Wirtschaftliche Integration im 19. Jahrhundert: Die hessischen Staaten und der Deutsche Zollverein 9783666357107, 3525357109, 9783525357101


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Wirtschaftliche Integration im 19. Jahrhundert: Die hessischen Staaten und der Deutsche Zollverein
 9783666357107, 3525357109, 9783525357101

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 52

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Ulrich Wehler

Band 52

Hans-Werner Hahn Wirtschaftliche Integration im 19. Jahrhundert

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1982.

Wirtschaftliche Integration im 19. Jahrhundert Die hessischen Staaten und der Deutsche Zollverein

von

Hans-Werner Hahn

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1982

CIP-Kurztitelaußiahme

der deutschen

Bibliothek

Hahn, Hans-Wemer: Wirtschaftliche Integration im 19. [neunzehnten] Jahrhundert: d. hess. Staaten u. d. Dt. Zollverein / von Hans-Werner Hahn. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1982. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft: Bd. 52) ISBN 3-525-35710-9 NE: G T

© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1982. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Schrift 10/11 ρ Bembo, gesetzt auf Linotron 202 System 3 (Linotype) Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen

Für Margit (f) und Nathalie

Inhalt

Vorwort

11

Einleitung

13

I. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im hessischen 1815-1830

Raum 23

1. Die wirtschaftliche Ausgangslage, das handelspolitische Versagen des Deutschen Bundes und das preußische Zollgesetz von 1818. . . 2. Staatsaufbau und politische Entwicklung in Kurhessen, HessenDarmstadt und Nassau 3. Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im hessischen Raum 1815-1830 4. Die Anfänge der hessischen Wirtschaftspolitik nach 1815

35 50

II. Die hessischen Staaten und die Gründung des Deutschen Zollvereins

58

1. Die Versuche regionaler Zollvereinsbildungen in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre 2. Einzelstaatliche Reformen des Zollwesens im hessischen Raum und ihre Folgen 3. Der preußisch-hessen-darmstädtische Zollvereinsvertrag des Jahres 1828 4. Preußische Expansion und mitteldeutsche Abwehrfront. Die Auswirkungen des preußisch-hessen-darmstädtischen Zollvereinsvertrages auf die zollpolitische Entwicklung in Deutschland 5. Revolution und zollpolitische Neuorientierung. Der Beitritt Kurhessens zum preußisch-hessen-darmstädtischen Zollverein 6. Partielle Zolleinheit und bürgerliche Freiheit. Zur Rolle der hessischen Oppositionsbewegung bei der Gründung des Deutschen Zollvereins 7. Die hessischen Staaten und der Abschluß der Zollvereinsverträge im Jahre 1833 8. Der Beitritt des Großherzogtums Baden 9. Zwischen Partikularismus und Anpassungsdruck. Nassaus Weg in den Zollverein 1830 bis 1836 10. Der Anschluß Frankfurts an den Deutschen Zollverein

23 28

58 66 75

88 97

108 120 123 127 138

7

11. Der Beitritt der hessischen Staaten zum Zollverein. Eine zusammenfassende und vergleichende Betrachtung der Beweggründe und Folgen

145

III. D i e hessischen Staaten und der Integrationsprozeß i m Zollverein bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts

154

1. Der Zollverein und die wirtschaftliche Entwicklung im hessischen Raum 2. Zollvereinspolitik als Teil der Wirtschaftspolitik. Die hessischen Staaten und die wirtschaftspolitischen Fragen im Zollverein 2.1 Industrialisierung oder Konservierung der agrarisch-kleingewerblichen Strukturen. Die innere Wirtschaftspolitik der hessischen Staaten 2.2 Die hessischen Staaten und die Schutzzolldebatte im Zollverein 2.3 Mittelstaaten und internationale Handelspolitik. Die Stellung der hessischen Staaten zu den Handelsverträgen des Zollvereins 2.4 Die hessischen Staaten und die Fragen von Handel und Verkehr innerhalb des Zollvereins 3. Zollverein und Staatsfinanzen. Zur fiskalischen Bedeutung des Zollvereins im hessischen Vormärz 4. Ökonomische Integration und einzelstaatliche Souveränität. Die politischen Folgen der Zollvereinsmitgliedschaft 4.1 Die Souveränitätssicherung als leitendes Prinzip mittelstaatlicher Zollvereinspolitik 4.2 Zwischen liberalem Partikularismus und nationalem Liberalismus. Der Zollverein und die landständischen Rechte 4.3 Die Bedeutung des Zollvereins für die nationalen und konstitutionellen Reformpläne der bürgerlichen Oppositionsbewegung im Vormärz und in der Revolution von 1848/49

246

IV. Kleindeutscher Zollverein oder M i t t e l e u r o p a p r o g r a m m . D i e hessische Zollvereinspolitik unter den veränderten politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen der fünfziger J a h r e

256

V. D i e Politik der hessischen Staaten i m preußisch-österreichischen K a m p f u m die wirtschaftspolitische Führung in Mitteleuropa 1860-1866

277

154 171 171 181

196 208 217 225 225 239

Zusammenfassung

307

Anhang

315

8

Abkürzungsverzeichnis

328

Anmerkungen

330

Quellen- und Literaturverzeichnis

425

Personenregister

472

Sachregister

476

9

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 1979 vom Fachbereich Geschichtswissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen angenommen wurde. Die Anfertigung der Arbeit wurde erleichtert durch ein Stipendium der FriedrichEbert-Stiftung, für dessen Gewährung ich an dieser Stelle nochmals Dank sagen möchte. Der Historischen Kommission für Hessen und insbesondere ihrem Vorsitzenden, Herrn Prof. Dr. Walter Heinemeyer, danke ich für den großzügigen Druckkostenzuschuß. Sehr zu danken habe ich auch den Mitarbeitern der benutzten Archive und der Gießener Universitätsbibliothek, die mir bei der Beschaffung des Quellenmaterials behilflich waren. Das Thema wurde angeregt von meinem Gießener Lehrer, Herrn Prof. Dr. Helmut Berding, der die Arbeit mit großer Anteilnahme unterstützt und auf jede erdenkliche Weise gefordert hat. Daher ist die Arbeit seiner Betreuung ganz besonders verpflichtet. Herrn Prof. Berding und den anderen Herausgebern der »Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft« danke ich gleichzeitig für die Aufnahme in diese Reihe. Großen Dank schulde ich aber auch Frau Prof. Dr. Elisabeth Fehrenbach für ihre wertvollen Ratschläge, Hilfen und Ermunterungen bei der Überarbeitung. Weiterführende Hinweise und Anregungen verdanke ich Frau Dr. Ilse Spangenberg, Herrn Dr. Rolf H. Dumke, Herrn Dr. Wolfgang Keul, Herrn Hans P. Müller, Herrn Prof. Dr. Volker Press und Herrn Dr. HansPeter Ulimann. Schließlich möchte ich es an dieser Stelle nicht versäumen, auch meinen Eltern für die lange und ausgiebige Unterstützung zu danken, die sie bei der Anfertigung dieser Arbeit gewährten. Vor allem aber gilt mein Dank meiner Frau, die, solange es ihr möglich war, das Zustandekommen der Arbeit wesentlich gefordert hat. Ihrem Andenken und unserer Tochter sei diese Arbeit daher gewidmet. Saarbrücken, im Mai 1982

Hans-Werner Hahn

11

Einleitung

Seit seiner Entstehung vor 150 Jahren ist der Deutsche Zollverein stets ein bevorzugter Gegenstand historischer Forschung gewesen 1 . D a schon während der Gründungsphase deutlich wurde, daß die neue, außerhalb der Institutionen des Deutschen Bundes entstandene zollpolitische Föderation nicht allein auf einen rein tarifpolitischen Rahmen beschränkt blieb, und da vor allem in der Folgezeit immer klarer hervortrat, wie sehr der Zollverein über die wirtschaftlichen Fragen hinaus auch die Probleme der nationalen Einigung und die deutschen Verfassungsfragen tangierte, wurde er von Anfang an unter den verschiedensten Aspekten diskutiert und analysiert 2 . Die bis heute nur schwer überschaubare Fülle von Interpretationsmustern entstand zum größten Teil bereits im Verlaufe dieser zeitgenössischen Debatte und war in der Regel Bestandteil der in großen publizistischen Kampagnen ausgefochtenen wirtschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen. Viele Befürworter des Zollvereins, allen voran Friedrich List, sahen in ihm in erster Linie ein Instrument gegen die überlegene englische Industrie, mit dem Deutschland die entscheidenden Voraussetzungen eigener industrieller Expansion schaffen könne 3 . Andere, sowohl aus dem liberalen wie auch aus dem konservativen Lager, werteten die wirtschaftliche Einigung schon im Vormärz als eine vorrangig fiskalisch motivierte Angelegenheit, teilweise sogar als eine reine Finanzspekulation 4 . Die einen betrachteten das Zustandekommen des Zollvereins als das Werk aufgeklärter Monarchen und ihrer Beamten, die sich gegen die widerstrebende liberale Opposition durchsetzen mußten 5 . Die anderen bezeichneten den Zollverein dagegen als »das erste Beispiel, daß die öffentliche Meinung in Deutschland, durch materielle Interessen geleitet, etwas stark gewollt und durchgesetzt hat, trotz des Widerstandes der fürstlichen Familien« 6 . Für einen Teil der Liberalen stellte die Zollvereinsgründung eine wichtige Vorstufe auf dem Wege zur nationalen Einheit dar, über die sie zugleich Fortschritte in den deutschen Verfassungsfragen zu erreichen hofften 7 . Anderen Liberalen wiederum galt die handelspolitische Einigung unter Führung des reaktionären Preußens als Instrument zur Unterdrückung der Oppositionsbewegung und zur Aushöhlung der einzelstaatlichen Verfassungen 8 . Die einen erkannten im Zollverein schon vor 1866 den ökonomischen Beweis für die Unausweichlichkeit der preußisch-kleindeutschen Lösung 9 , für die anderen bildete er eine künstlich errichtete Mauer gegen alle großdeutschen Bestrebungen und einen verhängnisvollen Weg zur 13

Mediatisierung der deutschen Staatenwelt durch den preußischen Militärund Obrigkeitsstaat 1 0 . Trotz der sich oft widersprechenden Erklärungsmuster hat die zeitgenössische Zollvereinspublizistik sowohl in wirtschaftlicher wie in politischer Hinsicht manche wertvollen Erkenntnisse gebracht, die jedoch seit 1866 zu einem beachtlichen Teil rasch in Vergessenheit gerieten 11 . Als die großen Auseinandersetzungen um die nationale Einheit, bei denen die Zollpolitik eine wichtige Rolle spielte, entschieden waren und die wirtschaftliche Einigung nicht mehr als »die einzig große nationale Schöpf u n g « 1 2 dastand, setzte sich mit den neuen erkenntnisleitenden Interessen der borussischen Geschichtsschreibung für lange Zeit ein vereinfachendes und verklärendes Zollvereinsbild durch, das vor allem in Treitschkes »Deutscher Geschichte« seinen wirkungsvollsten Ausdruck fand. An dem von Preußen initiierten und dominierten Zollverein, bei dessen Gründung für Treitschke »schon der Schlachtendonner von Königgrätz« »aus weiter Ferne erklang« 1 3 , ließ sich nach Ansicht der Nationalgeschichtsschreibung deutlich zeigen, wie »fest und sicher« die preußische Politik mit ihren hervorragenden Staatsmännern und Monarchen schon frühzeitig auf dem ihr vorherbestimmten Weg geschritten sei 1 4 . Als »erster Markstein auf dem Wege zur Reichsgründung« 1 5 oder »als Vorläufer des Bismarckschen Reiches« 1 6 bildete der Zollverein einen wichtigen Bestandteil jener teleologischen Konzeption der Reichsgründungsgeschichte, die dazu diente, dem Einigungswerk »eine - von Preußen her gesehene - Tradition zu verschaffen« 1 7 . Allerdings blieb dieses überaus populäre Zollvereinsbild schon in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nicht unwidersprochen. Vor allem von süddeutscher Seite wurde bereits recht früh darauf verwiesen, daß der Zollverein nicht allein das Werk Preußens sei, sondern seine Entstehung auch Beamten wie Nebenius, bürgerlichen Vorkämpfern wie List oder Monarchen wie Ludwig I. von Bayern zu verdanken sei 18 . Selbst innerhalb der borussischen Geschichtsschreibung warnte Heinrich von Sybel davor, den politischen Wert des streng föderalistischen, »die partikulare Widerhaarigkeit« eher verstärkenden Zollvereins zu überschätzen 19 . Erich Brandenburg sprach wenige Jahre später der preußischen Zollvereinspolitik bis zur Berufung Bismarcks sogar jeglichen nationalen Charakter ab und stellte den Zollverein als eine zunächst rein wirtschaftliche Angelegenheit hin 2 0 . D a die Kritiker einer politischen Zollvereinslegende den personalistischen und diplomatiegeschichtlichen Ansatz ihrer Gegner beibehielten, blieb freilich auch ihre Zollvereinsinterpretation letztlich oberflächlich und unzureichend. Wie sehr Treitschkes Zollvereinsbild trotz mancher Kritik weiterhin seine Faszination ausübte, zeigen die meisten der in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts so zahlreich erschienenen Zollvereinsarbeiten. In ihnen wurde zwar die Konzentration auf die preußische 14

Politik und die Gründungsphase des Zollvereins langsam überwunden, die Last des borussischen Erbes und die Beibehaltung traditioneller Methoden verstellten jedoch nur zu oft den Blick für neue Ansätze 21 . Wichtigere Impulse erhielt die Zollvereinsforschung zweifellos durch die Arbeiten der »jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie« unter Schmoller, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Fragen aufgriff, welche die traditionelle, auf die politische Historie konzentrierte Geschichtswissenschaft bisher vernachlässigt hatte 22 . Bei allen Verdiensten der Schmoller-Schule hat sie jedoch am Ende ebenfalls dazu beigetragen, die Zollvereinsforschung in Einbahnstraßen zu fuhren, aus denen sie nur schwer wieder herausfand. Z u m einen schuf insbesondere Schmoller selbst mit seinen Arbeiten zur preußischen Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte ein nationalökonomisches Pendant zu der zuvor politisch und geistesgeschichtlich motivierten Legende von der nationalen Mission der Hohenzollern, bei der die Zolleinigung als klassisches Beispiel für die Förderung der wirtschaftlichen Belange durch den preußischen Staat und seine Monarchen einen ehrenvollen Platz erhielt 23 . Z u m anderen aber verfestigte sich mit der Schmoller-Schule der bereits bei Friedrich List angedeutete Interpretationsstrang, nach dem erst der bewußt gegen England gerichtete Zollverein der deutschen Industrie den seit dem Ende der Kontinentalsperre verlorengegangenen Schutz vor der überlegenen englischen Konkurrenz wieder beschafft habe und mit dieser Errichtung eines nationalen Marktes die deutsche industrielle Revolution eingeleitet worden sei 24 . Dieses ökonomische Interpretationsmuster, das sich in dem vielfach beschriebenen Kausalnexus Zollverein - industrielle Revolution - politische Einheit unter Führung Preußens teilweise mit der politischen Zollvereinslegende überlappte, erwies sich als ebenso zählebig wie sein politisches Pendant und ist noch bis vor wenigen Jahren in gängigen Handbüchern marxistischer wie »bürgerlicher« Provenienz vertreten worden 2 5 . Dabei stießen solch optimistische Einschätzungen der ökonomischen Folgen des Zollvereins schon sehr früh auf kritische Gegenstimmen. So betonte etwa Sartorius von Waltershausen, daß die ökonomischen Vorteile des Zollvereins erst allmählich zu spüren waren 26 . Und der englische Wirtschaftshistoriker Clapham warnte 1921 davor, die Ursachen für Wachstumsprozesse der dreißiger und vierziger Jahre allein im gerade gegründeten Zollverein zu suchen 27 . Auch Hermann Oncken wahrte in seiner ausführlichen Einleitung zur großen Aktenpublikation, die 1934 aus Anlaß des hundertsten Jahrestages der Zollvereinsgründung erschien, deutlich Distanz gegenüber der ökonomischen wie der politischen Zollvereinslegende, konnte aber durch die Beibehaltung des diplomatiegeschichtlichen Ansatzes selbst kaum neue Anstöße vermitteln 28 . Während die deutsche Geschichtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus dann die alten Interpretationsmuster bewahrte 15

und noch neue Legenden hinzufugte 29 , legte der Engländer William O. Henderson mit der noch immer fundiertesten Gesamtdarstellung des Zollvereins eine Interpretation vor, die durch ihre nüchterne und sachliche Argumentation entscheidend mithalf, das verkrustete Zollvereinsbild der deutschen Nationalgeschichtsschreibung aufzubrechen 30 . Am Beginn des nur mühsam, durch viele unbefriedigende Kompromisse zustande gekommenen Zollvereins stand fur Henderson kein idealistisches Einheitsstreben, sondern die Fülle der durch ökonomische Schwierigkeiten und leere Staatskassen geprägten einzelstaatlichen Interessen. Die Entwicklung des Zollvereins, in der mehrfach andere Alternativen auftauchten, verlief für Henderson keineswegs als Einbahnstraße zur kleindeutschen Einheit, obwohl der Zollverein die dorthin fuhrenden Prozesse letztlich ohne Zweifel begünstigt hat. Ähnlich wie Henderson modifizierte auch wenig später der Amerikaner Price in einer stark geistesgeschichtlich orientierten Monographie einige der gängigen Interpretationsmuster 31 . Die deutsche Geschichtswissenschaft hat die neuen Anregungen nach 1945 nur zögernd aufgenommen. In Bewegung geriet die Zollvereinsforschung erst wieder, als im Rahmen der europäischen Einigungsbestrebungen die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen politischen und ökonomischen Integrationsprozessen eine neue Aktualität gewann 32 . In der neuen strukturanalytischen Reichsgründungsforschung wurde jetzt die lange vorliegende These des englischen Nationalökonomen John Maynard Keynes aufgegriffen, nach der die deutsche Einheit weniger durch »Blut und Eisen« als durch »Eisen und Kohle« geschaffen worden sei 33 . Vor allem die Arbeiten von Zorn und Böhme sowie die sich anschließende Diskussion vermittelten grundlegende Einsichten in das Verhältnis von Politik und Ökonomie während der Reichsgründungszeit 34 . Dabei wurde die große Bedeutung der innerhalb des Zollvereins bestehenden Verflechtungen und ihrer Rückwirkungen auf die politischen Prozesse erstmals klar herausgearbeitet, ohne daß diese neue Forschung, wie es ihr teilweise vorgeworfen wurde 3 5 , gleich in einen unkritischen materialistischen Determinismus verfiel. Eine sehr differenzierte Sicht der politischen Folgen ökonomischer Integration findet sich auch in den zwei grundlegenden Zollvereinsaufsätzen Wolfram Fischers 36 , in denen dieser darüber hinaus Fragen aufgriff, die in den Arbeiten der neuen Reichsgründungsforschung nur am Rande verfolgt werden. Mit seinen weiterfuhrenden Hinweisen auf die Probleme der Zollvereinsgründung, die fiskalischen Fragen, die innere Struktur und komplizierte Funktionsweise des Zollvereins, die Integrationsdefizite, die Pfeiler der preußischen Hegemonialstellung und die Rolle der Beamtenschaft sprach Fischer unter Zurückweisung der alten Erklärungsmodelle bisher allzu sehr vernachlässigte Bereiche des wirtschaftlichen Integrationsprozesses an. Seitdem ist die Zollvereinsforschung durch einige wichtige Arbeiten auf 16

den verschiedensten Sektoren bereichert worden. Dies gilt vor allem für den deutschen Außenhandel 37 , die frühe preußische Tarifpolitik 38 , die fiskalischen Aspekte der Zollpolitik 39 , die Rolle von Interessengruppen im frühindustriellen Deutschland 40 sowie die Probleme von Steuerharmonisierung und Monopolgesetzgebung im Zollverein 41 . Obwohl dabei die Nebel der alten verklärenden Zollvereinslegenden immer mehr durchstoßen werden, bleiben weiterhin zentrale Fragen offen, stehen sich vor allem noch immer widersprechende Erklärungsmuster gegenüber 42 . Diese Feststellung betrifft zunächst einmal die Frage nach den ökonomischen Motiven der Zollvereinsgründung. Lagen die eigentlichen Ursachen dieses handelspolitischen Zusammenschlusses vorrangig im ökonomischen Bereich, oder sind sie, wie jüngst gerade von Wirtschaftshistorikern betont worden ist, nicht weit stärker im politischen Sektor, in der preußischen Machtpolitik oder in den fiskalisch-reaktionären Zielsetzungen konservativer Eliten, zu suchen 43 ? Gewiß kann der Zollverein heute nicht mehr als bewußt vollzogener Schritt zur Industrialisierung interpretiert werden; die neuere wirtschaftshistorische Forschung scheint eher das von Rostow vorgelegte Periodisierungsschema 44 zu bestätigen, nach dem die deutsche Wirtschaft erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ihren entscheidenden Wachstumsschub erfahren hat 45 . Darüber hinaus bleibt aber die Frage bestehen, welche Rolle dem Zollverein in der Anlaufperiode der industriellen Revolution zufiel. Wegen fortbestehender konträrer Auffassungen und der verstärkt beachteten regionalen Differenzierung der Wachstumsprozesse 46 drängen sich neue regionale Untersuchungen geradezu auf. Insgesamt geht es also um die Frage, auf welche Weise die innerdeutschen Wirtschaftsverflechtungen und ihre Störungen durch die seit 1815 verstärkt aufkommenden Grenzzollsysteme auf die Zollvereinsgründung eingewirkt haben, welche Veränderungen diese Verflechtungen mit dem Abbau der Zollschranken erfuhren und welchen Beitrag der Zollverein in der Vorbereitungsphase des industriellen Wachstums für die künftige raschere Entwicklung leistete. Auch die von der neueren Forschung vorgelegten politischen Interpretationsmuster des Zollvereins bieten keine völlig zufriedenstellende Erklärung für diese bedeutende Institution in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Die marxistisch orientierte Forschung vertritt in Anlehnung an Friedrich Engels die These, daß der Zollverein eine Konzession war, die das aufstrebende Bürgertum als »eines der wichtigsten Zugeständnisse für die Entwicklung des Kapitalismus« den halbfeudalen Regierungen abrang und die das vor der Revolution zitternde Bürgertum schon frühzeitig zum verhängnisvollen Klassenkompromiß mit dem Adel drängte 47 . Diese Interpretation erfaßt die komplexen Vorgänge der Zollvereinsgründung und der weiteren Entwicklung allerdings nur unzureichend. Auch das von dem Wirtschaftshistoriker Dumke jüngst angebotene fiskalische Erklärungsmodell läßt bei aller Brillanz manche Fragen offen. Nach 17

Dumke lagen die Ursachen der Zollvereinsgründung weniger im weit überschätzten deutsch-englischen Spannungsverhältnis, kaum in den wirtschaftlichen Sachzwängen der deutschen Staatenwelt, nicht im preußischösterreichischen Dualismus und weniger in den stärker vorgebrachten Einheitsforderungen eines zum Wirtschaftsnationalismus drängenden Bürgertums. Der zollpolitische Zusammenschluß wurde vielmehr überwiegend von den fiskalischen Interessen der beteiligten Staaten bestimmt. Die Monarchen und Regierungen der Klein- und Mittelstaaten schlossen sich dem in fiskalischer Hinsicht sehr erfolgreichen preußischen Zollsystem in erster Linie deshalb an, weil dies eine beträchtliche Steigerung der Zolleinnahmen versprach, die nicht der direkten Kontrolle lästiger Kammern unterlagen und folglich politisch kostenlos blieben. Daher trug der Zollverein als ein Instrument der Reaktion dazu bei, die Position der neuen Parlamente zu unterminieren, die Rechte der Monarchen zu stabilisieren und damit die alten Herrschaftsstrukturen sowie die Integrität des Partikularstaates zumindest bis 1848/49 gegenüber den immer stärker auftretenden Forderungen einer neuen Zeit abzusichern 48 . Dieses auf den ersten Blick bestechend wirkende neue Erklärungsmodell, das wie andere in die zeitgenössische Debatte zurückreicht, kann der künftigen Zollvereinsforschung wertvolle Impulse geben, aber es leidet wie alle monokausalen Erklärungsmuster darunter, daß zentrale Bereiche des Untersuchungsgegenstandes, etwa die sehr unterschiedlichen Positionen innerhalb der Verwaltungen und innerhalb des Bürgertums, nicht genügend beleuchtet werden. Eine befriedigende politische Interpretation der Entstehung und Entwicklung des Zollvereins setzt voraus, daß die Interessen- und Konfliktlagen aller Beteiligten schärfer herausgearbeitet werden. Von welchen Zielsetzungen ließen sich die einzelstaatlichen Regierungen bei ihren Beitrittsentscheidungen leiten, und in welchem Maße engten die von Landtagen, Handelskammern oder einzelnen Wirtschaftszweigen artikulierten Interessen ihren Handlungsspielraum ein? Wie reagierten die traditionalen Eliten und wie die sich formierende Oppositionsbewegung auf die vom Zollverein hervorgerufenen Anforderungen und Veränderungen? In welchem Maße war der Zollverein ein Produkt preußischer Machtpolitik, von welchen Kräften innerhalb der preußischen Bürokratie wurde eine solche Politik getragen, von welchen bekämpft? Welche Faktoren beschleunigten die im Zollverein ablaufenden Integrationsprozesse, welche übten bremsende Funktionen aus, und in welchem Maße wirkte der Zollverein auf die gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesse des 19. Jahrhunderts ein? All diese Aufgaben vermag auch die folgende Arbeit nicht vollkommen auszufüllen. Sie kann angesichts der Komplexität der vom Zollverein tangierten Modernisierungsprozesse - industrielle Revolution, nationale Integration sowie die damit verbundenen Legitimitäts- und Partizipations-

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problème - keine nach allen Seiten abgesicherte Gesamtinterpretation anbieten, aber sie unternimmt an Hand mehrerer Fallstudien und mit Hilfe modernisierungstheoretischer Fragestellungen 4 9 den Versuch, das Geflecht sich widersprechender Erklärungsmuster zu durchstoßen und Ansätze neuer Interpretationsmöglichkeiten vorzulegen. Der in seinen Anfängen in die Restaurationsphase zurückreichende, dann aber in der dynamischeren Periode des Vormärz 5 0 gegründete Deutsche Zollverein soll dabei weder als eine restaurativ-reaktionäre Maßnahme traditionaler Eliten noch als Bestandteil einer von der Reformbürokratie klar definierten Modernisierungsstrategie, sondern als typische Erscheinung einer Übergangszeit analysiert werden. Bei seiner Gründung mischten sich sowohl in politischer wie in ökonomischer Hinsicht traditionale mit modernen Zielsetzungen. Selbst in der Folgezeit suchte sich Altes und Neues noch oft in vielerlei Kompromissen und Zwischenlösungen zu verbinden, ehe die tiefgreifenden Wandlungsprozesse der fünfziger und sechziger Jahre den auch im Zollverein bereits angelegten modernen Tendenzen in stärkerem Maße zum Durchbruch verhalfen, ohne daß die traditionalen Elemente, vor allem auf dem verfassungspolitischen Sektor, völlig über Bord geworfen wurden. Die für die deutsche Entwicklung so typische »partielle Modernisierung« 5 1 , jene Begrenztheit des gesamtgesellschaftlichen Wandels, spiegelt sich somit gerade im Zollverein eindrucksvoll wider. Erst eine solche Einordnung des wirtschaftlichen Integrationsprozesses in eine Zeit des Übergangs vermag zu klären, warum die einen mit dem Zollverein die Verfassungsbewegung auszubauen, die anderen sie abzustoppen hofften, warum die einen mit dem Verein eine erste Bresche in den Partikularismus schlagen, die anderen den Partikularismus abstützen wollten, warum die einen mit der Tarifpolitik die Industrialisierung nach englischem Vorbild zu forcieren, die anderen traditionelle Gewerbestrukturen zu bewahren suchten. Gegner und Anhänger des Zollvereins, gleich welcher politischen C o u leur, erkannten damit recht früh, wie eng die bei seiner Gründung aufgeworfenen Fragen mit den Kampfthemen der politischen Kontroversen der Zeit - der nationalen, konstitutionellen und sozialen Frage - verknüpft waren 5 2 . Aber die Forschung hat diesem Tatbestand teils aufgrund des zu langen Festhaltens am Primat der Außenpolitik, teils aufgrund der voneinander isolierten Forschungsstränge bisher noch viel zu wenig Rechnung getragen. N u r zu lange konzentrierte sie sich auf die großen Ereignisse der Vereinsgeschichte, auf das diplomatische Ringen der Gründungszeit 5 3 oder auf die großen Krisen nach 1850, während langfristige vereinsinterne Integrationsprozesse ebenso ungenügend beleuchtet wurden wie die Auswirkungen des Zollvereins auf das Herrschafts- und Gesellschaftssystem der beteiligten Staaten. Es erscheint daher notwendig, den Zollverein insgesamt stärker unter dem Aspekt der gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesse zu analysieren, u m auf diese Weise die Komplexität der v o m 19

Zollverein ausgehenden oder auf ihn einwirkenden politischen und sozialökonomischen Faktoren mit all ihren keineswegs einseitig wirkenden Wechselbeziehungen 54 besser zu erfassen. Die postulierten Analysen langfristiger Integrationsabläufe, die Rekonstruktion der wichtigsten Entscheidungssituationen unter Berücksichtigung bislang vernachlässigter Faktoren und Akteure und die notwendige kritische Prüfung vorliegender Interpretationsmuster können jedoch zunächst einmal nicht vom Gesamtverein ausgehen, sondern müssen sich auf einen regional begrenzten Rahmen beschränken. Dabei erweist sich die Wahl des hessischen Raumes in mehrfacher Hinsicht als überaus vorteilhaft. Erstens vermeidet sie die für die Zollvereinsforschung lange Zeit konstitutive borussozentrische Sicht, ohne die bedeutende Rolle Preußens, das den hessischen Raum von zwei Seiten umklammerte und zum Großteil 1866 annektierte, allzu sehr aus dem Auge zu verlieren. Zweitens nahmen die hessischen Staaten schon aufgrund ihrer geographischen Lage eine Schlüsselstellung im Ringen um die politische und wirtschaftliche Einigung Deutschlands ein 55 . Ihre Rolle als Bindeglieder zwischen Süden und Norden sowie dem Westen und Osten wurde nicht zuletzt durch die Vorgeschichte der Zollvereinsgründung, aber auch durch die weitere Entwicklung des Vereins eindrucksvoll bestätigt. Im hessischen Raum bündelten sich erstmals jene drei großen, zum Deutschen Zollverein hinfuhrenden Entwicklungsstränge 56 zu einer festeren Einheit. Die hessischen Staaten beteiligten sich zunächst an den Versuchen einer mittelstaatlichen Zollvereinsbildung, die von den früh auf zollpolitische Reformen eingeschwenkten süddeutschen Staaten angeführt wurden und trotz ihres Scheiterns durchaus einen eigenen Beitrag zur Entstehung des Zollvereins darstellten. Dann aber waren es hessische Staaten, die als erste mit Preußen einen Zollverein souveräner Staaten eingingen und auf diese Weise dazu beitrugen, den seit dem Zollgesetz von 1818 immer wirksamer werdenden preußischen Entwicklungsstrang mit dem süddeutschen zum großen Deutschen Zollverein zu verkoppeln. Schließlich aber finden sich, um auch die dritte, in ihrer Bedeutung umstrittene Entwicklungslinie anzusprechen, gerade im hessischen Raum anschauliche Belege für die Möglichkeiten und Grenzen öffentlicher Einflußnahme auf den zollpolitischen Einigungsprozeß. Darüber hinaus erlaubt die Wahl des hessischen Raumes eine vergleichende Analyse und dreifache Überprüfung bestehender Interpretationsmuster. A m Beispiel der untereinander in politischer, ökonomischer und soziokultureller Hinsicht eng verflochtenen, neben parallelen aber auch divergierende Strukturen aufweisenden drei großen Flächenstaaten dieser Region 5 7 kann die Dominanz bestimmter gleichartiger Motive innerhalb der Zollpolitik ebenso aufgezeigt werden wie die regional unterschiedlichen Beweggründe und Antriebe. Dies gilt vor allem für die Beitrittsentscheidung, welche in allen drei Staaten zu verschiedenen Zeiten und mit 20

unterschiedlichen Interessen- und Konfliktlagen erfolgte. Die Gründe für solche abweichenden zollpolitischen Initiativen und Orientierungen lassen sich in einer vergleichenden Studie wesentlich schärfer erfassen, als es in den bisherigen, meist vom diplomatiegeschichtlichen Ansatz oder von begrenzter Quellenauswahl ausgehenden Arbeiten zur hessischen Zollpolitik geschehen ist. Ferner kann die vergleichende Arbeitsweise klarer herausstellen, wie sehr die Mitgliedschaft im Zollverein dann in allen drei Staaten zu ähnlichen Entwicklungsverläufen führte und wie sehr die prägende Kraft des Integrationsprozesses auf die Entwicklung der hessischen Staaten durchschlug. Die Arbeit beginnt mit einem Abriß der deutschen Zollverhältnisse nach 1815 und einer Analyse der durch die Umwälzungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschaffenen territorialen, staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse im hessischen Raum, bei der vor allem die Grundlagen der späteren Zollpolitik berücksichtigt werden sollen. Der dann folgende Teil behandelt die Rolle der hessischen Staaten im Gründungsprozeß des Zollvereins. Im Mittelpunkt stehen die Fragen nach den jeweiligen ökonomischen und fiskalischen Sachzwängen, dem Druck ökonomischer Interessengruppen, den Auswirkungen innenpolitischer Konflikte und den Folgen hessischer Entscheidungen für die deutsche Zollpolitik. Im dritten großen Abschnitt geht es dann um die vielfältigen, im Zollverein ablaufenden Integrationsprozesse und ihre Auswirkungen auf die politische Entwicklung bis zur Revolution von 1848/49. Zunächst wird danach gefragt, inwieweit der Zollverein im hessischen Raum den Übergang von der kleingewerblich-agrarischen Wirtschaft zur modernen Industrie beeinflußt hat und in welchem Maße die Mitgliedschaft im Verein die wirtschaftspolitischen Konzepte der Regierungen in Wiesbaden, Darmstadt und Kassel bestimmte. Anschließend sollen die fiskalische Bedeutung des Zollvereins sowie die daraus resultierenden Folgen für die politischen Auseinandersetzungen zwischen einer auf dem monarchischen Prinzip beruhenden Staatsgewalt und einer um mehr politische Partizipation sowie um nationale Einheit ringenden Opposition analysiert werden. Zu den politischen Konsequenzen wirtschaftlicher Integration gehören ferner die Probleme der Souveränitätssicherung in der von einer Hegemonialstruktur geprägten Föderation sowie Verselbständigungstendenzen der am Zollvereinsgeschäft beteiligten Beamtenschaft. Im letzten großen Kapitel soll dann gezeigt werden, wie sehr die angelaufenen wirtschaftlichen Integrationsprozesse mit all ihren Auswirkungen auf den politischen Bereich die Auseinandersetzungen um die nationale Einigung mitbestimmten. Ins Zentrum rückt hierbei jener vergebliche Versuch der traditionalen Eliten, sich trotz wachsender wirtschaftlicher Verflechtungen, fortbestehender fiskalischer Abhängigkeit und nahezu unüberwindlicher innenpolitischer Widerstände aus dem bedrohlicher werdenden Druck preußischer Hegemonialbestrebungen zu befreien. 21

Die folgende Arbeit soll nicht nur dazu dienen, landesgeschichtliche Lücken der Zollvereinsforschung zu schließen und einen Beitrag zur jüngst propagierten gesamthessischen Landesgeschichte 58 zu leisten, der vergleichende landesgeschichtliche Ansatz unter allgemeinen Gesichtspunkten 59 soll vielmehr vor allem die Komplexität des Zollvereins schärfer herausarbeiten und zum besseren Verständnis dieser noch heute mit etlichen Legenden umwobenen Institution beitragen. Dabei ist sich der Verfasser allerdings bewußt, daß die Antworten aus dem gewählten Untersuchungsraum für eine neue Gesamtinterpretation des Zollvereins noch nicht ausreichen. Die starke regionale Differenzierung der ökonomischen Wachstumsprozesse innerhalb des Vereins und die ebenfalls erheblich divergierenden soziokulturellen und politischen Strukturen seiner Mitgliedstaaten erlauben es nicht, alle aus den ökonomisch rückständigen und im unmittelbaren Vorfeld Preußens gelegenen Staaten gewonnenen Ergebnisse einfach auf den Gesamtverein zu übertragen.

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I. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im hessischen Raum 1 8 1 5 - 1 8 3 0

1. Die wirtschaftliche Ausgangslage, das handelspolitische Versagen des Deutschen Bundes und das preußische Zollgesetz von 1818 Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vollzog sich im deutschen Zollwesen die Wandlung vom alten Passier- und Verkehrszollsystem zum modernen Grenzzollsystem. Dieser vor allem in Süddeutschland während der rheinbündischen Reformzeit erheblich beschleunigte Vorgang sollte einen einheitlichen, dem Staatsgebiet entsprechenden Wirtschaftsraum schaffen, den nun von Zollschranken befreiten sowie nach außen besser geschützten Binnenmarkt beleben und nicht zuletzt zur Steigerung der Staatseinnahmen beitragen, um die Konsolidierung der durch Kriege und territoriale Veränderungen angeschlagenen Staatsfinanzen zu erleichtern 1 . Einerseits brachten diese Zollreformen für die betroffenen Staaten gewisse Erfolge, andererseits aber zerstörte das Zusammenfallen von politischer und ökonomischer Grenzziehung viele der in Jahrhunderten gewachsenen Wirtschaftsverflechtungen einzelner Regionen, zwischen denen zuvor freier Handel üblich war und die nun in größte Bedrängnis geraten konnten 2 . Auch wenn die neuen Zollschranken nicht die einzigen substantiellen Handelshindernisse darstellten und ihre entwicklungshemmende Rolle vielfach überschätzt wurde, so waren ihre negativen wirtschaftlichen Folgen doch unübersehbar. Vor allem aber nahmen sie in der zeitgenössischen wirtschaftspolitischen Diskussion einen zentralen Stellenwert ein, denn sie dokumentierten noch mehr als die politischen Grenzen die fehlende nationale Einheit; der nicht vorhandene nationale Markt erschien zugleich als geeignete Erklärung für die ökonomische Rückständigkeit gegenüber England 3 . Folglich wurde die Aufhebung der deutschen Zollschranken zur wichtigsten wirtschaftspolitischen Forderung in der Frühphase des Deutschen Bundes. Obwohl dieses Verlangen schon vor und während des Wiener Kongresses laut geworden war 4 , beschränkte sich der Artikel 19 der Bundesakte lediglich auf eine vage Absichtserklärung, in der sich die Bundesglieder vorbehielten, »bei der ersten Zusammenkunft in Frankfurt wegen des Handels und Verkehrs zwischen den verschiedenen Bundesstaaten sowie wegen der Schiffahrt nach Anleitung der auf dem Kongreß zu Wien aufgenommenen Grundsätze in Beratung zu treten« 5 . 23

Daß man in Wien über diesen »dilatorischen Scheinkompromiß« 6 nicht hinauskam, lag nicht zuletzt am Widerstand der süddeutschen Staaten, die sich aufgrund der neugewonnenen Souveränität und territorialen Größe in der Lage glaubten, eine eigenständige Zoll- und Handelspolitik treiben zu können. Folglich waren sie wenig geneigt, die eigene Zollhoheit als konstitutives Element einzelstaatlicher Souveränität zugunsten einer großen mitteleuropäischen Wirtschaftsordnung aufzugeben 7 . Die wirtschaftlichen Krisenerscheinungen der Folgezeit zeigten freilich, daß viele deutsche Staaten den auf sie zukommenden wirtschaftspolitischen Aufgaben kaum gewachsen waren. Das nach dem Ende der Kontinentalsperre beginnende Einströmen billiger ausländischer Waren auf den weitgehend ungeschützten deutschen Markt und die gleichzeitig von den meisten europäischen Staaten aufgerichteten hohen Zollmauern, vor allem aber die wachsende wirtschaftliche Abgrenzung innerhalb Mitteleuropas sorgten bald nach 1815 dafür, daß der Deutsche Bund sowohl von Teilen des noch schwachen Wirtschaftsbürgertums als auch von einzelstaatlichen Regierungen aufgefordert wurde, die in Artikel 19 enthaltenen Absichtserklärungen in die Tat umzusetzen 8 . Es entsprach der noch unbestritten vorherrschenden Dominanz der agrargesellschaftlichen Komponente in der mitteleuropäischen Wirtschaftspolitik, daß die Regierungen nicht die insbesondere von der gerade emporgekommenen Baumwollindustrie vorgebrachten Schutzzollforderungen 9 , sondern die 1816/17 entstandene Hungerkrise alten Typs 1 0 zum Anlaß nahmen, mit handelspolitischen Initiativen beim Deutschen Bund hervorzutreten. Doch im Rahmen der von thüringischen Staaten und Württemberg angeregten handelspolitischen Debatte konnte sich die Bundesversammlung noch nicht einmal darauf einigen, durch die Freigabe des Handels mit Lebensmitteln jene den notwendigen Marktausgleich hindernden Absperrungsmaßnahmen zu unterbinden, mit denen vor allem Österreich, aber auch andere deutsche Staaten die Versorgungslage der Jahre 1816/17 weiter verschlimmert hatten. Der Vorstoß beim Bundestag scheiterte nicht allein an den diversen mittelstaatlichen Vorbehalten, sondern vor allem auch an der Weigerung Österreichs, die eigene Handelspolitik an den vom Bund festgelegten Maximen zu orientieren. Die Präsidialmacht begann damit bereits früh, sich selbst aus den Bemühungen um die deutsche Wirtschaftseinheit herauszudrängen 11 . Egoismus und engstirniges Souveränitätsstreben sowie antiquierte ökonomische und fiskalische Vorstellungen der einzelstaatlichen Regierungen verhinderten, daß der Bund das anfangs in Ansätzen durchaus vorhandene Ausbaupotential 12 auf dem ökonomischen Sektor nicht nutzte und auf einem wichtigen Felde das Gesetz des Handelns preisgab 13 . Im Interesse geregelter Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden großen, territorial getrennten Gebietskomplexen hatte Preußen noch auf dem Wiener Kongreß auf gewisse bundeseinheitliche Handelsregelungen 24

gedrängt 14 . Aber unabhängig von diesen Bestrebungen und nicht erst nach dem erkennbaren handelspolitischen Versagen des Bundes bemühte sich die preußische Reformbürokratie, die Zoll- und Handelsschranken innerhalb des eigenen Staatsgebietes abzubauen und die einzelnen Staatsteile auf eine einheitliche zollpolitische Grundlage zu stellen. Schon im Rumpfpreußen der napoleonischen Ära herrschten teilweise chaotische Zollverhältnisse. Nach den territorialen Neuerwerbungen wurde die Lage noch unübersichtlicher und das Bedürfnis nach einer einheitlichen Zollverfassung dringlicher denn je 1 5 . Noch stärker als diese administrativen Bedürfnisse beeinflußten finanzielle Nöte des preußischen Staates das Zustandekommen des Zollgesetzes, das Bestandteil einer umfassenden, auf eine gründliche Steigerung der Staatseinnahmen abzielenden Steuerreform war 1 6 . Doch trotz des Vorrangs fiskalischer Aspekte beschränkte sich die Reform des Zollwesens offenbar nicht allein auf eine kurzfristige finanzielle Sanierung. Vielmehr sollte die neue liberale Zoll- und Handelspolitik nach Ansicht der von Adam Smith beeinflußten Reformbeamten Maaßen und Kunth auch dazu beitragen, den »Nationalwohlstand« zu heben und insbesondere die angespannte wirtschaftliche Situation des platten Landes zu verbessern 17 . Das schließlich am 16. Mai 1818 beschlossene neue Zollgesetz galt bald als »Musterleistung preußischer Verwaltungskunst« 18 , denn durch die Klarheit seiner Begriffe und ein einfaches, nach Gewicht, Maß oder Stückzahl geregeltes Erhebungsverfahren zeigte es neue Wege der Zollerhebung, die dann auch im Deutschen Zollverein übernommen wurden. Im Inneren hob das Zollgesetz alle noch bestehenden Zollschranken auf. Nach außen führte es ein Grenzzollsystem ein, das im Gegensatz zu den Prohibitivsystemen vieler europäischer Staaten nach freihändlerischen Prinzipien ausgerichtet war. Ein- und Ausfuhrverbote gab es nur in wenigen Ausnahmefällen, die Einfuhr ausländischer Rohstoffe war in der Regel von Abgaben befreit und hinsichtlich der Einfuhrzölle legte das Gesetz fest, »daß die Verbrauchssteuer auf ausländische Fabrik- und Manufakturwaren nicht 10% des Warenwertes überschreiten sollte, während besonders Luxus- und Kolonialwaren bis auf 30% und darüber besteuert werden dürften« 19 . In wirtschaftlicher Hinsicht war das Zollgesetz mit seinen liberalen Tendenzen zunächst vor allem darauf ausgerichtet, im Interesse der östlichen Provinzen »den Agrarexport zu sichern und die Versorgung des ländlichen Marktes mit billigen Gewerbeprodukten zu verbessern« 20 . Aber auch wenn das Gesetz keineswegs bereits ein Bekenntnis zur Industrialisierung nach englischem Muster darstellte 21 , so profitierte die anfangs vor allem im Rheinland recht unzufriedene gewerbliche Wirtschaft zumindest langfristig vom neuen Tarifsystem. Z u m einen eröffneten sich auf dem freien preußischen Binnenmarkt neue Absatzchancen. Z u m anderen aber sorgten die fallenden Preise gewerblicher Massenprodukte wegen der lediglich am Gewicht orientierten Verzollung schon seit 1818 für eine 25

ständige Ausweitung des Zollschutzes, der von der preußischen Bürokratie bewußt hingenommen wurde 2 2 . Anders als die wirtschaftlichen waren die fiskalischen Erfolge des Zollgesetzes von Anfang an unbestritten. Schon in den ersten Jahren übertrafen die Zolleinnahmen alle Erwartungen. Dies wurde nicht allein durch die vergleichsweise hohen, meist rein fiskalisch motivierten Abgaben auf Kaffee, Zucker, Tee, Tabak, Wein und andere alkoholische Getränke erreicht, deren Anteil an den Gesamteinnahmen bei 70% lag 23 . Ausschlaggebend für den fiskalischen Erfolg der Zollreform war ferner die Tatsache, daß es der preußischen Bürokratie gelang, die für die Sicherung der Grenzen und die Abfertigungsstellen anfallenden Verwaltungskosten in Grenzen zu halten. In Preußen betrug der Anteil der Verwaltungskosten an den Bruttozolleinnahmen 15-20%. In Bayern lag er bei 25%, in Württemberg bereits bei 43%, und in kleineren Bundesstaaten fraßen die Verwaltungskosten meist sämtliche Bruttoeinnahmen wieder auf, da hier in der Regel elementare Voraussetzungen eines Grenzzollsystems fehlten. Denn der fiskalische Erfolg eines solchen Systems fällt nach einer von den preußischen Finanzbeamten stets beherzigten Regel um so günstiger aus, je bevölkerungsreicher ein Staat und »je geringer nach Verhältniß des Areals eines Staates dessen Grenzlänge ist« 24 . Die expansive Tendenz, mit der Preußen seit 1818 gegenüber den innerhalb der östlichen Provinzen gelegenen ausländischen Enklaven auftrat, beruhte daher keineswegs auf einem unmißverständlich formulierten gesamtdeutschen Zollprogramm, sondern es ging zunächst einmal auf fiskalische und verwaltungstechnische Überlegungen der preußischen Finanzverwaltung zurück, die an »einer möglichst umfassenden und konsequenten Durchführung der handelspolitischen Reform« interessiert war 2 5 . Aufgrund des vom Zollgesetz ausgehenden ökonomischen und politischen Drucks schlossen sich seit 1819 einige vom preußischen Gebiet umklammerte mitteldeutsche Kleinstaaten dem preußischen Zollsystem an, eine Maßnahme, die beiden Seiten Vorteile gewährte. Den Enklaven brachte sie neben beträchtlichen finanziellen Gewinnen einen freien Verkehr mit dem großen preußischen Markt, in Preußen verminderte sie die Kosten der Grenzbewachung und die Verluste durch den Schmuggel. Andere betroffene Kleinstaaten, vor allem das sogar den Bundestag mobilisierende Anhalt-Köthen, widersetzten sich aus Furcht vor den damit verbundenen Souveränitätseinbußen anfangs der Unterwerfung unter die preußische Zollverwaltung und gaben ihren hartnäckigen Widerstand bis 1828 erst nach und nach auf. Diese durch ökonomischen Druck und finanzielle Lockungen vom Finanzministerium vorangetriebenen, aber schon vom Außenministerium nur mit aller Vorsicht unterstützten zollpolitischen Annexionen beschränkten sich noch auf einen eng begrenzten, zum unmittelbaren Vorfeld gehörenden thüringisch-sächsischen Raum 2 6 . Obwohl seit Beginn der zwanziger Jahre einige preußische Beamte wie 26

Eichhorn, der die handelspolitische Abteilung des Außenministeriums leitete, Pläne einer den Korridor zwischen den östlichen und westlichen Provinzen schließenden norddeutsch-mitteldeutschen Zollunion durchspielten 27 , war die preußische Politik noch weit davon entfernt, die zollpolitische Entwicklung in Deutschland bewußt und planmäßig mit dem Ziel einer von Preußen dominierten deutschen Wirtschaftseinheit voranzutreiben, wie es die nationalgeschichtliche Legende vorspiegelt 28 . Andererseits ist jedoch festzuhalten, daß die preußische Zollreform von 1818 wie kein anderes Ereignis den Kristallisationskern einer Entwicklung bildete, die dann in der Gründung des deutschen Zollvereins ihren Abschluß fand. Der wirtschaftlich mächtigste Staat hatte die Voraussetzungen dafür geschaffen, um in der deutschen Handelspolitik künftig eine dominierende Rolle zu spielen und langfristig den vom Deutschen Bund preisgegebenen Raum in dieser Frage einzunehmen. Zunächst aber folgte Preußen weiterhin dem restaurativen Kurs Österreichs und kontrollierte mit ihm die Bundespolitik, doch bereits in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre führten Kräfteverschiebungen innerhalb der preußischen Bürokratie zu einer neuen dynamischeren zollpolitischen Konzeption, die jetzt stärker in den deutschen Raum hineingriff. Die unmittelbaren Folgen des gerade von engagierten Befürwortern der deutschen Wirtschaftseinheit scharf kritisierten Zollgesetzes 29 zeigten rasch sehr eindringlich, daß viele deutsche Staaten in ihrer Zoll- und Handelspolitik an dem von Preußen geschaffenen Zustand kaum noch vorbeikonnten. Aufgrund ihrer zu kleinen Binnenmärkte waren sie auf den Absatz ihrer Produkte in die großflächigen, bevölkerungsreichen Staaten angewiesen. Bis 1818 konnten viele Waren noch leicht nach Preußen exportiert werden, doch jetzt zogen die neuen preußischen Zölle trotz ihrer im Vergleich zu den Prohibitivsystemen anderer Großmächte noch freihändlerischen Ausrichtung eine weitere hohe Zollmauer um einen der wichtigsten Handelspartner, die manche altgewachsenen Beziehungen schlagartig zerschnitt. Die äußerst strenge Durchführung des Gesetzes durch die preußische Finanzverwaltung sowie die drastischen Transitzölle 30 trugen zu einer weiteren Verschärfung der Schwierigkeiten bei. Die ökonomische Abhängigkeit von Preußen und dessen beherrschende Lage, die großen Einfluß auf die Handels wege erlaubte, bewirkten, daß das Zollgesetz schon durch die strengen Methoden seiner Anwendung und ohne besondere Aktionen Preußens dazu geeignet war, kleinere Nachbarstaaten unter Druck zu setzen und damit als Instrument preußischer Machtpolitik zu dienen 31 . Auch im hessischen Raum veränderte das preußische Zollgesetz schlagartig und nachhaltig die handelspolitischen Rahmenbedingungen. Anders als die ersten zollpolitischen Debatten des Bundes veranlaßte das preußische Zollgesetz die Regierungen Hessen-Darmstadts, Kurhessens und Nassaus, die eigene zollpolitische Position grundlegend zu überdenken. Die 27

hessischen Staaten gehörten zwar nicht zu den größeren Mittelstaaten, spielten jedoch in der deutschen Zollpolitik bald eine wichtige Rolle. Der hessische Raum lag nicht nur zwischen den beiden großen Gebietskomplexen der preußischen Monarchie, sondern er stellte auch ein wichtiges Bindeglied zwischen dem norddeutschen und süddeutschen Wirtschaftsraum dar und nahm somit im deutschen Handels- und Verkehrswesen eine Schlüsselstellung ein. Daß die hessischen Regierungen trotz mancher Ansätze die darin liegende Chance nicht nutzten und die zentralen zollpolitischen Fragen nicht mit einem gemeinsam abgestimmten Konzept zu lösen versuchten, sondern bald verschiedene Wege gingen, resultierte aus den unterschiedlichen politischen und sozialökonomischen Rahmenbedingungen der jeweiligen Handelspolitik.

2. Staatsaufbau und politische Entwicklung in Kurhessen, Hessen-Darmstadt und Nassau Trotz der großen Flurbereinigungsprozesse der napoleonischen Zeit blieben die in den Territorialverträgen nach dem Wiener Kongreß neugeregelten Grenzen der drei großen hessischen Flächenstaaten kompliziert genug. So gab es etwa zwischen der hessen-darmstädtischen Provinz Oberhessen und den beiden südlich des Mains gelegenen Provinzen auch weiterhin keine direkte territoriale Verbindung. Und in Kurhessen befanden sich mit der Grafschaft Schaumburg und der in Thüringen gelegenen Herrschaft Schmalkalden zwei größere Gebietskomplexe außerhalb des geschlossenen Staatsgebietes. Darüber hinaus sorgten die zahlreichen kleineren Exklaven der Flächenstaaten ebenso wie die fortbestehenden kleineren politischen Einheiten - die freie Stadt Frankfurt, das Fürstentum Waldeck, die Landgrafschaft Hessen-Homburg und die preußische Exklave Wetzlar - noch immer fur »eine reiche Mannigfaltigkeit abenteuerlicher Grenzlinien« 1 . Angesichts dieses Tatbestandes und der zwischen den durch politische Grenzen getrennten hessischen Regionen seit altersher bestehenden engen Verflechtungen waren selbst die drei größeren Staaten kaum in der Lage, einen dem Staatsgebiet entsprechenden homogenen Wirtschaftsraum zu schaffen, so daß die Integration der neuerworbenen Gebiete noch stärker als in anderen Staaten zunächst vorrangig durch politische Maßnahmen vorangetrieben werden mußte. Hessen-Darmstadt, das bevölkerungsreichste und politisch regsamste Staatswesen des hessischen Raumes, stand dabei zweifellos vor der schwierigsten Aufgabe. Denn die nach dem Wiener Kongreß gegen den Willen des Monarchen und der betroffenen Bevölkerung an Hessen-Darmstadt gefallenen linksrheinischen Gebiete mit der Handelsmetropole und Bun28

desfestung Mainz wirkten aufgrund des politischen und sozialökonomischen Entwicklungsvorsprungs gegenüber beiden althessischen Provinzen wie ein Fremdkörper 2 . Andererseits gewannen die 1816 zur Provinz Rheinhessen zusammengefaßten Gebiete wegen ihres enormen Steueraufkommens innerhalb des Gesamtstaates ein überaus großes Gewicht, welches sich durch zwei Faktoren noch weiter erhöhte. Z u m einen bestand ein großer Teil des rechtsrheinischen Gebietes aus Standesherrschaften, »in denen die Regierungsgewalt des Großherzogs eingeschränkt war« 3 . Z u m anderen gaben die vor allem bei der Verteidigung ihrer fortschrittlicheren Institutionen selbstbewußt auftretenden bürgerlichen Führungsschichten Rheinhessens dem politischen Leben Hessen-Darmstadts entscheidende Impulse 4 . In Kurhessen waren die aus der Verschiedenartigkeit der einzelnen Landesteile resultierenden Probleme nicht ganz so gravierend. Doch auch im flächenmäßig größten hessischen Staat bestanden zwischen den beiden historischen Kerngebieten Nieder- und Oberhessen mit ihren beiden Zentren, der Residenzstadt Kassel und der Universitätsstadt Marburg, und dem von hessen-darmstädtischem, Frankfurter und bayerischem Gebiet fast ganz umschlossenen Hanauer Landesteil tiefgreifende Struktur- und Interessenunterschiede, die nicht zuletzt in der Zollpolitik immer wieder durchschlugen 5 . Darüber hinaus erwies sich die Integration des 1815 erworbenen Fuldaer Gebietes, das die Verbindung zwischen Hanau und den nördlichen Gebieten darstellte, schon angesichts der konfessionellen Probleme als außerordentlich schwierig 6 . Trotz der insgesamt geringsten Strukturgefälle erschwerten schließlich auch in Nassau, unter den behandelten Staaten der kleinste, aber territorial kompakteste, regionale, soziale und religiöse Gegensätze die Ausformung eines einheitlichen Staatswesens nicht unerheblich. Nach Ansicht des Nationalliberalen Karl Braun, eines der härtesten Gegner des nassauischen Partikularismus, gab es in dem als Zufallsprodukt der napoleonischen Ära entstandenen Herzogtum nur einen einzigen spezifisch herzoglich nassauischen Faktor: die zentralisierte Bürokratie 7 . Der Aufbau einer solchen straffen und leistungsfähigen Zentralverwaltung stand in allen drei Staaten zunächst im Mittelpunkt der Innenpolitik. Nassau und Hessen-Darmstadt hatten damit bereits in der Rheinbundzeit begonnen 8 , und Kurhessen suchte mit dem Organisationsedikt von 1821 Anschluß an die rheinbündischen und preußischen Verwaltungsreformen 9 . Während in Kurhessen die mit den Reformen beabsichtigte effizientere Arbeitsweise durch eine bis in die Regelung kleinster Details durchschlagende Autokratie der Monarchen verhindert wurde und in Nassau sich nahezu sämtliche Macht in dem vom hochkonservativen Freiherrn Marschall von Bieberstein geführten Staatsministerium vereinte 10 , wies die 1821 nochmals reorganisierte hessen-darmstädtische Bürokratie mit ihren zunächst drei Fachministerien 11 die größten Entfaltungsmöglichkeiten auf, 29

was fur die Durchsetzung zollpolitischer Neuerungen von größter Bedeutung werden sollte. Entscheidend beeinflußt wurde die Zollpolitik aber auch von den jeweils unterschiedlichen Möglichkeiten politischer Partizipation. Anders als in Kurhessen, wo die anfangs versprochene Verfassung nach den Steuerstreitigkeiten zwischen Kurfürst und althessischen Landständen vorerst aufgeschoben wurde 12 , fanden in den beiden anderen Staaten die im Rheinbund vor allem auf administrativem Sektor vorangetriebenen Reformen ihre Ergänzung durch eine Verfassung 13 . Bedingungen und Motive dieser Verfassungsreformen waren allerdings nicht vollkommen identisch. Im umstrittenen Rheinbundstaat Nassau sollte die bereits im September 1814 bekanntgegebene Verfassung in erster Linie dazu beitragen, die gegen die Einheit und weitere Existenz des Landes gerichteten inneren und äußeren Bestrebungen abzuwehren. Das äußerst bescheidene konstitutionelle Leben begann allerdings erst im Jahre 1818, nachdem die Regierung gegen heftigen Protest der Opposition zunächst noch eigenmächtig wichtige Reformen durchgeführt hatte 14 . Das nassauische Verfassungssystem mit seinen stärker ausgeprägten altständischen Elementen unterschied sich noch in mancher Hinsicht vom späteren süddeutschen Konstitutionalismus. Die Herrenbank besaß noch ein vergleichsweise großes Gewicht. Bei den Wahlen zur Landesdeputiertenversammlung lag der Zensus außerordentlich hoch, so daß anfangs in den ärmeren Ämtern die festgelegte Zahl von Wahlmännern und Kandidaten gar nicht vorhanden war 1 5 . Das Wahlsystem begünstigte darüber hinaus eindeutig den größeren Grundbesitz, der 15 von 22 Abgeordneten stellte, während »die höheren, akademisch gebildeten Beamten im allgemeinen nicht wählbar waren«, was das politische Gewicht der Deputiertenversammlung zweifellos einschränkte 16 . Unter den insgesamt noch sehr begrenzten Mitwirkungsmöglichkeiten der nassauischen Kammern war das im § 2 der Verfassung verankerte Steuerbewilligungsrecht das wichtigste. Die Bewilligung und die damit verbundene jährliche Übersicht über Einnahmen und Ausgaben des Staates betrafen jedoch nur die Finanzen der Landessteuerkasse, während die Kasse des noch ungeteilten Domänenvermögens bis 1818 jeglicher landständischer Kontrolle entzogen blieb 17 . Der in die Domänenkasse fließende Ertrag der Domanialgüter, der Hütten- und Hammerwerke, der Bergwerke, Mineralbrunnen, Bäder, Eberbacher Kellerverwaltung, des Höchster Mainzolls und anderer Besitzungen und Rechte erreichte fast die Einnahmen der Landessteuerkasse und entzog dem allgemeinen Landeshaushalt beträchtliche Summen. Hinzu kam, daß sich die zwar formell eigenständige Domänenverwaltung auch noch der Beamten aus der Landesverwaltung bediente und allgemein von dieser »bei allen Amtshandlungen die gebührende Rücksichtnahme auf ihre Interessen« erwartete 18 , was sich schließlich auch auf die Zollpolitik auswirken sollte. 30

Trotz der Verpflichtungen, welche die Domänenkasse im Staatsschuldenwesen und bei der Hofhaltung übernahm, flöß am Ende doch ein beträchtlicher Teil der Einnahmen - 1837 über 15% der Bruttoeinnahmen - in die herzogliche Privatschatulle 19 . Diese, im Vergleich zu anderen deutschen Staaten anachronistische Kassentrennung, durch die »ein verfassungsmäßiges Finanzwesen nicht in voller Reinheit zur Durchführung« kam 2 0 , wurde sowohl von der liberalen Opposition als auch v o m mediatisierten Adel, allen voran der Freiherr v o m Stein, heftig bekämpft und weitete sich zum größten innenpolitischen Konfliktherd vor 1848 aus 2 1 . Der für die Opposition lange Zeit wenig erfolgreiche K a m p f um die Domänenfrage zeigte freilich, daß weder die liberalen Kräfte, denen aufgrund der rückständigen gesellschaftlichen Verhältnisse Nassaus »noch eine starke kämpferische Resonanz fehlte« 2 2 , noch die anfangs bedeutende altständische Opposition u m Stein 2 3 in der Lage waren, ihre Ansprüche gegenüber einer monarchisch-bürokratischen Herrschaft zu behaupten, die seit Beginn der zwanziger Jahre den angelaufenen Modernisierungsprozeß abblockte und das liberale Element in ihrer Politik entscheidend zurückdrängte. Personifiziert wurde diese Gewichtsverschiebung durch die Entlassung des Präsidenten der Landesregierung, Karl Ibell, der als treibende Kraft vieler Reformen nicht zuletzt durch seine abweichende, moderne Haltung zur Domänenfrage immer mehr in scharfen Gegensatz zu dem autokratischen Legitimismus des Herzogs Wilhelm und des nun eifrig Metternichscher Politik folgenden Staatsministers Marschall geriet 2 4 . Die fortan klar dominierende antiliberale Politik, die sich auch zu Beginn der dreißiger Jahre gegen den liberalen Ansturm durchsetzen konnte, sorgte zwar dafür, daß das politische Leben in Nassau bis 1848 weit ruhiger ablief als in den Nachbarstaaten Hessen-Darmstadt und Kurhessen 2 5 , doch den Bemühungen u m ein einheitliches nassauisches Staatsbewußtsein war diese Politik alles andere als förderlich. Insbesondere die zweite Kammer hat sich in Nassau weit weniger als in den süddeutschen Staaten als Mittel der Integration erwiesen 2 6 , vielmehr wurde sie vor allem in späterer Zeit gerade durch die reaktionäre Politik der Regierung immer mehr zum Sammelbekken derjenigen Kräfte des Bürgertums, die auf eine Überwindung der kleinstaatlichen Enge drängten. Auch in Hessen-Darmstadt sollte die Verfassung die anfallenden Integrationsaufgaben erleichtern und die Einheit des Staates festigen, doch hier spielte zugleich die Frage der Staatsfinanzen eine überaus entscheidende Rolle. Hessen-Darmstadt befand sich nach den kostenreichen Kriegsjahren in einer äußerst prekären Finanzlage und galt lange als der finanziell am meisten zerrüttetste Staat des Deutschen Bundes 2 7 . Die vor allem in den rückständigen althessischen Provinzen als immer unerträglicher empfundene Steuerlast führte 1818/19 zu einer breiten Protestbewegung. Angesichts der sich zuspitzenden Finanzkrise und der sich ausweitenden Steuerstreiks gab Groß herzog Ludwig I. den eindrucksvoll vorgetragenen Ver31

fassungsforderungen nach. Doch das vom Geist der Karlsbader Beschlüsse geprägte und österreichischen Interpretationen des Artikels 13 der Bundesakte nahekommende Edikt vom März 1820 stieß sowohl im Lande als auch in der gerade gewählten zweiten Kammer auf heftigsten Protest. Da sich aber mit den Karlsbader Beschlüssen »keine Steuern fließend machen und kein Geld in die Kassen bringen« ließ 28 , gab der Großherzog trotz der Proteste Wiens unter dem Einfluß seines leitenden Ministers, des Reformkonservativen Grolman, etlichen Forderungen der gemäßigten Landtagsmehrheit nach. Die neu ausgehandelte Verfassung wurde zwar vom Großherzog im Dezember 1820 in Kraft gesetzt, war aber keine echte oktroyierte, sondern ging aus einer durch die Veröffentlichungsform etwas verschleierten Vereinbarung mit der Oppositionsbewegung hervor 29 . Wie die süddeutschen Verfassungen beruhte auch die hessen-darmstädtische auf einem »monarchisch-liberalen Kompromiß«, der versuchte, »die überlieferte monarchische Herrschaftsgewalt mit bürgerlichen Freiheitsund Mitbestimmungsrechten zu vereinen« 30 . Trotz aller Fortschritte setzte freilich die noch überaus starke und durch das im politischen System des Deutschen Bundes verankerte monarchische Prinzip abgesicherte Stellung des Monarchen der politischen Mitwirkung beider Kammern enge Grenzen. Dennoch mußte die stets auf ein Zurückdrängen der Kammern hinarbeitende politische Führung weit stärker als im benachbarten Nassau darauf Rücksicht nehmen, daß es jetzt »eine legalisierte politische Willensbildung unabhängig vom Staat gab«, die vor allem über die zweite Kammer zunehmend Mitspracheforderungen erhob 31 . Aufgrund des umständlichen indirekten Zensus Wahlverfahrens, vom hessen-darmstädtischen Demokraten Friedrich Wilhelm Schulz als »dreifache Destillation des Volksgeistes« charakterisiert 32 , blieb diese politische Partizipation freilich auf eine schmale bürgerliche Oberschicht beschränkt. 1820 gab es bei 650000 Einwohnern nur 988 wählbare Bürger, von denen allein 737 auf die bevölkerungs- wie flächenmäßig kleinste Provinz Rheinhessen entfielen 33 . Während von dort meist liberal gesinnte Großgrundbesitzer, Advokaten und Kaufleute in die zweite Kammer gewählt wurden, ersetzte in den rückständigen althessischen Provinzen meist die alle vormärzlichen Landtage zahlenmäßig dominierende Beamtenschaft den fehlenden wirtschaftlich selbständigen Mittelstand 34 . Im Hinblick auf die zollpolitische Einflußnahme stellten das Petitionsrecht 35 sowie vor allem das nach dem Insistieren der Opposition gegenüber dem ersten Verfassungsentwurf deutlich ausgeweitete Steuerbewilligungsrecht die wichtigsten politischen Waffen der zweiten Kammer dar 36 . Eine geschlossen auftretende zweite Kammer konnte sich bei der Steuerbewilligung sogar über Bedenken der regierungstreuen ersten Kammer hinwegsetzen und die Regierung in ernste Verlegenheit bringen. Sie mußte sich allerdings von Anfang an gegen den Versuch der Regierung wehren, die ihr lästig werdenden finanzpolitischen Kompetenzen wieder hinter die 32

gegebenen Konzessionen zurückzudrängen 37 . Das daraus entstehende finanzpolitische Kompetenzgerangel zog sich über viele Landtage hin und berührte auch Fragen der Zollpolitik. Die Erhebung von Zöllen war an die landständische Bewilligung geknüpft, und durch die noch nicht mit dem vollen Budgetrecht verbundene Vorlage des Etats erhielten die Abgeordneten Einblick in die fiskalischen Folgen der jeweiligen Zollpolitik. Daher rückte die Zollfrage in Hessen-Darmstadt nicht nur aufgrund wirtschaftlicher Krisen, sondern auch wegen der schlechten Finanzlage des Landes früh in das Zentrum landständischer Interessen und Aktivitäten. Nach Einfuhrung der Verfassung erwarteten die hessen-darmstädtischen Kammern von der Regierung eine offene Darlegung der Finanzverhältnisse, um an der Verminderung der Schuldenlast und der hohen ständigen Ausgaben mitzuwirken. Durch die vereinbarte Abtretung großherzoglicher Domänen an den Staat und die Errichtung einer Staatsschuldentilgungsanstalt im Jahre 1821 sollte Ordnung in das Staatsschuldenwesen gebracht werden, »damit der öffentliche Kredit und der Wert der gesunkenen Staatspapiere wiederhergestellt« werden konnten 38 . Der von der Regierung dem ersten Landtag vorgelegte Etat für das Jahr 1820 wies bei Einnahmen von 5818967 fl. und Ausgaben von 6506256 fl. noch ein Defizit von 687289 fl. auf 39 . Das vorrangige Ziel der hessen-darmstädtischen Finanzpolitik bestand nun darin, dieses Defizit und die enorme Staatsverschuldung insgesamt durch verminderte Ausgaben und erhöhte Einnahmen abzubauen. Gleichzeitig aber mehrten sich in der zweiten Kammer jene Stimmen, die eine drastische Verminderung der durch die schlechte Wirtschaftslage besonders drückenden direkten Steuern verlangten 40 . Die Regierung erklärte sich auch bereit, die Möglichkeit einer Verlagerung innerhalb des Einnahmeetats zu überprüfen 41 . Dies bedeutete aber vor allem eine Anhebung der indirekten Steuern, deren Anteil von 19,8% an den gesamten Staatseinnahmen im Vergleich zu den direkten Steuern (46%) und den Domäneneinkünften (32,8%) noch überaus gering war 4 2 . Die künftige Finanzpolitik Hessen-Darmstadts stand somit unter dem doppelten Druck einer notwendigen Einnahmesteigerung bei gleichzeitigen nachhaltigen Forderungen nach einer Reduktion der direkten Steuern. Es war kein Zufall, daß der Blick dabei bald auf die Zollpolitik fiel, denn das alte, nur in Oberhessen und Starkenburg geltende und ganze 1,59% der Staatseinnahmen erwirtschaftende Binnenzollsystem erschien mehr als reformbedürftig 4 3 . Nach den heftigen Auseinandersetzungen um die Verfassung verlief das politische Leben Hessen-Darmstadts in den zwanziger Jahren in ruhigeren Bahnen, was nicht nur der gemäßigten Kammermehrheit mit ihrem starken liberalen Beamtenflügel 44 , sondern auch der besonnenen Politik des leitenden Ministers Grolman 4 5 und dem Reformen gegenüber nicht völlig verschlossenen Großherzog Ludwig I. 46 zu verdanken war. Erst unter Grolmans Nachfolger du Thil, der wie kein anderer die hessen-darmstädti33

sehe Politik im Vormärz geprägt hat und als Anhänger eines pragmatischen Staatskonservativismus den offenen Konflikt mit der Oppositionsbewegung nicht scheute 4 7 , entluden sich die Spannungen zwischen bürokratischautoritärer Regierung und der kämpferischer werdenden liberalen Opposition seit Ende der zwanziger Jahre in heftigen politischen Auseinandersetzungen 4 8 . B e i m Versuch, die Souveränität des monarchischen Staates gegen äußere und innere Feinde zu sichern, ging du Thil freilich weniger starr vor als Marschall im benachbarten Nassau. Die Metternichsche Unterdrükkungspolitik verfolgten beide Minister mit großem Eifer, der als vorzüglicher Verwaltungsfachmann gerühmte du Thil war aber weit mehr bemüht, durch eine gute Verwaltung und vorsichtige Reformen, die in der Zollund Handelspolitik eben auch den partikularstaatlichen Rahmen überschreiten durften, ein reibungsloses Funktionieren der Staatsmaschinerie zu garantieren und revolutionären Bewegungen den Nährboden zu entziehen 4 9 . Dennoch sorgten schon die sich verschärfende sozialökonomische Krise sowie die mangelnde Interessenvertretung kleinbürgerlicher und kleinbäuerlicher Schichten in den Kammern gerade in Hessen-Darmstadt für eine ungebrochene Kontinuität radikaler außerparlamentarischer Strömungen 5 0 . Konnte Hessen-Darmstadt unter den drei Staaten in der Phase von 1815 bis 1830 noch als das fortschrittlichste Staatswesen angesehen werden, so erwies sich Kurhessen in vielerlei Hinsicht zunächst als das rückständigste. Denn der 1813 zurückgekehrte und mit Jubel empfangene Kurfürst Wilhelm I. beseitigte in einer »betonten und konsequent durchgeführten Restauration« 5 1 alle wesentlichen Neuerungen der napoleonisch-westfälischen Reformzeit und verwarf auch die anfangs zugesagte Verfassung 5 2 . Bis zur Revolution von 1830 blieb Kurhessen daher zunächst unter Wilhelm I., seit Beginn der zwanziger Jahre unter Wilhelm II. »ein Refugium des Absolutismus« 5 3 . Die Grundlagen dieser antikonstitutionellen Politik der Kurfürsten bildete die relativ günstige Finanzlage des kurhessischen Staates, welche in erster Linie auf dem weitgehend über die napoleonische Zeit hinweggeretteten Staatsschatz beruhte. Als sich Regierung und Landtag 1830 über die Verwendung der Zinsen einigten, betrug die Höhe des Staatsschatzes 2 8 0 0 0 0 0 0 Taler 5 4 . Kein anderer deutscher Staat besaß injener Zeit ein solches Vermögen an zinstragenden Kapitalien 5 5 . Im übrigen war die kurhessische Staatsschuld im Vergleich zu Hessen-Darmstadt minimal 5 6 . Auch der Steuerdruck belastete die kurhessische Bevölkerung anfangs nicht ganz so stark, wie es im hessischen Nachbarstaat der Fall war 5 7 . 1830 lag der Anteil der direkten Steuern an den gesamten Staatseinnahmen lediglich bei 1 7 , 7 % , weil ein Großteil der Staatsausgaben von den Kapitalzinsen des Staatsschatzes sowie Einkünften aus anderem Staatsvermögen - vor allem Domänen, Waldbesitz, B e r g - und Hüttenwerke, Salinen und Bäder - abgedeckt werden konnte 5 8 . Trotz der wenig zur Verbesserung der materiellen und politischen Lage

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der Bevölkerung beitragenden kurfürstlichen Autokratie blieb es in der kurhessischen Innenpolitik zunächst erstaunlich ruhig. Erst durch die wachsenden Spannungen innerhalb des Hofes, eine den Interessen des Landes zuwiderlaufende und die ökonomische Krise verschärfende Zollpolitik sowie zunehmende Versorgungsengpässe kam Ende der zwanziger Jahre wieder Bewegung in die kurhessische Innenpolitik, die 1830 nach der französischen Julirevolution zum revolutionären Ausbruch führte und dabei auch eine zollpolitische Wende einleitete.

3. Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im hessischen Raum 1815-1830 Innerhalb der von einer starken regionalen Differenzierung 59 geprägten und die vorindustriellen Strukturen nur langsam überwindenden mitteleuropäischen Wirtschaft gehörte der hessische Raum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zweifellos zu den rückständigsten und krisenanfälligsten Regionen 60 . Hierdurch sowie durch die komplizierten territorialen Verhältnisse machte sich die infolge der neuen mitteleuropäischen Grenzzölle entstandene Verschlechterung der Exportchancen im hessischen Raum früher und intensiver bemerkbar als in anderen deutschen Gebieten. In den um 1820 erschienenen zeitgenössischen Beschreibungen der hessischen Wirtschaft wird nahezu bei jeder Branche und Region immer wieder darauf verwiesen, daß der früher bedeutendere Handel »durch das Maut- und Zollsystem der benachbarten Staaten außerordentlich leidet« 61 . Wie in den anderen deutschen Staaten nahm die Bevölkerung auch in Hessen bis zur Jahrhundertmitte stetig zu. Unter den drei hessischen Staaten verzeichnete Nassau den weitaus größten Bevölkerungsanstieg. Im Zeitraum von 1816 bis 1849 wuchs die Bevölkerung des Herzogtums von 302769 auf 425686, mithin um 40,6% 6 2 . In Hessen-Darmstadt, das 1816 629535 und 1849 852524 Einwohner aufwies 63 , und in Kurhessen, dessen Bevölkerung im gleichen Zeitraum von 567868 auf 759016 Personen anstieg, lagen die Zuwachsraten mit 35,4% und 33,7% etwas niedriger 64 . Dem raschen, von zum Teil erheblichen regionalen Unterschieden charakterisierten Bevölkerungsanstieg folgte dann eine Phase der Stagnation und des Rückgangs, welche vor allem auf die seit der Jahrhundertmitte als Folge wachsender Pauperisierung verstärkt einsetzende Abwanderung zurückzuführen war. Während in Nassau die demographische Stagnation gegen Ende der fünfziger Jahre von einem neuen kräftigen Wachstumsschub abgelöst wurde und der 1864 mit einer Einwohnerzahl von 468311 erreichte Stand die Werte des Vormärz nochmals deutlich übertraf, gelang es den beiden anderen Staaten bis 1864 lediglich, die eingetretenen Bevöl35

kerungsverluste wieder auszugleichen und den vormärzlichen Höchststand zu stabilisieren 65 . Obwohl die hessischen Staaten, vor allem Nassau und Hessen-Darmstadt, zu den am dichtesten besiedelten des Deutschen Bundes gehörten 66 , lebte die überwältigende Mehrheit der hessischen Bevölkerung über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg auf dem platten Lande 67 . In allen drei Staaten gab es nur wenige Städte, welche das Stadium des Ackerbürgerstädtchens überwunden hatten. Das Herzogtum Nassau besaß mit der Residenzstadt Wiesbaden um 1820 erst eine Stadt, die mehr als 5000 Einwohner zählte 68 . Kurhessen und Hessen-Darmstadt wiesen zwar um dieselbe Zeit etwas mehr Städte dieser Größenordnung auf, doch auch hier erreichten jeweils nur zwei, Kassel und Hanau sowie Mainz und Darmstadt, Einwohnerzahlen von weit über 10000 69 . Aufgrund der im gesamten hessischen Raum überaus engen Verflechtung von landwirtschaftlicher und gewerblicher Tätigkeit erweist sich die Analyse der auf einzelne Sektoren verteilten Erwerbsbevölkerung als überaus problematisch. Dennoch geht aus dem äußerst bruchstückhaft überlieferten statistischen Material die Dominanz der agrarwirtschaftlichen Produktion eindeutig hervor 7 0 . Da die Landwirtschaft auf Dauer die rasch wachsende Bevölkerung kaum noch aufnehmen konnte, mußte sie über die Deckung des schnell steigenden Nahrungsmittelbedarfs hinaus durch kräftige Produktivitätssteigerungen zugleich die entscheidenden Voraussetzungen für ein Wachstum des sekundären Sektors schaffen 71 . Die Bewältigung dieser Aufgabe überforderte die größtenteils von extrem rückständigen Strukturen geprägte hessische Landwirtschaft jedoch bei weitem. A m weitaus günstigsten war die Ausgangssituation noch im linksrheinischen Rheinhessen, das der Landesstatistiker Crome den anderen Provinzen als »ein lehrreiches und herrliches Muster« gegenüberstellte 72 . Hier sorgten ein seit den französischen Reformen langsam anlaufender Agrarkapitalismus, die damit verbundene intensivierte Anwendung neuer Bewirtschaftungsmethoden, aber auch gute Boden- und Klimaverhältnisse, die Nähe größerer Städte sowie die günstigeren Transportverhältnisse für eine im Vergleich zu den rechtsrheinischen Gebieten überaus hohe Produktivität 73 . Neben dem Getreidebau, dessen Erträge in normalen Jahren zu etwa einem Drittel exportiert wurden, bildete der Weinbau den wichtigsten Zweig der rheinhessischen Landwirtschaft. Die Weinberge umfaßten etwa 7% des bebauten Bodens 74 . Folgt man einer Mainzer Petition aus dem Jahre 1823, so lag die Exportquote mit 67% in diesem Bereich noch weit höher als beim Getreide 75 , was freilich neben den wechselnden klimatischen Einflüssen den Weinbau zugleich zu einem recht krisenanfälligen Erwerbszweig werden ließ. Angesichts der großen Bedeutung des vor allem über die Umschlagplätze Mainz, Worms und Bingen vermittelten Agrarexportes, in dem neben Wein und Getreide auch Obst, Gemüse, Klee- und Rübsamen sowie Öl eine wichtige Rolle spielten 76 , besaß die rheinhessische 36

Landwirtschaft größtes Interesse an günstigen zollpolitischen Rahmenbedingungen. Im Vergleich zu Rheinhessen war die Ausgangslage der rechtsrheinischen Landwirtschaft aus vielerlei Gründen außerordentlich ungünstig. In weiten Teilen Kurhessens, Nassaus und des rechtsrheinischen HessenDarmstadt erschwerten schlechte und karge Mittelgebirgsböden sowie ungünstige klimatische Verhältnisse die landwirtschaftliche Produktion und ihre Intensivierung nicht unerheblich 77 . Aber selbst dort, wo wie in der starkenburgischen Rheinebene oder in der oberhessischen Wetterau diese negativen Faktoren nicht gegeben waren, ließ der Stand der Landwirtschaft erheblich zu wünschen übrig 78 . Die nur langsam aufbrechende alte Agrarverfassung und die fast im gesamten hessischen Raum praktizierte, immer mehr Klein- und Kleinstbetriebe schaffende Realteilung hemmten lange Zeit notwendige Fortschritte. Der ohnehin spät einsetzende Übergang von der Dreifelder- zur Fruchtwechselwirtschaft sowie Neuerungen in der teilweise bedeutenden Viehzucht vollzogen sich in diesen Gebieten extremer Bodenzersplitterung nur sehr langsam 79 . In Kurhessen, wo »46% der Betriebe, die zusammen nur 6,7% der Nutzfläche besaßen, einen jährlichen Reinertrag von weniger als 10 Taler« erwirtschafteten, erzielten nur »10% der Höfe mit ihrem Anteil knapp der Hälfte des Landes ein ausreichendes Einkommen« 8 0 . In Nassau, wo 1819 24000 von 26000 Ackerbautreibenden mit einer oder gar nur mit einer halben Fuhre wirtschafteten 81 , und in den meisten rechtsrheinischen Gebieten Hessen-Darmstadts 82 sah die Situation nicht viel besser aus. Auch hier war die Landbevölkerung zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes fast ausnahmslos auf nebengewerbliche Tätigkeit angewiesen. Da sich in den folgenden Jahren die Erwerbsbedingungen in diesem Bereich ebenfalls drastisch verschlechterten, geriet der Großteil dieser Bevölkerung in eine immer ausweglosere Lage, die auch durch vereinzelte Modernisierungsbemühungen der Bürokratie 83 nicht gebessert werden konnte. Die teilweise bereits in der Rheinbundzeit eingeleitete, in allen drei Staaten aber trotz der seit 1830 verstärkten Ansätze erst mit der Revolution von 1848/49 abgeschlossene Agrarreform 8 4 , kam der Masse der Kleinbauern zunächst wenig zugute. Im Gegenteil, die Bauernbefreiung brachte für sie vielfach eine existenzvernichtende Verschuldung, an deren Ende für viele das Absinken in die Taglöhnerschicht stand 85 . Trotz ähnlicher Grundstrukturen agrarwirtschaftlicher Produktion gab es innerhalb der hessischen Landwirtschaft hinsichtlich der zoll- und handelspolitischen Interessenlage regionale und branchenspezifische Abweichungen. Hessen-Darmstadt war von allen drei Staaten am stärksten am grenzüberschreitenden Agrarhandel beteiligt, wozu nicht nur das fortgeschrittenere Rheinhessen, sondern durchaus auch die fruchtbaren Regionen Starkenburgs und Oberhessens beitrugen. Zwar spielten die kleinräumigen Verflechtungen, wie etwa die Versorgung Frankfurts, keine unwichtige Rolle, aber ein beachtlicher Teil der hessen-darmstädtischen Agrarproduk37

don, vor allem Getreide, Wein und Vieh, wurde um 1815 in weiter entfernt liegende Konsumtionsräume exportiert, insbesondere ins preußische Rheinland und nach Holland 8 6 . Dagegen besaß die kurhessische Landwirtschaft keine so herausragenden Exportartikel, wie sie Getreide und Wein in Hessen-Darmstadt darstellten 8 7 . Die zwischen 1815 und 1830 in Kurhessen auftretenden Versorgungsengpässe sowie wiederholte, nicht zuletzt gegen Hessen-Darmstadt gerichtete Klagen über die Konkurrenz ausländischer Agrarerzeugnisse deuten auf eine weit geringere Wettbewerbsfähigkeit der kurhessischen Landwirtschaft hin 8 8 . Diese produzierte zwar vorrangig für den landeseigenen Bedarf, dennoch herrschte keineswegs eine völlig autarke Agrarwirtschaft, vielmehr bestanden in den zahlreichen Grenzregionen meist enge gegenseitige Austauschbeziehungen, soweit und solange es die Zollverhältnisse zuließen 89 . Im Herzogtum Nassau waren Getreide, Wein, Vieh und Obst die wichtigsten Erzeugnisse der Landwirtschaft und zugleich auch die wichtigsten Produkte des Agrarexports, der zu einem beachtlichen Teil in das preußische Rheinland ging 9 0 . Der Viehexport des seit altersher für die Fleischversorgung der rheinischen Städte so wichtigen Westerwaldes bildete fur die verarmende Region eine überaus bedeutende Einnahmequelle 9 1 . Auch für den fast ausschließlich im Rheingau betriebenen Weinbau war der preußische Markt neben dem holländischen der weitaus wichtigste Abnehmer 9 2 . Ferner bezogen preußische Nachbarregionen einen großen Teil des aus den westlichen Ämtern exportierten Getreides, wobei diese Ausfuhr allerdings nicht die Bedeutung der hessen-darmstädtischen erreichte. Einige nassauische Ämter - vor allem der Taunus und der Rheingau mußten sogar hessen-darmstädtisches Getreide importieren 9 3 . Der nassauische Nahrungs- und Genußmittelexport wurde schließlich durch ein wichtiges Produkt vervollständigt, welches auch die Zollpolitik noch beeinflussen sollte: das Mineralwasser. Die jährliche Ausfuhr von über zwei Millionen Krügen, die ins gesamte europäische Ausland und sogar nach Übersee gingen, brachte der herzoglichen Domänenkasse als Besitzerin aller wichtigsten Quellen bedeutende Einnahmen 9 4 . Trotz fehlender Zahlen läßt sich insgesamt konstatieren, daß die großund kleinräumigen Verflechtungen des hessischen Agrarhandels zu keinem Staat intensiver waren als zu Preußen, insbesondere zu dessen westlichen Provinzen. Die Bedeutung dieser von vielen gemeinsamen Grenzen begünstigten Beziehungen wurde durch die hessischen Reaktionen auf das preußische Zollgesetz von 1818 eindrucksvoll dokumentiert. In allen drei Staaten kam es bald nach Inkrafttreten des Gesetzes zu einer Flut von Klagen über die eingeschränkten Absatzmöglichkeiten. Die preußische Zollreform galt schnell vielfach als Hauptursache jener schweren Krise, welche die hessische Landwirtschaft seit 1818 immer stärker traf. So hieß es in einer 1824 erschienenen statistischen Beschreibung Rheinhessens: »Von 38

der Einführung der Nachbarsmauthen sanken die Wein- und Fruchtpreise beinahe ohne Unterlaß.« 9 5 Dabei verkannten die zeitgenössischen Kritiker jedoch nur zu oft, daß das rapide Fallen der Agrarpreise, insbesondere beim Getreide, zunächst einmal nicht auf die in Krisenzeiten stets zu Sündenböcken gestempelten neuen Zölle zurückgeführt werden konnte, sondern vor allem eine Folge der gleichzeitig mit dem preußischen Zollgesetz eintretenden großen europäischen Agrarkrise 9 6 war. Preußen beabsichtigte j a mit seiner Zollreform kein ausgedehntes Schutzzollsystem für die eigene exportorientierte Landwirtschaft. Viele Tarife lagen zunächst außerordentlich niedrig. Die nach rheinhessischen Getreidepreisen berechneten Zollbelastungen betrugen im Jahre 1824 bei Weizen 8 % , bei Roggen und Gerste 4,7% und bei Hafer 3 , 8 % 9 7 . Trotz der Unterschätzung der wesentlicheren Krisenfaktoren waren die gegenüber dem Zollgesetz vorgebrachten Klagen aber auch nicht völlig grundlos. In einer Phase des Überangebotes und großer Absatzschwierigkeiten mußten selbst kleinere Belastungen zusätzliche Probleme schaffen, zumal in Anbetracht der Gewichtsverzollung sinkende Preise die Zollbelastung steigerten und Preußen 1825 die Getreidetarife nochmals anhob. Wie lästig die neuen preußischen Zölle von Betroffenen empfunden wurden, geht sowohl aus den Beschwerden hessen-darmstädtischer und nassauischer Exporteure als auch aus den Klagen preußischer Konsumenten hervor 9 8 . Ähnlich lagen die Verhältnisse beim Viehexport. Auch hier waren die aus dem hessen-darmstädtischen Oberhessen und dem Westerwald k o m menden Beschwerden vielfach überzogen, da Preußen wegen der rheinischen Fleischimporte die Zölle zunächst recht niedrig normiert hatte und der Handel schon aufgrund eingefahrener Marktbeziehungen nicht völlig zum Erliegen kam. Dennoch können gewisse Einbußen bei den Exporterlösen insbesondere nach den Zollerhöhungen des Jahres 1825 kaum bestritten werden, welche den immer mehr verarmenden Mittelgebirgsregionen zusätzliche Schwierigkeiten brachten 99 . Im Gegensatz zu den begrenzten Exporteinbußen bei Getreide und Vieh wurden andere hessische Agrarerzeugnisse durch die neuen preußischen Tarife weit stärker belastet. Der vor 1818 bedeutende rheinhessische Export von Ol, feinen Mehlwaren und Wein sowie der nassauische Weinexport erlitten seit Inkrafttreten des preußischen Zollgesetzes große Verluste 1 0 0 . Das wichtigste Abnehmerland rheinhessischer und nassauischer Weine belegte diese, für beide Staaten wirtschaftlich wichtigen Produkte mit einem Zoll, der zum Teil über 100% des Wertes lag und vielfach prohibitiven Charakter besaß 1 0 1 . Während die gefragten teueren Spitzenweine, bei denen die Maßverzollung nicht ganz so gravierend wirkte, gewisse Absatzchancen behielten, traf das Zollgesetz wegen seiner fehlenden Differenzierung die mittleren und geringeren Weine am schlimmsten 1 0 2 . Auch die daraus resultierenden sozialen Kosten waren ungleich 39

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verteilt. Zwar ließ das Zollgesetz auch die Erträge der großen Gutsbesitzer und Weinhändler, die in Bingen sogar teilweise auf das gegenüberliegende preußische Naheufer auswichen 103 , deutlich absinken, doch weit härter wurden die kleinen Winzer betroffen. Durch die Schuldenlast aus schlechten Jahren und die Abhängigkeit von den großen Händlern war ihre Lage ohnehin wenig günstig, ehe das preußische Zollgesetz, welches »über die Weinberge des Rheingaus wie ein Hagelschlag« niederging 104 , die Lage drastisch zuspitzte. Da ein Ausweichen auf andere Abnehmer aufgrund der allgemeinen Nachfrageverhältnisse und der im gesamten Umkreis folgenden zollpolitischen Eskalation kaum möglich schien, wurden die Weinbaugemeinden des Rheingaus und der Provinz Rheinhessen recht früh zu wichtigen Fürsprechern zoll- und handelsvertraglicher Regelungen mit Preußen, durch die verlorengegangene Märkte zurückgewonnen werden sollten 105 . Insgesamt wird man feststellen können, daß die Folgen der Zölle auf die hessische Landwirtschaft zwar häufig überschätzt wurden, daß aber andererseits negative Einflüsse dieser Zollbelastungen in wichtigen Teilbereichen wirksam wurden und selbst die wenig exportintensive kurhessische Landwirtschaft von den neuen Zöllen nicht völlig unbeeinflußt blieb 106 . Die den hessischen Agrarexport am einschneidendsten treffenden preußischen Zölle wären unter Umständen in normalen Jahren wesentlich leichter verkraftet worden, doch die gleichzeitig einsetzende Agrarkrise potenzierte ihre Wirkung. So bot sich beispielsweise in Rheinhessen der Weinbau in Jahren niedriger Getreidepreise als gewisser Ausweg aus großen Ertragsschwierigkeiten an, doch nach 1818 waren es die eintretenden preußischen Zölle, die diese stabilisierende Funktion des Weinbaus für die rheinhessische Landwirtschaft verhinderten. Agrarkrise und Folgen des preußischen Zollgesetzes hingen hier also eng zusammen. Ihr gleichzeitiges Einsetzen brachte die hessische Landwirtschaft, noch bevor die Belastungen aus den Kriegsjahren überwunden waren, in große Schwierigkeiten, von denen selbst das fortgeschrittene Rheinhessen betroffen wurde. Der Geldmangel bei den hier schon recht zahlreichen »bemittelten Grundbesitzern« war so groß, daß diese »kaum im Stande waren, die Staats- und Gemeindelasten zu tragen und sich daher im Gebrauch der Tagelöhner möglichst beschränken mußten« 1 0 7 . Der Taglohn sank von 28 auf 12 kr.; es kam zu zahlreichen Zwangsveräußerungen, und nicht wenige Kleinbauern sanken in die unterbäuerliche Schicht ab 108 . In den rechtsrheinischen Gebieten Hessens war die Situation freilich noch unvergleichbar schlimmer 109 , denn das hier zur Einkommenssicherung unentbehrliche ländliche Nebengewerbe befand sich ebenfalls in einer tiefen Strukturkrise, die durch die preußischen Zölle zusätzlich verschärft wurde. Nach der Landwirtschaft beschäftigte das Leinengewerbe im hessischen Raum die meisten Erwerbspersonen. Die Zentren dieses meist als ausgesprochenes Notgewerbe betriebenen Zweiges lagen im hessen-darm40

städtischen Oberhessen sowie in den beiden nördlichen Provinzen Kurhessens. Hier wurden vorrangig grobe Schock- und Packleinen für überregionale und internationale Märkte produziert 1 1 0 . Hinsichtlich der Organisationsform stand das auf die wenigen Leinenstädtchen mit ihren größeren Handlungshäusern beschränkte Verlagssystem meist noch hinter dem Kaufsystem zurück, bei dem vor 1818 preußische Aufkäufer aus dem Rheinland eine wichtige Rolle spielten 1 1 1 . Nachdem die Kontinentalsperre den bis 1806 bedeutenden hessischen Leinenexport nach Übersee völlig zusammenbrechen ließ 1 1 2 , setzte nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft nochmals eine Belebung ein. Aber angesichts der nun größeren englischen Konkurrenz auf den überseeischen Märkten sowie der von traditionellen Abnehmerländern wie N o r d amerika und Spanien neu errichteten Zollmauern vermochte das hessische Leinengewerbe nicht mehr an die Exportziffern der Jahrhundertwende anzuknüpfen. Selbst als sich 1834 die Exportsituation wieder etwas günstiger gestaltete, blieb die kurhessische Ausfuhr mit 451700 Talern weit hinter den früheren Millionenwerten zurück 1 1 3 . Im übrigen wurde das mit seinen groben Produkten und veralteten Produktionsverfahren wenig anpassungsfähige Gewerbe auch auf dem Binnenmarkt durch das Aufkommen der Baumwollwaren und durch konkurrenzfähigere ausländische Leinenwaren immer stärker bedrängt. Die noch weit verbreitete nebengewerbliche Handspinnerei litt in zunehmendem Maße unter dem Vordringen billigerer und besserer englischer Maschinengarne. Schon vor 1830 geriet das Leinengewerbe in Hessen wie in anderen Teilen Mitteleuropas in eine schwere Strukturkrise, die nach kurzen Erholungsphasen seit 1840 den völligen Ruin des einst bedeutenden Zweiges herbeiführte und die Einkommenssituation breiter Bevölkerungskreise drastisch verschlechterte 114 . Angesichts der Vorrangigkeit internationaler Verflechtungen darf man die Bedeutung der mitteleuropäischen Zollschranken für den Niedergang des Leinengewerbes sicherlich nicht überbewerten, andererseits verschärften gerade die preußischen Zölle die ohnehin bestehenden Schwierigkeiten beträchtlich. So klagten die auf den preußischen Markt orientierten Produzenten feinerer Leinensorten über empfindliche Ertragseinbußen 1 1 5 . Auch der Absatz grober Produkte litt unter dem preußischen Zollgesetz, da die preußischen Aufkäufer nun ausblieben, auf deren Vermittlungstätigkeit im Überseehandel viele hessische Regionen wegen des Fehlens eigener Handelshäuser angewiesen waren 1 1 6 . Ebenso wie das Leinengewerbe befand sich der zweitgrößte textilgewerbliche Zweig Hessens, das Wollgewerbe, nach 1815 in einer durch die einströmende englische Konkurrenz verstärkten Strukturkrise, die vor allem die wenig anpassungsfähigen kleinen Meister betraf 1 1 7 . Diese litten auch am stärksten unter den in Deutschland aufkommenden Grenzzollsystemen, die das auf den mitteleuropäischen Markt orientierte Wollgewerbe 41

noch nachhaltiger belasteten als das Leinengewerbe. Angesichts einer großen Exportabhängigkeit beschleunigten die innerdeutschen Zollgrenzen in allen drei Staaten den Niedergang des alten Wollgewerbes erheblich 118 . Die neuen bayerischen und württembergischen Zölle trugen dazu bei, daß die um 1800 noch über 5000 Personen beschäftigende Odenwälder Tuchmacherei bis Mitte der zwanziger Jahre um 80% zurückging 119 . Im hessen-darmstädtischen Oberhessen litt das Wollgewerbe vor allem unter den preußischen Zöllen. Das anschaulichste Beispiel hierfür liefert das sogenannte Hinterland, eine hessen-darmstädtische Region, die wie ein Schlauch in preußisches, kurhessisches und nassauisches Gebiet hineinragte und in der das preußische Zollgesetz zu einer entscheidenden wirtschaftlichen Zäsur wurde. Denn bis 1818 fanden die im Hausierhandel vertriebenen oder von preußischen Händlern aufgekauften groben Strumpf- und Tuchwaren der landwirtschaftlich wenig ergiebigen Region in den preußischen Nachbargebieten noch reichen Absatz. Dann aber setzten die neuen preußischen Tarife mit ihrer, grobe Waren besonders belastenden Gewichtsverzollung diesem Export schlagartig ein Ende. Zweifellos wäre das in seinen Produktions-, Organisations- und Vertriebsformen weit zurückgebliebene hinterländische Wollgewerbe auch ohne die Wirkung des Zollgesetzes langfristig in eine Existenzkrise geraten, doch die so plötzlich einsetzende gravierende Störung alteingefahrener Wirtschaftsverflechtungen beschleunigte diesen Prozeß in einem ungeahnten Maße. Beispielsweise arbeiteten wenige Jahre nach der preußischen Zollreform von vorher 200 Biedenkopfer Tuchmachermeistern nur noch 50 auf eigene Rechnung 1 2 0 . Da außer dem Wollgewerbe auch zahlreiche andere, auf den preußischen Markt angewiesenen Kleingewerbe des Hinterlandes Schmiede, Gerber und vor allem Schuhmacher - von ihrem Hauptabsatzgebiet abgeschnitten wurden 1 2 1 , sanken weite Teile dieser Region nach Aussagen des hessen-darmstädtischen Staatsministers du Thil »von recht solidem Wohlstand . . . in kurzem fast zum Bettelstab herab« 122 . Unmittelbar nach Einführung des preußischen Zollgesetzes wanderten daher über 600 Personen aus dem kleinen hessen-darmstädtischen Randgebiet aus 123 . Obwohl die Regierungen Hessen-Darmstadts und Kurhessens in Anlehnung an alte merkantilistische Praktiken das einheimische Wollgewerbe durch Einfuhrverbote fur grobe Tücher und Einschränkungen der Wollausfuhr vor der fortgeschrittenen ausländischen Konkurrenz zu schützen versuchten 124 , vermochten sie den Schrumpfungsprozeß des alten Wollgewerbes in den meisten Landesteilen nicht mehr aufzuhalten. Die notwendige Umstrukturierung gelang nur in wenigen Zentren, vor allem im kurhessischen Hersfeld, wo der Rückgang bei den kleinen Meisterbetrieben schon im Laufe der zwanziger Jahre durch die Entstehung größerer Betriebe ausgeglichen werden konnte, in denen moderne Maschinenspinnerei mit verbesserter Handweberei und neuen Aufbereitungsverfahren kombiniert wurde 1 2 5 . 42

Die neuen Ansätze, zu denen auch eine bescheiden wachsende Baumwollweberei gehörte 126 , reichten freilich bei weitem nicht aus, die durch den Verfall des alten Textilgewerbes entstandenen Arbeitsplatzverluste a b z u gleichen. Schon der Blick auf das Textilgewerbe, jenen wichtigsten nichtagrarischen Erwerbszweig, zeigt deutlich das Übergewicht traditioneller Gewerbestrukturen, und in anderen Branchen war dies kaum anders. Größere, zum Fabriksystem 127 tendierende Betriebe bildeten die Ausnahme und konzentrierten sich auf wenige Zentren, deren noch sehr langsame Aufwärtsentwicklung sich vom wirtschaftlichen Niedergang der meisten Landesteile abhob. Abgesehen von Hersfeld und seinem expandierenden Wollgewerbe befanden sich die wachstumsorientierten Branchen der kurhessischen Wirtschaft vor allem in den beiden größten Städten Kassel und Hanau. Angesichts der im gesamten hessischen Raum noch unzureichenden Konsumtionskraft hing die Entwicklung dieser Betriebe, wie etwa die Kasseler Handschuh-, Hut-, Tabak- und Tuchfabriken sowie die dortige Maschinenfabrik Henschel, im wesentlichen von der Auslandsnachfrage ab 128 . Wie sehr dies die Anfälligkeit gegenüber Veränderungen zollpolitischer Rahmenbedingungen steigerte, zeigt das Beispiel der fast völlig von ausländischen Zollmauern umschlossenen Provinz Hanau. Auch hier trugen insbesondere die süddeutschen Grenzzölle erheblich zum weiteren Verfall des vormals bedeutenden Wollgewerbes bei; die großen Seidenund Teppichmanufakturen der Stadt Hanau konnten sich nur unter großen Einbußen einigermaßen behaupten. Die durch den Verfall alter Gewerbe im Arbeitsplatzangebot entstandenen Lücken wurden jedoch in Hanau schon seit den zwanziger Jahren durch das Wachstum des von den deutschen Zollmauern kaum beeinträchtigten Edelmetallgewerbes und der Tabakfabrikation wieder aufgefüllt 129 . Bis zur Zollvereinsgründung blieb die Situation der Hanauer Wirtschaft allerdings noch in vielerlei Hinsicht unbefriedigend und sorgte immer wieder für politische Unruhe 1 3 0 . Während sich in der südlichen Provinz Kurhessens ebenso wie in Niederhessen und in Fulda immerhin einige wenige gewerbliche Zentren von überregionaler Bedeutung befanden 131 , gab es im kurhessischen Oberhessen keinerlei Ansätze großgewerblicher Produktion. Einen gewissen Beitrag zum kurhessischen Export leistete hier lediglich die im handwerklichen Rahmen betriebene Töpferei 132 . Im Nachbarland Hessen-Darmstadt galt zwar die oberhessische Provinz gleichfalls als rückständigste und krisenanfälligste, aber mit den Textilmanufakturen in Alsfeld, der beginnenden Tabakproduktion in Gießen 133 sowie einer in bescheidenem Maße expandierenden Eisenindustrie 134 schienen die Voraussetzungen für die weitere wirtschaftliche Entwicklung immer noch etwas besser. Die zukunftsträchtigeren, partiell bereits zu moderneren Produktionsformen tendierenden Gewerbebetriebe Hessen-Darmstadts lagen jedoch in den großen Städten der beiden südlichen Provinzen. Hier verzeichnete das 1816 an HessenDarmstadt gefallene und in den frühen statistischen Beschreibungen bereits 43

als »Fabrikstadt« 135 bezeichnete Offenbach in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den größten Aufschwung. Ebenso wie in Hanau konnte auch in Offenbach das durch den Rückgang des vor 1800 dominierenden Textilgewerbes unterbrochene Wachstum der städtischen Wirtschaft durch die Aufwärtsentwicklung anderer Branchen, insbesondere durch die rasch an Bedeutung gewinnende Lederwarenherstellung, die Tabakproduktion, die Wagenherstellung und das Chemiehandwerk, vergleichsweise schnell wieder angekurbelt werden. Dabei profitierte Offenbach wie Hanau und das kurhessische Städtchen Bockenheim sowohl von der Nähe des großen Frankfurter Marktes als auch von der modernisierungsfeindlichen Gewerbepolitik der großen Handelsmetropole 136 . Auch die hessen-darmstädtische Regierung begünstigte in Anknüpfung an die frühere landesherrliche Förderung die wirtschaftliche Entwicklung Offenbachs durch Straßen- und Brückenbauten, steuerliche Investitionsanreize sowie die vorzeitige Einführung der Gewerbefreiheit 137 . Schließlich erhielt Offenbach 1821 als erste hessen-darmstädtische Stadt nach Mainz eine eigene Handelskammer, die ebenso wie die 1798 unter französischer Herrschaft gegründete Mainzer Kammer sich nicht auf eine Gutachter- und Informationstätigkeit für den Staat beschränkte, sondern gerade in der Zollpolitik als entschiedener Interessenvertreter der einheimischen Wirtschaft auftrat 138 . Das schon vor 1830 in Offenbach und anderen Gewerbezentren des Rhein-Main-Raumes in insgesamt noch bescheidenem Maße einsetzende Wachstum beruhte nicht wie in den Zentren der deutschen Frühindustrialisierung auf den Fortschritten von Textil- und Schwerindustrie. Die langsame Aufwärtsentwicklung des Rhein-Main-Raumes wurde vielmehr von den Branchen eines industrialisierten Handwerks getragen, das sich immer mehr auf die Massenproduktion von Genuß-, Luxus- und Verbrauchsgütern spezialisierte und sich dabei verstärkt arbeitsteiliger Produktionsformen sowie technologisch noch bescheidener mechanischer Hilfsmittel bediente 139 . Auch die gewerbliche Entwicklung in Mainz, der ökonomisch wichtigsten Stadt Hessen-Darmstadts, wurde sehr stark von den Branchen des industrialisierten Handwerks bestimmt 140 , dessen Grenzen zum Fabriksystem meist fließend waren. Die eigentliche ökonomische Bedeutung der Stadt Mainz lag freilich eindeutig auf dem Gebiet des Handels. Dieser durch kurfürstlichen Schutz und Stapelrecht vor 1800 mächtig emporgekommene Mainzer Handel befand sich trotz umfangreicher französischer Reformmaßnahmen am Ende der napoleonischen Herrschaft in einer tiefen Krise. Obwohl sich die Regierung in Darmstadt schon aus Rücksicht auf eine reibungslosere Integration für die Mainzer Rheinschiffahrtsinteressen einsetzte und mit Preußen das vorläufige Fortbestehen der Stapelrechte verteidigte, blieb die 1814 einsetzende Belebung des Mainzer Handels nur von kurzer Dauer. Der durch das Ende der Kontinentalsperre und den Wegfall der Zollgrenze am Rhein zurückgewonnene Spielraum wurde 44

rasch wieder eingeengt. Während im Transit- und Hafenverkehr die vor allem aus Kolonialwaren bestehende Bergfracht infolge der hohen holländischen Transitzölle, die vielfach zu einem Ausweichen über norddeutsche Häfen führten, hohe Einbußen erlitt, wurde der Talverkehr, bei dem neben den Baumaterialien Getreide und Wein wichtigste Umschlagsgüter waren, nicht nur durch die Agrarkrise, sondern auch durch die preußischen Zölle schwer beeinträchtigt, was in der hessen-darmstädtischen Zollpolitik noch eine wichtige Rolle spielen sollte 1 4 1 . Im Unterschied zu Hessen-Darmstadt und Kurhessen fehlten im Herzogtum Nassau größere Handels- und Gewerbezentren. Anders als in beiden Nachbarstaaten wurde der sekundäre Sektor in dem an Bodenschätzen reicheren Herzogtum auch nicht v o m Textilgewerbe, sondern v o m Bergbau und dem damit verbundenen Metallgewerbe geprägt. Nach einer zeitgenössischen Statistik arbeiteten 1828 etwa 6000 Personen, 4% der Erwerbsbevölkerung, in diesem Bereich 1 4 2 , dem durch das langsame Wachstum des Metallgewerbes und die raschere Expansion des Bergbaus innerhalb des nassauischen Wirtschaftslebens eine immer größere Bedeutung zukam 1 4 3 . Das vorwiegend im Norden des Landes geförderte Eisenerz wurde bis 1840 noch primär von der eigenen Eisenindustrie weiterverarbeitet, deren Hochofenproduktion Mitte der dreißiger Jahre innerhalb des Zollvereins hinter Preußen den zweiten Platz einnahm 1 4 4 . Der größte Teil des auf den nassauischen Hütten erzeugten Roh- und Gußeisens ging in den Export. Nach Angaben eines nassauischen Hüttenbesitzers wurden 1822 von der gesamten Roheisenproduktion in Höhe von 80000 Ztr. 71,9%, von der Gußeisenproduktion in Höhe von 30000 Ztr. etwa zwei Drittel exportiert, während lediglich 28,1% der Roheisenproduktion zu 18000 Ztr. Stabeisen weiterverarbeitet wurden, wovon wiederum 11000 Ztr. für den Export bestimmt waren 1 4 5 . Auch wenn die eisenverarbeitenden Zweige aufgrund des zu knappen Angebotes an Brennmaterial nicht in der Lage waren, die Chancen einer günstigen Roheisenbeschaffung sowie die Vorteile naher Märkte zu nutzen und mehr Roheisen im Lande zu verarbeiten, so bildeten Drahtzieherei, Hammer-, Schneid- und Walzwerke sowie das im ganzen Herzogtum verbreitete Kleineisengewerbe einen auch für den Export nicht unbedeutenden Teilbereich 1 4 6 . Die nassauische Eisenindustrie, die nach der Privatisierung der staatlichen Werke von wenigen großen Unternehmerfamilien beherrscht wurde 1 4 7 , war ebenso wie die teilweise von den gleichen Besitzern geführte, in Oberhessen ansässige hessen-darmstädtische sowie die etwas bescheidenere kurhessische Eisenindustrie in hohem Maße von der Nachfrage auf den Auslandsmärkten abhängig. Mit dem vorrangig auf den preußischen Markt orientierten, hochspezialisierten Kleineisengewerbe der kurhessischen Exklave Schmalkalden, den Nagelschmieden des Hinterlandes und nassauischen Eisenwerken des Dillgebietes klagten zwar einige Teile der hessischen Eisenindustrie über die neue preußische Zollgesetzgebung 1 4 8 , 45

weit eindringlicher würde freilich auf die durch neue Zollschranken erlittenen Einbußen im wichtigeren Export nach Süddeutschland verwiesen 1 4 9 . Welch große Bedeutung dem süddeutschen Markt innerhalb der gesamten hessischen Eisenindustrie, insbesondere aber bei den nassauischen Unternehmern, zugemessen wurde und welche Furcht schon u m 1820 die fortgeschrittenere preußische Konkurrenz hervorrief, unterstreicht der v o m nassauischen Hüttenbesitzer Lossen 1822 angepriesene Ausweg aus den zunehmenden Absatzschwierigkeiten. Lossen forderte, daß ein Nassau einschließender süddeutscher Zollverband das preußische Roheisen und preußische Eisenwaren v o m süddeutschen Markt ausschließen und den nassauischen Hütten somit eine marktbeherrschende Position verschaffen sollte 1 5 0 . Der wichtigste Wirtschaftszweig des nassauischen Nordens orientierte sich damit anders als das im Grenzgebiet zu Preußen ansässige, auf kleingewerblicher Basis produzierende Töpferei- und Wollgewerbe sowie die dortige Landwirtschaft nicht eindeutig nach Preußen 1 5 1 . Trotz der vor 1830 nur in bescheidenem Rahmen expandierenden Eisenindustrie blieb Nassau im Grunde ein bescheidener Agrarstaat, der von den tiefgreifenden Modernisierungsprozessen noch nicht erfaßt wurde. Auch ein Blick auf die südlichen, zum grenzüberschreitenden Rhein-Main-Wirtschaftsraum gehörenden Gewerberegionen vermag an dieser Feststellung wenig zu ändern. Das hier ansässige, in enger Beziehung zum Frankfurter Markt stehende spezialisierte Verbrauchsgütergewerbe - vor allem die Lederherstellung, die Tabakveredelung und die Produktion chemischer Stoffe blieb in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in der Regel noch dem vorindustriellen Rahmen verhaftet 1 5 2 . Im Vergleich zu den Zentren der deutschen Frühindustrialisierung verharrte die gewerbliche Wirtschaft des gesamten hessischen Raumes noch weitgehend in ihren alten Strukturen. Ein meist auf die lokalen Märkte ausgerichtetes, übersetztes und äußerst krisenanfälliges traditionelles Handwerk 1 5 3 sowie die im Niedergang befindliche dezentralisierte textilgewerbliche Massenproduktion auf dem Lande dominierten noch eindeutig über Produktionsformen mit höherem Organisations- und Mechanisierungsgrad. Symptomatisch hierfür ist auch die Tatsache, daß 1830 in Nassau noch keine Dampfmaschine existierte und in Hessen-Darmstadt zum selben Zeitpunkt ebenfalls erst eine einzige in Betrieb war 1 5 4 . Auch weist die v o m Kleinbauerntum, Kleinbürgertum und wachsenden Unterschichten geprägte Sozialstruktur des hessischen Raumes bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts kaum Veränderungen auf, die auf eine raschere wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung hindeuten. Das relativ schmale und ökonomisch schwache Bürgertum erreichte kaum jenen Zuschnitt, »wie ihn das Bürgertum in anderen deutschen, vor allem preußischen Gebieten aufwies« 1 5 5 . Ein auf größere Vermögen gestütztes Bürgertum gab es fast nur in den wenigen hessen-darmstädtischen und kurhessischen Städten, die 46

wie Hanau, Kassel, Offenbach und Darmstadt eine leistungsfähigere Wirtschaft besaßen, sowie in der weiter entwickelten Provinz Rheinhessen, insbesondere in der Handelsmetropole Mainz. In Nassau existierte schließlich, abgesehen von den wenigen Unternehmern der Eisenindustrie, kaum eine Gruppe, die mit dem Wirtschaftsbürgertum von Hanau, Mainz und Offenbach oder gar mit dem des preußischen Rheinlandes zu vergleichen gewesen wäre, was Karl Braun in der Bemerkung zum Ausdruck brachte: »Damals, 1833, war in Nassau die Domäne in wirtschaftlicher Beziehung Alles und die bürgerliche Gesellschaft gar nichts.« 156 Die wenigen größeren Gewerbebetriebe, unter denen sich manche älteren noch recht schwer taten, ihren Fortbestand durch notwendige Modernisierungen zu sichern 157 , konzentrierten sich auf wenige Zentren; und ihre vor 1830 meist noch sehr bescheidene Expansion reichte bei weitem nicht aus, der rasch wachsenden Bevölkerung neue Erwerbsmöglichkeiten zur Verfugung zu stellen. Im Gegenteil, die andauernde Krise in Landwirtschaft und gewerblichem Sektor ließ die Lücke zwischen Arbeitskräftepotential und Beschäftigungsangebot immer größer werden. Die Folge war eine sich in allen drei Staaten zunehmend ausbreitende soziale Krise, in deren Verlauf immer mehr Kümmerexistenzen des Handwerks, des Kleinbauerntums und des Heimgewerbes in die Unterschicht absanken. Die Pauperisierung weiter Bevölkerungskreise, die in der wachsenden Auswanderung und im Ansteigen der »Landgängerei, jenem oft nur als Deckmantel der Bettelei dienenden Wandergewerbe« im deutschen und westeuropäischen Ausland 158 , sichtbar wurde, ließ die zurückgebliebenen rechtsrheinischen Territorien des hessischen Raumes zu einem der größten Armenhäuser Mitteleuropas werden 159 . Auch ein Blick auf den hessischen Handel spiegelt die Rückständigkeit des hessischen Raumes wider. Die strukturschwache Wirtschaft dieser Region reagierte nicht zuletzt deshalb so empfindlich auf die entstehenden Grenzzollsysteme, weil deren Wirkung durch die rückständigen Strukturen des hessischen Handels - das Fehlen eines starken Eigenhandels, den schwach entwickelten Binnenhandel und die hohe Abhängigkeit von der Außennachfrage - noch potenziert wurden. Im Unterschied zu Nassau, das trotz der günstigen Lage am Rhein keine nennenswerte Anzahl erfahrener Großkaufleute aufwies 160 , besaßen Kurhessen mit Kassel, Hanau sowie den vom Transithandel lebenden Werra- und Weserstädtchen 161 , Hessen-Darmstadt mit Mainz, Darmstadt, Offenbach, Worms und Bingen immerhin einige bedeutendere Handelsplätze, aber von ihnen konnte nur Mainz einen Platz unter den großen deutschen Handelszentren beanspruchen. Als eigentlicher Mittelpunkt des hessischen Handels fungierte noch immer die freie Stadt Frankfurt, die sich mit ihrem dominierenden Großhandel und den gewaltigen Kapitalien von den umliegenden, zum Großteil wirtschaftlich verarmten Gebieten abhob und von den Regierungen der Nachbarstaaten mißtrauisch als »Spinne im Netz« der hessischen Wirtschaft angesehen 47

wurde 1 6 2 . Frankfurts Vermittlungsposition bot zwar ebenso wie die anderer ausländischer Händler für den Export hessischer Erzeugnisse durchaus gewisse Vorteile, andererseits aber flöß ein Teil der Exporterlöse in ausländische Kassen 163 . Der Handlungsspielraum einzelstaatlicher Handelspolitik wurde dadurch ebenso eingeengt wie durch das Fehlen eines dem Staatsgebiet entsprechenden homogenen Wirtschaftsraumes mit klar definierter handelspolitischer Interessenlage. In allen drei Staaten gab es schon aufgrund der geographischen Situation hinsichtlich der handelspolitischen Orientierung vielfache regionale, sektorale und branchenspezifische Interessengegensätze, die es den Regierungen erschwerten, rasch eine geeignete zollpolitische Konzeption zu entwickeln und die durch die aufkommenden Grenzzollsysteme weiter angeheizte sozialökonomische Krise zu entschärfen. Das aus unterschiedlichen Handelsinteressen resultierende regionale Konfliktmuster manifestierte sich am stärksten im Dualismus zwischen dem nach Norden orientierten Kassel und dem auf den süddeutschen und Frankfurter Raum angewiesenen Hanau, der in der frühen kurhessischen Zollpolitik immer wieder ausbrach 1 6 4 . Auch in Nassau war der eine Teil des Landes stärker auf die preußischen Nachbargebiete im Norden und Westen ausgerichtet, während der südlichere Teil engere Beziehungen zu Frankfurt unterhielt. Die hessen-darmstädtische Zollpolitik wurde dagegen stärker von den sektoralen Konflikten zwischen der eindeutig nach Norden orientierten Landwirtschaft und dem wenigstens zu einem großen Teil nach Süden tendierenden Gewerbesektor bestimmt. Angesichts eines höchst unzureichenden Zahlenmaterials muß sich ein Gesamtbild des hessischen Handels auf die wichtigsten Warengruppen und Handelspartner beschränken. Im hessen-darmstädtischen und nassauischen Export spielten neben den Nahrungs- und Genußmitteln die Rohstoffe, unter denen auch Agrarprodukte wie Wolle und Handelsgewächse einen großen Anteil besaßen, die dominierende Rolle. Dieser Export ging zum weitaus größten Teil in die nördliche Richtung, insbesondere in die preußischen Rheinlande, aus denen man umgekehrt vor allem Fertigwaren bezog, welche aufgrund der Rückständigkeit der hessischen Gewerbe beim Import aller hessischen Staaten neben den Kolonialwaren einen wichtigen Stellenwert einnahmen 165 . Die Grundstrukturen der preußisch-hessen-darmstädtischen und der preußisch-nassauischen Handelsbeziehungen - die Dominanz von Agrarprodukten und Rohstoffen in der hessischen Ausfuhr und die der Fertigwaren beim Import aus Preußen - werden auch durch die preußische Handelsstatistik des Jahres 1823 trotz ihrer zweifellos vorhandenen Unzulänglichkeiten 166 voll bestätigt. »Fabrikmaterialien« und »Verzehrungsgegenstände« erreichten beim hessen-darmstädtischen Export nach Preußen einen Anteil von 89,5%, im Falle Nassau waren es 82,6%. Dagegen lag der Anteil der Fertigwaren im preußischen Export nach Hessen-Darmstadt bei 75,4% und nach Nassau bei 6 6 , 8 % 1 6 7 . Während der 48

primäre Sektor in Nassau, vor allem aber in Hessen-Darmstadt mit seinen Handelsbeziehungen eindeutig nach Norden orientiert war, ergibt sich bei der insgesamt geringeren, aber nicht unwichtigen Ausfuhr von Gewerbeerzeugnissen ein differenzierteres Bild. Zwar lieferten ein Teil des Textilgewerbes, der Tabakfabrikation, des Kleineisengewerbes und der Großteil des Töpfereigewerbes ihre Erzeugnisse auch in preußische Regionen, dennoch kam offenbar im gewerblichen Sektor auch dem süddeutschen Markt um 1820 eine größere Bedeutung zu. Die Eisenindustrie war überwiegend nach Süddeutschland orientiert, aber auch die hessen-darmstädtischen Gerbereien, weite Teile des Wollgewerbes und die Baumwollweberei fanden ihre Hauptabnehmer vorwiegend im süddeutschen Raum 1 6 8 . Im übrigen wurden auch die beträchtlichen innerhessischen Wirtschaftsverflechtungen 169 in einem hohen Maße von gewerblichen Produkten geprägt. Gemeinsam war allen drei Staaten der hohe Anteil des Fertigwarenimports und des Rohstoffexportes. Im Unterschied zu Hessen-Darmstadt und Nassau besaß der Nahrungs- und Genußmittelexport in Kurhessen aber ein weit geringeres, der Fertigwarenexport ein etwas stärkeres Gewicht. Obwohl Kurhessen 1823 vielleicht als Folge heftiger Zollfehden im Handel mit Preußen unter allen drei Staaten das weitaus geringste Volumen aufwies, lieferte es mehr Fertigwaren nach Preußen als die beiden anderen und bezog im übrigen von Preußen weniger Fertigwaren, als es dorthin absetzte 170 . Ein großer Teil der kurhessischen Fertigwaren wurde allerdings auch in andere Regionen exportiert. Neben dem für die südlichen Provinzen besonders wichtigen süddeutschen Markt und den hessischen Nachbarregionen kamen dabei auch dem thüringisch-sächsischen Raum, vor allem aber den agrarisch strukturierten hannoverschen und braunschweigischen Nachbargebieten eine größere Bedeutung zu. Trotz des geringen kurhessisch-preußischen Handelsvolumens vom Jahre 1823 dürfen aber die vielfaltigen, teilweise altgewachsenen und durch gemeinsame Grenzen begünstigten Handelsbeziehungen mit Preußen keineswegs unterschätzt werden 171 , zumal gerade im kurhessischen Falle ein weiterer wesentlicher Faktor hinzutrat. Das große preußische Interesse am hessischen Raum hing nicht allein mit dessen beachtlichem Anteil am preußischen Handelsvolumen zusammen, der bei Einbeziehung der Handelsmetropole Frankfurt 1823 über 10% betrug, sondern es beruhte vor allem auch auf der Verkehrs- und handelspolitischen Bedeutung dieses Raumes. Die von den großen mitteleuropäischen Land- und Wasserstraßen durchzogene Region schob sich wie ein Keil zwischen die beiden großen Teile der preußischen Monarchie und war überhaupt aufgrund ihrer zentralen Lage ein ausgesprochenes Durchgangsland, »in dem der Verkehr von jeher eine wichtige Rolle spielte« 172 . HessenDarmstadt und Nassau gehörten zu den Rheinanliegerstaaten und besaßen zudem einige nicht unwichtige Transitstraßen. Eine noch größere verkehrspolitische Bedeutung erlangte freilich das von der Weser bis vor die 49

Tore Frankfurts reichende Kurhessen, dessen seit dem 18. Jahrhundert intensiv ausgebautes Straßennetz 1840 als das drittdichteste Europas galt 173 . Von dem hohen Verkehrsfluß auf den kurhessischen Straßen profitierte nicht nur die Staatskasse über Transitzölle und Wegegelder, vielmehr brachte der Durchgangsverkehr auch vielen Kaufleuten, Gastwirten, Fuhrleuten und anderen Personen eine nur schwer zu ersetzende Erwerbsmöglichkeit. Die Einnahmen aus dem Transitverkehr lagen um 1820 so hoch, daß sie meist ausreichten, ein entstandenes Handelsbilanzdefizit abzugleichen 174 . Angesichts der Bedeutung dieses Sektors mußte die kurhessische Regierung nicht nur durch kostspielige Bau- und Unterhaltungsmaßnahmen 1 7 5 , sondern auch durch die Schaffung entsprechender handelspolitischer Rahmenbedingungen für die Fortentwicklung des Transithandels sorgen, der von Anfang an im Zentrum zollpolitischer Aktivitäten stand. Zunächst räumte die Regierung in Kassel dem meist über die sogenannte Frankfurter Straße laufenden Nord-Süd-Verkehr eindeutige Priorität ein, zumal hier das Verkehrsvolumen in den zwanziger Jahren durch die Streitigkeiten in der Rheinschiffahrt und die hohen preußischen Durchgangszölle deutlich anstieg 176 . Gleichzeitig gewann aber seit der territorialen Neuordnung des Wiener Kongresses auch der Ost-West-Verkehr zunehmend an Bedeutung. Durch den Erwerb Fuldas erweiterte sich der kurhessische Anteil an der die beiden großen Messestädte Frankfurt und Leipzig verbindenen Straße erheblich 177 . Vor allem aber wurde Kurhessen nun zu einem wichtigen Faktor der Verkehrsgestaltung zwischen den östlichen und westlichen Provinzen Preußens, dessen Regierung aus wirtschaftlichen, aber auch aus militärischen Gründen nach einer schnellen und sicheren Verbindung zwischen beiden großen Gebietskomplexen strebte 178 und dabei die durch Kurhessen fuhrende Verbindung einem nördlichen, durch mehrere Staaten laufenden Straßenzug vorzog. Trotz wirtschaftlicher und fiskalischer Erfolgsaussichten stimmte die kurhessische Regierung 1817 den preußischen Vorschlägen erst nach langem Zögern und preußischen Umgehungsplänen zu 179 . Schon vor der Zollreform des Jahres 1818 waren also die preußischkurhessischen Wirtschaftsbeziehungen keineswegs frei von Spannungen; ihre Eskalation setzte jedoch erst ein, als jene schweren Belastungen spürbar wurden, die das preußische Zollgesetz für weite Teile der hessischen Wirtschaft brachte.

4. Die Anfänge der hessischen Wirtschaftspolitik nach 1815 Da dem Staatsaufbau in allen drei Staaten zunächst eine eindeutige Priorität eingeräumt wurde, hielten sich die wirtschaftspolitischen Aktivitäten der hessischen Regierungen nach 1815 noch in engen Grenzen. Es fehlte zwar,

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wie der Straßenbau, die hessen-darmstädtische Förderung Offenbachs, die frühen nassauischen Reformen oder die verschiedenen kurhessischen Ansätze zeigten 1 8 0 , keineswegs an einzelnen Bemühungen, u m Landwirtschaft, Gewerbe und Handel zu fordern und damit den Nationalwohlstand zu heben. Von einem zukunftsweisenden wirtschaftspolitischen Gesamtkonzept waren aber alle drei Regierungen noch sehr weit entfernt. Einerseits wollten die sozialökonomisch eher konservativen Staatsführungen angesichts der sich zuspitzenden Krisensituation und der fortgeschritteneren Entwicklung mancher Nachbarstaaten nicht mehr völlig an veralteten Strukturen festhalten. Andererseits waren sie sich aber weithin darin einig, daß auch künftig Landwirtschaft und Kleingewerbe die dominierende Rolle im Wirtschaftsleben spielen sollten und eine Industrialisierung nach englischem Vorbild wegen der drohenden sozialen und politischen Konsequenzen kein nachahmenswertes Beispiel darstellte 181 , eine Ansicht, die lange Zeit auch von den meisten hessischen Liberalen mit ihrem mittelständisch orientierten, vorindustriellen Gesellschaftsbild 1 8 2 nicht grundlegend bestritten wurde. Das Lavieren zwischen dem noch stark ausgeprägten Festhalten an den alten überschaubaren Ordnungsprinzipien einerseits und einer überaus vorsichtigen, meist mit großer Skepsis begonnenen Öffnung gegenüber modernen Tendenzen andererseits spiegelt sich bei den Agrarreformen ebenso wider wie bei der Gewerbe- und Zollpolitik. Überall begannen die hessischen Regierungen ihre Reformansätze nur sehr zögernd, oft betrieben sie diese Politik nur halbherzig, und der langsamen Öffnung folgten immer wieder längere Stagnationsphasen. Dieses Bild wird auch durch die in Nassau bereits 1819 eingeführte Gewerbefreiheit nur unwesentlich korrigiert, denn die herzogliche Wirtschaftspolitik blieb nicht weniger von industrialisierungsfeindlichen Elementen bestimmt als die der beiden anderen Staaten 1 8 3 . In Hessen-Darmstadt wurde die in Rheinhessen seit der französischen Herrschaft bestehende Gewerbefreiheit nur allmählich auf rechtsrheinische Gebiete ausgedehnt 1 8 4 . In Kurhessen ersetzte der zurückgekehrte Monarch in einem der ersten wirtschaftspolitischen Gesetze die im Königreich Westfalen eingeführte Gewerbefreiheit durch die alte, nur geringfügig den neuen Gegebenheiten angepaßte Zunftordnung. Diese vermochte freilich den ihr zugedachten Hauptzweck, die Existenzsicherung der zahllosen Zwergbetriebe, kaum zu erfüllen. Vielmehr verhinderte sie gemeinsam mit dem restriktiv gehandhabten, potentielle Investoren abschreckenden Konzessionswesen auf lange Zeit die Modernisierung der gewerblichen Wirtschaft, da die »Anpassungsmechanismen des Marktes weitgehend lahmgelegt«, veraltete Strukturen konserviert »und die Eigeninitiative der Produzenten im Keim erstickt« wurden 1 8 5 . Der aus wirtschaftsliberalen Beamten gebildete leitende Ausschuß des als Bindeglied zwischen Staat und Wirtschaft konzipierten kurhessischen Handels- und Gewerbevereins bemühte sich zwar seit 1821 eifrig um wirtschaftliche Fortschritte, doch die von hier ausgehenden 51

Anregungen blieben wegen fehlender finanzieller Mittel, der konservativen Ordnungsvorstellungen der Staatsführung und schließlich auch wegen der Immobilität der meisten Gewerbetreibenden in der Praxis ohne große Folgen 186 . Weitreichendere innere Maßnahmen zur Ankurbelung der einheimischen Wirtschaft waren vor 1830 insgesamt noch außerordentlich selten und standen deutlich hinter der seit 1815 immer mehr ins Zentrum wirtschaftspolitischer Aktivitäten rückenden Zoll- und Handelspolitik zurück. Auch in diesem Bereich begann das kleine Herzogtum Nassau als erster der drei Staaten mit umfassenden Reformmaßnahmen. Nach längeren Vorarbeiten hob die nassauische Regierung schon 1815 im Rahmen einer völligen Neuordnung des indirekten Abgabewesens alle noch bestehenden Binnenzölle auf und verzichtete gleichzeitig auf die Errichtung eines eigenen Grenzzollsystems. Flußzölle und Wegegelder bleiben allerdings von dieser Liberalisierung ausgenommen 1 8 7 . Diese konsequente Durchführung freihändlerischer Prinzipien war nicht nur auf die nationalökonomischen Anschauungen der nassauischen Reformer zurückzufuhren, die eine protektionistische Politik zugunsten einzelner Wirtschaftszweige ablehnten 188 , vielmehr entsprach der Freihandel zunächst auch ganz dem Eigeninteresse des Kleinstaates. Nassau konnte 1815 nicht daran interessiert sein, die vielfältigen Wirtschafts Verflechtungen mit den Nachbarstaaten durch ein eigenes Grenzzollsystem zu stören und eigene Regionen in ökonomische Schwierigkeiten zu bringen. Eine solche, von grundsätzlichen wie pragmatischen Erwägungen geleitete frühe Handelspolitik Nassaus mit ihrem Verzicht auf Zolleinnahmen war jedoch nur so lange möglich, wie es der finanzielle Spielraum zuließ, und sie erschien nur so lange folgerichtig, wie die Nachbarstaaten, vor allem Preußen, ihr Zollwesen noch nicht auf der Grundlage eines Grenzzollsystems geregelt hatten. Daher ließ das Reformedikt vom Dezember 1815 andere Wege bewußt offen, denn die Regierung behielt sich vor, »unter verfassungsmäßiger Mitwirkung Unserer Landstände angemessene Zollabgaben an Gränzorten des Landes in der Folge anzuordnen, wenn bestehende Einrichtungen und Anordnungen benachbarter Regierungen oder andere Umstände solches notwendig machen sollten« 189 . Zunächst fand die von der Regierung auch in den frühen handelspolitischen Debatten des Bundestages vertretene Freihandelspolitik sowohl in den Kammern als auch in der öffentlichen Meinung nach den negativen Erfahrungen der Kontinentalsperre noch eine breite Zustimmung. Doch in den folgenden Jahren mußte die Regierung mehr und mehr erkennen, »daß diese Grundsätze von einem kleinen Staat allein inmitten anders handelnder Nachbarn« nicht durchzuführen waren und »daß freier Handel und Verkehr möglichst weit ausgedehnt« werden mußten 1 9 0 . Dazu bedurfte es aber der Kooperation mit den umliegenden Staaten, bei der sich Nassau so überaus schwer tat, weil handels- und verkehrspolitische Vernunft oftmals mit dem 52

beharrlich verfolgten Hauptziel der nassauischen Politik, unitarische Tendenzen vom souveränen Herzogtum abzuwehren, nicht in Einklang zu bringen war. Schon vor 1818 focht Nassau in der Rheinschiffahrtspolitik heftige Fehden mit Hessen-Darmstadt und dem das Land von drei Seiten einschließenden Preußen aus, welche die folgende Zollpolitik maßgeblich beeinflußten. In der aus den Anliegerstaaten gebildeten Mainzer Rheinschifffahrtskommission unterstützte Nassau mit großem Eifer die holländischen und französischen Forderungen nach Aufhebung der noch bestehenden Stapelrechte und Schiffergilden. Dagegen verknüpfte Preußen, gedrängt vom Kölner Handel, die Beseitigung dieser Privilegien mit dem Verlangen nach freier Rheinschiffahrt bis ins Meer, welche Holland durch die im Mündungsgebiet erhobenen Seezölle verweigerte 191 . Hessen-Darmstadt Schloß sich im Interesse von Mainz dem preußischen Junktim an, womit sich zwischen beiden Staaten erste handelspolitische Gemeinsamkeiten anbahnten, die den späteren Zolleinigungsprozeß erleichterten 192 . Dagegen belastete die weniger an Hollands Wünschen als an den ureigensten nassauischen Interessen ausgerichtete Wiesbadener Rheinpolitik 193 nicht nur das Verhältnis zu Preußen, sondern auch die Beziehungen mit HessenDarmstadt. Die von Nassau und Frankfurt eifrig betriebene Umgehung des Mainzer Stapels führte zu heftigen, langandauernden Auseinandersetzungen mit dem hessen-darmstädtischen Nachbarn, die schließlich sogar den Bundestag beschäftigten und zollpolitische Verständigungsversuche der zwanziger Jahre erschwerten 194 . Angesichts der preußisch-nassauischen Streitigkeiten um die Rheinschiffahrt und des von der Wiesbadener Regierung 1818 begonnenen Kampfes gegen den im Lande begehrten preußischen Taler 1 9 5 überrascht es, daß gerade Nassau als erster der hessischen Staaten nach Einführung des preußischen Zollgesetzes einen zollpolitischen Verständigungsversuch mit Preußen unternahm. Wegen der großen Bedeutung, die der preußische Markt für Winzer, Töpfer, Viehzüchter, Wollweber, die Kaufleute im Grenzgebiet und andere nassauische Wirtschaftszweige besaß, wurde die Regierung schon bald nach 1818 mit einer Flut von Klagen über die erschwerten Absatzbedingungen überschüttet 196 . In einem ersten zusammenfassenden Bericht stellte die Landesregierung Ende 1818 fest, daß das preußische Zollgesetz voraussichtlich nicht nur für die an Preußen grenzenden Ämter, sondern für das gesamte Land bleibende Nachteile bringen könnte und daß im übrigen die Herstellung alternativer Handelsbeziehungen mit außerpreußischen Märkten äußerst schwer fallen dürfte 197 . Mit den Klagen über die preußischen Zölle verbanden sich bald Forderungen der betroffenen Wirtschaftszweige, zur Abwehr der schlimmsten Folgen eine rasche Verständigung mit Preußen zu suchen 198 . Der die teilweise ebenfalls aufkommenden Retorsionsforderungen als sinnlos ablehnende Staatsminister Marschall vertrat zwar noch im Januar 1819 vor der Herrenbank die

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Ansicht, daß v o m preußischen Zollgesetz trotz partiell auftretender Probleme insgesamt keine großen Nachteile für die nassauische Wirtschaft zu erwarten sein dürften, doch zugleich deutete er an, daß sich seine Regierung bereits um eine Verständigung mit Preußen bemühe, um die auf beiden Seiten aufgetretenen Klagen abzustellen 1 9 9 . In der Tat hatte Marschall schon seit August 1818 in diesen Fragen Kontakt mit dem in der Zollpolitik besonders regen preußischen Gesandten für Nassau, Hessen-Darmstadt und Baden, Freiherrn von Otterstedt, aufgenommen. O b w o h l Otterstedt unter Hinweis auf die seit dem preußischen Zollgesetz in Süd- und Südwestdeutschland gewachsene Mißstimmung gegen Preußen ein Eingehen auf das nassauische Angebot befürwortete 2 0 0 und selbst Außenminister Bernstorff aus bundespolitischen Erwägungen zunächst Gefallen an dem Projekt bekundete 2 0 1 , verwarf Berlin am Ende die Marschallschen Vorschläge. Denn der auf die Souveränität des Herzogtums bedachte Staatsminister lehnte einen nassauischen Beitritt zum preußischen Zollsystem strikt ab und wollte lediglich einen auf wechselseitiger Handelsfreiheit basierenden Vertrag abschließen. Er forderte damit als Gegenleistung für die nassauische Freihandelspolitik weitgehende Handelserleichterungen, ohne Preußen mehr anzubieten als ein System von Ursprungsbescheinigungen, durch das sichergestellt werden sollte, daß nur nassauische Waren die preußischen Zollbegünstigungen erhielten. Dies erschien vor allem dem am fiskalischen Erfolg des Zollsystems interessierten Berliner Finanzministerium als völlig unzureichendes Angebot. Denn der von Marschall angestrebte Zustand ließ befürchten, daß über das Einfallstor Nassau zahlreiche süddeutsche, französische, englische und andere Waren zollfrei nach Preußen eingehen und dort »der inländischen Fabrikation und der Staatskasse gleich teuer zu stehen k o m men würden« 2 0 2 . Andere Bedenken kamen hinzu. Während die Regierung Koblenz einen Vertrag mit Nassau unter Hinweis auf die für einzelne Grenzgebiete zu erlangenden Vorteile befürwortete, fand die Regierung Trier aus Rücksicht auf den Moselweinbau wenig Interesse an einem solchen Schritt 2 0 3 . Aus all diesen Gründen ließ Berlin den nassauischen Vorstoß schließlich ins Leere laufen und versuchte anders als bei der Enklaven- und späteren Zollvereinspolitik auch nicht, den kleinen Staat durch Druck oder Lockungen zu einem Vertrag nach preußischen Vorstellungen zu ermuntern. Auch dies spricht nicht gerade für die These, daß bereits 1818 ein großangelegtes nationales Programm die Richtlinien der preußischen Zollpolitik bestimmte. Das nassauische Streben nach einer direkten Regelung der zollpolitischen Streitfragen mit dem wichtigsten Handelspartner war ein durchaus richtiger Ansatz, doch »die Durchführung dieser Absicht blieb ein Versuch mit unbilligen und unzulänglichen Mitteln« 2 0 4 . Marschalls Strategie beruhte auf der völlig falschen Einschätzung, daß der fiskalische Erfolg des Zollgesetzes unbedeutend sei und die preußische Regierung im übrigen auch ange54

sichts der in den preußischen Grenzgebieten aufgekommenen Klagen 2 0 5 über das eigene Zollsystem eine Verständigung suchen müsse. Nach dem Scheitern des Kooperationsversuches kehrte der nassauische Staatsminister rasch wieder zum alten Konfrontationskurs gegen Preußen zurück. Hatte die nassauische Regierung das preußische Zollgesetz wenigstens erst einmal noch recht gelassen hingenommen, so schlug die Regierung in Kassel von Anfang an einen kämpferischen Oppositionskurs ein. Doch schon die komplizierte kurhessische Zollverfassung eignete sich nur wenig zu einer erfolgreichen Retorsionspolitik. In den beiden nördlichen Provinzen galt die aus dem Jahre 1784 stammende und am 31. März 1814 restaurierte »Accise- und Licent-Verfassung«, die von einem modernen Grenzzollsystem noch weit entfernt war 2 0 6 . Das 1815 an Kurhessen gefallene Großherzogtum Fulda erhielt noch im Jahre 1817 ein eigenes Zollsystem. U n d für Hanau, w o die Binnenzölle und der alte Isenburger Landzoll weiter erhoben wurden, galten wiederum besondere Bestimmungen. Während andere deutsche Staaten Grenzzollsysteme einführten und in ihrem Inneren einen freien Verkehr ermöglichten, bestanden innerhalb des kurhessischen Gesamtstaates somit verschiedene Zollsysteme mit einer noch verwirrenden Vielfalt an Zöllen, Ein- und Ausfuhrverboten und anderen verkehrshemmenden Abgaben fort, existierte also noch nicht einmal ein freier Binnenverkehr 2 0 7 . Die kurhessische Regierung nahm die preußische Zollreform nun nicht etwa zum Anlaß, das eigene Zollprovisorium neu zu organisieren, sondern in seiner Verärgerung über die negativen Folgen, die das preußische Zollgesetz für einzelne kurhessische Wirtschaftszweige brachte, schritt der Kurfürst rasch zu energischen Gegenmaßnahmen. Zunächst einmal wurde die Einfuhr preußischen Leders mit extrem hohen Abgaben belegt. Dann versuchte Kurhessen durch die Retorisonsmaßnahmen vom 1. November 1819, seine günstige Verkehrslage gegen das preußische Zollgesetz einzusetzen 2 0 8 . Für Preußen waren die neuen kurhessischen Retorisionszölle anfangs ein harter Schlag, da sie den Verkehr zwischen den östlichen und westlichen Provinzen Preußens empfindlich belasteten. Im Februar 1820 schrieb Finanzminister B ü l o w an Hardenberg: »Diese Sache ist zu einer Nationalangelegenheit für Preußen geworden, aber zu einer solchen, die keinen Aufschub leidet, wenn ich auch nur den Gesichtspunkt meines Ressorts bedachte, daß nämlich durch den völlig verhinderten Verkehr die Klagen derjenigen unserer Fabriken täglich dringender und stürmischer werden, deren Existenz von der Aufhebung des hessischen Zolls abhängt, daß ferner große Wegebauten zur Verbindung der Monarchie von Osten nach Westen durch Kurhessen geführt werden, deren Rätlichkeit jetzt allerdings sehr problematisch wird, da das Unzusammenhängende unserer geographischen Lage durch das Dulden fremder Willkür jede innere Verbindung unmöglich m a c h t . « 2 0 9

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Billow forderte Hardenberg und das Außenministerium mehrfach auf, in Kassel zu intervenieren oder aber geeignete Gegenmaßnahmen zu beschließen. Das Ausbleiben solcher Schritte lag nur zum Teil in dem Bestreben der preußischen Diplomatie, die kurhessische Regierung nicht in der Meinung zu bestärken, die Retorsionen würden Wirkung zeigen. Die preußische Zurückhaltung war vielmehr darauf zurückzuführen, daß, wie Bülow selbst zugestand, Preußen nur in beschränktem Maße über erfolgreiche Gegenmittel verfugte 2 1 0 . Doch auch ohne diese Gegenmaßnahmen trat die kurhessische Regierung in dem von ihr entfachten Zollkrieg bald von selbst den Rückzug an. Schon vor Inkrafttreten der Retorsionen hatte die Rentkammer des Fürstentums Hanau bei der Regierung mit Erfolg beantragt, Hanau von den neuen Bestimmungen auszunehmen. U m einen Prestigeverlust zu vermeiden, durfte der partielle Rücktritt von den Retorsionen offiziell nur den betreffenden Behörden, nicht aber der Öffentlichkeit bekanntgegeben werden. Kurze Zeit später wurden die Retorsionen unter dem gleichen Verfahren auch im Fuldaer Landesteil aufgehoben. Nachdem sie schließlich auch in Nordhessen auf wachsende Kritik stießen, die Importhindernisse für preußische Waren durch Schleichhandel zunehmend umgangen wurden und vor allem der Transitverkehr mehr und mehr Einbußen zu verzeichnen hatte, da der preußische Verkehr doch Umgehungsstraßen fand, hob die kurhessische Regierung am 12. 2. 1821 die Retorsionsmaßnahmen mit Ausnahme der Bestimmungen über preußisches Leder auf 211 . Die kurhessischen Retorisionsmaßnahmen hatten sich damit trotz gewisser Wirkungen in Preußen als ein großer Fehlschlag erwiesen, da sich der kleinere Staat letztlich selbst Schaden zufügte, ohne gegen das Grenzzollsystem des mächtigen Nachbarn etwas Entscheidendes ausrichten zu können 2 1 2 . Von allen drei hier behandelten Staaten reagierte das von den Folgen des preußischen Zollgesetzes nicht minder betroffene Hessen-Darmstadt zunächst mit der größten Zurückhaltung. Doch trotz des Ausbleibens spektakulärer Schritte entwickelte sich auch hier nach 1818 die Zollpolitik immer mehr zum bevorzugten Feld der Wirtschaftspolitik. Hatte die hessen-darmstädtische Regierung 1816 noch versucht, das Wollgewerbe durch ein Einfuhrverbot für grobe Tuche zu schützen 213 , und hatte sie 1817 vor dem Bundestag zumindest für Notzeiten das Prinzip einzelstaatlicher Zollpolitik verteidigt 214 , so mußte sie seit dem preußischen Zollgesetz nach umfassenderen Konzepten suchen. Von nun an wurden aus den verschiedenen Landesteilen immer stärker Forderungen nach Beseitigung der Handelssperren vorgebracht. Der rheinhessische Publizist Boost beklagte die in den vor 1814/15 noch vereinten Rheinlanden entstandenen Zollgrenzen 215 . Der hessen-darmstädtische Demokrat Wilhelm Schulz bezog die tiefgehende Unzufriedenheit über die »Mauten« in sein 1819 erschienenes »Fragund Antwortbüchlein« ein. In der im volkstümlichen Ton geschriebenen 56

Agitationsschrift hieß es zu Handel und Wandel: »Da muß immer viel Zoll und Maut bezahlt werden, wenn etwas aus einem Ländlein ins andere soll, und drei Stunden von hier gilt wieder anderes Geld und wird mit anderem Maße gemessen.« 216 Die Kleinräumigkeit der hessischen Staaten weit ließ die Klagen über die hemmenden Zollschranken sehr viel rascher aufkommen als in großflächigeren Staaten. Du Thil hob 1820 gegenüber dem badischen Minister Berstett hervor, »daß die Handelsstadt Mainz die Maut wie die Pest fürchtet und von der übrigen Bevölkerung 96% ihr höchst abhold sind«, ihm also die öffentliche Meinung noch ganz andere Dinge zurufe als anderen Regierungen 217 . Auch an den in Oberhessen und Starkenburg noch bestehenden Binnenzöllen wurde zunehmend Kritik geübt 218 . Die Regierung war damit aufgefordert, im Inneren noch bestehende Handelsschranken aufzuheben und darüber hinaus die Bildung größerer Wirtschaftsräume in Angriff zu nehmen. In einem oberhessischen Bürgermeisterbericht aus dem Jahre 1819, der sich mit den Folgen der deutschen »Mautanstalten« befaßte, hieß es bereits: »Die Abschließung von Handelsverträgen mit den betreffenden Nachbarstaaten würde meines unmaßgeblichen Dafürhaltens in dießer Hinsicht als ein zweckdienliches Mittel erscheinen und gewiß, besonders was Preußen betrifft, von günstigem Erfolg begleitet seyn. « 219 Schon um 1820 nahmen dabei vor allem in HessenDarmstadt jene Stimmen zu, die in der Kleinstaaterei ein entscheidendes Hindernis fur eine wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung sahen 220 . Hinzu kam, daß auch die schlechte Finanzlage in Hessen-Darmstadt eine Neuordnung des indirekten Abgabenwesens dringend geboten erscheinen ließ. Es war daher kein Zufall, wenn gerade die Regierung dieses Staates in der nächsten Phase der deutschen Zoll- und Handelspolitik von allen drei untersuchten Ländern die weitaus aktivste Rolle spielte.

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II. Die hessischen Staaten und die Gründung des Deutschen Zollvereins 1. Die Versuche regionaler Zollvereinsbildungen in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre Fraglos bildete das preußische Zollgesetz von 1818 jenen Kristallisationskern, der den Formierungsprozeß des Zollvereins wesentlich vorantrieb und prägte. Dennoch ging die Dynamik des ökonomischen Einigungsprozesses der zwanziger und dreißiger Jahre nicht allein auf jenes, anfangs keineswegs mit nationalen Implikationen versehene, sondern aus innerpreußischen Sachzwängen entstandene Zollgesetz zurück. Obwohl die von den Mittel- und Kleinstaaten unternommenen Zollunionsversuche ihre entscheidenden Anstöße eher von den Folgen des preußischen Zollgesetzes als von den frühen Zollreformen der süddeutschen Staaten erhielten, stellten sie doch eine eigene Entwicklungslinie dar, die den zollpolitischen Einigungsprozeß maßgeblich beeinflußte und ihn vor allem in eine streng föderalistische Richtung drängte. Über den hessischen Raum fanden dann beide Entwicklungsstränge zueinander. Denn die Politik der hessischen Regierungen trug entscheidend dazu bei, daß Preußen seine zollpolitische Expansion nicht auf den nähergelegenen nord- und mitteldeutschen Raum beschränkte, sondern seit Ende der zwanziger Jahre auch die Verbindung mit Süddeutschland suchte. Die durch das preußische Zollgesetz hervorgerufene Intensivierung der zollpolitischen Debatte fand schließlich auch innerhalb der öffentlichen Meinung recht früh einen nachhaltigen Niederschlag. Die zahlreichen Kammerdebatten, Petitionskampagnen und publizistischen Kämpfe mit all ihren widersprüchlichen, regional und sektoral begrenzten, den Prozeß der deutschen Zolleinigung letztlich aber dennoch forcierenden Beweggründen waren zwar nicht allein auf das ausgiebig bekannte Wirken Friedrich Lists zurückzufuhren, aber sie erhielten von dort zweifellos wichtige Impulse. Der während der Frankfurter Frühjahrsmesse von 1819 unter maßgeblicher Regie von Friedrich List gegründete und auch Teile des hessischen Wirtschaftsbürgertums umfassende »Deutsche Handels- und Gewerbeverein« verlangte in seiner im April 1819 am Bundestag eingereichten Petition, »daß die Zölle und Mauten im Inneren Deutschlands aufgehoben, dagegen aber ein auf dem Grundsatz der Retorsion beruhendes Zollsystem gegen fremde Nationen aufgestellt werden möchte, bis auch sie den Grundsatz der europäischen Handelsfreiheit anerkennen« 1 . 58

Auch wenn der Bundestag unter dem Druck Metternichs dieser ersten organisierten Interessenvertretung des noch schwachen deutschen Wirtschaftsbürgertums aus Furcht vor politischen Konsequenzen eine formelle Anerkennung versagte und die Debatte über das vorgelegte handelspolitische Programm ablehnte, entwickelte sich der neue Verein vorübergehend zu einem beachtlichen Faktor in der deutschen Handelspolitik. Denn angesichts der schlechten Wirtschaftslage und des öffentlichen Unmuts über die Zollschranken fanden seine Forderungen bei einigen süd- und mitteldeutschen Regierungen weit mehr Beachtung als bei den beiden Hegemonialmächten des Deutschen Bundes 2 . Unter Führung Badens, wo Bürokratie und Landtag schon 1819 auf die Herstellung der deutschen Wirtschaftseinheit drängten 3 , setzte die kleinund mittelstaatliche Front schließlich durch, daß die Zoll- und Schiffahrtsfragen auf den im November 1819 beginnenden Wiener Konferenzen über die Ausgestaltung der Bundesakte in einem besonderen Ausschuß behandelt werden sollten 4 . Obwohl der nassauische Staatsminister Marschall selbst gar nicht in diesem handelspolitischen Ausschuß vertreten war, bemühte er sich von allen hessischen Vertretern zunächst am stärksten, die handelspolitischen Beratungen in seinem Sinne zu beeinflussen und eine Konzeption durchzusetzen, in der sich antipreußische Handelspolitik und Furcht vor revolutionären Umwälzungen in einem geradezu grotesken Maße verknüpften. D a das von der »liberalen Partei« geschaffene preußische Zollgesetz durch seine Auswirkungen nicht allein den inneren Frieden der Nachbarstaaten, sondern, wie der Streit zwischen Preußen und AnhaltKöthen zeigte, auch die Souveränität der kleineren Nachbarstaaten und damit geheiligte Prinzipien des Deutschen Bundes gefährdete, forderte der voll auf den Metternichschen Kurs eingeschwenkte Marschall in einer ersten großen Denkschrift zunächst einmal die besonnenen konservativen Kräfte der preußischen Bürokratie auf, die errichteten Zollschranken zumindest gegenüber den deutschen Nachbarstaaten wieder aufzuheben und damit zur innenpolitischen Stabilität Mitteleuropas beizutragen 5 . Marschall, der auch jetzt die finanzpolitische Bedeutung des preußischen Zollgesetzes noch nicht erfaßt hatte, bezweifelte offenbar selbst die Wirksamkeit dieses Appells an die konservative Solidarität. Denn das in seiner zweiten Denkschrift »Über die Vollziehung des Artikels 19 der Bundesakte« vorgelegte handelspolitische Programm enthielt eine prononciert antipreußische Stoßrichtung und versuchte, das preußische Zollsystem v o m Standpunkt des Bundesrechtes anzugreifen. Das ganz aus den handels- und finanzpolitischen Interessenlagen des Kleinstaates entwickelte Konzept, das allen seit dem 1. Januar 1814 innerhalb des Deutschen Bundes errichteten Zollschranken ein Existenzrecht absprach und neue Zölle nur gegen ausländische Staaten erlaubte, war handels- und finanzpolitisch eine Farce 6 . Es rief nicht nur beim preußischen Außenminister Bemstorff empfindliche Reaktionen hervor, vielmehr kritisierte auch der bundesstaat59

liehe Regelungen durchaus bejahende hessen-darmstädtische Vertreter du Thil die untauglichen Vorstöße seines nassauischen Kollegen, insbesondere jene grundfalsche These, »daß die Grundsätze des alten deutschen Staatsrechtes über Zölle noch fortbestünden, d.h. daß seit dem Jahre 1815 keine Neuen hätten angelegt werden dürfen, wonach denn die Preußischen Mauthen wegfallen, die österreichischen bestehen bleiben, weil jene jünger, diese älter als die Bundesakte sind« 7 . Am Ende brachte auch Wien keine Lösung der handelspolitischen Streitfragen. Der am 4. März 1820 vorgelegte Ausschußbericht verwies die Angelegenheit erneut an den bis dahin wegen des einzelstaatlichen Vetorechts stets erfolglos taktierenden Bundestag. Damit war zunächst einmal die Phase jener großen Hoffnungen auf bundeseinheitliche Regelungen der Zoll- und Handelsfragen, wie sie Artikel 19 angedeutet hatte, zu Ende 8 . Der neue Anlauf scheiterte vor allem an den beiden Hegemonialmächten des Bundes, die nicht bereit waren, ihre eigenen Zollsysteme aufzugeben oder erheblich zu modifizieren. Preußen hielt unbeirrt am eingeschlagenen Weg fest. Österreich erwies sich aus innenpolitischen Gründen als unfähig, sein Prohibitivsystem zu reformieren, und traf damit eine für die handelspolitische Entwicklung Deutschlands folgenreiche Vorentscheidung 9 . In dieser Situation gewann nun der zuvor bereits in der bayerischen und württembergischen Bürokratie diskutierte und dann auch vom Listschen Verein unterstützte Gedanke eines separaten Zollbündnisses süd- und mitteldeutscher Staaten neuen Auftrieb 10 . Bei den in Wien beginnenden Bemühungen um die Realisierung dieser kleinen Lösung spielte neben dem badischen Vertreter Berstett auch du Thil eine wesentliche Rolle 11 . Die während der ersten Sondierungen von Bayern und Württemberg vertretenen protektionistischen Tarifvorstellungen stießen bei dem hessen-darmstädtischen Bevollmächtigten zunächst auf strikte Ablehnung. Nach seiner Ansicht konnte ein Staat wie Hessen-Darmstadt, dessen Bevölkerung überwiegend von einer exportorientierten Landwirtschaft lebte und der eine Handelsstadt wie Mainz besaß, nicht daran interessiert sein, den billigen ausländischen Fabrikaten den Zugang zu versperren und die Waren einer nur durch Protektionismus möglichen Eigenproduktion teuer zu bezahlen 12 . Schon hier zeigte sich jene Dominanz der Handels- und Agrarinteressen, die der hessen-darmstädtischen Zollpolitik bald eine völlig andere Richtung weisen sollte. Du Thils freihändlerische, zunächst jegliche Außenzölle ablehende Konzeption stieß zwar anfangs bei den Vertretern Nassaus und Badens noch auf Sympathie, doch diese trotz der gemeinsamen Absichtserklärung vom Februar 1820 ohnehin brüchige Phalanx der freihändlerischen Rheinstaaten vermochte sich am Ende gegen die aus ökonomischen und fiskalischen Gründen auf Außenzöllen beharrenden süddeutschen Königreiche nicht durchzusetzen. Die am 19. Mai 1820 nach langen Verhandlungen von den Vertretern Bayerns, Württembergs, Badens, Hessen-Darmstadts, Nassaus 60

und thüringischer Staaten unterzeichnete, noch keine bindenden Verpflichtungen enthaltende Wiener Punktation ging daher davon aus, daß innerhalb des zu bildenden Zollvereins alle Binnenzölle aufgehoben, nach außen aber einheitliche, den finanziellen und wirtschaftlichen Bedürfnissen der Mitgliedsstaaten entsprechende Grenzzölle eingeführt werden sollten. Ferner wurde vorgeschlagen, die Wege- und Wassergelder zu vereinheitlichen, eine gemeinsame Zollverwaltung zu errichten und die Einnahmen nach Größe und Bevölkerungszahl der einzelnen Staaten zu verteilen 13 . Trotz der Bejahung angemessener Grenzzölle hatten sich sowohl Nassau als auch Hessen-Darmstadt letztlich der Punktation angeschlossen, weil sie zu Recht darauf hofften, mit diesem Teilerfolg den in der Bevölkerung wachsenden U n m u t über die deutschen Zollschranken etwas zu dämpfen 1 4 . Welch große Erwartungen nicht zuletzt die Kammern auf einen erfolgreichen Abschluß der als Vorstufe zur deutschen Handelseinheit angesehenen klein- und mittelstaatlichen Bemühungen setzten, zeigte sich bei der im April 1821 der hessen-darmstädtischen Regierung mit großer Mehrheit erteilten Ermächtigung, im Falle eines Vertragsabschlusses mit anderen Staaten die notwendigen Änderungen im Zollwesen ohne vorherige Einberufung der Kammern eintreten zu lassen 15 . Darüber hinaus einigten sich Regierung und Kammern auch darauf, die anstehende Reform des eigenen Zollwesens im Hinblick auf die mit den anderen Staaten begonnenen Verhandlungen vorerst aufzuschieben 16 . Hatte schon das Wiener Dokument die handelspolitischen Richtungen nur durch einen mühsam zustandegekommenen und keine präjudizierenden Bindungen enthaltenden Kompromiß überdecken können, so bestimmten die unterschiedlichen wirtschaftlichen, fiskalischen und politischen Interessen auch von Anfang an den Verlauf der im September 1820 beginnenden Darmstädter Verhandlungen über die Ausgestaltung der Wiener Punktation. Zunächst freilich erwiesen sich die wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten sowie der über Petitionen und Kammerdebatten intensivierte Druck der öffentlichen Meinung noch als stark genug, um die eingeschlagenen Bemühungen in Gang zu halten 17 . Die hessen-darmstädtische Regierung, die im Unterschied zu Metternich und den Wiener Restaurationstheoretikern die neuen handelspolitischen Bemühungen nicht als gefährliches, sondern geradezu als stabilisierendes Element bewertete und auch in den meisten Mitgliedern des Listschen Vereins keine Bündnispartner republikanischer Geheimbünde sah 18 , ging mit einer erneuten Bekräftigung der alten, extrem freihändlerischen Grundsatzposition in die Verhandlungen. Aus Rücksicht auf die im Lande und in der zweiten Kammer noch große Resonanz freihändlerischer Parolen, welche vor allem die Mainzer Großhändler unter Führung Kertells dem protektionistischen Kurs des auch in Hessen aktiven Handels- und Gewerbevereins entgegenstellten 19 , betonte Hessen-Darmstadt in seiner Note vom 9. September 1820, daß das künftige gemeinschaftliche Zollsy61

stem »nicht von einem Prohibitiv- oder dem sogenannten MercantilSystem ausgehen« dürfe. Doch die gleichzeitig bekräftigte Bereitschaft zur Mitwirkung an allem, »was das gemeinschaftliche Beste fördern kann«, deutete bereits auf eine flexiblere Verhandlungstaktik hin 20 . Angesichts der äußerst ungünstigen Finanzlage und der vom ersten Landtag geforderten Reduktion der direkten Steuern fiel die zollpolitische Kursänderung zugunsten eines gemäßigten Grenzzollsystems nicht mehr allzu schwer. Der 1821 zum Außen- und Finanzminister aufrückende du Thil wies schon kurz nach Beginn der Darmstädter Verhandlungen darauf hin, daß ein Zollverein zwischen den Signatarstaaten der Wiener Punktation nicht nur für die einheimische Wirtschaft, sondern auch für die dringend gebotene Konsolidierung der Staatsfinanzen überaus förderlich sein werde, während ein Scheitern des Versuchs eine gefährliche innenpolitische Situation heraufbeschwören könnte 2 1 . Arbeitete die hessen-darmstädtische Regierung damit zunächst aus wirtschaftlichen, dann aber immer mehr auch aus fiskalischen Erwägungen zielstrebig auf ein brauchbares Endergebnis hin, so stand Nassau den Darmstädter Verhandlungen aufgrund politischer wie wirtschaftlicher Bedenken bald immer skeptischer gegenüber. Wegen der starken N o r d orientierung nassauischer Wirtschaftszweige hätte ein Zollverein mit den süddeutschen Staaten nur einem Teil der Wirtschaft Vorteile gebracht. Zudem barg die von Teilen der süddeutschen Bürokratie mit der Zollpolitik verknüpfte, gegen die österreichische und preußische Hegemonie gerichtete Triasidee 22 nach Marschalls Ansicht fur die nassauische Souveränität sowie die Aufrechterhaltung des monarchischen Prinzips große Gefahren, eine Befürchtung, die durch die enge Kooperation des württembergischen Bundestagsgesandten von Wangenheim mit Friedrich List nur noch bestärkt wurde. Kam aber ein süd- und mitteldeutscher Zollverein ohne nassauische Beteiligung zustande, so hätte das kleine Land eingekeilt zwischen zwei großen Wirtschaftsblöcken gelegen, wodurch sich seine wirtschaftliche Lage weiter verschlimmern mußte. Was schien also in dieser Situation angebrachter als die vom nassauischen Vertreter bei den Darmstädter Verhandlungen, dem Präsidenten der Generaldomänendirektion von Mülmann, verfolgte Taktik, die projektierte gemeinsame Zollunionslösung durch eine Obstruktions- und Intrigenpolitik zum Scheitern zu bringen 23 . Auch die kurhessische Staatsführung, die den Partikularverein anfangs noch abgelehnt und statt dessen ein gemeinsames, protektionistisches Bundeszollsystem propagiert hatte, erwies sich im Verlaufe der Darmstädter Verhandlungen keineswegs als Stütze jener Kräfte, die unter Inkaufnahme von Kompromissen auf einen erfolgreichen Abschluß zusteuerten. Gedrängt von einzelnen Signatarstaaten und Teilen des einheimischen Wirtschaftsbürgertums Schloß sich der Monarch des geographisch so wichtigen Staates der Wiener Punktation erst an, nachdem der Bundestagsge62

sandte von Lepel und die Oberrentkammer seine großen Sorgen um wirtschaftliche Nachteile und fiskalische Einbußen zurückgewiesen hatten. Lepel versicherte, daß die Darmstädter Bemühungen darauf gerichtet seien, »möglichst Handelsfreiheit mit der notwendigen finanziellen Rücksicht in Einklang zu bringen, da keiner der vereinten Staaten im Stande ist, den Ausfall an indirekten Abgaben zu ertragen oder solche auf das ohnehin schon stark besteuerte Grundeigentum zu werfen« 2 4 . Eine Veränderung der kurhessischen Finanzverhältnisse mußte nach Ansicht des Kurfürsten um jeden Preis vermieden werden, um die aufgeschobene Verfassungsfrage nicht wieder auf den Tisch zu bringen. Daher stand zunächst vor allem die Sorge u m die »landesherrlichen Cassen« neben der Souveränitätssicherung im Mittelpunkt der kurhessischen Zollpolitik 2 5 . So verlangte Kurhessen beispielsweise von den Darmstädter Verhandlungspartnern, daß der höhere kurhessische Konsum ausländischer Weine bei der Verteilung der Zolleinnahmen zu berücksichtigen sei. V o r allem aber forderte das wichtigste Transitland, bei den Durchgangszöllen des zu gründenden Vereins lediglich ein M a x i m u m festzulegen, die Einnahmen dann aber ganz den einzelstaatlichen Kassen zu überlassen 2 6 . Solche engstirnigen partikularistischen Forderungen vertieften die ohnehin großen, selbst innerhalb einzelstaatlicher Regierungen aufbrechenden Interessengegensätze und rückten die Aussichten auf einen erfolgreichen Abschluß der Darmstädter Verhandlungen in weite Ferne. Schon über den von allen hessischen Regierungen weitgehend unterstützten Antrag B a y erns, zunächst einmal den Handel mit Lebensmitteln untereinander von allen Abgaben zu befreien, konnte keine Einigung erzielt werden 2 7 . Noch größere Komplikationen ergaben sich bei der Realisierung jenes umfassenden Vertragsentwurfes, den der badische Bevollmächtigte Nebenius im November 1820 vorlegte und im Mai 1821 durch einen gemäßigten Tarifentwurf ergänzte. Dieser E n t w u r f sah die Errichtung eines gemeinschaftlich verwalteten Grenzzollsystems vor und bildete die Grundlage der weiteren Verhandlungen, in denen nun überaus hart um die Höhe der Zollsätze, die Verteilung der Einnahmen, die Art der gemeinsamen Verwaltung und die Regelung der Entscheidungsprozesse gerungen wurde 2 8 . Während Kurhessen, vor allem aber Nassau gegenüber dem NebeniusPlan hinhaltend taktierten und im Grunde eine durch vorsichtige Formulierungen kaschierte Ablehnungspolitik betrieben 2 9 , fand das stets kompromißbereite Hessen-Darmstadt trotz einiger Einwände, darunter der Wunsch nach Verankerung des Einstimmigkeitsprinzips bei allen grundlegenden Entscheidungen, insgesamt Gefallen an dem Entwurf. Dies galt auch für die badischen Tarifvorschläge. Du Thil bekannte sich jetzt immerhin zu dem Grundsatz, selbst solche »Fabrikbedürfnisse, welche nicht in hinreichender Menge und Güte in dem Gebiet des Vereins hervorgebracht werden, mit einiger Abgabe zu belegen, um die inländische Fabrikation derselben zu befördern« 3 0 . Die Kurskorrektur beruhte allerdings nicht nur

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auf wirtschaftlichen Überlegungen und nicht allein auf der Einsicht, ohne solche Zugeständnisse dem Verhandlungserfolg nicht näher zu kommen, vielmehr war sie vor allem auch auf fiskalische Überlegungen zurückzuführen. So schlug du Thil schließlich sogar vor, die rein fiskalisch motivierten Kolonialwarenzölle über den von Nebenius vorgeschlagenen Satz von 2 fl. pro Zentner hinaus auf 5 fl. festzusetzen 31 . Überhaupt entwickelten sich die fiskalischen Fragen während der Darmstädter Verhandlungen zu einem der zentralen Aspekte. Die von den am Rande des Handelskongresses tätigen und um Einflußnahme ringenden Vertretern des Handels- und Gewerbevereins 3 2 ausführlich belegte These, »daß durch eine gemeinschaftliche Douanenlinie nicht nur Ausfälle, welche durch Aufhebung der einzelnen Mauthlinien entstehen, gedeckt werden können, sondern daß auch außerdem noch ein nicht unbeträchtlicher Überschuß sich ergeben wird« 3 3 , stieß nicht nur bei der Regierung des finanzschwachen Hessen-Darmstadt auf reges Interesse. Denn in den konstitutionellen Staaten konnte die aufgrund der niedrigeren Verwaltungskosten vorausgesagte drei- bis vierfache Steigerung der Zolleinnahmen zur Zähmung der lästigen Kammern beitragen, und in nichtkonstitutionellen Staaten stärkte sie die Abwehrposition des Monarchen gegenüber aufkommenden Verfassungsforderungen 3 4 . Trotz dieses gemeinsamen Interesses an innenpolitischer Stabilität, trotz des badisch-hessen-darmstädtischen Entgegenkommens gegenüber den protektionistischeren Tarifvorstellungen Bayerns, Württembergs und Kurhessens und trotz aller Vermittlungsvorschläge des Handels- und Gewerbevereins 3 5 waren schon die tarifpolitischen Gegensätze der Verhandlungspartner kaum zu überbrücken. Selbst als infolge der neuen französischen Zollgesetzgebung v o m April 1822, die insbesondere die süddeutsche Landwirtschaft schwer belastete, die Verhandlungen einen neuen Auftrieb erhielten, kam es nicht zu den geforderten gemeinsamen Retorsionen. Vielmehr setzten Bayern, Württemberg und Baden jetzt im Alleingang drastische Zollerhöhungen durch, die sich nicht allein gegen Frankreich, sondern gegen alle Staaten, mithin auch gegen die Verhandlungspartner richteten, was die tiefgreifenden Gegensätze in Darmstadt nur noch verschärfte 3 6 . Auch die von Bayern nach Ablehnung des Nebenius-Planes im Jahre 1822 vorgelegten Gegenvorschläge brachten die Verhandlungen nicht weiter, zumal der Streit u m Zölle und Zollerhebung jetzt immer mehr von politischen Fragen überlagert wurde. In der von Bayern vorgeschlagenen, nach der Majorität entscheidenden zentralen Vereinsinstanz sollten die beiden süddeutschen Königreiche eine Stimmenmehrheit erhalten. Doch die kleineren Staaten, darunter auch die hessischen, waren keineswegs bereit, die Zollgesetzgebung im neuen Verein in die Hände zweier Staaten zu legen, »deren Handelsinteresse ohnedies viel Übereinstimmendes« besaß 3 7 . Kurhessen zog schließlich sogar seinen von der Triaspolitik allzu sehr beeinflußten und gegenüber dem bayerischen Hegemonialstreben zu 64

nachgiebigen Bevollmächtigten Lepel von den Verhandlungen zurück 38 . Überhaupt trug der oft quer durch die beteiligten Regierungen verlaufende Streit um die Triaspolitik, die 1823 durch die österreichisch-preußische Epuration des Bundestages ihrer wichtigsten Stützen beraubt wurde, in hohem Maße zum Scheitern der Darmstädter Verhandlungen bei 39 . Diese gerieten zwar Anfang 1823 durch württembergische Vermittlungsvorschläge nochmals in Bewegung, doch nach den neuerlichen fruchtlosen Debatten beendete das bisher so kompromißbereite HessenDarmstadt seine Mitarbeit. Maßgebend für diesen Schritt waren weniger französische, österreichische oder preußische Einflußnahmen 40 , vielmehr beruhte er primär auf innenpolitischen Erwägungen. In der auf die großen eigenen Bemühungen verweisenden Zirkularnote an die anderen Konferenzteilnehmer betonte die hessen-darmstädtische Regierung, daß sie angesichts der sich verschlimmernden Wirtschaftslage und des bevorstehenden Landtages nicht mehr auf einen in absehbarer Zeit kaum zu erhoffenden Verhandlungserfolg warten könnte, sondern jetzt zunächst ihre alte Zollverfassung auf einen modernen Stand bringen wolle, um dann auf dieser Basis neue Verhandlungen in Angriff zu nehmen 4 1 . Hessen-Darmstadt liquidierte damit die Zollvereinsverhandlungen, die durch die weitreichenden Interessengegensätze der Beteiligten einerseits sowie mangelnde K o m promißfähigkeit andererseits kaum noch Erfolgschancen besaßen, die aber trotz ihres auf politische und ökonomische Faktoren zurückzuführenden Fehlschlags 42 eine durchaus wichtige Etappe auf dem Weg zur deutschen Zolleinheit waren. Denn sie suchten nach neuen Lösungsmöglichkeiten und forderten die Entwicklung des Zollunionsgedankens in Deutschland. Vor allem aber - und das war durchaus ein Verdienst der souveränitätsbewußten Staaten wie Nassau - wiesen sie daraufhin, daß künftige Zollvereine nicht auf der Basis voreiliger Verschmelzungsprozesse, Majoritätsstrukturen und gemeinschaftlicher Verwaltung, sondern nur unter Beachtung streng föderalistischer Prinzipien zu erreichen waren 43 . Die Darmstädter Verhandlungen stellten somit einen Läuterungsprozeß dar, der die verschiedenen Interessen abklärte und dabei auch neue Wege aufzeigte. Inwieweit die Bemühungen um einen separaten Zollverein deutscher Mittel- und Kleinstaaten aber auch bewiesen, daß ein größerer Zollverein ohne die ordnende Hand einer Hegemonialmacht nicht zu realisieren war 4 4 , läßt sich nur schwer beurteilen; die sicherlich überzogene These Treitschkes ist freilich angesichts der immer wieder gescheiterten Versuche einer einheitlichen mittelstaatlichen Handelspolitik nicht völlig von der Hand zu weisen 45 . So brachten auch die während der Darmstädter Verhandlungen unternommenen Bemühungen um die Bildung eines kleineren Zollvereins hessischer Staaten keinen Erfolg. Du Thil hatte diesen, ursprünglich vom nassauischen Vertreter Mülmann ventilierten Plan 46 im Mai 1822 aufgegriffen, um wenigstens über diese kleine Lösung die finanzielle und ökonomische Krise zu mildern. Er schrieb im Oktober 1822 an das kurhessische 65

Außenministerium zu den Folgen eines solchen Vereins: »Unverkennbar würden auf diese Weise die Kosten der Anstalt für jeden der drei Staaten um mehr als die Hälfte vermindert, und den Bewohnern der wechselseitigen Grenzen eine unschätzbare Einrichtung« gewährt werden 47 . Obwohl du Thil zugleich auf die möglichen Impulse fur größere zollpolitische Zusammenschlüsse hinwies, lehnten die angesprochenen Partner den Plan am Ende alle strikt ab. Das von du Thil ebenfalls eingeladene Baden verschloß sich von Anfang an der neuen Anregung. Die nassauische Regierung ließ zwar ihren Bevollmächtigten zeitweise in der Frage des hessischen Zollvereins gewähren, doch in der Staatsführung fehlte jegliches Interesse am Erfolg dieser Initiative, die nach Marschalls Meinung allenfalls als Störmanöver gegen die Verhandlungen um den großen Zollverein benutzt werden konnten 4 8 . Kurhessen hatte sich zwar anfangs gegenüber dem hessen-darmstädtischen Staatsrat Hofmann bereit erklärt, im Falle eines fortgesetzten bayerischen Beharrens auf egoistischen Standpunkten den kleineren Zollverein anzustreben, um die süddeutschen Königreiche unter Druck zu setzen 49 , doch auch die Kasseler Regierung zog sich rasch wieder zurück. Sie fürchtete wirtschaftliche Nachteile bayerischer, preußischer und hannoverscher Gegenmaßnahmen und machte erneut fiskalische Bedenken geltend 50 . Für Hessen-Darmstadt bedeutete das Scheitern der kleineren hessischen Zollunionslösung einen weiteren schweren Schlag, da es wie kein anderer Staat um einen greifbaren Erfolg rang. Du Thil schrieb im September 1822: »Die Lage, in welcher sich das Großherzogthum Hessen in Beziehung auf Handel und Industrie befindet, wird von Tag zu Tag bedenklicher und schwieriger.« 51 In Anbetracht der bisherigen zollpolitischen Mißerfolge und angesichts des wirtschaftlichen, fiskalischen und innenpolitischen Drucks - dem Landtag war für 1823 eine Reform des Zollwesens zugesagt worden - begann die hessen-darmstädtische Regierung nun noch während der Darmstädter Verhandlungen mit der Ausarbeitung eines eigenen Grenzzollsystems und beteiligte sich damit an der Eskalation der gegenseitigen Abgrenzung. Diese hatte bereits 1822 auch den hessischen Raum erfaßt, als ausgerechnet um das bisher orthodox-freihändlerisch aufgetretene Nassau eine neue Zollgrenze gezogen worden war.

2. Einzelstaatliche Reformen des Zollwesens im hessischen Raum und ihre Folgen Die Nachahmung der in großflächigen Staaten durchgeführten Zollreformen durch die hessischen Regierungen hat den weiteren Verlauf der deutschen Zolleinigung vor allem durch den völligen Mißerfolg in Hessen66

Darmstadt und den Teilerfolg im Herzogtum Nassau in hohem Maße beeinflußt. In Nassau überließ der geschickt taktierende Marschall die zollpolitische Initiative der zweiten Kammer, die sich 1822 den im Lande wachsenden Schutzzollforderungen beugte und aus Gründen der »Selbsterhaltung und Selbstverteidigung« gegen das Ausland das vollziehen wollte, »was dieses schon lange, zu unserem empfindlichen Nachteile, gegen uns geübt hat« 1 . Während aber die Kammer die Brücken zu den Staaten der Wiener Punktation keineswegs abbrechen wollte, sah Marschall im neuen Grenzzollsystem umgekehrt die Chance, die Darmstädter Verhandlungspartner weiter zu verunsichern. Das Hauptmotiv der Regierung lag freilich auf dem fiskalischen Sektor. Die neuen Einnahmen sollten das entstandene Defizit der Landessteuerkasse ausgleichen und darüber hinaus noch die Senkung der angesichts der schlechten Wirtschaftslage sehr harten direkten Steuern ermöglichen 2 . Nachdem neben der zweiten Kammer auch die weitaus skeptischere Herrenbank dem neuen Grenzzollsystem zugestimmt hatte 3 , setzte die mit weitreichenden Vollmachten ausgestattete Regierung am 15. September 1822 das neue Gesetz in Kraft. Folgt man der Einleitung des Ediktes vom 30. August 1822, so war es die Absicht des Zollgesetzes, »den Landbau in Unserem Herzogthum und die mit demselben in Verbindung stehenden steuerbaren Gewerbe zu begünstigen, zugleich aber auch die Grund- und Gewerbesteuerpflichtigen durch einige Vermehrung der indirekten Auflagen in der Besteuerung zu erleichtern« 4 . Bei genauem Hinsehen stand freilich zumindest am Anfang das fiskalische Interesse eindeutig im Vordergrund. Durch extrem niedrige Kolonialwarenzölle, die bei Kaffee und Zucker auf 1 fl. 40 kr. pro Ztr. festgesetzt wurden und damit weit unter den preußischen Sätzen (17 fl. 30 kr.) lagen, sollte der Schmuggelanreiz gedämpft und wenigstens eine kleinere Einnahme erzielt werden. Dagegen ließen die neuen Tarife kaum irgendwelche wirtschaftsfördernden Absichten erkennen. Zwar lagen die Viehzölle noch vergleichsweise hoch, aber die Getreideeinfuhr war vorerst völlig frei, und selbst die Weinzölle blieben mit 5 bzw. 10 fl. pro O h m weit unter den preußischen und süddeutschen Sätzen. Gleiches galt für die meisten Fertigwaren. Erst im Laufe der zwanziger Jahre kam die Staatsführung den wirtschaftlich motivierten Wünschen der Kammern und einzelner Branchen stärker entgegen, führte gemäßigte Getreidezölle ein und hob vor allem die Textilzölle leicht an. Aber auch jetzt lagen die nassauischen Tarife in der Regel noch weit unter denen Preußens und der süddeutschen Staaten 5 . Durch ihr Entgegenkommen gegenüber den protektionistischen Forderungen gelang es der Regierung zwar, Teile der einheimischen Wirtschaft vorerst in ihre partikularistische Zollpolitik einzuspannen, dennoch blieb die von Marschall verfochtene Konzeption angesichts der keineswegs befriedigenden gesamtwirtschaftlichen Situation langfristig überaus zweifelhaft. Die vor allem aus den 67

zahlreichen Grenzgebieten lautstark vorgetragenen Klagen verdeutlichten sehr rasch, wie schwer es für kleine Staaten war, ohne Beeinträchtigung einheimischer Interessen eigene Grenzzollsysteme aufzubauen. Weite Teile der nassauischen Wirtschaft - insbesondere die Weinbauern des Rheingaus, die Viehexporteure des Westerwaldes, das Töpfereigewerbe und Zweige des Eisengewerbes - lehnten die Zollpolitik der Regierung entschieden ab und forderten bald immer eindringlicher Schritte zur Überwindung der handelspolitischen Isolation und zur Öffnung neuer Märkte 6 . In fiskalischer Hinsicht brachte das nassauische Zollgesetz von 1822 dagegen einen kaum erwarteten Erfolg, der entscheidend zur Konsolidierung der Staatsfinanzen beitrug und Marschalls partikularistischen Kurs in der deutschen Handels- und Zollpolitik vorerst erheblich absicherte. Da die vergleichsweise niedrigen Tarife den Anreiz zum Schmuggel dämpften und die Kosten der Zollerhebung durch Einbeziehung aller verfügbaren Beamten wie Gendarmen, Chausseewärter, Feldschützen, Förster und Militärpensionäre anfangs kaum 15% der Bruttoeinnahmen überschritten, konnte mit Hilfe der beachtlichen Mehreinnahmen schon 1823 das Defizit der Landessteuerkasse ausgeglichen werden. Ein Jahr später erfolgte eine Ermäßigung der direkten Steuern von fünf auf vier Steuersimpel 7 . Als Folge der neuen Zolleinnahmen, die 1830 mit dem Bruttobetrag von 221948 fl. einen Anteil von 13,8% erreichten, fiel der Anteil der direkten Steuern zwischen 1820 und 1830 von 55,9% auf 48% 8 , eine Entwicklung, mit der die mehrheitlich von den Grundbesitzern beherrschte zweite Kammer außerordentlich zufrieden war. Denn sie nahm die von Marschall mehrfach eigenmächtig durchgesetzten Tariferhöhungen der zwanziger Jahre ohne allzu große Proteste hin, obwohl sie der Regierung lediglich freigestellt hatte, die Zollsätze im Falle von Verträgen mit anderen Staaten ohne landständische Mitwirkung abzuändern 9 . Nassau war somit vorerst aus fiskalischen Gründen nicht gezwungen, »um jeden Preis« aus der zollpolitischen Isolierung herauszufinden 10 . Im benachbarten Hessen-Darmstadt sah die Situation um die Mitte der zwanziger Jahre dagegen völlig anders aus. Auch hier hatte die Regierung schon während der für sie wenig erfreulich verlaufenden Darmstädter Verhandlungen aus primär fiskalischen Gründen mit der Ausarbeitung eines eigenen Grenzzollsystems begonnen. Durch ein völlig neues System der indirekten Steuern sollten sowohl die dringend erforderliche Sanierung der Staatsfinanzen als auch die vor allem von der Landwirtschaft geforderte Entlastung der direkten Steuern ermöglicht werden 11 . Während die seit längerem verlangte Abschaffung der Binnenzölle auf allgemeine Zustimmung stieß, rief die geplante Einführung eines Grenzzollsystems sowohl in der zweiten Kammer als auch in einer breiten, immer noch recht freihändlerischen Öffentlichkeit schärfste Proteste hervor 12 . Der heftigste Widerstand ging vom Mainzer Handel aus. Seine Vertreter in der zweiten Kammer, die Abgeordneten Kertell, Lauteren und Mayer verteidigten die 68

freihändlerischen Interessen mit dem Argument, daß nicht die Abschottung eines ohnehin viel zu kleinen Binnenmarktes, sondern nur die Erhaltung und Öffnung größerer Märkte die immer schwieriger werdende Lage der hessen-darmstädtischen Wirtschaft bessern könnten. In einer Mainzer Petition des Jahres 1823 hieß es, die geplante Finanzquelle werde »zur Mörderin des öffentlichen Wohlstandes«: »Sie verzehret sich selbst, indem sie den Handel, der sie ernähren soll, und den Ackerbau, der ohne Handel bei allem Reichtum darben muß, zu Grunde richtet und gleichet dem Beginnen eines Menschen, der den Baum umstürzt, um dessen Frucht zu pflücken.« 13 Der Großteil des Offenbacher Wirtschaftsbürgertums verwahrte sich zwar gegen die industriefeindlichen Äußerungen der trotz freihändlerischer Bekenntnisse noch ganz im Privilegiendenken des alten Handelsbürgertums 1 4 befangenen Mainzer; aber selbst der im Listschen Verein tätige Abgeordnete Kraft lehnte mit Rücksicht auf die engen Beziehungen zum Frankfurter Markt ein hessisches Zollsystem ebenso entschieden ab 15 wie viele liberale Abgeordnete, die ganz aus der Sicht der Konsumenteninteressen argumentierten und als fiskalische Alternative das Projekt einer direkten Klassensteuer propagierten 16 . Du Thil und seinem wichtigsten Mitstreiter von Hofmann, die das als Notwehrmaßnahme charakterisierte Zollgesetz mit den zu erwartenden fiskalischen und wirtschaftlichen Erfolgen zu begründen suchten, gelang es erst nach schwierigen Auseinandersetzungen, die zweite Kammer im Dezember 1823 zur Zustimmung zu bewegen 17 . Die erforderliche Mehrheit wurde nicht zuletzt durch tarifpolitische Konzessionen erreicht, mit denen die Regierung protektionistischen Forderungen der Landwirtschaft und des Textilgewerbes entgegenkam 18 . A m Ende war ein Grenzzollsystem entstanden, dessen Tarife unter den preußischen jedoch weit über den nassauischen lagen 19 und das sowohl den fiskalischen als auch den wirtschaftlichen Interessen gerecht zu werden versuchte, letztlich aber in beiderlei Hinsicht fehlschlug. Zwar wurde die für die Finanzperiode 1824/26 veranschlagte jährliche Zolleinnahme in Höhe von 350000 fl. sogar übertroffen, aber diese Einnahmen wurden von den angesichts komplizierter Grenzverhältnisse überaus hohen Verwaltungskosten zum größten Teil wieder aufgezehrt, was im übrigen viele Skeptiker des Gesetzes vorausgesagt hatten 20 . Trotz der kostenreichen Anstrengungen gelang es zudem auch in der Folgezeit nicht, den von vergleichsweise hohen Fiskalzöllen begünstigten und die Unzufriedenheit mit dem neuen Zollgesetz signalisierenden Schleichhandel in Grenzen zu halten, der vor allem im Frankfurter Raum größere Ausmaße annahm und teilweise sogar in offenen sozialen Protest umschlug 21 . Die 1824 durchgeführte Senkung der direkten Steuern war daher weit weniger als in Nassau den neuen Zolleinnahmen zu verdanken, sondern beruhte vor allem auf der Steigerung anderer indirekter Abgaben. Anders als im kleineren Nachbar69

Staat blieb die hessen-darmstädtische Finanzsituation weiterhin äußerst kritisch 2 2 . Ebensowenig brachte die Zollreform des Jahres 1824 irgendwelche entscheidenden wirtschaftlichen Erleichterungen. Schon auf dem folgenden Landtag der Jahre 1826/27 zeigte sich, daß das neue Zollgesetz k a u m einen Teil der hessen-darmstädtischen Wirtschaft zufriedenzustellen vermochte. Vor der zweiten K a m m e r , die nun immer stärker als Appellationsinstanz ökonomischer Interessenvertretung genutzt wurde 2 3 , klagten die einen über die schwerwiegenden wirtschaftlichen Schädigungen der Grenzregionen 2 4 , während die anderen zur Verbesserung der weiter krisenhaften ökonomischen Situation eine Ausdehnung des Protektionismus verlangten 2 5 . Sowohl die Regierung als auch die Kammermehrheit kamen den neuen protektionistischen Tendenzen nur noch sehr begrenzt entgegen 2 6 , denn beide waren sich seit langem darin einig, daß die wirtschaftliche Misere langfristig nur durch das Zustandekommen einer großen Zollvereinslösung behoben werden konnte 2 7 . Schon 1824 hatte die ansonsten auch in der Zollpolitik durchaus auf Mitspracherechte pochende zweite K a m m e r die Regierung in ihrer recht aktiven Zollvereinspolitik unterstützt und sie erneut ermächtigt, i m Falle von Handels- und Zollverträgen mit anderen Staaten die von den Ständen bewilligten Tarife eigenmächtig abzuändern 2 8 . O b w o h l die hessen-darmstädtische Regierung die H o f f n u n g hegte, mit der inneren R e f o r m des Zollwesens und den vergleichsweise hohen Transitzöllen die eigene Verhandlungsposition gegenüber den Nachbarstaaten zu verbessern und damit die Chancen einer Zollvereinslösung zu erhöhen, k a m sie den hochgesteckten Zielen zunächst k a u m näher. Der im September 1824 mit Baden abgeschlossene Handelsvertrag brachte keinen nennenswerten wirtschaftlichen Gewinn und wurde nach beiderseitigen Streitigkeiten bereits Ende 1825 von Hessen-Darmstadt wieder aufgekündigt 2 9 . D i e i m Herbst 1824 mit hoffnungsvollen Ansätzen in Stuttgart wiederaufg e n o m m e n e n Verhandlungen zwischen den maßgeblichen Signatarstaaten der Wiener Punktation gerieten aufgrund der rasch aufbrechenden alten Streitfragen bald wieder ins Stocken 3 0 . U n d auch der von du Thil 1824 nochmals aufgegriffene Versuch eines Zollvereins hessischer Staaten scheiterte erneut an den tiefgreifenden Interessengegensätzen der hessischen Regierungen. D a s in Stuttgart vorübergehend etwas kompromißbereiter auftretende N a s s a u lehnte eine Beteiligung ebenso ab wie Kurhessen, auf das du Thil große Hoffnungen setzte und das schon im Februar 1824 wegen gegenseitiger handelspolitischer Erleichterungen an Hessen-Darmstadt herangetreten war 3 1 . Auch in Kurhessen, w o die v o m Monarchen betriebene Zollpolitik »mehr den Ausdruck der Laune als der Überlegung« an sich trug 3 2 , wurde schließlich i m April 1824 die alte Zollverfassung durch ein einheitliches Grenzzollsystem abgelöst, welches nach preußischer Auffassung »an Fiska70

lität wenig seinesgleichen« fand 33 . Trotz der dominierenden fiskalischen Orientierung enthielt das neue Gesetz andererseits aber auch etliche von protektionistischen Zielsetzungen bestimmte Tarife, die vor allem bei der Besteuerung der Woll- und Lederwaren sichtbar wurden 3 4 . Die zentralen Ziele der Zollreform wurden freilich ebensowenig erreicht wie in HessenDarmstadt. Die fiskalischen Zielsetzungen scheiterten an den enorm hohen Verwaltungskosten und an dem auch durch Militäreinsatz nicht zu unterbindenden Schmuggel 35 . Und in wirtschaftlicher Hinsicht bot selbst nach Meinung skeptischer Teile der Kasseler Bürokratie der protektionistische Partikularismus keinen Ersatz fur die in vielen Branchen so wichtige Außennachfrage. Gegen das Konzept eines abgeschlossenen kurhessischen Binnenmarktes sprach ferner nicht nur die geringe Ausdehnung des Landes, sondern vor allem auch die wirtschaftliche Raumordnung. Den beiden eng mit dem süddeutschen und dem Frankfurter Raum verflochtenen Südprovinzen nutzte der neue freie Zugang ins nördliche Kurhessen nur wenig, da das Zollgesetz in Fulda und vor allem in Hanau gleichzeitig die noch verbliebenen Verbindungen zu Süddeutschland und Frankfurt in zusätzlichem Maße beeinträchtigte 36 . Die wirtschaftlich und fiskalisch unergiebige kurhessische Zollreform verstärkte daher das im Süden ohnehin größere politische Protestpotential, welches sich dann in den von zollpolitischen Fragen wesentlich bestimmten Unruhen des Jahres 1830 entlud. Der von du Thil propagierte und von Teilen des kurhessischen Wirtschaftsbürgertums und der Bürokratie 37 unterstützte hessische Zollverein hätte dagegen sogar ohne nassauische Teilnahme die mißliche zollpolitische Situation Hessen-Darmstadts und Kurhessens verbessern können. Angesichts der vielfältigen, in Jahrhunderten gewachsenen Verflechtungen zwischen hessen-darmstädtischen und kurhessischen Landesteilen und der auf beiden Seiten immer lauter werdenden Klagen war handelspolitische Kooperation in jedem Falle erfolgversprechender als weitere Abgrenzung. Auch die fiskalischen Erwartungen schienen bei einer Zollunionslösung mit ihrer weniger kostspieligen Grenzbewachung aussichtsreicher zu sein als beim einzelstaatlichen Zollsystem. Vor allem aber mußte eine gemeinsame Politik das Gewicht beider Staaten in der deutschen Handelspolitik erheblich stärken. Einer der fuhrenden Vertreter des Listschen Vereins, der Immenstädter Kaufmann Franz Miller, schrieb 1824 hierzu: »Welche Gelegenheit zu weiteren Vereinigungen, welche Berührung zur Erzielung von Handelstraktaten und anderen dergleichen wechselseitigen Erleichterungen, die, bleiben beide Hessen isoliert, für sie nicht nur ganz verloren gehen, sondern alsdann gerade ihnen am schädlichsten sind.« 38 All diese Aussichten konnten jedoch nicht verhindern, daß die kurhessische Regierung nicht zuletzt aus Furcht vor einer wirtschaftlichen Übervorteilung das hessen-darmstädtische Angebot verwarf 3 9 . Die Folge war ein insbesondere von kurhessischer Seite angeheizter Zollkrieg, an dem sich auch Nassau durch neue Zollerhöhungen beteiligte, der aber keinem einzigen Staat 71

irgendwelche entscheidenden Vorteile brachte, sondern im Grunde den bereits angerichteten Schaden nur weiter vergrößerte 40 . Der von den hessischen Regierungen in Anlehnung an süddeutsche und preußische Vorbilder relativ spät eingeschlagene Weg einer einzelstaatlichen Zollreform erwies sich somit recht schnell als eine Sackgasse. In fiskalischer Hinsicht brachte die Einfuhrung von Grenzzollsystemen lediglich im Niedrigzoll-Land Nassau einen bis zu Beginn der dreißiger Jahre andauernden Erfolg, in wirtschaftlicher Hinsicht schlug sie im Grunde bei allen drei Staaten fehl. Weder die Abschaffung der Binnenzölle noch die in der Folgezeit weiter ausgedehnte Abschottung der viel zu kleinen Binnenmärkte vermochten der einheimischen Wirtschaft irgendwelche entscheidenden Impulse zu geben. Folglich konnten die Grenzzollsysteme auch kaum einen Beitrag zur Integration der neu zusammengefugten Landesteile leisten, sie wirkten im Gegenteil vielfach, vor allem in Kurhessen, ausgesprochen desintegrierend, da sie der bestehenden wirtschaftlichen Raumordnung widersprachen und die unterschiedlichen handelspolitischen Interessen innerhalb der hessischen Staaten noch schärfer hervortreten ließen. Die Regierungen blieben damit aufgefordert, schon aus ökonomischen Gründen eine Öffnung größerer Märkte anzustreben 41 . Hessen-Darmstadt, der in zollpolitischer Hinsicht dynamischste Staat des hessischen Raumes, hatte sein Zollgesetz schließlich sogar als Basis für künftige Verhandlungen mit anderen Staaten konzipiert, aber auch Kurhessen und Nassau verschlossen sich nach der Einfuhrung von Grenzzollsystemen nicht völlig jedem handelspolitischen Verständigungs versuch. So beteiligte sich neben Hessen-Darmstadt auch das vorübergehend kompromißbereiter auftretende Nassau an den im Februar 1825 beginnenden Stuttgarter Verhandlungen über die Schaffung eines süddeutschen Zollvereins, die trotz des erneuten Fehlschlags wichtige Weichen für die künftige zollpolitische Entwicklung stellten. Z u m einen unterstrichen sie nochmals die Notwendigkeit strikt föderalistischer Prinzipien, wobei der hessendarmstädtische Vertreter Hofmann mit seinem Vorschlag, die gemeinschaftliche Zentralverwaltung zugunsten der vereinheitlichten und gegenseitig kontrollierten einzelstaatlichen Instanzen aufzugeben, ein zentrales Element der späteren Zollvereinsverfassung vorwegnahm 4 2 . Z u m anderen verfestigte sich in Stuttgart die 1828 in einen Zollverein mündende handelspolitische Allianz der süddeutschen Königreiche 43 . Schließlich aber bestärkten die erneut aufbrechenden Schwierigkeiten bei Verhandlungen mit den süddeutschen Regierungen innerhalb der hessischen Staaten die Zweifel an der ökonomischen Tragfähigkeit einer Zollunion mit Süddeutschland. Schon die dreijährigen Debatten in Darmstadt hatten den hessischen Regierungen gezeigt, daß die Verbindung mit Süddeutschland wichtigen Interessen der hessischen Wirtschaft widersprach. Der hessendarmstädtische und nassauische Agrarexport konnte von einer Zollunion mit Süddeutschland nicht allzu große Vorteile erwarten. Der Mainzer 72

Handel stand einem protektionistisch orientierten Südverein ohnehin stets abwehrend gegenüber, und in Kurhessen stieß die süddeutsche Orientierung auf wachsenden Widerstand des niederhessischen Wirtschaftsbürgertums, das seine Beziehungen zu N o r d - und Mitteldeutschland gefährdet sah 44 . Dennoch vollzog sich die handelspolitische Neuorientierung nach N o r den in den hessischen Staaten teilweise außerordentlich langsam, was nicht allein mit den zahlreichen Gewerbezweigen zusammenhing, die wie die Eisenindustrie ihre Hauptabsatzmärkte im Süden besaßen 45 , sondern mehr die Folge politischer Konstellationen war. Tragfähige Interessen an einer handelspolitischen Verständigung zwischen Preußen und den hessischen Staaten schienen auf beiden Seiten zweifellos vorhanden zu sein, die für einen erfolgreichen Abschluß notwendige Kompromißbereitschaft war jedoch Mitte der zwanziger Jahre noch auf keiner Seite genügend entwikkelt. Einerseits wachten die hessischen Staaten beharrlich über ihre Souveränität, die sie im Falle eines Zollvereins mit Preußen gefährdet sahen. Andererseits tat die preußische Regierung noch nichts, um den kleineren Staaten die vorhandenen Ängste zu nehmen. Preußen pochte vielmehr noch allzu sehr auf die administrative Unterwerfung der beitretenden Staaten. Dies bestätigen auch zwei große preußische Denkschriften zur handelspolitischen Lage in Mitteleuropa. Seit den trotz vereinzelter Warnungen Otterstedts recht gelassen verfolgten Darmstädter Verhandlungen 46 hatten sich die preußischen Ministerien eingehender mit der Bildung von Zollunionen im deutschen Raum befaßt, ohne jedoch dadurch zu einer dynamischeren, ausgreifenden Politik überzugehen. Die im Juli 1822 vom Finanzminister Klewiz erstellte erste große Denkschrift betonte noch ausdrücklich, die gesamte Angelegenheit ganz »der Zeit und ihrer Ausbildung« zu überlassen 47 . Wie schon diese erste so sprach auch die zweite Denkschrift des Finanzministeriums vom Dezember 1824 das große preußische Interesse am hessischen Raum deutlich an 48 . Dabei richtete sich das Hauptaugenmerk eindeutig auf Kurhessen. Wegen der möglichen zollpolitischen Überwindung des Korridors zwischen den östlichen und westlichen Provinzen Preußens galt der Beitritt Kurhessens zum preußischen Zollsystem als das zunächst wichtigste zollpolitische Ziel im hessischen Raum. Aber auch die Eingliederung Nassaus fand Beachtung, denn dieses besaß eine lange gemeinsame Grenze mit Preußen, so daß bei einem, auch von einigen preußischen Regionen gewünschten nassauischen Beitritt zum preußischen Zollverband keine zusätzlichen Verwaltungskosten entstanden wären 49 . Da letzteres jedoch im Falle Hessen-Darmstadts mit seinen komplizierteren geographischen Verhältnissen und den kürzeren Grenzen zu Preußen nicht gegeben war, stieß dieser Staat bei den zollpolitischen Planspielen der Berliner Bürokratie noch auf ein auffallend geringes Interesse. Auch die zweite Denkschrift schuf noch keine klare Expansionsstrategie 73

mit vollem Einsatz des machtpolitischen Instrumentariums, obwohl sie stärker als die erste versuchte, die eigene Position in der deutschen Zollfrage zu konkretisieren und die Möglichkeiten zur Bildung eines von Preußen geführten Zollvereins genauer auszuloten. Berlin verlangte noch immer ein eindeutiges Übergewicht in den Fragen der Zollverwaltung sowie allen anderen mit der Zollgesetzgebung zusammenhängenden Punkten und mutete den kleineren Partnern in einem zentralen Punkt ihres Staatsbewußtseins große Opfer zu 50 . Hinzu kam, daß die preußische Regierung noch nicht bereit war, die bei der Enklavenpolitik als Lockmittel erbrachten finanziellen Leistungen auch den größeren Flächenstaaten in ähnlich großzügiger Manier zu gewähren. U m die Verwaltungskosten so gering wie möglich zu halten, plädierte das Finanzministerium beispielsweise sogar dafür, mit Kurhessen zunächst nur eine Vereinbarung über die Integration der nördlichen Provinzen zu treffen, die abgelegenen Provinzen Hanau und Fulda aber von der geplanten Zolleinigung auszuschließen. Von diesem Konzept ging Preußen selbst dann nicht ab, als die kurhessische Regierung im Wege ihrer handelspolitischen Neuorientierung Ende 1824 über den Berliner Gesandten Wilkens ihr Interesse an gegenseitigen zollpolitischen Vereinbarungen bekundete. Die Verwirklichung dieses rein an preußischen Interessen orientierten Vorschlags hätte dem großen Staat die gewünschte zollpolitische Überbrückung des Korridors gebracht, den kleineren Nachbarn aber in zwei Zollgebiete zerteilt und die vorhandenen Spannungen zwischen den südlichen und nördlichen Provinzen zusätzlich verschärft. Trotz preußischer Hinweise auf günstige Finanzresultate und einer ausdrücklichen Garantie der kurhessischen Souveränität waren die preußischen Vorschläge für Kurhessen unannehmbar 5 1 . Nachdem der Kurfürst gegen den Widerstand maßgeblicher Minister die Verhandlungen mit den süddeutschen Staaten abgebrochen hatte, geriet die handelspolitische Neuorientierung nach Norden somit überaus schnell ins Stocken. Angesichts der wenig durchdachten, den jeweiligen Launen des Monarchen unterworfenen und die Vorschläge einer stärker zu Verträgen drängenden Bürokratie ignorierenden kurhessischen Zollpolitik 52 erscheint es allerdings fraglich, ob entgegenkommendere preußische Angebote einen durchschlagenden Erfolg gebracht hätten, zumal Kurhessen in den folgenden Jahren ebensowenig auf neue Angebote einging wie Nassau. Dort erstarrte die Zollpolitik nach dem Scheitern eines wenig erfolgversprechenden, unzureichenden Annäherungsversuches an Preußen 53 und den gescheiterten Stuttgarter Verhandlungen Mitte der zwanziger Jahre in einem zunächst von der guten Finanzlage gestützten strengen Partikularismus, der von Marschalls Devise bestimmt war, »daß ein den Schutz des Wirtschaftslebens bezweckender Zollverein mit der selbständigen Stellung der kleinen Einzelstaaten nicht vereinbar wäre« 54 . Doch die verhärteten Fronten der hessischen Zollpolitik gerieten bereits wenige Jahre später wieder in Bewegung, als ausgerechnet das in den Berliner Planspielen am wenigsten 74

beachtete Hessen-Darmstadt als erster hessischer Staat dem preußischen Zollsystem beitrat.

3. Der preußisch-hessen-darmstädtische Zollvereins vertrag des Jahres 1828 Hessen-Darmstadt hatte sich seit 1820 von allen drei hessischen Staaten einerseits am energischsten fur eine handelspolitische Verständigung zwischen den süd- und mitteldeutschen Staaten eingesetzt, war aber andererseits auch gegenüber den außerhalb dieser Bemühungen stehenden Staaten, insbesondere gegenüber Preußen, stets zurückhaltend aufgetreten. Gewiß drängten die v o m eigenen Zollgesetz eher noch verschärften wirtschaftlichen Schwierigkeiten, der daraus resultierende politische Druck und nicht zuletzt die ständig wachsenden Finanzkalamitäten hier stärker als anderswo auf einen aktiven handelspolitischen Kompromißkurs; aber die flexiblere hessen-darmstädtische Politik war auch auf eine aufgeschlossenere B ü r o kratie zurückzufuhren, die in ihrer Handlungsfähigkeit nicht durch die Autokratie des Monarchen gehemmt wurde und die erheblich davon profitierte, daß die beiden wichtigsten zollpolitischen Ressorts in der Hand du Thils vereint waren 1 . Dennoch wäre es verfehlt, die Entscheidung zugunsten eines Beitritts zum preußischen Zollsystem allein der umsichtigen Politik des hessen-darmstädtischen Ministers zuzuschreiben, wie es vielfach in Anlehnung an du Thils Denkwürdigkeiten behauptet worden ist 2 . Die alte These, nach der die Regierung in weiser Voraussicht für Preußen votiert, die Bevölkerung dagegen in der großen Mehrheit den Anschluß an Süddeutschland vorgezogen habe 3 , verkennt, daß die hessen-darmstädtische Entscheidung für Preußen erst nach einem längeren, quer durch Bürokratie, Kammern und Bevölkerung verlaufenden Richtungsstreit erfolgte. O b w o h l in dieser Auseinandersetzung die sektionale Interessenspaltung der hessen-darmstädtischen Wirtschaft nochmals deutlich zutage trat, erhielt die Regierung die Gewißheit, daß die gewichtigeren handelspolitischen Interessen nach Preußen wiesen, wo auch hinsichtlich der so wichtigen fiskalischen Zielsetzungen am ehesten ein durchschlagender Erfolg zu erwarten war. Für den hessen-darmstädtischen Anschluß an die sich seit 1825 abzeichnende bayerisch-württembergische Zollallianz setzten sich fast ausschließlich Zweige der gewerblichen Wirtschaft ein, die wie das Eisengewerbe, die Baumwollweberei und die Gerberei ihren Hauptabsatz im Süden fanden, mehr Protektionismus verlangten und vor allem die überlegene preußische Konkurrenz fürchteten. In einer Petition des oberhessischen Baumwollfabrikanten Beyer hieß es zu den Folgen einer Beteiligung am Südverein: »Die Fabriken gewönnen ohne Zweifel, weil schon ihr Absatz entweder nach Süden geht oder nur in der Fabrikgegend selbst geschieht.

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Aus dem nördlichen Deutschlande drängen die Fabrikate heran, fast nichts geht dahin. « 4 Doch als der Anfuhrer dieser handelspolitischen Richtung, der Neckarsteinacher Lederfabrikant Hellmann, 1827 in der zweiten Kammer den Antrag stellte, die Regierung zum Anschluß an die bayerischwürttembergische Zollallianz aufzufordern, lehnten beide Kammern eine ausdrückliche Zustimmung ab und gaben den Antrag lediglich zur Prüfung an die Regierung weiter 5 . Die von den Kammern schon aufgrund ihrer sozialen Zusammensetzung stärker beachteten Agrarinteressen sprachen eindeutig gegen einen Zollverein mit den süddeutschen Königreichen, die kaum hessen-darmstädtische Agrarprodukte abnahmen, sondern in dieser Hinsicht sogar als harte Konkurrenten auftraten 6 . Entscheidende Erleichterungen durfte der vorher so bedeutende, jetzt aber unter großen Absatzschwierigkeiten leidende hessen-darmstädtische Agrarexport nur von der Öffnung des großen preußischen Marktes erhoffen, was der rheinhessische Gutsbesitzer Perrot schon Ende 1823 vor der zweiten Kammer mit einer bemerkenswerten Offenheit aussprach: »Viele erwarten aus Süden ihr Heil und Glück: wie wäre es aber, wenn wir es im Norden aufsuchten? Wie wäre es, wenn das preußische Gouvernement zu bewegen wäre, unser Land in seinen Mauthverband aufzunehmen? Wie leicht wären Nassau und Kurhessen mit diesem Verband zu vereinigen! Und was könnte man in kommerzieller Hinsicht nicht hoffen von einem Austausch von 11 Millionen Menschen und von einem Markt von 300 Stunden. Die preußische Regierung entwickle eine solche Weisheit, verbunden mit solcher Stärke; es herrsche in der rheinpreußischen Provinz ein solches Leben, eine solche Thätigkeit und Regsamkeit, daß wir zuverlässig die glücklichsten Resultate von einer solchen Mauthaggregation zu erwarten hätten. Die Idee könnte Früchte bringen; er wünsche, daß sie nicht auf dürren Boden gefallen sein möge.« 7 Diese von der Kammer widerspruchslos hingenommene, von einigen Abgeordneten sogar begrüßte Aufforderung 8 war keineswegs nur eine vereinzelte Stimme, vielmehr zeigen auch andere rheinhessische und oberhessische Stellungnahmen, daß die Forderung nach einem Zoll- und Handelsvertrag mit Preußen bereits einen zentralen Bestandteil der handelspolitischen Debatte darstellte, bevor die hessen-darmstädtische Regierung erste konkrete Schritte unternahm 9 . Der in den Zollfragen eifrig agierende preußische Gesandte von Otterstedt hat über seine Kontakte zum Mainzer Handel solche Tendenzen zweifellos begünstigt 10 , aber sie waren zugleich das Resultat der realen ökonomischen Interessenlage der wichtigsten hessen-darmstädtischen Wirtschaftszweige. Als sich die Exportchancen im Gefolge der preußischen Zollerhöhungen des Jahres 1825 nochmals verschlechterten 11 , erhielt diese, auch von einzelnen gewerblichen Zweigen mitgetragene handelspolitische Richtung zusätzliches Gewicht. Jetzt arbeitete vor allem die Mainzer Handelskammer durch Gutachten und Eingaben tatkräftig auf die handels76

politische Verbindung mit dem großen Bündnispartner in der Rheinschifffahrt hin, da sie sich von der Beseitigung der als überaus störend empfundenen preußischen Zollschranken mit Recht eine Handelsbelebung versprach. Schon 1826 unterbreitete die Mainzer Handelskammer den Vorschlag, Preußen solle jährlich eine bestimmte Menge Wein zu tragbaren Abgaben einlassen und als Gegenleistung die Mainzer Verpflichtung erhalten, in gleichem Maße preußische Fertigwaren zu importieren 12 . Angesichts der einem erfolgreichen Abschluß mit Preußen noch entgegenstehenden beiderseitigen Hindernisse hielt sich die hessen-darmstädtische Regierung freilich weiterhin eine Option fur die Südlösung offen 13 , doch trotz des zeitweise gegenüber dem bayerisch-württembergischen Werben gezeigten Entgegenkommens erschien auch den maßgeblichen Beamten der preußische Partner als der attraktivere 14 . Schließlich setzte die Allianz mit Preußen die für die eigene Wirtschaft wichtigen, aber in einer Abwehrstellung verschanzten Nachbarstaaten Kurhessen und Nassau weit stärker unter Druck als die hessen-darmstädtische Beteiligung am bayerisch-württembergischen Verein. Darüber hinaus bot der Beitritt zum preußischen Zollverband nicht nur eine begründete Aussicht auf dringend erforderliche fiskalische Erfolge, sondern ein solcher der überwiegenden ökonomischen Interessenlage entsprechender Schritt mußte auch der angeschlagenen hessen-darmstädtischen Wirtschaft wesentlich mehr Entlastung bringen als die Südlösung und, nicht zuletzt durch die Berücksichtigung der rheinhessischen Handelsinteressen, die innenpolitische Situation stabilisieren. Noch gab es Bedenken der starken proösterreichischen Hofpartei 15 , und auch aus dem liberalen Lager war schon aus politischer Sicht einiger Widerstand zu erwarten. Mit zunehmenden ökonomischen Schwierigkeiten und den noch wachsenden fiskalischen Problemen 16 schwenkte die Darmstädter Regierung aber immer deutlicher auf den propreußischen Kurs ein, den sie selbst nach dem Scheitern der ersten beiden, noch informellen Vorstöße von 1825 und 1826 nicht mehr verließ. Die preußische Regierung bekundete zwar bereits 1825 ihre grundsätzliche Verhandlungsbereitschaft, aber sie sah zunächst wenig Sinn darin, ohne die angesichts der Kasseler Politik noch illusorische kurhessische Beteiligung Hessen-Darmstadt in seinen Zollverband aufzunehmen, da auf diese Weise die erstrebte zollpolitische Schließung des Korridors nicht erreicht werden konnte und nur neue kostenträchtige Verwaltungsaufgaben hinzugekommen wären 17 . Auch als Hessen-Darmstadt unter dem Zwang der inneren Umstände nach neuerlichen vorsichtigen Sondierungen mit der Verbalnote vom 29. August 1827 erstmals offiziell an Preußen herantrat 18 , schien die Skepsis auf preußischer Seite noch keineswegs überwunden. Während der in zollpolitischen Fragen seit längerem beinahe übereifrig agierende preußische Gesandte Otterstedt das Projekt eines preußisch-hessen-darmstädtischen Zollvereins mit Nachdruck unterstützte, da es die oppositionelle 77

Bewegung eindämmen und die politische Position Preußens in Mitteleuropa stärken könnte 1 9 , stand Maltzan, der preußische Geschäftsträger in Darmstadt, der schon früher als wankelmütig und systemlos bezeichneten hessen-darmstädtischen Zollpolitik noch zurückhaltend gegenüber 20 . Auch der Oberfinanzrat Maaßen, einer der Schöpfer des Zollgesetzes von 1818, hielt von den beiden in der hessischen Note angesprochenen Alternativen - vollständiger Beitritt zum preußischen Zollverband oder Handelsvertrag mit gegenseitiger Herabsetzung bestimmter Zollsätze nur die letztere fur realistisch. Seiner Ansicht nach mußte die preußische Staatskasse bei einer Zollunionslösung in Anbetracht einer von 993 auf 1108 Meilen vergrößerten Zollgrenze und des geringeren Konsums in Hessen-Darmstadt einen großen Schaden erleiden, der auch von den vergleichsweise geringen ökonomischen Vorteilen kaum ausgeglichen werden konnte 2 1 . Wenn Preußen aber schließlich doch in Verhandlungen über einen Zollvereinsvertrag eintrat, so lag dies daran, daß in Berlin das fiskalischökonomische Kosten-Nutzen-Kalkül durch eine politische Perspektive erweitert wurde. Nach den Jahren der engen bundespolitischen Kooperation mit Österreich begann 1825 eine wieder etwas stärker von reformorientierten Kräften bestimmte preußische Politik, deren neue Dynamik insbesondere auf handelspolitischem Sektor sichtbar wurde 2 2 . Mit dem 1825 zum Finanzminister ernannten Friedrich von Motz 2 3 und Eichhorn, dem Leiter der handelspolitischen Abteilung des Außenministeriums, setzten sich jetzt Kräfte durch, die mit Unterstützung des bisher vorsichtiger taktierenden reformkonservativen Außenministers Bernstorff auf größere, den Enklavenbereich sprengende Erweiterungen des preußischen Zollsystems drängten, um wenigstens den Korridor zwischen den beiden großen preußischen Gebietskomplexen auf handelspolitischem Felde zu überwinden. Obwohl die Eingliederung Hessen-Darmstadts letzteres noch nicht ermöglichte, brachte der freiwillige Beitritt dieses Staates so große politische Vorteile, daß die fiskalischen Bedenken zurückgestellt werden konnten. Die neue Verbindung setzte nicht nur die aus preußischer wie hessendarmstädtischer Sicht begehrten Nachbarstaaten Nassau und Kurhessen unter Druck, sondern der zollpolitische Sprung über die Maingrenze verminderte auch die Ausdehnungsmöglichkeiten eines Ende 1827 bereits beschlossenen bayerisch-württembergischen Zollvereins 24 . Mit der Durchsetzung dieser Denkweise ging die preußische Bürokratie von jenem Grundsatz der bisherigen Zollpolitik ab, der »sich auf die Doktrin des systematischen Fortschreitens von Grenze zu Grenze gründete« 25 , die Ausdehnung des Zollsystems also zunächst nur über Kurhessen oder Hannover vorantreiben wollte. Die neue, nicht mehr nur von administrativen Beweggründen, sondern durchaus von bundespolitischen Implikationen bestimmte Zollpolitik wurde durch die von Motz seit 1825 mit Erfolg betriebene Sanierung der preußischen Staatsfinanzen erheblich erleichtert. 78

Diese Konsolidierung der Finanzen schuf die Voraussetzung, »in dem gesamten Steuersystem Modifikationen eintreten zu lassen, durch welche die größtmögliche Freiheit des Verkehrs im Inneren Deutschlands befördert werden konnte« 26 . Die Instruktion, mit der der hessen-darmstädtische Finanzrat Hofmann im Dezember 1827 zu Geheimverhandlungen nach Berlin gesandt wurde, zielte vor allem auf eine Vereinbarung ab, die »ausgedehnt genug sei, um den Absatz der Hauptprodukte des Ackerbaus und der Industrie des Großherzogtums wirklich im großen zu befördern« 27 . Doch trotz des stets betonten Vorrangs der ökonomischen Motive 2 8 lagen die fiskalischen Interessen Hessen-Darmstadts klar auf der Hand. Nicht ein Handelsvertrag, den du Thil noch im August 1827 gegenüber Maltzan als die realistischere Hoffnung darstellte 29 , sondern allein eine vollständige Zollunion konnte sowohl die ökonomischen als auch die fiskalischen Nöte des kleinen Landes lindern. Du Thil, der auch vom leitenden Darmstädter Minister Grolman auf dem Wege zu einem Zollunionsvertrag unterstützt wurde 3 0 , mußte jedoch furchten, daß eine Offenlegung der eigenen fiskalischen Zielsetzung die anfangs vorhandenen preußischen Bedenken wegen finanzieller Einbußen verstärken könnte. Aber als die streng geheimgehaltenen preußischhessen-darmstädtischen Verhandlungen im Januar 1828 in Berlin begannen, hatte der voll zur Offensive übergegangene Motz diesbezügliche Sorgen längst beiseite geschoben. Er bot nun in einer die Gegenseite überraschenden Konzessionsbereitschaft einen Zollvereinsvertrag an, der nicht allein die von Motz selbst herausgestellten ökonomischen und fiskalischen Vorteile versprach, sondern auch in den schwierigen politischen Fragen großzügig entgegenkam. Der zu schaffende Zollverein sollte so konstruiert sein, daß der kleinere Partner nicht gleich in den Verdacht der Mediatisierung geriet 31 . Preußen war sogar bereit, Hessen-Darmstadt das bereits in den Verhandlungen mit den süddeutschen Staaten geforderte Fortbestehen einer eigenen Zollverwaltung zuzugestehen 32 . Angesichts des beiderseitigen Interesses kamen die Verhandlungen rasch voran. Schon am 14. Februar 1828 wurde der preußisch-hessen-darmstädtische Zollvereinsvertrag in Berlin unterzeichnet 33 . Größere Schwierigkeiten waren lediglich noch in zwei Fragen aufgetreten. Wegen der in HessenDarmstadt niedrigeren Besteuerung der Wein-, Branntwein-, Bier- und Tabakproduktion bestand Preußen darauf, beim Import solcher Produkte eine Ausgleichsabgabe zu erheben. Der hessen-darmstädtische Unterhändler strebte verständlicherweise eifrig danach, diese Abgabe beim wichtigen Exportartikel Wein so gering wie möglich zu halten 34 . Der zweite Streitpunkt betraf die Teilung der gemeinsam erwirtschafteten Zolleinnahmen. Nach preußischer Ansicht sollte der hessen-darmstädtische Revenuenanteil aus den gemeinsamen Einnahmen der Darmstädter Zollverwaltung und der fur die westlichen Provinzen zuständigen Kölner Steuerdirektion nach der jeweiligen Bevölkerungszahl errechnet werden. Hessen-Darmstadt 79

dagegen verlangte vor allem aus Prestigegründen eine Berücksichtigung der gesamten preußischen Monarchie, was Preußen unter Hinweis auf die Eigenständigkeit der östlichen Zollverwaltung ablehnte 35 . Der auf sechs Jahre geschlossene und zum 1. Juli 1828 in Kraft tretende preußisch-hessen-darmstädtische Zollvereinsvertrag ermöglichte einen freien Handelsverkehr »zwischen den beiderseitigen Untertanen« 3 6 , der lediglich durch die Ausgleichsabgaben sowie die auf preußische M o n o pole zurückzuführenden Einfuhrverbote von Spielkarten und Salz eingeschränkt blieb. Hessen-Darmstadt verpflichtete sich, die preußische Zollgesetzgebung zu übernehmen und seine weiterhin eigenständige Zollverwaltung nach preußischem Vorbild zu reorganisieren. Mit der Beibehaltung einer eigenen Zollverwaltung und dem garantierten Mitspracherecht bei tarifpolitischen Grundsatzentscheidungen erhielt der wesentlich kleinere Vertragspartner Zugeständnisse, die jeglichen Anschein einer Unterwerfung unter das Diktat Preußens zurückwiesen 37 . Der Vertrag zwischen den ungleichen Partnern begründete folglich keinen formellen hessendarmstädtischen Anschluß an die preußische Zollverwaltung, vielmehr entstand als qualitativ neues Vertragssystem eine echte Zollunion zweier auch in Zollfragen souveräner Staaten 38 . Dennoch ließ sich ein gewisses Übergewicht der Großmacht bei genauerem Hinsehen nicht verkennen. Ging dies aus dem eigentlichen Vertragstext noch nicht mit letzter Deutlichkeit hervor, so zeigte es sich im geheimen Zusatzvertrag, der nicht als Landesgesetz verkündet wurde und damit keinen legislativen, sondern nur reglementären Charakter besaß, um so stärker. Die Großmacht erhielt hier einige weitreichende Vorrechte, um die eigene zollpolitische Handlungsfähigkeit nicht völlig in die Hand des kleinen Partners zu geben 3 9 . Preußen konnte eigenmächtige Tarifänderungen für die östlichen Provinzen beschließen und begrenzte Tarifänderungen bei gering besteuerten Waren vornehmen. V o r allem aber gab Hessen-Darmstadt im voraus die Einwilligung zu allen Handelsverträgen, die Preußen mit nicht an Hessen-Darmstadt grenzenden Staaten abschloß. Ferner erhielt Preußen über die gemeinsame Kommission zur Ausführung der Vertragsbestimmungen und die Position des preußischen Kontrollbeamten in der Darmstädter Zolldirektion weitgehende Mitspracherechte in den Verwaltungsfragen, die auch durch die Entsendung des hessen-darmstädtischen Kontrollbeamten in die Kölner Provinzialsteuerdirektion kaum ausgeglichen werden konnten 4 0 . Trotz dieser Sonderrechte setzte Preußen beim Vertrag mit HessenDarmstadt weniger auf die formalen Rechtsvorteile, sondern es vertraute ganz auf die ökonomische, fiskalische und politische Potenz, die allein schon eine Hegemonialstellung begründete 41 . Dieser preußische Verzicht auf die juristisch sanktionierte Unterordnung des kleineren Partners und die Rücksichtnahme auf die Souveränitätsinteressen des Mittelstaates sollten nicht zuletzt ein Modell für solche Staaten darstellen, die einerseits von der wirtschaftlichen und fiskalischen Attraktivität des preußischen Zollsy-

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stems gelockt wurden, andererseits aber u m ihre Souveränität fürchteten. Der neue Vertragstyp zeigte ihnen, auf welche Weise sie sich unter weitgehender Bewahrung ihrer souveränen Stellung mit der Großmacht einigen konnten. Damit bildete er eine entscheidende Etappe auf dem Weg zum Deutschen Zollverein 4 2 . Die verankerte Einstimmigkeit bei zentralen Entscheidungen, die getrennten, aber gegenseitig kontrollierten einzelstaatlichen Zollverwaltungen, die Einnahmeverteilung nach der Bevölkerungszahl und die Ausgleichssteuerpraxis nahmen Grundelemente der späteren Zollvereinsverfassung vorweg, die freilich dann auf süddeutsches Drängen noch etwas föderalistischer ausfiel 4 3 . D a der neue Vertrag große Vorteile versprach und zudem den wichtigsten Souveränitätsprinzipien Rechnung trug, fand er rasch die Zustimmung des Monarchen. Ludwig I. erhoffte sich nicht zuletzt große Fortschritte bei der Integration Rheinhessens 4 4 . Selbst Prinz Emil, der einflußreiche Sohn des Großherzogs und Führer der österreichischen Hofpartei, wertete den Schritt als eine ökonomische und fiskalische Notwendigkeit 4 5 , so daß die anfängliche Kritik einiger Hof- und Staatsbeamter bald verstummt war 4 6 . Das bereits bei den Berliner Verhandlungen erzielte gute Einvernehmen beider Parteien bestimmte auch die weiteren Beratungen über die Ausführung der einzelnen Vertragsbestimmungen. Obwohl Preußen keineswegs alle hessen-darmstädtischen Wünsche bereitwillig erfüllte 47 , taktierte es bei der von einer gemeinschaftlichen Kommission vollzogenen Reorganisation der hessen-darmstädtischen Zollverwaltung nach preußischem Vorbild äußerst vorsichtig und entgegenkommend, u m den Modellcharakter des neuen Vertrages nicht durch späteres vorschnelles Handeln aufs Spiel zu setzen. Dennoch liefen die Kommissionsverhandlungen nicht völlig konfliktfrei ab. U m die Sicherung der Zollerhebung in Hessen-Darmstadt durch ein zuverlässiges Personal zu gewährleisten, verlangte der preußische Verhandlungsführer, der Kölner Provinzialsteuerdirektor Schütz, daß die hessischen Beamten nicht nur in Titel, Rang und Rechtsstellung, sondern gerade auch hinsichtlich der Besoldung den preußischen Zollbeamten absolut gleichgestellt werden müßten. Aus Furcht vor nachfolgenden Gehaltsforderungen anderer Ressorts lehnte es die hessen-darmstädtische Regierung jedoch ab, die Gehälter des Zollpersonals generell auf den preußischen Stand anzuheben. Motz lenkte schließlich in diesem Streit ein und begnügte sich mit einer relativen Gleichstellung der hessischen Zollbeamten, bei der die spezifischen Interessen des Partners ebenso berücksichtigt wurden wie die niedrigeren Lebenshaltungskosten seiner Beamten. Der preußische Minister befürwortete zwar das von Schütz propagierte Konzept, die hessischen Zollbeamten durch Positions- und Gehaltsverbesserungen langfristig als Stützen des Zollvereins und damit der preußischen Interessen einzubinden, wollte aber andererseits auch vermeiden, daß der Zollverein zum Ausgangspunkt inneradministrativer Streitereien wurde 81

und bei Teilen der von den Verbesserungen nicht betroffenen Beamten an Attraktivität verlor 48 . Dieses vorsichtige, aber doch um Absicherung der eigenen Position bemühte Vorgehen der preußischen Bürokratie, ihr großes Interesse an einer von Hessen-Darmstadt angedeuteten Übernahme des preußischen Münzfußes 4 9 , der das wirtschaftspolitische Gewicht Preußens in Süddeutschland verstärken mußte, sowie die gegen Kurhessen und Nassau konzipierte gemeinsame Verkehrspolitik unterstrichen nochmals die langfristigen, auf weitere Expansion und gleichzeitige Konsolidierung des Erreichten ausgerichteten Zielsetzungen der neuen preußischen Zollpolitik. Trotz der Schwierigkeiten einer geordneten Grenzbewachung, die sich durch die Nähe Frankfurts, die österreichische Garnison in Mainz, die Exklaven und die Enklaven ergaben, erwiesen sich die anfänglichen Sorgen u m das Funktionieren der hessen-darmstädtischen Zollverwaltung bald als unbegründet 5 0 . Auch die Zusammenarbeit preußischer und hessen-darmstädtischer Zollbeamter entwickelte sich sowohl auf der oberen wie auf der unteren Ebene ausgesprochen positiv 51 . Weit schwieriger gestaltete sich dagegen zunächst die Aufnahme der neuen Einrichtung durch die hessendarmstädtische Bevölkerung. Obwohl die handelspolitische Verständigung mit Preußen in der öffentlichen Meinung zuvor mehrfach propagiert worden war, stieß der Zollvereinsabschluß vorerst einmal auf eine teilweise heftige Kritik. Dies war freilich weniger auf grundsätzliche Bedenken, sondern vielmehr auf die Form des rasch und heimlich vollzogenen Vertragsabschlusses zurückzufuhren. Die übereifrige Heimlichkeit der Regierung erregte Argwohn, und die lange Interimszeit zwischen der Vertragsunterzeichnung am 14. Februar und der offiziellen Publikation im Regierungsblatt vom 6. Mai 1828 gab zahllosen wilden Gerüchten Nahrung 5 2 . Überdies trug die Darmstädter Regierung selbst erheblich zur Mißstimmung bei, als sie im März 1828 eine Nachversteuerung all jener Waren anordnete, die nach den ersten Mutmaßungen über den bevorstehenden Zollverein noch in großen Mengen zu den alten, wesentlich günstigeren Tarifen eingeführt worden waren. Die harte, rücksichtslos und ungeschickt betriebene Eindämmung dieser Spekulationswelle rief selbst bei Befürwortern der handelspolitischen Verständigung mit Preußen zuerst einmal großen Unmut hervor, der erst nach dem Beginn des freien Handelsverkehrs verschwand 53 . Die wochenlange Geheimhaltung verstärkte vor allem in liberalen Kreisen den Argwohn gegen die Kooperation mit Preußen. Liberale Wortführer nahmen daher die Nachversteuerung zum Anlaß, das preußische System der »Erpressung und Bedrückung« zu brandmarken 5 4 , sprachen ferner von wirtschaftlicher Übervorteilung durch Preußen und fürchteten als Folge des Vertrages mit dem reaktionären Preußen einen Angriff auf ihre konstitutionellen Rechte. Diese anfängliche Skepsis und kritische 82

Distanz war verständlich, solange der manche Befürchtungen beseitigende Vertragstext noch nicht vorlag. Insofern bedarf du Thils Darstellung vom blinden Anrennen der Kammermehrheit gegen die Politik der ökonomischen Vernunft 5 5 einer Korrektur. Diese von der Literatur oft übernommene Aussage 5 6 negiert nämlich jegliche positive Leistung der Kammer, welche die Regierung stets zum Abschluß von Zoll- und Handelsverträgen gedrängt hatte und in der die Forderung nach einer Verständigung mit Preußen lange vor 1828 laut geworden war. Im übrigen verflog die anfangs aufkommende Kritik überaus rasch. Schon am 22. September 1828, noch keine drei Monate seit Inkrafttreten des Vertrages schrieb Maltzan aus Darmstadt: »So sehr auch anfänglich im Großherzogtum Hessen - zumal in den höheren Ständen - gegen den Anschluß an das diesseitige Zoll-System geeifert wurde, so sehr k o m m t man jetzt zur Erkenntniß, daß die Schöpfer dieser Maßregeln die Bedürfnisse und Verhältnisse der Landesausfuhr richtig beurteilt und einen Zustand ins Leben gerufen haben, der auf die Mehrheit der großherzoglichen Untertanen wohltätig wirken m u ß . « 5 7 Ein Gesamturteil über die unmittelbaren Folgen des Zollvereins von 1828 ist aufgrund des unzureichenden, keine Vergleiche ermöglichenden Zahlenmaterials nur sehr schwer zu fällen. Dennoch geht aus allen vorliegenden Berichten hervor, daß die hessisch-preußischen Handelsbeziehungen durch einen beiderseits bestehenden, zu Spekulationsgeschäften ermunternden Nachholbedarf einen spürbaren Aufschwung erfuhren. Hofmann berichtete im Herbst 1829 vor der zweiten Kammer, daß der Wert des hessen-darmstädtischen Exports nach Preußen im ersten Jahr des Zollvereins allein bei den wichtigsten Artikeln 3 1 9 8 4 3 1 fl. betragen habe. Diese Summe sei unter den alten Zollverhältnissen undenkbar gewesen, da die preußischen Zölle im Wert von 871429 fl. »mit geringen Ausnahmen als Prohibitionen gewirkt haben würden« 5 8 . Die neuen Marktchancen ließen vor allem die Exporte landwirtschaftlicher Erzeugnisse in die Höhe schnellen. A m lebhaftesten begrüßten die rheinhessischen Weinbauern die veränderten Zollverhältnisse, durch welche die aufgestauten Lagerbestände abgebaut werden konnten und die Preise um 30 bis 4 0 % anzogen. Nach Angaben Maltzans kauften preußische Händler im Juli 1828 allein in Nierstein Weine im Wert von 8 0 0 0 0 fl. 5 9 . Dieser erst 1830 wieder etwas abebbende Exportboom hessen-darmstädtischer Weine brachte den bisher geschützten, weniger konkurrenzfähigen preußischen Weinbau an der Mosel in schwerste Bedrängnis, was von der am politischen Erfolg des neuen Zollvereins interessierten Berliner Bürokratie vorerst ohne Gegenmaßnahmen hingenommen wurde 6 0 . Neben dem Wein profitierten auch andere hessen-darmstädtische Agrarerzeugnisse, insbesondere Getreide, Mühlenprodukte, Öl, Butter, Obst, Fleisch, Branntwein und Tabak vom freien Verkehr mit Preußen 6 1 . Waren die ungünstigen Wirkungen des preußischen Zollgesetzes zu allem

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Unglück mit dem Beginn der großen Agrardepression zusammengefallen, so erwies es sich nun im Hinblick auf die öffentliche Aufnahme des Zollvereins als Glücksfall, daß mit seinem Beginn »eine Preissteigerung der ländlichen Produkte in ganz Deutschland zusammentraf« 6 2 und die positiven Wirkungen verstärkte. Der wachsende Agrarexport begünstigte zugleich den Mainzer Handel, der ebenso wie die rheinhessischen Gutsbesitzer die handelspolitische Verständigung mit Preußen angeregt hatte und den neuen Vertrag bald lebhaft begrüßte. Die Mainzer und Kölner Handelskammer bemühten sich sofort nach Beginn des Zollvereinsvertrages um einen intensiveren Direktverkehr 6 3 . Das deutliche Ansteigen des Mainzer Hafen Verkehrs, insbesondere beim Gütertransit zu Tal, kann zu einem Großteil auf die Impulse der neuen Zollverhältnisse zurückgeführt werden 6 4 . Während sich somit im Agrar- und Handelssektor die mit der neuen Zollpolitik verknüpften Erwartungen weitgehend erfüllten, hielten sich die Erfolge im gewerblichen Sektor in weit bescheidenerem Rahmen. Hier bestätigte sich zunächst die preußische Vermutung, nach der zwar einige wenige hessen-darmstädtische Gewerbezweige durch die Öffnung des preußischen Marktes Wachstumsimpulse erhalten könnten, daß sich aber insgesamt kein »Zustand der Fabrikation ausbilden« werde, »welcher den unsrigen beeinträchtigen könnte« 6 5 . So blieb auch die Grundstruktur des in seinem Volumen gestiegenen preußisch-hessen-darmstädtischen Handels vorerst unverändert. Nach den vorliegenden Zahlen über den Handel Hessen-Darmstadts mit den westlichen Provinzen Preußens bestanden die hessen-darmstädtischen Exporte im zweiten Halbjahr 1828 etwa zu 8 0 % aus Agrargütern und Rohstoffen. Dagegen entfielen weit mehr als 8 0 % des rheinischen Exports auf Fertigwaren 6 6 . Die auf den hessischen Markt fließenden rheinischen Gewerbeerzeugnisse riefen bei vielen hessischen Gewerbetreibenden Existenzängste hervor 6 7 und brachten vor allem die Eisenindustrie 68 und das veraltete Wollgewerbe in schwere Bedrängnis 6 9 . Das Leinengewerbe verzeichnete dagegen sogar nochmals eine kurzfristige Ausfuhrsteigerung in die westlichen Provinzen Preußens 7 0 . Langfristig dürften die neuen handelspolitischen Rahmenbedingungen aber hier wie im gesamten alten Textilgewerbe den Verfallsprozeß eher beschleunigt haben. Zweifellos verbuchte Preußen auf dem gewerblichen Sektor die größeren Vorteile 7 1 . Dennoch brachte der neue Zollverein in diesem Bereich für Hessen-Darmstadt nicht nur Verfall und Stagnation. Jene Branchen, welche wie das Offenbacher Ledergewerbe oder die Tabakfabrikation bereits mit der Anpassung an neue Marktmechanismen begonnen hatten, profitierten nicht unerheblich vom freien Zugang auf den großen preußischen Markt 7 2 . Insbesondere in Offenbach, dessen Wirtschaftsbürgertum den Zollverein wegen der engen Beziehungen zu Frankfurt anfangs teilweise noch mit etwas Skepsis aufnahm, begünstigten die neuen handelspoliti-

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sehen Rahmenbedingungen den bereits in den folgenden Jahren zu verzeichnenden Wachstumsschub beträchtlich 73 . Während sich das Bürgertum der großen Städte mit der handelspolitischen Reform ebenso zufrieden zeigte wie die am großräumigen Agrarexport beteiligte Landwirtschaft, stieß der Zollverein nicht nur bei einzelnen Gewerbetreibenden auf Ablehnung, auch weite Teile der Bevölkerung in den Grenzgebieten zu Kurhessen, Nassau, vor allem aber zu Frankfurt klagten über den fast völligen Zusammenbruch des noch immer viele Familien ernährenden kleinen Grenzhandels74. Die stark gestiegenen Zölle auf Kolonial- und Manufakturwaren ließen die alteingefahrenen Handelsbeziehungen zwischen den Agrarprodukté liefernden hessen-darmstädtischen Regionen und Frankfurt nach den vorausgegangenen Einbußen durch den innerhessischen Zollkrieg nun endgültig zu einem unrentablen Geschäft werden 75 . Da auch die von der Darmstädter Regierung zugesagten Erleichterungen wegen kleinlicher Bestimmungen und restriktiver Auslegung die aufgetretenen Probleme nicht beseitigten, erreichte der schon seit 1824 steigende Schmuggel vor allem im Frankfurter Raum nun solche Ausmaße, daß er von der hessen-darmstädtischen Zollverwaltung selbst durch Militär- und Polizeieinsatz kaum unter Kontrolle gebracht werden konnte 76 . Für weite Teile der pauperisierten Unterschichten in den Grenzregionen, aber auch für manche Kleinbürger und Bauern stellte der vielfach von Frankfurter Kaufleuten gesteuerte, angesichts hoher preußischer Fiskalzölle überaus profitable Schleichhandel auch eine Form des »sozialen Protests« gegen eine Einrichtung dar, die bisherige Existenzmöglichkeiten vernichtete und zudem mit den höheren Fiskalzöllen auch noch neue Lasten auferlegte 77 . Während diese vom Großbürgertum und den Großbauern durch die gestiegenen Exporterlöse mehr als kompensiert wurden, trafen sie die zunächst nur wenig vom Zollverein profitierenden Bevölkerungsgruppen um so härter 78 . Die Zollreform des Jahres 1828 wurde somit nicht zum »großen Schritt aus tiefem wirtschaftlichen Elend zur Gesundung und Aufwärtsentwicklung« 79 . Sie führte noch nicht zu einem großartigen Aufblühen der Fabriken 80 . Aber der einsetzende Aufwärtstrend im hessen-darmstädtischen Export brachte für die angeschlagene Wirtschaft des kleinen Staates wenigstens eine gewisse Entlastung, die ein weiteres Absinken aufhielt. Dies entsprach auch den begrenzten Zielsetzungen der hessen-darmstädtischen Bürokratie, deren Zollpolitik in ökonomischer Hinsicht auf eine rasche Verbesserung der Exportchancen zielte und nicht als Bestandteil eines umfassenden Modernisierungskonzeptes angelegt war. Daher konnte die hessen-darmstädtische Regierung mit den ökonomischen Folgen des Zollvereins zunächst einmal zufrieden sein, zumal die Chancen für weitere, viele Beschwerden aufhebende Beitritte nun größer geworden waren. Auch die Kammern, die im Herbst 1829 zum vierten Landtag zusammentraten, sahen in ökonomischer Hinsicht kaum noch 85

Ansatzpunkte zur Kritik. Im Gegenteil, in ihren überschwenglichen Dankadressen an den Großherzog lobten sie die »Früchte des mit der Krone Preußens« abgeschlossenen Vertrages und werteten ihn als »ein erhabenes nachahmungswürdiges Muster« zur Wiederherstellung der deutschen Handelsfreiheit 81 . Der liberale Darmstädter Kaufmann Ernst Emil Hoffmann, jene »merkwürdigste und schillerndste Persönlichkeit des hessen-darmstädtischen Frühkonstitutionalismus« 82 , sprach vom Wiederaufleben jener Zielsetzungen, wie er sie bereits im Listschen Handels- und Gewerbeverein vertreten habe 83 . Selbst die Anhänger einer Beteiligung am bayerischwürttembergischen Zollverein billigten den Vertrag mit Preußen, drängten aber gleichzeitig auf weitere Schritte zur Verständigung zwischen beiden Vereinen 84 . Nach diesen Stellungnahmen der Kammern erklärte sich der Großherzog im Landtagsabschied ausdrücklich bereit, auf dem eingeschlagenen Weg fortzufahren und die deutsche Handelseinheit zu befördern 85 . Trotz dieser Einigkeit in Grundsatzfragen verzichteten die Abgeordneten der zweiten Kammer allerdings nicht darauf, gegenüber der von der Exekutive betriebenen Zollpolitik einige verfassungsrechtliche Bedenken vorzubringen. Die Regierung hatte zwar mit der sechsjährigen, über den Zeitraum des bewilligten Finanzgesetzes hinausgehenden Vertragsperiode die landständische Ermächtigung großzügig ausgelegt 86 , doch als grober Verfassungsbruch 87 konnte ihr Schritt nicht gewertet werden. Andererseits aber widersprach ihr taktisch wenig kluges Vorgehen in einem wesentlichen Punkt konstitutionellen Gepflogenheiten. Selbst der gemäßigte Freiherr Hans Christoph von Gagern kritisierte in der ersten Kammer, daß der Zollvereinsvertrag den Abgeordneten erst durch das Regierungsblatt bekannt geworden und jegliche offizielle Mitteilung an die Kammern unterblieben sei, obwohl diese durch ihre Ermächtigung den Vertrag erst ermöglicht hätten 88 . Nachdem die Regierung daraufhin zugestand, künftig alle den Wirkungskreis der Kammern tangierenden Staatsverträge »zur Nachsicht und Aufbewahrung im ständischen Archiv« an die Kammern weiterzuleiten 89 , wurde die landständische Ermächtigung zum Abschluß von Handels- und Zollverträgen erneuert. Immerhin aber mahnten dabei liberale Abgeordnete, bei künftigen Vollmachten für die Exekutive vorsichtiger zu sein und Kompetenzeinbußen in Grenzen zu halten 90 , zumal auch in einer anderen Frage deutlich wurde, daß der Zollverein tiefer in die inneren Angelegenheiten Hessen-Darmstadts eingriff, als es der publizierte Vertragstext vermuten ließ. Die von der zweiten Kammer verlangte Herabsetzung des hessen-darmstädtischen Salzpreises wurde von der Regierung mit dem Hinweis verworfen, daß man sich gegenüber Preußen verpflichtet habe, den wesentlich niedrigeren eigenen Salzpreis nicht ohne preußische Zustimmung zu senken. Die Kammer schwächte zwar nun ihre Forderung dahingehend ab, daß die Herabsetzung des Salzpreises nur dann erfolgen sollte, wenn es ohne Verletzung der bestehenden Verträge mög86

lieh sei, doch die von der Regierung eingestandene Existenz geheimer Zusatzartikel verstärkte bei einigen Abgeordneten trotz grundsätzlicher Zustimmung zum Zollverein das Mißtrauen gegen die Politik der Exekutive 91 . Dieses Einlenken war nicht allein auf die ökonomischen, sondern auch auf die großen fiskalischen Vorteile des Zollvereins zurückzufuhren, von denen die Kammer 1829 genauere Kenntnis erhielt. Im fiskalischen Bereich waren die Vorteile der Verbindung mit Preußen noch schneller und fühlbarer eingetreten als auf dem ökonomischen Sektor. Während unter der alten Zollverfassung die Verwaltungskosten am Ende den größten Teil der Bruttoeinnahmen wieder verschlangen, erhielt Hessen-Darmstadt im zweiten Halbjahr 1828 bereits eine Nettoeinnahme von 330000 fl. 92 ; 1829 waren es 580127 fl. und 1830 sogar schon 659762 fl.93. Gewiß trugen auch hessen-darmstädtische Staatsbürger über höhere Kolonialwarenzölle zu dieser Steigerung bei, zu einem großen Teil ging sie freilich auch auf das Konto Preußens. Der größere Staat ließ den Partner zum einen am höheren Einnahmeertrag der konsumfreudigeren westlichen Provinzen partizipieren und mußte zum anderen die hessen-darmstädtische Zollverwaltung mitfinanzieren, welche aufgrund der komplizierten hessischen Grenzen die gemeinsame Kasse außerordentlich belastete 94 . Hofmann bezifferte vor der zweiten Kammer die aus dem Zollverein resultierende Nettomehreinnahme aufjährlich 280000 fl.95. Wahrscheinlich lag diese Summe aber noch höher, denn die Regierung war offenbar bestrebt, gegenüber den Kammern das volle Ausmaß der neuen Einnahme zu verschleiern und den eigenen Finanzspielraum somit noch weiter auszudehnen. Bei einer solchen Mehreinnahme von fast 5% des Budgets hätte es nahegelegen, die noch immer drückenden direkten Steuern zu senken und damit auch jene Regionen und Branchen stärker zu entlasten, die von den Vorteilen des erweiterten Marktes noch nicht viel spürten. Statt dessen verplante die Regierung die Mehreinnahmen zur Deckung eines erhöhten Ausgabebudgets, das nicht nur dem Straßenbau, sondern auch der ohnehin hohen Zivilliste zugute kommen sollte. Der preußische Geschäftsträger Maltzan hat dieses Finanzgebaren in seinen Berichten heftig kritisiert. Es barg seiner Ansicht nach die Gefahr, daß der Zollverein doch noch in schwere innenpolitische Konflikte geriet und dadurch in benachbarten Staaten die Opposition gegen einen Beitritt zum preußischen Zollsystem weitere Nahrung erhielt. Eine hessen-darmstädtische Steuersenkung konnte dagegen in dieser Hinsicht nur positive Folgen haben 96 . Wie von Maltzan befurchtet, versäumte es die Darmstädter Regierung, die günstigere Finanzlage zu einer entgegenkommenderen Haltung gegenüber der zweiten Kammer zu nutzen, die gerade in den Zollfragen so überaus kompromißbereit aufgetreten war. Statt die innenpolitische Situation mit Hilfe der zollpolitischen Erfolge zu entspannen, entfachte die Regierung einen heftigen finanzpolitischen Streit, der sich nach dem Tode 87

Ludwigs I. noch verschärfte. Denn die Kammern sollten nun dem Nachfolger Ludwig II. die gleiche Zivilliste zugestehen, zur Deckung seiner hohen Privatschulden beitragen, weitere Apanagen erhöhen und 80000 fl. fur den Ausbau des Darmstädter Schlosses bewilligen. Die als Gegenleistung angebotene Aufhebung der nicht unbedeutenden Schlachtsteuer erschien angesichts der neuen Forderungen und der Mehreinnahmen aus dem Zollverein als viel zu gering. All dies führte zu vermeidbaren Auseinandersetzungen, welche die Regierung am Ende nicht zuletzt auch durch die 1830 in Oberhessen ausbrechenden Unruhen doch zwangen, ihr neues Ausgabenprogramm wieder zusammenzustreichen 9 7 . Im Februar 1828 hatte du Thil noch in einem privaten Brief an Otterstedt geschrieben: »Es ist mir nie eingefallen, bei diesem großen Unternehmen Geld gewinnen zu wollen, denn was ich an Mehreinnahmen habe, muß ich an anderen Abgaben nachlassen. Der staatswirtschaftliche Zweck hat mich allein geleitet.« 9 8 Die bereits auf dem vierten Landtag von 1829/30 betriebene Umfunktionierung der Zollvereinseinnahmen zu einem Instrument reaktionärer Politik, die den Einfluß der Kammern zurückdrängen wollte und v o m 1829 zum leitenden Minister aufsteigenden du Thil erheblich forciert wurde 9 9 , zeigt jedoch, daß der fiskalisch-antikonstitutionelle Aspekt der Zollpolitik offenbar auch nicht nur ein Nebenprodukt der Zollreform war. Die zweite K a m m e r hat diese antikonstitutionellen Elemente der Zollpolitik zunächst kaum attackiert. Sie trug ihre Angriffe gegen die Regierung auf anderen Gebieten der Politik aus, weil sie den Zollverein als wichtigen Fortschritt ansah und seine Fortentwicklung nicht beeinträchtigen wollte. Doch aus den Äußerungen einiger Liberaler ging deutlich hervor, daß die Politik des Kompetenzverzichts auch in den Zollfragen nicht grenzenlos ausgedehnt werden sollte. Die aus fiskalischen, ökonomischen und auch politischen Motiven eingegangene zollpolitische Verbindung mit Preußen erfaßte somit recht schnell die zentralen Bereiche hessen-darmstädtischer Innenpolitik.

4. Preußische Expansion und mitteldeutsche Abwehrfront. Die Auswirkungen des preußisch-hessen-darmstädtischen Zollvereinsvertrages auf die zollpolitische Entwicklung in Deutschland Der preußisch-hessen-darmstädtische Zollvereinsvertrag von 1828 dokumentierte die tiefgreifenden Veränderungen, welche die preußische Zollpolitik seit Mitte der zwanziger Jahre erfahren hatte. Obwohl sich die Gegner Preußens nun sogar nochmals zu einer festeren Abwehrfront zusammenschlossen, bildete die Verständigung zwischen den beiden 88

ungleichen Vertragspartnern letztlich doch eine entscheidende Zäsur in der gesamten zollpolitischen Entwicklung Mitteleuropas. Nach zehnjährigem Kampf gegen das preußische Zollgesetz war mit dem stets maßvoll taktierenden Hessen-Darmstadt der erste Mittelstaat dem preußischen Zollsystem unter akzeptablen Bedingungen beigetreten. Schon sechs Jahre später umfaßte der von Preußen geführte Zollverein mehr als die Hälfte aller Staaten des Deutschen Bundes. Der neue Vertrag rief innerhalb des Bundes sowie bei benachbarten westeuropäischen Staaten sofort ein großes Echo hervor. Holland, Frankreich und England nahmen den neuen Vertrag aus handels- wie machtpolitischen Interessen zum Anlaß, die zollpolitische Entwicklung in Mitteleuropa aufmerksamer zu verfolgen und gegebenenfalls in ihrem Sinne zu beeinflussen. Dabei fiel ihre gegen eine weitere zollpolitische Expansion Preußens gerichtete Politik letztlich viel zurückhaltender und vorsichtiger aus, als es von der deutschen Nationalgeschichtsschreibung lange Zeit behauptet worden ist 1 . Auch in Österreich erregte der hessen-darmstädtische Beitritt zum preußischen Zollsystem größtes Mißfallen. Metternich nannte den Schritt der Darmstädter Regierung einen »tadelnswerten Leichtsinn«, der die Souveränität des kleineren Partners untergrabe 2 . Aber er scheute sich aus Rücksicht auf die bundespolitische Kooperation mit Preußen, demonstrativ und offiziell gegen den neuen Vertrag vorzugehen 3 . Obwohl du Thil gegenüber Wien schon vor der Vertragsunterzeichnung einige vage Andeutungen gemacht hatte 4 und die österreichische Regierung sofort nach Abschluß des Vertrages als erste ausfuhrlich informierte 5 , war eine vorübergehende Mißstimmung im traditionell guten österreichisch-hessen-darmstädtischen Verhältnis nicht zu vermeiden 6 . Der in seiner Innenpolitik immer mehr dem Metternichschen Kurs folgende du Thil wies die österreichischen Bedenken jedoch entschieden zurück und verteidigte unter Hinweis auf das von Österreich mitverschuldete Scheitern einer bundeseinheitlichen Regelung das Recht der kleineren Staaten, angesichts ihrer schweren Probleme eigene Wege für ein wirtschaftliches Wohlergehen zu suchen 7 . Während du Thil trotz der handelspolitischen Verbindung mit Preußen die Ansicht vertrat, in der künftigen Bundespolitik Ökonomie und Politik strikt trennen zu können, erkannte Grolman sehr viel deutlicher, daß der Zollverein mit seinen vielfältigen Auswirkungen neben den ökonomischen und fiskalischen Bindungen auch politische Konsequenzen nach sich ziehen konnte und die preußische Führungsrolle in den Handelsfragen geeignet war, langfristig das Kräfteparallelogramm innerhalb des Deutschen Bundes zu verschieben 8 . Diese Einschätzung entsprach durchaus den Zielvorstellungen des für die Zollpolitik maßgebenden Teils der preußischen Bürokratie, der nunmehr entschlossen war, von der neugewonnenen Basis aus die handelspolitische Expansion voranzutreiben und »die Führung in dieser Angelegenheit, wenigstens in Norddeutschland, zu übernehmen« 9 .

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Der Vertrag mit Hessen-Darmstadt gab den Anstoß zu einer Entwicklung, der sich viele deutsche Staaten aus Furcht vor Souveränitätseinbußen nochmals entschieden widersetzten, die aber bereits sechs Jahre später in der Gründung des Deutschen Zollvereins einen vorläufigen Abschluß fand. Zu denen, die diesen Gang der Dinge am vehementesten zu behindern versuchten, gehörten auch Kurhessen und Nassau. Ungeachtet des preußischen Entgegenkommens gegenüber den Souveränitätsbedürfnissen des kleinen Partners erwiesen sich die Hoffnungen auf einen raschen, in Artikel 5 des geheimen Zusatzvertrages bereits vorgesehenen kurhessischen und nassauischen Zollvereinsbeitritt als verfrüht. Zwar standen in Kurhessen Teile der Bürokratie und des Wirtschaftsbürgertums einem Beitritt zum preußisch-hessen-darmstädtischen Zollverein mit großem Wohlwollen gegenüber 10 , doch Kurfürst Wilhelm II. wies die von HessenDarmstadt vorgelegten Vertragsangebote in schroffster Form zurück. Dieses Verhalten beruhte nicht auf nüchternen ökonomischen und fiskalischen Überlegungen, sondern auf der kurfürstlichen Ansicht, daß sich der hessische Bruderstaat angemaßt habe, das ranghöhere Kurhessen bei zollpolitischen Maßnahmen zu bevormunden 1 1 . Außer den alten hessischen Rangstreitigkeiten und dem aus familiären Gründen gespannten Verhältnis zum Berliner Hof spielte bei der kurhessischen Ablehnung auch die Einflußnahme anderer Staaten eine große Rolle. Neben Österreich, Frankreich, Sachsen und Hannover setzte vor allem Bayern, das die Ausdehnungsmöglichkeiten des eigenen Zollvereins schwinden sah und zuvor schon HessenDarmstadt vergeblich von der Vertragsratifikation hatte abhalten wollen 12 , über seinen Geschäftsträger Oberkamp nun alles daran, den kurhessischen Beitritt zum preußischen Zollverband zu verhindern und den so wichtigen Staat für den eigenen Zollverein zu gewinnen. Trotz zahlreicher Zugeständnisse und trotz eines zustimmenden Gutachtens des einflußreichen Kammerrats Meisterlin blieb das intensive bayerische Werben um Kassel jedoch ohne Erfolg. Kurfürst Wilhelm II. wollte, unterstützt von Österreich und Frankreich, in Überschätzung der eigenen Position die kurhessische Option offenhalten und keinem der bestehenden Zollvereine beitreten 13 . Ebensowenig wie in Kurhessen erzielte das auf informellen Wegen, vor allem über Otterstedt und den Freiherrn vom Stein, betriebene preußische und hessen-darmstädtische Werben um einen Beitritt des Herzogtums Nassau den erwünschten Erfolg 14 . Die Führung des kleinen, vom neuen Zollverein fast eingeschlossenen Staates sah aus ökonomischer und fiskalischer Sicht keine Veranlassung, das eigene Zollsystem aufzugeben 15 ; und in politischer Hinsicht wertete sie das hessen-darmstädtische Vorgehen als »freiwillige Mediatisierung«, die ein deutscher Landesherr, »der noch Herr in seinem Lande bleiben wolle«, nicht hinnehmen dürfe 16 . An dieser Haltung änderte sich auch nichts, als eine Umfrage vom August 1828 erkennen ließ, daß einige Regionen und Branchen, vor allem das vom 90

neuen Zollverein nahezu eingeschnürte Dillgebiet die neue Lage wesentlich kritischer beurteilten und die Regierung auf einen Verständigungskurs drängten 17 . Zu dem erhofften raschen Umschwung der öffentlichen Meinung, die aufgrund der hessen-darmstädtischen Erfolge »das schon geschwächte Vorurteil gegen den Verein ablegen« und »den LandesAnschluß für nötig halten werde« 18 , kam es in Nassau freilich noch nicht. Im Gegenteil, die Kammern plädierten für eine abwartende Haltung 19 , was Marschall die Fortsetzung seiner partikularistischen Politik erleichterte. Auch nach außen hin war der Wiesbadener Minister eifrig bemüht, diesen Kurs stärker abzusichern. Schon im März 1828 hatten Marschall und der Herzog Holland, Frankreich und Österreich vor der expansiven, die kleinen Nachbarstaaten bedrohenden preußischen Zollpolitik gewarnt und die jeweiligen Regierungen aufgefordert, der weiteren Ausdehnung des preußischen Zollsystems wirksam entgegenzutreten 20 . Da auch das kleine Hessen-Homburg trotz des Drängens seiner Gewerbetreibenden den Beitritt zum preußischen Zollverband ablehnte 21 und die Hoffnungen auf eine Frankfurter Beteiligung ohnehin wenig aussichtsreich waren, schien die preußische Expansion im hessischen Raum vorerst blockiert. Darüber hinaus beteiligten sich alle diese Staaten schließlich noch am Aufbau einer antipreußischen Abwehrfront. Schon kurz nach dem Entstehen des preußisch-hessen-darmstädtischen und des bayerisch-württembergischen Zollvereins tauchte in mehreren Staaten, die ihre Interessen durch diese Entwicklung und vor allem durch die preußische Politik gefährdet sahen, der Gedanke eines dritten handelspolitischen Vereins innerhalb des Deutschen Bundes auf 22 . Besonders gefördert und ausgearbeitet wurden diese Planspiele vom Frankfurter Senator Thomas, der die preußisch-hessen-darmstädtische Allianz als einen schweren Schlag gegen die wirtschaftlichen Interessen der Handelsmetropole betrachtete 23 . Schon am 21. Mai 1828 unterzeichneten die Bevollmächtigten Sachsens, Hannovers, Sachsen-Weimars, Sachsen-Gothas, Altenburgs, Schwarzburg-Sondershausens, Frankfurts, Kurhessens und Nassaus mit der Frankfurter Deklaration eine erste Vereinbarung über die Grundsätze des anzustrebenden mitteldeutschen Vereins 24 . Das von allen Seiten umworbene Kurhessen war erst nach langem, von Frankreich und Österreich unterstütztem Drängen sowie durch zahlreiche Zugeständnisse für den neuen Verein gewonnen worden. Während der Großteil der kurhessischen Bürokratie teils für die Annahme der bayerischen Vorschläge, teils für den Beitritt zum preußisch-hessen-darmstädtischen Zollverein eintrat, genoß es der Kurfürst offenbar weiterhin, daß seinem Land angesichts der geographischen Verhältnisse im neuen Verein, ja in der gesamten deutschen Zollpolitik eine Schlüsselrolle zufiel, durch die er sowohl die weitere Ausdehnung als auch ein mögliches Zusammengehen der beiden bestehenden Zollvereine erheblich erschweren konnte. Diese mit den drängenden kurhessischen Handelsinteressen nur schwer zu vereinbarende Positionsbestim91

mung verhärtete sich noch durch die Wahl Kassels als Ort der folgenden Vertragsverhandlungen 25 . Wie schon die vorausgegangenen klein- und mittelstaatlichen Versuche eigener zollpolitischer Lösungen wurden auch die am 22. August 1828 begonnenen Kasseler Verhandlungen von tiefgreifenden Antagonismen bestimmt. Die thüringischen Staaten, das Königreich Sachsen und teilweise sogar Kurhessen verknüpften mit dem geplanten Mitteldeutschen Handelsverein durchaus positive Ziele und strebten zunächst einmal umfangreichere Erleichterungen im gegenseitigen Handelsverkehr an. Dagegen bestand das Hauptanliegen Hannovers, Bremens, Nassaus und Frankfurts allein darin, ein weiteres Ausgreifen bestehender Zollvereine zu verhindern 26 . Trotz der zutage tretenden Gegensätze, die Kurhessen durch die Forderung nach Teilnahme Bayerns noch vergrößerte, kam schließlich am 24. September 1828 zwischen Hannover, Sachsen, Kurhessen, Braunschweig, Nassau, Oldenburg, Frankfurt, Bremen, Hessen-Homburg und den thüringischen Staaten ein Vertrag zustande, in dem sich die Signatarstaaten verpflichteten, für die Dauer von sechs Jahren keinem anderen Zollverein beizutreten und die bestehenden Transitzölle nicht anzuheben. Zwar enthielt der Vertrag mit dem gegenseitigen Verzicht auf Einfuhrverbote, einem freilich mit großen Einschränkungen verbundenen Bekenntnis zum freien Verkehr mit Lebensmitteln und den Aussagen über den Bau und die Unterhaltung gemeinsamer Straßenzüge auch positive, auf einen freieren Handelsverkehr hinzielende Absichtserklärungen, de facto brachte der neue Verein im Gegensatz zu den bestehenden Zollvereinen jedoch weder eine Beseitigung noch eine Herabsetzung der jeweiligen Einfuhrund Transitzölle. Er schrieb lediglich den unter den Signatarstaaten herrschenden zollpolitischen Status quo fest, vertröstete diejenigen Staaten, die umfassende Handelserleichterungen anstrebten, durch vage Absichtserklärungen und stellte vor allem jene Staaten zufrieden, denen wie Nassau und Frankfurt die rein negative Funktion eines Schutzbündnisses gegen Preußen vollauf genügte 27 . Obwohl die nassauischen Kammern nach dem Kasseler Vertragsabschluß der Hoffnung Ausdruck gaben, daß die Regierungen des Mitteldeutschen Handels Vereins »den wechselseitigen Austausch ihrer verschiedenen Landes- und Handelsprodukte möglichst« erleichtern und »den weiteren Übergang zu neuen Handelsverbindungen« vorbereiten würden 2 8 , zeigte Marschall nicht das geringste Interesse am materiellen Ausbau des Vertragswerkes 29 . Dagegen nutzte das erst nach neuerlichen Zugeständnissen gewonnene Kurhessen die im Vertrag vorgesehene Möglichkeit, über Sonderverträge zwischen den Signatarstaaten zusätzliche Handelserleichterungen zu schaffen, die der Gesamtverein nicht zustande brachte. Mit Hannover vereinbarte Kassel einen besseren Zugang zu seiner im Norden gelegenen Exklave Schaumburg. Auch mit Sachsen-Weimar, SachsenMeiningen und Sachsen-Coburg-Gotha Schloß Kurhessen im Dezember 92

1828 Verträge über gegenseitige Handels- und Verkehrserleichterungen, die sich jedoch nur auf bestimmte Artikel bezogen 3 0 . D e m Gesamtverein gelang es dagegen auch in der Folgezeit nicht, im Inneren eine Freihandelszone zu schaffen und dadurch der Wirtschaft neue Entfaltungschancen zu eröffnen. Darüber hinaus blieben auch die erwarteten materiellen Zugeständnisse der Großmächte aus. England, Frankreich und Österreich waren aus innenpolitischen Rücksichtnahmen nicht in der Lage, ihre politische Förderung durch eine wirksame materielle zu ergänzen und dem antipreußischen Verein auf diese Weise die nötige Festigkeit zu verleihen 31 . Der neue Verein schob sich zwar wie ein Keil zwischen die großen preußischen Gebietskomplexe und hielt die zollpolitische Expansion Preußens vorerst auf. Doch der ausbleibende materielle Erfolg des locker strukturierten Mitteldeutschen Handelsvereins und die preußische Weigerung, mit dem Gesamtverein über gegenseitige Handelserleichterungen zu verhandeln, führten schon 1829 zu ersten Erosionserscheinungen, durch die bald der Weg zum Deutschen Zollverein geebnet wurde. Anders als der etwas vorsichtiger auftretende Bernstorff, der von einem zu aggressiven preußischen Vorgehen ein engeres Zusammenrücken der mitteldeutschen Koalition befürchtete, war Motz von Anfang an entschlossen, den Zerfall des Mitteldeutschen Handelsvereins durch energische K a m p f m a ß nahmen zu forcieren 3 2 . Unter anderem beabsichtigte er, die beitrittsunwilligen Staaten durch gezielte verkehrspolitische Maßnahmen noch stärker unter Druck zu setzen. Durch den Neubau von Straßen, durch Transitzollsenkungen oder auch durch die Sperrung und Behinderung bestimmter Verbindungen sollte ein Großteil des Durchgangsverkehrs aus den Staaten des Mitteldeutschen Handelsvereins abgezogen und so weit wie möglich durch Zollvereinsgebiet sowie über die freien Flüsse gefuhrt werden. Bereits im April 1828, noch vor der Gründung des Mitteldeutschen Handels Vereins, lag ein erstes gegen Kurhessen und Nassau gerichtetes Verkehrskonzept vor 3 3 . Die hessen-darmstädtische Regierung kam dabei zwar den preußischen Plänen weit entgegen, indem sie wie Berlin 1829 den eigenen Straßenbau erheblich forcierte 34 . Bei allem Interesse an einem raschen Beitritt der Nachbarstaaten war sie aber nicht gewillt, sich vorbehaltlos in die von Motz errichtete Front einfügen zu lassen. Angesichts der komplizierten geographischen Verhältnisse des hessischen Raumes war Hessen-Darmstadt auch nach dem Zollverein mit Preußen in seiner Verkehrspolitik auf Kompromisse mit den hessischen Nachbarn angewiesen. Als sich in Nassau im zweiten Halbjahr 1828 der Transitverkehr stark reduzierte und vor allem die Bewegungsfreiheit der nördlichen Ämter erheblich eingeengt wurde 3 5 , nutzte die Wiesbadener Regierung die von Motz nicht sonderlich beachteten Schwachstellen der preußisch-hessen-darmstädtischen Straßenpolitik. Gemeinsam mit Kurhessen und Frankfurt begann sie eine verkehrspolitische Gegenoffensive, die den hessen-darmstädtischen Binnen93

verkehr zwischen den südlichen Provinzen und dem von Frankfurter, kurhessischem und nassauischem Gebiet abgetrennten Oberhessen bedrohte 36 . Motz trat weiterhin fur eine kompromißlose Haltung ein. HessenDarmstadt suchte dagegen jetzt recht schnell eine Verständigung mit seinen Nachbarn, zumal Kurhessen von den Staaten des Mitteldeutschen Handelsvereins ausdrückliche Zusagen für gegen Hessen-Darmstadt gerichtete Retorsionen erhalten hatte 37 . Nach längeren Verhandlungen wurden im Mai 1829 zwischen den hessischen Staaten mehrere, auf sechs Jahre befristete Exklavenverträge abgeschlossen. Hessen-Darmstadt erhielt dabei vor allem das überaus wichtige kurhessische Zugeständnis, den Verkehr zwischen den nördlichen und den südlichen Provinzen nicht durch neue Transitzölle zu erschweren 38 , aber dies wurde mit einigen von Motz heftig kritisierten Gegenleistungen erkauft, die wie die großzügige Behandlung kurhessischer und nassauischer Exklaven sowie die Wiedereröffnung der für Nassau wichtigen Straße zwischen Herborn und Marburg die verkehrspolitische Manövrierfähigkeit des preußisch-hessen-darmstädtischen Zollvereins zwar nicht entscheidend, jedoch in wichtigen Punkten einschränkten 39 . Die aus diesen Absprachen resultierende Schwächung der preußischen Position war freilich bereits zum Zeitpunkt der Vertragsabschlüsse durch andere Ereignisse mehr als kompensiert. Eine der wichtigsten Folgen des Mitteldeutschen Handelsvereins, die zugleich dessen Verfall beschleunigte, war die Annäherung der beiden anderen handelspolitischen Vereine. Nachdem Bayern durch den hessendarmstädtischen Beitritt zum preußischen Zollsystem, die Errichtung der mitteldeutschen Abwehrfront und die Territorialstreitigkeiten mit Baden eine weitere Ausdehnung des eigenen Zollvereins kaum noch erwarten konnte und die Eingliederung der unter den zahlreichen Zollmauern sehr leidenden Rheinpfalz in weite Ferne rückte 40 , suchte es über den als Vermittler tätigen Augsburger und Stuttgarter Verleger Johann Friedrich Cotta eine Verständigung mit Preußen. Im März 1829 begannen in Berlin die offiziellen Vertragsverhandlungen, wobei der hessen-darmstädtische Bevollmächtigte Hofmann, unterstützt von Motz, auf die sofortige Errichtung eines großen Zollvereins drängte. Diese große Lösung wurde zwar am Ende noch nicht erreicht, doch der am 27. Mai 1829 abgeschlossene Handelsvertrag enthielt weitreichende Handels- und Verkehrsbefreiungen und war bewußt als Vorstufe eines künftigen gemeinsamen Zollvereins konzipiert 41 . Diese Bedeutung des Handelsvertrages wurde auch von der Darmstädter Regierung gewürdigt, aber sie kritisierte vor allem aus innenpolitischen Rücksichten, daß Bayern und Württemberg insbesondere bei den als Konkurrenz gefürchteten Agrarerzeugnissen zu viele Zugeständnisse erhalten hätten, die den eigenen Gewerbeerzeugnissen im umgekehrten Falle noch nicht gewährt würden und daher allzusehr zu Lasten der hessendarmstädtischen Wirtschaft gingen 42 . Preußen maß diesen in der Regel 94

überzogenen Klagen nicht mehr sonderlich viel Bedeutung bei und stellte unmißverständlich klar, daß Hessen-Darmstadt aus seinem Schritt von 1828 keine Garantie fur eine dauerhafte Sonderbehandlung beanspruchen durfte. Für Motz bedeutete der neue Vertrag einen zu großen Fortschritt, als daß er Rücksichten auf Empfindlichkeiten des kleineren Partners nehmen konnte. Einerseits schien die vollständige Verschmelzung der beiden kooperierenden Zollvereine nur noch eine Frage der Zeit zu sein, zumal die bayerisch-württembergischen Verwaltungskosten durch die infolge des Handelsvertrages errichtete pfälzische Zollgrenze noch größer wurden. Andererseits stärkte der Handelsvertrag die preußische Position gegenüber dem Mitteldeutschen Handelsverein. Schon bald nach der Einigung mit den süddeutschen Königreichen schlug Preußen im Juli 1829 durch Verträge mit Sachsen-Meiningen und Sachsen-Coburg-Gotha, in denen neben wechselseitigen Verkehrserleichterungen vor allem der Ausbau von zwei durch diese Staaten fuhrenden Verbindungsstraßen zwischen Preußen und Süddeutschland geregelt wurde, eine entscheidende Bresche in die mitteldeutsche Koalition. Mit diesem Erfolg im thüringischen Kleinstaatengewirr verbesserten sich zugleich die Voraussetzungen für die gegen Kurhessen gerichtete Straßenpolitik beträchtlich. Jetzt konnte neben der durch Kurhessen laufenden Nord-Süd-Verbindung auch die wichtige FrankfurtLeipziger-Straße durch eine von Offenbach über bayerisches und thüringisches Gebiet fuhrende Parallelstraße ausgeschaltet werden 4 3 . Wie weit inzwischen die zollpolitische Konzeption des preußischen Finanzministers gediehen war, ging aus seiner bekannten, im Sommer 1829 entstandenen Denkschrift hervor, in der die preußische Führungsrolle in der Handelspolitik mit all ihren bundespolitischen Implikationen nochmals deutlich untermauert und die engen Wechselwirkungen von ökonomischer und politischer Integration herausgestellt wurden. Motz schrieb: »Wenn es staatswissenschaftliche Wahrheit ist, daß Ein-, Aus- und Durchgangszölle nur die Folge politischer Trennung verschiedener Staaten sind, so muß es umgekehrt auch Wahrheit sein, daß Einigung dieser Staaten zu einem Zoll- und Handelsverbande zugleich Einigung zu einem und demselben politischen System mit sich fuhrt.« 4 4 Nach Ansicht von Motz, dessen Memoire ausgesprochen antiösterreichische Züge enthielt und der auch militärische Konsequenzen der Zolleinigung in sein Kalkül zog, sollte Preußen mit der Zollpolitik die Voraussetzungen schaffen, um zum gegebenen Zeitpunkt die dualistische Struktur des Deutschen Bundes überwinden und durch die preußische Führungsrolle in den deutschen Angelegenheiten ersetzen zu können 4 5 . Solche Gedanken waren zwar noch kein Allgemeingut der preußischen Beamtenschaft, vielmehr zielte gerade das Motz-Memoire darauf ab, beim König und in der Bürokratie »das Verständnis für die Tragweite der eingeleiteten Politik zu wecken und zu vertiefen« 4 6 . Dennoch stand Motz mit seinen Zielsetzungen 1829 auch nicht mehr völlig allein. Selbst das unter Bernstorff stets vorsichtiger taktierende 95

Außenministerium ließ in seinen Stellungnahmen den fundamentalen Wandel in der preußischen Politik erkennen, die den Zollverein noch nicht als Mittel zur Veränderung des mitteleuropäischen Staatensystems einsetzen wollte, sich aber der aus der Zolleinigung resultierenden künftigen Chancen für die Stellung Preußens voll bewußt war. Auch der frühe Tod des preußischen Finanzministers im Jahre 1830 änderte an dieser Konstellation zunächst nur wenig 47 . Die ersten Wirkungen jener strategischen Vorteile, die Motz durch die Verträge von 1829 errungen hatte, zeigten sich bereits bei den im Juni 1829 in Kassel beginnenden Beratungen über einen weiteren Ausbau des mitteldeutschen Vereins. Ein Teil der Vereinsstaaten war schon jetzt zur Abkehr von der eingeschlagenen Politik bereit. Der nassauische Bevollmächtigte Roentgen klagte, daß die im Jahr vorher vorhandene »Überzeugung einer gemeinschaftlichen Gefahr« geschwunden sei und somit ein »Vereinigungspunkt für die isolierten Interessen« fehle 48 . Der hessen-homburgische Regierungspräsident Ibell wies die nassauische Regierung sogar offen darauf hin, daß der Hauptzweck des Mitteldeutschen Handelsvereins, die Sicherung der Souveränität, durch die moderate Form der von Preußen abgeschlossenen Verträge hinfällig geworden sei und nun eine Verständigung mit Preußen angestrebt werden müsse 49 . Eine andere Gruppe, darunter Kurhessen, wünschte eine rasche materielle Ausgestaltung des mitteldeutschen Vereins, an der freilich Frankfurt und vor allem Nassau wenig Interesse besaßen 50 . Marschall wollte materielle Zugeständnisse an andere Vereinsstaaten nur dann erteilen, wenn sie geeignet waren, einige vom Verein abdriftende Staaten wieder fester einzubinden 51 . Nach langwierigen Verhandlungen gelang es schließlich in Kassel noch einmal, den mitteldeutschen Verein aufrechtzuerhalten, allerdings erwies sich der am 11. Oktober 1829 abgeschlossene Supplementvertrag 52 rasch als ein Scheinerfolg, der die vorhandenen inneren Gegensätze kaum noch überbrücken konnte. Da die notwendigen Ausfuhrungsbestimmungen zu den vereinbarten gegenseitigen Handels- und Verkehrserleichterungen immer weiter hinausgeschoben wurden, vermochte der erst nach mehreren Monaten von allen Signatarstaaten ratifizierte Kasseler Kompromiß den Zerfall der antipreußischen Abwehrfront nicht mehr aufzuhalten. Während in Nassau die alte Isolationspolitik konsequent fortgesetzt wurde und der zollpolitische Partikularismus bald immer groteskere Züge annahm, ging das von den preußischen Gegenmaßnahmen weit stärker betroffene Kurhessen andere Wege. Im Oktober 1829 Schloß es mit dem Königreich Sachsen und dem Großherzogtum Sachsen-Weimar, die bereits beide gegenüber Preußen ihre Verhandlungsbereitschaft bekundet hatten, Verträge über gegenseitige Handelserleichterungen 53 . Im März 1830 verständigte sich Kurhessen dann mit Hannover, Braunschweig und Oldenburg über die Schaffung eines gemeinsamen Zollsystems, das freilich mit wesentlichen ökonomischen Interessen des Landes nur schwer in Einklang 96

zu bringen war. Der am 27. März 1830 zwischen den genannten Staaten geschlossene Einbecker Vertrag sah einen freien Binnenverkehr zwischen den Vereinsstaaten und die Errichtung eines gemeinsamen Tarifsystems vor. Wie beim preußisch-hessen-darmstädtischen Zollverein sollte es keine zentrale, sondern nur eine vereinheitlichte Zollverwaltung geben 54 . Während aber der Zollvereinsvertrag zwischen Hessen-Darmstadt und Preußen den neuen Zustand bis ins Detail fixiert hatte, behielt der Einbecker Vertrag die genauen Ausfuhrungsbestimmungen weiteren Verhandlungen vor. Bevor sich die Einbecker Signatarstaaten nun über die heftig umstrittene künftige Tarifgestaltung einigen konnten, hatten sich die Rahmenbedingungen der kurhessischen Zollpolitik in einer Weise verändert, welche die Gewichte des zollpolitischen Ringens jetzt noch stärker zugunsten der preußischen Politik verschob.

5. Revolution und zollpolitische Neuorientierung. Der Beitritt Kurhessens zum preußisch-hessen-darmstädtischen Zollverein Die mit der französischen Julirevolution in Deutschland eingeleitete »Periode vielfaltiger politischer, ideologischer und sozialer Konflikte« 1 zwischen den auf Systemerhaltung ausgerichteten Kräften der alten O r d nung und der nun stärker vordrängenden, bürgerlich-liberalen Oppositionsbewegung mit ihren konstitutionellen, nationalen und sozialökonomischen Forderungen gaben auch der deutschen Zollpolitik neue kräftige Impulse 2 . Eine weitaus geringere Protestquote im preußischen Verwaltungsstaat führte bei vielen der erheblich verunsicherten oder sogar von revolutionären Erhebungen überrollten klein- und mittelstaatlichen Regierungen zu der Einsicht, daß eine partielle Modernisierung, wie sie sich etwa in der preußischen Zollreform andeutete, fur die Sicherung der einzelstaatlichen Existenz sehr viel nützlicher sein könne als der von der eigenen Bevölkerung oft mißbilligte und kostenträchtige Widerstand gegen das preußische Zollsystem 3 . Dies zeigte sich zunächst am deutlichsten in Kurhessen, wo das durch seine Mätressenwirtschaft bereits angeschlagene kurfürstliche Regime im Herbst 1830 unter dem Druck einer breiten Protestbewegung zusammenbrach, deren Antriebe zum größten Teil auf eine schier ausweglose wirtschaftliche Situation des Landes zurückgingen 4 . Schon seit Mitte der zwanziger Jahre mußte die kurhessische Wirtschaft als Folge der zollpolitischen Eskalation immer größere Einbußen hinnehmen 5 , die auch von den bescheidenen Handelsverträgen der Jahre 1828/29 nicht kompensiert wurden. Im Gegenteil: Seit 1828 litt die kurhessische Wirtschaft immer stärker unter den zollpolitischen Kampfmaßnahmen Preußens und Hessen-Darm97

stadts, deren Straßenpolitik nicht nur die kurhessischen Staatseinnahmen schmälerte, sondern zugleich einem beachtlichen Teil der Bevölkerung die Erwerbsmöglichkeiten entzog 6 . Hinzu kamen die konjunkturellen Einbrüche und die vielfach auch auf endogenen Ursachen beruhenden Versorgungsengpässe mit ihren großen Preissteigerungen bei Lebensmitteln, die in der ersten Septemberhälfte 1830 in der Landeshauptstadt und dann auch im übrigen Lande zu tumultuarischen Aktionen führten, in deren Gefolge der Kurfürst die Einberufung von Landständen versprechen mußte 7 . Doch selbst dieses Zugeständnis verhinderte nicht, daß anschließend in der Provinz Hanau eine neue Welle des Protestes begann, die sich nunmehr ganz gegen die verhaßten Mauten richtete. Die südlichste kurhessische Provinz lag seit Jahren eingekeilt zwischen den Zollmauern der sie umgebenden Staaten und konnte weder von der Beteiligung am Mitteldeutschen Handelsverein noch von der im Einbecker Vertrag eingeschlagenen norddeutschen Orientierung eine wesentliche Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Misere erwarten 8 . Als 1830 zu diesen strukturellen Schwierigkeiten konjunkturelle hinzutraten, schlug der lange aufgestaute U n m u t in Stadt und Provinz Hanau in offenen Aufruhr um. Nachdem die Deputation des Hanauer Bürgertums nur mit dem Verfassungsversprechen, nicht aber mit konkreten Zusagen in der brennenden Zollfrage zurückgekehrt war, zerstörte eine Gruppe von dreißig Personen unter der jubelnden Zustimmung einiger hundert Demonstranten die gesamte Einrichtung des städtischen Zollamtes. Da die Provinzbehörden einen Einsatz des ohnehin unzuverlässigen Militärs scheuten, fielen danach innerhalb weniger Tage nahezu sämtliche Zolleinrichtungen der Provinz dem aufsehenerregenden »Mautensturm« zum Opfer. In der Nachbarprovinz Fulda konnten die Behörden ähnliches nur dadurch verhindern, indem sie die Zollerhebung freiwillig vorerst suspendierten. Selbst nachdem die kurhessische Regierung durch die Entsendung zuverlässiger Militäreinheiten im Oktober 1830 die Lage langsam wieder in den Griff bekam und die drohende Bundesintervention verhinderte, wagte sie es nicht, die alte Zollverfassung wiederherzustellen. Die Opposition gegen diese Einrichtung erfaßte im Süden nahezu alle Bevölkerungsschichten. Das Hanauer Bürgertum hatte den von unterbürgerlichen Schichten vollzogenen Mautensturm nicht nur toleriert, sondern ebenso wie Frankfurter Kaufleute ausdrücklich dazu ermuntert. Es trat bezeichnenderweise erst dann wieder als Ordnungsfaktor auf, als sich die Protestbewegung auf andere Objekte, vor allem auf das Privateigentum reicher Kaufleute, ausweitete 9 . Auch in den ländlichen Regionen standen die Zollmauern neben den standesherrlichen Institutionen an der Spitze der Beschwerden. In einer Petition der Gemeinde Ramholz wurde beispielsweise betont, »daß der Licent und die damit in Verbindung stehenden Abgaben zu den gefräßigsten und drükkendsten aller Abgaben gehören«, und daß man daher wünschen müsse, »daß diese Auflagen nie wieder vorkommen mögen« 1 0 . 98

Während die Masse der Kleinbürger, Kleinbauern und Unterschichten bei ihren Protestaktionen aus einer tiefverwurzelten Empörung über wirtschaftliche und soziale Mißstände handelte, ohne dabei klare politische und ökonomische Programme zu entwickeln, traten beim Bürgertum zu den wirtschaftlichen Forderungen bereits klarere politische, am südwestdeutschen Konstitutionalismus orientierte Zielvorstellungen hinzu 11 . Aufgrund drohender neuer Unruhen unterbürgerlicher Schichten und einer geschwächten Position der alten Gewalten konnte sich das im Grunde noch recht schwache kurhessische Bürgertum vorübergehend eine beachtliche Machtfülle verschaffen und vor allem über den Marburger Staatsrechtler Sylvester Jordan viele der eigenen Vorstellungen in die neue Verfassung einbringen. Der von einer Kammer gebildete und von einer durch das Zensuswahlrecht abgesicherten bürgerlich-mittelständischen Mehrheit dominierte Landtag besaß mit der Gesetzesinitiative, dem Steuerbewilligungsrecht, dem allerdings noch eingeschränkten Budgetrecht sowie dem Recht auf Ministeranklage Befugnisse, welche »unter den deutschen Verfassungen des Vormärz die liberale Konzeption der konstitutionellen Monarchie am reinsten« verwirklichten 12 . Freilich behielt der Monarch auch in Kurhessen entscheidende Rechte, vor allem das Recht der Landtagsauflösung und das Notverordnungsrecht, in seiner Hand, von denen er schon bald regen Gebrauch machen sollte. Trotz der zunächst vorrangigen Verfassungsdiskussion wurde das politische Geschehen Kurhessens auch weiterhin wesentlich von den ökonomischen Schwierigkeiten bestimmt. So stellte der neue Landtag den kurhessischen Bauern ein Ablösungsgesetz in Aussicht 13 . Vor allem aber wurden, wie die Flut von Petitionen, die Flugschriften und Zeitungsartikel zeigten, Landtag und Regierung von allen Seiten gedrängt, sich der aus einer verfehlten Zollpolitik resultierenden Probleme anzunehmen 14 . Über die dabei einzuschlagende Richtung konnte jedoch in der von divergierenden Interessen der einzelnen Regionen und Branchen geprägten kurhessischen Zolldebatte vorerst keine Einmütigkeit erzielt werden. Etliche niederhessische Kaufleute, Fabrikanten und Gutsbesitzer favorisierten ebenso wie die allerdings auch an Verträgen mit Süddeutschland interessierten Hersfelder Tuchfabrikanten die im Einbecker Vertrag angebahnte Zolleinigung mit Hannover, Braunschweig und Oldenburg, weil sie sich davon die größten Absatzmöglichkeiten erhofften und anders gegen die übermächtige preußische Konkurrenz nicht bestehen zu können glaubten 15 . Auch ein Artikel des liberalen »Verfassungsfreundes« warnte davor, »die Flut der preußischen Fabrikate« ins Land zu lassen: »Eine Verbindung mit Preußen in diesem Augenblick wäre der Todesstoß für unsere Industrie, das Verderben für unsere Fabriken und Gewerbe . . . Für eine Reihe von Jahren wären unsere Fabriken geschlagen, und der Wohlstand, statt sich zu heben, hörte auf. « 16 Zu diesen ökonomischen Ängsten traten im liberalen Lager die politischen Bedenken gegen Preußen hinzu. Im gleichen Artikel wurde der 99

mächtige Nachbarstaat beschuldigt, über die Handelsfragen die Einheit der konstitutionellen Staaten zu zerstören, Einfluß auf kleinere Staaten zu erstreben und dort dann gemeinsam mit dem allein zu schwachen Adel die bürgerlichen Kräfte hinter das bisher Erreichte zurückzudrängen. Mit solchen Warnungen sollten jene liberalen Kräfte immunisiert werden, die aus wirtschaftlichen Erwägungen einem Beitritt zum preußischen Zollverein nicht abgeneigt waren. Der Autor des Antizollvereinsartikels mahnte daher eindringlich: »Wer Handel und Wandel hat, regiert den Staat. Eine Verbindung, die jetzt gefahrlos, ja Manchem vorteilhaft erscheint, könnte eine späte Reue verursachen. Das constitutionelle Leben ist noch jung, es hat mächtige Feinde, darum alle Vorsicht angewandt, daß es nicht durch unüberlegte Handlungen gefährdet werde. Nicht vergebens bietet Preußen große Summen zum Ersatz, nicht vergebens spiegelt es euch die Vortheile vor, die ihr aus dieser Verbindung haben sollt, nicht vergebens wird es seine Zoll- und Mauthbedienten in euer Land senden.« 17 Die in der öffentlichen Auseinandersetzung noch keineswegs dominierenden Befürworter der preußischen Lösung wiesen solche Befürchtungen zurück und betonten vor allem die wirtschaftlichen Vorteile »eines freien Verkehrs mit einer Kurhessen angrenzenden Bevölkerung von mehr als 13 Millionen Menschen« 18 . Die Einigung mit Preußen werde den gesunkenen Transitverkehr wieder steigen lassen und darüber hinaus der gesamten, durchaus konkurrenzfähigen kurhessischen Wirtschaft weit mehr Impulse verschaffen, als dies von einer Beteiligung am bayerisch-württembergischen Zollverein oder von einer Fortsetzung der Einbecker Politik zu erwarten sei. Im übrigen aber wurde der Beitritt zum preußischen Zollsystem auch als einzig realistischer Weg zur deutschen Handelseinheit angepriesen 19 . Damit versuchten die Anhänger der preußischen Option jene anfangs die kurhessische Zolldebatte noch bestimmende Ansicht zurückzuweisen, nach der zunächst noch einmal alle Anstrengungen auf eine bundeseinheitliche Lösung der Handelsfragen konzentriert werden sollten. Vor allem Hanau trat entschieden dafür ein, »eine partielle Vereinigung, die eine allgemeine nur wieder hinausschieben würde«, zu verhindern 20 . Auch die Landtagsmehrheit plädierte in den ersten Monaten des Jahres 1831 noch dafür, dem Streben nach Ausgestaltung des Artikels 19 Priorität einzuräumen und erst nach einem erneuten Scheitern derartiger Bemühungen Verträge mit den Nachbarstaaten abzuschließen 21 . Eine solche Strategie verschob die schwierige Festlegung auf eine bestimmte handelspolitische Richtung und überdeckte die tiefgreifenden, vorwiegend regionalen, aber auch sektoralen Interessengegensätze. Die Sondierungen verschiedener kurhessischer Gesandtschaften bestätigten freilich sehr rasch, wie wenig Aussicht ein neuer Vorstoß am Bundestag besaß. Entscheidende Fortschritte im Hinblick auf eine größere Bewegungsfreiheit der kurhessischen Wirtschaft ließen sich nur durch einen 100

Beitritt z u m preußischen Zollsystem erzielen. Die Einigung mit Bayern und W ü r t t e m b e r g war dann nur noch eine Frage der Zeit. Im übrigen hatten auch die beiden kleinen kurhessischen Nachbarstaaten, SachsenWeimar und Waldeck, schon 1831 den Anschluß an das preußische Zollsystem beschlossen. Darüber hinaus tat Hannover recht wenig, u m durch eine rasche Verwirklichung des Einbecker Vertrages dem ökonomisch und fiskalisch angeschlagenen Kurhessen rasch und wirksam zu helfen. Daher gerieten die gegen eine Verständigung mit Preußen votierenden Kräfte zunehmend in die Defensive. U n t e r dem maßgeblichen Einfluß des i m April 1831 z u m Finanzminister berufenen Gerhard von Motz, einem Vetter des preußischen Zollvereinspioniers, setzte sich der propreußische Kurs innerhalb des Staatsministeriums nun i m m e r nachhaltiger durch 2 2 . Die B e f ü r w o r t e r dieser Lösung stellten unmißverständlich klar, daß der Beitritt z u m preußischen Zollsystem trotz mancher Nachteile - die hohen Tarife, die strengen Kontrollen und die konkurrenzfähigeren preußischen Gewerbe - i m Grunde der einzige Weg sei, u m die schwerwiegende ökonomische und finanzielle Krise des Landes zu mildern, zumal die Erweiterungsaussichten des preußischen Vereins in Bezug auf Thüringen, Sachsen u n d Süddeutschland auch den baldigen Wegfall der meisten anderen, Kurhessen unmittelbar berührenden Zollschranken erwarten ließen. In Anbetracht der durch sinkende Transitzölle u n d die suspendierte Abgabenerhebung i m Süden rasch fortschreitenden Finanzkrise 2 3 mahnten die handelspolitischen Fachkräfte der Kasseler Bürokratie in einem ausfuhrlichen Gutachten nochmals eindringlich: »In j e d e m Falle aber ist höchste Eile dringendst nöthig, denn von der Regulierung des Zollwesens ist nicht allein gründliche Abhülfe des dermaligen Nothstandes, Beseitigung gegründeter Beschwerden, die Eröffnung von Nahrungsquellen, und hiermit Erhaltung der Ruhe sowie ein bedeutender Theil der Staats-Einnahmen, das Ordnen des Staats-Haushaltes, und die Möglichkeit, nöthige Ausgaben zu bestreiten, abhängig, sondern es läßt sich auch die durch leider nur zu viele E r f a h r u n gen begründete Besorgniß nicht unterdrücken, daß Zeitverlust i m m e r größere Verlegenheiten herbeifuhren, und Kurhessen, besonders wenn es d e m Preußischen Zollverein gelingt, noch weitere Ausdehnung namentlich durch einen Vertrag mit Braunschweig zu erlangen, in so höchst nachtheilige Lagen und in solche Verwicklungen bringen werde, daß kein Ausweg mehr möglich ist.« 2 4 T r o t z aller M a h n u n g e n verhielt sich der nach Hanau ausgewichene Kurfürst Wilhelm II. weiterhin abwartend und wollte mit Preußen nur verhandeln, w e n n dabei eine allgemeine deutsche Zolleinheit zustandegebracht w e r d e n könnte. Demgegenüber trat das Staatsministerium dafür ein, ohne solche Bedingungen d e m preußischen Zollsystem beizutreten. Diesem Drängen gab der Kurfürst schließlich erst nach, als die jetzt mehrheitlich für Preußen votierende Ständeversammlung die Regierung w i e d e r u m aufforderte, rasche Schritte zur Verbesserung der wirtschaftli101

chen Situation zu unternehmen, und Motz mit seinem Rücktritt drohte. Aber auch jetzt sollten die beiden nach Berlin geschickten Bevollmächtigten, Innenminister Rieß und Finanzrat Meisterlin zunächst nochmals über allgemeine Verkehrserleichterungen in Deutschland verhandeln und einen Beitritt zum preußischen Zollverein nur als Vorstufe einer großen Lösung akzeptieren. Der Monarch schlug schließlich sogar vor, unter Umständen eine zollpolitische Teilung des Landes vorzunehmen, bei der die Südprovinzen dem bayerisch-württembergischen und die Nordprovinzen dem preußischen Zollverein zugeschlagen werden sollten, was vom Staatsministerium ebenso abgelehnt wurde wie von der Ständeversammlung 25 . Obwohl Wilhelm II. auch weiterhin mehrfach damit drohte, die Ende Juni 1831 in Berlin aufgenommenen Unterredungen abzubrechen, weil Preußen lediglich über einen kurhessischen Zollvereinsbeitritt verhandeln wollte, setzte sich das Staatsministerium nun über alle kurfürstlichen Einwände hinweg und betrieb eigenmächtig den Abschluß eines Zollvereinsvertrages mit Preußen und Hessen-Darmstadt. Der am 25. August 1831 unterzeichnete Vertrag enthielt weitgehend die gleichen Bedingungen des preußischhessen-darmstädtischen Vertrages von 1828 und sah vor, daß der Beitritt Kurhessens mit Ausnahme der Exklaven Schaumburg und Schmalkalden zum 1. Januar 1832 erfolgen sollte 26 . Damit war aber die innerkurhessische Debatte um den Zollvereinsbeitritt noch lange nicht beendet. Die Zustimmung des Landtages, der nicht wie in Hessen-Darmstadt der Regierung im voraus die notwendigen Vollmachten erteilt hatte, stand noch ebenso aus wie die schwierige Ratifikation durch den Monarchen. In der Ständeversammlung brannten wiederum heftige zollpolitische Auseinandersetzungen auf, die sich nun immer mehr auf den internen Nord-Süd-Konflikt reduzierten. Sie begannen damit, daß die Mehrheit der nordhessischen Abgeordneten aus Gründen der Steuergerechtigkeit den südlichen Provinzen wegen der dortigen Suspendierung der Zollabgaben eine Aversionalsteuer auferlegen wollten. Die Hanauer Abgeordneten machten daraufhin von ihrem Recht der Separatstimme Gebrauch, die von allen Vertretern der Provinz getragen sein mußte und den Vollzug des Gesetzes aufschob 27 . Darüber hinaus drohten sie nun aber, unterstützt von dem nach Hanau ausgewichenen Kurfürsten, dieses Verfahren bei der Vorlage des Zollvereinsvertrages zu wiederholen, sofern ihre berechtigten zollpolitischen Wünsche nicht berücksichtigt würden. Dabei verlangten sie nichts weniger, als den neuen Beitrittsvertrag so lange auszusetzen, »bis die völlige Zoll- und Handelsverbindung mit Bayern und Württemberg ebenfalls ins Leben tritt« 28 . Die althessische Mehrheit des Landtages wertete den vorliegenden Zollvereinsvertrag jedoch als geeignetsten Ausweg aus den ökonomischen und fiskalischen Schwierigkeiten und stimmte ihm im Oktober 1831 zu. U m aber auch den Hanauer Abgeordneten entgegenzukommen, denen eine einzige Stimme für ein erneutes Separatvotum fehlte, sprach die Landtagsmehrheit 102

zugleich den Wunsch aus, die Regierung möge sich im Interesse des ganzen Landes, vor allem aber des Südens, für eine rasche Erweiterung des Zollvereins einsetzen 29 . Auch Kurprinz Friedrich Wilhelm, der am 30. September 1831 die Regierungsgeschäfte angetreten hatte, nahm in Anbetracht der vorhandenen Sachzwänge auf die Einwände des noch immer opponierenden Vaters keine Rücksichten mehr und ratifizierte am 5. November 1831 den Zollvereinsvertrag mit Preußen und Hessen-Darmstadt 3 0 . Diese Entscheidung schuf im unruhigen Süden ein neues Konfliktpotential, denn der Beitritt zum preußisch-hessen-darmstädtischen Zollverein brachte zum 1. Januar 1832 die Wiedererrichtung von Zollgrenzen gegenüber den Nachbarn Bayern und Frankfurt. Das Hanauer Wirtschaftsbürgertum bangte daher u m seine Kontakte zu diesen Märkten, und die Masse der Konsumenten fürchtete eine drastische Verteuerung vieler Waren, die man vor allem seit dem Mautensturm so günstig aus Frankfurt bezogen hatte. Als die Regierung Anfang Januar 1832 noch die Erhebung einer Nachsteuer auf die vor Inkrafttreten des Zollvereinsvertrages in großen Mengen eingeführten und gehorteten Waren ankündigte und damit einem Drängen der preußischen Finanzverwaltung nachkam 3 1 , half selbst der Hinweis auf einen baldigen bayerischen Zollvereinsbeitritt nichts mehr. A m Abend des 5. Januar begannen erneut Ausschreitungen gegen die gerade wieder errichteten Zollstellen in der Nähe Hanaus, die allerdings diesmal von den kurhessischen Behörden rasch unter Kontrolle gebracht werden konnten 3 2 . Das Hanauer Bürgertum distanzierte sich zwar später von der aus unterbürgerlichen Schichten rekrutierten Protestbewegung, hatte aber die eigenen Ordnungskräfte, vor allem die Bürgerwehr, wiederum nur sehr zögernd gegen die Aufständischen eingesetzt 33 . Unter Hinweis auf die neuerlichen Ausschreitungen forderte es in einer von 792 Bürgern unterzeichneten Petition Regierung und Ständeversammlung nochmals auf, den Vollzug des Zollvereinsvertrages im Süden wenigstens bis zu einer Einigung mit dem bayerisch-württembergischen Verein auszusetzen 3 4 . Diesem Verlangen war freilich ebensowenig ein Erfolg beschieden wie der gleichzeitig eingebrachten Klage wegen der Verfassungswidrigkeit des neuen Zollsystems. Die Hanauer Vorwürfe, daß der Zollvereinsvertrag kurfürstlichen Zusagen an die Provinz Hanau widerspreche, aufgrund seiner sechsjährigen Dauer das Steuerbewilligungsrecht künftiger Landtage verletze und schließlich auch mit den im Mitteldeutschen Handelsverein eingegangenen Verpflichtungen unvereinbar sei, wurden nach sorgfältiger Prüfung sowohl v o m Kasseler Oberappellationsgericht als auch von der Landtagsmehrheit entschieden zurückgewiesen 3 5 . Der Unmut des Südens über die mangelnde Berücksichtigung seiner berechtigten ökonomischen Interessen verflog erst, nachdem die Regierung ihre auf preußischen Druck 3 6 hin betriebene rigorose Nachversteuerungspolitik aufgab und gemeinsam mit der althessischen Landtagsmehrheit den Wünschen der südlichen Provinzen stärker entgegenkam. Die bald darauf folgenden 103

Erweiterungen des Zollvereins ließen das zollpolitische Protestpotential im kurhessischen Süden dann endgültig verschwinden 3 7 . In den übrigen Landesteilen blieben zwar Vorgänge wie in Hanau aus, doch wurde auch hier der Zollverein keineswegs euphorisch begrüßt, sondern eher mit Gleichmut, teilweise sogar mit lebhafter Opposition aufgenommen 3 8 . Darauf deuteten auch die verschiedenen Zeitungsartikel hin, in denen die Befürworter des Zollvereins den von der Regierung und Landtagsmehrheit vollzogenen Schritt zu rechtfertigen suchten. Der zum gemäßigten Liberalismus zählende Oberappellationsgerichtsrat Burkhard Wilhelm Pfeiffer wandte sich in der »Kasseischen Allgemeinen Zeitung« beispielsweise gegen die Ansicht, daß der neue Vertrag die kurhessische Souveränität, das Steuerbewilligungsrecht des Landtages, ja die gesamte neue Verfassung gefährde. Seiner Meinung nach mußte die zollpolitische Modernisierung eher die politische Reform im nichtkonstitutionellen Preußen fordern, als daß »antikonstitutionelle Ideen auf dem Wege des freien Verkehrs aus dem reinmonarchischen in den konstitutionellen Staat« dringen würden 3 9 . Darüber hinaus bemühten sich die liberalen Zollvereinsbefürworter u m eine ökonomische und insbesondere auch u m eine fiskalische Begründung der neuen Zollpolitik, da es der Bevölkerung nur schwer einleuchte, »wie in einem Staate, der nicht nur keine öffentliche Schuld zu verzinsen und zu amortisieren, sondern sogar noch einen jährlichen Zuschuß von 300000 rtl. aus den Einkünften seines Aktivvermögens zu beziehen hat, von einer Finanznot nur die Rede sein könne« 4 0 . Wie in Hessen-Darmstadt so erfüllte der Zollverein auch in Kurhessen zunächst einmal auf dem fiskalischen Sektor die mit ihm verbundenen Erwartungen. Durch die Nettoeinnahmen des ersten Ζ oll vereinsjahr es in Höhe von 330000 rtl., welche die früheren Bruttoeinnahmen eines kostenträchtigen kurhessischen Zollsystems beträchtlich übertrafen 4 1 , gelang es, die durch Revolutionswirren und Transitverluste eingetretene Finanzkrise sehr rasch wieder zu überwinden. Ähnlich wie in dem auf dem Wege nach Preußen vorangeschrittenen Nachbarstaat stärkte diese günstigere Finanzsituation rasch die antikonstitutionelle Position des neuen Herrschers, der gemeinsam mit dem 1832 berufenen hochkonservativen Innenminister Hassenpflug unter dem Schutz der neuen Bundestagsbeschlüsse eine Reaktionsphase einleitete und die vorübergehend starke Position des Landtages zugunsten der bürokratischen und monarchischen Autorität zurückzudrängen suchte 4 2 . Dieser Politik setzte die hartnäckige und wenig manipulierbare liberale Landtagsmehrheit 4 3 in den ersten Jahren noch ihren entschlossenen Widerstand entgegen. Sie gab auch in der Zollfrage ihre Rechte keineswegs kampflos preis. Zwar sollte die Funktionsfähigkeit des im Grundsatz bejahten Zollvereins nicht beeinträchtigt werden, aber mit einzelnen Tarifinitiativen 4 4 , der Kritik an der ohne landständische Zustimmung erlassenen Zollordnung 4 5 und der Ablehnung einer allzu rigiden Grenzbewachung 4 6 bemühten sich die kurhessischen Abgeordneten zu104

nächst noch eifriger als die hessen-darmstädtischen, ihre verfassungsmäßigen Rechte im Zollverein zu sichern und dessen Politik in ihrem Sinne mitzugestalten 4 7 . Die anfangs wenig begeistert aufgenommenen neuen zollpolitischen Rahmenbedingungen wurden, wie erste Umfragen der Regierung zeigten, schon wenige Monate nach Beginn des freien Verkehrs wesentlich positiver beurteilt. Nach den unausweichlichen Übergangsschwierigkeiten vermeldete beispielsweise der kurhessische Handel in vielen Bereichen eine spürbare Belebung, von der vor allem Messe und Wollmarkt in Kassel 4 8 sowie der Karlshafener Groß- und Speditionshandel 4 9 , aber auch andere lokale Märkte 5 0 profitierten. A u f der anderen Seite klagten Teile des Handels in den nordhessischen Grenzregionen und anfangs auch in Hanau über das Ausbleiben auswärtiger Kundschaft 5 1 sowie über einen wachsenden, an der Grenze zu Hannover auch in der Folgezeit kaum einzudämmenden Schleichhandel, der die Existenzmöglichkeiten eines legalen Handelsbetriebes beträchtlich verminderte 5 2 . Ebenso blieb im kurhessischen Transitverkehr, der die Beitrittsentscheidung maßgeblich bestimmt hatte, ein durchschlagender Erfolg vorerst aus. A u f einigen Straßenzügen trat anfangs sogar eine erhebliche Verminderung des Verkehrs ein. Denn zum einen waren zahlreiche Güter noch vor Inkrafttreten des Vertrages zu den alten, niedrigeren Transitzöllen transportiert worden, zum anderen hielten Frankfurt, Bremen und weitere Staaten des Mitteldeutschen Handelsvereins Warensendungen zurück oder benutzten andere Strecken, um das abtrünnige Kurhessen zu treffen. Hinzu kam aber vor allem, daß sich im März 1831 die Rheinuferstaaten endlich über die Ausführung der in der Wiener Kongreßakte niedergelegten Beschlüsse geeinigt hatten und die langersehnte Liberalisierung des Rheinverkehrs durch die Aufhebung der Stapelrechte, der Schiffergilden, der Rangschiffahrt und anderer lästiger Einrichtungen erreicht worden war 5 3 . Den kurhessischen Nord-Süd-Straßen, die bisher von den Rheinstreitigkeiten profitiert hatten, ging nun wieder ein Teil des gewonnenen Transitvolumens an die attraktivere Verkehrsader verloren 5 4 . Aufgrund des in den ersten Zollvereinsmonaten fast völligen Stockens im Nord-Süd-Verkehr gestanden Preußen und Hessen-Darmstadt eine Reduktion der Transitzölle von 24 auf 12 Silbergroschen pro Zentner zu. Sie kamen aber dann den hartnäckig vorgetragenen kurhessischen Forderungen nach weiteren Zollsenkungen aus fiskalischen wie straßenpolitischen Erwägungen nur noch sehr begrenzt entgegen 5 5 , zumal sich bereits Ende 1832 abzeichnete, daß die Einbußen für Kurhessen insgesamt gar nicht so groß waren. Den zweifellos zu konstatierenden Verlusten auf den Nord-Süd-Strecken standen weit höhere Gewinne auf den durch Kurhessen führenden Verbindungsstraßen zwischen den östlichen und westlichen Provinzen Preußens gegenüber, w o seit 1832 das Verkehrs volumen rasch anstieg 5 6 . Im übrigen aber betonten die ökonomisch fortschrittlichen Kräfte der kurhessischen Bürokratie schon 105

1831, daß Kurhessen in Anbetracht der neuen Entwicklung auf dem Rhein und der geplanten Köln-Mindener-Eisenbahn seine Bedeutung als Transitland nur erhalten könnte, wenn es mit der sich anbahnenden Revolutionierung des Verkehrssektors Schritt halte 57 . Bei der wenig exportintensiven kurhessischen Landwirtschaft blieben die positiven Einflüsse des Zollvereins in bescheidenerem Rahmen als in Hessen-Darmstadt. Nach Ansicht des Marburger Provinzialsteueramtes erhielt die oberhessische Landwirtschaft durch den freien Austausch mit hessen-darmstädtischen Nachbargebieten bereits im ersten Jahr des Zollvereins einige Impulse 5 8 . Der insbesondere an der Werra betriebene Tabakanbau vermeldete einen vermehrten Absatz nach Preußen und anziehende Preise 5 9 . Auch der Flachsanbau verzeichnete eine vorübergehende Belebung, da der Zollvereinsbeitritt dem Leinengewerbe wie in Hessen-Darmstadt durch die zurückkehrenden preußischen Händler eine vorübergehende Entlastung bescherte 60 . Andererseits klagten niederhessische Landwirte über die Konkurrenz des westfälischen Getreides 6 1 , und die eng mit der Landwirtschaft verbundene Branntweinbrennerei litt erheblich unter der Konkurrenz der modernen, leistungsfähigen ostelbischen Großbetriebe 62 . Beim übrigen Gewerbe gerieten meist solche Zweige in Bedrängnis, die sich wie der Großteil des strukturschwachen Handwerks ohnehin bereits im Niedergang befanden, während die schon zu neuen Betriebsformen tendierenden Branchen die neuen Markt- und Konkurrenzverhältnisse durchaus verkrafteten und teilweise sogar in ihrer Expansion begünstigt wurden 6 3 . Die größeren Betriebe in Kassel äußerten sich ebenso wie andere niederhessische Zweige, insbesondere das Ledergewerbe, schon in den ersten beiden Jahren des Zollvereins außerordentlich positiv über die Einflüsse der neuen handelspolitischen Rahmenbedingungen. Selbst die gewerbliche Wirtschaft der so lange opponierenden Stadt Hanau blieb von großen Einbußen verschont. Seit dem 1834 wirksam werdenden Zollvereinsbeitritt Bayerns verzeichnete sie sogar einen erkennbaren Wachstumsschub 6 4 . Die kurhessische Tabakindustrie und selbst die modernisierten Branchen des bisher durch protektionistische Maßnahmen abgeschirmten Wollgewerbes hatten zwar anfangs einige Übergangsprobleme zu überwinden, konnten sich dann aber schnell den neuen Marktmechanismen anpassen und die Chancen einer steigenden Auslandsnachfrage nutzen 6 5 . Die kurhessische Bürokratie zog aus den frühen, vielfach noch recht oberflächlichen Umfrageergebnissen über die kurzfristigen Folgen des Zollvereinsbeitritts den Schluß, daß die »aus dem Anschluß an das preußische Zollsystem hervorgegangenen Vorteile nicht allein in finanzieller, sondern hauptsächlich in national-ökonomischer Hinsicht als überwiegend gegen die mit dem Übergange in ein anderes System unvermeidlich verbundenen Nachteile darzustellen« seien 66 . Von einem gewaltigen ökonomischen Aufschwung und einer von der Regierung auch gar nicht intendierten raschen Strukturveränderung war aber selbst in den positiven 106

Berichten der kurhessischen Beamten so gut wie nichts zu spüren. Den noch recht zahlreichen Klagen aus den Grenzregionen, wo die Zollreform durch höhere Fiskalzölle und neue Handelshemmnisse den Betroffenen Kosten auferlegte, ohne sie am Gewinn zu beteiligen 67 , schenkte die Bürokratie im übrigen nur wenig Beachtung. Für sie war es zunächst einmal entscheidend, daß die kurhessischen Handels- und Verkehrsverhältnisse nach Jahren einer wechselvollen Politik wieder eine feste Richtung erhalten hatten und ein weiteres Anwachsen des zollpolitischen Protestpotentials verhindert wurde 6 8 . Überaus zufrieden zeigten sich verständlicherweise auch die beiden kurhessischen Vertragspartner. Preußen hatte nun die lange gewünschte zollpolitische Überwindung des Korridors zwischen den östlichen und westlichen Provinzen erreicht und zugleich seinen Einfluß auf die kurhessische Politik ausgeweitet, während Hessen-Darmstadt, das erneut einige Kurhessen zugestandene Sondervergünstigungen kritisierte 69 , alte Handelsbeziehungen wieder intensivieren und dadurch auch die politische Lage im unruhigen Oberhessen etwas entspannen konnte. Vor allem aber erwies sich der kurhessische Zollvereinsbeitritt als entscheidender Schlag gegen den Mitteldeutschen Handelsverein, der nun seine bedeutendste territoriale Klammer verlor und die weitere Ausdehnung des preußischen Zollvereins nicht mehr zu verhindern vermochte 70 . Die kurhessische Regierung rechtfertigte ihren Abfall von den bisherigen Bündnispartnern damit, daß alle ihre vorausgegangenen Bemühungen keine entscheidenden materiellen Vorteile gebracht hätten und ein Festhalten am bereits auseinanderfallenden Mitteldeutschen Handelsverein nicht länger zu verantworten gewesen sei: »Für keinen der übrigen beteiligten Staaten aber waren die bisherigen Hemmungen des Verkehrs so drückend, so tief verletzend gewesen, als für Kurhessen, welchem unter anderem das Schicksal bevorstand, in Kürze seine Haupt-Handelsstraßen verlassen und verödet zu sehen. « 71 Auch Preußen verwies gegenüber Hannover darauf, daß die »unruhige Bewegung, welche in Kurhessen größtenteils als Folge der Erwerbslosigkeit und gestörten Verkehrsverhältnisse entstanden ist«, keinen anderen Ausweg mehr gelassen habe 72 . Damit gaben sich die meisten Staaten des Mitteldeutschen Handelsvereins aber nicht zufrieden. Unter Führung Hannovers, das 1831 eine Teilnahme an Verhandlungen mit Preußen abgelehnt hatte 73 , beharrten sie auf der Erfüllung bestehender Verträge und forderten vor allem, die kurhessischen Transitzölle wieder auf den alten Stand herabzusetzen. Während die Kasseler Regierung aus Rücksicht auf den eigenen Verkehrsfluß dazu durchaus bereit war, lehnte Preußen ein Entgegenkommen ab, da dies nicht nur fiskalische Opfer erforderte, sondern auch den politischen und ökonomischen Druck auf beitrittsunwillige Staaten vermindert hätte 74 . Daraufhin erhoben einige ehemalige Vertragspartner, darunter selbstverständlich auch Nassau, im Mai 1832 Anklage beim Bundestag und leiteten 107

mit österreichischer Unterstützung ein Austrägalverfahren gegen das Vertragsbrüchige Kurhessen ein 75 . Preußen blieb vorerst bei seiner von HessenDarmstadt und Kurhessen weitgehend mitgetragenen harten Position 76 . Es lenkte erst im Juni 1833 ein, als sich die Zollvereinsbeitritte Bayerns, Württembergs, Sachsen und Thüringens bereits abzeichneten und die kurhessische Transitzollfrage erheblich an Brisanz verlor 77 . Die preußische Regierung war letztlich ebensowenig wie Metternich daran interessiert, die seit den gemeinsam vorbereiteten Reaktionsmaßnahmen des Jahres 1832 wieder intensivierte bundespolitische Kooperation durch ein Ausufern des handelspolitischen Streites zu belasten. Da im Verlaufe des Konflikts auch der von Hannover eingebrachte Antrag, im Bundestag nochmals über gemeinsame handelspolitische Regelungen zu verhandeln, an den alten Interessengegensätzen scheiterte 78 , schien die preußische Zollpolitik gestärkt aus den im Gefolge des kurhessischen Beitritts entstandenen Auseinandersetzungen hervorzugehen. In der Tat hielten die von Österreich aus Rücksicht auf ein gutes politisches Einvernehmen stets nur indirekt vorgetragenen Abwehrmaßnahmen die Entstehung des großen Deutschen Zollvereins nicht mehr auf. Dazu trug nicht zuletzt auch die Weigerung der Wiener Hofkammer bei, eine von Metternich vorgeschlagene Reform des österreichischen Prohibitivsystems in die Wege zu leiten 79 . Dennoch konnte der um die politischen Implikationen des Zollvereins besorgte österreichische Staatskanzler bald feststellen, daß die preußische Zollpolitik bereits vor dem großen Einigungswerk des Jahres 1833 ihren gefährlichsten Stachel vorerst eingebüßt hatte. Mit dem Machtzuwachs der hochkonservativen Kräfte um den neuen Außenminister Ancillon, dem Tod von Motz, dem Rücktritt Bernstorffs und der Zurückdrängung Eichhorns geriet nämlich jene zwischen 1825 und 1832 entwikkelte Konzeption in den Hintergrund, nach der Preußen durch seinen Einsatz in der vom Bund vernachlässigten Handelsfrage innerhalb Deutschlands moralische Eroberungen machen und durch diese sowie andere Reformschritte den eigenen politischen Einfluß erheblich ausweiten sollte 80 . Daß eine solche Strategie zumindest bei Teilen des deutschen Bürgertums bereits um 1830 Erfolge verzeichnen konnte, zeigte sich vor allem in der Politik des hessen-darmstädtischen Kammerliberalismus.

6. Partielle Zolleinheit und bürgerliche Freiheit. Zur Rolle der hessischen Oppositionsbewegung bei der Gründung des Deutschen Zollvereins Friedrich List schrieb wenige Jahre nach der Gründung des Deutschen Zollvereins, daß dieser »in höchster Instanz von der öffentlichen Meinung diktiert worden« sei1. Auch die marxistisch-orientierte Geschichtswissenschaft interpretiert in Anlehnung an Friedrich Engels den Zollverein bis 108

heute als eine Konzession der herrschenden Klasse an die aufstrebende Bourgeoisie 2 . Diese Aussagen verstellen nicht nur den Blick auf die unterschiedlichen Positionen, welche das deutsche Bürgertum in der Gründungsphase des Zollvereins vertrat. Sie verkennen darüber hinaus, daß zahlreiche zollpolitische Reforminitiativen, vor allem in Preußen, von der Bürokratie und nicht vom Bürgertum ausgingen 3 . Doch bei aller berechtigten Kritik an der These vom Zollverein als Werk der deutschen Einheitsbewegung und allen Hinweisen auf die dominierende Rolle der einzelstaatlichen Regierungen 4 erscheint es ebenso verfehlt, den Einfluß der »öffentlichen Meinung« 5 im'Gründungsprozeß des Deutschen Zollvereins als unbedeutend abzutun oder gar völlig zu negieren. Die durchaus beachtlichen Anfangserfolge des Listschen Handels- und Gewerbevereins, die intensiven Zolldebatten in den deutschen Verfassungsstaaten, die handelspolitischen Petitionsbewegungen und die Einflußnahme über öffentlich-rechtliche Institutionen zeigten, daß trotz der wirtschaftlichen Rückständigkeit schon vor 1830 Ansätze einer ökonomischen Interessenpolitik stattfanden, denen sich die meisten einzelstaatlichen Regierungen nicht völlig entziehen konnten6. Als das deutsche Bürgertum im Gefolge der Julirevolution stärker auf seine Freiheits- und Einheitsforderungen pochte, erhielt die öffentliche Diskussion über die zollpolitischen Fragen neue kräftige Impulse, die sich nicht nur auf die kurhessische Zollpolitik niederschlugen. Zahlreiche Regierungen, insbesondere die des nichtkonstitutionellen Preußens, verfolgten die große Debatte um die Vor- und Nachteile einer von Preußen geführten deutschen Zolleinigung mit großem Interesse und versuchten immer wieder über eigene Zeitungsartikel und Flugschriften, diese Diskussion in ihrem Sinne zu beeinflussen 7 . Eine seit 1830 etwas gelockerte Pressepolitik und vor allem die noch ausstehenden Beitrittsentscheidungen ließen den süd- und südwestdeutschen Raum zum Zentrum der Zollvereinsdebatte werden, die innerhalb des in sozialer Hinsicht noch recht heterogenen deutschen Frühliberalismus 8 schon bald erste Meinungsunterschiede offenlegte. Trotz der frühen Kritik an der zu liberalen preußischen Zollpolitik und trotz der fortbestehenden Unzufriedenheit mit politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen der Bürokratie stellten die maßgeblichen Repräsentanten des rheinischen Liberalismus den preußisch geführten Zollverein um 1830 nicht mehr zur Disposition. Im Gegenteil, der allmählich stärker »als Interessenvertretung der wirtschaftlich und sozial erstarkenden Schicht des Besitzbürgertums« auftretende rheinische Liberalismus 9 forderte ausdrücklich die nationale Ausgestaltung des preußischen Zollvereins. David Hansemann fand es in diesem Zusammenhang nur zu billig, daß sich die kleineren Staaten dabei dem preußischen Zollsystem anpassen mußten, da »die Resultate des preußischen Zoll-Wesens durch Erfahrungen vorliegen, diese letzteren aber noch bei den Ansichten der Gegner über dasselbe mangeln« 10 . Die stufenweise Errichtung eines nationalen Marktes galt dem rheinischen 109

Großbürgertum im übrigen als Beweis, daß wesentliche Ziele des Bürgertums durch Kooperation mit dem Verwaltungsstaat auf friedlichem Wege zu erreichen waren 11 . Aber bei allem Streben nach präventiven Maßnahmen gegen eine drohende Revolution wollte man die eigenen verfassungspolitischen Zielsetzungen keineswegs den ökonomischen Interessen opfern. Vom freien Verkehr mit dem konstitutionellen Deutschland erwartete der rheinische Liberalismus zugleich auch wichtige Impulse für die politische Reform Preußens 12 . Im Unterschied zum großbürgerlichen rheinischen Liberalismus stand der Großteil des süddeutschen Liberalismus dem Zollverein lange skeptisch gegenüber. Die Zollpolitik des sozialökonomisch liberalen und politisch obrigkeitsstaatlich strukturierten Preußen erschien ihm in doppelter Hinsicht als gefährlich. Z u m einen begünstigte sie eine von Teilen der rheinischen Liberalen bereits durchaus begrüßte ökonomische Entwicklung, die den Vorstellungen einer kleingewerblich-agrarischen Bürgergesellschaft mittlerer Existenzen zuwiderlief und jene Gruppen bedrohte, aus denen sich der in sozialer Hinsicht noch heterogene Frühliberalismus in beachtlichem Maße rekrutierte. Die in der süddeutschen Zollvereinsdiskussion immer wieder hervorbrechenden ökonomischen Ängste vor der Konkurrenz der überlegenen preußischen Fabriken 13 zeigten, wie sehr man hier an den alten vorindustriellen Leitbildern festhielt 14 . Z u m anderen aber verwarf der süddeutsche Liberalismus, der sich primär noch als Verfassungsbewegung verstand 15 , die partielle Zolleinheit unter Führung des nichtkonstitutionellen Preußens auch aus politischen Gründen. Eine Teilnahme am Zollverein schien die gerade errungenen Rechte im Einzelstaat wieder zu gefährden. Die besondere Sorge galt in diesem Zusammenhang dem Steuerbewilligungsrecht, das durch die neuen, schwer zu kontrollierenden Zolleinnahmen in den Augen der Zollvereinsgegner zumindest entscheidend geschmälert werden mußte 1 6 . Hinzu kam die Kritik an der rigiden preußischen Grenzbewachung und den hohen preußischen Fiskalzöllen, welche die Lebenshaltungskosten breiter Bevölkerungsschichten drastisch verteuerten 17 . Darüber hinaus wurde der stets nur mit dem Beinamen preußisch versehene Zollverein meist noch nicht als entscheidender nationaler Fortschritt angesehen. Wie aus verschiedenen Bundesreformplänen hervorgeht, befürwortete der süddeutsche Frühliberalismus mehrheitlich zunächst noch keine Einigungspolitik außerhalb des Deutschen Bundes, sondern strebte dessen konstitutionelle Ausgestaltung an 18 . Als diese Hoffnungen durch die neuen Reaktionsmaßnahmen desJahres 1832 immer mehr schwanden, wandten sich viele süddeutsche Liberale einer Politik zu, die der Wahrung verfassungsmäßiger Rechte im Einzelstaat Priorität vor partiellen Fortschritten in der nationalen Frage einräumte, sofern diese wie der Zollverein mit dem Makel konstitutioneller Defizite behaftet waren. Auch im hessischen Raum gab es Ansätze dieser primär politisch begrün110

deten, aber mit sozialökonomischen Ängsten gemischten liberalen Skepsis gegenüber dem von Preußen forcierten ökonomischen Einigungsprozeß. In der unter starkem Zugzwang abgelaufenen kurhessischen Zolldebatte wurden zunächst immer wieder die Sorgen um den Bestand der Verfassung und der Vorrang bundeseinheitlicher Regelungen gegen den Beitritt zum preußischen Zollsystem ins Feld gefuhrt 1 9 . In Nassau, wo die Zollvereinsdebatte zu Beginn der dreißiger Jahre noch eine vergleichsweise geringe Resonanz fand, übten Abgeordnete der zweiten Kammer heftigste Kritik an der preußischen Zollverwaltung, deren »Militarisierung von Wahrnehmungs- und Handlungsstandards« 20 man hier aus nächster Nähe erfuhr: »Sehen muß man, um zu glauben, wie die Preußischen Grenzzölle Inquisitionsgerichten in der strengsten Forschung gleichen. Wie da alles angehalten wird, wie hier weder Rang noch Ehre, Stand, Würde, Alter oder Geschlecht gelten, wenn man nach mautbarem Gut zu untersuchen für gut oder beliebig findet. Sehen muß man, wie da die Fuhrleute bei Frost und Kälte, wie bei brennender Hitze zum Ruin ihrer Pferde und zum Nachteil des Handels oft Tagelang nach Willkür aufgehalten werden.« 2 1 Sogar in Hessen-Darmstadt, wo der Zollvereinsbeitritt von 1828 zweifellos gewisse Erfolge gebracht hatte, fehlte es um 1830 keineswegs an kritischen Stimmen. Der dem demokratischen Radikalismus nahestehende Gießener Forstwissenschaftler Johann Christian Hundeshagen bestritt in zwei großen Schriften über die hessen-darmstädtischen Mißstände entschieden die positiven Zollvereinsbeurteilungen von Regierung und Kammern 2 2 . Seiner Ansicht nach hatte lediglich die Landwirtschaft einiger Regionen vorübergehend vom Zollverein profitiert. Dagegen litten die einheimischen Gewerbezweige immer mehr unter dem Druck der überlegenen preußischen Konkurrenz, und die hessen-darmstädtischen Lebenshaltungskosten hatten sich durch die neuen Fiskalzölle um 10 bis 15% verteuert, so daß insgesamt für Hundeshagen sogar große Verluste am »Nationalvermögen« zu konstatieren waren 23 . Seine Warnungen vor den politischen Gefahren des Zollvereins und sein Eintreten für eine freihändlerisch orientierte gesamtdeutsche Handelseinheit deckten sich zum Großteil mit den in Süddeutschland vertretenen Argumenten gegen die preußische Zollpolitik. Mit dem Hinweis auf die für breite Bevölkerungsschichten außerordentlich belastenden Fiskalzölle brachte Hundeshagen zwar negative Erscheinungen der Zollreform zur Sprache, über die manche Zollvereinsbefürworter allzu leichtfertig hinweggingen, andererseits aber waren seinfe Ausführungen vielfach unausgegoren und unrichtig. Daher fiel es den preußischen Regierungsstellen sehr leicht, die Aussagen Hundeshagens zu widerlegen und den anfangs befürchteten Schaden für die öffentliche Reputation des Zollvereins in Grenzen zu halten 24 . Während bei dem Gießener Forstwissenschaftler die dezidiert antipreußische Grundposition jeglichen Blick auf fortschrittliche Elemente der preußischen Zollpolitik verstellte, zeichneten sich die Beiträge des liberal111

demokratischen Publizisten Friedrich Wilhelm Schulz durch eine recht konstruktive Kritik aus. Schulz, der seit 1815 die hessen-darmstädtischen Mißstände immer wieder schonungslos angeprangert hatte, begrüßte anfangs den neuen preußisch-hessischen Zollverein noch als einen wichtigen Reformschritt und sprach der preußischen Regierung in den deutschen Fragen sogar eine Führungsrolle zu, sofern sie sich nicht auf die Förderung des materiellen Wohls beschränke, sondern gleichzeitig den konstitutionellen Erfordernissen entgegenkomme 2 5 . Wohl aufgrund der ausbleibenden preußischen Verfassungsfortschritte beurteilte Schulz bereits 1832 in seiner großen Schrift »Deutschlands Einheit durch Nationalrepräsentation« den Zollverein wesentlich kritischer. Die zeitlich befristete, von den Regierungen betriebene und der direkten ständischen Kontrolle weitgehend entzogene partielle Zolleinheit zwischen konstitutionellen und nichtkonstitutionellen Staaten trug seiner Ansicht nach nicht die erforderliche Bürgschaft von Dauer in sich: »Was unserer Industrie und unserem Handel vor allem N o t tut, das ist vielmehr ein festes System, welches - unabhängig von dem Schwanken der Persönlichkeit der einzelnen Machthaber - auf die wahren Bedürfnisse der Nation gegründet und dessen Bestand durch eine gesicherte politische Existenz verbürgt ist.« 26 Dies konnte nur erreicht werden, wenn ökonomische und politische Fortschritte synchron abliefen, wie es Schulz 1832 mit seinen Vorschlägen nach Nationalrepräsentation und gleichzeitiger allgemeiner deutscher Wirtschaftseinheit propagierte 27 . Sein damit verbundenes Schutzzollprogramm, das den Nationalwohlstand heben und die Rückständigkeit gegenüber Westeuropa verringern sollte, ließ erkennen, daß Schulz die moderne ökonomische Entwicklung nicht völlig ablehnte 28 ; doch die stets vehement vorgetragene Forderung nach gerechter Einkommensverteilung und die Kritik an einer Begünstigung der großen Industrie, weisen auch hier nur allzu deutlich auf den Einfluß des frühliberalen Zukunftsbildes einer klassenlosen Bürgergesellschaft mittlerer Existenzen hin. Schulz wertete den seiner Ansicht nach allzu sehr an den Interessen der Hegemonialmacht orientierten Zollverein nur als ein kleineres Übel, das keinen ausreichenden Ersatz für die großen Ziele der Oppositionsbewegung bieten könne. Bei allem Verständnis für partielle Fortschritte behielt der hessen-darmstädtische Publizist die zentralen Prinzipien des Frühliberalismus entschiedener im Auge als der Großteil des dortigen Kammerliberalismus. Schulz zeigte zwar Verständnis dafür, daß sich auch manche Ständeversammlungen »in dem allgemeinen Schiffbruche unseres Wohlstandes an das erste Brett, das ihnen entgegenschwamm, festzuklammern versuchten« 29 , aber er kritisierte in Anspielung auf die zweite Kammer Hessen-Darmstadts das allzu große Entgegenkommen gegenüber den Regierungen: »Statt sich in widerlichen Danksagungen zu ergötzen, über die kümmerlichen und halben commerziellen Maßregeln, welche da und dort zum größeren Gewinn der Staatskasse als des Volkes genommen 112

wird, oder beabsichtigt werden, sollen sie ihren Haß aussprechen gegen jede Maut im Inneren unseres Vaterlandes. Sie sollen daraufhinweisen, daß dem Volkes sein gutes Recht nicht geworden ist, so lange noch irgendwo dieses Brandmal der Schande am deutschen Staatskörper haftet.« 30 Trotz solcher Kritik verteidigten sowohl die hessen-darmstädtischen als auch die kurhessischen Kammerliberalen weiterhin den Abschluß neuer Zollvereinsverträge. Während die kurhessischen Liberalen unter Hinweis auf die ökonomischen Sachzwänge zunächst noch vorrangig um die innere Zustimmung zu den neuen handelspolitischen Rahmenbedingungen rangen, beschränkte der hessen-darmstädtische Kammerliberalismus seinen Einsatz für den Zollverein nicht mehr allein auf das eigene Land, sondern richtete sich seit 1830 verstärkt an die Liberalen der beitrittsunwilligen süddeutschen Staaten. Der erst im Laufe des Vormärz zu einer festen Fraktion zusammenwachsende hessen-darmstädtische Kammerliberalismus 3 1 orientierte sich allerdings hinsichtlich seiner sozialökonomischen Vorstellungen noch nicht an einer Erwerbsgesellschaft englischen Zuschnitts. Er blieb wie die süddeutschen Liberalen noch weitgehend der Konzeption einer vorindustriellen bürgerlichen Mittelstandsgesellschaft verhaftet. Ebenso besaß die Sicherung und Ausgestaltung der verfassungsmäßigen Rechte einen zentralen Stellenwert in seinem politischen Handeln. Dennoch kamen die hessen-darmstädtischen Liberalen bei der Beurteilung des Zollvereins zu anderen Schlüssen als Rotteck in Baden oder Römer in Württemberg. Der territorial stark zergliederte hessische Raum litt in weit größerem Maße unter den aufkommenden Grenzzollsystemen der deutschen Bundesstaaten als die kompakteren und großflächigeren süddeutschen Staaten. Angesichts der drängenden Probleme hatte die zweite Kammer HessenDarmstadts seit dem ersten Landtag die Regierung immer wieder zur Überwindung der zollpolitischen Abschnürung aufgefordert. Die Exekutive war sogar ausdrücklich ermächtigt worden, Handels- und Zollverträge mit anderen Staaten ohne vorherige landständische Zustimmung abzuschließen. An dieser Politik hielt die Kammer auch nach 1828 fest, zumal ein Großteil der im Landtag vertretenen bürgerlich-bäuerlichen Oberschicht von den neuen Zollverträgen erheblich profitierte. Auf den beiden Landtagen während der großen Zollvereinsdebatte stellten Gutsbesitzer und Großbauern in der zweiten Kammer 15,3%, beziehungsweise 24,4% aller Abgeordneten 32 . Sie konnten mit dem Vertrag des Jahres 1828 ebenso zufrieden sein wie das in der Kammer vertretene Wirtschaftsbürgertum. Mit 18,38% im Jahre 1832/33 und 21,11% im Jahre 1834 waren Fabrikanten und Kaufleute innerhalb der Kammer zeitweise in einem Maße repräsentiert, das für die Mitgliederstrukturen der vormärzlichen Parlamente und der Paulskirche nicht gerade typisch ist 33 . Die maßgeblichen Vertreter dieser nichtbeamteten und meist nicht akademischen unabhängigen Honoratiorenschicht kamen bezeichnenderweise aus dem fortgeschrit113

teneren Rheinhessen, wo Landwirtschaft und Handel die neuen Marktmöglichkeiten sehr schnell ausgenutzt hatten. Zahlreiche hessen-darmstädtische Kammerliberale verteidigten daher schon aus ureigenen Wirtschaftsinteressen die 1828 eingeschlagene handelspolitische Richtung. Aus denselben Motiven traten viele von ihnen, wie der starkenburgische Lederfabrikant Hellmann, der Offenbacher Unternehmer Pfaltz oder der oberhessische Textilfabrikant Koch, für den baldigen Ausbau des preußisch-hessischen Zollvereins ein. Allerdings läßt sich der massive Einsatz des hessen-darmstädtischen Kammerliberalismus zugunsten des Zollvereins nicht allein auf solche ökonomischen Gründe reduzieren. Die Liberalen befürworteten auch dann den Beitritt anderer Staaten, wenn hessen-darmstädtische Produkte auf dem großen preußischen Markt zusätzliche Konkurrenz aus Bayern, Baden oder Württemberg erhielten. Heinrich von Gagern, der seit 1830 immer mehr als Führer des hessen-darmstädtischen Liberalismus auftrat 34 , durfte mit größter Unterstützung rechnen, als er gegenüber den hier und da noch aufkommenden regionalen Sonderinteressen, vor allem gegenüber der anfänglichen Offenbacher Abneigung gegen einen Frankfurter Zollvereinsbeitritt, bemerkte: »Daß bei einer so großen Maßregel, wie die Vereinigung zu einem Handelsstaate, einzelne Lokalinteressen gekränkt werden können und müssen, leidet keinen Zweifel.« 35 Für viele hessen-darmstädtische Liberale, nicht zuletzt für die zahlreichen Beamtenabgeordneten, galt der Zollvereinsausbau als zentrale nationale Aufgabe 36 , wobei der Weg über eine von Preußen geführte Zollunion zwischen kooperationsbereiten Bundesstaaten nach Ansicht der meisten hessen-darmstädtischen Liberalen erfolgversprechender schien als die noch am Bund orientierten Alternativen der nur zu oft in negativer Kritik verharrenden Zollvereinsgegner. Der Deutsche Bund war bis dahin noch bei jedem Anlauf an den divergierenden Interessen seiner Mitgliedstaaten gescheitert. Der stufenweise Ausbau des preußischen Zollsystems schuf dagegen bei allen noch vorhandenen Unzulänglichkeiten zollpolitische Verhältnisse, die wirtschaftliche und fiskalische Erfolge brachten und deren politischer Rahmen von den hessen-darmstädtischen Liberalen trotz der preußischen Hegemonialstellung akzeptiert werden konnte. Schon bei der ersten großen Bewährungsprobe der neuen Zollverhältnisse hatte sich die zweite Kammer rasch hinter die ansonsten hart attakkierte Regierung geschart. Im Gefolge wachsender innenpolitischer Spannungen und verschiedener sozialökonomischer Mißstände kam es im Herbst 1830 auch im südlichen Oberhessen zu einer bäuerlich-kleinbürgerlichen Protestwelle. Diese richtete sich nicht allein gegen die hohe Steuerlast, ein zu langsam verlaufendes Ablösungsverfahren bäuerlicher Lasten und die drückenden Verhältnisse in den Standesherrschaften, sondern auch gegen die neue Zollverfassung. Während die Zollreform von 1828 in anderen Regionen einige Verbesserungen brachte, zerschnitt sie in den 114

Aufstandsgebieten die traditionellen Wirtschaftsbeziehungen zu den benachbarten nassauischen, kurhessischen und Frankfurter Märkten. Entgegen den Behauptungen der Regierung ging die 5-6000 Personen umfassende Revolte keineswegs nur auf schlechtes, von Frankfurter und Hanauer Kreisen gegen den Zollverein aufgestacheltes Gesindel zurück. Sie wurde vielmehr von rechtschaffenen kleinen Händlern, Handwerkern und Bauern angeführt, die sich durch die neuen Zollverhältnisse in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht fühlten. Der spontane, unorganisierte Aufstand konnte sehr schnell durch den Einsatz von Polizei und Militär unterdrückt werden, so daß es im Gegensatz zu Hanau keine Unterbrechung der Zollerhebung gab 3 7 . Die Liberalen der zweiten Kammer werteten die Protestbewegungen in Oberhessen als Störung ihrer parlamentarischen Mitarbeit am Staat und verweigerten der außerparlamentarischen Bewegung jegliche Unterstützung, ja, sie billigten sogar weitgehend die von der Regierung unternommenen Repressivmaßnahmen. Ernst Emil Hoffmann, einer der kämpferischsten und populärsten Liberalen des Landes, rief in einem von Unterwürfigkeit gegenüber der Obrigkeit zeugenden Aufruf die oberhessische Bevölkerung zur Mäßigung auf. Er verwies dabei auf die überaus positiven Seiten des Zollvereins, den es auszuweiten gelte, und rechtfertigte die doch nur von den Reichen getragenen höheren Zölle des preußischen Tarifs, ohne die der steuerliche Druck auf die Masse der Bevölkerung noch härter ausfallen würde 3 8 . Auch der nach den oberhessischen Ereignissen noch autoritärer auftretende Regierungskurs du Thils 3 9 hielt die hessen-darmstädtischen Liberalen nicht von ihrem Engagement für den Zollverein ab. Hoffmann, der als eifrigster Zollvereinswerber sogar Kontakte mit der preußischen Bürokratie anknüpfte, u m den Zollverein in der öffentlichen Meinung noch besser präsentieren zu können 4 0 , unterstützte in seinem »Hessischen Volksblatt« die Zollpolitik der eigenen Regierung, obwohl das gemäßigt liberale Blatt wegen der du Thilschen Pressepolitik ins pfälzische Speyer ausweichen mußte 4 1 . Die liberalen Befürworter des Zollvereins wiesen zunächst einmal auf die großen ökonomischen Vorteile hin. Der Vertrag von 1828 habe dem kleinen Hessen-Darmstadt bei zahlreichen Produkten einen wahren E x p o r t b o o m beschert, verbessere die Möglichkeiten im internationalen Handel und gewähre dem einheimischen Gewerbe einen besseren Schutz vor der außerdeutschen Konkurrenz. Eine Rückkehr zu den alten Zollverhältnissen ließe in Hessen-Darmstadt bei der gesamten »produzierenden Klasse«, vor allem aber bei den Acker- und Weinbauern sowie zahlreichen Fabrikanten »einen Schrei des Unwillens und Entsetzens entstehen« 4 2 . Zu den in Süddeutschland laut werdenden ökonomischen Ängsten vor der überlegenen preußischen Konkurrenz wurde dagegen vermerkt, daß sich derartige Besorgnisse in Hessen-Darmstadt bisher nicht bestätigt hätten 43 . Zurückgewiesen wurde ferner die Kritik an der primär fiskalischen Ausrichtung des neuen Zollsystems, das nach Ansicht von Schulz vorran115

gig dazu diente, »dem Volk das Geld leichter aus dem Beutel zu holen, die Staatskassen zu füllen, übermäßige Besoldungen zu zahlen und faule Bäuche füttern zu können« 44 . Den auch in Hessen-Darmstadt aufkommenden Klagen über die erhebliche Verteuerung wichtiger Lebensmittel wie Kaffee und Zucker setzten die liberalen Zollvereinsbefürworter das Argument entgegen, daß viele Waren seit dem Wegfall der Zollgrenze billiger zu beziehen seien und der Kauf hochbesteuerter Güter doch eine rein freiwillige Angelegenheit darstelle. Indem sie die hohen Fiskalzölle als reine Luxussteuern deklarierten, die allein von den Reichen erbracht würden 45 , gingen die hessen-darmstädtischen Zollvereinsbefürworter recht großzügig über die tatsächlichen Konsumgewohnheiten breiter, von direkter politischer Mitwirkung ausgeschlossener Bevölkerungsschichten hinweg 46 . Eine ausschließlich auf Luxusartikel orientierte Besteuerung konnte nie jenen fiskalischen Erfolg erzielen, wie ihn der Zollverein aufwies 47 . Es war, wie Hundeshagen zu Recht kritisierte, folglich eine »etwas starke Illusion« 48 , den Massenverbrauch von Kaffee, Zucker oder Tabak zu negieren und die Kritik an Fiskalzöllen wie Hoffmanns Volksblatt mit dem Hinweis abzutun: »Wer keinen indischen Kaffee bezahlen kann oder mag, der trinke Gerstenkaffee oder esse eine Suppe.« 4 9 Den außerparlamentarischen Kritikern des Zollvereins warfen die Liberalen Hessen-Darmstadts meist »Befangenheit«, »Unkenntnis« oder schlichtweg »Egoismus« vor, oder sie nannten sie »Parteimenschen und politische Schwärmer, welche alles zu verhindern suchen, was Glück, Ruhe und Ordnung im Vaterlande verbreiten und befestigen und so ihre Pläne zu einer Revolution vereiteln könnte« 50 . Damit grenzte sich der Kammerliberalismus Hessen-Darmstadts scharf von der zollpolitischen Kritik des populistischen Radikalismus ab, wie sie beispielsweise in den Schriften Siebenpfeiffers, Wirths und Stromeyers und dann auch auf dem Hambacher Fest im Mai 1832 zum Ausdruck kam 5 1 . Während die Warnungen, die das radikale Lager gegen die preußische Zollpolitik vorbrachte, schlichtweg als »Lügen und Entstellungen« 52 zurückgewiesen wurden, versuchten die hessen-darmstädtischen Kammerliberalen die gemäßigteren Kräfte innerhalb der Zollvereinsgegner durch beharrlich vorgetragene Argumente davon zu überzeugen, daß ihre Sorge wegen eventueller negativer Einflüsse des Zollvereins auf die innenpolitische Entwicklung unbegründet sei. Schließlich habe Preußen seit dem Vertrag von 1828 zu keinem Zeitpunkt irgendwelche Versuche unternommen, das hessen-darmstädtische Verfassungsleben zu beeinträchtigen, und im übrigen dürfe man ganz im Gegenteil erwarten, daß »Preußen, inniger mit den constitutionellen Staaten verbunden, leichter und früher eine Verfassung erhalten werde als bei fortbestehender Abgeschlossenheit« 53 . Das Kalkül preußischer Staatsmänner um Bernstorff, durch eine gemäßigte Politik gegenüber dem neuen Aufbegehren oppositioneller Bewegungen und die Förderung ihrer materiellen Belange moralische Eroberun116

gen zu machen 54 , schien somit bei weiten Teilen des hessen-darmstädtischen Kammerliberalismus erste Früchte zu bringen. Die bundespolitischen Implikationen der preußischen Zollpolitik wurden in der hessendarmstädtischen Zollvereinspublizistik jedenfalls bereits deutlicher artikuliert, als dies die um ihre Beziehungen zu Österreich besorgte preußische Regierung selbst tat 55 . In einer 1833 erschienenen anonymen Flugschrift aus Mainz hieß es beispielsweise: »Preußen scheint zu dem großen Zwecke von der Vorsehung ausersehen, die Stütze und der Träger des neuen deutschen Handels zu werden, und dem, durch seine politischen Verhältnisse so vielfach getrennten deutschen Volke auch hierin einen Haltpunkt darzubieten, damit es den Einwirkungen des Auslandes nicht unterliege. «56 Dagegen wurde in der gleichen Flugschrift das handelspolitische Versagen des Deutschen Bundes ausgiebig kritisiert57. Auch die Mehrheit der zweiten Kammer bekräftigte auf dem Landtag des Jahres 1832/33 die Richtigkeit der eingeschlagenen Handelspolitik, während sie die durch die Anträge Hannovers ausgelösten Störversuche des Deutschen Bundes entschieden mißbilligte. Die Kammer warnte, daß die öffentliche Meinung alle Bestrebungen vereiteln werde, »ein wohl begründetes Handelssystem und eine Handelsverbindung zu untergraben, bei welcher sich ein großer Teil von Deutschland so wohl befindet, als es die Umstände vor Errichtung des letzten Zieles gestatten«58. Wie stark dabei über die zweifellos vorhandenen ökonomischen Interessen hinaus die nationalen Gesichtspunkte die Positionen der hessen-darmstädtischen Kammerliberalen bestimmten, zeigten auch die von ihnen angeregten interparlamentarischen Kontakte mit den süddeutschen Gesinnungsgenossen, deren ablehnende Haltung vor allem in Baden Fortschritte des zollpolitischen Einigungsprozesses hinauszuzögern drohte. Im Juni 1833 trafen sich führende Liberale aus Hessen-Darmstadt, Baden und Württemberg in Langenbrücken, um gemeinsam über den Zollverein und seine Folgen zu diskutieren. Aus Hessen-Darmstadt nahmen neben Gagern und Ernst Emil Hoffmann noch die beiden Beamten Jaup und Hallwachs teil, aus Baden kamen Rotteck, Welcker und Fecht, aus Württemberg Schott, Pfizer, Römer und Uhland 59 . Behandelt wurden in erster Linie die in Baden und Württemberg bestehenden politischen Bedenken gegen den Zollverein mit Preußen. Gagern bemerkte zu diesem Treffen: »Die Besprechung wurde nicht auf dem Boden des materiellen Interesses geführt. Es gelang mir durchzudringen mit der anfangs isoliert stehenden Meinung, daß der politische Gesichtspunkt der wesentliche und wichtige sei, daß es sich um einen Schritt, wenn nicht zur Einheit Deutschlands, doch zur Verschmelzung und Organisation eines seiner wesentlichsten materiellen Interessen handle, daß die Erhaltung unsrer konstitutionellen ständischen Gerechtsame nicht Zweck an sich, sondern nur Mittel zum Zweck sei, daß ein großer Gedanke in seiner Ausführung alle ihm etwa sich anhängenden kleinen Rücksichten überwinden und diese sich ihm beugen müßten. «60 117

Ein großer Durchbruch gelang den hessen-darmstädtischen Liberalen in Langenbrücken aber doch noch nicht. Sowohl in Württemberg als auch in Baden wollte ein Großteil des Liberalismus nach Aussagen eines hessendarmstädtischen Teilnehmers »aus blindem Preußenhaß« noch immer nicht »das Gute annehmen, was aus einem allgemeinen Handels- und Zollverein für Deutschland entstehen müsse« 61 . Rottecks Bemerkung, daß er eine Freiheit ohne Einheit der Einheit ohne Freiheit vorziehe 62 , charakterisiert treffend die Beweggründe der von den späteren Nationalliberalen heftig attackierten Zollvereinskritik des süddeutschen Frühliberalismus 63 . Heinrich von Gagern hielt den Bedenken Rottecks bereits in den dreißiger Jahren entgegen, daß sich die Freiheit schon Bahn brechen werde, wenn nur die Einheit vorhanden sei 64 . Mit dieser stärkeren Betonung der nationalen Interessen besaß die einzelstaatliche Verfassungssicherung im hessendarmstädtischen Liberalismus nicht mehr ganz jene absolute Priorität, die ihr zweifellos in Süddeutschland noch zukam. Ferner zeigten die Rechtfertigung hoher Fiskalzölle, die Haltung in den oberhessischen Unruhen sowie die entschlossene Verteidigung eigener handelspolitischer Interessen gegenüber opponierenden unterbürgerlichen Schichten, daß es für die hessendarmstädtischen Liberalen schwieriger zu werden begann, »die mit dem ländlichen Pauperismus auftauchende soziale Frage mit den eigenen Zukunftserwartungen >einer entprivilegierten klassenlosen Bürgergesellschaft< in Übereinstimmung zu bringen« 65 . Dennoch bedeutete das Verhalten der hessen-darmstädtischen Liberalen während der großen Zollvereinsdebatte weder in sozialökonomischer noch in politischer Hinsicht eine radikale Abkehr von den bisherigen Prinzipien frühliberalen Denkens. Es gab lediglich eine leichte Akzentverschiebung, welche die Brücken zu den Süddeutschen keineswegs abbrach. In sozialökonomischer Hinsicht blieb der überwiegende Teil des hessen-darmstädtischen Kammerliberalismus - die Beamten, die Großbauern und die Kaufleute - weit davon entfernt, sich an den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen des fortgeschrittenen Englands zu orientieren. Gewiß plädierten auch manche hessische Liberale, insbesondere frühere Mitglieder des Listschen Vereins, dafür, mit Hilfe des Zollvereins machtvoller gegen die großen westeuropäischen Handelsmächte aufzutreten und ihnen nicht mehr länger handelspolitisch Tribut zu zollen 66 . Trotz solcher wirtschaftsnationaler Ansätze richtete sich das liberale Engagement zugunsten des Zollvereins insgesamt jedoch weniger gegen die überlegene englische Konkurrenz, vielmehr resultierte es in erster Linie aus der allgemeinen Unzufriedenheit mit den deutschen Binnenzöllen, jenen seit 1815 sichtbarsten Zeichen deutscher Zerrissenheit, die zudem im hessischen Raum wesentlich mehr ökonomischen Schaden verursachten als in den größeren süddeutschen Staaten. Selbst wenn hessen-darmstädtische Liberale teilweise für Schutzzölle und staatliche Gewerbeförderung eintraten 67 , so sollte dies in der Regel noch nicht dazu dienen, gemäß dem englischen Vorbild 118

die Industrialisierung zu forcieren, vielmehr waren derartige Interventionsforderungen zur Hebung des Gewerbefleißes auch im rückständigen Hessen-Darmstadt eher an »der politisch-sozialen Realität der kleingewerblichagrarischen bürgerlichen Gesellschaft des Vormärz« 6 8 ausgerichtet. Trotz der geringeren Furcht vor den antikonstitutionellen Folgen des Zollvereins und trotz Gagerns stärkerer Betonung des Einheitswunsches behielt im hessischen Liberalismus auch die Sicherung verfassungsmäßiger Rechte innerhalb der Zollvereinspolitik einen hohen Stellenwert. Dies galt vor allem für Kurhessen, wo es in der Folgezeit bei diesen Fragen noch zu heftigen Auseinandersetzungen kommen sollte, aber auch für HessenDarmstadt, wo die liberale Kammermehrheit weiterhin die auf anderen Gebieten bekämpfte Regierung ausdrücklich zum Abschluß von neuen Zollvereinsverträgen ermächtigte. Als sich die Regierung du Thil jedoch auf dem fünften Landtag der Jahre 1832/33 unter Hinweis auf die fehlende Zustimmung Preußens weigerte, den Kammern Einblick in sämtliche Originalabrechnungen des Zollvereins zu gewähren, stieß dieses Verhalten bei den Liberalen der zweiten Kammer auf heftigsten Widerspruch. U m den wirklichen Wert des Zollvereins richtig abschätzen zu können und Übervorteilungen eines Staates zu verhindern, forderte die liberale Kammermehrheit gemäß Artikel 69 der Verfassung einen ausreichenden Einblick in alle finanziellen Probleme der hessen-darmstädtischen Zollvereinsmitgliedschaft. Der Zollverein besaß nach Ansicht der Liberalen um so bessere Zukunftschancen, je weniger er sich in Geheimniskrämerei entwikkelte und je mehr seine Wirkungen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden. Selbst Heinrich von Gagern, der die schwerwiegenden Bedenken eines Rotteck nicht teilte, mahnte jetzt ebenso eindringlich wie der Zollvereinswerber Ernst Emil Hoffmann, daß die Mitgliedschaft im Zollverein im Einklang mit der Verfassung stehen müsse und ständische Rechte nicht verletzen dürfe 69 . Der Abgeordnete Hellmann sah die Zolleinnahmen als so bedeutend an, »daß wir wahrlich keine Bewilligung machen können, solange wir darüber im Dunkeln sind« 70 . Die Wahrung der landständischen Rechte wurde sowohl von den liberalen als auch von einigen gouvernemental gesinnten Abgeordneten der zweiten Kammer gerade im Hinblick auf die politischen Bedenken des süddeutschen Konstitutionalismus vehement verfochten. Schließlich erteilte die preußische Regierung ohne größere Bedenken die Zustimmung zur Vorlage der betreffenden Abrechnungen 71 , da auch sie offenbar im Interesse eines raschen Beitritts der süddeutschen Staaten der Opposition gegen den Zollverein keine neue Nahrung geben wollte. Dieses Entgegenkommen legt die Vermutung nahe, daß die hessen-darmstädtische Regierung preußische Bedenken nur vorschob, um, wie es ja bereits 1829 geschehen war, die Angaben über die Höhe der Zollvereinsrevenuen manipulieren und den eigenen Finanzspielraum zusätzlich ausweiten zu können. Die mit dem Zollverein verknüpfte antikonstitutionelle Politik ging also weniger vom 119

»reaktionären Preußen« als von der Regierung du Thil aus. Mit Hilfe der neuen Zolleinnahmen, durch welche die Regierung ihre Position gegenüber der zweiten Kammer festigte, vor allem aber mit Hilfe der reaktionären Bundesbeschlüsse der Jahre 1832 und 1834 gelang es der Darmstädter Regierung, nach der Niederschlagung der außerparlamentarischen Protestbewegungen auch die Verfassungskämpfe mit einer stärker gewordenen liberalen Kammeropposition erfolgreich zu bestehen. Durch Urlaubsverweigerungen fur liberale Beamtenabgeordnete, Landtagsauflösungen, Wahlmanipulationen und eine verschärfte Zensur schuf sich du Thil einen gefügigen Landtag und sicherte bis weit in die vierziger Jahre den eindeutigen Vorrang der monarchischen und bürokratischen Autorität 72 . Da es dem hessen-darmstädtischen Kammerliberalismus trotz aller Wahlerfolge am Ende nicht gelungen war, seinen Verfassungsvorstellungen im Einzelstaat größere Geltung zu verschaffen, gleichzeitig aber mit dem Zollverein ein beachtlicher nationaler Forschritt erzielt worden war, den man auch als eigenen Erfolg verbuchte, verstärkte sich bei Gagern und seinen engeren Anhängern die bereits in der Zollvereinsdebatte erkennbare »Wendung zu einem nationalen Liberalismus«73.

7. Die hessischen Staaten und der Abschluß der Zollvereinsverträge im Jahre 1833 Bei den seit 1831 intensivierten Verhandlungen über einen Zollvereinsbeitritt Bayerns, Württembergs, Sachsens und der thüringischen Staaten fiel Hessen-Darmstadt und Kurhessen nur noch eine vergleichsweise untergeordnete Rolle zu, obwohl Regierungen und Kammern sich eifrig bemühten, die weitere Ausdehnung des Zollvereins zu fördern. Schon aus ökonomischen Gründen besaßen Hessen-Darmstadt und Kurhessen größtes Interesse an weiteren Fortschritten der deutschen Zolleinigung. Zahlreiche Gewerbe beider Staaten, der Mainzer Handel 1 , vor allem aber die südlichen Provinzen Kurhessens drängten auf die vollständige Öffnung des bereits seit 1829 wieder etwas leichter zugänglichen bayerisch-württembergischen Marktes. Darüber hinaus versprach die Einigung mit den thüringischen Staaten zahlreichen kurhessischen Regionen, insbesondere der Exklave Schmalkalden, wieder günstigere Exportchancen. Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten hatte der kurhessische Landtag daher bereits im Frühjahr 1832 die Regierung zum Abschluß der entsprechenden Verträge ermächtigt und auf ursprünglich gestellte Bedingungen verzichtet2. Spielten bei dieser entgegenkommenden Haltung der hessen-darmstädtischen und kurhessischen Kammern neben den ökonomischen auch die nationalen Gesichtspunkte eine wachsende Rolle, so blieben die Interessen beider Regierungen noch weitgehend auf den einzelstaatlichen Bereich 120

beschränkt. V o n der weiteren Ausdehnung des Zollvereins erwarteten die Regierungen in Darmstadt und Kassel nicht nur neue wirtschaftliche Verbesserungen, sondern auch zusätzliche Einnahmen, da die geplanten Arrondierungen die Zollverwaltungskosten des Gesamtvereins weiter reduzieren m u ß t e n . All dies w i e d e r u m sollte zur Konsolidierung der durch die U n r u h e n von 1830 etwas angeschlagenen bürokratischen und m o n a r chischen Herrschaft beitragen. N a c h den Erfahrungen der oberhessischen und Hanauer »Mautenstürme« und vor dem Hintergrund latenter sozialrevolutionärer U n t e r s t r ö m u n g e n 3 schrieb der hessen-darmstädtische Finanzminister H o f m a n n i m April 1832 an den preußischen Geschäftsträger Arnim: »Nach meiner Ansicht m u ß die Zollvereinigung mit Baiern und W ü r t t e m b e r g nothwendig zu Stande k o m m e n , w e n n nicht das ganze bisherige System erschüttert und den Unruhestiftern in Deutschland eine höchst w i l l k o m m e n e Gelegenheit gegeben werden soll, die bestehende Gährung auf den höchsten P u n k t zu steigern. « 4 Die Verhältnisse in der handelspolitisch isolierten Rheinpfalz, w o sich die ökonomische Lage 1832 i m m e r mehr verschlechterte u n d d e m populistischen Radikalismus Auftrieb gab 5 , sowie jene heftigen Attacken, die Wirth u n d Siebenpfeiffer auf d e m Hambacher Fest gegen die deutschen Zollschranken vorbrachten 6 , verstärkten bei dem reformfreundigeren H o f m a n n ebenso wie beim preußischen Außenminister B e r n s t o r f f u n d anderen die Einsicht, die entstandene politische Gärung weniger durch nackte Repression, sondern eben vor allem auch durch die Beseitigung vorhandener Mißstände einzudämmen. T r o t z des großen Interesses an der Zollvereinsausdehnung verzichteten beide hessischen Regierungen während der folgenden Verhandlungen aber keineswegs darauf, die spezifischen Partikularinteressen zu artikulieren. Die ursprünglichen Bedenken wegen der vermeintlich besseren Rechtsstellung der beiden süddeutschen Königreiche konnten zwar von preußischer Seite rasch ausgeräumt werden 7 ; mit ihrer primär fiskalisch begründeten Weigerung, den von Bayern u n d W ü r t t e m b e r g geforderten Mainzollsenk u n g e n nachzukommen, und der eigenwilligen kurhessischen Transitzollpolitik trugen Darmstadt und Kassel jedoch dann ihren Teil dazu bei, daß Vertragsabschluß u n d Ratifikationsprozeß bei den Verträgen mit Bayern und W ü r t t e m b e r g lange hinausgezögert wurden 8 . Hessen-Darmstadt ging es dabei allein u m seine Finanzinteressen. Kurhessen wollte darüber hinaus Fortschritte in der Mainschiffahrt auch deshalb torpedieren, weil »jede direkte u n d indirekte Begünstigung der Rheinschiffahrt« den kurhessischen Transitinteressen widersprach 9 . Damit negierte die Kasseler Regierung erneut ein zentrales wirtschaftspolitisches Anliegen der Hanauer Wirtschaft, die eine rasche Regulierung der Mainzölle wünschte 1 0 . Im übrigen beharrte die kurhessische Regierung, unterstützt von der Landtagsmehrheit, bis zuletzt darauf, die Interessen der großen kurhessischen Verbindungsstraßen auch bei der Festsetzung der gemeinschaftlichen T r a n -

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sitzölle angemessen zu berücksichtigen. Obwohl die festgelegten Transitzölle die kurhessischen Interessen im Grunde kaum beeinträchtigten, da diese Abgaben das kurhessische Verkehrsvolumen nur wenig beeinflussen konnten, lehnte es Kassel ab, die Streitfrage vorerst aufzuschieben, und bestand auf der sofortigen Reduktion der Kurhessen tangierenden Transitzölle 11 . Diese starre Haltung ging selbst den kurhessischen Verhandlungsbevollmächtigten in Berlin zu weit, die die Kasseler Bedenken als unangebracht zurückwiesen und am Ende die Ratifikationsurkunden austauschten, ohne daß Preußen zuvor, wie es die Kasseler Regierung verlangte, verbindliche Zusagen gemacht hatte 12 . Damit wurden innerhalb der am alltäglichen Zollvereinsgeschäft direkt beteiligten Beamtenschaft schon frühzeitig gewisse Verselbständigungstendenzen sichtbar, bei denen einzelstaatliche Direktiven durch eine Haltung eingeschränkt wurden, die sich bereits stark an dem in Umrissen entstehenden Vereinsinteresse orientierte. Nachdem im Herbst 1833 das komplizierte Ratifikationsverfahren abgeschlossen war, konnten die bereits am 22. März 1833 unterzeichneten Beitrittsverträge mit Bayern und Württemberg sowie die ebenfalls 1833 zustande gekommenen Verträge mit Sachsen und Thüringen am 1. Januar 1834 in Kraft treten 13 . Nach langem Ringen und vielfachen, in ihrem Ausmaß bisher freilich meist überschätzten Widerständen innerhalb und außerhalb des Deutschen Bundes war damit der entscheidende Fortschritt auf dem Wege zur deutschen Handelseinheit erreicht. Der sich neben dem Deutschen Bund etablierende »Zoll-Staatenbund« 14 , für den sich schon bald der Name Deutscher Zollverein einbürgerte, wurde durch ein Netz untereinander abgestufter bilateraler und multilateraler Verträge zusammengehalten und folgte in seinem Aufbau streng föderalistischen Prinzipien 15 . Die dezentrale Verwaltungsstruktur, bei der die selbständigen einzelstaatlichen Behörden lediglich einheitlich aufgebaut und durch ein gegenseitiges Austauschverfahren von Beamten kontrolliert wurden 1 6 , sowie vor allem das Einstimmigkeitsprinzip bei sämtlichen grundlegenden Entscheidungen, jene »Bastion gliedstaatlicher Souveränität«, geboten vorerst »allen Versuchen der Mediatisierung und Unitarisierung Einhalt« 17 . Dennoch stand von Anfang an fest, daß solche formale Rechtsgleichheit die aus der politischen, ökonomischen und fiskalischen Potenz Preußens resultierende Hegemonialstruktur nicht verbergen konnte. Der größte und mächtigste Staat hatte die deutsche Zolleinigung seit 1828 am stärksten vorangetrieben, seine Zollverfassung bildete das Vorbild aller einzelstaatlichen Zollverwaltungen, und die preußische Regierung vertrat in der Regel den Zollverein auch nach außen. Hinzu kam aber vor allem eine weiter wachsende ökonomische und fiskalische Abhängigkeit der kleineren Partnerstaaten 18 . Der Zollverein brachte keineswegs nur freudig aufgenommene ökonomische Gewinne, er stellte vielmehr zahlreiche strukturschwache Gewerbezweige in eine neue, nur schwer zu verkraftende Konkurrenzsituation. Darüber hinaus führte er dort, wo rasche ökonomische Erfolge ausblieben, 122

durch die weit höheren Fiskalzölle oder die aus Rücksicht auf preußische Monopolinteressen angehobenen Salzpreise zu einer spürbaren Verteuerung der Lebenshaltungskosten 19 , unter der vor allem die wachsenden pauperisierten Unterschichten litten und die auch durch den billigeren Bezug mancher, bisher belasteter Waren aus Nachbarstaaten oft nicht ausgeglichen werden konnte. Die Vereinsgründung rief somit nicht überall jene Begeisterungsstürme hervor, wie sie Treitschkes euphorische Schilderung der Neujahrsnacht 1834 zu suggerieren versucht 20 . Doch in der öffentlichen Meinung setzte sich dann bald die Ansicht durch, daß die neue Institution innerhalb des Deutschen Bundes mit all ihren noch vorhandenen Unzulänglichkeiten und »Gebrechen dem früheren Zustande der Zersplitterung und gegenseitigen Hemmung des Verkehrs und Aufschwungs deutschen Gewerbefleißes und Handels unendlich weit vorzuziehen« sei 21 . Die Überwindung der institutionellen Integrationsdefizite kam vorerst nur überaus langsam voran. Das Streben nach rascheren Entscheidungsprozessen sowie nach Vereinheitlichung von Verkehrspolitik und Wirtschaftsgesetzgebung stieß noch auf heftige einzelstaatliche Widerstände 22 . Dagegen gab es in territorialer Hinsicht durch die 1835 geregelten und 1836 in Kraft gesetzten Zollvereinsbeitritte Badens, Frankfurts, Nassaus und Hessen-Homburgs schon innerhalb der ersten beiden Jahre entscheidende Fortschritte, so daß der Zollverein 1836 bereits ein Gebiet von 8096 Quadratmeilen mit etwa 26 Millionen Einwohnern umfaßte 2 3 . Durch diese unmittelbar nach der Zollvereinsgründung erfolgten Beitritte geriet der hessische Raum nochmals in den Brennpunkt der großen zollpolitischen Auseiñandersetzungen.

8. Der Beitritt des Großherzogtums Baden Der um die Sponheimer Erbfolgefrage entstandene politische Zwist mit Bayern, die besonderen handelspolitischen Interessen des langgestreckten Grenzlandes, insbesondere die in einigen Regionen außerordentlich engen Wirtschaftsverflechtungen mit der Schweiz und dem Elsaß, sowie eine relativ günstige Finanzlage hatten Baden zunächst davon abgehalten, einem der bestehenden Zollvereine beizutreten 1 . Als aber 1834 die noch vorhandenen Schranken zwischen dem preußischen Zollverein im Norden und dem bayerisch-württembergischen Verein im Süden gefallen waren, wollte auch die großherzogliche Regierung in Karlsruhe den Beitritt nicht länger aufschieben. Der seit Beginn der dreißiger Jahre als Direktor des Innenministeriums fungierende Staatsrat Nebenius legte in einer ausfuhrlichen Denkschrift die Gründe dar, die vor allem die reformerischen Kräfte der Bürokratie veranlaßten, dem großen deutschen Zollverein beizutreten 2 . Obwohl viele Liberale aus primär politischen Motiven die Teilnahme am

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Zollverein weiterhin ablehnten, setzten sich nun auch innerhalb der öffentlichen Meinung des Landes die Befürworter des Beitritts in stärkerem Maße durch 3 . Nachdem die Regierung in einer Art Wirtschaftsparlament Sachverständige aus den verschiedenen Sektoren über die Folgen eines Zollvereinsbeitritts befragt und das Resultat einer Annäherung an den Verein nicht widersprochen hatte, begannen noch im Jahre 1834 die Beitrittsverhandlungen in Berlin 4 . Diese zogen sich dann aber aufgrund zahlreicher Streitpunkte lange hin. Zu den hessische Interessen tangierenden Konfliktpunkten gehörten dabei vor allem die Schiffahrtsfragen, die im Grunde die Zollverfassung nicht direkt berührten, von Bayern und Württemberg aber aus verkehrspolitischen Gründen in die Verhandlungen eingebracht wurden 5 . Während in der Neckarfrage durch eine Übereinkunft zwischen Baden, Württemberg und Hessen-Darmstadt die Streitfragen geklärt werden konnten 6 , scheiterten die von Bayern verlangten Erleichterungen in der Mainschiffahrt erneut am hartnäckigen Widerstand der beiden hessischen Vereinsstaaten 7 . Vor allem Kurhessen wollte die Wettbewerbsvorteile des Rheins und seiner Nebenflüsse nicht noch weiter ausdehnen, weil das dortige Verkehrsvolumen seit 1831 gegenüber dem kurhessischen Landtransit überproportional anstieg. Die Sorge um den aus ökonomischen und fiskalischen Gründen so wichtigen Transitverkehr stand damit weiterhin im Vordergrund der Kasseler Zollvereinspolitik. Auch während der Verhandlungen mit Baden forderte Kurhessen immer wieder, die seine Straßen tangierenden Transitzölle zu reduzieren und auf diese Weise die Wettbewerbsnachteile gegenüber dem Rhein zu verringern. Preußen wies diese Forderungen jedoch erneut zurück und gestand lediglich zu, die leidige Frage bei den bevorstehenden Beitrittsverhandlungen mit Nassau und Frankfurt nochmals zur Sprache zu bringen 8 . Nachdem auf diese Weise über etliche Kompromißformeln die strittigen Fragen geklärt oder aufgeschoben werden konnten, kam es am 12. Mai 1835 zur Unterzeichnung des badischen Beitrittsvertrages 9 , der dem Zollverein mehr territoriale Geschlossenheit und damit einen kostengünstigeren Grenzverlauf brachte. In Baden selbst lehnte auch jetzt noch ein großer Teil des Liberalismus, darunter vor allem Rotteck, die Teilnahme an der preußisch geführten Zolleinigung ab. Innerhalb der zweiten Kammer fand sich aber schließlich eine Mehrheit von 40 gegen 22 Stimmen für den Zollvereinsbeitritt, so daß der badischen Ratifikation nichts mehr im Wege stand 10 . Überaus schwierig gestaltete sich dagegen der Ratifikationsprozeß in Kurhessen, wo der Beitrittsvertrag mit Baden in das Kreuzfeuer heftiger innenpolitischer Auseinandersetzungen geriet. Der kurhessische Landtag hatte der Regierung im Jahre 1832 nur eine Ermächtigung zum Abschluß der unmittelbar anstehenden Verträge erteilt und diese dann nicht wie in Hessen-Darmstadt für die folgenden Finanzperioden erneuert. Vor und während der Verhandlungen mit Baden, Nassau und Frankfurt bemühte sich daher die Regierung um eine neue Vollmacht 124

zum Abschluß der vorgesehenen Verträge. D a deren Bestimmungen ohnehin im Einklang mit den bisherigen Verträgen stehen mußten, sah die Kasseler Regierung keine Veranlassung, den Vollzug der Verträge durch die Einberufung des Landtages und lange Zustimmungsverfahren unangemessen hinauszuzögern 1 1 . Daraufhin beschloß die Ständeversammlung am -31. März 1835, die Regierung im allgemeinen zu den Vertragsabschlüssen zu ermächtigen, fügte dann aber einen entscheidenden Vorbehalt hinzu. Vor der Ratifikation sollten alle Verträge nochmals dem landständischen Ausschuß vorgelegt werden. Diese aus altständischer Tradition stammende Institution, die in der landtagsfreien Zeit nach Instruktionen des Plenums über den Vollzug des Landtagsabschiedes wachte und für eine permanente Repräsentation sorgte, sollte prüfen, ob bei den Verträgen »die besonderen Interessen des Kurstaates gehörig berücksichtigt seien, und, wenn sie solches findet, Namens der Landstände die Zustimmung zur Publikation der Verträge« erteilen 12 . Die großen Schwierigkeiten, die sich nun aus dieser Lage ergaben, hatten so gut wie nichts mit dem Inhalt des badischen Beitrittsvertrages zu tun. Ausschlaggebend für die von Kurhessen ausgehenden Verzögerungen des Ratifikationsprozesses waren allein die unterschiedlichen Auslegungen über das kurhessische Verfassungsrecht. Vor allem der reaktionäre Innenminister Hassenpflug bestritt der Ständeversammlung nämlich das Recht, ihre Zustimmungskompetenz ohne Rücksprache mit der Regierung auf den landständischen Ausschuß zu übertragen. Nach Ansicht der Regierung war der Ausschuß daher auch nicht befugt, stellvertretend für die gesamte Ständeversammlung den Zollvereinsverträgen zuzustimmen, und sollte sich daher lediglich auf eine »Beistimmung« zur Publikation der Verträge beschränken 1 3 . Damit setzte Hassenpflug auch in den Zollvereinsfragen eine Politik fort, die mit allen Mitteln versuchte, den Einfluß des lästigen Landtags entscheidend zurückzudrängen. Schon 1832 war der von den Liberalen beherrschte Landtag so plötzlich aufgelöst worden, daß er dem bleibenden Ausschuß keine Instruktion mehr hatte erteilen können 1 4 . Aus all diesen Gründen verwahrte sich jetzt die liberale Ausschußmajorität entschieden gegen jegliche Schmälerung ihrer Rechtsposition und gegen alle Angriffe auf das Prinzip der permanenten Repräsentation. Erst nach langem Zögern erklärte sich das Gremium bereit, vor einer Klärung der umstrittenen Rechtsfragen über den badischen Vertrag zu beraten 15 . Da aber Hassenpflug auch nach dem ersten Einlenken des Ausschusses fortfuhr, dessen Arbeit zu torpedieren und dessen Kompetenzen durch allzu deutliche Äußerungen in Frage zu stellen, wurden innerhalb des Ausschusses nun auch inhaltliche Bedenken gegen den vorliegenden Zollvereinsvertrag laut. 1 6 Erst nach langwierigen Verhandlungen einigten sich die Kontrahenten auf einen Kompromiß. U m die aus wirtschaftlichen und nationalen Gründen gewünschte Fortentwicklung des Zollvereins nicht an innerkurhessischen 125

Querelen scheitern zu lassen, gaben sich die Liberalen mit einer Hilfskonstruktion zufrieden. Auch die Regierung wollte die Auseinandersetzung nicht auf die Spitze treiben, denn immerhin besaß der Ausschuß das Recht, bei ungelösten Fragen eine Einberufung der Ständeversammlung zu verlangen, was das gesamte Verfahren noch länger hinausgezögert hätte. Beide Seiten verzichteten daher auf eine endgültige Klärung der Streitfragen und verständigten sich dahingehend, daß das nun einzuschlagende Verfahren keinerlei Präjudiz schaffe. U m den eigenen Rechtsstandpunkt nochmals unmißverständlich klarzustellen, fugte der Ausschuß seiner Zustimmung zum Vertrag aber den Hinweis hinzu, »daß man lediglich auf dem Grund der von der Ständeversammlung ertheilten Instruktion zur Prüfung des mitgetheilten Vertrags-Entwurfs geschritten sei, und daß man nur kraft der nämlichen Instruktion jene Zustimmung ertheile« 17 . Darüber hinaus gab der Ausschuß seine Zustimmung nur unter dem Vorbehalt klarer Zusagen über eine Reduktion der Kurhessen tangierenden Transitzölle 18 , um die sich die Regierung während der Beitrittsverhandlungen mit Baden selbst lange Zeit vergeblich bemüht hatte. Das kurhessische Außenministerium wies nun den Berliner Gesandten an, die gewünschte Zusage noch vor dem Austausch der Ratifikationsurkunden von den anderen Vereinsstaaten zu verlangen 19 . Diese nahmen freilich keine Rücksicht mehr auf die kurhessischen Sonderwünsche und vollzogen den Austausch der Urkunden ohne kurhessische Beteiligung. Erst einige Tage später reichte dann Kurhessen seine Ratifikationsurkunde nach, ohne daß die Forderungen hinsichtlich der Transitzölle erfüllt worden waren 20 . Insbesondere die preußische Regierung brachte für die erneuten kurhessischen Vorbehalte keinerlei Verständnis auf. Wenn schon die Stände im Unterschied zu Hessen-Darmstadt und anderen konstitutionellen Vereinsstaaten am Ratifikationsverfahren mitwirken müßten, so sei es die Aufgabe der Kasseler Regierung, für eine rasche Erledigung dieses Verfahrens zu sorgen. Es war fur Berlin völlig unverständlich, daß nach der lange umstrittenen Zustimmung der badischen Kammern nun ausgerechnet die kurhessischen Abgeordneten das Inkrafttreten des wichtigen badischen Vertrages hinauszögerten, der weder von bisherigen Grundsätzen abwich noch wesentliche kurhessische Wirtschaftsinteressen verletzte 21 . Die reaktionäre Kasseler Regierung wies diese scharfe preußische Rüge jedoch nun entschieden zurück und verwahrte sich dagegen, »daß eine ausländische Regierung sich über die Frage ein Urteil gestatten will, in wie weit eine andere Regierung die Verpflichtung habe, über einen mit anderen Staaten abgeschlossenen Vertrag mit ihren Ständen zu verhandeln« 22 . Die Auseinandersetzungen aus der frühen Zollvereinsphase unterstreichen erneut, in welchem Maße der Zollverein bereits in seinen Anfängen über wirtschaftliche und fiskalische Folgen hinaus weitere zentrale Bereiche einzelstaatlicher Politik berührte.

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9. Zwischen Partikularismus und Anpassungsdruck. Nassaus Weg in den Zollverein 1830 bis 1836 Die Aufrechterhaltung der in der Rheinbundzeit errungenen und gegenüber den unitarischen Tendenzen der Freiheitskriege erfolgreich verteidigten Souveränität war für die politische Führung des kleinen Herzogtums Nassau vom Beginn bis zum Ende des Deutschen Bundes die wichtigste Maxime ihrer Außen- und Innenpolitik. Dieses Streben nach einer abgesicherten eigenständigen Existenz des Kleinstaates richtete sich vor allem gegen das 1814/15 weit nach Westen vorgeschobene und Nassau von drei Seiten einschließende Preußen. Das territorial saturierte Österreich erschien hingegen aus nassauischer Sicht von Anfang an als Rückhalt gegen alle inneren und äußeren Feinde nassauischer Eigenständigkeit 1 . Da diese Eigenständigkeit am ehesten in dem nach dem föderalistischen Prinzip der Gleichheit aller Gliedstaaten aufgebauten und mit dem monarchischen Prinzip die dynastische Herrschaft stützenden Deutschen Bund gewährleistet war, lehnte Nassau die außerhalb des Bundes ablaufende preußisch geführte Zolleinigung lange strikt ab. Die Teilnahme an diesem Einigungsprozeß gefährdete nach Ansicht der nassauischen Staatsführung wegen der preußischen Hegemonie nicht nur die Souveränität des Kleinstaates, sondern, wie dem Beifall und der Kooperation von Teilen der liberalen Opposition zu entnehmen war, langfristig auch das monarchische Prinzip. Folglich hatte die von Marschall geführte Regierung seit Mitte der zwanziger Jahre in der Zollfrage einen streng partikularistischen Kurs eingeschlagen. Alle Versuche, das Land zum Anschluß an den preußischen Zollverband zu bewegen, blieben erfolglos, und die Beziehungen zu Preußen, dem großen Nachbarn und wichtigsten Abnehmer nassauischer Produkte, verschlechterten sich aufgrund der eigenwilligen Handels- und Verkehrspolitik immer mehr. Ungeachtet aller teilweise schmerzhaften preußisch-hessen-darmstädtischen Kampfmaßnahmen schien die zollpolitische Abwehrposition des Herzogtums zu Beginn der dreißiger Jahre durchaus noch gefestigt. Nach außen wurde der Zollpartikularismus durch die Beteiligung am mitteldeutschen Handelsverein sowie die wohlwollende Unterstützung Hollands, Frankreichs und Österreichs abgesichert. Im Inneren erleichterte der direkte Zugang zu dem von den Zollvereinstarifen unberührten Rhein und zur nahen, ebenfalls noch beitrittsunwilligen Handelsmetropole Frankfurt die partikularistische Strategie. Darüber hinaus sorgten aber vor allem auch die relativ günstige Finanzlage, ein im Vergleich zu Hessen-Darmstadt und Kurhessen noch zu geringer Druck von ökonomischen Interessengruppen sowie die in den Zollfragen weiterhin zum Regierungskurs stehenden Kammern dafür, daß der in seiner inneradministrativen Position völlig unumstrittene Marschall seine starre Handelspolitik weiter fortsetzen konnte. Dennoch ließ sich nicht verkennen, daß die Kritik an dieser wichtigen Exportinteressen der nassauischen 127

Wirtschaft zuwiderlaufenden Politik seit Ende der zwanziger Jahre zunahm. Aber erst 1831 kam es dann zu einer ersten großen öffentlichen Auseinandersetzung über den künftigen zollpolitischen Kurs. Im Februar und März 1831 richteten die Vorstände mehrerer weinbautreibender Rheingaugemeinden Petitionen an die nassauischen Kammern, in denen die ökonomische Notwendigkeit eines baldigen Zollvereinsbeitritts begründet wurde 2 . Diese Eingabe löste die erste große Zollvereinsdebatte der nassauischen Kammern aus. Vor der Herrenbank legte der aus dem Rheingau stammende Freiherr von Zwierlein ein flammendes Bekenntnis zum Zollvereinsbeitritt ab. Als Fazit einer ausfuhrlichen Analyse der ökonomischen Verhältnisse hielt er fest, daß der Beitritt »nicht nur durch den Vorteil des Rheingaus allein, sondern durch ein allgemeines Landes-Interesse geboten« sei3. Während die eher skeptische Herrenbank auf eine förmliche Abstimmung verzichtete, lehnte die zweite Kammer den geforderten Beitritt zum Zollverein mit 17 gegen 3 Stimmen ab 4 . In einem ausfuhrlichen Kommissionsbericht wurde dies damit begründet, daß die wirtschaftlichen und fiskalischen Vorteile des Zollvereinsbeitritts nicht groß genug seien, um die gravierenden Nachteile des preußischen Zollsystems - insbesondere die hohen Fiskalzölle und die strengen Kontrollen - in ausreichendem Maße abzugleichen 5 . Nach diesem Ausgang der Zolldebatte schrieb Zwierlein, der seine Rede vor der Herrenbank als gefragte Flugschrift im Lande verteilen ließ, im Mai 1831 an den preußischen König, daß die vor allem von Gutsbesitzern und Schultheißen dominierte Deputiertenversammlung leider zu wenig Mitglieder zähle, »welche intellectuelle Bildung genug haben, um eine so folgenreiche Sache in ihrem ganzen Umfange zu übersehen« 6 . In der Tat standen die Ausführungen der nassauischen Kammern keineswegs auf dem Niveau hessen-darmstädtischer und kurhessischer Zolldebatten. Bei zahlreichen Punkten ließen die Abgeordneten eine detaillierte Sachkenntnis vermissen. Auch die zentralen Fragen der deutschen Zolleinheit spielten in der primär von regionalen und sektoralen Gesichtspunkten geprägten Debatte erst eine untergeordnete Rolle. Der zu den Zollvereinspionieren zählende preußische Finanzrat Ludwig Kühne 7 warf der Deputiertenversammlung in einer ausführlichen Denkschrift daher zu Recht vor, die ganze Angelegenheit nicht mit der notwendigen Gründlichkeit und Umsicht behandelt zu haben. Kühne betonte, wie sehr gerade ein kleiner Staat vom Format Nassaus von den wirtschaftlichen und fiskalischen Vorteilen eines großen Zollvereins profitieren und wie wenig Nassau als Binnenstaat von den befürchteten Kontrollen berührt würde 8 . Die preußische Politik scheute sich allerdings, die Wiesbadener Regierung direkt zum Eintritt in den Zollverein aufzufordern. Ein ständiges Drängen mußte den eigenwilligen Marschall sowie den auf seine Souveränität bedachten Herzog Wilhelm in ihrem Widerstand eher noch bestärken. Da in Berlin die Meinung vorherrschte, daß die nassauischen 128

Abgeordneten weniger aufgrund tiefer Vorurteile gegen Preußen, sondern vor allem wegen der geringen Kenntnisse vom preußischen Zollsystem den Beitrittswunsch verworfen hatten, wollte die von Eichhorn geleitete handelspolitische Abteilung des Außenministeriums zunächst einmal die vorherrschenden Ansichten über den Zollverein korrigieren, um die Stimmung im Lande dem Verein gewogener zu machen und die Regierung Marschall noch stärker unter Druck zu setzen9. Wenn nun die bereits erwähnte Denkschrift publiziert 10 und Zwierlein, jener eifrige Werber für den Zollvereinsbeitritt, mit besseren Materialien versorgt wurde, so zeigt dies, in welch starkem Maße Preußen schon in der Ära Bernstorff die öffentliche Meinung für die eigenen zollpolitischen Ziele zu mobilisieren suchte. Die Erfolgschancen dieser Strategie schienen 1831 nicht mehr ganz so ungünstig zu sein. Durch den bevorstehenden kurhessischen Zollvereinsbeitritt und die wieder intensivierte preußische Straßenpolitik nahm der vom preußischen Zollsystem ausgehende Druck weiter zu 11 . Schon im Mai 1831 hatten nassauische Bauern aus dem Amt Weilburg Grenzpfähle niedergerissen und den Beitritt zum preußischen Zollverband verlangt 12 . Wenig später war es auch in Höchst zu einer Zusammenrottung gegen die dortige Zollstelle gekommen 1 3 . Darüber hinaus geriet eine weitere wichtige Stütze des nassauischen Zollpartikularismus ins Wanken. Im Herbst 1831 mußte die Regierung gegenüber den Kammern eingestehen, daß das eigene Niedrigzollsystem aufgrund des wachsenden, durch die steigenden Zölle attraktiver werdenden Schmuggels nicht mehr die erwarteten Erträge brachte. Da weder Regierung noch Kammern über zukunftsträchtige Konzepte verfugten, mit denen die Zollerträge im einzelstaatlichen Rahmen weiterhin gesichert werden konnten 14 , erhielt die Kritik am kleinstaatlichen Grenzzollsystem neue Nahrung. Schon Ende 1831 kam es zu einer weiteren Petitionskampagne zugunsten des Zoll Vereinsbeitritts. Achtzehn Rheingaugemeinden bezeichneten in gleichlautenden, offenbar zentralgesteuerten Adressen die Zolleinigung mit Preußen als »Frage über Sein oder Nichtsein ihrer bürgerlichen Existenz« 15 . Daneben beteiligten sich jetzt auch andere Regionen und Branchen an der Beitrittskampagne. 138 Kaufleute, Gewerbetreibende und Gemeindevorstände aus den an Preußen grenzenden Ämtern Hachenburg und Marienberg verlangten eindringlich eine rasche zollpolitische Neuorientierung 16 . Das Töpfereigewerbe in den Ämtern Selters und Montabaur sah seit langem in der Öffnung des preußischen Marktes die einzige Gewähr, den gesunkenen Wohlstand wieder zu heben 17 . Vor allem aber traten die Handel- und Gewerbetreibenden aus den wirtschaftlich eng mit dem preußischen Siegerland verflochtenen Ämtern Herborn und Dillenburg für einen schnellen Zollvereinsbeitritt ein 18 . Hier nahm sogar die Eisenindustrie an der Petitionsbewegung teil, da die nördlichen Ämter durch den kurhessischen Beitritt nun fast völlig von den benachbarten Märkten abgeschnürt wurden 19 . Trotz solcher 129

eindrucksvollen Mobilisierungserfolge, die freilich noch fast ausschließlich auf die an Preußen grenzenden Gebiete beschränkt blieben und den nach Frankfurt orientierten Süden aussparten, konnten sich die Kammern auch jetzt nicht zu einem klaren Votum zugunsten des Beitritts entscheiden. Die entsprechenden Aufforderungen des hessen-darmstädtischen Liberalen Ernst Emil Hoffmann 2 0 blieben ebenso erfolglos wie das Drängen Zwierleins 21 oder der Hinweis des Dillenburger Abgeordneten Jung, daß die nassauische Wirtschaft auf den Export in die benachbarten Zollvereinsstaaten angewiesen sei und sich ihre Lage bei einer fortgesetzten Isolationspolitik immer mehr verschlechtern werde. Bei nur 3 Gegenstimmen lehnte die Kammer den Beitritt zum preußischen Zollverein mit den bereits im März vorgebrachten Argumenten erneut ab, wollte aber nach den zahlreichen Petitionen jetzt immerhin mit Preußen über gegenseitige Verkehrserleichterungen verhandeln 22 . Diese Strategie war freilich von Anfang an völlig illusorisch, da die vom Gefühl der politischen, ökonomischen und fiskalischen Potenz bestimmte Politik Preußens allein auf eine vollständige Zolleinigung abzielte. Obwohl die Deputiertenversammlung zum gleichen Zeitpunkt auf anderen Gebieten heftige Auseinandersetzungen mit der Regierung Marschall austrug 23 , trat sie dem partikularistischen Kurs in der Zollpolitik noch immer nicht entschieden entgegen. Die überzogene Furcht vor den negativen Folgen des preußischen Zollsystems, vor allem vor den Kontrollen und den Fiskalzöllen, dominierte bei den Gutsbesitzern und Schultheißen der zweiten Kammer also weiterhin vor einer Berücksichtigung der stärker nach vorne drängenden Exportinteressen wichtiger Wirtschaftszweige. Damit konnte sich der unter Druck geratene Marschall in seiner partikularistischen Zollpolitik noch auf einen wichtigen Faktor der öffentlichen Meinung berufen, oder, wie es der sarkastische Kritiker des nassauischen Partikularismus, Karl Braun, drastisch formulierte, »auf den damals noch dort in wirthschaftlichen Dingen durchschnittlich herrschenden Unverstand« 24 . Auch nach außen hin blieb der souveränitätsbewußte Marschall bemüht, die Basis der nassauischen Verteidigungsposition aufrechtzuerhalten und sogar weiter auszubauen. Nassau gehörte zu jenen Staaten, die seit 1831 den kurhessischen Abfall vom mitteldeutschen Verein am heftigsten kritisierten und vergeblich versuchten, die weitere Expansion des preußischen Zollsystems durch eine Klage am Bundestag aufzuhalten 25 . Den Gipfelpunkt nassauischer Obstruktionspolitik gegen die preußisch-deutsche Zolleinigung bildete freilich der im September 1833 abgeschlossene Handelsvertrag mit Frankreich. Zu einem Zeitpunkt, als sich der große deutsche Zollverein bereits abzeichnete, verpflichtete sich der Kleinstaat, die Zölle fur französische Weine und Seidenwaren in den nächsten fünf Jahren nicht zu erhöhen. Die französische Gegenleistung bestand lediglich darin, den bisherigen Zoll auf Mineralwasser und die beim Transport benötigten 130

Krüge um etwa 80% zu senken 26 . Dieser einzige, auch materielle Verbesserungen bringende Handelsvertrag, den Nassau vor dem Zollvereinsbeitritt abschloß, diente damit fast ausschließlich den Interessen der herzoglichen Domäne, die als Besitzerin der meisten Brunnen einige Vorteile erhoffen durfte, während die berechtigten Interessen wichtiger Wirtschaftszweige weiterhin großzügig übergangen wurden. Trotz der zu erwartenden Steigerung des Mineralwasserexportes lag die eigentliche Bedeutung des Vertrages für die Wiesbadener Regierung auf politischem Gebiet. Marschall wollte mit dem Handelsvertrag vom 19. September 1833 unter Beweis stellen, daß sein Land auch in Zukunft gewillt war, seine zollpolitische Eigenständigkeit zu bewahren und die preußischen Expansionsgelüste abzuwehren. Im Verlaufe der Vertragsverhandlungen betonte Marschall in einem Brief an Fabricius, den nassauischen Gesandten in Paris, daß »Verräter« keinen Eingang in das nassauische Kabinett fänden und jene »Revolutionärs«, welche für den Souveränität wie monarchisches Prinzip gefährdenden Zollverein einträten, in Nassau ein weit »schlechteres Spiel« hätten als in anderen deutschen Staaten 27 . Auch der französischen Seite ging es bei dem zwischen Engelhardt, dem französischen Vertreter in der Mainzer Rheinschiffahrtskommission, und dem Wiesbadener Domänendirektor Rößler vorbereiteten Vertrag kaum darum, künftig »ein paar Ellen Seidenzeug oder ein paar Eimer Bordeaux« mehr in das kleine Herzogtum abzusetzen 28 . Die französische Politik nahm zwar den Prozeß der deutschen Zolleinigung weit gelassener hin, als es seit der borussischen Geschichtsschreibung immer wieder behauptet worden ist 29 , andererseits aber wollte sich offenbar das im Vergleich zum Handelsministerium stets besorgter auftretende Außenministerium die Chance der von Nassau ausgegangenen Initiative nicht entgehen lassen, mit einem so geringen Zugeständnis weitere Fortschritte des preußischen Zollsystems zu erschweren. Der bescheidene nassauische Wunsch erforderte keinerlei drastische Veränderungen des französischen Protektionismus, wie dies bei den vorausgegangenen Sondierungen über Handelsverträge mit den süddeutschen Staaten verlangt worden war. Daher war diesmal kein entscheidender Widerstand von Handelsministerium und Kammern zu erwarten, zumal Frankreich die gegebene Konzession jederzeit wieder zurücknehmen konnte. Obwohl die französische Seite anfangs danach strebte, die Vertragsdauer auf zehn Jahre auszudehnen, und auf eine rasche nassauische Ratifikation drängte, sollte man die in diesem Vertrag liegende Stoßrichtung gegen die preußische Zollvereinspolitik aber nicht überbewerten. Dagegen spricht allein schon die Tatsache, daß es die französische Regierung versäumte, den Vertrag mit dem Kleinstaat gemäß Artikel 3 rechtzeitig von den Kammern bestätigen zu lassen, wodurch Nassaus Weg in den Zollverein am Ende von Paris doch nicht mehr aufgehalten werden konnte. Diese Wende in der nassauischen Politik bahnte sich bereits während der 131

Entstehungsphase des aufsehenerregenden Handelsvertrages mit der Julimonarchie an 30 . Angesichts der Zollvereinsbeitritte der süddeutschen Königreiche, Sachsens und der thüringischen Staaten drohte das kleine Nassau von einer Entwicklung überrollt zu werden, die es aus eigener Kraft ohnehin zu keinem Zeitpunkt hatte aufhalten können. Herzog Wilhelm, der sich nur noch mit Mühe zur Ratifikation des Frankreichvertrages bewegen ließ, hatte sich bereits im Sommer 1833 während eines Berlinaufenthaltes ausfuhrlich über die Zollfragen informiert und offenbar überzeugen lassen, daß der Zollverein vor allem nach der innerpreußischen Machtverschiebung zugunsten der Hochkonservativen weder die einzelstaatliche Souveränität noch das monarchische Prinzip in dem Maße bedrohe, wie es von seinem Staatsminister stets dargestellt worden war. Da der Herzog nun selbst die für die eigene Wirtschaft wenig vorteilhafte handelspolitische Isolation zu überwinden suchte, geriet Marschalls Position seit Herbst 1833 immer mehr ins Wanken. N u r eine schwere Erkrankung des Staatsministers verhinderte es, daß der Herzog seinen langjährigen Mitarbeiter wegen der Differenzen in der Zollfrage entließ 31 . Als Marschall Anfang 1834 starb und das Herrenbankmitglied von Walderdorff 3 2 zu seinem Nachfolger ernannt wurde, verfolgen die Widerstände gegen den Zollvereinsbeitritt innerhalb der nassauischen Bürokratie sehr rasch. Ein weiteres Zögern mußte den ohnehin kleinen Verhandlungsspielraum des Kleinstaates weiter schrumpfen lassen und die so vehement beklagten wirtschaftlichen Nachteile noch vergrößern, zumal sich jetzt auch das fiir den nassauischen Süden so wichtige Frankfurt anschickte, seinen Widerstand gegen den Zollverein aufzugeben. Hierin lagen die Hauptimpulse für das nunmehr rasche nassauische Handeln in der Zollfrage. Die Aussicht auf eine 50 bis 100% ige Steigerung der Zolleinnahmen 3 3 mag die Beitrittsentscheidung begünstigt haben, eine klar dominierende Rolle spielten die fiskalischen Überlegungen aber nicht. Das eigene Grenzzollsystem hatte zwar inzwischen die Grenze seiner fiskalischen Steigerungsfähigkeit längst überschritten, doch zum einen war die Situation der nassauischen Staatsfinanzen insgesamt keineswegs so schlecht wie im Falle Hessen-Darmstadts. Z u m anderen verlangten die großen Zollvereinsstaaten vom beitrittswilligen Nassau eine Reduktion seiner Rhein- und Mainabgaben, bei deren Verwirklichung der kleine Staat nahezu alle fiskalischen Vorteile des Beitritts wieder eingebüßt hätte 34 . Während die Staatsfuhrung schon seit Anfang 1834 fest zum Beitritt entschlossen war, stand die zur Abänderung indirekter Abgaben notwendige, aber keineswegs bereits gesicherte Zustimmung beider Kammern noch aus 35 . Nachdem eine erneute, jetzt auf weitere Regionen und Branchen ausgedehnte Petitionskampagne im Frühjahr 1834 Regierung und Kammern zu einem raschen Handeln in der Zollvereinsfrage aufforderte 36 , brachte der Abgeordnete Düringer am 3. April 1834 vor der Deputiertenversammlung einen Antrag ein, der eine umgehende zollpolitische Kursän132

derung verlangte 37 . Eine daraufhin eingesetzte Kommission prüfte den Zollvereinsbeitritt nun unter den verschiedensten Aspekten. Zunächst stellte sie unter Hinweis auf die bereits abgeschlossenen Zollvereinsverträge mehrerer Staaten fest, daß der Beitritt weder die Selbständigkeit des Landes gefährde noch die politischen Rechte der Landstände verletze. Waren somit die politischen Bedenken weitgehend ausgeräumt, so ließen die ökonomischen und fiskalischen Bewertungen des geplanten Schrittes erkennen, daß die große Skepsis der Deputiertenversammlung auch im April 1834 noch immer nicht völlig verschwunden war. Da sich die wirtschaftlichen Vor- und Nachteile nach Ansicht der Kommission in etwa die Waage hielten und die neuen Kolonialwarenzölle eine hohe Belastung für die nassauischen Konsumenten brächten, die auch von einer auf lediglich 26000 fl. geschätzten Mehreinnahme nicht aufgefangen werden könnte, so müsse »der Anschluß an den Preußischen Zoll für unser Land nur als ein Opfer erscheinen« 38 . Zugleich aber fügte der Kommissionsbericht hinzu, daß es in Anbetracht der unsicheren Prognosen über wirtschaftliche und finanzielle Folgen sowie der nationalen Bedeutung der Zolleinigung unter Umständen doch ratsamer sei, dem Verein beizutreten: »Wenn dabei gar zu erwarten stünde, daß der Zollverein bald alle deutschen Bundesländer umfaßt, so würden wir gern, selbst mit Entbehrungen, unser Opfer auf dem Altare des großen Gesamtvaterlandes niederlegen« 3 9 . Wie schon zuvor in den kurhessischen und hessen-darmstädtischen Zolldebatten trat jetzt auch in Nassau der nationale Gesichtspunkt der Zolleinigung stärker ins Bewußtsein der Abgeordneten, doch völlig überzeugt waren viele noch immer nicht. Der mit 14 zu 6 Stimmen gebilligte Kommissionsbericht stellte der Regierung allerdings jetzt immerhin anheim, die ganze Angelegenheit zu prüfen und eine dem Wohl des Landes gemäße Entscheidung zu treffen 40 . In gleichem Sinne entschied sich auch die Herrenbank 41 , wo erneut der seit Jahren eifrig für den Zollvereinsbeitritt werbende Zwierlein die Regierung mit Nachdruck aufforderte, den Anschluß an eine große »deutsche National-Angelegenheit« nicht zu einem noch günstigen Zeitpunkt zu verpassen 42 . Unter Hinweis auf die zu erwartenden Exportsteigerungen bei Wein, Getreide, Mehl, Vieh und vielen Gewerbeerzeugnissen wies der Anführer der Beitrittspartei die von politischen und konfessionellen Gesichtspunkten überlagerten Argumente der konservativen Zollvereinsgegner vor der Herrenbank entschieden zurück 43 . Beide Kammern, ohne deren Zustimmung die Zollverfassung nicht abgeändert werden konnte, scheuten zwar bei ihren Entscheidungen ein klares Votum zugunsten des Zollvereinsbeitritts, legten aber der zur Kursänderung entschlossenen Regierung nun keine Hindernisse mehr in den Weg. Nachdem der Frankfurter Senat seit Frühjahr 1834 seine Bereitschaft zum Eintritt in den Zollverein bekundet hatte, trat die nassauische Regierung schließlich im September 1834 offiziell an Preußen heran 44 . Den mit 133

Frankreich ein Jahr zuvor geschlossenen Handelsvertrag betrachtete sie nicht mehr als bindend, da es der Vertragspartner versäumt habe, den Vertrag rechtzeitig von den Kammern bestätigen zu lassen 45 . Die preußische Regierung nahm das Angebot in Anbetracht der bisherigen Politik Nassaus zwar kühl, letztlich aber doch bereitwillig auf. Allerdings lud sie, bedingt durch die noch laufenden Verhandlungen mit Baden, den nassauischen Bevollmächtigten, Ministerialrat Magdeburg, erst für Februar 1835 zu Verhandlungen nach Berlin ein 46 . Nassaus Verhandlungsposition ließ nochmals erkennen, wie schwer sich die Wiesbadener Regierung von engstirnigen Partikularinteressen lösen konnte und welch großen Wert sie auf die Wahrung der nassauischen Souveränität legte. An erster Stelle der dem Bevollmächtigten erteilten Instruktion stand das Beharren auf einer vollwertigen Mitgliedschaft im Zollverein, die Sitz und Stimme auf den jährlich an verschiedenen Orten stattfindenden Generalkonferenzen, den vollen Einsatz des einzelstaatlichen Vetorechtes sowie eine eigenständige Zollverwaltung einschloß. Keineswegs wollte man etwa wie das Fürstentum Waldeck über einen Anschlußvertrag der Zollverwaltung eines größeren Vereinsstaates angegliedert, von der direkten Beteiligung an der gemeinsamen Zollgesetzgebung ausgeschlossen und damit zollrechtlich mediatisiert werden 47 . Die Instruktion enthielt zwar auch einige wirtschaftliche Forderungen, etwa die Gewährung von Freihäfen und die günstigere Übergangssteuerregelung bei Wein und Tabak, doch neben dem Beharren auf der Souveränität stachen vor allem fiskalisch motivierte Wünsche hervor. Die Anweisung, das zur Domänenkasse gehörende Hazardmonopol, die Bannrechte der DomanialErbleih-Mühlen und den in die Domänenkasse fließenden Mainzoll möglichst unbeschadet in den Zollverein hineinzuretten48, sprach im Grunde fur Brauns Ansicht, daß die Interessen der Domäne um 1833 in Nassau stets Vorrang vor denen der »bürgerlichen Gesellschaft« besaßen 49 . Gipfelpunkt des nassauischen Fiskalismus war schließlich die Forderung, Nassau angesichts der überdurchschnittlich hohen Konsumtion in seinen Badeorten einen Bonus bei der Revenuenteilung zuzugestehen. Sollte der Bevollmächtigte Magdeburg bei auftretenden Schwierigkeiten auf diesen Sonderwunsch verzichten, so wollte Wiesbaden bei der Regelung der Rheinschiffahrtsabgaben innerhalb des Zollvereins keinerlei Zugeständnisse machen. Im Zuge des bayerischen und württembergischen Zollvereinsbeitritts hatten sich Preußen, Bayern und Württemberg dahingehend verständigt, die Schiffahrtsabgaben auf dem Rhein und seinen Nebenflüssen unter Vorbehalt der Rekognitionsabgaben dann gegenseitig zu erlassen, wenn sich die Waren im freien Zollvereinsverkehr befanden und es sich dabei nicht um »notorisch außerdeutsche Erzeugnisse« handelte. Hessen-Darmstadt war bezüglich des Mainzer Rheinzolls dieser Vereinbarung beigetreten 50 . Kam das finanzielle Opfer im Falle Preußens und HessenDarmstadts noch den beiden Handelszentren Köln und Mainz zugute, so 134

waren im Falle Nassaus mit seinem kleinen Anteil am Rheinhandel von einer Beteiligung an der gegenseitigen Rheinzollsenkung nur geringe wirtschaftliche Vorteile, dafür aber um so höhere finanzielle Verluste zu erwarten. Daher wollten die nassauische Bürokratie und vor allem der Herzog mit allen Mitteln verhindern, daß die durch den Zollvereinsbeitritt gewonnene Mehreinnahme zur Hälfte über eine in indirekter Beziehung zum gemeinsamen Zollsystem stehende Vereinbarung wieder verlorenging 5 1 . Schon in der ersten Besprechung mit preußischen, kurhessischen und hessen-darmstädtischen Vertretern betonte Magdeburg am 5. März 1835 in Berlin, daß Nassau sich aus fiskalischen Gründen außerstande sehe, den von anderen Vereinsstaaten getroffenen Vereinbarungen über die Ermäßigung der Flußschiffahrtsabgaben beizutreten. Zugleich aber setze man voraus, daß die eigene Schiffahrt und der Handelsverkehr bei einer Ablehnung der gegenseitigen Abgabeerleichterungen nicht von den anderen Zollvereinsstaaten benachteiligt werden dürften 52 . In der Tat bedeutete eine nassauische Zustimmung zu den Schiffahrtsvereinbarungen des Zollvereins ein überaus großes Opfer, das in keinem Vergleich zu dem der anderen Staaten stand. Schließlich teilten auch die Verhandlungspartner in Berlin, vor allem das an weiteren Abgabeerleichterungen auf dem Rhein wenig interessierte Kurhessen, die Ansicht, daß man Wiesbaden in den Schiffahrtsfragen angesichts der besonderen Verhältnisse nicht zuviel abverlangen dürfe 53 . Anderen nassauischen Wünschen war Preußen dagegen weit weniger zugänglich. Der Bonus bei der Revenuenteilung und die Berücksichtigung des Zehnten bei der Fixierung der Weinübergangssteuer wurden von Preußen bereits in den ersten Verhandlungen mit der Begründung verworfen, daß andere Vereinsstaaten solche und ähnliche Vergünstigungen auch nicht erhalten hätten und die Gewährung im Falle Nassaus dort nur Unzufriedenheit hervorrufen werde 54 . Daß gerade die preußische Seite trotz ihres großen Interesses am nassauischen Beitritt mit den Wiesbadener Wünschen teilweise recht schroff umging, war zweifellos auch eine Folge jener langjährigen Obstruktionspolitik, die der Kleinstaat gegen das preußische Zollsystem betrieben hatte. Insbesondere in Eichhorn, der schon zu Beginn der zwanziger Jahre als einer der ersten führenden Berliner Beamten die Expansion des preußischen Zollsystems eifrig propagiert hatte und der nun als einer der letzten Befürworter einer dynamischeren, die Vorteile der Zolleinigung nutzenden preußischen Bundespolitik Übriggeblieben war, fand der nassauische Bevollmächtigte einen hartnäckigen Opponenten 55 . Als Leiter der handelspolitischen Abteilung des Außenministeriums und aufgrund seiner nicht zu ersetzenden langjährigen Zollvereinserfahrung nahm Eichhorn zwar an den Verhandlungen mit Nassau teil, doch die Position dieses von den Hochkonservativen um Ancillon und Wittgenstein angefeindeten Beamten war längst nicht mehr so bedeutend wie in der Bernstorff-Ära 56 . Daher bediente sich Eichhorn nun vor allem der thüringischen Staaten, um 135

Nassau ein wesentliches Anliegen streitig zu machen: die Virilstimme im Zollverein. Alle größeren Vereinsstaaten besaßen auf der Generalkonferenz des Zollvereins, die über Fragen der Zollverwaltung und der Zollgesetzgebung beriet, eine Virilstimme. Nicht vertreten waren jene Kleinstaaten, die sich der Zollverwaltung eines größeren Staates unterstellt hatten. Dagegen entsandten die thüringischen Staaten, die untereinander einen eigenen Verein bildeten, einen gemeinsamen Bevollmächtigten auf die Generalkonferenz 57 . Das thüringische Sachsen-Weimar, das als Großherzogtum mit fast so vielen Einwohnern wie Nassau keine Virilstimme besaß, lehnte es daher, unterstützt von Eichhorn und anderen thüringischen Staaten, zunächst strikt ab, dem Herzogtum Nassau eine vollwertige Stimme im Verein zuzuerkennen. Gemäß seiner wichtigsten Weisung, die Souveränität des Herzogtums Nassau in allen Punkten zu beachten, verteidigte Magdeburg den Anspruch seiner Regierung mit aller Hartnäckigkeit. Nassau, so argumentierte sein Bevollmächtigter, verhandele im Unterschied zu Sachsen-Weimar allein mit dem Zollverein und könne schließlich auch mit dem gleichen Recht wie Hessen-Darmstadt oder Kurhessen eine Virilstimme beanspruchen 58 . Die hieraus entstehende Auseinandersetzung trug erheblich dazu bei, daß sich die Beitrittsverhandlungen noch über das Jahr 1835 hinzogen. Eichhorns Politik in dieser Frage war kein bloßer Rachefeldzug gegen einen unliebsamen Kleinstaat, der es gewagt hatte, sich gegen die Expansion des preußischen Zollsystems zur Wehr zu setzen. Vielmehr konnten Eichhorn und jene verbliebenen Beamten der Zollvereinsverwaltung, die den Zollverein zumindest langfristig zu einer offensiveren Außenpolitik zu nutzen suchten, kaum daran interessiert sein, durch immer mehr gleichberechtigte Partner die ohnehin schwierigen Problemlösungsverfahren im Zollverein noch weiter zu komplizieren. Allerdings stießen solche Anschauungen aus der, wie es Metternich nannte, »doktrinellen-rabulistischen Schule« Eichhorns 59 , schon bei den hochkonservativen Kräften der preußischen Bürokratie auf wenig Verständnis 60 , da eine nassauische Demütigung die österreichischen Besorgnisse wegen des Zollvereins wieder verstärkt und das gute Verhältnis zur Präsidialmacht des Deutschen Bundes gefährdet hätte. Im übrigen unterstützten auch Kurhessen und Hessen-Darmstadt eher die nassauische Position. Sie sahen zwar die Notwendigkeit eines möglichst reibungslosen Geschäftsgangs im Zollverein ein, doch als kleinere Mitgliedstaaten hatten sie auch Verständnis für die nassauische Furcht vor Zentralisierungstendenzen 61 . All dies bestärkte Magdeburg nur noch mehr darin, den Kampf um Nassaus Eigenständigkeit fortzusetzen und selbst in Nuancen nicht nachzugeben. So lehnte er einen preußischen Vorschlag ab, nach dem Nassau zwar die neunte Virilstimme erhalten sollte, von seinem Vetorecht aber im Falle der Einigkeit aller anderen acht Staaten keinen Gebrauch machen durfte. Obwohl dieser Fall in der Praxis kaum eingetreten wäre, verwarf Magdeburg diesen Plan, weil er sich eben allein auf 136

Nassau bezog 62 . Ein im Juli 1835 erreichter Vertragsentwurf schien dann Nassau endlich den gewünschten Erfolg zu bringen, doch erneut verweigerten die thüringischen Staaten daraufhin die nassauische Virilstimme 63 . In Wiesbaden argwöhnte man zu Recht, daß wiederum Eichhorn hinter diesem Einspruch stehe, um eine seinen »Mediatisierungsplänen« entsprechende Lösung durchzusetzen 64 . Nach weiteren Verhandlungen gab sich Nassau dann mit einer Regelung zufrieden, die den thüringischen Einspruch beseitigte und für das Herzogtum einen akzeptablen Kompromiß darstellte. Gegen den Widerstand der zur gleichen Zeit dem Zollverein beitretenden Stadt Frankfurt 6 5 wurde im 10. Separatartikel des am 10. Dezember 1835 unterzeichneten nassauischen Beitrittsvertrages festgelegt, daß Nassau und Frankfurt mit zwei gesonderten Stimmen, aber durch einen gemeinsamen Bevollmächtigten auf der Generalkonferenz vertreten sein sollten, der stets von der nassauischen Regierung ernannt werden durfte 66 . Der nassauische Plan, diese gemeinsame Vertretung durch eine gemeinsame Zollverwaltung unter nassauischer Regie zu ergänzen, war zwar am Widerstand Preußens gescheitert, das die so wichtige Frankfurter Zollverwaltung nicht in die Hände Nassaus geben wollte 67 , doch die Regelung der Vertreterfrage war für das kleine Herzogtum durchaus ein Achtungserfolg. Mit diesem Kompromiß und der Besitzstandswahrung bei den Rhein- und Mainzöllen, die während der Beitrittsverhandlungen vor allem von Württemberg bestritten worden waren 68 , hatte Nassau seine grundlegenden Verhandlungsziele weitgehend erreicht. Nachdem im Laufe des Jahres 1835 bereits etliche Zollschranken zwischen Nassau und den Zollvereinsstaaten gefallen waren, begann am 1. Januar 1836, abgesehen von den üblichen Einschränkungen bei den übergangssteuerpflichtigen Waren und den Monopolen, ein völlig freier Handelsverkehr zwischen beiden Partnern. Die erst anschließend stattfindenden Vollzugsverhandlungen und der Ratifikationsprozeß verliefen ohne jede Komplikation 6 9 . Da es der nassauischen Regierung gelungen war, den Eintritt in den Zollverein ohne Einbußen an Flußzöllen zu vollziehen, brachte die von beiden Kammern jetzt ausdrücklich begrüßte Teilnahme am wirtschaftlichen Integrationsprozeß 70 ebenso wie in den hessischen Nachbarstaaten zunächst einmal einen beträchtlichen fiskalischen Gewinn. Betrugen die jährlichen Bruttozolleinnahmen vor dem Eintritt k a u m mehr als 200000 fl., so beliefen sie sich 1836 bereits auf 414911 fl., von denen nur noch 18422 fl. für Verwaltungskosten abgezogen werden mußten, die auf eigene nassauische Rechnung gingen 71 . Der Anteil der Zollgefälle an den gesamten Einnahmen der Landessteuerkasse lag 1833 noch bei 12,1%, 1834 bei 15,2%, im ersten Jahr der Zollvereinsmitgliedschaft aber schon bei 23,8%. Bereits 1836 konnten die direkten Steuern gesenkt werden. Ihr Anteil an den Einnahmen der Landessteuerkasse fiel von 46,4% im Jahre 1835 auf 38,3% im Jahre 183772.

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In wirtschaftlicher Hinsicht erleichterte der Zollverein die Wiederaufnahme alter, durch die langen Zollkämpfe unterbrochener Handelsverflechtungen mit den preußischen und hessischen Nachbarregionen und verstärkte langfristig die Abhängigkeit v o m preußischen Markt. Eine unmittelbare Exportsteigerung verzeichnete vor allem der Absatz von Westerwälder Schlachtvieh in die preußische Rheinprovinz 7 3 . Auch der Weinbau profitierte von den neuen, lange geforderten Zollverhältnissen, obwohl sich hier nicht alle Erwartungen erfüllten. Angesichts des späten Zollvereinsbeitritts blieb ein Exportboom, wie ihn Rheinhessen 1828/29 erlebt hatte, im Rheingau aus, da es gerade bei den mittleren und einfachen Weinen überaus schwer war, in die von der rheinhessischen und pfälzischen Konkurrenz auf dem preußischen Markt errungene Bastion einzubrechen 7 4 . Innerhalb des gewerblichen Sektors vermeldete vor allem das Tongewerbe seit 1836 einige Auftriebstendenzen 7 5 , während den Tabakwarenbetrieben der Übergang auf den großen Zollvereinsmarkt anfangs schwerfiel 7 6 . Insgesamt darf man die v o m Zollvereinsbeitritt unmittelbar hervorgerufenen Belebungseffekte auch in Nassau nicht überschätzen 77 . Das kleine Land blieb weiterhin geprägt von den agrarisch-kleingewerblichen Strukturen, die nach Ansicht der Regierung durch den nur zaghaft auf inneren und äußeren Druck vollzogenen Weg in den Zollverein auch gar nicht grundlegend verändert werden sollten.

10. Der Anschluß Frankfurts an den Deutschen Zollverein Gleichzeitig mit dem nassauischen Beitritt wurden auch die restlichen politischen Einheiten des hessischen Raumes in den Deutschen Zollverein integriert. Die Landgrafschaft Hessen-Homburg, deren Amt Meisenheim bereits im Jahre 1830 der preußischen Zollverwaltung unterstellt worden war, trat nun mit ihrem A m t H o m b u r g der hessen-darmstädtischen Zollverwaltung bei 1 . Schwieriger gestaltete sich der Zollvereinsbeitritt der freien Stadt Frankfurt, an dem Preußen und die meisten anderen Zollvereinsstaaten größtes Interesse besaßen. Z u m einen bildete der Frankfurter R a u m zu Beginn der dreißiger Jahre den Brennpunkt mehrerer Zollunruhen, die meist auf die gestörten Marktbeziehungen zwischen der Handelsmetropole und ihrem hessischen Umland zurückgingen. Z u m anderen aber litt der Zollverein in ökonomischer und noch mehr in fiskalischer Hinsicht unter einem von Frankfurt aus betriebenen Schleichhandel, der immer größere Ausmaße annahm 2 . Wegen der komplizierten geographischen Verhältnisse konnten die hessischen Zollverwaltungen trotz größter Anstrengungen diesen von Frankfurter Kaufleuten organisierten und meist von städtischen und ländlichen Unterschichten betriebenen illegalen Handel zu keinem Zeitpunkt völlig unter Kontrolle bringen 3 . Aus all diesen 138

Gründen mußten gerade die hessischen Regierungen an einem raschen Zollvereinsbeitritt Frankfurts interessiert sein. Andererseits gab es jedoch auch gegenläufige Tendenzen, denen sich vor allem die hessen-darmstädtische Bürokratie anfangs nur schwer zu entziehen vermochte. Nach den jahrelangen Querelen um den Mainzer Stapel erreichten die wirtschaftlichen Rivalitätskämpfe zwischen der großen Handelsmetropole und dem hessischen Nachbarstaat mit dem Zollvereinsvertrag von 1828 eine neue Dimension. Während in Frankfurt von nun an Handels- und Messeverkehr zurückgingen und die Stadt zunehmend in eine wirtschaftliche und finanzielle Krise geriet, begann für das weit kleinere hessendarmstädtische Offenbach seit dem Zollverein mit Preußen eine ungeahnte Aufschwungphase. Das mit denselben geographischen Vorteilen wie Frankfurt ausgestattete Offenbach profitierte nun von dem großen Zollvereinsmarkt, während Frankfurts Zugang weiterhin durch hohe Zölle erschwert blieb. Die wesentlich kleinere hessische Konkurrenzstadt zog daher sehr schnell jenen Teil des preußisch-hessen-darmstädtischen Handels an sich, der bisher über die Vermittlung Frankfurts abgelaufen war. Schon im Herbst 1829 schrieb der preußische Bundestagsgesandte Nagler an Motz: »Der Nutzen, den Offenbach aus diesem Zusammentreffen zieht, ist sehr bedeutend. Die kleinsten Winkel in der Hauptstraße wurden mit teuerem Gelde bezahlt und jeder Stall und Schuppen wurde in ein Magazin verwandelt.« 4 Seit dem recht weitgehenden Handelsvertrag mit dem bayerisch-württembergischen Zollverein dehnte sich die Offenbacher Vermittlungstätigkeit rasch weiter aus 5 . Die hessen-darmstädtische Bürokratie, die dem aufstrebenden Städtchen schon vor dem Zollverein ihre Aufmerksamkeit geschenkt hatte, bemühte sich seit 1828 eifrig, die neugewonnene Position Offenbachs weiter zu festigen, was den preußischen Zollvereinsbevollmächtigten in Darmstadt zu der Bemerkung veranlaßte: »Offenbach zur gefährlichen Rivalin Frankfurts zu erheben, ist die Lieblingsidee aller Verwaltungsbehörden des Großherzogtums.« 6 Auf Drängen Offenbacher Kaufleute und der Handelskammer erteilte die Regierung in Darmstadt bereits am 12. August 1828 die vorläufige Genehmigung für eine eigene Offenbacher Messe. Nach dem erfolgreichen Ablauf des ersten Messeversuchs folgte schon im November 1828 das endgültige Privileg, künftig während der beiden Frankfurter Messen auch in Offenbach Messen abhalten zu dürfen. Darüber hinaus intensivierte die Regierung auch auf anderen Gebieten ihre bisherige Förderungspolitik. Sie ließ eine Frankfurt umgehende Straße von Offenbach nach Mainz bauen, veranlaßte Erleichterungen im Messeverkehr, führte provisorisch das Frankfurter Wechselrecht ein und stellte die große Zahl der Offenbacher Juden den übrigen Bürgern gleich 7 . Die aus der neuen Situation resultierende Aufschwungphase spiegelt sich in den eindrucksvollen Messezahlen der Jahre 1828 bis 1834 wider. Zur 139

ersten Herbstmesse des Jahres 1828 kamen 132 Verkäufer mit einer Warenmenge von 7487 Zentnern, die Herbstmesse des Jahres 1833 zählte bereits 458 Verkäufer und 28380 Zentner Warenmenge. Und im ersten Jahr des großen Deutschen Zollvereins boten sogar 599 Verkäufer eine Warenmenge von 57826 Zentnern in Offenbach an8. Wenn Frankfurt auch weiterhin bei den ausländischen Waren seine Vorrangstellung behauptete und Offenbach den großen Nachbarn angesichts seiner Bedeutung und Kapitalkraft nicht völlig überflügeln konnte, so hob sich die Offenbacher Aufwärtsentwicklung doch deutlich von der sich verschlechternden Lage Frankfurts ab. Schon vor 1834 mußten Teile des Frankfurter Handels, insbesondere die Leder- und Weinhändler, einen Teil ihres Geschäftes nach Offenbach verlegen, um fortan konkurrenzfähig zu bleiben9. Die von Frankfurt gegen diese, das städtische Wirtschaftsleben schädigende Entwicklung ergriffenen Gegenmaßnahmen - die Erschwerung des Handels zwischen Süd- und Oberhessen, das ausgedehnte Schmuggelwesen 10 , die Politik im mitteldeutschen Handelsverein sowie der 1832 mit England abgeschlossene Handelsvertrag 11 - bereiteten zwar dem Zollverein teilweise einige Unannehmlichkeiten, konnten die Handelsmetropole aber nicht aus der ungünstigen Situation befreien. Als sich seit 1834 das Netz des großen Zollvereins noch dichter um die Stadt zusammenzog und jetzt auch die Waren des gewerbereichen Sachsen und der thüringischen Staaten über Offenbach vermittelt wurden, führte am Zollvereinsbeitritt kein Weg mehr vorbei. Schon seit 1831 hatten die Zollvereinsbefürworter unter Führung der Handelskammer in der innerstädtischen Auseinandersetzung an Einfluß gewonnen, doch trotz der sich verschärfenden Krise dominierten bis 1834 die Gegner einer handelspolitischen Kurskorrektur. Ein beachtlicher Teil der Großkaufleute und die noch ganz auf das Staatsanleihengeschäft konzentrierten Bankiers lehnten den im Zollverein angeblich schon vorherrschenden »Geist des Fabriksystems« ebenso entschieden ab wie die überwiegende Zahl der Frankfurter Zünfte 12 . Die von einer restriktiven Gewerbepolitik vor der auswärtigen Konkurrenz geschützten Handwerker befürchteten, daß der Zollvereinsbeitritt zum Verlust ihrer sorgsam gehüteten Privilegien führen und sie in den wirtschaftlichen Ruin stürzen würde. Mit der zunehmenden Kritik mittlerer und kleinerer Kaufleute, der vom Messeverkehr lebenden Erwerbstätigen und eines kleinen Teils der Gewerbetreibenden schwenkte die öffentliche Meinung der Stadt nach heftigen Auseinandersetzungen zu Beginn des Jahres 1834 zugunsten des Zollvereinsbeitritts um. Im April 1834 setzte sich erstmals die Senatsmehrheit für den Beitritt ein, da jedes weitere Zögern die wirtschaftlichen Verluste nur noch vergrößern mußte 13 . Im benachbarten Hessen-Darmstadt verfolgten Regierung, Kammern und vor allem Offenbach diese Entwicklung mit größter Aufmerksamkeit. Obwohl die Regierung im Grunde jeder Zollvereinserweiterung positiv 140

gegenüberstand, betrachtete sie den Frankfurter Beitrittswunsch trotz aller Vorteile für bestimmte Regionen im Hinblick auf Offenbach doch mit gewisser Sorge. Denn Offenbachs rasches Wachstum seit 1828 beruhte auf einer günstigen zollpolitischen Ausnahmesituation, die nun verloren ging. Daher fürchtete man, daß Frankfurt durch den Zollvereinsbeitritt den verlorenen Handel zurückgewinnen, Offenbach aber in eine schwere Krise geraten werde, so daß sich die seit 1828 vor allem auf dem Bausektor getätigten Investitionen kaum noch amortisieren würden. Während es in Offenbach anfangs durchaus Bestrebungen gab, den Frankfurter Beitritt aufzuhalten, akzeptierten die städtischen Gremien bald ebenso wie die Darmstädter Regierung und die Kammern die unumgängliche Integration der freien Stadt Frankfurt. U m die Nachteile fur Offenb'âch aber gering zu halten, verlangten sie allerdings wichtige Konzessionen der Handelsmetropole. Dabei wurde in erster Linie die Aufhebung des Frankfurter Zunftbannes gefordert, nach dem außerhalb der Messezeiten der Verkauf der meisten Waren verboten war, die auch von den städtischen Zünften hergestellt wurden. Blieb dieses Privileg auch nach dem Zollvereinsbeitritt bestehen, so hätten Frankfurter Waren ungehindert im hessischen Umland abgesetzt werden können, während hessische Gewerbe nur begrenzten Zugang zum Frankfurter Markt gehabt hätten 14 . Kurhessen Schloß sich mit Rücksicht auf Hanau, das ähnlich, aber in nicht so großem Umfange wie Offenbach von den besonderen Zollverhältnissen im Rhein-Main-Gebiet profitiert hatte, den hessen-darmstädtischen Forderungen an 15 . Beide Regierungen wollten der gewerblichen Wirtschaft ihrer aufstrebenden Städte Offenbach und Hanau durch die vollständige Öffnung des Frankfurter Marktes günstigere Entwicklungschancen verschaffen, um die Nachteile, die sich aus der zu erwartenden Rückkehr des Handels nach Frankfurt ergaben, einigermaßen auszugleichen. Sofort nach Bekanntwerden des Frankfurter Beitrittsersuchens betonte daher der hessen-darmstädtische Gesandte in Berlin, Freiherr von Schaeffer-Bernstein, daß sein Land für die Erweiterung des Zollvereins zwar Opfer bringen wolle, man aber dem ältesten Zollvereinspartner Preußens kaum zumuten dürfe, den Ruin einer blühenden Stadt in Kauf zu nehmen. Dieser Appell an die einstige Pionierleistung blieb diesmal nicht erfolglos. Im Gegensatz zu manchen anderen Vereinsstaaten, die sich gegen eine besondere Berücksichtigung der »Wucherpflanze Offenbach« aussprachen 16 , kam Preußen einigen hessischen Wünschen weit entgegen. Bei den abschließenden Beitrittsverhandlungen, die im August 1835 in Berlin begannen, unterstützte es die von Hessen-Darmstadt und Kurhessen geforderte Reform der Frankfurter Zunftverfassung mit großem Nachdruck. Trotz des erbitterten Widerstandes der freien Stadt Frankfurt gelang es den Zollvereinsstaaten schließlich, die Fesseln der Frankfurter Zunftordnung in einem Maße zu lockern, daß die beiden hessischen Staaten, die ja teils selbst noch eine restriktive Gewerbepolitik betrieben, weitgehend zufriedenge141

stellt werden konnten. Künftig durften auch außerhalb der Messezeiten die für den Frankfurter Handel bestimmten und die von Frankfurter Bürgern zum eigenen Bedarf bestellten Handwerksarbeiten ungehindert in die Stadt eingehen 17 . Darüber hinaus erreichte Hessen-Darmstadt gegen eine harte bayerische und kurhessische Opposition, daß Offenbach hinsichtlich der Messebestimmungen des Zollvereins Frankfurt gleichgestellt sein sollte. Obwohl dieses Zugeständnis zunächst nicht mehr als ein Achtungserfolg zu sein schien, hielt es doch Offenbach die Chance offen, im Messegeschäft zu bleiben, und erleichterte die spätere Spezialisierung auf die Lederwarenmesse 18 . Hessen-Darmstadt konnte somit in dem am 2. Januar 1836 abgeschlossenen Frankfurter Beitrittsvertrag entscheidende Konzessionen für Offenbach durchsetzen. Aber auch für Frankfurt erwies sich der Vertrag mit all seinen Kompromißformeln als durchaus akzeptabel. Einerseits blieb der freien Stadt zwar eine volle politische Gleichberechtigung mit den großen Vereinsstaaten versagt. Andererseits erhielt sie aber aufgrund der größeren Konsumtion einen beachtlichen Bonus bei der Revenuenteilung 19 und profitierte von einem wieder ansteigenden Handelsverkehr, der sich bereits bei den ersten Messen abzeichnete. Allerdings ging von nun an Frankfurts Rolle als Umschlagplatz des internationalen Handels zurück, während sich seine Position als Vermittler des zollvereinsländischen Binnenhandels ständig ausweitete 20 . Frankfurt entwickelte sich zum »Zentralpunkt eines bedeutenden Binnenverkehrs, wurde passiver Teilhaber und Nutznießer der industriellen Entfaltung des Vereins, ohne daß jedoch die Stadt einen Nährboden für industrielle Neuerungen abgegeben hätte« 21 . Damit konnte der Frankfurter Handel letztlich mit der Integration in den Deutschen Zollverein weitgehend zufrieden sein. Dagegen lastete das Frankfurter Handwerk die sozialökonomischen Krisenerscheinungen der Folgezeit den durch den Beitritt notwendig gewordenen Einschränkungen seiner Zunftprivilegien an 22 . In Offenbach, das durch die Rückkehr des Handels in die große Konkurrenzstadt vorübergehend in eine Krise geriet, verlief die Entwicklung umgekehrt. Hier ging der Handel rasch zurück, doch die bisher dort gebundenen Kapitalien flössen nun verstärkt in den gewerblichen Sektor, der durch die neuen Zollverhältnisse künftig stärker als zuvor auf den Frankfurter Handels- und Kapitalmarkt zurückgreifen konnte. Aufgrund der fortdauernden Industriefeindlichkeit der Handelsmetropole entwickelte sich das modernisierungsfreudigere, von der hessen-darmstädtischen Bürokratie begünstigte Offenbach immer mehr zu einem bedeutenden gewerblichen Zentrum des hessischen Raumes 23 . Im Unterschied zu Hessen-Darmstadt stießen die Frankfurter Beitrittsregelungen in Kurhessen teilweise auf herbe Kritik. Dem Erfolg in der Zunftfrage standen aus kurhessischer Sicht einige gravierende Mißerfolge entgegen. So stimmte die Kasseler Regierung den Offenbacher Messeprivi142

legien nur unter größten Protesten zu. Auch bei der Regelung der Frankfurter Verwaltungsfrage fühlte sich Kurhessen von Preußen in seinen Interessen beeinträchtigt. Die Zollvereinsstaaten, insbesondere Preußen und Hessen-Darmstadt, drängten angesichts der in Frankfurt umgeschlagenen Warenmengen auf eine wirkungsvolle Kontrolle der dortigen Zollverwaltung. Preußen sollte über seinen Vereinsbevollmächtigten die Oberaufsicht über die Frankfurter Zollverwaltung führen, Sachsen sollte den Messeinspektor stellen und Hessen-Darmstadt verlangte als der am meisten v o m Frankfurter Beitritt betroffene Staat das Präsentationsrecht für den Direktor der Frankfurter Zollverwaltung, was von Kurhessen vehement bestritten wurde. Nach hartnäckigem Kasseler Insistieren einigten sich die Zollvereinsstaaten schließlich darauf, beiden hessischen Staaten gemeinsam das Präsentationsrecht für das A m t des Direktors und seines Stellvertreters zu erteilen, den übrigen Vereinsstaaten aber ein Mitspracherecht bei der Besetzung der Direktorenstelle einzuräumen 2 4 . Bei der ersten Stellenbesetzung zogen Preußen und die meisten Vereinsstaaten dann aber den hessen-darmstädtischen Kandidaten Heinrich Ludwig Biersack vor, der als Leiter der Darmstädter Zolldirektion in Preußen großes Ansehen genoß 2 5 . Die Zurücksetzung des kurhessischen Kandidaten wurde von der Kasseler Regierung ebenso heftig kritisiert 26 wie die erneute mangelnde Berücksichtigung der kurhessischen Transitinteressen. Obwohl Preußen, das aus fiskalischen Gründen allzu weitgehende Transitzollsenkungen ablehnte, Kurhessen immerhin eine begrenzte Ermäßigung anbot und obwohl ein Großteil des durch Kurhessen laufenden Verkehrs nach den Zollvereinsbeitritten Badens, Nassaus und Frankfurts ohnehin von Transitzöllen befreit war, behielt sich die nicht zufriedengestellte kurhessische Regierung vor, die Angelegenheit bei der nächsten Tarifrevision zur Sprache zu bringen und bei einem nachweisbaren Rückgang des Verkehrs weitere Ermäßigungen zu verlangen 2 7 . Nachdem sich die Kasseler Regierung nur sehr widerstrebend den Vorstellungen der Hegemonialmacht gebeugt hatte, wurde die kurhessische Ratifikation der Beitrittsverträge mit Nassau und Frankfurt erneut durch die innenpolitischen Auseinandersetzungen mit dem landständischen Ausschuß in Frage gestellt. U m Verzögerungen wie beim badischen Beitrittsvertrag zu vermeiden, hatte die Regierung dem landständischen Ausschuß bereits im August 1835 vorgeschlagen, über den Entwurf des nassauischen Beitrittsvertrages zu verhandeln. Da jedoch Hassenpflug nicht nur erneut die Rechtmäßigkeit der ständischen Instruktion bezweifelte, sondern dem Ausschuß jetzt auch noch das Recht zur direkten Kommunikation mit allen Ministerien bestritt und jeweils den Weg über das für landständische Fragen zuständige Innenministerium verlangte, wollte der Ausschuß erst nach zufriedenstellenden Erklärungen der Regierung in die Beratungen über die Zollvereinsverträge einwilligen 28 . Als daraufhin wenigstens das Finanzministerium den Forderungen des Aus143

schusses entgegenkam, stimmte dieser am 4. Januar 1836 dem Vertrag mit Nassau zu, wobei er aber erneut seine Vorbehalte hinsichtlich der Rechte von Ständeversammlung und Ausschuß wiederholte 29 . Danach begann bei der Behandlung des Frankfurter Beitrittsvertrages die gesamte Prozedur zwischen Ausschuß und Regierung zum drittenmal. Die jeweils getroffenen Kompromißlösungen hatten die Rechtspositionen beider Seiten nicht verändert. Wiederum versuchten beide Kontrahenten, den eigenen Auffassungen die genügende Geltung zu verschaffen. Als das Finanzministerium wieder hinter frühere Zusagen zurückging und dem Ausschuß darüber hinaus Einblicke in die Verwendung der Staatseinnahmen von 1831 bis 1833 versagte, lehnte es der Ausschuß ab, über den Frankfurter Beitrittsvertrag zu verhandeln 30 . Das Ministerium warf den Vertretern der Ständeversammlung nunmehr vor, mit ihrer Obstruktionspolitik die wirtschaftlichen, fiskalischen und politischen Interessen des Gesamtvereins aufs Spiel zu setzen und Kurhessens Stellung im Verein zu ruinieren. Es betonte, daß »Kurhessen durch solche Hemmungen in Vollziehung der von ihm unternommenen Staatshandlungen nicht nur in Gefahr komme, seine bisher behauptete ehrenvolle Stellung in dem Vereine zu verlieren, sondern auch öffentlich darlege, wie wenig sein inneres Staatsleben Garantien darbiete, äußere Staatsverhältnisse mit der Würde und Zuverlässigkeit zu leiten und zu vollfuhren, die sie zu ihrem Gedeihen notwendig bedürfen und die allein dazu geeignet sind, Vertrauen und Achtung in den gegenüber stehenden Regierungen dauernd zu begründen« 31 . Der Ausschuß, dem es nach eigenem Bekunden nicht um zentrale Zollvereinsfragen, sondern allein um die Wahrung verfassungsmäßiger Rechte ging, mußte am Ende auch diesmal erkennen, daß der Zollverein nicht gerade ein geeignetes Feld darstellte, um innenpolitische Grundsatzkonflikte auszutragen. Da er die Handlungsfähigkeit des ohnehin schwerfällig funktionierenden föderalistischen Vereins nicht weiter beeinträchtigen wollte, gab sich der Ausschuß wiederum mit einer Kompromißlösung zufrieden, verzichtete auf eine endgültige Klärung der verfassungspolitischen Streitfragen und stimmte nach Rücksprache mit anderen Abgeordneten am 8. Februar 1836 dem Frankfurter Vertrag zu 32 . Damit war nach langjährigen politischen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen die Integration des für die deutsche Zollpolitik aufgrund seiner Schlüssellage so wichtigen hessischen Raumes abgeschlossen. Lediglich im kurhessischen Norden bestanden weiterhin trennende Zollschranken fort, da neben Österreich, Luxemburg und den Hansestädten auch die norddeutschen Küstenstaaten, Braunschweig und die beiden lippischen Kleinstaaten dem Deutschen Zollverein vorerst fernblieben.

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11. Der Beitritt der hessischen Staaten zum Zollverein. Eine zusammenfassende und vergleichende Betrachtung der Beweggründe und Folgen Die Analyse der hessischen Politik im Gründungsprozeß des Zollvereins hat gezeigt, welche Vielfalt von Interessen, Antrieben und Beweggründen letztlich zur handelspolitischen Einigung führte und welch unterschiedliche Erwartungen mit der neuen Institution verknüpft waren. Weder hinsichtlich der nationalen Einigung noch hinsichtlich der industriellen Revolution stellte die Zollvereinsgründung eine bewußt vollzogene Weichenstellung dar. Sie war, wie Wolfram Fischer treffend bemerkt, eben nicht der »glorreiche Beginn einer glorreichen Geschichte«, sondern eher »ein System von Behelfen, das aufgebaut wurde, um dringenden Bedürfnissen nachzukommen« 1 . Gewiß, der Zollverein enthielt bereits bei seiner Gründung zahlreiche moderne Elemente, aber die von ihm mit in Gang gesetzten Entwicklungen deckten sich keineswegs immer mit den Intentionen der am Gründungsprozeß beteiligten sozialen Gruppen. Schon das preußische Zollgesetz von 1818 war nicht als Vorstufe einer nationalen oder großpreußischen Zolleinigung und auch nicht als Grundlage rascher Industrialisierungsprozesse konzipiert worden, dennoch hat es durch seine Auswirkungen Tendenzen begünstigt und beschleunigt, die in moderne Bahnen drängten. Ohne die frühen süddeutschen Zollreformen oder die frühen Bestrebungen des deutschen Wirtschaftsbürgertums abzuwerten, muß vor allem aus der Sicht der hessischen Staaten festgestellt werden, daß das preußische Zollgesetz und seine Folgen die handelspolitische Entwicklung der zwanziger und dreißiger Jahre stärker bestimmten als alle anderen zollpolitischen Faktoren. Trotz der frühen Integration von Enklaven, die im Grunde noch ganz auf administrative und fiskalische Überlegungen der preußischen Zollverwaltung zurückzuführen war, und trotz des zweifellos vorhandenen preußischen Interesses an der handelspolitischen Überwindung des Korridors zwischen den östlichen und westlichen Provinzen blieb die Berliner Bürokratie bis Mitte der zwanziger Jahre noch weit entfernt von einem klar definierten zollpolitischen Expansionsprogramm. Erst seit 1825 setzten sich jene Kräfte um Motz und Eichhorn durch, die unterstützt vom vorsichtiger taktierenden Außenminister Bernstorff nun weitergehende Pläne verfolgten. In der großen Bedeutung, die der riesige preußische Markt für die Wirtschaft der kleinen Nachbarstaaten besaß, und in den neuen Möglichkeiten der konsolidierten preußischen Staatsfinanzen sah vor allem Motz ein Lockmittel, mit dem er wenigstens die zwischen beiden großen Gebietskomplexen gelegenen Staaten in einen von Preußen geführten Zollverband integrieren konnte. Damit sollte nach dem Willen der neuen Zollreformer nicht mehr nur einem dringenden handelspolitischen Bedürfnis der preußischen Monarchie abgeholfen werden. Zugleich traten jetzt, wie vor allem das Motz-Memoire von 1829 145

zeigte, die machtpolitischen Zielsetzungen der preußischen Zollpolitik stärker hervor. Die neue Richtung innerhalb der preußischen Bürokratie, der es mehr »um eine preußische Politik in Deutschland als u m eine preußische Politik für Deutschland« ging 2 , leitete mit ihrer Zollpolitik zugleich eine dynamischere Phase der Bundespolitik ein. Über die zollpolitischen Initiativen versuchten Motz, Eichhorn und auch Bernstorff, in Deutschland moralische Eroberungen zu machen und den eigenen bundespolitischen Einfluß auszuweiten. Mit der neuen handelspolitischen Einigung sollte zwar noch nicht das System des Deutschen Bundes gesprengt werden, aber die preußischen Reformkräfte waren sich doch der Tatsache bewußt, daß der Zollverein in dieser Hinsicht langfristig neue Chancen bot. Ohne die veränderte Grundposition in der preußischen Bürokratie wäre jener Zollvereinsvertrag mit Hessen-Darmstadt wohl kaum zustande gekommen. Für Preußen, das mit diesem Vertrag ökonomisch nur wenig gewann und in fiskalischer Hinsicht große Verluste hinnahm, bedeutete die Einigung mit einem der souveränitätsbewußten Mittelstaaten einen großen politischen Erfolg, der den weiteren Fortschritten in der handelspolitischen Einigung erst den Weg ebnete. Die hessen-darmstädtische Politik wurde von anderen Interessenlagen bestimmt. Angesichts der territorialen Zerrissenheit und der ökonomischen Rückständigkeit weiter Gebiete litt Hessen-Darmstadt in großem Maße unter den seit 1815 verstärkt aufkommenden Grenzzollsystemen seiner Nachbarn. Vor allem aber war Hessen-Darmstadt nach 1815 einer der finanziell zerrüttetsten Staaten des Deutschen Bundes. Nachdem die im Z u g e der Verfassungsgebung unternommenen Finanzreformen in dieser Hinsicht wenig weiterführten, die von der Darmstädter Regierung eifrig unterstützten klein- und mittelstaatlichen Zollunionsversuche immer wieder ins Stocken gerieten und sich auch die als Übergangslösung konzipierte einzelstaatliche Zollreform in jeder Beziehung als Fehlschlag erwies, schlug die hessen-darmstädtische Bürokratie den Weg nach Preußen ein, der zuvor bereits mehrfach in der öffentlichen Zolldebatte gefordert worden war. Eine vollständige Zolleinigung mit Preußen versprach die Teilhabe an den günstigen Finanzergebnissen der preußischen Zollverwaltung. Hinzu kam aber, daß diese fiskalischen Interessen der Regierung auch mit den maßgeblichen ökonomischen Interessen des Landes in Einklang gebracht werden konnten. Die in der zweiten Kammer stark vertretenen Agrarinteressen wiesen eindeutig in die preußische Richtung. Der durchaus einflußreiche Mainzer Handel propagierte über die zweite Kammer und die Handelskammer schon frühzeitig die Verständigung mit dem großen Nachbarstaat, die zuvor schon in der Rheinschiffahrt praktiziert worden war. Schließlich erhofften sich auch Teile des gewerblichen Sektors, von dem noch die stärkste Südorientierung der hessen-darmstädtischen Wirtschaft ausging, große Vorteile von der Wiedereröffnung des preußischen 146

Marktes. In politischer Hinsicht versprach die Berücksichtigung der rheinhessischen Handelsinteressen Fortschritte bei der Integration dieser schwierigen Provinz. Im übrigen erwartete die hessen-darmstädtische Bürokratie, daß ein die Souveränitätsinteressen der kleineren Partner respektierender Vertrag die Eingliederung weiterer Nachbarstaaten fördern und die territoriale Zerrissenheit des hessischen Raumes wenigstens auf handelspolitischem Gebiet zum Vorteil aller Betroffenen überwinden würde. Obwohl Preußen einen politisch akzeptablen Vertrag anbot und den Interessen des ungleichen Partners sehr weit entgegenkam, verharrten die vor allem gegenüber Preußen stets sehr souveränitätsbewußt auftretenden Führungen in Kassel und Wiesbaden in einem starren Widerstand gegen die preußische Zollpolitik. Sie waren jedoch von nun an immer stärker dem politischen und ökonomischen Druck der benachbarten Großmacht ausgesetzt, vor dem sie schließlich kapitulieren mußten. Die Zollpolitik beider Staaten beruhte auf anderen Voraussetzungen als in Hessen-Darmstadt. In Kurhessen litten zwar weite Teile der Wirtschaft ebenso wie im hessischen Nachbarstaat unter den Folgen des preußischen Zollgesetzes und anderer Grenzzollsysteme. Aber zum einen fehlte in dem neoabsolutistisch regierten Staat eine geeignete Appellationsinstanz, um auf die wachsenden ökonomischen Probleme hinzuweisen und die Regierung auf einen zollpolitischen Reformkurs zu drängen. Z u m anderen gab es im Unterschied zu Hessen-Darmstadt zunächst auch keinen direkten fiskalischen Druck zur Neuordnung des Zollwesens. Hinzu kam, daß die kurhessische Bürokratie angesichts des autokratischen Stils des Kurfürsten weit weniger Entfaltungsmöglichkeiten besaß als du Thil und seine Mitarbeiter in Darmstadt. Die wenigen zollpolitischen Reforminitiativen wurden in der Regel von Kurfürst Wilhelm II. schroff abgewiesen, der auch in der Zollpolitik Herr im eigenen Hause bleiben wollte, gemeinschaftlichen Lösungen wegen vermeintlicher Übervorteilungen sehr ablehnend gegenüberstand und, wie das ständige Scheitern seiner Zollkriege zeigte, die Machtposition des eigenen Staates in den deutschen Zollfragen weit überschätzte. Diese eigenwillige Zollpolitik lief den Interessen der kurhessischen Wirtschaft immer mehr entgegen und begünstigte jene politische Gärung, die sich dann in den revolutionären Erhebungen von 1830 entlud. Unter der neuen politischen Führung und mit Hilfe des neuen Landtags wurde jetzt die unumgängliche, in ihrer Form freilich noch sehr umstrittene zollpolitische Wende eingeleitet. Neben den ökonomischen Interessen, die mehrheitlich zum preußisch-hessen-darmstädtischen Zollverein drängten, wurde die Beitrittsentscheidung in hohem Maße auch von fiskalischen Überlegungen bestimmt. Die infolge der preußischen Straßenpolitik eingetretenen Transiteinbußen und die während der Mautenstürme durchgesetzte Suspension wichtiger Abgaben brachten das Land 1831 an den Rand einer Finanzkrise, die durch neue Einnahmen behoben werden sollte. 147

Am längsten widersetzte sich das kleine Herzogtum Nassau der Integration in den preußischen Zollverband. Die vom Herzog gebilligte, streng antipreußische Zollpolitik des Staatsministers Marschall, die in einem Zollverein mit Preußen eine Gefahr fur die einzelstaatliche Souveränität und das monarchische Prinzip erblickte, beruhte auf zwei zentralen Grundpfeilern. Zum einen befand sich Nassau nicht zuletzt durch das 1822 geschaffene Niedrigzollsystem, das die 1815 begonnene Freihandelspolitik ablöste, zumindest bis 1830 in einer relativ günstigen Finanzsituation. Selbst danach war die Finanzlage Nassaus nie so schlecht und ausweglos wie in Hessen-Darmstadt. Zum anderen billigten beide nassauischen Kammern, vor allem die von binnenmarktorientierten Grundbesitzern dominierte Deputiertenversammlung, lange Zeit den partikularistischen Zollkurs der Regierung. Aus Furcht vor den hohen preußischen Fiskalzöllen, den strengen Vorschriften der preußischen Zollverwaltung und den unwägbaren ökonomischen Folgen lehnte die große Mehrheit der Abgeordneten bis 1834 einen Beitritt zum preußischen Zollsystem ab, der von vielen exportorientierten Wirtschaftszweigen seit Anfang der dreißiger Jahre immer eindringlicher gefordert wurde. Erst als sich das Netz des Zollvereins noch dichter um Nassau zusammenzog und auch das für Teile der nassauischen Wirtschaft so wichtige Frankfurt seinen Widerstand aufzugeben schien, kam es zu der lange aufgeschobenen zollpolitischen Kurskorrektur. Nach dem Tode des hochkonservativen Partikularisten Marschall wollten sich der Herzog und die neue, in vielerlei Hinsicht flexiblere Regierung Walderdorff ebensowenig wie die Kammern einer Entwicklung entziehen, die den kleinen Staat zu überrollen und in eine ausweglose wirtschaftliche Situation zu bringen drohte. Fiskalische Überlegungen spielten dabei zweifellos eine gewisse Rolle, eine eindeutige Dominanz wird man ihnen aber nicht einräumen können. Bei allen drei hier untersuchten Staaten wurde die Zollpolitik somit von multikausalen Faktoren bestimmt. Die Gründe für die jeweils phasenverschobenen Zollvereinsbeitritte lagen in den unterschiedlichen Finanzverhältnissen, den andersartigen innenpolitischen Kräftekonstellationen und dem verschieden wirksam werdenden Druck ökonomischer Interessen. Die fiskalische Gewinnerwartung war zweifellos bei allen drei Staaten ein ausschlaggebender Faktor der Beitrittsentscheidung. Aber diese fiskalische Zielsetzung basierte im Grunde weniger auf einer klar definierten Strategie, mit der man über höhere Einnahmen die innenpolitischen Gegner künftig mächtig zurückdrängen wollte. Die fiskalischen Überlegungen gingen vielmehr zumindest in Hessen-Darmstadt und Kurhessen zunächst einmal auf unmittelbar anstehende, innerhalb des Einzelstaates kaum noch zu lösende Finanzprobleme zurück. Im übrigen aber orientierten sich die »in ihrem Finanzwesen zerrütteten und von ihren Kammern bedauernswert abhängigen Regierungen« entgegen der bereits von Metternich aufgestellten Behauptung keineswegs ausschließlich am finanziellen Kosten- und 148

Nutzen-Kalkül 3 . Im Gegenteil: Die Rücksichtnahme auf die Exportinteressen wichtiger Wirtschaftszweige oder die Beachtung verkehrspolitischer Zusammenhänge spielten beim Zollvereinsbeitritt der hessischen Staaten alles andere als eine untergeordnete Rolle. Ohne in unkritische Aktengläubigkeit zu verfallen, wird man angesichts der vorliegenden Gutachten, die Behörden und Handelskammern über Vor- und Nachteile des Zollvereinsbeitritts verfaßten, angesichts der zahllosen Petitionen von Wirtschaftszweigen und angesichts der Behandlung wirtschaftlicher Fragen in den Beitrittsverhandlungen feststellen können, daß die Regierungen über die fiskalischen Erwägungen hinaus immer wieder wirtschaftliche Entscheidungskriterien heranzogen. Wenn Hessen-Darmstadt und Kurhessen als erste größere deutsche Staaten mit Preußen einen Zollverein eingingen, so geschah dies nicht allein aus dem Grund, weil Preußen ein in fiskalischer Hinsicht attraktives Zollsystem besaß, sondern vor allem auch deshalb, weil Preußen für beide Staaten der wichtigste Handelspartner war, von dessen Marktöffnung zahlreiche wirtschaftliche Vorteile erwartet werden durften. Wie in fiskalischer Hinsicht so stand auch in wirtschaftlicher Beziehung das Interesse an einer raschen spürbaren Verbesserung der krisenhaften Lage zunächst noch eindeutig vor langfristigen Überlegungen und Zielsetzungen. Es gab zwar auch in der hessischen Zolldebatte Stimmen, die den künftigen Zollverein deutscher Staaten auch als eine Kampfansage gegen die Handelspolitik der westeuropäischen Nachbarstaaten ansahen. Aber weder innerhalb der Bürokratie noch innerhalb der öffentlichen Meinung besaß die Strategie eines vor allem gegen England gerichteten Wirtschaftsnationalismus bei der Entscheidung zugunsten des Zollvereinsbeitrittes einen ausschlaggebenden Stellenwert. Die ökonomische Motivation der Beitrittsentscheidung betraf in erster Linie die innerdeutschen Zollschranken, von deren partieller Beseitigung eine fühlbare Entlastung der Wirtschaft erhofft wurde. Die unmittelbar aus dem Zollvereinsbeitritt resultierenden Wohlfahrtsgewinne dürfen zwar nicht überschätzt werden 4 . Sie blieben auch in den hessischen Staaten recht begrenzt. Dennoch brachte der Zollverein für zahlreiche Regionen und Branchen offenbar doch eine gewisse Entlastung, durch die ein weiteres Absinken des Wohlstandes zumindest erschwert wurde. Die hessische Wirtschaft profitierte nicht allein von dem Wegfall hemmender Zollmauern, sondern auch von den fiskalischen Resultaten des Zollvereins, die neue Steuerforderungen des Staates vorerst überflüssig machten und teilweise sogar zu einer Reduktion der direkten Steuern führten. Die Beitrittsentscheidung in den hessischen Staaten war insgesamt mehr die Folge drängender, von konservativer Seite wie von der liberalen Opposition erkannter Nöte ökonomischer und fiskalischer Natur als das Resultat eines weitplanenden politischen Kalküls traditionaler Führungsschichten oder die Konzession an ein aufstrebendes Bürgertum, das sich auf 149

einen Wirtschaftsnationalismus Listscher Prägung eingeschworen hatte. Eine solche Feststellung schließt keineswegs aus, daß hochkonservative Politiker wie Prinz Emil oder du Thil mit dem Beitritt zum fiskalisch ergiebigen Zollverein auch die Hoffnung verbanden, eine stärkere Position gegenüber der vordrängenden Kammeropposition zu gewinnen. Selbst Beamte, die wie der hessen-darmstädtische Unterhändler und spätere Finanzminister Hofmann der Oppositionsbewegung weit weniger schroff gegenüberstanden, sprachen offen aus, mit dem Zollverein auch zur Konsolidierung der inneren Verhältnisse beizutragen. Aber derartige Überlegungen waren eben keineswegs der alleinige Grund für die Teilnahme an der handelspolitischen Einigung unter Preußens Führung. Gegen eine Überbetonung der partikularistisch-reaktionären Zielsetzungen der beitretenden Regierungen spricht im übrigen auch die Tatsache, daß der Widerstand gegen den Zollverein in Nassau und Kurhessen gerade von jenen hochkonservativen Kräften ausging, die am nachhaltigsten für einen antikonstitutionellen Kurs eintraten. Gewiß trug auch der Zollverein durch steigende Staatseinnahmen, die dadurch möglich werdende Entschärfung an der Steuerfront und durch die Erfüllung zentraler ökonomischer Forderungen dazu bei, die innenpolitische Situation der Mitgliedstaaten vorübergehend zu stabilisieren. Dennoch waren die Zollvereinsgewinne keineswegs sämtlich politisch kostenlos. Zum einen schuf die Zollreform in manchen Gebieten, vor allem im Rhein-Main-Raum, zunächst einmal neue Konfliktherde, zum andern ließen sich die Kammern bei aller Kompromißbereitschaft schon während der Gründungsphase des Vereins keineswegs leichtfertig von allen zollpolitischen Entscheidungen und Kontrollbefugnissen abdrängen. Wenn sich um die Mitte der dreißiger Jahre die große Auseinandersetzung zwischen der monarchischen Gewalt und der um mehr politischen Einfluß ringenden liberalen Opposition in den Kammern zugunsten der Regierungsseite entschied, so läßt sich diese innenpolitische Entwicklung nicht allein auf eine Zollvereinsbeteiligung zurückführen, die politisch kostenlose Einnahmen bescherte und die Oppositionsbewegung in die Schranken wies. In Nassau waren die verfassungspolitischen Vorstöße der Opposition längst abgewehrt, bevor der Beitritt zum Zollverein erfolgte 5 . Der Zollverein war daher bestenfalls einer von mehreren Faktoren, die im hessischen Raum den seit 1830 intensivierten Kampf um die Ausweitung der Verfassung scheitern ließen. Die vom Deutschen Bund bereitgestellten Unterdrükkungsmechanismen, die Landtagsauflösungen und Urlaubsverweigerungen für liberale Beamtenabgeordnete stellten zumindest ebenso wirksame Instrumente zur Schwächung der Oppositionsbewegung dar wie die Teilnahme am Zollverein, dessen bislang zu wenig beachtete systemstabilisierende Wirkung bei aller Bedeutung auch nicht überschätzt werden sollte. Eine Interpretation, die das Zustandekommen des Zollvereins vor allem den reaktionären-partikularistischen Zielsetzungen konservativer Eliten 150

zuschreibt 6 , verkennt darüber hinaus, daß die Beitrittsentscheidung innerhalb der einzelstaatlichen Verwaltungen nicht zuletzt von solchen Beamten begünstigt worden ist, die wie Nebenius in Baden 7 , Schwedes in Kurhessen 8 und in gewissem Maße auch Hofmann in Hessen-Darmstadt 9 der bürgerlichen Oppositionsbewegung aufgeschlossener gegenüberstanden. Während bei manchen konservativen Politikern der defensive Charakter der Zollreform deutlicher hervortrat, verbanden zumindest die genannten Beamten mit der Beitrittsentscheidung mehr als eine bequeme Bezugsquelle neuer Einnahmen und ein Instrument zur Unterdrückung der liberalen Opposition. Sie sahen in der Zollreform vielmehr auch einen Ansatzpunkt, um die politische Kooperation zwischen dem bürokratischen Liberalismus und den gemäßigten Teilen des politischen Liberalismus zu intensivieren. Darüber hinaus stand zwar auch bei Nebenius, Schwedes und Hofmann die Linderung drängender Notlagen im Vordergrund ihres zollpolitischen Handelns, aber im Unterschied zu vielen konservativen Beamten trat bei ihnen zugleich das Bemühen stärker hervor, der einheimischen Wirtschaft mit dem Zollverein auch langfristig bessere Entwicklungschancen zu sichern und so den »Nationalwohlstand« dauerhaft zu heben. Sie suchten daher schon frühzeitig nach neuen Mitteln und Wegen, um die Konkurrenzfähigkeit der einheimischen Branchen auf dem großen Zollvereinsmarkt zu erhalten und auszubauen. Allerdings orientierte sich ihr dabei zugrundegelegtes sozialökonomisches Leitbild um 1830 noch nicht eindeutig an der englischen Industrialisierung. Vielmehr blieb die propagierte Förderung des Gewerbefleißes auch bei den aufgeschlosseneren Beamten oft noch dem Konzept einer mittelständischen, vorindustrielle Strukturen bewahrenden Wirtschaft verhaftet. Die Zollpolitik der deutschen Staaten ist somit also mit monokausalen Erklärungsmodellen nicht hinreichend zu erfassen. Dazu waren die Antriebe und Beweggründe der Zollvereinsgründung schon auf der Ebene der Regierungen zu vielschichtig. Erst dadurch, daß der nationale, konstitutionelle, ökonomische und fiskalische Komplexe zugleich tangierende Zollverein zu den verschiedenartigsten Erwartungen Anlaß bot, konnten sich unterschiedliche Kräfte innerhalb der einzelstaatlichen Verwaltungen mit der Beitrittsentscheidung anfreunden. Blickt man auf die Ebene der öffentlichen Meinung, so ergibt sich ebenfalls ein sehr differenziertes Bild. Viele der liberalen Zollvereinsbefürworter begrüßten den Abbau der innerdeutschen Zollschranken als Fortschritt in der nationalen Einigung, als neue Chance für die Durchsetzung von Verfassungsforderungen und auch als Mittel zur Steigerung des Gewerbefleißes innerhalb einer bürgerlichen Mittelstandsgesellschaft. Von einem gleichzeitigen Bekenntnis zur Industrialisierung nach englischem Vorbild, wie es bei Friedrich List und einigen frühen Unternehmerpionieren bereits anklang, blieb der Großteil der liberalen Zollvereinsanhänger dennoch weit entfernt. 151

Die differenzierte Position, die das noch recht heterogene deutsche Bürgertum gegenüber den politischen und ökonomischen Problemen der Zollvereinsgründung einnahm, läßt gerade jene Interpretation fraglich erscheinen, bei der in Anlehnung an Friedrich Engels die Zollvereinsgründung als eine Konzession angesehen wird, die das ökonomisch aufstrebende Bürgertum den alten Gewalten abrang, und bei der eigenständige bürokratische Reforminitiativen nicht beachtet werden. Andererseits ist es jedoch ebenso verfehlt, den Zollverein nur als das Werk aufgeklärter Regierungen und Monarchen zu sehen, die den Reformkurs gegen den Widerstand des idealistisch versponnenen liberalen Bürgertums durchsetzen mußten 10 . Mancherorts erwiesen sich zwar die zollpolitischen Konzepte der Regierungen als fortschrittlicher und zukunftsweisender als die Alternativen der teilweise in negativer Reaktion verharrenden Opposition. Aber die Analyse der hessischen Zollpolitik hat gezeigt, daß sowohl vorhandenes als auch fehlendes Drängen der bürgerlichen Oppositionsbewegung nach raschen zollpolitischen Reformen bei der Gründung des Deutschen Zollvereins eine wichtige Rolle spielen konnte. Freilich ging der Druck nicht allein von einem selbstbewußten, ökonomisch machtvollen und vorwärtsdrängenden Industriebürgertum aus, das mit dem geschützten nationalen Markt den Vorsprung Englands aufholen wollte. Vielmehr wirkten im hessischen Raum, wo es ein solches Bürgertum erst in ganz bescheidenen Anfängen gab, andere ökonomische Interessen sehr viel stärker. Hier forderten die am Export beteiligten Groß- und Mittelbauern, Teile der kleingewerblichen Wirtschaft und des oft noch industriefeindlichen Handels den Abbau der innerdeutschen Zollschranken, ohne damit zugleich das Aufkommen des modernen Kapitalismus zu verbinden. Trotz der in der Zollvereinsdebatte bereits vorgebrachten nationalen Argumentationsmuster wäre es im übrigen auch verfehlt, den von der öffentlichen Meinung ausgehenden Druck zum Abschluß von Zollvereinsverträgen nun ausschließlich als Teil der bürgerlichen Einheitsbewegung anzusehen. Vielfach lagen die Ursachen der eindringlichen Beitrittsappelle noch ganz in regionalen und sektoralen Interessen. Sowohl auf der Ebene der Regierungen als auch auf der nicht zu unterschätzenden Ebene der öffentlichen Meinung drängten die unterschiedlichsten Interessen auf die Überwindung der innerdeutschen Zollschranken. Traditionale und moderne Zielsetzungen politischer wie ökonomischer Art mischten sich zu einem schwer überschaubaren Geflecht, und es war 1833 in vielen Fällen kaum abzusehen, welche mit der Vereinsgründung verbundenen Erwartungen eintreffen würden. Die Steigerung der Staatseinnahmen durfte zwar als eine relativ sichere Prognose gelten, aber die aus dem Zollverein resultierenden innenpolitischen Folgen waren ebensowenig klar kalkulierbar wie die machtpolitischen Zielsetzungen von Teilen der preußischen Bürokratie. Erst in den folgenden Vereinsperioden mußte sich entscheiden, ob sich die partikularistisch-reaktionären Vorstel152

lungen durchsetzen oder ob der Zollverein, wie Teile der Liberalen erwarteten, sich als Impuls für die nationale Einigung und als Rahmen konstitutioneller Reformen erweisen würde, ob er der Industrialisierung zum Durchbruch verhelfen würde oder ob er als Instrument zur Bewahrung kleingewerblich-agrarischer Strukturen dienen konnte. Die folgenden Analysen zur hessischen Rolle in der Zollvereinspolitik werden allerdings zeigen, daß das typische Nebeneinander von Traditionalem und Modernem in allen vom Zollverein erfaßten Bereichen weiterhin fortbestand und zahlreiche Zwischenformen hervorbrachte, bevor dann die neuen Wandlungsprozesse nach der Jahrhundertmitte den modernen Entwicklungen in zunehmendem Maße Bahn brachen.

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III. Die hessischen Staaten und der Integrationsprozeß im Zollverein bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts

1. Der Zollverein und die wirtschaftliche Entwicklung im hessischen Raum Friedrich List bemerkte in seiner Ende der dreißiger Jahre entstandenen Schrift »Das natürliche System der politischen Ökonomie« zu den wirtschaftlichen Folgen des erst wenige Jahre zuvor gegründeten Deutschen Zollvereins: »Seit der Schaffung dieser Union bemerkt man in Industrie, Landwirtschaft und Handel erneut einen erstaunlichen Aufschwung.« 1 U n d selbst für das kleine, ökonomisch rückständige Nassau konstatierte Karl Braun in den sechziger Jahren, daß mit dem Zollverein »die bürgerliche Gesellschaft mächtig in die Höhe« gewachsen sei 2 . So wie die Zeitgenossen vor der Zollvereinsgründung alle auftretenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten fast immer wieder den zollpolitischen Mißständen anlasteten, haben sie nach Abschluß des Einigungswerkes umgekehrt nahezu sämtliche ökonomischen Verbesserungen ungeachtet aller strukturellen und konjunkturellen Veränderungen zunächst einmal dem sichtbarsten wirtschaftlichen Fortschritt der Zeit, dem Zollverein, zugeschrieben. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte hat solche optimistischen Einschätzungen lange Zeit eifrig bestätigt und ist erst in jüngster Zeit zu einer wesentlich differenzierteren Sicht durchgedrungen 3 . So haben etwa neuere Untersuchungen zu den britisch-deutschen Handelsbeziehungen die auf List zurückgehende These von den deindustrialisierenden Wirkungen der englischen Exporte entscheidend korrigiert und darauf verwiesen, daß die Importe aus dem fortgeschritteneren Land durch die Bereitstellung billiger Halbfertigwaren, Maschinen und technischem K n o w how eben auch Impulse für die kontinentale Industrialisierung gaben 4 . Im übrigen hebt die neuere wirtschaftsgeschichtliche Forschung aber vor allem hervor, daß die ersten Jahre des Zollvereins noch keine Phase eines ungezügelten wirtschaftlichen Wachstums waren und der eigentliche Durchbruch der Industrialisierung in Deutschland erst in die fünfziger Jahre zu datieren ist 5 . Selbst das eher bescheidene, von Krisen und Stagnation unterbrochene wirtschaftliche Wachstum der dreißiger und vierziger Jahre wird keineswegs mehr allein, sondern oft nur noch zu einem geringen Teil auf den Zollverein und seine Folgen zurückgeführt. Die neuen Techniken im 154

Eisen- und Textilgewerbe und vor allem die bald nach 1834 einsetzende revolutionäre Entwicklung des Eisenbahnbaus dürften fur das Wachstum der Wirtschaft eine weit größere Bedeutung gehabt haben als die institutionelle Integration des Zollvereins 6 . Zudem hat die neuere Industrialisierungsforschung mit ihrer stärkeren Betonung der regionalen Wachstumsprozesse auch die Bedeutung staatlicher Grenzen für das Ausbreiten der neuen Produktionsverhältnisse erheblich relativiert 7 . Schließlich k o m m t eine neuere wachstumstheoretische Untersuchung der ökonomischen Folgen des Zollvereins in Bezug auf den süddeutschen Raum zu dem Ergebnis, daß der aus dem Zollvereinsbeitritt resultierende unmittelbare Wohlfahrtszuwachs in Süddeutschland lediglich bei 1,06% lag und somit schon von einer einzigen Mißernte wieder getilgt werden konnte 8 . All dies läßt kaum noch die lange tradierte Behauptung zu, nach der vor allem der Zollverein die deutsche Industrialisierung ausgelöst habe. Fortbestehende Binnenzölle hätten die deutsche Industrialisierung auf Dauer ebensowenig aufgehalten wie das Fortbestehen restriktiver Gewerbeordnungen. Dennoch darf man annehmen, daß sich der wirtschaftliche Fortschritt ohne die Zolleinigung wohl etwas »mühsamer, hindernisreicher und reibungsvoller« vollzogen hätte 9 . Folglich sollte man die Bedeutung des Zollvereins für die wirtschaftliche Entwicklung Mitteleuropas auch nicht völlig mißachten und in der zollpolitischen Einigung nur noch »eine minderwertige Vorbedingung der erfolgreichen Industrialisierung sehen« 1 0 . Erstens bildeten die innerdeutschen Zollschranken vor 1834 doch Hindernisse, die das Wirtschaftsleben nicht unwesentlich beeinträchtigten. Zweitens war der Zollverein zwar nicht in der Lage, die von manchen Zeitgenossen »erwartete grundlegende Umgestaltung« der internationalen Handelspolitik zu erreichen 11 , aber er stellte doch ein tarifpolitisches Instrumentarium bereit, dessen Anwendung, wie sich bei der Eisenindustrie zeigte, durchaus wachstumsfördernde Impulse geben konnte 1 2 . Drittens hat der Zollverein innerdeutsche Wirtschaftsverflechtungen intensiviert, divergierende Wirtschaftsräume langsam zu einem prosperierenden nationalen Markt verschmolzen und über diese wichtige Binnenmarkterweiterung zu Wachstumsanstößen beigetragen 1 3 . Darüber hinaus erzeugten Gründung und Existenz des Zollvereins in vielen Wirtschaftskreisen einen Optimismus, der das Investitionsklima oft nachhaltig verbesserte und zukunftsträchtige Neugründungen in Industrie und Verkehrswesen begünstigte 1 4 . Dies gilt nicht zuletzt für den Eisenbahnbau, den schon List als einen »siamesischen Zwilling« des Zollvereins bezeichnete 15 . Von all diesen quantitativ schwer faßbaren positiven Wirkungen der neuen Handelseinheit profitierten die beteiligten Staaten zunächst recht unterschiedlich. Die Industrialisierung verlief in Deutschland wie andersw o als ein regionaler Prozeß. Neben sehr modernen Regionen, die wie Sachsen und das Rheinland recht früh von den industriellen Wachstums155

prozessen erfaßt wurden, existierten »die weniger anpassungsfähigen, nachhinkenden Regionen, die nicht nur von England, sondern auch von den kontinentalen Wachstumspolen aus deindustrialisiert wurden« 1 6 . Der in seiner Gesamtheit als eine verspätete Region anzusehende hessische Raum erlebte beide Formen. Während wenige gewerbliche Zentren wie das Rhein-Main-Gebiet langsam den ökonomisch fortgeschritteneren Regionen nachfolgten, vollzog sich in vielen anderen Teilen Hessens ein Niedergangsprozeß, der die alten arbeitsintensiven Gewerbestrukturen zerschlug, ohne daß gleichzeitig genügend neue Erwerbsmöglichkeiten entstanden. Damit stellt sich in unserem Zusammenhang die Frage, inwieweit der Zollverein sowohl den Niedergang der einen als auch den Aufstieg der anderen Region beeinflußt hat und wie seine gesamtwirtschaftlichen Folgen im hessischen Raum zu bewerten sind. Eine befriedigende, quantitativ abgesicherte Antwort auf diese Ausgangsfragen 17 kann freilich nur dort gegeben werden, wo verläßliche Zahlen über die einzelstaatlichen Handelsströme aus der Zeit vor und nach der Zollvereinsgründung vorliegen. Die Quellengrundlagen für solche quantitative Analysen sind innerhalb des Zollvereins außerordentlich schlecht 18 . In besonderem Maße gilt dies fur die territorial sehr zerklüfteten hessischen Staaten. Aufgrund der fehlenden einzelstaatlichen Handelsstatistik muß sich die folgende Darstellung darauf beschränken, am Beispiel einzelner, quellenmäßig faßbarer Branchen oder Regionen Indikatoren aufzuzeigen, die in die eine oder die andere Richtung deuten. Da die Agrarinteressen bei der hessischen Beitrittsentscheidung eine teilweise wichtigere Rolle spielten als die gewerblichen und die Landwirtschaft in allen drei Staaten bis weit über 1850 hinaus der wichtigste Erwerbszweig blieb, soll zunächst nach den Auswirkungen des Zollvereins auf den Agrarsektor gefragt werden. Zweifellos bildete die Gründung des Zollvereins für die deutsche Landwirtschaft kein epochales Ereignis, andererseits ist freilich auch nicht zu bestreiten, daß die vier Jahrzehnte andauernde landwirtschaftliche Prosperität von der handelspolitischen Einheit begünstigt worden ist. Der Wegfall innerdeutscher, auch landwirtschaftliche Produkte teilweise schwer belastender Zollschranken gab dem Agrarhandel auf dem Binnenmarkt schon vor dem Eisenbahnbau einige Anstöße 19 . Für den hessischen Raum war es besonders wichtig, daß der Zollverein den Zugang zum großen Markt des preußischen Rheinlandes wieder spürbar erleichterte. Innerhalb der hessischen Landwirtschaft profitierten die fortgeschritteneren Südprovinzen Hessen-Darmstadts am stärksten von den neuen Marktchancen. Hier verzeichnete vor allem der bedeutende rheinhessische Agrarexport nach Preußen beachtliche Gewinne. Aber auch für wichtige Teile der nassauischen Landwirtschaft brachte der späte Beitritt zum Zollverein einige Erleichterung. Selbst in Kurhessen mit seinem wenig exportintensiven Agrarsektor gelang es einigen Zweigen, die neuen 156

Marktchancen zu nutzen 20 . Die erlangten Vorteile kamen freilich überwiegend den wenigen großen marktorientierten Betrieben zugute, während sie bei den klein- und unterbäuerlichen Betrieben mit ihrer geringen Marktquote kaum durchschlugen 21 . Es war daher kein Zufall, daß die weiter entwickelte Landwirtschaft in den südlichen Provinzen Hessen-Darmstadts von den neuen Zollverhältnissen stärker begünstigt wurde als die rückständige und strukturschwache Landwirtschaft nördlich des Mains. Die positiven Einflüsse im Süden wurden aber noch dadurch verstärkt, daß beide Provinzen, vor allem jedoch Rheinhessen, über bedeutende Sonderkulturen verfügten, bei denen sich positive Einflüsse des Zollvereins stärker nachweisen lassen als bei herkömmlichen Agrarerzeugnissen. Die primär aus fiskalischen Gründen festgelegten hohen Eingangszölle auf Wein und Tabak sowie eine steigende Nachfrage aus Preußen und anderen Vereinsstaaten förderten sowohl den Tabakanbau in Starkenburg 22 als vor allem auch den rheinhessischen Weinbau. In Hessen-Darmstadt, dessen Anteil an der Weinproduktion des Zollvereins bei etwa 8% lag, stieg nicht zuletzt als Folge neuer Absatzchancen die Anbaufläche von 37583 Morgen im Jahre 1828 auf 39091 Morgen im Jahre 1853. Dagegen blieb die Anbaufläche in Nassau, das etwa 2% der Zollvereinsproduktion beisteuerte, während der Mitgliedschaft im Zollverein weitgehend auf dem alten Stand 23 . Durch den verspäteten Zollvereinsbeitritt erhielten die mittleren und billigeren Rheingauweine vom größeren Markt nicht die gleichen Vorteile wie zuvor die rheinhessischen und pfälzischen Weine dieser Güteklasse24. Die gestiegenen Exporterlöse bei den gefragten Spitzenweinen des Rheingaus kamen in erster Linie den großen Gutsbesitzern und dem Handel zugute, während auch der Zollverein bei den kapitalschwachen kleinen Weinbauern die Verschlechterung ihrer Lage nicht aufhalten konnte 25 . Diese, vor allem in den vierziger Jahren durchschlagende Krise der kleinen Winzer war freilich weniger die Folge verschärfter Konkurrenzverhältnisse auf dem größeren Binnenmarkt, sondern eher das Resultat jener tiefgreifenden Strukturschwäche, die den gesamten landwirtschaftlichen Kleinstbesitz in Hessen prägte. Obwohl der Zollverein damit keineswegs den Ausweg aus allen Schwierigkeiten eröffnete, profitierte der nassauische Weinbau insgesamt nicht unerheblich von den neuen Marktchancen. Als Nassau gemeinsam mit Hessen-Darmstadt und den süddeutschen Staaten immer wieder gegen die preußische Übergangsabgabenpraxis protestierte, hielt Preußen dieser Front das Argument entgegen, daß die eigene Einfuhr süddeutscher, hessen-darmstädtischer und nassauischer Weine trotz der steuerlichen Abschöpfung eine steigende Tendenz aufweise26. Folglich lehnte die Masse der nassauischen Winzer auch jede Politik entschieden ab, die den Bestand des Zollvereins gefährdete und die immerhin erreichten Fortschritte zu zerstören drohte 27 . Der Zollverein brachte der hessischen Landwirtschaft insgesamt zwar wichtige Vorteile, aber weder diese noch die Bemühungen der Regierun157

gen u m die Hebung der Landwirtschaft reichten aus, u m die Agrarproduktion rasch den Erfordernissen einer neuen Zeit anzupassen 2 8 . D a vor 1850 noch ein Großteil des wachsenden Arbeitskräftepotentials in den Agrarsektor drängte und die Zahl der kaum lebensfähigen Kleinbetriebe vergrößerte 29 , blieb die wirtschaftliche Lage der Masse der landwirtschaftlichen Erwerbstätigen bis über die Jahrhundertmitte hinaus außerordentlich schlecht. Viele Kleinbauern wurden aufgrund hoher Verschuldung zur Aufgabe ihres Besitzes gezwungen, der vielfach an die großen Güter des Adels fiel30. Sie sanken in den stetig wachsenden Tagelöhnerstand ab, w o die Löhne angesichts des Überangebots an Arbeitskräften bis zur Jahrhundertmitte keine wesentliche Steigerung erfuhren, während sich die Lebenshaltungskosten teilweise drastisch verteuerten 31 . Die wachsende Landbevölkerung des hessischen Raumes war daher noch stärker als früher auf die nebengewerbliche Tätigkeit angewiesen. Aber das so wichtige Leinengewerbe konnte jetzt seine frühere Funktion »als Regulativ zwischen wachsender Bevölkerung und Beschäftigungsangebot« ebenfalls nicht mehr erfüllen 3 2 . Zwar hatte sich die Situation des hessendarmstädtischen und kurhessischen Leinengewerbes im Anschluß an die Beitrittsverträge nochmals etwas gebessert, doch schon seit der Mitte der dreißiger Jahre bahnte sich nach rapiden Verlusten auf den Auslandsmärkten sowie einer zunehmenden Konkurrenz auf dem Binnenmarkt jene Niedergangsphase an, welcher der Großteil des hessischen Leinengewerbes in den vierziger Jahren zum Opfer fallen sollte 33 . Die hessischen Leinenzentren mit ihren meist groben Erzeugnissen waren teils wegen der geringen Innovationsbereitschaft von Verlegern und Webern, teils wegen der ungünstigen Verkehrsverhältnisse sowie der falsch angelegten staatlichen Förderungspolitik nicht in der Lage, durch die Mechanisierung der Spinnerei, die Konzentration von Produktion und Vertrieb sowie allgemeine Qualitätssteigerungen die notwendige Anpassung an veränderte Nachfrageverhältnisse im In- und Ausland zu vollziehen 34 . Der Aufbau einer konkurrenzfähigen, modernen Leinenfabrikation kam in Hessen ebensowenig wie in den meisten deutschen Leinenzentren über bescheidene Ansätze hinaus, während die traditionelle Spinnerei und Weberei drastisch zurückgingen 3 5 . Vor allem in den vierziger Jahren verschlechterte sich für die Masse der im Leinengewerbe tätigen Erwerbspersonen die Ertragslage so sehr, daß die N o t den schlesischen Vorgängen kaum nachstand 3 6 . Die alten ländlichen Gewerbestrukturen brachen zusammen, ohne daß für das wachsende Arbeitskräftepotential ausreichende Kompensationsmöglichkeiten in Industrie oder Landwirtschaft vorhanden waren. Für weite Teile der pauperisierten Bevölkerung blieb nur die Auswanderung oder das harte Los der Wanderarbeit. Von dieser krisengeschüttelten ländlichen Wirtschaft konnten kaum noch Impulse für andere Sektoren ausgehen. Die Binnennachfrage nach gewerblichen Produkten blieb vielmehr im hessischen Raum lange Zeit außerordentlich schwach 3 7 . Darunter 158

litt auch das traditionale Handwerk, das in den meisten Bereichen völlig übersetzt war und wegen seiner Strukturschwäche vor allem in den vierziger Jahren immer tiefer in eine existenzbedrohende Krise geriet 3 8 . Von den Zeitgenossen und vielfach auch in der Literatur wurde diese Krise des Handwerks nicht zuletzt auch darauf zurückgeführt, daß es unter den neuen Konkurrenzverhältnissen des Zollvereinsmarktes das Opfer der überlegenen preußischen und sächsischen Industriezweige geworden sei 3 9 . Im Jahre 1848/49 forderten weite Teile des hessischen Handwerks ausgesprochene Schutzmaßnahmen gegen das Vordringen preußischer und anderer Industrieerzeugnisse 40 . Wurden somit die Steigerung der Agrarexporte, die Sicherung der Transitinteressen und die Einnahmegewinne am Ende also mit dem Ruin bestehender Gewerbestrukturen zu teuer erkauft? Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es einer differenzierteren Sicht, bei der die regionalen und sektoralen Unterschiede schärfer herausgearbeitet werden. Ebensowenig wie alle positiven Erscheinungen der Wirtschaftsentwicklung seit 1834 allein dem Zollverein zugeordnet werden sollten, darf man auch die negativen Seiten nicht ausschließlich bei einem Faktor verorten. Gewiß sorgte der Zollverein bei Teilen des Handwerks, das wegen seiner Orientierung auf die lokalen Märkte die neuen Marktchancen kaum nutzen konnte, für einen erheblich härteren Konkurrenzdruck, aber die Krise des hessischen Handwerks war nicht ausschließlich und auch nicht vorrangig auf die Überlegenheit preußischer und sächsischer Fabriken zurückzufuhren. Denn zum einen sollte man Aufschwung und Bedeutung des Fabriksystems in der ersten Zollvereinsphase noch nicht überschätzen 41 , zum anderen gab es mit der inneren Strukturschwäche der kleinen Handwerksbetriebe, ihren gewaltigen Anpassungsschwierigkeiten und der schwachen Binnennachfrage schon vor dem Zollvereinsbeitritt im hessischen Raum Faktoren, welche den Niedergang von Teilen des Handwerks einleiteten. Im übrigen läßt sich nicht verkennen, daß der Wegfall der Zollgrenzen nicht nur bei den anpassungsfähigeren Branchen des Handwerks, sondern auch noch bei einigen traditionellen, insbesondere bei der Töpferei, vorübergehend sogar gewisse Entlastungen bringen konnte 4 2 . Die neuen verschärften Konkurrenzverhältnisse auf dem Zollvereinsmarkt haben im Grunde vor allem solche Gewerbezweige geschädigt, die sich ohnehin bereits in einem kaum noch aufzuhaltenden Niedergangsprozeß befanden, konnten bei anderen Branchen aber die Nachfrage verbessern und Auftriebstendenzen begünstigen. Diese doppelte Wirkung zeigt sich vor allem bei einem Blick auf das hessische Wollgewerbe. Während der Niedergang des Leinengewerbes vorrangig von den veränderten Weltmarktbedingungen bestimmt wurde, riefen die neuen Konkurrenzverhältnisse auf dem Binnenmarkt die Krise der kleinen Tuchmachermeister zwar nicht erst hervor, aber sie beschleunigten zweifellos den Zerfall des alten Wollgewerbes, das mit den konsequent geführten preußischen und sächsi159

sehen Großunternehmen nicht mehr Schritt zu halten vermochte 43 . Dagegen begünstigte der Zollverein jene Zweige des hessischen Wollgewerbes, die schon vor dem Zollvereinsbeitritt begonnen hatten, ihre Produktion den neuen Marktverhältnissen anzupassen 44 . Nach der Überwindung anfänglicher Übergangsschwierigkeiten profitierten sie von einer wachsenden Außennachfrage. In einem Bericht aus Hersfeld, dem Zentrum des kurhessischen Wollgewerbes, hieß es 1845: »In Folge des Zollvereins erschienen denn auch auswärtige Großhändler nicht selten in Hersfeld, um dort ihre Einkäufe zu machen, und assortierten zumal ihre Meßlager mit hiesigem Fabrikat.« Der 1831 vollzogene Eintritt in neue Markt- und Konkurrenzverhältnisse sei somit für die Großbetriebe »im Ganzen nur von Gewinn« gewesen 45 . Gesamtwirtschaftlich gesehen blieb dieses Wachstum der Wollindustrie freilich ebenso bescheiden wie der Aufschwung im Baumwollgewerbe. Dieser bezog sich nämlich nicht auf die fur industrielle Wachstumsprozesse wichtigere Spinnerei, bei der die hessischen Staaten 1846 von den 854750 Feinspindeln des Zollvereins ganze 3310 aufwiesen 46 , sondern auf die noch mit Handwebstühlen betriebene Weberei. Vor allem in Kurhessen, aber auch in Hessen-Darmstadt begünstigte der Zollverein offenbar den Ausbau größerer Webereibetriebe, bei denen allerdings nur Teilbereiche der Produktion - etwa Färben und Appretur - an einem Ort konzentriert waren, während der Großteil des Webvorganges außerhalb der eigentlichen Betriebe ablief 47 . Der preußische Zollvereinsbevollmächtigte in Kassel, Budach, berichtete 1839, daß die Fuldaer Baumwollunternehmungen einen guten Absatz in andere Zollvereinsstaaten fänden 48 . Und die Leitung der vorzugsweise nach Preußen und Sachsen liefernden Kattunmanufaktur Agathof bei Kassel stellte 1843 fest: »Der Zollverein ist von unverkennbarem Vorteil für die Fabriken, da bei dem erleichterten Verkehr mit den Vereinsstaaten gute Fabrikate dahin Absatz finden können.« 4 9 1839 wurde im übrigen im Kreis Kassel ein weiterer Baumwollbetrieb gegründet, dessen Produkte ebenfalls in erster Linie in die Zollvereinsstaaten gingen 50 . Aber bereits 1846 teilte Budach dem preußischen Finanzministerium mit, daß sich das kurhessische Baumwollgewerbe als immer weniger konkurrenzfähig erweise und gegen die fortgeschritteneren Branchen des Zollvereins auf Dauer nur schwer bestehen könne 51 . In der Tat folgte jetzt bei den Großbetrieben ein beträchtlicher Schrumpfungsprozeß. Von den acht Großbetrieben der Zollvereinsstatistik des Jahres 1846 existierten 1861 nur noch zwei 52 . Die Entwicklung der Baumwollweberei zeigte somit, daß der neue Zollvereinsmarkt Wachstumsimpulse geben konnte, die errungenen Positionen auf Dauer aber nur durch eine ständige Anpassung an neue Marktverhältnisse zu behaupten waren. Eine ähnliche Entwicklung verzeichneten die wichtigsten textilgewerblichen Branchen der Hanauer Wirtschaft. Hier profitierten Seidenweberei, Teppichherstellung und Hutfabrikation bis 160

Mitte der vierziger Jahre von einer wachsenden Zollvereinsnachfrage 53 . Doch dann setzten auch hier Stagnation und Rückgang ein, was freilich nicht nur mit der Zollvereinskonkurrenz, sondern vor allem mit Veränderungen im städtischen Lohnniveau zusammenhing, das sich durch die Expansion anderer Gewerbezweige zuungunsten der Textilgewerbe entwickelte 54 . Trotz des bescheidenen Aufschwungs, den manche Textilbranchen in den dreißiger und frühen vierziger Jahren vermeldeten, konnten die großen Arbeitsplatzverluste innerhalb des Textilgewerbes auch nicht annähernd ausgeglichen werden. Das gesamte hessische Textilgewerbe, nach der Landwirtschaft noch immer der größte Erwerbszweig, stand weiterhin auf einer sehr niedrigen Stufe. Insbesondere die Zahl entwicklungsfähiger Großbetriebe blieb, wie die Zollvereinsstatistik des Jahres 1846 zeigt, außerordentlich gering. Während die durchschnittliche Betriebsgröße im fabrikmäßig betriebenen Textilgewerbe in Sachsen bei 14,9, in Preußen bei 15,6 und in Baden sogar bei 17,6 Personen lag, betrugen die Werte für Kurhessen 7,7, für Hessen-Darmstadt 4 und für Naussau sogar nur 2 55 . Der größte Teil dieser sogenannten Fabriken hob sich in Hessen somit kaum vom Handwerksbetrieb ab und gelangte nur aufgrund der unscharfen Differenzierung der Zollvereinsstatistik in die Rubrik Fabriken. Auch der Mechanisierungsgrad des hessischen Textilgewerbes war 1846 noch außerordentlich gering 56 . Erst in den fünfziger Jahren kam es vor allem durch den Ausbau der Wollspinnerei, die schon im Vormärz der modernisierteste Teilbereich war, zu einer stärkeren Mechanisierung der Produktion 57 . Im Gegensatz zu anderen Zollvereinsstaaten, vor allem Sachsens, konnten daher vom hessischen Textilgewerbe kaum Impulse für einen rascheren Industrialisierungsprozeß ausgehen. Auch die Entwicklung von Bergbau und Hüttenwesen verlief im hessischen Raum nicht so, daß dieser für die Industrialisierung so wichtige Zweig zum Motor rascher Veränderungen hätte werden können. Das an Bodenschätzen überaus reiche Nassau entwickelte sich seit den vierziger Jahren immer mehr zum großen Rohstofflieferanten der rasch expandierenden Schwerindustrie an Rhein und Ruhr, während die eisenschaffenden und eisenverarbeitenden Zweige des hessischen Raumes mit der Entwicklung der schwerindustriellen Zentren nicht mehr Schritt zu halten vermochten. Die nassauische Roteisensteinförderung verzeichnete seit den dreißiger Jahren große Steigerungsraten. 1830 lag sie noch bei 776340 Ztr., 1850 waren es schon 1629239 Ztr., und gegen Ende der fünfziger Jahre betrug die Fördermenge mehr als 5 Millionen Zentner. Die Zahl der Beschäftigten stieg von 1314 im Jahre 1830 auf 4314 im Jahre 1858. Dieser deutlichen Steigerung der Rohstofförderung stand jedoch ein nur bescheidenes Wachstum der eigenen Roheisenproduktion gegenüber. 1830 wurden beispielsweise noch 85% der Erze im Inland verbraucht. Bis 1864 war zwar der Inlandsbedarf mit 1379563 Ztr. um 161

mehr als das Doppelte angestiegen, doch entsprach dies nur noch einem Anteil von 21,2% an der Gesamtförderung 58 . Die nassauische Hochofenproduktion nahm zwar ebenso wie die weit bescheidenere in Hessen-Darmstadt und Kurhessen 59 im Verlauf des Zollvereins langsam zu, doch innerhalb des Vereins ging die Bedeutung der gesamten hessischen Eisenindustrie immer mehr zurück. 1834 lag der hessische Anteil an der Hochofenproduktion des Zollvereins noch bei über 15%, von denen allein zwei Drittel auf das kleine Nassau entfielen. 1852 war dieser Anteil schon auf 11,7% gefallen und 1864 betrug er sogar nur noch 5,1% 6 0 . Auch die im Vergleich zum stürmischen Tempo der preußischen Eisenindustrie äußerst bescheidene, von Stagnationsphasen unterbrochene Entwicklung der hessischen eisenschaffenden Industrie war nicht nur die Folge der überlegenen preußischen Konkurrenz, sondern beruhte in erster Linie auf den veränderten Standortfaktoren. Was der hessischen Eisenindustrie in den vierziger und fünfziger Jahren vor allem fehlte, waren schnelle und kostengünstige Verbindungen zu den Kohlerevieren an Ruhr und Saar. Da die Holzpreise mit der wachsenden Bevölkerung und der verstärkten Nachfrage selbst in den waldreichen hessischen Eisenrevieren stark anstiegen 61 , fiel es den bis über die Jahrhundertmitte hinaus auf Holzkohlebasis arbeitenden Hütten immer schwerer, gegen die modernisierte Konkurrenz zu bestehen, die durch den Steinkohleeinsatz wesentlich billiger produzieren konnte. 62 . Die schwierige Brennstoffbeschaffung behinderte im übrigen auch die Entwicklung der ohnehin weit bescheideneren eisenverarbeitenden Zweige nicht unerheblich 63 . Die Fortschritte in der Erzförderung und das langsame Wachstum in der Eisenindustrie reichten selbst in Nassau, wo der Montansektor die größte gesamtwirtschaftliche Bedeutung besaß, nicht aus, um das Arbeitsplatzangebot für die wachsende Bevölkerung nachhaltig zu verbessern. Trotz einzelner Ansätze, die es im Textilgewerbe und in der Schwerindustrie durchaus gab und die spätere Wachstumsprozesse erleichterten, fiel beiden, bei anderen Industrialisierungsprozessen so wichtigen Sektoren im hessischen Raum keinerlei Vorreiterrolle zu. Dort, wo sich innerhalb Hessens vor 1850 Ansätze der Industrialisierung nachweisen lassen, gingen diese in erster Linie auf Teile eines modernisierten Handwerks zurück, das vor allem die Industrialisierung des Rhein-Main-Raumes prägte. Begünstigt durch den Wegfall der gerade in dieser Region so komplizierten und störenden Zollschranken verdichtete sich hier in den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren die gewerbliche Produktion, die die Grundlagen der Industrialisierung im künftigen Ballungsraum schuf. Die wichtigsten Zweige des weitverbreiteten Verbrauchs- und Luxusgütergewerbes, aber auch die des Metallbereichs entwickelten sich aus den örtlich vorhandenen handwerklichen Vorläufern, die anfangs auf einem primitiven technischen Niveau standen, sich dann aber »durch Adaption neuer Produktionsprogramme und Techniken den neuen Produktionsformen anpaßten« 64 . Dieser 162

Übergang von der vielfach noch bescheidenen handwerklich-manufakturellen zur fabrikmäßigen Warenproduktion vollzog sich im Rhein-MainGebiet »weniger als industrieller Sprung oder gar als Revolution denn als Transformationsprozeß« einheimischer Branchen 65 . Selbst für die Entwicklung der modernen chemischen Industrie, die hier seit den sechziger Jahren rasch voranschritt und den Raum bis heute prägt, war die große Anzahl von Betrieben des chemischen Handwerks aus vor- und frühindustrieller Zeit von größter Bedeutung 66 . Die unternehmerischen Leistungen aus der Vorbereitungsphase der rhein-mainischen Industrialisierung lagen kaum auf dem technologischen Sektor, sondern sie wurden bestimmt von dem handwerklichen, finanzorganisatorischen und kaufmännischen Geschick der frühen Unternehmerpioniere, von denen viele dem Handwerksbereich entstammten 67 . Diesen Unternehmern gelang es daher offenbar auch weit besser als vielen anderen im hessischen Raum, die sich aus dem Wegfall der Zollgrenzen bietenden Absatzchancen zur weiteren Expansion zu nutzen. Innerhalb Hessen-Darmstadts zeigte sich dies vor allem am Beispiel Offenbachs, wo insbesondere die Lederwarenherstellung, die Tabakfabrikation, der Wagenbau, dann aber auch das Metallgewerbe und das Chemiehandwerk schon seit den dreißiger Jahren deutliche Auftriebs tendenzen verzeichneten68. Bei der Lederverarbeitung stieg die Zahl der Fabrikbetriebe beispielsweise von 6 im Jahre 1822 auf 23 im Jahre 1846, die Zahl der Beschäftigten von 120 auf 664 69 . Durch die neuen Arbeitsmöglichkeiten wuchs die Offenbacher Bevölkerung von 7766 im Jahre 1827 auf 13087 im Jahre 1854 an 70 . Nach Ansicht der Offenbacher Handelskammer trug vor allem die wachsende Nachfrage aus den Staaten des Zollvereins, in dem »die Mehrzahl der hiesigen Geschäfte den Absatz ihrer Erzeugnisse sucht und findet«, zu den Auftriebstendenzen bei 71 . Ebenso wie in Offenbach profitierte auch in Darmstadt und Mainz das »industrialisierte Handwerk« schon bald nach der Zollvereinsgründung von den Möglichkeiten eines vergrößerten Absatzmarktes. Nach einem Mainzer Bericht aus dem Jahre 1850 waren die aus der Zollvereinsgründung resultierenden Impulse so bedeutend, »daß die bestehenden Handelsfirmen ihre Geschäfte vielfach vergrößern und ausdehnen konnten, neue Handels- und Gewerbsunternehmungen sowie Fabrikanlagen begründet werden konnten, die Handwerke in Flor kamen und die sonstigen industriellen Verhältnisse im Allgemeinen einen erfreulichen Charakter annahmen« 72 . Die vor allem im hessen-darmstädtischen Rhein-Main-Gebiet festzustellenden Betriebserweiterungen und Neugründungen der dreißiger und frühen vierziger Jahre scheinen jene These zu bestätigen, nach der die Zollvereinsgründung vor allem bei den als Wachstumsbranchen anzusehenden Zweigen zu einem »merklichen Optimismus« führte, der »in Neugrün163

düngen und Kapazitätserweiterungen seinen Ausdruck fand« und »das psychologische Moment in den Auswirkungen der Verträge deutlich zu Tage treten läßt«. Hier reichte offenbar die Tatsache der handelspolitischen Einheit aus, »um die Unternehmerentscheidung positiv zu bestimmen« 73 . Diese Auftriebstendenzen beschränkten sich in Hessen-Darmstadt freilich zunächst noch fast ausschließlich auf die größeren Städte Mainz, Offenbach und Darmstadt 7 4 sowie ihre nächste Umgebung. Dagegen blieb die Situation in den ländlichen Gewerberegionen, im Odenwald, vor allem aber in dem immer mehr verarmenden Oberhessen, mit ihren schweren Einbußen im Textilbereich außerordentlich schlecht. Auch das bescheidene Wachstum der oberhessischen Eisenindustrie 75 und die vom Zollverein stark begünstigte Aufwärtsentwicklung der Gießener Tabakindustrie 76 konnten die trostlose Lage im oberhessischen Arbeitsplatzangebot nicht entscheidend korrigieren, so daß die Abwanderung aus der anfangs bevölkerungsreichsten Provinz immer größere Ausmaße annahm und weitere Regionen dieser Provinz in völlige Armut versanken 77 . Wie sehr die hessen-darmstädtische Wirtschaft bis 1850 insgesamt noch von den agrarisch-kleingewerblichen Zweigen bestimmt wurde und wie langsam sich die Entwicklung der modernen Industrie hier vollzog, geht nicht zuletzt aus der Zahl der Fabrikarbeiter hervor. 1834 lag diese laut hessen-darmstädtischer Landesstatistik bei 2284, bis 1849 stieg sie zwar auf 5209, aber dies entsprach noch immer lediglich einem Anteil von 2% an der gesamten erfaßten Erwerbsbevölkerung. Die wachsende Bevölkerung wurde, wie die steigenden Zahlen bei den Ackerleuten, Handwerkern und vor allem Tagelöhnern zeigen, damit kaum von der Industrie, u m so mehr aber noch von den traditionellen Sektoren aufgenommen 7 8 . Aus der wachsenden Zahl der Tagelöhner - 1834 waren es 43123, 1849 schon 62044 geht allzu deutlich hervor, in welchem Maße der ländliche Pauperismus und nicht eine zu rasche Industrialisierung die sozialen Probleme des hessen-darmstädtischen Vormärz bestimmten. In den fünfziger Jahren setzte dann in den Zentren der gewerblichen Wirtschaft Hessen-Darmstadts eine raschere Entwicklung ein, die vor allem vom Maschinenbau, der Tabakfabrikation, der Lederwarenherstellung und der chemischen Industrie bestimmt wurde. Zwischen 1850 und 1862 stieg die Zahl der Dampfmaschinen von 34 auf 280 79 . Die hessendarmstädtische Landesstatistik registrierte 1858 bei den Fabrikarbeitern mit 12125 Personen eine Verdoppelung gegenüber 184980. Nach der auf anderen Erhebungsmethoden beruhenden Zollvereinsstatistik des Jahres 1861 wies Hessen-Darmstadt bereits 20650 Fabrikarbeiter auf 81 , was freilich immer noch erst einem Anteil von 5,3% an der Erwerbsbevölkerung entsprach. Der insgesamt noch bescheidene, hinter den industriellen Kernräumen zurückbleibende Aufschwung der hessen-darmstädtischen Wirtschaft konzentrierte sich vor allem auf die Provinz Starkenburg. Hier besaß der gewerbliche Sektor nach Berechnungen des Landesstatistischen Amtes 164

1861 bereits ein größeres Gewicht als die Landwirtschaft, während Oberhessen noch immer die am weitesten unterentwickelte Provinz war 82 . Auch der nassauische Raum fand im Grunde erst in den sechziger Jahren langsam Anschluß an die industriellen Kernräume Mitteleuropas. Neben dem von Krisen unterbrochenen und noch recht bescheidenen Wachstum im Eisengewerbe scheint vor 1850 nur im nassauischen Teil des RheinMain-Gebietes ein gewisser Aufwärtstrend erfolgt zu sein. Hier kam es in den dreißiger und vierziger Jahren vor allem im Tabak-, Leder- und Chemiegewerbe, aber auch in der Metallverarbeitung zu einigen Neugründungen und Betriebserweiterungen 83 , dennoch aber haben die nassauischen Gebiete die neuen Entwicklungsmöglichkeiten des Rhein-Main-Raumes zunächst nicht in dem Maße genutzt wie Offenbach, Hanau oder Bockenheim 84 . Bezeichnend für den Stand der gewerblichen Wirtschaft im Herzogtum sind daher jene Sätze, die ein nassauischer Bürger 1843 im Listschen »Zollvereinsblatt« schrieb: »Der deutsche Zollverein ist bei uns äußerst populär bei allen Ständen und Classen der Bevölkerung; man erkennt bei uns die Wichtigkeit desselben zur Befreiung Deutschlands von fremden Fesseln vollkommen an und niemand wünscht das alte scheußliche Sperrsystem zurück. Aber trotz dieser Popularität hat uns der deutsche Zollverein mit seinem Markte von 29 Millionen Consumenten noch nicht angespornt, mit anderen Vereinsstaaten in der Hebung unserer Gewerbe zu wetteifern. Bei uns fehlt der Gemeinsinn und Unternehmungsgeist und jene patriotische Thatkraft, wie sie sich in Württemberg, Hessen und allen anderen Staaten des Handelsbundes so herrlich bekundet.« 85 Noch 1850 hieß es in einem Bericht über die sozialen und politischen Zustände in Nassau, daß »ein selbständiger Gewerbestand, ein eigentliches Bürgertum« kaum existiere 86 . Die Stagnation in der gewerblichen Entwicklung bei anhaltendem Bevölkerungswachstum führte daher auch im Herzogtum Nassau vor allem in den vierziger Jahren zu einer drastischen ^ej^ghärfung der sozialen Krise. Zwischen 1845 und 1854 schnellten die Aüswanderungszahlen empor. Der wachsende Fremdenverkehr in den Badeorten sowie der Bau der Taunuseisenbahn brachten nur wenig Entlastung 87 . Erst seit Mitte der fünfziger Jahre besserte sich langsam die angespannte Situation, von einer Industrialisierung des Landes konnte aber auch jetzt noch keine Rede sein, denn die im gewerblichen Sektor tätige Bevölkerung nahm noch immer sehr langsam zu »und blieb hinter dem Wachstum der Gesamtbevölkerung« zurück 88 . Aus der Zollvereinsstatistik des Jahres 1861 geht die nassauische Rückständigkeit deutlich hervor. So lag beispielsweise die Zahl der betriebenen Dampfmaschinen weit unter dem Zollvereinsdurchschnitt 89 . Die Betriebsgrößen im gewerblichen Sektor waren noch immer außerordentlich gering, und die Strukturschwäche des Handwerks mit seiner 'Dominanz des Kleinstbetriebes hatte sich gegenüber 1846 kaum 165

positiv verändert 90 . Dennoch zeichnete sich jetzt allmählich auch in Nassau die Verbreiterung der gewerblichen Basis ab. Die Gründung einer großen Baumwollspinnerei im Taunus, der Ausbau der Tabakfabrikation und anderer Branchen des Rhein-Main-Raumes sowie die Expansion des Eisengewerbes waren »Vorboten der nassauischen Industrialisierung« 91 , die sich seit den sechziger Jahren dann besonders durch den Aufbau der chemischen Industrie beschleunigte und Nassau allmählich an die fortgeschrittenere Entwicklung benachbarter Regionen heranführte 92 . Ebenso wie in Nassau übernahm Preußen auch in Kurhessen durch die Annexionen von 1866 ein Land, das im Grunde gerade erst begonnen hatte, jene bereits beim Zollvereinsbeitritt festgestellte ökonomische Rückständigkeit zu überwinden. Bis über die Jahrhundertmitte hinaus blieb in der kurhessischen Wirtschaft nicht nur ein rascher und umfassender Strukturwandel aus, vielmehr traten ebenso wie in den Nachbarstaaten die Bruchstellen der alten Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur insbesondere nach 1840 immer deutlicher hervor, ohne daß die damit verbundenen Krisenerscheinungen durch den rechtzeitigen Ausbau alternativer Erwerbsmöglichkeiten entscheidend gemildert werden konnten. Ausgehend von der katastrophalen Lage in der kurhessischen Provinz Oberhessen kam der Marburger Nationalökonom Bruno Hildebrand in seiner Replik auf Friedrich Engels Schrift »Über die Lage der arbeitenden Klasse in England« zu dem Schluß, daß die fortschreitende Pauperisierung eben keine Folge der Industrialisierung, sondern umgekehrt das Resultat ihres Ausbleibens sei 93 . Vor allem die zweite Hälfte der vierziger Jahre wurde zu einer schweren Belastungsprobe für die kurhessische Wirtschaft, da jetzt zu dem DeIndustrialisierungsprozeß in weiten Landesteilen noch weitere Konjunktureinbrüche hinzutraten 94 . Das Anschwellen der Auswandererzahlen und die wachsende Zahl von Wanderarbeitern, die oft in den Industriezentren an Rhein und Ruhr Erwerbsmöglichkeiten suchten 95 , waren Begleiterscheinungen einer Krise, die selbst in den fünfziger Jahren nur langsam überwunden werden konnte. Von dem lange Zeit außerordentlich negativen Bild hob sich lediglich die Entwicklung einiger weniger Gewerbezweige positiv ab. Diese vom Zollverein in hohem Maße begünstigten Wachstumsbranchen konzentrierten sich vor allem auf Hersfeld als Zentrum des modernen Wollgewerbes, den Kasseler Raum sowie Hanau und Bockenheim im Rhein-Main-Gebiet. In dem vor Frankfurts Toren gelegenen Bockenheim entwickelte sich vor allem die Reifertsche Waggonfabrik bereits im Vormärz zu einem regional wie überregional bedeutenden Unternehmen 96 . Hanau, das unter der an den Interessen des Nordens ausgerichteten kurhessischen Zollpolitik so lange gelitten hatte, erlebte schon in den dreißiger Jahren einen spürbaren Aufschwung und zählte zweifellos zu den Gewinnern der neuen Zollverhältnisse 97 . Hier stieg das Arbeitsplatzangebot seit 1834 weiter an, weil neben textilgewerblichen Branchen besonders das Edelmetallgewerbe und 166

die Tabakfabrikation expandierten. In der Tabakindustrie, die von der Öffnung des Zollvereinsmarktes und in noch größerem Maße von der auf den Hanauer Tabakmagnaten Oldenkott zurückgehenden Erfindung der Zigarrenwickelmaschine ihre entscheidenden Impulse erhielt, stieg die Zahl der Beschäftigten bereits von 1834 bis 1845 von 100 auf etwa 1000 an 98 . Als Luxusindustrie litten sowohl Tabak- als auch Bijouteriegewerbe zwar unter den schweren Konjunktureinbrüchen am Ende der vierziger Jahre, doch im Gegensatz zu den textilgewerblichen Branchen verzeichneten sie schon bald wieder kräftige Aufwärtstendenzen 99 . Auch im nordhessischen Gewerbezentrum Kassel begünstigte, wie der preußische Vereinsbevollmächtigte Budach in seinen Berichten an das Berliner Finanzministerium immer wieder hervorhob 1 0 0 , der Zollverein Kapazitätserweiterungen und Neugründungen. Allerdings darf man die Expansion, die wichtige Kasseler Großbetriebe wie die Maschinenfabrik Henschel, die Handschuh-, Wagen- und Papierfabriken in den dreißiger und vierziger Jahren verzeichneten, noch nicht überbewerten. Selbst die so wichtige Maschinenfabrik Henschel, die 1848 ihre erste Lokomotive herstellte, beschäftigte in den vierziger Jahren durchschnittlich weniger als 200 Personen 101 . Eine forcierte Industrialisierung erlebten die Hauptstadt und die übrigen kurhessischen Gewerbezentren erst seit Ende der fünfziger Jahre, als die Veränderungen im Verkehrssektor, der Anstieg des Lohnniveaus und die wachsende Binnennachfrage die wirtschaftliche Gesamtsituation verbesserten. Dieser Prozeß, zu dem in Kassel vor allem die im Eisenbahnsektor tätigen Betriebe - Henschel und die Waggonfabrik Thielemann, Eggena und Co. - beitrugen, wurde nach 1866 durch die Eingliederung Kurhessens in den preußischen Staat sowie den »grundlegenden Umbruch in der Ordnungspolitik« weiter beschleunigt 102 . Der Zollvereinsbeitritt führte folglich in keinem der drei Staaten zu einer raschen Industrialisierung. Er konnte auch die schwere wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise der vierziger Jahre nicht verhindern. Dennoch wäre es verfehlt, die gesamtwirtschaftlichen Folgen der großen Zollreform als unbedeutend anzusehen oder dem Zollverein angesichts des Verfalls alter Gewerbestrukturen im hessischen Raum sogar eine ausschließlich deindustrialisierende Wirkung zuzuschreiben. Die negativen Auswirkungen verschärfter Konkurrenzverhältnisse auf einem vergrößerten Binnenmarkt, die vor allem Teile des Handwerks, aber auch etwa die kurhessische Branntweinbrennerei 103 so vehement beklagten, trafen in den meisten Fällen solche Zweige, deren Entwicklung schon vor dem Zollvereinsbeitritt ungünstig verlief, weil notwendige Anpassungsprozesse ausblieben. Diesen Zweigen konnte im übrigen auch durch die ohnehin auf Dauer kaum zu realisierende Abschirmung des einzelstaatlichen Marktes nicht mehr geholfen werden, insbesondere dann, wenn sie wie das Textilgewerbe in hohem Maße auf den Export angewiesen waren. Dagegen hat der Zollverein in anderen Sektoren und Branchen Vorteile gebracht, ohne die der 167

hessische Raum wahrscheinlich noch früher und tiefer in jene große Umbruchskrise geraten wäre. Innerhalb der schwer angeschlagenen Landwirtschaft sorgte der Zollverein mit den neu eröffneten Exportchancen zweifellos fur eine gewisse Entlastung. Vor allem aber begünstigte die Mitgliedschaft im Zollverein die sich von der sonstigen Stagnation positiv abhebende Entwicklung einiger Wachstumsbranchen, deren langsame Aufwärtsentwicklung in den dreißiger und vierziger Jahren wenigstens einem Teil der Bevölkerung neue Erwerbsmöglichkeiten zur Verfügung stellte und die vielfach bereits Grundlagen späterer Wachstumsprozesse legte. Zahlreiche Unternehmer aus den hessischen Gewerbezentren erkannten frühzeitig, daß eine steigende Nachfrage aus anderen Zollvereinsstaaten die lange Zeit äußerst unzureichende Inlandsnachfrage kompensieren konnte 104 . Der Wegfall der Zollgrenzen stärkte hier die Risikobereitschaft und ermunterte zu neuen Investitionen, wie sie sich beispielsweise bei der Tabakfabrikation abzeichneten. In Hessen-Darmstadt stieg im Zeitraum von 1835 bis 1846 die Zahl der tabakverarbeitenden Betriebe von 31 auf 51 105 . In Hanau verzehnfachte sich im Verlaufe des Vormärz die Zahl der in dieser Branche beschäftigten Personen. Und auch im kurhessischen Norden profitierte die Tabakindustrie bald von dem großen Zollvereinsmarkt. Die 130 Arbeiter beschäftigende Tabakfabrik in Karlshafen bemerkte in ihrem Bericht aus dem Jahre 1843: »Dem Anschlüsse an den Zollverein verdankt die Fabrik die Entstehung.« 1 0 6 Neben dieser wachsenden Außennachfrage profitierten weite Teile der hessischen Wirtschaft auch von den im Gefolge der Zollvereinsgründung durchgesetzten Rheinzollsenkungen, durch die sich die Transportkosten verringerten und durch die damit auch die Exportchancen im Ausland stiegen. Obwohl partikularistische Interessen eine große gemeinsame Verkehrspolitik aller Vereinsstaaten immer wieder blockierten, forcierte die Vereinsgründung sowohl in der Schiffahrt als auch dann beim Eisenbahnbau gemeinschaftliche Lösungen, die vor allem im Rhein-Main-Raum Rückkopplungseffekte hervorriefen. Gerade in dieser zentralen Wirtschaftsregion des hessischen Raumes mit ihrer Verdichtung entwicklungshemmender Staatsgrenzen schuf der Zollverein durch die Aufhebung der Handelsschranken wichtige Voraussetzungen für die Industrialisierung und das Zusammenwachsen zu einem die alten Grenzen sprengenden wirtschaftlichen Ballungsraum 107 . Ferner erhielten hessische Branchen gegenüber der außerdeutschen Konkurrenz durch den Vereinstarif einen Zollschutz, den ihnen der eigene kleine Staat selbst nie bieten konnte. Infolge sinkender Preise für Gewerbeerzeugnisse und der Beibehaltung der Gewichtsverzollung stieg die Zollbelastung auch ohne Tarifanhebungen bei etlichen Fertigwaren im Laufe der Zeit deutlich an, so daß der auf das preußische Zollgesetz von 1818 zurückgehende Tarif oft nur noch wenig mit den ursprünglichen liberalen 168

Intentionen gemein hatte 108 . Auch gab erst der Zollverein mit Preußen und dessen internationalen Verbindungen der hessischen Wirtschaft die Chance, durch eine wirksame Handelsvertragspolitik ihre Exportmöglichkeiten auf den Auslandsmärkten zu erweitern. Schließlich kam der hessischen Wirtschaft die vom Zollverein herbeigeführte finanzpolitische Entlastung zugute, da die direkte Besteuerung etliche Jahre nicht mehr zunahm, teilweise sogar rückläufig war. Somit hat die Mitgliedschaft im Zollverein, die den nach 1815 lange Zeit verworrenen Handelsverhältnissen im hessischen Raum eine dauerhafte Stabilität gab und dadurch das Investitionsklima verbesserte, vor allem durch ihre Begünstigung der modernen Gewerbezweige letztlich doch den Übergang von der alten agrarischkleingewerblichen Wirtschaftsweise zum modernen Industriestaat in einem nicht unbedeutenden Maße erleichtert. Trotz der Kritik an einzelnen Maßnahmen des Zollvereins hat der Großteil der hessischen Wirtschaft selbst in den schwierigen vierziger Jahren nicht daran gedacht, die erreichten Fortschritte in der ökonomischen Integration zurückzudrehen. Der preußische Vereinsbevollmächtigte in Kassel berichtete immer wieder, daß »die Stimmung des Publikums« »der Zollvereinigung fortdauernd günstig geblieben« sei 109 . Als die kurhessische Regierung in den Jahren 1843/44 eine Umfrage über den Einfluß des Zollvereins startete, gab es kaum einen Großbetrieb, der die günstigen Folgen dieser Institution ernsthaft bestritt. Besonders lobend sprachen sich dabei beispielsweise die Bockenheimer Gewerbebetriebe aus 1 1 0 . Selbst bei den Auskunft erteilenden kleineren Betrieben überwogen die positiven Stellungnahmen. Dies zeigen etwa die Berichte aus dem innerhalb Kurhessens noch überaus rückständigen Kreis Marburg, wo vor allem das Töpfereigewerbe den Zollverein als »höchst vorteilhaft« bewertete 111 . An dieser positiven Grundeinschätzung änderte sich auch in der Folgezeit nichts mehr. Im Gegenteil, als die hessischen Regierungen seit 1851 eine Politik einschlugen, die zeitweise den Bestand des Zollvereins zu gefährden schien und vor allem eine zollpolitische Trennung von Preußen heraufbeschwor, rief dies heftigste innenpolitische Widerstände hervor. Zwei Jahrzehnte zuvor war die handelspolitische Ausrichtung nach Preußen in allen drei hessischen Staaten nicht unumstritten gewesen, jetzt zeigte sich, daß die überwältigende Mehrheit der öffentlichen Meinung von der Notwendigkeit eines engen handelspolitischen Zusammenschlusses mit Preußen überzeugt war. Preußen bezog um 1850 aus den hessischen Staaten zwar noch immer vorrangig Agrargüter und Rohstoffe, aber im Verlaufe des ökonomischen Integrationsprozesses hatte auch das Gewicht des hessischen Gewerbeexports offenbar zugenommen. Für die expandierenden Branchen des hessischen Verbrauchs- und Luxusgütergewerbes spielte die Nachfrage aus den fortgeschritteneren preußischen Regionen, vor allem aus dem Rheinland, eine weit größere Rolle als der Export nach Süddeutschland. Selbst Hanau, das vor 1834 stets seine 169

besonderen Beziehungen zum süddeutschen Markt betont hatte, plädierte 1852 unter Hinweis auf die Interessen seiner wichtigsten Branchen dafür, »daß sich der Kurstaat in dem höchst unglücklichen Falle, daß der Zollverein nicht zu erhalten wäre, an den dann entstehenden nördlichen Zollverein anschließen möge und nicht an den südlichen« 112 . In Hessen-Darmstadt versuchte der Mitinhaber des größten mittelrheinischen Lederunternehmens, der Mainzer Abgeordnete Deninger, 1852 vor der ersten Kammer die große binnenwirtschaftliche Verflechtung mit Preußen zahlenmäßig zu belegen. Folgt man seinen Angaben, so gingen um die Mitte des 19. Jahrhunderts 60% der Offenbacher Fabrikation nach Preußen. Von der gesamten hessen-darmstädtischen Lederfabrikation bezog Preußen etwa 40% im Wert von einer Million Gulden, von der Tabakfabrikation 43% im Wert von 1680000 fl. Nach Preußen wurden ferner exportiert: 50% der Packleinenindustrie im Wert von 216000 fl., die Hälfte der Weinproduktion im Wert von 1500000 fl., roher Tabak im Wert von 250000 fl. sowie Mühlenfabrikate, Kartoffeln und Getreide im Wert von 3400000 fl. Der Gesamtwert des Exports nach Preußen betrug nach Deningers Angaben allein bei den wichtigsten Artikeln jährlich etwa elf Millionen Gulden 113 . Auffallend ist, daß Produkte jener Gewerbezweige, die wie die Tabakindustrie und die verschiedenen Offenbacher Fabriken seit dem Zollvereinsbeitritt expandierten, jetzt gemeinsam mit den früher allein dominierenden wichtigen Agrarerzeugnissen an der Spitze des Exports nach Preußen standen. Deningers Angaben sind freilich nicht nachprüfbar, weil entsprechende amtliche Erhebungen aus jenen Jahren fehlen, und im übrigen wurden sie während einer Kammerdebatte vorgetragen, bei der es um den Fortbestand des Zollvereins ging und in der der Mainzer Fabrikant entschieden für die Verbindung mit Preußen Partei ergriff. Dennoch kann die in den Zahlen zum Ausdruck kommende Tendenz kaum bestritten werden, zumal auch die innenpolitischen Gegner Deningers keine Argumente vorbrachten, die das vorgelegte Bild entscheidend korrigierten. Auch in Nassau teilte die überwiegende Mehrheit der öffentlichen Meinung 1852 die Ansicht, daß »eine Lossagung« von Preußen »für die materiellen Interessen des Landes in hohem Grade verderblich« sei 114 . Und als der bewährte Zollverein mit Preußen zu Beginn der sechziger Jahre nochmals in Gefahr geriet, konnten die Vereinsbefürworter in noch stärkerem Maße jene wirtschaftlichen Verflechtungen geltend machen, die das kleine Land an Preußen banden. Die Hegemonialmacht des Zollvereins bezog 75% des einheimischen Erzes, nahm weiterhin große Teile der Agrarproduktion ab und bot auch den aufstrebenden Gewerbezweigen einen wichtigen Absatzmarkt 115 . Die politischen Rückwirkungen der intensivierten ökonomischen Verflechtungen zeigten sich allerdings nicht erst in den großen Zollvereinskrisen, sie beeinflußten auch bereits die vormärzliche Politik in einem beachtlichen Maße.

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2. Zollvereinspolitik als Teil der Wirtschaftspolitik. Die hessischen Staaten und die wirtschaftspolitischen Fragen im Zollverein

2. i. Industrialisierung oder Konservierung der agrarischkleingewerblichen Strukturen. Die innere Wirtschaftspolitik der hessischen Staaten Von keinem der drei behandelten Staaten läßt sich sagen, daß die Regierung in den Jahren vor dem Zollvereinsbeitritt den Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung eine besondere Priorität eingeräumt habe. Auch der Zollvereinsbeitritt beruhte letztlich nicht auf einer umfassenden ökonomischen Modernisierungsstrategie, sondern war zunächst einmal weit mehr die Folge bitterer Nöte. Allerdings führte dann die Mitgliedschaft im Zollverein mit seinen teilweise weiter entwickelten Regionen in Bürokratie, Parlamenten und Öffentlichkeit sehr rasch zu einer Diskussion über neue wirtschaftspolitische Ansätze, mit deren Hilfe die eigene Rückständigkeit überwunden werden sollte. Die Befürworter einer intensivierten staatlichen Wirtschaftsförderungspolitik orientierten sich dabei in starkem Maße am preußischen Beispiel. Die Umorientierung der inneren Wirtschaftspolitik sollte die einheimischen Branchen in den Stand versetzen, auf Dauer gegen die Konkurrenz der anderen Vereinsstaaten bestehen zu können 1 . Der Darmstädter Hofgerichtsrat Schenck bemerkte hierzu im Sommer 1833 vor der zweiten Kammer: »Ich glaube, daß es vorzüglich die Aufgabe unserer Zeit seyn muß, die Gewerbe zu heben, und die Industrie zu befördern. Dies wird gegenwärtig aus dem Grunde insbesondere nothwendig seyn, weil unser Großherzogthum das Glück hat, sich mit einigen größeren Staaten im Zollverband zu befinden. Dies hat uns einen größeren Markt verschafft, auf welchen wir unsere Producte bringen können. Sind aber unsere Gewerbe, ist unsere Industrie nicht auf gleicher Stufe mit der in den übrigen Staaten, dann ist für uns der größere Markt ein Nachtheil, nicht aber ein Vortheil. In den großen Staaten, mit welchen das Großherzogthum vereinigt ist, wird für die Industrie sehr viel gethan... und wirklich hat Preußen schon bereits jetzt die Gewerbe auf eine hohe Stufe gebracht, man kann sagen, sie blühen dort. Ich glaube daher, wir müssen unserer Seits auch alle Mittel anwenden, um nicht von der Industrie solcher Länder erdrückt zu werden.« 2 Als Folge dieser von Teilen der Bürokratie und der Liberalen vorgebrachten Forderungen kam es 1836 zur Errichtung einer »höheren Gewerbeschule« in Darmstadt 3 sowie zur Gründung eines mit staatlichen Mitteln arbeitenden Gewerbevereins 4 . Auch in Kurhessen Schloß sich die ansonsten recht sparfreudige liberale Mehrheit der Ständeversammlung 1833 dem Wunsch des Budgetausschusses an, »von der Regierung eine sehr viel intensivere Gewerbeförderung als bisher, die Bereitstellung größerer Mittel und eine zweckentsprechende Umgestaltung des Handels- und Gewerbevereins« zu verlangen 5 . Die Befürworter dieser Lösung betonten, daß »in 171

einem Staate, der nicht im Stande war, durch die früher bestehenden Zollverhältnisse in der Fabrikation so weit zu kommen wie die Nachbarstaaten, jetzt etwas geschehen und die Regierung den Gewerbetreibenden unter die Arme greifen müsse« 6 . Die jährliche Summe für die Gewerbeförderung wurde daraufhin auf 7000 rtl. angehoben, und die Regierung begann mit einer Reorganisation des 1821 als Bindeglied zwischen Staat und Wirtschaft geschaffenen, bisher aber nur wenig Impulse vermittelnden Handels- und Gewerbevereins 7 . Nur in Nassau blieben entsprechende staatliche Initiativen zunächst aus. Dabei hatte hier sogar ein Ausschuß der Herrenbank 1835 hervorgehoben, »daß in den künftigen Jahren wohl auch ein Geldbetrag für Unterstützung der Gewerbe vorkommen werde, indem durch den wahrscheinlich nahen Anschluß des Herzogthums an den großen Zollverein die Hebung der inländischen Industrie sehr wichtig werden dürfte« 8 . Trotz neuer Akzente kam es aber weder in Hessen-Darmstadt noch in Kurhessen zu einer entscheidenden Wende in der bisherigen Wirtschaftspolitik. Vielmehr blieben nahezu sämtliche Ansätze geprägt von den sozialkonservativen Anschauungen der maßgeblichen politischen Führungskräfte, die weitergehende ökonomische Modernisierungskonzepte, wie sie in Teilen der Bürokratie durchaus diskutiert wurden, in der Regel abblockten. Angesichts der vorhandenen Krisensituation und fortschreitender Entwicklungen in einigen Nachbarstaaten wollten die sozialkonservativen Bürokraten, wie du Thil in Hessen-Darmstadt, zwar nicht starr an alten Strukturen festhalten, aber die neuen Entwicklungen sollten doch auch weiterhin in überschaubaren und noch zu steuernden Bahnen ablaufen, um schwerwiegende politische Folgen eines zu raschen Wandlungsprozesses zu vermeiden und die Verschiebung des politischen Machtgewichts zugunsten der Oppositionsbewegung zu verhindern. Mit dem auch nach dem Zollvereinsbeitritt fortgesetzten Lavieren zwischen vorsichtiger Öffnung und ängstlichem Abblocken blieb die Wirtschaftspolitik weiterhin bestimmt von Widersprüchen, die sich auch in der Zollvereinspolitik niederschlugen und eine klare, zielbewußte Strategie unmöglich machten. Die Orientierung an den alten agrarisch-kleingewerblichen Strukturen und die Ablehnung einer forcierten Industrialisierung englischen Zuschnitts ging freilich nicht allein auf die im Regierungslager überwiegenden sozialökonomisch konservativen Anschauungen zurück. Auch die Kammern und die hier vertretenen Liberalen mit ihrem noch stark vorindustriellen Gesellschaftsbild standen umfassenden ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen zumindest bis weit in die vierziger Jahre äußerst skeptisch gegenüber. So scheiterten sowohl in Hessen-Darmstadt als auch in Kurhessen alle Vorstöße zu einer vollständigen Reform der alten Gewerbeverfassung bis in die sechziger Jahre auch daran, daß sich die Kammern mit ihren noch sehr traditionell geprägten Abgeordneten zu keiner klaren Willensbildung durchringen konnten 9 . Auch in Nassau 172

kamen Regierung und Kammern 1848/49 den sozialrestaurativen Bestrebungen weit entgegen, indem sie vorübergehend zu einer restriktiven Gewerbepolitik zurückkehrten 10 . Wie das Beispiel Sachsens zeigte, wo sich die volle Gewerbefreiheit auch erst 1861 durchsetzte, mußte eine langsam ablaufende Reform der Gewerbeordnung nicht unbedingt eine industrielle Entwicklung verhindern, sofern der Staat durch eine großzügige Konzessionierungspolitik den Ausbau der groß gewerblichen Wirtschaft ermöglichte. Letzteres war freilich im hessischen Raum nicht überall in ausreichendem Maße der Fall. Vor allem in Kurhessen erwies sich das Konzessionswesen als überaus investitionsfeindlich, weil sich der Monarch oft noch selbst die Erteilung einer Konzession vorbehielt. Der seit 1847 als Kurfürst regierende Friedrich Wilhelm bekundete mehrfach seine Abneigung gegenüber industriellen Unternehmungen, insbesondere gegenüber anonymen Kapitalbildungen in Form von Aktiengesellschaften. 1864 betonte die Ständeversammlung in einer öffentlichen Erklärung an den Monarchen: »Ew. Königl. Hoheit Regierung hat sich gegenüber der auf Gründung industrieller Aktiengesellschaften gerichteten Gesuchen wiederholt so entschieden abgeneigt erwiesen, daß der Unternehmungsgeist auf diesem Gebiete gänzlich verscheucht ist. « n Immer wieder verzögerte der autokratisch regierende Friedrich Wilhelm Entscheidungen über nachgesuchte Genehmigungen, oder er blockte durch sein kleinliches Hineinregieren zukunftsträchtige Vorschläge fortschrittlicher Beamter ab. Auch in Nassau wurde von liberaler Seite noch in den sechziger Jahren kritisiert, »daß Handel und Industrie bei uns nicht sehr begünstigt werden; denn bei den Konzessionen zu Bauten und Fabrikanlagen haben die Leute solche Schwierigkeiten zu überwinden, daß sie es fur klüger halten, sich jenseits der nassauischen Grenze anzusiedeln« 12 . Am liberalsten scheint das Konzessionswesen noch in Hessen-Darmstadt betrieben worden zu sein, doch selbst hier behinderte die Regierung in den vierziger Jahren den Ausbau eines oberhessischen Hammerwerkes, das vom oppositionellen Abgeordneten Frank betrieben wurde 1 3 . Andererseits läßt sich jedoch auch feststellen, daß das Konzessionswesen vor allem in Hessen-Darmstadt im Laufe der Zeit ein liberaleres Profil erhielt 14 . In vielen Fällen legten die Regierungen der Gründung groß gewerblicher Unternehmungen keine unüberwindlichen Hindernisse in den Weg und unterstützten sogar manche ihrer Tarifwünsche im Zollverein. Sie stemmten sich also nicht mit aller Macht gegen die drohende Industrialisierung, aber sie standen diesen neuen Tendenzen insgesamt doch mit größtem Mißtrauen gegenüber und hielten am Idealbild eines ackerbautreibenden Landes mit gewachsenen kleingewerblichen Zweigen fest. Selbst in Hessen-Darmstadt, das vielfach noch als fortschrittlichster Staat des hessischen Raumes angesehen wird, lehnte der leitende Minister du Thil 1842 vor der Kammer offen die Möglichkeit ab, durch eine umfas-

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sende Strukturpolitik die Industrialisierung zu forcieren und damit das Arbeitsplatzangebot dem wachsenden Arbeitskräftepotential anzupassen. Er plädierte statt dessen unter dem Eindruck der Populationsgesetze von Malthus wie auch viele Liberale dafür, den wachsenden Bevölkerungsdruck durch die Förderung der Auswanderung zu dämpfen, weil er in der raschen Industrialisierung Gefahren für die Stabilität des Staates sah: »Der Staat wird in solchen Verhältnissen eine so kunstvoll gebaute, so schwer zu lenkende Maschine, daß die geringste Störung in ihrem Gange unheilvoll wirkt. Die Lage verschiedener europäischer Länder oder Landstriche, die Verlegenheit ihrer Regierungen mögen dieser Behauptung zum Belege dienen.« 15 Dementsprechend blieb auch die nach dem Zollvereinsbeitritt intensivierte Gewerbeforderungspolitik der hessischen Staaten mittelständisch orientiert und in starkem Maße auf Heimindustrie und altes Handwerk bezogen. In Hessen-Darmstadt und Kurhessen konzentrierte man sich vor allem darauf, das angeschlagene Leinengewerbe durch Spinnschulen, Verbesserungen im Flachsbau, Anlegung von Garnmagazinen, Qualitätskontrollen und Prämiensysteme zu fördern und seinen Untergang aufzuhalten 16 . Entscheidende Fortschritte im Arbeitsplatzangebot waren mit den eingesetzten Mitteln hier freilich ebensowenig zu erzielen wie bei der staatlich geförderten Einfuhrung der Strohflechterei 17 . In Kurhessen versuchte vor allem Schwedes, den Monarchen immer wieder vergeblich davon zu überzeugen, daß der Aufbau einer eigenen Flachsmaschinenspinnerei nicht zu umgehen sei und deshalb in den Förderungskatalog aufgenommen werden müsse. Doch der Kurfürst lehnte es strikt ab, staatliche Mittel für einen Sektor einzusetzen, der die Vernichtung der Handspinnerei forciere und zur Verschärfung ungleicher Vermögensverhältnisse beitrage 18 . Eine ausgiebige Förderung der Maschinenspinnerei blieb zwar auch in Hessen-Darmstadt aus, aber immerhin hatte hier die Staatsführung erkannt, daß eine starre Erhaltungsstrategie beim Leinengewerbe, insbesondere hinsichtlich der Handspinnerei, keine Erfolgsaussichten mehr besaß. Darmstadt Schloß sich daher im Unterschied zu Kassel auf den Zollvereinskonferenzen der vierziger Jahre den Argumenten der Schutzzollpartei an und wollte den Aufbau der Maschinenspinnerei wenigstens durch höhere Zölle forcieren 19 . Die vom Wirtschaftsbürgertum der großen Städte teilweise heftig kritisierte Vernachlässigung der Großgewerbe innerhalb der staatlichen Förderung 2 0 und die lange Zeit strikte Ablehnung größerer staatlicher Kapitalhilfen entsprachen bis in die vierziger Jahre auch der Mehrheitsmeinung in den Kammern. Der kurhessische Liberale Henkel brachte schon 1833 seine Skepsis gegen ein allzu großes staatliches Engagement in den Worten zum Ausdruck: »Eine Pflanze, die so wenig natürliche Lebenskraft hat, daß sie einer solchen Pflege bedarf, wird doch nie gesunde Früchte tragen und am Ende, trotz alles darauf verschwendeten Geldes dennoch absterben. « 21 In 174

Hessen-Darmstadt verwarf die zweite Kammer im April 1845 den Antrag des liberalen Eisenfabrikanten Frank, nach dem sich der Staat mit je 100000 fl. am Aufbau einer Leinen- und Baumwollgarnfabrik sowie zweier Stabeisenwerke im rückständigen Oberhessen beteiligen sollte 22 . »Ausgesprochene Befürworter des Industrialismus, die in der Verbreitung von Fabriken die Grundlage des politischen Fortschritts, des materiellen Wohlstandes und der nationalen Stärke sahen« 23 , waren in den hessendarmstädtischen Kammern zunächst nur schwach vertreten. In noch stärkerem Maße galt dies für Kurhessen und Nassau. Erst als sich die Klagen über den krisenhaften Zustand der hessischen Wirtschaft seit Mitte der vierziger Jahre häuften, mehrte sich vor allem in Hessen-Darmstadt die Zahl jener, die eine raschere gewerbliche Entwicklung befürworteten, die bisherige Politik der Regierung kritisierten und energischere Ankurbelungsmaßnahmen des Staates verlangten, die freilich in vielen Fällen immer noch an der Stützung alter Gewerbestrukturen orientiert blieben 24 . Sogar in einem Ausschußbericht der ersten Kammer, wo mit Otto Graf zu SolmsLaubach ein eifriger Befürworter Listscher Ideen saß, hielt man es im Juli 1845 für nur zu billig und konsequent, »daß von der, durch den Zollverein herbeigeführten Einnahme demnächst so viel entnommen werde als nötig ist, um das Land in die Lage zu setzen, gegen die durch den Zollverein veranlaßte Konkurrenz bestehen zu können« 25 . Dennoch kam es auch in den folgenden Jahren in Hessen-Darmstadt zu keinem, »auf einem staatlich-gesellschaftlichen Konsens beruhenden Konzept gewerblich-industrieller Entwicklungspolitik« 26 mit dem Einsatz eines klar abgestimmten Instrumentariums. Während hier aber durch eine intensivere Arbeit des Gewerbevereins nach 1850 wenigstens gewisse Verbesserungen eintraten 27 , gab die kurhessische Wirtschaftspolitik nun eher noch mehr Anlaß zur Kritik, zumal jetzt die eigene Rückständigkeit weit stärker hervortrat. Die nach dem Zollvereinsbeitritt geforderten und teilweise begonnenen Ansätze einer wirkungsvolleren Gewerbeforderung waren in Kurhessen rasch zum Stillstand gekommen. Spätestens seit dem Rücktritt des politisch konservativen, in ökonomischer Hinsicht aber aufgeschlosseneren Innenministers Hassenpflug ließ das Interesse an wirtschaftlichen Entwicklungsmaßnahmen in der kurhessischen Staatsführung stark nach 28 . Selbst ein Anhänger der Regierung und Vertrauter des Kurprinzen, der seit 1832 als kurhessischer Zollvereinsbevollmächtigter in Münster tätige Steuerrat Carvacchi, stellte schon 1837 die Mängel der kurhessischen Wirtschaftspolitik unmißverständlich heraus. Carvacchi, der selbst in früheren Jahren Gewerbeunternehmungen betrieben hatte und in Münster unmittelbar mit der preußischen Politik konfrontiert wurde 2 9 , schilderte ausführlich die Vorzüge des preußischen Systems der Gewerbeförderung. Kurhessen benötigte seiner Ansicht nach vor allem einen solchen Initiator und Koordinator der Gewerbepolitik, wie ihn Preußen in Beuth besaß 30 . Nur durch

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eine Abkehr von einer entwicklungshemmenden Wirtschaftsgesetzgebung und eine umfassende staatliche Förderungspolitik konnte Kurhessen nach Ansicht seines Vereinsbevollmächtigten den Anschluß an die fortgeschritteneren Gewerberegionen gewinnen 31 . Auch an weiteren Beispielen zeigt sich, wie sehr der Blick auf die in anderen Zollvereinsstaaten, vor allem in Preußen, geübte Praxis die Kritik an der eigenen Regierung verstärkte. So forderte der Leiter des Hauptzollamtes in Witzenhausen, Merrem, 1840 die Kasseler Regierung auf, den preußischen und sächsischen Beispielen in der Gewerbeförderung und der Kreditbeschaffung zu folgen 32 . Und das Hanauer Wirtschaftsbürgertum stellte zwar in einem Bericht des Jahres 1841 eine erfreuliche Entwicklung der städtischen Wirtschaft fest, fügte aber hinzu, daß in anderen Rhein- und Mainstädten benachbarter Staaten noch größere Fortschritte gemacht würden, weil dort der Staat schneller Konzessionen und Staatsbürgerschaften für auswärtige Unternehmer gewähre und auf diese Weise mehr Kapital ins Land hole 33 . Innerhalb der kurhessischen Bürokratie fehlte es dabei keineswegs an zukunftsträchtigen Ansätzen. Vor allem von dem leitenden Ausschuß an der Spitze des Handels- und Gewerbevereins gingen manche Anregungen aus, doch die übergeordneten Behörden und nicht zuletzt der Monarch selbst ließen die meisten dieser Initiativen durch eine dilatorische Behandlung oder aber durch die offene Ablehnung versanden. Vergeblich versuchten wirtschaftsliberale Beamte wie Theodor Schwedes die politische Führung von der Notwendigkeit neuer Anstöße zu überzeugen. Schwedes hielt 1843 den wirtschaftspolitischen Ansichten der Staatsführung entgegen: »Wir sind kein ackerbautreibendes Volk, sondern ein Volk, das auch Ackerbau treibt, zum großen Teile aber der Gewerbe nicht entbehren kann, welches also in dem Maße in Nachteil kommt und zurückgeht, wie die Nachbarländer auf der Grundlage allen Wohlstandes, in der erleichterten Communication voranschreiten.« 34 Trotz solcher und ähnlicher Mahnungen 3 5 blieben die modernisierungsfeindlichen Elemente in der kurhessischen Wirtschaftspolitik auch nach 1848/49 bestimmend. Angesichts der ständigen innenpolitischen Wirren, die das Kurhessen der Reaktionszeit prägten und auf vielen Gebieten des staatlichen Lebens zum Stillstand führten, stockten auch Gewerbeförderung und Wirtschaftsgesetzgebung. Das Bürgertum hat diese wirtschaftspolitische Passivität in seinem Kampf um die Wiederherstellung der 1830/ 31 erkämpften Freiheitsrechte immer wieder angeprangert. Während in anderen Bundesstaaten trotz der Reaktionsphase wenigstens die materiellen Interessen eine stärkere Beachtung fanden, griff die Reaktion in Kurhessen auch auf das Feld der Wirtschaftspolitik über, waren die Zustände nach Ansicht der liberalen Kritiker auf diesem Gebiet jetzt schlimmer als zuvor. Den von volkswirtschaftlichen Einsichten weitgehend unberührten Juristen in der obersten Staatsverwaltung wurde vorgeworfen, politisch 176

unliebsamen Unternehmern die Konzession zu Neuansiedlungen zu verweigern oder sie über zeitlich befristete Konzessionen ständigem Druck auszusetzen 36 . 1864 stellte die Ständeversammlung in einer öffentlichen Erklärung die großen Mißstände der Wirtschaftspolitik klar heraus 37 . Schon 1862 hatte der großdeutsche Demokrat Trabert in der Debatte um den deutsch-französischen Handelsvertrag die Meinung vertreten: »Wo man mit so viel Schwierigkeiten zu kämpfen hat, wenn man nur einige bauliche Einrichtungen treffen will; wo man Conzessionen zum Fabrikbetrieb noch auf die Zeit von etwa fünf Jahren zu geben können glaubt, ohne zu bedenken, daß man hierdurch die Conzession ganz werthlos macht; wo öffentliche Blätter einem maßgebenden Staatsmann noch vor Kurzem den politischen Grundsatz in den Mund legen konnten: >es ist gut, daß das Volk Noth leidet, denn es wird dadurch zu Gott geführt, da mag der Nachtheil des deutsch-französischen Handelsvertrags noch so groß sein, die Regierung kann unsere großen und kleinen Gewerbetreibenden trotzdem glücklich wie die Götter machen, wenn sie nur die polizeilichen Schranken fallen läßt, die Arbeit frei giebt und das Talent entfesselt. « 38 Die Mißstände auf wirtschaftspolitischem Gebiet haben sowohl in Kurhessen als auch in Nassau bei einem Großteil des Bürgertums schließlich die Abkehr vom Partikularstaat forciert und die Annexion durch Preußen erleichtert. Trotz der frühen Einfuhrung der Gewerbefreiheit unterschied sich die nassauische Wirtschaftspolitik in ihrer Substanz nur wenig von der kurhessischen. Auch hier hielt sich die politische Führung noch lange an die bereits von Marschall ausgegebene Devise, daß Nassau ein ackerbautreibendes Land sei und von den negativen Folgen der Industrialisierung wie »Fabrik-Proletariat, Armut, Elend, Bettel und Unsittlichkeit« verschont werden sollte 39 . Aus Furcht vor dem Anwachsen eines Fabrikproletariats und vor dem Einfluß reicher Industrieller auf die Politik des Kleinstaates behinderte die Regierung, wie ein Kritiker bereits um die Jahrhundertmitte vermerkte, eine raschere gewerbliche Entwicklung, ohne selbst geeignete Mittel gegen die Pauperisierung breiter Bevölkerungsschichten zu besitzen 40 . Obwohl die Zolldirektion bereits kurz nach dem Zollvereinsbeitritt die politische Führung aufgefordert hatte, zur besseren Information wie in anderen Staaten Gesellschaften des Handels und der Gewerbe zu bilden 41 , genehmigte die Regierung aus Furcht vor liberalen Tendenzen erst nach langem Zögern 1844 die Statuten eines von nassauischen Bürgern gegründeten Gewerbevereins 42 . Wichtigste Zielsetzung des im Unterschied zu Hessen-Darmstadt und Kurhessen auf rein privater Basis entstandenen Gewerbevereins war die Förderung von Gewerbe und Industrie durch den Ausbau eines gewerblichen Schulwesens, Ausstellungen, Prämien, Vorträge und andere Maßnahmen. Die Regierung unterstützte zwar seit 1846 die vom Verein begonnene Arbeit, die zur Verfugung gestellten Mittel blieben freilich noch außerordentlich bescheiden 43 . Wenn das Bergbauland 177

erst 1858 eine eigene Bergbauschule errichtete 44 , die materielle Seite der Gesetzgebung nach den frühen Reformen lange vernachlässigte 45 und aus Furcht vor überregionalen Verbindungen und liberalen Regungen die Errichtung von Handelskammern trotz des Drängens der Wirtschaft bis 1863 hinausschob 46 , so zeigt dies ebenso wie die unzulängliche Gewerbeförderungspolitik und die Mängel im Konzessionswesen, daß die politische Führung des kleinen Herzogtums auch nach dem Zollvereinsbeitritt im Grunde recht wenig tat, um die gewerbliche Entwicklung zu forcieren. Gewiß ist es verfehlt, in Anlehnung an die liberalen Kritiker das Negativbild hessischer Wirtschaftspolitik zu überzeichnen, gewiß gab es auf einzelnen Gebieten wie dem Ausstellungswesen oder der Sparkassenförderung durchaus positive Ansätze, andererseits ist aber nicht zu verkennen, daß keine der drei Regierungen innerhalb des Zollvereins zu den Vorreitern einer zukunftsorientierten Wirtschaftspolitik zählte. Dies gilt im übrigen auch für die Verkehrspolitik. Während vor allem Hessen-Darmstadt und Kurhessen den Straßenbau zunächst noch vorbildhaft vorantrieben, fehlte beim weit wichtigeren Eisenbahnbau in allen drei Staaten lange Zeit die nötige Zielstrebigkeit. In Kurhessen hatten fortschrittliche Beamte und Teile des Kasseler Wirtschaftsbürgertums schon unmittelbar nach dem Zollvereinsbeitritt darauf gedrängt, durch den Bau von Eisenbahnen den Anschluß an die neuen verkehrspolitischen Entwicklungen zu erlangen und die verkehrspolitische Bedeutung des Landes zu sichern. Da jedoch der Kurfürst nach dem Ausscheiden Hassenpflugs im Jahre 1837 die Eisenbahnplanungen fur einige Jahre behinderte, war die große Chance leichtfertig vertan, durch frühe Initiativen und die günstige Lage bei der Revolutionierung des deutschen Verkehrswesens eine führende Rolle zu spielen. Erst in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre, als der kurhessische Straßentransit durch die konkurrierenden Bahnlinien der Nachbarstaaten immer größere Einbußen erlitt, kam der Aufbau des kurhessischen Eisenbahnnetzes voran. Doch auch jetzt sorgte die Uberbetonung partikularstaatlicher Interessen immer wieder für Verzögerungen beim Bau staatenübergreifender Linien 47 . In Kurhessen, so kritiserte 1845 das Zollvereinsblatt, fürchte man vielfach noch, daß Eisenbahnen zum »Verlust des bisherigen Chaussee-Transits« und zu einer schädlichen »Konkurrenz auf die Gewerbe des Landes« 48 führen müßten, während die belebende Wirkung des Eisenbahnbaus 49 ebenso unterschätzt werde wie die Tatsache, daß die eigenen Landstraßen auf Dauer gegen benachbarte Bahnlinien ohnehin nicht konkurrieren könnten. Im benachbarten Hessen-Darmstadt verlief der Eisenbahnbau zwar insgesamt etwas rascher 50 , dennoch hemmten auch hier und in noch stärkerem Maße in Nassau partikularstaatliches und regionales Konkurrenzdenken schnellere Fortschritte. Nach der 1839 von einer Privatgesellschaft fertiggestellten Taunusbahn scheiterten in Nassau weitere Bahnbauten nicht nur an Finanzierungsschwierigkeiten, sondern vor allem an den Rivalitäten mit 178

Preußen. Die durch die Mitgliedschaft im Zollverein noch spürbarer gewordene Abhängigkeit von Preußen vergrößerte auf nassauischer Seite das Mißtrauen und verstärkte das Bemühen, auch in den Verkehrsfragen um jeden Preis als ebenbürtiger Staat aufzutreten. Zwar erwies sich auch Preußen bei allen Auseinandersetzungen um die Linienführungen keineswegs als konzilianter Partner, dennoch war die lange aufrechterhaltene nassauische Verweigerungspolitik gegenüber den preußischen Bahnwünschen wenig verständlich. Die 1860 erzielte Einigung über den Bau der Linie Köln-Gießen und den der Lahntalbahn stellte für die gesamte nassauische Wirtschaft, vor allem für die Eisenindustrie, einen überaus großen Fortschritt dar, der bei einer konzilianteren Politik des schwächeren Partners zum Wohle der eigenen Wirtschaft bereits ein Jahrzehnt früher hätte erreicht werden können, ohne daß die annexionsfördernde, fortschrittshemmende Funktion des Kleinstaates so deutlich hervorgetreten wäre 51 . Rückblickend läßt sich zur inneren Wirtschaftspolitik der hessischen Staaten sagen, daß sie trotz der Anstöße, die sie durch den Zollvereinsbeitritt erhielt, hinsichtlich der GewerbefÖrderung, aber auch bei vielen Gesetzgebungs- und Infrastrukturmaßnahmen hinter den Leistungen anderer Zollvereinsstaaten zurückblieb. Obwohl etwa in Baden, Württemberg und Preußen die entsprechende Politik in der Regel ebenfalls noch nicht am Maßstab einer gesellschaftspolitisch unerwünschten überhasteten Industrialisierung orientiert war, darf man behaupten, daß die Wirtschaftspolitik, insbesondere aber die Gewerbeforderung dieser Staaten, vorhandene Ansätze zielstrebiger unterstützte und ein rascheres Tempo der Entwicklung begünstigte 52 . Gewiß waren in den kleineren hessischen Staaten die finanziellen Mittel zur GewerbefÖrderung viel begrenzter. Doch dabei sollte man auch nicht übersehen, daß viele Fortschritte weniger an den Finanzen, sondern an einer Überbetonung partikularistischer und sozialkonservativer Anschauungen scheiterten. Im übrigen aber wirkten die fur die GewerbefÖrderung, insbesondere in der Form von direkten Subventionen eingesetzten staatlichen Mittel im Vergleich zu den aus der Zollvereinsmitgliedschaft fließenden Mehreinnahmen in Millionenhöhe außerordentlich bescheiden. In Hessen-Darmstadt waren im Etat für 1848 lediglich 8000 fl. zur Verbesserung des Gewerbewesens vorgesehen 53 . In Kurhessen, das zudem über einen reichen Staatsschatz verfügte, wurden seit 1837 die laut Etat zur Verfügung stehenden Mittel in Höhe von 7000 rtl. oftmals nicht einmal in vollem Umfang eingesetzt 54 . Und in Nassau bewilligte die Regierung 1846 von den 6000 fl., »die der nassauische Gewerbeverein zur Förderung der heimischen Gewerbe beantragt hatte«, ganze 1500 fl.55. Damit blieb der staatliche Anteil an der Industrialisierung des hessischen Raumes geringer als in anderen deutschen Regionen 56 . Angesichts der relativen Passivität im Inneren darf man den Zollvereinsbeitritt neben dem Eisenbahnbau als die bis 1866 wichtigste Entscheidung über wirtschaftliche Rahmenbedingungen werten. Allerdings waren beide Entscheidungen 179

mehr die Folge ökonomischer und politischer Zwänge als das Ergebnis einer zielbewußten Wirtschaftspolitik. Wenn in den hessischen Staaten das von Teilen der Bürokratie und des Bürgertums beim Zollvereinsbeitritt anvisierte Ziel, die Rückständigkeit gegenüber den fortgeschritteneren Regionen aufzuholen, lange Zeit unerreicht blieb, so lag dies bei aller Bedeutung, die dem Staat in der deutschen Industrialisierung zukam, jedoch nicht nur an einer unzureichenden, konzeptionslosen, zwischen vorsichtiger Öffnung und starrer Beharrung lavierenden staatlichen Wirtschaftspolitik. Auch eine noch so intensive staatliche Politik hätte kaum ausgereicht, sämtliche fehlenden Voraussetzungen eines rascheren Industrialisierungsprozesses zu substituieren. Angesichts der Strukturschwäche von Landwirtschaft und traditionellen Gewerben gab es weder »ein Mindestmaß an Effizienz in einigen wesentlichen nichtindustriellen Sektoren der Wirtschaft« noch »eine ausreichende Nachfrage nach Industrieprodukten« 57 . Auch die beiden anderen, von Kuznets als wirtschaftliche Vorbedingungen der Industrialisierung genannten Faktoren, »ein der Industrie angemessenes Angebot an Arbeitskräften und Kapital« sowie »ein ausreichendes Angebot an Unternehmertalenten« 58 waren im hessischen Raum lange Zeit nur unzureichend entwickelt. Vor allem vor 1850 gab es immer wieder heftige Klagen über die Schwierigkeiten bei der Kapitalbeschaffung für gewerbliche Unternehmungen 59 . Die großen Ablösungskapitalien flössen überwiegend wieder in den Erwerb von Grund und Boden oder in Staatsanleihen, kaum aber in den Gewerbesektor 60 . Unter Umständen lag also auch hier das eigentliche Problem nicht so sehr in einem echten Kapitalmangel, sondern vielfach in der großen Abneigung vieler Anleger gegenüber risikoreichen Investitionen im Gewerbesektor 61 . Eine grundlegende Verbesserung auf dem Kapitalmarkt wurde erst in den fünfziger Jahren erreicht, als auch in Hessen, vor allem mit der 1853 gegründeten »Darmstädter Bank für Handel und Industrie« 62 , allmählich ein modernes Bankwesen entstand. Auch das Problem eines unzureichenden Angebots an Unternehmertalenten wird im hessischen Raum mehrfach eindrucksvoll belegt. Selbst für den am weitesten fortgeschrittenen Rhein-Main-Raum ist jüngst ein gravierender »Mangel an innovatorischen Fähigkeiten auf technologischem Gebiet« festgestellt worden 63 . Während sich die frühe Unternehmergeneration hier aber durch handwerkliches Geschick sowie finanz- und handelsorganisatorische Fähigkeiten auszeichnete, dominierten in vielen anderen Regionen bei den Gewerbetreibenden Unbeweglichkeit und fehlende Tatkraft. Ein liberaler Kritiker kurhessischer Wirtschaftspolitik beklagte um 1850, »daß der genügsame und zugleich störrige Sinn der Bevölkerung kühnen Unternehmungen abgeneigt« sei 64 . Vor allem die Landbevölkerung stand Neuerungen meist skeptisch gegenüber, so daß es oft schwerfiel, »die rechten Ansätze zu einer notwendigen Umgestaltung zu finden«65. Im Rahmen des kurhessischen Handels- und Gewerbevereins blieben private 180

Initiativen keineswegs nur deshalb gering, weil der staatliche Einfluß in dieser Institution zu stark zur Geltung kam. Abgesehen von Kassel, Hanau und Schmalkalden bedurften die Distriktvereine meist der Anstöße von oben, u m ihren Aufgaben gerecht zu werden. Als die Regierung nach Auflösung des alten Handels- und Gewerbevereins zu Beginn der fünfziger Jahre die Bildung von Privatvereinen in Aussicht stellte, ergriffen zunächst nur das Hanauer und Schmalkaldener Wirtschaftsbürgertum die sich bietende Chance. In Kassel entstand erst 1855 wieder ein Verein für Handel und Gewerbe, und im übrigen Land ließen solche Vereine noch länger auf sich warten 6 6 .

2.2.

Die hessischen Staaten und die Schutzzolldebatte

im

Zollverein

Mit der Entscheidung zugunsten des Zollvereinsbeitritts hatten die hessischen Regierungen die einheimische Wirtschaft vor neue Anforderungen gestellt, ihr aber zugleich auch neue Entwicklungschancen eröffnet. Trotz der intensivierten .Diskussion um die künftige staatliche Gewerbepolitik blieben allerdings weiterfuhrende innere Maßnahmen in der Regel vorerst aus. Innerhalb des Zollvereins bemühten sich dagegen auch die hessischen Regierungen von Anfang an, über die Tarifpolitik die Entwicklungsmöglichkeiten der einheimischen Branchen zu verbessern. In der wirtschaftspolitischen Diskussion der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galten Zölle allgemein als »wichtigstes übergreifendes Steuerungsinstrument staatlicher Wirtschaftspolitik« 67 . Aber gerade auf diesem Gebiet hatten die hessischen Staaten mit dem Zollvereinsbeitritt ihre Autonomie aufgegeben. Was ihnen blieb, war die Möglichkeit, auf den Zollvereinskonferenzen Tarifänderungen zugunsten der eigenen Wirtschaft zu beantragen. Das Einstimmigkeitsprinzip im Zollverein, das lange Zeit eine umfassende Tarifreform verhinderte, vor allem aber auch das relativ geringe Gewicht, das den hessischen Staaten innerhalb des Zollvereins, insbesondere gegenüber der Hegemonialmacht, zufiel, schränkte allerdings von Anfang an die Erfolgsaussichten solcher tarifpolitischen Vorstöße ein. Bildeten die im Zollverein vereinbarten Maßnahmen somit für die hessischen Staaten lediglich »kaum modifizierbare Rahmendaten« 68 ? War folglich, wie es oft behauptet wird, der Zollverein für die kleineren Staaten kein »Instrument«, sondern nur »Schicksal«?69 Eine solche Feststellung läßt allzu leicht übersehen, welch große Bedeutung einige tarifpolitische Auseinandersetzungen auch für die hessischen Staaten besaßen und in welchem Maße sie teilweise bestrebt waren, in diesen Fragen die eigenen Interessen zu artikulieren und zu behaupten. Während die ersten Generalkonferenzen des Zollvereins in den dreißiger 181

Jahren noch außerordentlich ruhig abgelaufen waren, entwickelten sich die vereinsinternen Tarifdebatten in den vierziger Jahren zur ersten großen Belastungsprobe der neuen Zollunion. Jetzt ging es nicht mehr nur um einzelne Positionen im Vereinstarif, sondern um die ordnungspolitische Grundsatzfrage Schutzzoll oder Freihandel. Dieser Konflikt wurde nicht zuletzt deshalb mit solcher Heftigkeit ausgefochten, weil die deutsche Wirtschaft in der Phase der Frühindustrialisierung starke regionale Differenzierungen aufwies und der jeweils unterschiedliche Entwicklungsgrad zu teilweise erheblich voneinander abweichenden zollpolitischen Zielsetzungen führte 7 0 . Die große Tragweite dieses Tarifstreites bestätigt die These, daß vorhandene ökonomische Disproportionen bei einem wirtschaftlichen Zusammenschluß von Staaten mit noch niedrigem Entwicklungsniveau den Integrationsprozeß besonderen Belastungen aussetzen 71 . Z u m Ausbruch des Tarifkonfliktes trugen allerdings auch noch andere Faktoren bei. Die konjunkturellen Schwankungen der vierziger Jahre 72 , eine sich in dieser Phase ungünstiger entwickelnde Handelsbilanz 73 sowie die dadurch verschärften sozialen Krisenerscheinungen in vielen deutschen Regionen begünstigten eine intensive Beschäftigung mit der Rolle von Zöllen als wirtschaftspolitischem Steuerungsinstrument und mit der künftigen Richtung der Tarifpolitik im Zollverein. Aus der Fülle der zeitgenössischen Diskussionsbeiträge ragen vier grundlegende Konzeptionen hervor. Dies war zunächst einmal das von weiten Teilen des wachsenden Industriebürgertums bejahte Listsche Programm eines umfassenden Schutzzollsystems, welches sich am Ziel einer beschleunigten Industrialisierung orientierte, zugleich aber auch eine konstitutionelle und eine besonders scharf ausgeprägte nationale Komponente enthielt. Wollte List die soziale Frage durch eine forcierte Industrialisierung lösen, so strebten sozialrestaurative Schutzzöllner wie Gülich mit der Abschirmung des Binnenmarktes gegenüber den ausländischen Industrieprodukten eine Bewahrung bestehender Produktionsformen an. Diesen protektionistischen Konzepten entgegen standen die Forderungen des Wirtschaftsliberalismus mit seiner Verurteilung handels- und gewerbepolitischer Eingriffe des Staates sowie die am bestehenden Zolltarif orientierte preußische Handelspolitik, die durch das Festhalten am Status quo »sowohl eine gesellschaftspolitisch unerwünschte überhastete industrielle Entwicklung als auch eine machtpolitisch unerwünschte produktionstechnische Stagnation« zu verhindern suchte 74 . Die Frontlinien der Tarifauseinandersetzung verliefen nicht allein zwischen den unterschiedliche Konzeptionen vertretenden Zollvereinsregierungen. Auch innerhalb der einzelnen Regierungen herrschten oft tiefgreifende tarifpolitische Gegensätze. Darüber hinaus war die Haltung der bürgerlichen Oppositionsbewegung zu den Tariffragen ebenfalls alles andere als einheitlich. Vor allem in den vierziger Jahren traten hier die Gegensätze zwischen einem erstarkenden industriellen Bürgertum und den 182

alteingesessenen außenhandelsorientierten Kaufleuten immer stärker hervor 7 5 . Die hessischen Staaten gehörten zwar nicht zu den großen Wortführern im Tarifstreit des Zollvereins, aber sie verfolgten die gesamte Entwicklung mit großem Interesse und brachten selbst einige wichtige Anträge auf den Generalkonferenzen vor. Die Regierungen wurden in der Regel dann tätig, wenn aus der eigenen Wirtschaft Forderungen kamen, die einer kritischen Prüfung standhielten. Den an die Regierung gerichteten zollpolitischen Forderungen einzelner Wirtschaftszweige konnte auf verschiedene Weise mehr Nachdruck verliehen werden: durch die Unterstützung korporativer Organisationen, kommunaler Gremien, politischer Gruppen sowie der Kammern oder aber auch durch Aufbau von eigenen, zunächst regionalen oder branchenspezifischen Interessenverbänden. Die letztgenannte M ö g lichkeit wurde im hessischen Raum ebenso wie in anderen Vereinsstaaten zunächst nur wenig wahrgenommen. Z u m einen fehlte es innerhalb des noch schwachen Bürgertums an ausreichenden Initiativen, zum anderen tat die Repressionspolitik der Regierungen ein übriges, u m die Entstehung von nichtkorporativen Interessenvertretungen zu behindern. Erst die vierziger Jahre mit ihren schweren ökonomischen Krisen brachten innerhalb des Zollvereins einen rascheren Ausbau nichtkorporativer Verbände, von denen der hessische Raum aber erst allmählich erfaßt wurde 7 6 . Daher liefen hier die meisten tarifpolitischen Vorstöße einheimischer Branchen in der Regel über die von Staatsverwaltung und Verfassung vorgegebenen Bahnen. In Hessen-Darmstadt konnten Tarifwünsche über die Handelskammern, den Gewerbeverein oder den landwirtschaftlichen Verein an die Bürokratie gerichtet werden. Allerdings eigneten sich diese Organisationen angesichts ihrer heterogenen Zusammensetzung und des staatlichen Einflusses nicht immer zur Durchsetzung gruppenspezifischer Interessenpolitik. Auch direkt an die Bürokratie gerichtete Eingaben fanden oft zu wenig Resonanz, zumal zunächst eine zentrale Anlaufstelle für Handels- und Gewerbefragen fehlte und die Verantwortung für die Zollpolitik auf verschiedene Behörden verteilt war 7 7 . Weitaus wirkungsvoller erwies sich dagegen eine Einschaltung des Landtages, bei dem sich vor allem die zweite Kammer als ein geeignetes Forum zur Artikulation ökonomischer Interessen entwickelte und die Regierung in wichtigen Fragen zu tarifpolitischen Initiativen drängte. In Kurhessen wurden die meisten tarifpolitischen Vorstöße einheimischer Branchen über den Handels- und Gewerbeverein vorgebracht. Angesichts der großen staatlichen Kontrolle und der sehr schwachen Position, die dem Verein innerhalb der kurhessischen Bürokratie zufiel 78 , eignete sich dieses Verfahren im Grunde noch weniger zur Durchsetzung ökonomischer Interessenpolitik als der im Nachbarstaat mögliche Weg über die Handelskammern. Ebenso wie in Hessen-Darmstadt wurden aber auch in Kurhessen und Nassau von Anfang an wirtschaftspolitische Forderungen 183

über die Landtage an die Regierung weitergereicht. Da jedoch im Herzogtum Nassau das Wirtschaftsbürgertum bis 1846 in der Deputiertenversammlung mit nur drei Abgeordneten vertreten war und mit Ausnahme des landwirtschaftlichen Vereins staatlich sanktionierte Mittlerstellen zwischen Wirtschaft und Staat lange Zeit fehlten, begannen nassauische Gewerbetreibende seit Beginn der vierziger Jahre mit dem Aufbau eigener nichtkorporativer Verbände. Neben dem 1843 auf privater Basis gegründeten nassauischen Gewerbeverein 79 verstärkten vor allem die Eisenhüttenbesitzer unter dem Eindruck einer schweren Absatzkrise ihre bereits zuvor praktizierte interessenpolitische Kooperation. Diese fand zwar erst im nassauischen Roheisenverband von 1851 eine feste organisatorische Klammer 80 , doch die Einflüsse dieser Bestrebungen machten sich schon in der nassauischen Zollvereinspolitik der vierziger Jahre bemerkbar. Anders als in Süddeutschland, wo die Baumwollgarnfrage der protektionistischen Bewegung die entscheidenden Impulse gab, spielte im hessischen Raum, insbesondere aber in Nassau, die Eisenzollfrage jene Rolle des auslösenden Faktors. Seit dem Ende der dreißiger Jahre geriet die eisenschaffende Industrie des Zollvereins unter den Druck einer gewaltigen britischen Exportoffensive. Eine innerbritische Absatzkrise ließ die ohnehin schon deutliche Preisschere zwischen der englischen Konkurrenz mit ihren modernen, kostengünstigeren Produktionsformen und der rückständigen, meist noch mit Holzkohle arbeitenden deutschen Eisenindustrie weiter auseinanderklaffen 81 . Während weite Teile der eisenverarbeitenden Industrie und andere Eisenkonsumenten im Zollverein die billigeren ausländischen Einfuhren begrüßten, fühlten sich viele Eisenhüttenbesitzer in ihrer Existenz bedroht. Dies galt vor allem für die hessischen Hüttenbesitzer, deren Produktion noch ganz auf der immer kostenreicheren Holzkohle basierte. Schon im Juni 1839 forderten die nassauischen Eisenindustriellen in einer Eingabe an das Staatsministerium einen wirksamen Schutz vor der britischen Konkurrenz, ohne den der wichtigste Gewerbezweig des Landes auf Dauer nicht mehr existieren könne. Die so wichtige, kapitalintensive Eisenindustrie dürfe keineswegs »zum Spielball wechselnder merkantiler Konjunkturen werden«. Die Regierung solle daher ihre ganze Aufmerksamkeit darauf richten, ausländisches Roheisen, das gemäß der liberalen Intention des preußischen Zolltarifs noch immer abgabenfrei importiert werden konnte, künftig einem angemessenen Eingangszoll zu unterwerfen, und auch eine Erhöhung der Stabeisenzölle verlangen 82 . Die nassauische Bürokratie hielt diese Besorgnisse anfangs noch für überzogen 83 . Je deutlicher sich aber dann die Krise der Roheisenproduzenten abzeichnete und j e dringlicher ihre gemeinsam vorgebrachten Appelle wurden, desto bereitwilliger griff sie nun die Tarifwünsche der Branche auf. 1842 forderte sie in einer langen Denkschrift die übrigen Zollvereinsstaaten dazu auf, die bedrohte Eisenindustrie durch die Zollerhöhung bei Stabeisen sowie durch die Einführung eines Roheisenzolls vor der immer 184

mächtiger vordringenden ausländischen Konkurrenz zu schützen 84 . In keinem anderen Zollvereinsstaat lag der Anteil der Berg- und Hüttenarbeiter so hoch wie in Nassau, wo etwa 18000 Personen von diesem Industriezweig lebten 85 . Folglich appellierte der Kleinstaat eindringlich an die Partnerstaaten, der Eisenindustrie die notwendige Unterstützung nicht zu versagen und durch höhere Zölle das alte Marktgleichgewicht möglichst bald wiederherzustellen, um »Fortdauer und Ausdehnung« dieses Zweiges zu gewährleisten 86 . Neben Baden, Württemberg und den thüringischen Staaten unterstützte auch Kurhessen, wo sich der größte Teil der Hütten noch in staatlicher Hand befand, einen von Nassau auf der Stuttgarter Generalkonferenz des Jahres 1842 eingebrachten Antrag, den Zollsatz bei gewalztem und geschmiedetem Stabeisen auf l'A rtl. pro Zentner zu erhöhen und einen Roheisenzoll in Höhe von einem halben Taler einzuführen. Auch HessenDarmstadt schloß sich nach Eingaben seiner Hüttenbesitzer der Roheisenforderung an, wollte den Zollsatz aber auf Y¡ rtl. beschränken 87 . Dieser erste Anlauf der Schutzzollpartei scheiterte jedoch am preußischen und bayerischen Veto. Beide Regierungen sahen die Lage der eisenschaffenden Industrie noch nicht als so bedrohlich an und nahmen Rücksicht auf die Interessen der Eisenkonsumenten. Aufgrund des wachsenden Druckes der zollvereinsweiten Eisenindustrie schwenkte Preußen allerdings bereits 1843 auf einen entgegenkommenden Kurs ein 88 . Als die jetzt auch von beiden Kammern 8 9 gedrängte Wiesbadener Regierung auf der Generalkonferenz des Jahres 1843 gemeinsam mit den Verbündeten die alten Anträge wiederum vorlegte, bot Preußen immerhin einen Roheisenzoll von 'Λ rtl. an und wollte den Stabeisenzoll bei groben Produkten auf 1/4 rtl., bei feinen auf 2Yi rtl. anheben. Es forderte aber zugleich, im Interesse seiner Walzwerke die Eisenbahnschienen in den Zollsatz für grobes Stabeisen einzubeziehen 90 . Während Kurhessen und Nassau trotz des als zu niedrig angesehenen Roheisenzolls im Interesse eines raschen Vollzugs dem Kompromiß zustimmten, lehnte Hessen-Darmstadt im Verein mit Sachsen, Frankfurt und den süddeutschen Staaten die preußischen Vorschläge wegen des neuen Zollsatzes für Eisenbahnschienen ab. Nach Ansicht der Oppositionsfront kam dieser neue Zollsatz allein den wenigen preußischen Walzwerken zugute, verteuerte aber gleichzeitig den ohnehin kostenträchtigen, noch auf Eisenimporte angewiesenen Bahnbau beträchtlich 91 . In diesem Falle vertrat also der Süden eine ausgesprochen freihändlerische Konzeption, während Preußen im Interesse der eigenen Branche einen Erziehungszoll propagierte, der so gar nicht in das stereotype Bild der Besitzstandswahrung freihändlerischer Junkerinteressen paßte. Handelspolitische Entscheidungen wurden innerhalb des Zollvereins eben nicht nur aufgrund einer starren Doktrin, sondern vor allem »unter vorwiegender Berücksich-

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tigung regionaler und branchenspezifischer Wirtschaftsinteressen« getroffen 9 2 . Wenige Monate nach dem gescheiterten Einigungsversuch gelang es Preußen im Sommer 1844 dann doch noch, die widerstrebenden Zollvereinsstaaten zur Annahme seiner Kompromißvorschläge zu bewegen 9 3 . Die von Nassau angeführte Schutzzollpartei war freilich mit den am 1. September 1844 in Kraft tretenden neuen Eisenzöllen noch nicht voll zufriedengestellt. Z u m einen fiel der neue Roheisenzoll nicht so hoch aus, wie es ursprünglich gefordert worden war, zum anderen wurden die vereinbarten Schutzzölle durch den im gleichen Jahr mit Belgien abgeschlossenen Handelsvertrag wieder durchlöchert 94 . Die darin gewährten Vorzugszölle in Höhe von 50% ließen in den folgenden Jahren die belgischen Roheisenexporte in den Zollverein rasch ansteigen, was von der eisenverarbeitenden Industrie teilweise begrüßt wurde, die Roheisenproduzenten in ihrem K a m p f u m einen größeren Schutz ihrer Branche aber nur bestärkte 9 5 . Die neuen Eisenzölle des Jahres 1844 waren so konzipiert, daß die Belastung der Konsumenten in akzeptablen Grenzen blieb und ausländisches Eisen, dessen Deutschland wegen des wachsenden Verbrauchs noch bedurfte 9 6 , auch weiterhin in bedeutenden Mengen zu günstigen Preisen importiert werden konnte. Wollten die deutschen Produzenten ihre Stellung auf dem Binnenmarkt behaupten und ausweiten, so waren sie trotz der neuen Zölle gezwungen, sich den produktionstechnischen Fortschritten der ausländischen Konkurrenz anzupassen 9 7 . Dies gelang allerdings der preußischen Eisenindustrie mit ihren Standortvorteilen in den Steinkohlerevieren wesentlich besser als derjenigen in den Staaten, die wie Nassau die Schutzzollbewegung maßgeblich in Gang gebracht hatten. Den Regierungen des hessischen Raumes ging es bei ihrer Schutzzollkampagne zugunsten der eisenschaffenden Industrie in erster Linie u m die Rettung einer »altbegründeten, ganz einheimischen Industrie« 9 8 und weit weniger u m die Beschleunigung eines als unumgänglich erkannten Strukturwandels 9 9 . Nach 1844 zeigte sich allerdings nur zu rasch, daß die Schwierigkeiten der hessischen Eisenindustrie mit einem reinen Schutzzollprogramm nicht zu beheben waren. Für die rückständigen hessischen Holzkohlebetriebe brachte der neue Roheisenzoll, der den Import zunächst mit etwa 22% belastete, lediglich eine kurzfristige Besserung der Konkurrenzsituation und konnte die ungünstige Ertragslage nicht nachhaltig verändern 1 0 0 . Schon auf den Generalkonferenzen der Jahre 1845 und 1846 kritisierten vor allem Nassau und Kurhessen die Unzulänglichkeit des neuen Roheisenzolls und forderten vergeblich eine Aufstockung u m 5 sgr. 1 0 1 . Als die Eisenpreise im Jahre 1848 infolge eines Nachfragerückgangs stark abfielen, standen die nassauischen Hüttenbesitzer unter Führung des Michelbacher Unternehmers C. Lossen in der vordersten Front der Schutzzollagitation. Unterstützt von der nassauischen Kammer, forderten die Eisenhüttenbesitzer vor allem über den »Allgemeinen deutschen Verein 186

zum Schutze der vaterländischen Arbeit«, jene große Schutzzollorganisation der Revolution 1848/49, noch eindringlicher als zuvor eine Anhebung der Roheisenzölle von 10 auf 15 sgr. pro Zentner 1 0 2 . Angesichts des Scheiterns der Reichszentralgewalt blieben sie freilich am Ende ebenso erfolglos wie die späteren Vorstöße der hessischen Regierungen, die auf der neunten Generalkonferenz des Jahres 1851 erneut am Veto Preußens scheiterten 103 . Neben der 1853 erfolgten Aufhebung der Vorzugszölle für belgisches Eisen durfte die schutzzöllnerische Eisenindustrie der hessischen Region in ihrer gesamten Kampagne schließlich nur noch als Erfolg verbuchen, daß die hessischen Regierungen durch den Einsatz ihres Vetorechts bis 1865 alle Versuche der norddeutschen Vereinsstaaten abwehrten, die auf eine weitere Reduktion der Eisenzölle hinausliefen 104 . Bestandssicherung und kontinuierlicher Ausbau der hessischen Eisenindustrie konnten jedoch von noch so hohen Zöllen des Vereins auf Dauer kaum garantiert werden, zumal der Konkurrenzdruck seit Mitte des Jahrhunderts nicht mehr nur von der englischen Industrie ausging. 1852 vertrat der nassauische Eisenindustrielle Lossen sogar die Ansicht, daß die zollpolitische Trennung von Preußen und die Teilnahme an einem protektionistisch orientierten süddeutsch-österreichischen Zollverein für die Eisenindustrie »von den ersprießlichsten Folgen sein werde« 1 0 5 . Die Interessengegensätze zwischen der rückständigen, »mittelständischen« Eisenindustrie in Nassau und der fortgeschritteneren preußischen Konkurrenz waren im übrigen bereits 1848 sichtbar geworden, als Lossen sich unter anderem für eine »Beschränkung großer Gewerbskonzessionen ohne sichere Gewähr« aussprach und gegenüber Aktiengesellschaften einwandte, sie könnten »durch Übermacht an Kapital zu niederen Zinsen den kleineren Gewerbebesitz in seinem sicheren Stand gefährden« 1 0 6 . U m die Konkurrenzfähigkeit der nassauischen Eisenindustrie zu verbessern, bedurfte es anderer Maßnahmen, als Lossen sie vorschlug. Nötig war eine größere Innovationsbereitschaft der Unternehmer, die zu lange von der Höherwertigkeit des Holzkohleeisens überzeugt blieben 1 0 7 ; vor allem aber benötigte Nassau einen schnelleren Ausbau der Verkehrsmöglichkeiten zu den Steinkohlerevieren, der lange Zeit durch eine zu engstirnig angelegte Verkehrspolitik verhindert worden war 1 0 8 . Bei allen inneren Aufgaben waren jedoch Regierungen und Unternehmer des hessischen Raumes nicht annähernd so aktiv wie bei ihren nach außen gerichteten Schutzzollforderungen, die von 1840 bis in die sechziger Jahre zu den großen Streitpunkten zwischen den hessischen Staaten und der Hegemonialmacht Preußen gehörten. Ihre Schärfe erhielten diese Auseinandersetzungen durch die disproportionale Entwicklung innerhalb der zollvereinsländischen Eisenindustrie und die daraus resultierenden unterschiedlichen zollpolitischen Konzeptionen. Der Konzentration der hessischen Eisenindustrie auf eisenschaffende Zweige und ihrer schleppenden Modernisie187

rung stand eine raschere Entwicklung der vielseitigen preußischen Eisenindustrie gegenüber, die zu anderen zollpolitischen Konzeptionen führte. Noch stärker als in der Eisenzollfrage zeigte die hessische Haltung im Textilzollstreit, wie sehr die tarifpolitischen Konzeptionen der Regierungen vorrangig noch am Ziel der Bewahrung alteingesessener Gewerbe orientiert blieben und wie wenig insgesamt das Listsche Erziehungszollsystem die Tarifpolitik der sozialökonomisch konservativen Regierungen beeinflußte. Ausgelöst wurde der große textilgewerbliche Tarifstreit durch die Baumwollspinnerei, die innerhalb der Textilindustrie den größten Mechanisierungsgrad aufwies und deren Zentren im Rheinland, in Sachsen, vor allem aber auch in Baden und Württemberg lagen 109 . Im Gegensatz zum Leinen- und Wollgarn, wo der Zollverein noch einen hohen Selbstversorgungsgrad besaß, konnten trotz der zunehmenden Neugründungen von Spinnereien in den vierziger Jahren nur etwa 30-40% des Baumwollgarns im Zollverein selbst produziert werden, während insbesondere feinere und teurere Sorten meist aus England bezogen werden mußten 110 . Angesichts des großen Bedarfs blieben die Garnzölle des Vereins im Unterschied zu vielen Fertigwaren des Textilbereichs relativ liberal. Ähnlich wie die Eisenhüttenunternehmer forderten die Spinnereibesitzer daher seit Ende der dreißiger Jahre, den Ausbau der zollvereinsländischen Baumwollspinnerei durch höhere Zölle zu forcieren und die überaus hohe Importquote zum Vorteil der gesamten deutschen Wirtschaft zu senken. Auf den Zollvereinskonferenzen der vierziger Jahre machten sich insbesondere Baden und Württemberg zu Fürsprechern dieser Forderungen. Dabei hatten beide Regierungen bei ihrem Zollvereinsbeitritt die bestehenden Garnzölle noch als zu hoch kritisiert, das rasche Aufkommen eigener großer Baumwollspinnereien ließ sie jedoch jetzt auf einen protektionistischen Kurs einschwenken. Angesichts wachsender schutzzöllnerischer Bestrebungen in den süddeutschen Kammern und in der Öffentlichkeit 1841 erschien Lists grundlegende Schrift »Das nationale System der politischen Ökonomie« - trugen die süddeutschen Staaten auf der Generalkonferenz des Jahres 1842 ihre tarifpolitischen Forderungen mit größerem Nachdruck vor. Baden und Württemberg verlangten jetzt eine drastische Erhöhung des Baumwollgarnzolls. Bayern schloß sich mit gemäßigteren Vorschlägen an 1 1 1 . Diese Forderungen stießen bei zahlreichen Staaten auf erbitterten Widerstand. Vor allem Preußen und Sachsen lehnten eine deutliche Erhöhung der Garnzölle ab, weil die weit verbreitete Weberei in hohem Maße auf den Bezug kostengünstiger Garne angewiesen war 1 1 2 . Die hessischen Regierungen nahmen in der Baumwollgarnfrage unterschiedliche Positionen ein. Nassau, das über kein bedeutendes Baumwollgewerbe verfugte, betrachtete die gesamte Streitfrage der Textilzölle im Grunde lediglich unter fiskalischen Aspekten 113 , wollte gemäßigte Zollanhebungen akzeptieren, lehnte aber im Falle einer Baumwollgarnerhöhung die Gewährung von Ausfuhrprämien, durch die die Exportinteressen der 188

Weberei berücksichtigt werden sollten, aus finanziellen Erwägungen ab 1 1 4 . Damit stand das Herzogtum ebenso wie die von seinem Bevollmächtigten vertretene und freihändlerisch orientierte Freie Stadt Frankfurt den preußischen Textilzollvorstellungen weit näher als denen der Schutzzollpartei 115 . Auch die kurhessische Regierung distanzierte sich deutlich von den protektionistischen Bestrebungen Badens und Württembergs und wollte bestenfalls eine mäßige Zollerhöhung zugestehen. Die Rücksichtnahme auf die importabhängige, 1846 etwa 1500 Personen beschäftigende Weberei besaß für die Kasseler Regierung eindeutigen Vorrang vor den Interessen der Baumwollspinnerei, die im Lande erst in sehr bescheidenen Ansätzen vorhanden war 1 1 6 . Wenn die Regierung im Rahmen der Schutzzolldebatte den Grundsatz bejahte, die inländische Wirtschaft durch höhere Zölle zu schützen, so ging es ihr dabei in erster Linie um Erhaltung bestehender Gewerbezweige. Dagegen wurde den sozialkonservativen Anschauungen entsprechend die künstliche Schaffung neuer Industriezweige abgelehnt. Das Listsche Konzept der Erziehungszölle und der forcierten Industrialisierung als Lösung der sozialen Probleme hielt die kurhessische Staatsführung »in jeder Beziehung für ein höchst bedenkliches Wagstück, wobei die wichtigsten Interessen aufs Spiel gesetzt würden«. Das Schutzzollprogramm Lists beruhe, so führte man weiter aus, auf »unrichtigen Grundprincipien, worüber alle tüchtigen Lehrer der Staatswissenschaften einverstanden seyen. Nicht durch Beschränkung des Verkehrs mit anderen Ländern, sondern durch dessen möglichste Ausdehnung werde die eigene Betriebsamkeit gehoben, und die Blüthe des Handels bringe auch die der Gewerbe mit sich, wie die Erfahrung aller Zeiten lehre. Eigentlichen Schutzzöllen würde man gar nicht bedürfen, wenn man nicht durch die Einrichtungen anderer Länder dazu sich gezwungen sehe, hierin liege aber auch das Maß für ihre Anwendung. Es würde mit den Handlungen einsichtsvoller Regierungen nicht in Einklang zu bringen seyn, wenn sie sich durch das Geschrei derer, die nur ihre Sonderinteressen befolgten, verleiten lassen wollten, über dieses Maaß hinaus zu einem rücksichtslosen Absperrungssystem überzugehen« 117 . Ebenso wie die preußische Bürokratie sprach sich die Kasseler Regierung dafür aus, grundsätzlich am bestehenden Vereinstarif festzuhalten und Änderungen nur in begründeten Fällen vorzunehmen. Für eine völlige protektionistische Umgestaltung des Vereinstarifs konnte die kurhessische Regierung auch deshalb nicht gewonnen werden, weil sie wie Berlin Rücksicht auf die freihändlerisch orientierten norddeutschen Küstenstaaten nehmen wollte, deren Zollvereinsbeitritt von weiten Teilen der nordhessischen Wirtschaft gewünscht wurde und der nicht durch eine protektionistische Richtungsänderung der zollvereinsländischen Handelspolitik erschwert werden sollte 118 . Anders als die hessischen Nachbarstaaten stellte sich Darmstadt bei den Textilzöllen stärker auf die Seite der süddeutschen Schutzzöllner, obwohl 189

auch hier die Baumwollspinnerei erst in bescheidenen Anfängen stand und die Weberei noch weit mehr Erwerbspersonen beschäftigte 1 1 9 . Die hessendarmstädtische Regierung hatte 1842 und 1843 die weitgehenden badischwürttembergischen Garnzollanträge noch abgelehnt 1 2 0 , auf dem Höhepunkt des vormärzlichen Tarifstreites betonte sie jedoch vor der Karlsruher Generalkonferenz des Jahres 1845 ausdrücklich die Notwendigkeit einer Zollerhöhung bei Baumwollgarn und neigte auch hinsichtlich des Ausmaßes eher zu den süddeutschen Staaten 1 2 1 . Dieses Verhalten war vor allem auf zwei Faktoren zurückzufuhren. Z u m einen wollte die Darmstädter Regierung Wege ebnen, u m die großen Kontrahenten - Preußen und Sachsen auf der einen, die süddeutschen Staaten auf der anderen Seite - zu einem Kompromiß zu führen. Z u m anderen spielten die Stellungnahmen der beiden Kammern ebenfalls eine wichtige Rolle in der hessen-darmstädtischen Tarifpolitik. Während die nassauischen Kammern vor 1848 lediglich über die naheliegende Eisenzollfrage diskutierten und im kurhessischen Landtag die gesamte Schutzzollfrage kaum Resonanz fand, befaßten sich beide hessendarmstädtische Kammern ausführlich mit den Fragen des Vereinstarifs. Diese zollpolitischen Debatten, vor allem die des Jahres 1845, zeigten, daß sich ein kleiner Teil des hessen-darmstädtischen Liberalismus von den alten Leitbildern einer zu bewahrenden agrarisch-kleingewerblichen Bürgergesellschaft mittlerer Existenzen zu entfernen begann und jetzt offen auf den Listschen Kurs einer durch Erziehungszölle forcierten Industrialisierung einschwenkte. Vor der zweiten Kammer plädierte vor allem der liberale Eisenindustrielle Frank, der in wirtschaftspolitischer Hinsicht regsamste Abgeordnete der vierziger Jahre, dafür, durch Schutzzölle nach außen und eine großangelegte Wirtschaftsforderung im Innern die Industrialisierung in Deutschland zu beschleunigen und auf diese Weise die sozialen Probleme zu lösen 1 2 2 . Selbst vor der ersten Kammer forderte der oberhessische Standesherr Otto Graf von Solms-Laubach, ein eifriger Fürsprecher Listscher Ideen, eine gemeinsame Industrialisierungspolitik des Zollvereins, »um der Verdienstlosigkeit, dem immer mehr um sich greifenden Pauperismus möglichst zu steuern« 1 2 3 . Bei beiden Schutzzollprotagonisten traten die wirtschaftsnationalen Komponenten des Listschen Systems 1 2 4 , die Zusammenhänge von industrieller Potenz und der politischen Macht einer geeinten Nation, in den Forderungen nach einer neuen nationalen Handelsund Industrialisierungspolitik offen hervor. Angesichts der schwierigen Situation, in der sich die hessen-darmstädtische Wirtschaft Mitte der vierziger Jahre befand, fielen die protektionistiT sehen Argumente in beiden Kammern auf fruchtbaren Boden. Sogar die noch stark vertretenen Grundbesitzer ließen sich offenbar von der Listschen These beeindrucken, »daß jede Maßregel, die zur Hebung der Industrie in Deutschland ergriffen wird, den Grundeigenthümern und der ackerbautreibenden Classe indirect einen noch größeren Vortheil zuwen190

det, als es der directe ist, welcher für die industriellen Classen daraus entspringt« 12S . In einer einstimmig angenommenen Adresse forderten beide Kammern die Regierung schließlich auf, sich bei der bevorstehenden Karlsruher Generalkonferenz für einen größeren Schutz der Leinen- und Baumwollspinnerei einzusetzen und im Falle einer Durchsetzung höherer Garnzölle die Interessen der Weber durch Gewährung von Rückvergütungen bei der Ausfuhr von Geweben zu wahren 126 . Dennoch läßt sich aus dieser eindeutigen Abstimmung noch nicht schließen, daß das hessen-darmstädtische Bürgertum nun die rasche ökonomische Modernisierung nach englischem Vorbild mit all ihren Folgen voll bejahte. Gewiß zielten die Garnzollforderungen darauf ab, den Aufbau moderner Spinnereibetriebe zu beschleunigen, doch andererseits zeigten die ausführlichen Debatten, daß die meisten Abgeordneten ihre Schutzzollforderungen zunächst einmal an den Interessen einheimischer Branchen orientierten und demgemäß dem Schutz des Leinengewerbes Priorität einräumten. Der moderne Ansatz dieses Bestrebens lag zweifellos darin, daß die hessen-darmstädtischen Abgeordneten die Bedeutung der Maschinenspinnerei erkannten. Es erschien ihnen nicht länger tragbar, daß ein Halbfertigprodukt, dessen Rohstoff im eigenen Lande gewonnen werden konnte und das in Deutschland weiterverarbeitet wurde, im Ausland produziert und von deutschen Konsumenten importiert wurde. Durch die forcierte Entwicklung der Maschinenspinnerei sollten die deutschen Weber mit eigenen gleichwertigen Garnen versorgt, die Konzentration des Produktionsprozesses erleichtert und das Leinengewerbe auf neue Grundlagen gestellt werden, die seine Existenz sichern halfen 127 . Diese Konzeption entsprach somit mehr einer als unumgänglich erkannten Anpassungsintervention zur Stützung alteingesessener Gewerbe als einem vehementen Bekenntnis zur schnellen Industrialisierung. Die gleichzeitig geforderte Anhebung der Baumwollgarnzölle war eher ein Nebenprodukt der ganzen Debatte, das vor allem durch das Insistieren der List-Anhänger eine größere Berücksichtigung fand. Den noch vorhandenen Bedenken gegen die künstliche Schaffung eines neuen Industriezweiges hielt Solms-Laubach entgegen, daß von der inzwischen unentbehrlich gewordenen Baumwolle »wenigstens der Arbeitsverdienst Deutschland möglichst erhalten werde, daß also die Baumwollenmanufactur in all ihren Zweigen Schutz und Aufmunterung erhalte, damit unsere unbeschäftigten Armen Arbeit und Nahrung daraus ziehen« 128 . Die Einmütigkeit, mit denen die hessen-darmstädtischen Kammern die Schutzzollforderungen unterstützten, war vor allem die Folge der schweren ökonomischen Krisenerscheinungen. Die Haltung liberaler Abgeordneter hing freilich auch aufs engste mit den nationalen und konstitutionellen Implikationen der Schutzzollfrage zusammen. Als das deutsche Bürgertum seit Beginn der vierziger Jahre mit seinen nationalen und konstitutionellen Zielsetzungen wieder stärker hervortrat, erwies sich besonders die 191

Tarifdebatte des Zollvereins als ein »wichtiges Element der politischen Bewegung« 1 2 9 . Die nicht zuletzt durch den inneradministrativen Streit obrigkeitsstaatlicher Kontrolle entglittene Tarifdiskussion stellte einen geeigneten Weg dar, »auf dem das oppositionelle Bürgertum seine Forderung nach einer Reform des bürokratischen Staates« artikulieren konnte 130 . Ausgehend von der Kritik an der mangelnden Leistungsfähigkeit dieses bürokratischen Staates 131 , forderten die Schutzzöllner eine entsprechende Ausdehnung des staatlichen Aufgabenbereichs, die freilich zugleich »das Verlangen nach verstärkter Einflußnahme des Bürgertums auf die politischen Entscheidungsprozesse« einbezog 132 . In Hessen-Darmstadt hatte die zweite Kammer schon seit 1839 insbesondere im Gefolge des heftig angefeindeten Handelsvertrags mit Holland auf mehr Mitsprache in den Tariffragen gedrängt. Die Intensivierung dieser Forderungen sollte zum einen die Position der Kammer gegenüber der eigenen Regierung festigen, um die zustehenden Rechte voll ausschöpfen zu können, zum anderen aber war diese Haltung ebenso wie in Süddeutschland zugleich »ein Beitrag zur Sicherung des erreichten Standes politischer Emanzipation gegenüber einer versuchten Bevormundung durch die preußische Bürokratie« 133 . Der von der Hegemonialmacht durchgesetzte, aber wenig erfolgreiche Handelsvertrag mit Holland, die ablehnende Haltung Preußens gegenüber vielen protektionistischen Tarifanträgen sowie das für Hessen-Darmstadt schmerzhafte preußische Verhalten in der Rheinschiffahrtspolitik und bei den Übergangssteuern 134 verdrängten vorübergehend allzu euphorische Beifallsbekundungen zur preußischen Handelspolitik zugunsten einer vorsichtigeren, kritischeren Einschätzung, die allerdings nie das Ausmaß der süddeutschen Polemik gegen Preußen erreichte. Die positive Einstellung zur preußischen Führungsrolle im Zollverein verschwand in diesem Zusammenhang nicht völlig, aber die Notwendigkeit wirksamer Kontrollen wurde um so eindringlicher beschworen, zumal die erhoffte Konstitutionalisierung im größten Vereinsstaat weiter auf sich warten ließ. Den Schutzzollforderungen der Kammern entsprechend befürwortete die hessen-darmstädtische Regierung auf der Karlsruher Generalkonferenz die Zollerhöhung auf Baumwollgarn sogar in dem von den süddeutschen Staaten gewünschten Ausmaße, falls auch dem Leinengewerbe ein gleichrangiger Schutz eingeräumt werde. Dieses Bekenntnis zu einer drastischen Zollerhöhung wurde allerdings durch die angedeutete Bereitschaft, auch die gemäßigteren Tarifvorstellungen Sachsens zu akzeptieren, wieder etwas abgeschwächt 135 . Im Grunde stand die hessen-darmstädtische Regierung ebenso wie die kurhessische und die nassauische allen Bestrebungen fern, die »das System, auf dem der Vereins-Zolltarif bisher beruhte«, umzustoßen beabsichtigten 136 . Ihr Ziel war es vielmehr, im ausgebrochenen Tarifstreit versöhnend zwischen dem Norden und Süden des Zollvereins zu wirken, eine Aufgabe, für die sich Hessen-Darmstadt aufgrund seiner 192

geographischen Lage immer wieder prädestiniert sah. Die in der Propaganda der süddeutschen Schutzzollbewegung angedeutete Möglichkeit einer Spaltung des Zollvereins könne, so betonte du Thil, doch keine Regierung wollen, am wenigsten die hessen-darmstädtische, die sich schließlich als erste dem preußischen Zollsystem angeschlossen habe. Er vertrat daher die Ansicht, daß vor allem im Interesse der Eintracht im Zollverein einige, das bestehende Tarifsystem nicht sprengende Zollerhöhungen unumgänglich seien 137 . Diese Einschätzung setzte sich Mitte der vierziger Jahre auch innerhalb der preußischen Bürokratie durch, die nun immer stärker unter den Druck eines auch über die Schutzzollfrage zu politischer Mitwirkung drängenden Bürgertums geriet 138 . Das preußische Einlenken wurde dabei vor allem durch das 1844 errichtete und den schutzzöllnerischen Interessen der Industrie mehr Beachtung schenkende Handelsamt begünstigt 139 . Schon 1845 zeigte sich Preußen in der Garnfrage konzessionsbereit, doch erst 1846 gelang auf der Basis der Berliner Kompromißvorschläge eine Einigung. Die süddeutschen Staaten werteten die vereinbarte Erhöhung des Baumwollgarnzolls von 2 auf 3 rtl. allenfalls als Teilerfolg. Dagegen begrüßten die hessischen Regierungen, also auch Darmstadt, ausdrücklich die preußischen Vermittlungsvorschläge, die den Tarifstreit vorerst wieder in gemäßigtere Bahnen lenkten 140 . Auch die Zollerhöhungen bei Leinengarn und einigen Leinenwaren 141 , die im Grunde hessische Interessen weit mehr berührten, wurden von den hessischen Regierungen akzeptiert. Nassau, das die gesamte Textilzolldebatte mit wenig Interesse verfolgte, und Kurhessen hatten die süddeutschen Garnzollvorstellungen ohnehin von Anfang an als überzogen eingestuft. Nachdem der Kurfürst und seine Minister schon zuvor aus Rücksicht auf die Handspinnerei die von einigen Beamten vorgeschlagene Kapitalhilfe für den Aufbau einer Maschinenspinnerei verworfen hatten, lehnten sie nun auch innerhalb des Zollvereins ein Konzept ab, das durch eine drastische Zollanhebung die englischen Kostenvorteile bei Errichtung und Betrieb einer Leinenspinnerei egalisieren, im Zollverein Investitionsanreize schaffen und langfristig zum Vorteil der Weberei die deutsche Selbstversorgung mit Garn ermöglichen sollte. Der kurhessische Bevollmächtigte erklärte vor der Generalkonferenz, das Leinengewerbe könne nicht durch Schutzzölle, sondern vor allem durch Verbesserungen im Flachsbau, der Handspinnerei und der Weberei sowie durch Handelsverträge mit alten Abnehmerländern gehoben werden 142 . Im Unterschied zu dieser restaurativen, die Notwendigkeit rascher Strukturwandlungen negierenden Konzeption vertrat die hessen-darmstädtische Regierung eine wesentlich modernere Haltung. Sie sah im Aufbau der Maschinenspinnerei eine Voraussetzung für die unumgängliche Modernisierung des Leinengewerbes, doch zugleich fürchtete sie mit gewissem Recht, daß zu hohe Garnzölle die Exportchancen der auf engli193

sehe Importe angewiesenen Weberei stark beeinträchtigen könnten. Folglich gab auch sie sich ohne großen Widerstand mit den viel gemäßigteren preußischen Vorschlägen zufrieden. Während Preußen aber in der Folgezeit den gemäßigten Schutzzoll durch eine intensive GewerbefÖrderung ergänzte und Unternehmer durch gezielte innere Maßnahmen zum Aufbau von Leinenspinnereien ermunterte 143 , blieb ein solcher, in einzelnen Regionen durchaus erfolgreicher Ausgleichsversuch zwischen den unterschiedlichen Interessen von Spinnerei und Weberei in Hessen-Darmstadt und erst recht in Kurhessen aus. Diese Versäumnisse bei den inneren Maßnahmen offenbarten eine Hauptschwäche der gesamten wirtschaftspolitischen Initiativen in der Zollvereinspolitik der hessischen Regierungen. Was ihren Vorstößen zugunsten einheimischer Branchen immer wieder fehlte, war eine entsprechende Ergänzung in der inneren Wirtschaftspolitik. Weder höhere Zölle noch Handelsverträge allein konnten jene schweren Anpassungskrisen entschärfen, denen viele hessische Branchen in der Übergangszeit ausgesetzt waren. Auch anderen Staaten gelang diese Koordination von Tarifpolitik und innerer Wirtschaftspolitik nicht in aller Vollkommenheit, aber die badische, württembergische, sächsische und preußische Tarifpolitik war bei allen noch vorhandenen traditionalen Elementen letztlich doch stärker in die Zukunft gerichtet. Dagegen überwogen bei den hessischen Staaten, besonders aber bei Kurhessen und Nassau, zweifellos noch die restaurativen Elemente, bei denen es vorrangig um die Erhaltung alteingesessener Gewerbezweige ging. Diese Politik entsprach freilich weitgehend der innerhalb des hessischen Raumes von der öffentlichen Meinung artikulierten tarifpolitischen Interessenlage. Im Unterschied zu Preußen oder Baden gab es in den vierziger Jahren in Hessen eben kaum fortgeschrittenere Branchen, deren Interessen auf eine moderne tarifpolitische Konzeption hinausliefen. Auch die Schutzzollpropaganda der Revolutionsjahre, die vor allem in Nassau und in den südlichen Provinzen Hessen-Darmstadts weite Teile der öffentlichen Meinung erfaßte 144 , orientierte sich primär noch an der Bestandssicherung der alteingesessenen Gewerbezweige. Letztlich basierte die von den hessischen Regierungen betriebene Tarifpolitik weniger auf festen ordnungspolitischen Prinzipien, sondern vor allem auf der vorgegebenen ökonomischen Interessenlage ihrer jeweiligen Wirtschaft. Selbst Kurhessen, das die Listschen Vorstellungen eines Erziehungszolls strikt verwarf und die süddeutschen Baumwollgarnzölle ablehnte, verlangte gemeinsam mit den süddeutschen Staaten eine Anhebung der Wollgarnzölle. Dieser am preußischen Veto gescheiterte Vorstoß sollte nicht mehr nur der Handspinnerei zugute kommen, sondern zugleich auch die modernen Betriebe des Hersfelder Wollgewerbes begünstigen 145 . Mit der Forderung nach höheren Zöllen fur Lederwaren 146 oder chemische Produkte 147 haben hessische Regierungen schon vor 1850 einzelne größere Gewerbebetriebe tarifpolitisch zu unterstützen versucht. Allerdings han194

delte es sich auch hier meist um altgewachsene inländische Branchen, die langsam aus dem Bereich des Handwerks hinausdrängten. Die durch Zölle forcierte »künstliche« Schaffung neuer Industriezweige wurde jedoch in den meisten Fällen strikt abgelehnt. Der bestehende Zollvereinstarif sollte nach Ansicht der hessischen Regierungen schon aus fiskalischen Gründen nicht völlig umgekrempelt werden, aber er bot Raum für immanente Reformen im Interesse einheimischer Branchen. Obwohl die hessischen Regierungen nicht zu den großen Wortführern des Tarifstreites gehörten, versuchten sie weniger aufgrund eigener Einsicht, sondern meist erst aufgrund innenpolitischen Drucks besonders in den Krisenjahren vor 1850 mehrfach, den vorhandenen Spielraum auszuloten. Diese Bemühungen fielen ihnen um so leichter, da sie im Unterschied zu Maßnahmen der inneren Wirtschaftspolitik kaum mit finanziellen Folgelasten für den Einzelstaat verbunden waren. Darüber hinaus wurde die jeweilige Regierung auch innenpolitisch in ein besseres Licht gerückt, je mehr sie die Sorge um das Wohl der eigenen Staatsbürger vor dem Forum des großen Zollvereins unter Beweis stellte. Die vor 1848 zwischen der Hegemonialmacht und den hessischen Staaten ausbrechenden Tarifkonflikte verliefen sowohl auf Regierungsebene als auch auf seiten der öffentlichen Meinung in wesentlich ruhigeren Bahnen als jene, welche die süddeutschen Staaten mit Preußen ausfochten. Im Unterschied zu Baden und Württemberg fanden die hessischen Staaten viel weniger Gefallen an weitgehenden Schutzzollforderungen. Darüber hinaus aber begünstigten auch die Nähe Preußens und dessen große Bedeutung als Handelspartner eine engere Anlehnung an die preußischen Tarifvorstellungen. All dies ließ anders als im Süden Gedanken an eine Sprengung des Zollvereins kaum aufkommen. Die hessischen Staaten sahen es vielmehr wegen ihrer Mittellage als eigene Chance und Aufgabe an, im großen Streit Vermittlungsfunktionen auszuüben und dem schwelenden Konflikt seine sprengende Wirkung zu nehmen. Der Ausfüllung einer solchen, vor allem von Darmstadt reklamierten Rolle setzte allerdings das verhältnismäßig geringe Gewicht der hessischen Staaten gewisse Grenzen, zumal es, von Ausnahmen - etwa in der Eisenzollfrage - abgesehen, nicht zu einer engen tarifpolitischen Kooperation der hessischen Staaten kam, die ihr Gewicht im Zollverein entscheidend gestärkt hätte. Die hessischen Regierungen verfolgten somit die sowohl von traditionalen wie modernen Elementen bestimmten Schutzzolldebatten keineswegs in dem Gefühl völliger Machtlosigkeit. Auch diese kleineren Staaten bemühten sich bei etlichen Fragen eifrig, ihre Interessen zu formulieren und zur Geltung zu bringen. Viele eigenständige Tarifanträge waren freilich innerhalb des Gesamtvereins nicht durchzusetzen, besonders dann nicht, wenn die Unterstützung der Hegemonialmacht fehlte. Wesentlich leichter fiel es den hessischen Staaten, unerwünschte tarifpolitische Veränderungen durch den Einsatz des Vetorechts zu blockieren. Aber auch dieses 195

letzte Mittel einzelstaatlicher Entscheidungsfreiheit besaß seine Grenzen in den hessischen Abhängigkeiten von der politischen, ökonomischen und fiskalischen Potenz der Hegemonialmacht. Dies zeigte sich vor allem auf dem Gebiet der internationalen Vertragspolitik, wo es den hessischen Staaten nie gelang, das angedrohte Veto bis zur letzten Konsequenz durchzuhalten.

2.3.

Mittelstaaten und internationale Handelspolitik. Die Stellung der hessischen Staaten zu den Handelsverträgen des Zollvereins

Aus der Sicht der Klein- und Mittelstaaten bestand zweifellos einer der großen Vorteile des Zollvereins darin, daß nun den großen europäischen Handelsmächten ein gleichwertiger Partner gegenüberstand, über den auch kleinere deutsche Staaten in stärkerem Maße von der internationalen Handelsvertragspolitik profitieren konnten 1 4 8 . Allerdings wurde dieser Vorteil mit einzelstaatlichen Beschränkungen bezahlt, die den souveränitätsbewußten Klein- und Mittelstaaten nicht immer leicht fielen. Die hegemoniale Position Preußens trat auf kaum einem anderen Gebiet des Vereins so stark hervor wie bei der Vertragspolitik, wo Preußen von Anfang an die größten Erfahrungen, Verbindungen und Machtmittel in den Zollverein einbrachte. Als größte Macht des Vereins führte Preußen nahezu sämtliche Handelsvertragsverhandlungen mit auswärtigen Staaten 149 . Zwar wurden die Partnerstaaten in der Regel vor Vertragsabschluß konsultiert, und die neuen Verträge konnten erst nach allseitiger Zustimmung in Kraft treten, dennoch blieb der reale Handlungsspielraum kleinerer Staaten bei diesem Verfahren sehr eingeengt. Durch den Hinweis auf die Notwendigkeit rascher Entscheidungsprozesse konnte Preußen nur zu oft widerstrebende Partner den angeblichen Sachzwängen internationaler Handelspolitik unterwerfen und vorgetragene Bedenken gegen einzelne Vertragsbestimmungen zumindest bis 1848 relativ schnell zurückweisen. Dies zeigte sich bereits bei dem ersten großen Handelsvertrag des Zollvereins, den Preußen Ende der dreißiger Jahre mit Holland aushandelte. Holland, das »die Zerrissenheit des deutschen Hinterlandes gleichsam als eine tragende Voraussetzung« in seine Handelspolitik eingeplant hatte 150 , war seit 1830 durch die Rheinschiffahrtsakte, durch die belgische Revolution mit all ihren Folgen und nicht zuletzt durch die Gründung des Zollvereins in seiner wirtschaftspolitischen Machtstellung gegenüber dem deutschen Hinterland entscheidend geschwächt worden 1 5 1 . Nach den anfänglichen gegenseitigen handelspolitischen Nadelstichen entspannte ein 1837 von Preußen ausgehandelter Schiffahrtsvertrag die Beziehungen zwischen der alten Handelsmacht und dem gerade gegründeten Zollverein. Bei den daran anschließenden Verhandlungen über einen umfassenden Han196

delsvertrag erwies sich Holland, das trotz des Schiffahrtsvertrages das eigene Konzessionspotential weitgehend bewahrt hatte, als der wesentlich geschicktere Partner. Es forderte als Gegenleistung für eigene Zollsenkungen umfangreiche Exporterleichterungen, insbesondere im Hinblick auf die Zuckerzölle. Diese hatte Preußen 1831 angehoben, um die rheinische Zuckerindustrie vor der holländischen Konkurrenz zu schützen. Die holländischen Fabrikanten hatten dann diese Maßnahme dadurch unterlaufen, »daß sie das um etwa die Hälfte niedriger belastete Zwischenprodukt so weit verfeinerten, bis dieses dem Melis, einem Endprodukt der Raffination, glich«152. Nach den holländischen Zollerhöhungen im Gefolge der Zollvereinsgründung verständigten sich die Vereinsstaaten jedoch 1835 darauf, das als Lumpenzucker bezeichnete Zwischenprodukt mit dem gleichen Satz zu besteuern wie den Melis. Die Revision dieser Kampfmaßnahme wurde nun zum Hauptanliegen der holländischen Vertragsstrategie. Bereits kurz nach Abschluß des Schiffahrtsvertrages teilte Preußen den übrigen Zollvereinsstaaten die holländischen Wünsche mit. Während die nassauische Regierung einem Handelsvertrag mit dem befreundeten Holland nicht im Wege stehen wollte 153 , brachte Hessen-Darmstadt schon frühzeitig schwere Bedenken gegen das Vertragsprojekt vor. Zwar sprach sich die Darmstädter Regierung in ihrer Stellungnahme vom Oktober 1837 grundsätzlich für bessere Beziehungen zu Holland aus, aber sie lehnte den entscheidenden Teil der holländischen Anträge in aller Deutlichkeit ab. Die geplante Herabsetzung der Kolonialwarenzölle begünstigte ihrer Meinung nach allein den holländischen Zwischenhandel, schadete dagegen dem deutschen, nicht zuletzt dem Mainzer Handel und beeinträchtigte darüber hinaus die fiskalischen Interessen des Zollvereins. Auch die holländischen Gegenleistungen, insbesondere hinsichtlich der Wein- und Getreidezölle, wurden von der hessen-darmstädtischen Regierung als unzureichend angesehen, so daß der Vertrag nach dem bisherigen Stand der Sondierungen ihrer Ansicht nach nicht den Prinzipien der Gegenseitigkeit entsprach und in dieser Form keine hessen-darmstädtische Zustimmung erwarten durfte 154 . Ähnlich ablehnend verhielt sich anfangs auch die kurhessische Bürokratie 155 . Dagegen war Preußen weit stärker geneigt, den holländischen Wünschen entgegenzukommen, gerade auch in der Zuckerzollfrage. Anders als in Darmstadt befürchtete man in Berlin von einem solchen Schritt keine fiskalischen Einbußen, vielmehr argumentierte man umgekehrt, daß die Zollsenkung über steigende Importe sogar zu vermehrten Zolleinnahmen führen werde 156 . Gegen diese Pläne liefen nun die Besitzer der Zuckerraffinerien und Rübenzuckerfabriken im gesamten Zollverein Sturm. Insbesondere die Rübenzuckerindustrie, die sich nach dem durch das Ende der Kontinentalsperre erfolgten Einbruch seit den dreißiger Jahren wieder schneller entwickelte, fürchtete wegen des billigeren holländischen Kolonialzuckers um ihre künftigen Wachstumschancen157. 197

Während die preußische Bürokratie diese Bewegung mit wenig Verständnis aufnahm und entgegen allen Warnungen bedeutender Repräsentanten der eigenen Wirtschaft die Vertragsverhandlungen mit »fast unverständlicher Hast« fortführte 158 , war Hessen-Darmstadt nun derjenige Staat, der sich weiterhin den preußischen Plänen am konsequentesten entgegenstellte und insbesondere die Forderungen der Rübenzuckerindustrie entschlossen verteidigte. Die Darmstädter Regierung begründete die Ablehnung der preußischen Vorschläge vor allem damit, daß die beabsichtigte Zollsenkung bei Lumpenzucker »die kaum begonnene Runkelrüben-Zukker-Fabrication im Großherzogthum ersticken und vernichten und zugleich dadurch die Agricultur-Interessen auf das empfindlichste berühren wird« 1 5 9 . Zugleich deutete sie an, daß sie bei einem ihr aufgenötigten Vertragsabschluß in jedem Falle der aus fiskalischen Gründen vom Zollverein geplanten Besteuerung der Rübenzuckerfabrikation ihre Zustimmung verweigern müßte. Auf keinem anderen Gebiet der vormärzlichen Tarifpolitik trat die Darmstädter Regierung mit solcher Vehemenz für die Interessen eines einheimischen Wirtschaftszweiges ein wie bei der eng mit der Landwirtschaft verbundenen Rübenzuckerfrage. Begünstigt wurde diese Politik nicht nur durch die Kammern, die schon aus Rücksicht auf die agrarischen Interessen für den Schutz dieser noch in den Anfängen stehenden Industrie plädierten 160 , vielmehr wurde die hessen-darmstädtische Haltung in der Rübenzuckerfrage nicht zuletzt durch die Tatsache bestimmt, daß »die Mehrheit der einflußreichsten Staatsbeamten Teilnehmer und Aktionäre« einiger Rübenzuckerfabriken waren, darunter auch Finanzminister Hofmann 1 6 1 . Über mehrere Monate hinweg kämpfte die hessen-darmstädtische Regierung gegen die preußischen Pläne an, so daß Eichhorn schon jenes besondere Vertrauensverhältnis gefährdet sah, »welches wir besonders auf die Großherzoglich Hessische Regierung in den Vereinsverhältnissen zu setzen gewohnt sind« 1 6 2 . Erst als alle anderen Zollvereinsstaaten auf die preußische Linie einschwenkten, wollte Hessen-Darmstadt, nicht zuletzt aus Rücksicht auf die Beziehungen zu Preußen, die Vertragspolitik nicht mehr aufhalten. Aber auch jetzt sah man die geplanten Tarifänderungen immer noch als verhängnisvoll an 163 , obwohl aus Berlin hervorgehoben wurde, daß Preußen als Staat mit der größten Rübenzuckerfabrikation die Interessen dieses Zweiges genügend beachtet habe 164 . Im Falle Nassaus, das den Vertrag wegen der Wein- und Getreidezollsenkungen begrüßte 165 , und Kurhessens fiel es Preußen leichter, die Regierungen zur Annahme des Handelsvertrages zu bewegen. Kurhessen verlangte lediglich, daß die Zuckerzollsenkung auch bei Einfuhren über die nördliche Vereinsgrenze wirksam werde und nicht ausschließlich auf den Rhein beschränkt bleibe 166 . Nachdem Berlin diese Forderung erfüllt und 198

den Darmstädter Widerstand gebrochen hatte, stand der Ratifikation des am 21. Januar 1839 unterzeichneten Handelsvertrages nichts mehr im Wege 167 . Die hessen-darmstädtische Regierung hatte noch bis zum Schluß versucht, die Interessen der Rübenzuckerfabriken zu wahren. Sie wollte die Ratifikation und die Bekanntgabe des Vertrages möglichst lange hinauszögern, um dem Absatz des Rübenzuckers aus der Produktionskampagne 1838/39 nochmals alle Vorteile des alten Zollsatzes zukommen zu lassen 168 . Schon bald nach Inkrafttreten der Vertragsbestimmungen zeigte sich, daß die Bedenken Hessen-Darmstadts und der gesamten deutschen Zuckerindustrie weitgehend berechtigt waren und der erste handelspolitische Schritt, den der noch junge Zollverein auf internationaler Ebene unternahm, nicht gerade als besonders gelungen angesehen werden durfte. Preußen hatte sich als Verhandlungsfuhrende Macht des Zollvereins von den weitaus geschickter operierenden holländischen Unterhändlern einen recht einseitigen Vertrag aufdrängen lassen. Während die geringfügigen holländischen Zollerleichterungen bei Getreide, Wein, Holz, Steinen und einigen Fertigwaren auf der Zollvereinsseite nur wenig Vorteile brachten, kam es in Holland selbst durch das »nahezu unbegreifliche Entgegenkommen« des Zollvereins zu einer wahren Zuckerhausse, unter der sowohl die deutschen Rohrzuckerfabriken als auch die gesamte zollvereinsländische Rübenzuckerindustrie erheblich litten 169 . Die ungleiche Verteilung der Vorteile rief sehr schnell im Zollverein einen Sturm der Entrüstung hervor und führte nicht zuletzt innerhalb Preußens zu heftigen Attacken gegen die Handelspolitik der Berliner Bürokratie. Da diese zahllosen Beschwerden kein Ende nehmen wollten und die erhofften ökonomischen Erfolge weitgehend ausblieben, wurde der Hollandvertrag bereits 1841 vom Zollverein wieder aufgekündigt, was vielfach als erster Sieg der öffentlichen Meinung gegenüber der Handelspolitik der preußischen Bürokratie angesehen wird 1 7 0 . Während die öffentliche Resonanz des Hollandvertrages in Nassau und Kurhessen relativ gering blieb, reihte sich in Hessen-Darmstadt besonders die zweite Kammer in die vorderste Front der Vertragsgegner ein. Schon vor Abschluß des Vertrages hatte der Mainzer Großkaufmann Kertell im Januar 1839 vor allzu engen wirtschaftlichen Bindungen an Holland gewarnt, da dieser Staat allein die Oberherrschaft über den deutschen Handel anstrebe und umfassende Zugeständnisse verlange, ohne größeres eigenes Entgegenkommen zu zeigen 171 . Während eine Minderheit der zweiten Kammer ebenso wie die erste Kammer von einem Handelsvertrag mit Holland Vorteile fur den Wein-, Getreide- und Textilexport erhoffte 172 , teilte die Mehrheit in der zweiten Kammer die Ansicht, »daß ein Handelsvertrag mit Holland niemals im Interesse der Vereinsstaaten liegen kann« 1 7 3 . Die vor allem auch um die Rübenzuckerindustrie besorgte Kammermehrheit verzichtete allerdings auf eine formelle Abstimmung und gab die vorgetragenen Argumente lediglich zur Prüfung an die Regierung weiter 174 . 199

Diese besaß ohnehin eine landständische Ermächtigung zum Abschluß von Handelsverträgen, so daß die hessen-darmstädtischen Kammern eine positive Entscheidung der Regierung ebensowenig verhindern konnten wie die Kammern in Nassau und Kurhessen. Sofort nach Bekanntwerden des Hollandvertrages setzte aber nun in beiden hessen-darmstädtischen Kammern die Diskussion um die Handelspolitik des Zollvereins wieder mit aller Intensität ein. Die Regierung, die sich der Zustimmung zum Handelsvertrag so lange widersetzt, dann aber doch den Gebrauch des Vetorechts gescheut hatte, bemühte sich nun, den Handelsvertrag in ein günstiges Licht zu rücken. Doch sie stieß damit bereits in der ersten Kammer auf Widerspruch, wo insbesondere SolmsLaubach die ungleiche Verteilung der Vorteile hervorhob und dabei in erster Linie die geringen holländischen Zugeständnisse bei Agrarprodukten sowie die fehlende Zollerleichterung für Leinenwaren kritisierte175. Die mehrheitlich regierungsfreundliche zweite Kammer begnügte sich nun aber nicht mehr allein mit einer Kritik des Hollandvertrages, sie zog weitergehende Konsequenzen aus dem Vorgehen des Zollvereins und der Zustimmung der eigenen Regierung. Die mangelnde Berücksichtigung einheimischer Wirtschaftsinteressen verstärkte den Wunsch, den Abgeordneten bei künftigen Tarifentscheidungen größere Mitwirkungsmöglichkeiten einzuräumen, und führte schließlich dazu, das Problem jener Ermächtigung zu überdenken, die der Bürokratie die Entscheidungsfreiheit beim Abschluß von Zoll- und Handelsverträgen gab. Das Bestreben der Regierung, diese Ermächtigung weiterhin beizubehalten und sogar noch auf die inneren Verbrauchssteuern auszudehnen, stieß in der zweiten Kammer auf heftigsten Widerstand. Im Finanzausschuß trat die Majorität zwar noch für die Fortsetzung der Ermächtigung bei Handels- und Zollverträgen mit deutschen Staaten ein, die liberale Minorität lehnte jedoch sogar dieses Zugeständnis mit der Begründung ab, »daß in unsern konstitutionellen Nachbarstaaten die Stände auch in Beziehung auf die Zollverhältnisse ihre vollen konstitutionellen Befugnisse sich vorbehalten haben, daß bis jetzt für den Verein eine Unannehmlichkeit hieraus nicht erwachsen ist, weil überall die Stände diesen Gegenstand mit denjenigen Rücksichten behandelt haben und behandeln werden, die man ihm schuldig ist, ein Gleiches aber gewiß auch von den Ständen des Großherzogthums Hessen zu erwarten ist, wie ihr bisheriges Verhalten und das der Regierung bewiesene unbedingte Vertrauen bewährt hat« 176 . Die Regierung bemühte sich vergeblich, die von ihr angestrebte Fassung des Finanzgesetzes durchzusetzen. Sie hielt durch Finanzminister Hofmann der Kammerforderung entgegen, daß eine größere Einbeziehung einzelstaatlicher Kammern die Entscheidungsprozesse des Gesamtvereins nur behindern würde, ohne echte Verbesserungen zu bringen. Im übrigen aber befinde sich die Ständeversammlung eines einzelnen Vereinsstaates ohnehin nicht auf jenem Stand, der nötig sei, um die Gesamtinteressen des 200

Zollvereins angemessen beurteilen zu können. Gegen solche als anmaßend empfundenen Ansichten liefen nun vor allem die liberalen Abgeordneten Sturm, die in der ständischen Kontrolle der Zollvereinspolitik keinen Hemmschuh, sondern eine wichtige und, wie der Hollandvertrag gezeigt habe, zum Wohle des Landes und seiner Interessen notwendige Angelegenheit sahen. Nach dem Zustandekommen des Zollvereins bestand ihrer Ansicht nach keine dringende Notwendigkeit mehr, der Regierung einen wichtigen Teil der Finanzgesetzgebung alleine zu überlassen 177 . Die Kammermehrheit lehnte zwar schließlich die liberale Forderung nach Aufhebung sämtlicher Ermächtigungen ab, gab aber der eigenen Regierung nur noch bei Verträgen mit deutschen Staaten freie Hand, während sie bei solchen mit außerdeutschen Staaten künftig ein Mitspracherecht ausüben wollte 178 . Dieser nicht allein gegen die eigene Regierung, sondern auch gegen die als anmaßend empfundene preußische Politik gerichtete Kontrollmaßnahme Schloß sich die erste Kammer nur unter großen Bedenken und Widerständen an. Aufgrund der offenkundigen ökonomischen Nachteile des Hollandvertrages traten jedoch beide Kammern dann in einer gemeinsamen Adresse an den Großherzog dafür ein, im Zollverein künftig dahin zu wirken, »daß ohne dringende Veranlassung so wenig als möglich Veränderungen an dem dermaligen Tarife beschlossen werden möchten« 179 . Trotz mehrfachen Drängens konnte die Darmstädter Regierung ihre zweite Kammer auch in den folgenden Jahren nicht dazu bewegen, zu der alten Ermächtigung zurückzukehren 180 . Hatte die Kammer somit auch formell ihre Kontrollfunktionen in den Handelsfragen wieder ausgedehnt, so zeigte bereits die erste Bewährungsprobe der neuen Regelung im Zusammenhang mit dem zwischen Belgien und dem Zollverein abgeschlossenen Handelsvertrag, daß sich die Regierung über die auferlegte Beschränkung ihrer Bewegungsfreiheit hinwegsetzte und die im Finanzgesetz verankerte Mitsprache der Kammern schlichtweg ignorierte. Der Handelsvertrag mit Belgien war neben dem Hollandvertrag derjenige, der vor 1850 die Interessen der hessischen Staaten am stärksten tangierte und hier die größten Debatten auslöste. Weite Teile des rheinischen Wirtschaftsbürgertums, allen voran Hansemann, sahen in der 1830/ 31 erkämpften belgischen Unabhängigkeit überaus wichtige wirtschaftspolitische Chancen. Sie wollten die belgische Annäherung an den Zollverein fordern, um mit Hilfe der geplanten Bahnlinie Köln-Antwerpen und des dortigen Hafens das Monopol der holländischen Seehäfen zu brechen und zudem den politischen Einfluß Frankreichs in dem jungen Nachbarstaat einzudämmen. Obwohl auch von belgischer Seite mehrfach Kooperationsangebote kamen, lehnte es die preußische Regierung aus legitimistischen Gründen zunächst ab, auf die belgische Karte zu setzen, und favorisierte eine handelspolitische Verständigung mit Holland. Erst nach der Unterzeichnung des Londoner Vertrages vom April 1839, der den bel201

gisch-niederländischen Kriegszustand beendete, war auch aus preußischer Sicht die formale Voraussetzung zu einer wirtschaftspolitischen Verständigung mit Belgien gegeben 181 . Unter den Zollvereinsstaaten gehörte Hessen-Darmstadt zu den eifrigsten Verfechtern einer engeren Kooperation mit Belgien. Finanzminister Hofmann regte im Juni 1839 gegenüber dem preußischen Geschäftsträger sogar an, auf die in Deutschland wie in Belgien aufgekommenen Pläne eines belgischen Zollvereinsbeitritts einzugehen und danach Antwerpen zum großen Seehafen des Vereins auszubauen 182 . Der Hauptgrund dieser hessen-darmstädtischen Aktivität, die Preußen nicht sehr willkommen war, lag in der streng antiholländischen Ausrichtung der Darmstädter Handelspolitik. Insbesondere Hofmann, der Aktionär inländischer Rübenzuckerfabriken war und gute Kontakte zum Mainzer Handel besaß, erwies sich immer wieder als scharfer Kritiker der von Preußen eingeschlagenen Hollandpolitik. Der Kölner Publizist Heinrich Pütter, der im Auftrag der belgischen Regierung innerhalb des Zollvereins die antiholländische Front stärken und für die Annäherung an Belgien werben sollte, rühmte sich auf seinen Reisen stets der besonderen Empfehlung des hessen-darmstädtischen Finanzministers 183 . Preußen lehnte den Vorschlag eines belgischen Zollvereinsbeitritts zwar entschieden ab, da der Zollverein aus den Verhältnissen des Deutschen Bundes erwachsen sei, war aber jetzt bereit, auf gegenseitige Handelserleichterungen einzugehen. Belgien, das aufgrund einer schlechten Wirtschaftslage die Anlehnung an einen größeren Wirtschaftsblock suchte, überreichte bereits im August 1839 in Berlin einen Handelsvertragsentwurf. Die folgenden Verhandlungen zogen sich dann über mehrere Jahre hin und gerieten nicht zuletzt durch die Eisenzollfrage immer wieder ins Stocken 184 . Der nassauische Bevollmächtigte betonte auf der Berliner Generalkonferenz des Jahres 1843, seine Regierung könne der geforderten »Begünstigung des belgischen Eisens um so weniger zustimmen«, als der von Preußen angebotene neue Roheisenzoll von 10 sgr. »zum Schutz der inländischen Eisenhütten nicht genügend sein werde« 185 . Auch die kurhessische Regierung trug zahlreiche Sonderwünsche vor, die den Vertragsabschluß erschwerten. Insbesondere versuchte sie, die von Belgien gewünschten Transitzollsenkungen zu benutzen, um zugleich die Transitzölle auf den kurhessischen Straßen weiter zu senken, wobei sie sogar einen Teilerfolg verbuchen konnte 1 8 6 . Ein entscheidender Durchbruch in den Vertragsverhandlungen gelang schließlich erst im Sommer 1844, nachdem gegenseitige Retorsionen die Front der Vertragsbefurworter auf beiden Seiten gestärkt und auch die Eisenzollfragen des Zollvereins eine Lösung gefunden hatten. Das lange Zeit zurückhaltend taktierende Preußen drängte jetzt aber auch deshalb auf einen raschen Vertragsabschluß, weil es eine drohende belgische Annäherung an Frankreich zu verhindern suchte. Der am 1. September 1844 unterzeichnete Vertrag beendete die beiderseitigen Repressalien, enthielt 202

gegenseitige Verkehrserleichterungen und brachte Belgien vor allem die gewünschte Begünstigung bei den Eisenzöllen 187 . Im Gegensatz zum Handelsvertrag mit Holland wurde der mit Belgien innerhalb des Zollvereins sowohl von den Freihändlern als auch vom größten Teil der Schutzzöllner als Erfolg der preußischen Handelspolitik gefeiert, weil er einerseits als politischer Erfolg gegen Frankreich und andererseits als wirtschaftspolitischer Erfolg gegen Holland angesehen werden durfte 1 8 8 . Unzufrieden waren neben Teilen der Baumwoll- und Tuchindustrie zunächst nur die Roheisenproduzenten 189 . Nachdem der Zollverein gerade die Eisenzölle nach langen Auseinandersetzungen angehoben hatte, erhielt die fortgeschrittenere belgische Konkurrenz bereits wieder Vorzugszölle in Höhe von 50%. Die hessische Eisenindustrie kritisierte diese neue Entwicklung mit aller Schärfe, zumal sie die Tariferhöhung des Zollvereins ohnehin als unzureichend betrachtete. Dennoch wagte es selbst die nassauische Regierung nicht, im Interesse der eigenen Eisenindustrie den Belgienvertrag durch den Einsatz des Vetorechts zu blockieren. Staatsminister von Dungern räumte vor der Kammer zwar ein, daß der Vertrag »den besonderen Interessen eines der wichtigsten nassauischen Produktionszweige nicht günstig erscheine«, hielt aber zugleich aus Rücksicht auf allgemeine Handelsinteressen die eigene Zustimmung für unvermeidlich 190 . Auch die kurhessische Regierung akzeptierte trotz partieller Kritik an den belgischen Vergünstigungen bei den Eisen- und Transitzöllen den von wichtigen Teilen der einheimischen Wirtschaft gewünschten Vertrag ohne großen Widerstand, zumal Preußen hinsichtlich der kurhessischen Transitzölle einige Zugeständnisse gemacht hatte 191 . Nach dem Entzug der landständischen Ermächtigung zum Abschluß von Handelsverträgen mit außerdeutschen Staaten bedurfte die hessendarmstädtische Ratifikation im Gegensatz zu den Nachbarstaaten eigentlich einer vorherigen Zustimmung der Kammern. Doch der Großherzog setzte sich nun über diese Einschränkung hinweg, und die Regierung begründete die eigenmächtige Ratifikation damit, daß sie zu wenig Zeit gehabt hätte, um den außenpolitisch so wichtigen Vertrag auch noch den Ständen vorlegen zu können, zumal jede Verzögerung auf Seiten des Zollvereins das Erreichte wieder gefährdet hätte 192 . Diese Eigenmächtigkeit löste aber kaum Kritik aus, beide Kammern beschlossen vielmehr einstimmig, »in diesem einzelnen Falle die Regierung wegen Überschreitung der gesetzlichen Ermächtigung von weiterer Verantwortlichkeit zu entbinden« 193 . Der Grund für dieses, angesichts der früheren Auseinandersetzungen doch überraschende Entgegenkommen lag in der nahezu einhellig positiven Bewertung des neuen Vertrages, der nach Ansicht der zweiten Kammer »den Keim bedeutender Entwicklungen« in sich trug und als eine Glanzleistung preußischer Handelspolitik gefeiert wurde 1 9 4 . Für den Abgeordneten Hesse war der Handelsvertrag mit Belgien »die erste glückliche Bewegung 203

des Zollvereins nach außen hin«, die das »deutsche Nationalgefuhl von neuem erfrischt und gekräftigt« habe 195 . Aber zugleich entsprach der Vertrag nach Ansicht der Abgeordneten auch den spezifischen materiellen Interessen Hessen-Darmstadts. Die belgischen Konzessionen, die als »volles Aequivalent« zu denen des Zollvereins gewertet wurden, würden den Export hessischer Produkte ebenso erleichtern wie den vor allem von Mainz betriebenen Zwischenhandel 196 . Lediglich die Eisenindustrie schlug verständlicherweise einige kritischere Töne gegenüber dem neuen Handelsvertrag an 197 . Diese positive Einschätzung des Vertrages, aber wohl auch die Erkenntnis der eigenen Machtlosigkeit innerhalb des Entscheidungsprozesses im Zollverein führten nun dazu, daß die zweite Kammer in der Frage der Ermächtigung wieder entgegenkommend taktierte. Da gerade der komplizierte Ablauf der Vertragsverhandlungen zwischen dem Zollverein und Belgien und die schließlich sehr plötzlich erfolgte Einigung die N o t w e n digkeit deutlich gemacht hatten, daß die Handlungsfähigkeit des Zollvereins in der internationalen Handelspolitik nicht mehr allzu weit hinter der großer Nationalstaaten zurückstehen durfte, wollte sich nun auch die zweite Kammer diesen Sachzwängen nicht völlig verschließen. Sie scheute sich, bei künftigen Fällen eventuell die Verantwortung fur Verzögerungen übernehmen zu müssen, welche die gesamten Handelsinteressen des Zollvereins schädigen konnten. Nach langen Auseinandersetzungen einigten sich beide Kammern auf eine neue Form der Ermächtigung. Diese erlaubte der Regierung, künftig auch Handelsverträgen mit außerdeutschen Staaten ohne vorherige Konsultation des Landtages zuzustimmen, legte ihr jedoch zugleich die Verpflichtung auf, den Vertrag »den Ständen bei ihrer nächsten Versammlung zur Kenntnis und geeigneten Beschlußnahme« vorzulegen 198 . Damit wahrte die Kammer formal ihr Recht auf Kontrolle und Mitsprache. In der Praxis beugte sie sich allerdings den Erfordernissen einer nationalen Handelspolitik, die keine weiteren Einschränkungen der Funktionsfähigkeit des Zollvereins duldete. Dennoch war die Skepsis unübersehbar, mit der viele liberale Abgeordnete dem konstitutionellen Defizit in der Zollvereinspolitik gegenüberstanden. Für den Abgeordneten Glaubrech ging solches Entgegenkommen, wie es die neue Ermächtigung enthielt, »wirklich außerordentlich weit« und konnte in Einzelfällen »die Bewohner des Landes in große Nachteile versetzen« 199 . Wie in der Schutzzollfrage so nahmen die hessen-darmstädtischen Kammern vor 1848 auch an der Debatte über die Handelsvertragspolitik des Zollvereins einen weit größeren Anteil als die nassauischen Kammern und die kurhessische Ständeversammlung, die wesentlich langsamer aus jener Lethargie erwachten, in die sie seit den gescheiterten Verfassungskämpfen der frühen dreißiger Jahre verfallen waren. Die hessen-darmstädtischen Abgeordneten befaßten sich nicht zuletzt durch den Einfluß der ListAnhänger früher und ausgiebiger mit den Auswirkungen neuer ökonomi204

scher Entwicklungen. Sie diskutierten über Baumwollspinnerei und nationale Handelspolitik. Dagegen beschränkten sich die Vertretungen in den beiden noch rückständigeren Nachbarstaaten nahezu ausschließlich auf die Interessen der alteingesessenen Gewerbezweige. Die nassauischen Kammern forderten vor allem ausreichende Schutzmaßnahmen fur die Eisenindustrie, die in vielerlei Hinsicht noch an vorindustriellen Leitbildern festhaltende kurhessische Ständeversammlung richtete ihre Bemühungen in erster Linie auf den Straßentransit und das Leinengewerbe. Im Sommer 1843 forderte der kurhessische Landtag die Regierung auf, »bei den Zollvereinsstaaten nach Möglichkeit dahin zu wirken, daß günstige Handelsverträge mit dem Königreich Spanien und den Nordamerikanischen Staaten bald thunlichst abgeschlossen, überhaupt zur Förderung des Absatzes von Leinen Maßnahmen ergriffen werden möchten« 200 . Als die Kasseler Regierung, unterstützt von Hessen-Darmstadt und anderen Vereinsstaaten, diesen Wunsch an Preußen weiterleitete, wies Berlin jedoch zu Recht daraufhin, daß die eigentlichen Ursachen des gesunkenen Leinenabsatzes weniger in den Zöllen der alten Abnehmerstaaten lägen, sondern vor allem in der Rückständigkeit des deutschen Leinengewerbes selbst. Folglich sei eine entscheidende Besserung weniger von neuen Handelsverträgen als vielmehr von der Modernisierung dieses Gewerbes zu erwarten. Das preußische Außenministerium sprach sich allerdings dafür aus, die vorgetragenen Wünsche bei künftigen Vertragsverhandlungen zu berücksichtigen 201 . Auf der Generalkonferenz des Jahres 1843 präzisierte Preußen seine Ansicht dahingehend, künftig alle Möglichkeiten zu nutzen, um dem Leinengewerbe auf den ausländischen Märkten wieder bessere Absatzchancen zu verschaffen, wenn dies ohne große eigene Tarifänderungen innerhalb des Zollvereins möglich sei 202 . Preußen zeigte damit gegenüber den Vertragspartnern seinen guten Willen, legte im übrigen aber weit mehr Gewicht auf die innere Förderung des Leinengewerbes. Die Hoffnung der kurhessischen Staatsfuhrung, allein durch Handelsverträge eine Rückkehr zu alten Exportverhältnissen zu erreichen, auf den umfassenden Strukturwandel dieses Gewerbes aber verzichten zu können, war aus preußischer Sicht eine große Illusion. Damit reduzierte sich der Erfolg des kurhessischen Vorstoßes vor allem auf die Innenpolitik. Die Regierung konnte darauf verweisen, wie sehr sie sich auch im Zollvereinsrahmen für die Interessen des wichtigen Leinengewerbes einsetzte. Angesichts der verschiedenen Vorstöße zugunsten des Leinenabsatzes 203 kann man der Kasseler Regierung nicht einmal das ehrliche Bemühen u m Verbesserungen bestreiten. Zu kritisieren ist freilich, daß diese Bemühungen trotz der Mahnungen untergeordneter Behörden nicht durch geeignete innere Maßnahmen ergänzt wurden und daß die kurhessische Führung darüber hinaus bescheidene Erfolge ihrer eigenen Initiativen durch unnötige diplomatische Streitigkeiten lange hinauszögerte. Im Jahre 1844 hatte Preußen mit Portugal einen Handelsvertrag vereinbart, der auch 205

die von Kurhessen gewünschten Leinenzollsenkungen enthielt. Obwohl die Vorteile für Kurhessen auf der Hand lagen, dauerte es fast eineinhalb Jahre, ehe die Regierung die protokollarischen Fragen der Ratifikationsurkunde und ihres Austausches geklärt hatte und Ende 1845 nach langen Auseinandersetzungen über Rangfragen als letzter Zollvereinsstaat dem Vertrag beitrat 204 . Auch dieses Verhalten offenbarte die fehlende Geradlinigkeit der gesamten kurhessischen Wirtschaftspolitik. Größere Diskussionen über geplante oder abgeschlossene Handelsverträge des Zollvereins kamen innerhalb der Bürokratie und innerhalb der öffentlichen Meinung in der Regel nur dann auf, wenn die Verträge wesentliche Interessen der hessischen Wirtschaft berührten. Daher standen vor allem die Handelsbeziehungen zu den westeuropäischen Nachbarstaaten im Vordergrund der hessischen Politik. Bei keinem anderen vor 1850 abgeschlossenen Handelsvertrag war das hessische Interesse so groß wie bei den Verträgen mit Holland und Belgien. Aber auch die Handelsbeziehungen mit England und Frankreich fanden eine besondere Beachtung, ohne daß die hessischen Staaten hier mit eigenen Initiativen hervortraten. Angesichts der eigenen Rückständigkeit bestand im hessischen Raum vor 1850 wenig Neigung, auch mit den großen westeuropäischen Mächten umfassende Handelsverträge anzustreben. Das kurhessische Finanzministerium forderte vielmehr ausdrücklich, mit England erst dann in weitere, über den 1841 abgeschlossenen Schiffahrtsvertrag 205 hinausgehende Vertragsbeziehungen einzutreten, wenn die deutsche Wirtschaft entsprechende Fortschritte gemacht habe 206 . In Hessen-Darmstadt betonte der Eisenindustrielle Frank: »Der Zollverein muß noch in sich selbst und aus sich selbst erstarken, wenn man darauf rechnen soll können, daß mit fremden civilisierten, namentlich europäischen Staaten vorteilhafte Verträge abgeschlossen werden würden. « 207 Sieht man von der hessischen Initiative zugunsten des Leinenabsatzes einmal ab, so fanden alle anderen, den westeuropäischen Rahmen sprengenden Handelsverträge des Zollvereins im hessischen Raum nur eine geringe Resonanz. Die Regierungen setzten hier zunächst großes Vertrauen in die Politik der Hegemonialmacht und beschränkten ihre Stellungnahmen meist auf die Anerkennung der von Preußen vorbereiteten Verträge. Selbst nach 1850, als die Furcht vor einem machtpolitischen Übergewicht Preußens die meisten Zollvereinspartner zu einer äußerst vorsichtigen Haltung trieb, überließen die hessischen Regierungen große Teile der Handelsvertragspolitik noch lange Zeit bereitwillig der preußischen Bürokratie. Sie gaben zwar ihr für die Wahrung der Souveränität unentbehrliches Recht nicht auf, allen von Preußen angebahnten Handelsverträgen vor Inkraftsetzung zuzustimmen, doch durch ihre Inaktivität bei den meisten Handelsverträgen, insbesondere bei denen mit überseeischen Staaten, stärkten sie zweifellos die preußische Vorrangstellung im Zollverein, die ja nicht allein durch rechtliche Vorbehalte einzugrenzen war 2 0 8 . Erst als Preu206

ßen seit 1860 die Handelsvertragspolitik mit außerdeutschen Staaten immer offener in seine machtpolitischen Zielsetzungen einbezog, stiegen Interesse und Aktivität der hessischen Regierungen in all diesen Fragen deutlich an. Die geringe hessische Aktivität hing gewiß vielfach damit zusammen, daß zu den betreffenden Staaten nur bescheidene Wirtschaftskontakte bestanden. Aber in vielen Fällen hielten es die Regierungen, wie ein Kritiker schon 1839 schrieb, offenbar auch gar nicht für nötig, genauere Erkundigungen über die jeweiligen Handelsbeziehungen einzuholen 209 . Im übrigen hätte eine stärkere Einbeziehung der Landtage zweifellos zu einer breiteren ökonomischen Interessenartikulation geführt, zumal ohnehin alle größeren hessischen Initiativen in der Schutzzollfrage und in der Handelsvertragspolitik auf Anregungen der Landtage zurückgingen. Andererseits wäre hierdurch aber die Manövrierfähigkeit des Zollvereins in der internationalen Handelspolitik drastisch eingeengt worden. Diesem Sachzwang mußten sich die Kammern vorerst fügen, aber zum einen verzichteten sie nicht völlig darauf, über Appelle an die Regierung Einfluß auf Entscheidungsprozesse des Vereins auszuüben, zum anderen nahm langfristig das Bestreben zu, neue Kontrollmechanismen zu installieren und die Mitsprache eines selbstbewußter gewordenen Bürgertums zu sichern. Dies geht eindrucksvoll aus jenen Sätzen hervor, mit denen der liberale Mainzer Advokat Glaubrech 1842 diesen bürgerlichen Anspruch begründete: »Ich will an unsern Finanzmännern alle Talente und sonstigen Kenntnisse recht gerne anerkennen, allein ich glaube nicht, daß sie beim Abschluß von Zollund Handelsverträgen gewandten Kaufleuten die Spitze zu bieten vermögen. Dieses hat man auch in anderen Staaten längst begriffen; darum sehen wir in den größten Staaten die ausgezeichneten Männer vom Handelsstande an der Spitze der Finanzverwaltung stehen.« 210 Die Forderung nach Mitsprache des Bürgertums richtete sich nicht mehr allein an die eigene Regierung, sondern vor allem auch an die Bürokratie der Hegemonialmacht, die ohne ausreichende konstitutionelle Kontrolle agierte und in der Handelsvertragspolitik die Widerstände kleinerer Staaten unter Ausnutzung vorhandener Abhängigkeitsstrukturen stets mit sanftem oder massivem Druck beseitigte. Trotz der fortbestehenden Hoffnung auf die preußische Führungsrolle in den nationalen Angelegenheiten standen auch viele hessische Zollvereinsbefurworter der von Preußen betriebenen Vereinspolitik daher keineswegs unkritisch gegenüber. Ihre Kritik entzündete sich allerdings im Unterschied zu Süddeutschland nicht so sehr an den Fragen des Vereinstarifs, sondern an der preußischen Haltung in den noch komplizierten Handels- und Verkehrsverhältnissen innerhalb des Zollvereins.

207

2.4.

Die hessischen Staaten und die Fragen von Handel und innerhalb des Zollvereins

Verkehr

Der Zollverein sollte den beteiligten Staaten einen, von Ausnahmen abgesehen, völlig freien Handelsverkehr auf einem größeren Markt eröffnen. Von den hieraus resultierenden Vorteilen profitierten auch die wenigen hessischen Handelsstädte von überregionaler Bedeutung. Der Mainzer Handel erfuhr nach 1828 eine spürbare Belebung, Messen und Märkte erhielten größeren Zulauf. Aus dem kurhessischen Karlshafen wurde 1843 berichtet: »Durch den Zollverein ist Karlshafen eigentlich in den östlichen und südlichen Teilen Deutschlands erst bekannt geworden; der Handel und die Speditionsgeschäfte haben dadurch bedeutend gewonnen, es ist also der Einfluß des Zollvereins nur günstig zu betrachten.« 211 Bei allen Vorteilen darf freilich nicht übersehen werden, daß Handel und Verkehr innerhalb des Zollvereins noch immer zahlreichen Störungen unterworfen waren, die aus jenem idealisierten Bild eines harmonischen Binnenmarkts nur allzu oft herausfallen. So bestanden bei Wein, Branntwein, Tabak und Bier innerhalb des Vereins Übergangsabgaben fort, die dazu dienten, unterschiedliche innere Produktionssteuern auszugleichen und gravierende Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Obwohl die Verträge Höchstsätze der jeweiligen Produktionssteuern festlegten und die Erhebung der Ausgleichssteuer vertraglich geregelt war, stellten diese Abgaben immer wieder ein beträchtlich störendes Element innerhalb des Vereins dar 212 . Ähnliche Wirkungen zeitigten die fortbestehenden, den freien Handel unterbindenden Salzmonopole213, eine vielfach weit voneinander abweichende Wirtschaftsgesetzgebung sowie die weiterhin vorrangig an partikularstaatlichen Interessen orientierte Verkehrspolitik. Gerade im Verkehrswesen dominierte noch lange das Streben nach partikularen Sondervorteilen, an dem sich auch die hessischen Staaten eifrig beteiligten. Kurhessen bemühte sich in diesem Zusammenhang wie bereits während der Gründungsphase um eine besondere Begünstigung seines Straßentransits. Dieser hatte sich zwar nach anfänglichen Übergangsschwierigkeiten sowohl in der Ost-West- als auch in der Nord-SüdRichtung positiv entwickelt. Doch vor allem auf den vormals so bedeutenden Nord-Süd-Straßen blieben die Steigerungsraten immer weiter hinter denen der Rhein- und Elbestraßen zurück 214 . Seit den Erleichterungen der Rhein- und Elbeschiffahrt verlor der kostenträchtigere kurhessische Landtransit ständig an Attraktivität, zumal Fortschritte in der Weserschiffahrt lange Zeit am Widerstand Hannovers scheiterten. Obgleich sowohl Preußen als auch maßgebliche kurhessische Beamte betonten, daß die Transitzölle des Zollvereins mit der wenig zufriedenstellenden Entwicklung des kurhessischen Verkehrs so gut wie nichts zu tun hätten 215 , ließ der Monarch ebensowenig wie die in ökonomischer Hinsicht noch sehr rückwärtsge208

wandte Ständeversammlung 2 1 6 davon ab, dem Zollverein die Rolle des Sündenbocks zuzuschreiben. Im Jahre 1840 verlangte der Kurprinz nochmals ausdrücklich, »daß diese Nachteile für Unsere Lande bei den bestehenden Zoll- und Handelsverträgen durch Herabsetzung der Transitsätze oder gänzliche Aufhebung der Wegegeld-Abgabe auf den betreffenden Straßen beseitigt werden« 217 . Nach Ansicht des Kasseler Finanzministers Motz war jedoch weder von der auf eigene Rechnung gehenden Beseitigung der Wegegelder noch von veränderten Transitzöllen des Zollvereins, von denen seit 1836 ohnehin nur noch ein geringer Teil des durch Kurhessen laufenden Verkehrs tangiert wurde, eine Verbesserung der Situation zu erzielen 218 . Auch Ober-Bau- und Ober-Zolldirektion sahen sich außerstande, den Beweis zu erbringen, »daß Kurhessen gegen andere Staaten bei der dermaligen Regulierung der Transitzollsätze unverhältnismäßigen Schaden leide« 219 . Dennoch bestand der Monarch weiterhin auf der Herabsetzung der Transitzölle. Als Kurhessen auch noch die Zustimmung zum Handelsvertrag mit Belgien mit der Erfüllung seiner Transitwünsche verknüpfte, kam Preußen dem hartnäckigen Insistieren 1843 wenigstens teilweise entgegen 220 . In der Folgezeit zeigte sich allerdings sehr schnell, daß auf dem von Kurhessen am stärksten bearbeiteten Feld der Zollvereinspolitik keine entscheidenden Erfolge erreicht werden konnten. Angesichts des fortschreitenden Eisenbahnbaus, vor allem nach der 1847 in Betrieb genommenen Köln-Mindener-Bahn, sank die Bedeutung des kurhessischen Landtransits in den folgenden Jahren immer rascher ab 221 . Während andere Vereinsstaaten den Ausbau des Eisenbahnnetzes forcierten, stellte die kurhessische Staatsführung nach Ansicht von Lists Zollvereinsblatt dem Bahnbau »eine so zähe Opposition« entgegen wie kaum ein anderes deutsches Land 222 und konzentrierte ihre Bemühungen auf einen kaum noch zukunftsträchtigen Sektor. Mit Transitzollsenkungen, wie sie selbst 1848 nochmals gefordert wurden 2 2 3 , war die neue verkehrstechnische Entwicklung nicht mehr aufzuhalten. Dagegen konnte eine rechtzeitige Beteiligung am Eisenbahnbau wenigstens den Zubringerstraßen neue Möglichkeiten eröffnen, vor allem aber der gesamten Wirtschaft kräftige Impulse geben. Der von Kurhessen beklagte rapide Aufschwung des Rheinhandels brachte für Hessen-Darmstadt und Nassau spürbare Vorteile. Beide profitierten vor allem von den wachsenden Einnahmen aus dem Rheinoktroi, der in Hessen-Darmstadt um 1830 erst 70000 fl., um 1848 aber bereits 200000 fl. im Jahr einbrachte 224 . In ökonomischer Hinsicht fielen diese Erfolge freilich weniger eindeutig aus. Nassau war ohnehin nur in bescheidenem Maße direkt am Rheinhandel beteiligt. In Hessen-Darmstadt mußte das vom Zollverein mit Preußen zunächst sehr begünstigte Mainz seit 1831 den Verlust des bis dahin so sorgsam verteidigten Stapelrechts verkraften. Zwar bot der Zollverein fur den Mainzer Handel weiterhin die große Chance, die seit der Rheinschiffahrtsakte eingetretenen Verluste im Spedi209

tionsgeschäft durch einen verstärkten Eigenhandel auszugleichen. Dennoch konnten alle neuen Ansätze, die sich etwa im Weinhandel abzeichneten 225 , nicht verhindern, daß der Mainzer Handel trotz der Steigerungsraten in dem seit 1831 heftig entbrannten Kampf um die Anteile am wachsenden Rheinverkehr mit der Entwicklung in Köln und Mannheim nicht mehr Schritt zu halten vermochte 226 . Nach Ansicht des Mainzer Handels beruhte diese Entwicklung nicht allein auf den neuen wirtschaftsgeographischen Verhältnissen, vielmehr wurde der wachsende Kölner Vorsprung auch auf preußische Maßnahmen zurückgeführt, die dem Geist des Zollvereins widersprachen und schon bald innerhalb des Vereins heftige Auseinandersetzungen hervorriefen. Im Interesse des Kölner Handels erstattete Preußen bei den von den allgemeinen Abgabenbefreiungen des Zollvereins ausgenommenen außerdeutschen Waren den eigenen Anteil am Rheinoktroi zurück, sofern die eingehenden Erzeugnisse in einem der preußischen Rheinhäfen verzollt wurden. Mit diesem Zugeständnis erhielt die Handelsmetropole Köln einen wichtigen Ersatz für den 1831 verlorengegangenen Stapel, da die Frachtkosten bei Versendungen über Köln pro Ztr. sieben sgr. niedriger lagen als bei einem Umschlag über Mainz 227 . Die hessen-darmstädtische Regierung wollte ein gleiches Zugeständnis für den Mainzer Handel aus fiskalischen Gründen vermeiden und versuchte zunächst allein, dann mit den übrigen betroffenen Rheinstaaten, Preußen zu einer Rücknahme der Sondervergünstigung zu bewegen. Erst als dieses Bemühen scheiterte, gingen die ober- und mittelrheinischen Staaten 1836 ebenfalls dazu über, den Anteil des preußischen Rheinoktrois bei Verzollungen in den eigenen Häfen zu erstatten 228 . Diese von den Kammern gebilligte Praxis belastete jedoch die Staatskasse schon bald in beachtlichem Maße. Der verschärfte verkehrspolitische Wettbewerb der zollvereinsländischen Rheinstaaten kostete Hessen-Darmstadt 1841 bereits etwa 60000 fl. Die Regierung bemühte sich daher weiterhin, Preußen zu einer Änderung seiner Abgabenpraxis zu bewegen 229 . Angesichts des heftigen Kölner Widerstandes weigerte sich Berlin zwar, die Rückvergütung einzustellen, kam aber 1841 bei der Verlängerung der Zollvereinsverträge den Kontrahenten etwas entgegen. Es ordnete an, den erstatteten Rheinoktroi künftig bei Koblenz nachzuerheben, falls die zuvor verzollten Waren rheinaufwärts verschifft würden 2 3 0 . Daraufhin hoben die oberländischen Rheinstaaten die kostenreiche Rückerstattung wieder auf, mußten jedoch auf Drängen des Handels bei einigen Warengruppen wieder zur alten Praxis zurückkehren, da der preußische Handel nicht zuletzt durch ein unvollständiges Warenverzeichnis für die Koblenzer Nacherhebung noch immer weit größere Vorteile erhielt. Trotz der neuen Rückerstattung, die die hessen-darmstädtische Staatskasse nur noch mit etwa 15000 fl. im Jahr belastete, blieben dennoch ökonomische Nachteile der hessischen Wirtschaft bestehen. In einigen Regionen konnte der Mainzer Kolonialwarenhandel mit der billiger anbietenden Kölner 210

Konkurrenz nicht mehr mithalten, und Kölner Fabriken hatten bei manchen ausländischen Rohstoffen weiterhin einen Kostenvorteil 231 . Aus ökonomischen wie fiskalischen Erwägungen forderte Darmstadt gemeinsam mit den übrigen betroffenen Staaten auch auf den folgenden Generalkonferenzen Preußen auf, die Politik der Sondervorteile aufzugeben 2 3 2 . Die in den Kammern geäußerte Hoffnung, daß »bei den gerechten und deutsch patriotischen Gesinnungen der preußischen Staatsverwaltung . . . dieselbe gerne die Hand dazu bieten werde, den bestehenden Beschwerden abzuhelfen« 233 , erfüllte sich allerdings nicht. Preußen nutzte weiterhin seine politische, ökonomische und fiskalische Potenz recht rücksichtslos aus, um der eigenen Wirtschaft innerhalb des Zollvereins Sondervorteile zu verschaffen. Zur Fortsetzung dieser langjährigen, die Kooperation im Verein belastenden Streitigkeiten trugen freilich auch die Rheinstaaten Hessen-Darmstadt und Nassau eifrig bei. Beide setzten in der Rheinschiffahrt und gemeinsam mit Kurhessen auch auf dem Main jeglicher Politik ihren Widerstand entgegen, die auf eine Schmälerung der Flußabgaben hinauslief 234 . Den im Gefolge des 1851 vereinbarten neuen Handelsvertrages mit Holland notwendig gewordenen Rheinzollermäßigungen schlossen sich Darmstadt und Wiesbaden erst unter der Bedingung an, daß die eigenen Rheinzölle nicht um die Hälfte, sondern nur um ein Drittel reduziert werden sollten 235 . Auch gegen die Ende der fünfziger Jahre vorbereiteten umfassenden Rheinzollsenkungen, die dann den ganzen Rückvergütungsstreit hinfällig machten, legten beide Staaten lange Zeit ihr Veto ein, bevor sie dann wiederum unter Durchsetzung einer geringeren Reduktion in die Abgabenreform einwilligten 236 . Damit zögerten sie eine Liberalisierung hinaus, die auch vom eigenen Handel immer eindringlicher gefordert wurde 2 3 7 . Diese allzu sehr an fiskalischen Interessen orientierte Politik stieß vor allem beim Mainzer Handel auf heftigste Kritik 238 . Das nach 1828 zunächst so gute Verhältnis zwischen der hessischen Handelsmetropole und der Darmstädter Bürokratie war daher zeitweise großen Belastungen ausgesetzt. In der Tat hatte die Regierung nicht so rasch und großzügig auf die preußischen Sondervergünstigungen reagiert, wie es von Mainz verlangt worden war. Andererseits konnte die Regierung aber auch darauf verweisen, daß sie in weniger kostspieligen Fällen, sei es bei den Erleichterungen für den Weingroßhandel oder bei den Transitzöllen auf den linksrheinischen Straßen, sich durchaus eifrig bemühte, den rheinhessischen Handelsinteressen innerhalb des Zollvereins Geltung zu verschaffen 239 . Im übrigen fielen einem Staat wie Preußen großzügige fiskalische Zugeständnisse zugunsten des Rheinhandels erheblich leichter als den kleinen hessischen Staaten. Selbst die liberalen Wiesbadener und Darmstädter Regierungen der Jahre 1848/49 lehnten mit Unterstützung der Kammern allzu weitgehende Abgabeerleichterungen ab. Die nassauische Kammer hielt den Plänen der Nationalversammlung und der Reichszentralgewalt entgegen: 211

»Auch wir wünschen einem jeden einzelnen Bürger so viele Lasten abnehmen zu können als nur immer möglich; allein es wird darin keine allgemeine Erleichterung zu finden sein, daß man die im Ganzen nicht übermäßigen Flußzölle abschafft und den dadurch entstehenden Ausfall auf die Steuerpflichtigen wälzt.« 2 4 0 Die über viele Jahre innerhalb des Zollvereins ausgetragenen verkehrspolitischen Streitigkeiten zeigten, daß die angelaufene ökonomische Integration durch wachsende Anforderungen schon früh über die eigentlichen tarifpolitischen Aufgaben einer Zollunion hinaus weitere Bereiche der Wirtschaftspolitik erfaßte. Mit den schon bei der Gründung des Vereins beschlossenen gegenseitigen Rheinzollsenkungen für binnenländische Produkte, an denen sich allerdings Hessen-Darmstadt nur teilweise, Nassau überhaupt nicht beteiligte 241 , war ein wesentlicher Schritt zu gemeinsamen Lösungen unternommen worden, der Streit um die preußische Rückerstattungspraxis ließ dann jedoch sehr schnell deutlich werden, wie weit der Zollverein noch von einer gemeinschaftlichen Verkehrspolitik entfernt blieb 242 . Ebenso wie die preußische Verkehrspolitik gab auch die Übergangsteuerpraxis der Hegemonialmacht im hessischen Raum immer wieder Anlaß zur Kritik. Entgegen den in den Vereins Verträgen festgelegten Grundsätzen benutzte Preußen die Ausgleichsabgaben in manchen Fällen, um durch überhöhte Belastungen die eigene Staatskasse zu füllen und die Marktchancen eigener Produkte zu verbessern. Diese als »Sünde wider den Geist des Zollvereins« 243 gerügte Praxis beeinträchtigte vor allem die Interessen der süddeutschen, nassauischen und hessen-darmstädtischen Weinbauern. Auf fast jeder Generalkonferenz sah sich Preußen heftigen Anklagen der betroffenen Staaten ausgesetzt. Sie bemängelten vor allem, daß der übergangsabgabepflichtige Wein beim Export nach Preußen »ohne Rücksicht auf die Qualität mit dem höchsten Satz der preußischen Weinsteuer belegt werde«, der in Preußen nur auf die wenigen Weine der ersten Güteklasse Anwendung finde. Ferner sprachen sie der Hegemonialmacht das Recht ab, die Übergangsabgaben bei Jahrgängen zu erheben, in denen Preußen aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen den eigenen Winzern die Moststeuer erlassen hatte 244 . Unter Hinweis auf die Krise der eigenen Winzer lehnte Preußen das Begehren der anderen Weinbaustaaten strikt ab, ja es verlangte 1841 sogar noch größere Zugeständnisse, da die süddeutschen Weinstaaten bei der Einnahmeverteilung von dem höheren preußischen Verbrauch ausländischer Weine profitieren und, wie die gestiegenen Exportzahlen bewiesen, trotz Übergangssteuer vom erleichterten Zugang zum großen preußischen Markt viele ökonomische Vorteile ziehen würden 245 . Nur die geschlossene Opposition der betroffenen Weinstaaten konnte Preußen bei der ersten Verlängerung der Vereinsverträge von einer Verschärfung der Abgabenpraxis abhalten 246 . Obwohl in Hessen-Darmstadt und Nassau die Vorteile, die der Zollver212

ein dem Weinhandel brachte, in der Regel nicht bestritten wurden und die Weinbautreibenden den wichtigen Zollverein zu keinem Zeitpunkt in Frage stellten, blieben die Übergangsabgaben ein großes Ärgernis, da sie vor allem kleineren Winzern mit ihren billigeren Weinen den Weg zu den Vorteilen des Zollvereins erschwerten 247 . Bis 1841 hatten die hessen-darmstädtischen Abgeordneten auf ein großzügiges Entgegenkommen der Hegemonialmacht gehofft. Dann rief der preußische Fiskalismus selbst bei preußenfreundlichen Abgeordneten Rheinhessens schärfste Kritik hervor. 1842 meinte der Abgeordnete Brunck: »Preußen macht es gerade so mit dem Wein wie mit dem Rheinschiffahrtsoktroi. Es hat nämlich seit 5 bis 6 Jahren seine indirekten Abgaben vom Wein fast ganz erlassen, aber wir werden im Inneren des Landes und von Preußen und anderen Staaten fortbesteuert. Wir werden also gedrückt, während die preußische Regierung hier, wie in anderen Dingen, ihre Staatsangehörigen im Inneren befreit und nach außen schützt, ja sogar oft gegen den Sinn der Verträge. « 248 Wie sehr Preußens Ruf unter den leidigen Übergangsabgaben litt, zeigte sich auch in einem 1848 verfaßten Ausschußbericht der nassauischen Kammer. Darin hieß es: »Fürwahr die preußische Regierung, die sich ihrer Uneigennützigkeit und ihrer Bereitwilligkeit zu Opfern für das Wohl des gesamten deutschen Vaterlandes so oft und so gerne rühmt, hätte nicht wegen des nichtigen Vorwandes einer ungewissen und wahrhaft ärgerlichen Besteuerung ihrer Staatsangehörigen alljährlich solche enormen Summen von uns erpressen und sich der Zuneigung der Nachbarn auf so schnöde Weise entfremden sollen. « 249 Der Weinzoll innerhalb des Zollvereins fiel schließlich erst im Jahre 1865, als Preußen mit dieser Konzession die Zustimmung zum Handelsvertrag mit Frankreich sicherte250. Bei der von Preußen erhobenen Ausgleichsabgabe auf Tabak waren die Nachteile für die Partnerstaaten zwar nicht ganz so gravierend, aber auch hier spielte die Hegemonialmacht ihre Überlegenheit gegenüber den Interessen der kleineren Partner, die mit ihren Produkten auf den preußischen Markt angewiesen waren, zeitweise in einer Art aus, die wenig von jenem Entgegenkommen enthielt, das der preußischen Zollvereinspolitik so oft zugeschrieben worden ist 251 . Neben dem starkenburgischen Tabakanbau griffen auch die nassauischen und hessen-darmstädtischen Tabakfabrikanten die preußische Steuerpraxis immer wieder an, zumal Preußen die Abgaben anfangs auch dann erhob, wenn die Tabakwaren aus ausländischen, bereits dem Eingangszoll unterworfenen Blättern gefertigt waren. Mit ihrem ständigen Vorpreschen auf den Generalkonferenzen gelang es Hessen-Darmstadt und Nassau immerhin, Preußen zur Abkehr von dieser allzu rigiden Besteuerung zu bewegen 252 . Entscheidende Fortschritte in der konfliktreichen Steuerfrage waren letztlich nur durch eine Vereinheitlichung der vereinsländischen Produktionssteuern zu erzielen, die aus der Sicht der Hegemonialmacht vor allem dadurch erreicht werden sollte, daß die Partner die preußischen Steuern 213

annahmen. Kurhessen hatte bereits bei seinem Zollvereinsbeitritt die preußische Tabak- und Moststeuer eingeführt und die Interessen der Tabakund der allerdings sehr wenigen Weinbauern den fiskalischen Zielsetzungen untergeordnet. Die im Verlaufe des Zollvereins mehrfach diskutierte Annahme der preußischen Branntweinsteuer scheiterte allerdings stets am Widerstand von Landwirtschaft und Branntweinbrennern, deren Fürsprecher vor dem Landtag das auf die Großbrennereien Ostelbiens zugeschnittene preußische Steuersystem verwarfen, da es die kleinen kurhessischen Brennereien in den Ruin treibe 253 . Auch in Hessen-Darmstadt wurde schon in den dreißiger Jahren die Möglichkeit einer Übernahme der preußischen Steuersysteme diskutiert. Regierung und Tabakfabrikanten waren 1835 bereit, wenigstens die preußische Tabaksteuer anzunehmen, die der Staatskasse neue Einnahmen und den Fabrikanten freien Verkehr mit Preußen gebracht hätte 254 . Gleichzeitig sprach sich die zweite Kammer dafür aus, »mit den übrigen Vereinsstaaten, oder doch wenigstens mit denjenigen, mit denen wir am meisten in Berührung stehen, ein gemeinschaftliches System der inneren indirekten Besteuerung« anzustreben 255 . Die folgenden Verhandlungen zeigten dann allerdings, daß nur eine Minderheit einer einseitigen Annahme der preußischen Steuern das Wort redete. Die Mehrheit hielt diesem Plan entgegen, daß er vor allem beim Wein und Tabak der eigenen Bevölkerung neue Steuerlasten auferlege, Preußen in seiner Abgabenpraxis nur bestätige und eine an den Interessen aller Vereinsstaaten ausgerichtete Lösung hinauszögere. Auch Heinrich von Gagern warnte aus Rücksicht auf die gleichfalls betroffenen süddeutschen Staaten davor, »in dieser wichtigen Sache mit präjudiziellen Schritten« voranzugehen 256 . Die Kammer billigte schließlich seinen Vorschlag, die Entscheidung zu vertagen und gemeinsam mit anderen betroffenen Staaten nach allseits akzeptablen Lösungen zu suchen 257 . Die Einführung der höheren preußischen Produktionssteuern war am Ende weder in Hessen-Darmstadt noch in Nassau innenpolitisch durchzusetzen. Die Bedenken gegen neue Steuerlasten überwogen die von Preußen angebotenen Vorteile eines völlig freien Verkehrs bei den bisher übergangsteuerpflichtigen Produkten. Die zweite Kammer Hessen-Darmstadts weigerte sich sogar ausdrücklich, der Regierung in diesen Fragen die gewünschten Vollmachten zu geben. Sie wollte der Gefahr vorbeugen, daß wichtigen Erwerbszweigen ein Steuersystem aufgepfropft wurde, das die Interessen vieler Bürger empfindlich beeinträchtigte 258 . Angesichts der widerstreitenden einzelstaatlichen Interessen blieben die »Idee und Prinzip des Zollvereins« widersprechenden internen Handelsschranken 259 bis in die sechziger Jahre bestehen. Eine gemeinschaftliche innere Besteuerung gelang dem Zollverein nur bei der Anfang der vierziger Jahre eingeführten Rübenzuckersteuer, die fiskalische Einbußen aus sinkenden Zuckerimporten ausgleichen sollte 260 . Dagegen gab es auch im 214

Hinblick auf einen freien Salzhandel kaum Fortschritte 261 . Wie bei den Übergangsabgaben so dachten die hessischen Kammern auch in der Salzfrage nicht daran, den freien Salzverkehr innerhalb des Zollvereins durch eine Übernahme des weit höheren preußischen Salzpreises zu ermöglichen. Selbst der von Preußen auf vielen Generalkonferenzen geforderten Anhebung des zu niedrigen, zum Schmuggel anreizenden Salzpreises der hessischen Staaten setzten die Kammern, denen die bestehenden Salzpreise bereits zu hoch erschienen, meist hartnäckigen Widerstand entgegen. Die hohen Fiskalzölle des Vereinstarifs hatten die Liberalen noch bewilligt, indem sie als Luxussteuern deklariert wurden. Bei ihrer Haltung gegenüber dem Salzpreis und den Produktionssteuern trat neben der Wahrung eigener Interessen auch das soziale Verantwortungsbewußtsein gegenüber den in der Kammer nicht vertretenen unterbürgerlichen Schichten wieder stärker hervor 2 6 2 . Die hessischen Staaten kamen den preußischen Wünschen in der Salzfrage daher nur geringfügig entgegen, und auch dies nur, weil Preußen die Erfüllung anderer Forderungen von gewissen Konzessionen abhängig machte. So stimmte die kurhessische Ständeversammlung 1846 einer mäßigen, von Preußen als unzureichend betrachteten Salzpreisanhebung nur zu, um »eine Vereinigung, die so sehr zum Vorteil des Landes, zum Nutzen von ganz Deutschland gereiche, dadurch zu fordern, daß man die eingegangenen Verpflichtungen beachte« 263 . Weder beim Salzmonopol noch bei den Übergangsabgaben reichte am Ende der immanente Harmonisierungsdruck aus, um die partikularen Gegensätze zu überwinden. Der Grund für die ausbleibenden Integrationsfortschritte lag keineswegs nur an einer unnachgiebigen Politik souveränitätsbewußter Klein- und Mittelstaaten, sondern vor allem auch an einem lange Zeit starren Fiskalismus der Hegemonialmacht, die ohne Rücksicht auf die Interessen der Partner die eigenen Steuersysteme durchzudrücken versuchte und damit in den Kammern der hessischen Staaten auf wenig Verständnis stieß. Die Kammern befürworteten im Grunde einheitliche Steuersysteme, um den inneren Verkehr von allen Hindernissen zu befreien, betonten dabei jedoch stets, daß »diese Besteuerungsarten den finanziellen, lokalen und individuellen Verhältnissen eines jeden Staates angepaßt werden müssen« 264 . Dort, wo keine so gravierenden fiskalischen und ökonomischen Interessengegensätze bestanden, kamen Integrationsfortschritte etwas rascher voran. Die täglichen Erfahrungen im Vereinsgeschäft ließen das Bedürfnis einheitlicher Wirtschaftsgesetze schon früh hervortreten und gaben dem Zollverein auf diesem Sektor einen Vorsprung, den der Deutsche Bund später kaum noch aufholen konnte 2 6 5 . Seit 1836 befaßten sich die Vereinsstaaten mit der Vereinheitlichung des Handelsrechts 266 . Bereits 1833 hatten sie ein gemeinsames Zollgewicht eingeführt, das den Zollzentner auf 50 kg festlegte und allmählich die noch bestehenden einzelstaatlichen Gewichts215

systeme ablösen sollte 267 . Schließlich brachte die Dresdener Münzkonvention 1838 auf dem schwierigen Felde der Währungsfragen wichtige Fortschritte. Dieser typische Zollvereinskompromiß ließ die einzelstaatlichen Systeme unangetastet, legte aber feste Wechselkurse fest und schuf eine »gemeinsame Hauptsilbermünze im Wert von 2 Talern oder 3/2 Gulden, die in allen Vereinsländern gesetzliches Zahlungsmittel war« 268 . Bei all diesen Vereinheitlichungsversuchen, die von Regierungen und Kammern der hessischen Staaten begrüßt wurden, blieben letztlich zwar die großen Erfolge noch aus, aber der Zollverein leistete in diesem Bereich wichtige Vorarbeiten, welche die spätere Vereinheitlichung der Wirtschaftsgesetzgebung erheblich erleichterten. Die Regierungen und Kammern des hessischen Raumes unterstützten diese Bemühungen, zumal unterschiedliche Wirtschaftsgesetze auch hier nach dem Zollvereinsbeitritt manche Handelsbeziehungen noch empfindlich störten 269 . Sie waren dabei allerdings stets bestrebt, den Interessen der eigenen Wirtschaft genügend Geltung zu verschaffen 270 . Überhaupt kann man den hessischen Staaten nicht vorwerfen, innerhalb des Zollvereins nichts für die Interessen der einheimischen Wirtschaft unternommen zu haben. Ein wesentliches Motiv solcher Vorstöße waren vermeintliche Benachteiligungen einheimischer Branchen. In weit stärkerem Maße gingen zollpolitische Initiativen jedoch auf jene ökonomischen und sozialen Krisenerscheinungen zurück, von denen der hessische Raum in den vierziger Jahren in besonderem Maße betroffen war und die auch hier den Ruf nach verstärktem staatlichen Engagement lauter werden ließen. Obwohl bereits nach dem Zollvereinsbeitritt in allen drei Staaten die Erkenntnis aufgekommen war, daß die Mitgliedschaft im Verein der einheimischen Wirtschaft einen verstärkten Anpassungsdruck auferlegte, blieben die tarifpolitischen Vorstöße vor 1848 ebenso wie die gesamte innere Wirtschaftspolitik noch weitgehend auf die Stützung altgewachsener Wirtschaftszweige konzentriert. Lediglich Hessen-Darmstadt schlug bei seiner Politik zugunsten der Baumwollspinnerei und der Rübenzuckerindustrie in stärkerem Maße neue Wege ein. Somit spiegelt sich auch in der Tarifpolitik jenes für die hessische Wirtschaftspolitik so typische Lavieren zwischen vorsichtiger Öffnung und sozialrestaurativer Erstarrung wider. Große wirtschaftliche Erfolge konnten die hessischen Staaten mit ihren tarifpolitischen Vorstößen daher nicht erzielen. Selbst dort, wo sie ihre Vorstellungen durchsetzten, zeigte sich, daß das Steuerungsinstrument Zoll allein nicht in der Lage war, die tiefgreifenden Strukturkrisen zu beheben. Die notwendige Koordination von tarifpolitischem Engagement und interner Wirtschaftspolitik blieb im Grunde in allen drei Staaten aus, so daß Tariferfolge im Zollverein sich letztlich darauf reduzierten, die innenpolitische Stellung der Regierung etwas zu festigen, da auch die Kammern lange Zeit in den Außenzöllen das wichtigste wirtschaftspolitische Steuerungsinstrument sahen. 216

Die hessischen Kammern haben ebenso wie einzelne fortschrittliche Beamte bereits im Vormärz gegenüber der von den Regierungen betriebenen Wirtschaftspolitik kritische Positionen bezogen, doch in etlichen Grundsatzfragen standen Regierung und Opposition noch nicht so weit auseinander. Auch fur die Mehrheit der hessischen Liberalen war die Industrialisierung kein politischer Imperativ, blieb die »Hebung des Gewerbefleißes« noch ganz im Rahmen einer bürgerlichen Gesellschaft mittlerer Existenzen. Noch bis in die vierziger Jahre galten die Hauptsorgen der Kammern dem Leinengewerbe, den Holzkohlebetrieben der Eisenindustrie, dem Landstraßentransit oder den Segelschiffern 271 . Allerdings mehrte sich seit Mitte der vierziger Jahre vor allem in Hessen-Darmstadt die Zahl derer, die zur Lösung der sozialen Krise auf eine raschere ökonomische Modernisierung drängten und die altliberalen Vorstellungen von Wirtschaft und Gesellschaft überwanden.

3. Zollverein und Staatsfinanzen. Zur fiskalischen Bedeutung des Zollvereins im hessischen Vormärz In weit stärkerem Maße als die ökonomischen Entlastungen und die innenpolitisch nützlichen Tarifvorstöße innerhalb des Zollvereins trugen die fiskalischen Erfolge der Zollvereinsmitgliedschaft in den dreißiger und frühen vierziger Jahren dazu bei, die innenpolitische Situation der hessischen Staaten zu entschärfen und die Herrschaft der alten Gewalten zu stabilisieren 1 . Hessen-Darmstadt und Kurhessen hatten bereits vor der Gründung des großen Deutschen Zollvereins in wachsendem Maße von den fiskalischen Erfolgen des preußischen Zollsystems profitiert. Sie erhielten nicht nur einen beachtlichen einmaligen Zuwachs an Zolleinnahmen, vielmehr stiegen die Zollrevenuen auch in den folgenden Jahren meist kontinuierlich an. In Hessen-Darmstadt waren beispielsweise für die Finanzperiode 1830/32 Nettoeinnahmen in Höhe von 1800000 fl. veranschlagt worden, die erzielte Realeinnahme betrug jedoch schließlich 2080875 fl.2. Mit gutem Recht sprach daher der Finanzausschuß der zweiten Kammer nach der Gründung des Deutschen Zollvereins die Erwartung aus, »daß diese Einnahme für die Zukunft sich noch erhöhen wird, wenn einmal das System der Verwaltung in allen Teilen des Vereinsgebietes einen höheren Grad von Ausbildung erreicht haben wird und wenn der Umstand, daß in den neueren Bestandteilen des Vereins anfänglich viele unerreichbare Warenvorräte vorhanden waren, keinen Einfluß mehr auf das Zolleinkommen äußern kann. Treten noch weitere Vergrößerungen des Zollvereins ein, so ist überdies auch eine Verminderung der Ausgaben zu erwarten, 217

indem deren Verhältnis zur Einnahme stets günstiger wird, je mehr der Umfang und die Arrondierung des Vereins zunimmt. « 3 Die dann auch durch steigende Importe 4 begünstigte Einnahmeentwicklung des Zollvereins hat diese Erwartung voll bestätigt. Zwischen 1834 und 1847 wuchsen die Nettoeinnahmen des Zollvereins von 12178761 rtl. auf 24727099 rtl., und entsprechend groß waren auch die Steigerungsraten der nach dem jeweiligen Bevölkerungsstand errechneten einzelstaatlichen Anteile 5 . Die Aussicht auf höhere Revenuen hatte zwar bei den meisten Regierungen die Beitrittsentscheidung wesentlich mitbestimmt, doch die rasanten Steigerungsraten der Folgezeit übertrafen wohl selbst die kühnsten Erwartungen bei weitem. Ein Blick auf die einzelnen Etats der hessischen Staaten zeigt allzu deutlich, welch große Rolle den wachsenden Zolleinnahmen im vormärzlichen Finanzwesen zufiel. In Hessen-Darmstadt, das von den Mitte der zwanziger Jahre veranschlagten Zolleinnahmen nur eine geringe Realeinnahme verbuchen konnte, lag der Anteil der Zölle am Einnahmeetat vor dem Zollvereinsbeitritt noch bei 5,8%. 1845 betrug er dagegen bereits 12,8%, obwohl jetzt nur noch die Nettoeinnahmen im Etat erschienen6. Das eigentliche Gewicht der Zollvereinsrevenuen war daher noch viel höher, als es die Prozentzahlen vermuten lassen, denn mit Ausnahme des Rheinoktrois wurden bei allen anderen Einnahmeposten die Bruttozahlen eingesetzt. Im übrigen aber gingen die aus dem Zollverein bezogenen Einnahmen bis Mitte der vierziger Jahre in der Regel weit über die veranschlagte Etatsumme hinaus. In der Finanzperiode von 1839 bis 1841 waren Zolleinnahmen in Höhe von 2100000 fl. veranschlagt worden, die Hessen-Darmstadt in den oft Jahre später erfolgenden definitiven Abrechnungen zugesprochene Summe betrug dann jedoch 2767167 fl. 7 . Diese im Vormärz fast zur Regel werdende Praxis bedeutete eine zusätzliche Erweiterung des Finanzspielraums der Regierungen 8 . Der im Gefolge des Zollvereins vereinbarte Verzicht auf einen Teil der Rheinzölle und die zeitweise auf 60000 fl. im Jahr ansteigende Rheinzollrückvergütung schmälerten zwar die finanziellen Gewinne aus dem Zollverein, änderten aber nichts an der überragenden Bedeutung der Zollvereinsrevenuen, zumal diese Abgabeerleichterungen durch zusätzliche Einnahmen aus dem wachsenden Rheinverkehr ausgeglichen werden konnten 9 . Im kurhessischen Etat erhöhte sich der Anteil der Zolleinnahmen von 9,4% im Jahre vor dem Zollvereinsbeitritt auf 17,9% im Jahre 1846 10 . In diesem Falle basierten beide Angaben auf Bruttobeträgen. Aber während 1831 angesichts der hohen Verwaltungskosten kaum etwas an Realeinnahmen übrigblieb, belief sich die Nettoeinnahme des Jahres 1846 bei einem Bruttobetrag von 723460 rtl. noch immer auf über 600000 rtl. 1 1 Den weitaus größten Anteil nahmen die Zolleinnahmen im Etat der nassauischen Landessteuerkasse ein, weil hier die landständischer Kontrolle entzogenen Domäneneinkünfte im vorgelegten Etat der Landessteuerkasse 218

fehlten und dadurch den anderen Einnahmeposten ein größeres Gewicht zufiel als in den Nachbarstaaten. Im Jahre 1833 lag der Anteil der Zollgefalle noch bei 12,1%, im ersten Jahr der Zollvereinsmitgliedschaft stieg er dann auf 23,8%, und 1846 betrug er 26,4% 1 2 . Damit bildeten die Zolleinnahmen nach den direkten Steuern den weitaus wichtigsten Einnahmeposten innerhalb der nassauischen Landessteuerkasse. Ihre wirkliche Bedeutung lag sogar noch höher, als es die Prozentanteile vermuten lassen, denn von allen Steuerposten wiesen die Zollgefálle die mit Abstand geringsten Erhebungskosten auf. 1846 erhielt Nassau aus den Zollvereinsabrechnungen 609215 fl. Da innerhalb des Zollvereins nur die im Grenzschutz anfallenden Kosten gemeinschaftlich verrechnet wurden 13 , mußte das Binnenland Nassau von dieser Summe zwar noch die Ausgaben seiner eigenen Zollämter bestreiten, doch dieser Betrag belief sich nur auf 25180 fl. 1 4 . Zwischen 1830 und 1846 lagen die Zuwachsraten der Zolleinnahmen in allen drei hessischen Staaten wie im übrigen auch bei den meisten anderen Vereinsstaaten weit über der durchschnittlichen Steigerungsrate aller Staatseinnahmen 15 . In Kurhessen wuchsen die Zolleinnahmen im Zeitraum von 1831 bis 1846 nach den Angaben der Hauptvoranschläge um 167,7%, die gesamten Staatseinnahmen aber nur um 40,7%. In Nassau betrug die Zuwachsrate der Zollgefálle zwischen 1830 und 1846 174,5% gegenüber 43,9% bei den Gesamteinnahmen der Landessteuerkasse. In Hessen-Darmstadt schließlich, wo der erste sprunghafte Anstieg der Zolleinnahmen bereits 1828/29 erfolgt war, stiegen die Zollvereinsrevenuen im Zeitraum von 1830 bis 1846 mit etwa 100% ebenfalls weit stärker als die Gesamteinnahmen, die nur einen Zuwachs von 22,5% aufwiesen 16 . Angesichts dieser gewaltigen Steigerungsraten kann man die Bedeutung des Zollvereins für die vormärzliche Finanzpolitik der hessischen Staaten gar nicht hoch genug einschätzen. Die Integration neuer Gebietsteile, der damit verbundene Aufbau neuer, zentralistischer Verwaltungsstrukturen und andere neue Staatsaufgaben ließen den staatlichen Finanzbedarf seit Beginn des 19. Jahrhunderts kräftig ansteigen 17 . Da die Domänen und andere staatliche Besitzungen als Einnahmequellen meist ausgeschöpft waren und die Steigerung bei den direkten Steuern stets zu inneren Auseinandersetzungen mit wachsenden Ansprüchen nach politischer Partizipation fuhren mußte 18 , boten sich die nach dem Zollvereinsbeitritt ohne große eigene Anstrengungen rasch zunehmenden Zolleinnahmen als geeigneter Weg an, um unter Umgehung innenpolitischer Friktionen einen Großteil des wachsenden Staatsbedarfs zu decken. In allen drei untersuchten Staaten ging die Bedeutung der direkten Steuern seit dem Zollvereinsbeitritt teilweise deutlich zurück. In HessenDarmstadt betrug das Verhältnis zwischen direkten und indirekten Steuern 1820 noch 46%: 19,3%. Durch die wachsenden Einnahmen aus Tranksteuer, Salzmonopol und Rheinoktroi, vor allem aber aus den Zöllen erfuhr dieses Verhältnis in den folgenden Jahren eine völlige Umkehrung. 219

In der Finanzperiode 1845/47 lag der Anteil der indirekten Steuern bei 45%, während die direkten Steuern auf 24,8% abgesunken waren. Auch die absolute Höhe der direkten Steuern stand in den dreißiger und vierziger Jahren deutlich hinter den früheren Werten zurück 19 . In Kurhessen, wo den direkten Steuern angesichts der vergleichsweise hohen Einnahmen aus Staatsvermögen um 1830 eine geringere Bedeutung zufiel als in den Nachbarstaaten 20 , stiegen die direkten Steuern zwar in den ersten Zollvereinsjahren noch etwas an, doch seit Ende der dreißiger Jahre trat ebenfalls ein Stillstand ein. Der Anteil der direkten Steuern am Gesamtbudget war auch im kurhessischen Vormärz deutlich rückläufig. Zwischen 1831 und 1846 sank er von 19,8% auf 15,8%, während sich der Anteil der indirekten Steuern von 20,6% auf 26,7% erhöhte 21 . In Nassau schließlich war der Anteil der direkten Steuern zwar schon zwischen 1820 und 1835 von 55,9% auf 46,4% gefallen, doch bereits im ersten Jahr der Zollvereinsmitgliedschaft verminderte sich der entsprechende Anteil noch einmal um 8,1% 2 2 , weil die Regierung anders als in beiden Nachbarstaaten sofort nach dem Zollvereinsbeitritt die direkten Steuern senkte und somit die Steuerzahler rascher und nachhaltiger für die gestiegenen Kolonialwarenzölle entschädigte. Als die Regierung zu Beginn der vierziger Jahre durch die Einführung eines neuen Grundkatasters das Erhebungsverfahren reformierte 23 , stiegen die Einnahmen aus den direkten Steuern wieder etwas an, doch angesichts fortdauernder Einnahmeüberschüsse wurden diese Steuern schon bald wieder deutlich gesenkt. 1846 lag der Anteil der direkten Steuern wiederum bei nur 35,2%, dagegen entfielen 56,8% der Einnahmen auf Zölle, Chausseegelder, Salzmonopol, Stempel und Rheinzölle 24 . Die Zolleinnahmen trugen somit entscheidend dazu bei, die hessischen Staatsfinanzen in einer auch finanzpolitisch recht schwierigen Übergangszeit für einige Jahre einigermaßen in Ordnung zu halten 25 , die Regierungen von neuen Steuerforderungen weitgehend zu entbinden und damit die innenpolitische Situation nach den Auseinandersetzungen der frühen dreißiger Jahre vorerst zu stabilisieren. Es war nicht allein auf eine sparsame Verwaltung, sondern vor allem auf den in seinem Ausmaß kaum erwarteten Zuwachs der Zollvereinsrevenuen zurückzufuhren, daß die hessischen Staaten in einigen vormärzlichen Finanzperioden teilweise beträchtliche Einnahmeüberschüsse erwirtschafteten 26 . Diese auf den ersten Blick sehr günstig erscheinende Einnahmegestaltung darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß durch die zögernde Reformpolitik auf etlichen Gebieten ein erheblicher Nachholbedarf bestand und auf die hessischen Staaten langfristig »eine Lawine an neuen Ausgaben« zurollte 27 , die dann seit 1848 das Finanzwesen der kleineren Staaten größten Belastungen aussetzte. Schon die großen Lebensmittelkäufe im Hungerjahr 1847 rissen tiefe Löcher in die bis dahin recht geordneten Einnahmeetats. Die durch ökonomische und politische Krisen verursachten Einnahmeausfälle, die teilweise kostenträchtigen Reformen der Revolutionsjahre und die seit Mitte der 220

vierziger Jahre auch im hessischen Raum anwachsenden Eisenbahninvestitionen steigerten das entstandene Defizit dann in beträchtlichem Maße. U m die schnell zunehmenden Finanzprobleme in den Griff zu bekommen, mußten alle drei Staaten schon im Sommer 1848 Anleihen in Millionenhöhe aufnehmen, ohne daß der wachsende Geldbedarf damit bereits gedeckt war 2 8 . Wegen des großen Finanzbedarfs konnten nun auch die Zollvereinsrevenuen die alte stabilisierende Funktion nicht mehr aufrechterhalten. Im Gegenteil, auch sie verzeichneten 1848 einen deutlichen Rückgang. 1847 betrug die Nettoeinnahme des Zollvereins noch 24727099 rtl., 1848 sank sie auf 19929061 rtl. ab, und es dauerte bis Mitte der fünfziger Jahre, ehe die Einkünfte des Vereins wieder an die vormärzlichen Rekordergebnisse anzuknüpfen vermochten 2 9 . Obwohl sich nun die Anteile der Zollvereinsrevenuen in den einzelnen Etats der hessischen Staaten u m einige Prozent reduzierten, blieben sie gerade angesichts der angespannten Finanzlage ein unentbehrlicher Einnahmefaktor, der die hessischen Staaten auch weiterhin an den Zollverein mit Preußen band. Schon die Zeitgenossen werteten die fiskalischen Ergebnisse des Zollvereins als eine wichtige Klammer des begonnenen Integrationsprozesses. Heinrich Ludwig Biersack, der hessen-darmstädtische Direktor der Frankfurter Zollverwaltung, schrieb 1850 zu den finanziellen Zwecken des Zollvereins, daß diese den staatswirtschaftlichen gleichzustellen seien, und er fügte hinzu: »In günstigen finanziellen Resultaten des Zollvereins dürfte vielmehr eines der wichtigsten und sichersten Bindemittel desselben zu erblicken sein. « 3 0 Weit stärker als bei den vielfach umstrittenen und regional unterschiedlich verteilten wirtschaftlichen Erfolgen gab es hinsichtlich der fiskalischen Gewinne innerhalb des Zollvereins eine »perzerpierte Gleichheit der Profitverteilung«, die positive Einflüsse auf den Integrationsprozeß ausübte 3 1 . A u f dem finanziellen Sektor stand Mitte der vierziger Jahre keiner der beteiligten Staaten schlechter da als zu Beginn der Integration. Auch als wenige Jahre zuvor über die erste Verlängerung der Zollvereinsverträge verhandelt worden war, hatte allein die Hegemonialmacht Preußen in finanzieller Hinsicht Anlaß zur Unzufriedenheit gesehen. In der zur Vereinsgründung führenden Ära von Bernstorff, Motz und Maaßen hatte die preußische Bürokratie fiskalische Einbußen bewußt in K a u f genommen, u m andere deutsche Staaten zum Zollvereinsbeitritt zu bewegen und die preußische Ausgangsbasis in der mitteleuropäischen Politik durch moralische Eroberungen auszubauen. Die konservativen Kräfte, die sich schon vor dem Abschluß der großen Zollvereinsverträge des Jahres 1833 in der preußischen Bürokratie nach vorne geschoben hatten und seitdem gemeinsam mit Österreich die alte Politik der konservativen Solidarität betrieben, wußten mit den von Motz einst gepriesenen politischen Vorteilen des Zollvereins wenig anzufangen. Aus ihrer begrenzten preußisch-partikularistischen Sicht kamen sie schon bald zu der Ansicht, 221

daß der Zollverein fur Preußen kaum Nutzen, dafür aber um so mehr finanziellen Schaden gebracht hätte 32 . In der Tat waren die Zolleinnahmen in Preußen ganz im Gegensatz zu den rasanten Einnahmesteigerungen bei den anderen Vereinsstaaten in den ersten Jahren des neuen Vereins um über 20% gefallen und näherten sich erst Ende der dreißiger Jahre langsam wieder ihrem alten Stand 33 . Das moderne preußische Zollsystem hatte seit 1818 hervorragende Finanzresultate geliefert, seine Übertragung aufweite Teile Mitteleuropas kam dann aber in finanzieller Hinsicht vor allem den Partnern zugute, deren eigene Zollsysteme weit weniger effizient gewesen waren 34 . Sie profitierten nun über die nach der Bevölkerungszahl geregelte Revenuenverteilung sowohl vom höheren Verbrauch in Preußen mit seinen großen Städten als auch von den größeren Nettoeinnahmen einer eingefahrenen preußischen Zollverwaltung. Gegen die aus all diesen Gründen rasch zunehmende innerpreußische Zollvereinskritik mußte sich schon Mitte der dreißiger Jahre ein Beamter zur Wehr setzen, der zu den Berliner Zollvereinspionieren gehörte und innerhalb des Finanzministeriums inzwischen von den Gegenkräften zurückgedrängt worden war. Der Geheime Finanzrat Ludwig Kühne betonte in seiner Denkschrift des Jahres 1836 gegenüber den Anhängern eines streng fiskalischen Denkens, »daß wenn selbst die finanziellen Ergebnisse sich anders, als erhofft ist, stellen sollten, und hierdurch das unveränderte Fortbestehen der getroffenen Einigungen in Frage käme, dennoch, bei der durch das jetzige nähere Zusammenleben herbeigeführten besseren Würdigung der gegenseitigen Interessen, an ein Wiederaufleben solcher Zollabsperrungen zwischen den einzelnen deutschen Ländern, als noch vor zehn Jahren bestanden, niemals zu denken sein, und selbst in dieser Voraussetzung der Abschluß der jetzt bestehenden Zollvereinigungen von dauerndem und wesentlichem Nutzen fur das gemeinsame deutsche Vaterland bleiben wird» 35 . Im übrigen verwies Kühne darauf, daß durch die Verbesserungen in den Verwaltungen der Partnerstaaten und die Überwindung der anfänglichen Schwierigkeiten die finanziellen Ergebnisse auch für Preußen bald wieder besser ausfallen müßten. Trotz dieser entschiedenen Verteidigung des Zollvereins und trotz Kühnes Appell, die Partikularinteressen dem »größeren Ganzen und dessen Gesamt-Interesse« unterzuordnen 36 , behielt die Finanzpartei innerhalb der preußischen Bürokratie vorerst die Überhand. Ende 1839 konfrontierte Preußen die übrigen Vereinsstaaten mit einer Denkschrift, die sich ausfuhrlich mit dem »Einfluß der Zollvereinigungs-Verträge auf die Preußischen Staats-Einnahmen« befaßte und unter Hinweis auf erlittene Einbußen für den Fall der Vertragsverlängerung konkrete finanzielle Forderungen anmeldete, um die entstandenen Einnahmeverluste auszugleichen oder zumindest zu verringern 37 . Unter den Forderungen, zu denen sich Preußen berechtigt sah und die es als Bedingung für die allseits gewünschte Verlängerung der Zollvereinsverträge aufstellte, waren die Besteuerung des 222

Rübenzuckers sowie eine umfassende Neuregelung der Weinbesteuerung die wichtigsten. Nach preußischer Ansicht sollte vor allem ein Zustand beendet werden, der den süddeutschen, hessen-darmstädtischen und nassauischen Weinen einen erleichterten Zugang in die nördlichen Vereinsstaaten verschaffte und die betreffenden Staaten gleichzeitig über die Revenuenteilung finanziell an dem im Norden größeren Konsum ausländischer Weine teilhaben ließ. Preußen forderte daher, die Besteuerung ausländischer Weine künftig zu trennen. Innerhalb des Zollvereins sollte nur noch ein niedriger, gemeinschaftlicher Eingangszoll erhoben werden. Daneben aber sollten die einzelnen Vereinsstaaten ausländische Weine mit einer eigenen Verbrauchssteuer belegen. Darüber hinaus sollten die in der Weinsteuergemeinschaft zusammengefaßten nördlichen Vereinsstaaten die Möglichkeit erhalten, die aus Süddeutschland, Hessen-Darmstadt und Nassau importierten Weine wesentlich stärker zu besteuern, als dies bisher über die Ausgleichsabgaben der Fall war 3 8 . Angesichts der großen fiskalischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten der Partner sah Preußen gute Chancen, seine Finanzpläne innerhalb des Zollvereins durchzusetzen. Der preußische Gesandte Dönhoff berichtete im Februar 1840 aus München, der bayerische König lege einen so großen Wert auf die Erneuerung der Vereinsverträge, »daß, solange dieselben noch nicht feststehen, Preußen hier auf große Zuvorkommenheit und Rücksicht rechnen kann« 39 . Dönhoff meinte sogar, daß Bayern bei einer früheren Drohung mit der Kündigung der Vereinsverträge »niemals so feindlich in den kirchlichen Angelegenheiten Preußen entgegengetreten wäre«, wie es seit 1837 unter dem Ministerium Abel geschehen war 4 0 . Später gab der preußische Gesandte noch die beruhigende Zusicherung, daß selbst bei einem Versuch der ultramontanen Kräfte, einen eigenen Verein zu gründen, »keine Zollvereins-Regierung auch nur daran denken würde, sich mit Bayern vom großen Zollverein loszusagen« 41 . Auch die hessischen Regierungen bekräftigten im Vorfeld der Vertragsverhandlungen ihre Absicht, aus ökonomischen, fiskalischen und innenpolitischen Motiven am vorteilhaften Zollverein festzuhalten. Aber während Kurhessen als Mitglied der nördlichen Weinsteuergemeinschaft die preußischen Finanzpläne begrüßte 42 , schlossen sich Hessen-Darmstadt und Nassau der von Bayern angeführten und von Preußen als Parteibildung innerhalb des Vereins gebrandmarkten süddeutschen Opposition gegen die Hegemonialmacht an 43 . Für Wiesbaden und Darmstadt war eine Verschlechterung der Exportchancen ihrer Weine unannehmbar. Du Thil vertrat gegenüber dem preußischen Geschäftsträger die Ansicht, daß Hessen-Darmstadt zwar in finanzieller Hinsicht erheblich von Preußen profitiert habe, daß dies aber durch die wirtschaftlichen Vorteile, die Preußen mit dem vermehrten Absatz seiner Fertigwaren erhalten habe, bei weitem wieder ausgeglichen worden sei. Der Darmstädter Minister spielte die ökonomischen Vorteile, die der Zollverein seinem Land gebracht hatte, 223

bewußt herunter und sprach entscheidende Vorteile nur noch dem Weinbau zu. Führe man das preußische Projekt dennoch durch, so verlöre Hessen-Darmstadt den wichtigsten handelspolitischen Vorteil des Zollvereins. Damit jedoch seien aus hessen-darmstädtischer Sicht entscheidende Grundlagen des Zollvereins erschüttert, da dieser dann nicht mehr auf der Gleichberechtigung aller Partner und der Gegenseitigkeit der Vorteile beruhe 44 . Ähnlich argumentierte die nassauische Regierung. Sie plädierte für eine Fortsetzung des Zollvereins, dessen Auflösung im gesamten Lande große Unruhe erzeugen würde, hielt aber die Verlängerung der Verträge unter den preußischen Bedingungen für unannehmbar. Finanzrat Magdeburg betonte sogar in einem langen Gegengutachten zu den preußischen Plänen: »Die Aussicht, einen größeren Markt und eine billigere Behandlung seiner Weine zu finden, war ein Hauptgrund für Nassau, dem Zollverein beizutreten; es hat dagegen Preußen und den übrigen Vereinsstaaten sonst den ausschließlichen Markt für ihre Produkte und Fabrikate in seinem Gebiet zugestanden. Wenn nun der beinahe alleinige Vorteil für Nassau verloren gehen sollte, so würde es besser sein, aus dem Verein wieder herauszutreten. Nassau kann hier nicht nachgeben. « 4 S Diese entschiedene mittelstaatliche Opposition gegen die preußischen Finanzpläne und die sehr schwierig anlaufenden Vertragsverhandlungen gaben innerhalb der Berliner Bürokratie jenen Kräften neuen Auftrieb, die wie die verbliebenen Zollvereinspioniere Kühne und Eichhorn mit dem Verein andere politische Pläne verfolgten, die aus den egoistischen Partikularforderungen erwachsenden Gefahren erkannten und um den bisher erzielten politischen Gewinn fürchteten 46 . Auch die während der Vertragsverhandlungen erfolgte Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. stärkte das Gewicht der alten Zollvereinspartei gegen ihre partikularistischen und sehr fiskalisch denkenden Kritiker. Der neue König Schloß sich den Ansichten der Zoll Vereinsanhänger an, »daß die finanziellen Opfer, welche die preußische Staatskasse den Zollvereinigungen gebracht hat, durch die Vorteile, welche diese Vereinigungen in anderen wichtigen Beziehungen gewähren, jedenfalls überragt werden« 47 . All dies erleichterte jene Kompromißlösungen, die am 8. Mai 1841 die Verlängerung der Vereinsverträge ermöglichten. Preußen ließ das Weinsteuerprojekt fallen und erhielt dafür Vorteile bei der Verteilung der Durchgangszölle sowie die Zustimmung zur Rübenzuckerbesteuerung, was ihm freilich am Ende weit weniger brachte, als es ursprünglich verlangt hatte. Die Mittelstaaten rangen Preußen schließlich auch noch das Zugeständnis ab, die neuen Verträge nicht auf sechs, sondern auf zwölf Jahre abzuschließen, um der Hegemonialmacht nicht so schnell wieder das Druckmittel der Vereinskündigung in die Hand zu geben 48 . Die in der ersten Hälfte der vierziger Jahre von 19013640 rtl. (1840) auf 24906173 rtl. (1845) ansteigenden Zollvereinseinnahmen 49 entschärften

224

schon bald nach der mühsamen Vertragsverlängerung den ausgebrochenen Streit um die finanziellen Resultate des Vereins. Obwohl nun auch Preußen in finanzieller Hinsicht wieder mehr profitierte und in etlichen Vereinsfragen eine flexiblere Politik verfolgte, blieb die Hegemonialmacht noch weit davon entfernt, zu der von Motz begonnenen Politik großzügiger Zugeständnisse zurückzukehren. Bei den Übergangsabgaben und in den Rheinzollfragen bestanden auch nach den neuen Regelungen des Jahres 1841 viele alte Streitfragen fort, die auf den Integrationsprozeß störend einwirkten. Trotz der andauernden Kritik an einzelnen Bestimmungen waren jedoch sowohl die Regierungen als auch die Kammern des hessischen Raumes mit der Verlängerung der Zollvereinsverträge außerordentlich zufrieden. Die zweite Kammer Hessen-Darmstadts begrüßte das gesicherte Fortbestehen des Zollvereins dabei nicht nur aus ökonomischen Motiven. Sie empfand vor allem auch die Zusage der Regierung besonders beruhigend, daß angesichts der Zolleinnahmen selbst bei einer höheren Gestaltung des Ausgabe-Budgets in der laufenden Finanzperiode keine weitere Steuererhöhung nötig sei50. Bei aller Kritik an einzelnen Maßnahmen der Hegemonialmacht war den hessischen Kammern nur zu bewußt, in welchem Maße die eigenen Finanzergebnisse der zollpolitischen Verbindung mit Preußen zu verdanken waren. Unter Zustimmung der meisten Abgeordneten stellte der Mainzer Demokrat Müller-Melchiors 1852 vor der zweiten Kammer Hessen-Darmstadts die berechtigte Frage: »Womit hätten wir unsere Staatsausgabe bestreiten sollen, wenn uns die preußischen Zollintraden gefehlt hätten?« 51

4. Ökonomische Integration und einzelstaatliche Souveränität. Die politischen Folgen der Zollvereinsmitgliedschaft 4.1. Die Souveränitätssicherung als leitendes mittelstaatlicher Zollvereinspolitik

Prinzip

Hatten streng konservative Partikularisten wie Marschall vor der Zollvereinsgründung noch die These verfochten, daß eine Vereinsbeteiligung die einzelstaatliche Souveränität und monarchische Autorität gefährden müsse, so erwies sich der Zollverein in seinen frühen Jahren durch ökonomische wie fiskalische Erfolge erst einmal eher als Stütze der monarchischen Gewalt und der einzelstaatlichen Existenz1. Obwohl auch die Hegemonialmacht vor 1850 nichts unternahm, was die Stellung der souveränen Gliedstaaten ernsthaft untergraben hätte, blieb bei vielen beteiligten Klein- und Mittelstaaten aber weiterhin ein gewisses Mißtrauen gegenüber Preußen bestehen. Dies galt nicht zuletzt für die im direkten Vorfeld der Hegemonialmacht gelegenen hessischen Staaten. 225

Bis Ende der dreißiger Jahre standen den am Integrationsprozeß beteiligten Staaten noch keine unmittelbar drohenden Gefahren bevor, doch dann wiesen die vom Zollverein begünstigten Modernisierungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft allmählich in andere Richtungen. Die mit der Zollvereinsgründung erzielten Ergebnisse reichten weiten Teilen des Bürgertums bereits in den vierziger Jahren nicht mehr aus 2 . Der ökonomische Fortschritt verlangte schon bald nach neuen Integrationsfortschritten hin zu einem wirklichen nationalen Markt, den der Zollverein noch nicht vollständig hatte verwirklichen können. Darüber hinaus wurde der Zollverein nun immer mehr zu einem entscheidenden Impuls für das bürgerliche Streben nach nationaler Integration und konstitutioneller Reform 3 . All dies gefährdete die bisherige Existenz des Partikularstaates ebenso wie jene Pläne eines Teils der preußischen Bürokratie, der im Sinne von Motz die vorhandenen wirtschaftsnationalen Tendenzen zu einer Ausweitung des preußischen Einflusses nutzen wollte und in den vierziger Jahren neuen Auftrieb bekam. Die daraus resultierenden Gefahren bestärkten die hessischen Regierungen, sich nicht nur weiterhin vorrangig am politischen System des Deutschen Bundes und der dabei gegebenen österreichischen Protektion zu orientieren, sondern auch innerhalb des Zollvereins jeden Vorstoß zu parieren, der Autonomie und Souveränität der kleineren politischen Einheiten zu beeinträchtigen schien. Alle drei hessischen Staaten gehörten zu jenen Immediatmitgliedern, die im Unterschied zu einigen zollrechtlich mediatisierten Kleinstaaten Sitz und Stimme auf den Generalkonferenzen besaßen und deren vertragliche Verpflichtungen »unter dem Vorbehalt der vollen Gegenseitigkeit, der uneingeschränkten Gleichberechtigung und des absoluten Vetorechts« standen 4 . Dem kleinen Herzogtum Nassau, das sich aus Gründen der Souveränitätssicherung relativ spät dem Zollverein angeschlossen hatte, war es schon im Verlaufe der Beitrittsverhandlungen schwer gefallen, diese Position innerhalb des Vereins zu erringen. Folglich reagierte der zunächst kleinste Immediatstaat auch besonders empfindlich gegenüber vermeintlichen Beeinträchtigungen dieser errungenen Bastion. Das Staatsministerium und der seit 1839 regierende Herzog Adolf sahen zwar im Jahre 1840 die Verlängerung des Zollvereins als politische und ökonomische Notwendigkeit an, aber sie verwahrten sich schon im Vorfeld der Verhandlungen ausdrücklich gegen alle Versuche, die das im Zollverein bestehende System der Rechtsgleichheit unterhöhlen konnten s . Als dann im Zuge der Vereinsverlängerung auch der Beitritt des Herzogtums Braunschweig beschlossen worden war 6 , wollte die nassauische Staatsfuhrung wegen einer vermeintlich ehrenvolleren Behandlung des anderen Herzogtums zunächst sogar die Ratifikation des Beitrittsvertrages verweigern. Im Verlaufe der zwischen Preußen und Braunschweig geführten Beitrittsverhandlungen war man nämlich übereingekommen, gegenseitige Vereinsbevollmächtigte auszutauschen. Dieses System wechselseiti226

ger Kontrolle der jeweils eigenständigen gliedstaatlichen Zollverwaltungen gehörte zu den Grundlagen der komplizierten Zollvereinsverfassung 7 . Gemäß Artikel 28 des nassauischen Beitrittsvertrages vom 10. 12. 1835 stand auch Nassau das Recht zu, »an die Zolldirection der contrahierenden Vereinsstaaten, wie umgekehrt den letzteren an die Herzoglich Nassauische Zolldirection, Beamte zu dem Zwecke abzuordnen, um sich von allen vorkommenden Verwaltungsgeschäften, welche sich auf die durch den gegenwärtigen Vertrag eingegangene Gemeinschaft beziehen, vollständige Kenntnis zu verschaffen« 8 . Angesichts des geringen Verwaltungsaufwandes der Wiesbadener Zolldirektion verzichteten die übrigen Vertragspartner dann jedoch auf die Entsendung eines ständigen Bevollmächtigten, während Nassau lediglich temporär einen eigenen Bevollmächtigten zur Kontrolle des Berliner Zollvereinsbüros, der Abrechnungsinstanz des Vereins, absenden sollte 9 . Von diesem Kontrollrecht machte Nassau jedoch bis 1841 keinerlei Gebrauch, zumal die Kosten der Kontrolltätigkeit stets auf einzelstaatliche Rechnung gingen. Als dann aber mit Braunschweig die gegenseitige Entsendung eines Vereinsbevollmächtigten vereinbart wurde, weil das neue Mitglied als Grenzland einen weit größeren Teil der Einnahmegeschäfte abwickelte und die Partner ein größeres Interesse an einer ständig kontrollierten Verwaltung besaßen, empfand die nassauische Staatsführung die eigene Behandlung plötzlich als diskriminierenden Vorgang. Nassau wies nun alle pragmatischen Überlegungen zurück und spielte die ganze Angelegenheit zur Rechts- und Rangfrage hoch 1 0 . Die preußische Regierung hatte schließlich einige Mühe, um die nassauische Opposition zu überwinden. Sie hob hervor, daß die Entsendung von Bevollmächtigten kein Ehrenrecht sei, sondern allein zur Wahrung der gegenseitigen Interessen und vor allem dem Gesamtinteresse des Zollvereins diene 11 . Während die nassauische Opposition den in seiner Substanz durchaus begrüßten Vertrag nicht mehr verhinderte, sorgte das kurhessische Souveränitätsstreben in einem anderen Falle dafür, daß ein von der Hegemonialmacht unter Billigung aller übrigen Vereinsstaaten mit Hannover vereinbarter Vertrag in der vorliegenden Fassung nicht zustande kam. Das Königreich Hannover war 1833 aus ökonomischen und politischen Erwägungen dem Zollverein ferngeblieben und hatte sich im Mai 1834 mit Braunschweig und Oldenburg zum sogenannten Steuerverein zusammengeschlossen 12 . Die weit niedrigeren Tarife des Steuervereins forderten an der Zollvereinsgrenze von Preußen und Kurhessen das Aufkommen eines vor allem mit Kolonialwaren betriebenen Schmuggels 13 , den der Zollverein aus naheliegenden fiskalischen Interessen rasch einzudämmen versuchte. Nachdem Preußen gegenüber dem Steuerverein gegenseitige Verkehrserleichterungen in Aussicht gestellt hatte, einigte es sich schon 1836 mit Hannover darauf, den Schleichhandel nicht nur durch bessere Kontrollen, sondern auch durch eine territoriale Flurbereinigung zu bekämpfen, in 227

deren Verlauf beide Vereine bestimmte Gebiete des anderen Partners in ihr Zollgebiet integrieren sollten. 14 Hannover machte den Abschluß dieses Zollkartells vor allem davon abhängig, daß einerseits sein Amt Münden in den Zollverein aufgenommen und andererseits die noch ganz außerhalb von Zollinien stehende kurhessische Exklave Schaumburg 15 dem Steuerverein zugeteilt werden sollte. Beide Forderungen richteten sich vorrangig an die Adresse Kurhessens. Die Kasseler Regierung lehnte freilich den Anschluß Mündens strikt ab, weil dann die kurhessischen Handelsstädte an Weser, Werra und Fulda ihre durch den Zollverein errungenen Vorteile gegenüber der hannoverschen Konkurrenz wieder teilweise eingebüßt hätten 16 . Dagegen erklärten sich Innen- und Außenministerium bereit, den hannoverschen Wunsch in der Schaumburgfrage zu erfüllen 17 . Beide verwiesen auf die Vorteile für die Staatskasse und die aus dem freien Verkehr mit Hannover resultierenden wirtschaftlichen Verbesserungen der Schaumburger Bevölkerung. Ausgerechnet das Finanzministerium widerstand jedoch nun den fiskalischen Verlockungen Hannovers und trat dafür ein, für alle kurhessischen Landesteile eine einheitliche Zollgesetzgebung anzustreben. Ziel dieser von Motz und Schwedes verfolgten Strategie war es, die Exklave Schaumburg statt in den Steuerverein so rasch wie möglich in den Zollverein zu integrieren 18 . Das Finanzministerium unternahm sogar eigene Bemühungen, um die mit Schaumburg ökonomisch eng verflochtenen lippischen Kleinstaaten vom Eintritt in den Steuerverein abzuhalten und für den Zollverein zu gewinnen, wodurch die einem Schaumburger Zollvereinsanschluß entgegenstehenden geographischen Schwierigkeiten entfallen wären 19 . Auch der Monarch billigte die vom Finanzministerium betriebene Politik und wollte vor weiteren Entscheidungen der lippischen Staaten keinen definitiven Entschluß fassen20. Es widerstrebte seinem Souveränitätsinteresse, eigenes Staatsgebiet zwischen Zoll- und Steuerverein aufteilen zu lassen, und er nahm dabei ebenso wie Motz und Schwedes bewußt in Kauf, daß die Verhandlungen mit dem Steuerverein ins Stocken gerieten, ja sogar zu scheitern drohten. Auch der erneut von der Mehrheit der Kasseler Minister gebilligte preußische Vorschlag, wenigstens den nördlichen Teil der Exklave dem Steuerverein zuzusprechen, um das gefährdete Zollkartell noch zu retten, stieß bei Friedrich Wilhelm auf entschiedenen Widerstand. Unter Hinweis auf ablehnende Stellungnahmen der betroffenen Bevölkerung 21 verwarf der Monarch eine zollpolitische Teilung seines Landes, die nur »viele Schwierigkeiten in Bezug auf Administration, Justizverwaltung, Salzregie usw. und manche Beschwerlichkeiten für die diesseitigen Untertanen mit sich führen würde« 22 . Kurhessen blockierte somit einen für den Zollverein aus fiskalischen Gründen äußerst wichtigen Vertrag, indem es die eigene Staatsräson eindeutig vor das Gesamtinteresse des Zollvereins stellte. Sein Widerstand gegen die hannoverschen Wünsche blieb so fest, daß der Steuerverein 228

wichtige Bedingungen fallen ließ und das Zollkartell doch noch zustande kam. Dieser am 1. August 1838 wirksam werdende, zunächst auf drei Jahre befristete Vertrag trug dann entscheidend dazu bei, den Schleichhandel an der Nordgrenze des Zollvereins einzudämmen 23 . Auch die kurhessische Ständeversammlung, in der einige Abgeordnete die noch immer zu großen Zugeständnisse an Hannover, vor allem das in Münden eingerichtete Abfertigungsamt des Zollvereins, heftig kritisierten24, unterstützte in der Schaumburgfrage eindrucksvoll die Politik des Kurprinzen. Sie stimmte auch 1838 der Erhebung von Durchgangszöllen in der bisher von Zollabgaben freien Exklave zu, die von Kurhessen ohne Rücksprache mit anderen Vereinsstaaten als Retorsion gegen das in den Steuerverein eingetretene Schaumburg-Lippe eingeführt wurden 25 . Preußen, das die Eingliederung der kurhessischen Exklave als nicht so wichtig ansah, um das gutnachbarliche Verhältnis zum Steuerverein zu gefährden, betrachtete die partikularistische Zollpolitik Kurhessens als einen Störfaktor der eigenen Politik 26 . Da diese langfristig ohnehin auf den Zollvereinsbeitritt des gesamten Steuervereins abzielte, lehnte es die von Kurhessen verlangte vorzeitige Integration Schaumburgs erst einmal ab, zumal dies ohne gleichzeitigen Beitritt Lippe-Detmolds die Verwaltungskosten des Zollvereins in einem nicht zu vertretenden Maße gesteigert hätte 27 . Erst als im Jahre 1841 durch die Zollvereinsbeitritte von Braunschweig und Lippe-Detmold im Norden eine völlig neue Situation entstanden war, wurde auch der letzte noch außenstehende kurhessische Landesteil in den Zollverein einbezogen. Kurhessen hatte damit nach hartnäckigem Insistieren ein wesentliches Ziel seiner Zollvereinspolitik erreicht28. Das in der Schaumburgfrage von Anfang an so stark betonte Souveränitätsprinzip wurde im übrigen auch im Anschlußvertrag hartnäckig weiterverfochten. Kassel lehnte einen preußischen Vorschlag ab, für die Gebiete Schaumburg, Lippe-Detmold und Pyrmont einen gemeinsamen Hauptzollamtsbezirk zu bilden und diesen der preußischen Zolldirektion im benachbarten Münster zu unterstellen. Kurhessen forderte vielmehr ein eigenes Hauptzollamt in Schaumburg, das allein der weit entfernten Kasseler Zolldirektion unterstellt werden sollte, und setzte dieses partikularistische, souveränitätsbetonte Verlangen schließlich auch gegen den Widerstand der Hegemonialmacht durch 29 . Die kurhessische Weigerung, die Zollverwaltung eines abgelegenen Gebietes unter die preußische Oberaufsicht zu stellen, ging nicht zuletzt darauf zurück, daß Kurhessen bereits vorher in seinen inneren Zollverwaltungsangelegenheiten deutlicher als andere Vereinsstaaten preußischem Druck ausgesetzt war. Preußen mußte als Staat, der aus eigener Sicht und in der Realität die größten finanziellen Lasten des Zollvereins trug, sehr daran interessiert sein, daß die gemeinschaftlichen Verwaltungsvorschriften in allen Vereinsstaaten peinlich genau eingehalten wurden und nutzte daher wie kein anderer Staat die in den Verträgen eingebauten Kontrollme229

chanismen. Hessen-Darmstadt hatte dieses preußische Streben bereits in den ersten Jahren in einigen Fällen zu spüren bekommen 3 0 . Nachdem aber dieser erste preußische Partner zum Binnenland geworden war, richtete sich das preußische Interesse vor allem auf Kurhessen, das im Norden noch einen wichtigen Abschnitt der Zollvereinsgrenze bewachen mußte. Im Jahre 1837 übte der nur periodisch in Kassel anwesende preußische Finanzrat Unruh so heftige Kritik am schlechten Zustand der kurhessischen Zollverwaltung 3 1 , daß sich die u m eine korrekte Vertragserfüllung besorgte Hegemonialmacht entschloß, den Finanzrat Budach noch im gleichen Jahr als ständigen Vereinsbevollmächtigten in die kurhessische Verwaltung zu schicken. Fügten sich die kleineren Staaten oft ohnehin nur schwer allen komplizierten Einzelbestimmungen des maßgebenden preußischen Verwaltungssystems 3 2 , so wurde der kurhessischen Bürokratie die ständige Präsenz eines preußischen Beamten vor allem deshalb besonders lästig, weil der bis in die sechziger Jahre in Kassel tätige Budach seine Aufgabe mit großer Gewissenhaftigkeit erfüllte, immer wieder einzelne kurhessische Verstöße gegen das Vereinsinteresse anprangerte 3 3 und damit vor allem am Anfang Verstimmungen der Kasseler Partner hervorrief 3 4 . Budach übte aus der Sicht Berlins nicht allein eine wichtige kontrollierende Funktion aus, vielmehr konnte er als direkt in der kurhessischen Verwaltung tätiger Beamter weit mehr Informationen über die wirtschaftlichen, sozialen und fiskalischen Verhältnisse des kurhessischen Staates liefern, als es dem preußischen Gesandten möglich war. Angesichts der großen Bedeutung, die Kurhessen schon aufgrund der geographischen Verhältnisse in wichtigen Fragen der preußischen Politik zukam, erwies sich dies als wertvolle Ergänzung zur eigentlichen Funktion des Vereinsbevollmächtigten. Es ist bezeichnend, daß die Hegemonialmacht die sich über die Bevollmächtigten des Zollvereins bietenden Chancen weit systematischer und entschlossener nutzte, als dies bei den Mittelstaaten geschah, w o man den eigenen Vereinsbevollmächtigten in erster Linie als Zeichen für die souveräne Stellung im Zollverein ansah. Das kurhessische Veto in der Schaumburgfrage war im übrigen einer der wenigen Fälle, in denen hessische Regierungen das als zentrale Souveränitätsgarantie gegebene Vetorecht voll einsetzten, um eine ungünstige Entscheidung des Zollvereins zu verhindern. Ansonsten blieb es meist bei der Androhung des Vetos, da die Druckmittel der Hegemonialmacht ausreichten, u m die ökonomisch und fiskalisch abhängigen Staaten zur Annahme der preußischen Vorschläge zu bewegen, wie es vor allem bei den Handelsverträgen mit Holland und Belgien der Fall war. Der Ablauf der wichtigsten zollvereinsinternen Entscheidungsprozesse zeigte, daß der Zollverein mit dem Einstimmigkeitsprinzip im Grunde nur funktionierte, »weil in ihm ein einzelner Staat ein ganz ungewöhnliches Übergewicht besaß« 3 5 . Preußen profitierte dabei allerdings auch von der zunächst geringen Kooperation der Mittelstaaten, die sich aufgrund vielfach divergierender

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Interessen vor 1850 nur in Einzelfragen - bei Übergangssteuern, Rheinzöllen oder Münzfragen - zu einer begrenzten Aktionsgemeinschaft gegen die Hegemonialmacht zusammenfanden. Schon die gescheiterten mittelstaatlichen Zollunionsversuche der zwanziger Jahre hatten deutlich werden lassen, daß ein relatives Machtgleichgewicht der beteiligten Staaten nicht unbedingt integrationsfÖrdernd wirkte. Die notwendigen Kompromisse konnten erst erzielt werden, als ein machtvolles Kerngebiet die Führungsrolle übernahm 3 6 . V o m einzelstaatlichen Rechtsstandpunkt aus gesehen, blieb zwar die ausbedungene Rechtsgleichheit nach der Zollvereinsgründung vorerst unangetastet, aber die wachsenden ökonomischen und fiskalischen Abhängigkeiten, in denen sich die kleineren Staaten gegenüber Preußen befanden, die eindeutige Berliner Führungsrolle in allen Zollvereinsfragen sowie der wachsende preußische Einfluß auf einzelstaatliche Zollentscheidungen ließen die preußische Hegemonialstellung schon vor 1848 immer deutlicher hervortreten. In den hessischen Staaten war daher der Großteil der traditionalen Eliten auch nach dem Zollvereinsbeitritt eifrig bemüht, die vorhandenen Gegengewichte gegen eine Ausweitung preußischer Machtpositionen aufrechtzuerhalten und den Zollverein weiterhin auf eine begrenzte Kooperation souveräner Staaten zu beschränken. Die nassauische Staatsführung, bei der die Furcht vor preußischen Mediatisierungsplänen seit 1813 stets am größten gewesen war, hatte ihre engen Kontakte zur Schutzmacht Österreich trotz des Zollvereinsbeitritts nie aufgegeben 3 7 . In der kurhessischen Außen- und Bundespolitik hatte es zwar nach dem Beitritt im Jahre 1831 und dem Ausscheiden des alten Kurfürsten Wilhelm II. eine leichte Akzentverschiebung zugunsten Preußens gegeben 3 8 , aber der preußische Einfluß blieb begrenzt und die gegenseitigen Beziehungen entwickelten sich keineswegs frei von Spannungen 3 9 . Im übrigen setzte bereits Anfang der vierziger Jahre beim Kurprinzen wieder eine engere Anlehnung an Österreich ein, von dem er sich eine nachhaltigere Unterstützung für eine ultrakonservative Innenpolitik erhoffte, während Preußen es ablehnte, gefährliche innenpolitische Experimente im wichtigen Nachbarstaat zu fordern, und die aufkommenden Staatsstreichpläne mißbilligte 40 . Auch Hessen-Darmstadt, das aufgrund des frühen Zollvereinsbeitritts und des stets gemäßigten Auftretens in den dreißiger und vierziger Jahren ein recht enges Vertrauensverhältnis zur Hegemonialmacht besaß 41 , nahm zwar immer wieder Rücksicht auf die mit Preußen eingegangenen Verbindungen, war aber ebensowenig wie andere Mittelstaaten bereit, das gesamte außen- und bundespolitische Handeln den Wünschen der Hegemonialmacht anzupassen. Jede der drei Regierungen versuchte, politische und ökonomische Integration streng voneinander zu trennen 42 , und sah in der neben dem Zollverein bestehenden politischen Organisation des Deutschen Bundes, vor allem aber in der dort federführenden Großmacht 231

Österreich eine wichtige Garantie gegen alle Versuche einer »Mediatisierung der Zollvereinsstaaten und der Unitarisierung des Zollvereins«43. All diese Bemühungen um die Absicherung des bestehenden Partikularstaates konnten jedoch schon im Vormärz nicht mehr darüber hinwegtäuschen, daß der Zollverein Prozesse begünstigte, welche die Basis einer solchen Politik zunehmend unterhöhlten. Die Anlehnung an Österreich blieb ein rein politischer Akt, der in den ökonomischen Beziehungen keinerlei Ergänzung fand. Im Gegenteil, der Zollverein band die Wirtschaft der hessischen Staaten und nicht zuletzt die aufstrebenden Branchen noch enger an Preußen, als es zuvor der Fall war. Diese wachsende ökonomische Abhängigkeit schlug sich schon vor der Revolution von 1848/49 in der Politik der hessischen Staaten nieder. Nicht nur beim Großteil des von den wachsenden Verflechtungen direkt profitierenden Bürgertums, sondern auch in Teilen der Beamtenschaft setzte sich seit der Zollvereinsgründung zunehmend die Ansicht durch, daß Preußen für den hessischen Raum der natürlichere Partner sei und die unausweichlichen Fortschritte in den inneren Verhältnissen Mitteleuropas vor allem unter preußischer Führung ablaufen sollten. Selbst du Thil, der in vielen politischen Fragen lange Zeit ein eifriger Parteigänger Metternichs war und 1847 die von den Liberalen vorgeschlagenen Pläne eines politischen Zollvereinsausbaus noch als Gefahr für den Deutschen Bund gebrandmarkt hatte 44 , kam 1850, zwei Jahre nach seinem Sturz, zu der Erkenntnis, daß die mittleren und kleineren Staaten wegen des militärischen Schutzes und der Notwendigkeit gemeinsamer Gesetze »ohne einen Stützpunkt gar nicht bestehen könnten«. »Eine derartige Gemeinsamkeit sei aber am leichtesten mit Preußen zu begründen, aus zwei Gründen: einmal wegen der Nachbarschaft und der durch sie bedingten Leichtigkeit des militärischen Schutzes, dann aber, und dies sei fast noch wichtiger, wegen der Analogie, der Ähnlichkeit, die zwischen den Volksstämmen und den inneren Verhältnissen beider Länder beständen. Österreich könne hierfür nicht Ersatz leisten, für das erste nicht wegen der zu großen Entfernung seiner Gebiete, für das zweite nicht wegen der gänzlichen Verschiedenheit seiner inneren Zustände, mithin auch seiner Interessen. «4S Gewiß hingen solche Einschätzungen eng mit neuen Erfahrungen zusammen, die der konservative du Thil beim Zusammenbruch des Metternichschen Systems machen mußte, aber sie waren zugleich auch eine Folge der langjährigen zollpolitischen Bindungen. Preußen hatte die Souveränität der kleineren Partner bisher weitgehend respektiert und war ihnen trotz der oftmals recht rigiden eigenen Interessenwahrung in fiskalischer und ökonomischer Hinsicht entgegengekommen. Österreich hatte sich dagegen in einem wichtigen Bereich Fortschritten widersetzt, »welche die wachsende Zivilisation erheischte und denen andere Regierungen Rechnung trugen« 46 . Es ist auffallend, in welchem Maße Preußen sich später 232

innerhalb der hessen-darmstädtischen und kurhessischen Bürokratie insbesondere auf solche Beamte stützen konnte, die maßgeblich an der Zollvereinsgründung und den folgenden Vereinsgeschäften beteiligt waren. In Hessen-Darmstadt unterhielt Preußen vor allem zu du Thil und Hofmann ein enges Vertrauensverhältnis, dessen Grundlagen auf den frühen hessendarmstädtischen Zollvereinsbeitritt zurückgingen 47 . In Kurhessen erwiesen sich der langjährige Finanzminister Gerhard von Motz und vor allem der erfahrene Zollvereinsunterhändler Schwedes als wichtige propreußische Anlaufstellen. Und auch in Nassau setzte Preußen während der ersten Zollvereinskrise größte Hoffnungen auf den mit Zollfragen beschäftigten Vollpracht, der als Leiter der Finanzabteilung mäßigenden Einfluß auf die antipreußische Politik der Regierung ausübte 48 . Die größten Erfolge konnte Preußen in der Regel bei solchen Beamten verbuchen, die im täglichen Zollvereinsgeschäft standen und bei denen der Zollverein vielfach eine entscheidende Etappe ihres beruflichen Aufstiegs darstellte. Die Übernahme des modernsten Zollverwaltungssystems in Mitteleuropa durch die übrigen Zollvereinsstaaten gab Preußen Chancen, auf Teile der einzelstaatlichen Verwaltungen einen gewissen Einfluß zu nehmen. Schon 1828 hatte sich der Kölner Provinzialsteuerdirektor von Schütz, ein Vertrauter von Finanzminister Motz, für eine angemessene Stellung und Dotierung der hessen-darmstädtischen Zollbeamten ausgesprochen, damit diese durch Preußen und den Zollverein in ihrer Position gestiegenen Beamten künftig ihren ganzen Einfluß zugunsten des neuen Vereins geltend machten und seinen Fortbestand sichern halfen 49 . Obwohl die Zollvereinspartei innerhalb der preußischen Bürokratie schon bald wieder zurückgedrängt wurde, erfüllten sich viele der von ihr in Bezug auf die Zollvereinsbeamtenschaft gehegten Hoffnungen. Die moderne, rational durchgestaltete Zollverwaltung nach preußischem Vorbild und die im Laufe der Zollvereinsentwicklung neu anfallenden Aufgaben staatlicher Wirtschaftspolitik erforderten vor allem auf der höheren Ebene einen modernen Beamtentyp, der »zunehmend fachgeschult und spezialisiert« sein mußte 50 und in den komplizierten Zollfragen bald gegenüber der restlichen Bürokratie einen kaum noch einzuholenden Informationsvorsprung besaß. Aufgrund seiner föderativen Organisationsstruktur setzte der Zollverein ständige Kontakte zwischen den beteiligten Staaten voraus, die in der Regel nicht mehr von den klassischen Diplomaten ausgeübt wurden, sondern eben von jenen spezialisierten Fachbeamten der inneren Verwaltung, die zudem auch in Preußen meist bürgerlicher Herkunft waren 51 . Die ständigen, über Beratungen und Korrespondenzen unterhaltenen Kontakte ließen bei einem Großteil der am Zollvereinsgeschäft beteiligten Beamten schon bald ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl, gleichsam eine kollektive Identifikation mit der neuen Institution entstehen 52 . Diese Sozialisation einer neuen nationalen Elite führte bei vielen dieser Beamten bereits in den dreißiger Jahren zu einem besonderen 233

Ethos und Pflichtgefühl, das dem Zollverein zweifellos zusätzliche Festigkeit verlieh und seine Erfolge erleichterte 53 . Als innerhalb der preußischen Bürokratie die hochkonservativen Kräfte bereits kurz nach der Zollvereinsgründung den erreichten Stand der Integration durch überzogene fiskalische Forderungen gefährdeten, war es der Zollvereinspionier Ludwig Kühne, der »die Angriffe gegen die Einrichtung des Zollvereins . . . abwehrte, ja sogar eine neue, vom Kronprinzen lebhaft unterstützte Kundgebung des Königs zu Gunsten der Erhaltung des Zollvereins zu Wege brachte« 54 . Der als einer der finanzpolitisch erfahrensten preußischen Beamten geltende Kühne betrachtete dabei den neuen Verein nicht mehr nur aus dem preußischen Partikularinteresse, sondern betonte ausdrücklich dessen »Nutzen für das gemeinsame deutsche Vaterland« 55 . Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel für die Rolle der Beamtenschaft als Klammer der neuen Integrationsprozesse schildert Rudolf von Delbrück, der langjährige Planer preußischer Handelspolitik und spätere Präsident des Bundes- und Reichskanzleramtes, in seinen Lebenserinnerungen. Seiner Ansicht nach stand für die meisten der Bevollmächtigten, die 1852 in Berlin über die strittigen Zollvereinsfragen konferierten, ganz im Gegensatz zu etlichen ihrer Regierungen, die sich jetzt aus politischen Gründen teilweise gegen die preußische Zollvereinspolitik stellten und sogar eine Spaltung des Vereins erwogen, ein Fortbestand des Zollvereins außer Zweifel; denn, so schreibt Delbrück, »die Mehrzahl derselben hatte vom Beginn ihrer Laufbahn an in Zollvereins-Angelegenheiten gearbeitet, der Zollverein war ihnen ein Stück des eigenen Daseins geworden« 56 . Delbrücks Aussagen bestätigen sich auch bei zwei hessischen Zollvereinsbeamten, die den Zollvereinsbeitritt ihrer Staaten gefördert hatten, seitdem enge Kontakte zu preußischen Stellen unterhielten und nicht nur zu den entschiedensten Verfechtern des Zollvereins gehörten, sondern später auch der preußischen Führungsrolle in den politischen Fragen Mitteleuropas positiv gegenüberstanden. In Hessen-Darmstadt war der berufliche Aufstieg Heinrich Ludwig Biersacks eng mit der Zollvereinsmitgliedschaft seines Landes verknüpft. Der aufgrund seiner autodidaktisch erworbenen Fähigkeiten 1810 in den hessen-darmstädtischen Steuerdienst aufgenommene und 1827 zum Oberfinanzrat beförderte Biersack wurde 1828 zum Leiter der neuerrichteten Darmstädter Zolldirektion ernannt 57 , wo er eine auch nach preußischer Ansicht hervorragende Arbeit leistete. Du Thil schreibt in seinen Memoiren, es sei vor allem Biersack zu verdanken gewesen, daß die anfänglichen preußischen Besorgnisse bezüglich der hessen-darmstädtischen Zollverwaltung rasch verflogen seien. Bei den preußischen Beamten habe Biersack schon bald »als eine wahre Autorität im Steuerfache« gegolten 58 . Auch später sprachen sich preußische Beamte immer wieder lobend über Biersack aus, darunter auch Rudolf von Delbrück, der den hessen-darmstädtischen Beamten treffend als »lebendiges Register der Zollvereinsverhandlungen« charakterisierte 59 . Dieser in Berlin 234

erworbenen Achtung war es zu verdanken, daß Biersack gegen kurhessischen Widerstand im Jahre 1836 zum Direktor der für den gesamten Zollverein so wichtigen Frankfurter Zollverwaltung bestellt wurde. Er übte diese Funktion bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1861 aus, vertrat aber vor 1850 noch des öfteren Hessen-Darmstadt auf verschiedenen Zollvereinskonferenzen und besaß bis zur Jahrhundertmitte einen wichtigen Einfluß in der Zollvereinspolitik seines Landes. Der liberale hessen-darmstädtische Ministerialrat Eigenbrodt beschreibt Biersack in seinen Erinnerungen aus den Revolutionsjahren als einen der politisch und wirtschaftlich fortschrittlichsten Beamten seines Staates und rühmt vor allem seinen durch die Zollvereinsarbeit geförderten politischen Weitblick: »Er hatte allen Zollkonferenzen beigewohnt, war hierbei mit Beamten aller Zollvereinsstaaten in Geschäftsberührung gekommen, überschaute mit vorurteilslos freiem Blick die Einrichtungen der verschiedenen deutschen Staaten und hatte, so eifrig er sich der besonderen Interessen seines Landes annahm, wo er diese gefördert fand, seinen Gesichtskreis weit über das Maß des spezifischen Darmstädter Partikularismus erweitert, in welchem unsere Bureaukratie befangen zu sein pflegt.« 60 In den Jahren 1848/49 leitete Biersack die Verhandlungen des Kollegiums der Zollkommissare, einer Versammlung einzelstaatlicher Fachbeamter, welche die Frankfurter Bemühungen um die kommerzielle Einheit Deutschlands unterstützen sollte 61 . Bei allen entscheidenden Fragen der Zollvereinspolitik stand Biersack auf der Seite des Staates, dem er einen Großteil seines beruflichen Aufstiegs verdankte. Schon 1842 war er ebenso wie führende preußische Beamte von der Unausführbarkeit einer völligen Zollvereinigung zwischen Österreich und dem Zollverein überzeugt 62 , eine Ansicht, die er in der Folgezeit mehrfach untermauerte. Auch in der vormärzlichen Schutzzollfrage neigte Biersack zur Position der Hegemonialmacht. Einerseits vertrat er die Ansicht, daß Schutzzölle »im Ganzen einen störenden und hemmenden Einfluß und somit eine nachtheilige Wirkung« auf die Produktion hätten 63 , andererseits wollte er jedoch eine »ausnahmsweise Anwendung von Sätzen des Schutzzolls« in begründeten Fällen nicht völlig ausschließen 64 . In einer privaten, 1851 an preußische Beamte übergebenen Schrift mit dem Titel »Aphorismen über den Zollverein« bekundete Biersack die großen Verdienste, die sich Preußen aus seiner Sicht um den Zollverein erworben hatte. Er verwies darauf, daß Preußen zu keinem Zeitpunkt seine politische und ökonomische Potenz dazu mißbraucht habe, »andere Staaten sein materielles Übergewicht in einer verletzenden Weise fühlen zu lassen« und ihre Rechte zu beeinträchtigen 65 . Folglich sah Biersack auch keinerlei Grund, aus Furcht vor Preußen alle auf eine straffere Organisation des Zollvereins hinzielenden Reformversuche abzublocken, vielmehr legte er nun einen Organisationsplan vor, der sowohl Majoritätsentscheidungen als auch eine leitende Zentralbehörde vorsah. Die neu zu schaffende oberste 235

Vereinsinstanz sollte vor allem Streitfragen bei der Auslegung der Zollgesetze klären helfen, die Revenuenteilung vorbereiten, Verordnungen sammeln und Gutachten erstellen. Wie weit Biersacks Identifikation mit dem Zollverein ging, zeigte sein Vorschlag, daß die drei bis fünf Beamten der Zentralbehörde nicht mehr als einzelstaatliche Beamte für den Zollverein arbeiten, sondern voll im Dienste des Gesamtvereins stehen sollten, was ihnen gegenüber den einzelstaatlichen Regierungen eine größere Eigenständigkeit verliehen hätte. Darüber hinaus wollte Biersack zwar aus Rücksicht auf die kleineren Staaten und deren Souveränitätsbedürfnisse das Vetorecht bei der Tarif- und Zollgesetzgebung bestehen lassen, aber bei Fragen der Auslegung von Zollgesetzen und Einnahmeabrechnungen sollten künftig Mehrheitsentscheidungen möglich sein. Die vorgeschlagene Stimmenverteilung Schloß allerdings eine Majorisierung durch Preußen aus, das lediglich ein Drittel der Stimmen besaß, und beließ den Mittelstaaten einen großen Spielraum. Hauptziel des neuen Organisationsplanes blieb es somit, unter Beibehaltung der wichtigsten einzelstaatlichen Kompetenzen die Organisation des Vereins so zu straffen, daß die Routinearbeit erleichtert und der Verein eine größere Geschlossenheit erhielt. Die preußische Regierung, deren spezifischen Machtinteressen in diesem Konzept eigentlich viel zu wenig Rechnung getragen wurde, sah in Biersacks Plänen dennoch einen wichtigen Fortschritt und einen Beweis für die Redlichkeit dieses Beamten 66 . Für die meisten Mittelstaaten waren 1851 allerdings selbst solche maßvollen Reformkonzepte nicht akzeptabel, da sie darin eine Stärkung des preußischen Einflusses sahen, den sie ja gerade zu jenem Zeitpunkt durch einen Konfrontationskurs gegen die Hegemonialmacht zurückdrängen wollten. Als die neue partikularistische, proösterreichische Regierung HessenDarmstadts Anfang der fünfziger Jahre gemeinsam mit anderen Mittelstaaten eine Politik betrieb, die eine Abkehr von der zollpolitischen Verbindung mit Preußen in ihr Kalkül zog, stieß dies bei Biersack auf entschiedensten Widerstand. Der hessische Fachbeamte unterhielt in jenen Jahren besonders enge Kontakte zum neuen preußischen Bundestagsgesandten Otto von Bismarck, der im Unterschied zu vielen preußischen Diplomaten die mit dem Zollverein gegebenen Chancen einer »offensiven, interessenorientierten Politik« erkannt und der vor Jahren einmal selbst daran gedacht hatte, über die Zollverwaltung im preußischen Staatsdienst aufzusteigen 67 . Die engen Beziehungen zu Preußen und die heftige Kritik an der den Zollverein gefährdenden eigenen Regierung veranlaßten die neue Darmstädter Staatsführung, Biersack künftig nicht mehr mit der Aufgabe eines Bevollmächtigten in Zollvereinskonferenzen zu betrauen 68 . In Kurhessen war es vor allem der Oberberg- und Salzwerksdirektor Schwedes, der innerhalb der Beamtenschaft zum engagiertesten Befürworter des Zollvereins wurde. Schwedes, der von 1831 bis 1845 in Zollvereinsund Eisenbahnangelegenheiten fast ebenso oft in Berlin wie in Kassel 236

weilte, besaß zu etlichen preußischen Beamten, vor allem zu den Zollvereinspionieren Eichhorn und Kühne, engste Beziehungen 69 . Er geriet frühzeitig in Loyalitätskonflikte zwischen den von ihm anerkannten Zollvereinsinteressen und den für ihn nicht immer zu rechtfertigenden Sonderwünschen der kurfürstlichen Regierung, die er gegen Preußen und andere Vereinsstaaten verteidigen sollte und die ihn schließlich zu dem Seufzer veranlaßten: »Wehe dem, der für Kurhessen auswärts agieren muß.« 7 0 Schon in der Gründungsphase des Zollvereins hatte er sich als kurhessischer Bevollmächtigter bei den Berliner Verhandlungen eigenmächtig über einige seiner Ansicht nach nicht zu rechtfertigende Bedenken der Kasseler Regierung hinweggesetzt 71 . Auch später beklagte er noch oft das kleinliche Hineinregieren des Monarchen, dessen Überempfindlichkeit bei Rangfragen und Furcht vor Übervorteilungen durch andere Vereinsstaaten 72 . Nur in der Schaumburgfrage stellte sich Schwedes mit dem Monarchen gegen die Hegemonialmacht, aber die von ihm propagierte Lösung entsprach seiner Ansicht nach nicht nur d.em kurhessischen Partikularinteresse, sondern er hielt die rasche Integration Schaumburgs auch im Gesamtinteresse des Zollvereins für den besseren Weg, durch den sich im Norden neue Chancen ergaben 73 . Im übrigen aber drängte der in wirtschaftlicher Hinsicht zu den fortschrittlichsten Beamten Kurhessens zählende Schwedes 74 wie kein anderer immer wieder auf eine korrekte Erfüllung der in den Zollvereinsverträgen eingegangenen Verpflichtungen 75 . Angesichts der propreußischen Neigungen, aber auch angesichts der von den reaktionären Tendenzen des Herrschers abweichenden innenpolitischen Linie wurde die Stellung des Oberberg- und Salzwerksdirektors innerhalb der kurhessischen Bürokratie schon seit den vierziger Jahren zunehmend schwieriger. 1848 konnte der dem gemäßigten Liberalismus nahestehende Schwedes noch zum Finanzminister aufsteigen, doch schon nach kurzer Zeit trat er wegen heftiger Differenzen mit dem Kurfürsten von diesem Amt zurück. Zu Beginn der kurhessischen Reaktionsära verlor er dann auch seinen verbliebenen Direktionsposten und wurde auf Wartegeld gesetzt 76 . Als sich 1849/50 mit den österreichischen Mitteleuropaplänen die erste große Zollvereinskrise anbahnte, stellte sich Schwedes, dem 1849 sogar von den kleindeutschen Liberalen eine Kandidatur fur das Erfurter Parlament angeboten worden war 77 , sofort auf die preußische Seite und lehnte wie Biersack eine Zollvereinigung mit Österreich entschieden ab. Er vertrat die Ansicht, »daß Deutschland von derselben weder finanziell noch volkswirtschaftlich Vorteil, sondern eher Nachteil zu erwarten hätte, daß die politische Entwicklung Deutschlands schon durch ein formelles Eingehen auf die Anträge in dieser Richtung beirrt werden würde« 78 . Nachdem Schwedes 1851 seine entscheidenden Einflußmittel verloren hatte, scheute er sich nicht, durch die Veröffentlichung seines propreußischen zollpolitischen Konzepts die öffentliche Meinung des Landes gegen die seiner 237

Ansicht nach allen ökonomischen und politischen Interessen Kurhessens widerstrebende Politik des Kurfürsten zu mobilisieren 79 . Diese öffentliche Parteinahme wiederholte sich auch in der zweiten Zollvereinskrise, als der inzwischen förmlich pensionierte Schwedes trotz mancher Skepsis gegen die damalige preußische Politik im Verfassungskonflikt die von den Mittelstaaten in den Zollvereinsfragen eingenommene Position scharf attackierte und für den Fortbestand des Zollvereins eintrat 80 . Die Beispiele Schwedes und Biersack zeigten, welche Reaktionen die neuen Zollvereinsloyalitäten bei den traditionalen Eliten hervorrufen konnten. Dies mußte im übrigen auch der bayerische General-Zolladministrator von Bever schon 1845 erfahren, der sich angesichts seiner Zollvereinstätigkeit und der dabei aufgebauten Beziehungen zu Preußen gegen Tendenzen der ultramontanen Partei gewandt hatte, den Zusammenhalt des Zollvereins durch eine stärkere partikularistische Politik Bayerns wieder zu lockern 81 . Die traditionalen Eliten der Partikularstaaten vermochten zwar einzelne unliebsame Zollvereinsbeamte in ihrem Einfluß zurückzudrängen, die Verselbständigungstendenzen der Zollvereinsbürokratie waren allerdings auf diesem Wege nicht mehr völlig aufzuhalten. Auch in späteren Jahren verfolgten die zollpolitischen Fachbeamten meist alle Vorstöße der Regierungen mit großer Skepsis, die eine kontinuierliche Entwicklung des Zollvereins gefährdeten. Wie schon innerhalb der preußischen Staatsbildung 8 2 , spielte somit die Bürokratie auch bei der Entwicklung des Zollvereins eine entscheidende Rolle. Wolfram Fischer zog hieraus den weitergehenden Schluß, daß der Zollverein auf dem Gebiete der Verwaltungsroutine die kleindeutsche Einheit vorbereitet habe: »Soweit das Gewicht eines Verwaltungsapparates politische Entscheidungen beeinflußt, trug der Zollverein zur Gründung des zweiten Deutschen Reiches bei.« 83 Und William O . Henderson kam in seiner großen Gesamtdarstellung des Zollvereins zu dem Ergebnis: »The Zollverein is the contribution of the Prussian Civil Service to the founding of the German Empire. « 84 Mit der den Zollverein festigenden preußischen Penetration einzelstaatlicher Verwaltungen wurden freilich nicht nur jene als positiv gerühmten Seiten des preußischen Verwaltungssystems - die Dienstethik, Verläßlichkeit und Unbestechlichkeit der Beamten - in andere deutsche Staaten exportiert, sondern eben auch die für Preußens Bürokratie so typische »Militarisierung von Wahrnehmungs- und Handlungsstandards« 85 . Schon 1828 hatte Preußen gegenüber dem beitretenden Hessen-Darmstadt auf eine möglichst auffallende, Respekt erheischende militärische Bekleidung des Zollpersonals gedrängt und gleichzeitig eine dem preußischen Vorbild entsprechende Besoldung und versorgungsrechtliche Absicherung verlangt, um die Zollbeamten gegenüber Bestechungsversuchen zu immunisieren und die Grenzbeamten bei ihrer nicht ungefährlichen Tätigkeit zu höchstem Einsatz zu bewegen 86 . Hinzu kam, daß die preußische Verwal238

tung bemüht war, das gesamte Instrumentarium der strengen preußischen Zollstrafgesetzgebung 87 auch auf die beitretenden Staaten zu übertragen. Die Liberalen, unter denen viele anfangs im preußischen Verwaltungssystem mit seinem »militärisch rigiden Verständnis von Befehl und Gehorsam« sowie seinen »gegenüber dem >Publikum< oft arroganten Zügen« 8 8 einen zentralen Grund sahen, den Beitritt abzulehnen, standen auch nach der Zollvereinsgründung diesen Tendenzen mißtrauisch gegenüber. Selbst die kurhessische Ständeversammlung, die den Zollverein früh bejaht hatte, tat sich bei allem Bekenntnis zur notwendigen Gemeinsamkeit recht schwer, auch das preußische Zollstrafgesetz mit seinen als zu hart empfundenen Strafen in allen Einzelheiten zu übernehmen 89 . In Bayern, Baden und Württemberg lehnten es die Regierungen von Anfang an ab, das preußische Gesetz einzuführen, da die aus süddeutscher Sicht viel zu strengen Strafen keinerlei Aussicht besaßen, von den Kammern akzeptiert zu werden 9 0 . Somit erwiesen sich auch die süddeutschen und hessischen Kammern in gewisser Hinsicht als Verteidiger der einzelstaatlichen Souveränität gegen weitere preußische Ansprüche auf Angleichung. Dies ging nicht allein auf Abgeordnete zurück, die den Zollverein von Anfang an ablehnten, sondern kam auch von solchen, die den Zollverein als wichtigen nationalen und ökonomischen Fortschritt begrüßten, dann aber um so stärker wieder auf eigene Rechte pochten, je länger die erhoffte Konstitutionalisierung Preußens ausblieb und die preußische Bürokratie in den Zollvereinsgeschäften ohne landständische Kontrolle agierte. Die Suche nach neuen Kontrollmechanismen und die wachsende Formierung des Bürgertums im nationalen Rahmen führten dann jedoch auch beim liberalen Bürgertum immer mehr zu Bestrebungen, die wie die Verselbständigungstendenzen der Zollvereinsbeamten den partikularstaatlichen Rahmen sprengten.

4.2. Zwischen liberalem Partikularismus und nationalem Liberalismus. Der Zollverein und die landständischen Rechte

Zweifellos stärkten die ökonomischen und fiskalischen Erfolge des Zollvereins zunächst einmal die Positionen der klein- und mittelstaatlichen Regierungen, indem sie die Integration der zu Beginn des 19. Jahrhunderts neu zusammengefügten Staaten erleichterten und die innenpolitische Stabilität förderten. Heinrich von Gagern schrieb 1841 nach den deutschfranzösischen Spannungen zur Situation in den beiden Problemprovinzen Bayerns und Hessen-Darmstadts, der Pfalz und Rheinhessen: »Der Handelsverein ist offenbar patriotisch nützlich: nur im Verein mit Deutschland ist Absatz für die teuren Hardtweine, für die Weine überhaupt. Wer mag diese Weine in Frankreich? Der Grund und Boden würde um drei Quart 239

sinken, wenn der Rhein die Grenze würde. Also wollen die Leute hier nicht mehr französisch werden.» 9 1 Eine noch größere Entlastung bewirkte der Zollverein allerdings durch seine fiskalischen Erfolge. Durch die ungestört fließenden und vor allem ohne große eigene Anstrengungen bis Mitte der vierziger Jahre ständig wachsenden Zollvereinsrevenuen kehrte an der brisanten Steuerfront vorübergehend Ruhe ein, wodurch das innenpolitische Konfliktpotential zunächst deutlich reduziert wurde. Das zeitweilig erfolgreiche Zurückdrängen der liberalen Kammeropposition war freilich nicht allein die Folge politisch kostenloser Zolleinnahmen, sondern hing aufs engste zusammen mit der repressiven Politik des Deutschen Bundes, welche die Möglichkeiten der Kammern drastisch beschnitt und den Regierungen neue Unterdrückungsinstrumente in die Hand gab 9 2 . Im übrigen aber blieben die Zollvereinsrevenuen der dreißiger und vierziger Jahre in politischer Hinsicht keineswegs völlig kostenlos 93 . Im Gegenteil, auch in der Phase relativer innenpolitischer Ruhe gaben einzelne mit dem Zollverein zusammenhängende Entscheidungen in Hessen-Darmstadt und in Kurhessen des öfteren Anlaß zu innenpolitischen Machtkämpfen, obwohl die Kammern doch von sich aus bereits vorher in den Zollfragen auf eine volle Ausschöpfung ihrer Mitwirkungsrechte verzichtet hatten. Die Abgeordneten erkannten in der Regel an, daß angesichts der komplizierten Organisationsstruktur des Zollvereins, die ja schon auf Regierungsebene lange Verhandlungen voraussetzte, die Einschaltung einer weiteren intermediären Entscheidungsinstanz die ganze Organisation noch schwerfälliger machen mußte. Sie gaben daher ihren Regierungen weitgehende Vollmachten, die im Zollverein anfallenden, zugleich aber das Steuerbewilligungsrecht tangierenden Beschlüsse auch ohne vorherige landständische Zustimmung in Kraft zu setzen. Zu dieser Haltung trug die Einsicht bei, daß die direkten Einflußmöglichkeiten klein- und mittelstaatlicher Kammern innerhalb des großen Zollvereins ohnehin gering bleiben mußten. Den meisten liberalen Abgeordneten fiel dieser Verzicht jedoch keineswegs leicht. Sie konnten sich zwar auf die ökonomischen und nationalen Fortschritte des Zollvereins berufen oder mit dem Braunschweiger Liberalen Karl Steinacker die Ansicht vertreten, daß eine Institution, die wie der Zollverein »auf der selbstbewußten Zustimmung des deutschen Volkes« beruhe, nicht »zur Zerstörung der Volksrechte fuhren werde« 94 . Dennoch blieben viele Liberale weiterhin vorsichtig. Sie lehnten die von einigen Regierungen teilweise gewünschte Ausdehnung der Ermächtigungen in der Regel ab und verzichteten nicht darauf, die finanziellen Resultate des Vereins zu kontrollieren und durch Appellationen indirekten Einfluß auf die Tarifpolitik zu nehmen. Ganz im Unterschied zu Hessen-Darmstadt und Kurhessen fiel es der nassauischen Regierung anfangs relativ leicht, die Kammern von den zollpolitischen Entscheidungen völlig fernzuhalten. Es spricht für die 240

vergleichsweise schwache Position, die die Kammern im vormärzlichen Verfassungsleben des Landes einnahmen, daß die Exekutive seit 1836 alle aus dem Zollverein resultierenden Bestimmungen stets auf dem Verordnungswege, also ohne Mitwirkung der Kammern in Kraft setzte95. Erst 1847 kritisierte der Abgeordnete Zais in der Deputiertenversammlung, daß die Regierung den verfassungsmäßigen Organen kaum Auskünfte über die Zollvereinspolitik erteile, obwohl diese »sowohl auf die Finanzen unseres Landes als auf seine Industrie« einen großen Einfluß ausübe96. Der fuhrende nassauische Liberale August Hergenhahn hielt dieses »Verlangen um so mehr gerechtfertigt, da die Verfassung vorschreibt, daß auch die indirekten Abgaben von den Landständen zu verwilligen seien«97. In den beiden hessischen Nachbarstaaten erfolgte dieses Aufbegehren der Kammern ebenso wie in Süddeutschland sehr viel früher und intensiver. Auch in Kurhessen hatte sich die Mehrheit der selbstbewußter auftretenden Ständeversammlung 98 im Zollgesetz des Jahres 1834 zunächst noch dazu entschlossen, »der hohen Staatsregierung freie Hand hinsichtlich der in Gemäßheit der Zollverträge durch weitere Vereinbarungen zu treffenden Abänderungen an den Tarifsätzen zu lassen«99. Allerdings waren die der Regierung erteilten Vollmachten so begrenzt, daß der landständische Ausschuß bei den Beitrittsverträgen mit Nassau, Frankfurt und Baden nochmals fest auf seinen Mitspracherechten in der Zollvereinspolitik beharren konnte. Da die Regierung ihren innenpolitischen Reaktionskurs immer mehr verschärfte, scheuten sich die liberalen Abgeordneten nun nicht mehr, die Manövrierfähigkeit der Exekutive auch in den Fragen der Zollvereinspolitik weiter einzuengen 100 . Die wenige Monate später aufkommende Debatte um ein neues Zollgesetz, das sich stärker an den im Zollverein vereinbarten gemeinsamen Richtlinien orientieren sollte, ließ erkennen, daß die Sorge um die vom Zollverein drohenden Verluste landständischer Rechte bei den kurhessischen Liberalen noch sehr ausgeprägt war. Die fuhrenden liberalen Abgeordneten Wippermann, Schwarzenberg und Nebelthau 101 vertraten jetzt die Ansicht, daß eine Ausnahme von der verfassungsmäßigen Ordnung lediglich in einer besonderen, befristeten Situation hingenommen werden könne, wie sie mit der Zollvereinsgründung gegeben gewesen sei. Eine fortdauernde Einschränkung des Steuerbewilligungsrechtes, jenes »eigentlichen Wesens der ständischen Verfassung«, lief nach Meinung der entschiedenen Liberalen auf nichts anderes hinaus, »als daß die Ständeversammlung die traurige Verpflichtung hätte, nicht länger den Fortbestand einer solchen Vereinigung dulden zu können« 102 . Da die Abkehr vom Zollverein aber nicht im kurhessischen Interesse liegen könne, schlugen die liberalen Abgeordneten einen Weg vor, der einerseits alle Rechte des Landtags wahrte und andererseits größere Zeitverzögerungen bei Entscheidungsprozessen über neue Tarife vermied. In der landtagsfreien Zeit sollte die Regierung geplante Tarifänderungen 241

jeweils dem bleibenden landständischen Ausschuß vorlegen, der in Vertretung der Ständeversammlung sehr rasch über die jeweiligen Fragen entscheiden konnte 1 0 3 . Die Regierung, die in den Tariffragen völlig freie Hand erhalten wollte, lehnte es freilich ab, sich in Zollvereinsangelegenheiten auf Dauer von einer Institution gängeln zu lassen, deren Einfluß man ohnehin zurückdrängen wollte und deren Kompetenzen in Gesetzgebungsverfahren man energisch bestritt. Nach langen Debatten gelang es der Regierung schließlich doch noch, unter Hinweis auf die besonderen Erfordernisse der Zollvereinspolitik die Front der liberalen Gegner aufzusprengen. Gegen den Widerstand führender Liberaler stimmte die Mehrheit der Ständeversammlung einem Kompromiß zu, nach dem zwar »eine Abänderung des Zolltarifs im Ganzen« die vorherige landständische Zustimmung erforderte, die »Abänderung oder Erläuterung einzelner Zollsätze« einer solchen aber nicht bedurfte. Bei der Verkündigung in der Gesetzessammlung sollte jedoch »jedesmal der landständischen Zustimmung Erwähnung geschehen« 104 . Damit hatte sich die Regierung in der wichtigsten Frage des zunächst bis 1842 geltenden Zollgesetzes weitgehend durchgesetzt. Denn der Unterschied zwischen einer »Abänderung im Ganzen« und der Abänderung einzelner Sätze blieb in Anbetracht der vagen Fomulierungen eine reine Ermessensfrage. Die Landtagsmehrheit verstand unter der »Abänderung im Ganzen« zweifellos nicht den angesichts der zahllosen Tarifpositionen kaum zu erwartenden Fall, bei dem sämtliche Tarife des Vereins verändert wurden. Für sie sollte der betreffende Paragraph des Zollgesetzes nur zur Folge haben, daß die Regierung einzelne, im Laufe der dreijährigen Tarifperiode des Zollvereins anfallende Veränderungen auf dem Verordnungswege erlassen durfte. Damit vertrat die Ständeversammlung die Ansicht, daß die periodischen Vereinstarife stets erst nach landständischer Zustimmung Gesetzeskraft erhielten. Im Jahre 1839 wurde dieses Verfahren von der Regierung noch eingehalten, danach legte diese ihre Vollmachten bis 1857, als die Kammer auf die alten Interpretationen zurückkam, recht großzügig aus 105 . Gegenüber der durch die Reaktionsmaßnahmen geschwächten Ständeversammlung setzte die Regierung damit eine Praxis durch, die entgegen den ursprünglichen Intentionen des Zollgesetzes die direkte landständische Mitwirkung in den Tariffragen weitgehend ausschloß. Im Jahre 1841 konnte es sich die Kasseler Regierung sogar leisten, die dem Landtag bei neuen Zollvereinsverträgen noch verbliebenen Kompetenzen zu ignorieren. Anders als die Kammern in Hessen-Darmstadt und Nassau hatte sich die kurhessische Ständeversammlung ausdrücklich das Recht vorbehalten, die Verträge über die Erneuerung des Zollvereins und den Beitritt der Exklave Schaumburg vor der kurhessischen Ratifikation zu prüfen. Die Regierung schaltete den Landtag jedoch erst zu einem Zeitpunkt ein, als die Berliner Verhandlungen bereits abgeschlossen waren. Da die Abgeordneten die allseits gewünschte Verlängerung des Zollvereins 242

durch neue Einwände und Forderungen nicht hinausschieben wollten, blieb ihnen faktisch keine Einwirkungsmöglichkeit mehr. Der liberale Abgeordnete Nebelthau stellte vor dem übergangenen Landtag nur noch die allzu berechtigte Frage: »Wie lange werden die Stände vorangehen müssen, ehe die Regierung die zahlreichen Beweise der Hingebung und des Vertrauens erwidert?« 106 Daß solche Mahnungen auch in der Folgezeit bei der Regierung wenig ausrichteten, zeigte sich bereits 1845/46, als das zwischen den Zollvereinsstaaten ausgehandelte Münzkartell in Kurhessen ohne eine Beteiligung der Ständeversammlung Gesetzeskraft erhielt 107 . Die kurhessische Debatte um Zollverein und ständische Rechte wurde von Anfang an mehr unter den verfassungsrechtlichen als unter den materiellen Aspekten gefuhrt. Im Mittelpunkt stand die Verteidigung der 1831 erkämpften Verfassung, während Fragen der praktischen Tarifpolitik vor 1848 auf ein außergewöhnlich geringes Interesse stießen. In Hessen-Darmstadt lagen die Dinge völlig anders. Auch hier hegten manche Liberale vor allem anfangs große Sorgen um den Erhalt landständischer Rechte, und Heinrich von Gagern hatte zu Beginn der dreißiger Jahre ausdrücklich die Notwendigkeit einer öffentlichen Kontrolle der Zollvereinspolitik hervorgehoben, »wie sie die Repräsentativverfassung allein mit sich bringt und welche von dieser Repräsentativverfassung unzertrennlich ist« 1 0 8 . Dennoch hatten die stärker von den realen ökonomischen Nöten ausgehenden hessen-darmstädtischen Kammern im Interesse rascher Verbesserungen schon vor dem Zollvereinsbeitritt bei den Tariffragen in einem Maße auf verfassungsmäßige Rechte verzichtet, das weit über die kurhessischen Verhältnisse hinausging. Die Darmstädter Regierung benötigte zunächst weder bei den internen Tarifänderungen des Zollvereins noch bei Handelsverträgen mit anderen Staaten die Zustimmung ihrer Kammern. Trotz dieses Zugeständnisses verfolgten beide Kammern alle Fragen der Tarif- und Handelspolitik von Anfang an mit weit größerem Interesse, als es in Kurhessen der Fall war. Bezeichnenderweise kamen verfassungsrechtliche Bedenken in Hessen-Darmstadt auch erst wieder auf, als die vom Zollverein betriebene Handelspolitik nicht mehr mit zentralen materiellen Interessen des Landes in Einklang zu bringen war. Nach dem für den Zollverein wenig glücklichen Hollandvertrag entzog daher die zweite Kammer der Regierung die Vollmacht für Verträge mit außerdeutschen Staaten. Allerdings blieb dieser Versuch, verlorenes Terrain zurückzugewinnen, in der Praxis ohne großen Erfolg, da die Regierung schon beim Handelsvertrag mit Belgien wieder großzügig über die Rechte der Kammern hinwegging und diese sich den Sachzwängen der Zollvereinspolitik fügten 109 . In keinem der drei hessischen Staaten besaßen die Kammern somit einen ständigen direkten Einfluß auf die Tarifpolitik des Zollvereins, zum Teil, weil sich die Regierungen als stark genug erwiesen, über verbliebene 243

landständische Befugnisse hinwegzugehen, zum größeren Teil aber deshalb, weil die Kammern eben von sich aus im Interesse der Fortentwicklung des Zollvereins auf eine volle Ausschöpfung ihrer Rechte verzichteten. Ob dieser Verzicht auf Dauer mit liberalen Verfassungsprinzipien zu vereinbaren war 1 1 0 , wurde aber auch von den hessischen Liberalen weiterhin heftig diskutiert. Der Verzicht auf landständische Rechte galt vielfach als Opfer für einen Verein, der durch seine fiskalischen und ökonomischen Erfolge, vor allem aber auch durch seine nationale Bedeutung zeitweise den Verlust einiger auf den Einzelstaat beschränkter Rechte kompensierte 111 . Auch konnten sich die liberalen Abgeordneten auf den Grundsatz berufen, daß da, »wo Finanzfragen unmittelbar mit den einmal geordneten Grundlagen des industriellen Lebens enge zusammenhängen, der Freiheit der ständischen Bewilligung durch den Drang der Umstände eine natürliche Schranke gezogen ist, welche nicht leicht zu überschreiten schon die Rücksicht auf das eigene Wohl gebietet« 112 . Dennoch ließ sich bei solchen Rechtfertigungsversuchen und bei allen optimistischen Hoffnungen auf die langfristigen nationalen und konstitutionellen Impulse des Zollvereins nicht übersehen, daß zunächst einmal die im Einzelstaat eingeschlagene Praxis einer Regierung zugute kam, die das Vertrauen der Kammer keineswegs mit eigenem Entgegenkommen beantwortete, sondern im Gegenteil jede Chance nutzte, um den Einfluß der ihr lästigen Kontrollinstanz weiter zu mindern. Dies führte ebenso wie die ausbleibende innere Reform der Hegemonialmacht dazu, daß sich die hessischen Kammern in der Regel weigerten, über die gegebenen Vollmachten hinaus den Regierungen in der Zollvereinspolitik noch weiter entgegenzukommen. Sowohl bei der Angleichung des Salzpreises als auch bei der Regelung der Ausgleichsabgaben versagten die Abgeordneten zusätzliche Vollmachten, die ihre Kompetenzen beschnitten hätten. Der auch in den Zollvereinsfragen noch zum Vorschein kommende liberale Partikularismus 113 verdeutlichte, daß sich im Streit um die Priorität von Einheit oder Freiheit die Waagschale noch nicht völlig zugunsten der Einheit verschoben hatte. Die dabei auch gegenüber Preußen zeitweise wieder stärker betonte Vorsicht der Liberalen erhielt Ende der dreißiger Jahre durch eine preußische Anfrage an die Zollvereinsregierungen der Verfassungsstaaten, die sich mit der landständischen Einflußnahme auf die Zollpolitik befaßte, nochmals neue Nahrung. Als während der Verlängerung der Vereinsverträge dann ausführlicher über diese Fragen verhandelt wurde, erklärte Preußen im Einvernehmen mit anderen Vereinsstaaten, daß damit keineswegs eine Beseitigung verfassungsmäßiger Rechte beabsichtigt sei. Es gehe lediglich um die Ausräumung von Hindernissen, »welche sich wegen Ausübung des ständischen Mitwirkungsrechtes in diesem oder jenem Vereinsstaate beim Abschlüsse von Handelsverträgen oder in Bezug auf Verkündung und Vollziehung des Vereinszolltarifs erhoben haben« 114 . Trotz dieses Bekennt244

nisses zu den verfassungsmäßigen Rechten zielte der preußische Vorstoß in seiner Konsequenz jedoch darauf ab, insbesondere die in Hessen-Darmstadt und Kurhessen formal noch bestehenden landständischen Mitspracherechte zu beseitigen. In Hessen-Darmstadt sollte die Regierung auch nach preußischer Ansicht ohne vorherige Zustimmung der Kammern Handelsverträge mit außerdeutschen Staaten ratifizieren können, ein Recht, das ihr nach dem Hollandvertrag von der zweiten Kammer wieder genommen worden war. Und in Kurhessen sollte die Publikation des periodischen Zollvereinstarifs ebenfalls nicht an eine vorherige Zustimmung der Ständeversammlung gebunden sein, zumal diese Praxis im Jahre 1839 zu Verzögerungen im kurhessischen Ratifikations- und Publikationsprozeß geführt hatte 115 . Die Vereinsregierungen stellten am Ende der Verhandlungen fest, daß es jeder Regierung selbst vorbehalten bleibe, gemäß den jeweiligen Verfassungsbestimmungen zu handeln. Zugleich aber sollte eine landständische Mitwirkung künftig nur noch so stattfinden, daß »weder die Ratifikation des Tarifs von Seiten der Regierung, noch die Einhaltung des Verkündungs- und folgeweise auch des Vollzugstermins irgend gestört werde und die Handlungsfähigkeit des Zollvereins bei Handelsverträgen nicht durch die Kammern behindert werden dürfe« 116 . Es war kein Zufall, wenn sich die Regierungen in Kassel und Darmstadt nach diesem gemeinsamen Protokoll der Vereinsregierungen bestärkt sahen, in Zukunft die noch bestehenden landständischen Mitwirkungsrechte unberücksichtigt zu lassen. Preußen unterstützte beide Regierungen in ihrem Bemühen, die eigene Handlungsfähigkeit unter Mißachtung verfassungsrechtlicher Prinzipien zu vergrößern 117 . Dies entsprang freilich nicht allein reaktionären Zielsetzungen der Berliner Bürokratie, sondern es hing gewiß auch mit dem verständlichen Bestreben der Hegemonialmacht zusammen, die schwerfälligen Entscheidungsprozesse innerhalb des Zollvereins zu straffen. Zu weitgehenden Angriffen auf einzelstaatliche Verfassungen, die von manchen liberalen Zollvereinsgegnern anfangs befurchtet worden waren, hat sich die Hegemonialmacht schließlich nie bewegen lassen, im Gegenteil, 1847 lehnte sie es gegenüber dem Kasseler Kurfürsten sogar ab, seine Staatsstreichpläne zu unterstützen. Die von vielen liberalen Zollvereinsgegnern gehegten Sorgen um den Bestand der einzelstaatlichen Verfassungen erwiesen sich damit als ebenso überzogen wie die Hoffnungen auf rasche konstitutionelle Erfolge im größten Vereinsstaat. Nachdem die liberale Skepsis und Vorsicht gegenüber Preußen in den ersten Jahren des Zollvereins eher etwas zugenommen hatte, richtete ein Großteil des Bürgertums seit Beginn der vierziger Jahre seinen Blick wieder verstärkt auf den Zollverein, um mit seiner Hilfe sowohl in der Einheitsfrage als auch hinsichtlich der eindringlicher propagierten konstitutionellen Reform entscheidende Fortschritte zu erzielen.

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4.3. Die Bedeutung des Zollvereins fiir die nationalen und konstitutionellen Reformpläne der bürgerlichen Oppositionsbewegung im Vormärz und in der Revolution von 1848/49 Auch wenn am Beginn des Zollvereins mehr partikulare als nationale Interessen standen, auch wenn er zeitweise als »economic substitute for national unification« 118 die Stoßkraft der nationalen Bewegung abschwächte und den Partikularstaat damit vorübergehend stützte, so mußte allein schon seine Existenz der Nationalbewegung langfristig neue und kräftigere Impulse verleihen 119 . Bereits die rascher ablaufenden politischen, ökonomischen und sozialen Modernisierungsprozesse der vierziger Jahre mit ihrer Tendenz zur Politisierung der Gesellschaft auf nationaler Ebene zeigten, daß das im Zollverein geschaffene vorläufige »Höchstmaß an Zentralisation« 1 2 0 innerhalb Mitteleuropas kaum noch ausreichte und aus der Sicht eines selbstbewußter auftretenden Bürgertums neue Schritte notwendig waren, um die fortbestehende staatliche Zersplitterung und die der Entfaltung neuer gesellschaftlicher und ökonomischer Kräfte nun eher entgegenstehende bürokratische Herrschaft zu überwinden 121 . Bei aller liberalen Kritik an der Unzulänglichkeit des Zollvereins erkannten weite Teile des deutschen Bürgertums an, daß es vor allem der Zollverein war, welcher die neuen ökonomischen und politischen Entwicklungen forciert hatte, die nun immer stärker über die bestehenden Formen zwischenstaatlicher Kooperation hinausdrängten. Folglich spielte der Zollverein bei der Suche nach neuen Formen des nationalen Zusammenlebens unter größeren Freiheitsrechten eine immer entscheidendere Rolle. Nach Ansicht des Leipziger Liberalen Karl Biedermann lernte die »liberale Partei« durch den Zollverein in zunehmendem Maße, »ihren Blick auf ein größeres Ganzes« zu richten: »Ihr Gesichtskreis erweiterte sich, ihre Ideen gewannen, durch die Anwendung auf einen umfassenden Kreis von Interessen und Verhältnissen, eine günstige Umgestaltung und Entwicklung.« 1 2 2 Der Braunschweiger Liberale Karl Steinacker, der als eifriger vormärzlicher Zollvereinspublizist schon früh die Idee eines Zollparlaments propagierte, faßte die neuen Hoffnungen 1844 in den Sätzen zusammen: »Der Zollverein ist nun einmal vorzugsweise und tatsächlich die Heimat der Idee der Einheit geworden, und in seiner Mitte wird sie sich mit immer größerer Kraft entwickeln. Man wird sich immer mehr daran gewöhnen, namentlich im Auslande, unter Deutschland hauptsächlich das Zollverbündete zu verstehen.« 123 Angesichts des Tatbestandes, daß die Identifikation mit dem Zollverein in Süddeutschland zweifellos geringer ausfiel als in den nördlichen Vereinsstaaten 124 , erscheint die Behauptung von Friedrich Engels, der Zollverein habe bereits im Vormärz »das ganze Bürgertum der Mittel- und Kleinstaaten auf Seite Preußens« gestellt 125 , etwas überzogen. Trotzdem läßt sich nicht übersehen, daß zumindest große Teile dieses Bürgertums, nicht 246

zuletzt im hessischen Raum, im Zollverein eine Vorstufe der politischen Einheit und in Preußen nicht nur die ökonomische, sondern auch die künftige politische Führungsmacht sahen 126 . Nach der Verlängerung der Zollvereinsverträge im Jahre 1841 hatte die zweite Kammer Hessen-Darmstadts in ihrer Dankadresse an den Großherzog zwar noch die Erwartung ausgesprochen, »es werde künftig ein gemeinsames Band der materiellen Interessen alle zu dem deutschen Bunde vereinigten Staaten umschlingen, jede Schranke des Binnenverkehrs wegfallen und das gesamte Deutschland auch in dieser Hinsicht in sich einig, groß und mächtig dem Ausland gegenüberstehen« 127 . Dennoch fällt auf, welch geringe Resonanz die Österreich tangierenden Probleme der vormärzlichen Zollvereinspolitik innerhalb des hessischen Raumes fanden. Im Unterschied zu den süddeutschen Staaten, wo schon engere Handelsbeziehungen und der größere Hang zum Protektionismus den Kontakten zu Österreich einen anderen Stellenwert gaben 128 , war Preußen im hessischen Raum der eindeutig wichtigste und attraktivste Partner 129 . Preußen hatte sich trotz aller Enttäuschungen über ausbleibende verfassungspolitische Reformen durch seine Initiative auf dem Gebiete der Handelspolitik, die zu weiteren Hoffnungen Anlaß zu geben schien, zusätzliche Anerkennung verschafft 130 . Österreich dagegen, das in politischer Hinsicht als eigentlicher Hort der Reaktion galt 131 , hatte sich in ökonomischer Hinsicht als reformunfähig erwiesen und vorzeitig wichtigen Handlungsspielraum in den mitteleuropäischen Fragen aufgegeben. Als Metternich angesichts der durchaus erkannten Gefahren, die der Zollverein für die mitteleuropäische Machtbalance und das System des Deutschen Bundes brachte 132 , zu Beginn der vierziger Jahre gemeinsam mit dem neuen Hofkammerpräsidenten Kübeck versuchte, das eigene Prohibitivsystem zu reformieren und den Anschluß an die deutsche Zolleinigung zu gewinnen, scheiterte er erneut am innerösterreichischen Widerstand 133 . Weit mehr als mit Österreichs Zollfragen 1 3 4 befaßten sich die hessischen Liberalen und auch die Regierungen mit der in den vierziger Jahren heftig diskutierten Ausdehnung des Zollvereins in nördlicher Richtung 135 . Nach den 1841 erfolgten Beitritten von Luxemburg, Braunschweig und LippeDetmold wurde auch im hessischen Raum immer eindringlicher die Forderung laut, daß nun auch Hannover, Oldenburg und die Hansestädte in den Verein integriert werden sollten 136 . Dieses, vor allem von Solms-Laubach öffentlich artikulierte Ziel hing eng zusammen mit dem Wunsch nach einer Aktivierung des deutschen Außenhandels über den Aufbau einer nationalen Flotte, von der auch die Binnenstaaten erheblich profitieren sollten 137 . Indem Preußen durch die seit Mitte der vierziger Jahre vom neuen Handelsamt aufgenommenen Bemühungen um eine Koordinierung der nationalen Handels- und Schiffahrtspolitik den wirtschaftsnationalen, von machtpolitischen Inhalten durchsetzten Tendenzen entgegenkam, verstärkte es mit diesem Versuch einer mehr am »Publikum«, der »öffentli247

chen Meinung« oder der »Sphäre des Journalismus« orientierten Handelspolitik zweifellos seine Anerkennung im deutschen Bürgertum 138 . Auch im hessischen Raum war nicht zu übersehen, daß die Zustimmung zur preußischen Handelspolitik nach der Kritik an Holland vertrag, Rheinpolitik und Übergangsabgaben seit Mitte der vierziger Jahre wieder zunahm. Hierzu trug nicht zuletzt der als wirtschaftlich vorteilhaft angesehene Handelsvertrag mit Belgien bei, der nach Ansicht des Mainzer Abgeordneten Aull bewies, daß man auf Preußens Urteil »in dieser Materie mit Zuversicht bauen kann« und Preußens »Interessen sich mit den unsrigen identifizieren« 139 . Die innerhalb der Schutzzollfrage vor allem zwischen Preußen und dem süddeutschen Bürgertum fortbestehenden Konflikte, die trotz Zollverein ungelösten ökonomischen und sozialen Krisenerscheinungen, vor allem aber die noch ausstehende Verfassungsreform in Preußen schränkten die Erfolgsaussichten der neuen »volkstümlichen Handelspolitik« 140 der Hegemonialmacht allerdings noch spürbar ein. Auch das hessische Bürgertum, dessen propreußische Neigungen nicht ausschließlich auf den ökonomischen Interessen basierten, von diesen aber zweifellos zentrale Impulse erhielten, verband seine Zustimmung zur preußischen Führungsrolle stets mit der Forderung, daß zuvor das politische System Preußens im konstitutionellen Sinne umgestaltet werden müsse. Die großen Erwartungen der frühen dreißiger Jahre, nach denen die Konstitution sehr schnell auf dem Wege des nun freien Verkehrs auch in die Hegemonialmacht eindringen werde, hatten sich zwar nicht erfüllt; aber mit dem Aufschwung, den die nationale Bewegung zu Beginn der vierziger Jahre erhielt, und den mit dem neuen preußischen König verbundenen Erwartungen wuchs bei weiten Teilen der Liberalen wieder die Hoffnung, daß insbesondere über den Zollverein die Gegensätze zwischen liberaler Partei und preußischem Staat ausgeglichen werden könnten. Als Grund dieses Optimismus nannte Karl Biedermann im Jahre 1842 unter anderem die Lockerung des repressiven Kurses in der preußischen Bürokratie, die jetzt nicht nur Kritik an ihrer Handelspolitik zulasse, sondern diese sogar bei einzelnen Entscheidungen stärker beachte 141 . In der Tat förderte insbesondere die preußische Zollvereinspolitik der vierziger Jahre mit all ihren Problemen das Verlangen des ökonomisch stärker und politisch selbstbewußter werdenden Bürgertums nach politischem Einfluß und Mitbestimmung. »Die Verfassungsfrage konnte verstundet werden, solange die liberale Wirtschaftsadministration erfolgreich war.« Nun aber schien »die wirtschaftspolitische Liberalität des preußischen Staates alleine« nicht mehr auszureichen, um jene »Probleme zu bewältigen, die mit der Heraufkunft einer großbürgerlichen Führungsschicht und der Entstehung einer zunehmend proletarisierten Unterschicht auftauchten« 142 . Gelang die, vor allem im Rheinland zunehmend geforderte konstitutionelle Umgestaltung des preußischen Staates, so waren nach 248

Ansicht weiter Teile des deutschen Bürgertums zugleich die Voraussetzungen dafür geschaffen, um die im Zollverein begonnene Integration zu vertiefen. Z u m einen sollte dabei die Stellung des Zollvereins in der internationalen Handelspolitik durch organisatorische Veränderungen verbessert werden, da - so der hessen-darmstädtische Abgeordnete Frank »unbedingte Stimmeinhelligkeit für jeden einzelnen Beschluß das Gute hindern« mußte 1 4 3 . Z u m anderen sollte zugleich nach Mitteln und Wegen gesucht werden, um das konstitutionelle Defizit im Gesamtverein a b z u gleichen, die Zollvereinspolitik wirksamer zu kontrollieren und somit bessere Voraussetzungen für wirtschaftliche Erfolge zu schaffen. Der Weg über alle einzelstaatlichen Kammern mußte entweder die Handlungsfähigkeit des Vereins hemmen oder aber wegen der »Unterordnung unter eine relative Notwendigkeit« auf Effizienz verzichten 144 . Daher sollte nun das Kontrolldefizit nicht allein über die Verfassung des Hegemonialstaates, sondern vor allem auch durch eine den partikularstaatlichen Rahmen sprengende Form zollvereinsweiter Repräsentation ausgeglichen werden. Das Bürgertum verlangte damit »nach einem vollkommeneren, dem verfassungsmäßigen Prinzip entsprechenden Organismus des Zollvereins« 145 . Deutlicher als in solchen Plänen konnte der enge Zusammenhang von nationalen Zielen, konstitutionellen Forderungen und ökonomischen Interessen kaum noch hervortreten. Es war bezeichnenderweise ein Vertreter des rheinischen Wirtschaftsbürgertums, der diese Zollparlamentspläne erstmals vor einem großen politischen Forum artikulierte. Auf dem rheinischen Provinziallandtag des Jahres 1845 forderte David Hansemann über die Erfüllung des preußischen Verfassungsversprechens hinaus eine landständische Kontrolle im Zollverein, der schon lange im Widerspruch zu Rechten deutscher Staatsbürger stehe und dessen teilweise fehlerhafte Handelspolitik die Notwendigkeit einer verfassungsmäßigen Kontrolle beweise. In dem von Hansemann propagierten Zollparlament sollten daher die von den einzelstaatlichen Kammern gewählten Abgeordneten mit absoluter Mehrheit im Namen aller Landstände des Zollvereins über Tarifänderungen und Handelsverträge entscheiden 146 . Bei den Zollvereinsregierungen, sowohl bei Preußen selbst als auch bei den hessischen Staaten, stießen solche Pläne noch auf entschlossene Ablehnung, ein Großteil des liberalen Bürgertums, das sich in ökonomischer und politischer Hinsicht mehr und mehr im nationalen Rahmen zu organisieren begann 147 , nahm dagegen die Zollparlamentsidee zustimmend auf. Im Mai 1847 wertete das in Heidelberg erscheinende Organ des gemäßigten Liberalismus, die den nord- und süddeutschen Liberalismus verbindende und für ein kleindeutsches Programm werbende »Deutsche Zeitung« 148 , den Zollverein als den »Ausgangspunkt einer deutschen Volkspolitik« und gab den von Hansemann vorgetragenen Plänen eine noch größere Publizität 149 . Hansemanns Reformprogramm stand auch im Vordergrund einer Versammlung, zu der sich im Oktober 1847 achtzehn führende west- und 249

süddeutsche Liberale im hessen-darmstädtischen Heppenheim zusammenfanden, u m über ein gemeinsames Aktionsprogramm zu beraten 1 5 0 . Neben Mathy aus B a d e n 1 5 1 unterstützten auch Hergenhahn aus Nassau und Heinrich von Gagern aus Hessen-Darmstadt Hansemanns Ansicht, daß v o m Deutschen Bund in Anbetracht seiner bisherigen Entwicklung und der dort mitwirkenden auswärtigen Mächte bezüglich der deutschen Einheit nur wenig zu erwarten sei, während »das Ziel der Einigung Deutschlands zu einer deutschen Politik und gemeinsamen Leitung und Pflege nationaler Interessen« wohl eher erreicht werde, »wenn man die öffentliche Meinung für die Ausbildung des Zollvereins zu einem deutschen Vereine gewinne« 1 5 2 . Der Zollverein sollte durch eine von den einzelstaatlichen Kammern beschickte Notabeinversammlung ergänzt und mit weiteren Vollmachten ausgestattet werden, u m dann den begonnenen Verschmelzungsprozeß auf handelspolitischem Gebiet durch weitere Vereinheitlichungen der Verkehrspolitik, des Steuerwesens und der Wirtschaftsgesetzgebung zu vertiefen und auf die politische Ebene auszuweiten. Mit der auf diese Weise gewonnenen Anziehungskraft hoffte man, die Eingliederung anderer, noch außenstehender deutscher Staaten entscheidend zu erleichtern 1 5 3 . Die Mehrheit der Heppenheimer Versammlung ging zwar im Unterschied zum vorausgegangenen Offenburger Programm des demokratischen Liberalismus 1 5 4 nicht mehr v o m Deutschen Bund, sondern v o m preußisch geführten Zollverein aus, aber viele Befürworter dieser Lösung, vor allem Gagern und Mathy, verbanden damit keineswegs eine völlige politische und ökonomische Abtrennung Österreichs v o m restlichen Deutschland. Mit der Konsolidierung und Ausweitung der im Zollverein erreichten Einheit sollten langfristig auch neue Voraussetzungen für ein engeres Verhältnis zu Österreich geschaffen werden 1 5 5 . Diese Vertagung des Österreich-Problems stieß allerdings schon in Heppenheim auf Bedenken süddeutscher Liberaler, die wie der Mannheimer Verleger Bassermann aus Rücksicht auf die süddeutschen Stimmungen den propagandistischen Erfolg des Zollvereinsausbaus bezweifelten 1 5 6 . Die Heppenheimer Versammlung einigte sich daher schließlich auf den Kompromiß, »vorzugsweise auf die Ausbildung des Zollvereins und eine Vertretung seiner Bevölkerung im Zollkongreß durch Notable hinzuwirken, aber auch keine andere Gelegenheit, welche Zeit und Ereignisse bringen mögen, unbenutzt zu lassen, u m die Idee der deutschen Einheit zu stärken« 1 5 7 . Gewiß traten vor allem bei Hansemann die klassenspezifischen Interessen eines selbstbewußter gewordenen Wirtschaftsbürgertums deutlicher hervor als in früheren Jahren 1 5 8 , doch bei aller wachsenden Bedeutung, die der wirtschaftlichen Komponente innerhalb der Nationalbewegung zufiel 1 5 9 , ließen sich die Befürworter des Zollvereinsausbaus nicht allein von ökonomischen Motiven leiten. Ebensowenig waren die Ausbaupläne ausschließlich das Produkt eines besitzenden Bürgertums, das sich allein an 250

seinen egoistischen Klasseninteressen orientierte, aus Furcht vor der Revolution schon jetzt »auf die Eroberung der politischen Macht durch Einführung liberaler Verfassungsinstitutionen« völlig verzichtete und mit einer antiparlamentarischen, gouvernemental ausgerichteten Politik bereits im Vorfeld der Revolution seine ursprünglichen liberalen Zielsetzungen verriet 1 6 0 . Das vorgelegte Reformprogramm entsprach vielmehr ganz der Mentalität der vormärzlichen bürgerlichen Gesellschaft, die »fast überall den revolutionären Weg« ablehnte und danach strebte, »in Allianz mit der Staatsmacht ihre Ziele zu verwirklichen« 161 . Der Zollverein hatte schließlich bestätigt, daß große Fortschritte in nationaler Hinsicht auf dem Wege der Reform möglich waren, und Hansemann vertrat kurz nach der gescheiterten Revolution die Ansicht, daß Deutschland bei einer Verwirklichung dieser Pläne »nicht die Katastrophen des Jahres 1848 erfahren« hätte, sondern »im Wege der Reform politisch fortgeschritten« wäre 1 6 2 . Zweifellos führte die durch die Hungerrevolten des Jahres 1847 noch gesteigerte Revolutionsfurcht bei großen Teilen des Bürgertums dazu, von einigen allzu weitgehenden Emanzipationsforderungen vorerst abzurücken und - insbesondere über das Wahlrecht 163 - Barrieren gegen die von den sozialen Unterströmungen drohenden, aber weit überschätzten Gefahren zu errichten 164 . Viele Liberale, nicht zuletzt in dem sozialökonomisch zurückgebliebenen hessischen Raum, erstrebten dabei allerdings noch nicht »die Etablierung eines vom Großbürgertum beherrschten Staates«, vielmehr blieb auch in weiten Teilen des gemäßigten Liberalismus das »Ideal einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung mittelständisch orientiert« 165 . Der anzustrebende Rechts- und Nationalstaat galt vielen Liberalen noch als ein »Klassenstaat auf Zeit«, der durch den sozialen Aufstieg der zunächst noch politisch zurückgesetzten Unterschichten langfristig überwunden werden sollte 166 . Eine solche gemäßigt liberale Krisenstrategie mit all ihren Teillösungen hinsichtlich der politischen Emanzipation wie der nationalen Einigung stieß freilich im Vorfeld der Revolution bei den weiterdrängenden Kräften des demokratischen Lagers auf Ablehnung. Diese forderten in nationaler, konstitutioneller und sozialer Hinsicht eine umfassendere Neuordnung, welche die Massen nicht auf eine ungewisse Zukunft vertröstete, sondern so rasch wie möglich eine Verfassung schuf, »die keine rechtlichen und politischen Privilegien mehr zuließ und die sich über den künftigen Weg aus der sozialen Misere in offener Diskussion einigen würde« 167 . Im Zuge der wachsenden politischen Gärung konnten weder der in Heppenheim propagierte Zollvereinsausbau noch die vagen sozialpolitischen Absichtserklärungen 168 der gemäßigten Liberalen die erhoffte Massenwirkung erzielen 169 . Dazu trug auch die Tatsache bei, daß es dem Zollverein bei allem Fortschritt nicht gelang, die schweren ökonomischen und sozialen Krisen der vierziger Jahre zu verhindern. Der Großteil der durch sinkende Realeinkommen zunehmend verarmenden Bevölkerung 251

spürte 1847 nur wenig von den propagierten »Segnungen des Zollvereins«170. Die durch den Zollverein ermöglichte Reduktion der direkten Steuern kam den ärmeren Schichten weit weniger zugute. Und die hohen Fiskalzölle, die etwa 60% aller Zolleinnahmen stellten171, belasteten diesen Teil der Bevölkerung in besonderem Maße 172 . Auch zeigte die Hungerkrise des Jahres 1847173 die fehlende Steuerungsfähigkeit des Zollvereins, in dem man sich nicht über gemeinschaftliche Maßregeln zur Sicherung der Lebensmittelversorgung verständigen konnte 174 . Mit dem Ausbruch der Märzrevolution verschwanden die Ausbaupläne des Zollvereins vorerst aus der Diskussion. Nun ging es um die weiterfuhrenden Lösungsversuche der nationalen, konstitutionellen und sozialen Frage, um konstitutionelle Monarchie oder Republik mit ihren jeweils unterschiedlichen Krisenstrategien. Zollpolitische Fragen spielten freilich auch jetzt noch eine wichtige Rolle. Die handelspolitischen Debatten der Jahre 1848/49 ließen jedoch nochmals deutlich werden, welche Schwierigkeiten es bereitete, weitere Integrationsfortschritte im nationalen Rahmen vorrangig über die Handelspolitik voranzutreiben. Schon während der Heppenheimer Versammlung waren Bedenken aufgekommen, ob der Zollverein bereits eine ausreichende staatsbildende Kraft besitzen könne, da doch in einer der wesentlichen Fragen, der Tarifpolitik, innerhalb des Vereins wie innerhalb des deutschen Bürgertums ein tiefgreifender Dissens bestehe 175 . Die handelspolitischen Auseinandersetzungen der Revolutionsjahre haben diesen Tatbestand eindrucksvoll bestätigt. Einerseits bewies der große Petitionserfolg der Schutzzollbewegung, die 372174 Unterschriften an die Nationalversammlung richten konnte, wie sehr die handelspolitische Interessenartikulation geeignet war, verschiedene Schichten der Gesellschaft in ein gemeinsames Aktionsbündnis zu integrieren, das auch in den politischen Bereich hineinwirkte 176 . Andererseits konnten die tiefgreifenden Gegensätze zwischen schutzzöllnerischem Industriebürgertum, Handwerkern, Bauern und Arbeitern mit ihren unterschiedlichen zollpolitischen Konzepten moderner und traditionaler Art doch nur vorübergehend durch den Vorrang wirtschaftsnationaler Komponenten überbrückt werden. Vor allem aber erwies sich die Spaltung zwischen dem im Norden konzentrierten Freihandelslager und der vorwiegend auf den mittel- und süddeutschen Raum konzentrierten Schutzzollbewegung als so gravierend, daß sie »ein gemeinsames Eintreten für die verfassungs- und nationalpolitischen Ziele der bürgerlichen Oppositionsbewegung« erheblich erschwerte 177 . Die Interessenspaltung ging im übrigen auch durch die hessischen Staaten. Während die kurhessische Regierung ebenso wie Preußen und Braunschweig aus Rücksicht auf die Integration der freihändlerischen norddeutschen Staaten größere Tariferhöhungen ablehnte178, stellten sich HessenDarmstadt, vor allem aber Nassau, die im Vormärz eher Mittlerpositionen zwischen der süddeutschen Schutzzollpartei und der preußischen »>juste 252

milieu< Handelspolitik« 179 vertreten hatten, 1848/49 stärker auf die Seite der Schutzzöllner. Nassau und die hessen-darmstädtischen Südprovinzen gehörten zu den Kerngebieten der Schutzzollbewegung, die angesichts der verschärften ökonomischen Krise und der politischen Liberalisierung eine große Aktivität entfaltete. Nassau erreichte mit seinen an die Nationalversammlung geschickten Petitionen, die 17522 Unterschriften zugunsten von Schutzzöllen zählten, einen handelspolitischen Mobilisierungsgrad, der nur noch von dem Sachsens übertroffen wurde 1 8 0 . Auf den Generalversammlungen des »Allgemeinen deutschen Vereins zum Schutze der vaterländischen Arbeit« (ADV), jenes im Spätsommer 1848 gegründeten schutzzöllnerischen Interessenverbandes, waren nassauische Bürger in großer Zahl vertreten 181 . Vor allem die Eisenindustriellen hofften, über den auch von der Wiesbadener Regierung unterstützten ADV ihren im Zollverein bisher abgelehnten Tarifforderungen mehr Nachdruck zu verschaffen 182 . Ebenso wie die nassauischen Abgeordneten forderten beide hessendarmstädtischen Kammern ihre Regierung auf, »bei der Centraigewalt schleunigst auf jede zulässige Weise dahin zu wirken, daß bei Entwerfung und Feststellung des Zolltarifs für ganz Deutschland solche Ansätze in denselben aufgenommen werden, welche nicht nur der Landwirtschaft, sondern auch der Industrie gehörigen Schutz gegen das Ausland bieten« 183 . Die zusätzlich verlangten besonderen Schutzmaßnahmen für das Leinengewerbe, die mittelständisch orientierten Forderungen der rückständigen nassauischen Eisenindustrie und die große Beteiligung von Wein- und Tabakbauern zeigen deutlich, daß nicht so sehr das Listsche Erziehungszollsystem, sondern vielfach noch sozialrestaurative Konzepte die hessische Schutzzollbewegung der Revolution prägten. Im übrigen ging es vielen hessischen Schutzzollanhängern nicht um eine Ausweitung des bestehenden Zolltarifs, sondern um eine von den Freihändlern bestrittene Besitzstandswahrung solcher »Schutzzölle, wie sie bisher bestanden« 184 . Dies gilt in besonderem Maße für die Wein- und Tabakbauern, die in Nassau 15%, im südlichen Hessen-Darmstadt sogar 79% aller Unterschriften leisteten 185 . Sie wollten die bestehenden Tarife verteidigen, verlangten aber darüber hinaus von der Zentralgewalt die Beseitigung der lästigen Übergangsabgaben, zu der die Hegemonialmacht des Zollvereins bisher nicht bereit gewesen war 1 8 6 . Wie auch aus der von den liberalen hessischen Regierungen eingenommenen Haltung in der Flußabgabenfrage 187 hervorging, waren jedoch die alten Schwierigkeiten bei der Vereinheitlichung störender Abgaben unter den neuen Verhältnissen keineswegs völlig ausgeräumt 188 . Angesichts der 1848/49 aufbrechenden handelspolitischen Interessenspaltung scheute sich schließlich die Mehrheit der Frankfurter Nationalversammlung, der schutzzöllnerischen Forderung nach einem »kühnen Griff« auf handelspolitischem Gebiet nachzukommen, durch den die materielle Einheit schon vor Klärung aller politischen Fragen vollzogen werden sollte 189 . Die interessenpolitischen Gegensätze lähmten zwar die Hand253

lungsfáhigkeit in einem Bereich, den die bürgerliche Opposition seit langem »als eine der wichtigsten Domänen seiner politischen Einflußnahme reklamiert hatte«, und dieser »ökonomisch begründete Sektionalismus« behinderte damit die Nationalstaatsbildung in großem Maße 190 . O b aber eine rasche handelspolitische Einigung der Revolution eine andere Wende gegeben hätte, erscheint angesichts der Vielfalt der 1848/49 aufgebrochenen Problemfelder und auch angesichts der oft nur mühsam überbrückten Gegensätze innerhalb der handelspolitischen Lager fraglich. So konnten innerhalb der Schutzzollbewegung die Gegensätze zwischen fortschrittlich gesinntem Industriebürgertum und den sozialrestaurativ orientierten Handwerkern nur durch die wirtschaftsnationale Komponente vorübergehend überwunden werden. Auch in den politischen Fragen reichte der gemeinsame Einsatz für Schutzzölle nicht aus, um die Gegensätze auszugleichen. In Nassau und Württemberg traten 1848/49 sowohl Demokraten als auch Liberale fur Schutzzölle ein, ohne daß tiefgreifende innenpolitische Auseinandersetzungen zwischen beiden Lagern ausblieben 191 . Die handelspolitische Interessenspaltung trug zwar ebenso wie andere ungelöste soziale Fragen zum Scheitern der deutschen Revolution bei 192 , aber die quer durch die handelspolitischen Lager verlaufende politische Spaltung des Bürgertums, seine unterschiedlichen Reaktionen auf die ausgebrochenen Modernisierungskrisen dürften letztlich doch ausschlaggebender gewesen sein. Ein Teil dieses Bürgertums, darunter auffallend viele schutzzöllnerische Industrielle, wollte den politischen Systemwechsel möglichst weit treiben und setzte sich für die Gewährung voller politischer und rechtlicher Gleichheit ein 193 . Der andere Teil sah in den »demokratischen Plänen zur politischen Modernisierung den Auftakt zur Sozialrevolutionären Umverteilung des Eigentums« 1 9 4 und wollte den politischen Systemwechsel vorerst begrenzen. Diese Grundsatzkontroverse zwischen beiden, in Trug- und Zerrbildern befangenen Gruppen lähmte die Handlungsfähigkeit der bürgerlichen Bewegung in entscheidendem Maße 195 . Mit dem Scheitern der Reichsverfassung blieben auch die in der Nationalversammlung, dem volkswirtschaftlichen Ausschuß, dem vom Bremer Senator Arnold Duckwitz geleiteten Reichshandelsministerium und im Kollegium der einzelstaatlichen Zollkommissare begonnenen Vorarbeiten zur Herstellung der deutschen Wirtschaftseinheit vorerst Makulatur. Auch in handelspolitischer Hinsicht kam die Revolution von 1848/49 nicht über den bisher erreichten Integrationsstand hinaus 196 . Der Zollverein bewies jedoch während der gesamten Revolutionsphase eine erstaunliche Festigkeit. »Verfassungen, Dynastien und der deutsche Bund selbst«, so schrieb der österreichische Gesandte Handel 1862, »wurden durch jene Ereignisse weggeschwemmt, aber der deutsche Zollverein wurde durch die Revolution kaum erschüttert, keineswegs aber zerstört«. 197 Nach dem Mißerfolg der Jahre 1848/49 galt der Zollverein dem Bürgertum nun wieder als »die einzige lebensfähige Gestaltung«, die den deut254

sehen Staaten in den nationalen Angelegenheiten gelungen war 1 9 8 . Schon kurz nach der gescheiterten Revolution griff das gemäßigt liberale Bürgertum des hessischen Raumes, das während der Revolution innenpolitisch lange dominierte, seit dem Kampf um die Reichsverfassung aber stärkerem Druck des demokratischen Lagers ausgesetzt war 199 , wieder auf die alten Ausbaupläne des Zollvereins zurück. In einer befürwortenden Stellungnahme zur preußischen Unionspolitik meinte August Hergenhahn, der während der Revolution nassauischer Staatsminister gewesen war, wenn man dem bisher so erfolgreichen Zollverein »Rechte und Pflichten einer gemeinsamen Vertretung« einfüge, so werde allein dies schon »zu einer größeren politischen Einigung führen« 200 . Bereits während der Revolution hatten sich die liberalen Kammermehrheiten, die Mehrzahl der hessischen Abgeordneten in der Paulskirche und die zahlreichen, vom Bildungs- und Besitzbürgertum beherrschten konstitutionellen Vereine dafür ausgesprochen, »Preußen an die Spitze Deutschlands zu stellen« 201 . In Kurhessen hatte der Abgeordnete Henkel als Initiator des Landtagsbeschlusses zugunsten der kleindeutschen Lösung im Februar 1849 sogar die Ansicht vertreten, ihm sei eine preußische Provinz Kurhessen lieber als die Rückkehr zu den alten partikularstaatlichen Verhältnissen 202 . Gegen den Widerstand der meist großdeutsch gesinnten, an der Paulskirchenverfassung festhaltenden Demokraten und der neu formierten Vereine des politischen Katholizismus ging das liberale Bürgertum des hessischen Raumes dann rasch zur preußischen Unionspolitik über 203 , mit der die Hegemonialmacht des Zollvereins seit dem Dreikönigsbündnis vom 26. Mai 1849 die Bestrebungen der kleindeutschen Bewegung aufgriff, dabei aber die föderativen Tendenzen deutlicher hervorkehrte und stärker die dynastische Gewalt gegenüber den Machtansprüchen des Parlaments betonte 204 . Nach Ansicht des gemäßigten Liberalismus, der im Juni 1849 in Gotha den Unionsplänen zustimmte, bot die neue preußische Politik die Aussicht auf Fortschritte in der nationalen Frage bei gleichzeitigem Schutz vor einem Überborden der Sozialrevolutionären Strömungen 2 0 5 , deren Gefahren von den in Sozialängsten befangenen Liberalen allerdings völlig überschätzt wurden 2 0 6 . Damit begann jene, von den bald einsetzenden neuen wirtschaftlichen Entwicklungstendenzen beschleunigte Wende zur Realpolitik, welche die altliberale Zukunftsvision einer bürgerlichen Gesellschaft mittlerer Existenzen mehr und mehr zur Ideologie verkommen ließ, »hinter der sich die Ansprüche und Interessen der jetzt wirtschaftlich und sozial immer stärker werdenden Schicht des neuen Besitzbürgertums verbargen« 207 . Die nun verstärkt betonten realen Interessen führten auch in Hessen dazu, daß das Bürgertum den Zollverein als Garanten ökonomischen und nationalen Fortschritts bald noch entschiedener für sich reklamierte und ihn entschlossener als zuvor gegen alle Anfeindungen verteidigte, denen er in den folgenden Jahren ausgesetzt war. 255

IV. Kleindeutscher Zollverein oder Mitteleuropaprogramm. Die hessische Zollvereinspolitik unter den veränderten politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen der fünfziger Jahre

Während sich das hessische Bürgertum auch in den fünfziger Jahren als entschiedener Verteidiger des Zollvereins erwies, vollzog sich in der Zollvereinspolitik der hessischen Regierungen ein tiefgreifender Wandel, der schon bald das Verhältnis zur Hegemonialmacht schwer belastete und in der Innenpolitik neue Konflikte heraufbeschwor. Die neue Politik war vor allem das Resultat der veränderten Kräftekonstellationen, welche die mitteleuropäische Staatenwelt nach der gescheiterten Revolution von 1848/ 49 bestimmten. Preußen wollte unter Ausnutzung der österreichischen Schwächesituation die kleindeutsche Einigung mit Hilfe des gemäßigten Bürgertums, aber unter konservativen Vorzeichen durchsetzen und die politische Position in Mitteleuropa entscheidend ausweiten. In Österreich dagegen bemühte sich der neue Ministerpräsident Schwarzenberg nach der inneren Konsolidierung verstärkt darum, in der deutschen Politik verlorenes Terrain zurückzuerobern. Die preußische Unionspolitik sollte zum Scheitern gebracht werden, um dann durch eine Neubelebung des Deutschen Bundes das politische Gewicht Österreichs im mitteleuropäischen Staatensystem wiederherzustellen, ja dieses im Unterschied zum Vormärz durch die Beteiligung an den handelspolitischen Fragen gegenüber Preußen sogar zu vergrößern 1 . Dadurch gerieten die Probleme der Zollpolitik nun »ganz in das Schlepptau der großen politischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Großmächten« 2 . All dies zerstörte nicht nur jenes System der Vorverständigung, mit dem Österreich und Preußen bisher die Bundespolitik kontrolliert und große Bundeskonflikte verhindert hatten, sondern ließ auch die von den hessischen Regierungen stets betonte Trennung zwischen ökonomischer und politischer Integration zur Fiktion verkommen. Anders als im Vormärz waren die kleineren Zollvereinsstaaten nun aufgefordert, sich für die gesamtpolitische Strategie der jeweiligen Großmacht zu entscheiden. Zunächst folgten alle noch unter liberalem Einfluß stehenden hessischen Regierungen der preußischen Unionspolitik. Doch schon die näheren Umstände ihres Beitritts zur Union hatten gezeigt, wie wenig diese Politik 256

den Zielsetzungen der traditionalen Eliten entsprach 3 . Das engere politische Bündnis mit Preußen bot der angeschlagenen monarchischen Herrschaft einerseits zwar den besten militärischen Schutz, aber andererseits verstärkte es die seit 1848/49 noch gewachsene Furcht vor der Mediatisierung, so daß die Rückkehr zu den früheren Bundesverhältnissen bei den Monarchen und ihrer konservativ-partikularistischen Gefolgschaft bald wieder als der attraktivere Weg angesehen wurde. Begünstigt durch das harte österreichische Auftreten gegenüber Preußen und das Abflauen der innenpolitischen Kämpfe setzten die traditionalen Eliten zu Beginn der fünfziger Jahre im hessischen Raum einen Kurswechsel durch, der innenpolitisch zur Etablierung des Reaktionssystems und außenpolitisch zur Abkehr von der Unionspolitik führte. In Hessen-Darmstadt wurde der liberale Ministerpräsident Jaup im Juni 1850 von dem Freiherrn von Dalwigk zu Lichtenfels abgelöst. Gegen den Widerstand der Liberalen liquidierte Dalwigk die hessendarmstädtische Unionspolitik, u m sich enger an Österreich, den Garanten partikularstaatlicher Eigenständigkeit, anzuschließen. In der Innenpolitik folgte ein scharfer Reaktionskurs, der die liberale und demokratische Opposition durch ein erheblich eingeschränktes Wahlrecht sowie zahlreiche Verbotsmaßnahmen niederhielt 4 . In Kurhessen, wo der Kurfürst zur vormärzlichen Autokratie zurückstrebte, verlief die innenpolitische Wende wesentlich konfliktreicher. Nachdem das liberale Märzministerium Ende 1849 nach heftigen Auseinandersetzungen entlassen worden war, rief der Monarch im Februar 1850 den hochkonservativen Hassenpflug als leitenden Minister zurück, der bereits in den dreißiger Jahren gegenüber der liberalen Landtagsmehrheit einen starren Konfrontationskurs eingeschlagen hatte. Ziel der neuen Politik war die Abkehr von der Unionspolitik, u m dann mit Hilfe Österreichs den liberalen Einfluß in der kurhessischen Politik zu zerschlagen. Die neue absolutistische Reaktionspolitik des Monarchen und seines verhaßten Ministers stieß sofort auf entschiedenen Widerstand im Lande. Nachdem der Landtag schon im Februar 1850 einstimmig einen Mißtrauensantrag gegen Hassenpflug angenommen hatte und der Regierung wenig später auch die Erhebung neuer Steuern verweigerte, brach ein innenpolitischer Konflikt aus, bei dem sich die öffentliche Meinung, der Großteil der Bürokratie, die höchste Gerichtsinstanz und schließlich auch noch die Armee auf die Seite der Opposition schlug. Der im Lande völlig isolierte Kurfürst erwirkte nun jene Bundesexekution des Rumpfbundestages, die den preußisch-österreichischen Konflikt des Jahres 1850 hervorrief und in der Olmützer Punktation vom 29. November 1850 ihren vorläufigen Abschluß fand. Preußen verzichtete auf die Fortführung der ohnehin schwieriger gewordenen Unionspolitik und versprach, die Rückkehr zur Bundesversammlung in die Wege zu leiten. In Kurhessen wurde nun mit Hilfe des Bundes ein Reaktionssystem etabliert, dem weite Teile der freiheitlichen Verfassung des Jahres 1831 zum Opfer fielen5. 257

Nach Olmütz erfolgte schließlich auch in Nassau, das am längsten an der Unionspolitik festgehalten hatte, die endgültige Abkehr vom liberalen Reformkurs. Der propreußische Minister Wintzingerode wurde Ende 1851 entlassen und bald darauf durch den Prinzen Sayn-Wittgenstein ersetzt, der nun nach dem Vorbild seiner Darmstädter Förderer um Prinz Emil in der Innenpolitik die verbliebenen Elemente eines freiheitlichen Staatslebens beseitigte und in der Außenpolitik ebenso wie die beiden Nachbarstaaten den Kurs einer engen Anlehnung an Österreich verfolgte 6 . Die neuen streng partikularistischen Staatsfiihrungen des hessischen Raumes erblickten in der Aufrechterhaltung des Deutschen Bundes mit seinen dezentralen Strukturen zu Recht »die wichtigste Bürgschaft ihrer Selbsterhaltung« 7 . Doch die aus der Furcht vor preußischem Mediatisierungsstreben abgeleitete Konzeption einer intensiveren Bindung an Österreich stand in krassem Gegensatz zur noch wachsenden Nordorientierung der hessischen Wirtschaft. Der einseitigen Abkehr von der zollpolitischen Kooperation mit Preußen wollte daher selbst ein so eifriger Anhänger des neuen Kurses wie Prinz Emil in Hessen-Darmstadt nicht das Wort reden 8 . Allerdings schien die neue österreichische Politik den konservativen Kräften des hessischen Raumes Chancen zu bieten, um die aus dem Zollverein resultierenden einseitigen ökonomischen und politischen Abhängigkeiten von Preußen zu reduzieren. Schon 1849 hatte der neue österreichische Handelsminister Carl Ludwig Bruck einen Plan vorgelegt, der den stufenweisen Aufbau einer von der Nordsee bis zur Adria reichenden mitteleuropäischen Zollunion vorsah und Schwarzenbergs Plänen eines »Siebzigmillionenreiches« unter österreichischer Hegemonie die ökonomische Grundlage geben sollte 9 . Die zunehmend an Einfluß gewinnenden antipreußischen Kräfte der hessischen Regierungen nahmen den Bruck-Plan von Anfang an mit großem Wohlwollen auf, auch wenn sie ebenso wie andere mittelstaatliche Staatsfiihrungen aus Rücksicht auf die fortbestehenden Abhängigkeiten von Preußen ein allzu forsches Eintreten für die österreichischen Pläne zunächst vermieden. Immerhin wies der neue hessen-darmstädtische Finanzminister von Schenck recht früh den preußischen Anspruch zurück, in den Zollfragen allein für den Gesamtverein mit Österreich zu verhandeln, und betonte damit die Mitspracherechte der Mittelstaaten 10 . Weit eifriger als die konservativen Partikularisten artikulierten sich innerhalb der hessischen Verwaltungen zunächst einmal jene Kräfte, die vor einem Konfrontationskurs gegen Preußen und vor den Konsequenzen der österreichischen Pläne warnten. In Hessen-Darmstadt und Kurhessen erteilten vor allem Biersack und Schwedes dem Bruck-Plan sofort eine entschiedene Abfuhr. Die stark protektionistische Ausrichtung des von Bruck vorgeschlagenen gemeinschaftlichen Tarifsystems, die unterschiedlichen Produktions- und Konsumtionsverhältnisse zwischen Österreich und dem Zollverein, das einer Zollunion hinderliche Tabakmonopol sowie 258

die UnZuverlässigkeit der österreichischen Zollverwaltung schienen den beiden Zollvereinspionieren allein schon Grund genug, um eine Vereinigung abzulehnen, die den bewährten Zollverein gefährden und der eigenen Wirtschaft kaum neue Vorteile bieten konnte. Biersack sprach sich in seinen Denkschriften immer wieder dafür aus, den Zollverein zuerst nach Norden zu erweitern und dann mit Österreich über Handelserleichterungen, nicht aber über eine unrealisierbare Zollunion zu verhandeln 11 . Schwedes, der die politischen Bedenken gegen Österreichs Pläne noch viel klarer herausstrich, warnte davor, sich enger an einen Staat zu binden, der gefährlichen inneren und äußeren Bedrohungen ausgesetzt sei und die deutschen Staaten nur für die eigenen Zwecke einsetzen wolle. Da mit Österreich eine gemeinsame Politik nicht möglich sei, untergrabe die habsburgische Beteiligung die Handlungsfähigkeit des Zollvereins und lähme dessen Fortentwicklung in allen wesentlichen Bereichen 12 . Auch in Nassau, wo zunächst noch der propreußische Wintzingerode regierte, hielt es die Ministerialabteilung der Finanzen am 6. April 1850 kaum für möglich, »daß Österreich und die übrigen deutschen Staaten in der nächsten Zukunft ihre volkswirtschaftlichen Interessen identifizieren, noch weniger aber, daß letztere ihre staatswirtschaftlichen Interessen mit jenen Österreichs im Wege des Vertrages verschmelzen können« 13 . Diese mahnenden Stimmen hatten immerhin zur Folge, daß die neuen Regierungen trotz aller Hinneigung zu Österreich in den Zollfragen weiterhin vorsichtig taktierten 14 . Das von Wien als Druckmittel gegen Preußen ins Spiel gebrachte Alternativkonzept einer eigenen Zollunion zwischen Österreich und den süd- und mitteldeutschen Staaten erschien den angesprochenen Regierungen als eine äußerst riskante Waffe, die man Österreich noch nicht in die Hand geben und zu der man selbst nur im äußersten Notfall greifen wollte. Preußen, das die Bruck-Pläne zunächst recht dilatorisch behandelt hatte, nutzte die offenkundigen Schwachstellen der mittelstaatlichen Front, um die österreichischen Vorschläge bereits im Sommer 1850 in aller Öffentlichkeit als »unzeitgemäß« zu verwerfen 15 . Es setzte diese Haltung auch nach der politischen Niederlage von Olmütz unbeirrt fort und sorgte dafür, daß der von Österreich auf den Dresdener Konferenzen ausbedungene handelspolitische Ausschuß des neu konstituierten Bundestags ohne die von Wien erhoffte Wirkung blieb 16 . Mit dem im September 1851 abgeschlossenen Vertrag über den Zollvereinsbeitritt Hannovers und der restlichen Staaten des Steuervereins leitete die Regierung Manteuffel dann sogar die entscheidende Wende ein, welche die Kräfteverhältnisse im mitteleuropäischen Zollkonflikt noch mehr zugunsten Preußens verschob. Berlin köderte das Königreich Hannover vor allem damit, daß es ihm bei der Einnahmeverteilung ein beachtliches Präzipuum einräumte und darüber hinaus eine Ermäßigung der Wein- und Kolonialwarenzölle zugestand 17 . 259

Der neue Vertrag, mit dem Preußen eine von weiten Teilen des deutschen Bürgertums bereits im Vormärz aufgestellte Forderung erfüllte, ist vielfach als eine Defensivmaßnahme gegen die expansive Politik Österreichs gewertet worden 18 . Aber dabei wird zu leicht verkannt, daß das ökonomisch mächtigere Preußen, insbesondere seine zollpolitischen Fachbeamten, schon in den vierziger Jahren, vor allem aber während der Zollberatungen der Jahre 1848/49 die entscheidenden Initiativen zur ökonomischen und politischen Machtausweitung nach Norden ergriffen hatte, um den handelspolitischen Vorsprung gegenüber Österreich weiter auszubauen 19 . Die preußische Regierung deutete sofort nach Abschluß des Septembervertrages ihren festen Willen an, mit Hilfe der neuen Position im Norden den übrigen Zollvereinsstaaten Ablauf und Tempo der künftigen Vereinspolitik zu diktieren und die österreichischen Wünsche abzulehnen. Am 11. November 1851 entschloß sich Berlin, die bestehenden Zollvereinsverträge fristgemäß zum 31. Dezember 1853 zu kündigen, bot aber gleichzeitig den bisherigen Partnern an, die Verträge rechtzeitig auf der Basis des Septembervertrages zu erneuern. Mit Österreich sollte dagegen erst nach dem gesicherten Fortbestand des Zollvereins über die aufgeworfenen zollpolitischen Fragen verhandelt werden 20 . In diesem ultimativen Vorgehen der Hegemonialmacht sahen die meisten anderen Vereinsstaaten eine ernsthafte Bedrohung ihrer souveränen Stellung innerhalb des Zollvereins, die nicht hingenommen werden durfte. Unter Führung von Beust und Pfordten, den leitenden Ministern Sachsens und Bayerns, versuchte die mittelstaatliche Front nun stärker als zuvor, den so deutlich ausgesprochenen preußischen Führungsanspruch durch eigene Festigkeit und österreichische Unterstützung zurückzuweisen21. Auch die hessischen Staaten beschickten daher Anfang 1852 eine handelspolitische Konferenz in Wien, zu der Österreich alle Bundesstaaten eingeladen hatte. Das preußische Fernbleiben erlaubte es der Konferenz jedoch nicht, über die beiden von Österreich vorgelegten Vertragsentwürfe A und B, die entweder eine sofortige große mitteleuropäische Zollunionslösung oder aber einen die Zollunion bereits präjudizierenden Handelsvertrag zwischen Österreich und dem Zollverein vorsahen, verbindliche Beschlüsse zu fassen. Als Schwarzenberg wegen des preußischen Boykotts den Vertretern Sachsens, der süddeutschen und der hessischen Staaten einen weiteren geheimen Vertragsentwürfe vorlegte, der im Falle einer fortgesetzten preußischen Verweigerung die Bildung einer separaten österreichisch-mitteldeutschen Zollunion in Aussicht stellte, zeigte sich, auf welch schwachem Fundament die antipreußische Koalitionsbildung von Anfang an stand 22 . Selbst die entschiedenen Preußengegner in den mittelstaatlichen Regierungen weigerten sich vorerst, in dieser Hinsicht bindende Verpflichtungen gegenüber Österreich einzugehen. In Wiesbaden, Darmstadt, Kassel, 260

aber auch in München waren sich die neuen Regierungen der ökonomischen und fiskalischen Abhängigkeit von Preußen nur zu bewußt, als daß sie die bestehende zollpolitische Verbindung von vorneherein leichtfertig aufs Spiel setzen wollten. Ebensowenig konnten sie an der Tatsache vorbei, daß der von Preußen vorgelegte Septembervertrag, abgesehen von Weinabgaben und Präzipuum, aus materieller Sicht wenig Anlaß zur Kritik bot, sondern sogar ein wesentliches Ziel vormärzlicher Zollvereinspolitik erfüllte 25 . Die hessischen Regierungen strebten zwar weiterhin danach, Österreich in die Regelung der deutschen Zollfragen einzubeziehen, da sie darin »auch in anderer Beziehung für die Zukunft eine Garantie« erblickten, »deren Wert sie sehr hoch veranschlagen zu müssen« glaubten 24 . Dennoch scheuten sie sich ebenso wie Pfordten und Beust, in den Zollfragen blindlings der von Wien vorgegebenen Richtung zu folgen 25 . Selbst Max von Biegeleben, der eindeutig proösterreichische Bevollmächtigte Hessen-Darmstadts 26 , warnte Schwarzenberg in Wien davor, von seinem Land in den Zollfragen mehr zu verlangen, als es ohne größeren Schaden zugestehen könne. Für ihn war ein Eingehen auf die Pläne einer separaten österreichisch-mittelstaatlichen Zollunion nur bei einem »ganz unbilligen Auftreten Preußens« zu rechtfertigen 27 . Auch Kurhessen, das trotz der preußischen Verständigung mit Hannover schon aus geographischen Gründen weiterhin eine wichtige Rolle in der Berliner Handelspolitik spielte, betrachtete das alternative Zollunionskonzept vor allem als ein temporäres Druckmittel gegen preußische Intransigenz. Für den Fall, daß die Berliner Politik die Bildung einer separaten Zollunion mit Österreich doch nötig erscheinen lasse, wollte sich die nach außen kompromißlos auftretende Kasseler Regierung künftige Rückzugsmöglichkeiten von Anfang an offenhalten 28 . Während Kurhessens Regierung innerhalb des hessischen Raumes zunächst am deutlichsten für die österreichische Politik Partei ergriff, verfolgte Wiesbaden den gemäßigsten Kurs. Der nassauische Bevollmächtigte auf den Wiener Konferenzen, Ferdinand B. Vollpracht, hielt eine Sprengung des bestehenden Zollvereins für das größte Unglück, das Deutschland widerfahren konnte. Er vertrat gegenüber Schwarzenberg die Ansicht, daß sich Nassau in zollpolitischer Hinsicht nicht von Preußen lösen könne, und forderte den österreichischen Ministerpräsidenten auf, alles zu vermeiden, was in der Öffentlichkeit als Gefährdung des Zollvereins interpretiert werden könnte, denn sonst werde es einen solchen Sturm der Entrüstung geben, »welchem die Regierungen zu widerstehen kaum in der Lage sein dürften« 29 . Obwohl der neue Staatsminister Wittgenstein den österreichischen Wünschen weit mehr entgegenkommen wollte als sein oberster Finanzbeamter, plädierte auch er für ein möglichst mäßigendes Auftreten des kleinen Staates. Eine mittelstaatlich-österreichische Zollunion mochte durch die von Wien angebotene Garantie bisheriger Zolleinnahmen in fiskalischer Hinsicht noch tragbar sein, doch auch Wittgenstein 261

räumte ein, daß eine solche Lösung »dem Herzogthum in Hinsicht seiner geographischen Lage und seiner volkswirthschaftlichen Verhältnisse große Nachtheile zu bringen geeignet seyn könnte« 30 . Die Mittelstaaten waren somit während der Wiener Konferenz keineswegs im gewünschten Maße von Österreich zu mobilisieren. Wien mußte sich vorerst mit dem mittelstaatlichen Versprechen zufrieden geben, die österreichischen Belange bei den kommenden Verhandlungen mit Preußen zur Sprache zu bringen und mit Nachdruck zu vertreten. Noch im Verlaufe der Wiener Konferenzen hatte Preußen alle Vereinsstaaten zum 14. April 1852 zu Verhandlungen nach Berlin eingeladen und dabei den alten Standpunkt bekräftigt, die von Österreich aufgeworfenen Fragen erst nach Verlängerung der Zollvereinsverträge zu behandeln. Nachdem sich zunächst die leitenden Minister der größten mittelstaatlichen Opponenten, Pfordten, Beust und der Württemberger Neurath, in Bamberg getroffen hatten, um das weitere Vorgehen gegenüber Preußen zu koordinieren, folgte Anfang April die Darmstädter Konferenz, an der nun auch HessenDarmstadt, Kurhessen, Nassau und Baden teilnahmen. Ergebnis dieser Konferenz war die vertrauliche Übereinkunft vom 6. April 1852, in deren erstem Teil die sieben mittelstaatlichen Regierungen beschlossen, einerseits für die Erneuerung der Zollvereinsverträge einzutreten, andererseits aber bei den notwendigen Verhandlungen nicht nur über den Beitritt des Steuervereins, sondern auch über die österreichischen Anträge zu beraten. Zu diesem Zweck wollten sie zwei Schlußprotokolle der Wiener Konferenzen über die Entwürfe A und Β unterzeichnen, die österreichischen Vorschläge über eine Annäherung an den Zollverein als Verhandlungsgrundlage vorlegen und auf eine baldige Hinzuziehung der Wiener Regierung drängen. In einer zweiten, ohne die Beteiligung des als unsicher geltenden Baden abgeschlossenen Vereinbarung verpflichteten sich die sechs Regierungen, weitere Zoll- und Handelsverträge nur noch gemeinsam abzuschließen und für den Fall, daß die Zollvereinserneuerung scheitern sollte, die Zolleinigung untereinander fortbestehen zu lassen. Z u m dritten einigten sich die sechs Mittelstaaten auch noch darauf, die Verhandlungen über eine separate österreichisch-mittelstaatliche Zollunion weiterzuführen, dabei allerdings wie schon zuvor bindende Verpflichtungen gegenüber Österreich zu vermeiden. Man bot Wien lediglich an, ohne eine gleichzeitige preußisch-österreichische Verständigung keinen neuen Zollvereinsvertrag mit Preußen abzuschließen 31 . Hauptziel dieses neuen Versuches einer »handelspolitischen Trias« 32 war es vor allem, Selbständigkeit und bundespolitischen Einfluß der Mittelstaaten durch eine engere Kooperation untereinander, insbesondere gegen Preußen, aber auch gegen Österreich abzusichern. Die österreichischen Belange wurden aufgrund der eigenen politischen Interessen weiterhin unterstützt, die letzte Entscheidung wollten sich die Mittelstaaten aber so weit wie möglich offenhalten. Österreich sollte durch eigene Verpflichtun262

gen, insbesondere durch die wichtige Einnahmegarantie, helfen, mit der Möglichkeit alternativer Zollunionen Politik gegen Preußen zu treiben, ohne daß die Mittelstaaten ihrerseits feste Verpflichtungen in dieser Frage eingingen, da die meisten Minister angesichts der realen Abhängigkeitsstrukturen von Preußen selbst größere Bedenken gegen die Realisierung solcher Pläne hegten und nicht zuletzt die Reaktion der öffentlichen Meinung fürchteten. Wie berechtigt diese Sorge war, zeigte sich, als Preußen Ende April 1852 die geheimen Triasbeschlüsse der Darmstädter Konferenz in der Berliner Vossischen Zeitung veröffentlichte. Die betroffenen Regierungen bekannten sich zwar sogleich untereinander zur Fortsetzung ihrer bisherigen Politik, doch nun gerieten sie immer stärker unter den Druck einer öffentlichen Meinung, die das taktische Spiel mit alternativen Zollunionsplänen ohne preußische Beteiligung als gravierende Bedrohung ihrer wirtschaftlichen Interessen betrachtete 33 . Trotz der bereits spürbaren politischen Lethargie der Reaktionsjahre stieß die Agitation der Zollvereinsbefürworter insbesondere im hessischen Raum auf eine breite Resonanz 34 . Der Bruck-Plan hatte in der öffentlichen Meinung der hessischen Staaten zunächst wenig Diskussionen entfacht, jetzt aber führte die drohende zollpolitische Trennung von Preußen nicht nur im Bürgertum, sondern auch in weiten Teilen der übrigen Bevölkerung zu einer eindeutigen Parteinahme zugunsten der Erhaltung des bestehenden Zollvereins mit Preußen. Das rasche Anschwellen des öffentlichen Unmuts hing nicht zuletzt damit zusammen, daß die ökonomische Depression der vierziger Jahre noch nicht überwunden war 3 5 und die Mißernten des Jahres 1851 neue Schwierigkeiten gebracht hatten 36 . Die preußische Regierung sah in der öffentlichen Meinung zu Recht eine wichtige Stütze der eigenen Position. Weit stärker noch als die Berliner Stellen drängte vor allem der neue Bundestagsgesandte Bismarck darauf, diese Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Preußen sollte seiner Ansicht nach über Presse und Flugschriften die öffentliche Meinung der Mittelstaaten in noch größerem Maße zugunsten der preußischen Politik mobilisieren und zu diesem Zweck »die Verbindung mit einflußreichen und propreußisch gesinnten Männern« aus den opponierenden Staaten intensivieren 37 . In der hessischen Zollvereinsdiskussion hat der teilweise auf eigene Faust handelnde und eigene taktische Konzepte entwickelnde Bismarck diese Vorstellungen dann in die Tat umgesetzt. Aber auch wenn er über Presse, Flugschriften und persönliche Kontakte zu Beamten, Gewerbetreibenden und Abgeordneten im Hintergrund mithalf, die Kampagne gegen die Zollpolitik der hessischen Regierungen anzuheizen 38 , so waren die aufkommenden Petitionsbewegungen für die Erhaltung des Zollvereins doch unbestritten Ausdruck der im Lande vorherrschenden Stimmung und der ökonomischen Interessenlage. Besonders heftig verliefen die zollpolitischen Auseinandersetzungen in 263

der öffentlichen Meinung Nassaus, auf die Österreich anfangs gewisse Hoffnungen setzte. U m den eigenen Plänen möglichst rasch auch eine große Massenbasis zu verschaffen, hatte der österreichische Handelsminister geschickt auf die 1848/49 von der Schutzzollbewegung entwickelten Tarifvorschläge zurückgegriffen, die auch in Nassau auf große Zustimmung gestoßen waren 39 . In der Tat wurde die nassauische Zolldebatte des Frühjahrs 1852 auch durch einen Beschluß eingeleitet, der die Regierungspolitik und auch die österreichischen Pläne befürwortete. Die erste Kammer billigte im Mai 1852 mit zehn zu fünf Stimmen einen vom Eisenindustriellen C. Lossen eingebrachten Antrag, der die Regierung aufforderte, trotz aller Schwierigkeiten den Weg einer zollpolitischen Einigung zwischen dem Zollverein und Österreich nicht zu verlassen 40 . Lossens Haltung wurde maßgeblich von ökonomischen Überlegungen mitbestimmt. Österreich bot in seinen Vorschlägen Eisenzölle an, für die Lossen im Vormärz und vor allem 1848/49 mit großem Einsatz vergeblich gekämpft hatte 41 . Ebenso wie Nassau besaß auch Österreich eine rückständige Eisenindustrie, während Preußen mit seinem rasch expandierenden Eisensektor eine weitere Anhebung der Eisenzölle nicht mehr hinnehmen wollte. Da die moderne preußische Konkurrenz den veralteten nassauischen Hütten zudem immer größere Existenzprobleme bereitete, hielt Lossen aus der Sicht der eigenen Branche die zollpolitische Trennung von Preußen nicht fur ein großes Unglück, vielmehr sah er in ihr sogar »das vollkommenste Heilmittel« für den kranken Zustand der nassauischen Hütten 4 2 . Ebenso wie Lossen waren die anderen Befürworter des Regierungskurses - konservative Partikularisten und die Vertreter des politischen Katholizismus - eifrig bestrebt, die ökonomischen und finanziellen Nachteile einer zollpolitischen Trennung von Preußen herunterzuspielen, ohne daß sie allerdings in der Öffentlichkeit der Trennung selbst das Wort redeten. Der Regierung kam die wirtschaftspolitisch begründete Unterstützung ihres Kurses sehr gelegen, schwächte sie doch den Vorwurf ab, die Staatsführung handele in völligem Widerspruch zu den materiellen Interessen der Bürger. Dennoch konnten die ökonomischen Argumente nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die Regierungstreuen in erster Linie von politischen Motiven leiten ließen 43 . Im Unterschied zur ersten Kammer dominierten in der zweiten die Gegner der Regierungspolitik. Exponent der oppositionellen Richtung war der junge Jurist Karl Braun, der kurz zuvor als Anhänger der Reichsverfassung noch die preußische Unionspolitik bekämpft hatte und nun Partei für die preußische Zollvereinspolitik ergriff 44 . Am 3. Mai 1852 brachte er einen Antrag ein, der die Erneuerung des Zollvereins auf der Basis des Septembervertrages als vorrangiges Ziel nassauischer Politik bezeichnete, jede Koppelung des Erneuerungsprozesses mit den österreichischen Plänen verwarf und die Österreich tangierenden Probleme, wie auch von Berlin verlangt, erst nach erfolgter Vertragsverlängerung behandelt sehen wollte. 264

Darüber hinaus sollte die Kammer beschließen, daß »sie eine Lossagung unseres Landes« von Preußen »für die materiellen Interessen in hohem Grade verderblich erachtet« 45 . Zahlreiche Abgeordnete schlossen sich unter Hinweis auf einzelne, vom preußischen Markt abhängige Wirtschaftszweige sofort dem Appell Brauns an. Da Wittgenstein eine empfindliche Niederlage befürchten mußte, wurden die Kammerverhandlungen sofort auf unbestimmte Zeit vertagt 46 . Doch inzwischen hatte auch eine erste breite Petitionskampagne gegenüber der Regierung deutlich gemacht, daß die überwältigende Mehrheit der nassauischen Wirtschaft, sogar die Eisenindustrie der nördlichen Ämter, der zollpolitischen Bindung an Preußen absolute Priorität einräumte 47 . Als im Oktober 1852 noch immer keine Lösung der Zollvereinskrise in Sicht war, setzte eine zweite, größere Petitionsbewegung ein, bei der vor allem die Winzer des Rheingaus, die Gewerbetreibenden der Hauptstadt, die Industriellen des Dilltales sowie Bürger der an Preußen grenzenden Ämter Montabaur und Selters erneut eindringlich bekräftigten, welche empfindlichen Störungen des Wirtschaftslebens bei einer zollpolitischen Trennung von dem wichtigsten Handelspartner zu befürchten seien 48 . Wie ungelegen der Wiesbadener Regierung diese Petitionskampagnen und der von Bismarck eifrig geförderte öffentliche Druck kamen, bewiesen ihre Einschüchterungsversuche gegenüber dem Verleger der propreußischen »Mittelrheinischen Zeitung«, die den Regierungskurs immer heftiger attackierte 49 . Der von der Regierung sowie von den großdeutschen Kräften unternommene Versuch, einen »partikularen Patriotismus« aufzubauen, der die politischen Grundsatzfragen vor die Wirtschaftspolitik stellte, schlug völlig fehl. Außerhalb der ersten Kammer und der regierungsnahen Presse gewann die Beteiligung an der handelspolitischen Trias und deren antipreußischer Zielrichtung in der öffentlichen Meinung Nassaus kaum Befürworter 5 0 . Ähnlich verhielt es sich in Hessen-Darmstadt. Auch hier fanden die von Bruck vorgelegten Vorschläge im Unterschied zu manchen süddeutschen Schutzzollzentren recht wenig Beachtung. Selbst Graf Solms-Laubach lehnte als engagiertester Schutzzollanhänger des Landes einen protektionistisch ausgerichteten mittelstaatlich-österreichischen Zollverein entschieden ab und unterstützte die von Preußen in Angriff genommene Erweiterung des Zollvereins nach Norden, obwohl diese doch eher der Freihandelsrichtung zugute kommen mußte 5 1 . Als es im April 1852 auf der Generalkonferenz des ADV zu einer großen Auseinandersetzung um die österreichischen Vorschläge kam, trat Solms-Laubach gemeinsam mit vielen anderen Anhängern der preußischen Zollvereinspolitik aus dem einst so mächtigen schutzzöllnerischen Interessenverband aus, der nun an dem bisher überbrückten Gegensatz zwischen klein- und großdeutscher Richtung zerbrach 52 . Innerhalb der hessen-darmstädtischen Bürokratie verstärkte vor allem 265

Biersack die Kritik an der Regierung in einer Weise, die nach Dalwigks Ansicht »mit seiner Stellung als großherzoglich hessischer Beamter« nicht mehr zu vereinbaren war 5 3 . Mit dem Obersteuerrat Ewald wich ein zweiter wichtiger Fachbeamter vom offiziellen Kurs ab. Er war bei den Verhandlungen mit Preußen zunächst noch als Bevollmächtigter tätig gewesen, wurde aber dann durch den zollpolitisch wenig erfahrenen, aber streng antipreußischen Freiherrn Max von Biegeleben ersetzt 54 . Für die Opposition weiter Teile der hessen-darmstädtischen Beamtenschaft spricht ferner die Tatsache, daß das so sorgsam gehütete Geheimnis der Darmstädter Triasbeschlüsse durch hessen-darmstädtische Indiskretion in Berlin bekannt wurde 5 5 . Ebensowenig wie die maßgebenden Fachbeamten ließ das hessen-darmstädtische Wirtschaftsbürgertum in seiner überwältigenden Mehrheit kaum einen Zweifel daran, daß es der von Preußen vorgeschlagenen Lösung der Zollvereinskrise den Vorzug gab. Schon Ende Dezember 1851 hatten die Handelskammern in Mainz und Offenbach betont, daß die Zolleinigung mit Österreich im Interesse der inländischen Wirtschaft nicht »um den Preis der Lostrennung von den nördlichen Vereinsstaaten und namentlich von Preußen erreicht werden könne« 56 . Nach dem Bekanntwerden der Darmstädter Triasbeschlüsse und der dort angesprochenen zollpolitischen Alternativen gingen bei Ministerien und Kammern weitere, aus allen Landesteilen kommende Petitionen ein, die sich für den vorrangigen Schutz des bestehenden Zollvereins aussprachen und die gravierenden ökonomischen Nachteile einer Abkehr von Preußen hervorhoben. O b wohl Preußen im Vertrag mit Hannover eine Senkung der Wein- und Tabakzölle zugestanden hatte, entschieden sich die betroffenen Landwirte ebenso wie der Weinhandel eindeutig für die Sicherung des nördlichen Absatzmarktes. Von Österreich konnten sie nur höhere Zölle, aber keine neuen Absatzchancen, sondern im Gegenteil verschärfte binnenländische Konkurrenz erwarten. Vielfach wurden die eingereichten Petitionen auf Protestversammlungen beschlossen, die 1852 im ganzen Lande stattfanden. U m die Ausweitung dieser Bewegung zu verhindern, ließ Dalwigk am 14. Mai 1852 eine im Friedberger Rathaus tagende Bürgerversammlung durch Polizeieinsatz auflösen 57 . In der zweiten Kammer, wo bereits die preußische Vertragskündigung große Besorgnisse hervorgerufen hatte, brachte der Mainzer Demokrat Müller-Melchiors schon wenige Tage nach der Publikation der Darmstädter Beschlüsse einen Antrag zur Zollvereinsfrage ein. Die Kammer sollte sich von der Politik der handelspolitischen Trias scharf distanzieren, da diese auf ein »Aufgeben des Zollvereins und die Zerreißung des letzten nationalen Bandes« hinauslaufe. Zu solch »unheilvollen Entwürfen«, welche »die materielle Wohlfahrt des Landes unrettbar zerstören« würden, dürfe die Kammer »nie und nimmer die Hand bieten«, sie solle vielmehr die Regierung auffordern, möglichst rasch eine Erneuerung der Zollver266

einsverträge anzustreben, um danach erst über die Österreichproblematik zu verhandeln 58 . Innerhalb der bereits nach dem repressiven Wahlgesetz der Reaktion zustandegekommenen Kammer besaßen die liberalen und demokratischen Kräfte nur noch eine knappe Mehrheit gegenüber den konservativen Abgeordneten 59 . Das gemeinsame Auftreten von Liberalen und Demokraten sicherte dem Antrag Müller-Melchiors aber bereits in den Beratungen des Finanzausschusses eine Mehrheit. Die Ausschußmajorität teilte die Ansicht, daß die Interessen der gesamten hessen-darmstädtischen Wirtschaft untrennbar mit Preußen verflochten seien: »Wo wir hinblicken, was wir auch in Erwägung ziehen, in Zollsachen ist dem Großherzogthum Hessen nur ein Weg vorgezeichnet, welchen es, wenn seine, materiellen Interessen nicht selbstsüchtigen oder vermeintlichen dynastischen Zwekken, wie es leider in anderen zum Zollverein gehörenden- Staaten zu geschehen scheint, geopfert werden sollen, gehen muß: es ist dies der Weg, welcher vor 24 Jahren schon eingeschlagen wurde, nämlich der, welcher eine Verbindung vor allem mit Norddeutschland bezweckt.« 60 Angesichts dieser Verhältnisse - so argumentierte die Majorität weiter - habe die Bekanntgabe der Triasbeschlüsse unter der hessen-darmstädtischen Bevölkerung einen solch »panischen« Schrecken verursacht, »daß aus allen Provinzen, aus allen Ecken des Landes, von jedem Stand, dem Bauern- wie Fabrik-, dem Gewerb- wie Handelsstand, Vorstellungen an die Staatsregierung und die Stände« gelangt seien, die sich alle für den Fortbestand des Zollvereins ausgesprochen hätten 61 . Die Ausschußmajorität warf der Regierung vor, einen rein politisch motivierten Weg des Trotzes gegen Preußen eingeschlagen zu haben, der um so gefährlicher sei, »als im glücklichen Falle nur Weniges erzielt wird, im unglücklichen Falle aber man sich Preußen, wenn es auf seinen ausgesprochenen Ansichten beharrt, mit gebundenen Händen im Monat Januar 1854 ergeben, harte Bedingungen unterschreiben, oder mit Österreich eine Verbindung eingehen muß, welche, abgesehen von der noch problematischen Garantie der jetzigen Zollvereinsrevenuen durch Österreich, den materiellen Ruin unseres Landes unabweislich zur Folge haben muß« 62 . Die Regierung wurde daher aufgefordert, ihren Widerstand gegen Preußen aufzugeben und durch eine konziliante Haltung Fortschritte in drängenden Zollvereinsfragen, vor allem bei den Ausgleichsabgaben, anzustreben 63 . Die liberale und demokratische Majorität bekräftigte damit ihre Entschlossenheit, jeder Gefährdung des bestehenden Zollvereins ihren harten Widerstand entgegenzusetzen. U m eine, die öffentliche Kritik weiter anstachelnde Kammerdebatte mit dem zu erwartenden propreußischen Beschluß zu vermeiden, vertagte Dalwigk wie vorher schon Wittgenstein im Juni 1852 kurzerhand den ihm lästigen Landtag 64 . Die innenpolitischen Auseinandersetzungen um die Zollpolitik gingen freilich mit aller Heftig267

keit weiter, zumal die von Bismarck geförderten Flugschriften und Pressekampagnen die Furcht vor einer Spaltung des Zollvereins verstärkten 65 . Als die Regierung im Herbst 1852 die Kammern zur Steuerbewilligung wieder einberufen mußte, ohne daß inzwischen die schwelende Zollvereinskrise gelöst war, ergriffen die Zollvereinsbefurworter sofort wieder die Initiative, und angesichts der wachsenden Unruhe im Lande wagte es Dalwigk nicht mehr, die Zolldebatte weiterhin zu verhindern 66 . Vor der ersten Kammer legte der Mainzer Lederfabrikant Deninger eine ausfuhrliche Analyse der hessischen Handelsbeziehungen vor. Die wirtschaftlichen Verflechtungen mit Preußen hatten sich seiner Ansicht nach seit 1828 so verdichtet, daß die Rückkehr zur alten Zollgrenze zum Zusammenbruch des gesamten hessen-darmstädtischen Wirtschaftslebens fuhren müsse. Österreich nehme pro Jahr Waren im Wert von 250000 fl. ab, Preußen dagegen importiere aus Hessen-Darmstadt jährlich im Wert von 11280000 fl., wobei ein großer Teil dieses Imports neuen, aufstrebenden Gewerbezweigen zugute komme 6 7 . Daher könnten weder die Nachteile, die der Zollverein einzelnen Branchen gebracht hätte, noch die übertriebenen Hoffnungen auf den freien Zugang zum großen österreichischen Markt über die wahre handelspolitische Interessenlage des Landes hinwegtäuschen 68 . Einige der regierungstreuen Abgeordneten bemühten sich folglich ohne großen Erfolg darum, der Zollvereinspolitik Dalwigks auch eine ökonomische Legitimation zu verschaffen 69 . Selbst konservative Abgeordneten ließen in den Zolldebatten erkennen, daß sie zwar harte Angriffe auf die Regierung vermeiden wollten, gleichzeitig aber von ihr erwarteten, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um die zollpolitische Verbindung mit Preußen aufrechtzuerhalten. Ebenso wie die ökonomischen so stießen auch die politischen Argumente, mit denen die konservativen Partikularisten 70 und die politischen Vertreter der katholischen Minorität 7 1 die von machtpolitischen Ambitionen geleitete preußische Zollvereinspolitik attackierten, auf entschiedenen Widerstand von liberaler und demokratischer Seite. In den Jahren 1849/50 hatten auch die hessen-darmstädtischen Demokraten die preußische Unionspolitik noch heftig angegriffen, in der jetzigen Situation sah jedoch einer ihrer wichtigsten Sprecher, Müller-Melchiors, keine andere Wahl mehr als die zwischen dem preußischen und österreichischen Absolutismus. Da Österreich zur Zeit »die Negation jedes Fortschritts« darstelle, die Existenz Preußens dagegen auf dem »Element des Fortschritts, der Intelligenz, der naturgemäßen Entwicklung, der Berechtigung des Volkes« beruhe, entschied sich Müller-Melchiors für Preußen, das seine eigenen Lebensbedingungen nicht dauerhaft verleugnen, sondern sie in Zukunft zum Wohle Deutschlands zur Geltung bringen werde, was die reaktionären mittelstaatlichen Regierungen schon jetzt an die Seite Österreichs dränge 72 . Während es vielen süddeutschen Demokraten schwerfiel, in den Zollfragen des Jahres 1852 die preußische Partei zu ergreifen 73 , stellten sich die 268

hessen-darmstädtischen Demokraten an die Spitze der Zollvereinsbefürworter. Angesichts der direkten preußischen Nachbarschaft und der teilweise intensiven kleinräumigen Verflechtungen zwischen hessischen und preußischen Regionen galt die handelspolitische Verbindung mit Preußen auch in kleinbürgerlichen und bäuerlichen Kreisen als wichtige Voraussetzung ökonomischen Wohlergehens. So plädierten 1852 beispielsweise auch die Gießener Zünfte entschieden für die Erhaltung des Zollvereins, weil sie den Verlust der nahe gelegenen preußischen Märkte fürchteten 74 . Daß neben den Demokraten auch die wenigen in der Kammer verbliebenen Gothaer Liberalen die Zollvereinspolitik der Regierung hart attackierten und dabei immer wieder die politische Seite des ganzen Zollkonflikts herausstrichen, war nur zu verständlich. Diese Gruppe um den ehemaligen Paulskirchenabgeordneten Reh sah nach dem Scheitern ihrer großen Einheitsbestrebungen mehr als alle anderen politischen Gruppierungen im preußisch geführten Zollverein die letzte nationale Klammer, die auch fortan solange zu neuen Hoffnungen Anlaß gab, wie eine störende und weitere Integrationsschritte hemmende Zollvereinsbeteiligung Österreichs vermieden werden konnte 7 5 . A m Ende der Landtagsdebatten vermochten die zur Regierung stehenden Abgeordneten der zweiten Kammer den Abstimmungserfolg der liberal-demokratischen Zollvereinsanhänger nicht zu verhindern. Gemäß den Vorschlägen der Ausschußmajorität wurde die Regierung aufgefordert, die das materielle Wohl des Landes gefährdende Politik zu beenden, zielstrebig die Erneuerung der Zollvereinsverträge auf der Basis der preußischen Vorschläge in Angriff zu nehmen und erst dann mit Österreich über die aufgeworfenen Fragen zu verhandeln 76 . Auch wenn sich die Mehrheit der regierungstreuen ersten Kammer diesen Ansichten nicht anschloß 77 , so diskreditierte der liberal-demokratische Mehrheitsbeschluß die Regierung Dalwigk im gesamten Lande. Im übrigen wäre das Votum gegen die Regierung noch viel deutlicher ausgefallen, wenn nicht zahlreiche konservative Abgeordnete teils aufgrund ihrer generellen Abneigung gegenüber der bürgerlichen Opposition, teils aber auch aufgrund von »Versprechungen und Einschüchterungen« der Regierung davon abgehalten worden wären, ihren tatsächlichen Auffassungen entsprechend abzustimmen 78 . Die zollpolitischen Kammerdebatten, deren Ergebnisse von Bismarck geschickt in die Presse- und Flugschriftenkampagne einbezogen wurden, gaben der öffentlichen Kritik am Regierungskurs neuen Auftrieb; und die verschärften repressiven Maßnahmen Dalwigks zeigten nur zu deutlich, in welche Isolation die Regierung geraten war 7 9 . In Kurhessen fiel die öffentliche Agitation zugunsten des Zollvereins mit Preußen etwas weniger stark aus als in den beiden Nachbarstaaten. Dies hing vor allem mit dem besonders harten, unter dem Schutz des Deutschen Bundes errichteten Reaktionssystem, aber auch mit den 1852 ausbleiben269

den Landtagsdebatten zusammen. Die Abneigung gegenüber dem von politischen Zielsetzungen bestimmten Regierungskurs war allerdings bei weiten Teilen der Bevölkerung nicht minder groß. Die kurhessische Beteiligung an einer österreichisch-mittelstaatlichen Zollunion bedeutete eine gravierende Beeinträchtigung der vielfältigen Verflechtungen mit den benachbarten preußischen Regionen, mit Thüringen, Waldeck und Braunschweig, deren Regierungen bereits auf der Seite Preußens standen, und machte zugleich die Hoffnungen auf den von Nordhessen seit langem gewünschten Wegfall der Zollgrenze zu Hannover wieder zunichte 80 . Bei aller früheren Kritik an der preußischen Konkurrenz sahen auch in Kurhessen Kleinbürgertum und Landwirte, vor allem aber das Wirtschaftsbürgertum einer zollpolitischen Trennung von Preußen mit größten Sorgen entgegen. Der preußische Vereinsbevollmächtigte Budach schrieb nach dem Ende der Zollvereinskrise, daß die »Aussicht auf den Zerfall des Vereins in den industriellen Kreisen Furcht und Schrecken« erregt habe und nur wenige Branchen, wie die seit Beginn des Zollvereins über die preußische Konkurrenz klagenden Branntweinbrenner, »einem Verfall des Zollvereins mit Ruhe« begegnet wären 8 1 . Auch das noch am engsten mit dem süddeutschen Raum verflochtene Hanau unterstrich 1852 den absoluten Vorrang des preußischen Absatzmarktes 8 2 . Wie die Mehrheit der Bevölkerung so hielten auch maßgebende Finanzund Steuerbeamte des Landes in Anbetracht der ökonomischen Verhältnisse die kurhessische Beteiligung an einer mittelstaatlich-österreichischen Zollunion für verhängnisvoll 8 3 . Vor allem Schwedes legte in einer 1852 anonym in Göttingen erschienenen Flugschrift nochmals die schwerwiegenden politischen, ökonomischen und fiskalischen Bedenken gegenüber den gesamten österreichischen Mitteleuropaplänen offen dar 8 4 . Die Regierungen der hessischen Staaten sahen sich somit in den Zollfragen des Jahres 1852 einem erheblichen Druck der öffentlichen Meinung ausgesetzt, der ihren Aktionsradius entscheidend schmälerte. Die innere Opposition umfaßte die verschiedensten, in anderen Fragen teilweise weit auseinanderstrebenden Gruppierungen. In ihr wirkten Demokraten, Liberale und manche Konservative, Freihändler und Schutzzöllner, Handwerker und Industrielle, Bauern, Händler und weite Teile der Beamtenschaft. Sie wurde zusammengehalten durch die gemeinsame Überzeugung, daß die reale handelspolitische Interessenlage gegen die zollpolitische Trennung von Preußen sprach und daß vor einer Behandlung der österreichischen Wünsche daher zuerst einmal der Fortbestand des bisherigen Zollvereins gesichert werden mußte. D a die ökonomischen Interessen in der Tat mit der starr antipreußischen Zollvereinspolitik nicht zu vereinbaren waren, konnte es den partikularistisch-konservativen Kräften, dem politischen Katholizismus und den wenigen Branchen, welche sich von der Spaltung des Zollvereins Vorteile erhofften, zu keiner Phase der Zollvereinsdebatte gelingen, innerhalb der öffentlichen Meinung wirksame Gegenpositionen 270

aufzubauen und dem Regierungskonzept eine größere Unterstützung zukommen zu lassen. All dies verstärkte die harte Haltung der Hegemonialmacht, die im Sommer 1852 weiter auf den alten Forderungen verharrte, während die Front der zollpolitischen Trias, insbesondere durch die Lage der hessischen Regierungen, zunehmend brüchiger wurde. Schon im Verlaufe der im April 1852 begonnenen Berliner Zollvereinskonferenz waren die opponierenden Mittelstaaten von allen Extremforderungen abgerückt, wobei vor allem Nassaus Bevollmächtigter Vollpracht für mehr Entgegenkommen gegenüber Preußen plädiert hatte 85 . Auch Dalwigk und der verhaßte Hassenpflug scheuten sich schon aus innenpolitischen Gründen immer mehr, den Oppositionskurs gegen Preußen in aller Schärfe fortzusetzen 8 6 . Auf der Anfang Juli in B a d Kissingen stattfindenden Konferenz der Triasminister erklärte sich die Opposition sogar bereit, Verhandlungen über eine vollständige mitteleuropäische Zollunion bis 1859 aufzuschieben, verlangte aber noch, daß gleichzeitig mit der Vereinserneuerung ein umfassender Handelsvertrag mit Österreich abgeschlossen werden sollte. Preußen ging freilich auch auf diese reduzierten Forderungen nicht ein und gab der Trias vorübergehend neuen Halt 8 7 . Die erneuten österreichisch-mittelstaatlichen Verhandlungen 8 8 ließen aber endgültig offenkundig werden, daß eine separate Zollunion kaum Realisierungschancen besaß. Die Mittelstaaten fürchteten nicht mehr allein schwerwiegende ökonomische Nachteile, vielmehr zweifelten insbesondere die hessischen Regierungen auch immer mehr daran, ob das neoabsolutistische Österreich mit seinen großen Finanzproblemen 8 9 überhaupt in der Lage sei, die fur den Fall einer Trennung von Preußen zugesagte Garantie bisheriger Zolleinnahmen erfüllen zu können. In Anbetracht der eigenen Finanzprobleme sahen sich die hessischen Regierungen außerstande, »auf die Sicherstellung des bisherigen Revenuenbetrags zu verzichten« 9 0 . D a Österreich selbst die Einnahmegarantie nur ungern in die Tat umsetzen wollte, mit fortschreitender Entwicklung zunehmend an der Zuverlässigkeit der Trias zweifelte und sich seine außenpolitische Lage durch Rußlands Balkanpolitik zuspitzte, suchte der Nachfolger des verstorbenen Schwarzenberg, Graf Buol-Schauenstein, schließlich eine direkte Verständigung mit Berlin. Nach den von Bruck und Delbrück geführten Verhandlungen einigten sich die beiden Großmächte des Deutschen Bundes am 19. Februar 1853 auf einen Handelsvertrag, der einige gegenseitige Zollsenkungen festlegte und weitere Verkehrserleichterungen in Aussicht stellte. Preußen bezahlte allerdings das rasche österreichische Entgegenkommen mit dem in Artikel 25 abgegebenen Versprechen, spätestens im Jahre 1860 über eine vollständige Zollvereinigung zwischen Österreich und dem Zollverein zu verhandeln 91 . Österreich hatte zwar die großen Ziele nicht erreicht, aber es war ihm immerhin zunächst einmal gelungen, »die möglichste Gleichstellung der beiderseitigen Tarife, die gegenseitige 271

Meistbegünstigung, die Privilegierung des österreichisch-deutschen Zwischenverkehrs durch Schaffung entsprechender Präferenzzölle durchzusetzen und damit eine Zolleinigung mit gemeinsamer Außengrenze und gemeinsamem Tarif gegen das Zollausland anzubahnen« 92 . Preußen dagegen hatte vorerst freie Hand bei der Erneuerung der Zollvereinsverträge erhalten. Aber auch wenn die leidige Zollunionsfrage nur aufgeschoben worden war, so machten sich Teile der Berliner Bürokratie schon jetzt gewisse Hoffnungen, die weiteren Annäherungsversuche Österreichs durch eine betont freihändlerische Handelspolitik zu unterlaufen, der Österreich mit seiner an Protektionismus gewohnten Wirtschaft kaum folgen könne 9 3 . Obwohl der neue Vertrag die mittelstaatlichen Bemühungen, als dritte Kraft die mitteleuropäische Handelspolitik zu beeinflussen, am Ende durchkreuzt hatte, nahmen insbesondere die hart bedrängten hessischen Regierungen diesen Ausweg aus der Zollvereinskrise mit großer Erleichterung auf. Z u m einen konnten sie das Zustandekommen eines Handelsvertrages mit Österreich in gewisser Hinsicht noch als Erfolg mittelstaatlicher Festigkeit verbuchen 94 . Z u m anderen blieb ihnen die Eskalation innenpolitischer Konflikte erspart. Ihr Ziel bestand jetzt nur noch darin, bei der schon aus ökonomischer Sicht unabwendbaren Verlängerung der Zollvereinsverträge möglichst günstige Bedingungen herauszuschlagen. Die Hegemonialmacht konnte nun allerdings, gestützt auf die Verträge mit Österreich und Hannover, noch härter auftreten als zuvor und wies die meisten mittelstaatlichen Wünsche zurück. Dies galt insbesondere fur die Neuregelung der Übergangssteuern bei Wein und Tabak 95 . Die Kammeropposition in Wiesbaden und Darmstadt erhob später zu Recht den Vorwurf, daß die starre antipreußische Politik während der Zollvereinskrise hier große materielle Erfolge verspielt habe 96 . Nach den monatelangen Querelen wurden die neuen Zollvereinsverträge am 4. April 1853 schließlich abgeschlossen. Der um die Staaten des Steuervereins erweiterte Zollverein konnte auf den alten Rechtsgrundlagen weitere zwölf Jahre fortbestehen. Für die Entwicklung des Zollvereins und die hessische Politik hatten Verlauf und Ausgang der bisher größten Belastungsprobe innerhalb des Vereins folgenreiche Auswirkungen. Zunächst einmal waren während der Krise die mächtigen Abhängigkeiten der kleinen Staaten und die preußische Machtposition in den materiellen Fragen eindeutig unter Beweis gestellt worden. Vetorecht und zeitliche Begrenzung der Vereinsverträge hatten sich bei der mittelstaatlichen Verteidigung gleichberechtigter Positionen als Waffen erwiesen, die ohne großen eigenen Schaden nicht mehr eingesetzt werden konnten. Mit den ökonomischen und fiskalischen Abhängigkeiten der Partnerstaaten, dem seit Beginn des Zollvereins zunehmenden Einfluß auf Teile der mittelstaatlichen Bürokratie und der breiten Unterstützung in der öffentlichen Meinung besaß Preußen Macht272

mittel, die es anders als vor 1848 immer stärker gegenüber den kleineren Vereinsstaaten ausspielte. Bismarck, der in den Zollfragen der Jahre 1851/ 52 stets für ein entschlosseneres Vorgehen plädierte, schlug nach Ausgang der Krise im Bewußtsein dieser Stärke sogar vor, »an den Kleinen . . . an Dalwigk und Wittgenstein ein Exempel zu statuieren, daß man uns nicht ungestraft auf der Nase spielt«. Für ihn war es eine unerträgliche »Belästigung, mit Ministerien, deren ganzes Programm in der Prinzlich Emiischen Negation gegen Preußen besteht, in einem Zollverein zu leben«, und er stellte anheim, »den Zollverein mit Hessen-Darmstadt und Nassau nicht zu erneuern, wenn jene beiden Herren nicht zurücktreten« 97 . Die hessischen Regierungen gingen zwar angeschlagen aus der Zollvereinskrise hervor, aber Bismarcks Hoffnungen auf personelle Veränderungen blieben unerfüllt. Das innen- und außenpolitische Gesamtkonzept wurde beibehalten, und zu einer engeren Anlehnung an Preußen kam es schon deshalb nicht, weil der mittelstaatliche Emanzipationsversuch weitgehend fehlgeschlagen und die preußische Vorrangstellung in den Zollfragen spürbarer war als vorher. Die zweite entscheidende Folge der Zollvereinskrise berührte die hessische Innenpolitik. Da eine breite Öffentlichkeit den Eindruck gewonnen hatte, daß die neuen Regierungen der Reaktion ihre überbetonte Souveränitätssicherung unter Umständen sogar über das materielle Wohl der Staatsbürger stellen wollten, erreichten die Staatsführungen schließlich genau das Gegenteil von der beabsichtigten Festigung des Partikularstaates. Die schon durch die reaktionäre Wende geförderte Entfremdung zwischen Regierung und öffentlicher Meinung erhielt in den kleineren hessischen Mittelstaaten mit der Zollvereinskrise neuen Auftrieb. Obwohl in den folgenden Jahren vorerst einmal die Ruhe der Reaktionsphase einkehrte, die durch die Repressionspolitik erzwungen und durch die politische Resignation des Bürgertums begünstigt wurde, stand der teuer erkaufte innenpolitische Machtzuwachs der partikularistisch-konservativen Kräfte auf schwachem Fundament. Vor 1848 waren sich Regierungen und Kammern in den Grundzügen der Handelspolitik noch weitgehend einig gewesen, jetzt konnte das Bürgertum für sich beanspruchen, allein die ökonomischen Belange des Landes verteidigt zu haben, während es den Regierungen vorwarf, das wirtschaftliche Wohl des Landes zugunsten der politischen Absicherung des Partikularstaates zurückzustellen. Der Zollverein hatte damit endgültig seine anfängliche Funktion als Stabilisator der partikularstaatlichen Eigenständigkeit verloren. Die von ihm begünstigten Modernisierungsprozesse drängten nun immer stärker in andere Richtungen. Je mehr die Regierungen versuchten, die Konsequenzen dieser Entwicklung aufzuhalten, desto mehr wurden im hessischen Bürgertum die Abkehr vom Partikularstaat und die Hinwendung zur Hegemonialmacht des Zollvereins gefördert. Schon die Ereignisse von 1852 hatten durch die 273

enge Kooperation zwischen preußischen Regierungsvertretern und hessischer Öffentlichkeit weitere Grundlagen für die Annäherung des Bürgertums an Preußen geschaffen 98 . Der Großteil des hessischen Bürgertums erblickte 1852 in Preußen nicht mehr nur den wichtigsten Absatzmarkt seiner Erzeugnisse, sondern vor allem auch jenen Staat, dessen Regierung im Inneren wie nach außen eine attraktive Wirtschaftspolitik trieb und wenigstens auf diesem Sektor trotz der politischen Reaktion dem bürgerlichen Entfaltungsstreben freien Raum gewährte. Dagegen schien die Wirtschaftspolitik der eigenen Regierungen dem einheimischen Bürgertum immer mehr zu bestätigen, daß die kleineren Staaten offenbar nicht mehr in der Lage waren, »in der Förderung der materiellen Interessen« ihre »Berechtigung nachzuweisen« 99 . Während ein Großteil des Bürgertums nun die neuen sozialökonomischen Entwicklungstendenzen, die rasche Heranbildung einer kapitalistischen Erwerbsgesellschaft, immer deutlicher bejahte, betrieben die Regierungen, insbesondere in Nassau und Kurhessen, eine Wirtschaftspolitik, die verstärkt als Ursache der ökonomischen Rückständigkeit angeprangert wurde. In den wirtschaftlichen Fragen der Zollvereinspolitik unterstützten die hessischen Regierungen zwar auch fortan etliche Wünsche einheimischer Branchen, wobei die Interessen moderner Großbetriebe durchaus Berücksichtigung finden konnten 1 0 0 , aber im Inneren blieben viele Anpassungsmaßnahmen weiter aus, und im übrigen war die gesamte Zollvereinspolitik nun vorrangig auf die politische Absicherung gegen Preußen abgestimmt. Mit dieser Haltung trugen die hessischen Regierungen auch entscheidend dazu bei, daß die von weiten Teilen des Bürgertums gewünschte Fortentwicklung des Zollvereins blockiert wurde. Obwohl der rasche ökonomische Aufschwung der fünfziger Jahre, die wachsenden binnenwirtschaftlichen Verflechtungen innerhalb des Zollvereins 101 und der rasant steigende Außenhandel 102 neue Anforderungen an den Verein herantrugen, blieben die von Preußen und dem Bürgertum geforderten organisatorischen Reformen 1 0 3 aus. Dem »Take off« der fünfziger Jahre stand in der ökonomischen Integration eine Phase der Stagnation gegenüber, in welcher der Zollverein »aus sich heraus keine wesentliche Ergänzung und Vervollständigung weder seines Systems noch seiner Gesetzgebung zu schaffen vermochte und selbst den notwendigen Zusammenhang und die Ordnung seiner Verwaltung nur nach mühevollen Verhandlungen und mit unverhältnismäßigem Aufwande von Zeit und Kräften zu erreichen vermochte« 104 . Alle von Preußen unternommenen Versuche, zur Stärkung der Handlungsfähigkeit des Zollvereins Majoritätsentscheidungen bei der »Auslegung der Gesetze und bei dem Erlaß neuer oder der Abänderung reglementarischer Anordnungen« einzuführen 105 , scheiterten am Widerstand der Mittelstaaten, die den Pluralismus im Verein sowie Autonomie und Souveränität der Einzelstaaten durch ein preußisches Herrschaftsmonopol 274

bedroht sahen. Immer öfter trieben die Mittelstaaten nun eine Art kollektiver Souveränitätssicherung. Als Kurhessen 1854 von Preußen attackiert wurde, weil es die Oberzolldirektion aufgelöst und die obere Zollverwaltung direkt dem Finanzministerium zugeordnet hatte, werteten HessenDarmstadt, Nassau, Sachsen und Bayern den preußischen Anspruch auf korrekte Erfüllung der Vereinsverträge als unzulässigen Eingriff in die einzelstaatliche Administration 106 . Das eifrige Streben nach Absicherung der einzelstaatlichen Souveränität konnte freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die Abhängigkeitsstrukturen gegenüber der Hegemonialmacht in den fünfziger Jahren immer weiter verfestigten. Der ökonomische Aufschwung, der Ausbau des Verkehrswesens und die Entstehung eines modernen Bankensystems 107 sorgten fur eine weitere Verdichtung der ökonomischen Verflechtungen zwischen der Hegemonialmacht und dem hessischen Raum. In finanzieller Hinsicht waren die hessischen Staaten wegen der seit 1847 rasch angestiegenen Defizite in ihren Budgets nun in noch größerem Maße als vorher auf gesicherte Zolleinnahmen angewiesen. Da die Steuerkraft der Bevölkerung wegen der ökonomischen Rückständigkeit und einer zu Beginn der fünfziger Jahre nochmals anschwellenden Auswanderung begrenzt blieb, bemühten sich die hessischen Regierungen seit 1851 sogar verstärkt darum, den Anteil der seit 1847 etwas abgesunkenen Zolleinnahmen 108 durch höhere Fiskalzölle noch mehr auszuweiten. Der kurhessische Bevollmächtigte forderte bereits auf der Wiesbadener Generalkonferenz des Jahres 1851 eine drastische Anhebung der Rübenzuckersteuer 109 . Bald nach Verlängerung der Vereinsverträge verlangten die hessischen Staaten gemeinsam mit den süddeutschen, die Kolonialwarenzölle in Anbetracht gesunkener Gesamteinnahmen des Vereins und des wachsenden Finanzbedarfs der Mitglieder wieder auf die vor dem Septembervertrag bestehenden Sätze anzuheben 110 . Ebenso wie die anderen norddeutschen Vereinsstaaten wies Preußen solche Forderungen meist entschieden zurück. Lediglich bei dem Verlangen nach einer kräftigeren Besteuerung des wachsenden Tabakkonsums wollte die Hegemonialmacht den fiskalischen Forderungen entgegenkommen. Das von Kurhessen propagierte gemeinschaftliche Tabakmonopol lehnte Preußen allerdings ab. Kurhessen ging es bei seinem Antrag zwar vorrangig um neue Finanzquellen, aber zugleich beseitigte ein Tabakmonopol des Zollvereins ein entscheidendes Hindernis auf dem Wege zu einer Zollunion mit Österreich, was Preußen um jeden Preis verhindern wollte 111 . Auch der 1856 von den hessischen Regierungen unterstützte bayerische Antrag, eine gemeinsame deutsche Handelsgesetzgebung und die Vereinheitlichung von Maß-, Münz- und Gewichtssystemen künftig vorrangig über den Deutschen Bund voranzutreiben 112 , zeigte das große Interesse der hessischen Staaten, Österreich in die Regelung der mitteleuropäischen Handelsfragen einzubeziehen. Dennoch blieb der Wunsch nach engeren 275

ökonomischen Verbindungen zur Präsidialmacht des Bundes kaum mehr als eine politische Absichtserklärung. In wirtschaftlicher Hinsicht bestanden für keinen der hessischen Staaten zwingende Gründe, die eine Zollunion mit Österreich besonders erstrebenswert machten. Als Österreich nach 1854 in den Verhandlungen über weitere Handelserleichterungen niedrigere Zollsätze für seine Weine verlangte, war es gerade das sonst so proösterreichische Nassau, das diesem Wunsch am skeptischsten gegenüberstand 113 . Die von Wien 1858 vorgeschlagene gegenseitige Aufhebung der Transitzölle wurde durch die hessen-darmstädtische und nassauische Rheinabgabenpolitik erheblich hinausgezögert 114 . Das kurhessische Finanzministerium hatte bereits Ende 1855 zu den österreichischen Wünschen nach weiteren Zollsenkungen des Zollvereins geschrieben, daß die »Finanzen nicht mehr als unumgänglich nöthig benachtheiligt« werden d ü r f t e n l l s . Der Antagonismus zwischen politischer Absicht und ökonomischen wie fiskalischen Sachzwängen schwächte die Position der Mittelstaaten immer mehr, während Preußen seinen Vorsprung im Kampf um die wirtschaftspolitische Führung in Mitteleuropa weiter ausbaute. Verstärkt wurde diese Tendenz durch den Tatbestand, daß sich der seit 1854 leichter zugängliche österreichische Markt für die zollvereinsländische Wirtschaft infolge der geringen Kaufkraft und der ständigen Wechselkursschwankungen 116 im allgemeinen als wenig attraktiv erwies und die von verschiedenen Seiten erhofften wirtschaftlichen Erfolge des 1853 vereinbarten Handelsvertrages weitgehend ausblieben 117 . Hinzu kam aber vor allem, daß die ohnehin schwächere österreichische Wirtschaft in den fünfziger Jahren der forcierten Industrialisierung des Zollvereins nicht in gleichem Maße zu folgen vermochte, sich folglich die Schere im Entwicklungsstand beider Wirtschaftsblöcke weiter öffnete und die Chancen einer großen mitteleuropäischen Zollunion immer mehr sanken. Der konjunkturelle Einbruch des Jahres 1857, von dem Österreich sehr viel stärker betroffen war, hat diese Tendenzen dann noch verstärkt 118 . Schon 1850 besaß der Zollverein gegenüber Österreich sowohl bei der landwirtschaftlichen als auch bei der gewerblichen Produktion einen großen Vorsprung. Im Jahre 1865 stand Österreich im Vergleich zur führenden Macht des Zollvereins noch weiter zurück. In Preußen lebten nur noch 45% der 19,3 Millionen Einwohner von der Landwirtschaft, von den 37,5 Millionen Einwohnern Österreichs waren dagegen noch 70% in diesem Sektor beschäftigt. Das Eisenbahnnetz umfaßte im kleineren Preußen bereits 11000 km, in Österreich aber nur 6600 km. Die preußische Roheisenproduktion betrug 850000 t, die österreichische dagegen lediglich 460000 t; Preußen verfügte über 15000 Dampfmaschinen mit insgesamt 800000 PS, Österreich über 3400 mit 100000 PS 119 . Preußen konnte folglich mit dem entscheidenden Vorteil der »unvergleichlichen Dynamik und des überlegenen Vorsprungs des industriellen Wachstums« 120 in die nächste Runde der zollpolitischen Auseinandersetzungen gehen. 276

V. Die Politik der hessischen Staaten im preußischösterreichischen Kampf um die wirtschaftspolitische Führung in Mitteleuropa 1860-1866

Ebenso wie im materiellen Kräfteverhältnis verschoben sich auch in der Außen- und Bundespolitik seit Mitte der fünfziger Jahre die Gewichte in Mitteleuropa zugunsten Preußens. Österreich hatte sich durch seine Politik im Krimkrieg innerhalb des Systems der europäischen Großmächte zwischen alle Stühle gesetzt und mit seiner Niederlage in Italien auch im Deutschen Bund einen weiteren Prestigeverlust erlitten. Trotz der bisher gescheiterten Annäherungsversuche an den Zollverein setzte der neue Ministerpräsident und Außenminister Graf Rechberg nun um so mehr alle Hoffnungen auf die Verwirklichung des großen Zollunionsprojektes, um auf diese Weise wenigstens »die schmäler gewordene deutsche Position mit allen Kräften zu verteidigen und wenn möglich zu erweitern« 1 . In einer an alle Zollvereinsregierungen gerichteten Zirkularnote vom 13. Oktober 1859 meldete Rechberg den österreichischen Anspruch an, gemäß den Vereinbarungen des Handelsvertrages von 1853 die Verhandlungen über die Schaffung der großen mitteleuropäischen Zollunion wieder aufzunehmen. Der preußische Prinzregent und die Mehrheit des Berliner Kabinetts gingen am Ende weder auf diese Zollunionspläne noch auf das von Wien angebotene, gegen Frankreich gerichtete Defensivbündnis ein. Preußen nahm vielmehr das Anfang 1860 von Napoleon III. unterbreitete Angebot eines Handelsvertrages mit Frankreich an 2 . Der preußische Anschluß an die im Januar 1860 durch den französisch-englischen Cobden-Vertrag eingeleitete westeuropäische Freihandelsära 3 war für alle Beteiligten in ökonomischer wie politischer Hinsicht eine wichtige Weichenstellung. In ökonomischer Hinsicht ging es Napoleon III. darum, die gerade eingeleitete, innenpolitisch noch sehr umstrittene liberalere Tarifpolitik durch einen neuen Vertrag zu bekräftigen 4 . Ausschlaggebend für das große Drängen, das der französische Kaiser in dieser Angelegenheit an den Tag legte, waren freilich politische Motive. Das Streben nach der Rheingrenze spielte dabei jedoch kaum jene dominierende Rolle, die ihm vielfach zugeschrieben worden ist 5 . Hauptziel der napoleonischen Vertragspolitik war es vielmehr, über die wirtschaftspolitische Verständigung die preußisch-französischen Beziehungen zu intensivieren, die aufstrebende Führungsmacht des Zollvereins 277

enger an Frankreich zu binden und die durch den Handelsvertrag zweifellos verschärften preußisch-österreichischen Konflikte im Interesse der eigenen Hegemonialstellung in Europa zu nutzen 6 . Preußen, das politisch wie ökonomisch immer mehr unter seiner durch einzelstaatliches Vetorecht »verpfuschten Stellung« 7 im Zollverein litt und die bisher erzielten Erfolge durch die österreichischen Beteiligungsansprüche gefährdet sah, erhielt durch das französische Angebot die große Chance, eine wirtschafts- wie machtpolitisch unerwünschte tarifpolitische Stagnation zu überwinden. Seit Ende der fünfziger Jahre wurde zwar sowohl innerhalb der preußischen Bürokratie als auch innerhalb des deutschen Bürgertums vermehrt über eine sogenannte Reorganisation des Zollvereins diskutiert 8 , aber solange die geforderte kräftige Zollexekutive und das Zollparlament nur in diversen Reformplänen standen, konnte eine völlige tarifpolitische Neuorientierung innerhalb der schwerfälligen Zollvereinsorganisation gegen das zu weit gehende einzelstaatliche Veto kaum durchgesetzt werden. Daher erschien das Einschwenken auf den neuen freihändlerischen Kurs in Westeuropa, dem sich der Zollverein angesichts der wachsenden weltwirtschaftlichen Verflechtung ohnehin auf Dauer kaum entziehen konnte, als geeigneter Weg, um die von den Großagrariern, dem Handel und auch Teilen der Industrie geforderte liberale Tarifkorrektur in Angriff zu nehmen 9 . Die im Vormärz noch aus der Defensive agierende, jetzt aber in einer Phase allgemeiner wirtschaftlicher Liberalisierung immer machtvoller auftretende deutsche Freihandelsbewegung verschaffte den neuen tarifpolitischen Vorstellungen innerhalb der öffentlichen Meinung eine wichtige Unterstützung und trug entscheidend dazu bei, die Widerstände gegen Handelsverträge mit den großen westeuropäischen Konkurrenten abzubauen 10 . Der seit 1858 tagende »Kongreß deutscher Volkswirte« entwikkelte sich zur stärksten Bastion der freihändlerischen Seite 11 . Trotz des hartnäckigen Widerstandes der süddeutschen Schutzzöllner geriet mit dem seit 1861 tagenden »Deutschen Handelstag« bald ein zweites wichtiges Organ des Wirtschaftsbürgertums zunehmend in das Fahrwasser der liberalen preußischen Handelspolitik 12 . Schließlich bestärkte auch der im September 1859 entstandene und fur eine preußisch geführte, liberal-demokratische Einigungspolitik werbende Nationalverein schon aus politischen Motiven die Berliner Regierung der »Neuen Ära« in ihrem handelspolitischen Kurs 13 . In politischer Hinsicht bedeutete ein Handelsvertrag mit Frankreich »eine weitreichende allgemeine Entscheidung für eine eigenständige Gesamtpolitik Preußens im Rahmen des europäischen Mächtesystems« 14 , deren wichtigste Folgen zunächst die deutsche Politik selbst betrafen. Die meisten mittelstaatlichen Regierungen bemühten sich seit langem darum, die aus den immer größer werdenden ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen gegenüber Preußen erwachsenen politischen Gefahren durch 278

Unterstützung der österreichischen Forderungen nach Teilnahme am wirtschaftlichen Einigungsprozeß zu vermindern. Eine Durchsetzung der freihändlerischen Handelspolitik rückte jedoch die Verwirklichung der großen mitteleuropäischen Zollunionspläne des rückständigeren und daher protektionistischen Österreich in weite Ferne 15 , band die um ihre souveräne Stellung furchtenden Mittelstaaten noch enger an die Hegemonialmacht des Zollvereins und begünstigte damit eine Veränderung der mitteleuropäischen Verhältnisse im preußisch-kleindeutschen Sinne. Trotz dieser politischen Bedeutung der neuen Handelspolitik, die allerdings erst in den späteren Phasen deutlicher hervortrat, legten die mittelstaatlichen Regierungen Berlin zunächst keine entscheidenden Hindernisse in den Weg. Viele norddeutsche Regierungen, allen voran Sachsen, sprachen sich vielmehr sogar ausgesprochen lobend darüber aus, daß Preußen, gestützt auf die wachsende Anhängerschaft in der öffentlichen Meinung, die handelspolitischen Kontakte zu Frankreich intensivierte. Im Januar 1861 begann in Berlin die erste offizielle Verhandlungsrunde zwischen dem französischen Bevollmächtigten de Clercq und dem preußischen Unterhändler Delbrück, die mit ausdrücklicher Billigung Frankreichs ohne jede direkte mittelstaatliche Beteiligung ablief. Preußen zog seine Partnerstaaten nur indirekt heran, indem es sie mit wohldosierten Informationen versorgte und mittelstaatliche Widerstände geschickt gegen einzelne französische Tarifwünsche ausspielte, schon um den Verdacht zu zerstreuen, daß es aus politischen Gründen in den Wirtschaftsfragen allzu nachgiebig auftrete 16 . Während das von Preußen eingeschlagene, im Zollverein keineswegs unübliche Verfahren im Norden zunächst fast kritiklos hingenommen wurde und hier auch kaum ökonomische Bedenken artikuliert wurden, dominierte bei den meisten süddeutschen Regierungen schon bald eine von Österreich unterstützte skeptische Grundhaltung. Bayern und Württemberg konnten ihre primär politischen Bedenken gegen die Freihandelspolitik auch mit ökonomischen Gegenargumenten ihrer noch stark protektionistisch orientierten Wirtschaft untermauern. Der entschiedenste Widerspruch gegen die handelspolitische Verständigung mit Frankreich kam jedoch von Hessen-Darmstadt, einem Staat, dessen Wirtschaft den Vertrag mit Frankreich größtenteils als »in vieler Beziehung höchst wünschenswert« bezeichnete 17 und dessen Ministerpräsident Dalwigk stets um gute politische Beziehungen zu Frankreich bemüht war 18 . Dalwigk hatte während eines Parisaufenthaltes im April 1861 das enge preußisch-französische Zusammenspiel argwöhnisch beobachtet und war dabei in seiner Überzeugung bestärkt worden, daß beide Großmächte ihre jeweiligen Interessen in der Handelsfrage recht rücksichtslos über die Köpfe der Mittelstaaten hinweg durchsetzen wollten 19 . In seiner Antwort auf die preußischen Verhandlungsinformationen vom April 1861 plädierte Dalwigk dafür, die große Tarifreform nicht auf dem Vertragswege, sondern über eine Spezial279

konferenz des Zollvereins anzubahnen und erst dann neue Vertragsverhandlungen zu fuhren 20 . Während der hessen-darmstädtische Minister seine ablehnende Stellungnahme auch mit ökonomischen Kritikpunkten zu untermauern suchte und insbesondere die geplanten Tarifsenkungen bei Wein, Eisen und Textilien verwarf, bewertete die kurhessische Regierung ebenso wie das dortige Wirtschaftsbürgertum die materielle Seite des geplanten Vertragswerkes noch immer durchaus positiv 21 . Auch in Nassau, wo immerhin Weinbauern und Eisenindustrielle frühzeitig Bedenken gegen etwaige Zollsenkungen vorbrachten 22 , hielt die Bürokratie die vorgeschlagenen Tarifänderungen in materieller Hinsicht durchaus fur annehmbar, falls Preußen die lästigen Übergangsabgaben beim Wein endlich fallen lasse 23 . Erst als die politischen Konsequenzen der projektierten Handelspolitik bald immer mehr die Debatte beherrschten, nahm auch in Kassel und Wiesbaden der Widerstand gegen die preußische Politik neue Dimensionen an. Bevor sich allerdings die mittelstaatlichen Regierungen gemeinsam mit Österreich zu einer festgefugten, von großdeutschen und protektionistischen Gruppierungen unterstützten Front formieren konnten, stellte Preußen die übrigen Zollvereinsstaaten im Frühjahr 1862 vor vollendete Tatsachen. Nach teilweise überaus schwierigen Verhandlungen paraphierte es am 29. März 1862 den von beiden Partnern vor allem aus politischen Gründen gewünschten preußisch-französischen Handelsvertrag. Das österreichisch-mittelstaatliche Aufbegehren gegen die preußische Handelspolitik und die zunehmenden Auseinandersetzungen um die Reform des Deutschen Bundes hatten den preußischen Schritt erheblich beschleunigt 24 . Schon diese unmittelbaren Zusammenhänge mit der Bundespolitik und die Art des Berliner Vorgehens ließen es aus der Sicht der überspielten Mittelstaaten nun nicht mehr zu, sich bei der Beurteilung des Vertrages vorrangig auf den materiellen Inhalt zu konzentrieren, wie es Kurhessen und Nassau 1861 noch getan hatten. Dabei war die wirtschaftliche Seite des neuen Vertrages keineswegs eine nebensächliche Angelegenheit. Der Vertrag leitete zwar keinen völligen Freihandel zwischen beiden Seiten ein, aber er sah doch umfangreiche gegenseitige Zollsenkungen vor. Frankreich reduzierte seine bisher vielfach prohibitiv wirkenden Zölle für deutsche Fertigwaren. Der Zollverein sollte im Gegenzug vor allem die Wein-, Eisen- und Textilzölle senken und dem neuen Vertragspartner zugleich die Meistbegünstigung gewähren". Die in Artikel 31 niedergelegte Meistbegünstigungsklausel, welche die 1853 von Österreich erkämpfte Sonderstellung gegenüber dem Zollverein hinfällig werden ließ und eine große Zollunionslösung in weite Ferne rückte, wurde nun zum entscheidenden Ansatzpunkt der mittelstaatlichen und österreichischen Vertragskritik. Darüber hinaus kritisierten die mittelstaatlichen Vertragsgegner, daß »mit der Gültigkeitsdauer von 12 Jahren - ohne Rücksicht auf die 1865 280

ablaufenden Verträge der Zollvereinsstaaten unter sich und mit Österreich - Frankreich gegenüber Bindungen eingegangen werden sollten auch für jene Zeit, in welcher die augenblicklich geltenden Verträge nicht mehr in Kraft waren« 26 . Die Tragweite der neuen Vertragsverhältnisse mit Frankreich bestätigte somit all jene Befürchtungen, die insbesondere Dalwigk frühzeitig hervorgehoben hatte. Die Zustimmung zur neuen Freihandelspolitik, der Österreich aus innen- und wirtschaftspolitischen Gründen kaum zu folgen vermochte, konsolidierte die preußische Hegemonie in den Zoll- und Handelsfragen und erweiterte die Chancen für eine politische Umgestaltung Mitteleuropas im preußischen Sinne. Gleichzeitig sanken mit ihr die mittelstaatlichen Hoffnungen, durch die Aufrechterhaltung des preußisch-österreichischen Dualismus im föderalen Deutschen Bund die eigene Souveränität und den bisherigen Handlungsspielraum zu bewahren. Die mittelstaatlichen Regierungen waren zwar im Frühjahr 1861 weit von jener geschlossenen Abwehrfront entfernt, die Dalwigk frühzeitig beschworen hatte, aber ihre Bastionen erwiesen sich zunächst auch als stark genug, u m den von Preußen erstrebten »Sieg im ersten Anlauf« zu verhindern 27 . Die preußische Seite hatte anfangs gehofft, die notwendige mittelstaatliche Zustimmung erreichen zu können, ohne daß sie zum letzten Druckmittel greifen und die spätestens 1865 anstehende Verlängerung der Vereinsverträge mit der Annahme des Handelsvertrages verknüpfen mußte. Aber selbst bei den in starken Abhängigkeitsverhältnissen stehenden hessischen Staaten blieben die preußischen Erwartungen unerfüllt. Die hessischen Staaten spielten in den preußischen Planspielen schon aus geographischen Gründen eine wichtige Rolle, da man sich von ihrer Zustimmung erneut eine Signalwirkung für den Süden erhoffte. Die hessischen Regierungen zogen es jedoch vor, zunächst die Entscheidungen anderer Vereinsstaaten und Österreichs abzuwarten, und zögerten auch anschließend ihre offiziellen Stellungnahmen zum Teil lange hinaus. Die internen Gutachten etlicher untergeordneter Behörden zeigten freilich erneut, daß die materielle Seite des preußisch-französischen Handelsvertrages aus hessischer Sicht nur noch wenig Anlaß zur Kritik gab. In Nassau stellten sowohl die für die innere Verwaltung zuständige Landesregierung als auch Finanzkollegium und Zolldirektion die Tarifreform des Zollvereins als unausweichliche Tatsache hin und plädierten dafür, dem vorgelegten Vertrag unter dem Vorbehalt einer Aufhebung der Übergangssteuern für Wein die Zustimmung zu erteilen. Ebenso wie die, vor allem von der noch jungen nassauischen Schaumweinindustrie kritisierten Weinzollsenkungen hielten die betreffenden Behörden auch die projektierten Eisenzölle im Unterschied zu den Hüttenbesitzern für durchaus akzeptabel, da die veralteten Produktionsverfahren ohnehin durch noch so hohe Schutzzölle nicht mehr konkurrenzfähig seien und eine modernisierte Eisenindustrie die neuen Zölle verkraften könne 28 . Dennoch entschlossen sich der Herzog und der Staatsminister Wittgenstein, angesichts der politi281

sehen Implikationen des Handelsvertrages die eigene Entscheidung vorerst offenzuhalten. Ähnlich verhielt es sich in Kurhessen, wo die durch innenpolitische Machtkämpfe geschwächte Regierung in den Handelsfragen zunächst weder die preußische noch die österreichische Seite offiziell unterstützte 29 . Die strikteste Ablehnung erfuhr die von Preußen eingeleitete Handelspolitik innerhalb des hessischen Raumes weiterhin von Dalwigk, der schon vor einer offiziellen Stellungnahme seine politischen und wirtschaftlichen Bedenken geltend machte und Preußen unter anderem beschuldigte, mit dem Handelsvertrag den expansiven territorialen Zielsetzungen Napoleons III. Vorschub zu leisten 30 . Wie die bayerische und württembergische Regierung neigte vor allem auch Dalwigk von Anfang an dazu, den von Rechberg seit Frühjahr 1862 intensivierten österreichischen Widerstand zu unterstützen und gemeinsam das preußische Handelsvertragsprojekt zu Fall zu bringen. Während aber Bayern und Württemberg noch im Sommer 1862 ihre offizielle Vertragsablehnung bekanntgaben, wollte Dalwigk erst die im September anstehenden Landtagswahlen abwarten, um der liberalen Opposition nicht noch neue Wahlkampfmunition zu liefern 31 . Die von Dalwigk so nachhaltig propagierte Neuinszenierung einer festen mittelstaatlichen Oppositionsfront gegen die preußische Zollvereinspolitik war zu Beginn der sechziger Jahre allerdings wesentlich schwieriger geworden als in der ersten großen Zollvereinskrise. Z u m einen entsprach die neue Handelspolitik den allgemeinen ökonomischen Trends auf nationaler wie westeuropäischer Ebene. Dies ließ vor allem die von Beust geführte Regierung des Königreiches Sachsen trotz aller Abneigung gegen die preußischen Bundespläne frühzeitig auf die Seite der Vertragsanhänger treten, weil die exportabhängige sächsische Industrie in der Freihandelspolitik einen wichtigen Beitrag zur Erweiterung ihrer Absatzmärkte sah 32 . Z u m anderen besaß die neue Handelspolitik innerhalb der nationalen Bewegung eine nicht zu unterschätzende Anhängerschaft. In Baden war beispielsweise das neue liberale Ministerium gerade aus politischen Erwägungen von Anfang an entschlossen, sich für eine Annahme des Handelsvertrages einzusetzen 33 . Damit schlossen zwei der wichtigsten Mittelstaaten ihre Beteiligung an einer antipreußischen Front gegen den Handelsvertrag von vornherein aus. Hinzu kam, daß sich in vielen anderen Mittelstaaten, vor allem auch im hessischen Raum, die innenpolitische Situation im Vergleich zu den fünfziger Jahren völlig gewandelt hatte und die Neuauflage einer antipreußischen Zollvereinspolitik jetzt noch größere innere Konflikte heraufbeschwören mußte, zumal die ökonomischen Verflechtungen mit Preußen inzwischen noch enger geworden waren. In allen drei hessischen Staaten gerieten die konservativ-partikularistischen Regierungen seit Ende der fünfziger Jahre zunehmend unter den Druck einer erneut erstarkten bürgerlichen Oppositionsbewegung, die aus ihrer den Bundesreformplänen der Regierungen widersprechenden klein282

deutschen Haltung keinen Hehl machte und den Gegenbewegungen großdeutscher und partikularistischer Ausrichtung keinerlei Chancen ließ. Hessen-Darmstadt war außerhalb Preußens derjenige Staat, in welchem der Nationalverein die größte Resonanz fand, wobei Dalwigks scharfe Repressionspolitik den Zulauf zum Verein eher begünstigte. Neben dem Bildungsbürgertum spielte auch das Wirtschaftsbürgertum der großen Städte innerhalb des vom Darmstädter Advokaten August Metz angeführten Nationalvereins eine wesentliche Rolle 34 . Während sich in Preußen weite Teile der Wirtschaft angesichts der liberalen Wirtschaftspolitik schon vor 1866 von aktiver politischer Betätigung fernhielten 35 , gehörte das Wirtschaftsbürgertum im gesamten hessischen Raum zu den tragenden Pfeilern der bürgerlichen Opposition. Die von den meist sozialkonservativen Regierungen betriebene Wirtschaftspolitik konnte hier zu Beginn der sechziger Jahre das Bürgertum nicht mehr zufriedenstellen. Trotz der abgebauten innerdeutschen Zollschranken wurde die kleinstaatliche Enge als immer drückender und investitionshemmender empfunden. Von einem preußisch geführten Einheitsstaat erhoffte man sich dagegen die rasche Beseitigung ordnungspolitischer Hindernisse, eine kräftige nationale Wirtschaftspolitik und damit neue Impulse fur das eigene Wirtschaftsleben, mit denen die Rückständigkeit des hessischen Raumes überwunden werden sollte 36 . Einem Bürgertum, dem die Monarchen teilweise den Bau von Fabriken verweigerten, weil sie im Umkreis ihrer Residenzen keine hohen Schornsteine und kein Proletariat wünschten, mußten die Kleinstaaten als zentrale fortschrittshemmende Faktoren erscheinen. Karl Braun, der Führer der nassauischen Fortschrittspartei und einer der schärfsten Kritiker des Partikularismus, faßte später die in weiten Teilen des hessischen Bürgertums vertretene Auffassung von der gleichsam naturnotwendigen Beseitigung des Partikularstaates in den Sätzen zusammen: »Seine Ohnmacht wurde darin offenbar, als der moderne Verkehr Anstalten erforderte, die innerhalb der künstlichen Schranken bunter Vielherrschaft nicht errichtet werden konnten. Dampfmaschinen, Eisenbahnen und Telegraphen haben, weil sie Blick und Willen für große Beziehungen des Staatslebens erfordern, die meisten unserer Kleinstaaten in nicht geringerem Grade zerstört, wie die geräuschvollen Vorgänge, die man sonst unter dem Begriff großer geschichtlicher Aktionen begreift.« 37 Durch diese starke Berücksichtigung der ökonomischen Faktoren und damit der eigenen Interessen verstärkte sich bei weiten Teilen der hessischen Liberalen die Hinwendung zur Hegemonialmacht des Zollvereins. Gewiß war die enge Anlehnung an Preußen nicht ausschließlich die Folge der ökonomischen Verflechtungen, vielmehr trugen auch ideelle, politische oder konfessionelle Gesichtspunkte zum Eintreten für die kleindeutsche Lösung bei, aber die ökonomischen Beziehungen zwischen dem hessischen Raum und Preußen sowie die Unzufriedenheit mit der Wirt283

schaftspolitik der eigenen Regierungen haben die propreußischen Tendenzen im hessischen Bürgertum zweifellos entscheidend gefestigt. Dies bedeutete nicht, daß die hessischen Liberalen die preußische SchleswigHolstein-Politik und vor allem den verschärften preußischen Verfassungskonflikt kritiklos hinnahmen. Im Gegenteil, seit dem Verfassungskonflikt gingen sie auf deutliche Distanz zu Preußen und rückten ihre liberaldemokratischen Forderungen wieder vermehrt in den Vordergrund 3 8 . Doch die meisten hessischen Liberalen hielten eine preußisch geführte Einigungspolitik im Grundsatz auch dann noch für die erstrebenswerteste, als der preußische Weg durch die inneren Konflikte dieses Staates in politischer Hinsicht zunehmend fragwürdiger geworden war 39 . Dies galt nicht zuletzt für Kurhessen, wo Preußen kurz zuvor den bürgerlichen Kampf um die Wiederherstellung der freiheitlichen Verfassung von 1831 eindrucksvoll unterstützt und damit das Fundament künftiger Kooperation spürbar verbreitert hatte 40 . Die wirtschaftliche Bindung an Preußen war bei der überwiegenden Mehrheit der hessischen Bevölkerung ohnehin zu keinem Zeitpunkt umstritten. Das erneute eindeutige Eintreten für den Fortbestand des Zollvereins und die Kritik an einer Regierungspolitik, die den bewährten Zollverein aufs Spiel zu setzen schien, trug nicht unwesentlich zu den großen Wahlsiegen bei, welche die jeweiligen hessischen Fortschrittsparteien seit 1862 verbuchen konnten. In Hessen-Darmstadt errang die personell eng mit dem Nationalverein verschmolzene Fortschrittspartei im September 1862 32 der 50 Abgeordnetensitze der zweiten Kammer 4 1 . Dagegen gewann die vom Mainzer Domkapitular Moufang geführte und vom Bischof Ketteier unterstützte Großdeutsche Partei am Ende nur zwei Sitze. Die großdeutschen Zielsetzungen und die Unterstützung der Dalwigkschen Innenpolitik stießen selbst im katholischen Bevölkerungsteil, der etwa 25% der Gesamtbevölkerung umfaßte, keineswegs auf ungeteilte Zustimmung 4 2 . Die von der Fortschrittspartei in der hessen-darmstädtischen Innenpolitik errungene Position wurde auch von der neuen großdeutschen Bewegung wenig erschüttert, die sich im Oktober 1862 unter dem Namen »Deutscher Reformverein« als Gegenpol zum Nationalverein konstituierte. Schon die heterogene Zusammensetzung des Reformvereins, in dem konservative, klerikale, liberale und demokratische Gruppen kooperierten, die oft nur durch die großdeutschen und antipreußischen Zielsetzungen zusammengehalten wurden, beeinträchtigte von Anfang an seine Wirksamkeit 43 . Auch in Nassau, das mit 39% den höchsten katholischen Bevölkerungsanteil aufwies, konnte der Reformverein trotz intensiver Bemühungen der Fortschrittspartei mit ihrer besseren Organisation, den einflußreicheren Führungskräften und der schlagfähigeren Presse nichts Entscheidendes entgegensetzen. Die kleindeutsche Richtung des nassauischen Bürgertums, deren Führungsspitze bereits im Juni 1859 in der sogenannten »Nassauer 284

Erklärung« ein kaum verhülltes »Bekenntnis zu einem freiheitlichen Nationalstaat unter preußischer Führung« abgegeben hatte 44 , errang nicht zuletzt durch ihr konsequentes Eintreten für eine Bestandssicherung des Zollvereins 1863 einen überwältigenden Wahlsieg. Trotz des von der Regierung fortgesetzten Repressionskurses konnte sie ihren Vorsprung in den folgenden Wahlen sogar noch weiter ausbauen. Die Regierung geriet sowohl in der Innen- als auch in der Außen- und Bundespolitik zunehmend in die Defensive, zumal auch weiten Teilen von Beamtenschaft und Militär um 1860 propreußische Neigungen nachgesagt wurden 4 s . In Kurhessen, wo trotz des 1856 erfolgten Ausscheidens Hassenpflugs in der Außenpolitik der proösterreichische und in der Innenpolitik der reaktionäre Kurs fortgesetzt worden war, gelang der von Friedrich Oetker 4 6 geführten liberalen Opposition mit der 1862 durch preußische Hilfe erreichten Wiedereinsetzung der freiheitlichen Verfassung von 1831 der entscheidende Durchbruch 4 7 . Die großdeutschen Zielsetzungen, wie sie vor allem die im Süden ansässigen Demokraten vertraten, stießen in dem überwiegend protestantischen und in vielerlei Hinsicht stärker zum N o r den neigenden Kurhessen insgesamt nur auf geringe Resonanz 48 . Auch der von konservativen Beamten und Geistlichen im November 1861 gegründete konservativ-partikularistische »Hessenverein« vermochte die innenpolitischen Kräfteverhältnisse nicht zu ändern, obwohl er doch bewußt an die tragenden Pfeiler der alten Gesellschaft, an Bauern und Handwerker, appellierte 49 . Das Scheitern des Hessenvereins war nicht allein auf die geringe politische Partizipation dieser Schichten zurückzufuhren, vielmehr litten auch Bauern und Handwerker unter jener allgemeinen Mißwirtschaft der kurfürstlichen Regierung, die in den sechziger Jahren von den Liberalen immer heftiger attackiert wurde 5 0 . Kurhessen galt daher auch außerhalb der Landesgrenzen bald als Negativbeispiel des Partikularismus, und sein eigenwilliger Kurfürst wurde zum Antityp eines modernen, aufgeschlossenen Herrschers hochstilisiert 51 . Die von den kurhessischen und nassauischen Liberalen besonders eifrig vorgebrachte Kritik an den kleinstaatlichen Verhältnissen, die gewiß in vielen Punkten überzogen war, hat der kleindeutschen Richtung bereits vor 1866 den Vorwurf einer Annexionspartei eingetragen 52 . Karl Braun und andere Kritiker des Partikularstaates haben solche Vorwürfe frühzeitig damit zu entkräften versucht, daß sie vorrangig die Politik der eigenen Regierungen für das Aufkommen annexionistischer Tendenzen verantwortlich machten. Die Regierungen versäumten es ihrer Ansicht nach, in einer Zeit der forcierten Industrialisierung den neuen Bedürfnissen in angemessener Weise nachzukommen 5 3 . Da die Partikularstaaten des hessischen Raumes, vor allem Nassau und Kurhessen, wichtige Bedürfnisse der Bevölkerung nur noch begrenzt perzerpierten und die Anforderungen der immer rascher ablaufenden Modernisierungsprozesse nur noch unvollkommen bewältigten, geriet am Ende nicht nur das ohnehin labile Herr285

schaftssystem der partikularstaatlichen Eliten immer tiefer in die Krise. Vielmehr wurde der Partikularstaat selbst vor allem vom Bürgertum zunehmend in Frage gestellt und durch politische Alternativen ersetzt, die den »Bedürfnissen und Erwartungen« besser gerecht zu werden schienen 5 4 . Diese Entfremdungsprozesse zwischen Regierenden und Regierten wurden durch die handelspolitischen Konflikte der sechziger Jahre erheblich beschleunigt, denn die überwältigende Mehrheit der hessischen Bevölkerung stimmte aus wirtschaftlichen, aber auch aus nationalpolitischen Gründen von Anfang an der neuen preußischen Handelspolitik zu. Die in der Außen- und Bundespolitik sich eng an Österreich anlehnenden Staatsfuhrungen des hessischen Raumes verweigerten dagegen vorerst nicht nur eine rasche Annahme des preußisch-französischen Handelsvertrages, Hessen-Darmstadt und Nassau beteiligten sich zugleich an der im Juni 1862 mit den Vertretern Bayerns und Württembergs stattfindenden Sonderkonferenz in München, auf der die neue handelspolitische Lage beraten und gemeinsame Schritte gegenüber Preußen beschlossen werden sollten. Die opponierenden Mittelstaaten wollten zwar grundsätzlich am Zollverein festhalten, gleichzeitig aber verstärkt auf eine Teilnahme Österreichs hinarbeiten und zumindest die österreichische Sonderstellung gegenüber dem Zollverein weiter festschreiben. Allerdings erwies sich das kleine Nassau schon in dieser Frühphase der Opposition als recht unsicherer Kantonist, da es einer strikten Ablehnung des Vertrages auswich. A m 18. Juni 1862 einigten sich die vier Staaten lediglich darauf, daß der Handelsvertrag mit Frankreich aus ihrer Sicht einige der 1853 gegenüber Österreich eingegangenen Verpflichtungen unterlaufe 55 . Für Österreich, das im Gegenzug zum preußischen Vertragsabschluß wieder verstärkt seinen Plan einer großen mitteleuropäischen Zollunion propagierte, war dies zunächst wenig ermutigend. Während Wien und die mittelstaatlichen Opponenten eine vorrangige Diskussion über die österreichischen Alternativkonzepte verlangten, bestand Preußen bald immer nachhaltiger darauf, zuerst den Zollverein auf der Basis des preußischfranzösischen Handelsvertrages zu erneuern und erst dann über die künftige Stellung Österreichs zu verhandeln. Diese harte Haltung wurde begünstigt durch die starken mittelstaatlichen Abhängigkeiten von Preußen, die eine Abkehr v o m Zollverein kaum noch zuließen, und durch die ökonomischen wie fiskalischen Schwächen Österreichs. Hinzu kam, daß die von Berlin eingeleitete handelspolitische Wende trotz der innerpreußischen Spannungen sowohl im Abgeordnetenhaus wie im Herrenhaus schon im Juli 1862 eine überwältigende Mehrheit fand 5 6 . Kurz danach, am 2. August 1862, wurde der bisher nur paraphierte Handelsvertrag mit Frankreich auch offiziell unterzeichnet. Damit stellte Preußen die Zollvereinspartner kompromißlos vor die Alternative, entweder die von Preußen geschaffene Basis zu akzeptieren oder sich nochmals in das ungewisse Abenteuer der mitteleuropäischen Zollunionspläne zu stürzen.

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Der im September 1862 zum Ministerpräsidenten berufene Bismarck hat an diesem vorgegebenen Kurs der Handelspolitik nicht nur unbeirrt festgehalten, sondern darüber hinaus noch stärker als die Vorgänger versucht, über die zollpolitischen Fragen zur entscheidenden Verbesserung der innen- und außenpolitischen Situation beizutragen. Innenpolitisch begünstigte die vom ansonsten so widerspenstigen Abgeordnetenhaus gebilligte Freihandelspolitik durch die Interessenkongruenz von Junkern und weiten Teilen des Bürgertums zwar eine Strategie, »deren Ziel die Aufspaltung einer übermächtig erscheinenden Opposition war« 57 . Der entscheidende rasche Durchbruch gelang freilich auf diesem Sektor zunächst ebensowenig wie in der Bundespolitik, wo die österreichisch-mittelstaatliche Koalition trotz aller inneren Schwächen bald neue Aktivitäten entfaltete. Hinzu kam, daß auch die französische Unterstützung der preußischen Position durchaus ihre Grenzen besaß. In den ersten Monaten nach Vertragsabschluß hatte sich die französische Seite, insbesondere Außenminister Thouvenel, mit großem Eifer vergeblich bemüht, den Widerstand der »Rheinbundkönige« 58 gegen den Handelsvertrag zu brechen, doch dann ging Paris Ende 1862 unter dem neuen, mehr zu Österreich neigenden Außenminister Drouyn de Lhuys zu einer wesentlich vorsichtigeren Haltung über 59 . In seiner Denkschrift vom 1. Weihnachtsfeiertag 1862 plädierte der neue preußische Ministerpräsident Bismarck bekanntlich dafür, mit Hilfe des Zollvereins das »Netz der Bundesverträge« zu zerschlagen und die Zollvereinsstaaten auch politisch zu einer festeren Einheit unter preußischer Führung zu verklammern 6 0 . U m die mögliche französische Unterstützung für eine von der Basis des Zollvereins ausgehende aktive deutsche Politik Preußens auszuloten, forderte Bismarck nun als Gegenleistung für ein von Berlin definitiv zugesagtes Festhalten am Handelsvertrag die französische Zusicherung, »daß die übrigen Zollvereinsstaaten nur in Gemeinschaft mit uns und durch unsere Vermittlung an dem Gesamtsysteme der französischen Handelsverträge beteiligt werden können« 61 . Angesichts der allgemeinen außenpolitischen Situation, wohl aber auch in Anbetracht der innerpreußischen Konflikte 62 lehnte es Frankreich nun schroff ab, sich an diesem Knebelungsversuch gegenüber den Mittelstaaten zu beteiligen 63 . Damit erfüllte Napoleon III. vorerst noch einmal jene Funktion des natürlichen Protektors der Mittelstaaten, auf die vor allem Dalwigk setzte. Der in Bismarcks Dezemberprogramm von 1862 niedergelegte Plan eines politischen Zollvereinsausbaus mit handlungsfähiger Exekutive und einem Zollparlament besaß unter solchen Voraussetzungen wenig Realisierungschancen und wurde auf Anraten Delbrücks vorerst ganz zurückgestellt 64 . Im übrigen schienen auch die innerpreußischen Auseinandersetzungen Anfang 1863 nicht für die werbende Kraft der Zollparlamentsidee zu sprechen. Dennoch zeigte die weitere Diskussion über den preußischfranzösischen Handelsvertrag bald sehr deutlich, wie sehr sich die materiel287

len Interessen eines großen Teils des deutschen Volkes fur die Ziele der preußischen Politik mobilisieren ließen. Besonders eindrucksvoll bestätigte sich dies in den innerhessischen Debatten u m die künftige Handelspolitik. In Nassau, wo die Staatsfuhrung trotz der positiven Stellungnahmen wichtiger Behörden dem Frankreichvertrag aus politischen Gründen vorerst die Zustimmung verweigerte, begannen die Kammern schon im Juni 1862, die Zurückhaltung der Regierung heftig zu attackieren. A m 28. Juni brachten vierzehn Abgeordnete der zweiten K a m m e r einen Antrag ein, in dem der Regierung vorgeworfen wurde, daß sie sich in der Handelsvertragsbeurteilung allein von politischen Gesichtspunkten leiten lasse. Nach Ansicht der liberalen Antragsteller lag die Annahme des von Preußen vorgelegten Handelsvertrages im Interesse des überwiegenden Teils der nassauischen Wirtschaft 65 . Karl Braun stellte wenig später unmißverständlich fest, »daß nur durch einen engen Anschluß an Preußen, dessen wirtschaftliche Interessen mit den Unsrigen im Wesentlichen gleichartig sind, für das materielle Gedeihen unseres Landes gesorgt werden kann« 6 6 . Diese Auffassungen wurden wie schon 1852 in einer breiten, v o m Zentralvorstand des nassauischen Gewerbevereins organisierten Petitionskampagne bekräftigt. In oft gleichlautenden Sammelpetitionen sprachen sich die lokalen Gliederungen des Gewerbevereins, der landwirtschaftliche Verein, Bürgerausschüsse, kommunale Gremien sowie Versammlungen von Gewerbetreibenden und Gutsbesitzern für die Zustimmung zum Handelsvertrag und damit für die Erhaltung des Zollvereins aus 6 7 . In einer aus allen Landesteilen unterstützten Sammelpetition hieß es, »daß eine Lossagung Nassau's von dem Zollverein, welche durch Verwerfung des deutsch-französischen Handelsvertrages bewirkt oder vorbereitet wird, unseren Wohlstand vernichten und dem Lande Wunden schlagen würde, von welchem es sich während der gegenwärtigen Generation nicht wieder würde erholen können« 6 8 . Karl Braun sah in all diesen Eingaben einer Bevölkerung, »welche sonst kein großes Gefallen am Petitionieren hat«, den sichtbarsten Beweis dafür, daß die Regierung in dieser Lebensfrage der nassauischen Wirtschaft eine gegen die Interessen der Bürger gerichtete Politik trieb 6 9 . Es erscheint auf den ersten Blick überraschend, daß ausgerechnet in Nassau, das 1848/49 noch zu den Hochburgen der Schutzzollbewegung gehört hatte und zu einer restriktiven Gewerbepolitik zurückgekehrt war, mit Braun ein Mann zur markantesten innenpolitischen Persönlichkeit aufstieg, der sich als Kammerabgeordneter und als Präsident des 1858 gegründeten »Kongresses deutscher Volkswirte« energisch für einen orthodoxen Wirtschaftsliberalismus im Inneren wie nach außen einsetzte 70 . Z u m einen hing dies damit zusammen, daß das nassauische Bürgertum, insbesondere der in den fünfziger Jahren einflußreicher gewordene Teil des Wirtschaftsbürgertums, angesichts der trotz langsamer Aufwärtsentwicklung noch immer als gravierend empfundenen eigenen Rückständigkeit seinen Blick eben verstärkt 288

auf die vor allem in Preußen scheinbar so erfolgreiche Durchsetzung wirtschaftsliberaler Ordnungsprinzipien richtete. Z u m anderen aber war für den Mobilisierungserfolg zugunsten des Freihandels auch maßgebend, daß die Entscheidung über den Handelsvertrag zugleich ein Votum für die Fortsetzung des bestehenden Zollvereins darstellte. Der Gedanke an eine Spaltung des Vereins mobilisierte in der Regel selbst solche Branchen, denen wie etwa dem Weinbau manche neuen Tarife mißfielen, die aber der zollpolitischen Bindung an Preußen absolute Priorität einräumten. Z u m liberalen Mobilisierungserfolg trug aber offenbar auch die Tatsache bei, daß die Fortschrittspartei bei allem Vorrang der ökonomischen Argumente die nationalen Implikationen der Zollpolitik trotz des kritisch aufgenommenen preußischen Verfassungskonfliktes durchaus deutlich ansprach. Eine Einbeziehung Österreichs in die deutsche Zolleinheit wurde vor allem von Braun strikt abgelehnt, weil sie die notwendige Fortentwicklung des Zollvereins verhindere 71 . Die Schwäche der österreichischen Wirtschaft, die chaotischen Währungsverhältnisse und die geringere Konsumtion hemmten die wirtschaftlichen Fortschritte. Die innen- und außenpolitischen Belastungsfaktoren des Kaiserstaates mußten den von Nassaus Liberalen seit langem gewünschten politischen Ausbau des Zollvereins erheblich erschweren. Nach Ansicht von Braun und seinen Mitstreitern sollte mit der Erneuerung der Zollvereinsverträge zugleich eine Reorganisation des Vereins erfolgen, um endlich eine echte Exekutive und ein die Gegensätze ausgleichendes Zollparlament zu schaffen. Den Gegnern des Handelsvertrages hielt Braun vor, die von ihnen festgestellten tarifpolitischen Mängel seien doch lediglich die Folge jener unbefriedigenden Zollvereinsverfassung, welche eine Klärung der »gemeinsamen und übereinstimmenden Volksmeinung über die handelspolitischen Gesamtinteressen der Bevölkerung des gesamten Zollvereinsgebietes« verhindere und jenes »mißtönende Concert von lauter einzelnen, in verschiedene größere und kleinere Interessen und Länder abgepferchten Stimmen« vernehmen lasse 72 . Die großdeutsche und partikularistische Minderheit der Vertragsgegner, die Brauns Pläne einer »gekräftigten Zollexekutive« als ersten Weg zur Mediatisierung der Mittelstaaten und als entscheidenden Schritt zur Lostrennung Österreichs von der deutschen Staatenwelt wertete 73 , kämpfte innerhalb der nassauischen Öffentlichkeit erneut mit dem Nachteil, ihre politischen Ziele nur schwer mit den ökonomischen Fakten untermauern zu können. Auch die Mitarbeit einiger Eisenindustrieller und Schaumweinfabrikanten an der Agitation des Reformvereins hat hieran wenig zu verändern vermocht, zumal die großdeutsche Haltung dieser meist katholischen Unternehmer offenbar nicht ausschließlich ökonomisch begründet war 7 4 . Innerhalb der Eisenindustrie beschränkte sich die starre Opposition gegen den Handelsvertrag mit Frankreich weitgehend auf die Unternehmerfamilie Lossen, die schon früher durch ihre extrem protektionistische Haltung hervorgetreten war. Die Schaumweinfabrikanten fürchteten nicht 289

allein die geplanten Zollsenkungen, sondern vor allem auch die Folgen des im Handelsvertrag mit Frankreich vereinbarten Verbotes, französische Etiketten nachzuahmen 75 . Der Großteil des nassauischen Weinbaus unterstützte dagegen die Petitionskampagne zugunsten des Handelsvertrages, weil er die zollpolitische Verbindung zu Preußen nicht gefährdet sehen wollte 76 . Die überwiegende Mehrheit innerhalb der öffentlichen Meinung stand in Nassau damit dem Handelsvertrag von Anfang an freundlich gegenüber. Schon im August 1862 stimmten beide Kammern - die erste mit 8 zu 5, die zweite mit dem eindeutigen Votum von 16 zu 4 Stimmen - fur die baldige Annahme des preußisch-französischen Handelsvertrages 77 . Diesem Votum wollte sich der proösterreichische Staatsminister Wittgenstein nicht mehr völlig entziehen, zumal er den zollpolitischen Handlungsspielraum wesentlich enger einschätzte als der Herzog 7 8 . Am 11. September 1862 entschloß er sich zu einer freundlichen Geste gegenüber Preußen. Er ließ erkennen, daß er dem Vertrag beitreten wolle, falls die Zustimmung aller Vereinsstaaten gesichert sei, was Preußen freilich im Moment wenig weiterhalP 9 . Obwohl in Kurhessen sogar das Finanzministerium im September 1862 ebenso wie die Oberzolldirektion und die Kommission für Handels- und Gewerbeangelegenheiten zu dem Ergebnis kam, »daß für Kurhessen im Allgemeinen weder in finanzieller noch in volkswirtschaftlicher Hinsicht erhebliche Bedenken bestehen, den proponierten Verträgen mit Frankreich zuzustimmen« 80 , lehnte der Kurfürst aus politischen Motiven vorerst jede Stellungnahme ab. Begründet wurde dies unter anderem damit, daß Kurhessen angesichts seiner geographischen Lage dazu beitragen müsse, im eigenen Interesse »den Zollverein in seinem jetzigen Umfang zu erhalten«, und man daher »nicht durch eine sofortige unbedingte ZustimmungsErklärung die Königlich Preußische Regierung in eine Lage« bringen dürfe, die es ihr ermögliche, einen separaten norddeutschen Zollverein zu gründen 8 1 . Ganz anders argumentierte die liberale Landtagsmajorität, deren Führer Friedrich Oetker bereits Mitte Oktober 1862 in einer persönlichen Unterredung mit Bismarck Preußen die gewünschte Unterstützung seiner Handelspolitik zugesagt hatte 82 . Der vom Hersfelder Textilkaufmann Sunkel im November 1862 eingebrachte Antrag, die Regierung solle der Kammer möglichst rasch den neuen Handelsvertrag zur Zustimmung vorlegen, wurde im Landtag sogar einstimmig angenommen. Dabei zeigte die vorausgegangene Debatte nur zu deutlich, daß eine Annahme des Handelsvertrages innerhalb des Landtages völlig außer Zweifel stand. Vor allem Vertreter des Wirtschaftsbürgertums, wie Sunkel oder der Bockenheimer Waggonfabrikant Reifert, betonten, daß dem Handelsvertrag mit all seinen Konsequenzen im Interesse der kurhessischen Wirtschaft so schnell wie möglich zugestimmt werden müsse und die große mitteleuropäische Zollunion wegen zahlreicher Hindernisse ökonomischer und politischer Natur 290

kein realistisches Alternativkonzept sei. Eine rasche Annahme des Handelsvertrages konnte nach Ansicht der liberalen Majorität andere, noch zögernde Vereinsstaaten mitziehen. Das von der Regierung vorgebrachte Argument, Kurhessens Vorpreschen würde unter Umständen eine Spaltung des Zollvereins begünstigen, wurde dagegen entschieden zurückgewiesen, da die Fortentwicklung der kurhessischen Wirtschaft allein durch die Verbindung mit Preußen gesichert werden könne 83 . Schon im Ausschußbericht zum Antrag Sunkel hieß es hierzu: »Die geographische Lage hat unabweisbare Consequenzen, und es kann ein kleiner Staat, von einem größeren eingeschlossen, keine seinem Nachbarn entgegenstehende Handelspolitik üben wollen.« 84 Auch in Kurhessen wurde diese Haltung der Landtagsmajorität durch Petitionen aus allen Landesteilen nachhaltig unterstützt. Besonders die Handels- und Gewerbevereine setzten sich eifrig für eine Annahme des Handelsvertrages ein 85 . Daß die Vertragsgegner innerhalb des Wirtschaftsbürgertums nur eine verschwindend kleine Minderheit darstellten, zeigte sich vor allem auf der zweiten Landesversammlung der kurhessischen Handels- und Gewerbevereine vom Dezember 1863, als der Handelsvertrag trotz der Kritik an einigen Zollsätzen auf eine fast einmütige Zustimmung stieß 86 . Angesichts der realen ökonomischen Interessenlage und Abhängigkeiten plädierte Finanzminister Dehn-Rothfelser, der zugleich die Stellung des leitenden Ministers innehatte, bereits kurz nach dem Landtagsbeschluß vergeblich dafür, dem Handelsvertrag zuzustimmen. Als er sich dann auch noch offen gegen den Kurfürsten stellte, der eine ablehnende Stellungnahme nach Berlin schicken wollte, wurde er am 10. Januar 1863 entlassen 87 . Wenig später kehrte Dehn-Rothfelser zwar als Finanzminister ins Kabinett zurück, die Leitung des gesamten Staatsministeriums lag nun jedoch bei Außenminister Abée. Dieser war sich freilich wie sein Vorgänger jener Probleme nur zu bewußt, die eine kurhessische Ablehnung des Handelsvertrages in Kurhessen hervorrufen mußte. Eine Verschärfung des antipreußischen Kurses war daher auch von Abée kaum zu erwarten 88 . Unter den hessischen Staatsministern trat nach wie vor Dalwigk am unerbittlichsten gegen Preußen auf. Selbst der überwältigende Wahlsieg, den die liberale Opposition im September 1862 errungen hatte, hielt Dalwigk nicht davon ab, dem von Preußen vorgelegten Handelsvertrag am 12. Oktober 1862 eine politisch und materiell begründete offizielle Absage zu erteilen 89 . Allerdings vermied auch der hessen-darmstädtische Ministerpräsident aus wohlerwogenen Gründen allzu polemische Attacken gegen Preußen, die zu einem offenen Bruch mit Berlin fuhren konnten. Er betonte sowohl gegenüber Preußen als auch gegenüber der drängenden Landtagsmajorität, daß seine Regierung ernsthaft zur Beilegung aller im Zollverein bestehenden Differenzen beitragen wolle und keine Sprengung des Vereins wünsche 90 . Eine Weile reichte dies aus, um die liberale Opposi291

tion von energischen Schritten gegen die Regierungspolitik abzuhalten. Immerhin strich die zweite Kammer bereits im Dezember 1862 angesichts der unbefriedigenden handelspolitischen Situation alle noch bestehenden Ermächtigungen. Damit sollte der Regierung von Anfang an jede M ö g lichkeit genommen werden, sich an separaten mittelstaatlichen oder mittelstaatlich-österreichischen Zollunionsversuchen zu beteiligen und die zollpolitische Verbindung mit Preußen aufzukündigen 91 . Im März 1863 kam es jedoch dann auch in der hessen-darmstädtischen zweiten Kammer zu einem Antrag, der die Regierung aufforderte, dem preußisch-französischen Handelsvertrag zuzustimmen und die von Österreich aufgeworfenen Fragen erst zu einem späteren Zeitpunkt zu behandeln 92 . Während der Reformverein auch in Hessen-Darmstadt vor allem die politischen Aspekte des Handelsvertrages ins Zentrum seiner Agitation rückte 93 , konzentrierten sich die kleindeutschen Liberalen hier noch stärker als ihre nassauischen und kurhessischen Gesinnungsfreunde ganz auf die weit weniger umstrittene wirtschaftliche Seite des Handelsvertrages. In politischer Hinsicht gingen die hessen-darmstädtischen Liberalen, die sich in einer Mittlerrolle zwischen nord- und süddeutschem Bürgertum fühlten, auch aus Rücksicht auf die süddeutschen Partner seit dem Verfassungskonflikt auf eine etwas größere Distanz zur Berliner Politik. Der Führer der hessen-darmstädtischen Liberalen, Metz, betonte vor der zweiten Kammer, daß »diese Volksvertretung nicht aus Liebe zu dem preußischen Ministerium den Beitritt zum Handelsvertrag befürworte«, sondern allein aufgrund der wirtschaftlichen Erfordernisse 94 . Bei vielen hessen-darmstädtischen Liberalen war solche Distanz zu Preußen keine grundsätzliche. Auch unter dem Ministerium Bismarck blieb das auf eine preußisch geführte Einigungspolitik hinauslaufende Bekenntnis unumstritten, daß man das nationale Band des Zollvereins »als den festen Grundstein und praktischen Ausgangspunkt einer innigeren nationalen Einigung« erhalten müsse 95 . In wirtschaftlicher Hinsicht entsprach der Handelsvertrag mit Frankreich nach Ansicht der liberalen Landtagsmajorität sowohl dem Gesamtinteresse des Zollvereins als auch den spezifischen Interessen der hessen-darmstädtischen Wirtschaft. Die Regierung Dalwigk hatte zwar stets die These verfochten, daß der Handelsvertrag zentrale Belange der einheimischen Wirtschaft verletze und daher eine interne, die »Freiheit bei der Regulierung von Zöllen« bewahrende Tarifreform des Zollvereins vorzuziehen sei 96 . Demgegenüber Schloß sich die Landtagsmajorität der Meinung an, daß in Anbetracht der schwerfälligen vereinsinternen Entscheidungsprozesse der vorgelegte Handelsvertrag der geeignetste Weg sei, um »mit der notwendigen inneren Tarifreform zugleich den Vorteil einer allgemeinen Verkehrserleichterung und einer Gewinnung des französischen Marktes zu verbinden« 97 . Von diesem neuen reichen und großen Absatzgebiet erhofften sich die hessen-darmstädtischen Vertragsbefurworter mehr als von 292

einer Zollunion mit dem finanziell zerrütteten und weit weniger konsumierenden Österreich 98 . Die Vertragsanhänger verwiesen auf umfangreiche französische Zollsenkungen bei vielen früher fast prohibierten Massenfabrikaten, die »einen bisher verschlossenen großartigen Markt eröffneten« 99 . Die Besorgnisse über eventuell negative Auswirkungen einzelner Tarifsenkungen wurden von den liberalen Vertragsbefurwortern unter Hinweis auf die inzwischen eindrucksvoll bestätigte deutsche Konkurrenzfähigkeit zurückgewiesen 10 °. Der überwiegende Teil der hessen-darmstädtischen Wirtschaft, allen voran die Handelskammern der großen Städte, stimmten solchen Ansichten eifrig zu 1 0 1 , während bei der völlig überzogenen ökonomischen Vertragskritik der Großdeutschen 102 die erhoffte Wirkung weitgehend ausblieb. Die Wirtschaft des Landes unterstützte die preußische Handelspolitik, weil sie sich zum Teil große Vorteile von dem neuen freihändlerischen Kurs versprach oder weil sie von einer Ablehnung des Handelsvertrages eine zollpolitische Trennung von Preußen befürchtete. Die große Mehrheit der hessen-darmstädtischen Delegierten auf dem Münchener Handelstag des Jahres 1862 103 stimmte ebenso wie alle nassauischen und kurhessischen Vertreter dem Majoritätsantrag zu, der auf eine rasche Annahme des Handelsvertrages hinauslief und die österreichischen Zollunionspläne ablehnte 104 . Im gleichen Sinne entschied sich am 1. Juli 1863 auch die zweite Kammer Hessen-Darmstadts, die Dalwigk darüber hinaus aufforderte, alles zu tun, um die »nationale Calamitate einer Sprengung des Zollvereins zu verhindern. Zugleich wurden die Reorganisationspläne des Zollvereins ausdrücklich unterstützt 105 . Dagegen ließ die Mehrheit der ersten Kammer, in der ebenfalls Kritik an Dalwigks Handelspolitik laut geworden war, am Ende der Regierung wie schon während der ersten großen Zollvereinskrise völlig freie Hand 1 0 6 . Die breite öffentliche Zustimmung zugunsten des preußisch-französischen Handelsvertrages konnte in Hessen-Darmstadt auch durch die heftigen antifranzösischen Akzente nicht geschmälert werden, die von den Vertragsgegnern laut vorgebracht wurden. Die Hinweise auf die mit dem Handelsvertrag verbundenen territorialen Ziele Napoleons III. waren in Hessen-Darmstadt mit seinen linksrheinischen Gebieten weit brisanter als in Nassau, wo die Großdeutschen ebenfalls vor einem Vertrag mit dem »Erbfeind« warnten 107 . Einer der führenden Mitglieder des hessen-darmstädtischen Reform Vereins, der Bensheimer Arzt B. J. Krauß, schrieb 1863 im Gewerbeblatt, daß die Franzosen mit ihrem Löwenvertrag die deutschen Gewerbe »völlig lahm legen würden, wodurch die Verarmung Deutschlands und Bereicherung Frankreichs leicht so überhand nehmen könnte, daß es in Wahrheit leicht geschehen könnte, was ein preußisches Witzblatt, >der KladderadatschRuhrbergbau