflguren typischen sprechenden Namen trägt (»Gutzeit«). Zudem kann es als sicher gelten, daß Aristophanes in Euaion eine in seinen Komödien häufig vertretene soziale Schicht repräsentiert wissen will, den Typus des armen, einfachen Bürgers (des >zerlumpten PennbrudersAnstandsgefühlMenschliches< nicht mehr gestattet. (383)
Ohne Zweifel ist es ein lustiges Spiel, das Aristophanes hier mit den Folgen treibt, die aus einer durchorganisierten Weibergemeinschaft entstehen könnten. Aber selbst wenn man in diesem Fall den Spott als Kritik an einer solchen Idee verstehen wollte, kann man nicht übersehen, daß die sonstigen kommunistischen Ideen im Stück, besonders die ökonomischen und sozialen, um die es Dietzel ja vor allem geht, zwar lustig dargestellt, aber dadurch nicht schon der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Dietzel faßt ihre Darstellung stets unbefragt als beißende Satire, als vernichtende Kritik an solchen Theorien und Bestrebungen auf, während sie dazu eigentlich erst durch Dietzels modernisierende Begrifflichkeit in seinen Paraphrasen und Analysen geworden sind. Dietzels Drang zur Aktualisierung der Ekklesiazusen verengt das Stück auf eine Kommunismuskritik und vereinnahmt es für die eigenen politischen Absichten. Leicht fällt es ihm, seine voreingenommenen bürgerlichen Vorstellungen vom Vulgärkommunismus, die er nicht weniger hegt als z.B. Julius Richter, im Stück des Aristophanes wiederzufmden. 64 64 Dietzel, Beiträge 11 (1893), S. 376: »die Transfusion des Überschusses der Parvenus nud Geldprotze in den blutleeren Körper der Armut«; S. 377: »Kommunismus des Mitgenießens aus fremder Schüssel«, »Alles vom Staat, Nichts fiir den Staat«; S. 386: »Magenmotiv«.
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6.2 Die Vereinnahmung der Ekklesiazusen im Deutschen Reich nach 1890
Doch Dietzel verfolgt noch eine zweite Strategie, um die Ekklesiazusen für seine Zwecke instrumentalisieren zu können. Der Haupteinwand gegen die Vermutung, Aristophanes reagiere hier spottend auf tatsächlich vorhandene Bestrebungen des Volkes seiner Zeit, war immer die Ähnlichkeit der in den Ekklesiazusen propagierten Programme mit Platons Idee einer Güterund Weibergemeinschaft aus der Politeia. Damit wäre Aristophanes ein Gegner Platons, die Ekklesiazusen eine Philosophiekomödie gegen die Politeia, nicht aber ein sozialhistorisches Dokument. Dietzel verwirft diese Sichtweise, wie auch schon seine Vorgänger aus der nationalökonomischen Schwe, geht aber über die bis dahin vorgebrachten, hauptsächlich chronologischen Einwände weit hinaus. Für ihn stehen Aristophanes und Platon auf derselben Seite, sind Kämpfer gegen dieselbe Sache. Dietzels Argumentation ist sehr einfach: Den >Kommunisten< der Ekklesiazusen gehe es nur um die Befriedigung ihrer höchsteigenen Bedürfnisse und Gelüste, um das größtmögliche Glück für sich selbst, für jeden einzelnen. »Dort sind Güter- und Weibergemeinschaft«, sagt Dietzel (399), »herausgedacht aus dem verwirrten, erhitzten Hirn eines hungrigen, verlumpten Pöbels, welcher nichts hat, alles begehrt - vor allem Braten, Wein und Dirnen.« Die Proletarier der Ekklesiazusen vertreten für Dietzel das Individualprinzip, wonach das Individuum und die Befriedigung seiner Bedürfnisse das Wichtigste ist, dem zu dienen die alleinige Funktion des Staates ist. Im krassen Gegensatz dazu vertrete Platon ein Sozialprinzip: Der Staat ist alles, das Individuum nichts. In der Politeia werde eine geradezu »asketische Ordnung« entworfen (399). Güter- und Weibergemeinschaft würden auch nicht für alle gefordert, sondern nur für eine besondere führende Schicht im Staate und stünden deshalb allein »im Interesse der Erzielung eines möglichst vortrefflichen Beamtennachwuchses« (392). Daher ist für Dietzel klar: »Das Ideal Platos ist die absolute Negation des Ideals jener, von Aristophanes verhöhnten Kommunisten des Pöbels« (398). Für Dietzel stehen sich gegenüber »auf der einen Seite [... ] die [... ] als Rekrutenzuchtanstalt dienende Kaserne Platos, auf der andern Seite das von einer Sklavenschar bediente Luxushötel und Gratisbordell der Dame Praxagora« (399). Diese Konstruktion eines Gegensatzes ermöglichte es Dietzel, die Theorie, daß die Ekklesiazusen eine Philosophenkomödie seien, vom Tisch zu wischen: Gegen Plato gerichtet wäre die Satire der Ekklesiazusen einfach albern - gegen die namenlosen Maulhelden des Proletariats gerichtet ist sie ein Meisterwerk politischer Polemik nicht minder, als ein Meisterwerk der Komödienkunst, in welchem sich die
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6. Aristophanes in der Sozialismus-Debatte
derbe Kraft und der rücksichtslose, vor keinem Schmutz zurückschreckende Humor Shakespeares paaren mit der leichten Grazie und dem gehaltenen Lachen Molieres. Nein. Der lustigste der Dichter hat den tiefernstesten der Philosophen hier nicht zur Zielscheibe genommen. Nicht Gegner sind sie, sondern Verbündete. Wenn jener die >Saturnalien der Kanaille< (Mommsen) auf die Bühne brachte, so wollte er, mit der Narrenpritsche dreinschlagend, den gleichen Feind bekämpfen, gegen den der Sokrates der Politeia im Kanzeltone einherzieht. 65
»Die Nutzanwendung der antiken Sozialutopien für die Gegenwart«, schreibt H. Kloft, »liegt auf der Hand. Platons Gütergemeinschaft als philosophische Antwort auf das Gebaren der Reichen ließ sich wie der vulgäre Kommunismus, den Aristophanes in den Ekklesiazusen auf die Bühne brachte, auf die gigantischen sozio-ökonomischen Fehlentwicklungen der eigenen Zeit beziehen.«66 In diesem Sinne schließt Dietzels Aufsatz: Es ist der gleiche Feind, welcher auch unsere Zeit und unsere Kultur bedroht - der allbeliebte Tanz um das goldene Kalb, der festgefressene Subjektivismus, Egoismus und Materialismus. Wie er in Athen an dem einen Pol seiner Wirksamkeit die Fäulnis der leitenden Schichten, an dem andern die kommunistischen Appetite des Pöbels erzeugte, so heute den Panamaskandal und die Sozialdemokratie. 67
6.2.2 Robert von Pöhlmann Im selben Jahr wie Dietzels Aufsatz (1893) erschien von Robert von Pöhlmann, Ordinarius für Alte Geschichte in Erlangen der erste von zwei Bänden seiner Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus. Dieses Buch ist das wichtigste Werk von Seiten jener Altertumswissenschaftier, die den Angriffen auf ihren Berufsstand und auf den Gegenstand ihrer Lehre begegneten, indem sie ihrerseits Sozialismus und Sozialdemokratie bekämpften. Die Wirkung von Pöhlmanns Werk zeigt sich nicht nur an der zweimaligen Neuauflage (21912, 31925), sondern auch daran, daß es »mit 65 Dietze1, Beiträge II (1893), S. 400. - Mit dem Mommsen-Zitat »Saturnalien der Kanaille« verursacht Dietze1 unwillentlich ein Mißverständnis: Der vielgelesene Pöhlmarm, Ant. Komm. 11 (1901), S. 29 übernalun das Zitat von Dietze1, behauptete aber im Gegensatz zu Dietze1 explizit, daß Mommsen damit »das Zukunftsbild der Ekklesiazusen treffend bezeichnet« habe (ebd. Anm. 1). Seitdem geistert dieser pointierte Ausdruck als vermeintliche Charakterisierung der Ekklesiazusen durch Mommsen bis in die jüngste Zeit durch die Sekundärliteratur; dabei hat i1m Mommsen was Dietze1 nachzuweisen versäumt hat bzw. nicht für nötig erachtete - in seiner Römischen Geschichte (Bd. 3, S. 514; dtv-Ausgabe Bd. 5, S. 180) von den Zuständen in Rom zur Zeit Cäsars gebraucht (über die Ekklesiazusen hat sich Mommsen meines Wissens nie geäußert). Dietze1 hat das Mommsen-Zitat für einen neuen Kontext benutzt, die Dekontextualisierung aber nicht genügend markiert - hinc illi errores. 66 K1oft, (Un-)Demokratisches Gelächter (1995), S. 356. 67 Dietzel, Beiträge II (1893), S. 400 (daß dieser Absatz in der Neuauflage Gesch. d. Soz. [1920], S. 48 fehlt, überrascht nicht)
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6.2 Die Vereinnahmung der Ekklesiazusen im Deutschen Reich nach 1890
seinen Ansichten im damaligen Deutschland keine Empörung ausgelöst [hat]; mit dem >radikalen Demokratismus< konnte man die meisten, zumal die Gebildeten, bange machen.«68 Pöhlmann äußerte sich zu Aristophanes zum ersten Mal 1898 in einem Zeitschriftenaufsatz und übernahm den entsprechenden Abschnitt unverändert in den zweiten Band seiner Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus. 69 Für die Ekklesiazusen stützt er sich von der Argumentationsstrategie bis hin zu vielen einzelnen Formulierungen auf den Aufsatz von Dietzel, »der ersten wahrhaft geschichtlichen Würdigung der Ekklesiazusen«, wie er betont.?O Pöhlmann zeigt dieselbe Tendenz wie Dietzel, den antiken Text durch Parallelen aus der eigenen politischen Gegenwart so weit zu aktualisieren, daß er als Demaskierung des zeitgenössischen politischen Gegners verstanden werden konnte.?l So könne man z.B. an der Vorwegnahme vieler Ideen und Konzepte sehen, daß der modeme Sozialismus alles andere als modem oder neu sei. 72 Indem Pöhlmann genauso wie Dietzel die Parallelität der politischen Strömungen und die Aktualität des antiken Textes herausstellt, legt er seinen Lesern, auch ohne dies ausdrücklich zu sagen, den Schluß nahe, daß die Kritik, die Aristophanes in seinem Stück an kommunistischen Strömungen seiner Zeit geübt habe, genauso auch den Kommunismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts desaVOUIere: Es ist [... ] ein Zerrbild, das in Äußerlichkeiten grotesk übertreibt, um den plebejischen Kommunismus dem Fluch der Lächerlichkeit preiszugeben; und der Dichter erreicht 68 Bleicken, Athenische Demokratie (1995), S. 681. 69 Pöhlmann, Soziale Dichtung (1898), S. 27-37 = Ant. Komm. II (1901), S. 10-29. 70 Pöhlmann, Ant. Komm. II (1901), S. 19 Anm. 2. 71 Pöhlmaun, Ant. Komm. II (1901), S. 6 Anm. I: »Man sieht, es sind die ältesten sozialen Träume der europäischen Menschheit, die wir z.B. bei Bebel wiederfinden, wenn er die >Sorglosigkeit< rühmt, die im sozialistischen Zukunftstaat unser Los sein soll. (Die Frau, S. 316).« Ebd. S. 26-27: »Man sieht, Frau Praxagora stinunt ganz mit Herrn Bebel über ein, der mit der gleichen Emphase und der gleichen kategorischen Sicherheit, wie die Präsidentin des lustigen Weiberstaates in seiner >Frau< [So 317] das prophetische Wort spricht: >Die Diebe sind verschwundeu, weil das Privateigentum verschwunden ist.< [... ] Oder, wie Bellamy erklärt, wamm im Jahre 2000 alles anders und neu ist: >Die menschlichen Lebensbedingungen haben sich geändert und mit ilmen die Motive des menschlichen Handelnssogenannten< antiken Sozialismus zu reden weiß.«
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6. Aristophanes in der Sozialismus-Debatte
diesen Zweck, indem er eben überall die letzten und äußersten Konsequenzen zieht, die kühnsten Proletarierphantasien womöglich noch übertrumpft. 73
Wie Dietzel legt Pöhlmann natürlich großes Gewicht darauf, daß das, was Aristophanes verspottet, nicht die Phantasien einiger weniger gewesen seien, sondern eine »volkstümliche[ .. ] Sozialphilosophie«, die von breiten Schichten des Volkes geteilt worden sei?4 Er ist sich sicher, »daß die Karikatur des Dichters - wie jede wirklich gute Karikatur - gewisse für das Original charakteristische Züge erkennen« lasse: Denkt man sich, es wäre eine Utopie aus jener Zeit erhalten, die wirklich aus dem verwirrten, erhitzten Gehirn eines hungrigen und verlumpten Pöbels entsprungen wäre, eines Pöbels, der nichts hat, aber alles begehrt, vor allem Genuß und wieder Genuß -, würde diese Utopie in dem, was wesentlich ist, nicht die größte Verwandtschaft mit dem Zukunftsgemälde des Aristophanes zeigen? Kann ein extremer Materialismus und Individualismus, dem nichts heilig ist als der >Einzige< und seine Lust, ein anderes Ideal erzeugen, als den kommunistischen Himmel des Pöbels, die >Saturnalien der Kanaille