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German Pages 326 Year 1969
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 96
Der demokratische Bundesstaat Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes und seine Bedeutung für Zuständigkeitsvereinbarungen zwischen Bund und Ländern
Von
Wieland Hempel
Duncker & Humblot · Berlin
WIELAND
HEMPEL
Der demokratische Bundesstaat
Schriften zum ö f f e n t l i c h e n Band 96
Recht
Der demokratische Bundesstaat Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes und seine Bedeutung für Zuständigkeitsvereinbarungen zwischen Bund und Ländern
Von Dr. Wieland Hempel
DUNCKER
& HUMBLOT
/
BERLIN
Alle Redite vorbehalten © 1969 Duncker St Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1969 bei Alb. Sayffaerth, Berlin 61 Printed In Germany
Vorwort
Die traditionelle Bundesstaatslehre stellt die einzelnen Länder und den Bund als selbständige Staaten einander gegenüber. Dieses Verständnis der bundesstaatlichen Ordnung bestimmt maßgebend eine Verfassungsinterpretation, die es den einzelnen staatlichen Einheiten verbietet, ohne besondere verfassungsgesetzliche Ermächtigung
Zuständig-
keitsveränderungen zu vereinbaren. Die staatliche Praxis hat auf solche verfassungsrechtlichen Einwände allerdings nur teilweise Rücksicht genommen. Die tatsächlich geübte zuständigkeitsverändernde Zusammenarbeit der Länder untereinander und mit dem Bund steht daher weithin außerhalb des Verfassungsrechts, wie es sich nach dem herkömmlichen Verständnis der bundesstaatlichen Ordnung darstellt. Eine Möglichkeit, dieses Spannungsverhältnis aufzulösen, scheint nunmehr in einer „Staatsidee des Kooperativen Föderalismus" gefunden worden zu sein. Indessen fügt sich eine „gemeinschaftliche Verantwortung aller" nicht ohne weiteres i n eine verfassungsgesetzliche Zuständigkeitsordnung ein, die für die einzelnen staatlichen Institutionen bestimmte Verantwortungsbereiche festlegt. Die Diskussion über diese Problematik soll hier mit dem Versuch fortgeführt werden, die Gründe für die isolierende Gegenüberstellung von Bund und Ländern zu klären und der Entscheidung des Grundgesetzes für einen demokratischen Bundesstaat Gesichtspunkte für die Problemlösung zu entnehmen. Hierbei stehen die grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Fragen i m Vordergrund, die mit der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes verbunden sind. Die Arbeit wurde i m September 1966 abgeschlossen. Sie hat der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen als Dissertation vorgelegen und wurde i m Sommer 1968 überarbeitet. Hierbei konnten Schrifttum und Rechtsprechung sowie die bundesstaatliche Praxis vereinzelt noch bis Juli 1968 berücksichtigt werden.
6
Vorwort Herrn Professor Dr. Werner Weber möchte ich auch an dieser Stelle
für wertvolle Anregungen danken sowie für die vielfältige Förderung, ohne die mir die Anfertigung der Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Die Juristische Fakultät der Universität Göttingen hat die Drucklegung in großzügiger Weise unterstützt. München, i m November 1968 Wieland
Hempel
Inhaltsverzeichnis
Einleitung § 1 Aufgabe u n d Methode
13
Erster Teil Die Vereinbarung von Zuständigkeitsveränderungen durch Bund und Länder Erstes Kapitel: lichkeit
21
Zuständigkeitsvereinbarungen i n der Verfassungswirk21
§ 2 Rationalisierung der Aufgabenerfüllung
23
1. Delegationen
25
2. Ingerenzen
29
3. Gemeinschaftliche Einrichtungen
31
§ 3 Koordinierung der Aufgabenerfüllung
35
Zweites Kapitel: Zuständigkeitsvereinbarungen i n der verfassungsrechtlichen Diskussion
40
§ 4 Die Sachverantwortung der einzelnen Länder und des Bundes
40
1. Das Delegationsverbot
40
2. Einschränkungen des Delegationsverbots
43
§ 5 Die Zuordnung gemeinschaftlicher Einrichtungen
Zweiter
Teil
Die Theorie des Staatenstaates Erstes Kapitel:
50
Der Staatenstaat i n Schrifttum u n d Rechtsprechung
§ 6 Definitionen u n d Grundlagen § 7 Die Zuordnung von B u n d u n d Ländern 1. Der dreigliedrige und der zweigliedrige Bundesstaat
55 55 55 64 64
2. Das Neugliederungsurteil des Bundesverfassungsgerichts
70
3. Die Isolierung der Länder voneinander u n d vom B u n d
76
§ 8 Land u n d Gemeinde
82
nsverzeichnis
8
1. Die unabgeleitete Landesgewalt
83
2. Die souveräne Landesgewalt
87
3. Die M i t w i r k u n g der Länder bei der B i l d u n g des Bundeswillens . .
91
Zweites Kapitel:
Der Primat der subjektiven Einheit des Staates
§ 9 Die Einheit des Gemeinwesens
94 96
1. Die reale Verbandseinheit
96
2. Geschichtliche u n d gesellschaftliche Bedingungen der „Einheit des Gemeinwesens" 103 a) Der naturrechtliche Dualismus
103
b) Das romantische Erlebnis der Einheit
105
c) Der nationalstaatliche Monismus d) Der deutsche Konstitutionalismus e) Die Verhüllung realer Herrschaft durch Einheit
108 110 114
3. Einheit des Gemeinwesens u n d Grundgesetz § 10 Die Einheit des Ämterwesens
Dritter
121
Teil
Der demokratische Bundesstaat Erstes Kapitel: gesetzes
117
Grundlagen der bundesstaatlichen Ordnung des G r u n d -
§11 Der Staat als I n s t i t u t i o n i m Gemeinwesen
129
130 130
1. Organisation und I n s t i t u t i o n
130
2. Die Pluralisierung des öffentlichen
137
§ 12 Die politische Leitungsgewalt
139
1. Das Politische
139
2. Regierung u n d Souveränität
143
§ 13 Die demokratische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland 1. Autorisierung u n d politische Leitung
156 156
2. Demokratie als Verfassungsform
160
3. Demokratie als Regierungsform
165
Zweites Kapitel: tungsgewalt
Die bundesstaatliche Gliederung der politischen L e i -
177
§ 14 Die Teilhabe von B u n d u n d Ländern an der politischen Leitungsgewalt 177 1. Die Kompetenzordnung
178
2. Die Gesamtstaatlichkeit
182
3. Die institutionelle Ordnung
187
§15 Regionale u n d funktionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt 199
nsverzeichnis
9
1. Die Gliederung des Bundes i n Länder
201
2. Die grundsätzliche M i t w i r k u n g der Länder bei der Gesetzgebung 204 3. Regionale Entscheidungszentren u n d Unitarisierung
209
§ 16 Die Zuordnung i m Gesamtstaat
226
1. Die Zuordnung der Leitungsinstitutionen
226
2. Die einheitliche Autorisierung der Bundesrepublik Deutschland . . 233 § 17 E x k u r s : Parallelen i m Schrifttum 1. Gesamtstaatlichkeit Modell a) Albert Haenel
und
240
Gesamtsouveränität
im
theoretischen
b) Otto von Gierke u n d Walter Schmidt c) M a r t i n Usteri 2. Zuordnung u n d politische Gliederung a) Rudolf Smend
242 246 249 249
b) Carl Schmitt
251
3. Einzelne Aspekte der Gesamtstaatlichkeit
Vierter
253
Teil
Zuständigkeitsvereinbarungen im demokratischen Bundesstaat Erstes Kapitel:
240 241
Gesichtspunkte der bundesstaatlichen Ordnung
256 256
§ 18 Die grundsätzliche Zulässigkeit von Zuständigkeitsvereinbarungen . . 256 § 19 Grundsätzliche Fixierungen der Zuständigkeitsordnung
261
Zweites Kapitel:
267
Gesichtspunkte der demokratischen Ordnung
§ 20 Die institutionelle Zuordnung
267
§21 Die Fixierung der SachVerantwortung
274
1. Leitungsaufgaben und Gesetzgebung
274
2. Politische Aufgaben
275
3. Entdemokratisierte Aufgabenerfüllung
289
Überblick
296
Literaturverzeichnis
303
Sachverzeichnis
319
Abkürzungsverzeichnis* ABl. AöR ARD
= Amtsblatt = Archiv des öffentlichen Rechts (seit 1886) = Arbeitsgemeinschaft der öffentlichrechtlichen R u n d f u n k anstalten der Bundesrepublik Deutschland aRV = Verfassung des Deutschen Reichs v o m 16. A p r i l 1871 AS = Amtliche Sammlung BAnz. = Bundesanzeiger Bay. = Bayern Bay.VBl. = Bayerische Verwaltungsblätter (seit 1955) Bay.VerfGH = Verfassungsgerichtshof f ü r den Freistaat Bayern Bay.VGH = Bayerischer Verwaltungsgerichtshof BHP1. = Bundeshaushaltsplan BK = Kommentar zum Bonner Grundgesetz; redaktionelle Bearbeitung: B. Dennewitz, Hamburg 1950 ff., 2. Bearbeitung 1964 ff. BR = Bundesrat BReg. = Bundesregierung BT = Bundestag Bull.BReg. = B u l l e t i n der Bundesregierung Der Staat = Der Staat. Zeitschrift f ü r Staatslehre, öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte (seit 1962) Die = Handbuch der Theorie u n d Praxis der Grundrechte, hrsg. Grundrechte von Franz Neumann, K a r l August Bettermann, Hans Carl Nipperdey u n d Ulrich Scheuner, B e r l i n 1956—1962 DJT = Deutscher Juristentag Drucks. (I) = Drucksachen (1. Wahlperiode) E = Entscheidung EGKS = Europäische Gemeinschaft für Kohle u n d Stahl Ev. Staats= Evangelisches Staatslexikon, hrsg. von Hermann Kust und lexikon Siegfried Grundmann, Stuttgart, B e r l i n 1966 FBW = Filmbewertungsstelle Wiesbaden Föderalistische = Föderalistische Ordnung. Ansprachen u n d Referate der Ordnung v o m B u n d Deutscher Föderalisten u n d v o m I n s t i t u t für Staatslehre u n d P o l i t i k e.V. am 9. u n d 10. März 1961 i n Mainz veranstalteten staatswissenschaftlichen Arbeitstagung, hrsg. von Adolf Süsterhenn, Koblenz 1961 GemGO = Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien. BeBMin. I I sonderer Teil v o m 8. Januar 1958 * Die Abkürzungen stimmen i m wesentlichen überein m i t Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, B e r l i n 1957. Das folgende Verzeichnis enthält die dort nicht angegebenen sowie die abweichend verwandten u n d die weniger gebräuchlichen Abkürzungen.
Abkürzungsverzeichnis GO Gutachten über die Finanzreform Gutachten zur Neugliederung
11
= Geschäftsordnung = Kommission für die Finanzreform. Gutachten über die Finanzreform i n der Bundesrepublik Deutschland, S t u t t gart 1966 = Die Neugliederung des Bundesgebietes. Gutachten des von der Bundesregierung eingesetzten Sachverständigenausschusses, hrsg. v o m Bundesminister des Innern, Bonn, K ö l n und B e r l i n 1955 GVB1. = Gesetz- u n d Verordnungsblatt Hbg. = Hamburg HdbDStR = Handbuch des Deutschen Staatsrechts, hrsg. von Gerhard Anschütz und Richard Thoma, 2 Bde, Tübingen 1930 u n d 1932 HdbKomm= Handbuch der kommunalen Wissenschaft u n d Praxis, 3 Wiss. u. Praxis Bde, hrsg. von Hans Peters, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1956—1959 HdSW = Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, hrsg. von B e k kerath u. a., Stuttgart, Tübingen u n d Göttingen 1956 ff. Hpl. = Haushaltsplan JöR = Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart n. F. (1907—1938; n. F. seit 1951) JuS = Juristische Schulung, München-Berlin (seit 1961) JW = Juristische Wochenschrift (1872—1939) KMK = Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland Konkordats= Der Konkordatsprozeß. I n Zusammenarbeit m i t Hans M ü l prozeß 1er hrsg. von Friedrich Giese u n d Friedrich August Frh. v. d. Heydte, München 1956—1961 LT = Landtag MB1. = Ministerialblatt m. w. Nachw. = m i t weiteren Nachweisen Nds. = Niedersachsen Nds.Rpfl. = Niedersächsische Rechtspflege (seit 1947) NRW = Nordrhein-Westfalen prALR = Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten vom 5. Februar 1794 prGS = Gesetzsammlung für die Königlich Preußischen Staaten PVS = Politische Vierteljahresschrift. Zeitschrift der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (seit 1960) RdErl. = Runderlaß RegE = Regierungsentwurf RhPf. = Rheinland-Pfalz RHO = Reichshaushaltsordnung v o m 31. Dezember 1922 RMdl = Reichsminister des I n n e r n SH = Schleswig-Holstein Staatslexikon = Staatslexikon für Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, 6. Aufl. Freiburg (Herder) 1957—1963 StenoBer. = Stenographische Berichte StV = Staatsvertrag SWF = Südwestfunk
12 VkBl. Vorl.Nds.Verf. VVDStRL Wp. WRV WSA WÜB WÜH ZaöRV ZBR ZDF ZeK ZfPol. ZgesHR
Abkürzungsverzeichnis = = =
= = = =
= =
= = =
= =
Verkehrsblatt, Amtsblatt des Bundesministers für Verkehr Vorläufige Niedersächsische Verfassung v o m 13. A p r i l 1951 Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (seit 1924) Wahlperiode Verfassung des Deutschen Reichs v o m 11. August 1919 Wiener Schlußakte v o m 15. M a i 1820 Württemberg-Baden Württemberg-Hohenzollern Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht u n d V ö l k e r recht (seit 1929) Zeitschrift f ü r Beamtenrecht (seit 1953) Zweites Deutsches Fernsehen Zeitschrift f ü r evangelisches Kirchenrecht (seit 1953) Zeitschrift f ü r P o l i t i k (1908—1944, n. F. seit 1954) Zeitschrift f ü r das gesamte Handelsrecht und K o n k u r s recht (seit 1858)
Einleitung § 1 Aufgabe und Methode Der Versuch, die verfassungsrechtliche Diskussion um das Verständnis der bundesstaatlichen Ordnung fortzuführen, bedarf der Rechtfertigung. Dabei liegt die Problematik weniger darin, daß das Schrifttum nahezu alle denkbaren Erläuterungen des Bundesstaatsbegriffs m i t logischer Schärfe oder politischer Überzeugung durchgeführt oder angedeutet hat, so daß das Thema unter dem Blickpunkt der Systematik allenfalls noch für Varianten Raum läßt. Die Fragwürdigkeit eines erneuten Versuchs betrifft vielmehr das Thema selbst. Denn die A n nahme, Untersuchungen über „den Begriff" des Bundestaates könnten zu verfassungsrechtlich erheblichen Aussagen führen, findet i n den neueren hermeneutischen Erkenntnissen nicht ohne weiteres eine Stütze. Konkrete juristische Entscheidungen, die Auslegungszweifel zu beheben haben, können nicht durch Subsumtion unter abstrakte Systembegriffe getroffen werden 1 . Seit der Positivismuskritik i n den zwanziger Jahren vollzieht die verfassungsrechtliche Methodenlehre — in Übereinstimmung mit der modernen zivilistischen Hermeneutik — schrittweise den Übergang von der stationären Dogmatik, dem geschlossenen System und seinen Allgemeinbegriffen zu einem „elastischeren Gefüge allgemeiner Maximen und ihrer mehr induktiven Fortbildung i n Praxis und Lehre" 2 . Hierin liegt eine deutliche Absage an die abstrakte Frage nach dem „Begriff als solchen", etwa dem des Bundesstaates. Damit w i r d von seiten der Hermeneutik eine Mahnung bestätigt, die Arnold Röttgen aus anderen Gründen aussprach: Der Jurist solle sich keinen Täuschungen darüber hingeben, „daß sich hinter 1 Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) S. 53 ff. (55) ; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechtes der Bundesrepublik Deutschland, 2. Auflage 1967, S. 23, 27; Bäumlin, Recht, Staat u n d Geschichte (1961) S. 27, 29 f.; Krieie, Theorie der Rechtsgewinnung (1967) S. 98. 2 Wieacker, Das Bürgerliche Recht i m Wandel der Gesellschaftsordnungen, i n : Hundert Jahre deutsches Rechtsleben (1960) Bd. 2 S. 1 ff. (7); Esser, G r u n d satz u n d N o r m (1956) S. 44, 239. Abweichend Diederichsen, Topisches und systematisches Denken i n der Jurisprudenz, N J W 1966 S. 697 ff. Weitere Nachweise bei Krieie, Theorie der Rechtsgewinnung S. 114 ff.; Bartelsberger, Z u r Konkretisierung verfassungsrechtlicher Strukturbestimmungen, V e r w Arch Bd. 58 (1967) S. 249 ff. (262 f.).
14
Einleitung
von langer Hand tradierten Rechtsbegriffen wie 'Bundesstaat, kommunale Selbstverwaltung oder Beamter abstrakte Denkmodelle verbergen, für die Ähnliches gilt, wie für jene soziologischen Idealtypen, über deren essentielle Weltfremdheit insbesondere Max Weber keinen Zweifel gelassen hat" 3 . Wieweit diese Mahnung begrifflichen Fixierungen überhaupt entgegensteht, w i r d noch zu prüfen sein. Zumindest setzt sich der Interpret, der eine solche Fixierung unabhängig vom konkreten Problem ansteuert, der Gefahr aus, sachbezogene Argumente zu übersehen und sachfremde zu berücksichtigen 4 . Das Problem, auf dessen Lösung die Überlegungen dieser Schrift gerichtet sind, betrifft eine Vielzahl von Staatsverträgen und Verwaltungsabkommen, die die Länder untereinander und mit dem Bund abgeschlossen haben. I h r Inhalt führt u. a. zu der Frage, ob und ggf. i n welchen Grenzen die Länder der Bundesrepublik Deutschland von Verfassungs wegen befugt sind, untereinander und mit dem Bund Zuständigkeitsveränderungen zu vereinbaren. I m einzelnen w i r d diese Fragestellung i m ersten Teil der Arbeit erläutert werden. Die Mehrzahl der Antworten, die Rechtsprechung und Schrifttum bislang gegeben haben, weist eine begreifliche Abhängigkeit vom zugrunde gelegten Verständnis „des Bundesstaates" auf; begreiflich deshalb, weil von diesem verfassungsrechtlichen Grundbegriff gerade für den vorliegenden Zusammenhang Aufschluß zu erwarten sein dürfte. Dabei zeigt sich, daß der Rückgriff auf die überkommene Definition des Bundesstaats als eines aus Staaten zusammengesetzten Staates zu einer Verhärtung des bundesstaatlichen Gefüges führt, die weder i n der staatlichen Praxis noch i n der öffentlichen Meinung auf besonderes Verständnis stößt. Bereits dieser Umstand legt die Frage nahe, ob der „aus Staaten zusammengesetzte Staat" ein vertretbares Argument i n der Diskussion über die verfassungsrechtlichen Grenzen der Zusammenarbeit von Bund und Ländern sein kann. I m zweiten Teil soll zunächst untersucht werden, auf welchen dogmatischen Grundlagen die Staatenstaatstheorie beruht und ob sie zumindest von ihren eigenen Voraussetzungen aus ihrem Anspruch, ein verbindliches Verständnis der bundesstaatlichen Ordnung zu formulieren, 8 Röttgen, S t r u k t u r u n d politische F u n k t i o n öffentlicher Verwaltung, a.a.O. S. 779. 4 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 25 ff. ; Horn, Z u r Bedeutung der Topiklehre Viehwegs für eine einheitliche Theorie des juristischen Denkens, N J W 1967 S. 601 ff. (606); Viehweg, Topik u n d Jurisprudenz (1953) S. 20, 66, 72, 75, der allerdings ebd. S. 68 zutreffend darauf hinweist, „daß eine oft sehr lange andauernde Gesamtlage es erlaubt, gewisse Komplexe von Dauerfragen zu formulieren". Indessen findet der Verfassungsrechtler n u r ausnahmsweise solche „sehr lange andauernden Gesamtlagen" vor. Z u r K o n kretisierung von Verfassungsgrundsätzen anhand des Einzelfalls s. BVerfGE 7, 89 (92).
§ 1 Aufgabe und Methode
15
gerecht werden kann. Dieses kritische Interesse an der Staatenstaatstheorie ergibt sich einmal daraus, daß sie — vor allem i n der Form des „zweigliedrigen Bundesstaates" — die Zustimmung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des weitaus überwiegenden Teils des Schrifttums gefunden hat, so daß auf sie bei der konkreten Problemlösung m i t einer gewissen Zwangsläufigkeit zurückgegriffen w i r d 5 . Zum anderen soll eine immanente K r i t i k dem Einwand vorbeugen, die Infragestellung der herrschenden Lehre beruhe auf einer keineswegs herrschenden Methode der Verfassungsinterpretation. Denn solange noch wesentliche verfassungsrechtliche Aussagen von „Formtypik, Syllogismen und rechtstechnischen Kunstgriffen" erwartet werden®, stößt eine K r i t i k , die gesellschaftliche, geschichtliche und ideologische Faktoren einbezieht, verfassungsrechtlich ins Leere, wenn sie sich gegen eingebürgerte Begriffe richtet, die allein auf der Selbstgenügsamkeit ihrer Technizität und auf der Gewißheit ihrer Tradition beruhen. Die Untersuchung braucht allerdings die methodischen Grundlagen der Staatenstaatstheorie nur für eine solche „Schlüssigkeitsprüfung" zugrunde zu legen. Es w i r d sich erweisen, daß die Staatenstaatstheorie auf dem Primat der rechtssubjektiven Einheit des Staates aufbaut und hierin der Grund für die isolierende Gegenüberstellung selbständiger Staaten liegt. Die K r i t i k des Primats der rechtssubjektiven Einheit w i r d dann ohne Rücksicht auf positivistische Traditionen seine geschichtlichen, gesellschaftlichen und ideologischen Bedingungen aufzuzeigen und ihre heutige Geltung am Grundgesetz und der von i h m akzeptierten Wirklichkeit zu messen haben. Einer methodischen Rechtfertigung sollte ein solch offenes, nicht i m traditionellen Sinne „juristisches" Argumentieren nicht mehr bedürfen, seitdem Leibholz unter den Methodenstreit der zwanziger Jahre 1931 den Schlußstrich m i t den Worten gezogen hat, „der einseitig logistische Rechtspositivismus . . . (sei) i n bezug auf die juristische Begriffsbildung heute so gut wie allgemein überwunden" 7 . Indessen gab Fritz Werner 5 A u f die Bedeutung dieses „Vorverständnisses" i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat bereits Ehmke ( W D S t R L 20 S. 70) hingewiesen. 6 Forsthoff, U m b i l d u n g des Verfassungsgesetzes, i n : Festschr. f. Carl Schmitt (1959) S. 35 ff. (35, 53, 61); ders., Z u r Problematik der Verfassungsauslegung (1961), insbes. S. 22 ff., 36 ff.; anders i n : Verwaltungsrecht (8. Aufl. 1961) S. 4. Kritisch insbesondere Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen V e r fassung? AÖR 85 (1960) S. 241 ff. Maunz - D ü n g , GG A r t . 20 Rdnr. 73. — Diese vor allem auf den Rechtsstaat gemünzte methodische Position hat Forsthoff allerdings nicht an einer durchaus materialen Begriffsbildung i m Bundesstaatsrecht gehindert, vgl. u. § 17,2. m i t A n m . 75. 7 Leibholz, Z u r Begriffsbildung i m öffentlichen Recht, Neuabdruck i n : Strukturprobleme der modernen Demokratie S. 262 ff. (275). Z u r Positivism u s k r i t i k s. insbes. Erich Kaufmann, K r i t i k der neukantischen Rechtsphilosophie (1921); Holstein, Von Aufgaben und Zielen heutiger Staatsrechtswis-
16
Einleitung
noch 1960 zu bedenken, „die Theorie des öffentlichen Rechts unserer Tage" sei „nach wie vor dem juristischen Positivismus verhaftet, der gewiß nicht m i t dem Ende der politischen Ordnung, die i h m adäquat war, aus der Denkwelt der Juristen verschwunden ist" 8 . Insbesondere nimmt die heute noch herrschende Interpretation der bundesstaatlichen Ordnung die überkommenen, vom Positivismus erarbeiteten Ergebnisse auf und verbirgt ihren positivistischen Hintergrund nur dadurch, daß sie auf eigene grundsätzliche Stellungnahmen zu methodischen Fragen verzichtet 9 . Demgegenüber w i r d hier davon ausgegangen, daß bei der Suche nach tragfähigen Gesichtspunkten für die Lösung konkreter verfassungsrechtlicher Probleme die „Ambiance" 1 0 , die historischen, soziologischen, sozialpsychologischen und sozialethischen Gegebenheiten berücksichtigt werden müssen. Denn das Recht wäre mißverstanden, verstünde man es als einen technisch perfekt vollziebbaren, aber inhaltlich beliebig entscheidenden Mechanismus. Wenn von der Rechtsanwendung Rechtsrichtigkeit erwartet wird, so heißt dies: Richtigkeit i m Hinblick auf die Ambiance, die dadurch selbst zu einem Moment des Rechts w i r d 1 1 , ohne allerdings dessen Normativität aufzuheben. Denn die Normativität ist, was zeitweilig nicht hinreichend beachtet wurde, vom Recht als dem i n die Zukunft weisenden verbindlichen Entwurf gerechter Ordnung nicht zu trennen 1 2 . Solche Einbeziehung des „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" und ihres Wandels i n das Recht 13 vermeidet, daß ein „leerlaufender Formalismus" 1 4 sachwidrige Ergebsenschaft, AöR 50 (1926) S. I f f . ; Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht (1928); Heller, Bemerkungen zur staats- u n d rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart, AöR 55 (1929) S. 321 ff. (322). 8 Fritz Werner, Besprechung von K o n r a d Hesses „Die normative K r a f t der Verfassung", DVB1.1960 S. 150. • Eine Ausnahme innerhalb der herrschenden Lehre bildet Harbich, der sich i n seiner 1965 vorgelegten A r b e i t über den „Bundesstaat u n d seine U n antastbarkeit" ausdrücklich zur formal-abstrakten Begriffsbildung bekennt (ebd. S. 5, 14 f.). 10 Schindler, Verfassungsrecht u n d soziale Struktur, 2. Auflage 1944, S. 92 ff. 11 Grundlegend zur Einheit von normbezogener Realität u n d realitätsbezogener N o r m Friedrich Müller, N o r m s t r u k t u r u n d N o r m a t i v i t ä t (1966), bes. S. 170 ff. 12 Hesse, Die normative K r a f t der Verfassung (1959) S. 12 ff. (mit A n m . 11); Bäumlin, Staat, Recht u n d Geschichte (1961) S. 21; Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates (1945) S. 142 ff.; Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung (1953) S. 58 ff.; nunmehr aber auch Smend, A r t i k e l I n tegrationslehre, HdSW 5 (1956) S. 301. — Vgl. ferner Schnur, Die normative K r a f t der Verfassung (Besprechung der gleichnamigen Schrift Hesses), DVB1. 1960 S. 124, 126. 13 Felix Frankfurter sagte von einigen Klauseln der amerikanischen V e r fassung, diese seien nicht von überzeitlicher Festigkeit, sondern „ t h e y i m p l y a process of unfolding content" (Schwartz , Commentary on the Constitution I [1963] S.3). 14 Carl Schmitt, Hugo Preuß (1930) S. 16, gegen Georg Jellinek.
§ 1 Aufgabe und Methode
17
nisse produziert, die m i t verdeckten „außerjuristischen" Argumenten umgangen werden, so daß der vermeintlich Rechtsgewißheit verbürgende Positivismus unkontrollierbar „bald hier, bald da, bald mehr, bald weniger, systemlos ins bloß Faktische u m k i p p t " 1 5 . W i r d der staatstheoretische Primat rechtssubjektiver Einheit des Staates auf der Grundlage der Positivismuskritik untersucht, so zeigt sich, daß für i h n i m geltenden Verfassungsrecht kein Raum ist und das bundestaatliche Modell „Staatenstaat" folglich kein zulässiges A r g u ment bei der Lösung des Delegationsproblems ist. I m Anschluß an diese K r i t i k an der herrschenden Lehre bemüht sich die vorliegende Schrift i n ihrem dritten Teil u m eine positive Klärung des „demokratischen Bundesstaates". Ein solcher Versuch bleibt allerdings der Fragestellung der Staatenstaatslehre darin verhaftet, daß er vom verfassungsgesetzlichen Begriff „Bundesstaat" eine selbständige Aussage erwartet. I n dieser Beschränkung ist die traditionelle Fragestellung i n der Tat unabweisbar. Verfassungsgesetzliche Bestimmungen über die Staatsstruktur sind nicht bloße Zusammenfassungen bereits gefundener Problemlösungen oder einschlägiger positiver Normen, sondern verstehen sich als selbständige Wegweiser für die konkrete Problemlösung. I h r normativer Anspruch besteht auch ungeachtet aller Schwierigkeiten der Konkretisierung. Das ist nicht zuletzt für das Verfassungsrecht eines demokratischen Gemeinwesens bedeutsam, das sich seit der Präambel zur Weimarer Reichsverfassung und dem Sozialstaatsgrundsatz des Grundgesetzes jedenfalls auch dem „gesellschaftlichen Fortschritt" verschrieben hat. Ohne ständige Beachtung des normativen Anspruchs auch der Grundentscheidungen der Verfassung steht die Rechtsfindung i n der Gefahr, dem Sinngehalt der Verfassung zuwider sich i n der rechtstechnischen Verwaltung des Status quo zu erschöpfen 16 . Auch eine problembezogene Methode ist nicht zuletzt aus diesem Grunde auf die Formulierung — vor allem normativer — F i x punkte angewiesen. Die Verfassung fordert sie durch die Verwendung allgemeiner Begriffe geradezu dazu auf, die konkrete Lösung durch ein Allgemeines zu vermitteln, also nach dem normativen Gehalt der Allgemeinbegriffe des Verfassungstextes zu fragen 17 . U m diese A u f 15 E.Kaufmann, K r i t i k der neukantischen Rechtsphilosophie (1921) S. 80; ähnlich Krüger, Allgemeine Staatslehre (1964) S. 701; Smend, A r t i k e l „ I n t e grationslehre" H d S W 5 (1956), S. 300. — Z u m methodisch beispielhaften U r t e i l des Staatsgerichtshofs f ü r das Deutsche Reich zur Reichswasserstraßenverw a l t u n g (RGZ 112 A n h . S. 33 [43]) s. u. § 4 m i t A n m . 46. 1β Vgl. hierzu v. d. Gablentz, Staat und Gesellschaft, PVS I I (1961) S. 10 f. — Skeptisch allerdings Fritz Werner, Wandelt sich die F u n k t i o n des Rechts i m sozialen Rechtsstaat?, i n : Festschr. f. Leibholz (1966) Bd. 2 S. 153 ff. (159, 166). 17 Peter Schneider, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 S. 1 ff. (38 f.); Friedrich Müller, N o r m s t r u k t u r u n d N o r m a t i v i t ä t S. 67, 161.
2 Hempel
18
Einleitung
gäbe zu lösen, hat die verfassungsrechtliche Erörterung jene „leitenden Gesichtspunkte", „topoi" oder „sachlich passenden und ergiebigen Prämissen" aufzusuchen, m i t deren Hilfe eine problembezogene Methode ihre Argumente rationalisiert, sie i n einen größeren normativen Zusammenhang stellt, verstetigt und damit für die praktische Arbeit verfügbar macht 18 . Für die Bildung und Anwendung solcher normbezogener topoi ist entscheidend, daß jeder Schritt der kritischen Kontrolle zugänglich ist, daß er offen vollzogen w i r d 1 9 . Ferner: Soweit die konkreten Gesichtspunkte fragwürdig sind — und fragwürdig sind gerade jene, die die Grundfragen der öffentlichen Ordnung berühren, sei es, daß sich Ideologien des Sinngehaltes eines Verfassungsrechtssatzes bemächtigt haben, sei es, daß sich die Wirklichkeit dem normativen Anspruch mehr und mehr entzieht —, muß die Bildung von leitenden Gesichtspunkten jeden Anschein unumstößlicher Gewißheit vermeiden. M i t diesem Vorbehalt werden bei der Untersuchung des normativen Gehaltes des „demokratischen Bundesstaates" etwa folgende Faktoren der öffentlichen Ordnung zu berücksichtigen sein: Funktion, Struktur und Wirkungsweise staatlicher Organisation, legitimierende Abstützung des Staates i n der Gesellschaft, A r t und Organisation der gesellschaftlichen Einflußnahme auf den Staat, Beteiligung der Aktivbürgerschaft am politischen Prozeß, Voraussetzungen und Äußerungen politischer Leitungsgewalt, institutionelle Stabilisierung des Ämterwesens. Eine Diskussion dieser Gesichtspunkte w i r d ergeben, daß die einzelnen Momente des bundesstaatlichen Gefüges grundsätzlich aufeinander zugeordnet sind und kraft ihrer Teilhabe an der staatsleitenden Funktion zu allen Formen der Zusammenarbeit befugt sind, für die den konkreten verfassungsrechtlichen Normen keine Verbote entnommen werden können. Soweit die erörterten Faktoren und die m i t ihrer Hilfe gewonnenen Prämissen unverzichtbar zu sein scheinen, wenn i m Rahmen des Grundgesetzes und der von i h m akzeptierten geschichtlichen, gesellschaftlichen und ideologischen Grundlagen wissenschaftlich vertretbar vom „demokratischen Bundesstaat" gesprochen werden soll 2 0 , können 18 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 27; Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 S. 55 f.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung S. 150, 312; Esser, Grundsatz u n d N o r m (1956) S. 6 f., 239; Viehweg, Topik u n d Jurisprudenz S. 20 f.; Horn, N J W 1967 S. 601 ff. (605 f., 608). 10 Böckenförde, Gesetz u n d gesetzgebende Gewalt (1958) S. 335 f.; Friedrich Müller, N o r m s t r u k t u r u n d N o r m a t i v i t ä t S. 50 ff.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung S. 99, 121 f., 150, 153, 315. 20 Als „wissenschaftlich" w i r d hier bezeichnet das rationale u n d daher k o n trollierbare Bemühen u m überzeugende Gründe, d. h. Rechtswissenschaft w i r d verstanden als praktische Kunstlehre; vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung S. 55, 125; Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 S. 54 f.
§ 1 Aufgabe und Methode
19
sie zu einem leitenden Gesichtspunkt, dem des „demokratischen Bundesstaates", zusammengefaßt werden. Behält man die Vorläufigkeit und Diskutierbarkeit solcher Fixierungen i m Auge, so mag man auch von Begriffsbildung und Systematisierung sprechen. Dem Versuch zur Systematisierung kann dann nicht entgegengehalten werden, die Deduktion aus Systemen erbrächte nichts Neues, w e i l das Hinauf- und wieder Hinablaufen zu nichts anderem führe als eben zu dieser Basis 21 . Denn der Zweck eines solchen Verfahrens erschöpft sich darin, den durch eine Mehrzahl von Argumenten ermittelten Sinngehalt eines Verfassungsrechtssatzes zusammenfassend zu bezeichnen und damit praktisch verfügbar zu machen. Aus der begrenzten Aufgabenstellung dieser Schrift, nämlich i m Hinblick auf das Problem der zuständigkeitsverändernden Zusammenarbeit von Bund und Ländern den Satz „die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer Bundesstaat" zu diskutieren, folgen auch Grenzen für die konkrete Erörterung dieses Problems selbst. I m A n schluß an die Erläuterung des demokratischen Bundesstaates sollen daher i n einem vierten Teil nur jene Gesichtspunkte vertieft werden, die sich hieraus für das Delegationsproblem ergeben. Es w i r d also abgesehen von sonstigen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, etwa der Grenzlinie zwischen exekutivischer Organisationsgewalt und institutionellem Gesetzesvorbehalt, den Besonderheiten privatrechtlicher Kooperationsformen, der grundgesetzlichen Reichweite der Bundesaufgaben, der Frage eines Typenzwangs für die Bundesverwaltung, den Grundlagen und Grenzen der innerstaatlichen Fondsverwaltung und anderer Formen des Sonderfinanzausgleichs. Die Vorschläge zur Lösung des Delegationsproblems stehen daher unter dem Vorbehalt, daß die hier ausgeklammerten Gesichtspunkte i m Einzelfall eine andere Beurteilung einer zuständigkeitsverändernden Vereinbarung ergeben können. Besonderer Erläuterung bedarf allerdings die Beschränkung auf den „demokratischen Bundesstaat". Denn der Wortlaut des A r t . 20 Abs. 1 GG scheint es nahezulegen, den Sinn heutiger Bundesstaatlichkeit speziell von Seiten des Sozialstaats her zu ermitteln 2 2 . Eine vordergründige Rechtfertigung dieser Beschränkung ergäbe sich zweifellos aus der Entstehungsgeschichte des A r t . 20 Abs. 1 GG. Bis zur Beratung i m Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates war das A t t r i b u t „sozial" entweder dem Rechtsstaat oder der Republik zugeordnet; der „soziale Bundesstaat" hingegen erscheint als zufälliges Ergebnis der Bemühun21 Krieie, Theorie der Rechtsgewinnung S. 98; einschränkend allerdings ebd. S. 121, 150. 11 Vgl. Röttgen, Der soziale Bundesstaat, a.a.O. S. 19 ff.
2*
20
Einleitung
gen, die allein noch umstrittene Benennung des zu konstituierenden Staatswesens „Bundesrepublik Deutschland" und die tragenden Grundsätze der neuen Ordnung zu einer einheitlichen Formulierung zusammenzufügen 28 . Dem Sozialstaat ist hiernach keine größere Affinität zum Bundesstaat zuerkannt worden als zum Rechtsstaat und zur Republik. Indessen sind für die Beschränkung auf den „demokratischen Bundesstaat" vor allem zwei Gründe maßgebend: Zum einen haben Rechtsprechung und Schrifttum zwar einzelne Gesichtspunkte des Sozialstaats herausgearbeitet 24 ; eine erschöpfende verfassungsrechtliche Konkretisierung dieses Begriffs ist jedoch bislang nicht gelungen und kann auch hier nicht versucht werden. Die vorliegende Schrift muß sich daher darauf beschränken, jene sozialstaatlichen Gesichtspunkte, die zum Verständnis des Bundesstaatsrechts des Grundgesetzes beitragen, jeweils i n ihrem Zusammenhang zu erörtern; deshalb muß auch offenbleiben, ob und inwieweit eine darüber hinausgehende spezielle Untersuchung des „sozialen Bundesstaates" den hier zur Diskussion gestellten Überlegungen den Boden entziehen kann. Zum anderen w i r f t die politische Reformdiskussion der letzten Jahre, die unter dem Stichwort des Kooperativen Föderalismus geführt wird, vor allem die Frage auf, welche Funktion der demokratischen Ordnung i m bundesstaatlichen Gefüge zukommt. Denn i m Bestreben, maximale Effektivität staatlichen Handelns zu gewährleisten, scheint der Verfassungspolitik die demokratische M i t w i r k u n g der Aktivbürgerschaft bei der Gestaltung des Gemeinwesens zuweilen aus dem Blick geraten zu sein. Von hier aus konzentriert sich das verfassungsrechtliche Interesse auf die Zusammenordnung des Bundesstaates m i t der demokratischen Ordnung, d. h. auf den „demokratischen Bundesstaat" (Art. 20 Abs. 1 GG).
f ï
I m einzelnen v. Doemming - Füßlein - Matz, JöR 1 S. 195 ff. Vgl. Werner Weber, Die verfassungsrechtlichen Grenzen sozialstaatlicher Forderungen, i n : Der Staat Bd. 4 (1965) S. 409 ff., m. w . Nachw. ebd. S.419 A n m . 9; Stern, A r t . Sozialstaat, i n : Ev. Staatslexikon (1966) Sp. 2091 ff. M
Erster
Teil
Die Vereinbarung von Zuständigkeitsveränderungen durch Bund und Länder Erstes Kapitel
Zuständigkeitsvereinbarungen in der Verfassungswirklichkeit I m deutschen Staatsleben n i m m t die Zusammenarbeit der Länder bzw. der „Einzelstaaten" untereinander und m i t der zentralen Institution seit je einen festen Platz ein 1 . Dabei stand sowohl i m Deutschen Reich von 1871 als auch i n der Weimarer Republik das Bestreben i m Vordergrund, Einrichtungen der Rechtspflege und Verwaltung durch vertragliche Überwindung der zum Teil eng bemessenen Landesgrenzen optimal auszulasten und entsprechend überflüssige Einrichtungen einzusparen. Auch die Zusammenarbeit der bundesstaatlichen Institutionen der Bundesrepublik, des Bundes und der Länder (Art. 30 GG), ist ohne dieses Motiv der Rationalisierung nicht voll verständlich. M i t der Ausführung des Neugliederungsauftrags des Art. 29 GG wäre diese Antriebskraft nur zum Teil entfallen, da die Erfüllung der einzelnen Staatsauf gaben jeweils eigenen Anforderungen unterliegt und demnach unterschiedliche Grenzziehungen geboten wären. I m übrigen jedoch erweist sich die rationalisierende, zur Veränderung und Verflechtung von Zuständigkeiten führende Zusammenarbeit als ein Surrogat der Neugliederung. Der von der Bundesregierung eingesetzte Sachverständigenausschuß für die Neugliederung des Bundesgebietes „konnte sich . . . nicht der sich geradezu aufdrängenden Einsicht entziehen, daß 1 Vgl. Oskar Schönemann, Verwaltungsverbindungen unter deutschen Staaten, Diss. Greifswald 1913; Triepel, Die Reichsaufsicht (1917) S. 219 ff.; Hans Ficker, Vertragliche Beziehungen zwischen Gesamtstaat u n d Einzelstaaten i m Deutschen Reich, Abhandl. aus dem Staats- u n d Verwaltungsrecht m i t E i n schluß des Völkerrechts, Heft 38, Breslau 1926; Medicus, Die Reichsverwaltung, JöR a.F. Bd. 20 (1932) S. 111 ff.; Kurt Neuber, Vollziehungsgemeinschaften deutscher Länder, Diss. Leipzig 1932; Berthold Müller, Die Beziehungen der Gliedstaaten i m Bundesstaatsrecht, Diss. B e r l i n 1936. — Z u den i n A r t . 12 der Deutschen Bundesakte v o m 8.6.1815 vorgesehenen gemeinschaftlichen Gerichten dritter Instanz s. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte I S. 618.
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1. Teil: Die Vereinbarung von Zuständigkeitsveränderungen
i n diesen Verflechtungen neben der Neugliederung ein anderes, bereits i n großem Umfang bewährtes M i t t e l zur praktischen Bewältigung von Problemen gegeben ist, die den Problemen der Neugliederung wesensähnlich sind" 2 . Neben die organisationstechnische Rationalisierung t r i t t als zunehmend dominierende Antriebskraft der Zusammenarbeit das Bedürfnis nach einem gleichen Standard der staatlichen Leistungen i m gesamten Bundesgebiet, nach inhaltlicher Harmonisierung der Aufgabenerfüllung und koordiniertem Einsatz knapper Finanzmittel 8 . Während die rationalisierende Zusammenarbeit lediglich Möglichkeiten für eine kostensparende Organisation der staatlichen Einrichtungen schaffen soll, stellte die koordinierende Zusammenarbeit die Zweckmäßigkeit der regionalen Verteilung der Kompetenzen selbst i n Frage, insbesondere jene „Vielfalt", die zur bundesstaatlichen „Einheit" gehören soll 4 . Allerdings hat auch diese Funktion der Zusammenarbeit sich nicht erst in der Bundesrepublik herausgebildet, sondern ist bereits i n der Weimarer Republik nachweisbar. Die Entschließung der Länderkonferenz von 1928 sieht nicht n u r eine „zweckentsprechende Zusammenlegung v o n bisher nebeneinander bestehenden Behörden" u n d die Bereitschaft der Reichsregierung vor, „über die geltende verfassungsmäßige Zuständigkeit hinaus geeignete Verwaltungsbereiche . . . leistungsschwach gewordener Länder auf das Reich zu übernehmen". Sie enthält auch den Hinweis, daß „die Länder . . . häufiger u n d beschleunigter als bisher untereinander Vereinbarungen zur Rechts- u n d Verwaltungsangleichung(!) u n d -Vereinfachung treffen (werden), bei deren Abschluß die Reichsregierung m i t w i r k t " 5 .
Obwohl beide Antriebskräfte der Zusammenarbeit mitunter gleichermaßen für ein konkretes Abkommen bestimmend sind und daher eine trennscharfe Typisierung nicht gestatten, haben sie doch zu jeweils eigenen Akzentsetzungen i n der rechtlichen Ausgestaltung geführt. Die rationalisierende Zusammenarbeit betrifft neben der nach ihrem Selbstverständnis unpolitischen Rechtspflege regelmäßig Verwaltungsangelegenheiten von politisch minderer Relevanz. Es überrascht daher nicht, hier die Vertragspartner i n größerem Umfang zur vollen Preisgabe der sachlichen Bestimmungsmacht, für die nicht selten Mitwirkungs* Gutachten zur Neugliederung (1955) S. 23,107 f. 8 Vgl. die Begründung des RegE eines Finanzverfassungsgesetzes v o m 29.4. 1954, BTDrucks. II/480, Tz. 62, 118; Gutachten zur Finanzreform (1966) Tz. 30, 48; Begründung des RegE eines Finanzreformgesetzes v o m 30.4.1968, B T Drucks. V/2861, Tz. 10, 39, 79, 87. Z u den M o t i v e n der Vertragspraxis vgl. ferner Grawert, Verwaltungsabkommen S. 23 ff. 4 Meyers, i n : Föderalistische Ordnung S. 51, 61. 5 „Die Länderkonferenz (Januar 1928)", hrsg. v o m Reichsminister des I n nern, B e r l i n (1928) S. 83 Ziff. I 4, I I 1 u n d I V a ; vgl. a u d i das Referat Apelts, ebd. S. 65 ff. (70 ff.).
§ 2 Rationalisierung der Aufgabenerfüllung
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befugnisse i n Personalangelegenheiten einen gewissen Ausgleich bilden, bereitzufinden. Die offene Veränderung der Zuständigkeitsordnung steht hier aber auch deshalb i m Vordergrund, weil die Rationalisierung die Tätigkeitsbereiche traditioneller Behördenapparate zum Gegenstand hat. Demgegenüber betrifft die Koordinierung vorwiegend jene Angelegenheiten, denen das Hauptinteresse der territorial homogenen I n dustriegesellschaft gilt® und denen der Staat zum Teil m i t einem veränderten Verwaltungsstil — dem der Pläne, Programme, Empfehlungen, Fonds und der Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Einrichtungen 7 — gerecht zu werden versucht. Die Koordinierung soll hier einen Weg zwischen zentralistischer Vereinheitlichung und regionaler Selbständigkeit eröffnen. Es ist daher verständlich, daß hier die organisatorischen Formen durch das Bestreben der Vertragspartner gekennzeichnet sind, am politischen Entscheidungsvorgang beteiligt zu bleiben und ihn gleichwohl effektiv zu gestalten, nämlich durch Vereinbarung einer Zuständigkeitsordnung, die die Beteiligten zum Kompromiß zwingt und die seine Durchsetzung gewährleistet. Dieser erste Überblick über die bundesstaatliche Zusammenarbeit soll i m folgenden präzisiert werden. Für das Verständnis der verfassungsrechtlichen Diskussion über die zuständigkeitsverändernden Abkommen ist allerdings eine umfassende Bestandsaufnahme nicht erforderlich. Es genügt, die Formen der Zusammenarbeit zu typisieren und durch charakteristische Beispiele zu belegen. I m übrigen darf auf die umfangreiche und sorgfältige Zusammenstellung und Auswertung des Vertragsmaterials i n der Schrift Rolf Grawerts, Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern in der Bundesrepublik Deutschland (1967), Bezug genommen werden 8 .
§ 2 Rationalisierung der Aufgabenerfüllung Die rechtliche Typisierung der Zuständigkeitsveränderungen, die die Länder untereinander und m i t dem Bund vereinbart haben, w i r d durch die verfassungsrechtliche Fragestellung dieser Schrift vorgezeichnet. Wenn untersucht werden soll, ob Zuständigkeitsvereinbarungen von Verfassungs wegen zulässig sind, so kommt es darauf an, welche Geβ
S. u. § 12, 2. Röttgen, Fondsverwaltung I n der Bundesrepublik (1965) S. 15 ff., 20, 28 ff. 8 Weitere Zusammenstellungen der Staatsverträge u n d Verwaltungsabkommen i m Gutachten zur Neugliederung (1955) Anlage 9; bei Hans Schneider, W D S t R L 19 (1961) S. 36 ff., u n d bei Heinz-Ewald Giese, Staatsverträge u n d Verwaltungsabkommen der deutschen Bundesländer untereinander sowie zwischen B u n d u n d Ländern (1961) S. 175 ff. 7
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1. Teil: Die Vereinbarung von Zuständigkeitseränderungen
sichtspunkte der Zuständigkeitsordnung speziell das Verfassungsrecht interessieren. Das Grundgesetz versteht die Verleihung einer Zuständigkeit als Betrauung eines institutionellen Subjekts m i t der Erfüllung staatlicher Aufgaben und der Ausübung staatlicher Befugnisse, d. h. als Zuweisung öffentlicher Verantwortung (vgl. A r t . 30, 34, 92, 20 Abs. 2 S. 2). Für die verfassungsrechtliche Untersuchung der Zuständigkeitsordnung sind daher zwei Fragenkreise zentral: zum einen die rechtliche Fähigkeit eines institutionellen Subjekts, die i h m zugewiesenen A u f gaben verantwortlich zu erfüllen, insbesondere den Inhalt der i h m zugerechneten Entscheidungen zu bestimmen, und zum anderen die verfassungsrechtliche Qualifikation des Zuständigkeitsträgers, insbesondere seiner Einordnung i n das Gefüge verfassungsmäßig autorisierter I n stitutionen. Diese Fragestellung reicht weiter als die des Verwaltungsrechts, dem es u m die rechtliche Ordnung der Kompetenzausübung des Staates i m Verhältnis zum Bürger geht. Das Interesse des Grundgesetzes an der Zuständigkeitsordnung beschränkt sich nicht auf das „Außenverhältnis" des Staates, sondern erstreckt sich auch und gerade auf die „staatsinternen" Zuständigkeiten (vgl. A r t . 93 Abs. 1 Nr. 1 GG) 1 . Der Zuständigkeitsbegriff 2 hat demnach sämtliche Vorgänge zu registrieren, die die Zuordnung staatlicher Aufgaben und Befugnisse zu einem institutionellen Subjekt begründen, verändern oder aufheben. Hiernach sind nicht nur Zuständigkeits„übertragungen" von Bedeutung (s. unten 1.), sondern ebenso externe und interne Mitwirkungsrechte, die die Sachverantwortung berühren (s. unten 2.), sowie die Schaffung von Einrichtungen, i n denen die Beteiligten eine neue Einheit bilden, sei es nur i m verwaltungsrechtlichen Verhältnis zum B ü r ger, sei es auch hinsichtlich des verfassungsrechtlichen Status der gemeinschaftlichen Einrichtung (s. unten 3.). 1 Durch diese Verrechtlichung der Beziehungen innerhalb der Staatsorganisation unterscheidet sich das geltende Staatsorganisationsrecht wesentlich v o n dem der Jahrhundertwende, w i e es sich i n der Interpretation des Positivismus darstellte. Z u r Hechtssatzqualität staatsinterner Normen s. insbesondere Böckenförde, Organisationsgewalt S. 74 f. ; Rupp, Grundfragen S. 87 f., 91, 94 f. m. w . N a c h w . ; i m Ergebnis ebenso BVerfGE 9, 268 (283). — Die Frage, ob eine Zuständigkeitsregelung auch das „Außenverhältnis" erfaßt, ist verfassungsrechtlich vor allem bedeutsam f ü r die Reichweite des (rechtsstaatlichen) Gesetzesvorbehalts, insbesondere f ü r die hier ausgeklammerte Frage, ob Zuständigkeitsvereinbarungen der M i t w i r k u n g der Legislative bedürfen. Die verwaltungsrechtliche Problematik der Unterscheidung zwischen i n t e r n u n d extern wirkenden Zuständigkeiten, insbesondere M i t w i r k u n g s rechten, betrifft die verwaltungsgerichtliche Kontrolle staatlichen Handelns, vgl. B V e r w G E 12, 20 (23 f.); 16, 116 (119 ff.); 19, 238 (240); 26, 31 (39 ff.); Bachof, J Z 1966 S. 564 Nr. 333, m. w . Nachw.
« Siehe H.J.Wolff , Verwaltungsrecht I I § 72 I ; I a 1; I I a , b 3; I V ; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts S. 418 f.
§ 2 Rationalisierung der Aufgabenerfüllung
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1. Delegationen Die Zuordnung öffentlicher Verantwortung w i r d dort am wenigsten verändert, wo sowohl die Trägerzuständigkeit 3 — also die letztinstanzliche Zurechnung der Kompetenz — als auch die sachliche Bestimmungsmacht unberührt bleiben. Der Delegant entlastet sich i n diesem Fall nur von der tatsächlichen Arbeit, die m i t der Aufgabenerfüllung verbunden ist. Während er i m Falle der Auftragsverwaltung zusätzlich darauf verzichtet, i m Verwaltungsrechtsverhältnis zum Bürger als Zuständigkeitsträger i n Erscheinung zu treten, bleibt er i m Falle der Institutionsleihe auch nominell am Außenverhältnis beteiligt. Charakteristisch für die Institutionsleihe und ihren ausschließlichen Zweck der Rationalisierung sind die Vereinbarungen des Landes Niedersachsen m i t seinen norddeutschen Nachbarländern über die Bergverwaltung. M i t Bremen hat es — i n Fortführung einer 1941 begründeten Tradition 4 — vereinbart: „Mittlere Bergbehörde für die Freie Hansestadt Bremen ist (!) das Oberbergamt i n Clausthal-Zellerfeld, untere Bergbehörde für die frreie Hansestadt Bremen ist das Bergamt Hannover . . . Die Fachaufsïcht übt der Senator für Wirtschaft der Freien Hansestadt Bremen aus, die Dienstaufsicht obliegt dem Niedersächsischen Minister für Wirtschaft und Verkehr" 5 . Entsprechende Vereinbarungen hat Niedersachsen m i t Hamburg und Schleswig-Holstein getroffen·. Auftragsverwaltungen finden sich sowohl i n Angelegenheiten der ausschließlichen Landesgesetzgebung 7 als auch bei der Ausführung von 9 Vgl. Friedrich Kleins Begriff der „Verbandskompetenz/Trägerkompetenz", i n : Verfassungsrechtliche Grenzen der Gemeinschaftsaufgaben, a.a.O., S. 139; inhaltsgleich ist der Begriff der „Eigenzuständigkeit" bei H.J.Wolff, Verwaltungsrecht I I § 72 I b , u n d der der „ H o h e i t " bei Barbey, Rechtsübertragung u n d Delegation S. 25. 4 Verordnung über das Bergrecht i n Bremen v o m 15.7.1941 (RGBl. I S. 447). 5 A b k o m m e n v o m 16.12.1955 u n d 14.8.1956, abgedruckt i n : Heller'Lehmann, Deutsche Berggesetze (Stand 1961) Nr. 115 H B . β Hbg. GVB1. 1957 S. 442; S H GVB1. 1954 S. 175. 7 Verwaltungsvereinbarung zwischen Niedersachsen u n d Bremen über die gemeinsame Durchführung der Fischereiaufsicht u n d der Fischereiverwaltung i n den Küstengewässern v o m 13./25. 7.1949, Nds.ABl. S. 331. — Vereinbarungen über die Erweiterung der örtlichen Zuständigkeiten der Landespolizeien, soweit sie den Einsatz geschlossener Polizeieinheiten unter der fachlichen Weisung (nicht der Dienstaufsicht) des ersuchenden Landes betreffen (zwischen Nds., Hbg. u n d SH, Nds.GVBl. 1950 S. 35; A r t . 3 I I , 4; zwischen Nds. u n d Brem. Nds.GVBl. 1950 S.36, A r t . 3 I I , 4; zwischen Nds. u n d N R W , Nds.GVBl. 1953 S. 85, A r t . 3 I I , 4). —- Die Vereinbarung über die Zusammenarbeit des Kriminalamtes Hbg. m i t der Landeskriminalpolizei Nds. u n d S H n i m m t auf den i n Nds.GVBl. 1950 S. 35 veröffentlichten StV Bezug, AB1.SH 1958 S. 247.
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1. Teil: Die Vereinbarung von Zuständigkeitseränderungen
Bundesgesetzen8. I n den Fällen der Eisenbahnaufsicht 9 und der Wahrnehmung von Landesaufgaben i m Küstengebiet 10 sind Auftragsverwaltungen zu Lasten von Bundeseinrichtungen begründet worden. Ferner läßt § 6 Abs. 4 des Finanzverwaltungsgesetzes (BGBl. 1950 S. 448) zu, daß die Bau- und Vermögensverwaltung eines Landes nach dessen Weisung vom Bund und die des Bundes nach dessen Weisung von einem Land wahrgenommen wird. Während Institutionsleihe und Auftragsverwaltung die Sachverantwortung des Zuständigkeitsträgers unberührt lassen 104 , w i r d sie bei Vereinbarung einer treuhänderischen Ausübung der Zuständigkeit aufgegeben. Die Wahrnehmungszuständigkeit 11 geht i n vollem Umfang auf ein anderes institutionelles Subjekt, auf den Delegatar, über. Regelmäßig ergibt sich i n diesen Fällen aus dem Vertrag, daß der Delegatar auch die institutionelle Herrschaft über die Wahrnehmung dieser A n gelegenheit, insbesondere die konkrete Verantwortung für die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung verliert. Die „übertragene" Angelegenheit w i r d dem Deleganten lediglich noch als Trägerzuständigkeit zugerechnet; er bleibt also dafür verantwortlich, daß die Aufgabe überhaupt erfüllt wird. Dementsprechend w i r d regelmäßig eine K ü n d i gungsvereinbarung getroffen; ferner geben die Vertragspartner durch eine Kostenregelung zu erkennen, daß sie die Aufgabe nicht als „eigene" Aufgabe des Delegatars verstehen, dem i m Falle eigener Trägerschaft die Kosten m i t Selbstverständlichkeit zur Last fielen; sie stellen diese Zuordnung der Aufgabe zum ermächtigenden Land auch dadurch klar, daß sie bei der Durchführung den Verfassungsrechtskreis, dem sie entstammt, für maßgebend erklären. I m übrigen jedoch t r i t t der Delegatar in Gestalt seiner Behörde bei der konkreten Wahrnehmung der Zustän8 F ü r das gemeinsame Landesversorgungsamt Württemberg-Baden u n d Württemberg-Hohenzollern i n Stuttgart w a r dem Arbeitsminister von W ü H das alleinige fachliche Weisungsrecht f ü r alle nicht grundsätzlichen u n d die Länder gemeinsam berührenden Angelegenheiten belassen worden, A r t . 5 I des StV v o m 9.4.1951, W ü B RegBl. S. 35. — Vgl. hierzu die bundesgesetzlichen Ermächtigungen zu gemeinsamen Verwaltungsbehörden i n der Kriegsopferversorgung (BGBl. I 1951 S. 169 § 1 I I ) u n d i n Angelegenheiten der K r i m i n a l p o l i z e i (BGBl. I 1951 S. 165 § 2 II). 9 Allgemeines Eisenbahngesetz, BGBl. I 1951 S. 225 § 5 I 2; A b k o m m e n i n : Nds.MinBl. 1954 S. 423. 10 Verwaltungsvereinbarung zwischen Nds. u n d dem Bund, Nds.MinBl. 1953 S. 27; danach ist der Regierungspräsident weisungsberechtigt gegenüber den Wasser- u n d Schiffahrtsämtern, §§ 2 I , 3 a; vgl. ferner die Hinweise auf ähnliche A b k o m m e n des Bundes m i t anderen Ländern bei H. E. Giese, Staatsverträge u n d Verwaltungsabkommen (1961) S. 187 f., Nrn. 102 bis 107. 10a I m einzelnen differenzierend zur „vertraglichen Zuständigkeitsübertragung zur Wahrnehmung i n fremdem Namen" Grawert, Verwaltungsabkommen S. 193 ff. 11 Siehe H. J. Wolff , Verwaltungsrecht I I § 72 I b S. 10 f.
§ 2 Rationalisierung der Aufgabenerfüllung
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digkeit i n jeder Hinsicht „treuhänderisch" 1 2 an die Stelle des Deleganten. Niedersachsen und Bremen haben „ i n der Erkenntnis, daß i m Interesse von Wirtschaft und Verkehr eine einheitliche Durchführung der wasserschutzpolizeilichen Aufgaben auf der Unterweser und Außenweser erforderlich ist", ein Abkommen geschlossen, i n dem Niedersachsen „die Wahrnehmung der wasserschutzpolizeilichen Aufgaben auf den i n seinem Hoheitsgebiet gelegenen", näher bezeichneten Gewässern „auf die Freie Hansestadt Bremen" „übertragen" hat 1 3 . Daß es sich nach wie vor u m niedersächsische „Trägerzuständigkeiten" handelt, kommt außer i n Vereinbarungen über Kündigung, Kostentragung und Unterrichtung auch i n der Anwendung niedersächsischen Rechts durch die Beamten des Wasserschutzpolizeiamtes Bremen zum Ausdruck (Art. I I Abs. 2 des Abkommens). Dieser Typus der treuhänderischen Wahrnehmung ist ferner vereinbart worden bei der Zuweisung niedersächsischer Prüfungszuständigkeiten an bestimmte, als „gemeinsam" bezeichnete, jedoch ohne niedersächsische Beteiligung organisierte Meisterprüfungsausschüsse des Landes Nordrhein-Westfalen 14 , außerdem bei der Führung von Schiffsregistern 15 , bei der bundesgesetzlich vorgesehenen, einvernehmlich bestimmten Zuständigkeit von Flurbereinigungsbehörden über Landesgrenzen hinaus 1 8 , bei der Übernahme versicherungsaufsichtsrechtlicher Zuständigkeiten der Länder durch den Bund 1 7 , i n dem Fall der polizeilichen Nacheile 18 und bei der Übertragung niedersächsischer Planungs-, Polizei- und Verwaltungszuständigkeiten i m „Cuxhavenvertrag", soweit sie lediglich „zur Ausübung" er12 Der Terminus w i r d verwendet von Meyers, i n : Föderalistische Ordnung S. 56; Fr. Klein, Gemeinschaftsaufgaben, a.a.O. S. 159 f.; Scheuner, D Ö V 1962 S. 648; vgl. aber auch bereits Triepel, Delegation u n d Mandat (1942) S. 27. 18 Nds.GVBl. 1952 S. 181, A r t . I (1). Z u r Begründung w i r d i m übrigen auf die Einsparung niedersächsischen Bootsmaterials verwiesen, Nds.LT, StenoBer. 2. W P 2, 333. — E i n ähnlicher StV besteht zwischen Nds. u n d Hess., Hess.GVBl. 1954 S. 54. 14 N R W GVB1. 1958 S. 343; da die Handwerksordnung (BGBl. I 1953 S. 1411, § 42) zu diesen Zuständigkeitsveränderungen zunächst nicht Stellung nahm, w u r d e n sie i n der Praxis auf eine den Ländern obliegende A u s f ü l l u n g einer „Gesetzeslücke" gestützt; vgl. nunmehr § 42 I H d w O i. d. F. v o m 9. 9.1965 (BGBl. I S. 1254). 15 Hess.GVBl. 1953 S. 125; Bay.GVBl. 1958 S. 21. 18 Flurbereinigungsgesetz, B G B l . I 1953 S. 591 § 3 Abs. 3; vgl. hierzu die Bestimmung der zuständigen U n t e r - u n d Mittelbehörde f ü r den Bereich der Staustufe Geesthacht, Hbg.GVBl. I I (Amtl. Anz.) 1956 S. 1082. 17 Gesetz über die Errichtung eines Bundesaufsichtsamtes für das V e r sicherungs- u n d Bausparwesen, BGBl. I 1951 S. 480 § 4. 18 H i e r nehmen die i m anderen L a n d nach dessen Recht tätig werdenden Beamten unter eigener sachlicher Verantwortung — die allenfalls durch ein praktisch n u r ausnahmsweise wirksames Widerspruchsrecht begrenzt ist — Zuständigkeiten dieses Landes wahr, vgl. die oben A n m . 7 genannten V e r einbarungen, jeweils A r t . 1 u n d 2.
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1. Teil: Die Vereinbarung von Zuständigkeitsveränderungen
folgte 1®. Gleichfalls treuhänderisch ist die Zuständigkeit der Filmbewertungsstelle Wiesbaden, die als sachlich unabhängige Einrichtung zum Geschäftsbereich des Hessischen Ministers für Erziehung und Volksbildung gehört, seiner Dienstaufsicht und der hessischen Rechnungskontrolle untersteht und „für die vertragschließenden Länder" Filme zum Zwecke der Entscheidung über Steuerbegünstigung begutachtet 20 . — I n dem bis 1957 geltenden Staatsverti ag über die Wasserschutzpolizei auf dem Rhein, dem Main und dem Neckar haben die drei beteiligten Länder eine treuhänderische Betrauung Hessens m i t Weisungsrechten Hessens zu Lasten der beteiligten Vertragspartner verbunden, um eine „übergebietliche Leitung" i n dem als Einheit verstandenen „Einsatzgebiet" zu gewährleisten 21 . Treuhänderische Zuständigkeitsübertragungen finden sich auch i n der Rechtspflege. Zwar können sie nicht m i t den Kategorien der Übertragung von Fach- und Rechtsaufsicht beschrieben werden. Doch kommt die institutionelle Ausgliederung der delegierten Aufgabe deutlich zum Ausdruck i n der Ausdehnung der Gerichtsbezirke über Landesgrenzen hinaus 22 . Hier verliert das delegierende Land für die Dauer des Vertrages die Befugnis zur Wahrnehmung seiner Rechtsprechungszuständigkeit durch eigene, i h m dienstrechtlich und haushaltsrechtlich zugeordnete Einrichtungen. Gleiches gilt für die Zuweisung gerichtlicher Zuständigkeiten an Gerichte eines anderen Landes, zu der beispielsweise das Bundesgesetz über das gerichtliche Verfahren i n Binnenschiffahrts- und Rheinschiffahrtssachen ermächtigt 28 . Neben der Verwaltung und Rechtsprechung ist i n der Praxis selbst die Rechtssetzung Gegenstand von Delegationen: Die hamburgische 19 StV v o m 26. 5./4. 6.1961, Nds.GVBl. 1962 S. 151, A r t . 4 Abs. 2. Allerdings weist der Vertrag n u r durch den Terminus „ z u r Ausübimg", nicht jedoch durch Finanzregelung, Kündigungsrecht, Anwendbarkeit nds. Rechts usw. darauf hin, daß Nds. Subjekt der Trägerzuständigkeit bleiben soll. 10 Verwaltungsverbeinbarung v o m 20. 9.1957, N R W GVB1. S. 272; vgl. h i e r zu B V e r w G E 23, 194. 21 StV zwischen den Ländern Bay, W ü B u n d Hess., Hess.GVBl. 1951 S. 7 (B A r t . I I 2) u n d 1957 S. 36. 22 Vgl. StV zwischen Brem, u n d Nds. über die Ausdehnung des Bezirks der Knappschaftskammer beim Sozialgericht Hannover auf das Gebiet des L a n des Brem., Nds.GVBl. 1955 S. 249 u n d die entsprechende Ausdehnung des Bezirks des Knappschaftssenats Celle auf die Länder Brem, u n d Hess., Nds.GVBl. 1955 S. 247. 28 BGBl. I 1952 S. 641, § 4 Abs. 2; vgl. auch §§ 18 a ff. des Änderungsgesetzes v o m 14. 5.1965, BGBl. I S. 389, sowie die aufgrund des § 4 Abs. 2 abgeschlossenen StV (Hess.GVBl. 1954 S. 97; N R W GVB1. 1954 S. 264; Nds.GVBl. 1957 S. 127). Gleichbedeutende Ermächtigungen enthalten § 120 Abs. 2 S. 3 G V G (BGBl. I 1950 S. 513); § 93 Abs. 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (BGBl. I 1957 S. 1081); § 7 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (BGBl. I 1958 S. 641); § 3 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (BGBl. I 1960 S. 17): § 3 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (BGBl. I 1965 S. 1477).
§ 2 Rationalisierung der Aufgabenerfüllung
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Bürgerschaft hat den Senat ermächtigt, den Erlaß bergrechtlicher Rechtsverordnungen auf das niedersächsische Oberbergamt i n Clausthal-Zellerfeld zu übertragen 24 . Lediglich i n einem Fall ist dem Vertragspartner neben der Wahrnehmungszuständigkeit auch die Trägerzuständigkeit zugewiesen worden, u m dadurch die Aufgabe i n jeder Hinsicht aus der Verantwortung und aus der Rechtsordnung des übertragenden Landes auszugliedern. Dies ist i m „Cuxhavenvertrag" der Länder Niedersachsen und Hamburg geschehen, durch den das Land Niedersachsen i m Gebiet des „Amerikahafens" Planungs-, Polizei- und Verwaltungszuständigkeiten abgegeben hat".
2. Ingerenzen Vereinbarungen von Mitwirkungsrechten (Zustimmungs- und Einvernehmensrechten) sind partielle Delegationen. Der Zuständigkeitsträger verliert seine sachliche Bestimmungsmacht i n dem Maße, i n dem er den Mitwirkungsberechtigten an der Aufgabenerfüllung beteiligt; oder er schränkt eine treuhänderische Zuständigkeitsübertragung dadurch ein, daß er sich Mitwirkungsrechte vorbehält. Die eigene Sachverantwortung w i r d also i n diesen Fällen dem Ziel der Rationalisierung durch Einsparung von Verwaltungsstellen nicht völlig untergeordnet. Niedersachsen hat die Wahrnehmung bestimmter Aufgaben der Bundesfernstraßenverwaltung auf Bremen übertragen. I n einigen Angelegenheiten hat Bremen das „Einvernehmen" m i t Niedersachsen herbeizuführen 2 8 . Die gleiche Eigentümlichkeit weist ein Abkommen zwischen Nordrhein-Westfalen und Berlin auf, durch das Nordrhein-Westfalen ermächtigt wird, die dem Lande Berlin zustehende Staatsaufsicht über den Verband der öffentlichen Lebensversicherungsanstalten treuhänderisch auszuüben 27 . — Eine Mitwirkungsberechtigung ist zugunsten sämtlicher Länder vereinbart worden für den Erlaß der Geschäftsordnung der Filmbewertungsstelle Wiesbaden; dieser Rechtssetzungsakt w i r d extern nur dem hessischen Minister für Erziehung und Volksbildung zugerechnet 28 . Entsprechende Mitwirkungsrechte mehrerer Länder, zum Teil auch des Bundes, finden sich ferner i n den Vereinbarungen u
Hbg.GVBl. 1957 S. 442 (§ 3 Abs. 1); 1958 S. 5. Vgl. A r t . 1 Abs. 2 des StV (oben A n m . 19) sowie A r t . 56 a Vorl. Nds. Verf. (Nds.GVBl. 1962 S. 150). 28 Nds.GVBl. 1965 S. 238, § 1 Abs. 3. 27 N R W GVB1. 1957 S. 253. 28 Nach A r t . 9 der Verwaltungsvereinbarung (s. o. A n m . 20) ist die Geschäftsordnung i m Einvernehmen m i t der — einstimmig entscheidenden — K M K zu erlassen. 25
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1. Teil: Die Vereinbarung von Zuständigkeitsveränderungen
über die Hochschule für Verwaltungswissenschaften i n Speyer 29 , die vom Bund beaufsichtigte „Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder" 3 0 , das gleichfalls seiner Aufsicht unterstehende „Gemeinschaftliche Oberprüfungsamt deutscher Länder und Verwaltungen für die höheren technischen Verwaltungsbeamten" 3 1 , die Wasserschutzpolizeischule Hamburg 3 2 , das Polizeiinstitut H i l t r u p 3 3 , die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" 34 , das „Gemeinsame Prüfungsamt" für die große juristische Staatsprüfung beim Hanseatischen Oberlandesgericht i n Hamburg 3 5 , das gemeinschaftliche Flurbereinigungsgericht der Länder Rheinland-Pfalz und Saarland 36 sowie die frühere Anstalt für Bodenforschung i n Hannover 3 7 , die frühere zentrale Einsatzleitung der süddeutschen Wasserschutzpolizeien 38 und das frühere gemeinsame Landesversorgungsamt i n Stuttgart 3 9 . Die Beteiligungsverwaltungen weisen allerdings nicht stets die Intensität der Zustimmungs- und Einvernehmensvorbehalte auf, die effektiv geeignet sind, den externen Zuständigkeitsträger intern zu einem Kompromiß zu zwingen oder ihn gar zu überstimmen. Beispielsweise beschränken sich die Mitwirkungsrechte Niedersachsens i m Falle der „gemeinsamen" Finanzkammer beim Finanzgericht Ham29
RhPf.GVBl. 1950 S. 265, A r t . 1 I I , 4 Abs. 4. BAnz. v o m 19. 9.1952, Nr. 182. 31 Übereinkommen v o m 16.9.1948 i. d. F. v o m 25.10.1950, i n : Mitteilungsblatt des Oberprüfungsamtes für die höheren technischen Verwaltungsbeamten, 4. Jg. Nr. 8/10; vgl. ferner BHP1. Kap. 1213. 88 NRWGVB1. 1956 S. 115, T e i l I I I (3). 88 N R W GVB1. 1962 S. 408. 80
84 Bei der Bestellung des Leiters der „gemeinsamen Vorermittlungsstelle" (Erwin Schüle, J Z 1962 S. 241 ff.) u n d i n Fragen grundsätzlicher Bedeutung f ü h r t die Landesj ustizverwaltung BaWü. ein Einvernehmen m i t den V e r tragspartnern herbei, die ihrerseits die Dienstaufsicht über ihre abgeordneten Richter u n d Beamten ausüben (I. 2., 3., 5. der unveröffentlichten V e r waltungsvereinbarung von 1958). — Z u r Zentralen Erfassungsstelle i n Salzgitter s. Bull.BReg. v o m 21. 8.1962, Nr. 153/S. 1301 u n d Nds.Rpfl. 1961 S. 263. 85 Hbg.GVBl. 1950 S. 102. Die Ernennungen der Mitglieder des Prüfungsamtes werden i n eigener Zuständigkeit von Hbg. ausgesprochen. Hierbei stehen Br. u n d S H Ingerenzen zu (1. T e i l § 2 Abs. 4). A n der treuhänderischen Übertragung der Prüfungszuständigkeit an Hbg. ändern sie nichts (a. A . B V e r w G E 6, 328). 88 RhPf.GVBl. 1960 S. 266, A r t . 2 Abs. 3. 87 Nds.ABl. 1950 S. 225 f. Nach § 1 I 2 der Satzung unterhielt die Anstalt Landesstellen i n den beteiligten Ländern, denen insoweit sachliche Ingerenzen zustanden. — Auflösungsbeschluß v o m 13.1.1959 i n : Nds.MinBl. 1959 S. 80. 88
T e i l Β A r t . I I I 1 des StV (oben A n m . 21). A r t . 5 des StV (oben A n m . 8) sah gemeinsame Ausübung der Fach- u n d Dienstaufsicht vor u n d band in. bestimmten wichtigen Fällen den Arbeitsminister des Landes W ü B an das Einvernehmen des Arbeitsministers von WüH. 89
§ 2 Rationalisierung der Aufgabenerfüllung
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bürg darauf, daß Hamburg sich vor der Bestellung der Richter m i t i h m „ins Benehmen" zu setzen hat 4 0 . 3. Gemeinschaftliche Einrichtungen
Als gemeinschaftliche Einrichtungen werden hier hoheitlich handelnde Einrichtungen verstanden, deren institutioneller Status von mehreren Ländern, ggf. auch vom Bund, abgeleitet ist. Grundlage einer solchen aufgespaltenen institutionellen Zuordnung der gemeinschaftlichen Einrichtung ist ihre einheitliche Wahrnehmungszuständigkeit, die über das Gebiet eines Landes hinausgeht. Die gemeinschaftliche Einrichtung übt die Trägerzuständigkeiten der Vertragspartner uno actu aus, so daß die Wahrnehmungszuständigkeit nicht jedem der Vertragspartner jeweils gesondert zugerechnet werden kann. Das ist etwa der Fall bei der Ausstrahlung ein und desselben Fernsehprogramms für mehrere Länder. Hierdurch unterscheidet sich die gemeinschaftliche Einrichtung von der schlichten treuhänderischen Betrauung. Denn dort nimmt der Delegatar die i h m übertragene Aufgabe neben seiner eigenen wahr. Seine zur Wahrnehmung berufene Einrichtung erscheint dann als eine nur äußerlich zusammengesetzte: Ihre Akte beruhen entweder auf der Trägerzuständigkeit des Deleganten oder auf der — i m eigenen Wirkungsbereich wurzelnden — Trägerzuständigkeit des Delegatars. Bei der gemeinschaftlichen Einrichtung hingegen entsteht das zusätzliche Problem, wie sich die einheitliche Wahrnehmungszuständigkeit für das Gebiet mehrerer Länder i n die bundesstaatliche Ordnung einfügt. Die einheitliche Wahrnehmungszuständigkeit w i r f t jedoch nicht schon deshalb besondere verfassungsrechtliche Probleme auf, w e i l sie die unbeschränkte sachliche Bestimmungsmacht zumindest eines Vertragspartners aufhebt. Dies ist keine Besonderheit gegenüber der treuhänderischen Betrauung. Ferner gelten für die externe verwaltungsrechtliche Verantwortung die allgemeinen Regeln: Die rechtsfähige Verwaltungseinheit hat ihre Akte i m Verwaltungsrechtsstreit einheitlich zu verantworten, unabhängig von der A r t ihrer Willensbildung 4 1 und von der Anzahl der betroffenen Trägerzuständigkeiten. Die Aufspaltung der einheitlichen Wahrnehmungszuständigkeit i n mehrere Trägerzuständigkeiten hat verfahrensrechtliche Konsequenzen erst, wenn das Prozeßrecht eine nicht rechtsfähige gemeinschaftliche Einrichtung nicht als 40
StV zwischen Nds. u n d Hbg., Nds.GVBl. 1952 S. 29 (entsprechend SH GVB1. 1954 S. 156, 157). Ähnlich organisiert w a r das gemeinschaftliche O V G der Länder Nds. u n d S H aufgrund des unveröffentlichten Vertrages v o m 7./S5. 7. 1949, der bis zur Neuordnung von 1955 galt, abgedruckt i n : Nds.LT, 3. W P Drucks. Nr. 118, Anlage S. 458, A r t . 3, 8. 41 Vgl. o. § 2 A n m . 1 a. E.
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1. Teil: Die Vereinbarung von Zuständigkeitseränderungen
selbständigen Verfahrensbeteiligten anerkennt. Dann t r i f f t die verwaltungsrechtliche Verantwortung diejenige bundesstaatliche Einheit, die die institutionelle Herrschaft ausübt. Während dies bei der Beteiligungsverwaltung notwendig nur ein Land i s t 4 1 a , sind es bei gemeinschaftlichen Einrichtungen mehrere Länder, sofern nicht die Wahrnehmung der aufgespaltenen Aufsichtszuständigkeiten einem Land zur einheitlichen Wahrnehmung übertragen ist. Sie sind i m Streitfall gemeinsam zu verklagen. Der öffentliche Status rechtsfähiger Verwaltungseinheiten w i r d durch die staatliche Rechtsaufsicht vermittelt 4 2 , der der Rechtsprechungseinheiten durch die Personalhoheit. I m Falle gemeinschaftlicher Einrichtungen, die mehreren „Muttergemeinwesen" zugeordnet sind 4 3 , bestehen daher notwendig mehrere gegenständlich beschränkte Rechts- bzw. Dienstaufsichtskompetenzen. Diese Aufspaltung der Rechtsauf sieht fehlt, wenn die gemeinsam organisierte Rechtsprechungs- oder Verwaltungseinheit einer Gesamtheit von Ländern als einem einheitlichen Zuständigkeitsträger zugeordnet ist. Dann kann es auch nur eine einheitliche Aufsichtskompetenz dieser Ländergemeinschaft geben. Dieser Unterschied zwischen den gemeinschaftlichen Einrichtungen mehrerer Länder und den zuletzt beschriebenen „Gemeinschaftseinrichtungen" ist bereits an dieser Stelle festzuhalten. Er w i r d i n der Diskussion über die sog. „dritte Ebene" oder den sog. „Staatenbund i m Bundesstaat" zumeist übersehen. Die Vereinheitlichung der Willensbildung und die Verselbständigung der gemeinschaftlichen Einrichtung i m Verwaltungsrechtsverhältnis schließen keineswegs ihre verfassungsrechtliche Herauslösung aus dem institutionellen Gefüge des Bundesstaates ein — ebensowenig, wie eine Gemeinde nur deshalb zur „freischwebenden" Einrichtung wird, w e i l der Bürger sich i m Rechtsstreit an sie und nicht an ihr „Muttergemeinwesen" zu wenden hat. Wo es das Verwaltungsrecht primär m i t einem selbständigen und eigenverantwortlichen Rechtssubjekt zu tun hat, kann das Verfassungsrecht noch von einer Teilorganisation eines Gesamtgefüges sprechen und die Handlungen dieser Teilorganisation i n letzter Instanz einem Land oder mehreren Ländern, insbesondere den Trägern der Rechtsaufsichtskompetenz, zurechnen 44 . 4i a Z u r F B W vgl. o. § 2 A n m . 20; zum Hbg. Prüfungsamt f. d. Gr. j u r . Staatsprüfung s. o. § 2 A n m . 35. 42
S. u. § 14 A n m . 26. Z u dieser organisationsrechtlichen Möglichkeit i m allgemeinen s. bereits Werner Weber, Körperschaften, Anstalten u n d Stiftungen des öffentlichen Rechts (2. Aufl. 1943) S. 92, u n d H. J. Wolff , Verwaltungsrecht I I § 98 I b, S. 257. 44 Vgl. H. J. Wolff , Verwaltungsrecht I I § 74 I I a 1, S. 40 f.: Auch „Glieder" einer Organisation (d.h. die i m Verwaltungsrechtsverhältnis selbständigen rechtsfähigen Verwaltungseinheiten) sind „insofern Organe, als nicht auf die α
§ 2 Rationalisierung der Aufgabenerfüllung
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Die Verselbständigung der Willensbildung und die Beteiligung mehrerer Länder an der Begründung und Vermittlung des öffentlichen Status einer gemeinschaftlichen Einrichtung sind i n der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland keine Seltenheit. Aus dem Bereich der Rechtspflege ist beispielhaft der Staatsvertrag über das „Oberverwaltungsgericht für die Länder Niedersachsen und SchleswigHolstein". Die planmäßigen Richter dieses Gerichts „werden gemeinschaftlich ernannt und entlassen"; sie sind „gemeinschaftliche Bedienstete beider Länder"; ihre Ernennungsurkunden werden gemeinsam vollzogen 45 . — I m Gerichtsverfassungsrecht für die allgemeine und die besondere Verwaltungsgerichtsbarkeit hat der Bundesgesetzgeber die Länder ausdrücklich ermächtigt, gemeinschaftliche Gerichte, Kammern und Senate zu bilden 4 5 4 . — I m Bereich der vollziehenden Gewalt sind mehreren bundesstaatlichen Einheiten (Bund und Länder) zugeordnet: die Süddeutsche Klassenlotterie 4 ·, der Südwestfunk 4 7 , die Gemeinschaftliche Akademie für Staatsmedizin i n Hamburg 4 8 , der Norddeutsche Rundfunk 4 ®, der Nordwestdeutsche Rundfunkverband 5 0 , die Staat-
innerstaatliche P r i v a t - u n d Verwaltungsrechtsordnung, sondern auf die Staatsverfassungsordnung oder auf das Völkerrecht abgestellt w i r d . Denn i n bezug auf diese übergreifenden Ordnungssysteme erfüllen die Glieder bei Erledigung ihrer Auftragsangelegenheiten letztlich Verpflichtungen u n d Berechtigungen des Auftraggebers, so daß insofern das Gliedverhalten der auftraggebenden Organisation materiell zugeordnet w i r d " ; vgl. ferner ebd. Ziff. I I a 2. 45 S t V v o m 8./15.11.1955, Nds.GVBl. 1956 S. 16 A r t . 3 Abs. 1, 2. I m übrigen ist das Gericht der nds. Gerichtsorganisation eingefügt: Sein Präsident w i r d v o m nds. Ministerpräsidenten vereidigt. Die Hilfsrichter werden von Nds. i m Einvernehmen m i t S H bestellt. Haushalts- u n d Stellenplan werden von Nds. i m Einvernehmen m i t S H aufgestellt. Nds. ü b t die Dienstauf sieht „ i m Namen der vertragschließenden Länder" aus u n d hat bei bestimmten Disziplinarmaßnahmen das Einvernehmen m i t S H herzustellen.
Parallelen insbesondere hinsichtlich der dienstrechtlichen Ausgestaltung enthält der StV zwischen Preußen u n d Thüringen v o m 19./26.11.1931, pr.GS 1932 S. 137, über das „gemeinschaftliche Thüringische Oberlandesgericht" i n Jena. 45 » §§ 7 Abs. 2 SGG; 3 Abs. 2 V w G O ; 3 Abs. 2 FinGO (vgl. o. § 2 A n m . 23 a. E.) sowie § 138 Abs. 2 des Flurbereinigungsgesetzes (BGBl. I 1953 S. 591). 48 Staatslotterievertrag der Länder Bay., W ü B u n d Hess, v o m 6., 9., 17.9. 1948. RhPf. ist 1954 beigetreten, RhPf.GVBl. 1954 S. 163 (mit Abdruck des Vertrages). 47 S t V der Länder Baden, RhPf. u n d W ü H v o m 27.8.1951, RhPf.GVBl. 1952 S. 17. 48 Vereinbarung der Länder Nds., SH, Bln., Brem, u n d Hbg. v o m 30.10., 12., 29.11.1952, 24. 7., 1.10.1953, Hbg.GVBl. 1953 S. 125. 49
StV der Länder Nds., S H u n d Hbg. v o m 16. 2.1955, Nds.GVBl. S. 167.
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StV der Länder Hbg., Nds., N R W u n d S H v o m 16. 2.1955, Nds.GVBl. S. 171. 3 Hempel
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1. Teil: Die Vereinbarung von Zuständigkeitsveränderungen
liehe Kreditanstalt Oldenburg-Bremen 61 , die Bremer Landesbank 52 und das Zweite Deutsche Fernsehen 53 . Die Rechtsaufsicht, die den Trägern dieser gemeinschaftlichen Einrichtungen gemäß den Errichtungsverträgen gemeinsam zusteht, w i r d i n unterschiedlicher Weise ausgeübt. Ständig von einem von vornherein bestimmten Partner w i r d sie ausgeübt i n den Fällen der Süddeutschen Klassenlotterie 54 , der Staatlichen Kreditanstalt Oldenburg und der Bremer Landesbank 55 . Die Aufsicht über den Südwestfunk 5 6 und das Zweite Deutsche Fernsehen 57 w i r d i n turnusmäßigem Wechsel von jeweils einem Lande ausgeübt. Hinsichtlich der Gemeinschaftlichen A k a demie für Staatsmedizin 58 , des Norddeutschen Rundfunks 5 9 und des Nordwestdeutschen Rundfunkverbandes 80 ist gemeinsame Ausübung der Rechtsaufsicht vereinbart worden. Die Vereinbarung rechtsfähiger Verwaltungseinheiten mehrerer bundesstaatlicher Institutionen ist ferner bundesrechtlich vorgesehen i n §4 Abs. 2 des Bundesbaugesetzes (BGBl. I 1960 S. 341), der auch die Beteiligung von Bundeseinrichtungen an den Planungsverbänden gestattet, sowie i n § 414 Abs. 2 RVO, der die Krankenkassenverbände der gleichen Kassenart ermächtigt, sich m i t Zustimmung der beteiligten Ministerien „zu einem für mehrere Länder gemeinsamen Verband zusammenzuschließen" 81 . Auch ohne die Verleihung eigener Rechtsfähigkeit sind verwaltungsrechtlich verselbständigt und aus der institutionellen Zuordnung zu nur 51
Satzung i. d. F. v o m 17. 6.1959, BremGBl. S. 80. Satzung i. d. F. v o m 24.6.1961, BremGBl. S. 135. 58 StV sämtlicher Länder v o m 6. 6.1961, Nds. GVB1. 1962 S. 10. 54 Die trägerschaftliche Teilhabe jedes Landes an der Staatsaufsicht und die Ausübung durch Bayern sind zwar nicht schriftlich fixiert, jedoch, w i e eine frdl. A u s k u n f t des Direktors der Lotterie ergab, zwischen den Beteiligten unstreitig, vgl. oben A n m . 46. 55 § 20 I beider Satzungen (s.o. A n m . 51, 52): „Die dem Niedersächsischen Minister der Finanzen u n d dem Bremischen Senator f ü r die Finanzen zustehende allgemeine Staatsaufsicht über die Bank w i r d durch den letzteren ausgeübt." I n bestimmten Fällen hat er das Einvernehmen m i t dem Nds. M i n . d. Fin. herbeizuführen. 58 § 19 des StV (oben A n m . 47). Die Ausübung hat i m Benehmen m i t den beiden anderen Landesregierungen zu erfolgen. Zugleich ist jedes L a n d zu Beanstandungen u n m i t t e l b a r der Anstalt gegenüber berechtigt u n d kann seine Auffassung i m Verwaltungsgerichtsverfahren durchsetzen, § 21 I. 57 § 25 des StV (oben A n m . 53). 58 § 4 der Vereinbarung (oben Anm. 48). 59 § 22 I des StV (oben A n m . 49). eo § 26 des StV (oben A n m . 50). Die „Federführung" hinsichtlich der gemeinsam ausgeübten Aufsicht wechselt turnusmäßig. . 61 Vgl. hierzu die als Körperschaften des öffentlichen Rechts bezeichneten Landesverbände der Orts- u n d Innungskrankenkassen i n Nds. u n d Brem., i n : Handbuch f ü r Niedersachsen 1957/58 (Lüneburg o. J.) S. 524, 527. 52
§ 3 Koordinierung der Aufgabenerfüllung
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einer bundesstaatlichen Einheit herausgelöst der gemeinsame Prüfungsausschuß für den höheren Dienst i m Bergfach 62 , dessen Vorsitzender abwechselnd von den Vertragspartnern „gestellt" wird, sowie der Ländersachverständigenausschuß, der m i t bindenden „Empfehlungen" an die beteiligten Länder über die Zulassung neuer Baustoffe und Baustoff arten entscheidet 65 . Da dieser Ausschuß trotz seiner externen Eigenzuständigkeit keiner Rechts- oder Dienstaufsicht unterliegt, die den einzelnen Vertragspartnern zugerechnet werden könnte, handelt es sich hier u m eine („freischwebende") Gemeinschaftseinrichtung.
§ 3 Koordinierung der Aufgabenerfüllung Die „Vielfalt i n der Einheit", die Wahrung und Pflege landsmannschaftlicher Besonderheiten war einst die ratio essendi der bundesstaatlichen Ordnung. Noch für Lassar war es selbstverständlich, daß die Länder „schon infolge ihres Daseins und u m dieses zu rechtfertigen, nach Zuständigkeiten (streben), die ihnen eine möglichst selbständige und verantwortliche Betätigung ermöglichen" 1 . Indessen scheint die Industriegesellschaft der Gegegenwart an der regionalen Vielgestaltigkeit wenig interessiert zu sein 2 . Die Länder bestätigen diese Entwicklung durch umfangreiche Selbstkoordinierung 8 . Zugleich bewirken sachliche und kompetentielle Interdependenzen sowie die finanzwirtschaftliche K r a f t des Bundes, daß der Bund an der Koordinierung nachhaltig beteiligt w i r d 4 : Bund und Länder erklären, daß „die großen Bildungsaufgaben unserer Zeit i n gemeinsamer Verantwortung" gelöst werden müßten 5 . Punktuell werden auch die Gemeinden und ihre Verbände i n die „gemeinsame Verantwortung" einbezogen 6 . ·* GMB1. 1955 S. 47; 1958 S. 189. — Nds. hat den gemeinsamen Prüfungsausschuß nunmehr auch durch Rechtsverordnung f ü r zuständig erklärt u n d die Organisationsgrundsätze des Ausschusses normiert, Nds.GVBl. 1966 S. 287, § 19. 61 RhPf.GVBl. 1951 S. 173. Die Aufsicht obliegt einem geschäftsführenden Ausschuß, dem neben j e einem Vertreter der Vertragspartner auch der V o r sitzende des Sachverständigenausschusses angehört. 1 Lassar, HdbDStR I (1930) S. 301. Ä h n l i c h Smend, Verfassung u n d V e r fassungsrecht, Abhandlungen S. 269; K . C. Wheare, Föderative Regierung S. 50; Schule, W D S t R L 19 S. 155; Bayerischer Rundfunk, Begründung der Klage v o m 22. 2.1963 gegen den Freistaat Bayern, hrsg. v. Bay .Rundfunk, S. 16. 1 H. Schneider, W D S t R L 19, S. 19; Nyman, Der westdeutsche Föderalismus (1960) S. 181 ff. Weitere Nachweise u. § 15, 3. m i t A n m . 40. 5 Hesse, Der unitarische Bundesstaat S. 20. 4 Z u der seit 1964 gestiegenen Bereitschaft der Länder, nicht n u r m i t einander, sondern auch verstärkt m i t dem B u n d zusammenzuarbeiten, siehe den Rückblick des Bundesratsministers auf die Ministerpräsidentenkonferenz i n München, Bull.BReg. v o m 23.11.1965, Nr. 184/S. 1485 f. 5 Gemeinsame Verlautbarung des Bundeskanzlers u n d der Ministerpräsi3*
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1. Teil: Die Vereinbarung von Zuständigkeitseränderungen
Die Koordinierungsbemühungen sollen allerdings nur zum Teil durch die Finanzreform eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Grundlage erhalten 7 . Diese Beschränkung der Reform entspricht insoweit der allgemeinen und i m Grundsatz zutreffenden Rechtsansicht, daß für informelle Kontakte, Meinungsaustausch, Empfehlungen, gemeinsame unverbindliche Erarbeitung von Rechtsvorschriften und Plänen i m Regelfall keine besondere verfassungsrechtliche Grundlage erforderlich sei. Die Vielzahl der Arbeitsgemeinschaften der Referenten, die Konferenzen der Minister, der Landtagspräsidenten und selbst der m i t Sondergebieten befaßten Richter brauchen daher hier nicht dargestellt zu werden. Ausgeklammert werden sollen aber auch solche gemeinsam errichteten Institutionen, deren formal unverbindliche Empfehlungen — als politische vis indirecta — die formal selbständige und unabhängige Willensbildung der zuständigen Institutionen inhaltlich weitgehend bestimmen 8 . Denn die Untersuchung müßte sich andernfalls m i t dem weitläufigen Problem auseinandersetzen, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen tatsächliche Entwicklungen und faktische Machtund Einflußpositionen die Zuständigkeitsordnung auch von Rechts wegen unterlaufen. Eine verbindliche Koordinierung der Aufgabenerfüllung ist auf zwei Wegen möglich. Zum einen können die Partner, denen eine Verständigung über einheitliches Vorgehen gelungen ist, sich verpflichten, den gefundenen Kompromiß durchzusetzen. A u f eine solche Verpflichtung w i r d zwar — oft schon i n Ermangelung von Abschlußkompetenzen der Exekutive — zumeist verzichtet und die Durchsetzung des Kompromisses von der politisch-moralischen Bindung erwartet®. Indessen würde es sich selbst bei rechtlicher Verbindlichkeit der Absprachen nicht u m Zuständigkeitsveränderungen handeln, da die Bindung erst eintritt, nachdem bereits — aufgrund formal selbständiger und eigenverantwortlicher Willensbildung — die Entscheidung getroffen worden ist. Der zweite Weg zur verbindlichen Koordinierung hingegen begnügt denten, Bull.BReg. v o m 5.12.1964 Nr. 179/S. 1649. Vgl. ferner die Rede des Bundesratspräsidenten Altmeier i n der 289. Sitzung des Bundesrates vom 26.11.1965, Bull.BReg. v o m 3.12.1965 Nr. 190/S. 1534 ff. • Z u m „Koordinierungsausschuß f ü r Straßenplanung" s. Bull.BReg. v o m 11.12.1964, Nr. 183/S. 1689 u n d v o m 5.7.1966, Nr. 88/S.697; H. C. Seebohm, Voraussetzungen f ü r ein Rahmenprogramm, i n : Der V o l k s w i r t , Nr. 7/14.2. 1964 S. 229 ff.; ferner BRDrucks. 576/67. 7 Vgl. den RegE eines Finanzreformgesetzes (BTDrucks. V/2861) nebst Begründung, 1. Abschnitt Β I (insbesondere Tz. 49 a. E.), 3. Abschnitt A I. 8 Insbesondere zum Wissenschaftsrat u n d zum Deutschen Bildungsrat s. Grawert, Verwaltungsabkommen S. 242 ff. m i t kritischen Überlegungen ebd. S. 274 ff.; kritische Vorbehalte auch bei Knöpf le, Diskussionsbeitrag i n : S t r u k t u r der deutschen Verwaltung, Schriftenreihe der Hochschule Speyer Bd. 33 (1967) S. 60. • Vgl. Knoke, Kultusministerkonferenz S. 49 ff., 137.
§
o i e r u n g der Aufgabenerfüllung
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sich nicht m i t der nachträglichen Fixierung des Verhandlungsergebnisses, sondern zwingt die Partner von vornherein zum Kompromiß, indem er ihnen die rechtliche Fähigkeit zu selbständiger und eigenverantwortlicher Entscheidung entzieht bzw. sie beschränkt. Diese normative Beschränkung der sachlichen Bestimmungsmacht ist nichts anderes als eine Veränderung der Zuständigkeitsordnung. Die staatliche Praxis hat i n einer Reihe von Vereinbarungen diesen zweiten Weg der effektiven Koordinierung beschritten. Vor allem dienen diese Abkommen dem Zweck, einen koordinierten, auf Schwerpunktinvestitionen i m Bundesmaßstab gerichteten Einsatz der öffentlichen Finanzmittel zu erreichen. Vorangegangen ist das „Königsteiner Abkommen" über die Finanzierung wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen 10 . Hier verfügen die Kultus- und Finanzminister der Länder einheitlich über eine gemeinsam gebildete Finanzmasse. Sie bestimmen m i t Zweidrittelmehrheit, i n welchem Umfange die wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen unterstützt werden und ob das Staatsabkommen auf weitere als die anfänglich vorgesehenen Forschungseinrichtungen Anwendung finden soll. Der Sachverständigenausschuß für die Neugliederung des Bundesgebietes hat dieses Abkommen als „eindrucksvolles Vorbild" empfohlen 1 1 . I n der Tat wurde es Vorbild für das Abkommen der Länder über die Finanzierung neuer wissenschaftlicher Hochschulen vom 4. J u n i 196412. Die Länder haben sich hier zu dem Ziel verbunden, „ein zusätzliches Investitionsprogramm für die Errichtung neuer Hochschulen gemeinsam zu finanzieren". Die Verwaltung des Fonds ist einem aus Vertretern sämtlicher Kultus- und Finanzministerien gebildeten Verwaltungsrat übertragen worden, der mit Zweidrittelmehrheit entscheidet. Angelehnt an dieses Organisationsmodell ist auch das Abkommen zwischen Bund und Ländern zur Förderung von Wissenschaft und Forschung vom 4. Juni 196418. Der nach diesem Abkommen gebildete Verwaltungsausschuß entscheidet über den Zuschußbedarf der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Max-Planck-Gesellschaft. Jedes Land entsendet einen, der Bund sechs stimmberechtigte Vertreter. Auch hier werden die Entscheidungen m i t Zweidrittelmehrheit gefällt. 10 Staatsabkommen der Länder der B R D über die Finanzierung wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen v o m 30./31.3.1949, Hess.GVBl. 1950 S. 179; zu Vorläufern u n d Verlängerungsabkommen s. Schneider, W D S t R L 19 S. 69 Nr. 228; zur Verwaltungspraxis: Kurt Pfuhl, Das Königsteiner Staatsabkommen, i n : Der öffentliche Haushalt, A r c h i v f ü r Finanzkontrolle 1958 S. 200 ff. 11 Gutachten zur Neugliederung (1955) S. 105 (5). lf RhPf.GVBl. 1964 S. 207, Bay.GVBl. 1965 S. 27. » GMB1. 1964 S. 315; RhPf.GVBl. 1964 S. 210.
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1. Teil: Die Vereinbarung von Zuständigkeitsveränderungen
A u f Schwerpunktinvestitionen, die ohne Rücksicht auf Landesgrenzen geplant werden, sind auch die gemeinsamen Aufbaufonds für die Randgebiete der Ballungsräume Hamburg und Bremen gerichtet. Die Förderungsmittel werden aufgrund gemeinsam erarbeiteter Richtlinien paritätisch verwaltet 1 4 . K e i n Partner kann somit (von Rechts wegen) dem anderen seine Initiativen auf zwingen; jeder ist darauf angewiesen, die Zustimmung des anderen für seine Vorstellungen zu gewinnen. — Gelegentlich w i r d die gemeinsame Finanzierung auch durch Gründung privatrechtlicher Einrichtungen koordiniert, deren Zweck und deren Willensbildung i m Verwaltungsabkommen festgelegt werden 1 5 . — M i t der Koordinierung von Förderungsmaßnahmen ist auch die Kultusministerkonferenz befaßt 1 *. Die ihr zur Verfügung gestellten Finanzmittel unterliegen nur noch insoweit der Entscheidungsbefugnis jedes einzelnen Landes, als es an der Erarbeitung des Kompromisses der einstimmig entscheidenden Konferenz beteiligt ist und seinen Vorstellungen durch Versagung der Zustimmung Nachdruck verleihen kann. — Gleichfalls an selbständiger Verfügungsmacht über ihre öffentlichen M i t t e l gehindert sind die i n der A R D zusammengeschlossenen, ζ. T. ihrerseits auf Staatsverträgen beruhenden Rundfunkanstalten, soweit sie sich zur gemeinschaftlichen Finanzierung bestimmter Aufgaben verbunden haben 17 . Reiches Anschauungsmaterial f ü r die Beschränkung sachlicher Bestimmungsmacht durch gemeinsame Finanzierung böte ferner die Fondsverwalt u n g des Bundes, w e n n m a n sie aufgrund des Koordinierungseffekts der V e r 14 Z u den Aufbaufonds, die Nds. sowohl m i t Br. als auch m i t Hbg. gebildet hat, vgl. den vorläufigen Raumordnungsbericht der Nds. Landesregierung, Schriftenreihe der Landesplanung Niedersachsen, Anh. Ziff. 5—8; Nds. HP1. 1966 Kap. 0302/Tit. 530, 531; Nds. MB1. 1962 S. 211; 1963 S. 500; 1965 S. 76. S. ferner W. Haarmann, Gemeinsame Landesplanung Hamburg/SchleswigHolstein, DVB1. 1966, S. 292 ff. (299). 15 Z u r Weserkanalisierung s. Brem.GBl. 1954 S. 60; N R W G V B 1 . 1959 S. 7. — Z u m Übereinkommen über den Ausbau der nordwestdeutschen Wasserstraßen s, Bull.BReg. v o m 9.12.1964, Nr. 181/S. 1667 u n d v o m 7. 9.1965 Nr. 149/ S. 1206. 1β Eine Zusammenstellung der Empfänger dieser koordinierten Förderungsmaßnahmen enthalten die Haushaltspläne der Länder unter dem T i t e l : Beteiligung „ a n den Kosten der Einrichtungen der Ständigen Konferenz der Kultusminister u n d der gemeinsamen Finanzierungen", Nds.Hpl. Kap. 0702 T i t . 302. 17 Z u Mehrheitsentscheidungen der A R D vgl. Thieme, AöR 88 S. 53, (zum Finanzausgleich) u n d Bachof, Gutachten S. 24, (zur Programmkoordinierung) u n d i m einzelnen Hans Brack, Die Organisation der überregionalen A u f gaben des Rundfunks, i n : R u n d f u n k u n d Fernsehen 1960 S. 152 ff. — § 21 Abs. 1 des Staatsvertrages über den N D R (Nds.GVBl. 1955 S. 167) ermächtigt den NDR ausdrücklich zur Finanzierung der „gemeinschaftlichen Aufgaben des deutschen R u n d f u n k s " ; vgl. bereits den f ü r das Rechnungsjahr 1953/54 eingerichteten Einzelplan Β 3 „Gemeinschaftsaufgaben der Westdeutschen Rundfunkanstalten" i m Haushaltsplan des N W D R (Haushaltsplan, hrsg. vom Ν WDR, S. 3, 19 ff.).
§
o i e r u n g der Aufgabenerfüllung
39
Wendungsrichtlinien des Bundes (§ 64 a RHO) i n die Betrachtung einbezöge 18 . Indessen soll die besondere Problematik dieser F o r m der Bundesverwaltung hier unerörtert bleiben, zumal die Verwendungsrichtlinien n u r ausnahmsweise auf förmlicher Vereinbarung zwischen B u n d u n d Länder beruhen 1 9 , i m übrigen jedoch einseitig festgesetzt werden. Z u r K o o r d i n i e r u n g d e r A u f g a b e n e r f ü l l u n g h a t auch das Lindauer Abkommen geführt. Hiernach darf der B u n d K u l t u r a b k o m m e n m i t dem A u s l a n d n u r abschließen, w e n n er z u v o r das E i n v e r s t ä n d n i s d e r L ä n d e r e r b e t e n h a t 2 0 . A l l e r d i n g s b e r u h t diese K o o r d i n i e r u n g d e r V o r s t e l l u n g e n v o n B u n d u n d L ä n d e r n über die auswärtige K u l t u r p o l i t i k weniger auf U n i t a r i s i e r u n g s f o r d e r u n g e n d e r Gesellschaft oder a u f sachlichen I n t e r dependenzen als v i e l m e h r a u f d e m Versuch, e i n e n K o m p e t e n z s t r e i t d a d u r c h a u s z u r ä u m e n , daß j e d e r P r ä t e n d e n t d e m a n d e r e n e i n e n T e i l d e r u m s t r i t t e n e n u n d v o n Verfassungs w e g e n e i n h e i t l i c h e n K o m p e t e n z z u gesteht21. A l s K o o r d i n a t o r k r a f t V e r e i n b a r u n g w i r k t bzw. w i r k t e der B u n d auch b e i der O r g a n i s a t i o n d e r B e r e i t s c h a f t s p o l i z e i e n d e r L ä n d e r 2 2 u n d a u f g r u n d der e i n v e r s t ä n d l i c h e n A b g r e n z u n g der V e r w a l t u n g s b e f u g n i s s e v o n B u n d u n d L ä n d e r n auf dem Gebiete der z i v i l e n L u f t f a h r t 2 3 . H i e r b e i s i n d z u g u n s t e n des B u n d e s w e i t g e h e n d e M i t w i r k u n g s r e c h t e b e g r ü n det w o r d e n , d i e d i e sachliche E n t s c h e i d u n g s b e f u g n i s d e r L ä n d e r e i n schränken. 18 Vgl. W. Henle, Die Förderung von Landesaufgaben aus Bundesmitteln, Schriftenreihe der Hochschule Speyer Bd. 11 (1961) S. 63 ff. (76); Oers. Finanzreform zwischen Föderalismus u n d Fiskalpolitik, D Ö V 1966 S. 608 ff. (611); Röttgen, Fondsverwaltung i n der Bundesrepublik (1965) S. 47, 69; Patzig, AöR 86 S. 307 ff.; Gutachten über die Finanzreform Tz 47, 49. — Die Bundeszuschüsse f ü r Landesaufgaben sind i n den U S A die Grundlage des „cooperative federalisme". Z u diesen „grants i n aid" s. Ehmke, Wirtschaft u n d Verfassung (1961) S. 133 ff., 156, 194; Friedrich, Verfassungsstaat S. 249 ff.; Scheuner, i n : Föderalistische Ordnung S. 65; Lerche, W D S t R L 21 S. 70 A n m . 18 m. w. Nachw. 19 So die „Richtlinien f ü r die gemeinsamen Maßnahmen der Studentenförderung", vgl. Bull.BReg. 1964 Nr. 89 S. 813. 10 Ziff. 3 des unveröffentlichten, bei Maunz-Dürig, GG A r t . 32 zu Rdnr. 45, teilweise abgedruckten Abkommens v o m 14.11.1957. 11 Z u r Rechtsauffassung der Bundesregierung vgl. das Schreiben des Auswärtigen Amtes v o m 26.3.1956 an den Vorsitzenden des Rechtsausschusses des Bundesrates, zitiert bei Peter Sonn, Die auswärtige Gewalt des Gliedstaates i m Bundesstaat (1960) S. 133. Die Vertragspartner hielten an ihren entgegengesetzten Rechtsauffassungen fest (Ziff. 1 des Lindauer A b k o m mens), ähnlich i m A b k o m m e n über die Förderung von Wissenschaft und Forschung v o m 4. 6.1964, Bull.BReg. Nr. 89/S. 813, Ziff. 4 a. Vgl. hierzu Röttgen, Fonds Verwaltung S. 53 m i t A n m . 112. — Kritisch zu dem i m Rahmen der Finanzreform vorgesehenen „Interpretationsabkommen" m i t Recht Graviert, Finanzreform, a.a.O. S. 67 ff., 71.
» SHGVB1. 1951 S. 105 Ziff. 2 I I I , 3, 5; H. Schneider, Polizeirecht, 13. Aufl. (1957) Anhang Nr. 7; Grawert, Verwaltungsabkommen S. 211 f. M V k B l . 1955 S. 379 ff. — Vgl. nunmehr A r t . 87 d GG, eingefügt durch Gesetz v. 6.2.1961, BGBl. I S. 65.
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1. Teil: Die Vereinbarung von Zuständigkeitsveränderungen
Die verfassungsrechtliche Problematik der koordinierten Aufgabenerfüllung beschränkt sich allerdings nicht auf die aufgeführten Abkommen. Vielmehr sind die verfassungsrechtlichen Grenzen auch aus Anlaß jener Beiträge zur politischen Diskussion zu ermitteln, die eine Intensivierung der Koordinierung empfehlen, ohne eine Ergänzung des Grundgesetzes für erforderlich zu halten. Hierzu zählen etwa die Vorschläge, die Bildungsplanung einem gemeinschaftlichen, verbindlich entscheidenden Gremium anzuvertrauen 24 und die regionale Strukturpolit i k der vier Küstenländer einer gemeinschaftlichen Körperschaft zu übertragen 25 sowie das — politisch überholte — Vorhaben, für „die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern bei der gemeinsamen Programmierung und Finanzierung von überregionalen Gemeinschaftsaufgaben" ein „Deutsches Gemeinschaftswerk" zu bilden2®.
Zweites
Kapitel
Zuständigkeitsvereinbarungen in der verfassungsrechtlichen Diskussion δ 4 Die Sachverantwortung der einzelnen Länder und des Bundes 1. Das Delegationsverbot Die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der dargestellten Zuständigkeitsvereinbarungen ergibt sich nicht schon aus schlichter Anwendung spezieller Normen des positiven Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschlands. Zwar hat sich das Verfassungsrecht i n Bund und Ländern vereinzelt m i t diesem Thema befaßt: A r t . 180 der Verfassung des Freistaats Bayern vom 2. Dezember 1946 und A r t . 2 Abs. 3 der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 1. Juni 1952 lassen unter bestimmten Voraussetzungen Zuständigkeitsvereinbarungen zu; die Übergangsbestimmung des A r t . 130 Abs. 3 GG registriert Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, die auf Staatsverträgen zwischen Ländern beruhen; A r t . 24 GG ermächtigt den Bundesgesetzgeber zu Zu24 Vorschlag des Senators f ü r das Schulwesen i n B e r l i n Evers, i n : Christ u n d Welt v o m 14. 8.1964 Nr. 33 S. 19. 25 Z u r Diskussion über eine „Norddeutsche Wirtschaftsgemeinschaft" s. F A Z v o m 14.12.1962 u n d v o m 15.1.1963; Der V o l k s w i r t Nr. 5/1.2.1963 S. 179 ff.; Die W e l t v o m 27.1.1964. M Regierungserklärung i n der 4. Sitzung des 5. B T , Bull.BReg. v. 11.11. 1965 Nr. 139/S. 1437 ff. (14401). Vgl. ferner Bull.BReg. Nr. 65/S. 519 f. u n d Nr. 95/S. 761 f.; Der V o l k s w i r t v o m 28. 5.1965 Nr. 21 S. 1002.
§ 4 Die Sachverantwortung der einzelnen Länder und des Bundes
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ständigkeitsübertragungen i m zwischenstaatlichen Bereich und zahlreiche Vorschriften des Grundgesetzes regeln Querverbindungen zwischen Bund und Ländern, einschließlich Delegationen und Ingerenzen (vgl. A r t . 32 Abs. 2 u. 3, 35, 50, 71, 73 Nr. 10, 84, 85, 89 Abs. 2 S. 3, Abs. 3, 99, 107 Abs. 2, 108 Abs. 1 S. 3, Abs. 3 S. 3, 135 Abs. 5 GG). Aber i n allen vom Wortlaut dieser Vorschriften nicht erfaßten Fällen — und das sind sämtliche i m 1. Kapitel referierten Vereinbarungen — bedarf es juristischer Auslegung: Führt die verwandte Sachlage zur entsprechenden Anwendung der speziellen Normen oder muß umgekehrt ihren Detailregelungen entnommen werden, daß für die nicht ausdrücklich normierten Fälle eine andere Rechtsfolge gelten soll, nämlich die Unzulässigkeit der vereinbarten Zuständigkeitsveränderungen? Zu dieser Frage schweigt das geschriebene Verfassungsrecht 1 . Das schließt nicht aus, daß für spezielle Fallgruppen — etwa die Erweiterung der grundgesetzlich normierten Formen der Bundesverwaltung — Analogie- oder Umkehrschlüsse Erfolg versprechen. I m übrigen jedoch muß sich die Verfassungsinterpretation u m weitere Argumente bemühen, insbesondere muß sie versuchen, der A r t der grundsätzlichen Zuordnung von Bund und Ländern Hinweise zu entnehmen. Dies ist i n der verfassungsrechtlichen Diskussion auch geschehen. Die Thesen, m i t deren Hilfe das Problem der Zuständigkeitsvereinbarungen gelöst werden soll, reichen von der striktesten Isolierung der bundesstaatlichen Einheiten bis zu einer Gesamtverantwortung, die sämtliche Zuständigkeitsgrenzen zur Disposition der staatlichen Praxis stellt. Die herrschende Lehre nimmt ihren Ausgang von der trennscharfen Gegenüberstellung von Bund und Ländern. Sie versucht sodann, die hieraus folgende Verfassungswidrigkeit zahlreicher Abkommen durch verschiedene Eingrenzungen des grundsätzlichen Delegationsverbots abzuwenden. Indessen w i r d zu zeigen sein, daß diese Eingrenzungsversuche nicht haltbar, die Folgerungen aus der grundsätzlichen Isolierung von Bund und Ländern jedoch schlüssig sind. Die herrschende Lehre definiert den Bund und die einzelnen Länder als Staaten, den Bundesstaat m i t h i n als einen aus Staaten zusammengesetzten Staat 2 . Jeder Staat w i r d durch eine einheitliche, unteilbare und unveräußerliche Staatsgewalt gekennzeichnet. Dem entsprechend beruft sich Zeidler zur Begründung des Delegationsverbots auf die „lapidare These", daß die Staatsgewalt eines jeden Staates eine Einheit 1 So i m Hinblick auf „Gemeinschaftseinrichtungen" Röttgen, JöR I I S . 305. Z u den verschiedenen Versuchen, bereits durch Analogieschlüsse oder U m kehrschlüsse, insbesondere aus A r t . 24 GG, dem Grundgesetz die Problemlösung zu entnehmen, s. insbesondere B V e r w G E 22, 299 (307, 309); Zeidler, Gutachten S. 37 ff.; H. Schneider, Gutachten S. 22 f.; Bachof, Gutachten S. 41 ff., 49; Roellenbleg, Filmbewertungsstelle S. 105 ff.; Oers. D Ö V 1968 S. 229 f. 1 S. u. § 6 m i t A n m . 6 ff., 12.
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1. Teil: Die Vereinbarung von Zuständigkeitsveränderungen
sei 3 . Exakter formuliert neuestens Gr awert: Die Übertragung von Zuständigkeiten zur Ausübung erfolge bei Bund-Länder-Abkommen „nicht innerhalb derselben Staatsorganisation, sondern i m Verhältnis zweier grundsätzlich eigenständiger, gegeneinander abgegrenzter (impermeabler) Gebilde m i t Staatscharakter. Sie überschreitet den eigenstaatlichen Bereich, so daß sie von der i n diesem wurzelnden (Selbst-) Organisationsgewalt für Exekutive nicht gedeckt w i r d " 3 a . Indessen überschreiten Zuständigkeitsvereinbarungen hiernach nicht nur die Rechtsmacht der Exekutive, sondern auch die der Legislative. Wenn Delegationen die impermeablen Einheiten durchbrechen, so auch dann, wenn sie auf Entscheidungen des Gesetzgebers beruhen. Jede Verminderung des Bestandes der Einheit und ihres Wirkungs- und Verantwortungsbereichs bedarf, sofern ihr nicht bereits die Unveräußerlichkeit der Staatsgewalt von vornherein entgegensteht, zumindest der Ermächtigung der höchsten Stufe der Rechtsordnung dieser Einheit, also ihrer Verfassung 4 . Aber selbst derartige — i m Regelfall nicht vorhandene — landesverfassungsrechtliche Ermächtigungen würden nicht ohne weiteres ausreichen. Denn die Gegenüberstellung selbständiger staatlicher Einheiten w i r d von der herrschenden Lehre aus dem Begriff des Bundesstaates abgeleitet. Die Entscheidung für die bundesstaatliche Ordnung ist aber weder von den einzelnen Ländern getroffen worden (Art. 144 GG) noch steht sie zu ihrer Disposition. Folglich kann auch nur das Grundgesetz selbst eine Durchbrechung der impermeablen Einheiten der einzelnen Länder zulassen 5 . Auch spezielle bundesgesetzliche Ermächtigungen zu zuständigkeitsverändernder Zusammenarbeit 5 * bleiben angesichts dieser Verankerung des Delegationsverbots auf der Ebene des Grundgesetzes bedeutungslos®. Da es an einer Ermächtigung 8
Zeidler, DVB1. 1960 S. 575. Grawert, Verwaltungsabkommen S. 184; ähnlich ebd. S. 206 f. 4 G. Jellinek, System S. 81; vgl. auch unten § 7 A n m . 59. 5 Α. A. Roellenbleg, Filmbewertungsstelle S. 21, 104, der die grundgesetzliche F i x i e r u n g der Zuständigkeitsordnung auf das Verhältnis des Bundes zu den Ländern beschränkt. V o n hier aus ergibt sich i h m eine Lücke i m Grundgesetz, die es „bewußt f ü r die Abschiebung ganzer Sachbereiche seitens der Länder" gelassen habe. F ü r das Verfassungsrecht eines vertraglich entstandenen Bundesstaates ist diese Auslegung denkbar (vgl. Laband, Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. I V , 5. Aufl. 1914, S. 29 A n m . 1; G. Jellinek, Staatslehre S. 503, 485; Triepel, Reichsauf sieht S. 292 f.). I n einem Bundesstaat hingegen, der auf einer einheitlichen verfassunggebenden Gew a l t des Volkes beruht u n d dessen zentrales Verfassungsgesetz die G r u n d lage „des" staatlichen Lebens ist (Präambel des Grundgesetzes, vgl. näher unten § 16, 2.) besteht f ü r die vermeintliche „Lücke" kein Anhaltspunkt. ** S. o. § 2 A n m . 8, 9, 14,16, 17, 23, 45 a sowie vor A n m . 61. * Das übersehen H. Schneider, Gutachten S. 15; Forsthoff, Gutachten S. 24; Kölbte, Gemeinschaftsaufgaben zwischen B u n d u n d Ländern, a.a.O. S. 57; Köttgen, JöR 11 S. 305.
§ 4 Die S a c h v e r n t w o r t u n g der einzelnen Länder und des Bundes des
Grundgesetzes
zu
zuständigkeitsverändernden
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Vereinbarungen
f e h l t , i s t dieser T e i l d e r Z u s a m m e n a r b e i t d e r L ä n d e r u n t e r e i n a n d e r u n d m i t d e m B u n d — sofern sich n i c h t spezielle H e c h t f e r t i g u n g s g r ü n d e
er-
geben — v e r f a s s u n g s w i d r i g 7 . 2. Einschränkungen des Delegationsverbots Die Verfassungswidrigkeit der zuständigkeitsverändernden Zusamm e n a r b e i t , d i e sich f ü r d i e herrschende L e h r e aus d e r b u n d e s s t a a t l i c h e n O r d n u n g e r g i b t , e r f a ß t i m G r u n d s a t z s ä m t l i c h e d e r i m 1. K a p i t e l d a r g e s t e l l t e n F ä l l e , auch jene, d e r e n v e r w a l t u n g s t e c h n i s c h e Z w e c k m ä ß i g k e i t u n d politische Z w e i t r a n g i g k e i t außer F r a g e steht. W e n n e t w a Niedersachsen z u r E i n s p a r u n g v o n P e r s o n a l u n d B o o t s m a t e r i a l b e s t i m m t e wasserschutzpolizeiliche W a h r n e h m u n g s z u s t ä n d i g k e i t e n a u f B r e m e n ü b e r t r ä g t 8 , so i s t es n i c h t ohne w e i t e r e s einsichtig 9 * daß f ü r die B e g r ü n d u n g d e r Z u l ä s s i g k e i t eines solchen S t a a t s v e r t r a g e s d e r v e r fassungsändernde Bundesgesetzgeber b e m ü h t w e r d e n m u ß . Ä h n l i c h e Ü b e r l e g u n g e n scheinen auch V e r t r e t e r d e r h e r r s c h e n d e n L e h r e v e r a n l a ß t z u h a b e n , das g r u n d s ä t z l i c h e D e l e g a t i o n s v e r b o t , das sich aus d e m M o d e l l des Staatenstaates e r g i b t , einzugrenzen. 7 Zeidler, Die Ausführung von Landesgesetzen durch Bundesbehörden, D V B l . 1960 S. 573 ff. (575 f., 578; beiläufig zustimmend BVerfGE 12, 205 [221]); Ders., Gutachten (1963) S. 48 f.; Fröhier, Gutachten (1962) S. 7, 15; Kölble, „Gemeinschaftsaufgaben" der Länder u n d ihre Grenzen, N J W 1962 S. 1081 ff. (1084); Friauf, Z u r Problematik des verfassungsrechtlichen Vertrages, AöR 88 (1963) S. 257 ff. (293 f.); Pötter, Verfassung u n d V e r w a l t u n g des Landes N o r d rhein-Westfalen, i n : Loschelder-Salzwedel, Verfassungs- und Verwaltungsrecht des Landes Nordrhein-Westfalen (1964) S. 28; Kratzer, Die Mainzer Fernsehanstalt, D V B l . 1963 S. 309 ff. (311, 314); Geiger, Das B u n d - L ä n d e r Verhältnis i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bay.VBl, 1957 S. 301 ff. (303); v. Stralenheim, „Zweites Deutsches Fernsehen" als öffentlich-rechtliche Anstalt der Länder, Bay.VBl. 1962 S. 70ff. (71 f.); Forsthoff, Gutachten (1964) S. 6, 10f.; H. Kalkbrenner, Zuständigkeitsübertragurig durch Staatsvertrag nach bayerischem Recht, Bay.VBl. 1965 S. 109 ff., 149 ff.; Scupin, B K (1950) Erl. 4 v o r A r t . 50 GG; Kommission für die Finanzreform, Gutachten (1966) Tz. 21, ähnlich Tz. 242; Grawert, Verwaltungsabkommen (1967) S. 184; Sturm, Finanzverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden, D Ö V 1968 S. 466 ff. (472). U n t e r Berufung auf einen „Grundsatz der Nichtverfügbarkeit über K o m petenzen" — der allerdings letztlich auf der angenommenen verfassungsgesetzlichen F i x i e r u n g impermeabler Einheiten beruht — gelangen zum gleichen Ergebnis: BVerfGE 1, 14 (Ls. 30 u n d S. 35); Maunz-Dürig, GG, A r t . 20 Rdnr. 17; Bettermann, W D S t R L 19 (1960) S. 160 (Aussprache); Friedr. Klein, Verfassungsrechtliche Grenzen der Gemeinschaftsaufgaben, a.a.O. S. 159f.; Darmstadt, Mischverwaltung (1961) S. 41 f., 77; H. E. Giese, Staatsverträge (1961) S. 79; H. Schneider, Gutachten S. 29; Krapp, Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit gemeinsamer Ländereinrichtungen (1962) S. 59 f., u n d bereits Neuber, Vollziehungsgemeinschaften deutscher Länder (1932) S. 68. • S. o. § 2 m i t A n m . 13. • Z u r methodischen Bedeutung der Plausibilität vgl. ο. § 1 A n m . 20 u. unten § 15, 3. m i t m i t A n m . 60.
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1. Teil: Die Vereinbarung von Zuständigkeitseränderungen
I m Vordergrund der formalen Eingrenzungsversuche steht das Bemühen, den Begriff der Zuständigkeitsveränderung einzuengen. Denn nur die Veränderung der Zuständigkeitsordnung stellt sich als Durchbrechung der staatlichen Einheiten dar. Vereinzelt w i r d das Delegationsverbot auf Übertragungen „der Substanz nach" beschränkt 10 . Da eine solche endgültige Zuweisung der Kompetenz, also eine Zuweisung der Trägerzuständigkeit 11 , bislang nur i n einem Fall vereinbart worden ist 1 2 , bedeutet diese Einschränkung letztlich eine unbegrenzte Ermächtigung zu zuständigkeitsverändernder Zusammenarbeit. Die einleitende Erörterung des Zuständigkeitsbegriffs hat indessen ergeben, daß das Verfassungsrecht sich nicht allein für die Zuordnung von Trägerzuständigkeiten interessiert, sondern grundsätzlich auch für die Zuordnung der Sachverantwortung 13 . Diese w i r d auch bei der Zuweisung von Wahrnehmungszuständigkeiten berührt. M i t der Beschränkung des Zuständigkeitsbegriffs auf Trägerzuständigkeiten kann daher das grundsätzliche Delegationsverbot nicht eingeschränkt werden. Ähnliche Erwägungen greifen auch durch gegenüber der oft herangezogenen 14 Unterscheidung Triepels zwischen Delegation und Mandat. Triepel unterstellt die „Übertragung zur Ausübung" — eine Formel, die der Vertragspraxis gelegentlich zur Umschreibung der treuhänderischen Zuweisung von Wahrnehmungszuständigkeiten 15 dient — dem Begriff des rechtsgeschäftlichen Mandats, das die objektive Zuständigkeitsordnung unberührt läßt. Doch hat diese mandatarische Ausübung fremder Zuständigkeiten eine andere Bedeutung als jene treuhänderische Ausübung, die Gegenstand zahlreicher Verwaltungsabkommen und Staatsverträge ist. Das Mandat beschränkt sich auf die widerrufliche Ermächtigung, fremde Zuständigkeiten i m fremden Namen nach fremder Weisung wahrzunehmen 16 . Das letztere Merkmal ist entscheidend: Ein Mandat liegt nur vor, wenn die sachliche Bestimmungsmacht des Inhabers der Zuständigkeit unberührt bleibt 1 7 . Hiermit stimmt der Sinn verfas19 Gross, N J W 1967 S. 1002; Fröhler, Gutachten (1962) S. 9 ff.; Maunz, N J W 1962 S. 1644. 11 S. o. § 2 m i t A n m . 3. 11 S. o. § 2 m i t A n m . 25. 1S S. o. § 2 m i t A n m . 1 u. 2. 14 B V e r w G E 23, 194 (198); unveröffentlichte „ V o r m e r k u n g der Bayerischen Staatsregierung zur Verhandlung des Staatsvertrages über die Errichtung der Anstalt des öffentlichen Redits »Zweites Deutsches Fernsehen 4 i m Rechts- u n d Verfassungsausschuß des L T am 7. 6.1962", Ziff. I I I 1; v.Stralenheim, Bay.VBl. 1962 S. 70 ff. (72). I m Ergebnis ebenso Maunz, N J W 1962 S. 1641 ff. (1644). 15 S. o. § 2 m i t A n m . 11 f. 16 Triepel, Delegation u n d Mandat i m öffentlichen Recht (1942) S. 26 ff., 36 ff., 135. 17 Triepel deutet den Fortbestand der sachlichen Bestimmungsmacht n u r dadurch an, daß i h m zufolge der Mandant verantwortlich bleibt u n d daß ein
§ 4 Die Sachverantwortung der einzelnen Länder und des Bundes
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sungsrechtlicher Zuständigkeitsverteilung überein: U m eine verfassungsrechtlich relevante Veränderung der Zuständigkeitsordnung handelt es sich bereits dann, wenn die sachliche Bestimmungsmacht und damit die Sachverantwortung des zur Aufgabenerfüllung berechtigten und verpflichteten Subjektes aufgehoben oder vermindert werden. I m Rahmen der Zusammenarbeit von Bund und Ländern stehen daher lediglich die Fälle der Auftragsverwaltung und der Institutionsleihe 1 8 i m wesentlichen außerhalb des verfassungsrechtlichen Problems einer Veränderung der Zuständigkeitsordnung. Die „Übertragung zur Ausübung" hingegen läßt, soweit sie die Ermächtigung zur treuhänderischen Wahrnehmung bezeichnet, allein die Trägerzuständigkeit, nicht aber die Sachverantwortung und die institutionelle Eingliederung unberührt. A n der Verfassungswidrigkeit dieser zahlreichen Abkommen führt die Triepelsche Unterscheidung zwischen Delegation und Mandat folglich nicht vorbei 1 9 . Unter dem hier maßgebenden Gesichtspunkt der Sachverantwortung ist es auch zweitrangig, ob und i n welcher Frist „die Übertragung" einer Wahrnehmungszuständigkeit durch Kündigung rückgängig gemacht werden kann 2 0 . Entscheidend ist, daß während der Gültigkeit eines A b kommens, das zu treuhänderischer Ausübung einer Zuständigkeit ermächtigt, der Zuständigkeitsträger seine Sachverantwortung verliert 2 1 . Gleichfalls zweitrangig ist es hiernach, ob die vereinbarte Zuweisung einer Wahrnehmungszuständigkeit die „nicht normgebundene Verwaltung und Regierung" oder die gesetzesakzessorische Verwaltung bet r i f f t 2 2 . Für die Zuordnung der Sachverantwortung sind Delegationen i m ersteren Bereich sogar einschneidender als i m zweiten. zwischenbehördliches Mandat davon abhängt, daß der Mandatar dem M a n danten nachgeordnet ist (Delegation u n d Mandat S. 38, 135). Die sachliche Unterordnung des Mandatars betonen deutlicher Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) S. 312; Obermayer, J Z 1956 S. 625 ff. (626, 629); Rasch, Die Festlegung u n d Veränderung staatlicher Zuständigkeiten, D Ö V 1957 S. 337 ff. (339); Fröhler, Gutachten S. 11 f.; Kratzer, DVB1. 1963 S. 310, u n d bereits das Pr.OVG, U r t . v o m 11.5.1896, A S 30, S. 290 ff. (292). — Andere Akzente setzt die Begriffsbildung bei H. J. Wolff, Verwaltungsrecht I I § 72 I V b 5 S. 19. 18 S. o. § 2 m i t A n m . 4 ff. 10 Dies ergibt sich nicht zuletzt aus der A n w e n d u n g der Unterscheidung durch Triepel selbst, der die Staatsservituten u n d bestimmte Verwaltungsanschlüsse der Einzelstaaten als Delegationen qualifiziert (Delegation und Mandat S. 102). — I m Ergebnis ebenso Fröhler, Gutachten S. 11 f., u n d Kölble, N J W 1962 S. 1084, der den Unterschied zwischen Delegation u n d Mandat f ü r irrelevant e r k l ä r t ; zurückhaltend gegenüber dieser Unterscheidung auch Zeidler, Gutachten S, 49, u n d Bachof, Gutachten S. 56 f. 20 Α. A . Gross, N J W 1967 S. 10031; v. Stralenheim, Bay.VBl. 1962 S. 70 ff. 21 Ebenso bereits Grawert, Verwaltungsabkommen S. 189. 22 A. A . Maunz - Dürig, GG, A r t . 20 Rdnr. 18; Geiger, B a y V B l . 1957 S. 303 f.; ähnlich Gross, N J W 1967 S. 1002. Kritisch bereits Darmstadt, Mischverwalt u n g S. 84 f.
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1. Teil: Die Vereinbarung von Zuständigkeitseränderungen
Maunz versucht nachzuweisen, daß die Mehrzahl der hier als zuständigkeitsverändernd registrierten Abkommen die „verfassungsmäßige Staatsgewalt" unberührt lasse, w e i l sie nur das „Dürfen", nicht aber das „Können" betreffe: die treuhänderische Betrauung m i t Wahrnehmungszuständigkeiten enthalte keine Preisgabe von Kompetenzen; der Kompetenzträger beschränke sich darauf, fremde Hoheitsausübung i m eigenen Bereich zu dulden. Es handele sich daher lediglich u m einen „Verzicht auf den Ausschließlichkeitsanspruch" und u m die bloße Verpflichtung, „sich der Wahrnehmung des Hoheitsrechts zu enthalten" 2 8 . Indessen ist damit die Problematik nur verschoben. Zuständigkeitsveränderungen greifen nicht deshalb i n die „Einheit der Staatsgewalt" ein, weil sie m i t der i n der Tat mißverständlichen Metapher der „Übertragung" von „Teilen" der substanzhaft vorgestellten Staatsgewalt umschrieben werden 2 4 . Entscheidend ist vielmehr, daß i n diesen Fällen der Staat eine fremde Einheit ermächtigt, seine Aufgaben i n eigener Sachverantwortung und durch ihre eigenen Institutionen zu erfüllen. Ein Staat, der auf diese Weise auf seinen „Ausschließlichkeitsanspruch" „verzichtet", verzichtet i n gleichem Maße auf seine Eigenschaft, ein „geschlossener", „sich ausschließlich unter seinen eigenen Rechtssetzungsw i l l e n stellender Staat" 2 5 zu sein — eine Eigenschaft, die Maunz dem Bund und den einzelnen Ländern generell i m Wege der Staatenstaatstheorie und speziell m i t der Vorstellung attestiert, die hier untersuchten Vereinbarungen beträfen „ n u r " das Dürfen, nicht aber das Können. Denn diese Unterscheidung läßt sich allein für geschlossene staatliche Einheiten behaupten, die ihren souveränen Willen gegenüber rechtlichen Bindungen durchsetzen „können", sich also der (effektiven, nicht einseitig aufihebbaren) Einordnung i n eine internationale Gemeinschaft oder — i m eigenen Zuständigkeitsbereich — der Einordnung i n ein bundesstaatliches Gesamtgefüge entziehen 2511 . Handlungsermächtigun23
Maunz, Übertragung staatlicher Hoheitsrechte, Bay.VBl. 1965 S. 158 f.
u
Barbey , Rechtsübertragung u n d Delegation S. 32 ff., weist nach, daß es sich bei der Delegation nicht u m ein Übertragungsproblem, sondern u m ein ErmächtigungspToblem handelt. A . A . Bachof, Gutachten S.48; B V e r w G E 22, 299 (309). 25 ,e
Vogel, Internationale Zusammenarbeit S. 35.
* Vgl. Vogel, Internationale Zusammenarbeit S. 18 ff.; Schröcker, Das v e r tragswidrige Gesetz, D V B l . 1958 S. 369 ff., 410 ff. (369 f.), m i t Nachw. zur dualistischen Theorie über das Verhältnis des Völkerrechts zum staatlichen Recht, die der Unterscheidung von Können u n d Dürfen i m zwischenstaatlichen Recht letztlich zugrunde liegt. Vgl. ferner die herrschende Interpretat i o n des A r t . 24 GG, die m i t Rücksicht auf das „ K ö n n e n " des souveränen Staates „schon rein begrifflich" einen „endgültig w i r k e n d e n Kompetenzverzicht" ausschließt (näher Sattler, Das Prinzip der „funktionellen Integration" S. 55 m. w . Nachw,). — Die zivilrechtliche u n d verwaltungsrechtliche U n t e r scheidung beider Begriffe ist i m vorliegenden Zusammenhang unergiebig: Sie räumt i m Interesse der Rechtsklarheit u n d der Rechtssicherheit der gegen-
§ 4 Die Sachverantwortung der einzelnen Länder und des Bundes
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gen einer geschlossenen staatlichen Einheit an andere Staaten bedürfen nach all dem auch dann einer besonderen verfassungsrechtlichen Grundlage, wenn man den Begriff der „Übertragung" von Zuständigkeiten vermeidet. Speziell auf das Problem der Ingerenzen zugeschnitten ist die These Maunz', i n der „gemeinsamen Ausübung" sei „eine Aufrechterhaltung und Betätigung der eigenen Zuständigkeit zu sehen" 26 . Ebenso hält Geiger am Verbot der Verfügung über Kompetenzen fest und meint gleichwohl, Bund und Länder könnten ihre Kompetenzen „zur Verwirklichung des gemeinsamen Werkes i n das gemeinsame Unternehmen einbringen und . . . sich hinsichtlich der A r t der Ausübung ihrer Kompetenzen binden" 2 7 . Auch Herzog sieht i n diesem Verfahren keine „Kompetenzverschiebung", sondern eine verfassungskonforme Möglichkeit, die „großen staatlichen Aufgaben der Gegenwart i m Einvernehmen zwischen dem Bund und den Ländern i n Angriff" zu nehmen 28 . Die praktische Bedeutung dieser Thesen ist kaum zu überschätzen. Sind sie doch der dogmatische Ausdruck jener „Staatsidee des Kooperativen Föderalismus" 29 , die „keine Teilung der Verantwortung, sondern letztlich nur die gemeinsame Verantwortung aller" 3 6 kennt. Der Wortlaut des Grundgesetzes enthält diese „gemeinsame Verantwortung aller" nicht. Auch i n der Verfassungsgeschichte ist sie nicht zu finden. Wenn Maunz meint, diese Form der Zusammenarbeit sei „rechtlich nichts Neues" und „ i m Wesen des Bundesstaates, i n der bundesstaatlichen Tradition Deutschlands und i n der geschriebenen Verfassung der Bundesrepublik angelegt" 31 , so überrascht dies um so mehr, als er noch 1960 zum Grundgesetz die Auffassung vertrat: „Der Verfassungsgeber wollte ersichtlich die Vielgestaltigkeit 3 2 ." Allerdings könnte sich eine „gemeinsame Verantwortung" aus ungeschriebenem über jedermann wirkenden Rechtszuständigkeit den Vorrang ein gegenüber der inter partes wirkenden Verpflichtung (vgl. etwa B G H N J W 1966 S. 1911 zum Vollmachtsmißbrauch). 29 Maunz, Staatsrecht S. 191. 27 Geiger, Föderalismus i n der Verfassungsordnung der BRD, a.a.O. S. 18. 28 Herzog, JuS 1967 S. 199. 29 Hüttl, Kooperativer Föderalismus u n d „Gemeinschaftsaufgaben", a.a.O. S. 45. *. »f v j 80 v.d.Heydte, i n : Föderalistische Ordnung S. 131 f. Ä h n l i c h Meyers, i n : Föderalistische Ordnung S. 43, 54, 56; Geiger, i n : Föderalistische Ordnung S. 126, unter Berufung auf das „Verfassungsprinzip bundesfreundlicheh V e r haltens". Ansätze bereits bei Berthold Müller, Die Beziehungen der Gliedstaaten i m Bundesstaatsrecht (1936) S. 97: Aus dem „ S i n n der Bundesordnung" folge, daß auch i m Bereich der ausschließlichen Landesgesetzgebung „wichtige Fragen des gemeinsamen Lebens gemeinsam geordnet werden" müßten. 81 Maunz, Staatsrecht S. 191. 82 Maunz, i n : K u l t u r p o l i t i k der Länder, 1960, hrsg. von der K M K , S. 4.
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1. Teil: Die Vereinbarung von Zuständigkeitseränderungen
Recht ergeben. Sie müßte dann insbesondere aus der grundsätzlichen Zuordnung von Bund und Ländern zu entwickeln sein. Aber gerade ein solches ungeschriebenes Zuordnungsrecht verneint die auch von Maunz vertretene herrschende Staatenstaatstheorie: Durchbrechungen der impermeablen Einheiten können sich für sie nur aus speziellen Ermächtigungen des positiven Verfassungsrechts ergeben (oben § 4, 1.). Die generelle Zulässigkeit der Beteiligung mehrerer (in der Zuständigkeitsnorm nicht genannter) Einheiten an der Ausübung einer Kompetenz des Zuständigkeitsträgers ist aber auch deshalb nicht selbstverständlich, w e i l die Zuweisung öffentlicher Kompetenzen herkömmlich Auferlegung öffentlicher Verantwortung bedeutet, und zwar i n vollem Umfang der eingeräumten Handlungsfreiheit. Dem entsprechend hält Krüger die Zuständigkeitsordnung für verletzt, „wenn innerhalb der zuständigen Stelle sich mehr Amtsträger an der Entscheidung beteiligen, als vorgesehen ist" 8 5 . Dieser Gesichtspunkt leitet über zum K e r n der Problematik gemeinschaftlicher Kompetenzausübung kraft ungeschriebenen Rechts: Sollte das geltende Verfassungsrecht sie grundsätzlich und generell anerkennen, so wäre die staatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland i m Grundsatz nicht auf verantwortliche und kontrollierbare Aufgabenerfüllung angelegt, sondern auf die Verflechtung staatlicher Entscheidungsbefugnisse zu einer grundsätzlichen Kompromißstruktur 3 4 . Die politische Gestaltungsfreiheit und m i t ihr die demokratische Mitbestimmung und Kontrolle i m Bund und i n den einzelnen Ländern würden generell zurücktreten hinter dem Recht der Vertragspartner — insbesondere der Exekutivspitzen —, ihre Sachverantwortung untereinander zu teilen 3 5 . Der Beweis für diesen Inhalt des geltenden Verfassungsrechts ist zwar nicht erbracht worden. Die referierten Thesen zeigen jedoch die Konsequenzen auf, die entstehen, wenn praxisferne Aussagen über die Grundlagen der öffentlichen Ordnung — hier die staatenstaatliche Interpretation des Bundesstaates — allein nach praktischen Bedürfnissen, d. h. ohne juristische Kontrolle, korrigiert wer33
Krüger, Staatslehre S. 109, A n m . 121. Praktisch bedeutet dies die institutionalisierte Angleichung der p o l i tischen I n i t i a t i v e n an das Niveau des leistungsschwächsten u n d den Status quo am nachhaltigsten verteidigenden Partners, Thursby, Interstate Cooperation S. 136. Vgl. etwa die Aufforderung Biedenkopfs i n seiner Eigenschaft als Vorsitzender der nordrhein-westfälischen Landesrektorenkonferenz, Nordrhein-Westfalen solle das „ K a r t e l l der K u l t u s m i n i s t e r " durchbrechen u n d ein eigenes Gesamtkonzept f ü r die Bildungsfragen vorlegen u n d m i t seiner V e r w i r k l i c h u n g beginnen, SZ Nr. 148 v. 20.6.1968 S. 4. 35 Z u m Zusammenhang zwischen demokratischer Ordnung u n d verfassungsrechtlich eindeutig fixierter Verantwortung s. BVerfGE 9, 268 (281) u n d Werner Weber, Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem S. 62; H. Schneider, W D S t R L 19 S. 163; Scheuner, D Ö V 1965 S. 545; Forsthoff, S t r u k t u r w a n d e l der modernen Demokratie S. 20 f. 34
§ 4 Die Sachverantwortung der einzelnen Länder und des Bundes
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den 8 5 a . Diese Konsequenzen werden besonders deutlich, wenn hierbei formale Kriterien verwandt werden. Denn die Vorstellung, jede gemeinsame Ausübung einer Kompetenz sei statthaft, differenziert nicht nach dem politischen Gewicht der Kompetenz, nach der Intensität demokratischer Kontrolle, kurz: nach dem verfassungsrechtlichen Sinngehalt einer gegliederten Kompetenzordnung. Inhaltliche Korrekturen des grundgesetzlichen Delegationsverbots sind von zahlreichen Autoren vertreten worden, allerdings gleichfalls ohne durchgreifende Begründung. Die Verfassungswidrigkeit der Zusammenarbeit soll sich beispielsweise auf Zuständigkeitsvereinbarungen beschränken, die „wesentliche" Angelegenheiten betreffen 86 . A n dere Autoren stellen darauf ab, ob die Angelegenheiten „äußerst wicht i g " sind 8 7 , ob sie „ureigenste" 3 8 des Staates sind bzw. solche, „die ein Staat eigenständig erfüllen muß, wenn er überhaupt als Staat gelten w i l l " 8 9 . Auch soll es darauf ankommen, ob die Zuständigkeitsvereinbarung nur den „Randbereich der Zuständigkeit" 4 0 zum Gegenstand hat. Wieder andere wollen das Delegationsverbot erst dort gelten lassen, wo die Zuständigkeitsvereinbarung zur „umfassenden zwischenländerrechtlichen Selbstentmündigung" 41 , zur „Aushöhlung" der Landeshoheit zur „bloßen Scheinexistenz" 42 , zur „bundesfernen und bundesfeindlichen Absonderung" 4 3 der Länder führen würde. Schließlich soll die Grenzlinie zwischen zulässiger und unzulässiger Delegation danach gezogen werden, ob die Delegation „von der Sache her gerechtfertigt" ist 4 4 . Wann dies der Fall ist, bleibt allerdings ebenso ungewiß wie die „Wesentlichkeit" und die „äußerste Wichtigkeit" einer Aufgabe 4 5 . Hierbei liegt die Problematik weniger i n der Verwendung unbestimmter Begriffe als vielmehr i m Fehlen jeglicher Konkretisierungsmaßstäbe. Solche Maßstäbe fehlen jedoch nicht zufällig. Denn die inhaltlichen Eingrenzungsversuche sind nicht aus der Problematik selbst, aus dem Sinn85a
S. ο. § 1 m i t A n m . 15. H. Schneider, W D S t R L 1 9 S. 22 u. Ls. 5 b ; Krapp, Gemeinsame Ländereinrichtungen S. 59, 104; Maunz, Staatsrecht S. 253; Gross, N J W 1967 S. 1002 f.; Sturm, D Ö V 1968 S. 472. 87 Kratzer, DVB1.1963 S. 311. 88 Krapp, Gemeinsame Ländereinrichtungen S. 124 (Ziff. 14). 89 P. Schneider, Gutachten S. 46. 40 Knoke, Kultusministerkonferenz S. 48. 41 Bachof, Gutachten S. 49. 42 Gutachten zur Neugliederung S. 106 (Ziff. 7). 48 Bay.VGH, Bay.VBl. 1964 S. 332 (336 f.). 44 Geller - Kleinrahm - Fleck, Die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen S. 146. 45 Z u r Bewertung der Anstalt Z D F anhand dieser „Maßstäbe" s. Kratzer, DVB1. 1963 S. 341, einerseits u n d Bachof, Gutachten S. 49, sowie P. Schneider, Gutachten S. 57, andererseits. 86
4 Hempel
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1. Teil: Die Vereinbarung von Zuständigkeitseränderungen
gehalt des bundesstaatlichen Zuordnungsrechts heraus entwickelt worden, sondern sie sind pragmatische Bewertungen einer Praxis, deren Zweckmäßigkeit anerkannt wird, deren Verfassungswidrigkeit aber aufgrund des juristischen Ausgangspunkts, nämlich der staatenstaatlichen Isolierung von Bund und Ländern, hingenommen werden müßte, wenn nicht nachträglich Grenzen dieser Deduktion behauptet würden. Den pragmatischen Rückgriff auf die Zweckmäßigkeit hat bereits der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich offen ausgesprochen: Vereinbarte Zuständigkeitsveränderungen seien zwar grundsätzlich verfassungswidrig, da die Reichsverfassung die Kompetenzräume von Reich und Ländern scharf voneinander abgegrenzt habe. A u f die Zuständigkeitsvereinbarungen, die zur Rationalisierung der Verwaltung der Reichswasserstraßen beitrugen, sollte diese Rechtserkenntnis gleichwohl nicht angewendet werden dürfen. Denn: dem widerspräche „die besondere Gestaltung der Flußläufe Deutschlands" 46 . Ähnliche Erwägungen finden sich i n neuerer Zeit auch i m Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs über die Verfassungsmäßigkeit des „Zweiten Deutschen Fernsehens": Es dürften „dem Grundgesetz nicht entwicklungsfeindliche Tendenzen unterstellt werden" 4 7 . Dem entspricht die Beschwörung der „Weiträumigkeit" moderner Entwicklungen, die die „herrschenden Wertvorstellungen" prägten und daher bundesstaatliche Zäsuren überwänden 4 8 . Von hier aus ist es nicht weit bis zur Mahnung, „nicht ängstlich Zuständigkeiten zu hüten, sondern die durch diese Zuständigkeiten gezogenen Grenzen . . . zu überwinden" 4 9 , und bis zum Appell an die Länder, „so eng zusammenzuarbeiten, als gäbe es keine Ländergrenzen" 60 . Es scheint, als räche sich das Grundgesetz dafür, daß seinem Bundesstaatsrecht ein isoliertes Nebeneinander selbständiger Staaten unterstellt wurde: Es dankt ab.
§ 5 Die Zuordnung gemeinschaftlicher Einrichtungen Den Appellen zu verstärkter Zusammenarbeit — genauer: dem Zwang sachlicher Interdependenzen und der Notwendigkeit kostensparender Rationalisierung — hat die Praxis nicht zuletzt durch Schaffung gemeinschaftlicher Einrichtungen Rechnung getragen. Auch hier ent46
R S t G H i n : RGZ 112 Anh. S. 33 (43). Bay.VBl. 1964 S. 332 ff. (336). Vgl. i n diesem Zusammenhang auch die Beweisführung bei Kölble, Gemeinschaftsaufgaben zwischen B u n d u n d L ä n dern, a.a.O. S. 33. 48 Krapp, Gemeinsame Ländereinrichtungen S. 79, 82 f. 49 v. d. Heydte, i n : Föderalistische Ordnung S. 131. 50 So der Hamburgische Bürgermeister Engelhard, F A Z Nr. 134 v. 12. 6.1964 S. 1. Ähnliche Postulate werden kritisch referiert bei Grawert, Verwaltungsabkommen S. 155. 47
§ 5 Die Zuordnung gemeinschaftlicher Einrichtungen
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stehen die zuvor erörterten Fragen der Verminderung der Sachverantwortung. Hinzu t r i t t jedoch die Problematik der institutionellen Eingliederung der gemeinschaftlichen Einrichtung i n das bundesstaatliche Gefüge (vgl. oben § 2, 3.). Über die Notwendigkeit dieser Eingliederung besteht nahezu Einmütigkeit 1 . Das Verbot institutionell „freischwebender" Einrichtungen ergibt sich zwar nicht aus der Absage des Grundgesetzes an das Modell des „dreigliedrigen" Bundesstaates 2 , welches lediglich die rechtliche Differenz zwischen dem Bund und der bundesstaatlichen Gesamtheit behauptet. Wohl aber ergibt es sich aus A r t . 30 GG. Nur der Bund und die einzelnen Länder sind als letztinstanzliche Subjekte für die Erfüllung staatlicher Aufgaben und Ausübung staatlicher Befugnisse anerkannt 2 4 . Alles staatliche Handeln muß i n letzter Instanz diesen Einheiten zugerechnet werden können 3 . Hieraus folgt ohne weiteres die Verfassungswidrigkeit von Kooperationsformen, die eine solche Zurechnung nicht gestatten, sondern dazu zwingen, die Trägerzuständigkeit einer neben Bund und Ländern stehenden Gemeinschaft, einer „dritten Ebene", zuzurechnen und von ihr den institutionellen Status der gemeinsamen Einrichtung abzuleiten 4 . Umstritten ist jedoch, ob sämtliche staatlichen Einrichtungen und m i t ihnen sämtliche Wahrnehmungszuständigkeiten ausschließlich entweder dem Bund oder einem einzelnen Land zugeordnet sein müssen. Wäre diese Frage zu bejahen, so wären die zahlreichen, oben (§ 2, 3.) erwähnten gemeinschaftlichen Einrichtungen, die die Trägerzuständigkeiten mehrerer bundesstaatlicher Einheiten wahrnehmen und ihren Status von ihnen ableiten, verfassungswidrig 5 . Für die herrschende Auffas1 Röttgen, JöR 3 (1954) S. 1461; Ders., JöR 11 S. 306; H. Schneider, V V D S t R L 19 (1961) S. 22; Ders., Gutachten (1963) S. 16 ff., 24; Geller - RleinrahmFleck, a.a.O. S. 418; Zeidler, Gutachten S. 43; Forsthoff, Gutachten S. 1 9 1 ; Rölble, N J W 1962, S. 1083; Maunz, Staatsrecht S.232; Rratzer, DVB1.1963 S. 3121; Forsthoff, Gutachten S. 22; Scheuner, D Ö V 1966 S. 518; Rommission für die Finanzreform, Gutachten Tz. 41; Grawert, Verwaltungsabkommen S. 262, 271; weitere Nachw. bei Zeidler, Gutachten S. 36. 2 So jedoch Rölble, N J W 1962 S. 1083; Sturm, DÖV 1968 S. 472. 2a Α. A . Roellenbleg, DÖV 1968 S. 227: i n A r t . 30 habe das Grundgesetz den Ländern die staatlichen Aufgaben „zur gesamten H a n d " zugewiesen. Daß es dem Grundgesetz u m die einzelnen Länder geht, ergibt sich bereits aus A r t . 23, 29 Abs. 1 S. 2 GG. 3 Α. A . anscheinend P. Schneider, Gutachten S. 38, der einen „kooperativen vielheitlichen Gesamtwillen" als letztinstanzliche Zurechnungseinheit neben B u n d u n d Ländern anerkennt. I m Ergebnis ähnlich Monz, Das Verhältnis der Bundesländer untereinander S. 4 9 1 Monz überträgt das Gemeindeverbandsrecht auf das Verhältnis der Länder untereinander, ohne jedoch darzulegen, welchen verfassungsrechtlich anerkannten „Muttergemeinwesen" die „Zweckverbände" der Länder zugeordnet sein sollen. 4 S. o. § 2 m i t A n m . 63. 5 Nachweise zum Stand der Meinungen bei Grawert, Verwaltungsabkommen S. 270 A n m . 114.
4*
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1. Teil: Die Vereinbarung von Zuständigkeitsveränderungen
sung, daß der Bundesstaat des Grundgesetzes ein aus Staaten zusammengesetzter Staat sei, ist diese Konsequenz aus zwei Gründen unabweisbar. Gemeinschaftliche Einrichtungen i m oben umschriebenen Sinne sind nur denkbar, wenn die Vertragspartner die Wahrnehmung ihrer Rechtsaufsichtszuständigkeiten zumindest partiell delegieren, d. h. den anderen Ländern bzw. dem Bund Ingerenzen bei der Ausübung der Rechtsaufsicht einräumen 6 . Insoweit stellt sich erneut das Problem des generellen Delegationsverbots. Die Sachverantwortung für die Ausübung der Rechtsaufsicht kann ebensowenig wie die Sachverantwortung für die Erfüllung materieller Aufgaben delegiert werden, ohne daß die impermeablen Einheiten des Staatenstaates durchbrochen würden. Für die bloße Einräumung von Ingerenzen gilt nichts anderes: Die Zulässigkeit gemeinschaftlicher Wahrnehmung einer Trägerzuständigkeit ist bislang unbewiesen geblieben 7 . Die Unzulässigkeit gemeinschaftlicher Einrichtungen folgt für die Staatenstaatstheorie noch aus einem weiteren Grund. Jede bundesstaatliche Einheit, der Bund und die einzelnen Länder, sind als selbständige Staaten zugleich selbständige Demokratien. Ihre Staatsgewalten gehen von jeweils besonderen, ausschließlich ihnen zugeordneten Staatsvölkern aus. Institutionelle Eingliederung einer staatlichen Einrichtung bedeutet vor allem Ableitung ihres öffentlichen Status vom „Träger der Staatsgewalt", i n der demokratischen Ordnung also vom Staatsvolk (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG). Da diese Verbindung für Verwaltungseinheiten zumindest durch die Rechtsaufsichtskompetenz eines Verfassungsorgans (der Regierung) hergestellt wird, bedeutet die Delegation der Rechtsaufsicht den Verlust der demokratischen Legitimität dieser Verwaltungseinheit und damit den Verlust ihrer Fähigkeit, Befugnisse des demokratischen Staates auszuüben 8 . Die demokratische Ordnung der Bundesrepublik Deutschlands muß daher i m Rahmen der Staatenstaatstheorie eine Verschärfung der bundesstaatlichen Zäsuren bewirken. Institutionelle Ausgliederungen durchbrechen nicht nur die Einheit der Staatsgewalt, sondern verkürzen speziell auch die demokratische Legitimität. Denn das andere Land, das an der Wahrnehmung der Rechtsaufsichtskompetenz beteiligt wird, ist für den Deleganten ein fremder Staat m i t eigener, nur ihn kennzeichnender demokratischer Legitimitätsgrundlage. Die Vorstellung, « S. o. § 2 m i t A n m . 42 f., 54 f. 7 S. o. § 4 m i t A n m . 26 ff. 8 Ä h n l i c h Röttgen, Das anvertraute öffentliche A m t , a.a.O. S. 135; Bachof, Gutachten S. 47; Fröhler, Gutachten S. 18; Forsthoff, Gutachten S. 47 f.; Geller - Rleinrahm - Fleck, Die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen S. 416; Grawert, Verwaltungsabkommen S. 235, 270, 277; Roellenbleg, F i l m bewertungsstelle S. 109; Ders., D Ö V 1968 S. 230.
§ 5 Die Zuordnung gemeinschaftlicher Einrichtungën
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daß das andere Land auf derselben demokratischen Legitimitätsgrundlage beruhen könnte, ist i m Rahmen der Staatenstaatstheorie unvollziehbar, muß doch bei demokratischer Ordnung jedem Staat ein eigenes Staatsvolk m i t eigener verfassunggebender Gewalt zugeordnet sein. Sollte demgegenüber der konkrete Befund ergeben, daß die einzelnen Länder der Bundesrepublik Deutschland nicht auf selbständigen verfassunggebenden Gewalten ihrer „Landesvölker" beruhen 9 , so dürfte nicht etwa eine besondere Form des demokratischen Bundesstaates festgestellt werden, sondern die Bundesstaatlichkeit selbst wäre aufgehoben und dem Einheitsstaat gewichen. Schon deshalb ist i m demokratischen Bundesstaat die gesonderte Eingliederung der staatlichen Einrichtungen i n die Einheiten der einzelnen Länder oder des Bundes unverzichtbar und eine Zuordnung zu mehreren Einheiten unzulässig. Die bundesstaatlichen Zäsuren werden durch die demokratische Komponente des Grundgesetzes noch vertieft, wenn der Satz: „alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" nicht nur als Aussage über die Legitimität staatlicher Einrichtungen verstanden wird, sondern auch als Aussage über die konkrete, sachliche Bestimmungsmacht der „Staatsvölker". Wäre i n diesem Sinne das Problem der „Übertragung von Hoheitsrechten" ein „Problem der Volkssouveränität" 1 0 , so würde die „unveräußerliche" Volkssouveränität jeder Zuständigkeitsveränderung über Landesgrenzen hinweg entgegenstehen. Denn die Staatsorgane würden sich andernfalls die Befugnis anmaßen, „aus eigener Vollmacht Rechte des souveränen Volkes durch Staatsverträge zu beschränken oder auf sie zu verzichten" 11 . Nicht nur für das Problem der gemeinschaftlichen Einrichtungen, sondern für sämtliche Zuständigkeitsvereinbarungen würde die demokratische Ordnung die These der Staatenstaatstheorie unterstützen, der Bund und die einzelnen Länder seien selbständige Staaten und Durchbrechungen ihrer impermeablen Einheiten seien allenfalls kraft spezieller verfassungsgesetzlicher Ermächtigung zulässig. Diese speziellen Ermächtigungen fehlen jedoch i m Regelfall. Da der Bund und die Länder gleichwohl i n zahlreichen Abkommen Zuständigkeitsveränderungen vereinbart haben, hat der Verfassungsinterpret nach all dem eine weithin verfassungswidrige Staatspraxis festzustellen — vorausgesetzt allerdings, daß die bundesstaatliche Ordnung m i t der herrschenden Lehre als Staatenstaat verstanden werden dürfte. Die Tragfähigkeit des Staatenstaatsarguments ist daher Gegenstand der folgenden Untersuchung. Sollte sich die herrschende Lehre als unrichtig erweisen, so w i r d weiter zu fragen sein, wie der Satz, die Bundesrepu• Vgl. unten § 16,2. 10 Bachof, Gutachten S. 49; Forsthoff, 11 Bachof, Gutachten S. 47.
Gutachten S. 4, 47.
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1. Teil: Die Vereinbarung von Zuständigkeitsveränderungen
blik Deutschland sei ein „demokratischer Bundesstaat", auszulegen ist. Dieser Frage w i r d vor allem unter dem Gesichtspunkt nachzugehen sein, ob der „demokratische Bundesstaat" eine Zuordnung von Bund und Ländern normiert, die Zuständigkeitsvereinbarungen nicht grundsätzlich entgegensteht. Wäre eine solche Zuordnung festzustellen, so würde die Verfassungsinterpretation über eine Grundlage verfügen, von der aus die zahlreichen weiteren, hier ausgeklammerten Argumente zur zuständigkeitsverändernden Zusammenarbeit sinnvoll diskutiert werden könnten.
Zweiter
Teil
D i e Theorie des Staatenstaates Die herrschende Lehre gewinnt ein wesentliches und schlüssiges Argument gegen die Zulässigkeit zuständigkeitsverändernder Zusammenarbeit i n der Bundesrepublik Deutschland aus der Qualifizierung des Bundesstaates als Staatenstaat. Diese Qualifizierung ist nicht das Ergebnis einer Auslegung des Grundgesetzes, sondern beruht auf der Übernahme eines theoretischen Modells. Aus den einleitend genannten Gründen soll diese Theorie jedoch nicht bereits aufgrund ihrer verfehlten hermeneutischen Fragestellung abgewiesen werden 1 . Vielmehr ist ihre Tragfähigkeit sowohl von ihren eigenen Voraussetzungen aus als auch auf der Grundlage des geltenden Verfassungsrechts zu untersuchen2. Dabei w i r d vor allem zu erörtern sein, ob die Annahme tragfähig ist, daß der Bund und die einzelnen Länder sich als geschlossene Staatsgewalten trennscharf gegenüberstehen.
Erstes Kapitel
Der Staatenstaat in Schrifttum und Rechtsprechung § 6 Definitionen und Grundlagen Die gegenwärtig herrschende Bundesstaatslehre ist i m ausgehenden 19. und i m beginnenden 20. Jahrhundert formuliert und auf den Grundlagen der damals erarbeiteten Staatstheorie entwickelt worden. Es ist daher zunächst der Zusammenhang aufzuzeigen, der zwischen jenen Grundlagen, die ihren dogmatischen Ausdruck in der Lehre von der Rechtspersönlichkeit des Staates fanden, und der bundesstaatsrechtlichen Begriffsbildung besteht. 1
S. ο. § 1 m i t A n m . 5 u. 6. Eine weitergehende Untersuchung der Bundesstaatstheorien bringen i n neuerer Zeit die Arbeiten von Martin Usteri, Theorie des Bundesstaates, 1954; Burkhard Hirsch, Der Begriff des Bundesstaates i n der deutschen Staatsrechtslehre, eine dogmengeschichtliche Untersuchung, 1961; Walter Schmidt, Der bundesstaatliche A u f b a u der Bundesrepublik Deutschland, 1961; Jürgen Harbich, Der Bundesstaat u n d seine Unantastbarkeit, 1965. 2
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
„ D e r B u n d e s s t a a t i s t e i n Gesamtstaat, k ö r p e r s c h a f t l i c h z u s a m m e n g e f ü g t aus einfachen Staaten, d i e einerseits i h m u n t e r w o r f e n , andererseits b e t e i l i g t s i n d b e i d e r B i l d u n g seines W i l l e n s 3 . " Diese v o n Anschütz form u l i e r t e D e f i n i t i o n s t e l l t Friedrich Klein z u s t i m m e n d i n d e n M i t t e l p u n k t seiner K o m m e n t i e r u n g d e r B u n d e s s t a a t l i c h k e i t des G r u n d g e s e t zes u n d b e r u f t sich h i e r f ü r a u f die „ Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t der h e u t e herrschenden L e h r e " 4 . Bereits zur Zeit der W e i m a r e r Verfassung w u r d e Anschütz' B u n d e s s t a a t s t h e o r i e als „ p r ä z i s e D a r s t e l l u n g " der „ h e r r s c h e n den, i n d i e B e g r i f f s w e l t d e r deutschen J u r i s t e n s c h a f t e i n g e b ü r g e r t e n L e h r e " bezeichnet 5 . Z u m i n d e s t f ü r die g r u n d l e g e n d e Aussage dieser D e f i n i t i o n , daß d e r B u n d e s s t a a t aus S t a a t e n zusammengesetzt sei, daß m i t h i n insbesondere d i e L ä n d e r S t a a t e n seien, t r e f f e n j e n e F e s t s t e l l u n g e n z u : D i e L e h r e v o n d e m aus S t a a t e n zusammengesetzten S t a a t f i n d e t die Z u s t i m m u n g der höchstrichterlichen Rechtsprechung6 u n d w i r d v o n der K o m m e n t a r l i t e r a t u r z u m Grundgesetz e i n m ü t i g g e b i l l i g t 7 sowie v o n e i n e r d e u t l i c h e n M e h r h e i t des ü b r i g e n S c h r i f t t u m s v e r t r e t e n 8 ' 9 . 3 Anschütz, Das System der rechtlichen Beziehungen zwischen Reich u n d Ländern, HdbDStR (1930) I S. 295. 4 υ. Mangoldt - Klein, Das Bonner Grundgesetz (1957), Erl. I I I 2 zu A r t . 20, S. 588. 5 Thoma, Das Reich als Bundesstaat, HdbDStR I S. 172 A n m . 6. • BVerfGE 1, 14 (34); 12, 205 (255); B V e r w G E 22, 299 (306); 17, 43 (51). 7 Wernicke, Bonner Kommentar, 1. Bearbeitung (1950), A r t . 28 Erl. I I l b ; Hamann, Grundgesetz (1956) S. 41 ; v. Mangoldt - Klein, Bonner Grundgesetz (1957) A r t . 20 I I I 2, 3 a S. 588 f. Maunz - Dürig, Grundgesetz (1959), A r t . 20 Rdnrn. 5, 11; Giese - Schunck, Grundgesetz, 7. Aufl. 1965, A r t . 20, I I 2; Stern, Bonner Kommentar, 2. Bearbeitung (1964), A r t . 28 N. 4; Schmidt - Bleibtreu Klein, Kommentar zum Grundgesetz (1967), A r t . 20 Rdnrn. 3, 4; K. Brinkmann, Grundrechtskommentar zum Grundgesetz (1967), A r t . 20 A n m . I 1 d. • Süsterhenn - Schäfer, K o m m e n t a r der Verfassung f ü r Rheinland-Pfalz, o. J. (1950), Erl. 2 b zu A r t . 74 S. 301; Vogels, Die Verfassung f ü r das L a n d Nordrhein-Westfalen (1951), Erl. 3 zu A r t . 1, S. 30; Spreng - Bim - Feuchte, Die Verfassung des Landes Baden-Württemberg (1954), Erl. 9 vor A r t . 23, S. 112 f.; Ipsen, Hamburgs Verfassung u n d V e r w a l t u n g (1956) S. 238; Spitta, Kommentar zur bremischen Verfassung (1960) S. 136; Geller - Kleinrahm Fleck, Die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl. (1963), Erl. 2 zu A r t . 1, S. 41 ff.; Zinn - Stein, Verfassung des Landes Hessen (1963 ff.), E i n f ü h r u n g S. 40; Pötter, Verfassung u n d V e r w a l t u n g des Landes NordrheinWestfalen, i n : Loschelder - Salzwedel, Verfassungs- u n d Verwaltungsrecht des Landes Nordrhein-Westfalen (1964) S. 28; Nawiasky - Leusser - Schweiger - Zacher, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Aufl. (1964 ff.), A r t . 1 Rdnr. 4. Mosler, Die völkerrechtliche W i r k u n g bundesstaatlicher Verfassungen, i n : Festschr. f. Thoma (1949) S. 143 ; Nawiasky, Die Grundgedanken des G r u n d gesetzes (1950) S. 36; Jerusalem, Zentralismus u n d Föderalismus, i n : Festschr. f. Laforet (1952) S.48; Krüger, A r t . Souveränität, i n : H d S W 9 (1956) S.308 ( I 1); Jaenicke, A r t . Staatenverbindungen, i n H d S W 9 S. 730; Zeidler, A u s führung von Landesgesetzen durch Bundesbehörden, D V B l . 1960 S. 573 ff. (574); Hugelmann, Die Grundgedanken unserer Verfassung i n historischer Beleuchtung (1961) S. 18; v. d. Heydte, i n : Föderalistische Ordnung (1961) S. 132; Meyers, i n : Föderalistische Ordnung S. 47; H.E. Giese, Staatsverträge u n d Verwaltungsabkommen (1961) S. 55; Schäfer, Wie steht es u m unsere
§ 6 Definitionen und Grundlagen
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N e b e n d e n L ä n d e r n bezeichnet d i e v o n d e r h e r r s c h e n d e n A u f f a s s u n g v e r t r e t e n e D e f i n i t i o n auch d e n „ B u n d e s s t a a t " als e i n e n Staat, u n d z w a r als „ G e s a m t s t a a t " . D e r B e g r i f f „ B u n d " b l e i b t i n d e r D e f i n i t i o n u n e r w ä h n t — eine E i g e n t ü m l i c h k e i t , die noch z u e r ö r t e r n sein w i r d . E i n e w e i t e r e V e r d e u t l i c h u n g e r f ä h r t d i e rechtliche E r f a s s u n g v o n B u n d e s staat u n d L ä n d e r n dadurch, daß v o n d e m ü b e r w i e g e n d e n T e i l d e r h e r r schenden L e h r e d e r „einfache S t a a t " als n i c h t souverän, der B u n d e s staat h i n g e g e n als s o u v e r ä n bezeichnet w i r d 1 0 . M i t d e r Q u a l i f i z i e r u n g v o n B u n d e s s t a a t u n d L ä n d e r n aufs engste v e r b u n d e n ist f ü r d i e herrschende L e h r e d i e A n t w o r t a u f die F r a g e nach der A b g r e n z u n g v o n Bundesstaat u n d Einheitsstaat. D e r Bundesstaat g e h ö r t i n der t r a d i t i o n e l l e n D o g m a t i k z u r K a t e g o r i e d e r aus S t a a t e n zusammengesetzten S t a a t e n u n d i s t d a m i t eine F o r m d e r S t a a t e n v e r bindung11. I m Unterschied z u m völkerrechtlichen Staatenbund ergibt h i e r d i e V e r b i n d u n g der S t a a t e n e i n e n n e u e n S t a a t u n d i m U n t e r s c h i e d z u r E n t s t e h u n g eines Einheitsstaates aus m e h r e r e n S t a a t e n b l e i b e n d i e d e n „ G e s a m t s t a a t " b i l d e n d e n S t a a t e n als S t a a t e n bestehen. D i e A b grenzung v o n Bundesstaat u n d Einheitsstaat erfolgt demnach aufgrund bundesstaatliche Ordnung? N J W 1961 S. 1284; Herzog, Bundes- und Landesstaatsgewalt, D Ö V 1962 S. 81 ff. (S. 81 A n m . 6); Kölble, Grundgesetz u n d L a n desstaatsgewalt, D Ö V 1962 S. 585; Geiger, Mißverständnisse u m den Föderalismus (1962) S. 5 f.; v. Stralenheim, „Zweites Deutsches Fernsehen", Bay.VB1.1962 S. 71; Fröhler, Gutachten (1962) S.7; G.Pfeiffer, Selbstkoordinier u n g u n d Gemeinschaftseinrichtungen der Länder, N J W 1962 S. 565 ff. (565); E.R. Huber, Verfassungsgeschichte I I I (1963) S. 803; Merk, W D S t R L 2 1 (1964) S. 115 (Diskussionsbeitrag); Zacher, W D S t R L 2 1 (1964) S. 130 (Diskussionsbeitrag); Schunck-De Clerck, Allgemeines Staatsrecht des Bundes u n d der Länder (1964) S. 39; G. u. E. Küchenhoff, Allgemeine Staatslehre, 5. Aufl. (1964) S. 204, 207; Forsthoff, Gutachten (1964) S. 4; Glum, Die staatsrechtliche S t r u k t u r der Bundesrepublik Deutschland (1965) S. 43 f.; Harbich, Der B u n desstaat u n d seine Unantastbarkeit (1965) S. 64; Kalkbrenner, Zuständigkeitsübertragung durch Staatsvertrag nach der bayerischen Verfassung, Bay.VBl. 1965 S. 153; Friesenhahn, Aufgabe und F u n k t i o n des Bundesverfassungsgerichts, i n : Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament", 1965 Nr. 6 S. 4 f.; Maunz, Deutsches Staatsrecht, 15. Aufl. (1966), S. 180 f., 188; Rudolf, Z u m System der staatlichen Rechtsordnungen i n der Bundesrepublik Deutschland, D Ö V 1966 S. 73; Konow, Kooperativer Föderalismus u n d Gemeinschaftsaufgaben, D Ö V 1966 S. 371; Dahm, Deutsches Recht, 2. Aufl. 1963, S. 190; Franz Mayer, Die V e r w a l t u n g von B u n d und Ländern i n der bundesstaatlichen Ordnung, a.a.O. S. 36, 55; Roellenbleg, Zwischengliedstaatliche Verträge und Institutionen, D Ö V 1968 S. 233. 9 F ü r die Weimarer Reichs Verfassung siehe die Nachweise bei Neuber, Vollziehungsgemeinschaften deutscher Länder (1932) S.7 A n m . 23; zum älteren Schrifttum s. Herzog (DÖV 1962 S. 81 A n m . 6); — unter Berücksichtigung der ausländischen Theorie: Usteri, Theorie des Bundesstaates S. 127. 10 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. A u f l . (1914), S. 489, 769; Anschütz, Deutsches Staatsrecht (1914) S. 24; Laband, Staatsrecht I, 5. A u f l . (1911), S. 58. 11 Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 14 ff.; Laband, Staatsrecht I S. 55 ff.; Georg Jellinek, Staatslehre, S. 796; Jaenicke, A r t . Staatenverbindungen, i n : HdSW 9, 308; Maunz, Deutsches Staatsrecht § 24 I 4 S. 179.
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
einer Unterscheidung der „Mitglieder" einer Staatenverbindung und der eines Einheitsstaates. Ein Teil der diesen Ansatz vertretenden Lehre differenziert ferner innerhalb der Gruppe der zusammengesetzten Staaten, den sogenannten „Staatenstaaten i m weiteren Sinne" 1 2 , zwischen dem Bundesstaat und dem Staatenstaat i m engeren Sinne. Der Bundesstaat beteilige die verbundenen Staaten an der Bildung seines Willens, der Staatenstaat i m engeren Sinne beteilige sie nicht. Damit w i r d der Bundesstaat i n zweifacher Weise vom Einheitsstaat abgesetzt: Seine Teilnehmer unterscheiden sich von den Gliedern des Einheitsstaates durch ihre (nichtsouveräne) Staatlichkeit und sie w i r k e n ferner an der Willensbildung des souveränen Staates mit. Schwieriger zu ermitteln ist hingegen die Aussage der herrschenden Bundesstaatslehre zur Zuordnung von Bund und Ländern, vor allem zur rechtlichen Qualität des bundesstaatlichen Ganzen. Wenn der Bundesstaat ein „Gesamtstaat" sein soll, der aus einfachen Staaten körperschaftlich zusammengefügt ist, so entsteht zunächst die Frage, ob nur die Länder zu diesen „einfachen Staaten" gezählt werden, oder auch der Bund, der i n der eingangs zitierten Definition unerwähnt geblieben ist. Nur i m letzteren Fall wäre der Bund ein Element der zusammengefügten bundesstaatlichen Einheit. I m ersteren Falle würde er selbst das bundesstaatliche Ganze, „der Bundesstaat", sein, dessen Elemente dann allein die Länder wären. Der Wortlaut der Anschützschen Definition ist eindeutig. Von den „einfachen Staaten" fordert er, daß sie dem Bundesstaat unterworfen und an der Bildung seines Willens beteiligt sind. Die Bundesstaatsverfassungen kennen zumindest i n ihrem geschriebenen Text kein M i t wirkungsrecht des Bundes bei der Willensbildung eines i h m gegenüber selbständigen Bundesstaates. Somit scheint der Bund aus dem Kreis jener „einfachen Staaten", aus denen der Bundesstaat zusammengesetzt sein soll, auszuscheiden. Bund und Bundesstaat wären hiernach identisch. Zur rechtlichen Natur der Gesamtheit, die der m i t dem Bundesstaat identische Bund und die Länder bilden, scheint die Definition folglich nicht Stellung zu nehmen. Gleichwohl spricht Anschütz davon, i n einer staatsrechtlichen Staatenverbindung stellten der herrschende und die beherrschten Staaten „mitsammen eine politische Einheit höherer Ordnung, . . . einen zusammengesetzten Staat" dar 1 3 . Der Bundesstaat ist für ihn aber nichts an12 Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 16, 68. A u f diesen weiten Begriff sumfang des Staatenstaates verzichten z.B. Georg Jellinek (vgl. Staatslehre S. 748, 774) u n d Maunz, Deutsches Staatsrecht § 24 I 3 S. 179. — Die vorliegende Schrift verwendet den Terminus Staatenstaat „ i m weiteren Sinne", abkürzend für den „aus Staaten zusammengesetzten Staat". 13 Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 16.
§ 6 Definitionen und Grundlagen
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deres als eine Form des zusammengesetzten Staates 14 ; auch er erscheint m i t h i n als höhere Einheit nicht allein der Länder, sondern als Einheit des herrschenden Staates „Bund" und der beherrschten Staaten „Länder". Die Vermutung, daß es sich hierbei nicht um eine ungenaue Wortwahl, sondern entweder u m einen Widerspruch oder um einen zweiten Bundesstaatsbegriff handelt, w i r d durch Formulierungen Georg Jellineks nahegelegt. Ebenso wie Anschütz definiert er den Bundesstaat einerseits durch die eine Staatsgewalt, der die Länder unterworfen bzw. an der sie organschaftlich beteiligt seien 15 und andererseits durch die „zweifache", „ i m Bundesstaate" herrschende Staatsgewalt 16 . Letztere Definition unterstreicht er mit der Erläuterung, die Durchschnittskompetenzen des heutigen Einheitsstaates seien „an zwei Staaten" „ i m Bundesstaate" verteilt 1 7 . Diese Diskrepanz scheint in ähnlicher Weise i m Neugliederungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. J u l i 1961 sichtbar zu werden. Der Bundesstaat w i r d einmal als Gesamtstaat angesehen und der Gesamtstaat m i t dem Bunde gleichgesetzt; zum andern w i r d vom Bundesstaat ausgesagt, in seinem „Innern" seien die staatlichen Befugnisse zwischen den Organen des Bundes und den Organen der Länder aufgeteilt 1 8 . Über die rechtliche Tragweite der letzteren Umschreibung des Bundesstaates gibt die dogmatische Qualifizierung des Staates als rechtssubjektive Einheit, als „Rechtspersönlichkeit", Aufschluß. Anders als i m neueren wurde i m älteren Schrifttum die Persönlichkeitstheorie als „der Grund- und Eckstein des Staatsrechts" 19 noch eingehend erarbeitet oder doch ausdrücklich i n bezug genommen 20 . I n der gegenwärtig herrschenden Bundesstaatslehre ist diese dogmatische Fundierung i n den Hintergrund getreten, ohne daß allerdings mit der Rezeption der JellinekAnschützschen Bundesstaatslehre — zumindest ihres formalen Gerüsts der Staatenstaatstheorie — eine Neubesinnung auf die Grundlagen der Zuordnung von „Bundesstaat" und „Einzelstaaten" verbunden wäre. Maunz bemerkt lediglich, mit dem Begriff Bundesstaat in Art. 20 GG 14
Anschütz, ebd. G. Jellinek, Staatslehre S. 773; Ders., System der subjektiven öffentlichen Rechte S. 295 ff. 16 G. Jellinek, Staatslehre S. 782. 17 G. Jellinek, Staatslehre S. 503. 18 BVerfGE 13, 54 (77). 19 G. Jellinek, Gesetz und Verordnung (1887) S. 105. 20 Anschütz, Deutsches Staatsrecht (1914) S. 11, 16; Ders., Reich und Länder, HdbDStR I (1930) S. 296; G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte (2. Aufl. 1905) S. 295; Ders., Staatslehre S. 169 Anm. 1; Laband, Staatsrecht I (1911) S. 82, 84; C. F. v. Gerber, Grundzüge des deutschen Staatsrechts (3. Aufl. 1880) S. 2 A n m . 2, S, 225; Bernatzik, Juristische Person, AÖR5 (1890) S. 169 ff. (181). 15
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstates
sollte „die überlieferte Bedeutung dieses Ausdrucks verfassungsmäßig festgelegt werden" 2 1 . Der Versuch einer Klärung dieses Begriffs kann daher nicht auf seine dogmatischen Grundlagen verzichten, die i n erster Linie von den Theoretikern des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gelegt wurden. Nicht eine dogmengeschichtliche Fragestellung, sondern die Rezeption überkommener Vorstellungen ohne Neufundierung ist es somit, die die Beschäftigung mit Begriffen gebietet, die i n der aktuellen verfassungsrechtlichen Diskussion allenfalls noch beiläufig erwähnt werden, deren Einfluß auf die Findung des geltenden Rechts jedoch durch Nichterwähnung keineswegs gebrochen ist 2 2 . Der entscheidende Ansatz der Lehre von der Rechtspersönlichkeit des Staates ist bereits von Hobbes ausgesprochen worden; folgt man einer Bemerkung Georg Jellineks, so hat die spätere juristische Theorie dessen Ausführungen „nichts wesentlich Neues" hinzufügen können 2 8 . Mehrere Menschen bildeten, so meint Hobbes, eine einzige Person, wenn sie einer Person die Autorität zur Repräsentation gäben. Die Einheit erscheine dann ausschließlich i n der Person des Repräsentanten 24 . U m eine dogmatische Begründung des hier nur bruchstückhaft referierten Ansatzes 25 haben sich insbesondere Paul Laband und Georg Jellinek bemüht. Ihre Lehren sind, trotz verschiedenster Modifikationen, „von der weitaus überwiegenden Masse der Staatsrechtslehrer des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts übernommen worden" 2 6 . Laband und Jellinek gelangen zur Einheit der Vielzahl einzelner Personen und zum Subjekt der Herrschaft vermittels einer grundlegenden These: Die Gesamtheit derer, die Mitglieder der juristischen Person werden sollen, w i r d als Einheit behauptet, und zwar als eine abstrakte — jedoch nicht fiktive —, durch gedankliche Synthese gewonnene Einheit 2 7 . Von den Mitgliedern aus gesehen ist die Einheit „transzendental", sie existiert „über den Mitgliedern und unabhängig von ihnen" 2 8 ; sie 21
Maunz, Staatsrecht § 24 I I 6, S. 188. Ausdrücklich gründen noch Nawiasky, Allgemeine Staatslehre 3. Teil (1956) S. 5, 7, 159; Geiger, Mißverständnisse u m den Föderalismus (1962) S. 9 f., 15, u n d Harbich, Der Bundesstaat und seine Unantastbarkeit (1965) S. 19 f., 71, ihre Bundesstaatstheorien auf die Rechtspersönlichkeit des Staates. 28 G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte S. 33 f. 24 v.Gierke, Genossenschaftsrecht Bd. I V S. 358; H.J.Wolff, Organschaft u n d juristische Person Bd. I S. 264 A n m . 3; w i e Hobbes auch Pufendorf (υ. Gierke, a.a.O. S. 415). 25 Z u Hobbes vgl. i m einzelnen Häfelin, Die Rechtspersönlichkeit des Staates (1959) S. 31 ff. M Häfelin, a.a.O. S. 142 m i t umfassenden Nachweisen S. 142—146. 27 G. Jellinek, System S. 17, 21, 28 f.; Oers., Staatslehre S. 161,170 f.; Laband, Beiträge zur Dogmatik der Handelsgesellschaften, ZgesHR Bd. 30 (1885) S. 495; Oers., Staatsrecht I S. 84. 28 Laband, Rezension, ZgesHR Bd. 7 (1864) S. 181 ff. 22
§ 6 Definitionen und Grundlagen
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ist rechtlich „eine neue Grundeinheit, innerhalb deren es keine Vielheit g i b t " 2 9 . Hierin zeigt sich der Unterschied dieser herrschenden „anorganischen" Theorie zu einem „organischen" Ansatz, für den ein Ganzes nicht als neues abstraktes Element über seinen Teilen steht, sondern „immer nur in, durch und m i t seinen Teilen besteht und w i r k t " 3 0 . Willensbildung und Handlungen der Einheit werden durch ihre Organe vorgenommen. Sie stellen (letztlich vermittels ihrer Organwalter) die Einheit dar. Das „Darstellen" bezeichnet hierbei weder die Identität von Einheit und Organ noch die Pluralität i m Sinne eines Vertretungsverhältnisses, an dem zwei verschiedene Rechtssubjekte beteiligt sind. Gemeint ist vielmehr, daß die Willensakte, welche von Individuen (den Organwaltern) „ i n der physisch-natürlichen Welt" gesetzt werden, „ i n der ethisch-juristischen Welt" als „Willensakte der Gemeinschaft" erscheinen. Es findet also eine „Projizierung des I n d i vidualwillens auf eine geeinte Vielheit" statt 3 1 . Von hier aus sind auch jene Formulierungen zu verstehen, die auf eine Identifizierung von Organ und Einheit hinzudeuten scheinen; so etwa, wenn Georg Jellinek sagt, das Willensorgan sei die wollende Gemeinschaft selbst; oder: hinter dem Vertreter stehe ein anderer, hinter dem Organ nichts 32 . I n Wahrheit handelt es sich hierbei nur um einen Wechsel der Betrachtungsweise: Das real-soziologische Handeln der Organwalter („in der physisch natürlichen Welt") hat auf juristisch abstrakter Ebene („in der ethisch juristischen Welt") die Wirkung, als habe die abstrakte Einheit selbst gehandelt 33 . Die volle Identität schließt Jellinek selbst aus, wenn er das Organ zugleich als „integrierenden Bestandteil der Einheit" umschreibt 34 . Daß die Tätigkeit des Organs „ i n aller und jeder Beziehung die des Rechtssubjektes darstellt" 3 5 , ist m i t h i n der Ausgangspunkt für die Be29
Laband, Staatsrecht I S. 84. Haenel, Staatsrecht I (1892) S. 100 (Anm. 4 von S. 99); ähnlich v. Gierke, Labands Staatsrecht (1883) S. 1127 f. — v. Gierke hält den i m Text der anorganischen Theorie gegenübergestellten Ansatz allerdings nicht fest. M i t der Gemeinschaft, die „höher" ist als die Mitglieder, nähert er sich wieder der von i h m bekämpften Lehre (vgl. v. Gierke , Grundbegriffe des Staatsrechts S. 98 ff.), u m das Gemeinwesen als Einheit des Handelns u n d der Macht erscheinen lassen zu können. 81 G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte S. 30. 82 G. Jellinek, System S. 30; ähnlich ders., Staatslehre S. 560. 38 K l ä r e n d zur Theorie G. Jellineks sind vor allem die Bemerkungen H. J. Wolffs , Organschaft u n d juristische Person Bd. I I (1934) S. 260. Wolff f ü h r t die Unklarheiten, die i m Text anhand der eigenen Formulierungen Jellineks m i t dem Wechsel der Betrachtungsweise erläutert wurden, auf die Verkoppel u n g eines Teils „des rechtselementaren m i t einem T e i l des rechtstechnischen Sachverhalts" zurück (a.a.O. S. 260 A n m . 2). 84 G. Jellinek, System S. 30. 85 Bernatzik, Juristische Person, AöR 5 S. 238 f. Ferner G. Jellinek, Staats80
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
antwortung der Frage, ob die bundesstaatliche Einheit den Bund m i t umfaßt oder nicht. Die Bundesorganisation ist die organschaftliche Sphäre der juristischen Person „Bundesstaat"; in ihr kommt die bundesstaatliche Einheit zur Anschauung, i n ihr t r i t t sie i n die „physischnatürliche Welt" ein. Die zentrale Organisation ist, aufgrund der Organschaft, ihr „integrierender Bestandteil". Fraglich bleibt jedoch, ob die juristische Person „Bund" selbst neben den Ländern als ein Element der durch die Bundesorganisation dargestellten Einheit Bundesstaat zu denken ist oder ob die Wortinterpretation der Anschützschen Definition zutrifft, die allein die Länder als Substrat der bundesstaatlichen Einheit erscheinen läßt und somit behauptet, daß Bund und Bundesstaat ein und dieselbe juristische Person seien. Hierüber gibt die rechtliche Qualifizierung solcher „Elemente" einer juristischen Person Aufschluß. Das Mitglied ist der juristischen Person gegenüber regelmäßig i n doppelter Weise qualifiziert: Es ist der Einheit, letztlich ihren Organen, unterworfen, d. h. es erscheint ihr gegenüber als Pflichtsubjekt, als Adressat der einseitigen Äußerungen ihrer Willensmacht. Neben diesem status subjectionis oder passivus besitzt das Subjekt regelmäßig eine eigene Rechtssphäre, ist also Träger von Rechten — gleichviel, ob sich der Berechtigungsstatus i n der Freiheit von der Verbandsgewalt erschöpft (status libertatis vel negativus) oder auch Ansprüche an die juristische Person gewährt (status positivus) oder die Berechtigung zur M i t w i r k u n g an der Willensbildung, d. h. die Berechtigung auf organschaftliche Beteiligung, einbegreift (status activus) 8 5 4 . Bezeichnet man jene Einheit, in deren Namen die „Bundesorgane" handeln, als den Bundesstaat, so erfüllt die Rechtsstellung der Länder i h m gegenüber die Merkmale der Mitgliedschaft. Soweit der Bundesstaat Kompetenzen besitzt, sind die Länder i h m unterworfen (status passivus, vgl. A r t . 37 GG). I n ihrem eigenen, von der Bundesgewalt freien Sphäre können sie ihren eigenen Willen verwirklichen (status libertatis, vgl. A r t . 30 GG) und sind schließlich berechtigt, bei der B i l dung des Bundeswillens mitzuwirken (status activus, vgl. A r t . 50 GG) 8 6 . Ähnliche Aussagen müßten möglich sein, sollte der Bund als Mitglied der bundesstaatlichen Einheit definiert werden können. Insbesondere lehre S. 369. Das Kammergericht formulierte i m Urt. v. 13. 6.1902 (OLG 5, 148 [150]): I m gesetzlichen Vertreter (Organ) „konzentrieren sich sämtliche Lebensäußerungen der juristischen Person, sie handelt durch i h n u n d i n ihm...". 8 ®a Zusammenfassend G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte S. 86 f. ; Anschütz, Reich u n d Länder, HdbDStR I S. 296; für grundlegend u n d maßgebend erachtet w i r d diese Lehre von Thoma, HdbDStR I I (1932) S. 609 A n m . 9; ausdrücklich übernommen w i r d sie ferner z.B. von H. J. Wolff, Verwaltungsrecht I (6. Aufl. 1965) § 32 I V c 1, S. 162. 36 Siehe G. Jellinek, System S. 296 ff.
§ 6 Definitionen und Grundlagen
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müßte der Bund sich partiell als Pflichtsubjekt erweisen lassen, also der übergeordneten Einheit Bundesstaat unterworfen sein. Diese Pflichtsubjektivität ist für die Mitgliedschaft i m Rahmen der anorganischen Persönlichkeitslehre unverzichtbar, definiert sie doch die juristische Person geradezu durch das Verhältnis der Über- und Unterordnung 3 7 . Die abstrakte Einheit darstellen heißt hiernach letztlich, die einzelnen Elemente beherrschen, auf denen die Vorstellung der Einheit aufbaut. Diese Darstellung, Verkörperung oder Repräsentation ist daher eine Form der Herrschaft 38 . Eine darstellbare, repräsentierungsfähige Einheit existiert nur insoweit, als die Mitglieder ihr unterworfen 3 9 und die darstellenden, repräsentierenden Organe somit zur Herrschaft berechtigt sind 4 0 . M. a. W.: I n der Einheit mitgedacht ist ein Subjekt nur insoweit, als es ihr nicht als Rechtssubjekt, sondern als Pflichtsubjekt gegenübersteht 41 . Soweit eine korrespondierende Pflichtsubjektivität der Mitglieder fehlt, ist die Rechtspersönlichkeit der Einheit selbst verneint 4 2 . Die durch entgegengesetzte Formulierungen innerhalb der Staatenstaatstheorie entstandene Frage, ob Bund und Bundesstaat für die untersuchte Lehre zwei verschiedene Rechtssubjekte seien, entscheidet sich m i t h i n danach, ob der „Bund" dem „Bundesstaat" unterworfen ist. Die Identität oder Nichtidentität von Bund und Bundesstaat zeichnet zugleich die A n t w o r t auf die Frage vor, ob Bund und Länder i m Rahmen der Staatenstaatstheorie zu einer „Einheit höherer Ordnung" 4 3 verbunden und hierdurch einander zugeordnet sind oder ob die Länder i n ihrem status libertatis außerhalb des „Ganzen" stehen.
87 Laband, Rezension von K a r l Salkowskis „Bemerkungen zur Lehre von den juristischen Personen", ZgesHR Bd. 7 (1864) S. 181 ff. (184); Ders., Staatsrecht I S. 59; G. Jellinek, System S. 295; Haenel, Z u r K r i t i k der Begriffsbestimmungen des Bundesstaates, H i r t h s Annalen 1877 S. 87; Ders., Staatsrecht I S. 97 i. Verb, m i t S. 106; zu Hobbes s. o. § 6 m i t A n m . 24, 25; zum rechtssystematischen Zusammenhang vgl. Zwirner, Politische Treuepflicht des Beamten (1956) S. 86—89. 88 Vgl. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation (1929) S. 140; Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 10. 89 Laband, Beiträge zur Dogmatik der Handelsgesellschaften, ZgesHR Bd. 30 (1885) S. 469 ff. (490); ähnlich ders., Staatsrecht I S. 85. 40 Vgl. G. Jellinek, Staatslehre S. 560; v. Gierke, Genossenschaftsrecht Bd. I V S. 358. 41 Die einzelnen Elemente bleiben auch hier außerhalb der über ihnen stehenden Einheit (Laband, Staatsrecht I S. 85 A n m . 1); da sie jedoch n u r i m Rahmen der Pflichtsubjektivität die Vorstellung ihrer Einheit ermöglichen, w i r d i m Text abkürzend davon gesprochen, sie seien als Pflichtsubjekte i n der Einheit mitgedacht. 42 G. Jellinek, System S. 86 f. 48 S. o. § 6 m i t A n m . 13.
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates § 7 Die Zuordnung von Bund und Ländern 1. Der dreigliedrige und der zweigliedrige Bundesstaat
Jene Formulierungen der Anschütz-Jellinekschen Lehre, denen die Unterscheidung von Bund und Bundesstaat zugrunde liegt, sind von einem erheblichen Teil des Schrifttums aufgegriffen und insbesondere von Kelsen, Nawiasky und Harbich selbständig zu einer Theorie des dreigliedrigen Bundesstaates ausgebaut worden 1 . Versteht man etwa die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts und des verfassungsändernden Gesetzgebers (Art. 93, 79 GG) als Zuständigkeit des „Gesamtstaates", so ist auch die begriffliche Voraussetzung für die Mitgliedschaft des Bundes i m Bundesstaat erfüllt: Der Bund kann als Pflichtsubjekt einer i h m übergeordneten rechtssubjektiven Einheit gedacht werden. Hiermit entsteht allerdings die Frage, wie die Unterordnung des Bundes unter den Bundesstaat realisiert werde, da doch unterschiedliche Organe zu fehlen scheinen. Die These Nawiaskys und Kelsens, daß die Organträger des Bundesstaates und die des Bundes identisch seien, hat Harbich durch die Vorstellung eines „Staates ohne eigene Organisation" zu präzisieren versucht. Die Staatsgewalt des Gesamtstaates werde mangels eigener Organisation von Bundesorganen wahrgenommen. Dadurch werde der Staatscharakter des Gesamtstaates nicht berührt, denn die Staatsgewalt gehöre „dem Bereich geistiger Realität" an 2 . Dieser für die Dreigliedrigkeitslehre unerläßliche Ausgangspunkt hat naturgemäß die K r i t i k ausgelöst, dem dreigliedrigen Bundesstaat fehle die soziologische Realität 3 . Unabhängig von der damit angesprochenen staatstheoretischen Kontroverse u m die rein normative oder auch soziologisch-reale Natur des 1 Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) S. 199 f.; Oers., Das Problem der Souveränität (2. Aufl. 1928) S. 66; Nawiasky, Staatslehre 3. T e i l (1956) S. 159, 161; Harbich, Der Bundesstaat u n d seine Unantastbarkeit (1965) S. 71, 85. Weitere Nachweise bei Harbich, ebd. S. 52 A n m . 33, der i n seine Zusammenstellung auch A u t o r e n einbezieht, die, w i e v. Mangoldt - Klein, eindeutig der Anschützschen Definition verpflichtet sind (s. o. § 6 A n m . 4). 2 3
Harbich, Bundesstaat S. 66 f.
Kaiser, Die E r f ü l l u n g der völkerrechtlichen Verträge des Bundes durch die Länder, a.a.O. S.533f.; Schäfer, N J W 1961 S.1293; Zeidler, AöR 86 (1961) S. 372 m i t A n m . 36; Hesse, Der unitarische Bundesstaat (1962) S. 5 f.; Scheuner, DÒV1962 S. 643; Bullinger, Z u m Verhältnis von Bundesaufsicht u n d Bundestreue, AöR 87 (1962) S. 489 f.; Walter Schmidt, AöR 87 S. 271 ff.; Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) S. 70; Fuß, DÖV1964 S. 39 A n m . 23; kritisch nunmehr auch Maunz, Deutsches Staatsrecht, 11. Aufl. (1962), S. 164 (vgl. demgegenüber etwa 5. Aufl. S. 125 sowie Maunz - Dürig, G G A r t . 20 Rdnr. 6).
§ 7 Die Zuordnung von Bund und Ländern
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Staates 4 bleibt die Frage bestehen, wie die Verwirklichung der rechtlich selbständigen, vom Bund treuhänderisch wahrgenommenen Staatsgewalt zu denken sei. Nach Harbich w i r k t sich die Doppelfunktion „z. B. so aus, daß die psychologische Einstellung der Bundesorgane anders orientiert sein sollte", je nachdem, ob sie die Interessen der Gesamtgewalt oder der Zentralgewalt zu vertreten haben 5 . Die Mitglieder des Bundestages sollen also i n der Weise Herrschaft gegen sich selbst ausüben können, daß sie ζ. B. unter Berücksichtigung der Interessen der Gesamtgewalt und kraft besonderer „psychologischer Einstellung" als Treuhänder des Bundesstaates zur Beschränkung von Bundeskompetenzen schreiten (Art. 79 GG), die sie i n ihrer Eigenschaft als Bundesgesetzgeber für unerläßlich zur Verwirklichung bestimmter politischer Vorhaben halten. Daß der moderne Verfassungsstaat eine solche Herrschaft gegen sich selbst kraft besonderer psychologischer Einstellung statuiert haben könnte, ist jedoch u m so unwahrscheinlicher, als sich, wie Harbich selbst betont 6 , „von einer derartigen Doppelaufgabe i m Verfassungsrecht keine Spur findet". Die Dreigliedrigkeitstheorie ist jedoch hier nicht nur wegen der Schwierigkeiten zu erörtern, die bei der Unterscheidung des Rechtssubjekts „Bund" vom Rechtssubjekt „Bundesstaat" sowie bei der Realisierung der Pflichtsubjektivität des Bundes entstehen. A n das Zuordnungsproblem führt konkreter noch die These Harbichs heran, der Bundesstaat sei das „Ganze", „die Gesamtheit von Bund und Ländern". „Die Gesamtheit, gebildet aus Gliedstaaten und Zentralstaat" sei „als ein selbständiges Rechtssubjekt, als ein eigener Hoheitsträger aufzufassen 7 ." Z u fragen ist, wie ein Rechtssubjekt beschaffen sein muß, das aus den Rechtssubjekten „Gliedstaaten und Zentralstaat" gebildet w i r d und das sie seinerseits als der „sie alle umfassende Verband" „überwölbt" 8 . Mehrere Subjekte können i m Rahmen der Persönlichkeitstheorie nur dadurch eine „sie alle umfassende" rechtssubjektive Einheit bilden, daß sie dieser Einheit und damit ihren Organen „die Autorität zur Repräsentation" geben 9 . Die Fähigkeit zur „Repräsentation" reicht ebenso4 Harbich (Bundesstaat S. 13) hält diese Fragen i m Rahmen seiner Theorie f ü r unerheblich, bekennt sich zur Dreielementenlehre Georg Jellineks u n d Anschütz' (ebd. S. 19 m i t A n m . 3), wendet sich — m i t Heller — gegen Kelsens normative Konstruktionen unabhängig v o m Faktischen (S. 94), begnügt sich aber gleichwohl m i t einem Staat rein „geistiger Realität" (S. 67) u n d stellt zur Bestätigung seines dreigliedrigen Bundesstaatsbegriffs fest, daß es „gerade Kelsen" war, der i h n „ v o n seiner Reinen Rechtslehre her" i n die wissenschaftliche Diskussion einführte (S. 71). 6 Harbich, Bundesstaat S. 67. • Harbich, ebd. S. 68. 7 Harbich, ebd. S. 49, 71 m. w. Nachw. 8 Harbich, ebd. S. 71, 85.
5 Hempel
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
weit, wie der status passivus oder subjectionis der „Repräsentierten", der „Mitglieder". Sie sind i n der Einheit mitgedacht, werden von ihr „überwölbt" i n gleichem Maße, i n welchem sie ihr unterworfen sind. Gegenüber einer solchen allseitigen Unterwerfung bildet die Theorie, Bund und Länder seien Staaten, als deren rechtliches Merkmal die Unabgeleitetheit oder „Ursprünglichkeit" der Staatsgewalt anzusehen sei, ein unüberwindbares Hindernis. Entweder sind Bund und Länder umfassend den Kompetenzen des Bundesstaates unterworfen — dann ist ihre eigene Rechtsstellung nur noch abgeleitet und ihre Staatlichkeit preisgegeben 10 ; oder sie sind seinen Kompetenzen nur beschränkt unterworfen — dann bleibt hierdurch zwar ihr Status der „Unabgeleitetheit" unberührt, der Bundesstaat ist dann jedoch nicht mehr ihre „Totalität", sondern „überwölbt" sie nur noch i n dem gleichen beschränkten Umfange, i n dem er sie beherrscht. D. h. eine gesteigerte Zuordnung von Bund und Ländern kann i m Wege der Konstruktion einer „sie alle umfassenden" rechtssubjektiven Einheit „Bundesstaat" nicht erreicht werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob man die Kompetenzen dieses Bundesstaates für „potentiell umfassend" erklärt, u m damit die Unabgeleitetheit der „Mitglieder" preiszugeben, oder ob man auf die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers durch A r t . 79 Abs. 3 GG verweist, u m damit die „umfassende" Einordnung von Bund und Ländern i n das bundesstaatliche „Ganze" nicht mehr erklären zu können 1 1 . Für die Interpretation der Anschütz-Jellinekschen Bundesstaatslehre bedeutet dies: Das durch den Wortlaut der Definition nahegelegte, durch Formulierungen eines Bund und Länder umfassenden Bundesstaatsbegriffs jedoch in Frage gestellte Verständnis dieser Theorie erweist sich als zutreffend: Der Bund, der „Zentralstaat", ist nicht M i t glied des Bundesstaates, sondern ist m i t i h m identisch. Die von Georg Jellinek und Anschütz maßgebend geprägte herrschende Theorie kennt nicht neben der Bundesgewalt und den Landesgewalten noch eine „Gesamtstaatsgewalt" 12 . Sie ist vielmehr die Theorie des „zweigliedrigen" Bundesstaates. Wenn Anschütz formuliert, der Bundesstaat zeige die Vielheit der Staaten verschmolzen „zur Einheit eines von der Summe aller einzelnen Staaten verschiedenen selbständigen, staatlichen Subjekts, eines Gesamtstaatswesens" 13 , so bilden nur die Länder sein Sub9
S. o. § 6 m i t A n m . 24. Harbich, Bundesstaat S. 85, w e h r t diese Konsequenz m i t dem Hinweis ab, auch die herrschende Zweigliedrigkeitstheorie stelle die Unabgeleitetheit der Länder nicht durch eine auf die Kompetenz-Kompetenz gegründete Überordnung des Bundes i n Frage. 11 Vgl. Harbich, Bundesstaat S. 62 einerseits u n d S. 83 f. andererseits. 12 Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 20; G. Jellinek, Staatslehre S. 502. 13 Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 16. — Diese „Verschmelzung zur E i n heit" ist lediglich eine andere Wendung f ü r die „genossenschaftliche" oder 10
§ 7 Die Zuordnung von Bund und Ländern
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s trat; nur sie sind mitgedacht i n der bundesstaatlichen Einheit, die von der zentralen Organisation als ihrem organschaftlichen Bereich und dam i t ihrem „integrierenden Bestandteil" dargestellt, repräsentiert wird. Die Identität von Bund und Bundesstaat schließt es aus, daß der Bundesstaatsbegriff eine Bund und Länder verbindende Aussage enthält. Soweit die Sphäre des Bundes reicht, d.h. soweit er m i t Kompetenzen ausgestattet ist und daher die Länder i h m unterworfen sind, „ist die Persönlichkeit und damit der staatliche Charakter der Subjizierten ausgeschlossen"14. Stellt man sich die Länder als potentiell umfassende rechtssubjektiveEinheiten vor, so w i r d i m Bereich ihres status subjectionis ihre Rechtssubjektivität durch die der Einheit, der sie unterworfen sind, gleichsam aufgesogen. Umgekehrt schließen die Länder i n ihrer „von der Bundesgewalt gänzlich befreiten Sphäre" 1 5 , ihrem status libertatis, i n welchem sie sich als Rechtssubjekte verwirklichen (vgl. A r t . 30 GG), die Rechtspersönlichkeit des Bundesstaates aus 16 . Sie bilden i n diesem Bereich weder untereinander noch mit dem Bund, dem Bundesstaat, eine Einheit oder sonstige Verbindung. I n ihrer jeweiligen Eigenschaft als Rechtssubjekte, als Inhaber von verfassungsmäßigen Kompetenzen, stehen sich der Bundesstaat und die einzelnen Länder vielmehr als geschlossene Einheiten gegenüber. V o l l verständlich w i r d von hier aus auch die einleitend zitierte Lehre Anschütz', der Bundesstaat sei „ein Gesamtstaat, körperschaftlich zusammengefügt aus einfachen Staaten, die einerseits i h m unterworfen, andererseits beteiligt sind bei der Bildung seines Willens". Der Gesamtstaat ist aus den Ländern „zusammengefügt", „besteht aus ihnen", soweit sie i h m unterworfen sind. I n diesem passiven Status ermöglichen sie aufgrund der korrespondierenden Herrschaft der repräsentierenden Organe die Vorstellung der Einheit. Die andere Seite ihrer juristischen Existenz zeigt sie als Rechtssubjekte, deren aktiver Status sie zur Beteiligung an der Willensbildung des Verbandes berechtigt. Besonders deutlich hat Geiger die „Doppelgesichtigkeit" des zentralen bundesstaatlichen Subjekts dargestellt. Es bleibt, wie Geiger i n klarer Ablehnung der Dreigliedrigkeitslehre ausführt, ein und derselbe, m i t dem Bund identische Bundesstaat, „wenn man ihn einmal als die rechtliche Fixierung des Trägers von Kompetenzen und Aufgaben des Gesamtstaates und als Zurechnungszentrum für die hoheitlichen Äußerungen auffaßt, die seine Organe namens des Gesamtstaates, der die Länder einbegreift, abgeben, und das andere M a l i n seiner Stellung als „körperschaftliche Zusammenfügung" des Bundesstaates aus den Einzelstaaten (s. o. § 6 m i t A n m . 3). 14 G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte S. 295. 15 G. Jellinek, System S. 297. 16 G. Jellinek, System S. 86 f.
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
Gegenüber der Gliedstaaten — gleichsam mit seinem zweiten Gesicht — als zentrale Organisation bezeichnet, m i t dem die Länder als Glieder des Bundesstaates sich ,kämpf end 1 auseinandersetzen . . ." 1 7 . Hier wenden sich die Länder „nicht gegen den Bundesstaat, dessen Teil sie sind, sondern gegen den Bund, dem sie nicht angehören" 18 . (Das heißt: dem sie die Möglichkeit nehmen, die Vorstellung einer von seinen Organen repräsentierten Einheit auch auf diesen Bereich ihres status libertatis zu erstrecken 10 .) Lediglich die veränderte Blickrichtung i n der Qualifizierung der Länder ist es also, welche die juristische Person „Bund" als Einheit der Länder (soweit ihr passiver Status i n Frage steht) oder als Gegenüber der Länder (soweit i h r status libertatis i n Frage steht) erscheinen läßt. Hierin ist das „chamäleonhafte Wechseln" begründet, das Lerche 20 ebenso ironisch wie treffend als charakteristisch für die herrschende Zweigliedrigkeitstheorie ansieht. Nunmehr kann auch abschließend jene „politische Einheit höherer Ordnung" erörtert werden, die Bund und Länder nach Anschütz — und i n der Sache ebenso nach Georg Jellinek und dem Neugliederungsurteil des Bundesverfassungsgerichts — bilden sollen 21 . I m Rahmen der Staatspersönlichkeitslehre und der auf ihr beruhenden Staatenstaatstheorie sind die Länder i n ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich dem Bundesstaat weder unterworfen noch befinden sie sich als „Teile" i n seinem „Innern". Ein solcher „umfassender" Bundesstaat kann folglich auch nicht lediglich „die andere Seite" des „doppelgesichtigen" Subjekts Bundesstaat sein. Denn jene Veränderung der Blickrichtung läßt die Identität von Bund und Bundesstaat unberührt. Ohne die Annahme eines grundlegenden — und schon wegen seiner Offensichtlichkeit unwahrscheinlichen —Widerspruchs ist nur eine Deutung möglich: Es w i r d hier ein zweiter Bundesstaatsbegriff verwendet, und zwar ein Bundesstaatsbegriff, der i m Rahmen der Staatspersönlichkeitslehre nicht mehr begriffen werden kann. Anschütz, der i m Unterschied zu Jellinek zumindest i n seiner späteren Arbeit über „Reich und Länder" die zweifache Verwendung der Termini Reich und Bundesstaat ausdrücklich erwähnt, bezeichnet i n der hier interessierenden zweiten Bedeutung des Ausdrucks das Reich „als die große Integration von Zentralstaat und Gliedstaaten (Ländern), als 17 Geiger, Mißverständnisse u m den Föderalismus S. 15 (Hervorhebung n u r hier); ähnlich ders., Föderalismus i n der Verfassungsordnung, a.a.O. S. 15. 18 Geiger, a.a.O. S. 14. 19 Vgl. o. § 6 A n m . 41. M Lerche, W D S t R L 21 S. 91 (Anm. 87 von S. 90). 11 S. o. § 6 m i t A n m . 13—18.
§ 7 Die Zuordnung von Bund und Ländern
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die staatsrechtlich-politische Einheit von ,Haupt' und »Gliedern 1 " 22 . Daß diese „große Integration" als „politische" Einheit verstanden werden kann, liegt auf der Hand; überraschend ist es jedoch, daß Anschütz sie zugleich als „staatsrechtliche" bezeichnet. Denn die Vorstellung einer staatsrechtlichen Einheit, die etwas anderes sein könnte als die Einheit eines Rechtssubjekts, ist von i h m an keiner Stelle vorbereitet worden. I m Gegenteil: Ebenso wie für Georg Jellinek und Laband und die ihnen folgende Lehre ist auch für Anschütz die Rechtspersönlichkeit des Staates die unverzichtbare Grundlage aller staatsrechtlichen Aussagen über die staatliche Einheit 2 8 . Sein Zugeständnis an eine Betrachtungsweise, die die Gesamtheit von Bund und Ländern als das bundesstaatliche Ganze versteht, kann daher von seinen eigenen Grundlagen aus nicht als staatsrechtliche, sondern ausschließlich als politisch-soziologische Aussage verstanden werden 2 4 . Die Schwierigkeit, eine juristische Aussage über die bundesstaatliche Gesamtheit m i t den dogmatischen Konsequenzen des rechtssubjektiven Ansatzes zu vereinbaren, w i r d besonders bei Geiger deutlich. I h m zufolge ist es auch i m Rahmen der Gegenüberstellung von Bund und Ländern „unbezweifelbar nötig, die Einheit zwischen Oberstaat und Gliedstaaten . . . herzustellen". Dies solle dadurch geschehen, „daß man i n der Bundesverfassung das beide ,Teile' zusammenbindende Band erblickt und die so hergestellte Einheit als etwas, was erst durch die Zusammenfassung von Bund und Ländern entsteht, begreift" 2 5 . Neben den verbindenden Normen ist somit nur ein rechtlich nicht näher erläutertes „Etwas" zu registrieren. Jede weitere Präzisierung hätte freilich sogleich zur Kollision m i t der rechtssubjektiven Erfassung staatlicher Einheit, zu der sich auch Geiger bekennt 2 6 , geführt. Bereits i n seinem zwei Jahre später vorgelegten Aufsatz über den Föderalismus scheint Geiger die von i h m selbst gezogenen begrifflichen Schranken überschritten zu haben. Das „Etwas" w i r d nunmehr zum „umfassenden Gemeinwesen", dem ein eigenes Gemeinwohl zugeordnet 22
Anschütz, Reich u n d Länder, HdbDStR I (1930) S. 295. S. o. § 6 m i t A n m . 20. 24 Zutreffend Walter Schmidt, Der bundesstaatliche A u f b a u S. 43: „ I n dieser noch wenig klaren Begriffsschöpfung w i r d die Bemühung u m das V e r ständnis der Zusammenordnung v o n Zentralstaat u n d Gliedstaaten i m B u n desetaat sichtbar. Anschütz anwortet auf diese Frage m i t einer Inhaltsbestimmung, ohne deren formalrechtliche Entsprechung zu klären." — Die ausschließlich politische, nicht rechtliche N a t u r der Gesamtheit von B u n d u n d Ländern i m zweigliedrigen Bundesstaat betont folgerichtig auch Herzog, Bundes- u n d Landesstaatsgewalt, D Ö V 1962 S. 83. 25 Geiger, Mißverständnisse u m den Föderalismus S. 13 (Hervorhebung n u r hier). H Geiger, a.a.O. S. 9 f., 15. 28
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
ist und vor dem die rechtssubjektiven Einheiten Bund und Länder zur bloßen „inneren Struktur" relativiert sind 2 7 . Entweder handelt es sich hierbei um eine lediglich politisch-soziologische Aussage oder der rechtssubjektive Ansatz i n der bundesstaatsrechtlichen Begriffsbildung ist verlassen worden, u m einem objektiv-institutionell verstandenen Bundesstaat Raum zu geben. Eine dritte Möglichkeit gibt es für Geiger nach seiner Ablehnung der rechtssubjektiven Einheit von Bund und Ländern, also des dreigliedrigen Bundesstaates, nicht. Dies ist zugleich die Alternative, vor der die traditionelle und noch herrschende Lehre steht, wenn sie versucht, Bund und Länder vermittels eines zweiten Bundesstaatsbegriffs miteinander zu verbinden.
2. Das Neugliederungsurteil des Bundesverfassungsgerichts
Das Neugliederungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. J u l i 1961 stimmt m i t der Bundesstaatslehre Georg Jellineks und Anschütz' nicht nur i n der Verwendung eines rechtlich nicht erläuterten politischsoziologischen Bundesstaatsbegriffs überein. Es teilt m i t ihr vor allem die dogmatischen Grundlagen, insbesondere den Primat der rechtssubjektiven Einheit des Staates, sowie die Ablehnung des dreigliedrigen Bundesstaats 28 . Das Gericht bezeichnet den Bundesstaat als Gesamtstaat und „setzt den Gesamtstaat gleich B u n d " 2 9 . Der Bund sei der Oberstaat, der durch die Verbindung der Länder zum Bundesstaat bew i r k t werde: Nur die Länder, nicht Bund und Länder gemeinsam seien also zum Bundesstaat verbunden worden. Der Bund, so heißt es weiter, sei „kein Zentral,Staat' i m Unterschied zu einem Gesamt,Staat', sondern nur die oberstaatliche Organisation, die zugleich i m Verhältnis zu den Gliedstaaten den Bundesstaat repräsentiert" 3 0 . Die Repräsentation des Bundesstaates kann hier sinnvoll nur verstanden werden als die Darstellung des Bundesstaates durch seine Organe, die ihrerseits identisch sind m i t der Bundesorganisation 31 . A n diese Persönlichkeitsdogmatik knüpft das Gericht an, wenn es den repräsentierenden, die 87 Geiger, Bedeutung u n d F u n k t i o n des Föderalismus i n der Bundesrepub l i k Deutschland, Bay.VBl. 1964 S. 65 ff., 108 ff. (66). 28 BVerfGE 13, 54 (77 ff.). — I. S. der Dreigliedrigkeitslehre noch BVerfGE 6, 309 (364); 8, 122 (140). 2 ® BVerfGE a.a.O. S. 77 f. 80 BVerfGE a.a.O. S. 78; ebenso Haegert, N J W 1961 S. 1140: „ Z u m Wesen des Bundesstaates gehört, daß er allein nach außen u n d innen die Einheit repräsentiert". Ähnlich, trotz Zurückweisung der überkommenen Kategorien, Scheuner, D Ö V 1966 S. 514: Der Bundesstaat stelle ein aus den Ebenen B u n d u n d Länder zusammengesetztes Gebilde dar, das „seinen institutionellen Ausdruck aber n u r i m Gesamtstaat — u n d nicht i n einer übergreifenden K o n s t r u k t i o n — findet". S1 S. o. § 6 m i t A n m . 35, 37 ff.
§ 7 Die Zuordnung von Bund und Ländern
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Länder i n ihrem passiven Status einbeziehenden Bund nicht als Zentral„staat", sondern „ n u r " als (oberstaatliche) „Organisation" bezeichnet. Das schließt nicht aus, daß i n anderem Zusammenhang vom Ober„staat" gesprochen w i r d — denn dies ist die bundesstaatliche Einheit, der die Länder i n ihrem rechtssubjektiven Status gegenüberstehen. Nicht begründet erscheint es hingegen, die vom Gericht herangezogene Repräsentation i m Sinne eines „sozialen Vorgangs" zu interpretieren 3 2 . Bedenken gegenüber einer solchen Auslegung ergeben sich nicht nur daraus, daß sich das Gericht i n diesem Zusammenhang der rechtsdogmatischen Kategorien „Rechtsträger" und „Subjekte ... gegenseitiger Rechte und Pflichten" bedient 3 3 . Auch ist eine auf sozialer Repräsentation aufbauende Bundesstaatstheorie noch nicht vertreten worden, so daß eine solche Konstruktion für das Gericht keineswegs nahelag. Entscheidend fällt ins Gewicht, daß ein nicht organschaftlich formalisierter „Repräsentant" seine Autorität auch politisch-soziologisch von den Repräsentierten ableiten muß 3 4 . Der Bund erhielte hiernach seine Autorität von den Ländern und nicht von der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes. Obwohl das Bundesverfassungsgericht mehrfach den Begriff des „Bündnisses" verwendet 3 5 , liegt ihm doch eine Projizierung der historischen Situation von 1867/71 — genauer: von 1815 — auf die Bundesrepublik Deutschland fern: Es erklärt bei der Interpretation des A r t . 29 GG sogar ausdrücklich, daß das Neugliederungsgesetz, wolle man es als einen A k t ergänzender Verfassungsgebung auffassen, „als aus der verfassunggebenden Gewalt des Deutschen Volkes (Präambel) hervorgehend gedacht werden" müsse 36 . Greift demnach die These der sozialen Repräsentation nicht durch, so kann die Repräsentation des Bundesstaates durch die „oberstaatliche Organisation" nur als formalisierte rechtsdogmatische Aussage verstanden werden; d. h. aber i n Ermangelung anderer hier sinnvoll heranzuziehender Theorien: als Anknüpfung an die Grundkategorien der herrschenden Lehre, an Organschaft und juristische Person 37 . Bestätigt w i r d die bisherige Interpretation des Neugliederungsurteils durch die Ausführungen des Gerichts zur prinzipiellen „Überordnung" des „Oberstaates". Sie können nur vom Boden der traditionellen Staatspersönlichkeitslehre aus verstanden werden. Für eine Betrachtungs32
Walter Schmidt, AöR 87 S. 278. BVerfGE 13, 54 (77). 84 Leibholz, Repräsentation (1929) S. 149; H.J.Wolff , Organschaft u n d j u ristische Person Bd. I I (1934) S. 76, 89. 85 BVerfGE 13, 54 (78). 88 BVerfGE a.a.O. S. 73. 87 Z u r Formalisierung der p r i m ä r soziologischen Repräsentation zur rechtstechnischen Organschaft vgl. H. J. Wolff , Organschaft und juristische Person Bd. I I S. 106. 58
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
weise, die sich ausschließlich an den verfassungsrechtlichen Gegebenheiten, den einzelnen Kompetenzen der einzelnen Teilinstitutionen der Bundesorganisation ausrichtet, ist nur eine normativ begrenzte Überordnung dieser Teilinstitutionen nachweisbar. Beispielsweise sind der verfassungsändernde Bundesgesetzgeber (Art. 79 GG), der einfache Bundesgesetzgeber i m Rahmen der Neugliederung (Art. 29 GG), die Bundesregierung bei der Gefahrenabwehr nach A r t . 91 Abs. 2 GG und gemeinsam m i t dem Bundesrat bei der Durchführung des Bundeszwangs (Art. 37 GG) den einzelnen Ländern „übergeordnet". Zu einer darüber hinausgehenden prinzipiellen Überordnung des „Oberstaates" ist nur unter den Voraussetzungen zu gelangen, daß 1. „Oberstaat" und Länder primär als Einheiten verstanden werden, daß 2. für das Verhältnis dieser Einheiten zueinander die Kategorie der Herrschaft grundlegend ist und daß insbesondere 3. i n jeder Kompetenz der übergeordneten Einheit eine Unterwerfung der anderen Einheiten gesehen wird. Nach dem gegenwärtigen Stand der rechtswissenschaftlichen Theorie werden diese Voraussetzungen allein von der erörterten Lehre Labands, Anschütz' und Georg Jellineks über die Rechtspersönlichkeit des Staates erfüllt. Die Vorstellung, daß die soziologisch realen und zugleich pluralistisch aufgegliederten Institutionen der Verfassung als Organe auf eine hinter ihnen stehende und für die rechtliche Betrachtung primäre Einheit verweisen, gehört zu den Fundamentalaussagen der Staatspersönlichkeitslehre 38 . Das Verhältnis der Über- und Unterordnung 3 9 , d. h. die Herrschaft über die Mitglieder, schließlich kann nur deshalb i n jeder Kompetenzausübung der übergeordneten Einheit für verwirklicht gehalten werden, w e i l die Einheit der juristischen Person und der rechtssubjektive Status ihrer Mitglieder einander ausschließende und zugleich ergänzende Größen sind: Soweit die Macht der Einheit reicht, ist die Rechtspersönlichkeit des ihr als Mitglied zugeordneten Subjekts verneint. Die Einheit beruht geradezu darauf, daß i n ihrem eigenen Wirkungsbereich die Rechtspersönlichkeit ihrer M i t glieder ausgeschlossen ist: Die Mitglieder müssen zwar nicht Adressaten jeder einzelnen Maßnahme der Einheit sein, w o h l aber müssen sie durch den (regelmäßig nur teilweisen) Entzug ihrer Persönlichkeit gehindert sein, zu Maßnahmen der übergeordneten Einheit durch eine eigene Rechtssphäre i n Konkurrenz treten zu können. Verlust der Persönlichkeit zugunsten der Einheit aber ist für das Mitglied gleichbedeu88 Z u m Begriff der Einheit siehe G. Jellinek, Vgl. auch unten § 7 m i t A n m . 58. 89 S. o. § 6 A n m . 37, 39.
System S. 21 f., 26, 29 ff. —
§ 7 Die Zuordnung von B u n d u n d Ländern
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t e n d m i t d e r V e r s e t z u n g i n d e n passiven Status, d e r w i e d e r u m n u r die Herrschaftssphäre der E i n h e i t w i d e r s p i e g e l t 4 0 . A n diesem I n h a l t d e r Ü b e r o r d n u n g s t h e s e l ä ß t Laband k e i n e n Z w e i f e l : F ü r i h n ist „ d e r u n b e d i n g t e V o r r a n g d e r Reichsgesetze v o r d e n Landesgesetzen . . . d i e N e g a t i o n d e r S o u v e r ä n i t ä t d e r Einzelstaaten, die A n e r k e n n u n g e i n e r ü b e r i h n e n stehenden, sie r e c h t l i c h v e r p f l i c h t e n d e n H e r r s c h e r m a c h t " 4 1 . Jede K o m p e t e n z a u s ü b u n g d e r E i n h e i t i s t s o m i t Ü b e r o r d n u n g . „ D i e Rechte des zusammengesetzten Staates s i n d . . . Rechte ü b e r d i e M i t glieder42." Eine dogmatische Gegenposition zur Bundesstaatslehre Labands, Anschütz' u n d Georg Jellineks sowie nunmehr auch des Bundesverfassungsgerichts ist von Nawiasky i n seiner Schrift über den „Bundesstaat als Rechtsbegriff" formuliert worden. U m zu seiner — damaligen — These, sowohl der Zentralstaat als auch die Gliedstaaten seien souverän 4 3 , gelangen zu können, mußte er ihre Gleichordnung postulieren. F ü r die von Laband u n d Jellinek begründete Persönlichkeitslehre ist die prinzipielle Gleichordnung jedoch bereits per definitionem ausgeschlossen. Denn der B u n d k a n n auf jener Grundlage als bundesstaatliches Ganzes, d. h. als Einheit der Länder — u n d nicht n u r als zufällig neben ihnen stehender Staat — n u r konstruiert werden, w e i l seinen Kompetenzen der Unteijwerfungsstatus der Länder, die dadurch als Mitglieder qualifiziert werden, entsprechen soll. Folgerichtig distanziert sich Nawiasky gerade i n diesem Punkte von Laband: „Soweit das Reich Gesetzgebung u n d Vollzug übernommen hat, kommen die Gliedstaaten überhaupt nicht als Pflichtsubjekte i n Betracht, u n d d a r u m k a n n auch von keiner U n t e r werfung die Rede sein 4 4 ." Auch Herzog, der Nawiaskys älterer Lehre w e i t gehend folgt, spricht konsequenterweise der Bundesgewalt die Überordnung ab, w e i l i n ihrem Kompetenzbereich die Staatstätigkeit der Länder v ö l l i g ausgeschaltet sei 45 . Überraschend ist es lediglich, daß er i m Rahmen seiner Zweigliederigkeitstheorie noch v o m B u n d als dem Ganzen u n d den Ländern als seinen Gliedern spricht. N u r die Redewendung v o m „größeren" Staat u n d den neben i h m stehenden „kleineren" Staaten o. dgl. wäre i n sich schlüssig 46 . H i e r z e i g t n u n d i e These v o n d e r „ p r i n z i p i e l l e n " Ü b e r o r d n u n g , daß das B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t insbesondere m i t der L e h r e ü b e r e i n s t i m m t , j e d e r K o m p e t e n z des B u n d e s entspräche d i e U n t e r w e r f u n g d e r L ä n d e r . Das G e r i c h t b e s c h r ä n k t die Ü b e r o r d n u n g des B u n d e s n i c h t a u f j e n e F ä l l e , i n d e n e n B u n d e s o r g a n e die L ä n d e r i n i h r e r a k t u e l l e n Rechtssphäre t r e f f e n k ö n n e n ( A r t . 24, 79 GG), s o n d e r n es f ü h r t aus, 40
G. Jellinek, System S. 86 f. u n d oben S. 70. Laband, Staatsrecht I (1911) S. 94. 42 Laband, Staatsrecht I S. 57 (Hervorhebung i m Original). — Eine ausdrückliche Gleichsetzung der „Kompetenz der Organe" u n d des „ V e r h ä l t nisses der Über- u n d Unterordnung" n i m m t auch Haenel (Staatsrecht I S. 103) vor, dessen Abweichung von der herrschenden Persönlichkeitsdogmat i k sich an dieser Stelle nicht auswirkt. 48 Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff (1920) S. 47. 44 Nawiasky, a.a.O. S. 78; ähnlich Kelsen, Souveränität S. 64 f. 45 Herzog, D Ö V 1962, S. 81 f. m i t A n m . 4. 46 Diesen E i n w a n d vermeidet Nawiasky, Bundesstaat S. 31 f. 41
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
diese Bestimmungen ließen die — demnach auch i m übrigen bestehende — Überordnung „erkennen" 4 7 . Schließlich w i r d für sämtliche Bereiche, die durch die Bundesverfassung geordnet sind, m i t h i n für den gesamten Kompetenzbereich des Bundes, die Gleichordnung ausgeschlossen48. Eine Abweichung des Neugliederungsurteils von der herrschenden Lehre weist hingegen seine Stellungnahme zur Reichweite der bundesstaatlichen Einheit auf. Der Bundesstaat ist eine Einheit, soweit seine Organe zur Herrschaft befugt sind. Die Beschreibung der Einheit w i r d verschieden ausfallen, je nach dem, ob der Betrachter die aktuellen oder die potentiellen Kompetenzen des Bundesstaates berücksichtigt. Nach der aktuellen Kompetenzordnung des Grundgesetzes sind dem Bund diejenigen Befugnisse und Aufgaben vorenthalten, deren Wahrnehmung gemäß A r t . 30 GG den Ländern obliegt. Dieser Bereich entzieht sich m i t h i n der bundesstaatlichen Einheit. Stellt man jedoch auf die verfassungsrechtlich mögliche, potentielle Herrschaft des Bundesstaates ab, so w i r d die Reichweite seiner Einheit i n dem Maße ausgedehnt, welches A r t . 79 Abs. 3 GG der Disposition des verfassungsändernden Bundesgesetzgebers gemäß Art. 79 Abs. 1 und 2 überläßt. Eine Verfassungsordnung ohne geschriebene oder ungeschriebene Bestandsgarantie für die Länder, wie etwa die Reichsverfassung von 1871 i m Urteil der damals überwiegenden Lehre 4 9 , führt unter dem Gesichtspunkt der potentiellen Bundeskompetenzen darüber hinaus zu einer alle staatlichen Angelegenheiten umfassenden Einheit des Bundesstaates. I m letzteren Falle liegt die einheitsstaatliche Konsequenz auf der Hand. Laband und Jellinek haben sie erkannt und lediglich zu der Aussage herangezogen, das Reich könne i n einen Einheitsstaat übergehen. Beide wandten sich jedoch dagegen, hieraus Folgerungen für den Bundesstaatsbegriff zu ziehen: Aus jener „abstrakten Möglichkeit . . . auf eine bereits vorhandene allseitige Unterwerfung der Gliedstaaten un47
BVerfGE 13, 54 (79). BVerfGE 13, 54 (78). M i t dieser eindeutigen Stellungnahme des Gerichts ist es unvereinbar, daß Geiger i n seiner Interpretation des Neugliederungsurteils (MißVerständnisse S. 16) versucht, das Bekenntnis des Bundesverfassungsgerichts zur „prinzipiellen" Überordnung auf eine punktuelle, n u r i m Rahmen des A r t . 29 GG bestehende Überordnung zu beschränken. 49 G. Jellinek, Staatslehre S. 783; Oers., System S. 303; Haenel, Staatsrecht I S. 804; Laband, Staatsrecht I S. 93, 105, 129; Ders., Reichsstaatsrecht S. 33; Anschütz, HdbDStR I S. 296. — a. A. Georg Meyer, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts (6. Aufl. 1905) S. 588 ff. (593) u n d w o h l auch v. Gierke , Labands Staatsrecht, a.a.O. S. 1164 A n m . 1; weitere Nachweise i n der Bearbeitung der 7. Aufl. von Georg Meyers Lehrbuch durch Anschütz (S. 694 f.). M i t besonderem Nachdruck kritisiert Otto Mayer die damals überwiegende Lehre i n : Republikanischer u n d monarchischer Bundesstaat, AöR 18 (1903) S. 369. Zu den rechtstheoretischen Grundlagen jener Lehre s. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung (1953) S. 19 ff. 48
§ 7 Die Zuordnung von Bund und Ländern
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ter den bundesstaatlichen Willen zu schließen, wäre ganz unzulässig . . . Das Verhältnis der Bundesgewalt zu den Gliedern muß vielmehr stets nach der aktuellen, nicht nach der potentiellen Zuständigkeit der Bundesgewalt beurteilt werden . . . " 5 0 ; und: „Das Verhältnis der Einzelstaaten zum Reich kann juristisch nicht darnach beurteilt werden, wie es sich i m Laufe der geschichtlichen Entwicklung einmal gestalten könnte, sondern darnach, wie es nach dem gegenwärtig gültigen Recht geregelt ist 5 1 ." Das Bundesverfassungsgericht beruft sich demgegenüber für seine Annahme der Überordnung des Bundes auch auf Art. 79 GG 5 2 und dam i t auf die potentielle Einheit des Bundesstaates. Die Reichweite der bundesstaatlichen Einheit ergibt sich folglich aus der Summierung von aktueller und potentieller Herrschaft des Bundes. Der Bundesstaat, der von der oberstaatlichen Organisation „repräsentiert" wird, erscheint somit i n einem über die traditionelle und herrschende Lehre hinausgehenden Umfange als staatliche Einheit. N u r die Begrenzung der Einheit durch die Schranke des Art. 79 Abs. 3 GG verbietet es, schon aus der Berufung auf die Kompetenz-Kompetenz des Bundes zu folgern, das Bundesverfassungsgericht definiere den deutschen demokratischen Bundesstaat übereinstimmend m i t Wittmayer, Poetzsch-Heffter, Heller und Werner Weber letztlich als Form des Einheitsstaates 53 . Festzuhalten ist, daß in der rechtlichen Erfassung der bundesstaatlichen Gesamtheit das Neugliederungsurteil des Bundesverfassungsgerichts keinen grundsätzlich von Jellinek und Anschütz abweichenden Ansatz erkennen läßt und daß die Modifizierung der herrschenden Dogmatik durch das Bundesverfassungsgericht zeigt, i n welcher Nähe die auf Laband, Jellinek und Anschütz zurückgehende Bundesstaatslehre zum Einheitsstaat steht 54 . Zugleich hat das Neugliederungsurteil deut50
G. Jellinek, Staatslehre S. 784. Laband, Staatsrecht I S. 106 (Hervorhebung i m Original). « BVerfGE 13, 54 (79). 53 Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung (1922) S. 76f.; PoetzschHeffter, Handkommentar zur Reichsverfassung (3. Aufl. 1928) S. 77; Heller, Die Souveränität (1927) S. 116f.; Werner Weber, Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem S. 49, 70 f. 54 Insoweit ist das Bundesverfassungsgericht konsequenter als die Schöpfer der Staatenstaatstheorie, die n u r auf die aktuellen Bundeskompetenzen abstellen (s. o. § 7 m i t A n m . 5). Denn ohne den Rückgriff auf die Kompetenzkompetenz des Bundes u n d damit auf die potentielle Einheitsstaatlichkeit ist es nicht möglich, die These von der Souveränität des Bundes u n d der nichtsouveränen Staatsgewalt der Länder zu begründen. Andernfalls ließe sich die Argumentation Labands, jede Reichskompetenz sei die Negation der einzelstaatlichen Souveränität (o. § 7 m i t A n m . 41), umkehren zu der These, die aktuellen Bundeskompetenzen seien durch die der Länder begrenzt, deren kompetenzmäßige Gesetze gingen seinen kompetenzwidrigen vor, folglich befände sich der B u n d ihnen gegenüber i m Unterwerfungsstatus. Erst das Recht zur einseitigen Aufhebung von Befugnissen der Länder (vgl. 51
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
lieh gemacht, daß die möglichen Thesen und Positionen, welche sich auf der Grundlage der Staatspersönlichkeitstheorie für das Bundesstaatsrecht ergeben, auch von der Rechtsprechung noch keineswegs zu den Gegenständen der Dogmengeschichte gezählt werden.
3. Die Isolierung der Länder voneinander und vom Band
Die Länder bilden eine Einheit, soweit sie dem Bundesstaat angehören. Sie gehören i h m i n dem Maße an, wie er — als Bundesinstitution — Kompetenzen besitzt, denen sie unterworfen sind. Jenseits der Bundeskompetenzen, d. h. jenseits der Kategorien „Herrschaft" und „Unterordnung" gibt es keine spezifisch bundesstaatsrechtliche Zuordnung. Das ist die wesentliche Aussage der Staatenstaatstheorie zur Zuordnung i m Bundesstaat. Dieser vom Bundesstaatsrecht ausgesparte Rechtsraum w i r d ausgef ü l l t vom Völkerrecht und den ihm zugewandten Seiten des Staatsrechts, etwa dem A r t . 24 GG und seinem auf das Bundesstaatsrecht projizierten Grundgedanken 55 . Gleichviel, ob die Bundesstaatsdogmatik sich auch gegenwärtig noch zur grundsätzlichen Anwendung von Völkerrecht bekennt oder nicht 5 6 : Die auf der Grundlage der Staatlichkeit der Länder allein konsequente Auffassung vertrat Georg Jellinek, als er schrieb: „Soweit die staatliche Sphäre der Gliedstaaten reicht, also innerhalb ihres negativen Status, stehen sie sowohl untereinander als auch m i t dem Bundesstaat i n völkerrechtlichem Verhältnisse 57 ." Laband, Staatsrecht I S. 105) r ä u m t diesen E i n w a n d aus — u m den Preis, daß zwischen Ländern u n d Gemeinden nicht mehr unterschieden werden k a n n (s. u. § 8, 1.). 55 S. o. § 4 A n m . 1. 56
Nachweise bei Neuber, Vollziehungsgemeinschaften S. 113 ff.; H. E. Giese, Staatsverträge S. 93 ff. ; s. ferner Fröhler, E i n w i r k u n g e n der Länderverfassungen S. 6 (für analoge A n w e n d u n g des Völkerrechts); Roellenbleg, DÖV 1968 S. 234 (für subsidiäre Geltung des Völkerrechts); grundsätzlich bejahend BVerfGE 1, 14 (51). 57 G. Jellinek, System S. 303 f.; ebenso B.Hirsch, Der Begriff des Bundesstaates S. 156 f. u n d (mit Einschränkungen) Thoma, Das Reich als Bundesstaat, HdbDStR I S. 178; zu Maunz s. o. §4, 2. m i t A n m . 25 a. N u r scheinbar abweichend Anschütz (Reich u n d Länder, HdbDStR I S. 298), der die v e r traglichen Beziehungen zwischen Reich u n d Ländern als solche zwischen H e r r n u n d Untertanen interpretiert u n d dieses Verhältnis nicht als völkerrechtliches, sondern als staatsrechtliches bezeichnet. I m Rahmen vertraglicher, m i t h i n aktuell koordinationsrechtlicher Beziehungen die Unterordnung der Länder annehmen heißt jedoch, auf die Vorstellung ihrer potentiell umfassenden Unterwerfung zurückgreifen. U n t e r dem Gesichtspunkt potentieller Bundesherrschaft ist der Bundesstaat aber i n Wahrheit bereits als Einheitsstaat gedacht, so daß die Ausschließung des Völkerrechts nicht mehr überraschend ist.
§ 7 Die Zuordnung von Bund und Ländern
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Die Forderung, die zuständigkeitsverändernde Zusammenarbeit der Länder müsse auf einer Ermächtigungsnorm beruhen, die dem A r t . 24 Abs. 1 GG entspreche, findet nicht allein i n der völkerrechtlichen Lösung des Zuordnungsproblems ihren Grund. Ebenso ausschlaggebend ist der Primat der Einheit, der m i t der Staatspersönlichkeitslehre verbunden ist. Die juristische Person ist eine willens- und handlungsfähige Einheit, sie ist une et indivisible 5 8 . Sie fügt die vielfältigen Erscheinungsformen der staatlichen Organisation dadurch zusammen, daß sie i n ihnen den lediglich organschaftlichen Ausdruck einer hinter der Vielfalt stehenden Einheit sieht. Umgekehrt vermittelt nur die Organschaft die Vorstellung der Einheit: Weil „staatliche Organtätigkeit Staatstätigkei selbst ist, ja andere Staatstätigkeit als die durch Organe vermittelte überhaupt nicht existiert" 5 9 , deshalb ist jede Ausschaltung der Organe bei Angelegenheiten, die die Einheit betreffen, zugleich eine partielle Verneinung der repräsentierungsbedürftigen Einheit selbst. Ist es aber die rechtlich entscheidende Eigenschaft des Staates, eine Einheit zu sein, so ist es selbstverständlich, daß jede Beeinträchtigung der Einheit durch Delegationen der Ermächtigung auf der höchsten Stufe der Rechtsordnung, d. h. auf der Stufe der Verfassung dieser Einheit bedarf — gleichviel, welche inhaltliche Bedeutung die delegierte Angelegenheit hat. Die Beschränkung des ungeschriebenen Zuordnungsrechts i m Bundesstaat auf die völkerrechtlichen Beziehungen zwischen selbstgenügsamen staatlichen Einheiten w i r d dadurch bestätigt, daß die Pflicht zu „bundesfreundlichem Verhalten" für die Staatenstaatstheorie dogmatisch nicht vollziehbar ist und allenfalls gewohnheitsrechtliche Anerkennung finden kann. Nicht zufällig ist diese Inpflichtnahme zuerst allein aus der vertraglichen Entstehung des Deutschen Reiches als eines Fürstenbundes abgeleitet worden 8 0 . I n einem Bundesstaat, der demgegenüber auf der verfassunggebenden Gewalt des Volkes beruht und keine vertragsrechtlichen Elemente auf weist, ist eine solche Begründung jedoch ausgeschlossen. Wenn für den „Rechtsgrundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens" auch i n der Gegenwart noch auf den Aufsatz Smends Bezug genommen wird, so ist dies um so weniger überzeugend, wenn gleichzeitig von einem verfassungsrechtlichen „Bündnis" nur i n Anführungszeichen gesprochen w i r d 8 1 . Die vor allem in der Rechtsprechung, 58
Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 19. G. Jellinek, Staatslehre S. 369; vgl. oben § 6 m i t A n m . 35. 60 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht i m monarchischen Bundesstaat (1916), i n : Abhandlungen S. 39 ff. (49 ff., 57). " So jedoch BVerfGE 1, 299 (315); 6, 309 (361). — Anders steht es m i t der Begründung der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten durch die Zuordnung der Verfassungsorgane, die Smend später i n den Vordergrund stellte (vgl. etwa Verfassung u n d Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 246, u. unten § 16, 1 m i t A n m . 1 u. 4). 59
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
aber auch i n der staatsrechtlichen Diskussion stark beachteten Begriffe der Bundestreue und des bundesfreundlichen Verhaltens 6 2 haben daher i m Rahmen der an Laband, Anschütz und Georg Jellinek anknüpfenden herrschenden Theorie des zweigliedrigen Bundesstaates noch keine durchschlagende Begründung erfahren. Diese Theorie führt allenfalls zu einer keineswegs nur dem Bundesstaat eigentümlichen Pflicht zu „verfassungsfreundlichem Verhalten" 6 3 — wobei hier dahingestellt bleibt, welche Lösung dem geltenden Recht entspricht. Erst der Verzicht auf die strenge Durchführung der herrschenden Dogmatik läßt Ansätze für eine stärkere, über die völkerrechtsähnliche Isolierung und Selbständigkeit hinausführende Zuordnung von Bund und Ländern erkennen. Bayer, der zu den Fragen der Bundestreue eine umfassende Untersuchung vorgelegt hat, bezeichnet zwar die herrschende Lehre als seinen Ausgangspunkt 64 . I n der praktischen Durchführung gelangt er jedoch zu seiner These, die Bundestreue sei ein dem Wesen des Bundesstaates immanenter Rechtsgrundsatz, erst i n Anlehnung an die Bundesstaatstheorie Carl Schmitts* 5, welche den „Dualismus politischer Existenz" 6 6 durch die Annahme fundamentaler Homogenität entschärft 67 . Diese Kategorien verweisen vor allem auf die Vorstellung einer substantiellen politischen Gemeinsamkeit, die über die rechtsdogmatische Gegenüberstellung subjektiver Einheiten durch die herrschende Lehre hinausgeht. Gleiches gilt für die Theorie Walter Schmidts, die zwar i n Übereinstimmung m i t der Zweigliedrigkeitslehre den Staatscharakter der Gesamtheit von Bund und Ländern verneint, aber zu einer schlüssigen Begründung des bundesfreundlichen Verhaltens deshalb gelangen kann, weil sie i n Abweichung von der herrschenden Lehre diese Gesamtheit nicht als ein juristisches Nichts kennzeichnet, sondern als ein Gesamtgefüge, das durch die Vorstellung einer „an der Quelle einheitlichen Staatsgewalt des Volkes" zusammengehalten w i r d 6 8 . 62 Vgl. insbesondere BVerfGE 1, 299 (315); 4, 115 (140); 6, 309 (361 f.); 8, 122 (138 ff.); 12, 205 (255 ff.); 13, 54 (75 ff.). — Schrifttumsnachweise bei Bayer, Die Bundestreue (1961) S. 53 f., Fuß, Die Bundestreue — ein unentbehrlicher Rechtsbegriff? DÒV1964 S. 37 ff.; Grawert, Verwaltungsabkommen S. 139 f. Detailliert zur geschichtlichen Entwicklung Schröcker, Ungeschriebenes V e r fassungsrecht i m Bundesstaat, i n : Der Staat Bd. 5 (1966) S. 137 ff., 315 ff. 88 Gerhard Kaiser, Z u r Ableitung des Verfassungsprinzips des „bundesfreundlichen Verhaltens" aus dem Begriff des Bundesstaates, D Ö V 1961 S. 653 ff. (657). 84 Bayer, Die Bundestreue S. 40. 85 Bayer, ebd. S. 42. 88 Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 371. 87 Carl Schmitt, ebd. S. 376 ff. 88 Vgl. Walter Schmidt, B u n d u n d Länder i m demokratischen Bundesstaat, AöR 87 (1962 S. 274, 278.
§ 7 Die Zuordnung von Bund und Ländern
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Geigers Abhandlung über „Die wechselseitige Treuepflicht von Bund und Ländern" 6 9 steht, i n Anlehnung an das Konkordatsurteil und das Volksbefragungsurteil des Bundesverfassungsgerichts 70 , noch ausdrücklich i m Zeichen der — allerdings nicht i n ihren rechtssubjektiven Konsequenzen durchgeführten — Dreigliedrigkeitstheorie. Sein späterer Vortrag über „Mißverständnisse um den Föderalismus" führt zwar teilweise die Zweigliedrigkeitslehre i n dogmatischer Strenge durch 71 . Zur Begründung der Treuepflicht zwischen Bund und Ländern greift Geiger jedoch auf den Gedanken eines „Internums des Bundesstaates", eines „Innenverhältnisses Bund-Länder" 7 2 zurück, der mit der Identität von Bund und Bundesstaat ebensöwenig zu vereinbaren ist wie die These, Bund und Länder seien je i n gleicher Weise auf das Ganze, den Bundesstaat, hingeordnet und schuldeten „sich gegenseitig um dieses Größeren willen ,Treue 1 " 7 8 . Auch das Bundesverfassungsgericht vermag den Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens am ehesten dann überzeugend zu entwikkeln, wenn es von der Identität von Bund und Bundesstaat absieht. Jener Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens, so heißt es i m Volksbefragungsurteil 74 , habe „die Funktion, die aufeinander angewiesenen ,Teile 4 des Bundesstaates, Bund und Länder, stärker unter der gemeinsamen Verfassungsrechtsordnung aneinander zu binden, aber nicht die Aufgabe, das bundesstaatliche Gefüge zu lockern". I m Urteil über die Verfassungsmäßigkeit eines nordrhein-westfälischen Besoldungsgesetzes gibt das Gericht den Ländern zu bedenken, „daß trotz der i n A r t . 109 GG verbürgten selbständigen Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern das Finanzwesen i m Bundesstaat ein Gesamtgefüge darstellt" 7 5 . Ungeachtet seines eindeutigen Bekenntnisses zum zweigliedrigen Bundesstaat scheint auch das Neugliederungsurteil vom 11. J u l i 1961 ein Zugeständnis an die Dreigliedrigkeitstheorie dort zu enthalten, wo es die Erläuterung der Bundestreue zum Gegenstand hat: Hier spricht das Gericht vom „Wohl des Ganzen", an dem sich die dem Bund auferlegte Neugliederung zu orientieren habe 78 . Daß damit bereits der Bund allein als „das Ganze" angesehen und i h m hierdurch die Orientierung an seinem eigenen Wohl geboten worden wäre, ist kaum anzunehmen 77 . 89 70 71
72 78 74 75 78 77
Geiger, i n : Föderalistische Ordnung (1961) S. 113 ff. BVerfGE 6, 309 (364); 8, 122 (140). S. o. § 7 m i t A n m . 17 f.
Geiger, Mißverständnisse S. 16, 21. Geiger, a.a.O. S. 16 (Hervorhebung n u r hier). BVerfGE 8, 122 (140). BVerfGE 4, 115 (140). BVerfGE 13, 54 (76). Insoweit zutreffend Harbich, Bundesstaat S. 49 ff.
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
Ein Ansatzpunkt zu spezifisch bundesstaatlicher Zuordnung scheint allerdings auch für die Staatenstaatstheorie zu bestehen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich i m Neugliederungsurteil auf die potentielle Bundesherrschaft berufen 7 8 . I h r unterworfen zu sein, könnte als ein Spezifikum der Länder gelten, das sie nicht m i t völkerrechtlichen Einheiten teilen 7 9 . Die Konkretisierung dieser Zuordnung müßte allerdings von dem Leitbild ausgehen, das sich aus der potentiellen Herrschaftsbeziehung ergibt: vom Leitbild fürsorgender Herrschaft und treuer Untertanenschaft. Der potentielle Herrscher wäre zu Fürsorge und Schutz gegen Dritte verpflichtet; den potentiellen Untertanen obläge es, ihre eigenen Vorstellungen und Interessen denen des potentiellen Herrn unterzuordnen, anstatt von einer Basis der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aus durch wechselseitige — nicht einseitige — Rücksichtnahmen Gegensätze abzugleichen und konkrete Lösungen zu erarbeiten. Diese Interpretation der bundesstaatlichen Zuordnung wäre zwar neu gegenüber der bisherigen Rechtsauffassung, aber immerhin i n sich schlüssig 80 . A u f Schwierigkeiten stößt dieses Zuordnungsrecht der Staatenstaatstheorie jedoch i m geltenden Recht. Sieht m a n von der Fragwürdigkeit der potentiellen Bundesherrschaft ab, so bliebe zu klären, auf welche Regelungsgebiete sich die Zuordnung erstrecken soll. Einerseits k a n n die potentielle Bundesherrschaft wegen der Bestandsgarantie des A r t . 79 Abs. 3 GG nicht umfassend sein. Andererseits steht es aber dem B u n d w e i t h i n frei, zu bestimmen, welche Kompetenzen er an sich zieht 8 1 . Die Reichweite der potentiellen B u n desherrschaft k a n n daher nicht konkret abgegrenzt werden. Dies ist letztlich i m Wesen einer institutionellen Garantie begründet: Sie relativiert die subj e k t i v e n Einheiten, insbesondere die des Herrschers u n d des Untertanen, u n d verlangt die Vorstellung eines Gesamtgefüges. H i e r i n steht sie i n klarem Gegensatz zur Staatenstaatstheorie.
Nach alledem bleibt das Ergebnis dieses Abschnitts unberührt, daß die Kategorien der Staatspersönlichkeitslehre — Einheit und Herrschaft —, zu denen sich die herrschende Zweigliedrigkeitstheorie bekennt, bundesstaatsrechtlich greifbare Aussagen über die Gesamtheit von Bund und Ländern nicht gestatten und folglich jeglichen Ansatz zu einem ungeschriebenen Recht der Zuordnung ausschließen. Dieses Ergebnis ist nicht neu. Den leitenden Gesichtspunkt hat bereits Otto v. Gierke i n seiner K r i t i k an Labands Staatsrecht hervorgehoben 82 . Laband habe zwar i m Anschluß an Haenel erkannt, daß weder der 78
S. o. § 7 m i t A n m . 52. Vgl. o. § 7 I n m . 57. 80 Über Ansätze hierzu bei Triepel u n d Anschütz berichtet Bayer, Bundestreue S. 53 f. 81 Maunz - Dürig, Grundgesetz, A r t . 79 Rdnr. 35. 82 v.Gierke, Labands Staatsrecht u n d die deutsche Rechtswissenschaft, i n : Schmollers Jahrbuch Bd. 7 (1883) S. 1097 ff. (1167). 78
§ 7 Die Zuordnung von Bund und Ländern
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Bund noch die Länder, als objektive Institutionen betrachtet, Staaten seien, sondern „Staat schlechthin (sei) nur der Bundesstaat als die Totalität beider" 8 3 . Bei seinem Versuch, den der objektiven Einheit entsprechenden subjektiven Zusammenhang aufzusuchen, lasse Laband jedoch „an dieser entscheidenden Stelle den ganzen Gedanken der Verbundenheit fallen. Er konstruiert den Oberstaat und die Unterstaaten als schlechthin für sich stehende Personen, und er kann sie auch nicht anders konstruieren, da i h m sein zivilistischer Persönlichkeitsbegriff jede andere Möglichkeit abschneidet" 84 . Es kann vorerst dahinstehen, ob v. Gierke der Labandschen Persönlichkeitslehre durch die Kennzeichnung als zivilistisch voll gerecht w i r d oder ob ihr nicht sehr konkrete Vorstellungen über Staat und Gemeinwesen zugrunde liegen. Hier interessiert nur seine Feststellung, daß es der Persönlichkeitsbegriff Labands — allgemeiner: der der später zur Herrschaft gelangten anorganischen Theorie — sei, welcher die rechtliche Isolierung von Bund und Ländern bedinge. Diesen Persönlichkeitsbegriff hieße es sprengen, wollte man den Bundesstaat als „eine zusammengefaßte Vielheit" von Bund und Ländern verstehen 85 . Denn mit der Vorstellung einer Einheit, wie sie von der anorganischen Theorie geprägt wird, ist die Mehrheit von Willensträgern bzw. Rechtssubjekten unvereinbar, bedeutet sie doch eine Gliederung und damit eine (begrenzte) Teilung der Einheit. „Persönlichkeit ist Individuum, d. h. ein seinem Wesen nach Unteilbares" 8 8 ; „eine Persönlichkeit kann nicht zwei Willen haben" 8 7 . W i r d die Persönlichkeit i n Teile zerlegt, die ebenfalls wieder Personen sind, dann w i r d dadurch „der Gesamtverband aus einer Einheit zu einer Summe von Einheiten degeneriert, d. h. seine Persönlichkeit aufgehoben" 8 8 . Da der Staat primär eine juristische Person sein soll 8 9 , die Gesamtheit von Bund und Ländern — jeweils i n ihrem eigenen Kompetenzbereich — aber eine Summe von Rechtspersonen ist, bleibt ihr die juristische Kennzeichnung als Staat notwendig versagt. Aber auch andere rechtserhebliche Aussagen über ihre Gesamtheit sind ausgeschlossen, denn als rechtssubjektive Einheiten sind sie i m Rahmen der anorganischen Theorie „schlechthin für sich stehende Personen" 90 . Besteht keine absolute Einheit — i m Bundesstaat ist sie auf die Herrschaft des Bundes 88 84 85 88 87 88 89 90
Vgl. Laband, Staatsrecht I S. 82. v. Gierke, Labands Staatsrecht, a.a.O. S. 1167. Laband, a.a.O. S. 84. Jellinek, Staatslehre S. 502. Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 20. Laband, Staatsrecht I S. 85. S. o. § 6 A n m . 19, 20. ν . Gierke, Labands Staatsrecht, a.a.O. S. 1167.
β Hempel
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und die Unterwerfung der Länder beschränkt —, so besteht notwendig die atomisierte Vielheit ohne eine spezifische (bundesstaatsrechtliche) Zuordnung. Zwischenformen, wie sie nur relative Selbständigkeit der einzelnen Momente eines institutionellen Gefüges mehrerer letztinstanzlicher Zurechnungseinheiten, sind ausgeschlossen. Laband wehrt sich zwar gegen diese i h m von Otto v. Gierke vorgehaltene Konsequenz seiner Gegenüberstellung isolierter Einheiten: Man dürfe seine Gedanken „nicht i n den Unsinn verkehren, als ob der enge Zusammenhang zwischen der Existenz und dem gesamten Wirkungskreis des Reiches und der Einzelstaaten negiert werden sollte"; „die Abstraktion, welche Reich und Gliedstaaten voneinander isoliert . . . , verträgt sich vollkommen m i t der engen und unlöslichen Verbindung, welche zwischen ihnen besteht" 9 1 . Nur: Der enge Zusammenhang und die unlösliche Verbindung zwischen den Rechtssubjekten bleiben ohne Konsequenz für seinen Bundesstaatsbegriff 92 .
§ 8 Land und Gemeinde Das systematische Interesse an der Abgrenzung von Bundesstaat und Einheitsstaat gehört zu den wesentlichen Motiven der Staatenstaatstheorie. Aber auch die moderne Hermeneutik kann diese Abgrenzungsfrage nicht ignorieren, da die Distanzierung von einheitsstaatlichen Ordnungen zum Selbstverständnis der bundesstaatlichen Verfassungen, insbesondere des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 GG), gehört. Eine Untersuchung der Staatenstaatstheorie und ihrer Tragfähigkeit muß daher auch diesem Problem nachgehen. Die Erörterung der Grundlagen der Staatenstaatstheorie und des ihr entsprechenden Zuordnungsrechts hat bereits den Ausgangspunkt sichtbar gemacht, von dem aus die Staatenstaatstheorie das Abgrenzungsproblem lösen muß: Da sie auf eine Aussage über die Gesamtheit von Bund und Ländern verzichtet, kann das Abgrenzungskriterium nicht i n der Aufgabe und Struktur der Gesamtorganisation gefunden werden, sondern nur i n der Definition der einzelnen Einheiten Bund und Länder. Die Kategorien „Einheit" und „Herrschaft" lassen keinen Unterschied zwischen der Rechtspersönlichkeit des Einheitsstaates und der des Bundesstaates erkennen. Insbesondere w i r d der Bundesstaat nicht anders als der Einheitsstaat als befugt angesehen, über seine Mitglieder zu disponieren 1 . Daher muß das entscheidende Merkmal des Bundesstaates i m Status der einzelnen Länder gesucht werden. Dieser Status wieder91 92 1
Laband, Staatsrecht I S. 85; ähnlich S. 63. Zutreffend Haenel, Staatsrecht I S. 206. S. o. § 7 m i t A n m . 49.
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um weist erhebliche Ähnlichkeit m i t dem der Einrichtungen gebietskörperschaftlicher Selbstverwaltung auf, für die die Gemeinden herkömmlich als repräsentativ gelten. Die verfassungsrechtliche Qualifizierung des Bundesstaates reduziert sich daher für die Staatenstaatstheorie i m wesentlichen auf die Abgrenzung von Land und Gemeinde.
1. Die unabgeleitete Landesgewalt
I m Rahmen der Lehre von der Rechtspersönlichkeit des Staates besteht die Möglichkeit, die Länder durch ihren status negativus (vgl. Art. 30 GG) oder (und) ihren status activus (vgl. A r t . 50 GG) näher zu bestimmen. Die Qualifizierung durch den status negativus stellt die Länder i m Ansatz allen Mitgliedern juristischer Personen gleich 2 . Jedoch: „Die Freiheitssphäre der Gliedstaaten geht noch viel weiter als die aller privaten Korporationen und öffentlichen Selbstverwaltungskörper i m Staate . . . Darin, daß der Gliedstaat Hoheitsrechte als seiner von der Bundesgewalt freien Sphäre zugehörig i n Anspruch nehmen darf, unterscheidet er sich grundsätzlich von jedem Kommunalverband, der Herrschermacht zu Lehen, aber nicht zu Eigen besitzt 3 ." Das K r i t e r i u m des eigenen, aus der Einheit selbst hervorgehenden, von keinem anderen Verband abgeleiteten Herrschaftsrechts bezeichnet die Position der herrschenden Bundesstaatenlehre und w i r d insbesondere auch vom Bundesverfassungsgericht für maßgebend gehalten 4 . Als erster hat Otto v. Gierke i n seiner Abhandlung über Labands Staatsrecht die Lehre vom „eigenen" oder „unabgeleiteten" „Recht" der Einzelstaaten — damals fehlte ihr noch die Beschränkung auf das Herrscha/tsrecht — kritisiert. Eigenes (Herrschafts-)Recht, so argumentierte v. Gierke, könne nicht auf die Innehabung des Rechts bezogen sein, denn jedes Recht gehöre „eben soweit, wie es reicht, seinem Subjekte zu eigen", folglich auch die den Gemeinden nur zur Ausübung überlassenen (Herrschafts-)Rechte des Staates 5 . 2
Vgl. G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte S. 84 ff., 90 f. G. Jellinek, System S. 297; i n der Sache ebenso ders., Staatslehre S. 489; Laband, Staatsrecht I S. 65, 72; Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 68. 4 BVerfGE 1, 14 (34) u n d die oben § 6 A n m . 7, 8 Genannten. Weitere Nachweise bei Usteri, Theorie des Bundesstaates S. 127, u. Harbich, Bundesstaat S. 16 A n m . 19. — Auch die Bundesregierung hat sich dieser Lehre angeschlossen (BTDrucks. V/2861, Tz. 10, 33). 5 v. Gierke, Labands Staatsrecht (1883), a.a.O. S. 1164; ebenso Haenel, Staatsrecht I (1892) S. 800; Kelsen, Das Problem der Souveränität (2. Aufl. 1928) S. 68. 8
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Ferner könne es auf den Erwerb bzw. Nichterwerb von einem anderen Verband nicht ankommen, weil „auch das Recht vieler heutiger Korporationen zweifellos niemals vom Staate ,übertragen 4 " worden sei 6 . N u n ist dies (als historische Feststellung) auch von Laband nicht bestritten worden 7 ; wohl aber versuchte Georg Jellinek, das „eigene" Herrschaftsrecht des Staates und das abgeleitete der Gemeinden historisch zu belegen. I m Absolutismus habe der Staat — als der große Leviathan — alles ursprüngliche Herrschaftsrecht der i h m Eingegliederten verschlungen 8 . Die spätere Emanzipation nicht nur der Bürger, sondern auch der Gemeinden sei als „ein großartiger Prozeß der Selbsteinschränkung und Übertragung des Imperiums durch den Staat" zu verstehen 9 . „ K r a f t der Natur des modernen Staates" verfügten die Gemeinden daher nur über ein vom Staate abgeleitetes Herrschaftsrecht 10 . Sollte der absolutistische Leviathan das Wesen des Staatlichen so nachhaltig prägen, daß auch i n der Gegenwart noch die Befugnisse der Gemeinden als seine „Lehensgabe" erscheinen, so dürfte bei der Definition gegenwärtiger Staatlichkeit grundsätzlich nicht hinter die geschichtliche Zäsur durch den Absolutismus zurückgegriffen werden. Bei konsequenter Durchführung des absolutistischen Staatsmodells wäre daher zu erwarten, daß Jellinek auch die i n jener Zeit herausgebildete Lehre von der Souveränität als begriffswesentlichem Element des Staates billigte; dies um so mehr, als er den Absolutismus aus dem Gegensatz zum Mittelalter und seiner korporativen Selbständigkeit verstand, jenem „ f ü r alle Zeiten abschreckenden Beispiel", bei dem der Staat „ i n Trümmer zu gehen drohte" 1 1 . Überraschend ist daher seine Begründung für die Existenz nichtsouveräner Staaten: Der mittelalterliche Staat sei zwar nicht souverän, aber bereits Staat gewesen 12 . Diese gegensätzliche Bewertung ein und derselben geschichtlichen Epoche 13 bestätigt den Einwand v. Gierkes, daß zumindest eine historische Beweisführung nicht i n der Lage ist, ein fremdes Herrschaftsrecht der Gemeinden dem eigenen Herrschaftsrecht der Länder gegenüberzustellen. 8 v. Gierke , Labands Staatsrecht, a.a.O. S. 1163; ebenso Leibholz, Gleichheit vor dem Gesetz (1925) S. 133 f. 7 Laband, Staatsrecht I S. 70 A n m . 2. 8 Daß diese Beurteilung eines geschichtlichen Kerns nicht entbehrt, w i r d bestätigt durch den Immediatbericht Schroetters u n d Steins an den preußischen K ö n i g v o m 9. September 1808 (E. R. Huber, Verfassungsgeschichte Bd. I S. 173 f.). Vgl. ferner die Hinweise Knauts, Geschichte der Verwaltungsorganisation (1961) S. 61 f. 9 G. Jellinek, System S. 287; ähnlich Quaritsch, Kirchen u n d Staat, i n : Der Staat Bd. 1 (1962) S. 175 ff. (zusammenfassend S.320); a. A . Laband, Staatsrecht I S. 105. 10 G. Jellinek, a.a.O. S. 288. 11 G. Jellinek, a.a.O. S. 287. 12 G. Jellinek, Staatslehre S. 487. 18 Hierauf macht Usteri, Theorie des Bundesstaates S. 134, aufmerksam.
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Eine rechtssystematische Beweisführung kann versuchen, als abgeleitet dasjenige Herrschaftsrecht zu definieren, welches „der legalen Einwirkung" eines anderen Verbandes „stets unterworfen ist" 1 4 . H i n sichtlich der Gemeinden folgert Laband aus diesem Ansatz: „Der Staat gibt ihnen durch die Gemeindeordnung die rechtliche Existenz, die Verfassung, die Zuständigkeit, die Rechte und Pflichten und er kann einseitig alles dies durch eine Abänderung der Gemeindeordnung umgestalten; der Staat kann neue Gemeinden bilden, bestehende teilen, zusammenlegen, vernichten. Die Gemeinden haben keine öffentlichen Rechte als die ihnen vom Staat verliehenen 1 5 ." Fraglich ist jedoch, ob hierin zugleich ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber den nichtsouveränen Ländern liegt. Denn ganz entsprechend stellt Laband das Verhältnis von Bundesstaat und Ländern dar: „Das Reich hat nämlich nach Art. 78 ideell eine unbegrenzte Kompetenz: Es kann die verfassungsmäßig festgestellte Grenze zwischen seiner Machtsphäre und der Machtsphäre der Einzelstaaten i n der Form der Verfassungsänderung einseitig, d. h. ohne Zustimmung der einzelnen Gliedstaaten, verändern; es kann also den Gliedstaaten die ihnen verbliebenen Hoheitsrechte entziehen. I n einem gewissen Sinn kann man daher sagen, daß die Einzelstaaten ihre obrigkeitlichen Rechte . . . nur durch den Willen des Reiches haben 1 6 ." Laband hat nicht verkannt, daß hier seine Position Anlaß zur K r i t i k geben könnte. Er betont daher, ein vom souveränen Staat nur geduldetes Recht sei noch nicht ein von i h m abgeleitetes Recht: „Der Staat ist nicht positiv Ursprung und Quelle, Schöpfer und Träger dieser Rechte, sondern sein Wille ist nur ein negatives Erfordernis, indem Rechte, welche der Staat nicht duldet, nicht entstehen oder fortbestestehen können 1 7 ." Die hierin liegende Trennung „des gesetzlich regulierten und des abgeleiteten subjektiven Rechts" 18 mag vertretbar sein, wenn man beide Begriffe konsequent auseinanderhält. Vom „abgeleiteten" Recht wäre folglich nicht schon aufgrund von Einwirkungsbefugnissen einer anderen Einheit zu sprechen, sondern nur aufgrund ihrer Eigenschaft, „Quelle, Schöpfer und Träger" dieses Rechts zu sein. Das aber fordert wieder die bereits beantwortete Frage heraus, ob „Schöpfer" der Gemeinderechte — i m Gegensatz zu den Rechten der Länder — tatsächlich der absolutistische Leviathan und seine Nachfolger gewesen sind. Laband fügt dieser Unzulänglichkeit seines Abgrenzungskriteriums einen methodischen Widerspruch hinzu. Er erläutert die Rechte der 14 15 18 17 18
G. Jellinek, System S. 288. Laband, Staatsrecht I S. 70 A n m . 2. Laband, Staatsrecht I S. 105 (Hervorhebung i m Original). Laband, ebd. Haenel, Staatsrecht I S. 800.
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Länder m i t der Bemerkung: „Sie haben ihren positiven Grund i n der historischen Tatsache, daß die Einzelstaaten älter sind als das Reich, daß sie souveräne Gemeinwesen waren, bevor das Reich gegründet worden ist 1 9 ." Zuvor kritisierte Laband noch: „Viele Schriftsteller schreiben der Gemeinde eigene Herrschaftsrechte und eine eigene Zwangsgewalt zu und berufen sich darauf, daß viele Gemeinden älter sind als die Staaten, zu welchen sie gehören. Dies ist eine historische Betrachtung, aber keine juristische 20 ." Letztlich sieht sich der Leser, dem als einziger Weg zur Lösung dogmatischer Probleme die Logik genannt wurde 2 1 , auf die Begründung verwiesen: „Herrscher" (aus eigenem Recht) „ist nicht der Bürgermeister, sondern der König. Das offenbart sich dem allgemeinen politischen Empfinden und ist eine Wahrheit, die man f ü h l t . . ." 2 2 . Die Widersprüche i n den Ausführungen Jellineks und Labands, die beide die noch heute überwiegend vertretene Lehre vom unabgeleiteten Herrschaftsrecht geprägt haben, beruhen nicht auf versehentlichen Formulierungen. Es besteht auf der Grundlage ihrer allgemeinen Dogmatik i n der Tat die Alternative, das abgeleitete Herrschaftsrecht entweder historisch zu verstehen — m i t dem Ergebnis, daß sowohl die Länder als auch die Gemeinden unabgeleitete Herrschaftsrechte innehaben können; oder es rechtssystematisch i n der Weise zu erfassen, daß mit der Unterwerfung unter die Gewalt eines anderen Verbandes auch der Delegationszusammenhang hergestellt ist — m i t dem Ergebnis, daß die Herrschaftsrechte von Ländern und Gemeinden i n gleicher Weise vom souveränen Staat, dem sie als Mitglieder angehören, abgeleitet sind 23 . M i t der These, der Bundesstaat sei souverän und den nichtsouveränen Ländern prinzipiell übergeordnet, haben Laband und Jellinek und die ihnen folgende Lehre sich letztlich zur zweiten Alternative bekannt. Ihr Ziel, m i t der Figur der „unabgeleiteten Landesstaatsgewalt" den status negativus der Länder von dem der Gemeinden abzugrenzen, haben sie damit verfehlt. Sie haben vielmehr den Schritt zum Einheitsstaat vollzogen 24 . 19
Laband, a.a.O. S. 106. Laband, a.a.O. S. 70 A n m . 2. A u f diesen Widerspruch weist Kelsen, Souveränität S. 69, hin. 21 Laband, a.a.O. Einleitung S. I X . 22 Laband, a.a.O. S. 73, A n m . 3 von S. 72. 23 S. hierzu auch unten § 8, 2. m i t A n m . 43. 24 Z u dieser einheitsstaatlichen Konsequenz s. bereits oben § 7, 2. a. E. m i t Anm. 54 sowie Heller, Souveränität S. 116. — Kritisch zur Theorie der u n abgeleiteten Staatsgewalt der Länder ferner Fleiner - Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht S. 44; Usteri, Bundesstaat S. 128ff.; B.Hirsch, Der Begriff des Bundesstaates S. 51 f.; Walter Schmidt, Der bundesstaatliche A u f bau S. 17 f. 80
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2. Die souveräne Landesgewalt
Die Hechtspersönlichkeitslehre Labands und Jellineks steht allen Versuchen entgegen, die Unterwerfung der Länder unter den Bundesstaat zu eliminieren. Denn jede Bundeskompetenz findet ihre Entsprechung i m Unterwerfungsstatus der Länder 2 5 . Ohne Unterwerfung — und das heißt nach dem bisherigen Ergebnis: ohne Abgeleitetheit der Landesgewalt — kann keine Bundeskompetenz konstruiert werden. Soll die Unabgeleitetheit der Landesgewalt, die i m rechtssystematisch-formalen Sinne m i t Souveränität identisch ist 2 6 , nicht schon i m Ansatz ausgeschlossen und damit die Konstruktion des Bundesstaates als Staatenstaat von vornherein unmöglich sein, so muß die anorganische Staatspersönlichkeitslehre modifiziert werden. Eine solche Umformung ergibt sich schlüssig aus einem Staatsverständnis, das ausschließlich an die eigene Rechtsordnung der als staatlich nachzuweisenden Einheit anknüpft. Hier personifiziert die Staatspersönlichkeit nicht das Verhältnis der Über- und Unterordnung i n der übergeordneten Macht 2 7 . Sie personifiziert vielmehr entweder ausschließlich einen Komplex von Rechtsnormen, eine Rechtsordnung 28 , oder eine soziologisch verstandene Organisation 29 , die aber letztlich gleichfalls nur durch (Zuständigkeits-)Normen individualisiert wird. Bund und Länder sind m i t h i n Personifizierungen des Bundesrechts und des Rechts jedes einzelnen Landes. Eine Überordnung des Bundes besteht daher nicht schon per se kraft der Existenz von Bundesrecht, sondern kann nur insoweit bestehen, als Bundesrecht dem Landesrecht überlegen ist. Dies scheint bei den von Herzog als „übergreifendes Verfassungsrecht" bezeichneten Normen 3 0 der Fall zu sein: bei der Befugnis des Bundes zur Neugliederung (Art. 29 GG), dem Bundeszwang (Art. 37), der Homogenitätsnorm des A r t . 28 Abs. 1, der KompetenzKompetenz des Art. 79 und mehreren anderen Vorschriften. Sollen die Länder gleichwohl als souveräne Staaten bezeichnet werden können, so darf die Geltung des Bundesverfassungsrechts, das auf das Landesrecht übergreift, nicht i n letzter Instanz auf der Rechtsord25
S. o. § 7 A n m . 42. Die Identität beider Begriffe vertreten außer Kelsen (s. o. § 8 m i t A n m . 23) Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff S. 46 f. ; Maunz, Staatsrecht S. 180; Harbich, Bundesstaat S. 18, u n d der Sache nach Herzog, DÖV 1962 S. 81 A n m . 4, 82, 85. 27 S. o. § 6. 28 Kelsen, Souveränität S. 18; H.J.Wolff , Organschaft u n d juristische Person I S. 435, 498 f. 20 Nawiasky, Staatslehre 1. T e i l S. 49, 50, 170; Der Bundesstaat als Rechtsbegriff (1920) S. 16 f. 30 Herzog, DÖV 1962 S. 81. 26
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nung des Bundes beruhen. Denn dann wäre seine Rechtsordnung i m Vergleich m i t den Rechtsordnungen der Länder die höhere und schlösse deren Souveränität aus. Die Geltung des die Länder verpflichtenden Bundesverfassungsrechts muß vielmehr auf ihrem eigenen Willen beruhen. Nawiasky nimmt an, jede der beiden Staatsrechtsordnungen, die des Bundes und die der einzelnen Länder, beschränke sich selbst und verweise für den ihr fehlenden Teil staatlicher Aufgaben und Befugnisse auf die andere, ergänzende Ordnung. Diese Verweisung soll „kraft der inhärenten Bedingung der Gegenseitigkeit, nicht kraft einseitigen A u f trags oder einseitiger Vollmacht" gelten. Damit läge keine einseitige Abhängigkeit, „nicht Subordination sondern Koordination" vor 3 1 . Aber eine Rechtsordnung, deren Geltung von der Verweisungsnorm einer anderen Rechtsordnung abhängt, findet nicht mehr alle Geltungsvoraussetzungen i m eigenen Bereich vor. Sie ist nicht souverän 82 . Demgegenüber verzichtet Herzog 33 auf die Konstruktion wechselseitiger Verweisung. Er nimmt stattdessen an, jeder der m i t unbeschränkter, unabgeleiteter und ausschließlicher Staatsgewalt 34 ausgestatteten Staaten beschränke selbst seinen eigenen Wirkungsbereich. Er schaffe zunächst ein „Hoheitsvakuum" 3 5 , i n das der andere Partnerstaat sodann eintreten könne. Damit die Unbeschränktheit und Unteilbarkeit der Staatsgewalt gewahrt bleibe, dürfe dieser Vorgang nicht als dinglicher Verzicht auf Staatsgewalt verstanden werden, sondern nur als eine die Ausübung betreffende Selbstbeschränkung „auf der Ebene der Verfassung"; sie führe zum „Makel der Verfassungswidrigkeit" zuwiderlaufender Handlungen 3 6 . Nicht die Bundesgewalt soll demnach auf dem Willen der Länder beruhen, sondern das Hoheitsvakuum, i n das der Bund — durch „nationale Tat" entstanden 37 und von den Ländern unabgeleitet — eintrete. Der Einwand liegt nahe, daß m i t dieser Konstruktion das Problem nur verschoben ist. Denn auch die Entstehung des Hoheitsvakuums ist 31
Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff S. 25. Usteri, Theorie des Bundesstaates S. 168 bis 180. Kritisch zu Nawiasky ferner Walter Schmidt, Der bundesstaatliche A u f b a u S. 26 m i t A n m . 202. 88 Herzog, Bundes- u n d Landesstaatsgewalt, DÖV 1962 S. 81 ff. V o n diesem Beitrag zur K o n s t r u k t i o n des Staatenstaates distanziert sich Herzog nunmehr aus methodischen Gründen, i n : JuS 1967 S. 193. Seine früheren Ausführungen bleiben jedoch bedeutsam f ü r die immanente K r i t i k an der Staatenstaatstheorie. 84 Herzog, a.a.O. S. 81 A n m . 2. 85 Herzog, a.a.O. S. 83 f.; entsprechend Maunz-Dürig (Art. 24 GG, Rdnr. 7 cc) zum Problem übernationaler Gemeinschaften. 88 Herzog, a.a.O. S. 85; Harbich, Bundesstaat S. 59 f., 96. 87 Herzog, a.a.O. S. 85; ebenso Harbich, Bundesstaat S. 54 m. w. Nachw. 82
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eine rechtliche Voraussetzung der Staatsgewalt bzw. Rechtsordnung des Partnerstaates. Dieser findet seine Autorität bzw. die Geltungsvoraussetzungen seiner Rechtsordnung folglich nicht ausschließlich i n sich selbst 88 . Er w i r d darauf verwiesen, daß sein Partnerstaat aufgrund eigenen Willensentschlusses die Ausübung seiner Staatsgewalt „auf der Ebene der Verfassung" beschränkt. Eine Organisation, die auf eine solche grundlegende Rechtshandlung einer anderen Organisation angewiesen ist, kann nicht mehr Inhaberin „höchster", „unabgeleiteter" und damit souveräner Gewalt sein. Diese Abhängigkeit von der Selbstbeschränkung der Partnerorganisation t r i f f t allerdings i n der Konstruktion Herzogs den Bund und die Länder nicht i n gleicher Weise. Die konkrete Kompetenzausübung der Länder ist unabhängig davon, ob dem Bund eine Selbstbeschränkung seiner theoretisch umfassenden Staatsgewalt unterstellt w i r d oder nicht. Denn den Ländern stehen keine Kompetenzen zu, die sie zu Eingriffen i n den Verfassungsrechtskreis des Bundes ermächtigten, zu deren w i r k samer Ausübung sie also auf seine Selbstbeschränkung angewiesen wären. Das ist anders bei bestimmten Bundeskompetenzen: Die von Herzog unter dem Stichwort des „übergreifenden Verfassungsrechts" untersuchten Bundeskompetenzen (Art. 28, 29, 37, 79 GG) greifen i n den Rechtskreis der Länder ein. Hier hat die Abhängigkeit von der freiwilligen Selbstbeschränkung der Partnerorganisation Konsequenzen: Die Wirksamkeitsvoraussetzungen für die Handlungen des Bundes liegen nicht ausschließlich in seinem Verfassungsrechtskreis, sondern auch i n dem der Länder. Damit ist die Souveränität des Bundes ausgeschlossen. Mehr noch: „Der Substanz nach" erstreckt sich die souveräne und unteilbare Staatsgewalt der Länder auf sämtliche Angelegenheiten, die das Grundgesetz dem Bund zugewiesen hat. Der Bestand des Bundes ist mithin davon abhängig, daß die Länder willens sind, ihre freiwillige Selbstbeschränkung auf der Ebene ihrer Verfassungen aufrechtzuerhalten. Herzog versucht zwar, den naheliegenden politischen Folgerungen hieraus durch Betonung der Unauflöslichkeit des Bundes zu entgehen. Er kann aber mit diesem Versuch seine These nicht vereinbaren, die Länder hätten nicht auf Teile ihrer Staatsgewalt verzichtet, sondern sich nur i n der Ausübung „auf der Ebene der Verfassung" beschränkt. Zwischen freiwilliger Selbstbindung der Ausübung und dinglichem Verzicht kann nur i m Hinblick auf den „Wegfall der Bundesgewalt" 8 9 eine inhaltliche Unterscheidung getroffen werden. Wäre die Aktualisierung 88 Vgl. Haenels Umschreibung der Souveränität („Selbstgenügsamkeit"): „ . . . daß die Gemeinschaft die Bedingungen ihrer Existenz u n d Wirksamkeit i n sich selber f i n d e t . . . " (Studien zum deutschen Staatsrecht I S. 62). 89 Herzog, a.a.O. S. 85 A n m . 35; Harbich, Bundesstaat S. 59.
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
der unbeschränkten Substanz der Landesstaatsgewalt kein rechtlicher, sondern, wie Herzog diesem Einwand entgegenzuhalten scheint, ein „revolutionärer Zustand, der sich rechtlicher Regelung entzieht" 4 0 , so wäre auch jene Unterscheidung zwischen Ausübung und „Dinglichkeit" nicht mehr rechtlicher Natur. M. a. W.: Die Bundesgewalt muß auch von Rechts wegen als vom Willen der souveränen Länder abhängig gedacht werden, soll die Konstruktion des „Hoheitsvakuums" rechtliche Bedeutung haben. Die Unbeschränktheit und Souveränität der Landesstaatsgewalt lassen sich nach all dem nur durch Preisgabe der Souveränität des Bundes und nur auf Kosten seiner Stabilität konstruieren 41 . Bemerkenswert ist, daß die Theorie von der Souveränität von Bundes· und Landesstaatsgewalt ebenso wie die Lehre von dem aus nichtsouveränen Staaten zusammengesetzten Staat darauf angewiesen ist, ihre entscheidenden Aussagen nicht aus den Eigentümlichkeiten eines bestehenden und funktionierenden Bundesstaates zu gewinnen, sondern aus der Möglichkeit seiner Negierung: Indem die herrschende Theorie der nichtsouveränen Staatlichkeit der Länder den Bund als prinzipiell übergeordnet ansieht, kann sie die Konsequenz eines Delegationszusammenhangs und damit der bloßen Abgeleitetheit der Hoheitsrechte der Länder nicht mehr vermeiden: Der Bundesstaat w i r d letztlich als Einheitsstaat verstanden. W i r d hingegen in der Landessouveränität das entscheidende Merkmal des Bundesstaates gesehen, so führt dies zur gedanklichen Auflösung der Zentralgewalt i m Wege der Reaktivierung der potentiellen, „brachliegenden" und nur durch Bundeszuständigkeiten verdeckten Länderkompetenzen 42 . Hinter dieser Alternative, die sich aus der Staatenstaatstheorie zwingend ergibt, w i r d jenes „Dilemma" der Bundesstaatstheorie sichtbar, auf das Otto v. Gierke hingewiesen hat: Wolle die Lehre den traditionellen Begriff der staatlichen Einheit nicht preisgeben, so bleibe „für eine Zwischenbildung zwischen dem völkerrechtlichen Staatenbund und dem in Selbstverwaltungskörper gegliederten Einheitsstaat" kein Raum 4 3 . 40
Herzog, a.a.O. S. 85. Daher ist Kölbles Einwand, Herzogs K o n s t r u k t i o n sanktioniere die Separation der Länder (DÖV 1962 S. 583 m i t A n m . 5), durchaus folgerichtig. — Z u m Fehlen der tatsächlichen Voraussetzungen der Dogmatik Herzogs unter der Geltung des Grundgesetzes s. unten § 16 m i t Anm. 33. 42 M i t dieser Konsequenz stimmen jene, i m Ansatz allerdings voneinander abweichenden Autoren überein, die i m Bereich aktueller Bundeskompetenzen eine „potentiell", „ v i r t u e l l " oder „der Substanz nach" vorhandene Gliedstaatsgewalt annehmen: Doehl, Reichsrecht bricht Landesrecht, AöR 51 S. 53 ff.; Draht, Z u r Soziallehre u n d Rechtslehre v o m Staat, i n : 1. Festschr. für Smend (1952) S. 54 f.; Harbich, Bundesstaat S. 59 f., 65; — aber auch v. Gierke , Labands Staatsrecht, a.a.O. S. 1169. 43 v. Gierke , Labands Staatsrecht, a.a.O. S. 1159; ähnlich Haenels Bemerkungen zu Calhoun (Studien I S. 62 f.). 41
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Eine solche „Zwischenbildung" ist jedoch der Bundesstaat nach seinem eigenen Selbstverständnis (vgl. A r t . 20 Abs. 1, 79 Abs. 3 GG). 3. Die Mitwirkung der Länder bei der Bildung des Bundeswillens
Der eigene Wirkungskreis der Länder läßt sich, das haben die beiden vorausgehenden Abschnitte gezeigt, weder m i t Hilfe einer „unabgeleiteten Staatsgewalt" noch m i t Hilfe der Souveränität kennzeichnen, ohne daß die bundesstaatliche Ordnung aufgehoben würde. Die Staatspersönlichkeitslehre eröffnet indessen die Möglichkeit, den Status der Mitglieder einer juristischen Person nicht nur i m Hinblick auf ihren eigenen Wirkungskreis, den status libertatis, zu definieren, sondern auch i m Hinblick auf ihre Mitwirkungsrechte bei der Bildung des Willens der juristischen Person. Dieser status activus könnte die Staatenstaatstheorie als schlüssig erscheinen lassen, wenn er — ihrem A n spruch gemäß 44 — das Wesen des Bundesstaates bezeichnete. Dieses Kriterium, das i m Schrifttum teils neben dem status libertatis, teils an seiner Statt vertreten w i r d 4 5 , enthält allerdings eine wesentliche Abweichung von der Staatenstaatstheorie, sofern gleichzeitig von einer besonderen Qualifizierung des status libertatis abgesehen wird. Denn eine Staatenverbindung 46 setzt begrifflich voraus, daß die verbundenen Staaten außerhalb der Reichweite der Verbindung Staaten bleiben* 7. D. h. sie können ihre Qualifizierung nicht ausschließlich durch einen Status erfahren, den sie erst infolge der Einordnung i n den Bundesstaat erlangt haben. Jedoch liegt die bedeutsamste Schwierigkeit einer solchen Formulierung des Bundesstaatsbegriffs i n der Inkongruenz des staatsrechtlichen Materials. Dies i n zweifacher Hinsicht. Zum einen ist die positivistische Staatenstaatstheorie, die einen Allgemein44 G. Jellinek, Staatslehre S. 785 ff., Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 17; Zeidler, DVB1. 1960 S. 574 f., Maunz-Dürig, GG, A r t . 50 Rdnr. 2; Nawiasky, Staatslehre, 3. T e i l S. 146; aber auch Haenel, Staatsrecht I S. 200; Otto Mayer, Republikanischer und monarchischer Bundesstaat, AöR 18, S. 359, 362 f.; Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz S. 135 f.; Thoma, Das Reich als Bundesstaat, HdbDStR I S. 182 (jedoch unter besonderer Betonung der Singularität des Reiches). 45 G. Jellinek, Staatslehre S. 270; Ders., System S. 301; Anschütz, Reich u n d Länder, HdbDStR I S. 295. Ferner Heller, Souveränität S. 117; Fleiner-Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht S. 47; v. Mangoldt-Klein, BGG A r t . 20 I I I 2, S. 588; Jaenicke, A r t . Staatenverbindungen, i n : HdSW 9 S. 730; Bayer, Bundestreue S. 40. Weitere Nachweise bei Haenel, Staatsrecht I S. 205; Usteri, Theorie des Bundesstaates S. 217; Lerche, Föderalismus, W D S t R L 21 S. 70 A n m . 17. Nicht zu erörtern sind hier jene Auffassungen, die aufgrund der Interpretation des Grundgesetzes die M i t w i r k u n g der L ä n der bei der B i l d u n g des Bundeswillens speziell f ü r die B R D als k o n s t i t u t i v ansehen, vgl. u. § 15, 1 m i t A n m . 2—4. 46 47
Zorn.
S. o. § 6 A n m . 11, 12. Vgl. die Auseinandersetzung Labands
(Staatsrecht I S. 60 Anm. 2) m i t
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
begriff des Bundesstaates zu formulieren versucht, darauf angewiesen, den status activus i n allen sich als Bundesstaaten verstehenden Ordnungen als Essentiale nachzuweisen. Zum anderen muß es ausgeschlossen sein, daß der status activus sich auch i n Einheitsstaaten m i t gebietskörperschaftlicher Dezentralisation findet. Eine begriffliche Gemeinsamkeit des deutschen Bundesratsprinzips und des nordamerikanischen Senatsprinzips läßt sich zumindest nicht i n den Kategorien der positivistischen Staatenstaatstheorie formulieren. Zwar spricht die Verfassung von der „representation of any State i n the Senate" 48 und auch die Wahl von gleichmäßig zwei Senatoren durch die i n ihrer Größe sehr unterschiedlichen Gliedstaaten scheint die amerikanischen Länder von bloßen Stimmbezirken des Bundesstaates zu unterscheiden. Jedoch entbehren die gewählten Senatoren, anders als die Mitglieder des deutschen Bundesrates, von Verfassungs wegen jeglicher Verbindung m i t den einzelstaatlichen Rechtssubjekten. Insbesondere sind die Senatoren Organe der Union, ohne daß diese Rechtsstellung aus der Organwalterschaft i m Einzelstaat folgte. Die Bindung der M i t glieder des Bundesrates an die Willensbildung der „Einzelstaaten", wie sie etwa Art. 7 Abs. 3 Satz 2 der Reichsverfassung von 1871 vorsah und Art. 51 GG gestattet 49 , ist m i t dem einmaligen Wahlakt durch das Gliedstaatsvolk nicht gleichzusetzen. Das amerikanische Senatsprinzip kann daher nicht als ein bloßer Sonderfall der „ M i t w i r k u n g der Länder an der Willensbildung des Bundesstaates" gelten 50 . Gerade entgegengesetzt zu diesem K r i t e r i u m sah Georg Waitz, der seine Begriffsbildung am Aufbau der Vereinigten Staaten ausrichtete, „das deutlichste Merkmal einer wahren bundesstaatlichen Verfassung" in der Unabhängigkeit der Zentralgewalt von jeglicher Einwirkung der Gliedstaaten 51 . Der politisch-historische G r u n d für die fehlende Gemeinsamkeit des amerikanischen Senatsprinzips u n d des Bundesratsprinzips vor allem der Verfassung von 1871 liegt allerdings tiefer, als es den staatstheoretisch-begrifflichen Kontroversen entnommen werden kann. Das Deutsche Reich von 1871 hatte die Antinomie von nationalstaatlicher Einheit u n d dynastischer Selb48
X V I I . Amendment v o m 31. M a i 1913, Sect. 2. Vgl. Maunz-Dürig, G G A r t . 51 Rdnr. 16 m. w. Nachw. (a.a.O. S. 10 A n m . 1). 58 a. A . Laband, Staatsrecht I S. 60 A n m . 1, i m Hinblick auf die ältere v e r fassungsrechtliche Lage der USA (Wahl der Senatoren durch die Legislative der Einzelstaaten, A r t I Sect. 3 d. Verf.). Zutreffend betonte jedoch Otto Mayer (Republikanischer u n d monarchischer Bundesstaat, AöR 18 [1903] S. 354) bereits v o r dem Amendment v o m 31. M a i 1913, daß die Senatswahlen nicht als Beteiligung der Gliedstaaten an der Bundesgewalt gewertet werden dürften; zustimmend Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht i m monarchischen Bundesstaat (1916), Abhandlungen S. 57 Anm. 28; anders die I n t e n tionen Hamiltons (bei Brie, Bundesstaat S. 97). 51 Waitz, Grundzüge der P o l i t i k (1862) S. 171 ff.; ebenso Hermann Schulze, Einleitung i n das deutsche Staatsrecht (1867) S. 431 f. 49
§ 8 Land und Gemeinde
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ständigkeit, nicht zuletzt auch des hegemonialen Preußen, zu lösen. Die zentralen Entscheidungen mußten daher aus den Dynastien (und republikanischen Senaten) hervorgehen. Der von den Einzelstaaten instruierte Bundesrat w a r daher das Zentrum der Reichspolitik; i n i h m sollte „die Souveränität einer jeden Regierung ihren unbestrittenen Ausdruck finden" 52. Demgegenüber stand f ü r den nordamerikanischen Föderalismus die Synthese von E i n heit u n d Freiheit i m Vordergrund 5 3 . Freiheit i m staatsorganisatorischen Bereich hieß Gewaltenteilung. I m freien Mandat der i n den Einzelstaaten gew ä h l t e n Senatoren w i r d dieser Grundsatz ebenso widergespiegelt wie i n der Kompetenz der Union, ihre Gesetz grundsätzlich selbst auszuführen. I s t d e r status a c t i v u s e i n e r M i t g l i e d s k ö r p e r s c h a f t h i e r n a c h i m H i n b l i c k a u f die V e r e i n i g t e n S t a a t e n z u eng, als daß er G r u n d l a g e eines a l l g e m e i n e n B u n d e s s t a a t s b e g r i f f s s e i n k ö n n t e , so i s t er andererseits z u w e i t , u m eine zureichende A b g r e n z u n g des Bundesstaates v o n d e n e i n h e i t s s t a a t l i c h e n D e z e n t r a l i s a t i o n s f o r m e n bezeichnen z u k ö n n e n : D e n n M i t w i r k u n g s r e c h t e i m status a c t i v u s k ö n n e n , w i e b e r e i t s O t t o v. Gierke betont hat, „auch i m Einheitsstaate zugunsten v o n Gemeinden u n d Prov i n z e n v o r k o m m e n " 5 4 . A u c h w ä r e n i m R a h m e n e i n e r R e f o r m des A u f baus m i t t e l b a r e r u n d u n m i t t e l b a r e r L a n d e s v e r w a l t u n g ζ. B . M i t w i r kungsrechte öffentlich-rechtlich verfaßter k o m m u n a l e r Spitzenorganis a t i o n e n d e n k b a r , ohne daß die L ä n d e r sich h i e r d u r c h i n B u n d e s s t a a t e n verwandelten. A l l e r d i n g s ließe sich d e r E i n w a n d , auch S e l b s t v e r w a l t u n g s e i n r i c h t u n g e n k ö n n t e n m i t d e m status a c t i v u s ausgestattet sein, d u r c h eine i n h a l t liche B e t r a c h t u n g s w e i s e a u s r ä u m e n . D e n n beispielsweise das A n h ö r u n g s r e c h t des P r e u ß i s c h e n Staatsrats u n d sein Einspruchsrecht, das 62 Bismarck, zustimmend zitiert bei Laband, Staatsrecht I S. 101 A n m . 1, u n d bei Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht S. 270 A n m . 5; ähnlich Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 69; Zorn, Staatsrecht I S. 90 f. Vgl. ferner Schröcker, Ungeschriebenes Verfassungsrecht i m Bundesstaat, a.a.O. S. 156 ff., 315 f., 324 m i t Nachweisen insbesondere zu den Vorstellungen Bismarcks. 58 Näher zur unterschiedlichen Problematik des amerikanischen u n d deutschen Föderalismus, insbesondere auch zu ihren unterschiedlichen substantiellen Voraussetzungen, Ullner, Die Idee des Föderalismus i m Jahrzehnt der deutschen Einigungskriege (1965) S. 22 f., 62 ff., 84 ff., 110 ff. — Auch der schweizerische Ständerat, dessen F u n k t i o n es ist, die von anderen politischen K r ä f t e n bestimmte P o l i t i k des Bundes zu kontrollieren u n d die Zuständigkeit der Kantone gegenüber zentralstaatlicher Expansion zu sichern, kann dem Bundesrat der Verfassung von 1871 schwerlich an die Seite gestellt w e r den (vgl. Schindler, Die E n t w i c k l u n g des Föderalismus i n der Schweiz, JöR 9, S. 58 f.). 54 v. Gierke, Labands Staatsrecht, a.a.O. S. 1169; vgl. A r t . 31 der Verfassung des Freistaates Preußen v o m 30. November 1920: „ Z u r Vertretung der P r o v i n zen bei der Gesetzgebung u n d V e r w a l t u n g des Staates w i r d ein Staatsrat gebildet." Nach A r t . 63 Abs. 1 W R V w i r d die Hälfte der preußischen Stimmen i m Reichsrat „ v o n den preußischen Provinzialverwaltungen bestellt". Z u r Unvereinbarkeit dieser Regelung m i t dem traditionellen Bundesstaatsbegriff bereits Bilfinger, Einfluß der Einzelstaaten S. 79 f. — Z u m schwedischen Reichstag s. JöR Bd. 4 S. 305.
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
allein nicht i n der Lage war, ein Gesetz des Landtags endgültig zu Fall zu bringen (Art. 40, 42 der Verfassung des Freistaats Preußen vom 30. November 1920), sind für eine inhaltliche, funktionale Betrachtungsweise wesentlich unterschieden von der dominierenden Stellung des Bundesrats i n der Verfassung von 16. A p r i l 1871 (Art. 5, 7 aRV) und von den effektiven Mitwirkungsrechten des Bundesrats des Grundgesetzes (z. B. Art. 78, 84, Abs. 1, 79 Abs. 2, 81 GG). Indessen ist diese inhaltliche Differenzierung auf dem Boden der untersuchten Staatenstaatslehre nicht zu vollziehen. Überdies ergäben sich neue Hindernisse für einen Allgemeinbegriff des Bundesstaates daraus, daß der Reichsrat der Weimarer Reichsverfassung solchen gesteigerten Anforderungen an die M i t w i r k u n g der regionalen Einheiten bei der Willensbildung der zentralen Institution nicht gerecht werden würde 5 5 und die Weimarer Reichsverfassung daher entgegen ihrem Selbstverständnis keine bundesstaatliche Ordnung konstituiert hätte. Nach alledem kann i m aktiven Status der Länder nur ein geschichtlich bedingter und möglicherweise durchaus sinnvoller Versuch gesehen werden, Bund und Länder durch ein solches Ineinandergreifen ihrer Organisationen zu verbinden 5 6 . Wer jedoch, wie die Vertreter der Staatenstaatstheorie, das Ziel verfolgt, einen allgemeingültigen Bundesstaatsbegriff zu formulieren, w i r d sich nicht ausschließlich auf die M i t w i r k u n g der Länder bei der Willensbildung des Bundes stützen können 5 7 . Somit bleibt auch dieser Versuch, die Staatenstaatstheorie zumindest als schlüssig zu erweisen, erfolglos.
Zweites
Kapitel
Der Primat der subjektiven Einheit des Staates Das vorangehende Kapitel hat gezeigt, daß die herrschende Bundesstaatslehre entscheidend durch die Lehre von der Rechtspersönlichkeit des Staates geprägt ist. Bund und Länder werden als rechtssubjektive 55 Gem. A r t . 74 ff., 85 Abs. 5 W R V konnte der Einspruch des Reichsrats durch qualifizierte Mehrheitsentscheidung des Reichstags u n d durch Volksentscheid ausgeräumt werden. Lediglich der Erlaß bestimmter Verwaltungsvorschriften (Art. 77 WRV), Verordnungen (Art. 91, 197 Abs. 2 WRV) und Organisationsnormen (Art. 98 WRV) bedurfte seiner Zustimmung. 56 Vgl. hierzu Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht (1928), i n : Abhandlungen S. 225, 244, 269. 57 Zutreffend Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft i m Bundesstaat (1931) S. 95; Maunz-Dürig, GG, A r t . 50 Rdnr. 2. — Speziell zur Auslegung des Grundgesetzes s. u. § 14, 1. m i t A n m . 8 a), 8 b); § 15, 2.
2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates Einheiten definiert, die einander entweder beherrschen oder i n völkerrechtsgleicher Isolierung gegenüberstehen. Für eine spezifisch bundesstaatsrechtliche Zuordnung bleibt kein Raum. Denn diese Zuordnung setzt die Vorstellung eines Gesamtgefüges voraus, dessen Institutionen auch und gerade dort als Momente eines Ganzen verstanden werden, wo sie i m eigenen Wirkungskreis handeln und nicht der Herrschaft einer übergeordneten Einheit unterworfen sind. Das Nebeneinander und Übereinander undurchdringlicher rechtssubjektiver Blöcke bewirkt zudem, daß die Staatenstaatstheorie ihr Ziel, den Bundesstaat vom Einheitsstaat und von der völkerrechtlichen Organisation abzugrenzen, nicht erreichen kann. Für sie reduziert sich die Abgrenzungsfrage auf die Unterscheidung der einzelnen Länder von anderen „Gebietskörperschaften". Dabei erweist sich, daß die Kategorien der Staatspersönlichkeitslehre — Einheit und Herrschaft — nur zwei Möglichkeiten offenlassen: Entweder w i r d die „oberste Herrschaft" dem Bund zuerkannt oder den Ländern. I m ersteren Fall handelt es sich um einen Einheitsstaat, i m letzteren Fall um eine nicht-souveräne Staatenverbindung. Eine mittlere Position, die dem Bund Souveränität und den Ländern eine nichtsouveräne, aber „unabgeleitete" und hierdurch von den Selbstverwaltungseinrichtungen unterschiedene Staatsgewalt zurechnet, ist nicht vollziehbar. Auch die M i t w i r k u n g der Länder bei der Willensbildung des Bundes enthält auf der Grundlage der Staatenstaatstheorie keinen Ansatz für eine generelle Unterscheidung der Mitglieder eines Einheitsstaates von denen eines Bundesstaates. Somit ist festzuhalten: Die Staatenstaatstheorie w i r d dem Selbstverständnis einer bundesstaatlichen Verfassungsordnung, die sich vom Einheitsstaat unterschieden sieht, nicht gerecht. Vor allem aber konzipiert sie eine Zuordnung der bundesstaatlichen Institutionen, deren Abstand von der Verfassungswirklichkeit größer nicht gedacht werden kann: Den vielfältigen Formen der Zusammenarbeit, den sachlichen und politischen Interdependenzen i m Bundesstaat der Bundesrepublik Deutschland setzt sie die strikte Isolierung der bundesstaatlichen Institutionen als Rechtsgebot entgegen. Für eine Methode der Verfassungsinterpretation, die nicht zuletzt um der normativen K r a f t der Verfassung willen Rechtsrichtigkeit i m Hinblick auf die Ambiance anstrebt (vgl. oben § 1), ist hiernach Skepsis gegenüber dem Argument geboten, der Bundesstaat sei ein aus Staaten zusammengesetzter Staat. Es wäre allerdings bedenklich, die Staatenstaatstheorie primär „vom Ergebnis her" abzulehnen. Denn es läßt sich nicht von vornherein ausschließen, daß sie Gesichtspunkte impliziert, die für das Verständnis der Verfassungsordnung unverzichtbar sind. Das gilt insbesondere für ihre Grundlage, nämlich die Lehre, daß der Staat eine juristische Person sei. Sollte diese Grundlage tragfähig sein und sich als notwendig
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
erweisen, so wäre jedes Verständnis der bundesstaatlichen Ordnung, das die Gesamtheit von Bund und Ländern i n den Vordergrund rückt, sie insbesondere als ein rechtserhebliches institutionelles Gefüge begreift, ausgeschlossen. Denn diese Gesamtheit ist, wie die Untersuchung des „dreigliedrigen Bundesstaates" gezeigt hat, weder eine juristische Person noch eine sonstige subjektive Zurechnungseinheit.
§ 9 D i e Einheit des Gemeinwesens 1. Die reale Verbandseinheit
Der Staat der Staatspersönlichkeitslehre 1 ist eine rechtssubjektive Einheit. Eine solche Einheit w i r d als fähig angesehen, zu handeln und eigenes Bewußtsein, eigenen Willen und eigene Interessen zu haben. Der Staat ist daher „eine machtbegabte, willens- und handlungsfähige Einheit" 2 . Deshalb kann er i n der Rechtsordnung als Subjekt auftreten und ist nicht nur Zurechnungspunkt für objektive Eigenschaften und Funktionen. Auch w i r d die subjektive Einheit des Staates nicht als lediglich rechtstechnischer Behelf für die Zuordnung von Rechten und Pflichten gedacht 3 . Vielmehr stellt sich diese Einheit für die Staatspersönlichkeitslehre als eine „reale Verbandseinheit" dar. I h r Substrat, d. h. ihre historisch-soziologische Grundlage, ist, wie es die „Drei-Elementen-Lehre" zum Ausdruck bringt, die Totalität von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt. Insbesondere ist die Einheit „Staat" nicht auf das staatliche Ämterwesen beschränkt, sondern schließt die Gesamtheit der „Staatsangehörigen" ein 4 , ist m i t h i n identisch m i t dem Gemeinwesen. Die Realität der Verbandseinheit ist das Kernstück der Staatspersönlichkeitslehre. Die juristische Persönlichkeit sei für das Gemeinwesen keine „fremde und willkürliche Zutat", so heißt es bei C. F. v. Gerber, „sondern lediglich ein Ausdruck dessen, . . . was bereits tatsächlich in 1 A u f die Darstellung dieser Lehre bei Häfelin, Die Rechtspersönlichkeit des Staates (1959), darf verwiesen werden. Vgl. auch o. § 6 m i t A n m . 19, 20, 26. 2 Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 11. 8 Z u den Formen der Zurechnung eines bestimmten Individualverhaltens auf eine Einheit u n d zu ihrer zumindest teilweisen rechtstechnischen Unentbehrlichkeit s. H. J. Wolff , Organschaft u n d juristische Person I I S. 1—107; Ders., Verwaltungsrecht I § 34 S. 188 f.; Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre S. 85—92. 4 C. F. ν . Gerber, Grundzüge des deutschen Staatsrechts (3. Aufl. 1880) S. 225; Laband, Staatsrecht I (5. A u f l . 1911) S. 96; Ders., Reichsstaatsrecht S. 24; G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (3. A u f l . 1914) S. 154, 158 ff.; Anschütz, Deutsches Staatsrecht (1914) S. 10 f.; Leibholz, Repräsentation (1929) S. 128 f.; Enneccerus-Nipperdey, Lehrbuch des bürgerlichen Rechts, A l l g . T e i l I (15. Aufl. 1959) S. 731; Geiger, Mißverständnisse u m den Föderalismus (1962) S. 7; Krüger, Allgemeine Staatslehre (1964) S. 784.
§ 9 Die Einheit des Gemeinwesens
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der natürlichen Anlage des Staates vorhanden ist" 5 . Auch Georg Jellinek betont, daß die juristische Person „keine Schöpfung der juristischen Konstruktion, sondern eine Bildung des zweckmäßigen menschlichen Denkens und Handelns" sei 6 . Der Staat sei ein „Wesen" und keine „Fiktion" 7 . Nur Laband scheint sich von diesem Streben nach Wirklichkeitsnähe zurückzuhalten, wenn er — Thesen der Kelsenschen Schule vorwegnehmend — die juristische Person lediglich als ein M i t t e l versteht, einen Komplex von Rechtssätzen logisch zu begreifen, einheitlich zu erfassen. Aber Laband kehrt sogleich zu historisch-soziologischen Kategorien zurück, wenn er hinzufügt: „Die Vorstellungen des Herrschens, der rechtlichen Macht, der Untertanen, des Gebiets usw. finden i n der Vorstellung der Person ihre logische Einheit 8 ." Die „reale Verbandseinheit" w i r d indessen auch von ihren Verfechtern nicht als so real angesehen, daß sie selbst ihren Willen bilden und i n der gesellschaftlichen Wirklichkeit zielbewußt handeln könnte. Sie bedient sich hierfür ihrer „Organe". Erst durch sie t r i t t sie i n die „physisch-natürliche Welt" ein. Das Handeln der Organwalter w i r d auf die „geeinte Vielheit" projiziert, so daß von Rechts wegen die Akte der Organe als Akte der Einheit selbst erscheinen 9. Die Organe stellen m i t h i n die Einheit dar, repräsentieren sie 10 . Dieses Zugeständnis der Staatspersönlichkeitslehre legt die Vermutung nahe, daß die „reale" Verbandseinheit letztlich f i k t i v sei, so daß sich die Erörterung auf die Frage beschränken könnte, welche Bedeutung die Rechtspersönlichkeit des Staates als lediglich rechtstechnischer Zurechnungspunkt für die Verfassungsauslegung habe. Die Notwendigkeit der Zurechnung besagt jedoch noch nicht, daß das Subjekt der Zurechnung jeglicher Realität entbehrt. Darüber hinaus sind verschiedene Grade der Intensität der Einheit einer Gruppe denkbar: von den elementaren Homogenitätsvoraussetzungen für das Zusammenleben über das Wir-Bewußtsein einer Gemeinschaft bis h i n zur Identität der 5
C. F. v. Gerber, Grundzüge des deutschen Staatsrechts S. 225. G. Jellinek, Gesetz u n d Verordnung S. 194. 7 G. Jellinek, Staatslehre S. 161, 168. 8 Laband, Reichsstaatsrecht S. 24; s. ferner OersStaatsrecht I S. 96. 9 S. o. § 6 m i t A n m . 31 ff. 10 Die organschaftliche Darstellung w i r d hier i m Anschluß an H. J. Wolff (Organschaft u n d juristische Person I I [1934] S. 91, 18, 70, 99 f.) als die schärfere, normative Ausgestaltung der (mediatisierten) Repräsentation verstanden. Demgegenüber stellen ζ. B. Leibholz (Repräsentation S. 137) u n d Röttgen (Rezension, AöR 58 S. 303 f.) die Gegensätzlichkeit beider Begriffe i n den Vordergrund. Da insbesondere die anorganische Staatspersönlichkeitstheorie eine solche Trennung nicht durchführt (vgl. H. J. Wolff , a.a.O. S. 96), dürfen hier f ü r die Auseinandersetzung m i t der Staatspersönlichkeitslehre die Z u rechnungsmodi (normative Organschaft u n d substantiell-irrationale Repräsentation) als gleichbedeutend angesehen werden. Vgl. auch oben § 7, 2. m i t A n m . 37. 8
7 Hempel
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
Interessen, Zielvorstellungen und Handlungen. Ob die verfassungsrechtliche Begriffsbildung eine der denkbaren „Einheiten" des Gemeinwesens zum Ausgangspunkt nehmen und ihr die konkreten Handlungen der „Organwalter" zurechnen darf, läßt sich erst anhand der konkreten Verfassungsordnung entscheiden. Insbesondere kommt es darauf an, welchen Sinn sie staatlichem Handeln zumißt, welcher A r t die von ihr vorausgesetzte Einheit des Gemeinwesens ist und unter welchem Gesichtspunkt das konkrete Handeln der Organwalter Ausdruck der Einheit des Gemeinwesens sein kann. Auch eine Methode verfassungsrechtlicher Begriffsbildung, die den Staat und die A r t seiner Einheit maßgebend von der Ambiance hier zu verstehen versucht, kann folglich die Lehre von der „realen Verbandspersönlichkeit" nicht von vornherein als unzutreffend zurückweisen. Es soll daher zunächst untersucht werden, w o r i n die Staatspersönlichkeitslehre selbst die Realität der Verbandseinheit erblickt. Insbesondere Georg Jellinek hat sich bemüht, die Realität der Einheit nachzuweisen. Eine Mehrheit von Menschen wird, so erklärt er 1 1 , „für das praktische Denken durch einen sie verbindenden Zweck geeinigt". Die Ausrichtung auf einheitliche Zwecke soll zugleich die für die Persönlichkeitstheorie zentrale Vorstellung eines der Einheit zukommenden Willens ermöglichen 12 . Der rationale Ansatz der Zweckeinheit w i r d folgerichtig fortgeführt: „Je intensiver und je dauernder die einigenden Zwecke sind, desto stärker erscheint uns auch die Einheit ausgeprägt 1 8 ." I m Bemühen, die die Vielheit der Staatsangehörigen einigenden Zwecke nachzuweisen, verläßt Jellinek allerdings diesen rationalistischen Ansatz, dessen unausweichliche Konsequenz zu der Behauptung vollendeter Harmonie der Gruppe führen müßte. Jellinek registriert vielmehr die Verschiedenartigkeit der menschlichen Zwecke, die sich als solche nicht zur Einheit verbinden lassen. Jedoch: Diese „mannigfaltigsten Zwecke" „werden doch logisch (!) notwendig . . . i n bestimmte oberste, letzte Zwecke zusammengefaßt 14 . Der größte Teil der menschlichen Handlungen . . . ordnet sich doch dem obersten Zwecke der Erhaltung der individuellen Existenz und des individuellen Wohlbefindens unter" 1 5 . 11
G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte S. 25. G. Jellinek, Gesetz u n d Verordnung S. 194; Laband, Staatsrecht I I 5. A u f l . S. 181. K r i t i s c h zum Willensdogma Bernatzik, Juristische Person, AöR 5 (1890) S. 193 f.; Zwirner, Politische Treuepflicht des Beamten (1956) S. 86 ff. 18 G. Jellinek, System S. 25. 14 Dieses Überwechseln zu logischer Allgemeinheit zeigt die Entfernung auf, die den Positivismus trotz seines scheinbar „realistischen" Ansatzes von einer auch soziologisch-historischen, die „Ambiance" einbeziehende Betrachtungsweise trennt. Vgl. Heller, Bemerkungen zur staats- u n d rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart, AöR 58 S. 321 ff. (340, 346). 15 G. Jellinek, Staatslehre S. 235. 12
§ 9 Die Einheit des Gemeinwesens
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Dieser Zweck ist allerdings kein spezifisch staatlicher 1®. Zudem entzieht er sich der Konkretisierung. Denn jeder Versuch, Existenzerhaltung und individuelles Wohlbefinden näher zu umschreiben, muß die vermeintliche Einheit und Allgemeingültigkeit dieses „großen Gesamtzwecks" preisgeben und sich m i t der Pluralität der Interessen und Wertungen der Gesellschaft auseinandersetzen, zumal i n einer Zeit, i n der der Lebensstandard und insbesondere das „Existenzminimum" politisiert sind. Der „große Gesamtzweck" der realen Verbandseinheit erhält allerdings auf anderer Ebene konkrete Gestalt: Die Herrschenden — und nur sie — bestimmen, welche konkreten Zwecke i m Gemeinwesen durchgesetzt werden, welche Wertungen und Interessen maßgebend sind für die konkreten Entscheidungen über die Wirtschafts- und Sozialordnung oder die Außenpolitik. Jellinek weist selbst auf dieses Umschlagen seiner Lehre hin, wenn er schreibt, die „gemeinsamen, einheitlichen, untereinander zusammenhängenden" Zwecke der auf einem abgegrenzten Territorium lebenden Menschen würden „nur durch dauernde Institutionen" versorgt werden 1 7 . Die Einheit des Gemeinwesens w i r d folglich von den „Staatsorganen" nicht lediglich „dargestellt", sondern — jedenfalls i m Rahmen der konkreten Politik — erst geschaffen, und zwar nicht zuletzt durch Herrschaft. Besonders deutlich w i r d dies bei Bernatzik 18, dessen Zwecktheorie sich i n einigen Punkten m i t der Georg Jellineks berührt. Der Gesamtzweck beginne „sein eigenes Leben" und habe — i n den herrschenden „Organen" — „den Willen gefunden, der ihn dauernd realisiert". Bernatzik deutet bereits die von i h m wie von Jellinek entschieden abgelehnte Konsequenz dieser Verselbständigung des Gesamtzwecks und seiner Realisierung durch die Herrschenden an: Jene Verselbständigung des Gesamtzwecks werde ermöglicht, wenn seine Verfolgung „ i n einer Mehrheit von gleichzeitig oder nacheinander tätigen Menschen . . . als bindende Norm anerkannt" werde. Dies bedeutet aber nichts anderes, als daß das Gemeinwesen „vorjuristisch" keine Einheit von Herrschenden und Beherrschten ist, sondern eine Beziehung zwischen beiden — und zwar eine solche der „Anerkennung", der Legitimierung der „organschaftlichen" handelnden Gruppe durch die anderen Angehörigen des Gemeinwesens. Juristisch wäre dann das Gemeinwesen entweder 15 Kritisch hierzu bereits H.J.Wolff, Organschaft I S.308; Heller, Staatslehre S. 200 f. 17 G. Jellinek, System S. 26. — Vgl. auch H. J. Wolff, Organschaft u n d j u r i stische Person I S. 308 f., auf dessen überzeugende Analyse der Persönlichkeitstheorie Jellineks i m übrigen n u r pauschal verwiesen werden k a n n (a.a.O. S. 42—51, 307—313). 18 Bernatzik, Juristische Person, AöR 5 S. 169 ff. (241).
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
ein Rechtsverhältnis 10 oder eine rechtssubjektive Einheit nur dann, wenn ihr normativer oder fiktiver, durch keine vor juristische Einheit begründeter Charakter zugegeben würde 2 0 . Die Theorie der realen Verbandseinheit hat i m 20. Jahrhundert i n Hermann Heller ihren scharfsinnigsten und temperamentvollsten Verfechter gefunden. A u f methodisch neuen Grundlagen und i n steter Bekämpfung der positivistischen Staatstheorie hat er doch ihr Ziel weiterverfolgt: das Gemeinwesen als Einheit zu erweisen und ihm die Handlungen der „Staatsorgane" zuzurechnen 21 . Heller verzichtet — zumindest i n einigen Passagen seiner Staatslehre — darauf, die Einheit des Staates (des Gemeinwesens i m Sinne der bisherigen Terminologie) auf eine „Einheit des Bewußtseins, des Gefühls, der Interessen oder des Willens" 2 2 oder auf sonstige Homogenitätsmerkmale zu gründen. I n der gesellschaftlichen Wirklichkeit sei der Staat eine Einheit vielmehr als Organisation, d. h. als eine Einheit der Wirkung und der Entscheidung. Entsprechend der Haenelschen Theorie des korporativen Verbandes 28 bildet Heller den Organisationsbegriff aus drei Elementen: dem gesellschaftlichen Handeln der Gruppenmitglieder, ihrer regelmäßigen Orientierung an der Gruppenordnung sowie deren Setzung und Sicherung durch besondere Organe 24 . Daß diese Elemente der Organisation soziologisch nicht voneinander isoliert werden können, ist für Heller der zureichende Grund, sie als Entscheidungs- und Wirkungseinheit und schließlich als „willens- und handlungsfähiges Rechtssubjekt" 25 zu begreifen. Die drei Elemente der Organisation bilden nach Heller eine W i r kungseinheit, weil sie gleichermaßen für einen einheitlich erlebten Effekt kausal sind 2 6 . Aber bereits die nähere Berücksichtigung der Kausalfaktoren sprengt die zum Subjekt der Staatsgewalt erklärte Einheit des Gemeinwesens. Soll „die Staatsgewalt als Wirkungseinheit nur durch das Zusammenwirken aller Beteiligten kausal zu erklären und eben deshalb (!) . . . auch nur diesem Zusammenwirken zuzurechnen" sein, so müssen auch die „von außen auf die Organisation wirkenden Kräfte" i n die Zurechnungseinheit einbezogen werden 2 7 , die dadurch ihre Konturen ebenso verliert wie das „Erlebnis" der Einheit 2 8 . 19 20 21 22 23 24 25 2e 27 28
Nachweise bei G. Jellinek, Staatslehre S. 167 ff. Die letztere A l t e r n a t i v e v e r t r i t t Haenel, Staatsrecht I S. 98 f., 106 f. Heller, Staatslehre (1934), insbes. S. 228—246 Heller, a.a.O. S. 229, 239; anders i n : Die Souveränität (1927) S. 99. Haenel, Deutsches Staatsrecht I S. 82. Heller, Staatslehre S. 231. Heller, a.a.O. S. 244. Heller, a.a.O. S. 238 f. Heller, a.a.O. S. 238, 240. Heller, a.a.O. S. 239. — Dieses rational k a u m eingrenzbare Erlebnis-
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Einzuwenden ist ferner, daß Heller zwischen der Phänomenologie eines (objektiven) Handlungsgefüges 29 und dem (subjektiven) Handeln der „Organe" nicht hinreichend unterscheidet. Die kausale Bewirkung des als Einheit erlebten Handlungsgefüges „Gemeinwesen" durch eine Vielzahl von Faktoren genügt i h m bereits, u m die Gesamtheit dieser (objektiven) Faktoren als Subjekt der einzelnen „organschaftlichen" Handlungen verstehen zu können. Das Handeln der Organwalter vollzieht sich demgegenüber i n subjektiven Kategorien: Sie handeln, haben Bewußtsein, Willen und Interessen. U m die Zurechnung dieser Erscheinung auf das Gemeinwesen geht es, wenn es als Zurechnungseinheit erfaßt werden soll. Die von Heller nachgewiesene Wirkungseinheit des Gemeinwesens ist jedoch eine objektive Einheit und kann daher nicht als subjektive Zurechnungseinheit ausgegeben werden. Dem Zurechnungsproblem kommt Heller allerdings unter dem Gesichtspunkt der „Entscheidungseinheit" näher als unter dem der — von i h m auch subjektiv interpretierten — „Wirkungseinheit". Aber gerade die Berücksichtigung der Entscheidung und ihres Moments planmäßigen und geordneten zielgerichteten Wollens und Handelns bestätigt, daß die Totalität des Gemeinwesens, die Gesamtheit von Herrschenden und Beherrschten, eine Entscheidungseinheit nicht ist. Subjekte der Entscheidungen sind allein die „Organe". Unbeschadet ihrer Abhängigkeit von den anderen Elementen der Organisation, insbesondere von denen, die die Entscheidungen zu befolgen haben, sind es die Organe, die die konkrete Gestalt des Gemeinwesens zielbewußt anstreben und die entscheidenden Bedingungen für ihre Verwirklichung setzen. Heller selbst betont, daß die (Wirkungs-) Einheit „immer nur als das Ergebnis bewußter menschlicher Tat, bewußter Einheitsbildung, als Organisation zu begreifen ist" 3 0 . Die aktuelle Einheit der Organisation sei „primär begründet i n der Einheit des Organs", i n der „Einheit der Anordnung" und der „Einheit der Herrschaft" 3 1 . Unbegründet ist dann aber der weitere Schritt, daß nicht die organisierende, anordnende und herrschende Gruppe das „Aktzentrum" sei, sondern jene Gesamtheit, i n die auch die nichtorganisierenden, nichtanordnenden und nichtherrschenden Personen und Gruppen einbezogen sind. Wenn diese größere Gruppe als „entschluß- und handlungsfähig" bezeichnet w i r d 3 2 , dann nur aufgrund eines pars-pro-toto-Urteils, das von der engeren Gruppe, den „Orgamoment f ü h r t v. d. Heydte dazu, unter Berufung auf eine „geistige Wirkungseinheit" das deutsche Reich nach 1945 für fortbestehend zu erachten (Der deutsche Staat 1945 u n d seither, W D S t R L 13 S. 84; entgegengesetzt Abendroth, a.a.O. S. 60). 29 Heller, a.a.O. S. 239, 231. 80 Heller, a.a.O. S. 230. 31 Heller, a.a.O. S. 233, 235; ähnlich bereits i n : Die Souveränität S. 40. 32 Heller, a.a.O. S. 231.
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nen", seinen Ausgang n i m m t und Elemente heterogener Struktur („Organe" und „Mitglieder") allein u m ihrer soziologischen Wechselw i r k u n g und Abhängigkeit w i l l e n zur Einheit verbindet. Allenfalls dann dürfte die Entschluß- u n d Handlungsfähigkeit der Organe als eine solche der Großgruppe ausgegeben werden, w e n n die „Organe" die Gesamtheit der Mitglieder zu einer einheitlich geführten u n d einheitlich durchgeführten A k t i o n aktivieren. M i t diesem Modell, das Heller zur V e r deutlichung seiner Theorie beschreibt 88 , ist das Gemeinwesen möglicherweise i m „Großeinsatz" eines Krieges vergleichbar, nicht aber i n Gestalt der zahllosen konkreten, i n verschiedene Richtungen zielenden u n d n u r begrenzte Gruppen aktivierenden Maßnahmen, die von der Gesetzgebung über den Erlaß v o n Verwaltungsakten bis zur „pflegenden" Tätigkeit reichen. I n diesen Fällen muß die Entscheidungseinheit, die f ü r das gesamte Gemeinwesen i n Anspruch genommen w i r d , sich stets als geordneter Entscheidungszusammenhang der „Organe" erweisen.
I m Ergebnis ebenso wie es i n der traditionellen Lehre geschieht, w i r d durch die Vertauschung des organschaftlichen Handelns m i t dem der Gesamtheit von „Organen" und „Mitgliedern" die vorgebliche Entscheidungseinheit von Herrschenden und Beherrschten i n die Herrschenden verlegt. Heller selbst läßt diese unausweichliche Konsequenz durchblicken. Nicht die Gesamtheit des Gemeinwesens ist es, die „sich regelmäßig als die mächtigste Entscheidungs- und Wirkungseinheit auf dem Staatsgebiet bewährt", sondern „ein besonderer Apparat", den „die Staatsgewalt" unterhält 8 4 . Nach alledem ist auch Hellers soziologische Untersuchung der W i r kungs- und Entscheidungseinheit nicht geeignet, das staatlich geordnete Gemeinwesen als eine (subjektive) Zurechnungseinheit, als eine „reale Verbandseinheit" i m Sinne der Staatspersönlichkeitslehre zu erweisen. Wie zuvor erörtert wurde, ist das Gemeinwesen realiter auch keine Einheit des Zwecks oder des Willens. Wenn es trotz dieses eindeutigen Befundes nahezu einhellig 3 5 als Zurechnungseinheit für das Handeln der „Staatsorgane" angesehen wird, so w i r d dies verständlich durch die geschichtliche Entwicklung und die ideologische Funktion eines solchen Staatsverständnisses. Diesen Gesichtspunkten ist nicht nur aus k r i t i schem Interesse an der Staatenstaatstheorie nachzugehen, sondern auch deshalb, w e i l jedweder Primat der subjektiven Einheit des Staates einem Verständnis des Bundesstates entgegensteht, das von der Gesamtheit von Bund und Ländern seinen Ausgang nimmt 8 8 . Die hiernach nicht zu umgehende Aufgabe, die geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen der Einheit des Gemeinwesens aufzu88 84 85 88
Heller, a.a.O. S. 233. Heller, a.a.O. S. 242. S. o. § 6 m i t A n m . 26. S. o. vor § 9.
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zeigen, bleibt allerdings darauf beschränkt, einige leitende Gesichtspunkte hervorzuheben, die eine hinreichend sichere A n t w o r t auf die Fragen nach dem Grund und der Tragfähigkeit der Staatspersönlichkeitslehre ermöglichen. Dieses begrenzte Untersuchungsziel rechtfertigt es vielleicht, wenn i m folgenden historische und ideologische Zusammenhänge nur i n groben Umrissen und überwiegend anhand der Sekundärliteratur angedeutet werden.
2. Geschichtliche und gesellschaftliche Bedingungen der „Einheit des Gemeinwesens"
Die Staatspersönlichkeitslehre hat die Ausgestaltung, i n der sie auch i n der Gegenwart noch ausdrücklich oder — häufiger noch — implizite vertreten wird, i m wesentlichen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts erhalten. Sie hat die tiefgreifenden politischen Veränderungen, die m i t der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert einsetzten, registriert und — zum Teil als Fanal des Konstitutionalismus — ihren Beitrag zu den Auseinandersetzungen der damaligen Zeit geleistet. Ihre Funktion w i r d daher erst deutlich, wenn sie vor dem Hintergrund der älteren, insbesondere naturrechtlichen Theorie gesehen wird. a) Der naturrechtliche
Dualismus
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Dem mittelalterlichen Staatsdenken war der Primat der rechtssubjektiven Einheit des Gemeinwesens fremd. I m Vordergrund des politisch-historischen Bewußtseins stand nicht die nationale oder sonstige Einheit des Gemeinwesens, sondern eine Vielfalt von Dualismen: der Dualismus zwischen Kaiser und Papst, zwischen Landesherren und Ständen, zwischen Fürst und Volk. Der späteren angestrengten Bemühungen der Lehre von der „realen Verbandseinheit" u m den Realitätsgehalt ihres Gegenstandes bedurfte es nicht: Fürst und Volk waren reale und konkrete Größen. Zudem erschien „das Seinsollende" „als das Wissenswürdigere gegenüber dem Seienden" 38 . Die rechtlichen Beziehungen zwischen den zentralen politischen Faktoren des Gemeinwesens beherrschte die Fragestellung. Das gilt insbesondere für die Ableitung der fürstlichen Autorität vom Volk, die zunächst vor allem dazu bestimmt war, die Stellung des Kaisers gegenüber dem Papst zu definieren 3 9 und die später, zumal seit der frühabsolutistischen Konzentration öffentlicher Gewalt beim Landesherrn 40 , die Beziehungen zwi87
Zusammenfassend Häfelin, Rechtspersönlichkeit S. 17 ff. m. w. Nachw. G. Jellinek, Staatslehre S. 56. 89 Scholz, Marsilius von Padua, a.a.O. S. 66, 77; Christoph Müller, Mandat S. 102 f. 40 Christoph Müller, Mandat S. 107 f. 88
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sehen dem Fürsten und den Ständen festzulegen hatte. Diese normative Beschäftigung m i t den grundlegenden Dualismen ließ die Frage nach der Einheit etwa von Volk und Fürst i n den Hintergrund treten. Der Gedanke einer beide überhöhenden universitas oder eines sie zusammenfassenden corpus erlangte keine zentrale Bedeutung 41 . Der geistige Kampf u m die Zuordnung von Volk und Fürst wurde in den Kategorien der translatio imperii ausgetragen. Die Übertragung des Imperiums entweder quoad substantiam oder quoad exercitium entschied über Fürstensouveränität und Volkssouveränität 42 . Das neuzeitliche Vernunftrecht nahm Problemstellung und Kategorien des mittelalterlichen Naturrechts auf und versuchte durch den überwiegenden Teil seiner Vertreter, den Prozeß absolutistischer Machtkonzentration voranzutreiben. Die persona civitatis, die die Individuen i m Naturzustand durch Gesellschaftsvertrag gegründet hatten, stand dem Fürsten gegenüber 43 . Sie behielt entweder nach Maßgabe des Unterwerfungsvertrages Rechte, die der Fürst zu respektieren hatte oder starb, wie bei Hobbes, i m Vertragsschluß 44 . Aber selbst Hobbes, der die persona civitatis auf diese Weise i n der Person des Fürsten aufgehen ließ 4 5 , hielt i m Ansatz an der Legitimierungsfunktion dieser zunächst dualistisch dem Fürsten gegenüberstehenden Volkspersönlichkeit fest 46 . Eine übergreifende Einheit, die Herrscher und Beherrschte gleichermaßen einschließt, blieb nach wie vor i m Hintergrund des theoretischen Interesses und wurde nur gelegentlich i m Rahmen völkerrechtlicher Fragestellung angedeutet 47 . Auch die Staatstheorie des neuzeit41 v.Gierke, Genossenschaftsrecht I I S. 860; Häfelin, Rechtspersönlichkeit des Staates S. 14. — Die englische Staatstheorie, die i n der Anerkennung der grundlegenden Dualismen m i t der mittelalterlichen Lehre verbunden blieb, zog sich daher notwendig die K r i t i k der Vertreter einer monistischen K o n zeption des Gemeinwesens zu: G. Jellinek, Staatslehre S. 167 Anm. 1, hält i h r entgegen, sie habe die „Spaltung des Staates (d. h. des Gemeinwesens) i n rex u n d regnum nicht überwunden" u n d daher den „Gedanken der Körperschaft nicht v o l l zu entwickeln vermocht". 42 v. Gierke, Genossenschaftsrecht I V S. 216; Ders., Althusius S. 82 f. 48 Vgl. v.Gierke, Genossenschaftsrecht I V S. 459, 449; Ders., Althusius S. 84 ff. — Demgegenüber scheinen der Beurteilung des Absolutismus bei Leibholz (Repräsentation S. 129) nicht die Kategorien des 17. u n d 18., sondern bereits die des 19. Jahrh. zugrunde zu liegen. Leibholz' Hinweis auf v. Gierke (Genossenschaftsrecht I I S. 860 f.) bestätigt die Vorstellung einer lediglich repräsentierten „Volksgemeinschaft", die bereits den Landesfürsten einbegreift, nicht. Vgl. auch Rupp, Grundfragen S. 38 m i t Anm. 65 44 Z u den wesentlich differenzierteren Stadien der naturrechtlichen Persönlichkeitslehre s. Häfelin, Rechtspersönlichkeit S. 24—65 m i t Nachweisen. 48 v.Gierke, Althusius S. 86; Ders., Genossenschaftsrecht I V S. 459; Bernatzik, Juristische Person, AöR 5 S. 187; Ehmke, Staat u n d Gesellschaft, a.a.O. S. 32. 46 H. J. Wolff, Organschaft u n d juristische Person I S. 264 Anm. 3. 47 Z u Grotius u n d Chr. Wolff s. Häfelin, Rechtspersönlichkeit S. 30, 43 f.
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liehen Naturrechts konzipierte m i t h i n das Gemeinwesen dualistisch, als Rechtsverhältnis zwischen dem Volk und dem Fürsten 4 8 . Die Annahme einer dem Fürsten gegenüberstehenden persona civitatis wandte sich gegen das patrimoniale Verständnis der fürstlichen Gewalt als Privateigentum 4 9 . Der normative Anspruch dieses Begriffs 5 0 leitet bereits über zur Staatspersönlichkeitslehre Albrechts, die den Fürsten i n die rechtssubjektive Einheit des Gemeinwesens einbezog und i h m hierdurch das „ u m seiner selbst willen Berechtigt-Seyn" absprach 51 . Demgemäß wurde die Vorstellung einer vom Monarchen verschiedenen Zurechnungseinheit — sei es der Rechtspersönlichkeit des Volkes oder der des Gemeinwesens — „von den Verfechtern der reaktionären Ideen als eine revolutionäre betrachtet und bekämpft" 5 2 . Das Pathos der Staatspersönlichkeitslehre beruht indessen nicht auf dieser Einbeziehung des Fürsten i n das Gemeinwesen. Denn die Aufgabe der Konstitutionalisierung wurde bereits von der dem Fürsten gegenüberstehenden persona civitatis erfüllt, die durch den Gesellschaftsvertrag gegründet worden und i m nur partiellen Unterwerfungsvertrag nicht untergegangen war. Der Gedanke eines das Volk und den Fürsten umfassenden Gemeinwesens hatte andere Wurzeln. b) Das romantische Erlebnis der Einheit Die dualistische Konzeption des Gemeinwesens wurde dem geistigen und politischen Selbstverständnis seit der Wende zum 19. Jahrhundert nicht mehr gerecht; ebensowenig die individualistische, auf den Gesellschaftsvertrag gegründete Legitimation der Herrschaft. Die Geschichte und die konkrete Gemeinschaft wurden entdeckt, die Normen des Zusammenlebens nicht mehr als Produkte der Vernunft begriffen, sondern als Emanationen der Geschichte. Die gesellschaftliche Wirklichkeit war schon dadurch gerechtfertigt, daß sie geschichtlich „gewachsen" war: Das immer schon vorgegebene, zum Selbstzweck gewordene und keiner weiteren Rechtfertigung bedürftige Volksganze hatte den Einzelnen und seine gesellschaftliche Vernunft entthront 5 3 . Dieser Bruch mit dem 48
Vgl. v. Gierke , Genossenschaftsrecht I V S. 448. G. Jellinek, Staatslehre S. 199 ff., 164 ff.; Bernatzik, AöR 5 S. 187 f.; Heller, Hegel u n d der Machtstaatsgedanke i n Deutschland (1921) S. 111; vgl. auch v. Gierke, Genossenschaftsrecht I I S. 861. 50 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 45. 51 Albrecht, Rezension des Maurenbrecher'schen Staatsrecht (1837, Neudruck 1962) S. 4. 62 Bernatzik, Juristische Person, AöR 5 S. 186 f.; vgl. ferner Häfelin, Rechtspersönlichkeit S. 88. 58 Z u r staatstheoretisch erheblichen Geistesgeschichte der Romantik s. Mannheim, Das konservative Denken, a.a.O. S. 68 ff. (84, 95 ff., 103, 116, 123, 128, 489); Carl Schmitt, Politische Romantik (2. Aufl. 1925) S. 126 f., 154; Larenz, Staatsphilosophie des deutschen Idealismus (1933) S. 138, 145, 172; Hork49
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Rationalismus und seiner individualistischen Auffassung vom Wesen der Verbände konnte i n Deutschland radikal sein, weil eine tiefere Verwurzelung des aufgeklärten politischen Humanismus „westlicher" Prägung fehlte 5 4 . Spätestens seit der Französischen Revolution und den ihr nachfolgenden Kriegen bis h i n zum Befreiungskrieg von 1813/14 wurde das Volksganze auch i n breiten Schichten als Wirklichkeit erlebt 5 4 a . Es blieb nicht auf das „rein geistige Gemeingefühl der gebildeten Kreise" beschränkt, in welchem Friedrich Meinecke den Erzeuger des „neuen deutschen Nationalgeistes" erblickte 55 . Jene Kriege berührten die einzelnen nicht mehr nur als Untertanen, die die Kabinettskriege ihres Fürsten, der gegebenenfalls „eine Bataille verliert", duldend ertragen, sondern sie engagierten sie als Glieder eines Ganzen. Mehr oder weniger deutliche Konturen gewann das Erlebnis der Einheit durch gemeinsam geglaubte Leitbilder einer neuen, teils demokratisch, teils liberal verstandenen, jedenfalls aber antifeudalen Ordnung 5 0 . Das Volksganze, welches von der Romantik als Subjekt der Weltgeschichte und zumindest i m Ansatz als der Staat selbst verstanden wurde 5 7 , war nicht, wie es für eine rationale Fragestellung naheliegt, die Summe der durch Homogenität zusammengehaltenen Mitglieder der Gruppe. Es war vielmehr eine „organische Einheit", die sich allein deshalb über die reale Pluralität erheben konnte, w e i l sie mit ihrer Idee identifiziert wurde. Die romantische Einstellung zum Gemeinwesen ist maßgebend bestimmt durch die Idee einer „heilen Welt", wie sie romantisches Denken i n der vermeintlichen Harmonie des Mittelalters zu sehen glaubte 5 8 . Der Zusammenbruch der mittelalterlichen Welt — der geistige mit Renaissance, Reformation und Aufklärung, der gesellschaftliche mit heimer-Adorno, D i a l e k t i k der A u f k l ä r u n g (1947) S. 19, 24, 37; Cassirer , Vom Mythus des Staates (1949) S. 237 f.; Heller, Hegel u n d der nationale Machtstaatsgedanke i n Deutschland (1921) S. 89 ff. 54 Vgl. Plessner, Die verspätete Nation (1959) S. 42, 56 f.; Oers., Das Problem der Öffentlichkeit u n d die Idee der Entfremdung (1961) S. 5, 7; Ehmke, Staat u n d Gesellschaft, a.a.O. S. 38 f.; Habermas, S t r u k t u r w a n d e l der Öffentlichkeit S. 36, 45 ff., 83 f. 84a Smend, Politisches Erlebnis u n d Staatsdenken seit dem 18. Jahrhundert, i n : Abhandlungen S. 346, 350 f. — Vgl. auch die Hinweise v. Oertzens (v. Gerber, a.a.O. S. 194) u n d Henkes (Das Recht der politischen Parteien S. 1) auf Bemerkungen C. F. v. Gerbers. 55 Fr. Meinecke, Weltbürgertum u n d Nationalstaat (4. Aufl. 1917) S. 30. 56 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte I S. 4 f. (weitere Nachweise a.a.O. S. 3). 57 Carl Schmitt, Politische Romantik S. 94. 58 Vgl. Mannheim, Das konservative Denken, a.a.O. S. 129; Cassirer, V o m Mythus des Staates S. 243; Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservativismus, a.a.O. S. 27, 28.
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Absolutismus und Französischer Revolution — weckte i n der Romantik das Bedürfnis nach (Wieder-) Vereinigung der Gegensätze. Die heile Welt durch Veränderung der Welt wiederherzustellen, stand aber weder i n der Absicht noch i m Vermögen der Romantik. Wiederhergestellt werden sollte sie allein durch geistige Verbindung der realen Gegensätze zu höherer Einheit 5 9 . Allerdings durfte diese Einheit nicht als — normative oder fiktive — Vorstellung des erkennenden Subjekts behauptet werden, wenn anders nicht doch das Auseinanderfallen von Idee und Wirklichkeit, das von der Aufklärung als gegeben anerkannt wurde, sichtbar werden sollte. Das Subjekt selbst mußte die i n seinem Innern erreichte Harmonisierung der Welt i n die Welt hineinprojizieren, um sodann die — tatsächlich nur i n Ansätzen befriedete — Welt als harmonisch zu erkennen 60 . „Die Lösung", so führt Karl Mannheim speziell für das romantische Freiheitsproblem aus, „ w i r d gefunden i n der Voraussetzung einer A r t ,prästabilisierter Harmonie', die entweder unmittelbar durch Gott oder durch die gesellschaftlich-nationalen Kräfte verbürgt w i r d " 6 1 . Die vorausgesetzte Harmonie, i n der sich die erkannten und i n ihrer Individualität und Dynamik bejahten Gegensätze befinden, ist das Ergebnis der Identifizierung der realen Vielheit (und nur teilweise realen Einheit) m i t der Idee der (umfassenden) Einheit. Novalis hat dieses Verfahren beschrieben und zugleich zur Forderung erhoben: „Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedere Selbst w i r d m i t einem besseren Selbst in dieser Operation identifiziert, so wie w i r selbst eine solche qualitative Potenzreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. I n dem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es 62 ." Daß dieses Verfahren nicht nur der Geschichte angehört, sondern bis i n die Gegenwart hinein alle Theorien kennzeichnet, die dem Staate ein „höheres Sein" zusprechen 63 , zeigt die Abhandlung Gerhard Leibholz* über das „Wesen der Repräsentation". „Jede Volksgemeinschaft" ist zugleich, so sagt Leibholz, eine „Wertgemeinschaft" 64 . Trotz der zu59 Carl Schmitt, Politische Romantik S. 126 ff. — Vgl. die Nachweise bei Greiffenhagen, Konservativismus, a.a.O. S. 47. 80 Vgl. Carl Schmitt, Politische Romantik S. 96, 227. 81 Mannheim, Das konservative Denken, a.a.O., S. 92. 82 Novalis, Schriften, hrsg. v. J. Minor, 1907, Bd. I I S. 304 f., zitiert nach Mannheim, Das konservative Denken, a.a.O., S. 118. ω Leibholz, Das Wesen der Repräsentation (1929) S. 37; Carl Schmitt, V e r fassungslehre (1928) S. 210; Krüger, Staatslehre (1964) S. 365, 652, u n d die gesamte Staatslehre des „monarchischen Prinzips" (vgl. Ehmke, Staat u n d Gesellschaft, a.a.O. S. 36 f.). 84 Leibholz, a.a.O. S. 46.
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gegebenen „vielfältigen Menge der individuellen W i l l e n " 6 5 kann die „konkrete Volksgemeinschaft" als geistige Einheit „existentiell vorhanden" sein®6. Denn für die Begriffsbildung gilt hier nichts anderes, als für den von Leibholz ohne kritische Distanzierung beschriebenen Begriff der Identität: Bei diesem w i r d „nach einem bestimmt gearteten Transsubstantiationsprozeß auch i n Wirklichkeit nicht Gleiches miteinander für identisch erklärt" 6 7 . Die geistige Vermittlung der Gegensätze i n einer höheren Einheit, die die Vielheit i n sich aufnimmt, gestattet es nicht nur, die gesellschaftliche Pluralität zu harmonisieren. Sie gestattet es vor allem, die beiden Pole des naturrechtlichen Dualismus, Fürst und Volk, zu einer nicht nur als normativ, sondern als real vorgestellten, organischen Einheit zu verbinden 6 8 . Der Organismusgedanke der Romantik und Hegels 69 , der hierin m i t ihr übereinstimmt, ist Grundlage der Herrscher und Beherrschte umschließenden „Einheit des Gemeinwesens", die auch von der anorganischen Persönlichkeitstheorie des Positivismus festgehalten wurde. Überblickt man abschließend den nachhaltig wirkenden Prozeß der Ablösung der bis ins 18. Jahrhundert hineinreichenden dualistischen, zuletzt rational am Einzelnen ausgerichteten Theorie durch das romantische Erlebnis der Einheit, so findet sich Otto v. Gierkes — allerdings unkritisch gemeinte — These bestätigt: „Eine Wieder(?)-herstellung der souveränen Staatspersönlichkeit wurde erst möglich, nachdem die gesamte individualistische Gesellschaftslehre des Naturrechts überwunden und von der geschichtlich-organischen Betrachtungsweise her der Begriff des lebendigen Gemeinwesens erarbeitet w a r 7 0 . " c) Der nationalstaatliche
Monismus
Die Pluralität staatlicher und gesellschaftlicher Wirklichkeit w i r d vom romantischen Denken, so zeigte der vorstehende Abschnitt, als organische Einheit erlebt. Einen realen Ansatz findet es i m nationalen Erleben 71 , das jedoch sogleich zum Walten eines „Volksgeistes", der die Gegensätze bereits i n sich versöhnt hat, hypostasiert wird. Er soll der als umfassend vorgestellten, personifizierten Einheit des Gemeinwesens 65
Leibholz, a.a.O. S. 58. Leibholz, a.a.O. S. 57. 67 Leibholz, a.a.O. S. 28; kritisch zu Leibholz' Methode Köttgen, Rezension AöR 58 S. 291; H. J. Wolff, Organschaft u n d juristische Person I I S. 23 A n m . 1. 68 Heller, Hegel u n d der nationale Machtstaatsgedanke S. 92, 107; vgl. auch v. Gierke, Grundbegriffe des Staatsrechts S. 98 ff. 69 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts §§ 269, 278. 70 v. Gierke, Genossenschaftsrecht I V S. 483; vgl. auch ebd. S. 244. 71 S. o. § 9 m i t A n m . 54. M
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Wirklichkeit vermitteln: „Das Allgemeine, das i m Staate sich hervortut und gewußt wird, ist das, was die Bildung einer Nation ausmacht. Der bestimmte Inhalt aber, der die Form der Allgemeinheit erhält und i n der konkreten Wirklichkeit, welche ein Staat ist, liegt, ist der Geist des Volkes 7 2 ." Damit der Volksgeist i n der Lage ist, ein Gemeinwesen als Einheit zu erweisen, bedarf er selbst der Betonung seiner Individualität. Je stärker das Erlebnis der Gleichartigkeit der Sprache, der Geschichte, der kulturellen Überlieferung, des Brauchtums und nicht zuletzt der verpflichtenden Ziele i n den Vordergrund tritt, desto glaubhafter w i r d die Überwindung innerer Spannungen durch die Vorstellung organischer Einheit. Die Mitglieder einer Gruppe werden das Bewußtsein, eine Einheit zu sein, besonders i n der Unterscheidung von anderen Gruppen bilden. Die i n der Romantik begründete und i n der Staatspersönlichkeitslehre noch gegenwärtig nachvollzogene Harmonisierung des Gemeinwesens verband sich daher sogleich m i t der nationalstaatlichen Individualisierung nach außen. Allerdings setzte die anfangs universalistische, immer aber an der kulturellen Einheit der Nation orientierte Frühromantik die Akzente anders als die spätere, m i t Hegel einsetzende Machtstaatsideologie 73 . Hegels Definition der politischen Verfassung legt, soweit sie das Innere des Gemeinwesens zum Gegenstand hat, durchaus die Vorstellung der Pluralität nahe, soll doch hier der Staat seine Momente innerhalb seiner selbst unterscheiden und sie zum Bestehen entfalten 74 . Erst die Orientierung nach außen widerlegt eine solche Vermutung: Der Staat sei zweitens „als eine Individualität ausschließendes Eins, welches sich damit zu andern verhält, seine Unterscheidung also nach außen kehrt und nach dieser Bestimmung seine bestehenden Unterschiede innerhalb seiner selbst i n ihrer Idealität (!) setzt" 7 5 . Die reale dialektische Bewegung der i m Innern zum Bestehen entfalteten Momente w i r d m i t h i n aufgrund der Individualisierung nach außen aufgehoben. Das Gemeinwesen kann als Einheit bedacht werden, weil die Pluralität i m Innern vernachlässigt und i h r gegenüber die Individualisierung nach außen höher bewertet w i r d 7 6 . 72 Hegel, Philosophie der Geschichte, zit. nach Heller, Hegel S. 109. — Z u m Volksgeist s. auch Wieacker, Privatrechtsgeschichte S. 222. 73 Fr. Meinecke, Weltbürgertum u n d Nationalstaat S.30ff.; Heller, Hegel S. 105; Larenz, Staatsphilosophie S. 142; Cassirer , V o m Mythus des Staates S. 241 ff. 74 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts § 271, 1. Abs. 75 Hegel, a.a.O., § 271, 2. Abs.; vgl. hierzu auch § 322. 79 Der Zusammenhang zwischen Harmonisierung i m I n n e r n u n d A k t i v i e r u n g nach außen ist auch f ü r Hegel keineswegs zufällig, w e n n er bemerkt, „daß glückliche Kriege innere Unruhen verhindert u n d die innere Staats-
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Der Grund für diese Erstarrung der inneren Dialektik des Gemeinwesens liegt i n der weltgeschichtlichen Mission des einzelnen Staates: Als Subjekt der Weltgeschichte erlangt er seine höchste Sittlichkeit und als Subjekt muß er eine geschlossene, i n sich harmonische Einheit sein 77 . M i t dieser weltgeschichtlichen Rechtfertigung staatlicher Macht als höchster Sittlichkeit hat Hegel der Nationalstaatsideologie i n Deutschland am frühesten und nachhaltigsten Ausdruck verliehen 7 8 . Diese Ideologie mag einer der Gründe gewesen sein, der auch noch den Positivismus und seine anorganische Persönlichkeitslehre dazu veranlaßten, die monistische „république une et indivisible" des französischen revolutionären Nationalstaates i n formalisierter Gestalt zu übernehmen 79 . Einen weiteren theoretischen Niederschlag fand die enge Verbindung, die zwischen staatsrechtlicher Einheit und nationalstaatlichem Monismus besteht, i n der psychologischen Substantialisierung der république une et indivisible durch die Einmütigkeit der Entscheidung über Freund und Feind, die politische Konflikte aus dem Innern des souveränen Staates verbannt und nach außen lenkt 8 0 . d) Der deutsche Konstitutionalismus Während Frankreichs Nationalismus aufgrund seiner demokratischen Fundierung an der Wirklichkeit des Individuums festhielt 8 1 und nicht den jeweiligen Status quo als Verwirklichung des Volksgeistes rechtfertigte 8 2 , konnte sich die deutsche Volksgeistlehre aufgrund der Ästhetisierung und Vergeistigung politischer Fragen durch die Romantik 8 3 macht gefestigt haben" (a.a.O. § 324). — Dementsprechend w a r i n den Jahren 1807—1813 die Förderung eines Nationalbewußtseins i m preußischen Bürgert u m durch die Monarchie zugleich ein Moment der machtstaatlichen Selbstbehauptung u n d der Konsolidierung i m I n n e r n ; vgl. auch Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. 1961, S. 80, 84 f. 77 v. d. Gablentz, Staat u n d Gesellschaft, a.a.O. S. 5 f.— Es braucht hier nicht untersucht zu werden, ob dieses Staatsverständnis i m Ganzen der Hegel'schen Philosophie angelegt ist; wichtig ist allein, daß die deutsche Staatsideologie sich dieses Verständnis zu eigen gemacht hat. Adorno, Drei Studien zu Hegel (1966) S. 16, legt dar, daß Hegels Kategorie der Totalität unvereinbar sei „ m i t jeglicher harmonistischer Neigung", fügt jedoch hinzu: „mag i m m e r auch der späte Hegel subjektiv solche Neigungen gehegt haben". 78 Vgl. Hegel, a.a.O. §§ 347, 352; Heller, Hegel S. 1201, 129, 131, 135; Larenz, Staatsphilosophie S. 155 f. 79 Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 19 f.; Laband, Staatsrecht I S. 84 f.; G. Jellinek, Staatslehre S. 502 f. 80 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen S. 20, 22 f., 27, 31, 41; Ders., Verfassungslehre S. 389. 81 Heller, Hegel S. 109. 8t Die volonté générale hatte daher neben ihrer metaphysischen K o m p o nente stets eine gesellschaftlich-rationale: Sie bedurfte der E r m i t t l u n g durch Wahlen u n d Abstimmungen, vgl. Rousseau, Contrat social I I 7; I V 2; Sieyès, Was ist der dritte Stand? S. 44. 88 Carl Schmitt, Politische Romantik S. 50 ff., 222; Larenz, Staatsphilo-
§ 9 Die Einheit des Gemeinwesens
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auch m i t dem überkommenen absolutistischen Obrigkeitsstaat arrangieren. Vor allem aber vermochte sie durch ihren Abstand von der politisch-soziologischen Wirklichkeit einen Gegensatz i n der Einheit des Gemeinwesens aufzuheben, den eine Realanalyse nur i n einer dualistischen Konzeption des Gemeinwesens hätte beschreiben können: den aus dem Naturrecht überkommenen Gegensatz zwischen Fürstensouveränität und Volkssouveränität. Die Staatslehre des monarchischen Prinzips 8 4 , die sich an Art. 57 der Wiener Schlußakte orientierte, nahm zwar den Fürsten i n das Gemeinwesen hinein und sprach die Souveränität dem Gemeinwesen zu. Da das Gemeinwesen jedoch aufgrund der erwähnten Vergeistigung tatsächlich nur ideeller A r t war, konnte es seine Selbständigkeit letztlich nicht gegen den Monarchen behaupten: „Die Persönlichkeit des Staates ist nur als eine Person, der Monarch, wirklich. Persönlichkeit drückt den Begriff als solchen aus, die Person enthält zugleich die Wirklichkeit desselben, und der Begriff ist nur m i t dieser Bestimmung Idee, Wahrheit 8 5 ." M i t der entsprechenden Begründung, daß die Staatsgewalt „erst i n dem Recht des herrschenden Subjekts . . . zur praktischen Erscheinung kommt", vertrat Carl Friedrich v. Gerber die Ansicht, daß „der Monarch die Persönlichkeit des Staates formell i n seine Persönlichkeit aufnimmt" 8 8 . Der Zurechnung von Staatsgewalt und Souveränität auf das Gemeinwesen kam nur noch die Aufgabe zu, den monarchischen „Träger der Staatsgewalt" 8 7 als die Wirklichkeit der geistig-sittlichen Idee des Gemeinwesens zu erweisen und die realen Spannungen i n ihm als aufgehoben zu denken. Die Staatssouveränität des monarchischen Prinzips hob den Dualismus von Volks- und Fürstensouveränität demnach nur vorläufig und auf ideeller Ebene auf, während sie i n ihren praktischen Konsequenzen i n die — romantisch-nationalstaatlich modifizierte — Fürstensouveränität umschlug. Gegen den „Träger der Staatsgewalt", der die Staatspersönlichkeit i n seine Persönlichkeit aufnimmt, wandte sich die liberal-konstitutionelle Lehre 8 8 . Indem sie die Selbstständigkeit der Staatspersönlichkeit besophie S. 139; Smend, Politisches Erlebnis und Staatsdenken, Abhandlungen S. 355; Ders., Staat u n d Politik, Abhandlungen S. 370; Cassirer, V o m Mythus des Staates S. 244. Z u r irrationalen Lösung des Legitimitätsproblems vgl. auch H.J.Wolff, Organschaft u n d juristische Person I S. 264 A n m . 3; Heller, Hegel S. 112. 84 Zusammenfassend Ehmke, Staat u n d Gesellschaft, a.a.O. S. 37. 85 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts § 279. 86 C. F. ν . Gerber, Grundzüge des Staatsrechts S. 19 Anm. 1. 87 Nachweise bei Häfelin, Rechtspersönlichkeit S. 124 A n m . 14, 72. 88 G. Jellinek, Staatslehre S. 457 f., 552 f.; Max Kulisch, AöR 16 (1901) S. 153; Lukas, Die rechtliche Stellung des Parlaments i n der Gesetzgebung (1901) S. 62 ff. m. w. Nachw.
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
tonte, versuchte sie d e n a b s o l u t e n M o n a r c h e n z u „ d e p o s s e d i e r e n " 8 9 u n d i h n z u r A n e r k e n n u n g des P a r l a m e n t s als eines f o r m e l l g l e i c h b e r e c h t i g t e n Organs z u z w i n g e n . V e r s c h a f f t e d i e S t a a t s t h e o r i e des monarchischen P r i n z i p s d e r i d e e l l e n S t a a t s p e r s ö n l i c h k e i t noch d a d u r c h scheinbar R e a l i t ä t , daß sie sie m i t d e m r e a l e n M o n a r c h e n i d e n t i f i z i e r t e , so w a r d e m l i b e r a l e n V e r s t ä n d n i s des K o n s t i t u t i o n a l i s m u s e i n solcher R ü c k g r i f f verwehrt. Die Staatspersönlichkeit konnte nicht m i t zwei realen Mächten, F ü r s t u n d P a r l a m e n t , i d e n t i f i z i e r t w e r d e n , ohne i h r e d u r c h das n a t i o n a l s t a a t l i c h e n D e n k e n vorgezeichnete E i n h e i t z u v e r l i e r e n . B e w a h r t w e r d e n k o n n t e die E i n h e i t n u r , w e n n m a n sie i n äußerster D i s t a n z v o n d e n r e a l e n K r ä f t e n , also a u f e i n e r i d e e l l e n , f i k t i v e n oder n o r m a t i v e n E b e n e k o n s t r u i e r t e , a u f d e r f ü r e i n soziologisch h a n d l u n g s fähiges S u b j e k t k e i n R a u m ist. Die Vorstellung eines Abstraktums als Subjekt der stets real w i r k e n d e n Staatsgewalt u n d Souveränität 9 0 w a r n u r die Folge des Versuchs, keiner der konkurrierenden realen K r ä f t e Souveränität u n d damit Überlegenheit über andere Machthaber i m Gemeinwesen zuzusprechen 91 . Daß die „Versöhnung der Souveränität des Volkes m i t der des Monarchen" 9 2 durch die Staatssouveränität keine real-politische war, sondern nur auf der höheren Ebene der Ideen, Abstraktionen oder Fiktionen stattfand 0 3 , veranschaulicht der Rottecksche Begriff der „idealen" oder „höheren" Gesamtpersönlichkeit,, der V o l k u n d Fürst noch i n Anlehnung an K a n t als selbständige Personen i n sich e n t h i e l t 9 4 ; er deutete damit noch einmal den realen Dualismus an u n d leitete gleichzeitig zu seiner künftigen Leugnung über. Während die romantisch-konservative Persönlichkeitslehre den Dualismus auf G r u n d der Ideologie der Restauration zu überwinden u n d das monistische Gemeinwesen als organische, i m Monarchen dargestellte W i r k l i c h k e i t der sittlichen Idee zu begreifen vermochte 9 5 , mußte die liberal-konstitutionelle Lehre, w o l l t e sie den Dualismus überhöhen, ihre Distanzierung von der W i r k l i c h k e i t noch weiter vorantreiben — sowohl von der des Volkes als auch von der des* Monarchen. Die entschiedene Verselbständigung des Subjekts der Souveränität gegenüber den realen monarchischen u n d potentiellen demokratischen K r ä f t e n wurde zum dogmatischen Ausdruck liberal-konstitutioneller A n sprüche. 89 Häfelin, Rechtspersönlichkeit S. 88 m. w. Nachw. — Vgl. auch oben § 9 A n m . 51, 52. 90 Vgl. hierzu Heller, Souveränität S. 62. 91 Röttgen (Innerstaatliche Gliederung, a.a.O. S. 80) nennt die konstitutionelle Monarchie den Versuch, die „Zentralfrage deutscher I n n e n p o l i t i k " (das Verhältnis von Staat und Gesellschaft) „vorerst zu vertagen". 92 Hennis , Das Problem der Souveränität (1951) S. 12; vgl. auch Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen S. 30. 93 Vgl. hierzu auch Peter v. Oertzen, Die soziale F u n k t i o n des staatsrechtlichen Positivismus (1952) S. 299; Rupp, Grundfragen der heutigen V e r w a l tungsrechtslehre (1965) S. 3, 39 (Anm. 65 von S. 38). 94 Leibholz, Repräsentation S. 129 f., insbes. S. 130 A n m . 1; Häfelin, Rechtspersönlichkeit S. 49, 71 A n m . 42. 95 Vgl. P. v. Oertzen, Die Bedeutung v. Gerbers, a.a.O. S. 193, 201.
§ 9 Die Einheit des Gemeinwesens
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Die rechtsdogmatische Hinterlassenschaft des Konstitutionalismus — vor allem in seiner liberalen Ausprägung — besteht i n der abstrakten Einheit des Gemeinwesens, die sich gemäß ihren damaligen Funktionen zumindest i m Ansatz i n extremer Entfernung von der Ambiance zu halten versuchte. Das Gemeinwesen wurde, wie Otto ν . Gierke einwandte, zum „gespensterhaften Schattenwesen" 96 . „Sobald die abstrakte Formel an den konkreten Fragen des Staatswesens erprobt wird, (muß) die juristische Person dem praktischen Erfolge nach sich vollkommen zugunsten ihrer allein lebendigen Vertreter verflüchtigen 9 7 ." Georg Meyers Staatsdefinition verdeutlich die letztlich obrigkeitsstaatliche Funktion der abstrakten Einheit, die ihre Konkretisierung erst durch ihre „lebendigen Vertreter" erhält: „Der Staat ist ein menschliches Gemeinwesen. Es faßt die i n i h m verbundenen Menschen zu einer höheren Einheit zusammen und unterwirft sie seiner Herrschaft 98 ." Die reale Vielheit der Staatsangehörigen — die i m „menschlichen Gemeinwesen" „verbundenen Menschen" — steht sich selbst i n nunmehr abstrakter Gestalt auf höherer Ebene gegenüber und übt von dort aus vermittels ihrer Organe reale Herrschaft scheinbar über sich selbst aus 99 . Der gesellschaftlich-reale Prozeß und die Vielheit der Faktoren des Gemeinwesens sind nach Abschluß der juristischen Konstruktion zur Einheit der obrigkeitlichen Herrschaft geworden, die die anderen i m Gemeinwesen wirksamen gesellschaftlichen Kräfte absorbiert bzw. sie auf bloße Privatheit verweist. I n diesem Ergebnis stimmt die anorganisch-positivistische Persönlichkeitslehre m i t ihrer Gegnerin, der romantisch-konservativen Theorie des monarchischen Prinzips, überein, die die Einheit des Gemeinwesens aus der Hypostasierung des Nationalbewußtseins zur Idee gewann und sie erst i m „Träger der Staatsgewalt" Wirklichkeit werden ließ. Die liberal-konstitutionelle Doktrin hat diese obrigkeitsstaatliche Tradition nur insofern modifiziert, als sie das Zusammenfallen von monarchischer und staatlicher Persönlichkeit ablehnte und durch die endgültige Fixierung des Gemeinwesens auf der höheren Ebene der Abstraktionen oder 98 v. Gierke, Labands Staatsrecht, a.a.O S. 1126; vgl. ferner die K r i t i k ffaenels, Deutsches Staatsrecht I S. 99 f. m i t A n m . 4. 97 v. Gierke, a.a.O. S. 1129. 98 Meyer-Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts (7. A u f l . 1919) S. 13. 99 Heller (Souveränität S. 61) bemerkt zur positivistischen Vorstellung einer „realen Verbandseinheit", Idealität u n d Realität befänden sich hier „ i n einem v ö l l i g ungeklärten Verhältnis". Z u r Auseinandersetzung m i t den erkenntnistheoretischen Grundlagen der positivistischen Lehre v o m Gemeinwesen s. E.Kaufmann, K r i t i k der neukantischen Rechtsphilosophie S.40ff.; R.Holubek, Allgemeine Staatslehre als empirische Wissenschaft (1961) S. 11 ff., 34, 43 f.; H.J.Wolff, Organschaft u n d juristische Person I S.311 A n m . 7; Heller, Bemerkungen zur stats- u n d rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart, AöR 55 S. 330, 334, 340 f.; Ders., Souveränität S.59; Ders., Staatslehre S. 62.
8 Hempel
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
Fiktionen Raum schaffte für die vom Liberalismus angestrebten oder erreichten Machtpositionen. e) Die Verhüllung
realer Herrschaft
durch Einheit
Für die streng rationale Betrachtung bedeutet politische Einheit einer Gruppe Einheit der Interessen, Zielvorstellungen und Verhaltensweisen ihrer Mitglieder. Die „Organe", die die Gruppe „darzustellen" haben, würden dann lediglich die vollendete politische Harmonie darstellen. Herrschaftsausübung i m Innern der Gruppe würde eines realen Anlasses entbehren, denn Herrschaft setzt gerade fehlende Übereinstimmung voraus. Organschaftlich dargestellte Einheit und Herrschaft schließen einander aus — wenn man die Theorie der durch Organe handelnden „realen Verbandseinheit" beim Wort nimmt. A u f seine Weise beim Wort genommen hat sie der Frühliberalismus m i t seinem Modell bürgerlicher Öffentlichkeit: Die Überzeugungskraft der öffentlich diskutierten Argumente sollte die reale Einheit der Mitglieder des Gemeinwesens herbeiführen; das Ergebnis sollte die Auflösung der Herrschaft von Menschen über Menschen sein und die Ersetzung dieser Herrschaft durch Vernunft 1 0 0 . Soweit die gesellschaftliche Harmonie gleichwohl fehlte, sollte dies seinen Grund allein darin haben, „daß nicht alle Teilnehmer am Staat beständig vernünftig handeln und denken". Diejenigen, die i m Besitz der gesellschaftlichen Wahrheit sind, befinden sich sodann „ i n der traurigen Lage, das logisch Notwendige zu erzwingen" 1 0 1 . Zu dieser Antinomie von organschaftlicher Herrschaft und vorausgesetzter Einheit des Gemeinwesens steht eine frühere Feststellung über die Staatspersönlichkeitslehre i n klarem Gegensatz: Die juristische Person soll eine Einheit nur insoweit sein, als ihre Herrschaft — nicht nur nach außen, sondern auch i m Innern — reicht 1 0 2 . Dieser Widerspruch ist, w i r d der rationale Begriff der Einheit festgehalten, zwar nicht auflösbar, wohl aber erklärbar. Wenn reale Einheit der Gruppenmitglieder es entbehrlich macht, daß i m Bereich dieser Einheit einzelne Gruppenmitglieder über andere herrschen, so bedeutet die fiktive Erweiterung der partiellen zur umfassenden Einheit zugleich, daß sich die partielle Unterwerfung unter die Herrschaft realer einzelner Angehöriger der Gruppe (fiktiv) auflöst. M. a. W.: Herrschaft w i r d 100
Habermas, S t r u k t u r w a n d e l der Öffentlichkeit S. 95, 101; vgl. auch Heller, Staatslehre S. 297. 101 Robert v. Mohl, Encyklopädie der Staatswissenschaften (1859) S. 67. — Z u dem — i m Ergebnis der Herrschaftslosigkeit m i t dem liberalen Denken übereinstimmenden — Ideal identitärer Demokratie s. Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 215. 1 M S. o. § 6 m i t A n m . 37—42.
§ 9 Die Einheit des Gemeinwesens
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dann nicht als reale Beziehung realer Subjekte verstanden, sondern als der nur zweitrangige Ausdruck einer dahinterstehenden primären Einheit von Herrschern und Beherrschten, i n der die Gegensätze zwischen beiden bereits aufgehoben sind. Verwirklichen aber die Herrschenden nicht ihren eigenen Willen, sondern nur den der Einheit, die sie zusammen m i t den Beherrschten bilden, so w i r d ihre Herrschaft erträglich 1 0 3 ; sie ist gegenüber den Beherrschten gerechtfertigt als die bloße Reproduktion eines Willens, an dem auf ideeller Ebene die Beherrschten teilhaben. Als Repräsentanten einer immer schon vorhandenen Einheit machen die Herrschenden lediglich „das nicht Anwesende sichtbar" 1 0 4 . N u r w e i l die Erfüllung ihrer Aufgabe, die ideell vorgegebene Gestalt der Einheit i n gesellschaftliche Wirklichkeit umzusetzen, auf Hindernisse stößt, insbesondere auf Störenfriede, die die Harmonie des Status quo nicht erkennen, sind sie zum Einsatz von Machtmitteln gezwungen. Damit schlägt Einheit i n Herrschaft um. Die Einheit reicht nicht weiter, als die Befugnisse ihrer Organe zur Herrschaft, so daß Herrschaft, wie es i n der Staatspersönlichkeitslehre geschieht, zum K r i t e r i u m der Einheit werden kann. Wer den Willen der Einheit (organschaftlich) „darstellt", „repräsentiert", ist, soweit er die Rechtsregeln der „Darstellung" beachtet, gegenüber dem Opponenten grundsätzlich i m Recht, da er stets über das bessere Wissen u m die „wahre" Einheit verfügt 1 0 5 . Für jede seiner formal ordnungsgemäßen Handlungen kann sich der Herrschende — als Richter i n eigener Sache — darauf berufen, daß i n ihr die politischrealen Spannungen optimal gelöst seien: verwirklichen seine Handlungen doch nur die Einheit von Herrschenden und Beherrschten und damit die wahre Befriedung ihrer Gegensätze. Der Herrscher, der als Repräsentant einer lediglich sichtbar zu machenden Einheit verstanden wird, ist der Notwendigkeit enthoben, die Relativität und Parteigebundenheit seiner Interpretation der Einheit, des Gemeinwohls, zuzugeben und sich auch insoweit der K r i t i k zu stellen. Uber Inhalt und Ziel der 108 Bereits Gumplowicz betonte, daß die Staatspersönlichkeitslehre „die Tatsache der Herrschaft von Menschen über Menschen zu verhüllen v e r suche" (zusammenfassend Häfelin, Rechtspersönlichkeit S. 369). Vgl. auch Heller, Rechtsstaat oder D i k t a t u r S. 14; Hofstätter, Gruppendynamik S. 143 u n d o. § 9, 2. d) m i t A n m . 98. 104 So der i n Deutschland herrschende Repräsentationsbegriff: Carl Schmitt, Verfassungslehre S.209f.; Leibholz, Repräsentation S.34, 37, 57; E.Kaufmann, Z u r Problematik des Volkswillens, i n : Gesammelte Schriften Bd. I I I S. 276; Heller, Staatslehre S. 284; Triepel, Delegation u n d Mandat (1942) S. 129; Carlo Schmid, JöR 1 S. 196; Scheuner, Das repräsentative Prinzip i n der modernen Demokratie, a.a.O. S. 227; v.d.Heydte, A r t i k e l Souveränität, i n : Staatslexikon Bd. 7 (1962) S. 138; Maunz-Dürig, GG A r t . 38 Rdnr. 1. Z u r geschichtlichen Entwicklung des Repräsentationssystems u n d seiner Spielarten s. Kurz, Volkssouveränität u n d Volksrepräsentation (1965) S. 237 ff., 297 ff. 105 Vgl. hierzu Heller, Hegel S. 160.
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
H e r r s c h a f t i s t i m m e r schon entschieden: D i e w a h r e E i n h e i t , d i e der Herrschende r e - p r o d u z i e r t , i s t i h m vorgezeichnet, sie i s t b e r e i t s „existentiell v o r h a n d e n " 1 0 6 u n d zugleich Ausdruck d e r richtigen, v o n d e n O p p o n e n t e n l e d i g l i c h v e r k a n n t e n O r d n u n g des Gemeinwesens. Gegen diese die Einheitsthese t r a g e n d e Ideologie w a n d t e sich v o r a l l e m Gustav Radbruch: „ D i e Ü b e r p a r t e i l i c h k e i t der R e g i e r u n g w a r geradezu d i e Legende, die L e b e n s l ü g e des Obrigkeitsstaates . . . F r e i l i c h w a r die v e r m e i n t l i c h oder vorigeblich ü b e r p a r t e i l i c h e R e g i e r u n g des O b r i g keitsstaates i n W a h r h e i t n u r eine k r y p t o p a r t e i l i c h e R e g i e r u n g , v o n der echten P a r t e i r e g i e r u n g n u r d a d u r c h unterschieden, daß i h r e p a r t e i p o l i tischen S t ü t z p u n k t e n i c h t s i c h t b a r v o r d e n A u g e n d e r Ö f f e n t l i c h k e i t lagen, s o n d e r n G e g e n s t a n d e i n e r i n n e r p o l i t i s c h e n G e h e i m d i p l o m a t i e waren. Der vermeintliche oder vorgebliche S t a n d p u n k t „über den Parteien" w a r i n W a h r h e i t n u r einer unter anderen Parteistandpunkten, v o n a n d e r e n n u r d a d u r c h unterschieden, daß e r sich f ü r d e n e i n z i g m ö g l i c h e n , a l l e a n d e r e n S t a n d p u n k t e aber f ü r b ö s w i l l i g oder t ö r i c h t hielt107." Die Berechtigung dieser K r i t i k w i r d bestätigt durch die Versuche, die zwar nicht präsente, w o h l aber „existentiell vorhandene" Einheit aufzuzeigen. Hier erweist es sich als unerläßlich, auf die Herrschaftsorganisation, der sie doch vorgelagert sein soll, zurückzugreifen. Nach Jacobi hat das deutsche V o l k „als beseelte Volksgemeinschaft einen realen Gemeinwillen"; w e i l dessen Äußerungen jedoch „nicht immer o b j e k t i v erkennbar" seien, müsse „der von bestimmten Menschen geäußerte W i l l e als V o l k s w i l l e anerkannt" w e r den 1 0 8 . Ganz entsprechend n i m m t Carl Schmitt i n seiner Interpretation Sieyès' eine Abhängigkeit der Repräsentanten v o m V o l k s w i l l e n selbst dann an, „ w e n n der W i l l e des Volkes inhaltlich gar nicht vorhanden ist, sondern durch die Repräsentanten erst formiert w i r d " 1 0 9 . Friedrich Meinecke setzt den „bewußten W i l l e n der Nationen" m i t bemerkenswerter Selbstverständlichkeit gleich m i t ihren „national empfindenden Regierungen, Parteien u n d F ü h r e r n " 1 1 0 . A u f den Zirkelschluß, der solcher E r m i t t l u n g des Volkswillens u n d insofern dem Beweis der lediglich darstellungsbedürftigen Einheit des Gemeinwesens zugrunde liegt, hat bereits H. J. Wolff aufmerksam gemacht 1 1 1 . 106
Leibholz, Repräsentation S. 57. Radbruch, Die politischen Parteien, HdbDStR I (1930) S. 289. — Ausdrücklich zustimmend BVerfGE 5, 85 (224) u n d nunmehr auch Leibholz, S t r u k t u r w a n d e l der modernen Demokratie (1952), i n : Strukturprobleme S. 120 f. — Kritisch zur These, der Gemeinwille werde von den Herrschenden verkörpert, bereits Hobhouse, Die metaphysische Staatstheorie (deutsch 1924) S. 72, 81 f., 89 f. 108 E. Jacobi, zit. nach H.J.Wolff, Organschaft u n d juristische Person I S. 266 A n m . 1; ähnlich Leibholz, Repräsentation S. 58. 109 Carl Schmitt, D i k t a t u r S. 143; ähnlich Heller, Souveränität S. 76. 110 Fr. Meinecke, Weltbürgertum u n d Nationalstaat S. 7. Meinecke verkennt die Fragwürdigkeit umfassender Homogenität durchaus nicht, glaubt aber dennoch an dem folgenschweren Satz festhalten zu sollen, Nation sei „ i n gewissem Sinne von N a t u r i m m e r pars pro toto" (ebd. S. 12 f.). 111 H. J. Wolff, Organschaft u n d juristische Person I S. 265 f. 107
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M i t Recht hebt die K r i t i k , besonders an Carl Schmitt, immer wieder hervor, die vorausgesetzte Einheit sei unbewiesen geblieben 1 1 2 . 3. Einheit des Gemeinwesens und Grundgesetz
Die Staatspersönlichkeitslehre fixiert — so zeigt der vorstehende Überblick über ihre geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen — Ordnungsleitbilder und gesellschaftliche Strukturen, die für die Auslegung demokratischen Verfassungsrechts keineswegs maßgebend zu sein scheinen. I n der Tat hat das Grundgesetz sich von mehreren Konsequenzen der organschaftlich „dargestellten" Einheit des Gemeinwesens distanziert; zum Teil sind die Motive für die Staatspersönlichkeitslehre offenkundig entfallen, so etwa ihr Versuch, Volkssouveränität und Fürstensouveränität i n dem Abstraktum der vermeintlich „realen" Verbandseinheit zu versöhnen (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG). Das Grundgesetz hat sich insbesondere distanziert von der Konzeption eines Gemeinwesens, dessen wesentlichste Aufgabe es ist, durch machtstaatliche Individualisierung nach außen sich als Einheit zu erweisen. Während für den „klassischen" Nationalstaat die V e r w i r k lichung seiner Individualität i m Kriege ein Bestandteil seines Wesens w a r 1 1 3 und der siegreiche Krieg i n jener Zeit als soziales Ideal gelten konnte 1 1 4 , hat das Grundgesetz i n Art. 26 diese Wertungen verworfen. Es hat zugleich die dem Nationalstaat zuwiderlaufende Entwicklung zum „offenen S t a a t " 1 1 5 i n A r t . 24 bestätigt und gefördert. Das Grundgesetz hat die Bundesrepublik Deutschland auch nicht als ein Gemeinwesen geordnet, dessen jeweils herrschende Organwalter von Rechts wegen m i t dem Anspruch auftreten dürften, i n ihren konkreten Handlungen das eine Gemeinwohl, die allein zutreffende Politik oder gar einen „allgemeinen Willen" aller Staatsbürger zu v e r w i r k lichen. Die Anerkennung mehrerer Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG) ist zugleich die Anerkennung eines Pluralismus legitimer Interessen, unterschiedlicher Gemeinwohlinterpretation und unterschiedlicher politischer Kräfte 11 «. 111 Röttgen, Nation u n d Staat, a.a.O. S. 217 A n m . I I a ; H.J.Wolff, Organschaft u n d juristische Person I S. 335 ff., I I S. 49 A n m . 1; Heller, Staatslehre S. 278; Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung S. 41 ff.; Rurz, Volkssouveränität S. 184 f. 113 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Redits §§ 324, 347. — Vgl. oben § 9, 2. c). 114 Erich Rauf mann, Das Wesen des Völkerrechts (1911) S. 146; kritisch Heller, Hegel S. 206 ff.; Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen S. 21 A n m . 7. Z u r Heiligkeit des Krieges s. a u d i Greiffenhagen, Konservativismus, a.a.O. S. 42. 115 Rlaus Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes f ü r eine internationale Zusammenarbeit (1964) S. 33. u e Vgl. hierzu o. § 9 m i t A n m . 107; s. ferner Dahrendorf, Gesellschaft und
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
Seine Absage an die Idee einer vorgegebenen, von den Organwaltern lediglich sichtbar gemachten Einheit des Gemeinwesens unterstreicht das Grundgesetz auch i n A r t . 30. Es verzichtet dort auf die traditionelle Kategorie der Staatsgewalt, die dem Mißverständnis ausgesetzt ist, staatliches Handeln primär statisch und monistisch zu begreifen. Es spricht vielmehr von den staatlichen Aufgaben und Befugnissen. Dieser zentrale Hinweis auf die Aufgaben (vgl. auch A r t . 29 Abs. 1 S. 2 GG) läßt erkennen, daß der Staat als ein dynamischer Faktor i m Gemeinwesen verstanden w i r d 1 1 7 , nicht aber als die bereits Wirklichkeit gewordene Idee der guten Ordnung. Wollte man gleichwohl am Primat der Einheit des Gemeinwesens festhalten und sie als die Aufgabe realer Befriedung sämtlicher Gegensätze i n der Gesellschaft verstehen 118 , so ließe sich auch diese Form der Einheit nicht als taugliches Subjekt der staatlichen Aufgaben und Befugnisse erweisen. Denn die Organe können nur eine vorgegebene, nicht aber eine aufgegebene Einheit „sichtbar machen" — es sei denn, man sähe sie i m Besitz der allein richtigen Interpretation des Gemeinwohls, des Wissens u m die künftige richtige Gestalt des Gemeinwesens. Die organschaftliche Darstellung verweist notwendig zurück auf eine bereits vorhandene Größe. Wenn die nur partiell gegebene und die als umfassend allenfalls aufgegebene Einheit als „reale Verbandseinheit" ausgegeben wird, so w i r d die Spannung zwischen Aufgabe und unzuFreiheit S. 279; Röttgen, Innerstaatliche Gliederung, a.a.O. S. 93; v.d.Gablentz, A u t o r i t ä t u n d L e g i t i m i t ä t i m heutigen Staat, a.a.O. S. 92; Fraenkel, Pluralismus, 45. D J T Bd. a.a.O. S. 8, 28 f.; Sontheimer, V o m Staatsbewußtsein i n der Demokratie, a.a.O. S. 12. — Vgl. auch das „ K P D - U r t e i l " des B u n desverfassungsgerichts (BVerfGE 5, 85 ff.), das zwar die Offenheit des Gemeinwohls hervorhebt (a.a.O. S. 198), aber gleichwohl an der traditionellen, jedoch entgegengesetzten Vorstellung eines „allgemeinen Willens" festhält (a.a.O. S. 195). 117 Vgl. demgegenüber zur K r i t i k an der „unangemessenen Statik der Staatspersönlichkeitslehre" Smend, A r t i k e l Integrationslehre, HdSW 5 S. 301; Bäumlin, Staat, Hecht u n d Geschichte S. 19; Ders., Staatslehre u n d Kirchenrechtslehre a.a.O. S. 11; mittelbar a u d i ν. Oertzen, Die Bedeutung v.Gerbers a.a.O. S.208; Scheuner, Das Wesen des Staates a.a.O. S.234 u n d E.Kaufmann, K r i t i k der neukantischen Rechtsphilosophie S. 52. — Daß die Persönlichkeitslehre nicht n u r von der rationalistisch-liberalen, sondern auch von der romantisch-konservativen Theorie vertreten w i r d , deren dynamische, insbesondere dialektische Begriffe sie eigentlich i n Gegensatz zu i h r hätten bringen müssen, w i r d verständlich aus dem Vorrang, den diese Theorie den statischen und harmonisierenden DenkInhalten v o r den Denkformen einger ä u m t hat; vgl. Mannheim, Das konservative Denken, a.a.O. S. 474 A n m . 132. 118 Vgl. Bäumlin, Staat, R e d i t u n d Geschichte S. 47 ; Oers., Staatslehre und Kirchenrechtslehre, a.a.O. S. 11. Smend sprach früher von „ i m m e r neuer H e r stellung widerspruchsloser, geschlossener Einheit" (Verfassung u n d Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 171). K r i t i s c h i m Hinblick auf die Freiheit i n der differenzierten, demokratisch u n d rechtsstaatlich geordneten Gesellschaft Fraenkel, Pluralismus, a.a.O. S. 17, 28, u n d nunmehr auch Smend, Das Problem der Institutionen u n d der Staat, a.a.O. S. 76 sub 2 d .
§ 9 Die Einheit des Gemeinwesens
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länglicher Realität geleugnet und durch eine Ideologie des Status quo ersetzt 119 . Indem das Grundgesetz die staatlichen Aufgaben (Art. 30) und die Existenz einer Mehrzahl politischer Parteien (Art. 21 Abs. 1) i n den Vordergrund stellt, bezeichnet es selbst die konkrete Ordnung des politischen Prozesses als seine vorrangige Funktion. Diesem politischen Prozeß und seiner Ordnung hat daher die Verfassungsinterpretation i n erster Linie Rechnung zu tragen: Es gilt zu untersuchen, welche Aufgaben von welchen handlungsfähigen Gruppen oder Personen zu erfüllen sind, welche konkreten Gruppen und Personen „Staatsgewalt ausüben" (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG), welche Verfahren für die Begründung und Realisierung öffentlicher Verantwortung vorgesehen sind usw. Damit gewinnt aber auch für das Grundgesetz ein Unterschied zentrale Bedeutung, der sich der soziologischen Betrachtung ohnehin aufdrängt: der Unterschied zwischen denen, die von Verfassungs wegen staatliche Aufgaben zu erfüllen und staatliche Befugnisse auszuüben haben und denen, die von der Wahrnehmung dieser Aufgaben und Befugnisse ausgeschlossen sind. I n den traditionellen Kategorien ist dies — vergröbert — der Unterschied zwischen Herrschern und Beherrschten. Staatliches Handeln kann nur als gesellschaftliche Wechselbeziehung zwischen beiden — ihrerseits vielfältig differenzierten — Faktoren verstanden werden. Alles spricht dafür, daß das Grundgesetz diesen grundlegenden Sachverhalt, den es offen bezeichnet, auch i n der konkreten Interpretation festgehalten sehen w i l l . Für die Projizierung der Aufgaben und Befugnisse der „Staatsorgane" auf eine hinter ihnen stehende Einheit von Herrschern und Beherrschten bleibt hiernach kein Raum 1 2 0 . Daran ändert es auch nichts, daß das Grundgesetz sich i n zweifacher Hinsicht für die „Einheit des Gemeinwesens" interessiert: Zum einen erwartet es von allen politischen Kräften, daß sie sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen (Art. 18, 21 Abs. 2 GG). Doch ist diese Einheit i m Mehrparteienstaat (Art. 21 Abs. 1 GG) notwendig nur eine partielle; die Zurechnung sämtlicher konkreter Akte der Staats119 Vgl. Hobhouse, Die metaphysische Staatstheorie S. 91: „Die Auffassung der gesellschaftlichen Einrichtungen als objektiver Vernunft würde die F u n k t i o n der Vernunft i n der menschlichen Gesellschaft a n n u l i e r e n . " — K r i tisch zu den harmonisierenden Konsequenzen der Einheitsthese der I n t e grationslehre (in ihrer ursprünglichen Fassung) vor allem Hans Mayer, Die Krisis der deutschen Staatslehre u n d die Staatsauffassung Rudolf Smends S. 61, 88 f., 94; aber auch Smend i n : A r t i k e l Integrationslehre, HdSW 5 (1956) S. 301. 120 Schon aus diesen Gründen ist m i t zuerst an die Rechtspersönlichkeit des Staates zu denken, insbesondere an die durch Organe „dargestellte" E i n heit des Gemeinwesens, wenn jene „maßvolle (?) Entmythologisierung unserer publizistischen Kategorien" i n A n g r i f f genommen werden soll, die Röttgen (Politische S t r u k t u r u n d F u n k t i o n der öffentlichen Verwaltung, a.a.O. S. 779) zu den „Aufgaben heutiger Staatsrechtslehre" zählt.
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
organe auf das Gemeinwesen setzt hingegen eine Einheit auch i m Bereich der gundgesetzlich anerkannten Pluralität voraus. Die Idee der „Einheit des Gemeinwesens" klingt ferner auch i n A r t . 20 Abs. 2 S. 1 GG an. Wenn alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen soll, so w i r d das Volk insoweit als Einheit vorgestellt. Die gleichzeitige Anerkennung der politischen Pluralität (Art. 21 Abs. 1 GG) macht jedoch deutlich, daß diese Einheit nicht dem konkreten politischen Prozeß angehört, sondern ihm vorgelagert sein soll: als legitimierende Fundierung allen verfassungsmäßigen Handelns der Staatsorgane i m Gemeinwesen 120 ». Da aber für die Interpretation des Grundgesetzes die konkrete Ordnung des differenzierten, pluralistischen politischen Prozesses, insbesondere die Verantwortung der konkreten handlungsfähigen Gruppen und Personen primär ist, berechtigt auch die begrenzte Legitimationseinheit des Gemeinwesens nicht dazu, es als umfassendes Subjekt der staatlichen Aufgaben und Befugnisse anzusehen. Die klare Unterscheidung zwischen dem konkreten pluralistischen politischen Prozeß und der (normativ) vom gesamten Gemeinwesen verliehenen Legitimität der handelnden „Staatsorgane" entzieht auch einem Argument der Staatspersönlichkeitslehre den Boden, das selbst i m 20. Jahrhundert noch als wesentlich angesehen wurde: ihre Frontstellung gegen den Patrimonialismus 1 2 1 . Die Inpflichtnahme der Herrschenden für das Gemeinwohl sowie ihre Abhängigkeit von der dem Gemeinwesen verliehenen Legitimität können nicht nur i n der Verbindung der Herrschenden und Beherrschten zur Einheit einer juristischen Person dargestellt werden. Auch die der Einheit entgegengesetzte Figur des Rechtsverhältnisses vermag, wie die dualistische Konzeption des Naturrechts zeigt, diese Aufgabe zu erfüllen 1 2 2 . Darüber hinaus vermeidet gerade ein solches „Rechtsverhältnis" das Mißverständnis, Organwalter könnten kraft ihrer begriffsnotwendigen Repräsentation des Gemeinwesens nie anders als legitim handeln 1 2 8 . N u r die Unterscheidung zwischen Herrschenden und Beherrschten gestattet auch i m Verfassungsrecht die Frage, ob den Herrschenden die Legitimität entgleitét und ob sie ihre Pflicht versäumen.
S. näher unten § 11, 1.; § 13, 1. u. 2. Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 11 m i t Anm. 1; Thoma, HdbDStR I S. 180 Anm. 23; Heller, Souveränität S. 65; Ders. t Staatslehre S. 237; Jellinek, Staatslehre S. 407. 1 M Z u r Austauschbarkeit von monistischer Zurechnung einerseits u n d Legit i m i t ä t i m Rahmen eines Dualismus andererseits vgl. auch Max Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft I I S. 171; ferner Häfelin, Rechtspersönlichkeit S. 17 f. 1 M Z u r romantischen Wurzel dieser Konsequenz der Einheitsthese s. o. § 9, 2. b). 121
§
Die Einheit des
mewesens
121
§ 10 Die Einheit des Ämterwesens Die einheitliche Zurechnung der Staatsgewalt auf das gesamte Gemeinwesen ist nur ein — wenn auch wesentlicher — Grund für den Primat der rechtssubjektiven Einheit des Staates. Denn dieser Primat ist nicht nur Ausdruck eines Staatsverständnisses, das Interessenprotektion durch die staatliche Organisation für apriori unmöglich hält, das Opposition und K r i t i k für schädlich erachtet und den Herrschenden die Weihe fragloser Legitimität und allein richtiger Gemeinwohlinterpretation verleiht. Er ist zugleich Ausdruck eines bestimmten Organisationsmodells für das staatliche Ämterwesen. Nicht allein das gesellschaftliche Substrat soll eine Einheit sein, sondern auch die Aktualisierung des dem Gemeinwesen substantiell zugerechneten Willens: Der Staat als Einheit ist „machtbegabt, willens- und handlungsfähig" 1 ; der aktuelle Wille muß eine unteilbare Einheit sein, soll nicht das Subjekt selbst seine Einheit verlieren 2 und „zu einer Summe von Einheiten degeneriert werden" 5 . Gewährleistet w i r d diese „Einheit und Unteilbarkeit der Staatsgewalt" i n einer real wirksamen, obersten Entscheidungseinheit, einem „machtvollen Willen" 4 . Daher bedarf jeder Staat eines „höchsten Organs", „welches den Staat i n Tätigkeit setzt und erhält und die oberste Entscheidungsgewalt besitzt" 5 . Die Verwurzelung dieses Modells i m absolutistischen Zentralismus ist offensichtlich. Bodin verkündete, den Herrschaftsanspruch der absolutistischen Monarchie damit unterstützend, die souveräne Staatsgewalt sei, gleich der Seele i m physischen Körper, schlechthin einheitlich, unteilbar u n d unmitteilbar·. Den A n t e i l des philosophischen Rationalismus an der Zentralisierung des Staates machte Descartes durch den Hinweis deutlich, Sparta sei ein blühendes L a n d nicht auf G r u n d der Qualität seiner Gesetze gewesen, sondern deshalb, w e i l sie v o n einem einzigen Menschen geschaffen worden seien u n d daher alle auf dasselbe Ziel hingeführt hätten 7 . Pütter fand „das Wesen des Staates" darin v e r w i r k l i c h t , daß „eine einzige gemeinsame höchste Gewalt" besteht 8 u n d de Bonald verteidigte die „ u n i t é visible et fixe de pouvoir" gegen die Französische Revolution 9 . Friedrich Wilhelm III. von Preußen berief sich auf die „Fortschritte des Zeitgeistes", als er m i t der Neuorganisation seiner V e r w a l t u n g den Zweck verfolgte, „der Geschäftsverwaltung die größtmög1
S. o. § 9 m i t A n m . 2. G. Jellinek, Staatslehre S. 496. Ä h n l i c h Laband, Staatsrecht I S. 84; Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 20. Vgl. ferner o. § 9 A n m . 12. 8 Vgl. Laband, Staatsrecht I S. 85; Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 20. 4 G. Jellinek, Gesetz u n d Verordnung S. 190. 8 G. Jellinek, Staatslehre S. 554. • ν . Gierke, Althusius S. 26. 7 Descartes, Discours de la Méthode 2. Abschn. 3. Abs. 8 Zit. nach Häfelin, Rechtspersönlichkeit des Staates S. 81 A n m . 131. 9 Zit. nach Mannheim, Das konservative Denken, a.a.O. S. 114 A n m . 2
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
liehe Einheit, K r a f t und Regsamkeit zu geben, sie i n einem obersten P u n k t zusammenzufassen" u n d anordnete, die „Regierungsverwaltung (gehe) zu dem Ende k ü n f t i g von einem, dem Oberhaupte des Staates unmittelbar u n tergeordneten obersten Standpunkt aus" 1 0 . H i e r i n fand das zentralistische Denken, das sich politisch u n d philosophisch seit dem 16. Jahrhundert durchzusetzen begann 1 1 , eine offizielle Bestätigung als Prinzip praktischer V e r waltungspolitik, nachdem es bereits i n § 1 I I 13 des Preußischen Allgemeinen Landrechts als Verfassungsgrundsatz anerkannt worden war.
Das Einheitsmodell der Staatspersönlichkeitslehre wäre überzeugender, wenn es seine Orientierung am absolutistischen Zentralismus — oder allgemeiner: an den Interessen jeglicher autokratischer Herrschaft — zugäbe. Es wäre dann i m vielfach gegliederten Verfassungsstaat ausschließlich ein Gegenstand der Verfassungsgeschichte und der Rechtsvergleichung. Indessen hat die Staatslehre des Konstitutionalismus die Anforderungen an die „Einheit des Kommandos" 1 2 auf die politischen Leitbilder ihrer Zeit zugeschnitten und damit die Formalisierung der Willenseinheit eingeleitet. Nicht nur sollte das „höchste Organ" seinen Willen kollegial bilden können, wie etwa der Bundesrat des Deutschen Reiches. Es sollte auch „der Einheitswille . . . aus dem Willen mehrerer voneinander unabhängiger Organe gefunden werden" können — und zwar i n der Weise, daß i m Zweikammersystem die beiden Kammern, i m Konstitutionalismus König und Parlament „getrennt gefaßte", aber „zur Einheit vereinigte" Willen bilden 1 3 . Die aus dem Absolutismus überkommene Konzentration der Willensbildung ist also, in Übereinstimmung m i t dem konstitutionellen Gesetzgebungsverfahren 14 , bis zu wechselseitigen Mitwirkungsrechten unabhängiger Organe aufgelockert worden. Der erste Schritt zu dieser Formalisierung des Einheitsmodells wurde i n A r t . 57 der Wiener Schlußakte v o m 15. M a i 1920 getan. Z w a r sollte i n dem B u n d aus „souveränen Fürsten" „dem gegebenen Grundbegriffe zufolge die gesamte Staatsgewalt i n dem Oberhaupte des Staates vereinigt bleiben". Aber „ i n der Ausübung bestimmter Rechte" sollte es durch eine landständische Verfassung „ a n die M i t w i r k u n g der Stände gebunden werden" k ö n nen. Die Theorie der Restauration hat allerdings die Abweichung dieses 10 Einleitung des „ P u b l i k a n d u m betreffend die veränderte Verfassung der obersten Staatsbehörden der preußischen Monarchie i n Beziehung auf die innere Landes- u n d Finanzverwaltung" v o m 16. Dezember 1808 (GS. S. 361). 11 Vgl. Heller, Staatslehre S. 126 ff.; Krüger, Staatslehre S. 101 f., 866; Horkheimer-Adorno, D i a l e k t i k der A u f k l ä r u n g S. 23, 16 ff. ; Mannheim, Das konservative Denken, a.a.O. S. 107. — Hauriou rügt die rationalistische T r a dition als eine „manie métaphysique de tout ramener à u n seule principe" (bei Häfelin, Rechtspersönlichkeit S. 223). 18 Krüger, Staatslehre S. 849. 1S G. Jellinek, a.a.O. S. 550, ähnlich a.a.O. S. 660 i. V. m. S. 655; ähnlich Haenel, Staatsrecht I S. 93. 14 Vgl. Bayerische Verfassung v o m 26. M a i 1818 T i t e l V I I § 2; Preußische rev. Verfassung v o m 31. Januar 1850 A r t . 62.
§
Die Einheit des
mewesens
123
„monarchischen Prinzips" v o m Hierarchiemodell des Absolutismus i n engsten Grenzen zu halten versucht. Ancillon hielt am „Centralpunkt, von dem alles ausgeht", fest 1 5 . Hegel sah die unterschiedenen Gewalten i n der fürstlichen Gewalt „zur individuellen Einheit zusammengefaßt, . . . die also die Spitze und der Anfang des Ganzen ist"1®. Gentz schließlich wies die liberal-konstitutionelle Interpretation der „landständischen Verfassung" m i t der Begründung zurück, der Landesherr höre als bloßer Partner einer gleichberechtigten Repräsentativkörperschaft auf, oberster Gesetzgeber zu sein, die Einheit der Staatsverwaltung werde aufgelöst, die Teilung der Gewalten setze sich fort u n d rufe die Anarchie hervor 1 7 . D i e V e r w u r z e l u n g der W i l l e n s e i n h e i t der Staatsperson i m a b s o l u t i s t i schen Z e n t r a l i s m u s u n d i h r e F o r m a l i s i e r u n g nach M a ß g a b e d e r K o m promisse des deutschen K o n s t i t u t i o n a l i s m u s l ä ß t b e r e i t s e r k e n n e n , w e l ches d i e G e g n e r dieser staatstheoretischen K a t e g o r i e s e i n m u ß t e n : die G e w a l t e n t e i l u n g , d i e das P a r l a m e n t v o n d e r I n g e r e n z des M o n a r c h e n löst, also n i c h t - m o n a r c h i s c h e n K r ä f t e n e i n e n s e l b s t ä n d i g e n W i r k u n g s bereich e r ö f f n e t , u n d die bundesstaatliche O r d n u n g , d i e d i e P l u r a l i s i e r u n g der E n t s c h e i d u n g s z e n t r e n a m d e u t l i c h s t e n d e m o n s t r i e r t . D i e L e h r e Montesquieus v o n d e r S e l b s t ä n d i g k e i t der s t a a t l i c h e n G e w a l t e n w ü r d e f o l g e r i c h t i g als A u s d r u c k d e r „ A n a r c h i e u n d Z e r r ü t t u n g " b e k ä m p f t 1 8 . D i e a n d e r a m e r i k a n i s c h e n G e w a l t e n t e i l u n g ausgerichtete Bundesstaatsl e h r e Georg Waitz' verfiel nach anfänglicher widersprüchlicher H i n n a h m e schließlich d e r e i n h e l l i g e n A b l e h n u n g 1 8 * . D i e r e g i o n a l e G l i e d e 15
Zit. nach Häfelin, Rechtspersönlichkeit S. 81 Anm. 131. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Redits §§ 273, 275, 279. S. hierzu auch Heller, Hegel S. 19 u n d oben S. 203. 17 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte I S. 643. 18 v.Mohl, Geschichte u n d L i t e r a t u r der Staatswissensdiaften* Erster Bd. (1855) S. 274 m. w. Nachw. S. 273 A n m . 1. — Die Grundlage dieser K r i t i k bezeichnet ν . Mohl i n seiner Encyklopädie der Staatswissenschaften (1859) S. 67: „Das Wesentliche ist, daß der Staat durch einen unwidersprochenen obersten W i l l e n i n Einheit zusammengehalten u n d angewendet w i r d . " — Die Vorstell u n g der Willenseinheit ist a u d i f ü r G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte S. 226 A n m . 1, der notwendige Garant gegen die „ A n archie". Jellinek hat vergeblich versucht, i n der gewaltenteilenden Verfassung der USA doch noch einen „höchsten, machtvollen W i l l e n " des Volkes als „Einheitspunkt der drei Gewalten" aufzufinden (Staatslehre S. 551, 500). Der pouvoir constituant des amerikanischen Volkes ist schon deshalb kein zureichender Ersatz f ü r einen „obersten entscheidenden W i l l e n " , w e i l nach dem i n A m e r i k a durch den Rechtsstaat modifizierten Verständnis der Demokratie das V o l k m i t der einmaligen Ausübung der verfassunggebenden Gew a l t seine Souveränität verloren hat und daher auch nicht „alle Gewalten i n sich vereinigt" (Jellinek, a.a.O. S. 550). Vgl. Schwartz, Commentary on the Constitution I S. 16. — Z u r Ablehnung des Dogmas von der Unteilbarkeit der Souveränität durch die amerikanische Lehre s. Ophüls, Staatshoheit und Gemeinsdiaftshoheit, a.a.O. S. 529 f. m i t A n m . 29: «a Brie, Der Bundesstaat S. 186 ff. m. w. Nachw.; vgl. auch G. Jellinek, Staatslehre S. 502 ff.; Ders., Die Lehre von den Staaten Verbindungen S. 6. — Z u m zeitgenössischen H i n t e r g r u n d der staatstheoretischen Kontroversen, insbesondere zu den Wandlungen, die die Einschätzung des amerikanischen Föderalismus zwischen 1848 u n d 1867 i n Deutschland erfahren hat, s. Ullner, 1β
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
rung des einen Staates wurde i n getreuer Widerspiegelung der konstitutionellen Ingerenzrechte der Parlamente nur unter der Bedingung zugelassen, daß die Gesetze der regionalen Einheiten von der zentralen Institution sanktioniert werden. Die Verselbständigung der regionalen Einheiten eines Bundesstaates hingegen steht jenseits der „äußersten Grenze, bis zu welcher die Dezentralisation eines Staates gehen kann" 1 9 . Die Pluralisierung der Entscheidungszentren i n der bundesstaatlichen Ordnung konnte nur i n der Weise m i t dem Einheitsmodell i n Einklang gebracht werden, daß sowohl der zentralen Organisation als auch den regionalen Einheiten selbständige Staatlichkeit — m i t nunmehr wieder einheitlichem, rechtssubjektiv erfaßbarem Willen — zuerkannt wurde 2 0 . Nur eine solche Zerlegung der bundesstaatlichen Gesamtheit i n eine Mehrheit von i n sich zentralistisch organisierten Staaten war auch i n der Lage, den Anschein einer Versöhnung von Monarchie und Bundesstaat zu erwecken. Denn ein Monarch, der nur einen Teil der staatlichen Verantwortung trägt, der nur als eine unter mehreren gleichwertigen Institutionen begriffen wird, hat seine traditionelle Rechtfertigung eingebüßt. Er ist dann, gleich dem französischen Bürgerkönig, zu einem pouvoir constitué eines anderweitigen pouvoir constituant geworden 2 1 . Die landesväterliche Verantwortung für Land und Leute verlangt demgegenüber, daß dem Monarchen sämtliche politischen Entscheidungen zugerechnet werden können. Nicht zuletzt mit Rücksicht auf diese Grundlagen seiner königlichen Autorität hat Wilhelm I. von Preußen darauf bestanden, daß die von den Ministern zu vertretenden A k t e der vollziehenden Gewalt als seine höchstpersönlichen A k t e zu gelten hätten, denn: Die lebendigen Beziehungen der preußischen Könige zum Volk „lassen sich auf die vom König ernannten Minister nicht übertragen, denn sie knüpfen sich an die Person des Königs" 2 1 a . Die Einräumung von Ingerenzrechten an ein Parlament läßt sich m i t diesem Selbstverständnis der Monarchie noch vereinbaren. Eine bundesstaatliche Ordnung jedoch, die für ein und dasselbe Territorium ein zweites Entscheidungszentrum — nämlich die Reichsorganisation — konstituiert, in welchem der Monarch überstimmt werden kann, hebt Die Idee des Föderalismus i m Jahrzehnt der deutschen Einigungskriege (1965) S. 18 f., 25, 35, 84 f. » G. Jellinek, Staatslehre S. 655 ff. (660). 10 Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 20. 11 Georg Waitz ging nicht v o m überkommenen Selbstverständnis der Monarchie aus, sondern von seiner liberalen Gewaltenteilungslehre, w e n n er meinte, a u d i eine beschränkte Rechtsstellung sei „erhaben u n d berechtigt genug (!), u m eine wahrhaft königliche zu heißen" (bei Brie, Bundesstaat S. 117 A n m . 51). fl » Erlaß K ö n i g Wilhelms I. an das Preußische Staatsministerium v o m 4. Januar 1882, bei E. R. Hüber, Dokumente Bd. 2 S. 306 f.
§
Die Einheit des
mewesens
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den monarchischen Staat auf. Als monarchischer Staat mußte daher bereits das einzelne Land gedacht werden, gestattet diese Konstruktion es doch, i n den Grenzen der parlamentarischen Ingerenzrechte den einen (monarchischen) Willen umfassend zur Geltung zu bringen. Der Bundesstaat mußte deshalb zur „Staatenverbindung" werden 2 2 . Auch die Zwiespältigkeit des monarchischen Bundesstaates zwang m i t h i n dazu, die tatsächliche Pluralisierung der politischen Entscheidungszentren hinwegzufingieren und als primären Anknüpfungspunkt für die Zurechnung der Staatsgewalt Einheiten zu wählen, die noch die Rudimente des absolutistischen Zentralismus bewahrt hatten. Diese geschichtliche Relativität der staatlichen „Willenseinheit" und m i t i h r die geschichtliche Bedingtheit der Staatspersönlichkeitslehre und der hierauf gegründeten Staatenstaatstheorie traten nach 1919, als die traditionelle Staatstheorie und Bundesstaatslehre rezipiert wurden, kaum ins Bewußtsein. Denn Demokratie wurde i n vielfacher Hinsicht als Ersatzmonarchie verstanden. Den Weg hierzu hatte bereits Rousseau bereitet, als er den Hobbes'schen Zentralismus für sein Leitbild der Demokratie übernahm 2 3 . Wollte man hieraus nicht sogleich auf eine Antinomie zwischen Demokratie und Föderalismus schließen 24 , so mußte die Einheit des zentralistisch sich organisierenden „souveränen Volkes" 2 5 wiederum i n Organisationen zum Ausdruck gebracht werden, die dem „höchsten Willen" — letztlich dem das Volk „repräsentierenden" Parlament — weitestgehenden Einfluß auf die staatliche A u f gabenerfüllung zu eröffnen schienen: dem einzelnen Land und dem 22 Erleichtert w u r d e dem 19. Jahrhundert diese Sicht durch den Zusammenbruch des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation". Mochte noch f ü r Ludolph Hugo die Gesamtheit von Reichs- u n d Territorialinstitutionen ein politisch überzeugender Ausgangspunkt u n d die Gliederung dieses Ganzen das rechtliche Problem sein, so w a r bereits f ü r Pütter nicht mehr das Ganze primär, sondern umgekehrt die Aufgabe einer „Vereinigung mehrerer Staaten zu einem größeren Ganzen" (Brie, Bundesstaat S. 26). Damit w a r zugleich eines der zentralen Probleme des 19. Jahrh. bezeichnet: die B i l d u n g des deutschen Nationalstaats unter den Bedingungen regionaler Dynastien. 22 Die volonté générale leitet einen „Staatskörper", den der Gesellschaftsvertrag „ m i t einer unumschränkten Macht über a l l die Seinigen" ausgestattet hat, Rousseau, Contrat social I I 4., 1. Abs. — Vgl. auch G. Jellinek, Staatslehre S. 605, 617. 24 Gre we, A n t i n o m i e n des Föderalismus S. 14; Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 388f.; i m Hinblick auf die Demokratievorstellung Rousseaus: Friedrieh, Föderalismus, PVS V S. 159, u n d bereits Proudhon (bei Grewe a.a.O. S. 15). 25 Thoma, zustimmend zitiert von Leibholz, Repräsentation S. 148; Heller, Souveränität S. 75 f., 105; Haug, Schranken der Verfassungsrevision S. 82, u n d bereits G. Jellinek, Staatslehre S. 498, 465 f. — Z u m „demokratischen Zentralismus" u n d Absolutismus s. die Hinweise Röttgens i n : K r i s e der k o m m u n a len Selbstverwaltung S. 37 A n m . 1, 38, u n d i n : Innerstaatliche Gliederung, a.a.O. S. 83 f., sowie Kägis, Rechtsstaat u n d Demokratie, a.a.O. S. 109 ff., 116 ff., 122.
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
Bund, nicht aber ihrer institutionellen Gesamtheit. Nur so konnte das absolutistische Postulat eines „obersten Willens", einer „machtbegabten, willens- und handlungsfähigen Einheit" in den demokratischen Bundesstaat hinübergerettet werden. Die Stellungnahme des Grundgesetzes zur „Willenseinheit" des Staates, insbesondere zur zentralistischen Organisation des gesamtenÄmterwesens, ist eindeutig: Es hat die „Ausübung der Staatsgewalt" nicht einem „obersten machtvollen Willen" anvertraut, sondern einer Mehrzahl „besonderer Organe" (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Diese besonderen Organe sind, anders als i m Konstitutionalismus, nicht grundsätzlich durch Ingerenzen aneinander gebunden. Gleichwohl ist die von der Staatspersönliehkeitslehre für einen solchen Fall vorausgesagte „ A n archie und Zerrüttung" nicht eingetreten. Der Primat der rechtssubjektiven Einheit des Staates findet i m geltenden Verfassungsrecht somit auch von Seiten der vermeintlich notwendigen zentralistischen Organisation der „Organe" keine Stütze. Es braucht hier nicht untersucht zu werden, welche Anforderungen an die Zentralisation der staatlichen Entscheidungsprozesse zu stellen sind, damit von einem funktionsfähigen Staat gesprochen werden kann. Hier kommt es allein darauf an, daß jener Grad der Zentralisation, den die Staatspersönlichkeitslehre m i t ihrem Dogma der Willenseinheit fordert, lediglich ein Durchgangsstadium auf dem Weg vom Absolutismus zu einem gewaltenteilenden Gefüge relativ selbständiger Organisationseinheiten ist. Das Grundgesetz hat sich dieses Durchgangsstadium der konstitutionellen Staatsorganisation nicht zu eigen gemacht. Der Schritt von der Gliederung des Staates i n „besondere Organe" (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) bis zur „Gliederung des Bundes i n Länder" (Art. 79 Abs. 3 GG) ist nach alledem nicht notwendig der Schritt vom Staat zur Staatenverbindung. Die Staatspersönlichkeitslehre vermag nicht nachzuweisen, daß zwar die Gesamtheit der relativ selbständigen „besonderen Organe" eine notwendige „Willenseinheit" und damit ein einziger Staat sei, die Gesamtheit von Bund und Ländern hingegen eine Mehrzahl von „Willenseinheiten" und damit eine Mehrzahl von Staaten. Bereits Kant hat i m Rahmen der liberalen Gewaltenteilung die drei getrennten Gewalten als selbständige „moralische Personen" des einen Staates verstanden 26 und damit die Zweitrangigkeit der rechtssubjektiven Einheit deutlich gemacht. Das Grundgesetz hat m i t der Zulassung der Organstreitigkeiten (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG) die getrennten Gewalten und einzelne ihrer Elemente zumindest als „teil*· v. Gierke , Genossenschaftsrecht I V S. 483 m i t A n m . 143 (vgl. auch die Nachweise über Vorgänger der „ T e i l u n g der Souveränität unter mehrere Subjekte" a.a.O. S. 482); Häfelin, Rechtspersönlichkeit S. 49 m i t Anm. 206.
§10 Die Einheit des Ämterwesens
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rechtsfähige" Einheiten konstituiert 2 7 , ohne damit den staatlichen W i r kungs- und Entscheidungszusammenhang „zu einer Summe von Einheiten degeneriert" zu haben 28 . Dann aber kann es nicht mehr bereits apriori als eine „Vernichtung des Staates" gelten, wenn ein Pluralismus staatlicher Rechtssubjekte, etwa die Gesamtheit von Bund und Ländern, als staatliche Einheit verstanden wird. Die Ausstattung der „besonderen Organe" m i t eigenen subjektiven Rechten erweist die notwendige unteilbare Willenseinheit des Staates als Fiktion. Der Staat ist nicht „seinem Wesen nach" eine subjektive Einheit, sondern er ist es dann, wenn die Verfassung ihn als eine solche Einheit ordnet. Und er ist eine Mehrheit von subjektiven Einheiten, wenn die Verfassung mehreren sozialen Substraten staatliche Rechte und Pflichten i n letzter Instanz zurechnet. Die „Staatspersönlichkeit" mag ein technisches Hilfsmittel sein 29 , nützlich zur Bezeichnung von Zurechnungsendpunkten für staatliche Rechte und Pflichten, zur Zuordnung eines Komplexes von Rechtsregeln, zur Unterscheidung privater Geschäfte und dienstlicher Pflichten und Befugnisse der Amtswalter, zur Verselbständigung der Vermögens-, finanz- und haftpflichtrechtlichen Stellung des staatlichen Ämterwesens, zur Gewährleistung organisatorischer Kontinuität 8 0 . Die Lösung des Problems der inhaltlichen, zur Gewährleistung seiner Funktionsfähigkeit notwendigen Einheit des Staates jedoch ist von der Figur der juristischen Person des Staates nicht zu erwarten. Insbesondere vermag sie eine i m positiven Recht 27 H. J. Wolff, Verwaltungsrecht I I § 74 I f 7. Ähnlich bereits der Begriff der „Organpersönlichkeit", den Thoma (HdbDStR I I S. 610 ff.) i m Anschluß an Otto v . G i e r k e formulierte. Siehe ferner Friesenhahn, Über Begriff und A r t e n der Rechtsprechung, i n : Festschr. f. Thoma (1949) S. 21 ff. (S. 39 m i t A n m . 1); Bachof, Teilrechtsfähige Verbände, AöR 83 (1958) S. 270, 273. — Während das Bundesverfassungsgericht ( E I S . 143 [152]) das Grundgesetz i m Sinne einer „gewissen Subjektivierung der verfassungsrechtlichen Beziehungen" interpretieren kann, ist G. Jellinek zu der These gezwungen, Organstreitigkeiten seien stets „Streitigkeiten über objektives, nie über subjektives Recht". Kritisch Bernatzik, AöR 5 S. 207; Rupp, Grundfragen S. 100 (Anm. 235 von S. 99). 18 S. o. § 10 m i t A n m . 3. 29 Haenel, Studien I I S.231; Ders., Staatsrecht I S. 107. Eine Übersicht über jene i n - und ausländischen Staatstheorien, die das Staatspersönlichkeitsdogma verwerfen, gibt Häfelin, Rechtspersönlichkeit des Staates S. 355—394. 80 Grundlegend H. J. Wolff, Organschaft u n d juristische Person I S. 207 ff. m i t weiteren Nachweisen; ferner Thoma, A r t . Staat S. 748 f.; Werner Weber, Körperschaften, Anstalten u n d Stiftungen des öffentlichen Rechts S. 13 f. (zustimmend die Besprechung Wieackers i n : AcP 147 S. 304); Forsthoff, Verwaltungsrecht I (1961) S. 170; Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre S. 48 f.; Jan Glastra van Leon, Der Staat als K u n s t w e r k , i n : 2. Festschr. f. Smend S. 171; Burdeau bei Dabin, Der Staat S. 209; Hauriou bei Häfelin, Rechtspersönlichkeit S.2301; Haenel, Staatsrecht I S. 107; Wieacker, Privatrechtsgeschichte S.45; speziell zum Gesichtspunkt der Staatshaftung u n d der Beamtenhaftung B G H Z 34, 99; B V e r w G E 13, 17; 19, 90.
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2. Teil: Die Theorie des Staatenstaates
vorgefundene komplexe, pluralistische Zurechnung „der Staatsgewalt" nicht zu verhindern 8 1 . Das aber bedeutet nicht weniger als die Freistellung der Verfassungsinterpretation vom Primat der rechtssubjektiven Einheit des Staates. Nachdem die subjektive Einheit des Gemeinwesens und die Willenseinheit des Ämterwesens sich als Ideologien erwiesen haben, die dem Grundgesetz fremd sind, gibt die Verfassungsinterpretation keine unter seiner Geltung unverzichtbaren Gesichtspunkte — Leitbilder, Wertentscheidungen oder positive Hechtsregeln — preis, wenn sie der Staatspersönlichkeitslehre nur noch einen Platz in der Geschichte der Staatstheorien zuerkennt. Die immanente K r i t i k an der Staatenstaatstheorie (oben §§ 6—8) findet somit i n der K r i t i k der ihr zugrunde liegenden Staatspersönlichkeitslehre ihre Bestätigung: Das Modell eines aus Staaten zusammengesetzten Staates ist i n jeder Hinsicht ein unzulässiges Argument bei der Lösung konkreter bundesstaatsrechtlicher Probleme. Die Untersuchung der bundesstaatlichen Ordnung kann nunmehr die institutionelle Gesamtheit von Bund und Ländern ins Auge fassen und sich damit von dem Versuch distanzieren, rechtssubjektive Blöcke isolierend übereinander und nebeneinander zu stellen. Ob allerdings die Gesamtheit von Bund und Ländern, von den Dogmen der Staatspersönlichkeitslehre und der Staatenstaatstheorie befreit, ein rechtlich greifbares Gesamtgefüge, insbesondere eine staatliche Einheit bildet, ist damit noch nicht entschieden. Die vielfältigen Formen der Zusammenarbeit der Länder untereinander und m i t dem Bund, die zahlreichen sachlichen Interdependenzen, die Verflechtungen der politischen Prozesse der einzelnen bundesstaatlichen Einheiten legen es jedoch nahe, die Möglichkeit eines solchen gesamtheitlichen Verständnisses der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes zu prüfen.
81 Ä h n l i c h bereits Haenel, Staatsrecht I S. 101, 106 f.; Ders., Studien I S. 63 ff., u n d nunmehr m i t besonderer Deutlichkeit Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre S. 22 f. — I m Ergebnis ebenso Usteri, Theorie des Bundesstaates S.243. — Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S.7, spricht v o m „demokratischen Staat der Gegenwart" als dem Staat, „der kein einheitliches Subjekt der Herrschaft mehr kennt".
Dritter
Teil
Der demokratische Bundesstaat Ein Versuch, den normativen Gehalt des „demokratischen Bundesstaates" {Art. 20 Abs. 1 GG) aufzudecken, kann, so zeigte der zweite Teil dieser Schrift, nicht auf das nahezu allgemein anerkannte Modell des Staatenstaats zurückgreifen. Andererseits kann ein solcher Versuch den demokratischen Bundesstaat auch nicht als bloße Plakette für den jeweils tatsächlichen Befund verstehen (vgl. oben § 1). Eine Annäherung an seinen normativen Gehalt ist nur m i t Hilfe der Erörterung einzelner Aspekte der staatlichen Ordnung des Gemeinwesens und ihrer Grundlagen möglich. A u f diesen Weg kann u m so weniger verzichtet werden, als gerade die Diskussion über den Bundes Staat darauf Bedacht nehmen muß, daß ihre Aussagen nicht zu der i m übrigen gebotenen Interpretation der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland i n Widerspruch stehen — eine Gefahr, für die die traditionellen bundesstaatsrechtlichen Kategorien der „Staatspersönlichkeit", der „StaatenVerbindung" und der nichtsouveränen, aber „unabgeleiteten" Staatsgewalt als Beispiele dienen mögen. Das Grundgesetz versteht sich ausweislich seiner Präambel als die eine, einheitliche Grundlage des staatlichen Lebens i n der Bundesrepublik Deutschland. U m diesem Selbstverständnis Rechnung zu tragen, muß zunächst gefragt werden, welche Gesichtspunkte jede verfassungsrechtliche Problemlösung zu beachten hat, w i l l sie die Einheit der Verfassung wahren. Diese Gesichtspunkte grenzen zugleich die scheinbar vielfältigen Möglichkeiten ein, i n wissenschaftlich vertretbarer Form Struktur und Normativität des „demokratischen Bundesstaates" zu bestimmen. 9
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat Erstes Kapitel
Grundlagen der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes § 11 Der Staat als Institution im Gemeinwesen 1. Organisation und Institution
Der Staat ist weder eine Fiktion noch ein Inbegriff von Hechtssätzen noch eine sonstige geistige Wesenheit, die „ i n das Innere des Menschen verlegt" werden könnte 1 . Er ist ein Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit, m i t h i n ein Zusammenhang menschlicher Leistungen, Verhaltensweisen, Beziehungen, kurz: ein Handlungsgefüge 2 . Eine erste verfassungsrechtliche Schwierigkeit w i r f t die Frage auf, welche Erscheinung der gesellschaftlichen Wirklichkeit als Staat zu bezeichnen und zu untersuchen ist: die Totalität des staatlich geordneten Gemeinwesens oder nur das staatliche Ämterwesen, dem die Erfüllung der staatlichen Aufgaben und die Ausübung der staatlichen Befugnisse (Art. 30 GG) anvertraut ist? Beide Erscheinungen sind gesellschaftliche Wirklichkeit: sowohl die effektiv handlungsfähige Organisation des Ämterwesens als auch die Rahmengruppe des Gemeinwesens, dessen Handlungs- und Ordnungszentrum jenes Ämterwesen ist 8 . Der Wortlaut des Grundgesetzes legt die Begriffsbildung insoweit nicht fest: Er kennt einerseits den Begriff der Staatsangehörigkeit (Art. 73 Nr. 2, 74 Nr. 8), der die gesamte Bevölkerung i n „den Staat" einzubeziehen scheint; zum anderen legt er die Vorstellung einer Staatsgewalt nahe, die „vom Volke ausgeht", also beim Volk nicht lokalisiert werden kann, sondern i h m letztlich gegenübersteht. Zu entscheiden ist die Wahl zwischen einem „engen" und einem „weiten" Staatsbegriff nur anhand der leitenden Gesichtspunkte des Grundgesetzes. Dem Grundgesetz geht es um die Erfüllung der staatlichen Aufgaben, u m die verantwortliche Ausübung* von Befugnissen, um zielge1 So jedoch Krüger, Staatslehre S. 184, 168, 253 (anders S. 213); Füßlein, Die unwandelbaren Fundamente des Staates S. 133; G. Jellinek, Staatslehre S. 143, 182. — Z u r Identität von Staat u n d Rechtsordnung vgl. Kelsen, Staatslehre S. 91 ff. 2 Diese f ü r die Soziologie selbstverständliche Einsicht hat auch bei Juristen Anerkennung gefunden, vgl. bereits Haenel, Staatsrecht I S. 76; s. ferner Heller, Staatslehre S. 237; Smend, A r t i k e l Staat, a.a.O. Sp. 1108; Bäumlin, Staat, Recht u n d Geschichte S. 18; Schmidhäuser, V o n den zwei Rechtsordnungen S. 22; Köttgen, Innerstaatliche Gliederung, a.a.O. S. 80. 8 Vgl. H. J. Wolff, Organschaft u n d Juristische Person I S. 343; Heller, Staatslehre S. 88 u. o. § 9 m i t A n m . 23, 24.
§11 Der Staat als Institution im Gemeinwesen
131
richtete, kontrollierte „Ausübung der Staatsgewalt" (vgl. oben § 9 3.). Das primäre Interesse des Grundgesetzes, soweit es Staatlichkeit ordnet, gilt m i t h i n dem Ämterwesen, also einem bloßen Ausschnitt aus der Totalität des staatlich geordneten Gemeinwesens. I h m ist daher der Name Staat und m i t i h m die rechtstechnische Rechts- und Pflichtssubjektivität des Staates zuzuordnen 4 . Die größere Gruppe, m i t der die Staatspersönlichkeitstheorie und m i t i h r die noch herrschende Lehre den Staatsbegriff verknüpfen, w i r d i m folgenden als (staatlich geordnetes) Gemeinwesen bezeichnet4®. Diese Beschränkung des Staatsbegriffs auf das Ämterwesen vermeidet jene MißVerständnisse über die Staatlichkeit, die m i t einem weiten Staatsbegriff notwendig verbunden sind. Die Verschleierung gesellschaftlicher Konflikte und realer Herrschaft, insbesondere die Inanspruchnahme einer durchgänglichen Solidarität des „Staatsvolkes" für alle konkreten staatlichen Akte, sind die politisch und normativ bedeutsamsten dieser Mißverständnisse 6 . Denn sie verzeichnen die antagonistische, vom Grundgesetz m i t der Mehrparteienstaatlichkeit anerkannte Struktur der Gesellschaft und leugnen den instrumentellen und funktionalen Charakter des Staates. Wenn aber die gesellschaftlichen Antagonismen und der instrumenteile und funktionale Charakter des Staates aus dem Blick geraten, so erscheinen auch die Probleme der Einflußnahme der Gesellschaft und ihrer partiellen Interessen auf den 4 Ebenso Landshut, Politische Soziologie, a.a.O. S. 412 f.; O. Stammer, Gesellschaft u n d Politik, Hdb. d. Soz. (1956) S. 564 f. — Ballerstedt, Wirtschaftsverfassungsrecht, a.a.O. S. 48 A n m . 125; Röttgen, A r t i k e l Selbstverwaltung, i n : H d S W 9 (1956) S. 223; Ridder, Z u r verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften (1960) S. 14; Forsthoff, Verwaltungsrecht I S. 417; Schmid häuser, V o n den zwei Rechtsordnungen i m staatlichen Gemeinwesen (1964) S. 23, 31; Hans Peters, öffentliche u n d staatliche Aufgaben, a.a.O. S. 879, 881, u n d anscheinend auch Henke, Das R e d i t der politischen Parteien (1964) S. 7, 10, sowie ν . Oertzen, Die Bedeutung v. Gerbers, a.a.O. S. 207. — Aus dem älteren Schrifttum (abgesehen von der Patrimonialtheorie) s. Affolter (bei Häfelin, Rechtspersönlichkeit S.373 m i t A n m . 200); Carl Schmitt, Staat, Bewegung, V o l k (1933) S. 12; Schindler, Verfassungsrecht und Sozialstruktur (2. Aufl. 1944) S. 124. — Z u Wortgeschichte u n d Sprachgebrauch s. Thoma, A r t i kel Staat, H d w b S t W V I I S. 726; Smend, Staat u n d Politik, Abhandlungen S. 366 f.; Ehmke, Staat u n d Gesellschaft, a.a.O. S. 27 f. 4 » Eine vergleichbare Unterscheidung von Staat u n d Gemeinwesen n i m m t Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 8, vor. Er stellt allerdings n u r auf die Unterschiedlichkeit der Wirkungszusammenhänge ab u n d hebt gleichzeitig die Identität des soziologischen Substrats hervor. — Ehmke, Staat u n d Gesellschaft, a.a.O. S. 25, hält der Verwendung eines engeren Staatsbegriffs entgegen, Staatsangehörigkeit u n d Staatsverfassung, die sich beide auf das gesamte Gemeinwesen beziehen, schwebten hier i n der L u f t . Indessen ist es eine lediglich terminologische Frage, ob exakt u n d umständlich von der „ Z u gehörigkeit zum staatlich geordneten Gemeinwesen" u n d von der „Verfassung des staatlich geordneten Gemeinwesens" gesprochen w i r d , oder ungenau bzw. unter Verwendung eines zweiten Staatsbegriffs von „Staatsangehörigk e i t " u n d „Staatsverfassung". 5 Vgl. o. § 9, 2. d), e); § 9 3.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
Staat als sekundär. Die Dialektik von Ämterwesen und Gesellschaft w i r d dann allenfalls als Tendenz zur Auflösung „echter" Staatlichkeit zur Kenntnis genommen. Die Solidarität der Gesellschaft, die das Grundgesetz normativ für das staatliche Ämterwesen i n Anspruch nimmt, beschränkt sich auf die Grundlagen des politischen Prozesses. Das Grundgesetz versucht die Anerkennung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung m i l i tant zu sichern (Art. 18, 21 Abs. 2, 79 Abs. 3 GG) und steckt damit die Toleranzbreite ab, innerhalb deren gesellschaftliche Veränderungen als legitim gelten. I m übrigen nimmt es Bedacht auf eine möglichst breite Anerkennung seiner selbst, indem es für Verfassungsänderungen die Zustimmung einer hinreichend starken Opposition fordert (Art. 79 Abs. 2 GG). Ein solches „agreement on fundamentals" w i r d allerdings nicht nur normativ vom Grundgesetz angestrebt, sondern ist auch strukturell notwendig für die verfaßte Staatlichkeit; es ist irrational und rational institutionalisiert zugleich. Nowendig ist die grundlegende Solidarität der Gesellschaft m i t sich selbst und m i t dem staatlichen Ämterwesen, w e i l kein Staat ohne A n erkennung seiner Handlungen durch die Gesellschaft auf die Dauer existieren kann 6 , insbesondere nicht i n der Lage ist, Konflikte zu entscheiden oder auch nur zu ihrer Entschärfung beizutragen 7 . Rational institutionalisiert ist diese Solidarität, w e i l die demokratische Verfassung auf einem rationalisierten Prozeß der Verfassunggebung beruht, i n den die Gesellschaft einbezogen ist, und w e i l speziell das Grundgesetz die Leitbilder der öffentlichen Ordnung aufzeigt, m i t deren Anerkennung durch die Gesellschaft eine „Diskussionsgrundlage" 8 für die konkreten politischen Auseinandersetzungen hergestellt werden soll. Als irrational kann das agreement on fundamentals insoweit gelten, als die Gesellschaft die sie verpflichtenden verfassungsrechtlichen Leitbilder als „selbstevidente" 0 politische Glaubenslehren erlebt. • G. Jellinek, Staatslehre S. 424; Thoma, A r t i k e l Staat, a.a.O. S. 746; Carl Schmitt, Verfassungslehre S.247; Ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze S.367; Röttgen, Nation u n d Staat, a.a.O. S. 191; H.J.Wolff, Organschaft u n d j u r i s t i sche Person I S. 258, 496; Heller, Staatslehre, S. 243; Mannheim, Mensch u n d Gesellschaft i m Zeitalter des Umbaus S. 423; Füßlein, Die unwandelbaren Fundamente des Staates S. 42 f. 7 Vgl. Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement der Demokratie, a.a.O. S. 8. 8 Röttgen, Nation u n d Staat a.a.O. S. 195, 201 f., 206; Ders., Krise der k o m munalen Selbstverwaltung (1931) S. 14 f.; Heller, Staatslehre S. 5; Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung S. 86; Schule, Demokratie, a.a.O. S. 325; Bäumlin, Die rechtsstaatliche Demokratie S. 36 A n m . 3 ; Lerche, Föderalismus, W D S t R L 21 S. 86, 93; BVerfGE 5, 85 (134, 399). • Vgl. Herbert v. Bordi, Amerikas gescheiterte Utopie u n d die W i r k l i c h keit, i n : M e r k u r X I V . Jahrg. (1960) S. 876 ff.
§11 Der Staat als Institution im Gemeinwesen
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I m übrigen beruht die grundlegende Solidarität der Gesellschaft auf einem diffusen Geflecht sozialpsychologischer Faktoren. Spezifische Verhaltensmuster und Bewußtseinsinhalte werden geprägt durch räumliche Zusammengehörigkeit, Sprache, Religion und Geschichte, durch gemeinsames Erleben politischer Auseinandersetzungen und Probleme, durch einheitliche Erzeugung eines Meinungsklimas, ferner durch Erziehung und kollektive Reproduktion von Vorurteilen sowie durch Rechtsinstitute und „Kulturbesitz" 1 0 . Die Gesamtheit dieser und ähnlicher Faktoren, die von den Verfassungen teils gefördert, teils hingenommen, teils mißbilligt werden, bildet die sozialpsychologische Grundlage des staatlichen Ämterwesens. Neben den sonstigen Machtgrundlagen des Staates — etwa der Sachgerechtigkeit der Aufgabenerfüll u n g 1 0 a , der hinreichenden Realisierungschance für potente Interessen und der Vermeidung gröbster Zurücksetzung unterrepräsentierter Interessen — gehören diese sozialpsychologischen Faktoren zu den gesellschaftlichen Bedingungen staatlicher Handlungsfähigkeit. Der i n Umrissen angedeutete Grundkonsens i m Gemeinwesen ist für das staatliche Ämterwesen, für die „Herrschenden", nur zum Teil disponibel. Da jedoch der Staat, w i l l er seine verfassungsmäßige Funktion i m Gemeinwesen erfüllen, auf diesen Grundkonsens angewiesen ist, müssen seine Handlungen — i m antagonistischen Gemeinwesen vornehmlich jene, die die Grundlagen des politischen Prozesses betreffen — dem agreement on fundamentals Rechnung tragen, sich von i h m motivieren lassen. Geschieht dies, so hat das Ämterwesen Autorität, nämlich die Chance, durch seine Anordnungen oder auch nur Anregungen und Hinweise das Verhalten der angesprochenen Menschen regelmäßig ohne Einsatz äußerer Zwangsmittel zu beeinflussen 11 . A u f Seiten der 10 Z u sozialen Motivationssystemen als Grundlage sozialer Gefüge i m a l l gemeinen u n d zur Solidarität des staatlich geordneten Gemeinwesens i m besonderen s.Talcott Parsons, Systematische Theorie i n der Soziologie, i n : Beiträge zur soziologischen Theorie, hrsg. v o n Rüschemeyer (1964) S. 31 ff. (52 ff.); Ders., Soziale Klassen u n d Klassenkampf i m Lichte der neueren soziologischen Theorie, a.a.O. S. 206 ff. (208 ff.); Draht, A r t . Staat, i n : Ev. Staatslexikon (1966) Sp. 2114 ff. (2124); Heller, Staatslehre S. 230, 234; H. J. Wolff, Organschaft u n d Juristische Person I S. 298, 318 f., I I S. 37 ff., 50; Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 231; Meinecke, Weltbürgertum u n d Nationalstaat S. 1 ff. ; Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservativismus, a.a.O. S. 31 f.; Hättich, Nationalbewußtsein u n d Staatsbewußtsein i n der p l u r a l i s t i schen Gesellschaft (1966) S. 77 ff.; Hennis, Das Problem der Souveränität S. 100 ff. 10 * Smend, A r t . Staat, a.a.O. Sp. 1110, konstatiert m i t Recht „eine gewisse Verlagerung der L e g i t i m i t ä t i n die Situationsgerechtigkeit"; Herzog, Das Problem der staatlichen Autorität, a.a.O. S. 146 f., erinnert i n diesem Zusammenhang an die Angewiesenheit der Bevölkerung auf die staatlichen L e i stungen der Daseinsvorsorge. 11 Vgl. Heller, Staatslehre S. 191 f.; C. J. Friedrich, Politische A u t o r i t ä t u n d Demokratie, a.a.O. S. 7; Jouvenel, Souveränität S. 48; Eschenburg, Uber A u t o r i t ä t S. 10, 15; Herzog, Das Problem der staatlichen Autorität, a.a.O.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
Gesellschaft entspricht dieser Autorität zumindest die regelmäßige Bereitschaft, den politischen Prozeß und die aus i h m rechtsverbindlich hervorgehenden Entscheidungen anzuerkennen, sofern sie m i t jenem „agreement on fundamentals" i n Einklang stehen. Die Konkretisierung dieser Grundbeziehung zwischen Staat u n d Gesellschaft prägt maßgebend die politische Gestalt eines Gemeinwesens. Hierzu gehören etwa die Fragen, i n welcher Weise staatliche A u t o r i t ä t begründet w i r d (transzendental, traditional oder durch den rationalisierten Prozeß der Verfassunggebung des Volkes? 1 2 ) u n d welche Einflußchancen die konkret verliehene staatliche A u t o r i t ä t der Gesellschaft eröffnet oder versperrt: Beispielsweise folgt aus dem Wesen der A u t o r i t ä t nicht, daß sie auch i m demokratisch verfaßten Gemeinwesen an die Stelle der Gründe t r i t t 1 3 u n d den Staat von der Verpflichtung, sein Handeln rational durchschaubar u n d k o n trollierbar zu machen, freistellt. A u t o r i t ä t i m Sinne „bejahter Abhängigk e i t " 1 4 — u n d Abhängigkeit gibt es, wo Herrschaft ausgeübt w i r d — bedeutet nicht ohne weiteres, daß der politische Prozeß f ü r die Bevölkerung auf die Kategorien „Vertrauen" u n d „Sympathie" reduziert w i r d . Ob u n d inwieweit dies geschieht u n d geschehen darf, ist nicht zuletzt eine Frage des Inhalts jenes Grundkonsenses, der den Staat sozialpsychologisch u n d i m demokratischen Gemeinwesen auch n o r m a t i v fundiert.
Die erörterte Abstützung des Staates i m Gemeinwesen zeigt, daß ein „enger Staatsbegriff", der allein die Grundentscheidungen des Grundgesetzes angemessen zum Ausdruck bringt, keineswegs den Staat als einen isolierten, autokephalen Apparat mißversteht. Er gibt i m Gegenteil Aufschluß über die Grundbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft und bezeichnet den systematischen Ort, an dem die Untersuchung etwa der Verfassungsrechtssätze über die demokratische Ordnung anzusetzen hat (vgl. unten § 13). Die Verankerung des staatlichen Ämterwesens i m Gemeinwesen wurde bislang i m wesentlichen als Legitimitätsproblem erörtert. Die staatliche Legitimität w i r d indessen vom Grundgesetz normativ ergänzt. Es beschränkt sich nicht darauf, dem Staat die aus dem Gemeinwesen hervorgehende Autorität zu vermitteln (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG) und sie hierdurch zu stabilisieren. Es n i m m t i h n zugleich für das Wohl des gesamten Gemeinwesens, für den status rei publicae, verantwortlich i n Pflicht. Die Verantwortung des Staates für die — wie auch immer näher zu bestimmende — gute Ordnung des Gemeinwesens ist die verfassungsrechtliche Kehrseite seiner Autorität. Diese Gemeinwohlforderung des Grundgesetzes ergibt sich insbesondere aus den Art. 38 Abs. 1 S. 145; Max Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft I S. 28, 122 f. Eine Typologie der verschiedenen Einflußarten u n d ihrer Grundlagen gibt Hartmann, F u n k tionale A u t o r i t ä t S. 6 ff. 12 Eine systematische Darstellung der Typen legitimer Herrschaft versucht Max Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft I S. 19 f., 122 ff. 12 So jedoch anscheinend Eschenburg, Über A u t o r i t ä t S. 18. 14 Horkheimer, zitiert bei Eschenburg, Über A u t o r i t ä t S. 11.
§11 Der Staat als Institution im Gemeinwesen
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S. 2 1 5 , 56 und 64 Abs. 2 GG. Sie macht den öffentlichen Status der staatlichen Organisation aus1·, denn öffentlich ist, „quod ad statum rei publicae spactat" 1 7 . Die verfassungsmäßige öffenliche Verantwortung wiederum qualifiziert die faktische Organisation zur Institution. Diese Kategorien sind vielfältigen Mißverständnissen ausgesetzt. Das gilt insbesondere für die Begriffe Gemeinwohl und Institution, soweit sie als vorgegebene Wesenheiten verstanden werden. Indessen läßt das Grundgesetz keinen Raum für ein substanzhaftes Gemeinwohl, das der konkreten Politik vorgezeichnet und von ihr nur zu erkennen und zu verwirklichen wäre. Bereits m i t der Konstituierung der Mehrparteienstaatlichkeit (Art. 21 GG) hat sich das Grundgesetz für die Offenheit des Gemeinwohls, für die Unterschiedlichkeit der Gemeinwohlinterpretationen entschieden. Das Gemeinwohl bezeichnet lediglich abkürzend die Pflicht aller Amtswalter, die sich auf die verfassungsrechtlich vermittelte, vom Gemeinwesen ausgehende Autorität stützen, ihr Handeln auf die gute Ordnung eben dieses Gemeinwesens auszurichten 18 . Damit ist allerdings die Problematik nicht ausgeräumt. Denn als eine solche Motivationsnorm verweist das Gemeinwohl letztlich auf einen Mindestbestand sozialethischer Überzeugungen. Deren Fragwürdigkeit i n der pluralistischen, i n ihrem Wertbewußtsein inhomogenen Gesellschaft ist offensichtlich 19 . Andererseits gibt das Grundgesetz selbst m i t dem Grundrechtskatalog und den Staatszielbestimmungen 19a die Richtung an, i n der der sozialethische Minimalkonsens der Gesellschaft, der zu ihrem agreement on fundamentals gehört, zu suchen ist. Gegenüber einem Soziologismus, der die Gemeinwohlforderung auf die Resultante 15 Röttgen, Das anvertraute öffentliche A m t , a.a.O. S. 130; Henke, Das Recht der politischen Parteien S. 95. 19 Z u r Verantwortung als wesentlichem Moment der Öffentlichkeit s. Hesse, Parteien, a.a.O. S. 42, 53. 17 Smend, Z u m Problem des öffentlichen u n d der Öffentlichkeit, a.a.O. S. 19. Z u m normativen Gehalt dieser — allerdings nicht gebräuchlichsten — Bedeutung der „Öffentlichkeit" s. Smend, ebd. S. 12; zustimmend Röttgen, Das anvertraute öffentliche A m t a.a.O. S. 126. — Ferner Habermas, S t r u k t u r wandel der Öffentlichkeit S. 11; Rrüger, Staatslehre S. 443. Anders die Begriffsbildung bei Plessner, Das Problem der Öffentlichkeit u n d die Idee der Entfremdung (1960) S. 15. — Eine einheitliche terminologische Unterscheidung zwischen dem „öffentlichen" u n d der „Öffentlichkeit" hat sich nicht durchgesetzt. Vgl. hierzu Forsthoff, öffentliche Körperschaft i m Bundesstaat S. 16. 18 Z u r amtsrechtlichen Konzeption des Grundgesetzes s. Röttgen, Amt a.a.O. S. 129 ff.; Oers., Abgeordnete u n d Minister als Statusinhaber S. 220; Hennis, Amtsgedanke u n d Demokratiebegriff, a.a.O. S. 65. — Z u r notwendigen Abhängigkeit des öffentlichen Amtes von der Verfassung u n d der damit verbundenen Institutionalisierung s. Röttgen, Das anvertraute öffentliche A m t , a.a.O. S. 120, 124, 144. 19 Vgl. Ryffel, Verantwortung als sittliches Phänomen, a.a.O. S. 289; Lerche, W D S t R L 21 S. 84. 19a Z u r Konkretisierung s. u. § 12, 2. m i t A n m . 40.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
des jeweiligen Interessenkompromisses reduziert und sie damit eliminiert, ist jedenfalls für die Verfassungsinterpretation am grundgesetzlichen Gemeinwohlanspruch festzuhalten. K r a f t seiner Inpflichtnahme für die gute Ordnung des Gemeinwesens stellt sich der Staat somit ungeachtet seines funktionalen und instrumenteilen Charakters als jener „publizistische Kontrapunkt" dar, von dem Köttgen bislang unwiderlegt behauptet hat, daß ohne ihn „gerade die weithin funktionale Gesellschaft von heute auf die Dauer schwer gedacht werden" könne 2 0 . Der Normativität des Gemeinwohls entspricht die Normativität des öffentlichen, also jenes Merkmals, das die Institution von der Organisation unterscheidet. Der Staat als Institution ist weder die V e r w i r k lichung des Gemeinwohls noch kommt i h m aufgrund seiner Autorität, die die Verfassung für i h n reklamiert, substanzhaft eine höhere Wertigkeit gegenüber anderen Organisationen zu. Ausgezeichnet ist er allein normativ durch bestimmte verfassungsrechtliche Pflichten und Verantwortungsbeziehungen. Damit ist der hier gewählte Begriff der Institution, der abkürzend eine i n bestimmter Weise verfassungsrechtlich qualifizierte Organisation bezeichnet, von einer Vielzahl anderer Verwendungen dieses Begriffes abgegrenzt 21 . I n s t i t u t i o n meint hier weder Haurious substantiellen Gemeinwillen, den „bloc des idées incontestables" 2 2 , noch Gehlens Gewährleistung von „ V e r h a l tenssicherheit" durch tradierte u n d als unproblematisch empfundene V e r haltensmuster, die den Angehörigen des Gemeinwesens „Entscheidungszumutungen" abnehmen 2 8 . Die I n s t i t u t i o n i m Sinne einer durch öffentliche V e r antwortung qualifizierten Organisation enthält sich auch, anders als die Begriffsbildung Smends, jeder Aussage über Selbstzweckhaftigkeit u n d existenzielle Notwendigkeit des politischen Lebensprozesses. A l s Organisation, d . h . als ein mehr oder weniger dynamisches Handlungsgefüge i n der gesellschaftlichen Wirklichkeit, k a n n die I n s t i t u t i o n auch nicht „ i n das Innere des M e n schen verlegt" werden 2 4 . Bei Krüger hat diese Operation zur Folge, daß die 20 Köttgen, Das anvertraute öffentliche A m t , a.a.O. S. 147. Z u den K o n sequenzen eines Verlustes des Amtscharakters des Staates s. Köttgen, Kriße der kommunalen Selbstverwaltung S. 47, 51; Ders., A m t , a.a.O. S. 1271; Scheuner, Das repräsentative Prinzip i n der modernen Demokratie, a.a.O. S. 224; Bernd Bender, Die Verantwortung des einzelnen i m Hechtsstaat, a.a.O. S. 8; vgl. ferner C.J.Friedrich, Legitimität, a.a.O. S. 128 f.; v. d. Gablentz, A u t o r i t ä t u n d L e g i t i m i t ä t i m heutigen Staat, a.a.O. S. 102. 21 Vgl. zur Vielfalt der Begriffe v.Wiese, A r t i k e l Institution, i n : H d S W 5 S. 297 ff.; Krüger, Staatslehre S. 172 ff.; H.J. Wolff, Organschaft u n d j u r i s t i sche Person I S. 251 ff. — Die Begriffsbildung dieser Schrift findet Parallelen i n erster L i n i e bei Köttgen, Das anvertraute öffentliche A m t , a.a.O. S. 128, 126, u n d möglicherweise auch bei v. d. Gablentz, Staat u n d Gesellschaft, PVS I I S. 21. 22 Z u Hauriou s. H. J. Wolff, Organschaft u n d juristische Person I S. 253 ff.; Smend, Das Problem der Institutionen, a.a.O. S. 65 A n m . 3. 23 Z u Gehlen s. Greiffenhagen, Verstehensproblematik, a.a.O. S. 163 ff.; Jonas, Die Institutionenlehre A r n o l d Gehlens (1966) S. 59 ff., 96 f. 24 S. o. § 11 m i t A n m . 1.
§11 Der Staat als Institution im Gemeinwesen gesellschaftlich reale Gruppe i h r Sein zunächst „als reinen Gedanken aus sich heraus setzt, sich gegenüberstellt", es sodann i n einer „zweiten Existenz" als i h r „besseres I c h " 2 5 i n A m t u n d Gesetz „vergegenständlicht" 2 ® u n d schließlich bemerkt, daß nach dieser Operation i h r realer Pluralismus soweit „ v e r gütet" ist, daß f ü r die „Vielheit der Definierer u n d der Definitionen des Gemeinwohls" schon begrifflich k e i n Raum mehr bleibt 2 7 . 2. Die Pluralisierung des öffentlichen
Sollte sich der Staat als die einzige (öffentliche) Institution i m Gemeinwesen erweisen, so würde der öffentliche Status bereits geeignet sein, den staatlichen Wirkungs- und Entscheidungszusammenhang von allen anderen Organisationen zu unterscheiden. Die Untersuchung könnte sich dann sogleich der Qualifizierung von Bund und Ländern zuwenden. Indessen zeigt sich, daß das öffentliche allein nicht ausreicht, u m die verfassungsrechtliche Eigenart des Staats zu bestimmen. Noch für das konstitutionelle Staatsrecht des 19. Jahrhunderts war „die Identität des Staatlichen m i t dem öffentlichen . . . eine Selbstverständlichkeit" und das öffentliche A m t konnte „ohne nähere Begründung als synonym für das Staatsamt verstanden werden" 2 8 . Der öffentliche Status der kommunalen Selbstverwaltung hatte diesem Modell keinen Abbruch getan. Denn es war der bürgerlichen Emanzipation nicht gelungen, ihre gemeindliche Selbstverwaltung auf einen vom Staat unabhängigen pouvoir municipal zu gründen 2 9 . Vielmehr galt und gilt deren Status als vom Staate abgeleitet 80 , so daß der Staat gegenüber den Einrichtungen der Selbstverwaltung noch als „Institution der Institutionen" hervorgehoben werden könnte. Auch der Status des liberalen Parlaments war trotz seiner Verwurze25
Krüger, Staatslehre S. 365, 652. Krüger, ebd. S. 240 f. 27 Krüger, ebd. S. 776 m. A n m . 27. 28 Köttgen, Das anvertraute offentliche A m t , a.a.O. S. 121, m. H i n w . auf Otto Mayer. 29 Dieser Konzeption hätte es entsprochen, w e n n die Gemeinden als „kleine Staaten" anerkannt worden wären (so v. Rotteck, Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie I I I , 2. Aufl. 1840, S. 27 f.). Vgl. hierzu E. R. Huber, Verfassungsgeschichte I S. 174; Ebke, Bundesstaat S. 2 2 1 ; G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Redite S. 281; Forsthoff, öffentliche Körperschaft i m Bundesstaat S. 19 f. — Z u A r t . 11 Abs. 2 Satz 1 Bay .Verf. v o m 2. Dezember 1946, der diesen Gedanken wieder aufnimmt, s. Badura, Rechtsetzung durch Gemeinden, D Ö V 1963 S. 561. 99 BVerfGE 8, 122 (132); 21, 362 (370); B V e r w G JZ 1967 S.410; Forsthoff, Verwaltungsrecht I S.444f., 488ff.; H.J.Wolff, Verwaltungsrecht I I §§74 I I a 2, 86 I b ; zum „absolutistischen Erbe" des Kommunalrechts s. Köttgen, Gemeindliches Satzungsrecht u n d Grundgesetz, D V B l . 1955 S. 445, 448. Anders Erich Becker, Begriff u n d A r t e n der Selbstverwaltung, i n : Hdb. d. K o m m u nalen Wissenschaft u n d Praxis I (1956) S. 119 f.; Peters, Die Unfallversicher u n g als Selbstverwaltungseinrichtung, Sonderbeilage zu „Sozialer F o r t schritt", 11. Jg./1962 Heft 12 S. 1. Vgl. auch o. § 8 m i t A n m . 8. 29
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
l u n g i n der b ü r g e r l i c h e n I n t e r e s s e n v e r t r e t u n g n i c h t v o m ö f f e n t l i c h e n S t a t u s des Staates u n t e r s c h i e d e n 3 1 . Spätestens die positivistische Staatsrechtslehre r e g i s t r i e r t e die I n t e g r a t i o n d e r b ü r g e r l i c h e n Gesellschaft i n d e n monarchischen S t a a t m i t d e r Q u a l i f i z i e r u n g des P a r l a m e n t s als S t a a t s o r g a n 8 2 . D i e I d e n t i t ä t des ö f f e n t l i c h e n m i t d e m S t a a t l i c h e n , d i e sich noch i n d e r W e i m a r e r R e p u b l i k t r o t z a n f ä n g l i c h e r I n f r a g e s t e l l u n g d u r c h das R ä t e s y s t e m z u b e h a u p t e n v e r m o c h t e 3 8 , e r l a g e r s t d e m A n s p r u c h d e r „ p o l i t i s c h f ü h r e n d e n P a r t e i . . . , als O r g a n i s a t i o n d e r B e w e g u n g s o w o h l d e n Staats,apparat', w i e die Sozial- u n d Wirtschaftso r d n u n g , w i e das Ganze d e r p o l i t i s c h e n E i n h e i t " z u t r a g e n 8 4 . Das Grundgesetz h a t n i c h t versucht, d e n absolutistischen u n d n o d i k o n s t i t u t i o n e l l e n M o n i s m u s des ö f f e n t l i c h e n w i e d e r h e r z u s t e l l e n . V i e l m e h r h a t es d u r c h d i e P l u r a l i s i e r u n g des ö f f e n t l i c h e n z u r E n t m y t h o l o g i s i e r u n g d e r staatlichen E i n h e i t b e i g e t r a g e n 8 4 a . Es h a t z u m i n d e s t die Religionsgesellschaften ( A r t . 140 G G ) 8 5 u n d nach r i c h t i g e r A n s i c h t auch d i e P a r t e i e n ( A r t . 21 G G ) 8 · u n d — i n w e i t a u s w e n i g e r v e r d i c h t e t e r F o r m — die m i t Rechtssetzungsmacht b e l i e h e n e n T a r i f v e r t r a g s p a r t n e r ( A r t . 9 A b s . 3 G G ) 8 7 u n m i t t e l b a r , o h n e V e r m i t t l u n g d u r c h das staatliche 21 Z u r Möglichkeit einer dualistischen Konzeption der Öffentlichkeit i m Konstitutionalismus s. Smend, Bürger u n d Bourgeois, Abhandlungen S. 323; Leibholz, Staat u n d Verbände, a.a.O. S. 9; v.Oertzen, Die Bedeutung von Gerbers, a.a.O. S. 198; Carl Schmidt, Verfassungslehre S. 52. 82 G. Jellinek, Staatslehre S. 580, vgl. auch S. 578 m i t A n m . 2. 88 Forsthoff, öffentliche Körperschaft S. 20. 84 Carl Schmitt, Staat, Bewegung, V o l k (1933) S. 14 f.; ähnlich E.R. Huber, Verfassung (1937) S . 6 2 1 — Zutreffend resümierte Köttgen: „ D i e f ü r den Liberalismus charakteristische Gleichstellung des öffentlichen m i t dem Staatlichen besteht nicht m e h r " (Die rechtsfähige Verwaltungseinheit [1939] S. 18). Z u den politisch-soziologischen Voraussetzungen der Erweiterung des öffentlichen über die institutionelle Staatlichkeit hinaus s. Habermas, S t r u k turwandel der Öffentlichkeit S. 157 ff. Ob u n d i n w i e w e i t allerdings das Grundgesetz die soziologisch registrierte „halböffentliche" Sozialsphäre u n d die privatrechtlich verschleierte „quasi-öffentliche Gewalt" (ebd. S. 164 f.) i n den Bereich verfassungsrechtlicher Öffentlichkeit einbezogen hat, k a n n n u r der Auslegung der einzelnen Verfassungsrechtssätze entnommen werden. 85 BVerfGE 18, 385 (3861); 19, 1 (5); B V e r w G E 9, 314 (316); B V e r w G JZ 1967 S. 410; Conrad, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche (1964) S. 107; Grundmann, J Z 1966 S. 81 ff. (83). 88 BVerfGE 1, 208 (225); 2, 1 (73); 4, 27 (30); 11, 273; Hesse, Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien, W D S t R L 1 7 S. 44; Köttgen, I n nerstaatliche Gliederung, a.a.O. S. 95; Ders., Das anvertraute öffentliche A m t , a.a.O. S. 148; a. A . Henke, Parteien S. 10, 81 ff. — BVerfGE 20, 56 h ä l t an der bisherigen Qualifizierung der Parteien als verfassungsrechtlicher I n s t i t u tionen zwar verbal fest (ebd. S. 102), gibt sie aber der Sache nach auf (ebd. S. 107, 111); kritisch hierzu, unter Hervorhebung des öffentlichen Status der Parteien, v o r allem Häberle, Unmittelbare Parteifinanzierung unter dem Grundgesetz — BVerfGE 20, 56, i n : JuS 1967 S. 64 ff. (66, 68, 73). 87 BVerfGE 18, 18 (27); Gamillscheg, Die Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit (1966) S. 97; Ehmke, W D S t R L 24 S. 95; Leibholz, ebd.
§ 12 Die politische Leitungsgewalt
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Ämterwesen, m i t einem öffentlichen Status ausgestattet58. Parteien, T a r i f v e r t r a g s p a r t n e r u n d Religionsgesellschaften s i n d d a h e r n e b e n d e m S t a a t — also n i c h t als seine i h m e i n g e g l i e d e r t e n „ T r a b a n t e n " — verfassungsmäßige T r ä g e r ö f f e n t l i c h e r V e r a n t w o r t u n g 8 9 . D i e V o r s t e l lung, „ d e r öffentliche C h a r a k t e r " einer Organisation könne „ n u r v o m S t a a t . . . bezogen w e r d e n " 4 9 , g e h ö r t h i e r n a c h d e r Verfassungsgeschichte an. D e r S t a a t i s t n i c h t m e h r d i e einzige O r g a n i s a t i o n , d i e u n m i t t e l b a r d u r c h d i e V e r f a s s u n g als ö f f e n t l i c h e E i n r i c h t u n g k o n s t i t u i e r t w i r d . Das b i s h e r i g e Ergebnis, daß d e r S t a a t als I n s t i t u t i o n v e r s t a n d e n w e r d e n m u ß , r e i c h t d a h e r n i c h t aus, u m seinen verfassungsrechtlichen S t a t u s h i n r e i c h e n d z u bezeichnen.
g 12 D i e politische Leitungsgewalt 1. Das Politische D e r ö f f e n t l i c h e S t a t u s h a t z w a r d i e S t a a t l i c h k e i t i m S i n n e des G r u n d gesetzes v o n p r i v a t e n O r g a n i s a t i o n e n a b g r e n z e n k ö n n e n , e r h a t sie j e d o c h n i c h t z u d e f i n i e r e n v e r m o c h t . Es m u ß d a h e r n a c h d e r spezifischen S. 122. Z u r Problematik s. auch Ossenbühl, NJW1965 S. 1561; Ballerstedt, Wirtschaftsverfassungsrecht, a.a.O. S. 85; Biedenkopf, Z u m Problem der negativen Koalitionsfreiheit, J Z 1961 S. 351 ff.; Brecher, Grundrechte i m Betrieb, i n : Festschr. f. Nipperdey Bd. I I (1965) S. 29 ff. (30 ff.). 98 BVerfGE 21, 362 (373 f.) scheint auch den Universitäten entgegen ihrer traditionellen Eingliederung i n den Staat einen verfassungsunmittelbaren öffentlichen Status zuerkennen zu wollen. Gleichfalls problematisch ist der öffentliche Status der Presse. E r w i r d bejaht von BVerfGE 10, 118 (121); Smend, Das Problem der Presse, Abh. S. 386ff.; Ridder, Meinungsfreiheit, i n : Die Grundrechte Bd. 2 S. 258. Zweifelnd anscheinend Köttgen, Das anvertraute öffentliche A m t S. 144, 147 A n m . 118. — Ablehnend Schnur, Pressefreiheit, W D S t R L 22 (1965) S. 113 ff. m. w. Nachw. i n A n m . 27; ferner Mallmann, J Z 1966 S. 625, u n d neuestens Dieter Czajka, Pressefreiheit und „öffentliche Aufgabe" der Presse (1968) passim. 99 Z u r Anerkennung nichtstaatlicher Öffentlichkeit i m allgemeinen s. E. R. Hub er, Wirtschaf tsverwaltungsrecht Bd. I I S. 377; Köttgen, Innerstaatliche Gliederung, a.a.O. S. 93 f.; Ders., Das anvertraute öffentliche A m t , a.a.O. S. 147 f.; Werner Weber, Die Sozialpartner i n der Verfassungsordnung, a.a.O. S. 246; Ders., A r t i k e l öffentliches Recht, i n : H d S W 8 (1964) S.44; Arndt, J Z 1965 S. 337; sowie Peters, öffentliche u n d staatliche Aufgaben, a.a.O. S. 877 ff., der allerdings nicht auf die verfassungsrechtliche Qualifizierung u n d I n pflichtnahme der Träger öffentlicher Aufgaben abstellt, sondern darauf, daß an der E r f ü l l u n g bestimmter Aufgaben „die Öffentlichkeit maßgebend i n t e r essiert ist", ohne daß diese Aufgaben deshalb schon staatliche sein müßten (ebd. S. 878). Z u dem schwierigen Problém der Realisierung der öffentlichen Verantwortung s. Hesse, Verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien, W D S t R L 17 S. 43 f.; v. d. Gablentz, Staat u n d Gesellschaft, PVS I I S. 19; Hennis, Verfassungsordnung u n d Verbandseinfluß, PVS I I S. 32; Werner Weber, Wandlungen u n d Formen des Staates, a.a.O. S. 382. — Betont optimistisch zur Selbstdisziplinierung der Gesellschaft Forsthoff, Die B u n desrepublik Deutschland, a.a.O. S. 809 f. 40 Forsthoff, Gutachten S. 28, 23.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
Funktion des Staates i m Gemeinwesen gefragt werden. Die A n t w o r t w i r d häufig i n seiner „politischen" Funktion gefunden. Bereits Georg Jellinek hielt es für ausgeschlossen, daß politische Phänomene andere als staatliche sein könnten: „Politisch heißt staatlich" 1 . Indessen kann es nicht Aufgabe dieses Abschnitts sein, den Begriff des Politischen unter jedem Blickwinkel auszuloten. Z u untersuchen ist lediglich, ob unter der Geltung des Grundgesetzes vom Politischen sinnvoll so gesprochen werden kann, daß nur dem Staat eine „politische" Funktion zuerkannt wird. Da bereits feststeht, daß der Staat eine (öffentliche) I n stitution und damit von privaten Organisationen unterschieden ist, darf sich diese Erörterung auf den Bereich verfassungsmäßiger Institutionen beschränken. Es kann also offen bleiben, ob das Grundgesetz den verfassungsrechtlich relevanten Begriff des Politischen auch auf gesellschaftliche Phänomene außerhalb des institutionellen Bereichs erstreckt. Entscheidend ist allein, ob das Grundgesetz eine Umschreibung des Politischen nahelegt, die auch für Institutionen außerhalb der „unmittelbaren" Staatlichkeit, also außerhalb der rechtstechnischen Einheiten Bund und Länder, Geltung beanspruchen kann. Eine negative Abgrenzung des Politischen ergibt sich zunächst aus A r t . 26 GG. Das Verbot des Angriffskrieges löst den verfassungsrechtlich relevanten Begriff des Politischen aus seiner traditionellen Verknüpfung m i t der machtstaatlichen Individualisierung nach außen. Ferner enthält das Bekenntnis des Grundgesetzes zur Pluralität des Gemeinwesens und zum funktionalen Verständnis des Staatslebens eine Absage an die Selbstzweckhaftigkeit des politischen Prozesses 2 und der Innehabung poltischer Macht 3 . Das Politische muß daher funktional verstanden werden, als ein Prozeß, der die Gestaltung des Gemeinwesens zum Gegenstand hat. 1
Georg Jellinek, Staatslehre S. 180 m i t A n m . 1. S. o. § 9, 3.; anders Smends Definition des Politischen als des Kreises, „ i n dem der Staat sich u n d sein Wesen bestimmt u n d durchsetzt" (Die politische Gewalt i m Verfassungsstaat [1923] i n : Abh. S. 79); kritisch zur Selbstzweckhaftigkeit des Staates bereits Heller, Staatslehre S. 199; H. J. Wolff, Organschaft u n d juristische Person I S. 280; Dietrich Bonhoeffer, E t h i k (1949) S. 971; Hättich, Nationalbewußtsein u n d Staatsbewußtsein i n der pluralistischen Gesellschaft (1966) S. 109 ff. ; einschränkend nunmehr auch Smend, A r t i k e l Staat a.a.O. Sp. 1108. — Z u r Diskussion über den Wandel des Staates von der transzendental legitimierten Selbstzweckhaftigkeit zur F u n k t i o n der Gesellschaft vgl. Heller, Staatslehre S. 201 ff.; Leibholz, Staat u n d Gesellschaft i n England, a.a.O. S. 111; Landshut, Politische Soziologie, a.a.O. S. 413; Forsthoff, Die BRD, a.a.O. S. 811; v. d. Gablentz, Staat und Gesellschaft, PVS I I S. 23 A n m . 79; vgl. auch Hobhouse, Metaphysische Staatstheorie S. 79, 81, u n d die Kennzeichnung des pluralistischen Staates als „Selbstorganisation der Gesellschaft" bei Carl Schmitt, H ü t e r der Verfassung (1931) S. 78 und Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts (1967) S. 7. 3 Vgl. demgegenüber Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 15; Max Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft I S. 2 9 1 ; Loewenstein, Verfassungslehre (1959) S. 3; Freund, A r t . P o l i t i k , i n : HdSW 8 (1964) S. 356. 2
§ 12 Die politische Leitungsgewalt
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Einen ersten positiven Anhaltspunkt für die Klärung dieses Begriffs, soweit sie hier geboten ist, gibt das Grundgesetz i n A r t . 65. Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers erscheint hier als bloßer Ausschnitt aus dem Bereich des Politischen, dem auch die Funktionen der Bundesregierung und der Bundesminister zugehören. Die verfassungsmäßige, hiernach „politische" Funktion jedes Bundesministers besteht darin, daß er „seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung" „leitet". Ein erheblicher Entscheidungsspielraum, gebunden durch Verantwortung, ist somit i m Verständnis des Grundgesetzes ein Merkmal des Politischen. I n die gleiche Richtung weist A r t . 21 Abs. 1 S. 1 GG. Die „politische" Willensbildung des Volkes ist — jedenfalls bei normativem Verständnis — von der Vorstellung eines erheblichen Entscheidungsspielraums schon deshalb nicht zu trennen, w e i l sie sich zumindest zu einem wesentlichen Teil auf die Wahl der Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) bezieht. Ferner verwendet das Grundgesetz den Begriff des Politischen i. S. besonderer Wichtigkeit für das Gemeinwesen, wenn es i n A r t . 59 Abs. 2 die Entscheidung über „Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln", dem Gesetzgeber vorbehält 4 . Indessen sind Vorgänge, die die Rechtsordnung als „politische" bezeichnet, nicht nur auf der Verfassungsebene anzutreffen. § 31 Abs. 1 des Beamtenrechtsrahmengesetzes (i. d. F. v. 22.10.1965, BGBl. I S. 1754) läßt die Versetzung eines Beamten i n den einstweiligen Ruhestand zu, sofern er ein A m t bekleidet, „bei dessen Ausübung er i n fortdauernder Übereinstimmung m i t den grundsätzlichen politischen A n sichten und Zielen der Regierung stehen muß". Das Gesetz geht m i t h i n davon aus, daß es i n der staatlichen Verwaltung politisch relevante Entscheidungsspielräume gibt. Das ist um so bemerkenswerter, als § 31 BRRG einen „hergebrachten Grundsatz des Beamtenrechts" (Art. 33 Abs. 5 GG) ausspricht. Das Grundgesetz selbst hat folglich die politische Qualität von Verwaltungsentscheidungen, die nicht unmittelbar von den zur Leitung berufenen Verfassungsorganen getroffen werden, zustimmend zur Kenntnis genommen 5 . Die politischen Entscheidungen sind auf die polis, das Gemeinwesen, bezogen. Stattet nun das Grundgesetz, wie soeben erörtert, bestimmte Institutionen m i t erheblichen Entscheidungsspielräumen aus, so geht es davon aus, daß i m Gemeinwesen entscheidungsbedürftige Situationen bestehen. D. h. das Politische w i r d dort relevant, wo innerhalb des Gemeinwesens Konflikte vorhanden sind, die der Überwindung durch Entscheidung oder Interessenausgleich bedürfen. Berücksichtigt man 4
Z u r Auslegung dieser Vorschrift s. BVerfGE 1, 372 (381). • Z u r politischen V e r w a l t u n g näher Köttgen, S t r u k t u r u n d politische F u n k t i o n öffentlicher Verwaltung, a.a.O. S. 771 ff.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
hierbei die erwähnte Entscheidung des Grundgesetzes für eine offene Auseinandersetzung u m die jeweilige Gestaltung des Gemeinwesens (Art. 21 Abs. 1 GG), so werden die Entscheidungsspielräume ausgefüllt durch umkämpfte Vorstellungen über die rechte Ordnung des Gemeinwesens. Jener Minimalgehalt des Politischen, der bei der verfassungsrechtlichen Arbeit m i t diesem Begriff unter der Geltung des Grundgesetzes beachtet werden muß, besteht somit darin: Das Politische ber zeichnet Prozesse, die die Gestaltung des Gemeinwesens zum Gegenstand haben, erhebliche Entscheidungsspielräume voraussetzen und ihren Antrieb i n unterschiedlichen Vorstellungen über die rechte Ordnung des Gemeinwesens finden 6 . M i t diesem Ergebnis stimmt es überein, daß vom „Absterben" des (politischen) Staates, von der „Entpolitisierung" des Gemeinwesens dann gesprochen wird, wenn die öffentlichen Angelegenheiten sich auf sachrationale Verwaltung reduzieren, wenn Konflikte über die Stellung der Einzelnen und Gruppen i m Gemeinwesen entfallen oder wenn die Möglichkeit zu freier Gestaltung öffentlicher Zustände bzw. zur bewußten Konservierung des Status quo fehlt 7 . Georg Jellineks These „politisch heißt staatlich" t r i f f t hiernach die maßgebende Funktion des Staates i m Gemeinwesen dann — aber auch nur dann —, wenn die beschriebenen politischen Prozesse von Verfassungs wegen allein auf die staatliche Institution bezogen sind. Der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland ist eine solche Beschränkung des Politischen jedoch fremd. Den Auseinandersetzungen und Vereinbarungen über die „Wahrung und Förderung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen" (Art. 9 Abs. 3 GG) fehlt nach der Konzeption des Grundgesetzes zumindest i m Regelfall der Bezug auf die staat• Ä h n l i c h Ellwein, Politische Verhaltenslehre (1964) S. 49, 89; Arnold Bergstraesser, Geschichtliches Bewußtsein u n d politische Entscheidung, i n : Festschr. f. Rothfels (1963) S. 33 f.; v. d. Gablentz, Politische Wissenschaft und Philosophie, PVS I S.7, 11; Ders., Staat u n d Gesellschaft, PVS I I S. 21; Ehmke, Staat u n d Gesellschaft, a.a.O. S. 44; Krippendorf, L e g i t i m i t ä t als Problem der politischen Wissenschaft, Z . P o l . N F 9 (1962) S. 8; E.Kaufmann, W D S t R L 9 S. 9 f.; H.J.Wolff , Rechtsgrundsätze, a.a.O. S. 45; Scheuner, Das Wesen des Staates u n d der Begriff des Politischen, a.a.O. S. 259; Smend, Staat u n d Politik, Abh. S. 369, 378; Hesse, Rechtsstaat, a.a.O. S. 93. — Wenn demgegenüber politisches Handeln reduziert w i r d auf solches, das auf die (mit dem Staat identifizierte) „Herrschaftsordnung" bezogen ist (Hättich, Der Begriff des Politischen bei M a x Weber, PVS V I I I [1967] S. 40 ff. [46, 49]), so steht dem bereits der moderne Regierungs- u n d Verwaltungsstil entgegen, der w e i t h i n die traditionelle „Herrschaftsausübung" durch öffentliche L e i stungen ersetzt, insbesondere durch staatliche Investitionen u n d durch den „goldenen Zügel" der finanziellen Anreize. 7 Vgl. hierzu Heller, Staatslehre S. 213; Habermas, S t r u k t u r w a n d e l der Öffentlichkeit S. 142; Krüger, Staatslehre S. 660 A n m . 214; L . v. Stein, Hdb. d. Verwaltungslehre I S. 99; Hartmann, Funktionale A u t o r i t ä t S. 125, 132; Draht, A r t . Staat, a.a.O. Sp. 2124; s. ferner Teshima s Hinweise auf Friedrich Engels u n d H e l m u t Schelsky, i n : Ü b e r den Verwaltungsstaat, a.a.O. S. 587.
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liehe Institution. Gleichwohl ist ihre politische Relevanz, sofern die vorstehende Umschreibung des Politischen zugrunde gelegt wird, offensichtlich. Gleiches gilt für die durch A r t . 24 GG legitimierten Entscheidungen überstaatlicher Einrichtungen. Auch die gemeindliche Selbstverwaltung hat nicht ausschließlich Aufgaben zum Gegenstand, die sich auf den unpolitischen Vollzug sachbedingter oder vorgegebener Entscheidungen beschränken und für unterschiedliche Interpretationen des Gemeinwohls keinen Raum lassen. Die „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft", die A r t . 28 Abs. 2 GG von der unmittelbaren Besorgung durch das staatliche Ämterwesen ausnimmt, eröffnen vielmehr die Möglichkeit zu politischer Initiative 8 . Diese Feststellung steht nicht nur der Monopolisierung des Politischen i m Staat entgegen. Sie macht auch deutlich, daß der Unterschied zwischen Ländern und Gemeinden, den das Grundgesetz voraussetzt, nicht i m Begriff des Politischen i n seiner hier dargestellten Allgemeinheit gefunden werden kann. 2. Regierung nnd Souveränität Die politischen Funktionen des Staates geben noch keinen Aufschluß über seine spezifische Funktion i m Gemeinwesen. I m folgenden soll geprüft werden, ob Näheres der verfassungsmäßigen Verteilung jener politischen Aufgaben entnommen werden kann, die für das Gemeinwesen von hervorragender Bedeutung sind, von deren Erfüllung also das Wohl der Gesellschaft i n entscheidendem Maße abhängt. Der Versuch, das politische Gewicht einzelner öffentlicher Aufgaben zu bestimmen, scheint notwendig dem Einwand subjektiver W i l l k ü r ausgesetzt zu sein. Indessen zeigen Partei- und Regierungsprogramme sowie wissenschaftliche Äußerungen aus dem Bereich der Volkswirtschaft, der Soziologie und der Staatstheorie i n ihrer generellen Beurteilung der Wichtigkeit öffentlicher Aufgaben erhebliche Einmütigkeit. Von hieraus lassen sich auch dem grundgesetzlichen Katalog der Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes wesentliche Hinweise auf die Verteilung der wichtigsten öffentlichen Aufgaben auf die verschiedenen • Köttgen, Wesen u n d Rechtsformen der Gemeinden u n d Gemeindeverbände, Hdb. der kommunalen Wissenschaft u n d Praxis I (195Θ) S. 185 ff. (194 f.) ; ähnlich Ders., Krise der kommunalen Selbstverwaltung S. 9, 15, 25, 35; Stern, B K , 2. Bearbeitung, A r t . 28 Nr. 95; H.J. Wolff, Verwaltungsrecht I 6. Aufl. S. 69; Ellwein, Politische Verhaltenslehre S. 89; René König, Die Gemeinde i m Blickfeld der Soziologie, Hdb. KommWiss I S. 18 ff. (43). — B V e r f GE 6, 367 (372) spricht von der „politischen Willensbildung" auch auf der Gemeindeebene (anders noch BVerfGE 2, 76); ähnlich B V e r w G E 18, 247 (253); Henke, Parteien S. 20. A . A. Maunz - Dürig, A r t . 21 Rdnr. 20 (mit Vorbehalten i n Fußn. 1); Meyer - Anschütz, Lehrb. d. Dt. Staatsrechts 7. Aufl. S. 9. — Z u r politischen Konzeption der Selbstverwaltung i m 19. Jh. s. Forsthoff, ö f f e n t liche Körperschaft S. 22; Ders., Verwaltungsrecht I S. 439 f. m i t Hinweis auf v. Rotteck.
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Institutioneil des Gemeinwesens entnehmen. Zwar eröffnet ein solcher Katalog für den Zuständigkeitsträger regelmäßig nur Möglichkeiten zu politischer Entscheidung. Aber allein diese Möglichkeiten können, sofern sie nicht m i t Billigung der Verfassung regelmäßig und i n vollem Umfange ungenutzt bleiben, bereits die verfassungsmäßige Funktion des Staates i m Gemeinwesen erkennen lassen. Denn sollte das Verfassungsrecht die Möglichkeit zur Bewältigung jener Aufgaben, die für das Gemeinwesen von hervorragender Bedeutung sind, ausschließlich oder doch überwiegend dem Staate anvertraut haben und sollten ferner die Befugnisse des Staates auf die Erfüllung dieser Aufgaben zugeschnitten sein, so könnte hieraus auf jene Funktion des Staates geschlossen werden, die ihn von den anderen Institutionen des Gemeinwesens unterscheidet. Eine solche — skizzenhafte — Untersuchung braucht sich nicht auf die politischen Aufgaben zu beschränken, die einen Staat seit seiner Errichtung gleichermaßen prägen. Entscheidend ist die Verteilung der jeweils wichtigsten Aufgaben. Denn wenn der Staat nicht als autokephaler Apparat, sondern von seiner Funktion i m Gemeinwesen her verstanden w i r d 9 , so muß auch die Begriffsbildung registrieren, daß er i n den Wandel der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Verhältnisse hineingezogen w i r d oder, wie bereits Jacob Burckhardt es formuliert hat, daß „die K u l t u r heute dem Staat das Programm schreibt" 10 . Zum Beispiel gehörten zur Zeit der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland die Kriegsschäden, die Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen, die Versorgung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen, die Sicherstellung der Ernährung, die Ordnung des Wohnungswesens zu jenen Aufgaben, von deren Bewältigung der status rei publicae wesentlich abhing. Die Verfassung erwartete die Erfüllung dieser Aufgaben weder von außerstaatlichen öffentlichen Institutionen noch von der privaten Gesellschaft, sondern ermächtigte den Staat (Art. 74 Nrn. 6, 9, 10, 17, 18 GG), der von dieser Befugnis i m Einklang m i t dem Sozialstaatsauftrag und dem Selbstverständnis der Gesellschaft Gebrauch gemacht hat. Gleiches gilt nunmehr für die „Förderung der wissenschaftlichen Forschung" (Art. 74 Nr. 13 GG) und die traditionelle staatliche Aufgabe der Bildungspolitik (Art. 7 Abs. 1 GG), die beide dabei sind, „sich einen Platz i n der vorderen Reihe der Prioritäten unter den Staatsaufgaben zu erobern" 1 1 . I n jüngster Zeit hat sich • S. o. § 12, 1. m i t A n m . 2. lf J. Burckhardt , Weltgeschichtliche Betrachtungen (Ausgabe Kroener 1925) S. 190. M i t „ K u l t u r " ist hier der gesamte nichtstaatliche u n d nichtreligiöse Bereich gemeint. 11 So der Bundesminister f ü r wissenschaftliche Forschung i n der Debatte des B T v o m 9. Dezember 1964 (Bull. BReg. v o m 19.12. 64 Nr. 188/S. 1736). —
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die Raumordnung m i t dem anspruchsvollen Ziel i n den Vordergrund geschoben, das Bundesgebiet „ i n seiner allgemeinen räumlichen Strukt u r einer Entwicklung zuzuführen, die der freien Entfaltung der Persönlichkeit i n der Gemeinschaft am besten dient". Da die V e r w i r k l i chung dieser Aufgabe insbesondere die „wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Erfordernisse zu beachten" hat 1 2 , w i r d man Röttgens Kennzeichnung der Raumordnung als einer „eminent staatsgestaltenden A u f gabe" zustimmen müssen 13 . Zentraler noch ist die Steuer- und Budgethoheit des Staates (Art. 105, 110 GG), die i h m notwendig die Verantwortung für die Verteilung des Sozialprodukts, insbesondere für die Rangfolge von allgemeinem Konsum, Sonderinteressen und langfristigem Infrastrukturbedarf der Gesellschaft aufbürdet 1 4 . Die Kommission für die Finanzreform hat weitere Aufgaben, auf deren hinreichende Erfüllung vor allem das moderne industrielle Gemeinwesen entscheidend angewiesen ist, m i t den Stichworten der finanziellen Stabilität, des Wirtschaftswachstums und „einer gewissen Verringerung der Ungleichmäßigkeit der Einkommens- und Vermögensverteilung" bezeichnet 15 . Ein Teil dieser w i r t schaftspolitischen Programmatik hat nunmehr i n der Änderung des A r t . 109 GG durch das Gesetz vom 8. J u n i 1967 (BGBl. I S. 581) auch ihren ausdrücklichen verfassungsgesetzlichen Niederschlag gefunden 16 . öffentliche Aufgaben vergleichbarer Wichtigkeit sind nur ausnahmsweise, und zwar i n zwei Fällen, dem Staate von Verfassungs wegen entzogen: i m Falle der Tarifpolitik (Art. 9 Abs. 3 GG), deren zentrale Bedeutung für das Wirtschaftswachstum und das „gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht" unbestritten ist, sowie i m Falle der internationalen Integration (Art. 24 Abs. 1 und 2 GG), deren Rückwirkungen auf die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland etwa i n der Präambel und insbesondere i n den A r t . 2 und 3 des Vertrages zur GrünZ u r weiteren Konkretisierung der der Bildungspolitik gestellten Aufgaben vgl. A r t . 2 des Abkommens über die Errichtung eines Deutschen Bildungsrates v o m 15. J u l i 1965, B u l l . BReg. v o m 16. 7. 65 Nr. 122/S. 982. 12 § 1 des Raumordnungsgesetzes v o m 8. A p r i l 1965, BGBl. I S. 306. 18 Röttgen, Fondsverwaltung i n der Bundesrepublik (1965) S. 62. 14 Z u r h i e r i n eingeschlossenen Planungsverantwortung des Staates, insbesondere zu ihrer Relevanz f ü r eine zielgerichtete und sachbezogene, nicht auf Interessenausgleich reduzierte vorausschauende Gestaltung der Gesamtordnung vgl. J. H. Raiser, Exposé einer Theorie der Planung, i n : Planung I (1965) S. 11 ff. (141, 201, 331); Scheuner, Verfassungsrechtliche Probleme einer zentralen staatlichen Planung, ebd. S. 67 ff. (73, 77, 81). le Gutachten über die Finanzreform i n der Bundesrepublik Deutschland Tz. 472. 16 Vgl. i m einzelnen Stern, Gesetz zur Förderung der Stabilität u n d des Wachstums der Wirtschaft, D Ö V 1967 S. 657 f l 10 Hempel
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dung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. 3.1957 (BGBl. I I S. 766) angedeutet sind 1 7 . Diese beiden Fälle zwingen trotz ihres Ausnahmecharakters zu der Frage, ob der Staat auch bei der verfassungsmäßigen Verteilung der besonders wichtigen öffentlichen Aufgaben wiederum nur quantitativ von anderen Institutionen des Gemeinwesens unterschieden ist, ob also i m Verständnis des Grundgesetzes das staatliche Ämterwesen lediglich eine unter mehreren Institutionen eines pluralistischen government ist 1 8 . Wäre diese Frage zu bejahen, so ergäben sich hieraus nicht nur bundesstaatsrechtlich erhebliche Folgerungen für die Zuordnung der einzelnen „staatlichen" Institutionen, die dann durch keine spezifisch staatliche Funktion zusammengehalten würden. Es läge vor allem auch jene Folgerung auf der Hand, die Carl Schmitt 1963 aus der inneren Pluralisierung und äußeren Integrierung des Gemeinwesens gezogen hat: „Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende 1 9 ." Für ein Verständnis der Staatlichkeit, das auf eine nicht begrenzbare „Allumfassendheit" oder „Allkompetenz" abstellt 2 0 , ist die Entscheidung m i t den A r t . 9 Abs. 3, 24 und 140 GG, aber auch m i t dem A r t . 19 Abs. 2 G G 2 0 a , gefallen. Denn der vom Grundgesetz sanktionierte Rückzug des Staates „aus seiner Verantwortlichkeit für die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse des Landes und seiner Bürger" verliert zumindest für einen materialen Staatsbegriff seine Bedeutung nicht dadurch, daß er vom Staat durch Einsatz der Kompetenzkompetenz (Art. 79 GG) von Rechts wegen rückgängig gemacht werden könnte 2 1 . Aber nur eine „Alles-oder-nichts-Theorie" 22 , die die Offenheit und Wandlungsfähigkeit der staatlichen Institution verkennt 2 8 , w i r d leugnen können, daß staatliche Leitungsverantwortung auch dann noch einen selbständigen 17 Zutreffend hebt Badura, W D S t R L 23 S.34ff. (48), hervor, daß die A u f gaben der europäischen Gemeinschaften die Qualität von Leitungsaufgaben („Regierungsfunktionen") haben. Detailliert neuestens Sattler, Das Prinzip der „funktionellen Integration" S. 145 ff. u. pass. 18 So anscheinend Ehmke, Staat u n d Gesellschaft, a.a.O. S. 45, 48 f. 19 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Neudruck der 2. Ausgabe (1963), V o r w o r t S. 10; vgl. ferner Carl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze S. 385. 10 Krüger, Staatslehre S. 761, 196; Menzel, W D S t R L 21 S. 129, 135; Fuß, W D S t R L 21 S. 134. K r i t i s c h insbesondere Grundmann, Das Bundesverfassungsgericht u n d das Staatskirchenrecht, JZ 1966 S. 81 ff. (83). ««a Krüger, Staatslehre S. 945, muß A r t . 19 Abs. 2 GG f ü r „den Gipfel" der „Selbsttäuschung" über die Vereinbarkeit staatsbeschränkender Grundrechte m i t der Existenz des Staates halten. 91 So jedoch Vogel, Die Entscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit (1964) S. 31 f. " Kritisch Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung S. 108 A n m . 15 m i t Hinweis auf Lindsay . 99 Zutreffend begreift Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 44, 104, den Staat als ein „offenes, bewegliches Gebilde".
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Sinngehalt aufweisen kann, wenn sie punktuell begrenzt ist 2 4 . Ob diese Möglichkeit staatlicher Leitungsverantwortung, wie sie durch den Überblick über die Verteilung der wichtigsten politischen Aufgaben auf die öffentlichen Institutionen nahegelegt wurde, das Selbstverständnis des Grundgesetzes zutreffend wiedergibt, soll nunmehr anhand der Befugnisse des staatlichen Ämterwesens geprüft werden. Die erwähnte Kompetenzkompetenz des Staates konserviert zwar nicht mehr seine frühere „Allkompetenz". Sie gestattet es i h m jedoch, die Aufgabenbereiche und die Befugnisse sämtlicher öffentlicher Institutionen — wenn auch i n den Grenzen der Verfassungsänderung — so zu ordnen, wie es nach seinen Vorstellungen den Bedürfnissen des Gemeinwesens entspricht. Geht man i n einem nichttotalitären Gemeinwesen davon aus, daß eine Verfassung dem Staat nicht mehr Befugnisse zugestehen wird, als er zur Erfüllung seiner Aufgaben benötigt, so läßt die Ausstattung des Staates m i t der naturgemäß einzigen Kompetenzkompetenz den Schluß zu, daß auch seine materiale Funktion nach dem Selbstverständnis der Verfassung von den Funktionen der anderen öffentlichen Institutionen unterschieden ist 2 5 . I n diesem Zusammenhang findet die Kompetenzkompetenz eine bemerkenswerte Entsprechung i n dem Grundsatz, daß Eingriffe i n die Freiheitssphäre der Bürger regelmäßig staatlicher Ermächtigung bedürfen (vgl. A r t . 19 Abs. 1 GG). Weder Parteien noch „Sozialpartner", weder Kirchen noch Einrichtungen der kommunalen Selbstverwaltung haben ein allgemeines Mandat zu Eingriffen i n „Freiheit und Eigent u m " 2 6 . Die öffentliche Gewalt der europäischen Gemeinschaften, deren 24 Z u m „grenzbewußten Staat" s. Köttgen, Nation u n d Staat, a.a.O. S. 215; Haenel, Staatsrecht I S. 110, 113, 117 A n m . 2. Z u r inhaltlichen Begrenzung u n d gegenständlichen Begrenzbarkeit der Souveränität s. insbesondere Smend, Staat u n d Kirche (1951), Abh. S.419; Dahin, Der Staat (deutsch 1964) S. 252; Bernhardt, Der Abschluß völkerrechtlicher Verträge i m Bundesstaat (1957) S. 8; Grundmann, J Z 1966 S. 81 ff. (83); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 44; Doehring, Internationale Organisation u n d staatliche Souveränität, i n : Festgabe f. Ernst Forsthoff (1967) S. 105 ff. (117); Ophüls, Staatshoheit u n d Gemeinschaftshoheit, a.a.O. S. 585 ff., der allerdings zur Vermeidung von Mißverständnissen empfiehlt, auf den Begriff der Souveränität zu verzichten. — Z u r Begrenzung der „Souveränität des Verfassungsgebers u n d der Staatsgewalt" durch „oberste Grundsätze des Rechts" s. Bay.V e r f G H E n . F . 4, 51, BVerfGE 1, 18 (Ls.27); 3, 225 (233); H.J.Wolff, Rechtsgrundsätze, a.a.O. S. 52; zur Gegenansicht des Positivismus s. G. Jellinek, System S. 292 f. — W i r d die Begrenzbarkeit staatlicher Verantwortung u n d Souveränität anerkannt, so dürfte auch ein E i n w a n d gegen die Staatsqualität der B R D entfallen, der der „Rechtslage Deutschlands" entstammt: der E i n wand, daß die alliierten Vorbehaltsrechte i m Deutschlandvertrag i. d. F. v. 23.10.1954 (BGBl. 1955 I I S. 305, A r t . 5 I I ) (in der bis zur Notstandsverfassung geltenden Form) die „Souveränität der Bundesrepublik Deutschland" ausschlössen; vgl. etwa Adolf Arndt, Der Deutsche Staat als Rechtsproblem (1960) S. 25 ff. 25 So bereits Haenel, Staatsrecht I S. 797.
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Zwangsakte nur verfahrensrechtlich an die M i t w i r k u n g der Mitgliedstaaten gebunden sind (Art. 192 EWG-Vertrag; A r t . 92 EGKS-Vertrag), stellt demgegenüber zwar das traditionelle „Monopol legitimer physischer Zwangsgewalt" i n Frage 27 . Sie ändert aber nichts an der relativen Konzentration der Eingriffsrechte i m staatlichen Ämterwesen. Diese dem Staat verbliebene generelle Ermächtigung zur von Rechts wegen einseitigen, also herrschaftlichen Regulierung der gesellschaftlichen Verhältnisse ist Ausdruck seiner grundsätzlichen Befugnis, für die Verwirklichung der Zwecke, die er sich — wiederum i m Rahmen der Grenzen der Verfassungsänderung — i n rechtlich freier Entscheidung setzt, die i h m geeignet erscheinenden M i t t e l anzuwenden 28 . Die Ausstattung des staatlichen Ämterwesens m i t der Kompetenzkompetenz, m i t der relativen Konzentration der Rechtssetzungs- und Zwangsbefugnisse und allgemein m i t der Befugnis, vom Zweck auf die M i t t e l zu schließen, gebietet es, unbeschadet der erwähnten punktuellen Beschränkungen der staatlichen Befugnisse vom „Zuhöchst-Sein" des Staates i m sozialen Bereich, von seiner „Überlegenheit gegenüber dem Außerstaatlichen" 29 oder auch von seiner „Souveränität" zu sprechen. D. h. die Verfassung hat die Formalstruktur des Staates nahezu unversehrt aus einer Epoche übernommen, i n der er unbestritten die alleinige Verantwortung für die entscheidenden öffentlichen Aufgaben trug. Diese Formalstruktur des staatlichen Ämterwesens ist aber nur dann sinnvoll und für die Gesellschaft erträglich, wenn sie i n der Funktion des Staates i m Gemeinwesen der Gegenwart eine inhaltliche Entsprechung findet 3 0 . Es ist daher zu vermuten, daß die überkommene Funktion des Staates, „höchste Instanz" „zur Wahrung von Ordnung, Frie99 Z u r Autonomiefestigkeit der Grundrechte s. Köttgen, Gemeindliche Satzungsgewalt u n d Grundgesetz, D V B l . 1955 S. 448 m. w. Nachw.; kritisch D ü rig, i n : M a u n z - D ü r i g , G G A r t . 1 Rdnr. 112 Fußn. Mißverständlich ist die Stellungnahme der Niedersächsischen Gemeindeordnung (§ 6 Abs. 2) zu diesem Grundsatz, vgl. Werner Weber, Die niedersächsische Gemeindeordnung, D V B l . 1955 S. 615. 97 Zutreffend Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 44; ferner Ophüls, Staatshoheit u n d Gemeinschaftshoheit, a.a.O. S. 583. 99 Maunz - Dürig, G G A r t . 30 Rdnr. 7; vgl. bereits § 4 I I 13 Pr.ALR. — Z u m Verhältnis v o n Aufgaben u n d M i t t e l n staatlichen Handelns s. ferner Krüger, Staatslehre S. 196, 761. te Schindler, Verfassungsrecht u n d soziale S t r u k t u r S. 105 ff.; Heller, Staatslehre S. 246; Krüger, A r t . Souveränität, H d S W 9 , 308; Ders., Staatslehre S. 852 f.; Thoma, HdbDStR I S. 174; Ders., A r t i k e l Staat S. 737; Haug, Schranken der Verfassungsrevision S. 42; Walter Schmidt, Der bundesstaatliche A u f bau der B R D S. 14. Weitere Nachweise zum Souveränitätsbegriff bei Walter Schmidt, a.a.O. A n m . 81 ; Usteri, Bundesstaat S. 144 ff. 90 Daß der Staat n u r u m seiner Aufgaben w i l l e n souverän sei, hat besonders Haenel betont (Studien I I S.220; Staatsrecht I S. 113, 796; H i r t h s A n n a len 1877 S. 18); s. ferner v. Gierke, Grundbegriffe des Staatsrechts S. 101; Heller, Staatslehre S. 247; Hennis, Souveränität S. 76; Smend, Das Problem der Institutionen, a.a.O. S. 67, 75.
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den und Gerechtigkeit" zu sein 31 , zu den Grundlagen der Verfassung gehört. Diese „Vermutung" wäre indessen widerlegt, wenn die Verfassimg dem Staat die zur Erfüllung seiner mutmaßlichen Funktion erforderliche Verantwortung für die wichtigsten politischen Aufgaben i m Gemeinwesen entzogen hätte. Das ist jedoch, wie erörtert wurde, nicht der Fall. Die Verantwortung für die bedeutsamsten öffentlichen Aufgaben der Bundesrepublik Deutschland — Wirtschafts- und Sozialpolitik, Außenpolitik, Raumordnung, Bildungs- und Wissenschaftspolitik — ist vielmehr weitaus überwiegend dem staatlichen Ämterwesen auferlegt worden — nicht anders, als es i n anderen industriellen Gemeinwesen des geschehen ist 3 2 . Diese zumindest überwiegende Verantwortung Staates für die wichtigsten öffentlichen Aufgaben i n einem Gemeinwesen bildet die Grundlage der traditionellen Regierungslehre. Aus der Gesamtheit der staatlichen Aufgaben hebt sie die staatsleitende Funktion oder — i m materialen Sinne, unter Einschluß der Gesetzgebung 33 — die Regierungsfunktion hervor 3 4 . K r a f t dieser Funktion, die keiner anderen Institution des Gemeinwesens zukommt, hat der Staat insbesondere die Vielzahl der nachhaltig wirksamen Interessengegensätze und Konflikte i m Gemeinwesen entweder durch „weichenstellende Entscheidungen" 35 zu überwinden oder für sie einen tragbaren modus 81
Scheuner, Das Wesen des Staates, a.a.O. S. 255, 258. Vgl. Hennis, Aufgaben einer modernen Regierungslehre, PVS V I (1965) S. 422 ff. (424). 88 Einen weiten Regierungsbegriff verwenden Thoma, Grundbegriffe, H d b DStR I I (1932) S. 135; Schaumann, A r t i k e l Regierung, i n : Staatslexikon V I (1961) Sp. 763; Krüger, Staatslehre S. 940, u n d Scheuner, A r t i k e l Regierung, i n : HdSW 8 (1964) S. 781, der i m übrigen den Begriff der Staatsleitung bevorzugt ( A r t i k e l Regierung, a.a.O. S. 782, Das Wesen des Staates, a.a.O. S. 206). Als eine Zusammenfassung v o n Gesetzgebung u n d vollziehender Gewalt ist auch der amerikanische Begriff des government zu verstehen, Kaiser, Repräsentation organisierter Interessen S. 162 A n m . — Z u r Entwicklung des Regierungsbegriffs s. Otto Mayer, Verwaltungsrecht I S. 2; Smend, Politische Gewalt, Abhandlungen S.78f. — Vgl. ferner BVerfGE 3, 52 (Ls. 1). 88
84 Die hier zur politischen L e i t u n g gerechneten Aufgaben sind zwar je für sich n u r durch Akzente von anderen politischen Aufgaben unterschieden (Köttgen, S t r u k t u r u n d F u n k t i o n öffentlicher Verwaltung, a.a.O. S. 785 A n m . 30), ihre Gesamtheit vermag jedoch durchaus einen neuen Sinngehalt, eben den der Regierung, zu ergeben. Stellt m a n hierauf u n d auf die zuvor dargestellte hervorragende Wichtigkeit der erwähnten politischen Aufgaben ab, so w i r d m a n Köttgens Skepsis hinsichtlich der Unterscheidbarkeit von p o l i t i scher V e r w a l t u n g u n d Regierung unter den Vorzeichen des Verwaltungsstaates (ebd. S. 786) nicht teilen müssen. Zutreffend sieht Teshima, Über den Verwaltungsstaat, a.a.O. S. 588, 590, 594, 596, die Problematik des V e r w a l tungsstaats weniger i n der Auflösung der materialen Regierungsfunktion (der „policy-Gestaltung u n d -entscheidung"), als vielmehr i n ihrer institutionellen Verlagerung auf die sachverständige V e r w a l t u n g (hierzu auch Köttgen, ebd. S. 788). Dieser Sachverhalt berührt aber nicht die Frage nach der f ü r den Staat der Gegenwart charakteristischen Funktion. 85 Lerche, Föderalismus, W D S t R L 21 S. 66 ff. (71).
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vivendi zu finden 3 6 . Er ist das Entscheidungs- und Koordinierungszent r u m der Gesellschaft 37 . I h n kennzeichnet insbesondere die Kompetenz, Leitbilder einer gerechten Gesamtordnung des Gemeinwesens aus der Gesellschaft aufzunehmen oder selbst zu entwerfen 3 8 , ihre V e r w i r k lichung anzustreben und (etwa mittels Gestaltung der Rechtsordnung) durchzusetzen — nicht zuletzt unter Berücksichtigung der von den Gruppen nur partiell protegierten elementaren Kollektivinteressen, etwa der Raumordnung und des Bildungswesens. Die Regierungsfunktion unterscheidet die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland und anderer moderner Gemeinwesen grundlegend vom Modell der sich selbst regulierenden Gesellschaft. Die Regierungsfunktion bedeutet nicht, daß i n einer von ihr geprägten öffentlichen Ordnung für Interessenkonkurrenz und gesellschaftlichen Interessenausgleich kein Raum wäre; denn die Funktionalisierung des modernen Staates schließt es aus, daß sein Handeln von den gesellschaftlichen Bedürfnissen, Konflikten und Versuchen zur Konfliktregulierung isoliert werden könnte. Aber über die bloße Gewährleistung von Spielregeln für den Konkurrenzkampf gesellschaftlicher Gruppen hinaus ist dem staatlichen Ämterwesen m i t der Regierungsfunktion von Verfassungs wegen auch eine inhaltliche Verantwortung für den status rei publicae auferlegt worden 3 9 . Die Verfassung eines staatlich geordneten Gemeinwesens setzt dem Staat bestimmte, weit gespannte Ziele — etwa, eine gerechte Wirtschaftsordnung (Art. 151 WRV), den sozialen 99
Heller, Staatslehre S. 203. Draht, A r t . Staat, a.a.O. Sp. 2122 ff., der insbesondere die staatliche Regierungsaufgabe i n dem i n stetem Wandel begriffenen industriellen Gemeinwesen betont. 99 Die Transformation gesellschaftlicher Initiativen, Forderungen u n d Bedürfnisse i n staatlich zu verwirklichende E n t w ü r f e hat das Grundgesetz den Parteien anvertraut (Art. 21 GG), die dadurch von den Verbänden normativ unterschieden sind. Ä h n l i c h Leibholz, Staat u n d Verbände, W D S t R L 24 S. 16 f., 2 2 1 ; Bernd Bender, Die Verantwortung des einzelnen i m Rechtsstaat, F A Z v o m 24. M a i 1961 ; Sontheimer, V o m Staatsbewußtsein i n der Demokratie, F A Z v o m 6. J u n i 1962. Demgegenüber versteht Werner Weber (Die T e i l u n g der Gewalten als Gegenwartsproblem, Festschr. f. Carl Schmitt S. 265) Parteien, Sozialpartner u n d Wirtschaftsverbände nicht n u r faktisch, sondern auch idealtypisch als gleichwichtige Faktoren eines „Balancesystems des P l u ralismus der oligarchischen Machtträger". — A u f anderer Ebene w i r d die rechtliche Gleichwertigkeit von Parteien u n d Verbänden vertreten von Wertenbruch, Die rechtliche Einordnung der Wirtschaftsverbände i n den Staat, i n : Gedächtnisschrift Hans Peters (1967) S. 614 ff. (630). 39 Vgl. demgegenüber Dahrendorf, Gesellschaft u n d Freiheit (1961) S. 2411, 274; Forsthoff, Die Bundesrepublik Deutschland, Umrisse einer Realanalyse, a.a.O. S. 809 f., 811 f. Dahrendorf beruft sich auf die „Rationalität" des modernen Staates, u m i h n von Utopie u n d „Fortschrittswillen" fernzuhalten (èbd. S. 2381, 249, 261), allerdings ohne zu erwähnen, daß beide zu Zeiten aufklärerischer u n d liberaler Opposition gegen Feudalismus u n d Patrimonialismus geradezu Ausdruck rationalistischen Sèlbstverstândnisses waren, vgl. Mannheim, Das konservative Denken, a.a.O. S. 78'f., 90, 95, 105, 473. 97
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Staat (Art. 20, 28 GG) zu verwirklichen 4 0 , die allgemeine Wohlfahrt (Präambel der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika), den gesellschaftlichen Fortschritt (Präambel der Weimarer Reichsverfassung) zu fördern. Insofern hat die Staatlichkeit durchaus Momente der Utopie i n sich aufgenommen 41 . I m Unterschied zur Hoffnung des W i r t schaftsliberalismus auf objektive Harmonie durch subjektive Anarchie 4 2 erwartet die Verfassung des staatlich geordneten Gemeinwesens die Verwirklichimg ihrer Ziele zumindest nicht ausschließlich von der Interessenkonkurrenz der gesellschaftlichen Kräfte. Die Staatszielbestimmungen deuten an, i n welchem Ausmaß die I n haber staatsleitender Ämter i m Rahmen der praktischen „Kunst des Möglichen" von ihrer Befugnis zur Leitung und selbständigen Koordinierung des Gemeinwesens Gebrauch machen müssen. Der Spielraum, den die Verfassung jenseits der elementaren Handlungspflichten läßt, kann durch verschiedenartige politische Zielvorstellungen und die i n ihnen vermittelten Interessen ausgefüllt werden, einschließlich der — umkämpften — Stabilisierung des Status quo, ohne daß damit die Regierungsfunktion preisgegeben wäre. Für sie ist allein entscheidend, daß die institutionelle Möglichkeit zur Leitung und selbständigen Koordinierung des Gemeinwesens besteht, daß sie insbesondere nicht durch prinzipielle Kompromißstrukturen i n der öffentlichen Ordnung — etwa ein verbändestaatliches liberum veto 4 3 — ausgeschlossen ist und daß dem Einsatz dieser Möglichkeit auch nicht eine die Verfassungsstruktur überspielende allgemein gebilligte Ideologie der Gesellschaft entgegensteht. Überblickt man aufgrund dieser Gesichtspunkte die Stellungnahmen der modernen industriellen Gemeinwesen zum Modell der sich selbst regulierenden Gesellschaft, so zeigt sich, daß sie zumindest auf Ansätze 40
I n diesen Bestimmungen des Grundgesetzes liegt sicherlich nicht eine soziologische Beschreibung der Industriegesellschaft, auch nicht eine zusammenfassende Wiederholung der sozialstaatlichen Handlungsermächtigungen der A r t . 74 f. GG, sondern eine Verpflichtung zur Sozialgestaltung: BVerfGE 1, 97 (105); 9, 125 (131); B V e r w G E 23, 149 (153); Stern, A r t . Sozialstaat, i n : Ev. Staatslexikon (1966) Sp. 2091 ff. (2094 f.). 41 Z u r Utopie s. Bäumlin, Staat, R e d i t u n d Geschichte S. 21; speziell unter dem Gesichtspunkt der Planung Mannheim, Mensch u n d Gesellschaft i m Zeitalter des Umbaus S. 238 A n m . ; Kaiser, i n : Planung I S. 14 f. (oben §12 Anm. 14). 42 Vgl. Habermas, S t r u k t u r w a n d e l der Öffentlichkeit S. 99. — Kritisch zum liberalen Modell Mannheim, Mensch u n d Gesellschaft i m Zeitalter des U m baus S. 243 f.; Ehmke, Staat u n d Gesellschaft, a.a.O. S. 43 f.; Krüger, Staatslehre S. 473 ff., 481. 43 Vgl. die Bemerkung des Bundeskanzlers E r h a r d i m Bull. BReg. v o m 21. J u l i 1965 Nr. 124/S. 1008. — Siehe ferner die Hinweise auf Riesmans „Hochebene der Vetogruppen" bei Dahrendorf, Gesellschaft u n d Freiheit S. 350, u n d Werner Weber, Gewaltenteilung als Gegenwartsproblem, a.a.O. S. 266.
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der Regierungsfunktion nicht glauben verzichten zu können 4 4 . Das gilt selbst für ein dem strukturellen Interessenkompromiß so stark verhaftetes Gemeinwesen wie die Republik Österreich 45 : Jedenfalls i n der Programmatik ihrer Parteien verzichtet sie nicht auf die Aufgabe des Staates, über die Gewährleistung der Spielregeln hinaus zumindest „die Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Leistungsgruppen i m Sinne des Gemeinwohls zu zügeln" 4 6 . Dieses Zugeständnis an die Regierungsfunktion w i r d noch weitaus eindringlicher i n den angelsächsischen Staaten deutlich, die — allerdings ohne die ständestaatlichen Verhärtungen des Proporzsystems, sondern i n der Spielart des Konkurrenzsystems — dem Modell der sich selbst regulierenden Gesellschaft als Beispiel dienen 47 . Zwar hatte i n den Vereinigten Staaten von Amerika die liberale Ideologie des 19. Jahrhunderts die Verfassung von 1787, die sich m i t ihrer Präambel, den staatlichen Befugnissen und dem Kompetenzkatalog zur Regierungsfunktion bekannte, teilweise überspielt, indem sie entscheidende Probleme des Gemeinwesens privatisierte 4 8 . M i t dem New Deal mußte der Liberalismus jedoch zumindest in Ansätzen die staatliche Leitungsverantwortung akzeptieren 49 . Speziell das Grundgesetz hat m i t dem oben angedeuteten Katalog der Leitungsaufgaben und seinem Sozialgestaltungsauftrag i n A r t . 20 Abs. 1 sich für die Leitungsverantwortung des Staates und damit gegen seine Reduktion auf die Registrierung von gesellschaftlichen Interessenkompromissen entschieden. Denn der Auftrag zur Sozialgestaltung, zur Innovation der Gesellschaft, kann allein i m Wege des Kompromisses zwischen den betroffenen Interessen nicht erfüllt werden 4 9 a . Darüber 44
S. o. §12 m i t A n m . 32. Lehmbruch, Proporzdemokratie (1967) S. 20 ff.; Theodor Pütz, Verbände u n d Wirtschaftspolitik i n Österreich (1966) passim, insbesondere S. 219 ff. über die Konflikte zwischen Gruppeninteressen. — Lehmbruch, ebd. S. 39, erblickt den wissenschaftlichen Reiz der Proporzsysteme „zuförderst (in den) eigentümlichen Schwierigkeiten des Regieren« unter den hier gegebenen Bedingungen". 49 So das „Klagenfurter Manifest" der ÖVP von 1965, i n : Klaus Berchtold, österreichische Parteiprogramme 1868—1966 (1967) S. 400; weitergehend i m Sinne selbständiger staatlicher Wirtschaftsr u n d Landwirtschaftspolitik die SPÖ, i m „Programm f ü r Österreich" von 1966, ebd. S. 312, 314. 47 Z u m englischen Parlamentarismus des 19. Jahrhunderts, der das Gesamtinteresse als „Resultante i m Kräfteparallelogramm gruppenmäßig bestimmter Sonderinteressen" verstand, vgl. Fraenkel, Die repräsentative u n d die plebiszitäre Komponente i m demokratischen Verfassungsstaat (1958) S. 15. 49 Z u m P r i m a t der Gesellschaft vgl. Leibholz, Staat u n d Gesellschaft i n England, Festschr. f. Thoma S. 109 ff.; Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen S. 69 ff.; v. d. Gablentz, Staat u n d Gesellschaft, PVS I I S. 2, 9; Fraenkel, Pluralismus, a.a.O. S. 23. 49 M i t Rücksicht auf die erwähnte Konzeption der Verfassung von 1787 ist es allerdings nicht zwingend geboten, erst i m New Deal Amerikas „Durchbruch zur Staatlichkeit" zu sehen (so Krüger, Staatslehre S. 7). 49a Vgl. Lehmbruch, Proporzdemokratie S. 50 f. 49
§ 12 Die politische Leitungsgewalt
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hinaus hat das Grundgesetz m i t der Konstituierung des Mehrheitsprinzips (Art. 77 i. Verb. m. A r t . 121, 52 Abs. 3 S. 1, 63) und der Beschränkung des Zwangs zum Kompromiß auf Verfassungsänderungen, sofern eine hinreichend starke Opposition vorhanden ist (Art. 79 Abs. 2), klargestellt, daß sein Konfliktsregelungsmodell grundsätzlich das der Entscheidung und nicht das des „gütlichen Einvernehmens" zwischen allen — etablierten — Interessen i s t 4 9 b . Die Problematik gegenwärtiger Staatlichkeit dürfte nach all dem weniger i n der Ermittlung des Selbstverständnisses einer Verfassungsordnung — etwa des Grundgesetzes — liegen, als vielmehr i n der Realisierungschance der von der Verfassung entworfenen Staatlichkeit. Das gilt vor allem für das Problem der Gruppenmacht 50 . Das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland bezieht nur einen Teil der Gruppen für bestimmte Aufgaben m die öffentliche Ordnung ein (Art. 9 Abs. 3 GG). I m übrigen beschränkt es sie auf die „freie Darstellung" ihrer Interessen „gegenüber Staat und Parteien" 5 1 (vgl. A r t . 9 Abs. 1 GG und die korrespondierenden Anhörungsrechte gemäß A r t . 17 GG, § 73 Abs. 2 GOBT, § 10 GOBReg, § 23 GemGO B M i n II 5 2 ). I m Wege über Parlamentsmandate und staatliche Ämterbesetzung sind die Gruppen jedoch tatsächlich i n der Lage, ζ. B. die verfassungsmäßige Verantwortung des Staates für die nichtprotegierten Kollektivinteressen zu verkürzen. I m Unterschied zur soziologischen Bestandsaufnahme hat sich jedoch die verfassungsrechtliche Begriffsbildung so lange am verfassungsrechtlich ermittelten Sinngehalt der gegenwärtigen Staatlichkeit zu orientieren, als i h m nicht jegliche Realisierungschance entzogen ist und i h m nicht jegliche Resonanz i m Bewußtsein der Gesellschaft fehlt. Das bedeutet i n diesem Zusammenhang: Solange noch die Warnung vor der Überwältigung der dem Gemeinwohl verpflichteten Parteien durch die Verbände 58 i n der Gesellschaft Widerhall findet und die verfassungsrechtlichen Absagen an den „Verbändestaat" — ζ. B. die staatliche Bestimmung von „Richtlinien der P o l i t i k " (Art. 65 S. 1 GG), der gleiche Zugang zu den öffentlichen Ämtern (Art. 33 Abs. 2 GG), die Unabhängigkeit des Abgeordneten von der Verbandspolitik (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) — we4& *> Die Gegenläufigkeit von Mehrheitsentscheidung u n d „amicabilis compositio" betont zutreffend Lehmbruch, Proporzdemokratie S. 7, 20 f., 57. 50 Statt vieler: Winkler, Staat u n d Verbände, W D S t R L 24, 34 ff. (54 ff. m. Nachw. i n A n m . 30); Lerche, Föderalismus, W D S t R L 21, 66 ff., 92 f. m. w . Nachw.); Evers, Verbände — V e r w a l t u n g — Verfassung, i n : Der Staat Bd. 3 (1964) S. 41 ff. 51 BVerfGE 22, 56 (107). 62 Weniger zurückhaltend gegenüber den Gruppen ist das Verwaltungsorganisationsrecht der Bundesrepublik Deutschland; vgl. hierzu Werner Weber, Die Sozialpartner i n der Verfassungsordnung, a.a.O. S. 250 ff. m. w. Nachw. M Leibholz, Staat u n d Verbände, W D S t R L 24 S. 27 ff.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
nigstens t e i l w e i s e noch e r n s t g e n o m m e n w e r d e n 5 4 , b r a u c h t Verfassungsrecht noch n i c h t z u r Soziologie z u w e r d e n , v e r l i e r t es n i c h t seine „ n o r mative Kraft" 55. S o m i t erscheint es zulässig u n d geboten, d i e verfassungsrechtlichen u n d tatsächlichen G e s i c h t s p u n k t e z u r K e n n z e i c h n u n g d e r S t a a t l i c h k e i t d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d w i e f o l g t zusammenzufassen: I m Kreis d e r p o l i t i s c h e n F u n k t i o n e n , d i e a u f d i e ö f f e n t l i c h e n I n s t i t u t i o n e n des G e m e i n w e s e n s v e r t e i l t sind, n i m m t d i e W a h r n e h m u n g d e r f ü r das Gem e i n w e s e n besonders b e d e u t s a m e n ö f f e n t l i c h e n A u f g a b e n eine S o n d e r s t e l l u n g ein. Das G r u n d g e s e t z h a t diese A u f g a b e n w e i t a u s ü b e r w i e g e n d d e m s t a a t l i c h e n Ä m t e r w e s e n a n v e r t r a u t . N u r d u r c h ausnahmsweise u n d spezielle Z u w e i s u n g ( A r t . 9 A b s . 3, 24 GG) h a t es n i c h t s t a a t l i c h e Institutionen an ihnen beteiligt. H i e r i n liegt ein wichtiger H i n w e i s auf d i e L e i t u n g s - u n d K o o r d i n i e r u n g s f u n k t i o n d e r ü b e r w i e g e n d f ü r die wichtigsten öffentlichen Aufgaben verantwortlichen Institution. Die Befugnisse des s t a a t l i c h e n Ä m t e r w e s e n s lassen e r k e n n e n , daß diese überwiegende Leitungsverantwortung des Staates — d i e Regierung im m a t e r i a l e n S i n n e — n i c h t z u f ä l l i g ist, s o n d e r n d i e F u n k t i o n des Staates 54 Kritische Darstellung der Ämterpatronage bei Evers, Verbände — V e r w a l t u n g — Verfassung, a.a.O. S. 45 ff. Andererseits ist beispielhaft f ü r die Problematik die These Wertenbruchs (a.a.O. [oben § 12 A n m . 38] S. 631), die hier i m Hinblick auf die Verbände vertretene traditionelle Auslegung des A r t . 38 Abs. 1 S. 2 G G habe „sich längst als zu naiv herausgestellt, als daß man sie noch länger als Feststellung oder Gebot wahrhaben könnte". 55 Hesse, Die normative K r a f t der Verfassung (1959) S. 12 f., 18. — I m Sinne des Textes n i m m t ein erheblicher T e i l des Schrifttums auch unter Berücksichtigung neuerer gegenläufiger Entwicklungen den Fortbestand der durch Regierungsfunktion u n d Souveränität gekennzeichneten Staatlichkeit an. Gegenüber internationalen Verflechtungen: Langemeijer, Betrachtungen zum Begriff der Souveränität, i n : Festschr. f. Leibholz (1966) Bd. 2 S. 91 ff. (105); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 44 f.; Doehring, Internationale Organisation u n d staatliche Souveränität, Festgabe f ü r Ernst Forsthoff (1967) S. 105 ff. (121 î.)\ Mosler, Die völkerrechtliche W i r k i m g bundesstaatlicher V e r fassungen, Festschr. f. Thoma S. 132, 144, 172; Leibholz, Strukturprobleme S. 258 f.; Bernhardt, Abschluß völkerrechtlicher Verträge S. 8; Hennis , Souveränität S. 127 ff.; Scheuner, W D S t R L 21 S. 123 f., u n d trotz der Konstatierung eines „Übergangsstadiums" w o h l auch Loewenstein, Souveränität u n d zwischenstaatliche Zusammenarbeit, AöR 80 S. 1 ff. (48 f.). — Gegenüber P l u ralisierung u n d Entpolitisierung i m I n n e r n des Gemeinwesens: Fraenkel, Pluralismus, 45. D J T I I Β S. 27; Bäumlin, Staat, Recht u n d Geschichte S. 19 f.; Kaiser, Repräsentation organisierter Interessen S. 320; Ders., A r t i k e l Staat, i n : Staatslexikon V I I (1962) Sp. 591; Scheuner, Das Wesen des Staates, a.a.O. S. 238 Anm. 51, 251, 255; Smend, A r t i k e l Staat, a.a.O. Sp. 1107; Carlo Schmid, i n : Soziale Autonomie u n d Staat S. 36 f.; Sontheimer, A r t i k e l Pluralismus, i n : Fischer-Lexikon (Politik); Badura, W D S t R L 22 S. 350; Ders., W D S t R L 23 S. 49; Leibholz, Staat u n d Verbände, W D S t R L 24 S. 26. — A . A . Ehmke, Staat u n d Gesellschaft, a.a.O. S. 44; v. d. Gablentz, Der K a m p f u m die rechte Ordnung S. 101; Ders., Staat u n d Gesellschaft, PVS I I S. 23 A n m . 79 (anders die Akzentsetzung i n : K a m p f u m die rechte Ordnung S. 85 u n d PVS I I S. 18); Schelsky, zit. bei Scheuner, Das Wesen des Staates, a.a.O. S. 251 m i t A n m . 99; Herschel, Tariffähigkeit u n d Unabhängigkeit, JZ 1965 S. 81, sowie die oben § 12 Anm. 39 Genannten.
§ 12 Die politische Leitungsgewalt
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i m Gemeinwesen z u m Ausdruck bringt. D e n n die n u r p u n k t u e l l einges c h r ä n k t e K o n z e n t r a t i o n d e r E i n g r i f f s - (oder Herrschafts-) Befugnisse, die Kompetenzkompetenz u n d die n u r negativ begrenzte Befugnis, v o m zulässigen Z w e c k a u f die Z u l ä s s i g k e i t des e r f o r d e r l i c h e n M i t t e l s z u schließen, b e g r ü n d e n v o n Verfassungs w e g e n das „ Z u - h ö c h s t - S e i n " des Staates i m sozialen Bereich, das a l l e i n d u r c h d i e F u n k t i o n der R e g i e r u n g g e r e c h t f e r t i g t ist. B e i d e A u s s a g e n ü b e r d i e g e g e n w ä r t i g e S t a a t lichkeit — die Regierung u n d die Souveränität — sind voneinander a b h ä n g i g , w i e auch das G r u n d g e s e t z „ d i e s t a a t l i c h e n A u f g a b e n u n d B e fugnisse" i n A r t . 30 g e m e i n s a m e r w ä h n t 5 6 . U m d e n Z u s a m m e n h a n g v o n R e g i e r u n g u n d S o u v e r ä n i t ä t festzuhalten, w i r d i m f o l g e n d e n v o n „ p o l i tischer Leitungsgewalt" gesprochen w e r d e n 5 7 . Sie bezeichnet d i e j e n i g e n A u f g a b e n u n d Befugnisse des s t a a t l i c h e n Ä m t e r w e s e n s , d i e es u n t e r d e r G e l t u n g des Grundgesetzes v o n a l l e n a n d e r e n v e r f a s s u n g s m ä ß i g g e o r d n e t e n I n s t i t u t i o n e n des G e m e i n w e s e n s u n t e r s c h e i d e t 5 8 . 56 Die Kontroverse, ob Souveränität lediglich eine formale Eigenschaft der Staatsgewalt sei (so die überwiegende Ansicht, s. Walter Schmidt, Der b u n desstaatliche Aufbau S. 14 f., 21 m. w . Nachw.) oder als inhaltliche Forder u n g begriffen werden müsse (Bäumlin, Staat, Recht u n d Geschichte S. 19), verliert an Schärfe, wenn die Untrennbarkeit von Aufgabe u n d Herrschaft zugegeben w i r d . Es wäre dann lediglich eine terminologische Frage, ob „Souveränität" n u r das herrschaftlich-formale Moment der Gesamtersdieinung oder diese selbst, einschließlich ihres materialen Gehalts, bezeichnen soll (letzteren Weg wählen Haenel, Staatsrecht I S. 796; Smend, Staat u n d Kirche, Abhandlungen S. 419, u n d w o h l auch Hennis , Souveränität S. 71 f.; Dérs., P o l i t i k S. 76). 57 Die politische Leitungsgewalt w i r d — allerdings ohne Berücksichtigung der vereinzelten Leitungsaufgaben nichtstaatlicher Institutionen — bei u n terschiedlicher Terminologie ähnlich umschrieben von Lorenz v. Stein, H a n d buch der Verwaltungslehre I . T e i l (1887) S. 96 ff.; Haenel, Staatsrecht I S. 796, 110, 227; Studien zum deutschen Staatsrecht I I S. 220; Smend, Politische Gewalt, Abh. S. 79 ff.; Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft i m Bundesstaat S. 95 f.; Ders., Krise der Gemeindeverwaltung i m heutigen Staat S. 1 5 1 ; Thoma, Grundbegriffe, HdbStR I I S.1351; E.Kaufmann, Grenzen der V e r fassungsgerichtsbarkeit, W D S t R L 9 S.7; Carlo Schmid , i n : Soziale Autonor mie u n d Staat S. 3 6 1 ; Schaumann, A r t i k e l Regierung, i n : Staatslexikon V I Sp. 763; Scheuner, Das Wesen des Staates und der Begriff des Politischen, a.a.O. S. 258 ff ; Ders., A r t i k e l Regierung, H d S W 8 S. 781 ff.; Krüger, A l l g e meine Staatslehre S. 690; H.J.Wolff , Verwaltungsrecht I §18 I b; Lerche, Föderalismus, W D S t R L 21 S. 71; Badura, A r t . Regierung, i n : Ev. Staatsl e x i k o n Sp. 1837; Draht, A r t . Staat, i n : Ev. Staatslexikon Sp. 2122 f l ; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 197 f.; Teshima, Über den Verwaltungsstaat, a.a.O. S. 587; Kassimatis, Der Bereich der Regierung (1967) S. 30 ff., 53 (allerdings unter Beschränkung auf die situationsbezögene Leitung) m. w. Nachw. — Auch Leibholz (Strukturprobleme der modernen Demokratie S. 160 f.) betont den Unterschied zwischen V e r w a l t u n g u n d Regierung i. S. der Staatsleitung, verbindet diesen Begriff jedoch m i t der Vorstellung, daß die Regierung „überparteilich das Volksganze repräsentieren soll"; ebenso Kassimatis, Regierung S. 32.
Staatstheoretisch ist der Fortbestand der politischen Leitungsgewalt i n sofern bemerkenswert, als sich aus i h m f ü r zahlreiche Gemeinwesen insbesondere des westlichen Kulturkreises die K o n t i n u i t ä t des Staatsbegriffs seit dem Absolutismus (näher Gerhard Oestereich, Ständetum und Staats-
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat § 13 Die demokratische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland 1. Autorisierung und politische Leitung
Für das Verständnis des „demokratischen Bundesstaates" ist es entscheidend, wie das Grundgesetz die Grundbeziehungen zwischen dem staatlichen Ämterwesen und „dem V o l k " geordnet hat. Insbesondere w i r d sich erst dann zeigen, i n welchem Sinne von „Volkssouveränität", von „unverzichtbaren Rechten des Volkes", von selbständigen demokratischen Landesstaatsgewalten gesprochen werden kann, die bei Zuständigkeitsübertragungen innerhalb des bundesstaatlichen Gefüges nach herrschender Auffassung preisgegeben werden (vgl. oben § 5). Die Interpretation der demokratischen Ordnung hat zwei Fragenkreise zu trennen: die Entstehung und Institutionalisierung staatlicher Autorität einerseits und die Ausübung politischer Leitungsgewalt und die hierauf gerichtete politische Mitbestimmung der Gesellschaft andererseits. Die Erörterung der Struktur von Staat und Gemeinwesen hat bereits deutlich gemacht, daß das politische Gemeinwesen („das Volk") weder durchgängig als Einheit noch ausschließlich als pluralistische Vielheit gelten kann (oben § 11, 1.). Das Volk w i r d vom Grundgesetz als Einheit verstanden, soweit es u m das agreement on fundamentals geht. Lediglich diese elementare Solidarität des Volkes ist angesprochen, wenn das Grundgesetz anordnet, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen müsse (Art. 20 Abs. 2 S. 1), daß m. a. W. das Ämterwesen vom Volke autorisiert sein müsse1. I m Problemkreis konkreten staatlichen Handelns hingegen, der vom Grundgesetz m i t dem Stichwort der „Ausübung der Staatsgewalt" bezeichnet w i r d (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG), insbesondere i m Problemkreis der politischen Leitung, hat das Grundgesetz die traditionelle Fiktion der Einheit mit der Konstituierung der Mehrparteienstaatlichkeit ausdrücklich verworfen. bildung i n Deutschland, i n : Der Staat Bd. 6 [1967] S. 61 ff. [69 ff.]) ergibt, falls man, w i e hier vorgeschlagen, die n u r noch überwiegende Leitungsverantwortung als F u n k t i o n des Staates akzeptiert u n d sie zusammen m i t der traditionellen umfassenden Leitungsgewalt zu dem Begriff der „zumindest (!) überwiegenden Leitungsverantwortung" oder der „politischen Leitungsgewalt" verbindet. Vorabsolutistische u n d vergleichbare Ordnungen könnten m i t Max Weber unter d e m Allgemeinbegriff des „politischen Systems" zusammengefaßt werden (ablehnend Hättich, Der Begriff des Politischen bei M a x Weber, PVS V I I I [1967] S.40ff. [44f.]); dieser Begriff könnte dem an formaler Allgemeinheit interessierten Völkerrecht als Anknüpfungspunkt für Redite u n d Pflichten der „Völkerrechtssubjekte" dienen. 1 Der Begriff der Autorisierung w i r d hier gewählt, w e i l er anschaulicher als der der L e g i t i m i t ä t die bewußte, rational u n d verfassungsmäßig k o n trollierte Verleihung von A u t o r i t ä t bezeichnet. Vgl. auch die amerikanische Terminologie: V o m V o l k „springs out a l l legitimate authority", Schwartz, Commentary on the Constitution I (1963) S. 35.
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Die Bedeutung dieser Trennung von Autorisierung und politischer Leitung ist kaum zu überschätzen. Sie stellt zunächst klar, daß Opposition gegen die vom Ämterwesen vertretene Politik den Opponenten nicht i n die Holle des „Staatsfeindes" drängt und daß nur die Infragestellung des agreement on fundamentals als Gefährdung des Staates angesehen werden kann. Vergröbert ließe sich sagen: M i t der Unterscheidung zwischen dem „Ursprung" und der „Ausübung" der Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 GG) spricht das Grundgesetz zwei verschiedene „Schichten der Zwietracht" 2 an: die von Verfassungs wegen i n k r i m i nierte (Art. 21 Abs. 2, 18, 79 Abs. 3 GG) und die verfassungsrechtlich vorausgesetzte „Zwietracht" (Art. 21 Abs. 1 GG) 2 a . Die Trennung von Autorisierung und politischer Leitung macht aber auch deutlich, daß die Verfassungsinterpretation, die sich um die demokratische Ordnung bemüht, an die Verfassung grundsätzlich zwei Fragen zu richten hat: Wie ordnet sie die Autorisierung des Ämterwesens und wie gestaltet sie den Einfluß der Gesellschaft auf die politische Leitung? M. a. W.: welche Verfassungsform hat das Gemeinwesen und welche Regierungsform hat der Staat 8 ? Die fehlende Differenzierung zwischen beiden Problemkreisen hat i n der Interpretation der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes zu einem „Alles-oder-nichts-Standpunkt" geführt, der i n der praktischen Konsequenz für die Regierungsform ein demokratisches Nichts zur Folge hat. Wenn der Satz: „ A l l e Staatsgewalt geht vom Volke aus" nicht auf den Problemkreis der Autorisierung beschränkt bleibt, sondern auf den der politischen Leitung erstreckt wird, so muß dem Grundgesetz die N o r m entnommen werden, daß alles staatliche Handeln vom politisch homogenen Volkswillen konkret bestimmt werden soll. Ein Blick auf die Bedingungen des modernen Flächenstaates genügt dann bereits, u m die demokratische Grundentscheidung, daß „alle" Staatsgewalt vom Volke ausgeht, als „inhaltslos" zu charakterisieren und i n ihr lediglich eine historische Reminiszenz, ein „formales Prinz i p " 4 oder einen „mehr rechtsideellen" 5 Grundsatz zu sehen. Zumindest dürfte die „ i n ihrem Umfang ständig wachsende und sich komplizie2 Ortega y Gasset, Über das römische I m p e r i u m (1942), Ausgabe Reclam S. 10 ff. Ä h n l i c h Niebuhr, Consensus i n einer demokratischen Gesellschaft, PVS I I (1961) S. 202 ff. (202). 2 » Kritisch zur Ausschaltung der Fundamentalopposition durch das G r u n d gesetz Agnoli-Brückner, Die Transformation der Demokratie (1967) S. 76, 81 ff. Vorbehalte auch bei Sattler, Das Prinzip der „funktionellen Integra-
tion" S. 6.
3 Vgl. H. J. Wolff, Organschaft u n d juristische Person I S. 499, u. bereits v. Gierke, Genossenschaftsrecht I V , S. 221. 4 So Thieme, „ A l l e Staatsgewalt geht v o m Volke aus", JZ 1955 S. 6571; Hamann, Das Grundgesetz, Einführung S. 34, Vorbem. vor A r t . 38, S. 270. 5 t>. Mangoldt - Klein, GG A r t . 20, V 5 S. 596.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
rende Staatsverwaltung" vom demokratischen Standpunkt aus nicht anders denn als „Einschränkung und Verfälschung" gewertet werden®. Da die vermeintlich begriffsnotwendige Forderung „der" Demokratie, „daß alle Staatstätigkeit durch das Volk geschehen" müsse, nicht vollziehbar ist, w i r d sie auf eine „ n u r prinzipielle" Bedeutung reduziert, der auch „auf indirektem Wege" 7 — durch autoritäre Repräsentation — Genüge getan werde. A u f der anderen Seite hat eine Interpretation der demokratischen Ordnung, die sie auf das Autorisierungsproblem beschränkt, die Vermutung der Unvollständigkeit gegen sich. Denn sie müßte sich damit auseinandersetzen, ob die Verfassung auf der Grundlage der demokratischen Verfassungsform eine demokratische oder eine autoritäre Regierungsform konstituiert hat. Der überwiegende Teil der deutschen Staatsrechtslehre hat sich ohne Auseinandersetzung m i t dem Problemkreis der „Ausübung der Staatsgewalt" (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) für eine autoritäre Regierungsform entschieden (vgl. unten § 13, 3.). Die demokratischen Wahlen (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) werden hierbei aus ihrem Zusammenhang m i t der „Ausübung der Staatsgewalt" gelöst und ausschließlich dem Problemkreis des „Ursprungs" der Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG) zugeordnet. Hiernach bringt die moderne Demokratie nur „ i n verfassungsmäßige Beziehungen, was i n der älteren politischen Theorie schon angelegt w a r " : den consensus der Beherrschten m i t der öffentlichen Grundordnung und m i t der A r t ihrer Respektierung durch die Amtswalter. „Was, bis zur Widerlegung durch das Gegenteil i n der Ausübung des Widerstandsrechts, i n der alten Staatstheorie stillschweigend unterstellt wurde, muß i m modernen Verfassungsstaat durch Wahlen und Abstimmungen unter Beweis gestellt werden 8 ." Thema des Widerstandsrechts war aber nicht die politische Leitung, sondern die Autorisierung; das Widerstandsrecht wurde erst aktuell m i t dem Verrat des Herrschers an den Grundlagen der öffentlichen Ordnung, der „ersten Schicht" des Gemeinwesens 9 . Sind somit Wahlen lediglich ein Moment der Autorisierung, so entscheiden über die Richtung der politischen Leitung nicht die Wählenden, sondern die ihrem Gewissen — oder einem Interessenclearing — unterworfenen Gewählten. Zur Vorbereitung der Vertrauenskundgabe für die i m Rahmen 9
Heiler, Staatslehre S. 247. Hamann, GG, S. 34. 9 Hennis, Amtsgedanke u n d Demokratiebegriff, a.a.O. S. 60. 9 Vgl. Wolzendorff, Staatsrecht u n d Naturrecht i n der Lehre v o m Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt (1916) S. 516 ff.; Heyland, Das Widerstandsrecht des Volkes gegen verfassungswidrige Ausübung der Staatsgewalt i m neuen deutschen Verfassungsrecht (1950) S. 11, 28 f.; H. J. Iwand u n d Ernst Wolf, E n t w u r f eines Gutachtens zur Frage des Widerstandsrechts nach evangelischer Lehre, i n : Herbert Kraus, Der Remer-Prozeß (1953) S. 10. 7
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der Grundordnung beliebig entscheidenden Führer oder Führungsgruppen w i r d von der Wählerschaft allenfalls erwartet, daß sie sich „Gedanken macht über die Qualität" (nicht über die politischen Ziele!) „ihrer höchsten Officienhaber" 10 , insbesondere über ihre Verfassungstreue 11 » Die vom Grundgesetz aufgenommene Unterscheidung zwischen dem „Ursprung" und der „Ausübung" der Staatsgewalt, die hier als Unterscheidung zwischen Autorisierung und politischer Leitung interpretiert wird, geht auf die Theorie des Mittelalters zurück. Unbeschadet ihrer vielfältigen Divergenzen hatte diese Theorie doch einhellig das konkrete Handeln der Amtswalter von der „Trägerschaft", der „Substanz" des Imperiums getrennt. Der Abschluß des Gesellschaftsvertrages erwies das Volk als den „Ursprung" des Imperiums. Hiermit sollte zum Ausdruck gebracht werden, „daß alles Recht und alle Autorität i n der Gemeinschaft begründet sei" 1 2 . Die Ausübung des Imperiums, die dem Herrscher vorbehalten blieb, mußte daher i m Interesse des Volkes, d. h. i m Sinne des allgemeinen Wohls erfolgen 13 . Die Auseinandersetzung, ob das Volk das ursprünglich i h m zustehende Imperium dem Herrscher quoad substantiam oder nur quoad exercitium übertragen habe 14 , berührte den einmal vollzogenen Ausschluß des Volkes von der konkreten Herrschaft, von der politischen Leitung, für den überwiegenden Teil der Theoretiker nicht 1 5 . Auch die mittelalterliche Volkssouveränitätslehre stellte nicht i n Frage, daß für den Herrscher „ein selbständiges und i m Falle der Vertragstreue unentziehbares Herrscherrecht begründet sei" 1 6 . Die Kontroverse zwischen Volks- und Fürstensouveränität betraf vielmehr „die Rechte der Gesamtheit dem einmal legitim bestellten Herrscher gegenüber" 17 , d. h. die Befugnisse zur Sicherung der ursprünglichen Autorisierung. Die bedeutsamste Konsequenz der dem Volke aufgrund der bloßen concessio imperii belassenen Substanz der Staatsgewalt bestand darin, daß es „über den pflichtvergessenen Herrscher Gericht zu halten und ihn nach Urteil und Recht zu entsetzen befugt" w a r 1 8 . 10
Hennis, Amtsgedanke, a.a.O. S. 57. Scheuner, Das repräsentative Prinzip, a.a.O. S. 233 m i t Anm. 3, S. 244. A u f die Verfassungsform (die „Staatsform") reduziert w i r d die demokratische Ordnung ausdrücklich a u d i von Badura, Verwaltungsmonopol S. 324. 12 Häfelin, Rechtspersönlichkeit des Staates S. 17. 15 Häfelin, Rechtspersönlichkeit S. 17 A n m . 110. 14 Siehe hierzu v.Gierke, Genossenschaftsrecht I I I S. 575; Häfelin, Rechtspersönlichkeit S. 20 A n m . 131, u n d oben § 2 m i t A n m . 42. 15 Weitergehend Marsilius, vgl. Scholz, Marsilius von Padua und die Idee der Demokratie, ZfPoL I (1908) S. 73, 93. 18 v. Gierke, Genossenschaftsrecht I I I S. 578; Ders., Althusius S. 124, 126. 17 v. Gierke, Genossenschaftsrecht I I I S. 575. 18 v. Gierke, Althusius S. 124. 11
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
Das Verständnis für die Unterscheidung der Problemkreise der Autorisierung und der politischen Leitung auch und gerade i n einer demokratischen Ordnung scheint m i t den voluntaristischen Staatstheorien des Absolutismus verlorengegangen zu sein. Für Rousseau nicht anders als für Hobbes t r i t t die Legitimitätsproblematik i n den Hintergrund gegenüber der Konzentration aller Macht i n einem obersten, als real vorgestellten Willen 1 9 . Die „Substanz" der Staatsgewalt gilt als Berechtigung für ihren Träger, Staatsgewalt auszuüben. I n der demokratischen Ordnung, i n der die „Substanz" der Staatsgewalt dem Volke zugerechnet wird, gilt dieses zugleich als Inhaber der Leitungsgewalt: Es regiert sich selbst. Damit entfällt auf begrifflicher Ebene die tatsächlich vorhandene Dialektik von Gemeinwesen und Ämterwesen, von Autorisierung und politischer Leitung. Volk und Staat sind dann „nicht verschiedene Dinge" 2 0 . Vielmehr w i r d die Souveränität des Staates von der des Volkes absorbiert 21 . Die konkrete Herrschaftsausübung der Wenigen über die Vielen bleibt verborgen hinter der ideologischen Sentenz: „Der Staat sind w i r . " 2. Demokratie als Verfassungsform
„ A l l e Staatsgewalt geht vom Volke aus", A r t . 20 Abs. 2 S. 1 GG. Zu untersuchen ist, w o r i n die Eigenart dieser demokratischen Autorisierung des Staates gegenüber den Legitimitätsgrundlagen jener Staaten zu sehen ist, die nicht demokratisch verfaßt sind. Das Grundgesetz erläutert die von i h m i n A r t . 20 Abs. 2 S. 1 verbindlich fixierte demokratische Legitimitätsideologie i n der Präambel: „ I m Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu w a h r e n . . . , hat das Deutsche Volk . . . kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen." Die Berufung auf die Verantwortung des Volkes, auf seinen politischen Willen und seine Ent19 Vgl. v.Gierke, Althusius S. 84, 176 f., 189 f., 202; Hennis, Amtsgedanke u n d Demokratiebegriff, a.a.O. S. 55, 62. — Freund, Die Grundgedanken der politischen Philosophie von J.J.Rousseau, i n : Der Staat Bd. 7 (1968) S. 1 ff. (6), weist darauf hin, daß P o l i t i k f ü r Rousseau „strenge Organisation des Willens" ist. 20 So Carlo Schmid (Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, JöR 1 S. 198) zur Begründung des A r t . 20 Abs. 2 Satz 1 GG. 21 Doehring, Internationale Organisation u n d staatliche Souveränität, i n : Festgabe f ü r E. Forsthoff (1967) S. 105 ff. (110 f.); v. d. Gablentz, Der K a m p f u m die rechte Ordnung S. 101; Heller, Souveränität S. 76 (richtig hingegen i n : Staatslehre S. 163 f.); Leibholz, Repräsentation S. 78, 128 ff. Kritisch Köttgen, AöR S. 303; Henke, Verfassunggebende Gewalt S. 44 ff. — Vertiefend zur Identität v o n Regierenden u n d Regierten bei Rousseau, insbesondere zur Abhängigkeit der Regierung von der dem Volke zugerechneten volonté générale: Schmidt - Aßmann, Der Verfassungsbegriff i n der deutschen Staatslehre der A u f k l ä r u n g u n d des Historismus (1967) S. 64 ff.
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Scheidung über Staatsziele und Grundlagen des politischen Prozesses verbindet die Präambel des Grundgesetzes insbesondere m i t den Präambeln der Weimarer Reichsverfassung, der Verfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Verantwortung des Volkes für seine politische Ordnung impliziert eine Reihe von Absagen an andere Legitimitätsideologien. Die demokratische Verfassung beruht entgegen der romantisch-konservativen Theorie nicht auf geschichtlichem „Wachstum" 2 2 , sondern auf bewußter Gestaltung. Sie ist ein Ordnungsentwurf, der der Wirklichkeit normierend und rationalisierend gegenübertritt und den romantisch-konservativen „Kurzschluß m i t der Praxis" 2 3 v e r w i r f t 2 4 . Verantwortliche Autorisierung des Staates bedeutet sodann, daß staatliche Autorität aus dem Gemeinwesen selbst hervorgeht und — entgegen etwa dem Selbstverständnis der Monarchen „von Gottes Gnaden" 2 5 — nicht aus transzendenten Quellen 26 . Verantwortung verweist ferner auf rational einsichtige, bewußte Entscheidung. Verfassunggebende Gewalt des Volkes ist daher nicht „stets und notwendig ungeformt" und m i t öffentlicher (oder gar veröffentlichter) Meinung identisch 27 , sondern zumindest auch ein organisierter A k t . Sie setzt voraus, daß die Angehörigen des d k meinwesens zur handlungsfähigen Gruppe sich organisieren oder orga22 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts § 273 a. E. Z u Burke u n d de Maistre s. Mannheim, Das konservative Denken, a.a.O. S. 123, 129; Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus, a.a.O. S. 40. — M i t romantischkonservativen Kategorien glauben insbesondere Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 82 ff., u n d Henke, Verfassunggebende Gewalten S. 25, die demokratische Autorisierung erläutern zu können. Folgerichtig schließt Henke (maschschr. Diss. S. 158) von der soziologischen S t r u k t u r der Parteien unmittelbar auf den W i l l e n des Volkes: „ A u c h k a m der verfassunggebende W i l l e des Volkes i n dem autoritären u n d plebiszitären Charakter der Parteien zum Ausdruck". „Daraus (!) muß auf einen starken W i l l e n zu A u t o r i t ä t u n d Diszip l i n geschlossen werden." 28 Vgl. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 345, sowie Justus Mosers Auseinandersetzung m i t Voltaire, bei Mannheim, Das konservative Denken, a.a.O. S. 129 ff. 24 Z u r „normativen Verfassung" s. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 10 ff. 25 Z u r monarchischen Legitimitätsideologie s. Max Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft I S. 130 ff.; Leibholz, Repräsentation S. 141; Carl Schmitt, V e r fassungslehre S. 2821; v.Gierke, Genossenschaftsrecht I I I S. 535, 558, 629. M Vgl. hierzu Smend, Das Problem des öffentlichen u n d der Öffentlichkeit, a.a.O. S. 17; Ders., Verfassung u n d Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 222; Carlo Schmid, Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, JöR 1 S. 199. Demgegenüber hält Forsthoff, Der totale Staat (1933) S. 30, n u r eine transzendente Begründung der A u t o r i t ä t f ü r möglich; durch einen A u f t r a g des Volkes könne sie nicht geschaffen werden. 27 So jedoch Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 82 ff., 247; auch eine „ s t i l l schweigende Betätigung" der verfassunggebenden Gewalt des Volkes sei möglich, ebd. S. 91.
11 Hempel
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
n i s i e r t w e r d e n 2 8 . D . h. das a u t o r i s i e r e n d e V o l k i s t n i c h t „ v o r s t a a t l i c h " 2 8 a , s o n d e r n es b e d a r f d e r A k t i v i e r u n g d u r c h eine staatliche oder staatsä h n l i c h e O r g a n i s a t i o n . O b diese e f f e k t i v e u n d d a m i t v o n d e n e i n z e l n e n A n g e h ö r i g e n des G e m e i n w e s e n s z u v e r a n t w o r t e n d e A u s ü b u n g d e r v e r fassunggebenden G e w a l t sich i n d e n t r a d i t i o n e l l e n B a h n e n d e r W a h l e i n e r N a t i o n a l v e r s a m m l u n g oder des R e f e r e n d u m s ü b e r d e n E n t w u r f eines V e r f a s s u n g s k o n v e n t s v o l l z i e h t 2 9 oder ob m i t t e l b a r g e w ä h l t e G r e m i e n d i e V e r f a s s u n g verabschieden u n d d i e h i e r d u r c h geschaffenen Institutionen i n organisierten W a h l e n Z u s t i m m u n g f i n d e n 2 9 a , ist zweitr a n g i g . E n t s c h e i d e n d i s t a l l e i n , daß das V e r f a h r e n es gestattet, d e m V o l k unbeschadet d e r i n diesem Prozeß w i r k s a m e n oligarchischen M o mente die H e r v o r b r i n g u n g der Verfassung zuzurechnen 30. V e r a n t w o r t l i c h e A u t o r i s i e r u n g des Staates d u r c h das gesamte V o l k , v e r m i t t e l t d u r c h d i e o r g a n i s i e r t e H e r v o r b r i n g u n g d e r V e r f a s s u n g , ist n u r d e n k b a r , w e n n einerseits der s t a t u s r e i p u b l i c a e offen, d e r b e w u ß t e n G e s t a l t u n g z u g ä n g l i c h i s t u n d w e n n andererseits t e n d e n z i e l l a l l e A n g e h ö r i g e n des G e m e i n w e s e n s als f ä h i g gelten, a u f d i e G r u n d f r a g e n 98
Heller, Staatslehre S. 278; Ders., Rechtsstaat oder D i k t a t u r S. 20; Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung S. 86 f. ; vgl. auch Hesse, Parteien, W D S t R L 17 S. 49. Steiner, Verfassunggebende Gewalt S. 58, 61, 74. Z u eng Eschenburg, Über A u t o r i t ä t (1965) S. 168, der die Voraussetzungen „ f ü r eine institutionelle A u t o r i t ä t i n der Demokratie" n u r i n der „grundsätzlichen Bejahung der Verfassung durch die überwiegende Mehrheit des Volkes" sieht, ohne die Teilhabe der Aktivbürgerschaft an der Verfassungsgesetzgebung einzubeziehen. 28 a Vgl. hierzu v. Gierke, Althusius S. 84; G. Jellinek, Staatslehre S. 459; Heller, Staatslehre S. 162 f. 29 Z u den Formen d e r Verfassungsgesetzgebung s. Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 85 ff. " a Z u r demokratischen L e g i t i m i t ä t des Grundgesetzes s. u. § 16, 2. m i t A n m . 36. 99 Diese Zurechnung der demokratischen Verfassung und d a m i t der verfassungsrechtlich konstituierten Ä m t e r auf das V o l k erstreckt sich auch auf die nichtstaatliche Öffentlichkeit (oben § 11, 2.). Eine nichtstaatliche Organisation w i r d zur öffentlichen I n s t i t u t i o n nicht aufgrund ihres eigenen p a r t i kularen Selbstverständnisses, sondern allein durch die verfassungskräftige Anvertrauung eines öffentlichen Amtes u n d damit durch die Inpflichtnahme für die gute Ordnung des gesamten, n u r territorial begrenzten Gemeinwesens, Köttgen, Das anvertraute öffentliche A m t , a.a.O. S. 144 f., 147 f. Vgl. ferner Werner Weber, A r t . öffentliches Recht, H d S W 8 (1964) S. 44, der auf die schwindende Staatsbezogenheit des öffentlichen Rechts hinweist sowie darauf, daß „keine gesellschaftliche Organisationserscheinung sich selbst via facti v o m Geltungsbereich des Privatrechts i n den des öffentlichen Rechts translozieren kann". Dies muß allerdings nicht bedeuten, „daß die Grenze des öffentlichen Rechts nach w i e vor m i t der des v o m Staate verfaßten Öffentlichkeitsbereichs identisch ist" (ebd.). Wenn die verfassunggebende Gew a l t nicht „höchster Ausfluß der Staatsgewalt" ist (so jedoch Herzog, DÖV 1962 S. 82; Steiner, Verfassunggebende Gewalt S. 661), sondern dem m i t dem Staate nicht identischen V o l k oder dem Gemeinwesen zugeredinet w i r d , so braucht auch der Bereich des öffentlichen, den die Verfassung ordnet, nicht notwendig als Ausdruck staatlichen Willens zu gelten.
§ 13 Die demokratische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland
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der öffentlichen Ordnung eine A n t w o r t zu geben 31 . Demokratische Autorisierung hat daher zur Folge, daß die Interpretation der (normativen) Verfassung vom Leitbild des mündigen, verantwortungsfähigen Bürgers auszugehen hat. Dieses Verständnis demokratischer Autorisierung w i r d unterstrichen durch die zentrale Bedeutung der Würde des Menschen, also der Anerkennung seiner Fähigkeit, sich selbst zu bestimmen und seine Umwelt verantwortlich zu gestalten 314 . Der Verfassungsinterpretation ist hiernach der „politische Beruf" des Bürgers vorgegeben 32 , der zumindest die Sorge um die Grundlagen des politischen Prozesses, um die verfassungsmäßigen Grundlagen des Ämterwesens zum Gegenstand hat. Für die Auslegung des A r t . 20 Abs. 2 S. 1 GG bedeuten die Rationalität und die sozialethischen Grundlagen demokratischer Staatsautorität: Unkritische Hinnahme des staatlichen Handelns und irrationale Akklamation, die von der „Sympathie" für bestimmte Amtswalter getragen ist, festigen zwar die Stellung der Herrschenden; ein Ausdruck demokratischer Autorisierung des Ämterwesens sind sie nicht. Hatte doch bereits Macchiavelli dem Fürsten geraten, sich der „freudigen Billigung der Staatstätigkeit" durch die Untertanen zu versichern 33 . Die reale Problematik dieses normativen Selbstverständnisses eines demokratischen Gemeinwesens bedarf kaum der Erläuterung. Der politische Beruf seiner Angehörigen ist darauf gerichtet, eine territoriale Solidarität, ein agreement on fundamentals hervorzubringen, welche die Amtswalter, die Bürger und ihre Organisationen i m Sinne des Ge81 Ryffel, Verantwortung als sittliches Phänomen, a.a.O. S. 282 ff., 291; Kägi, Rechtsstaat u n d Demokratie, a.a.O. S. 138; Kurz, Volkssouveränität S. 189 f. " a Vgl. Maunz-Dürig, GG, A r t . 1 R d n m . 18, 28 f.; BVerfGE 5, 85 (204 f.); 21, 362 (372). 82 Z u m Berufsgedanken u n d zur öffentlichen Verantwortung des demokratischen Bürgers s. insbes. Smend, Das Problem der Institutionen, a.a.O. S. 68 f.; Ders., Festvortrag zur Feier des zehnjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, i n : Das Bundesverfassungsgericht (1963) S.23ff. (36f.); Hennis, Souveränität S. 126ff.; Bäumlin, Staat, Recht u n d Geschichte S.47; Ders., A r t . Demokratie, i n : Ev. Staatslexikon Sp. 278 ff. (279); v. d. Gablentz, A u t o r i t ä t u n d Legitimität, a.a.O. S. 85, 98; Ridder, JZ 1962 S. 771 ff. (773); Sontheimer, V o m Staatsbewußtsein i n der Demokratie, a.a.O. S. 11 f.; Kaufmann, Grundtatsachen u n d Grundbegriffe der Demokratie (1950) S. 6, 25 ff.; Hesse, Rechtsstaat, a.a.O. S. 81, 89. Bereits Montesquieu hat sich m i t den sozialethischen Grundlagen der Demokratie unter dem Stichwort der v e r t u befaßt (Vom Geist der Gesetze, Buch I I I , Kap. 3); insoweit finden sich v e r wandte Fragestellungen bei Peter Weber-Schäfer, „Sozial" u n d „rational", Anmerkungen zur Demokratiediskussion, i n : Der Staat Bd. 7 (1968) S. 17 ff. (21, 27, 29, 39). 88 Zit. nach Heller, Hegel u n d der nationale Machtstaatsgedanke S. 81. — Z u m akklamativen Charakter der Volksabstimmungen i n Führerstaaten s. E. R. Huber, Verfassung (1937) S. 95; Werner Weber, Mittelbare u n d u n m i t t e l bare Demokratie, Festschr. f. Hugelmann (1959) S. 769.
11*
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
meinwohls motivieren und Grundlage für Konfliktslösungen sein können. Der politische Beruf ist daher i n die Problematik des staatlichen Territorialitätsprinzips und die i h m entsprechende Gemeinwohlforderung verstrickt 8 4 . Deren Fragwürdigkeit beruht vor allem auf der zunehmenden Bedeutung sachbestimmter, funktionaler Zusammenhänge, kurz: auf der Tendenz von der Gebietskörperschaft zur Personalkörperschaft als möglicher neuer Integrationsform 8 5 . Fragwürdig sind sodann die sozialpsychologischen Voraussetzungen für die Entfaltung des politischen Berufs der Bürger, zumal i n der manipulativ erzeugten und stabilisierten Konsumathmosphäre der modernen Industriegesellschaft 8 ·. Indessen fehlt der grundgesetzlichen Fixierung der demokratischen Autorisierung, insbesondere dem Leitbild des verantwortlich zumindest die Grundlagen der öffentlichen Ordnung mitgestaltenden Bürgers nicht jede Realisierungschance. Vielleicht t r i f f t gar Smends o p t i mistische Annahme zu, daß sich die Anerkennung des politischen Berufs „immer wieder irgendwie durchsetzt" 37 . Demokratische Autorisierung des Ämterwesens ist zwar vom organisierten A k t der Verfassunggebung nicht zu trennen. Sie beschränkt sich jedoch hierauf nicht. Zugleich ist sie ein fortdauernder Prozeß, ein „tägliches Plebiszit" 8 8 , i n welchem die Bürger und die kämpfenden politischen Gruppen die Verfassung als „Diskussionsgrundlage" respektieren und deren Legitimität durch ihren „ W i l l e n zur Verfassung" 89 ständig erneuern. Einer solchen permanenten Erneuerung und Bestätigung des grundlegenden Konsenses bedarf es u m so mehr, als der ursprüngliche A k t der Verfassunggebung möglicherweise nicht von einer breiten Solidarität getragen ist 4 0 und überdies demokratische Autorisierung als ein Prinzip verantwortlicher, kritischer und diskutierender Autoritätsbegründung durch das Volk jeder Generation von neuem die Verantwortung für die öffentliche Grundordnung aufbürdet und ihr deshalb die Chance einräumen muß, die legal fixierten Verfassungsentscheidun94
Vgl. o. § 11, 1. m i t A n m . 19. Röttgen, Krise der kommunalen Selbstverwaltung (1931) S. 14 ff.; Winkler, Staat u n d Verbände, W D S t R L 24, S.34ff. (58); Steiger, Staatlichkeit u n d Überstaatlichkeit S. 39, 145 ff., 186. Sattler, Das Prinzip der „ f u n k t i o nellen Integration" S. 216 ff. 99 Habermas, S t r u k t u r w a n d e l der Öffentlichkeit S. 231 ff. 97 Smend, Das Problem der Institutionen, a.a.O. S. 69. 99 Smend, Abhandlungen S. 182; Bäumlin, Staat, Recht u n d Geschichte S. 46 f. Anders — auf die Entscheidung spezieller Fragen durch die öffentliche Meinung bezogen — die Verwendung des Begriffs bei Carl Schmitt, Aufsätze S. 368. 99 Hesse, Die normative K r a f t der Verfassung S. 12 f. 40 Z u r Stabilisierung der anfangs heftig umstrittenen amerikanischen V e r fassung s. C. J. Friedrich and R. G. McGloskey, F r o m the Declaration of I n dependence to the Constitution (1954) S. L V I ff. 35
§ 13 Die demokratische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland
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gen aufgrund ihrer eigenen gesellschaftlichen Bedingungen, Erfahrungen und Wertungen neu zu verstehen 41 . M i t Rücksicht hierauf ist demokratische Autorisierung auch „ungeformt" und kommt insbesondere i n der öffentlichen Meinung zum Ausdruck. Demokratische Verfassungen institutionalisieren jedoch auch diese i n der Zeit fortwirkende Komponente der Autorisierung. Sie verhelfen dem Ämterwesen dadurch zu stets neuer Autorität, daß die Inhaber der staatsleitenden Ämter durch das Volk gewählt werden müssen. Institutionelle Autorität w i r d i n diesem Prozeß durch konkrete, auf Personen bezogene Vertrauenserteilung vermittelt 4 2 . Allerdings: Wahlen als Momente der Autorisierung betreffen die erste, auf das agreement on fundamentals gerichtete „Schicht" des Gemeinwesens 4 *, nicht die „Ausübung der Staatsgewalt"; m. a. W.: Wahlen, kraft deren Personen m i t Ämtern betraut werden, enthalten noch keine Aussage über die Regierungsform. Sie können auch Elemente einer autoritären Regierungsform sein. Dieser Aspekt demokratischer Wahlen gelangt anschaulich zum Ausdruck i n der amerikanischen Tradition, derzufolge der Verlierer der Präsidentschaftswahlen seine Anhänger aufzufordern hat, dem Gewinner die gleiche L o y a l i t ä t entgegenzubringen, die i h m gegolten hatte. Die Gesamtheit der (verfassungstreuen) Wählerschaft u n d nicht n u r ihre Mehrheit ist es also, die den Staat „trägt", d. h. i h m k r a f t ihrer auch i n den Wahlen dokumentierten „territorialen Solidärität" A u t o r i t ä t verleiht u n d i h n dadurch als eine dem Gemeinwohl verpflichtete I n s t i t u t i o n bestätigt. Umgekehrt zeigen die W a h len den Autoritätsverlust der staatlichen I n s t i t u t i o n an, w e n n verfassungsfeindliche Parteien nachhaltige Unterstützung i n der Wählerschaft finden. Dieser T e i l der Wählerschaft b r i n g t dem i m verfassungsmäßig geordneten Verfahren siegreichen Gegner schon deshalb nicht jene L o y a l i t ä t entgegen, w e i l er eine verbindende „Diskussionsgrundlage" i n Gestalt der autorisierenden Grundentscheidungen nicht anerkennt.
3. Demokratie als Regierungsform Die Verfassungsform bezeichnet die Legitimitätsideologie eines Gemeinwesens, die A r t der Autorisierung des Ämterwesens und insbesondere die Zurechnung der grundlegenden Entscheidungen über die öffentliche Ordnung. Die Regierungsform hingegen t r i f f t Aussagen über die Personen und Gruppen, denen die staatsleitenden Ämter anvertraut sind, sowie über den Entscheidungsprozeß. Das Grundgesetz bringt i n 41 Vgl. Hesse, Die normative K r a f t der Verfassung S. 11; Badura, A r t . V e r fassung, i n : Ev. Staatslexikon Sp. 595 ff. (597). — F ü r ein ausschließlich legalistisches Verständnis der L e g i t i m i t ä t entsteht diese Problematik nicht, vgl. etwa Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht (1907) S. 9; Gerhart Husserl, Rechtskraft u n d Rechtsgeltung Bd. I (1925) S. 73; darstellend Max Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft S. 124 f.; Kritisch Heller, Staatslehre S. 243, 278. 4t Ä h n l i c h Eschenburg, Uber A u t o r i t ä t S. 170,173. 49 S. o. § 13, 1. m i t A n m . 2, 9 ff.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
A r t . 20 Abs. 2 S. 1 die demokratische Autorisierung der Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck. I n A r t . 20 Abs. 2 S. 2 normiert es unter dem Stichwort der „Ausübung der Staatsgewalt" einzelne Gesichtspunkte der Regierungsform. Daß es i n diesem Zusammenhang das Volk erwähnt, läßt vermuten, daß das Volk als Subjekt i n den Prozeß der politischen Leitung eingeschaltet ist (vgl. oben § 13, 1.). Diese Einreihung der „Wahlen und Abstimmungen" des Volkes i n die „Ausübung der Staatsgewalt" ist keineswegs selbstverständlich, ebensowenig wie die Ergänzung der demokratischen Verfassungsform durch eine demokratische Regierungsform. Ein geschichtlicher Rückblick macht dies deutlich. Die Inkongruenz von Verfassungsform und Regierungsform zeigte sich i n monarchischen Gemeinwesen, als der absolutistische Fürst, dem allein sowohl die „Substanz" als auch die „Ausübung" der Staatsgewalt zugerechnet wurde, i m Konstitutionalismus des monarchischen Prinzips sich i n der Ausübung, d. h. i n der politischen Leitung, zugunsten von Mitwirkungsbefugnissen eines Parlaments beschränken mußte 4 4 . Entsprechend ergänzte „das V o l k " i m liberalen Konstitutionalismus des französischen Juli-Königtums und der belgischen Verfassung von 1831 die (liberal-) demokratische Verfassungsform 45 nicht durch eine entsprechende Regierungsform, sondern autorisierte ein System, das neben dem Parlament auch den Monarchen an der politischen Leitung beteiligte 4 6 . Die Genfer Verfassung von 1814 erlangte einerseits durch eine allgemeine Abstimmung demokratische Legitimität, schaffte aber andererseits sogleich — von Battelli als „chose curieuse" kommentiert — das allgemeine Wahlrecht ab und entschied sich für eine aristokratische Regierungsform 47 . Richtungweisend für das Verständnis der Regierungsform der modernen, demokratisch autorisierten Staaten ist die französische Verfassung vom 3. September 1791. Sie führt i n demokratischer Weise alle Gewalt auf das Gemeinwesen zurück, schließt es jedoch von der realen Teilhabe an der politischen Leitung durch die staatlichen pouvoirs constitués aus: „ L a Nation, de qui seule émanent tous les pouvoirs, ne peut les exercer que par délégation" (3. Tit. A r t . 2 Abs. 1). Damit w i r d jedoch nicht nur das Volk von der realen Teilhabe an der Regierung ferngehalten. Es w i r d vielmehr zugleich die jeweilige „Ausübung" der Gewalt i l i letzter Instanz der Nation zugerechnet und damit auch die Regierungsform als — „mittelbar" — demokratisch bezeichnet. Die i m Ansatz zugegebene 44
Vgl. A r t . 57 Wiener Schlußakte vom 15. M a i 1820. Z u der Sonderstellung, die die liberale „Demokratie" durch die elitäre Interpretation des Gleichheitssatzes erfährt, s. Leibholz, Strukturprobleme S. 136. 46 Belgische Verfassung v o m 7. Februar 1831, 3. Titel, A r t . 25, 26, 29. 47 Battelli , L a notion de souveraineté du peuple, Festschr. f. Giacomètti S. 12. 45
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Trennung der Problemkreise „Autorisierung" und „politische Leitung" w i r d durch die Vorstellung eines i n beiden „Schichten" der öffentlichen Ordnung wirksamen, einheitlichen Volkswillens überspielt. Die Repräsentationsideologie behauptet eine Einheit nicht allein für die Hervorbringung und Erhaltung der Verfassung, sondern auch für die politische Leitung. Insbesondere die politische Leitung durch das Parlament ist ihr ein modus der „Darstellung der nationalen Einheit" 4 8 . Das reale agreement on fundamentals der ersten „Schicht" w i r d auf die zweite erstreckt: Es ist der einheitliche Volkswille selbst — oder seine „Vergeistigung" zur allein richtigen Interpretation des Gemeinwohls 49 —, den der Delegatar oder Repräsentant lediglich ausübt und zur Anschauung bringt 5 0 . Der fiktive Charakter dieser Einheit w i r d durch die traditionelle Aufgabe des Parlaments, i m Wege öffentlicher Diskussion einen realen Konsens herzustellen, nur unzureichend verdeckt 51 . Die — real immerhin mögliche — allgemeine Übereinstimmung über Regierungsform und Staatszielbestimmungen w i r d demnach auch für die konkrete politische Leitung i n Anspruch genommen. Hier schlägt die Maßgeblichkeit des Volkswillens i n autoritäre Repräsentation einer Führungsgruppe um, deren Mandat nicht durch richtungbestimmende Entscheidungen der Aktivbürgerschaft i n Fragen politischer Leitung, sondern allein durch den grundlegenden Konsens der „ersten Schicht", durch den „Geist der Gruppe" gebunden ist 5 2 . „Mittelbare Demokratie" ist nicht eine Form demokratischer Regierung, sondern eine Form autoritärer 5 8 Beherrschimg des Volkes 5 4 auf der Grundlage demokratischer Autorisierung der Institutionen. Der Wahlspruch des aufgeklärten Absolutismus: „Alles für das Volk, nichts durch das V o l k " 5 5 48 Scheuner, Das repräsentative Prinzip, a.a.O. S. 226; v. Mangoldt - Klein, G G 3. Abschn. Vorbem. I I I 2a S. 869; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches (14. Aufl. 1933) S. 176; vgl. ferner oben § 12, 2. A n m . 57 a. E. 49 Vgl. Fraenkel, Die repräsentative u n d die plebiszitäre Komponente i m demokratischen Verfassungsstaat, S. 5,14, 32. 50 Scheuner, Das repräsentative Prinzip, a.a.O. S. 226; vgl. a u d i oben § 9, 2.e m i t A n m . 104. 51 S. o. § 9, 2.e) m i t A n m . 100. 52 Vgl. H.J.Wolff s Untersuchung über die elitäre Repräsentation, i n : O r ganschaft u n d juristische Person I I S. 64. — S. ferner oben § 13, 1. m i t A n m . 10 f. 58 Der Begriff des Autoritären bezeichnet hier den Ausschluß der realen Aktivbürgerschaft v o n den konkreten politischen Sachentscheidungen. Die Möglichkeit eines autoritär handelnden Parlaments w i r d allerdings durch eine Begriffsbildung verdunkelt, die — letztlich aufgrund liberal-konstitutioneller Ideen — als autoritär n u r eine Herrschaftsform gelten läßt, „ i n der die Exekutivspitze überhaupt nicht oder k a u m von der Volksvertretung abhängig ist" (Eschenburg, Über A u t o r i t ä t S. 157). 54 Den Begriff der „Beherrschung" stellt Badura (Verwaltungsmonopol S. 325) i n den Vordergrund seiner Interpretation der repräsentativen Demokratie.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
w i r d hierbei m i t der demokratischen Verfassungsform verbunden u n d d a d u r c h m i t d e r F o r d e r u n g , d e n a u f d i e A u t o r i s i e r u n g des Staates ger i c h t e t e n a l l g e m e i n e n K o n s e n s i m W e g e d e r p e r i o d i s c h e n W a h l e n der I n h a b e r s t a a t s l e i t e n d e r Ä m t e r stets n e u z u a k t u a l i s i e r e n 5 6 . D e m o k r a tisch i s t eine solche O r d n u n g n i c h t als R e g i e r u n g s f o r m , s o n d e r n a l l e i n als V e r f a s s u n g s f o r m 5 7 . D i e R e g i e r u n g s f o r m d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d w i r d v o n der ü b e r w i e g e n d e n L e h r e i m gleichen S i n n e „ m i t t e l b a r e r " „ D e m o k r a t i e " , d. h. des Ausschlusses d e r A k t i v b ü r g e r s c h a f t v o n d e r r e a l e n Entscheid u n g über die konkreten Ziele politischer L e i t u n g interpretiert 58. I n d e r T a t scheint A r t . 38 A b s . 1 G G d e n „ g e s i c h e r t e n ideologischen B e s t a n d des Verfassungsrechts d e r l i b e r a l e n D e m o k r a t i e " 5 9 r e z i p i e r t z u haben. D a ß d e r A b g e o r d n e t e V e r t r e t e r des „ g a n z e n " V o l k e s sei, k ö n n t e als v e r b i n d l i c h e A n e r k e n n u n g d e r I d e o l o g i e eines e i n h e i t l i c h e n i d e e l l e n V o l k s w i l l e n s z u v e r s t e h e n sein, d e r d u r c h R e p r ä s e n t a t i o n l e d i g l i c h s i c h t b a r g e m a c h t w i r d u n d d e r i m ü b r i g e n — d a er a u f d e r Ebene der p o l i t i s c h e n L e i t u n g r e a l i t e r n i c h t v o r h a n d e n i s t — d i e oligarchische H e r r s c h a f t s s t r u k t u r u n b e r ü h r t läßt. Indessen h a t das Grundgesetz diese F o r m d e r l i b e r a l e n R e p r ä s e n t a t i o n s i d e o l o g i e i n A r t . 21 A b s . 1 v e r w o r 55 Vgl. Habermas, S t r u k t u r w a n d e l der Öffentlichkeit S. 239. — Ausdrücklich kennzeichnet Hesse (Parteien, W D S t R L 17, 19 f.) die Demokratie des Grundgesetzes nicht durch Elemente der „Volksherrschaft", sondern allein als „Herrschaft f ü r das V o l k " . Zustimmend Haberle, Unmittelbare staatliche Parteifinanzierung, JuS 1967 S. 64 ff. (67) ; i n der Sache ebenso Herzog, Das Problem der staatlichen Autorität, a.a.O. S. 154; Scheuner, W D S t R L 16, S.124; ablehnend BVerfGE 5, 85 (204). Z u r Verwurzelung dieser Überzeugung i m „patrimonialen Eudänomismus der polizeistaatlichen T r a d i t i o n " s. Badura, J Z 1968 S. 77 f. w S. o. § 13, 2. m i t A n m . 42. 57 Folgerichtig rechnet Badura (Verwaltungsmonopol S. 324) die „Ausübung der Staatsgewalt" nicht der Demokratie zu, sondern dem Rechtsstaat. Dieser erscheint insoweit letztlich als Chiffre für die liberal-elitäre Regierungsform. — Z u m oligarchischen Charakter des Parlamentarismus u n d der liberalen Repräsentation s. Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 304 ff.; H.J.Wolff, Organschaft u n d juristische Person I I S. 65 A n m . 2; Ridder, Meinungsfreiheit, i n : Die Grundrechte I I S. 253, 255; ν . d. Heydte, Föderalismus, Volkssouveränität u n d Parteien, i n : Föderalistische Ordnung S. 137 f.; Scheuner, Das repräsentative Prinzip, a.a.O. S. 231. Z u Blackstones Parlamentsabsolutismus s. G. Jellinek, Staatslehre S. 465 A n m . 1. 58 Scheuner, Das repräsentative Prinzip, a.a.O. S. 222, 232, 235; Hennis, Amtsgedanke u n d Demokratiebegriff, a.a.O. S. 54 f., 60, 69; Willms, Aufgabe u n d Verantwortung der politischen Parteien (1958) S. 10; Badura, V e r w a l tungsmonopol S. 324 f.; Maunz -Dürig, G G A r t . 38 Rdnr. 1, 10; Hamann, GG, Einführung S. 34, sowie Hesse, Häberle u n d Herzog (oben § 13 A n m . 5*5). Ferner — verbunden m i t kritischer Bewertung der „antiplebiszitären Einstell u n g " des Grundgesetzes — Draht, Gewaltenteilung, i n : Faktoren der Machtb i l d u n g S. 125 ; Fraenkel, Die repräsentative u n d die plebiszitäre K o m p o nente i m demokratischen Verfassungsstaat S. 56; Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie S. 104; v. Mangoldt - Klein, GG, A r t . 20 V 5a S. 597, m. w. Nachw. M BVerfGE 2, 1 (72).
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fen. Denn die Anerkennung mehrerer Parteien schließt die Offenheit des Gemeinwohls und damit die Pluralität legitimer Gemeinwohlinterpretationen ein. Sie ist eine Absage an die Idee eines einheitlichen Volkswillens i n Fragen der politischen Leitung, also an das vorgegebene, i n freier Diskussion der Mandatsinhaber sichtbar werdende Gemeinwohl 6 0 . Die Offenheit des Gemeinwohls steht allerdings nicht i m Widerspruch zur autoritären Hegierungsform. Denn das „freie Mandat" könnte, losgelöst von der Ideologie des repräsentierten Volkswillens, i m Mehrparteienstaat als Sanktionierung eines Systems konkurrierender Führungsgruppen verstanden werden, denen das Volk periodisch akklamiert, ohne sachlich-politisch Einfluß zu nehmen 01 . Die Konsequenz des oft diskutierten Nebeneinanders der Art. 38 und 21 GG 6 2 wäre m i t h i n nicht eine Demokratisierung der politischen Leitung, sondern eine U m strukturierung der oligarchischen Herrschaft, i n der die Parteien an die Stelle der einzelnen Abgeordneten getreten sind. Eine solche Interpretation der Hegierungsform des Grundgesetzes gerät jedoch nicht nur i n K o n f l i k t m i t dem grundgesetzlichen Leitbild des mündigen und verantwortlichen Bürgers, das zwar die demokratische Regierungsform nicht impliziert, aber tendenziell zu einem möglichst weiten Bereich verantwortlicher Mitbestimmung der Bürger i n den öffentlichen Angelegenheiten drängt 0 2 a . Die autoritäre Interpretation vermag auch die „politische Willensbildung des Volkes" (Art. 21 Abs. 1 GG) nicht zu erklären. Das Volk, das i n Wahlen lediglich den Konsens der „ersten Schicht" des Gemeinwesens artikuliert, bildet keinen politischen, auf die konkrete Gestaltung des Gemeinwesens gerichteten W i l len, sondern autorisiert das Ämterwesen 0 3 . Politische Willensbildung ist i m amtsrechtlich verfaßten Staat vielmehr Ausübung eines öffentlichen Amtes 6 4 . Politische Willensbildung des Volkes muß folglich als verantwortliche M i t w i r k u n g des Volkes bei der konkreten Gestaltung des Gemeinwesens verstanden werden. Das Volk als wählende und abstim60 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 53 f. Vgl. a u d i oben § 9 m i t A n m . 107, 116. 61 Als V e r w i r k l i c h u n g moderner Demokratie gilt diese Variante des o l i garchisch-autoritären Regierungssystems insbesondere bei Schumpeter, K a pitalismus, Sozialismus u n d Demokratie (1946) S. 449, 422 ff.; Dahrendorf, Gesellschaft u n d Freiheit (1961) S. 261, 241, u n d Hermens, Verfassungslehre (1964) S. 39 ff. n Siehe insbesondere BVerfGE 2, 1 (72 f.); Maunz -Dürig, A r t . 38 Rdnr. 18 ff.
«*» S. o. § 13, 2. m i t A n m . 31 ff. « S. o. § 13, 2. m i t A n m . 42. 64 Zutreffend Köttgen, Das anvertraute öffentliche A m t , a.a.O. S. 139. Köttgen (ebd. S. 144) n i m m t allerdings den „Gang zur Wahlurne" hiervon aus, ohne jedoch die Konstituierung politischer Willensbildung des Volkes i n A r t . 21 Abs. 1 GG zu erörtern.
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m e n d e A k t i v b ü r g e r s c h a f t i s t m i t h i n I n h a b e r i n eines v e r f a s s u n g s m ä ß i g e n A m t e s , sie i s t i n d e n K r e i s d e r Verfassungsorgane einbezogen 6 4 1 1 . Diese G e s i c h t s p u n k t e b e s t ä t i g e n n u n m e h r auch d i e d u r c h d e n W o r t l a u t u n d d i e Verfassungsgeschichte nahegelegte A u s l e g u n g des A r t . 20 A b s . 2 S. 2 G G i m S i n n e d e r E i n s c h a l t u n g d e r A k t i v b ü r g e r s c h a f t i n d e n Prozeß d e r p o l i t i s c h e n L e i t u n g . W ä h r e n d noch die V e r f a s s u n g des f r a n zösischen B ü r g e r t u m s v o m 3. S e p t e m b e r 1791 d e m V o l k k e i n e B e f u g n i s ü b e r t r u g , d i e es o h n e d é l é g a t i o n h ä t t e ausüben k ö n n e n 6 5 — d i e W a h l e n g a l t e n f o l g e r i c h t i g n i c h t als A u s ü b u n g eines p o u v o i r — , bezeichnet A r t . 20 A b s . 2 S. 2 G G die W a h l e n d e r A k t i v b ü r g e r s c h a f t ebenso als „ A u s ü b u n g d e r S t a a t s g e w a l t " w i e d i e T ä t i g k e i t der gesetzgebenden, v o l l z i e h e n d e n u n d rechtsprechenden Organe. H i e r i n l i e g t d i e entscheidende A b s a g e des Grundgesetzes a n eine ausschließlich „ m i t t e l b a r e " D e m o k r a t i e , d. h. a n e i n e a u t o r i t ä r e R e g i e r u n g s f o r m 6 6 . I n d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d i s t das V o l k n i c h t n u r p o u v o i r c o n s t i t u a n t , s o n d e r n als w ä h l e n d e u n d a b s t i m m e n d e A k t i v b ü r g e r s c h a f t auch p o u v o i r constitué.
β4 * BVerfGE 8, 104; 33, 54 (95). — Sofern man das Ämterwesen als Obrigkeit bezeichnet, w i r d man v. d. Gablentz, A u t o r i t ä t u n d Legitimität, a.a.O. S. 85, zustimmen müssen, w e n n er meint, i n der Demokratie sei das V o l k „selbst Obrigkeit" geworden. — Das öffentliche A m t der Wählerschaft kann nicht m i t der These i n Frage gestellt werden, daß „das weltliche Amtsrecht auch i n einer Demokratie stets exklusiv" sei (so jedoch Köttgen, A m t , a.a.O. S. 144). Diese Vorstellung ist m i t der verfassungsrechtlichen Anerkennung öffentlicher Verantwortung der Bürger u n d ihre Einbeziehung i n die „ A u s übung der Staatsgewalt" widerlegt. Sie beruht allein auf der Verknüpfung des Amtes m i t der liberal-repräsentativen „Wertvergegenständlichung" durch die Mandatsinhaber (vgl. Köttgen, Beamtenrecht, i n : HdbDStR I I (1932) S. 7; H. J. Wolff, Organschaft u n d juristische Person I I S. 64 ff.), deren „die Menge" nicht fähig ist, ohne Repräsentation i n Identität umschlagen zu lassen (Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 217, 237). — Dem A m t der Wählerschaft k a n n auch nicht entgegengehalten werden, das Amtsrecht verlange eine Distanz zwischen dem Amtsinhaber u n d dem Verleiher des Amtes (vgl. Köttgen, A m t , a.a.O. S. 143; Hennis, Amtsgedanke, a.a.O. S. 58). Es k a n n offen bleiben, ob diese These der Verantwortung des mündigen Bürgers, die nicht zuletzt auch Selbstverantwortung ist, gerecht w i r d (zur Selbstverantwortung vgl. W.Weischedel, Das Wesen der Verantwortung, ein Versuch (1933) S. 102; aber auch BVerfGE 6, 32 [40]). Denn zum einen sind autorisierendes u n d wählendes V o l k n u r partiell identisch, nämlich insoweit, als die Wahlen neben der Ausübung der Staatsgewalt zugleich Faktoren der Autorisierung sind; der vollen Identität steht entgegen, daß zur Autorisierung auch der geschichtlich einmalige A k t der Verfassungsgesetzgebung gehört. Z u m anderen bleibt ein eventuelles Versagen der zur M i t w i r k u n g bei der politischen L e i t u n g berufenen Aktivbürgerschaft v o r den Anforderungen des Amtes nicht ohne Folgen: Das A m t der Aktivbürgerschaft ist dem Risiko ausgesetzt, legal oder revolutionär durch eine autoritäre Regierungsform abgelöst zu werden. 65 66
S. o. § 13, 3. nach A n m . 47.
Zutreffend interpretieren daher v. Mangoldt-Klein, GG A r t . 20 V 5 S. 596, die Ausübung der Staatsgewalt durch Wahlen (und Abstimmungen) als „Elemente unmittelbarer oder plebiszitärer Demokratie".
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Damit hat das Grundgesetz auch jenes Nebeneinander von demokratischer Verfassungsform und autoritärer Regierungsform abgelehnt, das Battelli als „chose curieuse" kommentierte 6 7 . Die Verantwortung der Aktivbürgerschaft für die konkrete politische Leitung fügt sich ein in eine öffentliche Grundordnung, die nach ihrem Selbstverständnis auf der verantwortlichen Entscheidung sämtlicher Bürger und auf ihrer Bereitschaft und Fähigkeit zur kritischen Erörterung der öffentlichen Angelegenheiten beruht (oben § 13, 2.). „Das Experiment der Demokratie, jedem Staatsbürger Verantwortung für das Ganze anzuvertrauen" 6 8 , ist unter der Geltung des Grundgesetzes auch ein Experiment der Regierungsform. Gerade dieses „robuste Vertrauen" der freiheitlichen demokratischen Grundordnung „ i n die Mündigkeit aller Staatsbürger" 6 9 ist es, das die irrationale Interpretation der demokratischen Autorisierung und die elitäre Theorie der „mittelbaren Demokratie" verkennen oder bekämpfen. Speziell i n diesem Punkt w i r d die Kontinuität der elitär-liberalen Ideologie sichtbar, die, unberührt von der Revolution des Jahres 1918, die herrschende Interpretation des „freien Mandats" des Parlamentsabgeordneten geprägt hat 7 0 . Bereits Dahlmann hat die liberale Position, die sich die Legitimation durch das Volk verschaffen und doch den bürgerlichen Herrschaftsanspruch nicht preisgeben wollte, deutlich ausgesprochen: Zwar sollte die „Stimme des Volkes" gehört werden, aber „nicht das wüste Geschrei der Menge, die unwissend jedem nächsten Vorteil nachrennt", sondern seine „Sprache" als der „bessere Teil des Volkes" 7 1 . Die Repräsentativverfassung „hat nichts zu schaffen mit Volkssouveränität, denn die Bevölkerung kann gar wohl die Einsicht haben, daß u m des Volkes w i l l e n regiert werde, ohne darum sich zu dem Wagestück zu versteigen, selbst die Regierung übernehmen zu wollen" 7 2 . „Die Menge" ist unfähig, ihr wahres Interesse, ihren wahren Willen zu erkennen und auszudrücken. Sie ist folglich unfähig, verant«7 S. o. § 13, 3. m i t A n m . 47. e8
v. d. Gablentz, A u t o r i t ä t u n d Legitimität, a.a.O. S. 98.
«· Ridder, J Z 1962 S. 771 ff. (773). 70 S. o. §13 A n m . 57. Vielleicht w i r d die K o n t i n u i t ä t der liberal-elitären Interpretation des Abgeordnetenmandats verständlich aufgrund der K o n t i n u i t ä t der m i t i h r verbundenen kapitalistischen Wirtschaftsform, auf die — als ideologisch unverdächtiger Zeuge — Franz Böhm 1933 m i t den Worten hingewiesen hat: „ I n m i t t e n der politischen u n d geistigen Umwälzungen der letzten Jahre hat sich das Reich der Wirtschaft i n seinem Eigenleben seltsam unberührt behauptet" (Wettbewerb u n d Monopolkampf S. V I I ) . 71
S. 19.
Dahlmann,
E i n W o r t über Verfassungen (1815), Ausgabe Reclam 1919,
72 Dahlmann, Die Politik, auf den G r u n d u n d das Maß der gegebenen U m stände zurückgeführt, 1. Bd. (2. A u f l . 1847) S. 117.
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wortlich zu handeln 7 *; ihr Einfluß auf die sachliche Gestaltung der Pol i t i k wäre „das schamloseste Ding auf der W e l t " 7 4 . Welcher A r t nun die Teilhabe der wählenden Aktivbürgerschaft an der politischen Leitung sein soll, ist m i t der Anerkennung ihrer „politischen Willensbildung" und ihrer Einbeziehung i n den Kreis der Verfassungsorgane noch nicht entschieden. Einen ersten Anhaltspunkt gibt wiederum A r t . 20 Abs. 2 S. 2 GG. Er hat die Ausübung der Staatsgewalt nicht allein der wählenden und abstimmenden Aktivbürgerschaft anvertraut, sondern auch den Organen der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung. Das Grundgesetz läßt nichts dafür erkennen, daß diese Institutionen sich gegenüber der Aktivbürgerschaft — etwa gleich der Regierung Rousseaus — i n der Rolle bloßer „Werkzeuge" befänden 75 . Stehen aber die Leitungsinstitutionen der Gesetzgebung und der Regierung tendenziell gleichberechtigt neben der wählenden Aktivbürgerschaft, so verfügen sie über einen eigenen Verfassungsauftrag zur politischen Gestaltung. Ein solcher Verfassungsauftrag an Institutionen, die m i t der Aktivbürgerschaft nicht identisch sind, ist nichts anderes als die Legitimierung politischer Führung 7 6 . M. a. W.: Die Regierungsform des Grundgesetzes kennt sowohl demokratische als auch oligarchische Strukturelemente. So wie Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG sich der Einordnung i n die autoritäre Regierungsform (die „mittelbare Demokratie") entzieht, so versagt er sich auch der rein plebiszitären Alternative. Sollte der „Parteienstaat" das „Surrogat der direkten Demokratie i m modernen Flächenstaat" sein, i n dem eine volonté générale „allein m i t Hilfe des Identitätsprinzips ohne Beimischung repräsentativer Strukturelemente zur Entstehung" kommt 7 7 , so 73 Bilfinger, Der Streit u m das Panzerschiff A u n d die Reichsverfassung, AöR 55 (1929) S. 435. — I n der obrigkeitsstaatlich-pessimistischen Auffassung über staatsbürgerliche Verantwortungsfähigkeit „der Menge" t r i f f t sich der Liberalismus m i t anderen Strömungen, vgl. etwa Künneth, Die öffentliche Verantwortung des Christen (1952) S. 19. 74 BVuntschli, Allgemeine Staatslehre, zit. nach Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 315. Z u verwandten Gedankengängen Sieyès' s. Carl Schmitt, Die D i k t a t u r S. 143. 75 Rousseau, Contrat social, I I I 1 Abs. 4—8 u. 19; G. Jellinek, Staatslehre, S. 605, 617; vgl. ferner oben § 13, 1. m i t A n m . 4 ff., 21. 76 Z u r politischen F ü h r u n g s. Krippendorf, L e g i t i m i t ä t als Problem der politischen Wissenschaft, ZfPol. 9. Jg. N F (1962) S. 5; Hermens, Verfassungslehre (1964) S. 30 ff. 77 Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie S. 93 f. — Wenn die Parteien idealtypisch m i t dem Volke identisch sein sollen (a.a.O. S. 121), so wären die Wahlen, entspräche die W i r k l i c h k e i t diesem Anspruch, lediglich eine amtliche Registrierung der Mitgliederzahlen. Soweit sie i h m nicht entspricht, ist m i t dieser Identifizierung eine neue F o r m der autoritären Repräsentation — der Wählerschaft durch die Parteien — verbunden, die f ü r politisch-sachliche Entscheidungen der Aktivbürgerschaft i n den Wahlen, insbesondere f ü r die verbindliche Festlegung der Parteien auf die von ihnen präsentierten Grundlinien der politischen Leitung, keinen Raum läßt. —
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hat das Grundgesetz diese Konzeption verworfen. M i t der verfassungsrechtlichen Anerkennimg politischer Führung durch gesetzgebende und vollziehende Gewalt ist die Vorstellung unvereinbar, daß das Volk von Verfassungs wegen als „der alleinige Schöpfer der politischen Wirklichk e i t " 7 8 zu gelten habe. Die konkrete Synthese der demokratischen und der oligarchischen Komponente der Hegierungsform w i r d sichtbar, wenn man den Sinngehalt der Beteiligung der Aktivbürgerschaft an der politischen Leitung berücksichtigt. Hierfür wiederum aufschlußreich ist die Struktur des politischen Prozesses. Das Grundgesetz versteht i h n primär als Ausübung der politischen Leitungsgewalt des Staates, als einen Prozeß nicht nur des Ausgleichs, sondern auch der Entscheidung von Konflikten, als einen Prozeß nicht nur der Verwaltung des Status quo, sondern auch der fortschreitenden Veränderung, der Innovation der Gesellschaft 7®. Sein Konfliktsregelungsmodell ist daher nicht das Proporzsystem, sondern das Mehrheitssystem 80 . Der politische Prozeß ist hiernach i m Ordnungsentwurf des Grundgesetzes primär als ein Prozeß der mehrheitlichen Entscheidung zwischen politischen Alternativen zu verstehen. Jene Gemeinwohlinterpretationen erhalten die Chance zur Verwirklichung, die eine Mehrheit i m Entscheidungsprozeß finden. Daß das Grundgesetz die Aktivbürgerschaft i n diesen Prozeß der Mehrheitsentscheidungen einschaltet, bedeutet, daß es ihre territoriale Solidarität als tragfähig für Konfliktentscheidungen und gesellschaftliche Innovation ansieht und daß es jenen Gemeinwohlinterpretationen den Vorzug gibt, die den politischen Wertungen und Interessen der Mehrheit der — gleichen — Aktivbürger entsprechen 81 . Weil nun für den Wahlakt die vielfältigen Entwürfe für politische Sachentscheidungen gebündelt, auf einige wenige vordringliche Fragen beschränkt oder auf grundlegende Maßstäbe der Gemeinwohlinterpretation zurückgeführt werden müssen und weil ferner wärend einer Legislaturperiode gesellschaftliche Bedingungen sich ändern und neue Probleme gelöst werden müssen, kann die konkrete M i t w i r k u n g der Kritisch zu Leibholz bereits Hesse, Parteien, W D S t R L 17 S. 21 A n m . 38; Christoph Müller, Mandat S. 48 f. 78 Leibholz, Strukturprobleme S. 143; damit ist es k a u m zu vereinbaren, daß Leibholz (a.a.O. S. 124 f.) die elitäre F ü h r u n g als legitimes Element auch der „modernen parteienstaatlichen Demokratie" versteht. 78 S. o. § 12, 2. m i t A n m . 39 ff. » S. o. § 12, 2. m i t A n m . 49 b. 01 Bereits Smend, Maßstäbe des parlamentarischen Wahlrechts (1912), A b handlungen S. 27, hat darauf hingewiesen, daß die Gestaltung des W a h l rechts (gleiches Wahlrecht oder Klassenwahlrecht) darüber entscheidet, w e l che Schichten der Gesellschaft zur politischen Einflußnahme — also nicht n u r zur sachlich-politisch irrelevanten A k k l a m a t i o n — berufen sind.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
w ä h l e n d e n A k t i v b ü r g e r s c h a f t b e i d e r p o l i t i s c h e n L e i t u n g n u r so v e r s t a n d e n w e r d e n : D i e Aktivbürgerschaft entscheidet im Wahlakt zwischen Parteien, die sich mit unterschiedlichen politischen Entwürfen, insbesondere mit unterschiedlichen Konzeptionen für vordringliche Aufgaben und mit unterschiedlichen grundlegenden Maßstäben der Gemeinwohlinterpretation identifizierenDen v o n d e n P a r t e i e n präsent i e r t e n A m t s i n h a b e r n o b l i e g t es, diese E n t w ü r f e z u k o n k r e t i s i e r e n , d e n v e r ä n d e r t e n S i t u a t i o n e n anzupassen u n d sie durchzusetzen sowie die E r f ü l l u n g neuer A u f g a b e n auf der Grundlage jener allgemeinen Maßstäbe der Gemeinwohlinterpretation i n A n g r i f f zu nehmen. H i e r i n u n d i n der Formulierung, A u s w a h l u n d B ü n d e l u n g der zur Entscheidung gestellten w I m Sinne der Konstituierung politisch-sachlicher Mitbestimmung der Aktivbürgerschaft u n d als Absage an die autoritäre Regierungsform der „mittelbaren" Demokratie bzw. der absorptiven Repräsentation werden die Parlamentswahlen des Grundgesetzes verstanden von v. Mangoldt - Klein, GG, A r t . 20 V 5 S. 596; Werner Weber, Mittelbare u n d unmittelbare Demokratie, a.a.O. S. 776 f.; Leibholz Strukturprobleme S. 59, 104; Friesenhahn, Parlament u n d Regierung, W D S t R L 16 S. 25 f.; Jahrreiß, Demokratie, a.a.O. S. 72; v. d. Gablentz, A u t o r i t ä t u n d Legitimität, a.a.O. S. 85; Ridder, J Z 1962 S. 772 f.; Peter, Wahlabsprachen politischer Parteien u n d ihre rechtlichen Grenzen (1964) S. 117 ff.; Kurz, Volkssouveränität u n d Volksrepräsentation S. 296, 308 f., 322 f.; Thieme, J Z 1966 S. 41; Abendroth, Das Grundgesetz, Eine Einführung i n seine politischen Probleme (1966) S. 78 ff.; Christoph Müller, Das imperative u n d das freie Mandat S. 220, 227 ff., 234; Sattler, Das Prinzip der „funktionellen Integration" S. 14 ff.; Morstein - Marx, J Z 1968 S. 198.
A b w e i s u n g e n gegenüber den Vorgenannten ergeben sich allerdings aus den Begründungen. Christoph Müller (ebd.) bekämpft die Scheinalternative zwischen herkömmlich absorptiv interpretiertem freien Mandat u n d parteienstaatlicher Demokratie aufgrund eindringender historischer Untersuchung u n d stellt aufgrund soziologischer Beobachtung fest, daß i m Prozeß der politischen V e r m i t t l u n g sowohl dem V o l k , insbesondere der öffentlichen Meinung, als auch der Regierung eine aktive Rolle zukommt, so daß politische F ü h r u n g durch Regierung u n d Parlament einerseits u n d effektive Einflußnahme des Volkes andererseits nebeneinander stehen. Eben diese Forderung v e r w i r k l i c h t nach der hier vertretenen Auslegung A r t . 20 Abs. 2 S. 2 GG — allerdings m i t einem normativen Anspruch, der sich weder m i t den Zufälligkeiten des permanenten Vermittlungsprozesses noch m i t der Deformierung demokratischer Einflußnahme durch Personalplebiszite abfindet. — V o r w i e gend dogmengeschichtlich u n d staatstheoretisch fundiert sind die auf eine inhaltliche Beschränkung der parlamentarischen Repräsentation gerichteten Überlegungen von Kurz (ebd.). Das von i h m vertretene „Verbot der Diskonkordanz" zwischen dem „ W i l l e n des Volkes" u n d den Handlungen der Repräsentanten k a n n allerdings i n Ermangelung normativer Abstützung i n den A r t . 20 Abs. 2 S. 2, 21 Abs. 1 GG ohne verfassungsrechtliches V e r d i k t dadurch unterlaufen werden, daß der „ W i l l e des Volkes" nicht über politischsachliche Alternativen befragt, sondern für „Sympathie"-Kundgebungen i n Anspruch genommen w i r d . Z u r verantwortlichen M i t w i r k u n g des Einzelnen an den Entscheidungen f ü r die Gesamtheit u n d zur Bedeutung des tatsächlichen Mehrheitswillens f ü r die konkreten Entscheidungen s. BVerfGE 5, 85 (204, 197f.); 11, 266 (273, 275 f.). BVerfGE 3, 19 (26) erkennt i n der „Entscheidung über den Wert des Programms einer politischen Partei u n d ihre M i t w i r k u n g an der B i l d u n g des Staatswillens" zutreffend den Sinn der WaÈIfcn nach dem Grundgesetz, v e r bindet dies jedoch unzutreffend m i t dem traditionellen Sinngehalt der „ r e präsentativen" Demokratie.
§ 13 Die demokratische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland
175
politischen Entwürfe durch die Parteien liegen die wesentlichen oligarchischen Strukturelemente des Regierungsprozesses. Sie werden allerdings durch die M i t w i r k u n g der Aktivbürgerschaft bei der Ausarbeitung der politischen Ziele der Parteien eingeschränkt: Denn wenn deren innere Ordnung „ d e m o k r a t i s c h e n Grundsätzen entsprechen" muß (Art. 21 Abs. 2 S. 3 GG), so kann das nur bedeuten, daß die Parteien selbst von Verfassungs wegen auf die Realisierung der politischen Verantwortung der Bürger angelegt sind. Von hier aus erschließt sich auch der Sinn des sog. „freien Mandats" gemäß A r t . 38 Abs. 1 S. 2 GG. Es ist, entgegen liberal-elitärer Interpretation, kein Mandat zu umfassender oligarchischer Herrschaft. Denn soweit der verfassungsgesetzlich anerkannte Entscheidungsgehalt der Wahlen reicht, sind die Gewählten an ihn gebunden — auch dann, wenn Verstöße gegen diese Bindung i m Regelfall nicht justiziabel sein sollten. I m Rahmen der Regierungsform des Grundgesetzes, wie sie insbesondere durch die A r t . 20 Abs. 2 S. 2 und 21 GG vorgezeichnet ist, schafft das „freie Mandat" vielmehr Raum für die Konkretisierung, Anpassung und Durchsetzung der richtungbestimmenden Entscheidungen der wählenden Aktivbürgerschaft. Es richtet sich gegen die Bindung der A b geordneten an Verbandsinteressen und wehrt ihre umfassende, für die Realisierung der richtungbestimmenden Entscheidung der Aktivbürgerschaft nicht erforderliche Festlegung durch die Fraktionen ab. Das „freie Mandat" lockert die m i t der Parteienstaatlichkeit verbundenen kollektiven Organisationsformen auf zugunsten individueller Initiativen der einzelnen Amtsinhaber 8 5 . Die Qualifizierung der Abgeordneten als „Vertreter des ganzen Volkes" bedeutet i n diesem Zusammenhang, daß die Abgeordneten von Verfassungs wegen für das Gemeinwohl i n Pflicht genommen werden, daß sie Inhaber eines anvertrauten öffentlichen Amtes sind 8 4 . 88 BVerfGE 2, 1 (74); Kirchheimer, Parteistruktur u n d Massendemokratie i n Europa, AöR 79 (1953) S. 310 f., 315 f.; Hesse, Die politischen Parteien, W D S t R L 17, 31 f.; Ders., Die normative K r a f t der Verfassung S. 21 A n m . 19; Ders., Grundzüge des Verfassungsrechts S. 221 f.; Christoph Müller, Mandat S. 212, 222, 231; Leibholz, Strukturprobleme S. 97; Abendroth, Innerparteiliche u n d innerverbandliche Demokratie, PVS V (1964) S. 314; zur Bedeutung des freien Mandats beim Zusammentreffen von Parlamentsmitgliedschaft u n d Verbandszugehörigkeit s. Varain, Das Parlament i m Parteienstaat, PVS V (1964) S. 344. 84 S. Köttgen, Das anvertraute öffentliche A m t , a.a.O. S. 130, 137; Smend, Das Problem der Institutionen, a.a.O. S. 75; Henke, Parteien S. 95. Vgl. ferner o. § 11, 1. m i t A n m . 18. Das amtsrechtliche Verständnis des Abgeordnetenmandats w i r d besonders deutlich i m niedersächsischen Kommunalrecht. H i e r nach haben die Abgeordneten nach ihrer durch die „Rücksicht auf das Gem e i n w o h l " geleiteten Überzeugung zu entscheiden (§15 Abs. 1 der Niedersächsischen Landkreisordnung, Nds.GVBl. 1967 S. 403; §39 Abs. 1 der Niedersächsischen Gemeindeordnung, Nds.GVBl. 1967 S. 383; §13 Abs. 1 des Gesetzes zur Ordnung des Großraums Hannover, Nds.GVBl. 1962 S. 235). — Der
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
I n der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland haben die oligarchischen Faktoren ein deutliches Übergewicht gegenüber der demokratischen Komponente der politischen L e i t u n g erlangt. Die Aktivbürgerschaft ist bei der Wahrnehmung des i h r anvertrauten Teils der Leitungsverantw o r t u n g w e i t h i n darauf angewiesen, daß die Inhaber anderer staatsleitender Ä m t e r nicht versuchen, „ m i t ihrem »aufgeklärten Absolutismus 4 unter sich zu bleiben"® 5 , sondern stattdessen die tatsächlich vorhandenen Interessenkonf l i k t e u n d politischen A l t e r n a t i v e n offen bezeichnen u n d der richtungbestimmenden Entscheidung der Aktivbürgerschaft zugänglich machen. Hierzu gehört die Offenheit der politischen Willensbildung i n den Parteien 8 ® ebenso w i e der Verzicht auf einverständliche Ausklammerung entscheidender politischer Fragen i n den Wahlkämpfen m i t der Folge, daß der Entscheidungsspielraum der Aktivbürgerschaft eingeengt u n d die Entscheidung den oligarchischen Gruppen vorbehalten w i r d 8 7 . Jene herrschende Verfassungsinterpretation, die sich a m liberalen L e i t b i l d der „mittelbaren Demokratie" orientiert, hat ihren Beitrag zur Legitimierung dieser Fehlentwicklungen geleistet. Denn w e n n Wahlen sich darauf beschränken, eine „Vertrauensrelation zwischen dem Führungskörper der Parteien u n d der Wählerschaft" herzustellen 8 8 u n d Maßstab f ü r die W a h l der Inhaber staatsleitender Ä m t e r die „Sympathie" ist 8 9 , dann ist es n u r folgerichtig, w e n n Parteien die Wahlkämpfe führen als „Verkaufskonzerne von Führerimages zwecks E r w e r b von Wählerstimmen" 9 0 . Der Bürger w i r d i n die Rolle des sachlich unbeteiligten, akklamierenden Zuschauers versetzt. Eine solche Praxis ist n u r schwer zu unterscheiden v o n der „lähmenden Passivität einer Führerideologie, die v o m politischen Zauberer alles erwartet" u n d deshalb v o m Bürger „nichts verlangt" 9 1 , insbesondere i h m nicht die verantwortliche Entscheidung über die Grundzüge der politischen Ordnung des Gemeinwesens abverlangt. Bei a l l dem handelt es sich weder u m schicksalhafte Notwendigkeiten noch u m bloße Fragen des politischen Stils, sondern u m Verletzungen der demokratischen Regierungsform, die das Grundgesetz normiert hat. Erst w e n n diese Momente der Verfassungswirklichkeit als Verfassungsverstöße erkannt werden, k a n n untersucht werden, welche strukturellen E i n schränkungen die demokratische Regierungsform i n der modernen Industriegesellschaft erfährt: Einschränkungen durch Entpolitisierung zahlreicher amtsrechtlichen Interpretation des A r t . 38 Abs. 1 S. 2 G G steht nicht entgegen, daß die positiv-rechtliche Konkretisierung der Abgeordnetenpflichten hinter dem überkommenen Amtsrecht zurückbleibt; vgl. hierzu H. J. Wolff , Verwaltungsrecht I I § 86 V I I e 3, S. 160. 85 Werner Weber, Z u r Problematik der Staatsvorstellungen i n der Gegenwart, a.a.O. S. 18. 88 Z u r Gefahr der „Verbonzung" s. Fraenkel, Die repräsentative u n d die plebiszitäre Komponente i m demokratischen Verfassungsstaat S. 30 f. 87 Kritisch insbes. Agnoli - Brückner, Die Transformation der Demokratie S. 78. 88 Hennis, Amtsgedanke, a.a.O. S. 56; Hättich, Demokratie als Herrschaftsform (1967) S. 48 f. 89 Sternberger, zit. nach Leibholz, Strukturprobleme S. 95 A n m . 46. 90 Abendroth, Innerparteiliche u n d innerverbandliche Demokratie, PVS V S. 335. K r i t i s c h zum „politischen M a r k e t i n g " ferner Habermas, S t r u k t u r wandel der Öffentlichkeit S. 236 ff. Z u r „Stimmungsdemokratie" s. auch Mannheim, Mensch u n d Gesellschaft i m Zeitalter des Umbaus S. 53, 414 f. 91 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht (1928), Abhandlungen S. 143.
§ 14 Politische Leitungsgewalt i n B u n d u n d Ländern
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Aufgaben, die v o m Staat m i t Notwendigkeit erfüllt werden müssen, E i n schränkungen durch Sachrationalität, die den Politiker durch den Fachmann ersetzt 9 2 u n d Einschränkungen durch internationale Interdependenzen, die den praktischen Entscheidungsspielraum beschneiden 93 . Indessen zeigt näheres Zusehen, daß es sich hierbei u m allgemeine Strukturprobleme des p o l i t i schen Staates handelt, die sämtliche verfassungsmäßigen Leitungsinstitutionen, selbst die politische Spitze der vollziehenden Gewalt, i n Mitleidenschaft ziehen 9 4 . Sie stecken die Reichweite realisierbarer Leitungsgewalt des Staates ab. Speziell gegen die demokratische Leitungsverantwortung der Aktivbürgerschaft sind sie n u r am Rande gerichtet.
Zweites
Kapitel
Die bundesstaatliche Gliederung der politischen Leitungsgewalt § 14 D i e Teilhabe von B u n d und L ä n d e r n an der politischen Leitungsgewalt Das P r o b l e m d e r verfassungsrechtlichen Z u o r d n u n g v o n B u n d u n d L ä n d e r n i n der b u n d e s s t a a t l i c h e n O r d n u n g des Grundgesetzes f ü h r t e z u d e r Frage, i n w e l c h e r Weise wissenschaftlich v e r t r e t b a r v o m S t a a t gesprochen w e r d e n k a n n . D i e U n t e r s u c h u n g ergab, daß d e r S t a a t u n t e r d e r G e l t u n g des Grundgesetzes als e i n e I n s t i t u t i o n i m G e m e i n w e s e n z u v e r s t e h e n ist. I h r verfassungsrechtlich wesentliches M e r k m a l ist n i c h t die v o n d e r p o s i t i v i s t i s c h e n B u n d e s s t a a t s l e h r e i n d e n V o r d e r g r u n d ger ü c k t e „ U n a b g e l e i t e t h e i t d e r S t a a t s g e w a l t " , s o n d e r n d i e verfassungs89 Mannheim, Mensch u n d Gesellschaft S. 418 ff.; Forsthoff, S t r u k t u r w a n d lungen der modernen Demokratie (1964) S. 10 f., 24; Ders., Die Bundesrepub l i k Deutschland, a.a.O. S. 812; Ders., Verfassungsprobleme i m Sozialstaat S. 1 3 1 ; Hennis, Parlamentarische Opposition u n d Industriegesellschaft, zustimmend zitiert bei Carl Schmitt, Aufsätze S. 366; Habermas, S t r u k t u r w a n del der Öffentlichkeit S. 235 f.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 6 5 1 ; Werner Weber, Mittelbare u n d unmittelbare Demokratie, a.a.O. S. 778 ff. ; Ders., Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem S. 61 A n m . 21. 93 Das „ I d e a l der Interdependenz", das an die Stelle staatlicher Souveränität treten soll (so John F. Kennedy, zustimmend zitiert bei H er schei, JZ 1965 S. 81), ist f ü r die demokratische Regierungsform nicht weniger einschneidend als die „Staatsidee des kooperativen Föderalismus" i m innerstaatlichen Bereich (s. u. § 15, 3. m i t A n m . 74 ff.). Die Verminderung demokratischer E i n flußchancen durch Kompromißstrukturen bei der internationalen Zusammenarbeit — letztlich durch Entstaatlichung öffentlicher Aufgaben — ist Gegenstand der grundlegenden Untersuchung Andreas Sattlers, Das Prinzip der „funktionellen Integration" u n d die Einigung Europas (1967), pass., insbes. S. 216 ff. 94 S. o. § 12, 2. m i t A n m . 19 f l , 34.
12 Hempel
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
mäßige Betrauung m i t der politischen Leitungsgewalt. Für das Bundesstaatsrecht ist diese Feststellung allerdings nur insoweit bedeutsam, als sie zur verfassungsrechtlichen Qualifizierung von Bund und Ländern beiträgt. Eine solche enge Beziehung zwischen Staatlichkeit und Bundesstaat liegt indessen nicht nur terminologisch nahe, sondern vor allem auch aufgrund der zentralen Bedeutung, die das Grundgesetz der bundesstaatlichen Ordnung des staatlichen Lebens zumißt (Art. 20 Abs. 1, 79 Abs. 3 GG). Vom topos „politische Leitungsgewalt" ist daher auch Aufschluß über den „Bundesstaat" (Art. 20 Abs. 1 GG) zu erwarten.
1. Die Kompetenzordnung
Sowohl nach dem Verfassungstext als auch i n der wissenschaftlichen Diskussion ist es unzweifelhaft, daß der Bund an der — wie auch immer definierten — Staatlichkeit teilhat. Seine „Überlegenheit gegenüber dem Außerstaatlichen" liegt i n der Befugnis, i m Rahmen seiner Aufgaben vom Zweck auf die M i t t e l zu schließen, insbesondere i m Wege der Rechtssetzung Herrschaft auszuüben sowie i n der i h m anvertrauten Kompetenzkompetenz (Art. 79 GG). Seine Teilhabe am materiellen Element der politischen Leitungsgewalt, der Regierungsfunktion, ergibt sich bereits daraus, daß er m i t wenigen Ausnahmen für die Fülle jener politischen Aufgaben zuständig ist, die oben (§ 12, 2.) als Leitungsaufgaben beschrieben wurden. Besonderer Untersuchung bedarf hingegen die Teilhabe der Länder an der Staatlichkeit, also an der politischen Leitungsgewalt. Seit je gilt es als Prüfstein jeder Interpretation der bundesstaatlichen Ordnung, ob sie i n der Lage ist, die von der Verfassung vorausgesetzte Unterscheidung von Ländern und kommunalen Gebietskörperschaften nachzuvollziehen. I n der Gegenwart spiegelt die verfassungsrechtliche Problematik solcher Unterscheidbarkeit die reale Problematik der bundesstaatlichen Ordnung i m industriellen Gemeinwesen wider, das zur Zentralisierung seiner wichtigsten Funktionen ebenso tendiert wie zur gleichmäßigen Heranziehung aller regionalen Institutionen zu den Aufgaben des Sozial- und Verwaltungsstaates. Art. 30 GG weist die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben den Ländern zu, soweit i m Grundgesetz keine andere Regelung getroffen oder zugelassen ist. Für die Teilhabe einer Institution an der politischen Leitungsgewalt ist eine solche Kompetenzregelung zwar weder notwendig noch hinreichend: nicht notwendig, weil der Mangel der allgemeinen Kompetenzzuweisung durch die Fülle und Weite der speziell zugewiesenen Leitungsaufgaben ausgeglichen werden kann, wie das Beispiel des Bundes zeigt; nicht hinreichend, weil die anderweitig zugewiesenen Kompetenzen den Gesamtbereich der Leitungsaufgaben ausmachen können. Indessen ist
§ 14 Politische Leitungsgewalt in Bund und Ländern
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die Zuständigkeitsvermutung des A r t . 30 GG ein wesentlicher Hinweis darauf, daß die hierdurch begünstigten Länder an der politischen Leitungsgewalt teilhaben sollen. Denn die Zuständigkeitsvermutung hat jedenfalls zur Folge, daß neu auf das Gemeinwesen zukommende Leitungsaufgaben den Ländern zugewiesen sind; dies wiederum ist nur sinnvoll, wenn es ohnehin zur Funktion der Länder gehört, an der politischen Leitungsgewalt teilzuhaben. Zudem bedürfte es besonderer A n haltspunkte, wenn aus der generellen Zuweisung aller „staatlichen" Aufgaben die Leitungsaufgaben ausgenommen sein sollten. Diese Interpretation des A r t . 30 GG w i r d bestätigt durch die konkrete Kompetenzverteilung. Zwar hat das Grundgesetz den Bund i n die Lage versetzt, alle wesentlichen Initiativen auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik an sich zu ziehen und m i t Rücksicht auf die — i n diesem Bereich geradezu sachgesetzlich geforderte — „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus" die einzelnen Länder von den „weichenstellenden Entscheidungen" auszuschließen (Art. 72 Abs. 1, 2 Nr. 3 i. Verb. m. Art. 74 GG). Doch gilt dies nur insoweit, als solche Entscheidungen gesetzgeberischer Akte bedürfen. Leitungsaufgaben, deren Erfüllung lediglich auf Investitionsprogrammen und zureichender Finanzmasse beruht, können den Ländern auch i m Wege der A r t . 72, 74 GG nicht ohne weiteres entzogen werden. U m — i m Interesse effektiven Einsatzes der Finanzmittel—die selbständige Leitungsverantwortung der Länder auf diesen Gebieten (Art. 74 Nrn. 11, 13, 17 GG) ausschließen zu können, bedurfte es des Projekts verfassungsgesetzlicher „Gemeinschaftsaufgaben" (Art. 91a des Entwurfs eines Finanzreformgesetzes, BTDrucks. V/2861). Hierdurch jedoch w i r d die Leitungsverantwortung der Länder auf diesen Gebieten — soweit sie sich in Förderungsmaßnahmen niederschlägt — für das geltende Recht und damit für die Konzeption des Grundgesetzes anerkannt. Auf dem Gebiet der ausschließlichen Landeskompetenz gehört die Bildungspolitik zu jenen Aufgaben, deren Zugehörigkeit zur Regierungsfunktion nicht zweifelhaft ist. I n der üblichen Terminologie: „ I n der Kulturhoheit verwirklichen die Länder ihren Staatscharakter". Von vergleichbarem Rang i m Landesbereich ist allein noch die Raumordnungspolitik 1 , i n der die Länder lediglich durch die Rahmenkompetenz des Bundes beschränkt sind (Art. 75 Nr. 4 GG, Raumordnungsgesetz vom 8. A p r i l 1965, BGBl. I S. 306). Weitere Aufgaben der Länder 2 , wie 1 S. Köttgen, Fondsverwaltung (1965) S. 62; üle, Diskussionsbeitrag, i n : Z u r S t r u k t u r der deutschen Verwaltung, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 33 (1967) S. 31. 2 Eine Übersicht über „ D i e Staatstätigkeit der Länder i m eigenen Bereich" gibt Zinn, i n : Das Parlament v o m 26.9.1964 Nr. 39 S. 8. — I n der Begründung einer Großen Anfrage von Abgeordneten der C D U v o m 27.6.1968
12*
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
etwa das Kommunalrecht, das Polizeirecht, das Staatskirchenrecht und das Recht, den Institutionen des Rundfunks und Fernsehens einen gesetzlichen Rahmen zu geben, reichen trotz ihrer politischen Relevanz nicht i n die „Zone weichenstellender Entscheidungen" hinein. Der Überblick über die Kompetenzordnung des Grundgesetzes zeigt, daß die Teilhabe der Länder an der Regierungsfunktion von der Verfassung intendiert und, wenn auch i m wesentlichen nur auf der schmalen Basis der Bildungspolitik und der Raumordnungspolitik, realisiert worden ist. Von Seiten der Befugnisse der Länder w i r d dieses B i l d ergänzt: Die Zuweisung der staatlichen Befugnisse (Art. 30 GG) umschließt die Ermächtigung, i m Rahmen des Grundgesetzes die zur Aufgabenerfüllung erforderlichen M i t t e l einzusetzen, insbesondere die einseitige Bestimmungsmacht i m Wege freiheitsbeschränkender Rechtssetzung. Insoweit haben die Länder teil an der „Überlegenheit des Staatlichen gegenüber dem Außerstaatlichen" — wobei hier, das Ergebnis der folgenden Abschnitte vorwegnehmend, unterstellt wird, daß ihre partielle Unterordnung unter den Bund (Art. 29, 37, 79 GG) aufgrund einheitlicher Staatlichkeit nicht ihr Verhältnis zum „Außerstaatlichen" betrifft. Da die Ausstattung einer Institution mit dieser Rechtsmacht nur i m Hinblick auf ihre Regierungsfunktion sinnvoll und für die Gesellschaft erträglich ist 3 , enthält die Teilhabe der Länder an der Überlegenheit gegenüber dem Außerstaatlichen auch eine Bestätigung des materialen Befunds, demzufolge sie mit Leitungsaufgaben betraut sind. Sowohl durch ihre Teilhabe an der Regierungsfunktion als auch durch ihre Teilhabe an der Souveränität unterscheiden sich die Länder von den Gemeinden und Gemeindeverbänden (Art. 28 Abs. 2 GG). Die „ A n gelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft"" eröffnen den Gemeinden nicht die Möglichkeit, jede öffentliche Aufgabe zu ergreifen 4 und gleich den staatlichen Leitungsinstitutionen umfassende Ordnungsleitbilder zu definieren 6 . Bereits die Autonomiefestigkeit der Grundrechte 6 macht deutlich, daß ihnen jene „Fülle der Staatsgewalt" nicht zusteht, die generell zum Einsatz der erforderlichen Mittel, einschließlich der (BTDrucks. V/3099) sind politisch aktuelle Landeskompetenzen aufgezählt worden, die nach Ansicht der Abgeordneten den Eindruck entstehen lassen, „als lebe der B u n d außerhalb der W i r k l i c h k e i t unseres Volkes" (ebd. S. 3). 8 S. o. § 12 m i t A n m . 29, 30. 4 S. hierzu bereits Affolter, Grundzüge des Allgemeinen Staatsrechts (1892) S. 59 A n m . 50. 5 Z u r Umschreibung des eigenen Wirkungskreises der Gemeinden vgl. Werner Weber, Staatsverwaltung u n d Selbstverwaltung i n der Gegenwart (1953) S. 51 f., 66 ff.; Köttgen, Gemeindliches Satzungsrecht u n d Grundgesetz, DVB1.1955 S. 445; Stern, B K (2. Bearb. 1964) A r t . 28 Rdnr. 89; BVerfGE 1, 167 (174); 8, 122 (132 f.); 17, 172 (181). « S. o. § 12 A n m . 26.
§ 14 Politische Leitungsgewalt in Bund und Ländern
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Herrschaftsausübung, ermächtigt 7 . Die Gemeinden und ihre Verbände sind m i t h i n von der politischen Leitungsgewalt grundsätzlich ausgeschlossen. Das scheint keine bloße Zufälligkeit des positiv-rechtlichen Befunds zu sein. Denn insoweit stimmt die Eigenart der britischen und schweizerischen Gemeinden m i t dem deutschen Typus der Selbstverwaltung überein 8 . Sollte es zum Selbstverständnis des Grundgesetzes gehören, daß die bundesstaatliche Ordnung auch i m internationalen Vergleich von allen Formen regionaler bzw. lokaler Dezentralisation unterschieden ist, so würde der topos „Teilhabe von Bund und Ländern an der politischen Leitungsgewalt" diesem Selbstverständnis Rechnung tragen: Er vermag den Bundesstaat vom Einheitsstaat abzugrenzen. Die bisherige Darstellung der Kompetenzordnung ist von der grundgesetzlichen Unterscheidung der Verfassungsrechtskreise des Bundes und der einzelnen Länder ausgegangen. Sie hat ergeben, daß politische Leitungsgewalt auch dem Verfassungsrechtskreis der Länder zugeordnet ist. Das Grundgesetz hat darüber hinaus die Länder auch an solchen Leitungsaufgaben beteiligt, die der Bundesinstitution zugerechnet werden: Sie wirken durch den Bundesrat bei der Gesetzgebung und der Verwaltung des Bundes m i t {Art. 50 GG) 8 a . Insbesondere i m Rahmen der Zustimmungsgesetze (z. B. A r t . 84 Abs. 1, 106 Abs. 4, 79 Abs. 2 i. Verb. m. A r t . 78 GG) ist ihre M i t w i r k u n g konstitutiv für die Wahrnehmung der Leitungsverantwortung des Bundes. Allerdings faßt der Bundesrat seine Beschlüsse regelmäßig m i t der Mehrheit seiner Stimmen (Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG). Eine effektive Teilhabe an der Leitungsgewalt des Blindes besteht folglich nur für die — mehrheitlich entscheidende — Gesamtheit der Länder, mag sich auch, zumal bei wechselnden Mehrheiten, für jedes einzelne Land hieraus eine beträchtliche Steigerung seines politischen Einflusses ergeben 815 . Die i m Bundesrat institutionalisierte M i t w i r k u n g der Länder bei der Bundespolitik kann daher nur mit dieser Einschränkung ihrer Leitungsverantwortung, die sie i m eigenen Zuständigkeitsbereich wahrzunehmen haben, an die Seite gestellt werden. 7 Badura, Rechtssetzung durch Gemeinden, D Ö V 1963 S. 561; Stern, B K , 2. Bearb., A r t . 28 Rdnr. 98 (m. w. Nachw.). — Entsprechendes g i l t für die preußischen Provinzen, vgl. § 8 der Provinzialordnung v o m 29. J u n i 1875, GS. S. 335. 8 Vgl. Friedrich Glum, Die britische Demokratie (1956) S. 103; Hang, Schranken der Verfassungsrevision S. 82 ; Usteri, Theorie des Bundesstaates S. 259 f. — A. A . anscheinend Bäumlin, Rechtsstaatliche Demokratie S. 143 A n m . 2, u n d Fleiner - Giacometti, Schweizeriches Bundesstaatsrecht S. 44, 62, die Ansätze zu einem dreistufigen Föderalismus vertreten. ea I m einzelnen Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 225 ff.; Herzog, Der Bundesrat als politisches Führungsorgan? Bay.VBl. 1966 S. 181 ff. 8b Leisner, Die Schwächung der Landesparlamente durch grundgesetzlichen Föderalismus, DÖV 1968 S. 389 ff. (390f.); Bilfinger, Der Einfluß der Einzelstaaten auf die B i l d u n g des Reichs willens (1923) S. 80, 114 m i t A n m . 2.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat 2. Die Gesamtstaatlicfakeit
Die Teilhabe des Bundes an der politischen Leitungsgewalt w i r d durch die Teilhabe der Länder an ihr ergänzt. Dieses Ergebnis des vorstehenden Abschnitts läßt lediglich eine Folgerung zu: Bund und Länder bilden i n ihrer Gesamtheit — und nur i n ihrer Gesamtheit — den einen Staat des Gemeinwesens. Wollte man diesen Sachverhalt i n A n lehnung an die Stichworte der beiden gegensätzlichen Positionen i m dogmatischen Streit u m den Bundesstaatsbegriff ausdrücken, so müßte man sagen: Der Bundesstaat des Grundgesetzes ist weder zweigliedrig (der Bund und die Länder sind selbständige Staaten) noch dreigliedrig (der Bund, die Länder und ihre Gesamtheit sind selbständige Staaten), sondern — horribile dictu — „eingliedrig": Nur auf die Gesamtheit von Bund und Ländern kann der Begriff „Staat", so wie er unter der Geltung des Grundgesetzes verstanden werden muß, sinnvoll angewandt werden 8 0 . Gegenüber dieser These drängt sich sogleich eine Reihe kritischer Fragen auf: Ist nicht der Staatsbegriff zuvor unzulässigerweise auf die Gesamtstaatlichkeit zugeschnitten worden, so daß deren „Deduktion" aus der politischen Leitungsgewalt und der grundgesetzlichen Kompetenzordnung letztlich auf einer petitio principii beruht? Müssen aufgrund des Verfahrens, das bei der Untersuchung der Kompetenzordnung des Grundgesetzes angewandt worden ist, nicht auch andere Institutionen (etwa die Europäischen Gemeinschaften) i n die politische Leitungsgewalt einbezogen werden? Ist die polemische Gegenüberstellung des „eingliedrigen" Bundesstaates einerseits und des zweigliedrigen bzw. dreigliederigen Bundesstaates andererseits mehr als ein Glasperlenspiel aus dem Arsenal der positivistischen Staatstheorie? Ist die Vorstellung der Gesamtstaatlichkeit überhaupt institutionell vollziehbar, insbesondere: kann einem pluralistischen Gefüge von Leitungsinstitutionen die „Souveränität" zugesprochen werden? Die letzteren Fragen werden Gegenstand der folgenden Abschnitte sein. Hier soll zunächst die methodische Richtigkeit der Argumentation überprüft werden. I n der Tat ist die Gesamtstaatsthese bereits implizite in der oben (§ 12) gestellten Frage enthalten, welche Funktion das staatliche Ämterwesen von Verfassungs wegen i m Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland habe. Die A n t w o r t auf diese Frage hätte an der Gesamtstaatlichkeit von Bund und Ländern nur noch vorbeiführen Das Bundesverfassungsgericht, das sich für die Staatenstaatslehre entschieden hat (s. o. §7), sieht sich i n BVerfGE 22, 180 (204) veranlaßt, die Gesamtheit von B u n d u n d Ländern als den einen Staat der BRD zu bezeichnen, allerdings n u r i n Anführungszeichen: „So wenig ,der Staat' auf Bundesebene ein Monopol auf solche Betätigung für sich i n Anspruch nehmen kann, so wenig hat er ein solches auf Landesebene".
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können, wenn entweder eine einheitliche Funktion dieses staatlichen Ämterwesens nicht zu ermitteln gewesen wäre oder wenn die Länder sich gleich Selbsverwaltungskörperschaften als bloße „Trabanten" des Staates — hier des Bundes — erwiesen hätten. Beides war nicht der Fall, so daß die (teilweise) Präjudizierung des Ergebnisses durch die Ausgangsfrage zu erörtern bleibt. Vordergründig läßt sich bereits anführen, daß die traditionelle B i l dung des Staatsbegriffes, die m i t Rücksicht auf die Vorausgesetze Staatsqualität der Länder erfolgt, gleichfalls präjudiziell ist, nunmehr allerdings für die Theorie des Staatenstaates. Die prä judizier ende Frage nach der Funktion des staatlichen Ämterwesens dürfte jedoch eher als die Frage, wie ein aus Staaten zusammengesetzter Staat denkbar sei, dem Selbstverständnis eines Gemeinwesens gerecht werden, dem die metaphysische Einheit und Selbstzweckhaftigkeit des Staates keine Gewißheit mehr ist und das sich über die Pluralisierung des öffentlichen ebenso Rechenschaft abzulegen hat wie über die internationale Integration. I n einem solchen Gemeinwesen muß vor einer Detailuntersuchung über die Staatsform die Frage stehen, i n welchem Sinn überhaupt noch vom Staat gesprochen werden kann. Die „Unabgeleitetheit" der Verbandsgewalt beantwortet diese Frage nicht. Allerdings ist hierm i t noch nicht geklärt, ob die Frage nach der Funktion des Staates sogleich für die gesamte Bundesrepublik Deutschland anstatt für die einzelnen Länder gestellt werden durfte. Die Rechtfertigung für dieses Vorgehen liegt i m Selbstverständnis des Grundgesetzes. Ausweislich seiner Präambel beruht es auf dem Willen „des deutschen Volkes" i n den näher bezeichneten deutschen Ländern, „seine nationale und staatsiche Einheit" zu wahren; ferner dient es dem Ziel, „dem" staatlichen Leben, d. h. dem gesamten staatlichen Leben i n diesem Gebiet, für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben. A n das hierdurch räumlich abgegrenzte Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland mußte die Untersuchung daher anknüpfen. Soweit dieser Ausgangspunkt die These der Gesamtstaatlichkeit von Bund und Ländern prä judiziert, ist also präjudiziell letztlich nicht eine diskutierbare Methode, sondern das von der Verfassung trotz aller Einschränkungen und Vorbehalte akzeptierte Phänomen Nationalstaat. Bedenken können sich noch darauf gründen, daß die Aufgaben und Befugnisse des Bundes und der Länder sogleich ohne Rücksicht auf die bundesstaatsrechtlichen Zäsuren einheitlich gewürdigt wurden, insbesondere ihr funktionaler Zusammenhang unterstellt wurde. Indessen legt bereits der Wortlaut des A r t . 30 GG diesen Weg nahe. Denn dort versteht das Grundgesetz „die" staatlichen Befugnisse und „die" staatlichen Aufgaben als einheitliche, Bund und Länder gemeinsam erfassende Phänomene. Vor allem aber unterscheidet sich die Bundesrepu-
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
b l i k D e u t s c h l a n d w e d e r i m H i n b l i c k a u f i h r e sozio-ökonomischen G r u n d l a g e n noch i m H i n b l i c k a u f i h r e Staatsziele ( A r t . 20 A b s . 1 GG) w e s e n t l i c h v o n j e n e n p o l i t i s c h e n G e m e i n w e s e n , die, w i e e t w a F r a n k reich, I t a l i e n , B e l g i e n , d i e N i e d e r l a n d e , E n g l a n d oder auch J a p a n , die Aufgaben der Industriegesellschaft m i t einheitsstaatlichen S t r u k t u r e n i h r e s Ä m t e r w e s e n s z u b e w ä l t i g e n suchen. Es besteht d a h e r k e i n A n l a ß zu der Annahme, der B u n d u n d die einzelnen L ä n d e r k ö n n t e n v o n V e r fassungs w e g e n j e f ü r sich i n l e t z t e r I n s t a n z selbständige f u n k t i o n a l e Z u s a m m e n h ä n g e b i l d e n . A u c h aus d i e s e m G r u n d e d u r f t e d i e G e s a m t h e i t i h r e r A u f g a b e n u n d Befugnisse A u s g a n g s p u n k t f ü r d i e F r a g e nach d e r F u n k t i o n d e r S t a a t l i c h k e i t i n d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d sein 9 . I m übrigen w i r d die Untersuchung der institutionellen O r d n u n g der B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d zeigen müssen, ob sich B u n d u n d L ä n d e r v o n Verfassungs w e g e n z u r W i r k u n g s e i n h e i t eines Staates z u s a m m e n fügen. D e r K o m p e t e n z o r d n u n g des Grundgesetzes w a r z u e n t n e h m e n , daß die Länder an der politischen Leitungsgewalt teilhaben. I h r e hierfür maßgebenden M e r k m a l e , die B e t r e u u n g m i t Leitungsaufgaben u n d die A u s s t a t t u n g m i t Herrschaftsbefugnissen, insbesondere m i t d e r Gesetzgebungsbefugnis, t e i l e n sie m i t d e n E u r o p ä i s c h e n Gemeinschaften, ohne 9 N u r angedeutet sei die Problematik, die sich ergeben hätte, w e n n diese Frage i n Anlehnung an das traditionelle Modell des Staatenstaates isoliert für die einzelnen Länder u n d den B u n d gestellt worden wäre. I m Rückblick auf die oben (§ 12) erörterte Pluralisierung der verfassungsrechtlich geordneten politischen Funktionen, einschließlich der Leitungsfunktionen, läßt sich unschwer feststellen, daß die Länder i n Ermangelung eigener u n d selbständiger politischer Leitungsgewalt nicht Staaten sind. Die Begrenzbarkeit der Souveränität (s. o. § 12 m i t A n m . 24, 58) ändert hieran nichts, da die Länder i n den ihnen zugeordneten Gemeinwesen nicht einmal die überwiegende Leitungsverantwortung tragen. — Weniger eindeutig wäre das Ergebnis für den B u n d gewesen. Die beträchtliche Z a h l seiner Leitungsaufgaben, verbunden m i t seiner Kompetenzkompetenz, könnte es rechtfertigen, auch i h m allein noch „überwiegende" Leitungsverantwortung zuzuerkennen, obwohl i n diesem Falle die Länder m i t ihren Leitungsaufgaben der Bildungspolitik u n d Raumordnung, die f ü r sich allein Staatlichkeit nicht zu konstituieren vermögen, auf die Verlustliste der materialen Staatlichkeit gesetzt werden müßten, also zu den nichtstaatlichen Leitungsinstitutionen (Art. 24, 9 Abs. 3 GG) hinzutreten würden. Wäre die (alleinige) Staatlichkeit des Bundes zu bejahen, so w ü r d e durch die Herausnahme der Länder aus der ( „ u n m i t t e l baren") Staatlichkeit die Problematik der grundgesetzlichen Bundesstaatlichkeit noch verschärft werden, da sich dann allenfalls noch sekundäre U n terschiede zwischen den Ländern u n d den kommunalen Gebietskörperschaften ergäben. Wäre hingegen auch die Staatlichkeit des Bundes zu verneinen, w e i l sich seine Funktionen nicht zur überwiegenden Leitungsverantwortung zusammenfügen, so w ü r d e m i t der Staatlichkeit auch die bundesstaatliche Ordnung i n einem government von Leitungsinstitutionen aufgehoben w e r den. Indessen braucht diesen Fragen bereits deshalb nicht nachgegangen zu werden, w e i l das Grundgesetz die Länder i n die politische Leitungsgewalt einbezogen u n d damit selbst eine quantitative Reduzierung der Staatlichkeit (zu ihrer Möglichkeit vgl. o. § 12 m i t A n m . 22 ff.) auf die Leitungsfunktionen des Bundes abgelehnt hat.
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daß die Unterschiede der Zwangsanwendung hier wesentlich ins Gewicht fielen 1 0 . Wenn aber die europäischen Institutionen und die Länder insoweit einander gleichen, so ist es nicht selbstverständlich, daß nur die Länder neben dem Bund als Momente der politischen Leitungsgewalt verstanden werden dürfen; m. a. W. es bedarf der Erläuterung, warum der an der politischen Leitungsgewalt ausgerichtete Staatsbegriff nicht die europäischen Institutionen einbezieht, also nicht zum Begriff des europäischen Bundesstaates führt. Diese Frage liegt um so näher, als die Leitungsaufgaben insbesondere der Europäischen W i r t schaftsgemeinschaft als wesentlicher Kristallisationspunkt einer möglichen bundesstaatlichen Ordnung i n Europa gelten. Die A n t w o r t ist auch hier durch das Selbstverständnis des Grundgesetzes vorgezeichnet. Es hat nicht nur ζ. B. i n den A r t . 30, 28 Abs. 1 und 3 die von i h m geordnete Staatlichkeit auf die Gesamtheit von Bund und Ländern beschränkt. Deutlicher noch hat es i n den zuvor erwähnten Passagen seiner Präambel den Nationalstaat zwar modifiziert, ihn betont als ein offenes Gebilde konstituiert, ihn aber gleichwohl rezipiert. Der maßgebende Bezugspunkt des staatlichen Ämterwesens ist daher von Verfassungs wegen das Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland. Dieses Gemeinwesen ist der zentrale Ordnungs- und Verantwortungszusammenhang, für dessen gute Ordnung die Institutionen des Grundgesetzes i n Pflicht genommen sind. Die nationalen und übernationalen Leitungsinstitutionen auf dem Gebiet der Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften fügen sich nicht zuletzt deshalb nicht zur Einheit einer politischen Leitungsgewalt zusammen, weil ihnen dieser einheitliche Bezugspunkt, die Verantwortung für ein europäisches Gemeinwesen, fehlt. Ohne Integrierung i n eine solche von Verfassungs wegen einheitliche Funktion stehen die Leitungsaufgaben der Europäischen Gemeinschaften den Funktionen eines Zweckverbandes näher als den „Staats"-Zielen 1 0 a . Folgerichtig haben sich die Vertragsparteien der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die Aufgabe gestellt, den w i r t schaftlichen und sozialen Fortschritt „ihrer Länder" zu sichern und die stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen „ihrer Völker" anzustreben 11 . Entsprechend verfolgt die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl das Ziel, zur Hebung der Lebenshaltung „ i n 19
Vgl. o. § 12 bei A n m . 27. *oa I m Ergebnis ebenso Heinhard Steiger, Staatlichkeit und Überstaatlichkeit (1966), der die speziellen, sachbezogenen Funktionen der Europäischen Gemeinschaften von der gebietsgesellschaftlichen Gesamtverantwortung des Staates, v o m „tellurischen Prinzip", unterscheidet (passim, insbesondere S. 147, 183 ff.). Ferner hat das B V e r f G i n seinem Beschluß v o m 18.10.1967 hervorgehoben, die Europäischen Gemeinschaften seien „ k e i n Staat, auch k e i n Bundesstaat" (DÖV 1967 S. 823). 11
Einleitung zum E W G - V e r t r a g v o m 25. März 1957 BGBl. I I S. 766.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
den Mitgliedstaaten" beizutragen 12 . Demgegenüber haben die verbündeten Fürsten 1871 ihren ewigen Bund nicht nur zum Schutze des innerhalb des Bundesgebietes bestehenden, auch partikularen Rechts geschlossen, sondern auch „zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes". Ebenso lassen die Präambeln der Weimarer Reichsverfassung und des Bonner Grundgesetzes keinen Zweifel daran, daß hier das der zentralen Institution zugeordnete bewohnte Gebiet der maßgebende Ordnungs- und Verantwortungszusammenhang und damit dasjenige politische Gemeinwesen ist, auf das sich i n der „Epoche der Staatlichkeit" 1 3 die Regierungsfunktion richtet. Diese Lokalisierung der Staatlichkeit w i r d bestätigt durch die A r t der Autorisierung staatlicher Institutionen i n demokratischen Gemeinwesen. I n der „Epoche der Staatlichkeit" ist die verfassunggebende Gewalt auf das staatlich geordnete politische Gemeinwesen gerichtet. Nur für jenes „gebietsgesellschaftliche Zusammenwirken" 1 4 , dem die politische Leitungsgewalt zugeordnet ist, schafft der pouvoir constituant die Grundordnung des gesamten politischen Prozesses, seiner Ziele und seiner Formen. Die verfassunggebende Gewalt bezeichnet m i t h i n die Grenzen des politischen Gemeinwesens, zu dessen Ordnung und Gestaltung die politische Leitungsgewalt berufen ist. So lange eine „verfassunggebende Gewalt des europäischen Volkes" nicht existiert, w i r d die verfassungsrechtliche Begriffsbildung die Leitungsinstitutionen der Europäischen Gemeinschaften nicht i n die Wirkungseinheit der spezifisch staatlichen politischen Leitungsgewalt einbeziehen können 148 ·. Die strukturelle Verwandtschaft der Europäischen Gemeinschaften und der Länder der Bundesrepublik Deutschland steht also der Beschränkung der Staatlichkeit auf die Gesamtheit von Bund und Ländern nicht entgegen. Vergleichbare Fragen ergeben sich für die nichtstaatlichen Leitungsinstitutionen des Gemeinwesens, deren Wirkungsbereich die Staatsgrenzen nicht überschreitet. Dabei g i l t es zu begründen, warum i n der hier vertretenen Interpretation des Grundgesetzes die „Sozialpartner" (Art. 9 Abs. 3 GG) nicht i n die politische Leitungsgewalt einbezogen werden und diese nicht einem government staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen zugeordnet wird. Auch hierfür ist maßgebend, daß das Grundgesetz die bundesstaatliche Ordnung primär als eine Ordnung bestimmter Institutionen, nämlich des Bundes und der Länder, konstituiert hat (Art. 20 Abs. 1, 79 Abs. 3, 109 GG) und diese Institutio12
A r t . 2 E G K S - V e r t r a g v o m 18. A p r i l 1951, BGBl. I I S. 447. S. o. §12 A n m . 19. 14 Heller, Staatslehre S. 203. 14 a i m Ergebnis ebenso Sattler, Das Prinzip der „funktionellen tion" u n d die Einigung Europas S. 28. 18
Integra-
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— und n u r s i e — i n Übereinstimmung m i t der Tradition staatlich geordneter politischer Gemeinwesen als „staatliche" versteht (Art. 30 GG). Die Interpretation des „Bundesstaates" (Art. 20 Abs. 1 GG) hat daher allein nach der Funktion und Struktur dieser „staatlichen" Institutionen zu fragen. Anhand der Kompetenzordnung war ihre Stellung i m Gemeinwesen m i t dem topos „politische Leitungsgewalt" zu beschreiben. Insbesondere war festzustellen, daß der Funktionssinn einer solchen politischen Leitungsgewalt auch ohne Einbeziehung der Aufgaben und Befugnisse der Tarifpartner verfassungsrechtlich fixiert werden kann 1 5 . n e n
3. Die institutionelle Ordnung
Aus der Kompetenzordnung des Grundgesetzes wurde i m vorausgegangenen Abschnitt die These abgeleitet, daß Bund und Länder an der einen politischen Leitungsgewalt teilhaben und damit i n ihrer Gesamtheit den einen Staat des Gemeinwesens Bundesrepublik Deutschland bilden. Indem diese Interpretation der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes den Staatsbegriff m i t einem lediglich objektiven institutionellen Gefüge verbindet, macht sie nicht nur von der Freiheit Gebrauch, die ihr mit der Preisgabe des Primats der rechtssubjektiven Einheit durch das Grundgesetz zugewachsen ist 1 6 . Sie impliziert auch die Vorstellung, daß die Souveränität mehreren relativ selbständigen Ämtergruppen zugeordnet ist und allgemeiner noch die Behauptung, daß ein solches institutionelles Gefüge fähig sei, die Funktion der politischen Leitungsgewalt wahrzunehmen. Von der wissenschaftlichen Vertretbarkeit dieser These hängt zu einem wesentlichen Teil die Tragfähigkeit des topos „Teilhabe von Bund und Ländern an der politischen Leitungsgewalt" ab. Die Wirkungseinheit des Staates, insbesondere die Wirksamkeit seiner funktional einheitlichen politischen Leitungsgewalt w i r d normativ von der Rechtsverfassung des Gemeinwesens gewährleistet 17 . Sie hat dem politischen Prozeß Form und Richtung zu geben, i h n m i t Hilfe des Vorrangs des Verfassungsgesetzes i n eine mehr oder weniger ausgewogene Gesamtkonzeption der öffentlichen Ordnung einzufügen 18 . Die Verfassung ist ihrerseits auf bestimmte gesellschaftliche und sozialpsychologische Bedingungen des Gemeinwesens angewiesen, wenn nicht 15
Vgl. o. § 12, 2. Vgl. o. § 10 m i t A n m . 31. 17 Z u r Rechtsverfassung i m Unterschied zu anderen Verfassungsbegriffen s. Heller, Staatslehre S. 274 f. — Z u r einigenden F u n k t i o n verfassungsrechtlicher „Beziehungen" s. H. J. Wolff , Organschaft u n d juristische Person Bd. 2 S. 263 (Anm. 3 von S. 262) u n d Bd. 1 S. 343; Haenel, Zur K r i t i k der Begriffsbestimmung des Bundesstaates, H i r t h s Annalen 1877 S. 91. 18 Vgl. Heller, Staatslehre S. 269; Hesse, Rechtsstaat, a.a.O. S. 82 ff. 18
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
der politische Prozeß sich außerhalb ihres Ordnungsentwurfs vollziehen soll. A n die institutionelle Ordnung und ihre realen Bedingungen sind besondere Anforderungen i n einem Gemeinwesen gestellt, das sich für die Gliederung der politischen Leitungsgewalt, also für die Teilhabe mehrerer relativ selbständiger Ämtergruppen an der Regierungsfunktion und an der Souveränität entschieden hat. Diese Problematik, die i m Kern die funktionale Gliederung i n Legislative und Exekutive und die regionale Gliederung i n Bund und Länder gemeinsam betrifft, soll zunächst näher erläutert werden. Gliederung der politischen Leitungsgewalt bedeutet Pluralisierung der politischen Entscheidungen, bedeutet die Möglichkeit, daß unterschiedliche politische Wertungen von Verfassungs wegen m i t dem gleichen Geltungsanspruch i n staatliches Handeln umgesetzt werden können. Diese Möglichkeit w i r f t allerdings keine besondere Problematik auf, soweit die unterschiedlich motivierten Entscheidungen verschiedenen Bereichen des Zusammenlebens angehören, die nicht miteinander verflochten sind. Wasserhaushaltswirtschaft und Bildungspolitik können ohne Schaden für die Sache jeweils von politischen Kräften gesteuert werden, die sich i m übrigen auf ein und demselben Sachbereich unversöhnlich gegenüberstehen würden. Problematisch für die W i r kungseinheit des i n seiner politischen Leitungsgewalt gegliederten Staates sind indessen die sachlichen Wechselbeziehungen der institutionell getrennten Entscheidungsprozesse. Die hiermit verbundenen Konfliktsmöglichkeiten können nun zumindest i m Regelfall nicht dezisionistisch gelöst werden, soll der gewaltenteilende Effekt nicht bereits i m Ansatz wieder aufgehoben werden. Während es i m Staat mit monistischer Organisation der politischen Leitungsgewalt keinen K o n f l i k t gibt, der nicht von einem „letzten Punkt der Pyramide" aus 19 durch diktatoriale Souveränitätsakte 20 aufgrund der „Einzigkeit und Einheit des Kommandos" 2 1 entschieden werden kann, nimmt eine Verfassung, die eine gegliederte politische Leitungsgewalt organisiert, bestimmte Bereiche des politischen Prozesses von diesem Modell der Konfliktslösung aus. Verfassungsrechtlicher Ausdruck einer gegliederten politischen Leitungsgewalt ist die Ausstattung der an ihr teilhabenden Institutionen m i t dem Status eines Verfassungsorgans 22 . Verfassungsorgane erhalten 19 Heller, Souveränität S. 116; ähnlich Jesch, B ä u m l i n „Staat, R e d i t und Geschichte" (Rezension), DVB1.1962 S. 458. 80 Carl Schmitt, D i k t a t u r S. 18, 194; Ders., Besprechung von Anschütz' Kommentar zur Weimarer Verfassung, J W 55 (1926) S. 2272. 21 So Krüger, Allgemeine Staatslehre S. 849; ebenso Heller, Staatslehre S. 129, 233, 238. Z u m Zentralismus des monarchischen Absolutismus s. o. § 10. 22 Vgl. § 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951; weitere Nachweise bei Sattler, Die Rechtsstellung des Bundesverfas-
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i h r e n A m t s a u f t r a g u n m i t t e l b a r u n d ausschließlich d u r c h d i e V e r f a s sung, z u deren A u f g a b e n es gehört, die politische L e i t u n g s g e w a l t z u o r d n e n u n d f ü r d i e wechselseitigen E i n w i r k u n g s m ö g l i c h k e i t e n e i n e n v e r b i n d l i c h e n R a h m e n abzustecken 2 3 . D i e so k o n s t i t u i e r t e n V e r f a s s u n g s organe sind, s o f e r n n i c h t i n d e r V e r f a s s u n g selbst besondere R e g e l u n gen getroffen sind, grundsätzlich freigestellt v o n E i n w i r k u n g s m ö g l i c h k e i t e n a n d e r e r I n s t i t u t i o n e n 2 4 . D . h . sie s i n d f ü r d i e Z w e c k m ä ß i g k e i t u n d Rechtmäßigkeit i h r e r A m t s f ü h r u n g nicht anderen „pouvoirs constitués" verantwortlich, sondern allein der Verfassung bzw. dem Gemeinwesen25; die Sanktion für Fehlleistungen liegt insoweit lediglich i m V e r l u s t d e r L e g i t i m i t ä t . H i e r i n u n t e r s c h e i d e n sich d i e V e r f a s s u n g s organe v o n n a c h g e o r d n e t e n E i n r i c h t u n g e n u n d v o n E i n r i c h t u n g e n d e r s o g e n a n n t e n „ m i t t e l b a r e n S t a a t s v e r w a l t u n g " . D e n n d e r verfassungsrechtliche S t a t u s dieser I n s t i t u t i o n e n w i r d d u r c h d e n S t a a t v e r m i t t e l t , so daß sie i h m z u m i n d e s t f ü r d i e R e c h t m ä ß i g k e i t i h r e r A m t s a u s ü b u n g verantwortlich sind26.
sungsgerichts S. 21 ff., u n d Goessl, Organstreitigkeiten innerhalb des Bundes S. 95 ff. — I n gleichem Sinne spricht Haenel, Staatsrecht I S. 92 f., von „ H a u p t organen" u n d G. Jellinek, Staatslehre S. 504, von „obersten Organen des Staates". Das Grundgesetz verwendet den Begriff des „obersten Bundesorgans", A r t . 93 Abs. 1 Nr. 1. — Nicht zuletzt diese grundgesetzliche Rezeption des Instituts des Verfassungsorgans durch das positive Verfassungsrecht der B R D rechtfertigt es, die Verfassungsorganschaft w e i t e r h i n als Indiz f ü r eine von der Verfassung intendierte Teilhabe an der politischen Leitungsgewalt zu verstehen. Die institutionelle Lokalisierung der politischen L e i tungsgewalt auf der Ebene der Verfassungsorgane erweist sich zwar zunehmend als eines der wichtigsten Probleme der tatsächlichen Entwicklung zum „Verwaltungsstaat" (vgl. o. §12 A n m . 34); jedoch hat das deutsche Verfassungsrecht diesen Entwicklungen weder ausdrücklich noch i m Wege des V e r fassungswandels nachgegeben. 23 Sattler, Die Rechtsstellung des Bundesverfassungsgerichts S. 16; i m E r gebnis ebenso Köttgen (Das anvertraute öffentliche A m t , a.a.O. S. 124) f ü r das Amtsrecht der obersten Staatsorgane. 24 Bemerkungen des Bundesverfassungsgerichts zum Rechtsgutachten von Professor Richard Thoma, JöR 6 (1957) S. 203. 25 Vgl. Georg S. 544.
Jellineks
Begriff
des unmittelbaren
Organs,
Staatslehre
26 Allgemein Haenel, Staatsrecht I S. 139, 801 ; Köttgen, Das anvertraute öffentliche A m t , a.a.O. S. 136, u n d oben § 11 m i t Anm. 30. — Speziell zur N o t wendigkeit der Rechtsaufsicht des Staates über rechtsfähige Verwaltungseinheiten s. Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht I I (3. A u f l . 1924) S. 392 ff.; Werner Weber, Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts S. 24; E.R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht I S. 188; Forsthoff, Verwaltungsrecht I S.456f.; H.J.Wolff, Verwaltungsrecht I I § 77 I I a (S. 78); Köttgen, A r t . Staatsaufsicht, HdSW 9 (1956) S. 739; Samper, Der R u n d funkprozeß, Bay.VBl. 1964 S. 317 ff. (318); Fröhler, Gutachten S. 15; Forsthoff, Gutachten S. 40; Zeidler, Gutachten S. 43 f.; BVerfGE 8 122 (132). a . A . Salzwedel, Staatsaufsicht i n der Verwaltung, W D S t R L 22 (1965) S. 206 ff. (257), der jedoch hierbei allein die „Einheit der Staatsgewalt" i m Auge hat u n d das Autorisierungsproblem unberücksichtigt läßt.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
D i e v o r s t e h e n d e r l ä u t e r t e verfassungsorganschaftliche U n a b h ä n g i g k e i t b e w i r k t n u n , daß d i e m i t i h r ausgestatteten L e i t u n g s i n s t i t u t i o n e n a u ß e r h a l b besonderer verfassungsgesetzlicher E i n f l u ß n a h m e n u n d K o n t r o l l e n 2 7 sich a u f d e m B o d e n der G l e i c h o r d n u n g gegenüberstehen. Sie s i n d d a r a u f angewiesen, i h r e S p a n n u n g e n d u r c h e i n v e r s t ä n d l i c h e Regel u n g e n z u l ö s e n 2 8 . B l e i b t das E i n v e r s t ä n d n i s aus, so b l e i b t auch die K o n f l i k t s l ö s u n g aus. D a m i t ist eine entscheidende A u f g a b e j e d e r V e r f a s s u n g s o r d n u n g bezeichnet, d i e m e h r e r e I n s t i t u t i o n e n a n der p o l i t i s c h e n L e i t u n g s g e w a l t b e t e i l i g t : V o r k e h r u n g e n z u treffen, die d u r c h V e r h ü t u n g oder L ö s u n g v o n K o n f l i k t e n einerseits d i e g r u n d s ä t z l i c h e G l e i c h o r d n u n g der Leitungsinstitutionen w a h r e n u n d z u m anderen ein Mindestmaß staatlicher E f f e k t i v i t ä t g e w ä h r l e i s t e n , ohne welches politische L e i t u n g s g e w a l t i m G e m e i n w e s e n n i c h t ausgeübt w e r d e n k a n n 2 · . Speziell die regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt, f ü r d i e h e r k ö m m l i c h u n d auch i n d e r b u n d e s s t a a t l i c h e n O r d n u n g des Grundgesetzes eine M e h r z a h l v o n R e c h t s s e t z u n g s i n s t i t u t i o n e n k e n n zeichnend ist, b e d a r f d e r systematischen E i n h e i t d e r R e c h t s o r d n u n g . Das e r f o r d e r t K o m p e t e n z k l a r h e i t u n d R e g e l u n g des V e r h ä l t n i s s e s d e r get r e n n t erzeugten Rechtsnormen 2 9 ». Das Grundgesetz als e i n h e i t l i c h e s 27 BVerfGE 3, 225 (247f.); 9, 268 (279); zu den Verschränkungen zwischen rechtssetzender u n d vollziehender Gewalt s. insbesondere Carl Schmitt, V e r fassungslehre S. 187 ff. I m parlamentarischen Regierungssystem weicht i n folge verfassungsgesetzlicher Einwirkungsrechte der Legislative auf die Exek u t i v e die Gleichordnungslage zu einem erheblichen T e i l einem „Verhältnis des Übergewichts zugunsten der Volksvertretung" (Maunz-Dürig, GG A r t . 67 Rdnr. 2; Friesenhahn, Parlament u n d Regierung, W D S t R L 16 S. 68 Leits. 15), sofern m a n von den I m p l i k a t i o n e n des Parteienstaats u n d des Verbandseinflusses absieht. Allerdings würde es sich nicht mehr u m eine Form der Gliederung der politischen Leitungsgewalt handeln, wenn nicht ein „ K e r n bereich" gewährleistet wäre, innerhalb dessen die Regierung von einseitigen Einflußnahmen des Parlaments frei ist (BVerfGE 9, 268 [279]); vielmehr wäre dann die politische Leitungsgewalt monistisch organisiert, vgl. A r t . 50, 63 der Verfassung der DDR v o m 7.10.1949. — Z u r A k t u a l i t ä t der verfassungsorganschaftlichen Unabhängigkeit i m Verhältnis von Parlament u n d Regierung s. Goltz, M i t w i r k u n g parlamentarischer Ausschüsse beim Haushaltsvollzug, D Ö V 1965 S. 605 ff. (609 ff.). 28 BVerfGE 6, 309 (362); Goessl, Organstreitigkeiten S. 117; Sattler, Rechtsstellung des Bundesverfassungsgerichts S. 11; Friauf, Z u r Problematik des verfassungsrechtlichen Vertrages, AöR 88 S. 312. 29 Soweit die Effektivität ein Moment der Wirkungseinheit und damit der Existenz der staatlichen Gesamtorganisation ist, findet sie eine entfernte Parallele i m Völkerrecht, dem die Effektivität einer Regierung als Voraussetzung f ü r ihre Anerkennung gilt, vgl. Verdroß, Völkerrecht (5. A u f l . 1964) S. 194; Dahm, Völkerrecht Bd. I (1958) S. 181; Krüger, Das Prinzip der Effekt i v i t ä t , oder: Über die besondere Wirklichkeitsnähe des Völkerrechts, i n : Festschr. f. Spiropoulos (1957) S. 181 f.; Mosler, Die völkerrechtliche W i r k u n g bundesstaatlicher Verfassungen, a.a.O. S. 141; ähnlich Ders., W D S t R L 21 S. 139, f ü r föderative Organisationen. 29a Z u m „Verträglichkeitsprinzip für Handlungen", k r a f t dessen jede Rechtsordnung vermeiden muß, miteinander kollidierende Handlungen zuzu-
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und vorrangig geltendes Verfassungsgesetz erfüllt diese Aufgaben m i t Hilfe von Kompetenzverteilungsnormen (Art. 30, 70 ff., 83 ff. u. a.) und ihrer rechtstechnischen Sicherung durch die Kollisionsnorm des A r t . 31 GG 3 0 . M i t der Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung ist indessen das Problem der institutionellen Einheit des Staates, das hier i n der Effektivität der gegliederten politischen Leitungsgewalt gesehen wird, keineswegs erschöpft 31 . Hinzutreten müssen Verhaltenspflichten, die inhaltliche Richtlinien für die Beziehungen der verselbständigten Institutionen zueinander festlegen (Art. 35 GG und ungeschriebene Pflichten zur Rücksichtnahme und Unterstützung). Weiter ist erforderlich, daß die Fixierung der Kompetenzen den jeweiligen Anforderungen des Gemeinwesens genügt. Denn nur ein Staat, dessen Handlungsmöglichkeiten auf die Bedürfnisse der Gesellschaft zugeschnitten sind, hat die Chance, seiner Regierungsfunktion gerecht zu werden. Für Konflikte, die sich aus der ungenügenden Anpassung der Zuständigkeitsordnung an die Anforderungen des Gemeinwesens ergeben, stellt das Grundgesetz ein Verfahren der Verfassungsänderung bereit, A r t . 79 GG. Es beschränkt i n diesem Verfahren den Zwang zur Verständigung auf die Erlangung einer qualifizierten Mehrheit — allerdings auch der Länder — und grenzt damit die Gleichordnung durch ein Element zentraler Dezision ein, ohne jedoch auf diesem Wege für die bundesstaatliche Ordnung die absolutistische „Einheit der letzten Entscheidung" zu rezipieren 32 . Neben der Herstellung und Anpassung einer widerspruchsfreien Zuständigkeitsordnung kommt ihrer institutionellen Sicherung zentrale Bedeutung zu. Denn wenn ein Gemeinwesen durch regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt auf durchgängige Einheit der konkreten politischen Entscheidungen verzichtet, so muß seine Verfassung zumindest dafür Sorge tragen, daß die Grundlagen der pluralistischen Willensbildung, insbesondere die verfassungsmäßige Zuständigkeitsordnung, gewährleistet bleiben. Die Auseinandersetzungen, die zwischen den Teilinstitutionen über die Wahrung der Verfassung entstehen, könlassen, s. Raisch, J Z 1965 S. 625 ff. (629 A n m . 38) m i t Hinweisen auf v.Kempski, Bemerkungen zum Begriff der Gerechtigkeit i n Recht und P o l i t i k (1965) S. 48 ff. 30 P. Werner, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips (1967) S. 49 ff., begreift A r t . 31 GG zutreffend als „Homogenitätserscheinung". 31 Anders aufgrund seiner normativen Staatstheorie Kelsen, Souveränität S. 114, u n d anscheinend auch Zippelius, Kirche u n d Staat u n d die Einheit der Staatsgewalt, Z e v K R 9 (1962) S. 55. 32 Demgegenüber sieht Krüger, Staatslehre S. 848, i n der Kompetenz-Kompetenz „des Bundes" einen zureichenden Ansatz, u m die Geltung des von i h m m i t dem Staatsbegriff verknüpften „Einheitsmodells" auch f ü r den Bundesstaat — dem grundsätzlich „ i m m e r etwas von M o d e l l w i d r i g k e i t " anhafte — doch noch zu retten.
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nen grundsätzlich anhand der Verfassung selbst, also nach rechtlichen, dem aktuellen politischen K o n f l i k t entrückten Maßstäben entschieden werden. Dementsprechend haben die meisten bundesstaatlichen Ordnungen, einschließlich des Grundgesetzes (Art. 93 Abs. 1 GG), die richterliche Streitentscheidung zur Konfliktslösung eingesetzt 33 . Soweit allerdings eine Verfassung, wie die Reichsverfassung vom 16. A p r i l 1871, vom klaren Entweder-Oder des Richterspruchs eher eine Verschärfung der bundesstaatlichen Konfliktsituation erwartet, w i r d sie institutionelle Behelfe für eine effektive Verständigung bereitstellen, insbesondere durch Einschaltung — erforderlichenfalls mehrheitlich entscheidender — politischer Instanzen 34 . Die Verfassung w i r d ferner dem Risiko vorzubeugen haben, daß die Entscheidung des Verfassungsgerichtes nicht rechtzeitig herbeigeführt werden kann oder daß eine Institution sich weigert, verbindlich festgestellte Verfassungsgebote zu erfüllen. Dem dienen die Institute des Bundeszwangs bzw. der Reichsexekution 85 sowie der Bundes- bzw. Reichsaufsicht. Die Bundesaufsicht gemäß Art. 84 Abs. 3 GG trägt allerdings weniger den allgemeinen Anforderungen an die Effektivität der gegliederten politischen Leitungsgewalt Rechnung als vielmehr der dem deutschen Bundeststaatsrecht eigentümlichen Verschränkung von Bundesgesetzgebung und Landesverwaltung 3 6 . Zudem ist sie i n ihrer Funk88 Scheuner, Probleme u n d Verantwortungen der Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Bundesrepublik, DVB1. 1952 S. 295, konnte deshalb feststellen, daß „die Wurzel der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit zum größten T e i l i n bundesstaatlichen Verhältnissen" liege. — Z u den Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit i m Bundesstaat s. Wintrich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit, i n : Die Grundrechte I I I / 2 (1959) S. 649 f. Vgl. i m einzelnen A r t . I I I Abs. 2 (1) der Verfassung der Vereinigten Staaten von A m e r i k a v o m 17. September 1787; A r t . 113 der Schweizerischen Bundesverfassung v o m 29. M a i 1874; A r t . 19 W R V v o m 11. August 1919; A r t . 138 des österreichischen B u n desverfassungsgesetzes v o m 1. Oktober 1920; A r t . 93 Abs. 1 GG; vgl. ferner A r t . 76 R V v o m 16. A p r i l 1871; § 126 a der Frankfurter Reichsverfassung v o m 28. März 1849. 84 Z u diesem Gesichtspunkt der Reichsaufsicht gem. A r t . 4 aRV s. Triepel, Reichsaufsicht S. 99; Scheuner, DVB1. 1952 S. 295; Schröcker, Ungeschriebenes Verfassungsrecht i m Bundesstaat, a.a.O. S. 156 ff.; v. Mangoldt, V o m heutigen Standort der Bundesaufsicht (1966) S. 7 ff. — Ähnlich die Interpretation des Mängelrügeverfahrens nach A r t . 84 Abs. 4 GG bei v. Mangoldt, ebd. S. 12 ff. — Z u den Bestrebungen zur Judifizierung des Verfassungsstreits i m Deutschen Reich v o n 1871 s. Triepel, Reichsaufsicht S. 703 ff. 85 A r t . 19 aRV; A r t . 48 Abs. 1 W R V ; A r t . 37 GG. Z u r i m wesentlichen gleichen Rechtslage i n der Schweiz u n d i n den USA s. Frowein, Die selbständige Bundesaufsicht (1961) S. 45 ff. 86 A r t . 84 f. GG. Z u dieser T r a d i t i o n des kontinentalen, insbesondere des deutschen Föderalismus s. Maunz-Dürig, G G A r t . 50 Rdnr. 2; Zeidler, Ausführung von Landesgesetzen durch Bundesbehörden, DVB1. 1960 S. 574 f.; Scheuner, i n : Förderalistische Ordnung S. 64 f. Sofern den Ländern bei der Ausführung von Bundesgesetzen lediglich der Status von Selbstverwaltungskörperschaften zuzuerkennen sein sollte (so Fr. Klein, Gemeinschaftsaufgaben, a.a.O. S. 161; Merk, W D S t R L 21 S. 116; Ule, JZ 1961 S. 623 m. w . Nachw.,
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tion der Gesetzmäßigkeitskontrolle quantitativ weit zurückgetreten hinter die durch A r t . 19 Abs. 4 GG gewährleistete Kontrollfunktion der Gerichtsbarkeit 37 . Soweit jedoch die Bundesaufsicht als ein Moment der allgemeinen Stabilisierung des bundesstaatlichen Gefüges i n Betracht kommt, liegt ihre Problematik i n der Zurückdrängung der Gleichordnungslage zugunsten zentralistischer Entscheidung. Die Gliederung der politischen Leitungsgewalt bleibt hierdurch allerdings i m K e r n unberührt, wenn Aufsichtsmaßstab allein die verfassungsrechtlichen Pflichten als Grundlagen des politischen Prozesses sind. Aufgehoben w i r d sie hingegen, wenn die Aufsichtsfunktion der zentralen Institution die Handhabe gibt, verfassungskonforme Gemeinwohlinterpretationen der Länder durch eigene zu verdrängen. A u f die Problematik der Triepelsehen Interpretation der Reichsaufsicht (Art. 4 aRV), die m i t dem Vorrang des Reichsinteresses einen Maßstab verwandte, der möglicherweise über die Gewährleistung der organisatorischen Grundlagen des Reiches hinausging 38 , sei hier nur hingewiesen. Auch i n der gegenwärtigen Diskussion u m eine ungeschriebene selbständige Bundesaufsicht i. S. einer „Verfassungsaufsicht" spielt die angemessene Begrenzung des Aufsichtsmaßstabs eine zentrale Rolle 3 9 , sofern eine solche Aufsicht nicht bereits m i t dem Hinweis auf die Selbständigkeit der Länder und auf den hinreichenden Schutz der bundesstaatlichen Ordnung durch die Verfassungsgerichtsbarkeit gemäß A r t . 93 Abs. 1 G G verneint w i r d 4 0 . u n d bereits Haenel, Staatsrecht I S. 322. A. A . Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 239 f., aufgrund seiner Bezugnahme auf A r t . 15 WRV, a.a.O. A n m . 17, sowie Walter Schmidt, B u n d u n d Länder, a.a.O. S. 287 f.), würde ein prinzipieller Unterschied zwischen Bundesaufsicht u n d Kommunalaufsicht nicht bestehen (vgl. Köttgen, A r t . Staatsaufsicht H d S W 9 [1956] S. 738ff.; H.J.Wolff , Verwaltungsrecht I I § 84 I V b 2 S. 133). Denn dieser Unterschied könnte sich n u r aus dem besonderen Status der Länder ergeben, Teilhaber an der Staatlichkeit zu sein. Das ist zuerst von Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 2. Bd. (1896) S. 465, erkannt worden (ablehnend Triepel, Reichsaufsicht S. 172); i n der Sache ebenso Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 237; Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft i m Bundesstaat S. 96 f.; Walter Schmidt, B u n d u n d Länder, AöR 87 S. 291 f.; Lerche, Föderalismus, W D S t R L 21 S. 67 Anm. 8. 87 Werner Weber, Spannungen u n d K r ä f t e S. 84 f.; v. Mangoldt, V o m heutigen Standort der Bundesaufsicht S. 75 ff.; Herzog, JuS 1967 S. 189 ff. (197). 88 Triepel, Die Reichsaufsicht (1917) S. 414 f., 451. 89 Frowein, Die selbständige Bundesaufsicht (1961) S. 26, 40 ff. ; zustimmend die Besprechung Röttgens, i n : DÖV 1962 S. 718; einschränkend Dux, Bundesrat u n d Bundesaufsicht (1963) S. 16 ff., 45, 48; hierzu wiederum kritisch, f ü r eine generelle Verfassungsaufsicht i m Verfahren nach A r t . 84 GG plädierend, v. Mangoldt, V o m heutigen Standort der Bundesaufsicht (1966) S. 65 ff., 73 ff. — Die Erstreckung der Bundesaufsicht nach A r t . 84 Abs. 3 GG auf die Fälle des A r t . 28 Abs. 3 G G befürwortet P. Werner, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips (1967) S. 86 ff. 40 So BVerfGE 8, 122 (130 f.). Harbich, Bundesstaat S. 123 A n m . 22, beruft sich f ü r das gleiche Ergebnis auf „das Wesen des Bundesstaates", allerdings ohne Begründung. 13 Hempel
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Diese Diskussion braucht hier indessen nicht aufgegriffen zu werden. Festzuhalten ist lediglich, daß die Bundesaufsicht zum Repertoire der institutionellen Stabilisierung eines bundesstaatlichen Gefüges gehört 4 1 und es der konkreten Verfassungsordnung überlassen ist, ob und in welchem Ausmaß sie sich dieses Stabilisierungsmoments versichern will. Nicht weniger bedeutsam als die Konfliktslösung durch Verfassungsgerichtsbarkeit, Bundesaufsicht und Bundeszwang ist für die institutionelle Einheit des Staates die Verhütung von Konflikten. Die funktionsgerechte Wirksamkeit des Staates i m Gemeinwesen setzt eine elementare Kohärenz der Gesellschaft voraus, insbesondere eine Mindestübereinstimmung über die Grundlagen der öffentlichen Ordnung. Insoweit handelt es sich u m die allgemeinen Bedingungen institutioneller Staatlichkeit 4 2 . Darüber hinaus kommt i n einem regional gegliederten Staat dem „agreement on fundamentals" und seiner verfassungsgesetzlichen Fixierung und Gewährleistung besondere Bedeutung zu. Denn die relative Selbständigkeit regionaler Leitungsinstitutionen ist mehr als jeder andere institutionelle „Stützpunkt" geeignet, Kristallisationskern zentrifugaler Kräfte zu sein, die eine i n jeder Beziehung selbständige Gestaltung des politischen Lebens erstreben und damit die Wirkungseinheit der einen politischen Leitungsgewalt aufheben. Die Übereinstimmung zwischen der zentralen Institution des Bundesstaates und seinen regionalen Institutionen i n den elementaren Grundlagen, Zielen und Formen des politischen Prozesses ist daher m i t Recht seit je als Voraussetzung bundesstaatlicher Ordnung erkannt worden 4 3 . 41 Eine amtliche amerikanische Darstellung sämtlicher bundesstaatlicher Verfassungen sieht einen „Bestandteil des Begriffs des Bundesstaates" i n dem „Recht der Zentralgewalt, gegen einen Einzelstaat einzuschreiten, wenn die Behörden oder die Bevölkerung dieses Staates Handlungen begehen, w e l che den B u n d oder die bundesstaatliche Verfassung i n Gefahr bringen" (Bundesstaatliche Verfassungen S. 66). 42
S. o. § 11, 1. Z u Ludolph Hugo u n d Gagern s. Brie, Bundesstaat S. 20, 57. Z u A r t . 1 Sect. 4 der Verfassung der U S A Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Abh. S. 227; zu A r t . 6 der schweizerischen Bundesverfassung Usteri, Theorie des Bundesstaates S. 279 f., 345. Grundsätzlich Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 370 ff., dessen Begriff der substantiellen Homogenität ungeachtet der Anfechtbarkeit seiner staatstheoretischen Prämissen (vgl. u. § 17, 2. b)) i n diesem Zusammenhang eine relative Berechtigung erhält. Lerche, Föderalismus, W D S t R L 21 S. 66 ff. (84 ff.), beschränkt das Homogenitätsprinzip auf die „Gleichgestimmtheit i m Verfahren", insbesondere bei der Lösung der v i e l fältigen Konflikte, die zum normalen politischen Prozeß gehören. S. ferner Köttgen, Innerstatliche Gliederung, a.a.O. S. 85 f. ; C. J. Friedrich, Nationaler u n d internationaler Föderalismus, PSV V (1964) S. 160, u n d neuestens Peter Werner, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips u n d ihre Ausgestaltung i m Grundgesetz (1967), der das Homogenitätsprinzip zutreffend als ein M i t tel zur K o n f l i k t s v e r h ü t u n g m i t dem Ziele, die Funktionsfähigkeit des B u n desstaates zu gewährleisten, interpretiert (ebd. S. 27, 43 f.). 43
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Die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland trägt diesem Erfordernis vor allem i n A r t . 28 Abs. 1 GG Rechnung 44 , der die verfassungsmäßige Ordnung i n den Ländern an die Grundsätze des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats i m Sinne des Grundgesetzes bindet. Die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland hat allerdings dieser Gewährleistung der staatlichen Stabilität, die zumindest nach ihrem verfassungsgeschichtlichen Sinngehalt auf den „casus extremus" zugeschnitten ist, kaum zur Aktualität verholfen. Es kann offen bleiben, welchen Anteil hieran die unitarisierende Wirkung staatlicher Wirtschafts- und Sozialpolitik und die Verminderung regionaler Bindung der Bevölkerung haben. Jedenfalls zeigt die mangelnde Aktualität der die Grundlagen der Verfassungsordnung betreffenden Homogenitätsnorm, daß die Wirkungseinheit des staatlichen Ämterwesens der Bundesrepublik Deutschland und m i t ihr die Teilhabe zentraler und regionaler Institutionen an der einen politischen Leitungsgewalt nicht von Seiten zentrifugaler Kräfte i n den Ländern, denen die Bindung an das Grundgesetz fehlte, i n Frage gestellt ist. Die regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt i n der Bundesrepublik Deutschland hat ferner nicht bewirkt, daß das staatliche Ämterwesen sich als grundsätzlich untauglich erwiesen hätte zur Erfüllung der ihm aufgetragenen Aufgaben. Von Seiten ihrer Organisationsform vermochte die Bundesrepublik Deutschland wesentliche Aufgaben industrieller Gemeinwesen ebenso zu lösen wie einheitsstaatliche Ordnungen. Es mag der politischen Wissenschaft überlassen bleiben festzustellen, welchen A n t e i l gesellschaftliche, wirtschaftliche und sozialpsychologische Gegebenheiten, konkrete politische Entscheidungen und die bundesstaatliche Struktur an bestimmten Fehlleistungen haben. Hier ist allein erheblich, daß die bundesstaatliche Ordnung — sowohl der Bundesrepublik Deutschland als auch anderer Bundesstaaten — jedenfalls nicht eine solche Minderung staatlicher Effektivität bewirkt, daß die Funktionsfähigkeit der politischen Leitungsgewalt aufgehoben wird. Eine wesentliche Ursache hierfür liegt darin, daß auch die relative Selbständigkeit der zentralen und regionalen Leitungsinstitutionen — und damit ihre Gleichordnungslage — dem staatlichen Ämterwesen nicht eine grundsätzliche Kompromißstruktur aufzwingt. Für den überwiegenden Teil der staatlichen Aufgaben gestattet die Kompetenzverteilung, also die spezielle Zuweisung selbständiger Verantwortungsbereiche, effektive, zumeist intern durch das Mehrheitsprinzip regulierte, politische Entscheidungen. Sodann sind die Gleichordnungslage und die m i t ihr verbundene Möglichkeit von Effektivitätseinbußen eingeschränkt i n den zuvor erörterten Fällen der Gewährleistung der Ver44
13·
I n einzelnen Stern, B K , 2. Bearb. 1964, A r t . 28 Rdnrn. 7 ff.
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fassungsordnung 45 . Der „Zwang zur Verständigung" 4 6 als Konfliktslösungsmodell ist daher auf die Fälle sachlicher Interdependenzen der den verschiedenen Trägern zugewiesenen Aufgabenbereiche beschränkt. Zwar besteht gerade i m industriellen Gemeinwesen an solchen Interdependenzen — etwa zwischen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik einerseits und Bildungs- und Forschungspolitik andererseits — kein Mangel. Indessen ist der „Zwang zur Verständigung" institutionell gemindert durch die Möglichkeit der Kompetenzrevision (Art. 79 GG), einschließlich der Möglichkeit, punktuell „Gemeinschaftsaufgaben" zu schaffen 4611 . Und zum anderen entlastet i n einer Verfassungsordnung, die selbständige Initiativen und selbständige Verantwortungsbereiche nicht sogleich wieder i n einer grundsätzlichen Kompromißstruktur aufhebt, ein Scheitern der Verständigung die betroffenen Teilinstitutionen nicht von der Verantwortung für die nach den Umständen bestmögliche politische Entscheidung i n ihrem Teilbereich. Die hiermit i n Kauf genommenen Fehlleistungen und Effektivitätseinbußen gehören zu dem Preis, den ein bundesstaatlich geordnetes Gemeinwesen dafür zu zahlen hat, daß es die m i t der durchgängigen monistischen Konfliktslösung tendenziell verbundene Gefahr autoritärer Willensbildung zu vermeiden sucht und sich für eine Form des öffentlichen Lebens entschieden hat, i n der die Machtfaktoren sich „ i m Zustand einer gewissen Labilität befinden" 4 7 , die Chance zu selbständiger Initiative haben und ihre je45 Dieses Zusammenspiel von Selbständigkeit, Bindung u n d Abhängigkeit der Länder, aber auch die Unterwerfung der politischen Leitungsinstitutionen des Bundes unter die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Art. 93 Abs. 1 GG) werden i n der die Diskussion beherrschenden scharfen Entgegensetzung von Uberordnung u n d Gleichordnung (Nachweise bei Harbich, Bundesstaat S. 82 A n m . 218) übersehen. Ohne zumindest partielle Gleichordnung (verfassungsorganschaftliche Unabhängigkeit) gibt es keine Gliederung der politischen Leitungsgewalt; ohne partielle Überordnung der zentralen I n s t i t u t i o n gibt es, abgesehen v o n Fällen extremer Homogenität, keine staatliche Stabilität. — E i n Bereich der Gleichordnung fehlt zwischen der Südafrikanischen U n i o n u n d ihren m i t nicht unerheblichen Kompetenzen ausgestatteten regionalen Institutionen, da der einfache Gesetzgeber der zentralen I n s t i t u t i o n jeden K o n f l i k t durch Erweiterung seiner Zuständigkeiten entscheiden kann. Diese Ordnung ist daher m i t Recht nicht als Bundesstaat qualifiziert worden (Usteri, Bundesstaat S. 337 f.; K.C.Wheare, Föderative Regierung S. 12). Vgl. demgegenüber die Darstellung der Waitz'schen I n t e r pretation des amerikanischen Bundesstaates bei Triepel, Reichsaufsicht S. 74, der seinerseits ohne die „Unterordnung" der Gliedstaaten die „vollständigste Anarchie" befürchtet (a.a.O. S. 76). — Zutreffend trennen sich von der A l t e r native der Ü b e r - oder Nebenordnung Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 223; Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 371; Usteri, Bundesstaat S. 302; Bayer, Bundestreue S. 41 f.; Lerche, Föderalismus, W D S t R L 21 S. 67 A n m . 8, 82 A n m . 60. 4e Hesse, Grundfragen der verfassungsmäßigen Normierung des Ausnahmezustandes, J Z 1960 S. 105 ff. (108 A n m . 18); ferner Friauf, Z u r Problematik des verfassungsrechtlichen Vertrags, AöR 88 (1963) S. 312. 4
®a S. u. § 15, 3. nach A n m . 42. Thieme, Stabilität u n d L a b i l i t ä t i m demokratischen Staat, JZ 1966 S. 41.
47
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weiligen Ziele, Ansprüche und Vorstellungen stets neu rechtfertigen müssen — und zwar unter der Geltung des Grundgesetzes grundsätzlich i n rationaler öffentlicher Diskussion (vgl. oben § 13). Hierin liegt nun das wesentliche Ergebnis dieses Abschnitts: daß sich die mehreren relativ selbständigen Leitungsinstitutionen infolge realer Voraussetzungen und aufgrund verfassungsgesetzlicher Vorkehrungen zur Wirkungseinheit einer politischen Leitungsgewalt zusammenfügen können. Die Vorstellung einer „Gesamtstaatlichkeit" von Bund und Ländern scheitert nicht daran, daß i m verfassungsmäßig geordneten politischen Prozeß für die Konfliktslösung nicht die „Einheit der letzten Entscheidung" bereitsteht und die staatlichen Maßnahmen einen Funktionszusammenhang herstellen müssen, auch ohne „von einem Punkt aus gesteuert" zu sein 48 . Wenn i n einer solchen Ordnung „die Frage nach der obersten Gew a l t " innerhalb des staatlichen Ämterwesens potentiell offenbleibt 4 9 , so ist damit nicht etwa die Beantwortung der Souveränitätsfrage „umgangen" 50 . Denn die Souveränität des Staates betrifft seine „Überlegenheit gegenüber dem Außerstaatlichen" 51 , sie ist das organisationsrechtliche Korrelat seiner Regierungsfunktion. K a n n das institutionelle Gefüge auch ohne durchgängige monistische Konfliktslösung die Leistungen der politischen Leitungsgewalt erbringen, so ist es souverän 52 ; die Souveränität ist hier einer Mehrheit selbständiger Leitungsinstitutionen — oder rechtstechnisch: einem institutionellen Pluralismus letztinstanzlicher staatlicher Zurechnungseinheiten — zugeordnet 53 . Die zentrale Bedeutung der Funktion des Staates i m Gemeinwesen und die Möglichkeit einer offenen, pluralistischen und insoweit freiheitlichen Gestaltung auch des Prozesses staatlicher Willensbildung w i r d verdunkelt, wenn das Souveränitätsproblem auf die Entscheidung eines monisti48
Anders Krüger, Staatslehre S. 849. ' So f ü r die rechtsstaatliche Demokratie Bäumlin, Staat, Recht u n d Geschichte (1961) S. 40, u n d i n der Sache bereits Bernatzik, Juristische Person, AöR 5 (1890) S. 206. 50 Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 332. 51 S. o. § 12 m i t A n m . 29. 52 A u f die Fähigkeit der Organisation zur E r f ü l l u n g der staatlichen A u f gaben u n d nicht auf konstitutionelle Beschränkungen stellt auch Christoph Müller, Mandat S. 105 f., 203 f., ab. 58 Die Möglichkeit solcher „Gesamtsouveränität" wurde hinsichtlich der bundesstaatlichen Ordnungen i m Ergebnis bereits bejaht von Otto v. Gierke, Labands Staatsrecht (1883) S. 1160, 1176 ff. Ebenso Walter Schmidt, A u f b a u S. 36 ff.; Somló, Juristische Grundlehre (2. A u f l . 192) S. 295, der insoweit wiederum auf Bornhak Bezug n i m m t ; Schindler, Verfassungsrecht u n d soziale S t r u k t u r (2. Aufl. 1944) S. 114; Usteri, Theorie des Bundesstaates (1954) S. 239 ff.; Bäumlin, Rechtsstaatliche Demokratie (1954) S. 145, u n d o. § 10 m i t Anm. 26. I m einzelnen s. u. § 17,1. 49
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sehen Machtfaktors über den „Ausnahmezustand" reduziert w i r d 5 4 . Auch eine Verfassung, die den „Ausnahmezustand" normiert und hierbei die Gliederung der politischen Leitungsgewalt zugunsten monistischen Konfliktslösung aufhebt 5 5 , bleibt i m übrigen die Verfassung eines gegliederten Staates, dessen Funktions- und Wirkungseinheit von mehreren an der „Gesamtsouveränität" beteiligten Institutionen gebildet wird. Entscheidend für die Interpretation der Staatsstruktur ist i n diesem Fall vielmehr, ob die Verfassung Vorkehrungen trifft, die verhindern können, daß der Ausnahmefall legal zum Regelfall w i r d 5 6 . Nach all dem ist der Staat m i t regionaler Gliederung der politischen Leitungsgewalt, also der Gesamtstaat, der aus Bund und Ländern gebildet wird, eine Tatsache sowohl der gesellschaftlichen Wirklichkeit als auch des positiven Verfassungsrechts. Zu diesem Ergebnis konnte allerdings nicht eine Methode führen, die die staatliche Einheit nach den Zugeständnissen des Absolutismus oder des Konstitutionalismus an die Aufgliederung der politischen Willenseinheit beurteilt (vgl. oben § 10). Vielmehr war auf die Fähigkeit eines institutionellen Gefüges abzustellen, die i h m durch die Verfassung anvertraute politische Leitungsgewalt auszuüben. Die Beschränkung des Staatsbegriffs auf Staaten, die dem Appell zur „äußersten Konzentration und Anspannung aller Kräfte" folgen 57 , muß der verfassungsrechtlichen Hermeneutik daher ebenso als Ideologie erscheinen wie seine Beschränkung auf Staaten, i n denen die mehreren Verfassungsorgane durch Mitwirkungsrechte an jeweils selbständiger Politik gehindert sind 5 8 . Ob sich ein Gemeinwesen für das „Gewaltenmonopol einer einzigen Instanz" oder zumindest für die „Einheitlichkeit des Erzeugungsapparates" 59 entscheidet, ist nicht mehr ein Problem des Staatsbegriffs, sondern eine Frage der Risiken und Chancen — insbesondere des Risikos geringerer Effektivität und der Chance einer freiheitlicheren Gestaltung des politischen Prozesses —, die mit einer gegliederten Ordnung der staatlichen Institution verbunden sind.
54 Diese Position C. Schmitts (ζ. B. i n : Die D i k t a t u r S. 18) w i r d i n der Gegenwart u. a. geteilt von Quaritsch, Der Kirchenstaat, a.a.O. S. 189 m i t Anm. 46, u n d von Zippelius, Kirche u n d Staat, a.a.O. S. 57 A n m . 52. 55 A r t . 115 c Abs. 1, 3 G G (Gesetz v o m 24. J u n i 1968, BGB1. I S. 709); vgl. aber auch bereits A r t . 91 Abs. 2 GG a. F. M Hesse, J Z 1960 S. 105 ff. (106). 57
Krüger, Staatslehre S. 654. S. o. § 10 m i t A n m . 13 ff., 19. 59 V steri, Theorie des Bundesstaates S. 243, m i t treffender K r i t i k an der herrschenden D o k t r i n . 58
§15
egionale und funktionale Gliederung
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§ 15 Regionale und funktionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt Zu den Grundlagen der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes gehört es, daß der Staat sich durch seine politische Leitungsgewalt von den anderen Institutionen des Gemeinwesens unterscheidet (oben § § 1 1 f.). Die hierauf aufbauende Untersuchung der Kompetenzordnung und der institutionellen Ordnung des Grundgesetzes ergab, daß neben dem Bund auch die Länder politische Leitungsgewalt der Bundesrepublik Deutschland ausüben, und zwar nicht nur kraft ihrer M i t w i r k u n g bei der Bundespolitik (Art. 50 GG), sondern auch i n ihrem eigenen Verfassungsrechtskreis (oben § 14, 1.). D. h. die politische Leitungsgewalt ist de lege lata nicht nur funktional, sondern auch regional gegliedert. Es fragt sich, welche Bedeutung dieser positivrechtliche Befund für die Lösung konkreter Auslegungsprobleme hat. Nur wenn die festgestellte regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt einen Leitgedanken der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes zum Ausdruck bringt, w i r d sie bei der Problemerörterung — etwa bei der Untersuchung der zuständigkeitsverändernden Zusammenarbeit von Bund und Ländern — als wesentlicher Gesichtspunkt heranzuziehen sein. Denn der Umstand allein, daß die festgestellte Gesamtstaatlichkeit, also die Teilhabe von Bund und Ländern an der einen politischen Leitungsgewalt, den Bundesstaat entsprechend seinem Selbstverständnis vom Einheitsstaat abzugrenzen vermag, ist für die normative Verbindlichkeit der „regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt" nicht mehr als ein Indiz. Das Grundgesetz hat i n Art. 79 Abs. 3 einen auch für den verfassungsändernden Gesetzgeber unantastbaren Kernbestand bundesstaatlicher Ordnung formuliert. Das legt es nahe, die Frage nach dem verfassungsrechtlich verbindlichen Sinngehalt dieser bundesstaatlichen Ordnung zunächst als Frage nach dem Gegenstand der Bestandsgarantie des A r t . 79 Abs. 3 GG zu verstehen. Diese Frage hat verfassungsrechtliche Aktualität vor allem dadurch gewonnen, daß Vorschläge zur Reform der bundesstaatlichen Ordnung sich dem Einwand ausgesetzt sehen, den Bundesstaat i m Sinne des Grundgesetzes aufzuheben, insbesondere die Bestandsgarantie des A r t . 79 Abs. 3 GG zu verletzen. Die Kommission für die Finanzreform hat empfohlen, für sämtliche staatlichen Aufgaben, deren Ausführung Sache der Länder ist, die Planungsverantwortung des Bundes zu begründen, „wenn die Aufgaben für die Gesamtheit bedeutsam sind und einer langfristigen gemeinsamen Planung bedürfen (Gemeinschaftsaufgaben)". Die Länder sind an der Planungsverantwortung und damit an der entscheidenden Ausübung der Leitungsfunktion nur noch i m Wege der M i t w i r k u n g des Bundesrats beteiligt. Dieser beschließt hierbei „wie allgemein m i t Stimmenmehr-
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
heit (Art. 52 GG)" 1 . Da unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft möglicherweise sämtliche den Ländern de lege lata zustehende Leitungsaufgaben „für die Gesamtheit bedeutsam sind und einer langfristigen gemeinsamen Planung bedürfen", scheint die Kommission davon auszugehen, daß die M i t w i r k u n g der Länder durch den Bundesrat die Bundesstatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland zu wahren vermag. I n die gleiche Richtung weist die Große Anfrage von Abgeordneten der Bundestagsfraktion der CDU vom 27. Juni 1968 betreffend die „Weiterbildung des föderativen Systems" 2 . I m Schrifttum finden diese Überlegungen ihre Entsprechung vor allem i n den Arbeiten Hesses und Jahrreiß'. Beide sehen die verfassungsrechtlich maßgebende und durch A r t . 79 Abs. 3 GG gewährleistete Eigenart des Bundesstates i n der M i t w i r k u n g der Länder bei der W i l lensbildung des Bundes 8 , also i n einer funktionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt, die die funktionale Verteilung der Leitungsaufgaben auf Bundestag und Bundesregierung ergänzt. Beide Autoren beschränken diese Kennzeichnung des Bundesstaates auf die Bundesstaatlichkeit des Grundgesetzes 4 und vermeiden damit den Einwand, daß auf dieser Grundlage ein allgemeiner Begriff des Bundesstaates nicht formuliert werden könne 5 . Somit gilt es zu untersuchen, ob die de lege lata festgestellte regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt — also die Teilhabe der Länder an Regierungsfunktion und Souveränität i m eigenen Zuständigkeitsbereich — für die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes konstitutiv ist oder ob bereits die funktionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt — sei es i n Gestalt des Bundesrates (Art. 50 GG), sei es i n Gestalt anderer Formen des verbindlichen Zusammenwirkens von Bund und Ländern — den A n forderungen des A r t . 79 Abs. 3 GG genügt. Hierbei werden zunächst diejenigen Gesichtspunkte herauszustellen sein, die sich unmittelbar aus dem normativen Zusammenhang des Grundgesetzes ergeben. I h r normativer Anspruch jedoch w i r d abschließend erst beurteilt werden kön1
Gutachten Tz. 139,158, 163. BTDrucks. V/3099: „ D i e Frage müßte geprüft werden, ob nicht eine E r weiterung der Bundeszuständigkeit durch eine gleichberechtigte Beteiligung des Bundesrats an allen Gesetzgebungsmaßnahmen eine den Bedürfnissen unserer Zeit entsprechende F o r m der M i t w i r k u n g der Länder bei der Gesetzgebung darstellen würde." 8 Jahrreiß, Die Gliederung des Bundes i n Länder, a.a.O. S. 541 ff.; Hesse, Der unitarische Bundesstaat S. 26 ff. Allerdings bleibt unklar, welche Bedeutung daneben die „formale (!) Selbständigkeit der Länder als K e r n heutiger Bundesstaatlichkeit" hat, von der Hesse i n den „Grundzügen des Verfassungsrechts", S. 104, 92, spricht. 4 Hesse, der unitarische Bundesstaat S. 4 f.; Ders., Rechtsstaat, a.a.O. S. 86; Jahrreiß f Die Gliederung des Bundes i n Länder, a.a.O. S. 537. 5 S. o. § 8, 3. 2
§ 15 Regionale und funktionale Gliederung
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nen, wenn ihre Realisierungschance und ihr Sinngehalt i m politischen Gemeinwesen erörtert worden sind. Denn als Richtlinien des politischen Prozesses können gerade Verfassungsnormen auf Situationsgerechtigkeit, zumindest auf Realisierbarkeit, nicht verzichten.
1. Die Gliederung des Bundes in Länder
A r t . 79 Abs. 3 GG enthält drei Aussagen über die bundesstaatliche Ordnung: M i t dem Hinweis auf die i n A r t . 20 niedergelegten Grundsätze ist auch die Entscheidung des Art. 20 Abs. 1 GG i n Bezug genommen, daß die Bundesrepublik Deutschland ein Bundesstaat sei; konkretisierend gewährleistet Art. 79 Abs. 3 sowohl die Gliederung des Bundes i n Länder als auch die grundsätzliche M i t w i r k u n g der Länder bei der Gesetzgebung. Beide Konkretisierungen stehen gleichwertig nebeneinander. Eine Auslegung, die die M i t w i r k u n g der Länder bei der Gesetzgebung auf ihre M i t w i r k u n g bei der Bundesgesetzgebung beschränkt und hierin das sowohl notwendige als auch hinreichende Merkmal der grundgesetzlichen Bundesstaatlichkeit erblickt, würde daher Auskunft geben müssen über die verbleibende Bedeutung der „Gliederung des Bundes i n Länder". Denn es ist nicht anzunehmen, daß diese Garantie nur wiederholt, was aus der M i t w i r k u n g der Länder bei der Bundesgesetzgebung ohnehin schon folgt: daß nämlich Bund und Länder nicht identische Einheiten sind und folglich „der Bund i n Länder gegliedert" sein muß. Gegen eine solche deklaratorische Annexregelung i n A r t . 79 Abs. 3 spricht nicht zuletzt, daß es Sinn dieser Norm ist, tragende Entscheidungen des Grundgesetzes jeder legalen, nicht-revolutionären Revision zu entziehen. Schon deshalb muß es sich bei der „Gliederung des Bundes i n Länder" u m eine Staatsstrukturbestimmung von zentraler Bedeutung handeln. Allerdins könnte daran gedacht werden, daß die selbständige Bedeutung der „Gliederung des Bundes i n Länder" neben der „ M i t w i r k u n g bei der Gesetzgebung" i n der Garantie eines Selbstverwaltungsstatus der Länder liegt·. Für eine solche Beschränkung des status libertatis der Länder läßt A r t . 79 Abs. 3 GG indessen nichts erkennen. I h r steht vielmehr entgegen, daß das Grundgesetz i m übrigen A r t und Ausmaß dezentralisierter Verwaltungsführung zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers gestellt hat (Art. 79 Abs. 2, 28 Abs. 2 GG). Ein sachlicher Grund für eine tiefgreifende Differenzierung zwischen dem Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden und ihrer Verbände einerseits und dem (unterstellten) Selbstverwaltungsrecht der Länder andererseits ist nicht ersichtlich. I m Gegenteil entstünde die kaum lösbare A u f 6
So Jahrreiß,
Die Gliederung des Bundes i n Länder, a.a.O. S. 542.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
gäbe, dem Nebeneinander der Unantastbarkeit regionaler Selbstverwaltung und der Dispositionsfreiheit über die lokale Selbstverwaltung einen verfassungsrechtlichen Sinngehalt abzugewinnen. Eine regionale Selbstverwaltung, die zwischen zentralisierter Ortsverwaltung und weisungsbefugter Regierung steht, scheint nicht jenes Strukturprinzip zu sein, auf dessen Unantastbarkeit es dem Grundgesetz m i t der Gewährleistung der „Gliederung des Bundes in Länder" ankommt. Eine Garantie bloßer Selbstverwaltung der Länder kann dem Art. 79 Abs. 3 GG hiernach nicht entnommen werden. Dem Gewicht dieser Vorschrift würde es allerdings entsprechen, die „Gliederung des Bundes i n Länder" als Gewährleistung regionaler Gliederung der politischen Leitungsgewalt zu verstehen. Die konkrete Kompetenzordnung der lex lata, die die Länder i n ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich an der einen politischen Leitungsgewalt der Bundesrepublik Deutschland beteiligt 7 , wäre dann zugleich eine leitbildgerechte Verwirklichung der vom verfassungsändernden Gesetzgeber zu respektierenden „Gliederung des Bundes i n Länder". A r t . 79 Abs. 3 GG enthielte hiernach eine doppelte Bestandsgarantie: Garantie der regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt, kraft deren die Länder i n eigener Verantwortung Leitungsaufgaben wahrzunehmen haben, und Garantie der funktionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt unter Einschluß der Länder, kraft deren sie bei der Gesetzgebung des Bundes mitwirken. Ein Gesichtspunkt, der dieses Verständnis des A r t . 79 Abs. 3 GG nahelegt, wurde bereits erwähnt: die Garantie der „Gliederung des Bundes i n Länder" liefe leer, wenn sie nicht als Gewährleistung der regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt verstanden würde: Als Garantie eines bloßen Selbstverwaltungsstatus der Länder würde sie ein in sich unverständliches Ordnungsprinzip normieren und als lediglich formale Existenzgarantie wäre sie neben der „grundsätzlichen M i t wirkung der Länder bei der Gesetzgebung" überflüssig. Für die vorgeschlagene Auslegung streitet aber auch die institutionelle Ordnung des Grundgesetzes. Denn zahlreiche Rechtsinstitute des Grundgesetzes sind darauf zugeschnitten, daß die Länder i n ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich an der politischen Leitungsgewalt teilhaben. Würden den Ländern sämtliche der ihnen de lege lata zugewiesenen Leitungsaufgaben i m Wege der Verfassungsänderung entzogen werden, so würde die verbleibende institutionelle Ordnung sichtbar machen, daß der Ausschluß der Länder von der politischen Leitungsgewalt der Struktur des Grundgesetzes widerspricht. 7
Vgl. o. § 14, 1. u. 2.
§ 15 Regionale und funktionale Gliederung
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Art. 28 Abs. 1 GG geht von der Verfassungsautonomie der Länder aus und grenzt sie behutsam nur durch Homogenitätsgebote ein 8 . Eine solche Verfassungsautonomie findet i n der Entwicklung des Selbstverwaltungsrechts der dem Staat eingegliederten Körperschaften keine Entsprechung. Auch hätte es ihrer nicht bedurft, wenn das Grundgesetz den Ländern lediglich den Status von Selbstverwaltungskörperschaften verliehen hätte 9 . Denn charakteristischer Gegenstand des Verfassungsrechts ist die Ordnung der staatsleitenden Funktion 1 0 . Auch für die Teilhabe der Länder an der dem Bund zugerechneten politischen Leitungsgewalt (Art. 50 GG) wäre es nicht erforderlich gewesen, ihnen einen eigenen Verfassungsrechtskreis zuzuweisen und sie m i t verfassungsorganschaftlicher Unabhängigkeit 1 1 auszustatten. Denn der Status des Bundesrats als Verfassungsorgan 12 hätte, soweit dies rechtlich möglich ist, bereits ausgereicht, seine Willensbildung gegen Einwirkungsversuche des Bundestags und der Bundesregierung abzuschirmen. Nur aufgrund der regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt verständlich ist auch die Freistellung der Länder von der Rechtsaufsicht des Bundes, soweit sie nicht Bundesgesetze ausführen 13 . Rechtsaufsicht realisiert die Verantwortung öffentlicher Einrichtungen, die dem Staat eingegliedert sind, also nicht an seiner spezifisch staatlichen Funktion teilhaben 1 4 . Die Länder jedoch unterstehen allenfalls der Verfassungsaufsicht des Bundes. Sie läßt die grundsätzlich verfassungsunmittelbare Verantwortlichkeit der beaufsichtigten Institution für die Rechtmäßigkeit ihrer Amtsführung unberührt und grenzt sie lediglich ein, um die institutionelle Einheit des Gesamtstaates zu wahren 1 5 . Auch entbehrt der Bund bei Konflikten mit den Ländern einer Möglichkeit, die dem Staat herkömmlich — und nur durch einen Kernbereich des Selbstverwaltungsrechts begrenzt (Art. 28 Abs. 2 GG) — gegenüber den i h m eingegliederten Körperschaften zu Gebote steht: Konflikte m i t Hilfe einfacher Gesetze einseitig zu entscheiden 16 . Das Grundgesetz läßt grundsätzlich nur einverständliche Lösungen der Konflikte zwischen Bund und Ländern zu, sofern es nicht spezielle Ingerenzen des 8
S. o. § 14 m i t A n m . 43, 44. • Vgl. zu diesem Zusammenhang P. Werner, Homogenitätsprinzip S. 36 ff. 10 S. o. § 14 m i t A n m . 18, 23. 11 S. o. § 14 m i t A n m . 22 ff. 12 Vgl. näher Herzog, Der Bundesrat als politisches Führungsorgan?, Bay. VB1. 1966 S. 181 ff. 13 S. o. § 14 m i t A n m . 36. — A u f die Freiheit der Länder von selbstverwaltungsgleichen Verantwortungsbeziehungen zum B u n d hat bereits Haenel, Deutsches Staatsrecht I S. 801, hingewiesen. 14 S. o. § 14 m i t A n m . 26. 15 S. o. § 14 m i t A n m . 29, 34, 39. 18 S. o. § 14 m i t A n m . 28, 45.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
Bundes vorsieht. Dies wiederum weist auf die gleichberechtigte Teilhabe von Bund und Ländern an der politischen Leitungsgewalt des Gesamtstaates hin. Denn i m Falle einer potentiellen Monopolisierung der staatsleitenden Funktion i m Bund hätte es nahegelegen, ihn i n der Wahrnehmung seiner Verantwortung zumindest nicht durchgängig durch die Notwendigkeit eines einverständlichen Ausgleichs mit den Ländern einzuschränken. Selbst die Neugliederungskompetenz des Bundes gemäß A r t . 29 GG ist i n diesem Zusammenhang eher ein Indiz für die regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt als für bloße Dezentralisation. Denn nicht zufällig ist die Regelung der Neugliederung von Gebietskörperschaften m i t Selbstverwaltungsstatus i n der deutschen Verfassungsgeschichte kein Gegenstand des Verfassungsrechts, sondern eine Aufgabe des einfachen Gesetzgebers. Einer besonderen verfassungsgesetzlichen Ermächtigung und Normierung bedarf allein die Disposition über Institutionen, die m i t Rücksicht auf ihre Teilhabe an der politischen Leitungsgewalt m i t verfassungsorganschaftlicher Unabhängigkeit ausgestattet sind 1 7 .
2. Die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung
Die regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt als wesentlicher Leitgedanke der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes erfährt eine weitere Betätigung durch die Ausgestaltung der funktionalen Gliederung. I m Bundesrat w i r k e n „die Länder" bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mit. Die M i t w i r k u n g primär der Länder — und nicht ihrer Regierungen — mahnt zur Zurückhaltung gegenüber einer Verfassungsinterpretation, die i n der Beteiligung gerade der Landesregierungen als Exekutivspitzen den Sinn der Institution des Bundesrats erblickt 1 8 . M i t den zur M i t w i r k u n g berufenen Ländern ist die jeweilige institutionelle Gesamtheit der regionalen Einheiten bezeichnet, also der gesamte politische Prozeß i n den Ländern, soweit er sich an den Landesinstitutionen ausrichtet. Die Interessen und Gemeinwohlinterpretationen, die sich i n diesem Prozeß herausbilden, sind von den Mitgliedern der Landesregierungen zur Geltung zu brin17 Dieser Deutung steht nicht entgegen, daß A r t . 29 GG auch Ausdruck der gesetzestechnischen Kompetenzabgrenzung des A r t . 30 G G ist, daß also ohneh i n jegliche Kompetenz des Bundes ohne Rücksicht auf ihre Qualität besonderer verfassungsgesetzlicher Begründung bedarf. Denn A r t . 30 G G ist selbst ein Indiz f ü r die regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt (vgl. o. § 14, 1.). I m übrigen hätte der Grundgesetzgeber es bei einer pauschalen Ermächtigung, gleich der Ermächtigung zur Regelung der Staatsangehörigkeit i n den Ländern (Art. 74 Nr. 8 GG), bewenden lassen können. 18 Hesse, Der unitarische Bundesstaat S. 28.
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gen, nicht allein exekutivische Sachgesetzlichkeiten und Wertungen 1 9 . Indem aber das Grundgesetz diese Interessen und Gemeinwohlinterpretationen i n dem Prozeß der Willensbildung des Bundes einfügt, erkennt es ihnen eine selbständige Funktion zu, die sich nicht darin erschöpft, i n der Bundespolitik zur Geltung zu kommen. Erst diese selbständige Funktion der Länder macht ihre partielle Integrierung i n die Bundespolitik verständlich. Dezentralisierte Einheitsstaaten verzichten darauf, ihre Selbstverwaltungskörperschaften effektiv — das heißt über Anhörungsrechte und sekundäre Kontrollen hinaus — an der Willensbildung der Zentrale zu beteiligen, insbesondere die zentral legitimierten Organe zu zwingen, bei der Wahrnehmung von Leitungsaufgaben das Einvernehmen dieser Körperschaften herbeizuführen 20 . Denn bloße Selbstverwaltungskörperschaften wären infolge ihres Ausschlusses von der politischen Leitungsgewalt i m eige nen Bereich sowohl hinsichtlich ihrer Struktur und Funktion als auch i m Hinblick auf ihre Legitimation m i t dieser Verantwortung überfordert. Der i m Bundesrat, insbesondere i n Form der Zustimmungsgesetze, institutionalisierte Zwang zur Verständigung zwischen zentral und regional legitimierten Faktoren rechtfertigt sich vielmehr daraus, daß die Länder i m eigenen Bereich politische Leitungsgewalt ausüben. N u r deshalb können ihre Interessen und Initiativen für den Gesamtstaat als so gewichtig angesehen werden, daß sie bei der Ausübung der zentral wahrgenommenen Leitungsaufgaben zu berücksichtigen sind 2 1 . Andererseits bedürfen auch nur Institutionen, die — auf regionaler Ebene — selbst Leitungsaufgaben wahrnehmen, jener Impulse, die für sie von der M i t w i r k u n g bei der Bundespolitik ausgehen und geeignet sind, auch ihnen selbst ihre Verantwortung für die Funktionsfähigkeit und Effektivität der einen politischen Leitungsgewalt sichtbar zu machen 22 . Diese Gesichtspunkte, die sich aus dem Bundesratsprinzip für die Selbständigkeit und das Eigengewicht der politischen Prozesse i n den 19 Vgl. hierzu bereits Bilfinger, Einfluß der Einzelstaaten S. 77 f., 86 f., 89 f., 93, 105 ff. w Vgl. o. § 8, 3. 21 A . A . Jahrreiß, Die Gliederung des Bundes i n Länder, a.a.O. S. 541 f., 546: unabhängig von ihrer M i t w i r k u n g bei der Willensbildung des Bundes seien die Länder n u r „territoriale Selbstverwaltungskörper"; ihre M i t w i r k u n g bei der Bundespolitik habe den Sinn, sie an jener „Herrschaft" zu beteiligen, „die ihnen bei ihrem Herrschen Anweisungen zu geben befugt ist". Jahrreiß räumt allerdings selbst ein, daß dieses Organisationsmotiv f ü r jede F o r m territorialer Gliederung i n Betracht kommen k a n n (ebd. S. 545), also nicht spezifisch jene „Gliederung des Bundes i n Länder" betrifft, die den besonderen Schutz des A r t . 79 Abs. 3 G G genießt. 22 Der Bundesratspräsident Kiesinger sah i n seiner Rede v o m 9.11.1962 vor dem Bundesrat (Bull.BReg. 1962 Nr. 211 S. 1793) i n der M i t w i r k u n g der Länder an der Bundesgesetzgebung den wirksamsten „Schutz gegen p r o v i n zielle V e r k ü m m e r u n g u n d partikulare Absonderung".
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Ländern ergeben, schließen auch von Verfassungs wegen das Eigengewicht der Landtagswahlen ein. Diese beschränken sich nicht auf die Legitimierung der Mitglieder des Bundesrates. Die Länder sind mithin nicht primär Stimmbezirke für eine zweite, die Bundestagswahlen ergänzende, lediglich regional aufgefächerte Bundeswahl. Demgegenüber ist Jahrreiß der A u f f assung, i m „Republikregiment" (der Gesamtheit von Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat), das allein die deutsche Staatlichkeit ausmache, erscheine „die Aktivbürgschaft der Deutschen in zweierlei Gestalt: einmal als die Bundestagswählerschaft, zum anderen als die Wählerschaft der Länderabschnitte des Demos der Deutschen" 23 . Die Bundesratspolitik des Landes ist daher für Jahrreiß nicht einer von mehreren verfassungsrechtlich gleichwertigen Gegenständen der Landtagswahlkämpfe. Vielmehr hat die Bundespolitik normativ den Vorrang vor den Landesangelegenheiten 24 . Von den amerikanischen Senatswahlen unterscheiden sich die Wahlen zu den Landtagen hiernach nur dadurch, daß die „Länderabschnitte des deutschen Demos" nicht in zwei Senatoren Gestalt gewinnen, sondern i n einem differenzierten und organisatorisch aufwendigen System von Landtagen und Landesregierungen, dessen verfassungsrechtlicher Sinngehalt ungeklärt bleibt (bzw. verneint werden müßte). Ungeklärt bleibt freilich auch, aus welchem Grund die „zweite Gestalt des deutschen Demos" gegenüber der ersten nicht zu gleichberechtigtem Einfluß gelangt: Während der Bundestag nicht nur den Bundeskanzler wählt (Art. 63 GG), sondern auch das Recht der Gesetzgebung hat (Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG), ist der Bundesrat auf die speziell zugewiesenen Ingerenzen beschränkt, insbesondere bedarf ein wesentlicher Teil der Gesetze nicht seiner Zustimmung (Art. 77 Abs. 3, 4 GG). Die gleichberechtigte Teilhabe der beiden Häuser des amerikanischen Kongresses an der Gesetzgebung 25 trägt der doppelten Volkswahl jedenfalls folgerichtiger Rechnung als das Grundgesetz, wie es sich i n der Interpretation Jahrreiß* darstellt. Die Beschränkung der verfassungsrechtlich wesentlichen Funktion der Landtage auf die Wahl der Landesvertreter i m Bundesrat hätte indessen weitere Konsequenzen, die m i t der normativen Ordnung des Grundgesetzes nicht i n Einklang stehen. Eine selbständige, für die politische Leitungsgewalt relevante Funktion der Landtage entfiele. Als tendenziell gleichgewichtige Faktoren einer funktionalen Gewaltenteilung innerhalb der Länder kämen sie nicht mehr i n Betracht. Die tat25
Jahrreiß, Die Gliederung des Bundes i n Länder, a.a.O. S. 541. Jahrreiß, ebd. S. 545; gegen eine Reduktion der Landtags wählen auf „Elektorenwahlen f ü r den Bundesrat" zutreffend Herzog, Das Problem der staatlichen A u t o r i t ä t , a.a.O. S. 154 Anm. 40; zustimmend Harbich, Bundesstaat S. 128 f. 25 Vgl. A r t . 1 Sect. 1 u. 7 Cl. 2 der Verfassung der Vereinigten Staaten von A m e r i k a v o m 17. September 1787. 24
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sächlich festzustellende Verminderung ihres politischen Gewichts gegenüber den Landesregierungen, die auch auf die Arbeitsweise des Bundesrates zurückgeht 26 , wäre von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Das Grundgesetz zeichnet indessen i n den A r t . 28 Abs. 1, 20 Abs. 2 S. 2 GG das entgegengesetzte Leitbild: das einer gewaltenteilenden Gliederung auch innerhalb der Länder, die von den Landtagen auch ungeachtet der Stärkung der Landesregierungen durch den Bundesrat auszufüllen ist. Gegen eine verfassungsrechtliche „Depossedierung" der Landtage zugunsten der Landesregierungen sprechen aber auch hier die A r t . 50 und 79 Abs. 3 GG: Ihnen geht es um die M i t w i r kung „der Länder" bei der Bundespolitik, nicht um die der Landesregierungen. Die von Leisner registrierte Entwicklung der Landesregierungen zu „Zwischengewalten", die zwischen den Landtagen, dem Bund und den anderen Landeseinrichtungen stehen, erscheint angesichts dieses grundgesetzlichen Interesses an „den Ländern" und ihrer M i t w i r k u n g bei der Bundespolitik nicht ohne weiteres als Ausdruck der „Struktur der grundgesetzlichen Ordnung" 2 7 . Die M i t w i r k u n g „der Länder" bei der Willensbildung des Bundes weckt auch Bedenken gegen die normative Anerkennung eines „unitarischen Bundesstaates", i n dem Bundestag und Bundesregierung durch die Landesexekutiven administrativ ergänzt werden 2 8 . Anders als Jahrreiß stellt Hesse nicht die unterschiedliche demokratische Legitimierung von Bundestag und Bundesregierung einerseits und Bundesrat andererseits i n den Vordergrund, sondern das Fehlen unmittelbarer demokratischer Legitimation des Bundesrats und ihre Ersetzung durch einen verfassungsunmittelbaren Amtsauftrag zu administrativer Ingerenz bei der politischen Willensbildung von Bundestag und Bundesregierung 29 . Diese Interpretation des Bundesratsprinzips bezeichnet für Hesse zugleich den entscheidenden Sinngehalt der bundesstaatlichen Ordnung. Die Zurückführung des Bundesratsprinzips auf administrative Ingerenzen der Länder i m Bundesbereich verkürzt allerdings die demokratische Einflußnahme der Aktivbürgerschaft auf die Landespolitik. Denn zur Politik eines Landes gehört auch seine Politik i m Bundesrat. Sie w i r d i n den A r t . 50, 79 Abs. 3 GG nicht primär den Landesregierungen zugerechnet, sondern ist von ihnen als Resultante des gesamten politischen Prozesses i n den Ländern zu artikulieren. 26 Leisner, D Ö V 1968 S. 389 ff. (390 f.). Diese Problematik w a r allerdings i m Grundsatz bereits dem Deutschen Reich von 1871 u n d der Weimarer Repub l i k geläufig, vgl. Bilfinger, Einfluß der Einzelstaaten S. 106 ff. 27 So jedoch Leisner D Ö V 1968, S. 393. 28 Hesse, Der unitarische Bundesstaat S. 27 ff. 2 ® Hesse, ebd. S. 29. Vgl. hierzu bereits die Ausführungen Bilfingers, Einfluß der Einzelstaaten S. 87 f., über das soziologische Eigengewicht des „einzelstaatlichen Beamtentums" bei der Bildung des Reichswillens.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
D i e R e d u k t i o n d e r b u n d e s s t a a t l i c h e n O r d n u n g des Grundgesetzes a u f d i e f u n k t i o n a l e G l i e d e r u n g d e r p o l i t i s c h e n L e i t u n g s g e w a l t , insbesondere a u f das B u n d e s r a t s p r i n z i p , findet nach a l l e d e m i m n o r m a t i v e n Z u s a m m e n h a n g des Grundgesetzes k e i n e Stütze. D a n n a b e r m u ß a n der d u r c h d e n W o r t l a u t gebotenen A u s l e g u n g des A r t . 79 A b s . 3 G G festg e h a l t e n w e r d e n , d e r z u f o l g e d i e „ G l i e d e r u n g des B u n d e s i n L ä n d e r " e i n selbständiges O r d n u n g s p r i n z i p n e b e n d e r „ g r u n d s ä t z l i c h e n M i t w i r k u n g d e r L ä n d e r b e i d e r Gesetzgebung" ( A r t . 79 A b s . 3 GG) d a r s t e l l t (oben § 15, 1.). A l s dieses selbständige O r d n u n g s p r i n z i p e r w i e s sich die r e g i o n a l e G l i e d e r u n g d e r p o l i t i s c h e n L e i t u n g s g e w a l t . V o n h i e r aus ist j e n e n I n t e r p r e t e n des Grundgesetzes z u z u s t i m m e n , d i e d e r B u n d e s s t a a t l i c h k e i t des Grundgesetzes die A n e r k e n n u n g eines v o n d e r B u n d e s p o l i t i k i n s t i t u t i o n e l l u n a b h ä n g i g e n Bereichs eigener p o l i t i s c h e r W i l l e n s bildung i n den Ländern entnehmen u n d daher die Länder — zumindest auch — als s e l b s t ä n d i g e p o l i t i s c h e E n t s c h e i d u n g s z e n t r e n k e n n z e i c h n e n 8 0 . A n h a n d dieser Auslegung könnte auch verständlich gemacht werden, w a r u m A r t . 79 Abs. 3 GG allgemein von der M i t w i r k u n g der Länder bei „der Gesetzgebung" spricht, A r t . 50 GG hingegen n u r von ihrer M i t w i r k u n g bei „der Gesetzgebung des Bundes": „Die Gesetzgebung" i m Sinne des A r t . 79 Abs. 3 könnte als die Gesetzgebung des Gesamtstaates 81 begriffen werden; d. h. m i t der M i t w i r k u n g der Länder bei dieser Gesetzgebung wäre auch die landeseigene Gesetzgebung i n die Gewährleistung einbezogen 82 . H i e r i n läge eine Konkretisierung ihrer Teilhabe an der politischen Leitungsgewalt. Denn für diese ist die Gesetzgebungskompetenz als die Befugnis, Ordnungsleitbilder verbindlich, ggf. herrschaftlich, zu entwerfen, von zentraler Bedeutung 3 8 . Eine Garantie der M i t w i r k u n g der Länder an der Gesetzgebung des Gesamtstaates (i. S. der Gesamtheit von B u n d und Ländern) müßte daher als Hinweis auf ihre Teilhabe an der politischen Leitungsgewalt verstanden werden. Es kann indessen dahinstehen, ob i n diesem Sinne „die grundsätzliche M i t w i r k u n g der Länder bei der Gesetzgebung" auch die regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt gewährleistet, soweit sie sich i n Form der landeseigenen Gesetzgebung vollzieht. Denn m i t Rücksicht auf die gegenwärtige S t r u k t u r der staatlichen Handlungsformen (vgl. A r t . 20 Abs. 3 GG) 80 Scheuner, D Ö V 1962 S. 642, 646; Stern, B K , 2. Bearb., A r t . 28 Nr. 5; Herzog, JuS 1967 S. 196; Thieme, W D S t R L 19 S. 121; Kaiser, ebd. S. 121 f.; Krüger, ebd. S. 158; Maunz-Dürig, GG, A r t . 79 Rdnr. 33; P.Werner, Homogenitätsprinzip S. 22, 25; Harbich, Bundesstaat S. 121 f., 128 (allerdings aufgrund methodisch zweifelhafter Differenzierung zwischen einem „rechtlichen" u n d einem „politischen", aber gleichwohl rechtsverbindlichen Bundesstaatsbegriff (ebd. S. 125 f.); Konow, D Ö V 1966, S. 169, 371 f.; Liebrecht, D V B l . 1967 S. 74 f.; ferner das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 3, 383, 402), das eine „selbständige politische Willensbildung der Glieder" zum Wesen eines föderalistischen Staates zählt, sowie das Institut Finanzen und Steuern, i n : Einzelfragen der Finanzreform, Gemeinschaftsaufgaben (Brief 100, 1968) S. 25. 81
§ 14.
Z u r funktionalen u n d institutionellen Einheit dieses Gesamtstaats s. o.
82 So auch Maunz, Staatsrecht S. 194; Maunz-Dürig, GG, A r t . 79 Rdnrn. 36, 37; Herzog, JuS 1967, S. 196; a. A . Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 33. 88 S.o. §12, 2.
§ 15 Regionale und funktionale Gliederung
209
folgt die Garantie der Landesgesetzgebung bereits aus der regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt, die m i t der „Gliederung des Bundes i n Länder" gewährleistet ist.
Die Teilhabe der Länder an der Regierungsfunktion und an der Souveränität bezeichnet eine wesentliche Gemeinsamkeit des Bundesstaates des Grundgesetzes m i t anderen bundesstaatlichen Ordnungen. Als ein i n seiner politischen Leitungsgewalt auch regional gegliederter Staat fügt er sich i n die Kontinuität der bundesstaatlichen Ordnungen ein. Das ist insofern bemerkenswert, als der „unitarische Bundesstaat" i n der Konzeption Hesse s sich dieser Kontinuität ebenso entzieht wie auch jede andere Beschränkung der einzelnen Länder auf die Rolle von Partnern bei der kollektiven Willensbildung, gleichviel, ob an ihr nur die Länder beteiligt sind oder ob der Bund eingeschlossen ist 3 4 . Demgegenüber kann eine Verfassungsauslegung, die die regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt i n A r t . 79 Abs. 3 GG gewährleistet sieht, dem Selbstverständnis des Grundgesetzes gerecht werden: M i t der Verwendung des Begriffs „Bundesstaat" subsumiert sich das Grundgesetz zwar nicht unter einen Allgemeinbegriff der Staatstheorie; es führt aber auch nicht eine bloße Abbreviatur für die von i h m geschaffene konkrete Ordnung ein; vielmehr nimmt es Bezug auf ein Mindestmaß struktureller Gemeinsamkeit aller staatlichen Ordnungen, die sich als Bundesstaaten verstehen 35 » ··. Die „Gliederung des Bundes i n Länder" i. S. der regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt wahrt diese Gemeinsamkeit.
3. Regionale Entscheidungszentren und Unitarisierung
So eindeutig die Textinterpretation des Grundgesetzes ergeben hat, daß regionale politische Entscheidungszentren für die bundesstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland konstitutiv sind, so zweifelhaft sind der verfassungsrechtliche Sinngehalt und die Realisierungschance dieses Ordnungsprinzips. Normen jedoch, die nicht i n der Lage 84
Z u r Ungeeignetheit des Bundesratsprinzips, leitender Gesichtspunkt eines allgemeinen Bundesstaatsbegriffs zu sein, s. o. § 8, 3. 85 Vgl. Walter Schmidt, Der bundesstaatliche A u f b a u der B R D S. I f . ; H. J. Wolff, Rechtsgrundsätze, a.a.O. S. 49; Maunz-Dürig, GG, A r t . 20 Rdnr. 7; Scheuner, i n : Föderalistische Ordnung S. 63 f. Ä h n l i c h Lerche, W D S t R L 21, S. 68, 71; vgl. a u d i ο. § 1 m i t A n m . 17. 88 Die normative Bedeutimg des Begriffs „Bundesstaat" w i r d mittelbar auch von Jahrreiß, Die Gliederung des Bundes i n Länder, a.a.O. S. 542, anerkannt, w e n n er aus seiner ausschließlich am Bundesrat orientierten I n t e r pretation der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes folgert, daß die Verwendung des Begriffs Bundesstaat i n A r t . 20 Abs. 1 GG verfehlt sei: „Es müßte vielmehr heißen: die Bundesrepublik Deutschland ist eine Demokratie m i t teilweise bündischer B i l d u n g des Republikregiments u n d teilweise b ü n dischen Wirkens dieses Regiments." 1
Hempel
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
sind, dem gesellschaftlichen Prozeß effektiv und i n einer für i n Überzeugungen der Gesellschaft zumindest erträglichen Weise die Richtung vorzuzeichnen, verfehlen ihre Funktion, verpflichtender Ordnungsentw u r f für die gesellschaftliche Wirklichkeit zu sein 36 » Verlieren die Normen auf diese Weise ihre normierende Kraft, so werden sie letztlich durch unkontrollierte faktische Erwägungen ersetzt 37 . Damit aber ist ihre Legitimität und ggf. die Legitimität der institutionellen Ordnung insgesamt gefährdet. Dies zu vermeiden ist das bestimmende Anliegen der oben anhand des Verfassungstextes diskutierten Interpretationsversuche, die allein die funktionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt als konstitutiv für die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes bezeichnen 38 . Sie beruhen auf der Überzeugung, daß die Entwicklung über die selbständigen regionalen politischen Entscheidungszentren hinweggegangen sei; der bundesstaatlichen Ordnung müsse daher ein neuer Sinngehalt gegeben werden, wenn sie nicht für die Gesellschaft unerträglich werden solle 3 8 a . I n der Tat sind m i t den Bedingungen und Anforderungen der modernen Industriegesellschaft und dem Selbstverständnis des Sozialstaats Probleme auf die bundesstaatliche Ordnung zugekommen, die sich von denen des 19. Jahrhunderts wesentlich unterscheiden. Ging es noch der Bundesstaatstheorie des 19. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt des Kampfes um die nationalstaatliche Einheit Deutschlands darum, auf der unbestrittenen Grundlage der regionalen Entscheidungszentren die Intensität des bundesstaatlichen Zusammenschlusses zu beschreiben und vom Staatenbund abzugrenzen 39 , so muß die Theorie i n der Gegenwart feststellen, daß umgekehrt die Einheit selbstverständlich und die nachhaltige Beteiligung regionaler Institutionen am Prozeß der Staatsleitung zweifelhaft geworden ist. Denn das Postulat einheitlicher Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung einer Industriegesellschaft, insbesondere ihrer Infrastruktur, und das Postulat der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" scheinen auf regional begrenzte politische Entscheidungsprozesse weder Rücksicht nehmen zu wollen noch zu können. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 11; Heller, Staatslehre S. 255, 258. 87 Vgl. ο. § 1 m i t Anm. 15. 88 Hesse, Der unitarische Bundesstaat S. 1. 88a Bereits Fleiner-Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht (1949) S. 47, die — entsprechend dem Modell des „unitarischen Bundesstaates" —r i n der M i t w i r k u n g der Kantone bei der B i l d u n g des Bundeswillens das Essentiale des Bundesstaates sehen, haben eingeräumt, daß es sich bei dieser „ A u s legung" d a r u m handle, den Bundesstaat zu „retten". Ä h n l i c h Hüttl, Kooperativer Föderalismus u n d Gemeinschaftsaufgaben, a.a.O. S. 46. 89 Z u m nationalstaatlichen Pathos, das m i t der Abgrenzung beider Begriffe verbunden war, s. Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 16; kritisch Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 366.
§ 15 Regionale u n d funktionale Gliederung
211
D i e s t r u k t u r e l l e G e g e n l ä u f i g k e i t d e r m o d e r n e n Gesellschaft u n d d e r r e g i o n a l e n G l i e d e r u n g d e r p o l i t i s c h e n L e i t u n g s g e w a l t ist a l l g e m e i n b e w u ß t g e w o r d e n . M a n h a t i n diesem Z u s a m m e n h a n g d i e w e i t g e h e n d e territoriale Homogenität i n der Bundesrepublik Deutschland registriert, die n u r noch g e r i n g e n S p i e l r a u m f ü r j e n e l a n d s m a n n s c h a f t l i c h e n B e s o n d e r h e i t e n läßt, d i e einst die „ V i e l f a l t i n d e r E i n h e i t " z u r e c h t f e r t i g e n v e r m o c h t e n . A u c h u n t e r l ä ß t es k a u m eine d e r n e u e r e n E r ö r t e r u n g e n des F ö d e r a l i s m u s , d i e a u f seine a k t u e l l e B e d e u t u n g eingehen, a u f d e n egalisierenden T r e n d d e m o k r a t i s c h e r I n d u s t r i e g e s e l l s c h a f t e n h i n z u w e i sen s o w i e a u f d i e M o b i l i t ä t d e r m o d e r n e n Gesellschaft, a u f d i e W e i t r ä u m i g k e i t u n d Zentralisierungstendenz wirtschaftlicher D y n a m i k , auf d i e v e r e i n h e i t l i c h e n d e u n d z e n t r a l i s i e r e n d e W i r k u n g sozialstaatlicher u n d w i r t s c h a f t s i n t e r v e n t i o n i s t i s c h e r Prozesse u n d a l l g e m e i n a u f d i e S c h w ä c h u n g d e r t e r r i t o r i a l e n B e s t i m m t h e i t des E i n z e l n e n u n d der G r u p p e n gegenüber ihrer verstärkten Eingliederung i n sachlich-funktionale Zusammenhänge40. Ob allerdings diese E n t w i c k l u n g die Deutung rechtfertigt, „Föderalismus" sei ein „Ergebnis liberalen Denkens" u n d könne von der liberalen W i r t schaftsstruktur nicht getrennt werden 4 1 , erscheint indessen zweifelhaft. Denn „liberale" Marktwirtschaft ist nicht weniger als „soziale" auf großräumige Märkte u n d die m i t ihnen verbundene intensive Ausnutzung u n d Stabilisierung der Absatz- u n d Gewinnchancen angewiesen. Die bereits von der liberalen Marktwirtschaft geforderte „Rechts- u n d Wirtschaftseinheit" steht daher durchaus i m Vordergrund der Reichsverfassung v o m 16. A p r i l 1871 (vgl. A r t . 4 Nrn. 1 bis 13, A r t . 33, 41, 45, 48, 54 aRV). Neben der Gewährleistung dieser entscheidenden Grundlagen der Wirtschaftsordnung oblag dem Reich — u n d nicht den „Einzelstaaten" — auch zu jener Zeit schon die aktuelle Krisenbekämpfung, auf die auch die liberale Marktwirtschaft n u r so lange verzichten kann, als die ökonomischen Daten m i t ihren Interessen überein40 Grewe, A n t i n o m i e n des Föderalismus S. 19 ff., 24; Köttgen, Der soziale Bundesstaat, a.a.O. S. 22 ff.; Ders., Innerstaatliche Gliederung u n d moderne Gesellschaftsordnung, a.a.O. S. 82; Ders., Fondsverwaltung S. 40, 43; Ders., S t r u k t u r u n d politische F u n k t i o n öffentlicher Verwaltung, a.a.O. S. 793 f.; Werner Weber, Spannungen u n d K r ä f t e S. 87 f.; v. d. Gablentz, Die Chancen des Föderalismus i n der gegenwärtigen Gesellschaft, i n : Der K a m p f u m die rechte Ordnung S. 242ff. (245ff.); Friedrich, Verfassungsstaat S. 251; D.Schindler, Entwicklung des Föderalismus i n der Schweiz, JöR 9 S. 64ff.; Hesse, Der unitarische Bundesstaat S. 12 ff.; Meyers, i n : Föderalistische O r d nung S. 51; Scheuner, D Ö V 1962 S. 645; Ders., i n : Föderalistische Ordnung S. 76; Geiger, Mißverständnisse u m den Föderalismus S. 25; Bachof, Gutachten S. 20; Thieme, AöR 88 S. 79; Ders., W D S t R L 21 S. 121; Lerche, W D S t R L 21 S. 68, 72, 82 A n m . 57 von S. 81; Kaiser, W D S t R L 21 S. 121; Konow, DÖV 1966 S. 368 ff. (373); Kommission für die Finanzreform, Gutachten, Tz. 20, 30, 48, 74 f., der sich insoweit die Bundesregierung i n der Begründung des Entwurfs eines Finanzreformgesetzes angeschlossen hat (BTDrucks. V/2861 S. 11 Tz. 10); Herzog, JuS 1967 S. 194 f., 198; Grawert, Finanzreform u n d Bundesstaatsreform, a.a.O. S. 64, 83. Aufschlußreich ist ferner der Aufsatz eines ungenannten Autors über „wirtschaftliche Expansion und Föderalismus" i n : N Z Z v o m 25.6.1963, Fernausgabe Nr. 172 Bl. 5. — Vgl. auch o. § 3. 41
14*
Löwenstein,
Verfassungsrecht u n d Verfassungsrealität, AöR 77, S. 414 ff.
212
3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
stimmen 4 1 a . Z u r Protektion der Eisenindustrie und der Getreideerzeugung stand daher nicht zufällig dem Reich das erforderliche Instrumentarium, nämlich die Zollpolitik, zur Verfügung. Die zentralstaatliche Wirtschaftsintervention i m Zeichen des Sozialstaats stellt daher i m Hinblick auf die Zurückdrängung der regionalen Enscheidungszentren nur eine, w e n n auch bedeutsame, quantitative Steigerung dar, nicht jedoch einen durchgreifenden S t r u k t u r w a n d e l der bundesstaatlichen Ordnung.
A u f die angedeuteten Unitarisierungsforderungen der Industriegesellschaft kann eine Verfassungsordnung in unterschiedlicher Weise reagieren 42 . Sie kann diese Forderungen zu einem Teil abweisen, ohne damit bereits ihre Legitimität vollends zu verlieren. Hierzu kann sie veranlaßt sein durch die Entscheidung für eine freiheitliche Ordnung des politischen Prozesses, die nicht ohne weiteres m i t maximaler Effektivität staatlicher Leistungen identisch ist. Hier interessiert jedoch nur der Fall, daß die verantwortlichen Amtsträger nicht bereit sind, Effektivitätsverminderungen und die mit ihnen verbundenen Legitimitätseinbußen der Verfassung in Kauf zu nehmen, oder daß sie aus anderen Gründen der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse vor der regionalen Differenzierung den Vorzug geben. Zum Zwecke der Unitarisierung kann die überkommene Verteilung der Kompetenzen auf den Bund und die einzelnen Länder theoretisch vor allem auf vier Wegen modifiziert werden: 1. Ausdehnung der Bundeskompetenzen zugunsten der zentral legitimierten Institutionen {Bundestag und Bundesregierung) bei gleichzeitiger Entpolitisierung der Länder. 2. Ausdehnung der Bundeskompetenzen bei gleichzeitiger Einschaltung regional legitimierter Institutionen, sei es i m Rahmen des Bundesrats, sei es i m Rahmen gemeinschaftlicher Willensbildung von Bund und Ländern. 3. Gestattung effektiver Kooperationsformen der Länder, insbesondere der mehrheitlichen Willensbildung. 4. Beschränkung auf institutionell nicht gesicherte und insoweit instabile Formen der Kooperation der Länder untereinander und m i t dem Bund. Diese Wege schließen untereinander keineswegs aus. Vielmehr eröffnen sie dem Verfassungsgesetzgeber die Möglichkeit zu differenzierter Gestaltung des Verfassungsgefüges, i n welchem Zentralisierungen, effektive und instabile Kooperationsformen und Selbständigkeit regionaler Entscheidungzentren i n jeweils verschiedenen Aufgabengruppen zur Geltung kommen. 41a
Habermas, S t r u k t u r w a n d e l der Öffentlichkeit S. 158 ff. Vgl. hierzu Lerche, W D S t R L 21, S. 70 f., m i t Hinweisen auf Entwicklungen u n d Lösungsversuche außerhalb der BRD. 48
§ 15 Regionale u n d funktionale Gliederung
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D e m W e g d e r Z e n t r a l i s i e r u n g h a b e n sich d i e m o d e r n e n B u n d e s s t a a t e n n i c h t verschlossen. H i e r i n g l e i c h e n sich insbesondere — unbeschadet d e r Unterschiede, d i e sich aus d e r I n t e n s i t ä t d e r Z e n t r a l i s i e r u n g u n d d e r Beteiligung regional legitimierter Institutionen ergeben — die Schweiz45, d i e W e i m a r e r R e p u b l i k , v e r g l i c h e n m i t d e m Deutschen Reich v o n 1871 4 4 , d i e V e r e i n i g t e n S t a a t e n v o n A m e r i k a — d i e diesen Prozeß v o r a l l e m kontinuierlich m i t H i l f e richterlicher Rechtsfortbildung vollziehen45 —, Ö s t e r r e i c h 4 6 u n d d i e B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d 4 7 . Es ist indessen o f fensichtlich, daß d e r w i e a u c h i m m e r i n t e r p r e t i e r t e W o r t l a u t des A r t . 79 A b s . 3 G G d e m ersten d e r v i e r g e n a n n t e n W e g e G r e n z e n zieht, d. h. d i e v o l l s t ä n d i g e Depossedierung d e r L ä n d e r ausschließt. D i e Frage, ob A r t . 79 A b s . 3 G G gegen seinen i n s o w e i t e i n d e u t i g e n W o r t l a u t ausgelegt w e r d e n k a n n , e n t b e h r t d e r A k t u a l i t ä t , da d i e g e g e n w ä r t i g e R e f o r m d i s k u s s i o n v o n d e r V e r b i n d l i c h k e i t d e r F i x i e r u n g der b u n d e s s t a a t l i c h e n O r d n u n g ausgeht48. 48 Vgl. die Zusammenstellung der Verfassungsänderungen bei Schindler, JöR 9, S. 46 ff. 44 Vgl. A r t . 6—11 W R V u n d A r t . 4 aRV. 45 Z u r Interpretation des bisher einschlägigen A r t . 1 Sect. 8 Cl. ), 3, 7 u. 18 US-Verfassung s. Carstens, Grundgedanken der amerikanischen Verfassung S. 139 ff. — Vgl. hierzu a u d i den Versuch Kölbles, Bundeszuständigkeiten aus einer letztlich n u r politisch-soziologischen Überregionalität der Aufgaben abzuleiten; ein hinreichender Rechtsgrund f ü r eine solche Zuständigkeitsbegründung soll bereits vorliegen, w e n n Gemeinschaftseinrichtungen aller Länder dokumentieren, daß die Aufgabe zur regionalen Wahrnehmung u n geeignet sei (Kölble, Z u r Lehre von den [stillschweigend] zugelassenen V e r waltungszuständigkeiten des Bundes, D Ö V 1963 S. 660 ff., insbesondere S. 672 f. sub V u n d V I I ) . 46 Adamovich-Spanner, Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts S. 112 f. 47 Vgl. insbesondere die Änderungen des Grundgesetzes betreffend die Lastenausgleichsverwaltung, die Wehrverfassung, das Kernenergiewesen u n d die Luftverkehrsverwaltung (Nr. 100—1 BGBl. I I I ) ; zur Notstandsverfassung s. o. § 14 m i t A n m . 55. 48 Daher bedarf es auch keiner näheren Erörterung, ob der verfassungsändernde Gesetzgeber die Unitarisierungsprobleme der Gesellschaft durch einheitsstaatliche Organisationsformen lösen könnte, ohne sich des Verfassungsbruchs schuldig zu machen. Eine solche Erörterung hätte zu berücksichtigen, daß die bundesstaatliche S t r u k t u r i m Bewußtsein der Gesellschaft nicht i n gleicher Weise w i e die freiheitliche demokratische Grundordnung zum n u r revolutionär veränderbaren Kernbestand der Entscheidung der v e r fassunggebenden Gewalt des Volkes gehört (vgl. Ehmke, Grenzen der V e r fassungsänderung S. 100 f.; Werner Weber, Spannungen u n d K r ä f t e S. 69 A n m . 5; Köttgen, Fondsverwaltung S. 76) u n d daß — h i e r m i t übereinstimmend — der Bundesstaat nicht i n den Verfassungsschutz der A r t . 18 u n d 21 Abs. 2 G G einbezogen ist (vgl. BVerfGE 2, 1 Ls. 2). Ferner ist es für den n u r revolutionär veränderbaren Kernbestand der öffentlichen Ordnung ungewöhnlich, daß maßgebende Ausschüsse während der Verfassungsberatungen i h n zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers stellen. I m Parlamentarischen Rat w a r die Unantastbarkeit der Grundentscheidungen zeitweise auf „die demokratische, republikanische u n d rechtsstaatliche Ordnung" beschränkt u n d eine Aufhebung der Gliederung des Bundes i n Länder i m
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
Der dritte Weg hingegen, für den das Königsteiner Abkommen m i t seiner mehrheitlichen Willensbildung beispielhaft ist 4 9 , sieht sich vor allem den — hier noch nicht zu prüfenden — Einwänden der Nichtverfügbarkeit über Kompetenzen sowie des „Staatenbundes i m Bundesstaat" bzw. der „dritten Ebene" ausgesetzt 50 . Die Möglichkeit, daß diese Kooperationsform unter Ausschluß des Bundes durch Grundgesetzänder rungen als wichtigstes Instrument der Unitarisierung vorgesehen werden könnte, ist zudem nur theoretischer A r t . Den Ausbau des zweiten Weges hat die Kommission für die Finanzreform vorgeschlagen 51 . Die Bundesregierung hat diese Anregung i m Entwurf eines Finanzreformgesetzes i n modifizierter Form aufgegriffen 5 2 . Durch Bundesgesetz m i t Zustimmung des Bundesrats sollen „Gemeinschaftsaufgaben" i m einzelnen bestimmt und allgemeine Grundsätze ihrer Erfüllung geregelt werden (Art. 91 a Abs. 2 des Entwurfs). Die maßgebenden konkreten Entscheidungen sollen i m Wege einer durch dieses Gesetz normierten Rahmenplanung getroffen werden, die, wie der Umkehrschluß aus Art. 91 a Abs. 3 S. 2 des Entwurfs zeigt, entsprechend dem Bundesratsprinzip eine Majorisierung einzelner Länder zuläßt, modifiziert durch einen Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Landes, auf cfessen Gebiet das Vorhaben durchgeführt werden soll. Vom Bundesratsprinzip und von der Ausführung von Bundesgesetzen durch die Länder scheinen der Vorschlag der Kommission und der EntFalle einer Mehrheit von zwei D r i t t e l n der Stimmen des Bundestags u n d von vier Fünfteln der Stimmen des Bundesrats zugelassen worden (Art. 108 1. d. F. der Stellungnahme des Allgemeinen Redaktionsausschusses zu der i n 2. Lesung v o m Hauptausschuß des Parlamentarischen Rats beschlossenen Fassung des Grundgesetzentwurfs u n d A r t . 106 Abs. 3 i. d. F. der 3. Lesung des Hauptausschusses; vgl. ferner JöR 1 S. 584). Zudem wäre die Intensität des Einflusses der Besatzungsmächte auf die normative Ausgestaltung der bundesstaatlichen Ordnung zu berücksichtigen (vgl. Grewe, Das Grundgesetz, Deutsche Rechtszeitschrift 1949 S, 313 f.,. 315; Werner Weber, Spannungen u n d K r ä f t e S. 13, 87 ff. [m. w. Nachw. S. 68 À n m . 3]; Κ. Eisholz, D Ö V 1962 S. 9; ferner die Äußerungen des Präsidenten des Parlamentarischen Rats u n d ersten Bundeskanzlers der B R D i n : Christ und Welt, 18. Jahrg. Nr. 52 v o m 24.12.1965 S. 3; des Vorsitzenden des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rats i n : Christ u n d Welt, 20. Jahrg. Nr. 30 v o m 28.7.1967; des zweiten Bundeskanzlers der B R D i n : Bull.BReg vom 10.4.1965, Nr. 65, u n d die Hinweise der Bundesregierung i n der Begründung des Entwurfs eines Finanzreformgesetzes, BTDrucks. V/2861 Tz. 3, 53). Diese Einflußnahme der Besatzungsmächte könnte die Frage entstehen lassen, ob u n d i n w i e w e i t die F i x i e r u n g des Bundesstaats i n A r t . 79 Abs. 3 G G primär als Bestandteil des Besatzungsrechts bzw. des Völkerrechts zu verstehen ist, so daß über ihre Verbindlichkeit unter Heranziehung der i m Deutschlandvertrag (i.d. F. der Bekanntmachung v o m 30. März 1955, BGBl. I I S. 301, 305) enthaltenen Souveränitätsklausel (Art. 1 Abs. 2) zu entscheiden wäre. 49 Vgl. o. § 3 m i t A n m . 10. 50 Vgl. o. § 5. 51 Vgl. o. § 15 m i t A n m . 1. " BTDrucks. V/2861.
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wurf der Bundesregierung keineswegs so erheblich abzuweichen, als daß sie dem Verfassungsinterpreten nur als Ausdruck einer neuen „Staatsidee" — der „Staatsidee des kooperativen Föderalismus" 53 — verständlich würden. Indessen beschränkt sich die auch i m Schrifttum vordringende Beschwörung des „Geistes des Kooperativen Föderalismus" nicht auf bloße „Öffentlichkeitsarbeit". Als verfassungspolitisches Programm greift der Leitgedanke des kooperativen Föderalismus tief in die überkommene und normativ stabilisierte Struktur der bundesstaatlichen Ordnung ein. Denn er zielt tendenziell darauf ab, die bislang von Rechts wegen eigenverantwortliche Ausübung staatsleitender Funktionen durch die Länder insoweit aufzuheben, als die Unitarisierungsforderungen der Gesellschaft eine effektive, d. h. durch Mehrheitsentscheidungen ermöglichte Koordinierung der Willensbildung nahelegen 54 . Wenn es richtig ist, daß ein „nicht koordinierter Föderalismus keine Chance mehr" hat 5 5 , und wenn ferner die Koordinierung effektiv gehandhabt werden soll, so würde diese Form des „Kompromisses" 5 ® zwischen Industriegesellschaft und bundesstaatlicher Ordnung zur Preisgabe der regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt führen. Die „Staatsidee des Kooperativen Föderalismus" stellt also mit aller Schärfe die Frage, ob die entgegengesetzte Ordnungsform „der regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt" nicht nur die Tradition, sondern auch die Gewährleistung des A r t . 79 Abs. 3 GG auf ihrer Seite hat. Die Interpretation des normativen Zusammenhangs des Grundgesetzes führte zwar zur eindeutigen Bejahung dieser Frage 57 . Nunmehr gilt es jedoch zu untersuchen, ob diese Ordnungsform realisierbar ist und ob ihr ein für die Gesellschaft zumindest erträglicher Sinngehalt abgewonnen werden kann. Nur wenn diese Untersuchung ergäbe, daß der regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt die normative Kraft fehlt, dürfte gefragt werden, ob sich der Kern der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes i m Wege des Verfassungswandels auf die funktionale Gliederung der politischen Lei^ tungsgewalt reduziert hätte. Würden für eine solche Abweichung vom normimmanent sich ergebenden Leitgedanken des Grundgesetzes weniger strenge Maßstäbe gefordert werden, so würde der Interpret über 58 Hüttl, Kooperativer Föderalismus u n d „Gemeinschaftsaufgaben", a.a.O. S. 45. — Das Gutachten über die Finanzreform spricht von einem „ a k t i v e n Staatsprinzip" (Tz. 77). 54 Der Begriff der „Kooperation" bringt allerdings das i n der Majorisierungsmöglichkeit liegende Herrschaftsmoment nicht zum Ausdruck. Geiger, Föderalismus i n der Verfassungsordnung der BRD, a.a.O. S. 17, meint daher, der Vorschlag der Kommission f ü r die Finanzreform habe m i t „kooperativem Föderalismus" „überhaupt nichts zu tun". 55 Leisner, D Ö V 1968 S. 389 ff. (393). 58 Grawert, Finanzreform u n d Bundesstaatsreform, a.a.O. S. 83. 57 Vgl. o. § 15, 1. u. 2. m i t Anm. 30.
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die Zweckmäßigkeit einer verfassungsgesetzlichen Regelung entscheiden und damit Verfassungspolitik treiben 5 8 . Regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt bedeutet, daß die einzelnen regionalen Entscheidungszentren die alleinige Verantwortung für die Erfüllung ihrer Leitungsaufgaben tragen. Kooperationsformen, die diese Verantwortung unberührt lassen 59 , stehen ihr nicht entgegen. Sie müssen gewährleisten, daß die einzelnen Länder ihre politischen Konzeptionen — etwa i n der Bildungspolitik und Hochschulpolitik — selbständig durchsetzen können, wenn sie sich nicht i n den Rahmen einer auszuhandelnden einheitlichen Regelung einfügen lassen. Es ist offensichtlich, daß dieser vierte der oben genannten Wege, den Unitarisierungsforderungen der Gesellschaft gerecht zu werden, der ineffektivste ist. Ebenso offensichtlich ist aber auch, daß i n diesen nicht effektiv koordinierten Kompetenzbereichen der Länder staatliches Handeln möglich ist, ohne daß es seine Legitimität vollends einbüßen müßte. Zumindest i n dem vom verfassungsändernden Gesetzgeber zu respektierenden Kernbereich ist eigenverantwortliche Ausübung politischer Leitungsgewalt durch die Länder auch i n der gegenwärtigen Industriegesellschaft realisierbar. Damit konzentriert sich die Frage nach der normativen K r a f t der regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt darauf, ob m i t ihr ein Sinngehalt verbunden ist, der die sie begleitenden Effektivitätseinbußen rechtfertigt oder doch für die Gesellschaft erträglich macht. Wenn i m folgenden dieser Frage nachgegangen wird, so bedarf das der methodischen Erläuterung. Gerade die Erörterung des Sinngehalts oder der Rechtfertigung eines verfassungsrechtlichen Instituts hat zu berücksichtigen, daß der Verfassungsinterpretation nicht die strenge Beweisführung der exakten Wissenschaften zu Gebote steht. Sie kann nur versuchen, einzelne Ordnungsgesichtspunkte unter dem Maßstab gesicherter Leitgedanken der Verfassung und i m Hinblick auf ihre Plausibilität für „alle vernünftig und gerecht Denkenden" zu würdigen 6 0 . 58 Kritisch zu einem Verständnis des Problemdenkens, das ohne Rücksicht auf N o r m a t i v i t ä t eine sachgerechte Problemlösung ansteuert, F. Müller, N o r m s t r u k t u r u n d N o r m a t i v i t ä t S. 57. Vgl. ferner ο. § 1 m i t Anm. 17. Z u den Voraussetzungen des Verfassungswandels s. Ehmke, Methoden der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 S. 53 ff. (67 ff.); Maunz-Dürig, G G A r t . 79 Nr. 20; Krüger, Verfassungswandlung u n d Verfassungsgerichtsbarkeit, Festgabe f ü r Smend (1962) S. 151 ff. (155, 165, 169); H.J.Wolff , Organschaft u n d juristische Person I S. 455 f. ; Ders., Rechtsgrundsätze, a.a.O. S. 49. Sehr stark reduziert erscheint das normative Moment des Verfassungsrechts i n Smends Bemerkungen zur Verfassungswandlung, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 241 f. ; entgegengesetzt v. Mangoldt - Klein, GG, Einl. I I I 3, S. 5 f. — Vgl. auch oben § 13, 2. m i t A n m . 41. 69 Z u r Staatspraxis s. o. § 3 nach A n m . 7. ·· Vgl. Ehmke, Prinzipien; Ders., Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20, S. 71 f.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung S. 55 m i t A n m . 15.
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Die Suche nach einer tragfähigen Funktion der Selbständigkeit regionaler Leitungsinstitutionen i n der modernen Gesellschaft hat ihren Ausgang zu nehmen von der traditionellen Wahrung der „geschichtlichen Zusammenhänge" (Art. 29 Abs. 1 GG) und von den „besonderen landsmannschaftlichen Verhältnissen" (Art. 36 Abs. 2 GG). Diese Gesichtspunkte vermögen indessen die Teilhabe selbständiger regionaler Entscheidungszentren an der politischen Leitungsgewalt nicht mehr zu tragen. Gerade die geschichtliche und landsmannschaftliche Eigenart der einzelnen Länder hat der zufälligen Grenzziehung durch die Besatzungsmächte, dem Unitarisierungstrend und der Binnenwanderung — veranlaßt durch die Eingliederung der Flüchtlinge und durch die Mobilität der Bevölkerung i n der Industriegesellschaft — den entscheidenden Tribut zollen müssen 61 . Auch eine leitbildgerechte Neugliederung des Bundesgebietes kann den Ländern geschichtliche Individualität, soweit sie sie verloren oder niemals besessen haben, nicht verschaffen. „ W i r t schaftliche Zweckmäßigkeit" und „Leistungsfähigkeit" (Art. 29 Abs. 1 GG) sind darüber hinaus auch normative Absagen an solche Restaurationshoffnungen. Der Betätigungsspielraum für „die Landesvölker" und die von ihnen konstituierten Organe ist nicht mehr jener keiner weiteren Begründung bedürftige Selbstzweck, der früheren bundesstaatlichen Ordnungen einen überzeugenden Sinngehalt vermittelte. Der Primat der „Landesvölker", der die Gegenläufigkeit von Industriegesellschaft und bundesstaatlicher Ordnung als besonders kraß erscheinen läßt, ist indessen vom Grundgesetz auch dadurch preisgegeben worden, daß es, wie noch zu zeigen sein wird, die regionalen Entscheidungszentren nicht auf selbständige „verfassungsgebende Gewalten der Landesvölker" stützt 6 2 . Hierdurch w i r d der Weg dazu frei, die regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt als eine für die Gesamtheit des 61
Werner Weber, Gegenwartslage des deutschen Föderalismus, S. 8 ff. ; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 87 f. — Scheuner, Wandlungen i m Föderalismus der Bundesrepublik, DÖV 1966 S. 517, erkennt noch den „süddeutschen Staaten" u n d den Hansestädten „ein altes u n d gefestigtes Gef ü h l der Selbständigkeit" zu; vgl. ferner Karl Schmid, Die politische u n d staatsrechtliche Ordnung der BRD, D Ö V 1949 S. 201 ff. (203), zur Grenzziehung durch die Besatzungsmächte. Die Binnenwanderung w i r d i n diesem Z u sammenhang angesprochen von Herzog, JuS 1967 S. 197; Jahrreiß, Die Gliederung des Bundes i n Länder, a.a.O. S. 544. — Anders v. d. Heydte, Föderalistische Ordnung S. 133; „das L a n d als H e i m a t " sei die „eigentliche Rechtfertigung" des Föderalismus. Anders auch Meyers, i n : Föderalistische Ordnung S. 48, dem die Länder noch als geschichtliche Individualitäten erscheinen: i m nord- u n d westdeutschen Raum sei lediglich „durch einhundertfünfzig Jahre preußischer Geschichte die Verbindung zu der alten historischen Tradition dieser Gebiete weitgehend verschüttet worden". Einen weiteren Schritt zurück geht Franz Mayer, Die V e r w a l t u n g von B u n d u n d L ä n dern, a.a.O. S. 36: E r r ü h m t das „sichere politische Gespür" des Verfassunggebers der B R D „ f ü r die S t r u k t u r seines Staatsvolkes", dessen „ v ö l k e r schaftliche Gliederung seit der A n t i k e überkommen und bezeugt ist". « S. u. § 16, 2.
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Gemeinwesens bzw. des staatlichen Ämterwesens sinnvolle Ordnungsform zu verstehen 63 . Das „Subsidiaritätsprinzip" allerdings, das den „kleineren Einheiten" alle Aufgaben vorbehält, zu deren Erfüllung sie fähig sind, vermag hierzu keinen entscheidenden Beitrag zu leisten. Zum einen dürfte es als Verfassungsprinzip des Grundgesetzes nur schwer zu begründen sein 64 . Zum anderen aber ist es angesichts der Unitarisierungsforderungen der Gesellschaft und der Koordinierungspraxis der Länder kein durchschlagendes Argument für die selbständige Wahrnehmung von Leitungsaufgaben durch regionale Einheiten, da gerade auch die Zweckmäßigkeit solcher Selbständigkeit fragwürdig geworden ist. Die „Verfahrenshomogenität" schließlich, die an die Stelle einheitsstaatlicher „Durchgestimmtheit" des Verfahrens t r i t t 6 5 , kann einen Leitgedanken der regionalen Gliederung nur dann bezeichnen, wenn die spezifische Bedeutung dieses Modells der Konfliktslösung für die Struktur des Staates sichtbar gemacht wird. Insoweit werden einzelne der dem Modell der Verfahrenshomogenität verwandten Gesichtspunkte i m folgenden mittelbar wiederkehren. Ein tragfähiger Sinngehalt der regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt liegt i n der Vielfalt der Initiativen, die von einer Mehrzahl von Entscheidungszentren ausgehen können 66 , i n der hiermit verbundenen Chance des Experiments 67 und in der Leistungssteigerung durch Wettbewerb 68. M i t der ermöglichten Vielfalt der Initiativen verbreitern sich die Chancen eines „Engagements für das Gemeinwohl" 6 9 . Diesem Gesichtspunkt kommt in einem Gemeinwesen mit demokratiM
Anders Scheuner ( W D S t R L 21 S. 122) und Lerche ( W D S t R L 21 S. 1801), soweit sie die Heranziehung von Gesichtspunkten der Gewaltenteilung k r i t i sieren. •«* A . A . Dürig, W D S t R L 21 S. 115; Roellenbleg, DÖV 1968 S. 225ff. (233). Kritisch Lerche, W D S t R L 21 S. 74 ff.; Werner Weber, Gegenwartslage des deutschen Föderalismus S. 15 ff., 32; Herzog, JuS 1967 S. 194. 65 Lerche, W D S t R L 21 S. 84 ff.; zustimmend anscheinend Leisner, DÖV 1968, S. 395 f.; kritisch Scheuner, W D S t R L 21 S. 123. M Krüger, W D S t R L 19, S. 158; zustimmend Bachof, Gutachten S. 21; Lerche, W D S t R L 21, S. 74. «7 Lerche, W D S t R L 21 S. 83 Anm. 57 von S. 82. Vgl. bereits den Hinweis Carstens (Grundgedanken der amerikanischen Verfassung u n d ihre V e r w i r k lichung S. 149 A n m . 100) auf eine Bemerkung von Justice Holmes. ω Werner Weber, Gegenwartslage des deutschen Föderalismus S. 7 (zur Hochschulpolitik). Anders Krüger, Staatslehre S. 122, der den Staatsbegriff m i t dem Gegenbegriff zum Wettbewerb — dem Begriff der Hierarchie — verbindet u n d folglich zu einer unüberbrückbaren Spannung zwischen Staatsbegriff u n d Bundesstaat gelangt (ebd. S. 120 u. o. § 14, 3 m i t A n m . 48). — Aspekte des Wettbewerbs der Länder i m Bereich der Wirtschaftsförderung, der Industrieansiedlung u n d dgl. beleuchtet Hannfried Walter, Unlauterer Wettbewerb unter Bundesländern?, D Ö V 1967 S. 622 ff. ·· Köttgen, Innerstaatliche Gliederung, a.a.O. S. 96.
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scher Regierungsform* 9a entscheidende Bedeutung zu 7 0 . Soll'doch-dié Wahl der Inhaber staatsleitender Ämter der Aktivbürgerschaft die Möglichkeit eröffnen, politische Konzeptionen, zumindest Maßstäbe der Gemeinwohlinterpretation, i m politischen Prozeß verbindlich zur Geltung zu bringen. Dieses wichtigste Element der demokratischen Ordnung, das Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG normiert, ist auch für die Länder grundlegend (Art. 28 Abs. 1 GG). Hierbei ist es unerheblich, ob ihnen durch Art. 28 Abs. 1 GG das parlamentarische Regierungssystem vorgeschrieben ist 7 1 oder ob sie die demokratische Regierungsform auch in Gestalt einer volksgewählten oder vom Parlament auf Zeit gewählten Exekutivspitze durchführen dürfen. Denn m i t allen diesen Organisationsformen ist eine — für den „demokratischen Bundesstaat" i m Sinne des Grundgesetzes entscheidende — Intensivierung der Mitwirkungschancen der Aktivbürgerschaft im Prozeß der politischen Leitung verbunden. Diese Steigerung der demokratischen Mitbestimmung ergibt sich notwendig daraus, daß infolge der Pluralisierung der Entscheidungszentren die jeweiligen Zuständigkeitsbereiche begrenzter und überschaubarer sind und damit die richtungbestimmenden Entscheidungen der Aktivbürgerschaft konkreter und präziser sein können. Einen realen Rückhalt findet diese demokratische Komporiente der regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt i n der parteienstaatlichen Struktur der grundgesetzlichen Demokratie (Art. 21 GG). Die Steigerung demokratischer Mitwirkungschancen der Aktivbürger als Parteibürger, die sich aus der regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt ergibt, muß daher ebenso wie die i n den Wahlen institutionalisierten Einflußchancen zum Sinngehalt der regionalen Gliederung gerechnet werden. Diese Steigerung liegt zum einen i n der präziseren Mitbestimmung bei der Ausarbeitung der den Wählern zu präsentierenden Richtlinien für jene politische Materien, die den Ländern zugewiesen sind; zum anderen liegt sie i n der zumindest politisch-tatsächlich erhöhten Unabhängigkeit der Landesverbände von den Bundeszentralen. Denn durch den Betätigungsraum i m Landesbereich erhalten die Mitglieder auch i n Fragen der Bundespolitik der Partei institutionellen Rückhalt für effektive Mitbestimmung und Kontrolle. Schließlich trägt die regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt zur Integrierung der Oppositionsparteien in die politische Gesamtordnung e
®a S. o. § 13, 3. Ä h n l i c h Hesse, Rechtsstaat, a.a.O. S. 91; Ders., Grundzüge des Verfassungsrechts S. 90, 105; Scheuner, D Ö V 1962 S. 646; Ders., D Ö V 1966 S. 518; Geiger, Föderalismus i n der Verfassungsordnung der BRD, a.a.O. S. 32 f.; Steff ani, Gewaltenteilung i m demokratisch-pluralistischen Rechtsstaat, i n : PVS I I (1962) S. 256 ff. (274) m i t H i n w . auf Montesquieu u. Hamilton. 71 B V e r w G E 22, 299 (310). Anders die h. L . : Maunz-Dürig, GG, A r t . 28 Rdnrn. 5, 7; Herzog, JuS 1967 S. 199, jeweils m. w. Nachw. 70
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bei. Denn jene Parteien, die i m Bund von der Regierungsverantwortung ausgeschlossen sind, erhalten i n der Landespolitik die Möglichkeit, ihre Initiativen und Vorstellungen vom Gemeinwohl zu verwirklichen 7 2 . Hieran ändert auch der Einfluß der Bundeszentralen der Parteien auf die Landesverbände nichts, der gleichsam i m Gegenzug zentralstaatliche Gesichtspunkte zu Lasten der Selbständigkeit des politischen Prozesses i n den Ländern zur Geltung bringt 7 2 . Die differenzierten und komplexen Funktionen der modernen Industriegesellschaft erfordern differenzierte Mitwirkungschancen der Aktivbürgerschaft, wenn nicht autoritäre Verwaltung des Menschen und unkontrollierte Interessenprotektion auch normativ den Vorrang vor der Mitverantwortung des Bürgers für das Gemeinwesen erhalten sollen. Die regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt, die einen Teilbereich der staatlichen Leitungsaufgaben der differenzierten Mitbestimmung und Kontrolle der Aktivbürgerschaft zugänglich macht, ist ein wesentliches Element der demokratischen Ordnung 7 3 *. Sie rechtfertigt auch die m i t ihr verbundenen Einbußen an Effektivität staatlichen Handelns — jedenfalls dann, wenn die Inhaber staatsleitender Ämter bereit sind, zur Realisierung dieses Sinngehalts der Verfassung beizutragen. 72 Vgl. Hesse, Rechtsstaat a.a.O. S. 91, A n m . 58; Ders., Grundzüge des V e r fassungsrechts S. 90; Werner Weber, A r t . Gewaltenteilung, HdSW 4 S. 501; Ders., Gegenwartslage des deutschen Föderalismus S. 12 f.; Kafka, W D S t R L 21 S. 109; Ebke, Bundesstaat u n d Gewaltenteilung S. 55 ff. — Zu dieser I n t e gration trägt allerdings neben der regionalen Gliederung auch die hier nicht näher zu erörternde funktionale Gliederung dadurch bei, daß die Oppositionsparteien die Chance haben, durch den Bundesrat auf die Bundespolitik Einfluß zu nehmen, s. hierzu Werner Weber, Gegenwartslage des deutschen Föderalismus S. 6. 72 Vgl. hierzu auch Leisner, D Ö V 1968 S. 395. Z u m Zusammenhang z w i schen Bundesstaat u n d parteienstaatlicher Ordnung s. ferner Maunz-Dürig, GG, A r t . 50 Rdnr. 25, sowie — m. w. Nachw. — Lerche, W D S t R L 21 S. 78 (mit A n m . 44), u n d Werner Weber, Spannungen und K r ä f t e S. 73 (mit A n m . 12), der allerdings die Stärkung des Föderalismus durch die Parteien als „ i l l e g i t i m " bezeichnet. 73 » V o n hier aus ist es selbstverständlich, daß eine A n t i n o m i e zwischen Bundesstaatlichkeit u n d Demokratie (s. o. § 10 m i t A n m . 24) nicht besteht ( k r i tisch hierzu bereits Köttgen, Die Krise der kommunalen Selbstverwaltung [1931] S. 43). Der G r u n d f ü r dieses Mißverständnis liegt zum einen i n der Verknüpfung der demokratischen Regierungsform m i t dem absolutistischen Zentralismus u n d zum anderen i n der Vorstellung, Demokratie bedeute, daß alle Staatsgewalt einheitlich bei dem einen Volke liegen müsse (vgl. etwa W. Schmidt, AöR 87 S. 259), so daß f ü r eine bündische S t r u k t u r kein Raum bleibe. Noch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 105, der i m übrigen die Ergänzung u n d Stützung der Demokratie durch die Bundesstaatlichkeit des Grundgesetzes hervorhebt, geht von einer Antinomie zwischen Demokratie u n d bündischem Prinzip aus. Indessen ist die demokratische Autorisierung kein monistischer Block, sondern ein Prozeß (vgl. o. § 13, 2.), der durchaus regionale Differenzierungen, insbesondere regionale verfassunggebende Gewalten, zuläßt. Einheitliche u n d bündische S t r u k t u r der demokratischen
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Die polemische Spitze des demokratischen Bundesstaates richtet sich nicht allein gegen eine Zentralisierung aller staatsleitenden Funktionen, sondern mehr noch gegen Kooperationsformen, die demokratische M i t bestimmung und Kontrolle dadurch auf ein M i n i m u m zurückdrängen, daß sie die Partner des Kondominiums ermächtigen und sogar verpflichten, über die durch Wählerschaft und Parlamente fundierten Konzeptionen und Entscheidungsmaßstäbe zu disponieren. Bereits die von Rechts wegen instabile Harmonisierungspraxis der Länder hat zu erheblicher Verkürzung der demokratischen Kontrolle 7 4 und der Möglichkeit offener Austragung politischer Gegensätze und des Kampfes um politische Alternativen geführt. Diese Entwicklung, die zum Teil bereits über den Sinngehalt freiwilliger Harmonisierung hinausgeht, w i r d i n der „Staatsidee des Kooperativen Föderalismus" i n den Rang eines normativen Leitgedankens erhoben 74 *. I m Kooperativen Föderalismus, der tendenziell dazu bestimmt ist, die regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt abzulösen, bleibt daher die demokratische Komponente der grundgesetzlichen Ordnung nicht zufällig unerwähnt. Bereits seine technokratische Motivierung nähert ihn der nicht-demokratischen, autoritären Regierungsform an: „Alles für das Volk, nichts durch das V o l k " 7 4 b . Die Infrastrukturprobleme des Gemeinwesens sollen durch „schwerpunktmäßigen Einsatz der verfügbaren M i t t e l " gelöst werden; eine mehrheitlich entscheidende Gemeinschaft von elf Leitungsinstitutionen soll die „überregionalen Bedarfskriterien" festsetzen 75 . Der K o operative Föderalismus soll die zur Erreichung dieses Ziels geforderte „äußerste Konzentration aller bundesstaatlichen K r ä f t e " 7 6 gewährleisten. Hier erhält nun die vermutete Distanz zwischen kooperativem Föderalismus und demokratischer Regierungsform auch eine terminologische Bestätigung: Für die Staatslehre Herbert Krügers, i n der die Mitverantwortung des Bürgers sich kaum m i t dem „Gehorsam des Untertanen" messen kann 7 7 , gehört die „äußerste Konzentration und A n spannung aller K r ä f t e " 7 8 zu den zentralen Kategorien moderner Staatlichkeit. Autorisierung sind zumindest theoretisch gleichermaßen m i t der bundesstaatlichen Ordnung vereinbar (vgl. auch unten § 16, 2. m i t A n m . 54). 74 Werner Weber, W D S t R L , 158 f.; Bachof, W D S t R L 21, 119 f.; Leisner, DÖV 1958 S. 393. Vgl. auch o. § 4 m i t A n m . 35. 74 » S. o. § 4 m i t A n m . 26 ff. 74 b S. o. § 13, 3. m i t A n m . 55. 78 Franz Klein, Gemeinschaftsaufgaben zur Bewältigung der Staatsaufgaben i m föderalistischen Staatsaufbau, DÖV 1968 S. 153 ff. (155). 79 Franz Klein, D Ö V 1968 S. 155. 77 Krüger, Allgemeine Staatslehre (1964) S. 365, 872, 985; zusammenfassende K r i t i k bei Badura, Die Tugend des Bürgers u n d der Gehorsam des U n t e r tanen, J Z 1966 S. 123 ff. (125). 79 Krüger, Staatslehre S. 654.
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Liegt hiernach i n der Steigerung demokratischer Mitwirkungschancen der Aktivbürgerschaft eine entscheidende Rechtfertigung der regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt, so bleibt ihr Sinngehalt hierauf nicht beschränkt. Die Intensivierung der demokratischen Komponente des Regierungsprozesses bezeichnet lediglich einen Ausschnitt aus dem Leitgedanken einer freiheitlichen Gestaltung des politischen Prozesses. Gliederung der politischen Leitungsgewalt, insbesondere Pluralisierung der territorialen Entscheidungszentren, bedeutet Differenzierung des politischen Prozesses, Durchsichtigkeit seiner Funktionen, Berücksichtigung des unterschiedlichen Gewichts bestimmter Interessen in den einzelnen Regionen des Gemeinwesens und Zwang zur Diskussion und Verständigung i m Falle sachlicher Interdependenzen zwischen institutionell getrennten Zuständigkeitsbereichen 79 . I n diesem Sinne hat bereits Haenel die „Vermehrung und das Zusammenspiel der staatlich wirksamen Kräfte" als wesentliche Funktion der bundesstaatlichen Gliederung hervorgehoben 80 . Ferner zwingt die Existenz regionaler politischer Entscheidungszentren die Gesellschaft und ihre Gruppen, sich hierauf einzustellen. Die Wirtschaftsverbände und andere Organisationen der Gesellschaft sind zwar regelmäßig i m Bundesmaßstab organisiert und am Sitz von Bundestag und Bundesregierung vertreten 8 1 . Die regionalen Entscheidungszentren werden jedoch nicht nur einseitig von der Unitarisierung, soweit sie von der Gesellschaft ausgeht, zurückgedrängt, sondern setzen ihr zugleich Widerstand entgegen und veranlassen die Gesellschaft, sich — unter Verzicht auf durchgängig zentralistische Organisation — der föderalen Form anzupassen 82 . Soweit das Verfassungsrecht vor allem i m Wege von Anhörungsrechten den Staat m i t den Verbänden konfrontiert 8 2 1 1 , kommt auch diese föderale Brechung des Verbandseinflusses 79
S. o. § 14, 3. m i t A n m . 46 ff.
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Haenel, Deutsches Staatsrecht I S. 223; vgl. ferner Köttgen, Innerstaatliche Gliederung, a.a.O. S. 84: das Grundgesetz habe sich „ f ü r ein mannigfach gegliedertes Gemeinwesen entschieden". 81 Vgl. Köttgen, Innerstaatliche Gliederung, a.a.O. S. 79 ff. 81 Lerche, W D S t R L 21, S. 78 f., 92; Hesse, Rechtsstaat, a.a.O. S. 91 A n m . 58, der allerdings die „Auflockerung der inneren Ordnung der Verbände" ausschließlich auf das Bundesratsprinzip zurückführt; ferner m i t H i n w . auf die ältere Staatspraxis Bilfinger, Einfluß der Einzelstaaten S. 86 f. Der W i r t schaftswissenschaftler Schaeder, Föderalismus u n d soziale Sachbereiche, i n : Z u r S t r u k t u r der deutschen Verwaltung, Schriftenreihe der Hochschule Speyer Bd. 33 (1967) S. 90 ff. (89 ff., 107), sieht i n der bundesstaatlichen Gliederung der K u l t u r p o l i t i k eine wesentliche Ursache dafür, daß es der P r i v a t wirtschaft i n der Bundesrepublik noch nicht i n gleichem Maße w i e i n den U S A gelungen ist, die Finanzierung ihrer Forschungsinvestitionen auf die öffentliche H a n d abzuwälzen. 82a
S. o. § 12, 2. m i t Anm. 51.
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als verfassungsrechtlicher Sinngehalt der regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt i n Betracht. Es liegt nahe, die verschiedenen Gesichtspunkte der regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt, die sie auch i m Hinblick auf die Unitarisierungsforderungen der Industriegesellschaft als erträglich, wenn nicht gar als gerechtfertigt erscheinen lassen, auf einen einheitlichen Leitgedanken zurückzuführen. Der topos Gewaltenteilung bietet sich an, müßte jedoch zunächst gegen MißVerständnisse abgesichert werden. Denn der Funktionssinn der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes läßt sich nicht reduzieren auf die traditionelle „ F o r m t y p i k " des liberalen Rechtsstaats, dem es u m die Balance staatlicher Machtblöcke m i t dem Ziel der Gewährleistung individueller Rechte gegangen ist. Vielmehr müßte Gewaltenteilung hier als politisches Formprinzip verstanden werden, als Programm und institutionelle Sicherung eines differenzierten, freiheitlichen politischen Prozesses. Nur m i t diesem Vorbehalt kann der Vielzahl jener Autoren zugestimmt werden, die den Sinn der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes i n der Gewaltenteilung sehen 83 . Der Einwand, die Gewaltenteilung sei m i t der Föderativstruktur nicht identisch, sie könne daher nicht das Spezifikum des Bundesstaates bezeichnen 84 , greift demgegenüber allerdings nicht durch. Die geschilderte Differenzierung des politischen Prozesses, insbesondere die Steigerung demokratischer Mitwirkungschancen der Aktivbürgerschaft, beruht ausschließlich auf der Existenz der regionalen politischen Entscheidungszentren. Insofern handelt es sich u m eine spezifisch regionale Form der Gewaltenteilung, deren Wirkung von der funktionalen Gewaltenteilung, insbesondere vom Bundesratsprinzip, nicht in gleicher Weise erreicht werden kann. I m übrigen könnte die Verfassungsinterpretation es der Verfassung nicht verwehren, einen Leitgedanken — den der Pluralisierung der Entscheidungszentren und der Differenzie85 Friedrich, Verfassungsstaat der Neuzeit (1953) S. 254; Peters, Gewaltentrennung i n moderner Sicht (1954) S. 24; Bäumlin, Rechtsstaatliche Demokratie (1954) S. 152; Köttgen, Innerstaatliche Gliederung u n d moderne Gesellschaftsordnung, a.a.O. S. 83; Zeidler, Gedanken zum Fernsehurteil, AöR 86 (1961) S. 387; Thieme, Finanzausgleich i m Rundfunkwesen, AöR 88 (1963) S. 79; Werner Weber, A r t i k e l „Gewaltenteilung", HdSW 4 (1965) S. 501; Salzwedel, W D S t R L 21 S. 132; Fuß, ebd. S. 110; Meyers, i n : Föderalistische Ordnung S. 82; BVerfGE 12, 205 (229, 255); vgl. auch bereits Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 2. Bd. (1896), S. 464, u n d die am Bundesstaat der USA orientierten Bundesstaatslehren Tocquevüles's (Brie, Bundesstaat S. 94, 103 ff.) u n d Waitz> (Grundzüge der P o l i t i k [1862] S. 171 ff.). P. Werner, Homogenitätsprinzip S. 69 ff., versteht den gewaltenteilenden E f fekt der bundesstaatlichen Ordnung p r i m ä r i. S. einer Schranke gegen sozialstaatliche Unitarisierung, also letztlich i. S. des liberalen Rechtsstaats. I n dessen ist die regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt gegenüber den Inhalten der Unitarisierung insofern indifferent, als sie auch ein Gegengewicht gegen Unitarisierungen bilden kann, die keineswegs unter dem Vorzeichen des „Sozialen" stehen. 84 Lerche, W D S t R L 21, S. 80 f.; vgl. auch o. § 15, 3. m i t A n m . 63.
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rung des politischen Prozesses, m. a. W.: den Leitgedanken der Gewaltenteilung — i n mehr als einer Institution zu verwirklichen. Für das verfassungsrechtliche Verständnis der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes genügt hier die Feststellung, daß der i m geltenden Recht vorgefundenen regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt 85 i n der konkreten geschichtlichen und gesellschaftlichen Situation der Bundesrepublik Deutschland ein Sinngehalt entspricht, der diese Ordnungsform inhaltlich zu tragen vermag. Die „Gliederung des Bundes i n Länder" (Art. 79 Abs. 3 GG), verstanden als Gewährleistung der regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt, entbehrt daher nicht jener normativen Kraft, die einem Verfassungsrechtssatz nicht zuletzt aus seiner Realisierbarkeit und seiner Überzeugungskraft oder zumindest Erträglichkeit für die Gesellschaft zuwächst. Diese normative K r a f t der regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt setzt auch den zuvor erwähnten Unitarisierungsforderungen der Industriegesellschaft dadurch Grenzen, daß Vorkehrungen zur Harmonisierung der Leitungsfunktionen der Länder die Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit regionaler Entscheidungszentren in dem Maße wahren müssen, i n dem A r t . 79 Abs. 3 GG die regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt gewährleistet. Denn i n diesem Kernbereich ist das Grundgesetz bereit, erforderlichenfalls den Preis für einen differenzierten und freiheitlichen politischen Prozeß i n Form von Effektivitätsminderung und Legitimitätseinbußen zu zahlen 85 *. Bis zur Grenze dieses — de lege lata noch nicht angetasteten — Kernbereichs stellt das Grundgesetz jedoch das Verfahren der Verfassungsänderung zur Verfügung 8 6 . Insoweit bürdet es dem verfassungsändernden Gesetzgeber die Verantwortung dafür auf, ob er den Unitarisierungsforderungen der modernen Gesellschaft durch Formen der Zentralisierung und der effektiven Kooperation nachgeben w i l l 8 7 . Er hat zugleich die Verantwortung zu tragen für die hiermit verbundene Verminderung der Reichweite der demokratischen Regierungsform 87a . Auch 85
S. o. § 15, 1. u. 2. » Ä h n l i c h Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 92, 104. 88 Vgl. hierzu die treffende Charakterisierung der Kompetenzkompetenz bei Haenel, Staatsrecht I S. 797. 87 Hierfür sei auf die Aufgabe einer konjunkturgerechten Haushaltspolitik hingewiesen. Die Kommission für die Finanzreform hatte empfohlen, dieses Problem mittels „ f r e i w i l l i g e r Ü b e r e i n k o m m e n " zu lösen (Gutachten Tz. 510 ff.). Diese Empfehlung ist m i t dem Hinweis auf „Erfahrungen m i t Koordinierungsversuchen" von der Bundesregierung ausdrücklich zurückgewiesen w o r den (Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der wirtschaftlichen Stabilität, BRDrucks. 316/66 v o m 15. 7. 66 S. 10). Schließlich wurde der Weg der Zentralisierung beschritten, wenngleich modifiziert durch die E i n schaltung des Bundesrats (vgl. A r t . 109 G G i. d. F. des Gesetzes v. 8. J u n i 1967 [BGBl. I S. 581]). 87 » Vgl. o. § 13, 3. m i t A n m . 93. 85
§ 15 Regionale und funktionale Gliederung
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insoweit hat er den A r t . 79 Abs. 3 GG zu beachten. Bei der Konkretisierung dieser Grenze w i r d zu berücksichtigen sein, daß demokratische Mitwirkungschancen durch Zentralisierung ungleich weniger beeinträchtigt werden, als durch vorwiegend exekutivisch gesteuerte Kondominien von elf Leitungsinstitutionen. Für die Interpretation der bundesstaatlichen Ordnung ergeben sich hiernach zusammenfassend folgende Gesichtspunkte: Die politische Leitungsgewalt der Bundesrepublik Deutschland ist de lege lata funktional (unter Einschaltung des Bundesrats) und regional (durch Selbständigkeit der Leitungsverantwortung der einzelnen Länder) gegliedert (§ 14). Neben der funktionalen ist auch die regionale Gliederung konstitutiv für den Bundesstaat des Grundgesetzes (§ 15). Das ergibt sich nicht nur aus dem normativen Zusammenhang des Grundgesetzes (§ 15, 1. u. 2.), sondern ebenso aus der Untersuchung des Sinngehalts dieser Ordnungsform (§ 15, 3.). Die differenzierte und freiheitliche Gestaltung des politischen Prozesses, insbesondere die Steigerung demokratischer M i t w i r kungschancen, bilden ein Gegengewicht zu den Unitarisierungsforderungen der Gesellschaft. Die Versuche, durch Erweiterung der Bundeskompetenzen bei gleichzeitiger effektiver Beteiligung des Bundesrats („unitarischer Bundesstaat") oder eines Kondominiums der Länder („Kooperativer Föderalismus") einen Kompromiß zwischen Bundesstaat und Industriegesellschaft zu schließen, finden i n der Gewährleistung der regionalen Gliederung der politischen Leitungsgewalt ihre verfassungsgesetzliche Grenze. Ein solcher Kompromiß ist daher insofern nur ein scheinbarer, als er grundsätzlich nicht anders als die schlichte Zentralisierung zugunsten des Bundestags und der Bundesregierung auf die Schranke des A r t . 79 Abs. 3 GG stößt 88 . D. h. der „unitarische Bundesstaat" und die „neue Staatsidee des Kooperativen Föderalismus" können zwar i m Rahmen der Existenz selbständiger regionaler politischer Entscheidungszentren beispielsweise den Funktionssinn des Bundesrats interpretieren und Möglichkeiten der Verfassungspolitik aufzeigen. Den Anspruch erheben, die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes insgesamt und abschließend zu erfassen, können sie nicht. Insoweit bedür-
88 E i n Unterschied zwischen beiden Formen der Zurückdrängung regionaler politischer Entscheidungszentren ergibt sich allerdings bei der quantitat i v e n Bemessung des von A r t . 79 Abs. 3 G G geforderten Mindestbestandes landeseigener Leitungsaufgaben (vgl. Maunz-Dürig, GG, A r t . 79 Rdnrn. 33, 35, 39). Denn ein gewisses Maß eigener sachlicher Bestimmungsmacht der einzelnen Länder w i r d durch die Majorisierungsmöglichkeit i m Bundesrat nicht absorbiert u n d ist den einzelnen Ländern daher auch i m Rahmen der regionalen Gliederung zuzurechnen (vgl. o. §14, 1. m i t A n m . 8 b). Das g i l t besonders f ü r die Einräumung von Ingerenzrechten zugunsten des Landes, auf dessen Gebiet „Gemeinschaftsaufgaben" v e r w i r k l i c h t werden sollen (vgl. o. § 15, 3. m i t A n m . 53).
16 Hempel
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
fen sie der Ergänzung durch die regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt 8 ·.
§ 16 Die Zuordnung im Gesamtstaat 1. Die Zuordnung der Leitungsinstitutionen
Für die Erörterung der Zusammenarbeit von Bund und Ländern, insbesondere für die Erörterung der vereinbarten Zuständigkeitsveränderungen, ergibt sich aus der bisherigen Untersuchung der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes ein wesentlicher Ansatzpunkt: Bund und Länder sind selbständige und eigenverantwortliche Leitungsinstitutionen und zugleich Momente 1 des einen Gesamtstaats Bundesrepublik Deutschland; erst i n ihrer Gesamtheit erfüllen sie die Funktion der einen politischen Leitungsgewalt dieses Gesamtstaats. Aufgabe der Verfassungsinterpretation ist es, bei der konkreten Problemlösung beiden Gesichtspunkten Geltung zu verschaffen 2 . Wenn die politische Leitungsgewalt des Staates trotz der Beteiligung mehrerer Verfassungsorgane i n der Gesellschaft als einheitlicher Leistungszusammenhang wirksam werden soll, müssen diese verpflichtet sein, einander zu unterrichten, sich zu verständigen und zu unterstützen und aufeinander Rücksicht zu nehmen. Insoweit gilt für die regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt nichts anderes als für die funktionale. M i t der Entscheidung einer Verfassung für eine gegliederte Ordnung der politischen Leitungsgewalt ist daher die Entscheidung für die — wie auch immer konkretisierte — Pflicht zur Information und Verständigung, zur Rücksichtnahme und Hilfeleistung notwendig verbunden 8 . I n diesem Sinne sind die Leitungsinstitutionen, insbesondere 89 Wenn die Bundesregierung das hier interessierende Ziel der Finanzreform darauf beschränkt, „die Regelung über die Trennung der Aufgaben von B u n d u n d Ländern" „durch eine verfassungsrechtliche Ordnung für das Zusammenwirken" bei bestimmten Aufgaben „zu ergänzen" (BTDrucks. V / 2861 Tz. 12), so trägt sie nicht n u r den politischen Möglichkeiten, sondern auch den Schranken des A r t . 79 Abs. 3 G G Rechnung. Kritisch zur „normativen K r a f t " des „unitarischen Bundesstaates" bereits Köttgen, Archiv f. K o m munalwissenschaften (1966) S. 27 A n m . 70; ferner Herzog, JuS 1967 S. 94, 196); Altmeier, 289. Sitzung des Bundesrats v o m 26.11.1965 = Bull.BReg. Nr. 190 S. 1535 f. 1 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 225. Z u m Begriff des Moments s. auch Jonas Cohn, Theorie der D i a l e k t i k (1927) S. 52 ff. 2 Z u m Interpretationsgrundsatz der „praktischen Konkordanz" s. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 28 f. 8 M i t Recht bemerkt daher Köttgen, D Ö V 1955 S. 487, daß die Positivierung der Pflicht zur Rechts- u n d Amtshilfe i n A r t . 35 GG keineswegs konstitutive Bedeutimg habe.
§ 16 Die Zuordnung im Gesamtstaat
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auch der Bund und die einzelnen Länder, grundsätzlich aufeinander zugeordnet 4 . I n der einheitlichen Leitungsfunktion des Gesamtstaats und nicht i n einem (nicht existierenden) „Bündnis" der Länder liegt daher der verfassungsrechtliche Grund der sog. „Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten" bzw. der sog. „Bundestreue" 5 , die von der hier vertretenen Auffassung aus als Chiffren des bundesstaatlichen Zuordnungsrechts zu verstehen sind 5 a . Diese verfassungsrechtliche Grundlage des Zuordnungsrechts ist für die Konkretisierung nicht unerheblich. Denn zum einen steht sie seiner Reduktion auf die „traditionellen Grundsätze über den Rechtsmißbrauch oder . . . das Prinzip der Verhältnismäßigkeit" entgegen 6 . Zum anderen widersetzt sie sich einer Erweiterung des Zuordnungsrechts zu einer allgegenwärtigen „gemeinschaftlichen Verantwortung aller" 7 , da hierdurch die selbständige Verantwortung der Leitungsinstitutionen aufgehoben würde. Das bundesstaatliche Zuordnungsrecht betrifft vor allem zwei Fragenkreise: die ungeschriebenen Verhaltenspflichten der bundesstaatlichen Institutionen und die ungeschriebenen Befugnisse zur Zusammenarbeit. Die Verhaltenspflichten sind Gegenstand einer umfangreichen, i n ihren konkreten Ergebnissen meist überzeugenden Judikatur 8 . Noch umstritten ist beispielsweise das Problem der Anerkennung von Hoheitsakten eines Landes durch die anderen Länder. Bei der Ausführung von Bundesgesetzen ergibt sich die Geltung von Landesverwaltungsakten i m ganzen Bundesgebiet ohne weiteres aus der vom Grundgesetz m i t der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes erstrebten Effektivität der 4 Grundlegend Haenel, Deutsches Staatrecht I S. 562 ff. u n d Smend, V e r fassung u n d Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 246 f., 273; s. ferner Otto v. Gierke, Labands Staatsrecht S. 1128; E.Kaufmann, Verfassungsgerichtsbarkeit, W D S t R L 9 S. 14; Werner Weber, V o t u m S. 2 f.; Sattler, Bundesverfassungsgericht S. 11 f. m. w. Nachw.; Friesenhahn, Parlament u n d Regierung, W D S t R L 16 S.38 A n m . 73; Krüger, Staatslehre S. 869f.; P.Schneider, Gutachten S. 12. I m Ergebnis ebenso bereits Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 278, dessen Thesen auch unabhängig von der zugrunde liegenden idealistischen Staatsphilosophie Beachtung verdienen. Neuestens hat Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts (1967) S. 91 f., 101 f., 184, die Z u ordnung der staatlichen, insbesondere der bundesstaatlichen Institutionen i n den Vordergrund der verfassungsrechtlichen A r b e i t gerückt u n d diese Z u ordnung auf die stets aufgegebene Einheit der Verfassung gestützt (ebd. S. 18, 28 f.). 5 Vgl. o. § 7, 3. m i t A n m . 62. 5a I m Ergebnis ähnlich Werner Weber, Gegenwartslage des deutschen Föderalismus S. 34; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 101 f. • So jedoch Hesse, Der unitarische Bundesstaat S. 7 (einschränkend i n : Grundzüge des Verfassungsrechts S. 102); Fuß, D Ö V 1964 S. 41. 7 S. o. § 4 m i t A n m . 30. 8 Nachweise oben § 7 A n m . 62, 74, 75.
15*
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
bundeseinheitlichen Regelung 9 . Fraglich ist jedoch, ob dies zugleich die äußerste Grenze für die Anerkennung von Landesverwaltungsakten durch andere Länder ist 1 0 . Die praktische Konkordanz der funktionalen Einheit des Gesamtstaats und der Eigenverantwortlichkeit der einzelnen Länder legt folgende Lösung nahe: Die Pflicht zur Gewährleistung der funktionalen Einheit des Wirkungszusammenhangs der bundesstaatlichen Gesamtheit schränkt die Freiheit jedes Landes ein, Verwaltungsakten anderer Länder die Anerkennung beliebig zu versagen. A n dererseits erfordert ihre Eigenverantwortlichkeit, daß sie durch andere Länder nicht gehindert werden, ihre eigenen Ordnungsvorstellungen zu verwirklichen 1 1 . Eine solche Beeinträchtigung wäre jedoch unvermeidlich, wollte man ein Land grundsätzlich für verpflichtet halten, beispielsweise Prüfungsentscheidungen und wirtschaftsrechtliche Genehmigungen eines anderen Landes anzuerkennen. Es ist daher i m Einzelfall zu entscheiden, welches Gewicht das Interesse des Landes an der Verwirklichung eigener Ordnungsvorstellungen hat. Bei Entscheidungen m i t politischem Gehalt ist es naturgemäß größer als bei primär sachrationalen Entscheidungen. I n letzterem F a l l werden die Gesichtspunkte der funktionalen Einheit des Gesamtstaats und der Freizügigkeit i m gesamten Gemeinwesen (Art. 11, 33 Abs. 1—3 GG) den Vorrang verdienen und damit die Pflicht zur Anerkennung der Verwaltungsakte anderer Länder begründen. Das Nebeneinander der funktionalen Einheit des Gesamtstaats und der Eigenverantwortlichkeit der einzelnen bundesstaatlichen Institutionen gibt auch die Richtung an, i n der die Lösung i m Falle von Zuständigkeitsverzahnungen 12 zu suchen ist. Soweit es einem Land möglich ist, die Belange anderer bundesstaatlicher Institutionen ohne Einbuße an eigener politischer Sachverantwortung zu berücksichtigen, ist es hierzu verpflichtet. Gleiches gilt für den Bund. Sind mehrere bundesstaatliche Institutionen an derselben konkreten Aufgabe beteiligt, so besteht i n diesem Rahmen eine Pflicht zur Koordinierung 1 8 , sofern jede • BVerfGE 11, 6 (mit Ls. 2 u. S. 18); ü l e , J Z 1961 S. 622 ff. m. w . Nachw. 10 So anscheinend ü l e , J Z 1961 S. 622 ff.; anders Monz, Das Verhältnis der Bundesländer untereinander S. 45. 11 Das übersieht Monz, Das Verhältnis der Bundesländer untereinander S. 45, der f ü r eine generelle Wirksamkeit aller Landesverwaltungsakte i m gesamten Bundesgebiet eintritt. 12 Z u Auflagen der Bundeswasserstraßenverwaltung zugunsten des L a n d schaftsschutzes der Länder s. Krüger, Die Auflage als Instrument der W i r t schaftsverwaltung, DVB1.1955 S. 450 ff. (453); Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht (1960) S. 160. — Z u Rückwirkungen der Planfeststellung hinsichtlich der Bundesfernstraßen auf Landesangelegenheiten s. Köttgen, JöR 3 S. 85. — Z u m Ineinandergreifen der Wasserstraßenverwaltung des Bundes u n d der Wasserwirtschaftsverwaltung eines Landes s. B V e r f G N J W 1967 S.1956. 18 Ä h n l i c h BVerfGE 1, 299 (315 f.). Dort wurde der „unsachliche W i d e r spruch eines der Beteiligten" f ü r „rechtlich unbeachtlich" erklärt.
§ 16 Die Zuordnung im Gesamtstaat
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bundesstaatliche Institution i n der Lage ist, das Ergebnis der Verhandlungen zu verantworten. Allgemeiner: Jede bundesstaatliche Institution hat ihre Ziele so zu verfolgen, daß eine optimale Wirkungseinheit des Gesamtstaats erreicht wird. Sind Effektivitätseinbußen jedoch infolge unterschiedlicher politischer Konzeptionen der Beteiligten unvermeidlich, so nimmt das Grundgesetz sie i m Interesse der Eigenverantwortlichkeit der bundesstaatlichen Institutionen i n Kauf 1 4 . Hierdurch ist das Zuordnungsrecht des Grundgesetzes deutlich unterschieden von einer generellen Kompromißstruktur des staatlichen Ämterwesens, die unter dem Stichwort einer „gemeinschaftlichen Verantwortung aller" befürwortet wird. Für das Problem der Vereinbarung von Zuständigkeitsveränderungen sind indessen die Befugnisse der bundesstaatlichen Institutionen bedeutsamer als ihre Verhaltenspflichten. Bestünde nicht ihre verfassungsrechtlich wesentliche Eigenverantwortlichkeit, so würde der Gesichtspunkt der funktionalen Einheit des gesamten staatlichen Ämterwesens zu dem Grundsatz führen, daß sämtliche Maßnahmen und organisatorische Vorkehrungen rechtmäßig sind, die diese funktionale Einheit fördern; Vorbehalte ergäben sich lediglich aus speziellem Verfassungsrecht. Den Unitarisierungsforderungen der Gesellschaft, den sachlichen Interdependenzen zwischen den Zuständigkeitsbereichen und den regionalen Interdependenzen könnte der Staat durch jede Form der Koordinierung einschließlich der Zuständigkeitsveränderungen Rechnung tragen. M i t der Eigenverantwortlichkeit der bundesstaatlichen Institutionen ist ein solches i m Grundsatz unbeschränktes Mandat zur Zusammenarbeit jedoch unvereinbar. Andererseits ist aber auch die unbeschränkte Aufrechterhaltung ihrer Selbständigkeit m i t der bundesstaatlichen Zuordnung, insbesondere m i t dem Grundsatz der funktionalen Einheit des Gesamtstaats unvereinbar. Die praktische Konkordanz 14 » beider Aussagen über die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes liegt allein i n der Wahrung eines — wie auch immer zu konkretisierenden — Kernbereichs der eigenverantwortlichen Wahrnehmung der verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben. Von Seiten des Zuordnungsrechts sind m i t h i n i n der Bundesrepublik Deutschland alle Formen der Zusammenarbeit von Bund und Ländern zulässig, die diesen Kernbereich wahren. Die konkrete verfassungsrechtliche Arbeit bei der Beurteilung einzelner Staatsverträge und Verwaltungsabkommen besteht m i t h i n nicht darin, positiv eine Ermächtigung für die bundesstaatliche Zusammenarbeit aufzuzeigen, sondern negativ die Schranken der staatlichen Handlungsfreiheit zu ermitteln 1 5 . 14
Vgl. o. § 14, 3. v o r A n m . 47; § 15, 3. v o r A n m . 86. » S. o. § 16 A n m . 2. 15 Ebenso Bachof, Gutachten S. 40; a. A. ausdrücklich Krapp,
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Die verfas-
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
Dieser Ansatz für die Beurteilung der zuständigkeitsverändernden Zusammenarbeit w i r d durch den verfassungsrechtlichen Status des Bundes und der Länder bestätigt. Bund und Länder sind Leitungsinstitutionen. Durch ihre Verfassungsorgane haben sie teil an der politischen Leitungsgewalt. Aufgrund ihrer Leitungsverantwortung und ihrer Souveränität können sie vom Zweck auf das zulässige M i t t e l schließen; d. h. ihnen stehen alle zweckdienlichen Handlungsformen zu Gebote, die ihnen nicht durch spezielles Verfassungsrecht verwehrt sind 1 6 . Für die innere Gestaltung der staatlichen Organisation kann nichts anderes gelten. Auch hier können die Leitungsinstitutionen alle erforderlichen und geeigneten Maßnahmen treffen. Die Organisationsgewalt der Regierung (im Sinne der Spitze der vollziehenden Gewalt) 1 7 findet daher i n der nur negativ begrenzten Leitungsverantwortung des Staates ihre vieldiskutierte Berechtigung 18 . Die verfassungsrechtlich geforderte funktionale Einheit des Gesamtstaats bewirkt nun, daß sich diese Organisationsgewalt — gleichviel, ob sie i m Einzelfall der vollziehenden oder der gesetzgebenden Gewalt zusteht 1 8 a — nicht auf den eigenen Verfassungsrechtskreis der einzelnen bundesstaatlichen Institutionen beschränkt. Vielmehr können die Leitungsinstitutionen alle organisatorischen Maßnahmen treffen, die geeignet sind, die funktionale Einheit des Staates, seine Effektivität und seine Rationalität zu gewährleisten. Für Zuständigkeitsveränderungen über Landesgrenzen hinweg besteht insoweit keine Besonderheit. Wie Parlament und Regierung innerhalb eines Landes z.B. über die Verwaltungsorganisation disponieren können, so können sie es auch i m Bereich der Zusammenarbeit über Landesgrenzen hinaus. N u r der Kernbereich eigenverantwortlicher Aufgabenerfüllung und spezielles Verfassungsrecht setzen ihrer Organisationsgewalt eine Grenze. Die hier erörterte Frage, zu welchen Zwecken die Organisationsgewalt innerhalb des bundesstaatlichen Gefüges die Zuständigkeitsordnung verändern darf, ist zu unterscheiden von der grundsätzlicheren Frage, ob sie nicht jenseits territorialer Grenzen eo ipso ihre Wirksamkeit verliert. Diese zweite sungsrechtliche Zulässigkeit gemeinsamer Ländereinrichtungen S. 69 f., sowie i m Ergebnis die oben (§ 4, 1.) erläuterte herrschende Lehre. 16 S. o. § 12, 2. m i t A n m . 28. 17 Z u m I n h a l t dieser Organisationsgewalt s. Böckenförde, Die Organisationsgewalt i m Bereich der Bundesregierung (1964) S. 47. 18 Ä h n l i c h Haenel, Staatsrecht I S. 335 f.; Forsthoff, öffentliche Körperschaft S. 95 ff.; Ders., Verwaltungsrecht S. 425; Köttgen, Die Organisationsgewalt, W D S t R L 16 S. 189 (Ls. 2); Dennewitz, B K , Erl. zum I V . Abschnitt vor A r t . 50 GG, S. 8 A n m . 1; Dahin, Der Staat S. 253; Böckenförde, Organisationsgewalt S. 86 f., 58 m i t A n m . 11. — Zusammenfassend zu der vor allem durch die Problematik des Rechtssatzbegriffs bestimmten Diskussion über die Organisationsgewalt der E x e k u t i v e s. Böckenförde, ebd. S. 26 ff., 61 ff. «a z u dieser Differenzierung, die die Unterscheidung zwischen Staatsvertrag u n d Verwaltungsabkommen vorzeichnet, vgl. Grawert, Verwaltungsabkommen S. 31 ff.
§16 Die Zuordnung i m Gesamtstaat
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Frage w i r d — unter dem Vorbehalt besonderer bundesgesetzlicher Ermächtigung — regelmäßig bejaht 1 · u n d damit der zuständigkeitsverändernden Zusammenarbeit von vornherein der Boden entzogen. Indessen ist dieses Verständnis des Territorialprinzips selbst i m Rahmen der Staatenstaatstheorie nicht schlüssig. Auch selbständige Staaten können allein u n d i n Gemeinschaft m i t anderen Staaten Institutionen außerhalb ihres Gebiets errichten. V o n dislozierten Verwaltungsbehörden bis zu überstaatlichen Gemeinschaften hat diese grenzüberschreitende Organisationsgewalt der Staaten vielfältigen Ausdruck gefunden 10 ». Entsprechend erfassen materielle Rechtssätze auch extraterritoriale Sachverhalte 1 ·^. Das Territorialitätsprinzip bedeutet i n diesem Zusammenhang lediglich, daß die einseitige Bestimmungsmacht einer Gebietskörperschaft an ihren Gebietsgrenzen endet: I h r ist es verwehrt, i n den Zuständigkeitsbereich anderer Organisationseinheiten „ h i n einzuregieren" 1 9 0 . Dieser Sinngehalt des Territorialitätsprinzips bleibt jedoch gewahrt, w e n n die hierdurch geschützte Organisationseinheit m i t der Ausübung fremder Hoheitsgewalt auf ihrem Gebiet einverstanden ist. Sind h i e r nach Gebietsgrenzen selbst auf der Grundlage der selbständigen Staatlichkeit der einzelnen Länder kein generelles Hindernis f ü r grenzüberschreitende Organisationsakte — deren Unzulässigkeit folgt schlüssig n u r aus der D o k t r i n der Einheit der „Landesstaatsgewalt" —, so ergibt sich hierfür erst recht kein Anhaltspunkt aus dem Zuordnungsrecht des Gesamtstaats. Das bundesstaatliche Z u o r d n u n g s r e c h t zeichnet auch die Reichweite der jeweils eigenen Aufgaben eines Landes u n d des B u n d e s v o r . W e n n aus d e r Z u o r d n u n g d e r L e i t u n g s i n s t i t u t i o n f o l g t , daß sie z u r R ü c k s i c h t nahme aufeinander verpflichtet u n d grundsätzlich zu allen F o r m e n der Z u s a m m e n a r b e i t b e r e c h t i g t sind, so g e h ö r e n s ä m t l i c h e A k t e , d i e dieser R ü c k s i c h t n a h m e u n d Z u s a m m e n a r b e i t d i e n e n , z u i h r e n eigenen A u f gaben. Das ist schon deshalb festzuhalten, w e i l k e i n e staatliche I n s t i t u t i o n i h r e f i n a n z i e l l e n u n d organisatorischen M i t t e l f ü r Z w e c k e e i n setzen d a r f , d i e i h r n i c h t i n i r g e n d e i n e r F o r m als eigene A u f g a b e n z u gerechnet w e r d e n k ö n n e n 2 0 . Das G r u n d g e s e t z h a t diesen G r u n d s a t z i n A r t . 106 A b s . 4 N r . 1 b e s t ä t i g t . F ü r das D e l e g a t i o n s p r o b l e m b e d e u t e t dies, daß Z u s t ä n d i g k e i t s ü b e r t r a g u n g e n , d i e d e r R a t i o n a l i s i e r u n g oder 19 BVerfGE 11, 6 (19); Kölble, Gemeinschaftsaufgaben, a.a.O. S. 57; Friedrich Klein, Grenzen der Gemeinschaftsaufgaben, a.a.O. S. 156 A n m . 96; H. Schneider, Gutachten S. 15; Grawert, Verwaltungsabkommen S. 233, sowie — generell für Gebietskörperschaften — Forsthoff, Verwaltungsrecht I S. 149; Walter Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. A u f l . 1931, S. 146 ff. Α. A. B V e r w G E 22, 299 (306 f.); Roellenbleg, DÖV 1968 S. 227. 19a Dahm, Völkerrecht Bd. I I (1961) S. 5: „Dasein u n d Zuständigkeit der internationalen Organisationen beruhen auf dem W i l l e n der beteiligten Staaten." Ä h n l i c h Krüger, D Ö V 1959 S. 724. 19 t> Die erforderliche Differenzierung u n d K l ä r u n g bringt Vogel, Der r ä u m liche Geltungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm (1965) S. 1 f., 21 ff., 142 ff. Vgl. ferner Schlochauer, Die exterritoriale W i r k u n g von Hoheitsakten (1964) S. 10 f., 40 ff. »e TJle, J Z 1961 S. 623; Vogel, Internationale Zusammenarbeit S. 19. 29 So bereits, i m Hinblick auf das „Zusammenwirken von Verwaltungskörpern", Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht I I § 60, 3. Aufl. (1924) S. 389.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
Harmonisierung dienen, auf Seiten des Delegatars, also des Empfängers der Kompetenz, grundsätzlich keinen Bedenken begegnen. Für das Problem der Finanzzuweisungen zwischen den Ländern ergibt sich, daß finanzielle Unterstützungen, die i m Interesse der Wirkungseinheit des Gesamtstaats und der gleichen Leistungsfähigkeit der bundesstaatlichen Institutionen die Finanzkraft einzelner Länder oder auch des Bundes stärken sollen, zu den eigenen Aufgaben der leistenden Institution gehören 2 1 . Die Koordinierung von Finanzzuweisungen führt daher nicht ohne weiteres zu „Gemeinschaftsaufgaben", die nur einer zwischen Bund und Ländern stehenden Ländergemeinschaft oder einer „dritten Ebene" zugerechnet werden könnten. Eine andere Frage ist es allerdings, bis zu welcher Grenze Finanzzuweisungen m i t sachlichen Ingerenzen verbunden sein, also über die Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs hinausgehen dürfen. Ebenso ist es eine andere Frage, ob der Ordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs i n A r t . 107 Abs. 2 GG entnommen werden muß, daß die finanzielle Solidarität der Länder ausschließlich vom Bund zu konkretisieren ist und damit jeder Sonderfinanzausgleich ausgeschlossen i s t " . Hier war lediglich darzustellen, welche Hinweise sich aus der allgemeinen Untersuchung der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes für das Problem der Zusammenarbeit von Bund und Ländern ergeben. Dabei erwies sich die Gesamtstaatlichkeit von Bund und Ländern, insbesondere ihre Teilhabe an der einen politischen Leitungsgewalt, als Grundlage eines differenzierten Zusammenspiels der bundesstaatlichen Institutionen, das den pragmatischen Anforderungen an einen leistungsfähigen Bundesstaat zu einem erheblichen Teil Rechnung tragen kann. Spezielle verfassungsrechtliche Schranken der Vereinbarung von Zuständigkeitsveränderungen werden i m vierten Teil zu erörtern sein. 21 Ä h n l i c h Konow, D Ö V 1966 S. 375 m i t A n m . 73. Diese Konsequenz des Zuordnungsrechts w i r d verkannt von der Kommission f ü r die Finanzreform (Gutachten Tz. 242), die aus dem „Gliedstaatscharakter" der Länder ein V e r bot finanzieller Zuweisungen ableitet. Zutreffend BVerfGE 1, 117 (131). n So Kölble, D Ö V 1964 S. 592 ff. (594 f.), u. die Bundesregierung, BTDrucks. V/2861 Tz. 85; a . A . Köttgen, JöR 3 S. 144; Gross, N J W 1967 S. 1004 f., u n d Thieme, AöR 88 S. 61 f.; letzterer m i t der w o h l k a u m durchgreifenden Begründung, es handele sich u m Gegenstände der leistenden, nicht der eingreifenden Verwaltung. Entschieden f ü r die Vereinbarung von Finanzausgleichsmaßnahmen durch die Länder spricht sich die Entschließung der M i nisterpräsidentenkonferenz v o m 12. 7.1963 i n Saarbrücken aus (Meyers, K l a r e Aufgabenteilung S. 21 f.). Scheuner, Die Bildungsplanung u n d ihre Rechtsgrundlagen, D Ö V 1965 S. 541 ff. (544 A n m . 31), geht v o n der Ausschließlichkeit der Finanzausgleichskompetenz des Bundes aus, hält jedoch Ausnahmen zugunsten „nachbarschaftlicher Gemeinschaften i m Herkommen" f ü r gegeben. (Zu letzterem Vorbehalt vgl. das A b k o m m e n zwischen Niedersachsen u n d Hamburg über den Gewerbesteuerausgleich, Nds.GVBl. 1959 S. 66; 1967 S. 75).
§ 16 Die Zuordnung im Gesamtstaat
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2. Die einheitliche Autorisierung der Bundesrepublik Deutschland
Das ungeschriebene bundesstaatliche Zuordnungsrecht i n der Bundesrepublik Deutschland ergibt sich i n erster Linie aus der funktionalen Einheit von Bund und Ländern. Dies ist darin begründet, daß der Bundesstaat des Grundgesetzes infolge seiner verfassungsrechtlichen Strukt u r und infolge seiner konkreten Funktion i m Gemeinwesen sich i n erster Linie als eine Form der Gliederung der politischen Leitungsgewalt darstellt. Nicht die regionale Verschiedenheit der Gesellschaft ist primär, sondern die regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt. Allerdings ist es für die Intensität der Zuordnung nicht gleichgültig, welche Bedeutung das Verfassungsrecht den regionalen Zäsuren innerhalb der Gesellschaft zuerkennt. Diese Annahme w i r d zum einen durch das geläufige Argument nahegelegt, Zuständigkeitsübertragungen i m Bundesstaat seien generell unzulässig, weil hierdurch i n die unveräußerlichen Rechte der Landesvölker eingegriffen werde 2 3 . Zum anderen ist die regionale Gliederung der Gesellschaft für die Frage erheblich, i n welchem Maße.den Ländern zugemutet werden kann, m i t Rücksicht auf die funktionale Einheit des gesamtstaatlichen Wirkungszusammenhangs eigene Interessen zurückzustellen. Verfassungsrechtlicher Ausdruck der territorialen Einheit und regionalen Differenzierung der Gesellschaft ist die Autorisierung des Ämterwesens 24 . I m demokratischen Gemeinwesen ist folglich zu fragen, ob die Landesinstitutionen auf verfassunggebenden Gewalten der Landesvölker beruhen oder auf einem „einheitlichen demokratischen A u f gliederungsakt" 2 5 , durch den die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes Bundesinstitutionen und Landesinstitutionen gleichermaßen autorisiert. Aus der allgemeinen Erörterung der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes ergibt sich ohne weiteres, daß m i t der A n t w o r t auf diese Frage nicht etwa die Bundesstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland steht oder fällt 2 6 . Hierfür ist ausschließlich die Beteiligung der Länder an der politischen Leitungsgewalt maßgebend. Die A r t der Autorisierung des Gesamtstaates — bündisch durch 23
S. o. § 5 m i t Anm. 8, 10, 11. Vgl. o. §§ 11; 13, 1. u. 2. » Lerche, Föderalismus, W D S t R L 21 S. 91 f. M Anders naturgemäß die Staatenstaatstheorie, f ü r die die Länder selbständige demokratische Staaten sind; aber auch Scheuner, W D S t R L 21 S. 122; Ders., D Ö V 1962 S. 648; Friedrich, Nationaler u n d internationaler Föderalismus, a.a.O. S. 178; Krüger, W D S t R L 21 S. 107, 114; Dürig, W D S t R L 21 S. 115; Werner Weber, Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem S. 49, 65 f., 70 ff., u n d w o h l auch E.R. Huber, Verfassungsgeschichte I S. 660, der ohne Anerkennung von Zwischenformen die Vereinigung einer Vielheit von Einzelstaaten, „die aus eigener Wachstumskraft entstanden" sind, u n m i t t e l b a r der Ausgliederung bloßer Verwaltungskörperschaften gegenüberstellt. 24
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
selbständige verfassunggebende Gewalten i n den Ländern, einheitlich durch die verfassunggebende Gewalt des Gesamtvolks — bezeichnet daher lediglich die Form des Bundesstaats, genauer: die A r t seiner Fundierung i m Gemeinwesen. Die Länder bekunden i n ihren Verfassungen nahezu übereinstimmend, daß ihre Staatsgewalten durch die ihnen zugeordneten „Landesvölker" autorisiert seien 27 . Dieses Selbstverständnis der Länder muß sich allerdings an der Verfassungsstruktur des Grundgesetzes und an den realen Bedingungen eigenständiger Autorisierung messen lassen 28 . Für die demokratische Autorisierung sind zwei Komponenten charakteristisch: zum einen der einmalige A k t der Verfassungsgesetzgebung, durch den die Bürger des Gemeinwesens in freier Entscheidung die öffentliche Grundordnung konstituieren und den hierauf gegründeten Einrichtungen Autorität verleihen; und zum anderen die permanente Hervorbringung des agreement on fundamentals, des „Willens zur Verfassung" 29 . Da diese zweite Komponente zu einem Teil i n Wahlen institutionalisiert ist, liegt es nahe, i n den Landtagswahlen ein Indiz für verfassunggebende Gewalten der Landesvölker zu sehen. Indessen erstreckt sich diese Institutionalisierung des „täglichen Plebiszits" auf jegliche Ausübung verfassungsmäßiger Befugnisse der Aktivbürgerschaft, sofern sie ein Maßstab dafür sein kann, ob die Grundentscheidungen der Verfassung noch die Billigung der Aktivbürgerschaft finden. Von diesem permanenten Votum sind Kommunalwahlen nicht ausgenommen. So wenig jedoch diese territoriale Aufgliederung des Autorisierungsprozesses verfassunggebende Gewalten der Gemeinden entstehen läßt 8 0 , so wenig kann sie als Beweis für eigene verfassunggebende Gewalten der Länder gelten. Soweit die Aktivbürgerschaft i n lokalen und regionalen Wahlen als Faktor des Autorisierungsprozesses w i r k t , kann dieser Prozeß durchaus als jeweils partielle Betätigung des deutschen Volkes und seiner verfassunggebenden Gewalt verstanden werden 8 1 . Entscheidend für die Zuerkennung eines selbständigen pou27 Z u m „Landesvolk als Träger der Staatsgewalt" vgl. die Nachweise bei Bachof, Gutachten S. 47. — Abweichend A r t . 2 LVerf. N E W , der m i t der A n ordnung, das V o l k bekunde seinen W i l l e n durch Wahl, Volksbegehren und Volksentscheid, allein die demokratische Regierungsiorm konkretisiert u n d sich einer Aussage über den „Träger der Staatsgewalt" enthält. M Z u Verfassungssätzen „bloß lehrhaften u n d doktrinären Inhalts" s. Lukas, Die rechtliche Stellung dès Parlaments i n der Gesetzgebung Österreichs (1901) S. 73; G. Jellinek, Staatslehre S. 551, 553 (Anm. 2 von S. 552); Badura, Rechtssetzung durch Gemeinden, DÖV 1963 S. 561. 29 S. o. § 13, 2. 80 Vgl. oben § 11, 2. Anm. 29, 30. 31 Einer solchen Interpretation ist die Auffassung Abendroths vergleichbar, daß die nach 1945 p u n k t u e l l wieder entstandene eigenständige deutsche Staatsgewalt „sich nicht als Sonderstaatsgewalt i n bestimmten Räumen, son-
§16 Die Zuordnung im Gesamtstaat
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voir constituant ist vielmehr, ob die fragliche Gruppe sich vermöge besonderer Solidarität gegenüber anderen Gruppen (Teilgemeinwesen) individualisiert und daher den öffentlichen Ämtern ihres Bereichs spezifische Autorität verleihen kann und ob sie insbesondere selbständige Grundentscheidungen über Staatsziele und Formen des politischen Prozesses trifft. Diese Voraussetzungen werden von den Ländern der Bundesrepublik Deutschland nicht erfüllt. Eine für die öffentliche Grundordnung relevante Individualität kommt allenfalls noch einigen wenigen Ländern zu 3 2 . Die Entscheidung über die Grundlagen ihrer öffentlichen Ordnung, insbesondere über ihre Einordnung i n das bundesstaatliche Gefüge der Bundesrepublik Deutschland, haben die einzelnen Länder nicht selbständig treffen können. Das ergibt sich bereits aus der Möglichkeit der Majorisierung der einzelnen Länder beim Zustandekommen des Grundgesetzes (Art. 144 GG). Die tatsächlich und gemäß A r t . 144 GG auch rechtlich vergebliche Ablehnung des Grundgesetzes durch den Freistaat Bayern zeigt, daß es sich hierbei nicht nur um ein theoretisches Argument gegen eigene verfassunggebende Gewalten der Länder handelt. Der Entscheidung der vermeintlichen verfassunggebenden Gewalt des bayerischen Volkes hätte ausweislich des A r t . 78 der Verfassung vom 2. Dezember 1946 nur die Gründung eines deutschen demokratischen Bundesstaates entsprochen, der „auf einem freiwilligen Zusammenschluß der deutschen Einzelstaaten" beruht hätte. I n der von Rechts wegen bestehenden Fremdbestimmung der Länder 3 3 liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den bündisch autorisierten Bundesstaaten 34 .
dern als partikulare Äußerung einheitlicher deutscher Staatsgewalt empfand" ( W D S t R L 13 S. 62, Diskussionsbeitrag). 32
S. o. § 15, 3. m i t A n m . 61.
85
Diese Konsequenz versucht Herzog, DÖV 1962 S. 86, m i t H i l f e der demokratischen Mehrheitsentscheidung des Gesamtvolkes auszuräumen: indem die Angehörigen der Landesvölker an der A b s t i m m u n g über die Gesamtstaatsverfassung teilnähmen, billigten sie schon durch ihre Teilnahme am Entschluß des Gesamtvolkes das zu erwartende Ergebnis notwendig auch i n ihrer Eigenschaft als (Mit-)Träger der Gliedstaatsgewalten f ü r den Fall, daß sich i m Gesamtvolk eine Mehrheit bildet. Die dem einzelnen Bürger hierbei zugeschriebene Mehrheit von Rollen ist indessen fiktiv. Denn er kann hiervon keinen Gebrauch machen: I h m w i r d die Möglichkeit vorenthalten, als Angehöriger des Gliedstaats die Verbindlichkeit der Mehrheitsentscheidung abzulehnen. Herzogs Überlegungen ändern m i t h i n nichts daran, daß die einzelnen Länder der B R D weder tatsächlich noch rechtlich i n der Lage waren u n d sind, über die Grundlagen ihrer öffentlichen Ordnung selbst zu bestimmen. 84 Vgl. A r t . 7 der Verfassungslehre S. 366 f.; zur Legitimitätsideologie des „Fürstenbundes" von 1867/1871 s. Otto Mayer, Republikanischer u n d monarchischer Bundesstaat, AöR 18 (1903) S. 361 ff.; Smend, Abhandlungen S. 229.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
Diese rechtliche S t r u k t u r des Autorisierungsprozesses schließt es aus, die Fremdbestimmung der einzelnen Länder allein auf die tatsächliche I n t e r v e n t i o n der Besatzungsmächte zurückzuführen, u m diese Intervention sodann gleichermaßen gegenüber der verfassunggebenden Gewalt des deutschen V o l kes geltend machen zu können u n d hierdurch die Fremdbestimmung der L ä n der gleichsam zu neutralisieren 8 5 . Die Beschränkung des demokratischen Autorisierungsprozesses infolge der Festlegungen der Besatzungsmächte sind durch die hohe Wahlbeteiligung bei der W a h l zum ersten Bundestag u n d durch die deutliche Mehrheit der Aktivbürgerschaft f ü r die i m Parlamentarischen Rat maßgebenden Parteien i n demokratisch erträglicher F o r m ausgeglichen worden 8 6 . Ließe m a n Gleiches f ü r die Länder gelten, so bliebe doch der aus A r t . 144 GG sich ergebende E i n w a n d bestehen. D e r h i e r i n d e n V o r d e r g r u n d g e r ü c k t e A r t i k e l 144 G G i s t indessen k e i n e n u r z u f ä l l i g e , i n z w i s c h e n Geschichte g e w o r d e n e V o r s c h r i f t . D i e V e r n e i n u n g s e l b s t ä n d i g e r A u t o r i s i e r u n g e n d e r L a n d e s i n s t i t u t i o n e n , die i n i h m z u m A u s d r u c k k o m m t , w i r d v o r a l l e m d u r c h A r t . 29 G G bestät i g t . Es i s t k e i n e n a c h h a l t i g e r e V e r n e i n u n g d e r e i g e n s t ä n d i g e n A u t o r i s i e r u n g eines L a n d e s d e n k b a r , als d i e B e f u g n i s des einfachen B u n d e s gesetzgebers, d i e gesamten, v o n d e r v e r m e i n t l i c h s e l b s t ä n d i g e n v e r f a s sunggebenden G e w a l t g e t r a g e n e n I n s t i t u t i o n e n i n e i n e m N e u g l i e d e r u n g s a k t aufzuheben. F o l g e r i c h t i g e r k l ä r t e Laforet i m Parlamentarischen R a t , w e r a n d e r S t a a t l i c h k e i t d e r G l i e d s t a a t e n eines B u n d e s s t a a tes festhalte, k ö n n e d e r N e u g l i e d e r u n g s k o m p e t e n z n i c h t z u s t i m m e n 5 7 . Jerusalem e r b l i c k t e i n A r t . 29 G G d i e V e r w i r k l i c h u n g „ r a d i k a l e r , zentralistischer Gedanken"38. Diese Vorschrift bereitet der Staatenstaatstheorie naturgemäß Schwierigkeiten. Die Vorstellung, jedes L a n d habe die Neugliederungskompetenz des Bundes „ i n seinen W i l l e n aufgenommen" 8 9 , scheitert bereits an der zuvor erörterten Majorisierung. K a u m vollziehbar ist auch die Vorstellung einer „verliehenen" „Ursprünglichkeit" 4 0 . Jedenfalls vermag sie den „unüberbrückbaren Abstand" des Grundgesetzes „zu einem echt bündischen System, f ü r das gerade die Unverletzlichkeit seiner Glieder wesentlich i s t " 4 1 , nicht zu 55
Vgl. Maunz, Staatsrecht S. 186. I m Ergebnis ebenso bereits Ipsen, Über das Grundgesetz (1950) S. 27, zustimmend Werner Weber, Spannungen u n d K r ä f t e S. 15 A n m . 7; ff. Schneider, F ü n f Jahre Grundgesetz, N J W 1954 S. 937; Dürig, W D S t R L 13 S. 52 A n m . 81; Kölble, D Ö V 1962 S. 586; Harbich, Bundesstaat S. 57; Steiner, Verfassunggebende Gewalt S. 61, u n d w o h l auch B V e r f G E 5, 85 (389). — Ob u n d inwie^· w e i t eine differenzierende Würdigung dieses Votums des pouvoir constituant des deutschen Volkes möglich u n d geboten ist, braucht hier nicht untersucht zu werden; vgl. oben § 15, 3. A n m . 48. 87 Abg. Laforet, JöR 1 S. 289, 284; ähnlich Pfeiffer, B u n d und Länder, DÖV 1949 S. 264. 88 Jerusalem, Zentralismus u n d Föderalismus, i n : Festschr. f. Laforet (1952) S. 48 ff. Ä h n l i c h bereits Bilfinger, Der Einfluß der Einzelstaaten S. 83 f. 89 Herzog, D Ö V 1962 S. 85 A n m . 37. 40 Maunz, Staatsrecht S. 179. 41 Werner Weber, Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem S. 70, u n d bereits Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 368. Z u r t e r r i 88
§ 16 Die Zuordnung i m Gesamtstaat
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überwinden. Würde m a n m i t der herrschenden Lehre die selbständige A u t o risierung der Länder als k o n s t i t u t i v f ü r die bundesstaatliche Ordnung ansehen, so müßte, w e n n auch i m offenen Gegensatz zum Selbstverständnis des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 GG), die Bundesrepublik Deutschland als E i n heitsstaat qualifiziert werden 4 2 . Die Möglichkeit, aufgrund der Neugliederungskompetenz des Bundes von einer besonderen Bundesstaatsform — etwa dem einheitlich autorisierten oder „ l a b i l e n " 4 3 Bundesstaat oder dem „Bundesstaat ohne bündische Grundlage" 4 4 — zu sprechen, besteht nur, w e n n die Theorie der „ursprünglichen" Landesgewalt preisgegeben u n d die Bundesstaatlichkeit i n einer besonderen F o r m der Gliederung des staatlichen Ä m t e r wesens gefunden w i r d 4 5 . Andernfalls wäre der Begriff des „labilen Bundesstaates" n u r ein unzulänglicher Versuch, die Tatsache zu verdecken, daß die traditionelle Theorie seit dem A r t . 18 W R V m i t dem positiven Verfassungsrecht i n Widerspruch geraten ist 4 6 . D e r Ausschluß s e l b s t ä n d i g e r A u t o r i s i e r u n g d e r L ä n d e r f i n d e t auch i m F e h l e n i h r e r „ G e b i e t s h o h e i t " s e i n e n Niederschlag. D a s Recht d e r regionalen Einheiten, über den Gebietsumfang zu verfügen, ist i m b ü n dischen B u n d e s s t a a t eine s e l b s t v e r s t ä n d l i c h e F o r t w i r k u n g d e r selbständigen regionalen Autorisierungen 47. Lediglich negative Beschränkungen m i t Rücksicht a u f das gesamtstaatliche G l e i c h g e w i c h t s i n d h i e r m i t z u vereinbaren. Die Länder der Bundesrepublik Deutschland hingegen bed ü r f e n d e r b u n d e s r e c h t l i c h e n E r m ä c h t i g u n g , w e n n sie eine v e r t r a g l i c h e Ä n d e r u n g ihres t e r r i t o r i a l e n Bestandes erstreben, A r t . 29 A b s . 7 G G 4 8 . torialen Status-quo-Garantie i m bündischen Bundesstaat ebenso Schindler, Die Entwicklung des Föderalismus i n der Schweiz, JöR 9 (1960) S. 61 ff., u n d die D o k t r i n des amerikanischen Supreme Court, derzufolge die „unzerstörbare U n i o n " aus „unzerstörbaren Staaten" zusammengesetzt ist, Schwartz , Commentary I (1963) S. 37. — Dem Ausschluß der territorialen Integrität der einzelnen deutschen Länder entspricht es, daß ihre institutionelle Sicherung trotz der positiv-rechtlichen Gewährleistung i n A r t . 79 Abs. 3 GG materiell nicht zweifelsfrei ist; vgl. o. § 15 A n m . 48. 42 Folgerichtig daher Usteri, der sich für die von i h m angenommene E i n heitsstaatlichkeit der B R D insbesondere auf A r t . 29 GG beruft (Theorie des Bundesstaates S. 3341, 225, 11). Diese Konsequenz läßt sich auch nicht durch die petitio p r i n c i p i i Harbichs (Bundesstaat S. 55) abwenden: E i n Staat könne „nie von einem anderen rechtlich geschaffen werden", „daher" (sie!) beruhten die deutschen Länder „rechtlich auf ihrem eigenen Willen". 43 Thoma, A r t . Staat, a.a.O. S. 738. 44 Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 388 ff. 45 Zutreffend daher Thoma, A r t . Staat, a.a.O. S. 738. 48 M i t Recht weist üle i n der Aussprache zum Referat Willi Geigers über „Föderalismus i n der Verfassungsordnung der B R D " auf die aus A r t . 29 folgende L a b i l i t ä t der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes h i n (Schriftenreihe der Hochschule Speyer Bd. 33 [1967] S. 28 f.); a. A . Geiger, ebd. S. 25 f., 34 f. Nicht überzeugend daher BVerfGE 1, 14 (S. 48 i m Vergleich m i t S. 34). 47 Z u m Deutschen Reich von 1871 s. Laband, Staatsrecht I S. 202; MeyerAnschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts (7. Aufl.) S. 242; Anschütz, Deutsches Staatsrecht S. 80. 48 Vgl. Platz, Z u r Frage der Ausübung der Staatsgewalt eines Bundeslandes auf fremdem Landesgebiet, der F a l l Bad Wimpfen, D Ö V 1966 S. 184 ff.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
Die den Ländern i n A r t . 28 Abs. 1 GG eingeräumte Verfassungsautonomie vermag am bisherigen Ergebnis nichts zu ändern. Denn die — erheblich begrenzte — Verfassungsautonomie ist nicht allein vor dem Hintergrund selbständiger verfassunggebender Gewalten der „Landesvölker" sinnvoll, sondern auch zur Realisierung der Leitungsverantwortung. Das Recht, für die Ordnung des politischen Prozesses i n den Ländern besondere Akzente zu setzen, gibt dem Landesgesetzgeber ζ. B. die Möglichkeit, grundlegende landespolitische Kompromisse i n die Verfassungsordnung einzubeziehen und dadurch die jeweilige einfache Parlamentsmehrheit an ihn zu binden. Dieser Funktion der Verfassungsautonomie für die Ausübung der Leitungsgewalt entspricht es, daß sich nicht alle Landesverfassungen als selbständige Grundlagen des gesamten politischen Prozesses i n den Ländern verstehen. Zu einem solchen Selbstverständnis gehört i n einer freiheitlichen Demokratie die selbständige Ausgestaltung der Grundrechtsordnung. Mehrere Landesverfassungen haben auf eine solche Bekundung politischer Individualität verzichtet 49 . Nicht zufällig hat daher die Lokalisierung der Grundrechtsordnung i n der Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem Deutschen Reich von 1867/1871 eine wesentliche Veränderung erfahren 5 0 . Diese Veränderung ist ein spezieller Ausdruck des allgemeineren Sachverhalts, daß i m einheitlich autorisierten Bundesstaat der „ I n stanzenweg der L e g i t i m i t ä t " 5 1 anders verläuft als i m bündischen Bundesstaat: Während hier die regionalen Einheiten auf selbständigen Autorisierungsprozessen beruhen und kraft ihrer freiwilligen Einordnung i n das bundesstaatliche Gefüge einen wesentlichen Beitrag zur Legitimität des Ganzen leisten 52 , beruhen sie dort auch i n ihrem eigenen Wirkungsbereich auf der Legitimität des Ganzen. I m bündischen Bundesstaat ist das einheitlich geltende Verfassungsgesetz „nur Schranke, nicht aber Grundlage" 5 3 der regionalen Institutionen und ihrer Ordnung. I m einheitlich autorisierten demokratischen Bundesstaat hingegen (184). — Z u r W R V vgl. Anschütz, Kommentar A r t . 18 A n m . 5. — I n Österreich bedürfen Änderungen der Landesgrenzen übereinstimmender Verfassungsgesetze des Bundes u n d des betroffenen Landes, A r t . 3 Abs. 2 BVerfGes. 49 Vgl. die Landesverfassungen von Nordrhein-Westfalen (Art. 4), Niedersachsen, Hamburg, Baden-Württemberg (Art. 2) u n d die Landessatzung f ü r Schleswig-Holstein bei Füßlein, Deutsche Verfassungen 3. Aufl. 1961. 50 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 228 f., 232, 264 ff. Z u den Grundrechtsgarantien der deutschen konstitutionellen Verfassungen s. E.R. Huber, Dokumente Bd. I S. 146, 157, 173, 203, 228, 402. 51 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 232. " Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 226, konnte daher die „Einzelstaaten" als „notwendige Integrationshilfen des Reiches" verstehen, eine Funktion, die entscheidend durch ihre „vorbundesstaatliche Existenz" (Haug, Schranken der Verfassungsrevision S. 82) ermöglicht wurde. 58 Bäumlin, Rechtsstaatliche Demokratie S. 146.
§ 16 Die Zuordnung i m Gesamtstaat
239
w i r d d e n L ä n d e r n i h r öffentliches A m t ausschließlich v o n d e r e i n e n verfassunggebenden G e w a l t des G e s a m t v o l k e s a n v e r t r a u t 5 4 . N a c h a l l e d e m lassen d i e M a j o r i s i e r u n g e i n z e l n e r L ä n d e r b e i der V e r fassunggebung, d e r M a n g e l g r u n d l e g e n d e r u n d spezifischer B e i t r ä g e eines j e d e n e i n z e l n e n L a n d e s z u d e n G r u n d l a g e n seines p o l i t i s c h e n P r o zesses s o w i e d i e B e f u g n i s des B u n d e s z u r D i s p o s i t i o n ü b e r d e n B e s t a n d d e r e i n z e l n e n L ä n d e r k e i n e n Z w e i f e l d a r a n , daß d i e deutschen L ä n d e r nicht auf jeweils selbständigen verfassunggebenden G e w a l t e n der L a n d e s v ö l k e r b e r u h e n . S i e l e i t e n i h r e n verfassungsrechtlichen S t a t u s v i e l m e h r ausschließlich v o n d e r verfassunggebenden G e w a l t des deutschen Volkes ab55»56. D i e e i n h e i t l i c h e A u t o r i s i e r u n g v o n B u n d u n d L ä n d e r n h a t z u r Folge, daß d i e f u n k t i o n a l e E i n h e i t des Gesamtstaats v o n Seiten d e r r e g i o n a l e n D i f f e r e n z i e r u n g der Gesellschaft k e i n e E i n s c h r ä n k u n g e n e r f ä h r t . D i e „ L a n d e s v ö l k e r " s i n d v o n Verfassungs w e g e n a u f d i e d e m o k r a t i s c h e M i t w i r k u n g der Aktivbürgerschaft bei der A u s ü b u n g der politischen L e i t u n g s g e w a l t beschränkt. D a r ü b e r h i n a u s g e h e n d e Interessen „ d e r L a n d e s v ö l k e r " , e t w a a n d e r A u t o r i s i e r u n g des Ä m t e r w e s e n s , h a t das Grundgesetz nicht anerkannt. D i e einheitliche A u t o r i s i e r u n g der B u n 54 Eine solche idealtypische Gegenüberstellung beider Bundesstaatsformen ist zwar geeignet, die Eigentümlichkeit der einheitsstaatlichen Autorisierung sichtbar zu machen. Dies bedeutet indessen nicht, daß der Typus des bündischen Bundesstaates, für den das Deutsche Reich von 1871 sowie die Schweiz u n d die USA repräsentativ sind, auch i n der Verfassungswirklichkeit der Gegenwart v o m einheitlich autorisierten Bundesstaat, für den neben der B R D auch Österreich, Kanada u n d die Weimarer Republik charakteristisch sind, i n jeder Hinsicht deutlich abgesetzt wäre. Der Unitarisierungstrend der modernen Industriegesellschaft hat auch die Sozialbedingungen der Schweiz u n d der USA verändert, vgl. hierzu bereits Thoma, A r t . Staat, a.a.O. S. 738; ferner Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 388; Grewe, A n t i n o m i e n des Föderalismus S. 17, u n d neuestens die Bundesregierung i n der Begründung des Entwurfs eines Finanzreformgesetzes, BTDrucks. V/2861 S. 74. 55 I n diesem Sinne ist der Status der Länder „unabgeleitet" v o m B u n d (vgl. bereits oben § 14, 3. m i t A n m . 25), hingegen abgeleitet von der — m i t der Bundesinstitution nicht identischen — verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes. Diese Differenzierung setzt allerdings die v o n der herrschenden Lehre nicht vollzogene Beschränkung des Staatsbegriffs auf das Ämterwesen voraus. 58 A u f einen „einheitlichen demokratischen Aufgliederungsakt" w i r d die Bundesstaatlichkeit der B R D ferner zurückgeführt von Lerche, Föderalismus, W D S t R L 21 (1964) S. 91 f.; Zinn, Der B u n d u n d die Länder, AöR 75 (1949) S. 294 ff. (allerdings unter gleichzeitiger Charakterisierung der Länder als Staaten, kritisch hierzu bereits B. Hirsch, Der Begriff des Bundesstaates S. 167); Grewe, Das Grundgesetz, Deutsche Rechtszeitschrift 1949 S. 313 ff. (314); Werner Weber, Spannungen u n d K r ä f t e S. 69 f.; Hesse, Der unitarische Bundesstaat S. 29, 32 ; Jahrreiß, Die Gliederung des Bundes i n Länder, a.a.O. S. 539 f., 542 f. I m Ergebnis h i e r m i t verwandt sind jene Stellungnahmen, die von einer einheitlichen Substanz der Staatsgewalt ausgehen: B.Hirsch, Der Begriff des Bundesstaates (1961) S. 177, 180, u n d Walter Schmidt, B u n d u n d Länder, AöR 87 (1962) S. 258 (im Anschluß an Ridder; vgl. jedoch auch unten §17, 2. b)).
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
desrepublik Deutschland läßt insbesondere für „unveräußerliche Rechte" der Landesvölker, die der zuständigkeitsverändernden Zusammenarbeit i m Bundesstaat, vor allem der Veränderung der institutionellen Zuordnung, von vornherein entgegenstehen 67 , keinen Raum. Wie alle Kompetenzen gehen auch die den „Landesvölkern" zugewiesenen auf die Gesamtstaatsverfassung zurück und sind von dort aus zu interpretieren. Diese Gesamtstaatsverfassung hat sich jedoch für ein Zuordnungsrecht entschieden, das für alle Formen der Zusammenarbeit i m Grundsatz ein weites Feld eröffnet. § 17 Exkurs: Parallelen im Schrifttum I m dritten Teil dieser Arbeit ist versucht worden, gesellschaftliche Grundlagen, normative Leitgedanken und verfassungsgesetzliche Konkretisierungen der bundesstaatlichen Ordnimg des Grundgesetzes zu erörtern. Faßt man diese Gesichtspunkte zusammen, so erscheint der Bundesstaat des Grundgesetzes als ein Staat, dessen politische Leitungsgewalt regional und funktional gegliedert ist und dessen Ämterwesen einheitlich vom gesamten deutschen Volk im Geltungsbereich des Grundgesetzes autorisiert wird. I n dieser Umschreibung besagt die regionale Gliederung, daß die Länder i m eigenen Verfassungsrechtskreis an der Regierungsfunktion und der Souveränität des Gesamtstaats teilhaben; die funktionale Gliederung, daß sie innerhalb der Bundesinstitution (durch den Bundesrat) bei der vom Bund ausgeübten politischen Leitungsgewalt mitwirken. Diese begriffliche Fixierung der diskutierten Gesichtspunkte kann bereits aufgrund der hermeneutischen Fragestellung der vorliegenden Schrift (s. o. § 1) nicht für sich i n A n spruch nehmen, den Begriff des Bundesstaates zu definieren. Andererseits sind bei der Interpretation des Grundgesetzes Anregungen aus der allgemeinen Bundesstaatstheorie aufgegriffen worden. Soweit diese Parallelen i m Schrifttum nicht bereits i m Rahmen des jeweiligen Problems erörtert worden sind, ist über sie nunmehr i m Zusammenhang zu berichten. Dabei w i r d insbesondere i n kritischer Auseinandersetzung darzustellen sein, auf welche Grenzen die Übereinstimmung — auch abgesehen von der zum Teil abweichenden Fragestellung — stößt. 1. Gesamtstaatlichkeit und Gesamtsouveränität im theoretischen Modell
Der leitende Gesichtspunkt, daß die Gesamtheit von Bund und Ländern — und nur sie — einen Staat, nämlich den Bundesstaat, konstituiere, ist zuerst von Albert Haenel entwickelt worden. Otto v.Gierke und i n neuerer Zeit Walter Schmidt haben diese Gesamtstaatlichkeit 57
Vgl. oben § 5.
§ 17 Exkurs: Parallelen im Schrifttum
241
zwar abgelehnt, m i t der Zurechnung der einen Souveränität auf die Gesamtheit von Bund und Ländern jedoch die Ergänzungsbedürftigkeit der bundesstaatlichen Einheiten betont und damit einen Beitrag zum bundesstaatlichen Zuordnungsrecht geleistet. Martin Usteri schließlich hat i n seiner „Theorie des Bundesstaates" beide Aspekte, den der Gesamtstaatlichkeit und den der Gesamtsouveränität, miteinander verbunden. a) Albert
Haenel
Den Anstoß zu einer Orientierung an der Gesamtheit von Bund und Ländern anstelle der ausschließlichen Beschäftigung m i t dem Bund und den einzelnen Ländern hat Haenel gegeben: „Nicht der Einzelstaat, nicht der Gesamtstaat sind Staaten schlechthin, sie sind nur nach der Weise von Staaten organisierte und handelnde politische Gemeinwesen. Staat schlechthin ist nur der Bundesstaat als die Totalität beider 1 ." Z u dieser These konnte Haenel gelangen, weil er sich bewußt vom Primat der rechtssubjektiven Einheit des Staates löste 2 und stattdessen die Funktion des States i m Gemeinwesen i n den Vordergrund rückte. Als diese Funktion erkannte er die politische Leitung 3 . Sie kann i m selben Territorium nur eine einheitliche sein: Nur „ i n dem organischen Miteinander und i n dem planmäßigen Zusammenwirken von Bund und Ländern, i n ihrer Totalität" sei „der Begriff des Staates m i t seinen notwendigen Attributen" zu suchen und zu finden 4 . Die naheliegende Folgerung, daß auch die Souveränität, die er selbst zu den „notwendigen Attributen" des Staates zählt, dieser Gesamtheit zuzurechnen sei, hat Haenel nicht gezogen. Nur das Reich sei kraft seiner Kompetenzkompetenz souverän. Nur i n i h m komme „die geforderte organische Totalität" i m Bundesstaat „zur Erscheinung" 5 . Das Reich sei daher „nicht etwas vom Bundesstaat Verschiedenes, sondern der Bundesstaat selbst" 6 . Eine gedankliche Einheit m i t den zuvor referierten Thesen ist nicht ersichtlich. Insofern ist Haenels Lehre nicht zu Unrecht 1 Haenel, Studien zum Deutschen Staatsrechte 1. Bd. (1873) S. 63. I n der Sache ebenso i m Deutschen Staatsrecht I S. 223. 2 S. o. § 10 A n m . 31. * Haenel, Studien I S. 61 f. 4 Haenel, a.a.O. S. 63. — I n seinem Staatsrecht (S. 207) stellt Haenel Übereinstimmung m i t H.Schulze u n d Treitschke fest. Ä h n l i c h später Bornhak, auf den sich zustimmend Somló (Juristische Grundlehre S. 295) beruft (vgl. hierzu Walter Schmidt, Der bundesstaatliche A u f b a u S. 96 f. A n m . 287). 5 Haenel, Studien I S. 63 ff. — Dementsprechend w i r d das bundesstaatliche Zuordnungsrecht, das Haenel selbst i m Ansatz überzeugend entwickelt hat (s.o. § 16, 1. m i t A n m . 4) i n erster L i n i e i n der ungeschriebenen Reichskompetenz zur Staatenpflege v e r w i r k l i c h t (Staatsrecht I S. 595 f.). « Haenel, Studien I S. 66; Deutsches Staatsrecht I S. 796 f., 804 ff. (806).
16 Hempel
242
3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
auf K r i t i k gestoßen7. Verständlich w i r d die Inkonsequenz jedoch vor dem Hintergrund der auch von Haenel noch nicht überwundenen Nachwirkungen des absolutistischen Zentralismus. Haenel wandte sich zwar gegen die „politische Doktrin" des Absolutismus, die nur ein Verfassungsorgan kannte 8 . Ein aus dem Kreise der mehreren Verfassungsorgane herausragendes „souveränes Organ" hielt indessen auch er noch für unverzichtbar 9 . Daher mußte die Macht des bundesstaatlichen Gefüges in einer handlungsfähigen Spitze, eben dem Reich, „zur Erscheinung kommen". Die differenzierten Vorkehrungen des Verfassungsrechts der rechtsstaatlichen Demokratie, die gegliederte Ordnung der politischen Leitungsgewalt zu stabilisieren, waren noch nicht ins Blickfeld getreten 10 . b) Otto v. Gierke und Walter Schmidt Die bundesstaatliche Gesamtheit zu erfassen, ist auch das Ziel der Bundesstaatslehre Otto v. Gierkes gewesen, von Gierke Schloß sich Labands K r i t i k an der Haenel'schen „Totalität" von Bund und Ländern insoweit an, als auch er eine rechtssubjektive Interpretation dieser Totalität für rechtlich unverzichtbar hielt 1 1 . Damit entfiel für i h n von vornherein die Möglichkeit, den von i h m festgehaltenen rechtssubjektiven Staatsbegriff m i t der Gesamtheit von Bund und Ländern zu verbinden. Indessen hielt er es nicht für ausgeschlossen, eine i n ihrer Substanz ungeteilte Staatsgewalt der „Mehrheit der vorhandenen Staatspersonen i n ihrer organischen Verbundenheit" zuzuordnen 12 . Bund und Länder werden als „ w i r k l i c h staatliche Personen", und zwar „als Teilhaber an der Substanz der souveränen staatlichen Totalgewalt" gedacht 13 . Subjekt der Staatsgewalt ist also nicht, wie es für die anorga7 Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff (1920) S. 206 ff.; Usteri, Theorie des Bundesstaates (1954) S. 214, 220; Walter Schmidt, Der bundesstaatliche A u f b a u (1961) S. 52. — Fehl geht allerdings der E i n w a n d Walter Schmidts (Bund u n d Länder, a.a.O. S. 294), die von Haenel erkannte Gesamtstaatlichkeit v o n B u n d u n d Ländern beruhe auf einer „einheitsstaatlichen Konzetion". Dieser E i n w a n d geht zu Unrecht davon aus, daß Bundesstaatlichkeit an das staatenstaatliche Modell gebunden sei. Wenn Walter Schmidt „eine eigene staatliche Organisation, ein eigenes soziologisches Substrat" dieses Gesamtstaates vermißt (Der bundesstaatliche Aufbau S. 105 A n m . 409, ähnlich i n : B u n d und Länder S. 295), so legt er seinerseits den Maßstab der einheitsstaatlichen Tradition an, derzufolge der Staat eine einheitliche, rechtssubjektiv zusammengefaßte Organisation auf weisen muß und nicht lediglich eine objektiv-institutionelle Einheit einer Mehrheit letztinstanzlicher Z u rechnungseinheiten sein darf (vgl. o. § 10). 8 Haenel, Staatsrecht I S. 93; vgl. auch oben § 10 m i t Anm. 4 ff., 13. • Haenel, Deutsches Staatsrecht I S. 92. 10 Vgl. o. § 14, 3. 11 v. Gierke, Labands Staatsrecht, a.a.O. (1883) S. 1167, 1125. 12 v. Gierke, Labands Staatsrecht, a.a.O. S. 1176. 18 v. Gierke, a.a.O. S. 1177 f. — Anscheinend zustimmend Herbert Krüger,
§ 17 Exkurs : Parallelen im Schrifttum
243
nische Persönlichkeitslehre außer Frage steht, eine rechtssubjektive Einheit, sondern eine genossenschaftliche Verbindung, zu deren Veranschaulichung v. Gierke auf das Gesamthandseigentum verweist 1 4 . Diese „organische Gemeinschaft" soll „nicht eine neue staatliche Person über ihren Komponenten" sein 15 , vielmehr bleibt der Bundesstaat ein „aus Staaten zusammengesetzter" 16 . Die einheitliche „Substanz der souveränen staatlichen Totalgewalt", die diesen Staatenstaat zusammenhält, hat v. Gierke nicht erläutert. Er berief sich weder auf einen Ableitungszusammenhang, der durch umfassende zentralistische Befugnisse des „Hauptes" der „organischen Gemeinschaft" über ihre „Glieder" begründet sein könnte, noch behauptete er eine einheitliche Autorisierung; für deren Annahme ließ der offenkundige Pluralismus der Autorisierungen i m Deutschen Reich von 1871 ohnehin keinen Raum. Die Wurzeln der einheitlichen „Substanz" dürften vielmehr i m romantisch-organologischen Denken zu finden sein, das den Dualismus von Volks- und Fürstensouveränität durch die Souveränität des als Einheit erlebten Gemeinwesens aufzuheben suchte 17 . Die mystisch-ästhetisch erlebte Einheit des Volksgeistes war jene Substanz, die die vielfältigen Faktoren des Gemeinwesens zusammenhielt. Sie war zugleich, da Volk und Staat i n dieser Gedankenoperation identifiziert wurden, die Substanz der Staatsgewalt 18 . Für die Interpretation der bundesstaatlichen Ordnung ist eine solche „Substanz der Staatsgewalt", die lediglich den Vorrang des nationalen Einheitserlebnisses vor dem bundesstaatlichen Pluralismus letztinstanzlicher Zurechnungseinheiten dokumentiert, allerdings nicht näher greifbar. Zutreffend hat bereits Usteri festgestellt, v. Gierke habe die von i h m behauptete einheitliche Substanz der Staatsgewalt, die die Grundlage der Gesamtsouveränität sein sollte, nicht nachgewiesen 19 . Walter Schmidt führt das Gierkesche Modell eines durch Gesamtsouveränität zusammengehaltenen Staatenstaates fort 2 0 . Deutlicher noch Konkordatsprozeß Bd. V I I (1957) S. 1058 m i t A n m . 16. — Später sprach v. Gierke v o m „organischen Zusammenhang der staatlichen Gewalten" und von den „Bruchstücken" der „ v o l l e n Staatsgewalt" (in: Althusius [3. Aufl. 1913] S.362 A n m . 90). Z u r „Gesamtsouveränität" vgl. auch oben §14 m i t Anm. 53. 14 v. Gierke , Labands Staatsrecht, a.a.O. S. 1178. — Ansätze hierzu bei Peter Schneider (o. § 5 A n m . 3). 15 v. Gierke , a.a.O. S. 1168. 18 v. Gierke , a.a.O. S. 1160. 17 S. o. §9, 2.b) m i t A n m . 68. 18 Hegel kennzeichnet den „Organismus des Staates" als „objektive Substantialität" (Grundlinien der Philosophie des Rechts §267) u n d die W i r k lichkeit des Staates als den „Geist des Volkes" (oben § 9 m i t A n m . 72). 19 Usteri, Theorie des Bundesstaates S. 155 f. M Vgl. o. § 17 m i t Anm. 13. 16*
244
3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
als v. Gierke hebt er hervor, daß die einzelnen Bestandteile dieses Gefüges nicht volle Staaten, sondern Teilstaaten seien, die durch die anderen Teilhaber an der Gesamtsouveränität ergänzt werden; er betont jedoch, dem staatenstaatlichen Grundschema entsprechend, daß die Gesamtheit der „Teilstaaten" nicht selbst wiederum Staat sei 21 . Die einheitliche „Substanz der Staatsgewalt", die die Teilstaaten zu einem m i t Gesamtsouveränität ausgestatteten Gefüge verbinden soll, w i r d bei Walter Schmidt zumindest i m Ansatz aus der romantisch-organologischen Vorstellungswelt v. Gierkes gelöst und anhand der demokratischen Staatsform interpretiert. Walter Schmidt definiert Bund und Länder als die „Organisationen der ursprünglich (vor der Einleitung i n die staatliche Organisation) einheitlichen Staatsgewalt des deutschen Volkes i m Gebiet der Bundesrepublik Deutschland" 22 . Diese ursprünglich einheitliche Staatsgewalt des Volkes führt nicht zu einem Gesamtstaat, der sich aus den Teilstaaten zusammensetzt, „denn das V o l k ist zwar Bindeglied zwischen den Teilen, aber nicht selbst Staat, sondern erst i n Bund und Ländern staatlich organisiert" 2 3 . I m Anschluß an Ridder versteht Walter Schmidt die demokratische Fundierung des Teilstaatengefüges unter Berufung auf Art. 20 Abs. 1 u. 2, A r t . 30 GG als die „Teilung der einen, einheitlich vom ganzen Volke ausgehenden Staatsgewalt bereits an der Quelle i n zwei Ströme: Ein Teil der Staatsgewalt w i r d vom Volke i n Wahlen und Abstimmungen i m Bund und durch besondere Organe des Bundes ausgeübt, der noch verbleibende Teil durch Wahlen und Abstimmungen i n den Ländern und durch besondere Organe der Länder" 2 4 . Die einheitliche Quelle der Staatsgewalt bedeutet jedoch nicht, daß „das gesamte Volk auch Träger der einzelnen ,Landesstaatsgewalt' sei". Vielmehr ist zwischen dem „Bundesvolk" als dem Träger der i n der staatlichen Organisation Bund ausgeübten Staatsgewalt und dem jeweiligen Teil des gesamten Volkes, dem „Landesvolk", als dem Träger der Landesstaatsgewalt zu unterscheiden 25 . Stellt man die methodischen Bedenken gegen eine Interpretation des demokratischen Verfassungsrechts, die die Staatsgewalt substanzhaft beim vorstaatlichen Volke lokalisiert, zurück 2 *, so bleibt die Holle der 11 Walter Schmidt, Der bundesstaatliche A u f b a u der Bundesrepublik Deutschland (1961) S. 54 f.; Das Verhältnis von B u n d u n d Ländern i m demokratischen Bundesstaat des Grundgesetzes, i n : AöR 87 (1962) S. 253 ff. (276, 295). n Walter Schmidt, B u n d u n d Länder, a.a.O. S. 295. u Walter Schmidt, a.a.O. S. 276. u Walter Schmidt, a.a.O. S. 258. Zustimmend anscheinend Lerche, Föderalismus, W D S t R L 21 S. 91 bei A n m . 88. K Walter Schmidt, a.a.O. S. 259. *· Kritisch zu einem solchen Emanatismus bereits Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 197. Vgl. ferner o. § 13, 2. m i t A n m . 28 a.
§17 Exkurs: Parallelen im Schrifttum
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„Träger" dieser Staatsgewalt zu klären. Denn es ist nicht ohne weiteres ersichtlich, wie ein- und dieselbe Staatsgewalt einheitlich beim gesamten Volk „liegen" 2 7 und sodann auch ohne Substanzveränderung i n die Landesinstitutionen „strömen" soll und dennoch als Landesstaatsgewalt nicht von eben diesem gesamten Volk „getragen" sein soll. Walter Schmidts Konzeption scheint nur zwei Deutungsmöglichkeiten zuzulassen: Entweder haben diese Träger soziologisch-politische und rechtlich erhebliche Realität; dann schließen sie eine unverändert i n den Teilorganisationen fortwirkende Einheitlichkeit der Staatsgewalt, die an der Quelle bestanden haben soll, aus, erweisen die Einheitlichkeit mithin als Fiktion; oder sie haben keine Realität: dann erweist sich die Teilung an der Quelle als Fiktion, die die bloße Kompetenzaufgliederung der einen Staatsgewalt i n dem einen Staate verdeckt. Die Ausführungen Walter Schmidts legen die erstere Deutung nahe. Die fragliche Einheit der von B u n d und Ländern ausgeübten Staatsgewalten begründet Walter Schmidt m i t dem Satz: „Da die Summe aller Landesgebiete m i t dem Bundesgebiet und die Summe aller Landesvölker m i t dem Bundesvolk rechnerisch identisch sind, erscheint das gesamte Volk als einheitliches Bindeglied zwischen den unterschiedlichen staatlichen Organisationen und den durch sie ausgeübten Teilstaatsgewalten des Bundes und der Länder i m Gebiet der Bundesrepub l i k Deutschland 28 ." Die „rechnerische Identität" allein vermag aber noch keine rechtserhebliche Einheit der „Quelle" von Bundesgewalt und Landesgewalten zu begründen — ebensowenig wie die physische Identität der Mitglieder zweier Verbände bereits eine „ursprünglich einheitliche Verbandsgewalt" bewirkt. Das rechnerisch identische „gesamte V o l k " soll nach Walter Schmidt i n dieser Identität gerade nicht rechtserheblich tätig geworden sein. Insbesondere i m A k t der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes soll das Volk nur i n seiner Eigenschaft als Träger der Bundesgewalt gehandelt haben, also nicht auch als Träger der Landesgewalten 29 . T r i t t aber „das gesamte Volk als einheitliches Bindeglied zwischen den unterschiedlichen staatlichen Organisationen" innerhalb des Systems Walter Schmidts i n keiner Weise rechtserheblich i n Erscheinung, so bleibt es auch für die These einer „ursprünglich einheitlichen Staatsgewalt" ohne Belang. Würde man andererseits das „gesamte V o l k " als rechtserheblich für die Einheit der Staatsgewalt ansehen, so müßte es zugleich Träger der „Landesstaatsgewalten" sein, d. h. der Bundesstaat wäre notwendig einheitlich autorisiert. Demokratische Bundesstaaten m i t bündischer Auto27 28 29
Walter Schmidt, B u n d und Länder, a.a.O. S. 261. Walter Schmidt, a.a.O. S. 259. Walter Schmidt, a.a.O. S. 259.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
risierung, wie die Schweiz und die USA 3 0 , könnten von einer solchen Theorie des „demokratischen Bundesstaates" nicht erfaßt werden. Diese Schwierigkeiten scheinen die Folge des Versuchs zu sein, am staatenstaatlichen Grundschema festzuhalten und zugleich die Einheit der Staatsgewalt zu begründen. Einem solchen Versuch steht jedoch entgegen, daß die Staatsgewalt keine freischwebende Substanz ist, die nach dogmatischen Bedürfnissen beliebig lokalisiert werden könnte. Sie bezeichnet vielmehr den Wirkungszusammenhang der staatlichen Organisation, also einen Prozeß i n der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Von diesem Wirkungszusammenhang und seiner Funktion i m Gemeinwesen kann der Begriff der Staatsgewalt ebensowenig getrennt werden wie der der „Gesamtsouveränität". Von hieraus jedoch kann das bundesstaatliche Gefüge nur als staatliche Einheit — als „Gesamtstaat" (s. oben § 14) — verständlich gemacht werden. c) Martin
Usteri
Usteri hat sich die Aufgabe gestellt, die Staatlichkeit der Gesamtheit von Bund und Ländern auf der Grundlage eines rein normativen Staatsbegriffs zu erarbeiten: „Staat ist die, bei dadurch näher gekennzeichneten, meist räumlich bestimmten Menschen i n Geltung stehende, souveräne (umfassende) Rechtsordnung 31 ." „Das Spezifische des Bundesstaates" sieht Usteri i m „komplexen Aufbau" des Staates, also der souveränen Rechtsordnung. Der komplexe Aufbau ist definiert durch das „Vorhandensein eines materiell beschränkten, ergänzungsbedürftigen Gesamtrechtssystems und mehrerer materiell beschränkter komplementärer Teilrechtssysteme" 32 . Das entscheidende Problem, vor dem die Theorie Usteris steht, ist der Nachweis, daß die materiell beschränkten Rechtssysteme Bund und Länder i n ihrer Gesamtheit einen Staat, d. h. eine Rechtsordnung, ein Rechtsnormensystem 33 bilden und nicht nur eine sonstige Form der Zuordnung mehrerer Systeme — etwa i n Analogie zu Walter Schmidts Theorie des Teilstaatengefüges. Diese Frage nach der staatlichen Einheit ist für Usteri deshalb zentral, weil er den Staat als souveräne 30
S. o. § 16, 2. m i t A n m . 54. Usteri, Theorie des Bundesstaates (1954) S. 146. Insoweit k n ü p f t Usteri an Kelsen an (z.B. Allgemeine Staatslehre [1925] S. 91, 95). Usteri hat die Staats- u n d Rechtstheorie Kelsens jedoch vor allem dadurch modifiziert, daß er den monistischen Stufenbau der Rechtsordnung, der bei Kelsen die Folge eines lediglich formalen Rechtserzeugungszusammenhangs ist, aufgegeben u n d durch einen inhaltlichen Zusammenhang der Normen ersetzt hat (Usteri, ebd. S. 67—73, 239 f.). 32 Usteri, Theorie des Bundesstaates S. 236. 33 Usteri, ebd. S. 75. 31
§ 17 Exkurs: Parallelen i m Schrifttum
247
R e c h t s o r d n u n g u n d diese w i e d e r u m als G e w a l t e n m o n o p o l v e r s t e h t . Menschliches Z u s a m m e n l e b e n k ö n n e n u r g e o r d n e t w e r d e n , w e n n d i e Menschen m i t i h r e n s ä m t l i c h e n H a n d l u n g e n dieser e i n e n Rechtsordn u n g u n t e r w o r f e n s e i e n 8 4 . E i n N e b e n e i n a n d e r dieser m e h r e r e n s o u v e r ä n e n R e c h t s o r d n u n g e n i m selben G e b i e t , das die Staatenstaatstheorie zu f o r m u l i e r e n versucht, sei d a h e r ausgeschlossen 3 5 . U m d i e staatliche E i n h e i t d e r r e l a t i v s e l b s t ä n d i g e n Rechtssysteme „ B u n d " u n d „ L ä n d e r " d a r t u n z u k ö n n e n , m u ß U s t e r i „ N o r m e n nachweisen, i n denen b e i d e A r t e n Verfassungsrechte r e i n organisatorisch d e r a r t i h r e n R e c h t s g r u n d f i n d e n k ö n n t e n , daß sie n o t w e n d i g e r w e i s e miteinander v e r k n ü p f t erscheinen"36. Den Ansatz zur Lösung bietet i h m die rechtliche N a t u r j e n e r verfassunggebenden G e w a l t , a u f d e r die B u n d e s v e r f a s s u n g b e r u h t . D u r c h d i e M i t w i r k u n g der L ä n d e r a n dieser verfassunggebenden G e w a l t sei d i e e r f o r d e r l i c h e V e r b i n d u n g v o n B u n d u n d L ä n d e r n h e r g e s t e l l t 3 7 . Z u g l e i c h sei h i e r d u r c h sichergestellt, daß w e d e r d i e V e r f a s s u n g s o r d n u n g des B u n d e s v o n d e n L ä n d e r n d e l e g i e r t sei noch d i e d e r L ä n d e r v o m B u n d 3 8 . Es ist indessen z w e i f e l h a f t , ob die B e t e i l i g u n g der a u f eigenen G r u n d n o r m e n b e r u h e n d e n L ä n d e r 3 9 a m G r u n d n o r m e n g e f ü g e des B u n 84 Usteri, ebd. S. 167 f. Ä h n l i c h Max Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft I (4. Aufl. 195β) S. 29 f. Kritisch zur Überbetonung des Zwangsmoments i m Recht bereits H. J. Wolff, Organschaft u n d juristische Person I S. 390, 423 A n m . 1. 85 Diesen staatstheoretischen Ausgangspunkt Usteris übersehen seine K r i t i k e r Herzog (DÖV 1962 S. 61 ff.) u n d Harbich (Bundesstaat S. 59 ff.), wenn sie i h m entgegenhalten, das Nebeneinander zweier souveräner Rechtsordnungen könne durch verfassungskräftige Kompetenzabgrenzung gewährleistet w e r den. Hierzu hat bereits Haenel (Staatsrecht I S. 803) i n polemischer K r i t i k bemerkt, daß die abstrakten Begriffe der „Herrschaft" u n d des „Souveränen" sich logisch ohne weiteres nebeneinander stellen ließen. Eine überzeugende K r i t i k am Ausgangspunkt Usteris hätte daher darlegen müssen, daß ein Nebeneinander zweier souveräner Einheiten i m selben Gebiet m i t der F u n k tion des Staates i m Gemeinwesen vereinbar sei. Hierzu haben sich jedoch Herzog u n d Harbich nicht geäußert. Das ist allerdings verständlich, da die von ihnen vertretene Staatenstaatstheorie hierauf keine befriedigende A n t w o r t zu geben vermag (vgl. o. §§ 12; 14, 2. m i t A n m . 9). 88 Usteri, ebd. S. 155, 144. 87 Usteri, ebd. S. 224 ff., 227. — Diesem Modell entspricht der A n t r a g des Abgeordneten Seebohm i m Parlamentarischen Rat (JöR 1 S. 200, 202 A n m . 47, 296 f.): „ V o l k u n d Länder sind Träger der Bundesgewalt". 88 Usteri, ebd. S. 228 f., 219. 89 Abweichend von Kelsen (Staatslehre S. 99, 104) versteht Usteri die Grundnorm nicht als systematische Hypothese, sondern als „echte Rechtsn o r m " m i t dem I n h a l t : „ W e n n die so u n d so bestimmte Instanz nicht Rechtsnormen erzeugt, dann soll der politische Faktor Zwangsakte vornehmen." „Politischer Faktor" ist hierbei „ein einzelner oder eine Gruppe . . . , welche die physisch-gewaltmäßige Übermacht besitzen", u m das Funktionieren des Rechtssystems, das sie tragen, zu ermöglichen (Theorie des Bundesstaates S. 67 ff., 239 f.). Der naheliegenden Frage, ob eine so definierte Grundnorm noch als „normatives geistiges Sein" innerhalb einer „Reinen Rechtslehre" verstanden werden k a n n (Usteri, ebd. S. 41 ff., 51 ff., 80 ff.), soll hier nicht
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
des i m Rahmen der normativ-systematischen Betrachtungsweise geeignet ist, „das Auseinanderfallen i n zwei voneinander unabhängige Staatsgewalten zu vermeiden" 4 0 . Denn diese Verbindung hindert die Teilrechtssysteme nicht m i t normativer Notwendigkeit daran, gestützt auf ihre jeweils eigenen Grundnormengefüge Zwangsakte zu setzen, die m i t denen des Bundes kollidieren. Zu erreichen wäre ein solches Ergebnis allenfalls m i t Hilfe der Annahme, die Grundnormen der Glieder hätten kraft eigenen Willensentschlusses die Verfassungsgewalt des Bundes eingesetzt, so daß sie sich zu ihrem eigenen rechtlichen Verhalten i n Widerspruch setzen würden, wollten sie ihre Zwangsakte nicht auf die des Bundes abstimmen. Die hierin liegende Konsequenz, daß dann das Rechtssystem des Bundes, soweit es den Ländern befehlend gegenübertritt, als von ihnen delegiert gelten müßte, hat Usteri nicht verkannt. Er wendet sich daher dagegen, „daß die Verfassungsgesetzgeber der einzelnen Staaten (das Einzelstaatsvolk) zueinander wie Kontraktspartner stünden". Es bilde sich vielmehr bei der Entstehung des Bundesstaates „ein realer Gewaltfaktor" heraus, welcher imstande sei, „die Verfassung auch gegen Widerstrebende durchzuführen" 4 1 . Auch seien zur Bildung des Bundesgewaltträgers „nicht sämtliche Gliedergewaltträger notwendig" 4 2 . Erscheinen die Teilgewalten demnach bei der Entstehung der Bundesgrundnormen als passive Größen, die eingesetzt werden, deren Widerstreben ggf. gebrochen werden kann, bevor sie selbst eine normative Verbindlichkeit übernommen haben, so sind die Gliedergewaltträger allenfalls noch rudimentär wirksam, und zwar ohne konstitutive Bedeutung für ihre späteren bundesstaatlichen Pflichten. Sind aber ihre Grundnormen nicht wirksam i n das Gesamtsystem eingebunden, so w i r d ihnen eine Kraftprobe m i t dem Bund durch das Grundnormengefüge nicht verwehrt. Hiernach ist nicht ersichtlich, wie das „etablierte Gewaltenmonopol" des Gesamtstaats und die selbständigen Grundnormen der Länder sich zu einer systematischen Einheit verbinden. Der komplexe Aufbau des Grundnormengefüges als Essentiale dès Bundesstaates begegnet auch aus einem weiteren Grund Bedenken. Dieses Modell ist bewußt zugeschnitten auf die bündisch autorisierten Bundesstaaten der Schweiz und der USA. Die Weimarer Republik und die Bundesrepublik Deutschland erweisen sich von hier aus notwendig — nachgegangen werden. Die K r i t i k an Usteris Rezeption der neukantischen Erkenntnistheorie w i r d v o r allem die dialektische S t r u k t u r menschlichen Handelns u n d gesellschaftlicher W i r k l i c h k e i t zu berücksichtigen haben (Heller, Staatslehre S. 82 ff.). 40 Usteri, ebd. S. 264. 41 Usteri, ebd. S. 206. 42 Usteri, ebd. S. 314. Z u r h i e r m i t verbundenen K r i t i k an Nawiasky vgl. Usteri, ebd. S. 179.
§ 17 Exkurs: Parallelen im Schrifttum
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und entgegen ihrem Selbstverständnis — als Einheitsstaaten 45 . Usteri begründet dieses Vorgehen damit, jeder andere Versuch, den Bundesstaat begrifflich zu erfassen, halte der K r i t i k nicht stand und führe zur Identität von Bundesstaat und Einheitsstaat 44 . Vom systematischen Ausgangspunkt Usteris aus ist dies verständlich: Wenn die rechtliche Beschreibung des Staates vom Geltungsgrund seiner Normen auszugehen hat, so kann dieser Geltungsgrund nur entweder einheitlich oder komplex sein. Sollten sich ferner Einheitsstaat und Bundesstaat fundamental unterscheiden, so müssen sie m i t Hilfe der Kategorien der Einheit und der Komplexität des Grundnormengefüges definiert werden. Ein einheitlich autorisiertes Ämterwesen ist dann notwendig ein Einheitsstaat. A n dieser Stelle zeigt sich indessen die Unzulänglichkeit der staatsund rechtstheoretischen Prämissen Usteris. Der Staat w i r d nicht als Organisation, d. h. als gesellschaftliche Wirklichkeit, erkannt 4 5 . Die Funktion des Staates w i r d auf das Monopol zur Setzung von Zwangsakten reduziert 4 6 . Gerade die gesellschaftliche Wirkungsweise und Funktion des States bilden jedoch die entscheidende Grundlage für die Untersuchung seiner Struktur, einschließlich seiner einheitsstaatlichen oder bundesstaatlichen Ordnung.
2. Zuordnung und politische Gliederung a) Rudolf
Smend
Bund und Länder ergänzen sich zur funktionalen Einheit eines Staates und sind daher grundsätzlich aufeinander zugeordnet. Als politische Institutionen sind sie gesellschaftlich reale Handlungsgefüge. Als Momente der gegliederten politischen Leitungsgewalt tragen sie zur Differenzierung des politischen Prozesses bei und infolge ihrer Zuordnung auch zur „Vermehrung des Zusanïmenspiels der staatlich wirksamen Kräfte" 4 7 . Wesentliche Aspekte dieses Verständnisses der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes sind i n der Staats- und Verfassungstheorie 43
Usteri, ebd. S. 334 f., 225, 11; vgl. auch oben § 16, 2. m i t A n m . 42. Usteri, ebd. S. 235. Lediglich die Dezentralisationstheorie seines Lehrers Giacometti n i m m t Usteri von diesem U r t e i l aus u n d b i l l i g t i h r Vertretbarkeit i m Rahmen einer „Überzeugungsentscheidung" zu (ebd. S. 223, 235). 45 S. o. § 11. 46 Der von Usteri als Problem erkannte „inhaltliche Zusammenhang" der Rechtsnormen, der Grundlage einer funktionalen Betrachtungsweise sein könnte, beschränkt sich auf die Unzulässigkeit „sinnloser", auf „Unordnung" zielender Normen (Theorie des Bundesstaates S. 70). 47 Vgl. o. §§ 15 A n m . 80; 14, 3.; 16,1. 44
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
Rudolf Smends vorgezeichnet Das gilt sowohl für die m i t dem Begriff des Verfassungsorgans beschriebene Zuordnung der Leitungsinstitutionen als auch für das Verständnis des bundesstaatlichen Gefüges als eines Faktors i m politischen Prozeß des Gemeinwesens 48 . Smend selbst hat aus seiner Verfassungslehre Folgerungen für die Interpretation der bundesstaatlichen Ordnung gezogen. Er wendet sich gegen „verräumlichende und mechanisierende Gedankenbilder" — etwa die der Nebenordnung und Überordnung — und sieht seinerseits i n Bund und Ländern „nicht zwei Bestandteile, sondern zwei Momente" einer „notwendigen Lebenseinheit". Der Bundesstaat stellt sich i h m hiernach dar als ein „besonderer Staatstypus m i t . . . zwei politischen Polen" 4 9 . Allerdings tritt, zumal i n den früheren Arbeiten Smends, die funktionale Betrachtungsweise zurück hinter der „Selbstzweckhaftigkeit des politischen Lebensprozesses" 50 . Der vermeintlichen „objektivierenden Mechanistik und Teleologie" Haenels 51 setzt er die Phänomenologie einer „Lebenseinheit" entgegen, zu der sich die unitarischen und föderalistischen „Tendenzen", die „Geistigkeit" der durch jeweils eigene geschichtliche Ziele individualisierten Einheiten zusammenfinden 52 . Es soll hier nicht erörtert werden, inwieweit diese Kategorien der Struktur und Funktion des politischen Prozesses i n einem nicht nur von Homogenität, sondern auch von realen gesellschaftlichen Antagonismen geprägten Gemeinwesen gerecht werden. Jedenfalls erlangt hierdurch die Vorstellung substantieller, insbesondere historischer und sozialpsychologischer Unterschiede zwischen den Ländern i n der Theorie ein Gewicht, dem i n der Wirklichkeit und auch i m Funktionssinn des einheitlich autorisierten Bundesstaates die Entsprechung fehlt 5 8 . Diese Festlegung auf den bündischen Bundesstaat erscheint auch als unausweichlich, wenn, wie bei Smend, der Staatsbegriff das politische Gemeinwesen und nicht nur das Ämterwesen erfassen soll. Wenn i m politischen Prozeß des bundesstaatlich geordneten Gemeinwesens die regionalen Differenzierungen der Gesellschaft nicht mehr dominieren, so kann die Eigentümlichkeit des Bundesstaates nicht m i t Hilfe eines Staatsbegriffs 48
S. o. § 16, 1. m i t Anm. 1. u. 4. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 223 ff. 59 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 163 f., 197; vgl. auch oben § 12 A n m . 2. 51 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 223, zu Haenel, Staatsrecht I S. 209 f. M Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 224 f., 231. 58 Vgl. o. §§ 15, 3.; 16, 2. Zutreffend hat bereits Hesse, Der unitarische Bundesstaat S. 4, hervorgehoben, daß die Bundesstaatslehre Smends auf die Eigentümlichkeiten des (bündischen) Bundesstaates von 1871 zugeschnitten ist. Hesse hat aber a u d i darauf hingewiesen, daß Smend selbst sich der Ausrichtung seiner Theorie auf das Deutsche Reich von 1871 bewußt gewesen ist (vgl. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 270, 219 f.). 49
§ 17 Exkurs: Parallelen im Schrifttum
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erfaßt werden, der die (unitarische) Gesellschaft einbezieht und insoweit nur die Gemeinsamkeit von Einheitsstaat und einheitlich autorisiertem Bundesstaat zu registrieren vermag. b) Carl Schmitt Parallelen zwischen der hier vertretenen Interpretation der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes und der Bundeslehre Carl Schmitts 54 scheinen in dreifacher Hinsicht zu bestehen. Zum einen stimmt der oben erörterte Gesichtspunkt der einheitlichen Autorisierung der Bundesrepublik Deutschland überein mit Carl Schmitts Auffassung, daß die Weimarer Republik als „Bundesstaat ohne bündische Grundlage" anzusehen sei 55 . Zum anderen gelangt diese Schrift zu einem — allerdings auf die funktionale Einheit des Gesamtstaats gestützten — Zuordnungsrecht, das auch i n Carl Schmitts Lehre von der „substantiellen Homogenität" der Bundesglieder angelegt ist 5 5 a . Vor allem aber scheint die hier i n den Vordergrund gerückte Teilhabe von Bund und Ländern an der politischen Leitungsgewalt mit dem „Dualismus politischer Existenz" verwandt zu sein, der nach Carl Schmitt das Wesen des Bundes ausmachen soll. Hierauf ist um so mehr einzugehen, als diese Auffassung Carl Schmitts auch i m neueren Schrifttum Zustimmung gefunden hat 5 6 . Näheres Zusehen zeigt indessen, daß diese Übereinstimmung allenfalls eine terminologische sein kann. Die „politische Existenz", auf deren Dualismus Carl Schmitts Verfassungslehre des Bundes abstellt, beruht auf Kategorien, die dem Verfassungsrecht der freiheitlichen Demokratie fremd sind. Die Einheit der Entscheidung über Freund und Feind und der einheitliche Wille zur kämpferischen Auseinandersetzung mit dem existenziellen Feind 5 7 gehören nicht zu den Postulaten eines politischen Gemeinwesens, das den Angriffskrieg geächtet hat (Art. 26 GG) und das auf der Basis eines Minimalkonsenses seine Antagonismen in freiheitlicher Auseinandersetzung überwinden muß (vgl. Art. 21 Abs. 1 und 2 GG) 58 . 54
Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928) S. 371 ff. Vgl. o. § 16, 2. m i t A n m . 44, 41. 55 » Vgl. o. § 7 m i t A n m . 65. 56 Kaiser, Die E r f ü l l u n g der völkerrechtlichen Verträge des Bundes durch die Länder, ZaöRVR 18 (1958) S. 531; Bayer, Die Bundestreue (1961) S. 41 f.; Stern, B K (2. Bearbeitung 1964) A r t . 28 Rdnr. 5; Walter Schmidt, Der bundesstaatliche Aufbau (1961) S. 54 bei A n m . 404. 57 Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 389, 214, 377; Ders., Der Begriff des Politischen S. 14, 20. 58 Kritisch zur Freund-Feind-Theorie H. J. Wolff, Organschaft u n d j u r i s t i sche Person I S. 336; Heller, Staatslehre S. 206 f.; Hasso Hof mann, Legitimität gegen Legalität S. 108 f., 113 ff. 55
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
Diese zentralen Kategorien Carl Schmitts erweisen auch seine bundesstaatstheoretische Konzeption letztlich als undurchführbar. Der Dualismus der politischen Existenz ist nach Carl Schmitt möglich, w e i l der entscheidende Konfliktsfall i m Bund infolge substantieller Homogenität ausgeschlossen ist: „Die substantielle Artgleichheit, die seinsmäßige Verwandtschaft" gewährleisten, daß keine Teileinheit i n einer anderen ihren Feind sieht noch i n Zukunft sehen w i r d 5 9 . Andererseits aber soll eine Gruppe als „politische Einheit" nur gelten, wenn sie zumindest „der realen Möglichkeit nach (eine) kämpfende Gesamtheit von Menschen ist", die zwischen Freund und Feind unterscheidet. I m Bund besteht diese Möglichkeit für die Bundesglieder nur noch i m (völkerrechtlichen) Außenverhältnis, jedoch infolge der substantiellen Homogenität, die den Konfliktsfall „seinsmäßig" ausschließt 60 , nicht mehr i m Innenverhältnis. I h m fehlt per definitionem jene „reale Möglichkeit" des Kampfes, „die immer vorhanden sein (muß), damit von Politik gesprochen werden kann" 6 1 . Das Innenverhältnis ist entpolitisiert. Der „Dualismus politischer Existenz" ist i m verfassungsrechtlich allein relevanten Innenverhältnis des Bundes 62 einem Monismus gewichen, i n welchem die Mitgliedsstaaten aufgegangen sind 6 8 . Damit entsteht für die Bundeslehre Carl Schmitts die Alternative: Entweder entpolitisiert sie die regionalen Einheiten zugunsten der umfassenden politischen Einheit oder sie hält an regionalen politischen Einheiten fest und gibt damit die politische Einheit der Gesamtheit, letztlich ihre Staatlichkeit, preis. Diese Alternative erinnert an jenes „Dilemma", das Otto v. Gierke für jede m i t monistischen Kategorien arbeitende Bundesstaatslehre nachgewiesen hat: daß sie entweder einen Einheitsstaat oder einen Staatenbund definiert, niemals jedoch einen Bundesstaat 64 . I n seiner Verfassungslehre hat Carl Schmitt dieses „Dilemma" noch für eine lösbare „Antinomie" der bundesstaatlichen Ordnung gehalten 65 . I n einer späteren Schrift deckte er die Widersprüchlichkeit seiner Konzeption selbst auf: Die Sicherung des „staatlichen Charakters des einzelnen Gliedstaates als einer politischen Einheit" durch die Garantie des Status quo habe „die staatliche Einheit des 88
Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 377 ff. Kritisch zur „seinsmäßigen", nicht auch normativen Begriffsbildung Carl Schmitts z. B. Köttgen, Krise der kommunalen Selbstverwaltung (1931) S. 41 A n m . 1; H. J. Wolff , Organschaft u n d juristische Person I (1933) S. 333; Heller, Staatslehre (1934) S. 194. 81 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen S. 20. M Vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 380. 83 Ä h n l i c h bereits die K r i t i k Burkhard Hirschs, Der Begriff des Bundesstaates i n der deutschen Staatsrechtslehre (1961) S. 110. 64 S. o. § 8, 2. m i t A n m . 43. 88 Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 375. 88
§ 17 Exkurs: Parallelen im Schrifttum ganzen deutschen Volkes" relativiert 6 6 ; mehr noch: Die Verklammerung der Begriffe Staat und Bund habe „das Reich zu einem Nicht-Staat" gemacht 67 . 3. Einzelne Aspekte der Gesamtstaatlichst Die Gliederung der einen politischen Leitungsgewalt des Gesamtstaats bewirkt, daß die mehreren Leitungsinstitutionen m i t verfassungsorganschaftlicher Unabhängigkeit ausgestattet sind 6 8 . Dieser Sachverhalt scheint gemeint zu sein, wenn Burkhard Hirsch die Ausübung der Staatsgewalt „durch mehrere verfassungsmäßig koordinierte Organisationen", nämlich Bund und Länder, als charakteristisch für den Bundesstaat ansieht 69 . Er lehnt sich hierbei an Richard Thomas Theorie der Dekonzentration an 7 0 . Thoma allerdings läßt es genügen, daß die Länder „ i n irgendeiner Weise maßgebenden Anteil an der obersten Gesetzgebung haben (Föderalismus)". Die funktionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt m i t Hilfe des Bundesratsprinzips würde dem genügen. Insoweit w i r d die 1926 skizzierte Theorie der Dekonzentration allerdings nicht dem Leitbild der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes gerecht, für das die regionale Gliederung unverzichtbar ist 7 1 . Dieses regionale Moment der Gliederung des Gesamtstaats w i r d vor allem von Scheuner betont. Die „doppelten Entscheidungszentren" i m selben Gebiet oder die „selbständigen politischen Entscheidungszentren" haben — anscheinend nicht ohne Einfluß der amerikanischen Theorie der two centers of government 7 2 — i m wesentlichen den gleichen Befund zum Gegenstand, der hier als Teilhabe der Länder an der politischen Leitungsgewalt — und zwar Teilhabe auch i m eigenen Verfassungsrechtskreis — bezeichnet w i r d 7 3 . Allerdings w i r d die inhaltliche 88 Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, die Dreigliederung der politischen Einheit (1933) S. 5,18 (Hervorhebungen i m Original). 87 Carl Schmitt, Staat, Bewegung, V o l k S. 19. — Vgl. hierzu auch Hasso Hofmann, L e g i t i m i t ä t gegen Legalität (1964) S. 139 Anm. 62. 88 S. o. § 14, 3. m i t A n m . 22 ff. 89 B. Hirsch, Der Begriff des Bundesstaates i n der deutschen Staatsrechtslehre (1961) S. 95, 177, 180. 70 71
Thoma, A r t . Staat, a.a.O. S. 737 f. Vgl. o. § 15, 1. u. 2.
72 Schwartz , Commentary I S. 12; ferner Wheare, Föderative Regierung S. 45, 50. — Ob der i m 17. Jahrh. von Ludolph Hugo f ü r den Bundesstaat geprägte Begriff des „duplex regimen" (bei v. Gierke , Althusius S. 246) i n diesen Zusammenhang gestellt werden darf, müßte eine genauere verfassungsgeschichtliche Untersuchung zeigen. 78 S. § 15, 2. A n m . 30; aber auch § 15, 3. m i t A n m . 63.
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3. Teil: Der demokratische Bundesstaat
Qualifizierung dieser politischen Entscheidungszentren von Scheuner nur angedeutet. Eine Auseinandersetzung m i t der Teilhabe nichtstaatlicher Institutionen an den politischen Funktionen und selbst an den Leitungsaufgaben, durch die das inhaltliche K r i t e r i u m der bundesstaatlichen Gliederung fragwürdig geworden ist 7 4 , erfolgt nicht. M i t diesem Vorbehalt schließt sich die vorliegende Schrift auch der These Forsthoff s an, daß die Ausübung von Regierungsfunktionen für die Länder eines Bundesstaates charakteristisch sei 75 . Forsthoff geht vom Regierungsbegriff Lorenz ν . Steins aus und glaubt, diesen Begriff den einzelnen Ländern zuordnen und sie deshalb als Staaten definieren zu können 76 . Indessen kann die einzelne Leitungsaufgabe, etwa die Bildungspolitik, die Länder nicht mehr von den außerstaatlichen Teilhabern an den Leitungsaufgaben des verfassungsrechtlich geordneten Ämterwesens abgrenzen 77 . Erst ihre Einordnung i n den Gesamtstaat ermöglicht diese Abgrenzung. Für die institutionelle Ordnung dieses Gesamtstaats ist es sodann charakteristisch, daß — entgegen Forsthoff — die eine Souveränität des Staates auch den Ländern zuzuordnen ist 7 8 . Darüber hinaus zeigen die Verbindungslinien zur Staatenstaatstheorie, die i n Forsthoffs Konzeption hervortreten, die Gefahr auf, daß das Zuordnungsrecht des Gesamtstaats durch die isolierte Lokalisierung der Regierungsgewalt i n den einzelnen Ländern verkürzt werden könnte. Die jüngsten Äußerungen Forsthoffs, die sich weitgehend an der herrschenden Staatenstaatstheorie orientieren, unterstreichen dies 79 . Die Gesamtstaatlichkeit von Bund und Ländern, die sich als ein leitender Gesichtspunkt für die Interpretation der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes erwiesen hat, liegt auch der Untersuchung Jahrreiß' über die „Gliederung des Bundes i n Länder" zugrunde 80 . Allerdings erörtert Jahrreiß nicht die funktionale Einheit, die die jeweils eigenen Wirkungskreise von Bund und Ländern bilden. Er erblickt i m bundesstaatlichen Gefüge primär eine Nebeneinander und Übereinander demokratisch legitimierter Herrschaftsblöcke. Demgemäß und infolge der Reduktion der Bundesstaatlichkeit des Grundgesetzes 74
Vgl. o. §§ 12; 14, 2. Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft i m Bundesstaat (1931) S. 95 ff. Zutreffend zu den organisationsrechtlichen Entsprechungen der materiellen Kompetenz Ders., Verwaltungsrecht I S. 425. 75
79
Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft i m Bundesstaat S. 96 f. S. o. § 14 A n m . 9. 78 Forsthoff y Die öffentliche Körperschaft S. 94; anders Ders., Gutachten S. 4, 47. — Vgl. o. § 14. 78 Forsthoff, Gutachten (1964) S. 4, 6, 10 f., 33. 80 Jahrreiß, Die Gliederung des Bundes i n Länder, a.a.O. S. 537, 539 f. 77
§ 17 Exkurs: Parallelen im Schrifttum
255
auf das Bundesratsprinzip 81 gerät die zentrale Bedeutung des Zusammenwirkens der bundesstaatlichen Institutionen aus dem Blick. Folgerichtig kann nach Jahrreiß die „Bundestreue" — die Chiffre für das bundesstaatliche Zuordnungsrecht 82 — nur i m Bundesrat Geltung beanspruchen 83 .
81 82 88
Vgl. o. § 15 m i t A n m . 3, 30. Vgl. o. § 16, 1. Jahrreiß, Die Gliederung des Bundes i n Länder, a.a.O. S. 545.
Vierter
Teil
Zuständigkeitsvereinbarungen im demokratischen Bundesstaat Den erörterten Grundzügen des Verfassungsrechts des „demokratischen Bundesstaates" i. S. des A r t . 20 Abs. 1 GG läßt sich zwar nicht die Lösung sämtlicher Probleme der bundesstaatlichen Zusammenarbeit entnehmen. Abschließende Aussagen über die Verfassungsmäßigkeit bestimmter Abkommen sind nur aufgrund von Detailuntersuchungen möglich, die i n dieser den grundsätzlichen Fragen gewidmeten Schrift ausgeklammert worden sind (vgl. oben § 1). Indessen ergeben sich bereits aus den Grundzügen der grundgesetzlichen Ordnung des demokratischen Bundesstaates einige leitende Gesichtspunkte, die die Richtung der konkreten Problemlösung vorzeichnen. Sie sollen i m fügenden erläutert und zur Beurteilung zuständigkeitsverändernder Vereinbarungen herangezogen werden.
Erstes Kapitel
Gesichtspunkte der bundeestaatlichen Ordnung § 18 Die grundsätzliche Zulässigkeit von Zuständigkeitsvereinbarungen Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes war zusammenfassend i m Sinne regionaler und funktionaler Gliederung der einen politischen Leitungsgewalt der Bundesrepublik Deutschlands zu beschreiben. Bund und Länder sind als Leitungsinstitutionen des Gesamtstaats verpflichtet und berechtigt, die funktionale Einheit, den W i r kungszusammenhang des bundesstaatlichen Gefüges zu gewährleisten. Sie können — i n den noch zu erörternden Grenzen — die zu diesem Zweck erforderlichen Vorkehrungen treffen, insbesondere i m Wege der
§18 Die grundsätzliche Zulässigkeit
257
Zusammenarbeit die Erfüllung ihrer Aufgaben rationalisieren und koordinieren. Vereinbarungen über die Veränderung der Zuständigkeitsordnung sind hiervon nicht ausgeschlossen (§ 16,1.). Diesem Ausgangspunkt für die Beurteilung der zuständigkeitsverändernden Zusammenarbeit kann zumindest nicht generell ein „Grundsatz der NichtVerfügbarkeit über Kompetenzen" 1 entgegengehalten werden. Zwar können Organe über die speziell ihnen zur eigenen Wahrnehmung zugewiesenen Kompetenzen i m allgemeinen nicht verfügen 2 . Doch bedarf es bereits besonderer Erörterung, ob jede Kompetenz einer Leitungsinstitution ihr auch von Verfassungs wegen ohne Dispositionsfreiheit zur eigenen Wahrnehmung zugewiesen ist. Indessen kann diese Frage hier zurückgestellt werden 8 . Denn die Zuständigkeitsvereinbarungen i n der Bundesrepublik betreffen nur zu einem geringen Teil Entscheidungen bestimmter Organe über ihre eigenen verfassungsmäßigen Kompetenzen. Wenn etwa Gesetzgebungsorgane die Zuständigkeiten von Gerichten und Verwaltungsbehörden regeln, so verfügen sie nicht über eigene Kompetenzen, auch dann nicht, wenn ihre Zustänkeitsregelungen über Landesgrenzen hinausgreifen. Gleiches gilt für Zuständigkeitsregelungen der Regierung i m Rahmen ihrer Organisationsgewalt. Der „Grundsatz der Nichtverfügbarkeit über Kompetenzen" könnte bundesstaatlichen Zuständigkeitsvereinbarungen nur dann entgegenstehen, wenn er besagte, daß Bund und Länder sämtliche i n ihrem Gebiet wahrzunehmenden Aufgaben von Verfassungs wegen durch eigene Organe zu erfüllen haben. Ein solcher Grundsatz ist dem geschriebenen Recht nicht zu entnehmen. Er ergäbe sich allerdings schlüssig aus ungeschriebenem Recht, wenn die bundesstaatliche Ordnung als ein Nebeneinander selbstgenügsamer und isolierter Staaten zu verstehen wäre 8 *. Gerade dies ist jedoch nicht der Fall. Die funktionale Einheit des Gesamtstaats, insbesondere die Verantwortung der Leitungsinstitutionen für eine Aufgabenerfüllung, die dieser funktionalen Einheit gerecht wird, ist ein notwendiger Bestandteil der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung. Während i m Einheitsstaat und i n dem i h m nachgebildeten Modell des Staatenstaates sich die Verantwortung der Leitungsinstitutionen (Parlament und Regierung) für eine sachgerechte Aufgabenerfüllung auf das eigene Staatsgebiet beschränkt, begründet die Verfassung des Bundesstaates — jedenfalls das Grundgesetz für die 1
S. o. § 4 A n m . 7. Vgl. die Nachweise bei Kreuzer, S. 184. 2
3
Zuständigkeitsübertragungen,
a.a.O.,
S. u. § 19 A n m . 13. So die oben § 4 A n m . 7 Genannten, insbesondere Zeidler, DVB1. 1960 S. 576 f.; ferner Grawert, Verwaltungsabkommen S. 188 m. w . Nachw. 3a
17 Hempel
258
4. Teil: Zuständigkeitsvereinbarungen
Bundesrepublik Deutschland — i m Grundsatz die Verantwortung sämtlicher staatlicher Leitungsinstitutionen für die Funktionsfähigkeit und Effektivität des (Gesamt-)Staates, dessen Teile sie sind. Wenn die Wahrnehmung dieser Verantwortung Zuständigkeitsvereinbarungen erfordert, ist die Befugnis hierzu i m Verfassungsauftrag zur Ausübung der politischen Leitungsgewalt Inbegriffen 4. Für einen „Grundsatz der Nichtverfügbarkeit über Kompetenzen" i m zuletzt erörterten Sinne streitet auch nicht die vermeintliche Rigidität des Grundgesetzes. Welche Freiheit das Grundgesetz den Parlamenten und Regierungen bei der Gestaltung der öffentlichen Ordnung läßt, ist nur zum Teil der Zahl seiner Detailregelungen zu entnehmen 5 . Detailregelungen können abschließende Normierungen eines starren Gefüges und sie können Fixpunkte eines Ordnungsentwurfs sein, der ständiger und sich wandelnder Konkretisierung bedarf. Sicherlich hat das Grundgesetz auch und gerade i m Verhältnis des Bundes zu den Ländern zahlreiche solcher Fixpunkte gesetzt; auch erweist es sich insoweit als „starr", als es entschieden auf dçr Verbindlichkeit seines Textes besteht (Art. 79 Abs. 1 u. 2 GG). I m übrigen jedoch deutet es die Flexibilität seines i m Text niedergelegten Ordnungsentwurfs bereits durch die Vielzahl unbestimmter, konkretisierungsbedürftiger Begriffe an 6 , zu denen nicht zuletzt auch der „demokratische Bundesstaat" gehört. Die Annahme durchgängiger Rigidität ist aber auch mit Rücksicht auf die Funktion des Verfassungsrechts unrichtig. Das Grundgesetz versteht sich ausweislich seiner Präambel als „Grundlage des staatlichen Lebens" i n der Bundesrepublik Deutschland. Wenn es zu diesem staatlichen Leben gehört, daß i h m die Bewältigung wechselnder geschichtlicher Situationen aufgegeben ist, daß es i n die Dynamik der gesellschaftlichen Prozesse hineingezogen ist 7 , dann gehört auch die „Offenheit und Weite der rechtlichen Normierung" neben den eindeutigen Fixierungen zum Erscheinungsbild der Verfassung 8 . Dem konkreten Sinngehalt der Ver4
Vgl. o. § 16, 1. m i t A n m . 16 ff. Α. A. Grawert, Verwaltungsabkommen S. 151, 154, 188 f. — Trotz k r i t i scher Vorbehalte gegen föderalistische „Verhärtungen" entnimmt Werner Weber, Gegenwartslage des deutschen Föderalismus S. 26 f., der „peinlich fixierenden Detailbindung" einen Hinweis auf die Rigidität des Grundgesetzes. β Vgl. beispielsweise die „Grundsätze" der A r t . 28 Abs. 1, 79 Abs. 3 u n d 33 Abs. 5 GG, den „Wesensgehalt" gemäß A r t . 19 Abs. 2 GG, die „Rahmenvorschriften" des A r t . 75 GG, die „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft" (Art. 28 Abs. 2 GG), den „ b i l l i g e n Ausgleich" gemäß A r t . 106 Abs. 4 S. 2 Nr. 3 GG u n d die Verwendung des Begriffs des Politischen i n A r t . 21 Abs. 1, 59 Abs. 2 Satz 1, 65 Satz 1 GG. 7 Vgl. o. § 12 m i t A n m . 6, 9, 10. 8 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 13 ff. — Z u r demokratischen Komponente dieser F l e x i b i l i t ä t s. o. § 13, 2. m i t A n m . 41. 5
§ 18 Die grundsätzliche Zulässigkeit
259
fassung kommt die Interpretation daher nicht nahe, wenn sie primär von der Entstehungsgeschichte vom subjektiven Willen des Gesetzgebers und von genereller Rigidität ausgeht®. Vielmehr hat sie sich um „maximale Ergiebigkeit" 1 0 , u m „broad interpretation" 1 1 zu bemühen, die für die „Selbstgestaltung des Integrationsprozesses" 12 Raum lassen. Das aber bedeutet, daß Leitungsinstitutionen ihrer Verantwortung für eine situationsgerechte Ordnung der Zuständigkeiten grundsätzlich Rechnung tragen können, soweit nicht dem geschriebenen oder ungeschriebenen Verfassungsrecht Grenzen solcher unterverfassungsgesetzlicher Gestaltung der Zuständigkeitsordnung zu entnehmen sind. Die besonders für das Zuständigkeitsrecht „wichtige Frage der Vermutungen" 1 3 ist daher zugunsten der unterverfassungsgesetzlichen Zuständigkeitsregelungen und gegen die Notwendigkeit spezieller verfassungsgesetzlicher Ermächtigungen zu entscheiden. Dieses Interpretationsprinzip w i r d mittelbar durch ein Argument bestätigt, das zur Begründung eines umfassenden „Grundsatzes der Nichtverfügbarkeit über Kompetenzen" geltend gemacht worden ist: Jedes Organ sei von Verfassungs wegen bereits sachgerecht auf seine Aufgaben zugeschnitten, jede Verschiebung der Zuständigkeit gehe daher „auf Kosten sachgerechter Ausübung der Staatsgewalt" 14 . Gerade eine solche in der Zeit fortwirkende Sachgerechtigkeit kann jedoch die Verfassung nicht durchgängig gewährleisten. Denn i m Zeitpunkt ihrer Entstehung vermag sie späteren Entwicklungen nur zum Teil vorausschauend Rechnung zu tragen. Die jeweilige Sachgerechtigkeit der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten, ist nicht nur Aufgabe des verfassungsändernden Gesetzgebers; vielmehr sind hierzu auch die verfassungsmäßigen Leitungsinstitutionen berufen — i m Rahmen der Konkretisierungsmöglichkeiten, die ihnen das Verfassungsrecht eröffnet 15 . Nach all dem hat • So jedoch Grawert, Verwaltungsabkommen S. 153 f. i n A n m . 23. 10 Krüger, Staatslehre S. 700; Ders., Verfassungswandlung u n d Verfassungsgerichtsbarkeit, i n : Festgabe f ü r Rudolf Smend zum 80. Geburtstag (1962) S. 151 ff. (154). 11 E. Kaufmann, W D S t R L 9 S. 12; Bachof, Begriff u n d Wesen des sozialen Rechtsstaats, W D S t R L 12 S. 37 ff. (54), zustimmend Maunz-Dürig, GG A r t . 20 Rdnr. 68; vgl. auch Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 191, u n d Carl Schmitt, Verfassungslehre S. 347 f. Vgl. auch ο. § 1 m i t A n m . 11 ff. 12 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Abhandlungen S. 190 f. 15 Böckenförde, Organisationsgewalt S. 58 m i t A n m . 11. 14 Kreuzer, Zuständigkeitsübertragungen, a.a.O. S. 185. 15 Ä h n l i c h Bachof, Kritische Bemerkungen zur Methodenkritik, DÖV 1962 S. 659; Ders., Gutachten S. 72, u n d — trotz grundsätzlicher Vorbehalte — Leisner, V o n der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der V e r fassung (1964), der ein „Kernbereichsdenken", das notwendig der staatlichen Praxis einen erheblichen Entscheidungsspielraum beläßt, bei Kompetenznormen als „u. U. durchgehend l e g i t i m " anerkennt, ebd. S. 66. I m vorliegenden 17·
260
4. Teil: Zuständigkeitsvereinbarungen
die Verfassungsinterpretation nicht von einem generellen „Grundsatz der Nichtverfügbarkeit über Kompetenzen" auszugehen, sondern von einem Zuordnungsrecht des demokratischen Bundesstaates, das die Gewährleistung der Funktions- und Wirkungseinheit des Gesamtstaats durch Zuständigkeitsvereinbarungen grundsätzlich zuläßt. Dieser Ausgangspunkt g i l t sowohl für die Zusammenarbeit der Länder untereinander als auch für ihre Zusammenarbeit m i t dem Bund. Der Bund nimmt i m bundesstaatlichen Zuordnungsrecht keine Sonderstellung ein. Der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes war eine prinzipielle Überordnung des Bundes, die durch Kooperation m i t den Ländern eine „unmerkliche Denaturierung" erleiden könnte 1 6 , nicht zu entnehmen 17 . Auch unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung ergibt sich keine grundsätzliche Sonderstellung des Bundes 18 . Die Gewaltenteilung bedeutet unter der Geltung des Grundgesetzes i n erster Linie Differenzierung der staatlichen Funktionen m i t dem Ziel, die Freiheitlichkeit, Durchsichtigkeit und damit die Kontrollierbarkeit des politischen Prozesses zu gewährleisten 19 . Dieser Sinngehalt t r i f f t für jede Form der institutionellen Besonderung, insbesondere für jede Verselbständigung von Leitungsinstitutionen gleichermaßen zu. Sollte es jedoch speziell Aufgabe der Länder sein, durch ihre Machtpositionen ein Gegengewicht zum Bund zu schaffen, so würde dies die Länder naturgemäß nur dort an Zuständigkeitsvereinbarungen zugunsten des Bundes hindern, wo politische Macht auf dem Spiele steht. Eine Untersuchung der Grenzen jeglicher zuständigkeitsverändernder Zusammenarbeit i m Bundesstaat w i r d zeigen müssen, ob hierin eine Besonderheit des Bund-Länder-Verhältnisses liegt oder ob nicht auch die Zusammenarbeit der Länder untereinander i m Bereich verfassungsrechtlich fixierter politischer Machtpositionen gleichermaßen auf Grenzen stößt. Soweit jedoch über diesen Bereich hinaus generell für die Beteiligung des Bundes an Zuständigkeitsvereinbarungen besondere Schranken behauptet werden — etwa ein nur für ihn geltendes Verbot der „Mischverwaltung" —, findet eine solche Verhärtung des bundesstaatlichen Gefüges i m allgemeinen Zuordnungsrecht des „demokratischen Bundesstaates" keine Stütze. Der Beweis müßte vielmehr gemäß dem oben entwickelten Zusammenhang k o m m t es ohnehin n u r auf die verfassungsrechtliche K o n trolle der Kompetenznormen an. A u f die K o n t r o l l e etwa grundrechtsbeschränkender Normen können diese Gesichtspunkte nicht ohne weiteres übertragen werden (vgl. BVerfGE 12, 45 (53)). 18 Kölble, Gemeinschaftsaufgaben zwischen B u n d u n d Ländern, a.a.O., S. Θ1 ; Ders., D Ö V 1962 S. 661 ff. (663). 17
S. o. § 14, 3. m i t A n m . 45. Anders Grawert, Verwaltungsabkommen S. 187, 213, 216 ff. 18 Näher Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 178 ff., 91. Vgl. a u d i oben § 15, 3. m i t A n m . 83. 18
§ 19 Grundsätzliche Fixierungen der Zuständigkeitsordnung
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Interpretationsgrundsaz geführt werden: Die Zulässigkeit zuständigk e i t s v e r ä n d e r n d e r Z u s a m m e n a r b e i t auch u n t e r B e t e i l i g u n g des B u n d e s w i r d v e r m u t e t ; d i e G r e n z e n m ü s s e n a n h a n d d e r speziellen N o r m e n des Grundgesetzes d a r g e t a n w e r d e n 2 0 . A u f der anderen Seite kennt das Grundgesetz auch keine Erweiterung der „Selbstbeschränkungsfreiheit" speziell des Bundes. Wenn das Bundesverfassungsgericht sich f ü r eine solche Annahme auf die „föderalistische S t r u k t u r " des Bundes beruft 2 1 , so geht es zu Unrecht v o n der Vorstellung eines b ü n d i schen Zusammenschlusses der Länder aus. I n einem solchen Staatswesen stellt jede Selbstbeschränkung des Bundes eine Rückübertragung von K o m petenzen auf die Gründerstaaten dar; sie ist eine partielle Wiederherstellung der ursprünglichen Entscheidungsmacht der verbündeten Staaten. Die einmütige B i l l i g u n g solcher Wiederherstellung durch alle Beteiligten entspricht dem „föderalistischen Gedanken" u n d scheint daher rechtliche Anerkennung zu verdienen 2 2 . Der Bundesrepublik Deutschland ist diese „föderalistische S t r u k t u r " jedoch fremd: Sie beruht auf der einen verfassunggebenden Gew a l t des deutschen Volkes 2 3 . Die „Selbstbeschränkungsfreiheit" des Bundes richtet sich somit nicht nach dem W i l l e n verbündeter Staaten, sondern nach den Normierungen eines Verfassungsgesetzes, das B u n d u n d Länder gleichermaßen als Leitungsinstitutionen des einen Staates versteht.
§ 19 Grundsätzliche Fixierungen der Zustandigkeitsordnung A r t . 30 G G w e i s t d i e E r f ü l l u n g d e r s t a a t l i c h e n A u f g a b e n u n d d i e A u s ü b u n g d e r s t a a t l i c h e n Befugnisse d e m B u n d u n d d e n L ä n d e r n z u — u n d z w a r d e n e i n z e l n e n i n A r t . 23 G G g e n a n n t e n u n d gemäß A r t . 29 G G geschaffenen L ä n d e r n 1 . Das G r u n d g e s e t z b e g r ü n d e t d a m i t i h r e v e r f a s sungsunmittelbare V e r a n t w o r t u n g f ü r die E r f ü l l u n g der i n i h r e m Geb i e t e n t s t e h e n d e n s t a a t l i c h e n A u f g a b e n . V o n dieser A u f g a b e n v e r a n t w o r t u n g k ö n n e n sich d e r B u n d u n d d i e e i n z e l n e n L ä n d e r n i c h t f r e i zeichnen; sie k ö n n e n m i t h i n i h r e Trägerzuständigkeiten nicht delegie20 Z u der hier ausgeklammerten Problematik einer eventuellen Sonderstellung des Bundes infolge der speziellen Typisierung der Bundesaufgaben i n A r t . 83 ff. GG (vgl. ο. § 1 nach A n m . 20) s. Darmstadt, Z u r Frage einer Mischverwaltung von B u n d u n d Ländern, Diss. j u r . Münster 1961; Köttgen, Der E i n w a n d der Mischverwaltung u n d das Grundgesetz, D Ö V 1955 S. 485 ff.; Ders., JöR 3 S. 106, 146; 11 S. 221 f.; Bachof, J Z 1966 S. 97. 21 B V e r f G E 1, 299 (310 f); ähnlich Grawert, Verwaltungsabkommen S. 217, der eine solche Sonderstellung des Bundes — unter Berücksichtigung des A r t . 50 G G — f ü r „bundesstaatsgemäß" hält. — Dieser Annahme spezieller Selbstbeschränkungsfreiheit des Bundes entspricht die Betonung geschlossener Landesstaatsgewalten: Bundeseinrichtungen seien v o m Vollzug von L a n desgesetzen grundsätzlich ausgeschlossen, BVerfGE 12, 205 (221). 22 Z u r nicht-disponiblen verfassungsgesetzlichen Festlegung der Reichskompetenzen selbst i m bündischen Bundesstaat v o n 1871 vgl. jedoch Haenel, Staatsrecht I S. 120, 125. 22 S. o. § 16, 12. 1 S. o. § 5 m i t A n m . 2a, § 4 A n m . 5.
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4. Teil: Zuständigkeitsvereinbarungen
ren 2 . Daß die Länder hierfür ohnehin eines besonderen landesverfassungsrechtlichen Titels bedürfen, ergibt sich schon daraus, daß die letztinstanzliche Zurechnung der staatlichen Aufgaben darüber entscheidet, welcher Verfassungsrechtskreis für die Wahrnehmung dieser Aufgaben maßgebend ist. Delegationen von Trägerzuständigkeiten vermindern folglich den Geltungsbereich der Landesverfassungen 8 . Für die darüber hinausgehende bundesverfassungsgesetzliche Fixierung der Trägerzuständigkeiten durch A r t . 30 GG spricht neben dem Wortlaut dieser Vorschrift auch A r t . 29 Abs. 7 GG. Wenn Gebietsänderungen besonderer bundesverfassungsgesetzlicher Ermächtigung bedürfen, weist diese Verneinung der „Gebietshoheit" der Länder 4 auch darauf hin, daß sie nicht über ihre letztinstanzliche Aufgabenverantwortung verfügen dürfen; denn Gebietsänderungen sind letztlich nichts anderes als Zuweisungen der staatlichen Aufgaben und Befugnisse an einen anderen letztinstanzlichen Zuständigkeitsträger. Die Regulierung dieser Form der Zuständigkeitsveränderung hat A r t . 29 Abs. 7 GG dem Bundesgesetzgeber vorbehalten. I n der Verneinung der Gebietshoheit und i m Verbot der Delegation von Trägerzuständigkeiten spiegelt sich das Fehlen selbständiger Autorisierungen der einzelnen Länder wider. Sowohl durch die verfassungsgesetzliche Ordnung der Trägerzuständigkeiten als auch durch die Bestimmung des Gebietsbestandes w i r d den staatlichen Ämtern die vom Volk ausgehende verfassungsmäßige Autorität vermittelt 5 . Die Landesinstitutionen beruhen jedoch nicht auf selbständigen verfassunggebenden Gewalten der Landesvölker, sondern auf der verfassunggebenden Gewalt des gesamten deutschen Volkes i m Geltungsbereich des Grundgesetzes (oben § 16, 2.). Es ist daher folgerichtig, daß das Grundgesetz die letztinstanzliche Aufgabenverantwortung i n Art. 30 bundesverfassungsgesetzlich festgelegt hat·. 2
Z u r Delegation der Trägerzuständigkeit s. o. § 2 m i t A n m . 3 u n d 25. Karl Heinz Klein, Die Übertragung von Hoheitsrechten S. 28; Friedrich Klein, Gutachten, i n : Der K a m p f u m den Wehrbeitrag Bd. 2 (1953) S. 456 ff. (468); Nds. LReg. i n der Begründung des Cuxhaven-Vertrages, Nds. L T Drucks. I V 559 S. 3059. Vgl. hierzu auch oben § 2 vor A n m . 12 u. nach A n m . 13. 4 S. o. § 16, 2. m i t A n m . 48. 5 S. o. § 13, 1. u n d 2. — Bereits die Theorie des Mittelalters rechnete die „Unterwerfung unter einen anderen H e r r n " u n d die „Veräußerung oder Teilung der Herrschaft" zur „Substanz" des Imperiums, über die der Herrscher n u r m i t Zustimmung des Volkes sollte verfügen können, v. Gierke , Genossenschaftsrecht I I I S. 576. 8 Die landesverfassungsgesetzliche Sanktionierung des „Cuxhavenvertrages" (oben § 2 A n m . 25) genügt daher den Anforderungen des Grundgesetzes insoweit nicht. I m bündischen Bundesstaat hätte sie u. U. ausgereicht. Denn dessen regionale Institutionen beruhen auf eigenen verfassungsgebenden Gewalten u n d können daher — gleichsam als „staatsbildende Gewalten" (Krüger, DÖV 1959 S. 724) — i n den Grenzen der Bundesverfassung u n d auf der 8
§ 19 Grundsätzliche Fixierungen der Zuständigkeitsordnung
263
Über eine bundesverfassungsgesetzliche F i x i e r u n g der Wahrnehmungszuständigkeiten ist dem A r t . 30 hingegen nichts zu entnehmen. Der Terminus „Ausübung" staatlicher Befugnisse weist hier nicht auf bloße Wahrnehmungszuständigkeiten h i n 7 . Vielmehr ist m i t diesem Begriff die Folgerung daraus gezogen worden, daß der „Ursprung" der staatlichen Befugnisse nicht dem — etwa traditional legitimierten — Ämterwesen, sondern dem V o l k zugerechnet w i r d (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG). I m Rahmen dieses Sprachgebrauchs hat jede letztinstanzliche Aufgabenverantwortung des Ämterwesens lediglich als „Ausübung" der v o m Volke anvertrauten Staatsgewalt zu gelten. Darüber hinaus ist die Verwendung des Begriffs „ L ä n d e r " — ebenso w i e der i n der Überschrift zum 2. Abschnitt enthaltene Begriff des „Bundes" — ein Anhaltsp u n k t dafür, daß es dem A r t . 30 GG lediglich u m die Bezeichnung der letztinstanzlichen Zurechnungseinheiten des bundesstaatlichen Gefüges, also u m die Zuordnung der Trägerzuständigkeiten geht.
I m Hinblick auf die bundesverfassungsgesetzliche Festlegung der letztinstanzlichen Aufgabenverantwortung ist es selbstverständlich, daß die Länder nicht Organisationseinheiten schaffen können, die für die Erfüllung staatlicher Aufgaben und die Ausübung staatlicher Befugnisse keiner der i n A r t . 30 GG genannten Institutionen verantwortlich sind, sondern eine verfassungsunmittelbare Aufgabenverantwortung und einen verfassungsunmittelbaren Status i n Anspruch nehmen 8 . Für yyGemeinschaftsaufgaben", die nicht lediglich die einheitliche Wahrnehmung getrennter Trägerzuständigkeiten des Bundes und der einzelnen Länder bezeichnen, läßt das Grundgesetz keinen Raum; sie einzuführen — und die m i t ihrer Einführung verbundenen Konsequenzen zu verantworten —, ist dem verfassungsändernden Bundesgesetzgeber vorbehalten. Von hier aus ist nunmehr jene Form der koordinierten Aufgabenerfüllung zu erörtern, für die das f fKönigsteiner Staatabkommen" beispielhaft ist 9 . Fraglich ist bereits, ob die gemeinsame Finanzierung von Forschungseinrichtungen i n jedem Fall eigene Aufgaben eines jeden Landes betrifft. U m „eigene Aufgaben" eines Landes kann es sich allerdings auch dann handeln, wenn die unterstützte Einrichtung i m Gebiet dieses Landes weder ihren Sitz hat noch Zweigstellen unterhält. Entscheidend ist, ob das finanzierende Land für die fragliche Forschungseinrichtung und ihre Vorhaben sinnvollerweise seine staatliche Verantwortung begründen kann und begründet hat. Es ist daher nicht ausgeschlossen, daß etwa das Binnenland Hessen die vom Königsteiner Abkommen finanzierte Meeresforderung i n Anbetracht ihrer zu erwartenden Rückwirkungen auf die gesamte deutsche Wirtschaft, also auch Grundlage ihrer eigenen Verfassungsordnung über die staatliche Aufgabenverantwortung disponieren (vgl. a u d i oben § 4 A n m . 5). 7 S. o. § 2 m i t A n m . 11. 9 S. bereits oben § 5. • S. o. § 3 m i t A n m . 10, 11.
264
4. Teil: Zuständigkeitsvereinbarungen
auf die hessische, als eigene Aufgabe definieren kann. Rechtliche Grenzen für die Bestimmung staatlicher Aufgaben ergeben sich vor allem aus dem grundrechtlichen Schutz der Privatsphäre sowie aus der Kompetenzordnung. Das Königsteiner Abkommen hat jedoch diese von der Verfassung weit gezogenen Grenzen überschritten. Es bestimmt, daß die Länder m i t Zweidrittelmehrheit entscheiden, auf welche weiteren Forschungseinrichtungen die gemeinsame Finanzierung erstreckt werden soll. Die Länder haben sich folglich auch für die Fälle zur gemeinsamen Finanzierung verpflichtet, i n denen sie ihre eigene Aufgabenverantwortung für eine Forschungseinrichtung verneinen. Damit aber nehmen sie nicht eine auf ihren jeweils eigenen verfassungsmäßigen Aufgabenbereich bezogene Aufgabe wahr, sondern eine vom Grundgesetz nicht anerkannte gemeinschaftliche Verantwortung der deutschen Länder für die deutsche Forschung 10 . — Diesen Einwand vermeiden die „gemeinsamen Finanzierungen" der Kultusministerkonferenz 10a durch Einstimmigkeit der Beschlüsse. Die gebotene verfassungskonforme (nicht notwendig m i t den Vorstellungen der Beteiligten übereinstimmende) Auslegung kann davon ausgehen, daß jedes Land durch sein Einverständnis m i t einer gemeinsamen Finanzierung die geforderte Aufgabe als seine eigene anerkennt. Fehlt ihr gleichwohl jeder sachlich einsichtige Bezug zu einem Land, so verstößt allerdings dessen Einverständniserklärung gegen Bundesverfassungsrecht. Ein Abkommen über gemeinsame Finanzierungen muß jedoch nicht nur Gewähr dafür bieten, daß die geförderten Vorhaben jeweils eigene Aufgaben der beteiligten Länder zum Gegenstand haben. Auch die Durchführung der Aufgaben muß i n letzter Instanz den beteiligten Ländern zugerechnet werden können. Nach dem Königsteiner Abkommen entscheiden die Länder — durch ihre Minister bzw. deren nachgeordnete Beamten — wiederum m i t Zweidrittelmehrheit über den Umfang der jeweils gewährten Förderungsmittel. Hierdurch entsteht eine einheitliche Wahrnehmungszuständigkeit der Gesamtheit der beteiligten Länder. Das w i r f t zwei Fragen auf: zum einen, ob die beteiligten Länder ihre Wahrnehmungszuständigkeiten zur Finanzierung ihrer — als eigene Aufgaben anerkannten — Forschungsvorhaben delegieren dürfen und zum anderen, ob die Wahrnehmungszuständigkeit des Ausschusses — und m i t ihr sein institutioneller Status — auf die einzelnen Länder zurückgeführt werden kann. Während die erste Frage die Disposition über die Sachverantwortung betrifft (vgl. hierzu unten 10
I n diese Richtung weist bereits die Bemerkung Röttgens, JÖR 3, S. 144, hier werde „die Grenze zwischen einem bloßen Finanz- u n d einem Funktionsträger i n Richtung auf eine Gemeinschaftsverwaltung der Länder verflüssigt*. 10 » S. o. § 3 A n m . 16.
§ 19 Grundsätzliche Fixierungen der Zuständigkeitsordnung
265
§ 21), berührt die zweite Frage den grundgesetzlichen numerus clausus der Träger verfassungsunmittelbarer Aufgabenverantwortung und institutioneller Herrschaft. Dieser Frage ist hier nachzugehen. Die institutionelle Eingliederung i n eine letztinstanzliche Zurechnungseinheit erfolgt entweder durch die Verfassung selbst — so i m Falle der sog. Verfassungsorgane — oder mittels Anvertrauung eines öffentlichen Amtes durch ein hierzu ermächtigtes Verfassungsorgan, das diesen Status — bei exekutivischen Einrichtungen i m Wege der Rechtsaufsicht — gewährleistet 1 1 . Die gemeinschaftliche Wahrnehmung von Aufgaben der dezentralisierten Verwaltung gerät daher m i t dem Gebot der institutionellen Zuordnung zum Bund oder zu den einzelnen Ländern nicht i n Konflikt, sofern die Rechtsaufsicht verfassungskonform organisiert w i r d (vgl. unten § 20). Gemeinschaftlich wahrgenommene Aufgaben der Verfassungsorgane entziehen sich indessen diesen Formen der Statusvermittlung und damit der Zurückführung auf getrennte Trägerzuständigkeiten. Die zur Aufgabenerfüllung eingesetzte Gesamtheit von Verfassungsorganen leitet ihre Rechtsmacht weder unmittelbar von der Verfassung noch von Verfassungsorganen her, denen die Rechtsaufsicht zusteht; denn die i n Betracht kommenden Aufsichtsinstanzen sind sie selbst. Verfassungsorgane sind somit generell gehindert, ihre Aufgaben i n der Weise gemeinschaftlich auszuüben, daß sie eine einheitliche Wahrnehmungszuständigkeit i n Anspruch nehmen. Das aber ist bei mehrheitlicher Willensbildung notwendig der F a l l l l a . Die Ergebnisse dieser Willensbildung — etwa die i n Ausübung eines öffentlichen Amtes erfolgenden Entscheidungen über Förderungsmaßnahmen zugunsten bestimmter Forschungseinrichtungen — können hier nicht mehr den beteiligten Ländern i n letzter Instanz zugerechnet werden. Einem autonom seinen W i l l e n bildenden gemeinsamen Gremium von Verfassungsorganen der Länder kann das öffentliche A m t nur durch spezielles Verfassungsrecht anvertraut werden. Dieses spezielle Verfassungsrecht muß solches des Bundes sein, da es sich u m die Begründung eines öffentlichen Status außerhalb der Landesorganisationen handelt. I n Ermangelung einer grundgesetzlichen Ermächtigung ist die K o ordinierung der Aufgabenerfüllung durch mehrheitlich und verbindlich entscheidende Zusammenschlüsse von Verfassungsorganen mehrerer Länder (und des Bundes) verfassungswidrig 1 2 . Eine weitere grundsätzliche Schranke ergibt sich für einen Teilbereich der staatlichen Sachverantwortung aus dem bereits gestreiften „Grundsatz 11
der NichtVerfügbarkeit
über Kompetenzen" 1S.
Er mag zwar
S. o. § 5 m i t Anm. 8; § 14 Anm. 26 u. unten § 20. Ebenso Siburg, Finanzreform u n d Förderung der wissenschaftlichen Forschung, DÖV 1967 S. 774 (778 A n m . 63). 12 Das gilt auch für die oben § 3 A n m . 12 u. 13 erwähnten Abkommen. 18 S. o. § 18 m i t Anm. 2. 11ä
266
4. Teil: Zuständigkeitsvereinbarungen
für Gerichte und nachgeordnete Verwaltungsbehörden unbeschränkt gelten. A u f der Ebene der Leitungsinstitutionen stellt sich jedoch aufgrund der Flexibilität der grundgesetzlichen Kompetenzordnung 14 das Problem inhaltlicher Konkretisierung. Die Verfassung befände sich mit sich selbst i m Widerspruch, wenn sie einerseits den Leitungsinstitutionen die Verantwortung für eine jeweils situationsgerechte Kompetenzordnung aufbürdete und sie andererseits durch strikte, formale Festlegung ihrer Kompetenzen generell daran hinderte, auf ihre Zuordnung zu anderen staatlichen Institutionen Einfluß zu nehmen. Fraglich kann daher nur sein, i n welchem Umfang das Verfassungsrecht m i t der Zuweisung von Kompetenzen an Leitungsinstitutionen auch ihre Zuordnung zu anderen staatlichen Einrichtungen festgelegt hat. I m Falle der Verkürzung der Regierungsverantwortung durch einfaches Gesetz hat das Bundesverfassungsgericht diese Fixierung i n einem „Kernbereich" der der Regierung zugewiesenen Kompetenzen gefunden 15 . Diese Abgrenzung w i r d dem Problem gerecht. Denn nur sie ermöglicht die „praktische Konkordanz" von verfassungsgesetzlicher Aufgabenverteilung und verfassungsgesetzlichem Auftrag zur situationsgerechten Gestaltung der Zuständigkeitsordnung. Die Konkretisierung der verschiedenen „Kernbereiche" der Verfassungsorgane der einzelnen Länder ist i n erster Linie eine Frage der speziellen Auslegung der Landesverfassungen. Für die grundgesetzliche Konkretisierung des nicht disponiblen Kernbereichs der bundesstaatlichen Leitungsinstitutionen Bund und Länder ergibt sich ein erster Anhaltspunkt aus dem topos „Bundesstaat" (Art. 20 Abs. 1 GG). Der Bundesstaat des Grundgesetzes ist ein Staat, dessen politiche Leitungsgewalt regional (und funktional) gegliedert ist. M i t der Bundesstaatlichkeit ist daher auch die regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt bundesverfassungsrechtlich fixiert. Über die Wahrnehmung von Leitungsaufgaben 1 · können die Länder daher nicht verfügen, auch nicht aufgrund spezieller Ermächtigungen ihrer Verfassungen. Denn die Entscheidung über die bundesstaatliche Gliederung beruht nicht anders als die über die Trägerzuständigkeiten ausschließlich auf Bundesverfassungsrecht. Hiernach läßt sich beispielsweise der Vorschlag, die B i l dungsplanung einem gemeinschaftlichen, verbindlich entscheidenden Gremium anzuvertrauen 17 , ohne Änderung des Grundgesetzes nicht verwirklichen. Gleiches gilt für die gelegentlich diskutierte „Norddeutsche Wirtschaftsgemeinschaft", der die regionale Strukturpolitik der Küstenländer übertragen werden soll 1 8 . 14 15 16 17 18
S. o. § 16, 1. m i t A n m . 16 ff.; § 18 m i t A n m . 6 ff. BVerfGE 9, 268 (279). Vgl. a u d i ο. § 18 m i t A n m . 15. Vgl. o. § 12, 2. m i t A n m . 11 ff. S. o. § 3 m i t A n m . 24. S. o. § 6 m i t A n m . 25 sowie § 14 m i t A n m . 1.
§ 19 Grundsätzliche Fixierungen der Z u s t ä n d i g k e i t s o r d n u n g 2 6 7 Den Grundlagen des Zuordnungsrechts des Grundgesetzes ist eine grundsätzliche, wenn auch zur Zeit nicht aktuelle Fixierung der Zuständigkeitsordnung zu entnehmen. Die praktische Konkordanz von Zuordnung und Eigenverantwortlichkeit der bundesstaatlichen Institutionen war oben (§ 16,1.) i n der Wahrung eines Kernbereichs der eigenverantwortlichen Wahrnehmung der verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben gefunden worden. Dieser Kernbereich betrifft alle staatlichen Funktionen ohne Rücksicht auf ihre materiale (politische) Qualität. Das verfassungsrechtliche Erscheinungsbild der Länder, das das Grundgesetz m i t der Kompetenzverteilung und der Homogenitätsnorm des A r t . 28 Abs. 1 i n Umrissen vorgezeichnet hat, kann nicht i m Wege der Zuständigkeitsvereinbarungen umgestaltet werden. Die Zuweisung eines wesentlichen Teils etwa der gesamten Rechtsprechungstätigkeit eines Landes an andere Länder ist bundesverfassungsrechtlich unzulässig. Das ergibt sich aus dem Zweck der vom Grundgesetz zugelassenen Zuständigkeitsvereinbarungen: Sie haben die Funktionsfähigkeit, Effektivität und Wirkungseinheit des bundesstaatlichen Gefüges, wie es sich aufgrund der ursprünglichen Landesgrenzen und des jeweiligen Standes der Neugliederung darstellt (Art. 23, 29 GG), zu gewährleisten. Hingegen ist es nicht ihre Aufgabe, über diesen Zweck hinaus die dem Bundesgesetzgeber vorbehaltene Neugliederung zu ersetzen. Hierin liegt die Berechtigung der oben referierten Auffassung, Zuständigkeitsvereinbarungen dürften die einzelnen Länder nicht zur „bloßen Scheinexistenz" „aushöhlen" 1 9 . Einer Konkretisierung dieser Grenzlinie bedarf es hier indessen nicht. Denn die aktuelle Problematik der Schranken zuständigkeitsverändernder Zusammenarbeit liegt auf anderem Gebiet.
Zweites
Kapitel
Gesichtspunkte der demokratischen Ordnung § 20 Die institutionelle Zuordnung Der institutionelle Status einer staatlichen Einrichtung, die nicht als Verfassungsorgan unmittelbar durch die Verfassung autorisiert ist, w i r d durch die Rechtsaufsicht vermittelt, i m Falle der Rechtsprechungseinheiten durch die Personalhoheit der Exekutive. Jede Minderung, die die 19
S. o. § 4 m i t A n m . 42.
268
4. Teil: Zuständigkeitsvereinbarungen
Rechtsaufsichtskompetenz bzw. die Personalhoheit erfährt, lockert die institutionelle Zuordnung der wahrnehmungsberechtigten Einrichtung zu ihrem „Muttergemeinwesen". Jede Beeinträchtigung der institutionellen Zuordnung sieht sich dem Einwand ausgesetzt, hierdurch w ü r den die geschlossenen Staatsgewalten durchbrochen und die Rechte der Landesvölker vermindert werden. Diese Argumentation ist auf der Grundlage der Staatenstaatstheorie schlüssig (vgl. oben §§4, 5). Die Vorstellung geschlossener staatlicher Einheiten der einzelnen Länder erwies sich indessen als unzutreffend. Das bundesstaatliche Zuordnungsrecht läßt auch Delegationen und die m i t ihnen verbundenen Statusänderungen über Landesgrenzen hinaus zu, sofern sie sich i n das System der letztinstanzlichen Zurechnungseinheiten, wie A r t . 30 GG es verbindlich festlegt, einfügen. Zu erörtern bleibt jedoch das der demokratischen Ordnung entnommene Argument, Delegationen, insbesondere Statusveränderungen, griffen i n die unveräußerlichen Rechte der Landesvölker ein. Die Unterscheidung zwischen dem „Ursprung" der Staatsgewalt und ihrer „Ausübung", genauer: zwischen Autorisierung und politischer Leitung (oben § 13, 1.), grenzt das Problem ein. Die institutionelle Zuordnung staatlicher Rechtsprechungs- und Verwaltungseinrichtungen bet r i f f t nicht die politische Leitung, also die Befugnis auch der Landesvölker zu politischer Mitbestimmung, sondern die Herkunft verfassungsmäßig institutionalisierter Autorität (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG). I n diesem Problemkreis setzt ein Eingriff i n „unveräußerliche Rechte der Landesvölker" voraus, daß sie Subjekte selbständiger verfassunggebender Gewalten sind. Das ist zwar i m bündischen Bundesstaat der Fall. I m einheitlich autorisierten Bundesstaat der Bundesrepublik Deutschland hingegen sind die „LandesVölker" nur als unselbständige Momente des Gesamtstaatsvolks am einheitlichen Autorisierungsprozeß beteiligt. Folglich bleibt die demokratische Ordnung i n den Ländern unberührt, wenn der öffentliche Status einer Verwaltungseinheit nicht oder nicht i n vollem Umfange durch die Verfassungsorgane des Inhabers der Trägerzuständigkeit vermittelt wird. Aber auch unter dem Blickpunkt des demokratischen Verfassungsrechts des Grundgesetzes bestehen keine Bedenken. Denn infolge der einheitlichen Autorisierung sämtlicher bundesstaatlicher Einheiten vermittelt jedes Verfassungsorgan den Rechtsprechungs- und Verwaltungseinheiten dieselbe verfassungsmäßige A u torität, d. h. dieselbe Qualität öffentlicher Ämter und die hiermit verbundenen grundsätzlichen Verantwortlichkeiten und Gemeinwohlbindungen. Welches der zahlreichen Verfassungsorgane der vielfältig gegliederten Bundesrepublik Deutschland einer Organisationseinheit den öffentlichen Status vermittelt, ist insoweit unerheblich. Delegiert ein Land die Wahrnehmung seiner Trägerzuständigkeit auf ein anderes, so
§ 20 Die institutionelle Zuordnung
269
ist dieses aufgrund der bundeseinheitlichen Qualität aller demokratisch autorisierten Ämter kein „Außenseiter" 1 , der n o d i spezieller Autorisierung bedürfte. Die Folgerungen für die institutionelle Ordnung i m einheitlich autorisierten Bundesstaat des Grundgesetzes liegen auf der Hand: Da der öffentliche Status i m Bereich der vollziehenden Gewalt durch die Rechtsaufsicht und i m Bereich der rechtsprechenden Gewalt durch die Personalhoheit vermittelt wird, können die Kompetenzen zur Dienst- und Rechtsaufsicht über Landesgrenzen hinweg delegiert werden. Verfassungsrechtlich unbedenklich ist es auch, daß die Ermächtigung zur Ausübung der Dienst- u n d Rechtsaufsicht einen Verzicht auf die hiermit v e r bundenen Entscheidungsbefugnisse enthält. Es w i r d zu zeigen sein, daß die Sachverantwortung der einzelnen Länder von Verfassungs wegen nur insoweit festgelegt ist, als sie politische Aufgaben betrifft (unten § 21). Die Rechtsaufsieht ist jedoch ihrer N a t u r nach unpolitisch, selbst dann, w e n n sich ihre Ausübung noch nach dem Opportunitätsprinzip richten sollte 2 . Soweit allerdings die Maßstäbe der Rechtsaufsicht derart unbestimmt sind, daß sie p o l i tische Einflußnahmen gestatten, handelt es sich i n Wahrheit nicht mehr u m Rechtsaufsicht. Eine „Rechtsaufsicht" über R u n d f u n k - u n d Fernsehanstalten etwa, die Möglichkeiten zur staatlichen Reglementierung der Programmgestaltung nach politischen Maßstäben böte, wäre verfassungswidrig (Art. 5 Abs. 1 GG). Die verfassungsrechtliche Ordnung der zuständigkeitsverändernden Zusammenarbeit braucht daher nicht durch Delegationsverbote sicherzustellen, daß jedem L a n d eine solche „Rechtsaufsieht" ungeschmälert erhalten bleibt.
Die Delegierbarkeit der Wahrnehmung der Rechtsaufsicht ist zunächst bedeutsam für jene Vereinbarungen, i n denen ein Land ein anderes m i t der treuhänderischen Wahrnehmung einer Trägerzuständigkeit betraut (vgl. oben § 2,1.). Denn i n diesen Fällen verliert es neben der Sachverantwortung auch die konkrete institutionelle Herrschaft. Es behält zwar seine Trägerzuständigkeit zurück und stellt damit sicher, daß seine Rechtsordnung für die Erfüllung der Aufgabe maßgebend bleibt 8 ; insoweit bleibt es auch Träger der durch A r t . 30 GG gleichfalls fixierten Rechtsaufsichtszuständigkeit. Die Wahrnehmung dieser Kompetenz jedoch geht — regelmäßig stillschweigend — auf den Delegatar über. Diese Veränderung der institutionellen Zuordnung stellt indessen i m einheitlich autorisierten Bundesstaat der Bundesrepublik Deutschland keinen Eingriff i n „unveräußerliche Rechte der Landesvölker" dar. 1
Köttgen, Das anvertraute öffentliche A m t , a.a.O., S. 131. K r i t i s c h hierzu Werner Weber, K o m m u n a l a u f sieht als Verfassungsproblem, a.a.O. S. 21. 3 S. o. § 19 A n m . 3. Die prinzipielle Förtgeltung des Redits des Deleganten schließt allerdings nicht aus, daß er i m Interesse rationeller Verfahrensgestaltung f ü r die Wahrnehmung dieser Aufgabe auf Rechtsnormen des Delegatars verweist u n d sie damit als eigenes Recht rezipiert. Ob dies konkludent geschehen kann, richtet sich nach den Normen der Landesverfassungen über den Abschluß v o n Staatsverträgen u n d Verwaltungsabkommen m i t anderen L ä n dern. 1
270
4. Teil: Zuständigkeitsvereinbarungen
Ebenso zu beurteilen sind die gemeinschaftlichen Einrichtungen mehrerer Länder (oben § 2, 3.). Der gemeinschaftlichen Einrichtung obliegt die i m externen Verwaltungsrechtsverhältnis einheitliche Wahrnehmung der verfassungsrechtlich getrennten Trägerzuständigkeiten mehrerer Länder 4 . Der Mehrzahl der wahrgenommenen Trägerzuständigkeiten entspricht die Mehrzahl der Statusverhältnisse: Für die verfassungsrechtliche Betrachtung ist der Status der gemeinschaftlichen Einrichtung aus einer Mehrzahl von Statusverhältnissen zusammengesetzt. Jede dieser einzelnen und unselbständigen Statusbeziehungen weist die gemeinschaftliche Einrichtung partiell als Einrichtung eines jeden letztinstanzlichen Zuständigkeitsträgers aus 5 . Sie ist eine „Mehrländereinrichtung" 6 . Da m i t dieser Organisationsform eine zumindest partielle Delegation der Ausübung der Rechtsaufsicht verbunden ist, entsteht auch hier wiederum die oben bereits entschiedene Frage, ob solche Statusveränderungen m i t der demokratischen Ordnung vereinbar seien. Die grundsätzliche Zulässigkeit gemeinschaftlicher Einrichtungen, die sich aus dem bundesstaatlichen Zuordnungsrecht und insbesondere aus der einheitlichen Autorisierung der Bundesrepublik Deutschland ergibt, w i r f t allerdings rechtstechnische Probleme auf, die hier wenigstens angedeutet werden sollen. Die gemeinschaftliche Einrichtung konnte vor allem deshalb als zulässig angesehen werden, w e i l sie keine einheitliche Aufgabenverantwortung einer Ländergemeinschaft voraussetzt. Ihre einheitliche Wahrnehmungszuständigkeit läßt sich verfassungsrechtlich auf die Trägerzuständigkeiten der einzelnen Länder zurückführen, so daß eine Kollision m i t dem Zurechnungssystem des A r t . 30 GG vermieden wird. Diese Deutung der gemeinschaftlichen Einrichtung ist aller4 Z u r Unterscheidung zwischen der verwaltungs- u n d verfassungsrechtlichen Zurechnung s. o. § 2 m i t A n m . 44. Aus dieser Unterscheidung folgt beispielsweise, daß die verwaltungsrechtlich einheitlichen Wahrnehmungszuständigkeiten der grenzüberschreitenden Planungsverbände (§ 4 BBauG) noch nicht den Schluß zulassen, daß es sich bei ihnen u m Einrichtungen „ m i t übergliedstaatlicher Exekutive u n d Legislative" handelt (so jedoch Grauvogel, i n : Brügelmann - Forster - Grauvogel, Bundesbaugesetz (1960) § 4 I I 4 b). Ob dies der F a l l ist, entscheidet sich danach, ob die Verbandsakte verfassungsrechtlich i n letzter Instanz einer Ländergemeinschaft oder den einzelnen beteiligten Ländern zuzurechnen sind. 5 Charakteristisch hierfür ist die gemeinschaftliche Ernennung u n d Entlassung der Richter des O V G Lüneburg, s. o. § 2 m i t A n m . 45. Z u r Begründung des Richteramts müssen die je f ü r sich unzureichenden statusbegründenden A k t e der Länder Nds. u n d SH zusammenkommen. M a n mag eine solche V e r bindung als „Gesamthand" bezeichnen (Köttgen, JÖR 11, S. 306); eine selbständige „Dienstgebergemeinschaft", die von den beteiligten Ländern lediglich vertreten w i r d , verbirgt sich hinter dieser Organisationsform jedenfalls nicht (so allerdings die Interpretation des Staatsvertrages durch den Berichterstatter des Nds. L T ( I I I W P StenoBer. I S. 659)).
• So die Terminologie Bachofs, Gutachten S. 34, 76. Bachof, ebd. S. 70, lehnt eine solche Interpretation der gemeinschaftlichen Einrichtungen allerdings ab.
§ 20 Die institutionelle Zuordnung
271
dings nur dann keine Fiktion, wenn ihre Ausgestaltung den Anforderungen genügt, die sich aus dem Pluralismus der Trägerzuständigkeiten ergeben. Die wichtigste dieser Anforderungen ist die Maßgeblichkeit der Rechtsordnung eines jeden Vertragspartners 7 . Während bei der schlichten treuhänderischen Delegation ohne Vereinheitlichung des verwaltungsrechtlichen Außenverhältnisses die Anwendung der Rechtsordnung des delegierenden Landes unproblematisch ist 8 , muß hier die I n haltsgleichheit der beteiligten Rechtsordnungen gewährleistet sein. Denn einander widersprechende Rechtsnormen können weder von der gemeinschaftlichen Einrichtung uno actu angewandt noch von den beteiligten Ländern zum Maßstab uno actu ausgeübter Rechtsaufsicht gemacht werden. Die Gefahr einer „unerträglichen Unklarheit über die anstaltsintern anzuwendenden Normen"® bezeichnet allerdings nur eine rechtstechnische und rechtspolitische Aufgabe; die generelle Unzulässigkeit gemeinschaftlicher Einrichtungen kann sie nicht begründen. „Parallelgeschaltetes Länderrecht" i m Rahmen gemeinschaftlicher Einrichtungen ist als „so außergewöhnlich" bezeichnet worden, daß diese Organisationsform bei der Interpretation der gemeinschaftlichen Einrichtungen auszuscheiden habe 1 0 . Auch spreche gegen diese Interpretation ihre „staatsrechtliche Monstrosität" 1 1 u n d die „innere Tendenz" dessen, „was hier vor sich gehen soll" 1 2 . Sicherlich ist das Verständnis einer gemeinschaftlichen Einrichtung als Mehrländereinrichtung ein Behelf, jedoch ein verfassungsrechtlich möglicher u n d praktisch durchführbarer. Das aber muß für eine Verfassungsinterpretation genügen, die ohnehin der praxisnahen „broad interpretation" verpflichtet ist u n d darüber hinaus das Zuordnungsrecht eines demokratischen Bundesstaates anzuwenden hat, das i m Interesse der Funktions- u n d Wirkungseinheit des Gesamtstaates zuständigkeitsverändernde Vereinbarungen grundsätzlich zuläßt.
Die rechtstechnische Aufgabe, inhaltsgleiches Recht für die beteiligten Vertragspartner zu schaffen, ist nicht unlösbar. A u f der Ebene des Verfassungsrechts fehlen tiefgreifende Unterschiede zwischen den Ländern, die die Aufsichtsentscheidungen· i m Einzelfall beeinflussen könnten, bereits infolge der einheitlichen Autorisierung der Bundesrepublik Deutschland. Die tatsächliche Konformität des Landesverfassungsrechts geht über die Homogenitätsanforderungen des A r t . 28 Abs. 1 GG weit 7
S. o. § 19 A n m . 3. Z u dieser F o r m der zusammengesetzten Rechtsprechungs- u n d V e r w a l tungseinheiten s. o. § 2, 3., aber a u d i ο. § 20 A n m . 3. 9 Forsthoff, Gutachten S. 30 f. 10 Bachof, Gutachten S. 77. Bachof geht dementsprechend davon aus, daß die gemeinschaftlichen Einrichtungen gegenüber den Vertragsländern u n d ihren Rechtsordnungen verselbständigt seien. H i e r i n erblickt er jedoch zu U n recht keinen Verstoß gegen die A r t . 30, 28 Abs. 1, 20 Abs. 2 S. 1 GG (vgl. o. § 19 u n d unten § 21 A n m . 29). 11 Fröhler, Gutachten S. 19. 12 Kölble, N J W 1962 S. 1084. 8
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4. Teil: Zuständigkeitsvereinbarungen
hinaus 13 . A u f der Ebene des einfachen Gesetzesrechts bietet die Rezeption der einschlägigen Normen eines Landes durch die Vertragspartner eine rechtstechnisch einfache und brauchbare Lösung. Beispielsweise hat Schleswig-Holstein für die Ordnung des Dienstrechts der am gemeinschaftlichen Oberverwaltungsgericht Lüneburg tätigen gemeinschaftlich bestellten Richter das Richterrecht des Landes Niedersachsen übernommen 14 . Ferner kann das Recht gemeinschaftlicher Einrichtungen gemeinsam erarbeitet und von jedem Vertragspartner selbständig gesetzt werden, wie es i m F a l l der übereinstimmenden Rechtsverordnungen über Gebührenbefreiungen für Hörer des Norddeutschen Rundfunks 1 5 und bei den Organisationsnormen für den gemeinsamen Prüfungsausschuß für den höheren Dienst i m Bergfach 16 geschehen ist. Die gemeinsam erarbeiteten Rechtsnormen können zudem gegen Modifikationen durch die Vertragspartner dadurch abgesichert werden, daß sie staatsvertraglich festgelegt werden. Beispielsweise ist das Personalvertretungsrecht des Südwestfunks 1 7 und des „Zweiten Deutschen Fernsehens" 18 i n besonderen Staatsverträgen normiert worden. Diese Rechtsnormen, die für eine gemeinschaftliche Einrichtung maßgebend sind, sind Rechtsnormen eines jeden Landes. Als spezielle Vorschriften für einzelne Einrichtungen gehen sie ranggleichem Recht des jeweiligen Landes nach den allgemeinen Derogationsregeln vor 1 9 . Dem Landesverfassungsrecht hingegen sind sie unterworfen 2 0 . Denn es feh13 Bachof, Gutachten S. 37 f., sieht eine inhaltliche Diskrepanz des einschlägigen Landesverfassungsrechts i m Falle des § 6 StV Z D F (Nds. GVB1. 1962 S. 10). Die Festsetzung „angemessener" Sendezeiten f ü r Kirchen u n d Religionsgesellschaften müsse i n Ländern, deren Verfassungen die Kirchen als „Bildungsträger" anerkennen, anders beurteilt werden als i n den übrigen Ländern. Indessen ist m i t der Anerkennung der Kirchen als Bildungsträger allenfalls die Garantie einer Mindestsendezeit verbunden. Dem Gesetzgeber dieses Landes ist es nicht verwehrt, i n den hierdurch abgesteckten Grenzen den Rechtsgehalt des Begriffs „Bildungsträger" authentisch zu interpretieren u n d eine „angemessene" Sendezeit festsetzen. Diese Entscheidung können sich die Vertragspartner zueigen machen u n d haben es i m Zweifel m i t der R a t i fizierung des Staatsvertrages getan. Die Konkretisierung der Entscheidung des einfachen Gesetzgebers über die angemessene Sendezeit ist hiernach kein Problem kollidierenden Landesverfassungsrechts. 14
S. o. § 2 A n m . 45. § 20 I I I StV N D R (Nds. GVB1. 1955 S. 167). 19 Nds. GVB1. 1966 S. 287, § 19. 17 Rhpf. GVB1. 1964 S. 21. » Nds. GVB1. 1966 S. 139. 19 Ä h n l i c h f ü r die interkantonalen Vereinbarungen der Schweiz Usteri, Bundesstaat S. 281 f.; Fleiner - Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht S. 162. 20 Α . A . Bachof, Gutachten S. 31 ff. Die von Bachof erläuterte Rechtsflgur der „normativen Verträge" ist zwar geeignet, die verwaltungsrechtlich einheitliche Wahrnehmungszuständigkeit der gemeinschaftlichen Einrichtungen zu beschreiben, sie zwingt jedoch nicht dazu, diese Wahrnehmungszuständigkeit von den Bindungen der verschiedenen Landesverfassungen freizustellen. 15
§ 20 Die institutionelle Zuordnung
273
len i m deutschen Verfassungsrecht Anhaltspunkte dafür, daß die Vertragskompetenz der Landtage und Regierungen die Ermächtigung enthält, Landesverfassungsrecht abzuändern. Eine generelle Freistellung der Wahrnehmungszuständigkeiten der gemeinschaftlichen Einrichtungen von den verschiedenen Landesverfassungsrechten würde überdies bedeuten, daß die Maßgeblichkeit der Verfassungsrechtskreise der Vertragspartner und damit auch ihre Trägerzuständigkeiten verneint werden. Die für die gemeinschaftlichen Einrichtungen verbindlichen Rechtsnormen wären dann i n der Tat nicht „gemeinsames", sondern „gemeines" Recht 21 , das nur einer (grundgesetzwidrigen) verselbständigten Ländergemeinschaft zugerechnet werden könnte. Gemäß A r t . 30 GG muß sich jedoch alles staatliche Recht i n der Bundesrepublik Deutschland als Bundes- oder Landesrecht ausweisen 22 . E i n weiteres rechtstechnisches Problem bei der Organisation gemeinschaftlicher Einrichtungen liegt i n der Gestaltung der Rechtsaufsicht. Die Ausübung der Rechtsaufsichtskompetenz ist zwar delegierbar. Vorausgesetzt ist jedoch stets, daß eines der Verfassungsorgane des bundesstaatlichen Gefüges die Verantwortung für die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung trägt und damit die institutionelle Einheit des Staates gewährleistet. Eine gemeinsame Wahrnehmung der Rechtsaufsichtskompetenzen i n der Weise, daß die Mehrheit der Vertragspartner entscheidet 23 , genügt diesen Anforderungen nicht. Denn der dadurch entstehende Verantwortungsträger, nämlich die einheitliche Gemeinschaft der aufsichtsführenden Verfassungsorgane, entzieht sich dem Zurechnungssystem des A r t . 30 GG 2 4 . Unbedenklich und sachgerecht ist dem21 Friedrich Klein, gaben, a.a.O., S. 57 f.
Verfassungsrechtliche Grenzen der Gemeinschaftsauf-
22 Dieser Gesichtspunkt spricht auch gegen ein „Interföderationsrecht", das eine selbständige Rechtsmasse zwischen Bundes- u n d Landesrecht bilden soll; so Rudolf, Z u m System der staatlichen Rechtsordnungen i n der BRD, D Ö V 1966 S. 73 ff.; zustimmend Hannfried Walter, Unlauterer Wettbewerb z w i schen Bundesländern? DÖV 1967 S. 622 ff. (626 f.), u n d i n der Sache ebenso bereits Bachof, Gutachten S. 31 ff. — Der Annahme eines selbständigen „ I n terföderationsrecht s " f ü r die Gestaltung u n d A b w i c k l u n g der bundesstaatlichen Zusammenarbeit bedarf es nicht. Das Vertragsrecht k a n n den einzelnen Landesrechten zugerechnet werden (vgl. hierzu A r t . 59 Abs. 2 GG). Die von den Ländern zu beachtenden ungeschriebenen Rechtsgrundsätze sind solche des bundesrechtlichen Zuordnungsrechts, das insbesondere an A r t . 20 Abs. 1 GG anknüpft. Diesem bundesverfassungsrechtlichen Rang der allgemeinen Kooperationsnormen k a n n schlüssig n u r die These entgegengesetzt werden, daß die Länder miteinander als selbständige Staaten paktierten u n d folglich i n einer „ v o n der Bundesgewalt gänzlich befreiten Sphäre" handelten (vgl. o. § 7, 1. u. 3.). 28 So i m Falle der gemeinschaftlichen Akademie für Staatsmedizin; s.o. § 2 m i t A n m . 48, 57. 24
Vgl. oben § 19 nach A n m . 11.
18 Hempel
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4. Teil: Zuständigkeitsvereinbarungen
gegenüber die Wahrnehmung der verschiedenen Rechtsaufsichtskompetenzen durch einen Vertragspartner, gleichviel, ob diese Wahrnehmung permanent erfolgt oder i m turnusmäßigen Wechsel 25 . Das Zurechnungssystem des A r t . 30 GG läßt darüber hinaus auch eine einvernehmliche Wahrnehmung der Rechtsaufsichtskompetenzen 26 zu. Indessen vermindern solche wechselseitigen Mitwirkungsrechte die Möglichkeit zu geordneter und effektiver Aufsichtsführung, zumal bei Beteiligung sämtlicher Länder 2 7 . Das Interesse des demokratischen Verfassungsrechts an einer effektiven Vermittlung und Gewährleistung des öffentlichen Status aller staatlichen Organisationen (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG) w i r d daher der einvernehmlichen Ausübung der Rechtsaufsicht regelmäßig entgegenstehen. § 21 Die Fixierung der Sachverantwortung 1. Leitungsaufgaben und Gesetzgebung Die regionale Gliederung der politischen Leitungsgewalt durch das Grundgesetz verwehrt es den Ländern ebenso wie dem einfachen Bundesgesetzgeber und der Bundesregierung, über ihre Leitungsverantwortung durch Zuständigkeitsvereinbarungen zu disponieren {vgl. oben § 19). Dieser Gesichtspunkt der bundesstaatlichen Ordnung findet i n der demokratischen Regierungsform seine selbstverständliche Entsprechung: Wenn es das verfassungsmäßige A m t der Aktivbürgerschaft ist, i m Wahlakt zwischen unterschiedlichen politischen Konzeptionen zu entscheiden, so muß diese Entscheidung auch und gerade bei der Erfüllung der staatlichen Leitungsaufgaben durch Parlament und Regierung zur Geltung kommen. Deren Leitungsverantwortung muß daher ungeschmälert bleiben. Durch spezielles demokratisches Verfassungsrecht w i r d die Sachverantwortung der gesetzgebenden Einrichtungen fixiert, und zwar über den Bereich materieller Leitungsverantwortung hinaus. A r t . 77 GG ordnet an, daß die Bundesgesetze vom Bundestag beschlossen werden. A r t . 80 Abs. 1 S. 2 GG bestätigt nochmals die grundsätzliche Verantwortung des Bundestags für die inhaltliche Gestaltung der Rechtsordnung 1 . Lediglich Einzelregelungen dürfen der Exekutive überlassen 25 S.o. § 2 m i t A n m . 54ff. Eine solche „Konzentration der Rechtsaufsicht i n einer H a n d " läßt nicht den Schluß zu, daß die gemeinschaftliche Einricht u n g sich dem Verfassungsrecht der einzelnen Länder entziehe (Bachof, G u t achten S. 39). Denn das wahrnehmungsberechtigte L a n d wendet uno actu das inhaltsgleiche Recht aller Vertragspartner an. 26 S. o. § 2 m i t A n m . 59, 60. 27 Zutreffend Forsthoff, Gutachten S. 46. 1 BVerfGE 7, 12—82. — Das Grundgesetz macht sich damit das Postulat
§21 Die Fixierung der Sachverantwortung
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werden. Hierbei hat das Grundgesetz den Kreis der möglichen Adressaten der Rechtssetzungsermächtigung abschließend bestimmt 2 . Der Verfassungstext schließt damit andere Formen der Delegation von Rechtssetzungskompetenzen des Bundestags aus. Ob i m Landesbereich eine ähnlich starre Festlegung gilt, muß unter Berücksichtigung des Homogenitätsangebots des A r t . 28 Abs. 1 GG dem Landesverfassungsrecht entnommen werden (vgl. etwa A r t . 33, 34 Vorl. Nds. Verf.). Diese Normen entscheiden hiernach m i t formaler Strenge, ob beispielsweise ein Landesgesetzgeber die Regierung ermächtigen darf, die ihr erteilte Befugnis zum Erlaß von Rechtsverordnungen auf Einrichtungen eines anderen Landes weiter zu übertragen 3 oder ob er die Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen daran knüpfen darf, daß die ermächtigte Regierung das Einvernehmen anderer Länder herbeiführt 3 *. Soweit das Landesverfassungsrecht gegenüber dem Grundgesetz keine Besonderheiten aufweist, sind derartige Regelungen verfassungswidrig. Unter diesem Vorbehalt sind Gesetzgebungskompetenzen der zuständigkeitsverändernden Zusammenarbeit grundsätzlich entzogen 4 . 2. Politische Aufgaben Zur Funktion der Regierung als exekutivischer Leitungsinstitution gehört es, daß sie die Erfüllung der staatlichen Verwaltungsaufgaben nicht lediglich organisationstechnisch leitet, sondern sie auch inhaltlich nach politischen Maßstäben bestimmt 5 . Es ist allerdings fraglich, wie weit allein aus dieser Funktion der Regierung eine verfassungsrechtliche Fixierung der Sachverantwortung folgt. Denn i m Interesse sachgerechter Aufgabenerfüllung ist den Leitungsinstitutionen Parlament und Regierung auch die Befugnis zur Gestaltung der Zuständigkeitsordnung eingeräumt worden (vgl. oben § 18). Das schließt das Recht zur Verminderung der Entscheidungsmacht der Regierung ein. Zumindest des klassischen Parlamentarismus zueigen: aufgrund des den Abgeordneten erteilten Mandats hat der Gesetzgeber n u r die Macht, „to make laws, and not to make legislators", Locke , T w o Treatises of Government, I I § 141; vgl. h i e r zu näher Jesch, Gesetz u n d V e r w a l t u n g (1961) S. 120 m i t A n m . 89. 2 B V e r f G E 11, 77. 3 S. o. § 2 A n m . 24. 8a So § 7 des rhpf. Gesetzes über die Errichtung der Hochschule für V e r waltungswissenschaften Speyer, GVB1. 1950 S. 265. 4 I m Ergebnis ebenso BVerfGE 1, 14 (35); 18, 407 (414 ff.). 5 E. Kaufmann, W D S t R L 9 S. 7; Scheuner, der Bereich der Regierung, a.a.O., S. 287; Forsthoff, Verwaltungsrecht I S. 425; Morstein - M a r x , E i n f ü h rung i n die Bürokratie (1959) S. 20 f.; Köttgen, S t r u k t u r u n d politische F u n k t i o n öffentlicher Verwaltung, a.a.O., S. 788 ff.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 197 (einschränkend ebd. S. 200). Z u den landesgesetzlichen Entscheidungen f ü r einen hierarchischen Verwaltungsaufbau vgl. die Nachweise bei Grawert, Verwaltungsabkommen S. 268 m i t A n m . 110. 18·
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4. Teil: Zuständigkeitsvereinbarungen
eine generelle Fixierung der Sachverantwortung, die über einen Kernbereich hierarchischer Verwaltungsgliederung hinausgeht, läßt sich daher der Regierungsfunktion nicht entnehmen. Auch die parlamentarische Verantwortung der Regierung, die i m Schrifttum häufig als Schranke der Zusammenarbeit i m Bundesstaat angesehen w i r d 6 , trägt zur Präzisierung der zu ermittelnden Grenzlinie zwischen zulässiger und unzulässiger Beschränkung der Sachverantwortung nur wenig bei. Denn die Verantwortung der Regierung gegenüber dem Parlament (Art. 65 GG) richtet sich grundsätzlich nach ihren verfassungsmäßigen Zuständigkeiten, nicht aber richten sich ihre Zuständigkeiten nach einer als umfassend vorgestellten parlamentarischen Verantwortung 7 . Das ergibt sich bereits daraus, daß das Grundgesetz die Eigenverantwortlichkeit bestimmter Verwaltungseinheiten garantiert (Art. 5 Abs. 1, 3; 28 Abs. 2; 87 Abs. 2 GG) und den Bundesgesetzgeber ermächtigt, Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts zu errichten (Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG). Andererseits folgt hieraus noch nicht, daß „ministerialfreie Räume" 8 auch i m übrigen vom Grundgesetz gebilligt worden seien9. Denn es ist nicht von vornherein auszuschließen, daß das Grundgesetz die Freistellung der Verwaltung von der Direktionsgewalt der Regierung auf die i m Verfassungstext ausdrücklich erwähnten Fälle hat beschränken wollen. Für die Entscheidung zwischen restriktiver und extensiver Auslegung dieser Bestimmungen läßt sich dem Institut der parlamentarischen Verantwortung selbst kein überzeugender Gesichtspunkt entnehmen 10 . Das Bundesverfassungsgericht hat sich auf den „demokratischen Rechtsstaat i m Sinne des Grundgesetzes (Art. 28 I S. 1)" berufen, u m der Regierung verfassungsrechtlich fixierte „selbständige politische Entscheidungsgewalt" zusprechen zu können 1 1 . Soweit hierbei m i t dem Rechtsstaat auf die Gewaltenteilung u n d den selbständigen Verfassungsauftrag der vollziehenden Ge• Köttgen, JöR 3 S. 146; Ders., JöR 11, S. 306; Kölble, N J W 1962 S. 1085; H. Schneider, Gutachten S. 24; Fröhler, Gutachten S. 17; Forsthoff, Gutachten S. 41; Zeidler, Gutachten S. 43 f.; Scheuner, D Ö V 1966, S. 518; a. A . Gross, N J W 1967 S. 1004. 7 Ebenso Vorbrugg, Unabhängige Organe der Bundesverwaltung (1965) S. 248 ff.; Fichtmüller, Zulässigkeit ministerialfreien Raums i n der Bundesverwaltung, AöR 91 (1966) S. 322. Z u r Begrenzung der parlamentarischen Verantwortung des Kanzlers bzw. Ministers auf eigenes zurechenbares V e r halten s. Vogel, Z u r Verantwortlichkeit leitender Organverwalter i n : Hbg. Festschr. f. Friedrich Schack (1966) S. 183 ff. (185 ff.). 8 Nachweise bei Vorbrugg, Unabhängige Organe der Bundesverwaltung S. 212 ff.; 84 f., 256 f.; Fichtmüller, AöR 91, S. 297 ff. (Anm. 11 f.). 9 So jedoch B V e r w G E 22, 299 (310) f.; kritisch hierzu bereits Grawert, V e r waltungsabkommen S. 281. 10 Eine extensive Auslegung vertreten außer B V e r w G E 22, 299 (310 f.) auch B V e r w G E 7, 66 (73), Friesenhahn, W D R t R L 16 S. 72, sowie — m i t Einschränkungen — Bachof, JZ 1962 S. 355. 11 BVerfGE 9, 268 (281).
§ 21 Die Fixierung der Sachverantwortung
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w a i t Bezug genommen w i r d , wäre die selbständige Entscheidungsgewalt lediglich für einen „Kernbereich" von Verfassungs wegen festgelegt. I m ü b r i gen wäre bei der Konkretisierung dieses rechtsstaatlichen Kernbereichs zu berücksichtigen, daß der Rechtsstaat i m Schrifttum umgekehrt zur Rechtfertigung „unabhängiger Funktionsausübung" herangezogen w i r d 1 2 . Das ist für Verwaltungsaufgaben, die, w i e etwa Prüfungsentscheidungen, ausschließlich aufgrund eigener Sachgesetzlichkeiten wahrzunehmen sind, sicherlich richtig. Noch über diese Fälle hinaus w i r d dem Rechtsstaat — i n liberaler T r a d i t i o n — entnommen, daß die politische Entscheidungsgewalt des Staates i m Zweifel zugunsten einer autonomen Wirtschafts- u n d Sozialordnung zurückzutreten habe 1 8 . Indessen braucht hier nicht untersucht zu werden, w i e w e i t diese A u f fassung i m sozialen Rechtsstaat i. S. des Grundgesetzes eine Stütze findet 14. Jedenfalls scheint die rechtsstaatliche Komponente des Grundgesetzes allein die Frage nach der F i x i e r u n g der Sachverantwortung der Regierung noch nicht abschließend zu beantworten.
Der entscheidende Ansatzpunkt für die Lösung des Problems ergibt sich aus der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes. Allerdings folgt die verfassungsrechtliche Festlegung der Sachverantwortung der Regierung noch nicht aus dem Gebot demokratischer Legitimität allen staatlichen Handelns (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG) 1 5 . Denn diese Legitimität w i r d von Verfassungs wegen nicht erst durch ministerielle Weisungsbefugnisse vermittelt, sondern bereits durch die Anvertrauung des öffentlichen Amtes und die Gewährleistung rechtmäßiger Amtsausübung 1 6 . Vielmehr werden die Leitungsinstitutionen i n ihrer Dispositionsfreiheit über die Sachverantwortung der Regierung durch die demokratische Mitbestimmung der Aktivbürgerschaft 1 7 beschränkt. I n einer autoritären Ordnung des Regierungsprozesses 17 * sind die Leitungsinstitutionen grundsätzlich berechtigt, i m Rahmen der Verfassung die ihnen opportune Politik m i t den ihnen opportunen M i t t e l n zu verfolgen. Delegationsverbote ergeben sich dann lediglich aus speziellem Verfassungsrecht, etwa aus der Entscheidung für eine hierarchische Ordnung der vollziehenden Gewalt 1 8 . Oder aber es w i r d aufgrund der Repräsentationsideologie ein von den akklamierten Führungsorganen umfassend „darzustellender" Volkswille fingiert 1®, so daß jede Dele12
P. Schneider, Gutachten S. 24 f.; Fichtmüller, AöR 91, S. 340 ff. Franz Mayer, Die V e r w a l t u n g von B u n d u n d Ländern, a.a.O., S. 50 f., meint, daß „der Rechtsstaat unseres Verständnisses" nicht mehr auf rechtsfähige Verwaltungseinheiten verzichten könne, „die aus verfassungs- u n d gesellschaftspolitischen (!) Erwägungen eben keiner Staatsaufsicht unterliegen dürfen". 14 Z u m sozialen Rechtsstaat i. S. des Grundgesetzes s. insbes. Hesse, Rechtsstaat, a.a.O., S. 71 ff.; Ders. Grundzüge des Verfassungsrechts S. 74 ff. 15 So jedoch Vorbrugg, Unabhängige Organe der Bundesverwaltung S. 275 f. 18 S. o. § 14 m i t A n m . 26. 17 S. o. § 13, 3. 17 » S. o. § 13 m i t A n m . 53. 18 S. o. § 10 m i t A n m . 10. 18 S. o. § 9, 2. e); § 13, 3. m i t A n m . 48 ff. 18
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4. Teil: Zuständigkeitsvereinbarungen
gation die „Einheit des Volkswillens" durchbrechen würde 2 0 . Demgegenüber ist m i t der demokratischen Hegierungsform eine Fixierung der Sachverantwortung der Leitungsinstitutionen verbunden, die nach inhaltlichen Kriterien gestuft ist. I n den Wahlen zum Bundestag hat das Grundgesetz die „politische Willensbildung des Volkes" (Art. 21 Abs. 1 GG) als Ausübung eines — staatsleitenden — Amtes institutionalisiert {Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Aufgrund dieses Amtes entscheidet die Aktivbürgerschaft zwischen politischen Alternativen. Den gewählten Organwaltern der übrigen staatsleitenden Institutionen (Parlament und Regierung) obliegt es, diese Wahlentscheidung zu verwirklichen; kraft ihres besonderen Verfassungsauftrags zur politischen Gestaltung (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) obliegt es ihnen aber auch, die Wahlentscheidung unter Berücksichtigung eigener Vorstellungen und neuer Situationen zu konkretisieren und fortzubilden 21 . Infolge dieser oligarchischen Komponente befinden sich die Leitungsinstitutionen des gegliederten Regierungssystems des Grundgesetzes nicht i n jener Rolle bloßer Werkzeuge des souveränen Volkswillens, die den Regierungsinstitutionen i n der identitären Demokratie Rousseaus zugewiesen ist 2 2 . Die konkrete Synthese der Plebiszitären und der oligarchischen Komponente des Regierungsprozesses muß sich hiernach i n der konkreten Ausübung der staatsleitenden Ämter vollziehen. Aus diesem Grunde kann den Inhabern dieser Ämter nicht durch Modifizierungen der Zuständigkeitsordnung von vornherein die Möglichkeit genommen werden, der Wahlentscheidung Geltung zu verschaffen. I h r Entscheidungsspielraum darf daher nicht enger sein als der Entscheidungsgehalt der Wahlen der Aktivbürgerschaft. Maßgebend für den Umfang der verfassungsrechtlichen Fixierung der Sachverantwortung der Regierung ist somit die Reichweite dieses Entscheidungsgehalts. Von der verfassungsrechtlich gebotenen Mitbestimmung der Aktivbürgerschaft ausgeschlossen sind zum einen jene Institutionen, die die Verfassung ausdrücklich durch Unabhängigkeitsgarantien (z. B. Art. 5 Abs. 1, 87 Abs. 2, 97, 114 Abs. 2 S. 1 GG) gegenüber der demokratisch legitimierten politischen Entscheidungsgewalt abgeschirmt hat. Zum anderen erstreckt sich der Entscheidungsgehalt demokratischer Wahlen nur auf politische Angelegenheiten. Denn die Wählerschaft hat über unterschiedliche Konzeptionen für vordringliche Sachfragen und über die Maßgeblichkeit der von den Parteien formulierten grundlegenden Maßstäbe der Gemeinwohlinterpretation zu entscheiden 28 . Damit wer10
Rudimente dieser Auffassung kommen noch i n der generellen u n d formalen F i x i e r u n g der parlamentarischen Gesetzgebungsbefugnisse zum Ausdruck, vgl. o. § 21, 1. m i t A n m . 1. 81 S. o. § 13, 3. m i t A n m . 76, 82. 28 S. o. § 13, 3. m i t A n m . 21, 75. 28 S. o. § 13, 3.
§21 Die Fixierung der Sacherantwortung
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den von der Wahlentscheidung jene erheblichen Entscheidungsspielräume i m staatlichen Ämterwesen erfaßt, die nach Maßgabe bestimmter— umkämpfter — Konzeptionen über die rechte Ordnung des Gemeinwesens ausgefüllt werden. Das aber sind die Kompetenzen zu politischer Gestaltung 24 . Jede Beschränkung dieser Befugnisse zu politischer Entscheidung verkürzt die Reichweite des verfassungsgesetzlichen Entscheidungsgehalts der demokratischen Wahlen. Für derartige Beschränkungen bedarf es daher besonderer Ermächtigungen der Verfassung selbst 25 . Für das Parlament ist dieses Ergebnis unerheblich, da seine Gesetzgebungszuständigkeiten ohnehin von Verfassungs wegen formal, ohne inhaltliche Abstufung, fixiert sind 2 6 . Maßgebend ist dieses Ergebnis jedoch für die Dispositionsfreiheit der Leitungsinstitutionen über die Sachverantwortung der Regierung, insbesondere für die Delegierbarkeit ihrer Entscheidungsbefugnisse. Gegen diese Festlegung der Regierungszuständigkeiten durch die richtungbestimmende Entscheidung der A k tivbürgerschaft läßt sich nicht einwenden, die demokratische Willensbildung der Aktivbürgerschaft erreiche die Regierung nur nach Maßgabe der parlamentarischen Verantwortung 2 7 . Denn die vollziehende Gewalt ist vom Grundgesetz nicht — etwa gleich dem monarchischen Beamtenstaat — als ein autokephaler Apparat verfaßt worden, der lediglich speziellen, verfassungsgesetzlich zugelassenen Einflußnahmen der Aktivbürgerschaft und des Parlaments ausgesetzt ist. Vielmehr sind Regierung und Parlament gleichermaßen Leitungsinstitutionen eines komplexen Systems demokratisch mitbestimmter Ausübung der staatsleitenden Funktion (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Erst innerhalb dieses Systems kommt die Eigengesetzlichkeit der Regierung zur Geltung: ihr besonderer Verfassungsauftrag zu politischer Gestaltung (i. S. des oligarchischen Moments des politischen Prozesses), ihre Freistellung vom „Zugriffsrecht" der Legislative 2 8 innerhalb des durch die Gewaltenteilung geschützten Kernbereichs ihrer Kompetenzen sowie ihre (und des Parlaments) Dispositionsfreiheit über die unpolitische Aufgabenerfül24
S. o. § 12, 1. m i t A n m . 6. Eine ähnliche materiale, am Begriff des Politischen ausgerichtete Begrenzung der verfassungsrechtlich fixierten Sachverantwortung der Regierung v e r t r i t t das Sondervotum von Mitgliedern des Brem. StGH., ZBR 1957 S. 237f.; zustimmend H. Schneider, ZBR 1957 S. 241, u n d BVerfGE 9, 268 (282); ähnlich Gross, J Z 1958 S. 71; Partsch, J Z 1960 S. 24; Evers, VerbändeVerwaltung-Verfassung, a.a.O. S. 51; Vorbrugg, Unabhängige Organe der Bundesverwaltung S. 256, u n d m i t Einschränkungen Fichtmüller, AÖR 91 S. 353 f. 28 S. o. § 21, 1. m i t A n m . 1. 27 So anscheinend Fichtmüller, AöR 91 S. 331 ff., 348 ff. 28 Böckenförde, Organisationsgewalt S. 84; Fichtmüller, AöR 91 S. 320. 25
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4. Teil: Zuständigkeitsvereinbarungen
lung, zu der die demokratische Komponente des Regierungssystems schweigt. Die hier dargestellten Grundsätze gelten nicht nur für den Verfassungsrechtskreis des Bundes. M i t der demokratischen Regierungsform gehört auch die Fixierung der politischen Sachverantwortung zur verfassungsmäßigen Ordnung i n den Ländern (Art. 28 Abs. 1 GG) 29 . Hierbei w i r d der Spielraum für die Landesverfassungsgesetzgeber durch das Leitbild demokratischer Mitbestimmung abgesteckt, das sich aus der grundgesetzlichen Verteilung der politischen Entscheidungsgewalt ergibt. I m demokratischen Bundesstaat des Grundgesetzes bildet daher die Sachverantwortung der Leitungsinstitutionen für die Erfüllung der politischen Aufgaben eine wesentliche Grenze der zuständigkeitsverändernden Zusammenarbeit 80 . M i t dem Begriff der politischen Sachverantwortung ist die Verfassungsinterpretation an entscheidender Stelle auf einen unbestimmten Begriff verwiesen. Allerdings sind unbestimmte Begriffe der Rechtsordnung i m allgemeinen 31 und dem Grundgesetz i m besonderen 82 durchaus geläufig. Auch hat die Rechtswissenschaft die „Auslegungsrisiken" erkannt, die m i t der Abgrenzung des justiziablen „Begriffskerns" eines unbestimmten Rechtsbegriffs von seinem „Begriffshof" 8 8 verbunden 29 S. o. § 15, 3. bei A n m . 71. F ü r eine Beschränkung der Anforderungen des A r t . 28 Abs. 1 G G i m Rahmen der bundesstaatlichen Zusammenarbeit spricht sich Bachof, Gutachten S. 59 ff., aus. Eine „Substanzschwäche" des Homogenitätsgebots i m Verhältnis der Länder zueinander fände jedoch allenfalls i n der Dispositionsfreiheit der Länder i m bündischen Bundesstaat eine zureichende Grundlage (s. o. § 19 A n m . 6). Die Zuordnung der Länder i n der einheitlich autorisierten B R D richtet sich indessen ausschließlich nach dem Grundgesetz u n d den v o n i h m abgesteckten Entscheidungsspielräumen. — I m Sinne strikter Geltung des A r t . 28 Abs. 1 G G zutreffend Forsthoff, Gutachten S. 33. 80 Eine verwandte Rechtslage besteht i n der Schweiz u n d i n den U S A insofern, als dort den regionalen Einheiten m i t Rücksicht auf die bundesstaatliche Machtverteilung das Recht zum freien Abschluß „politischer Verträge" entzogen u n d der K o n t r o l l e der zentralen I n s t i t u t i o n unterstellt worden ist. Z u A r t . 7 Abs. 1 Schweiz. B V s. Fleiner - Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht S. 163; zu A r t . 1 Section 10 Cl. 3 d. Verf. der U S A s. Schwartz , Commentary I S. 84; Thursby, Interstate Cooperation S. 4, 8 ff., 142. 81 Engisch, E i n f ü h r u n g i n das juristische Denken 3. Aufl. (1964) S. 108 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1960) S. 222 f.; Enneccerus Nipperdey, Allgemeiner T e i l des bürgerlichen Rechts 15. Aufl. 1. Bd. (1959) § 50 I I ; H.J. Wolff , Verwaltungsrecht I § 31 l e S. 146ff.; Bachof, J Z 1962 S. 304 f.; 1966 S. 441 ff. m. w . Nachw. 82 S.o. § 18 A n m . 6. Vgl. ergänzend die Kompetenznormen der GOBReg, die die Zuständigkeiten zum T e i l nach materialen K r i t e r i e n abgrenzen: V e r ordnungsentwürfe „ v o n besonderer politischer Bedeutung" (§ 15 I c ) ; „ A n g e legenheiten von allgemeiner innen- oder außenpolitischer Bedeutung" (§ 151); Empfang v o n Abordnungen „ i n besonderen Fällen" (§ 10). 88 Z u diesem Verfahren der Konkretisierung unbestimmter Begriffe vgl. insbes. BVerfGE 1, 167 (174); 10, 59; 13, 230 (233); 17, 172 (181); 17, 319 (330);
§ 21 Die Fixierung der Sachverantwortung
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sind 3 4 . Aber derartige Auslegungsrisiken bergen auch die Chance zu jeweils sachgerechter Entscheidung. Die Beschränkung der verfassungsrechtlichen Kontrolle auf den „Begriffskern" w i r d dem Gebot jener „broad interpretation" gerecht, die — dem Sinngehalt der staatlichen Ordnung gemäß — für die „Selbstgestaltung des Integrationsprozesses" Raum läßt 3 5 . Wenn die i m Zweifel zulässigen Zuständigkeitsvereinbarungen i m unbestimmten Begriff der Fixierung politischer Sachverantwortung eine Grenze finden, so verläuft diese Grenzlinie hiernach dort, wo der „Begriffskern" des Politischen festgestellt werden kann. I m übrigen geht die verfassungsrechtliche Kontrolle davon aus, daß die Praxis die Verfügungsbefugnis über Kompetenzen nur i n Anspruch nimmt, wenn ein Fall verfassungsgesetzlicher Fixierung politischer Sachverantwortung nicht vorliegt. D. h. der staatlichen Praxis w i r d die authentische Interpretation des „Begriffshofs" zugebilligt. Hierin liegt kein Rückzug auf die „normative Kraft des Faktischen". Denn die Normativität bleibt von der Faktizität unterschieden. Die verfassungsrechtliche Kontrolle spricht allerdings ihr Verdikt erst aus, wenn der eindeutig feststellbare „ K e r n " des unbestimmten Rechtsbegriffs berührt wird 3 ·. Als „politisch" erwiesen sich jene Entscheidungsspielräume, für deren Ausfüllung die A r t der Gemeinwohlinterpretation maßgebend ist. Das K r i t e r i u m politischer Sachverantwortung zwingt m i t h i n dazu, die A r t der übertragenen Entscheidungsbefugnisse zu ermitteln. Auch ist zu untersuchen, inwieweit sachbezogene Faktoren die A r t der Aufgabenerfüllung vorzeichnen und wieweit sie Raum lassen für unterschiedliche Gemeinwohlinterpretationen. Die Entscheidung über die Mehrzahl der zuständigkeitsverändernden Vereinbarungen fällt hiernach nicht aufgrund formaler Subsumtion, sondern aufgrund sach- und problembezogener Rechtsanwendung 37 . BVerfG JZ 19Θ7 S. 491; BSGE 2, 201 (207); Werner Weber, W D S t R L 16, S. 83; Maunz - Dürig, Grundgesetz, A r t . 20 Rdnr. 81; A r t . 97 Rdnr. 35. 34 Köttgen, Das anvertraute öffentliche A m t , a.a.O., S. 132. — Diese A u s legungsrisiken versucht Grawert, Verwaltungsabkommen S. 154 A n m . 27, m i t der Empfehlung zu vermeiden, verfassungsrechtliche Allgemeinbegriffe abweichend v o n den „unbestimmten Gesetzesbegriffen" unter stärkerer Berücksichtigung formaler Gesichtspunkte u n d der Entstehungsgeschichte auszulegen, u m nicht „den Boden unter den Füßen" zu verlieren. Ob dieser Boden allerdings i n jedem F a l l der Boden problembezogener u n d sachgerechter Rechtsfindung ist, erscheint zweifelhaft (vgl. ο. § 1 m i t A n m . 10 ff.). 35
S. o. § 18 m i t A n m . 7 ff. Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 33, 127; s. ferner o. § 18 m i t A n m . 15. 36
37 Vgl. o. § 1. — F ü r die Berücksichtigung des sachlichen Materials u n d die Herausarbeitung der rechtserheblichen Gesichtspunkte u n d Argumente ist methodisch vorbildlich das „Apothekenurteil" des BVerfG, BVerfGE 7, 377 (387 ff., 413 ff.).
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4. Teil: Zuständigkeitsvereinbarungen
Für die Rechtsfindung anhand des Maßstabs politischer Sachverantwortung ist es ferner eigentümlich, daß die gesuchte Grenzlinie zwischen zulässiger und unzulässiger Zuständigkeitsvereinbarung flexibel ist. Das ergibt sich aus den Kriterien des Politischen. Zunächst umkämpfte staatliche Aufgaben können nach Jahren „entpolitisiert" sein, weil sämtliche i n der Gesellschaft relevant vertretenen Gemeinwohlinterpretationen hinsichtlich des Ziels und der A r t und Weise der Aufgabenerfüllung übereinstimmen, so daß die Aufgabenerfüllung nur noch ihren eigenen (unpolitischen) Sachgesetzlichkeiten folgt. Die Sachverantwortung muß dann nicht mehr wegen der demokratischen Mitbestimmung und Kontrolle verfassungsrechtlich festgelegt werden. Denn für die Aufgabenerfüllung sind spezifisch politische Entscheidungsmaßstäbe nunmehr ohne Bedeutung. Die Aufgabe ist ein legitimer Gegenstand zuständigkeitsverändernder Zusammenarbeit geworden 38 . Entscheidungsspielräume, die von unterschiedlichen, umkämpften Gemeinwohlvorstellungen ausgefüllt werden, fehlen i n der gesetzesausführenden Verwaltung, soweit lediglich gesetzgeberische Vorentscheidungen zu vollziehen sind. Sie fehlen ferner i n der Rechtspflege, deren Unabhängigkeit von unterschiedlichen Gemeinwohlinterpretationen, also von politischen Wertungen, überdies i n A r t . 97 GG ausdrücklich garantiert ist. Unpolitisch ist sodann jegliche Verwaltungstätigkeit, die sich ausschließlich an sachrationalen Maßstäben auszurichten hat 3 9 . Von der verfassungsgesetzlichen Fixierung politischer Sachverantwortung nicht erfaßt sind hiernach beispielsweise die Rechnungsprüfung 40 , pädagogisch-wissenschaftliche Prüfungsentscheidungen, die Eich- und Katasterverwaltung, Teilbereiche der Gesundheitsverwaltung, die Jagd-, Forst- und Fischereiverwaltung, die Führung von Schiffsregistern, Vollzugsaufgaben der Wasser- und Schiffahrtsverwaltung, polizeiliche, zumindest kriminalpolizeiliche, bergpolizeiliche und wasserschutzpolizeiliche Zuständigkeiten, die Versicherungsaufsicht, der Straßen- und Wasserstraßenbau i m Rahmen feststehender Raumordnungsentscheidungen, die Prüfung von Baustoffen, die Ausspielung von Lotterien, die Haushalts- und Wirtschaftsprüfung, das Ausbildungswesen und die Forschung insoweit, als es sich nicht um Fragen der 88 Lerche, W D S t R L 21, S. 100, Ls. 4, weist zutreffend darauf hin, daß bei zunehmender sachrationaler Uniformierung die Frage, w e r handelt, gleichgültig w i r d . 89 Vgl. hierzu Fichtmüller, AöR 91, S. 310 ff., 342 ff.; Vorbrugg, Unabhängige Organe der Bundesverwaltung S. 288 f. 40 Soweit nicht die Auslegung speziellen Verfassungsrechts ergibt, daß die Rechnungsprüfung i n die ausschließliche Zuständigkeit bestimmter I n s t i t u tionen fällt (zum Rechnungshof des Bundes s. A r t . 114 Abs. 2 S. 1 GG), sind Delegationen auf diesem Gebiet zulässig. Zumindest liegt k e i n Verstoß gegen die Grundsätze des demokratischen Bundesstaates vor (a. Α. H. Schneider, Gutachten S. 26, f ü r den F a l l des § 24 Abs. 3 StV ZDF, Nds. GVB1. 1962 S. 10).
§ 21 Die Fixierung der Sachverantwortung
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Struktur und der Aufgabenprioritäten handelt, schließlich Personalentscheidungen, die sich auf unpolitische Angelegenheiten beziehen, etwa die Bestellung der Mitglieder von Prüfungsämtern und insbesondere die Anvertrauung des Kichteramtes, deren Herauslösung aus der Leitungsgewalt das Verfassungsrecht ausdrücklich durch Anordnung oder Zulassung von Richterwahlausschüssen unterstreicht (Art. 95 Abs. 3, 96 Abs. 3 GG, 29 Abs. 3 Vorl. Nds. Verf.). Zuständigkeitsvereinbarungen, die diese Aufgabenbereiche betreffen 41 , sind daher auch insoweit zulässig, als sie die Sachverantwortung des Bundes oder eines Landes und damit die Bestimmungsmacht der politischen Leitungsinstitutionen dieser Einheiten ausschließen oder beschränken. Zweifel, ob das Verwaltungsermessen Raum läßt für spezifisch politische Entscheidungen, könnten entstehen etwa hinsichtlich der Leitung eines Landesversorgungsamts oder hinsichtlich der Flurbereinigungsverwaltung 4 2 . I n derartigen Zweifelsfällen folgt aus dem Grundsatz der „broad interpretation" die Zulässigkeit der Zuständigkeitsvereinbarung: I m Zweifel enthält die staatliche Praxis eine legitime — hier restriktive — Konkretisierung des Begriffshofs der „politischen" Sachverantwortung 4 3 . Kein Zweifel über die politische Natur der Sachverantwortung besteht hingegen, wenn, wie i m „Cuxhaven-Vertrag" zwischen Niedersachsen und Hamburg, sämtliche Planungs- und Verwaltungszuständigkeiten für ein bestimmtes Territorium zur treuhänderischen Wahrnehmung übertragen werden 4 4 . Denn m i t diesen Zuständigkeiten verliert das delegierende Land die Möglichkeit, eigene raumordnerische, insbesondere verkehrspolitische Initiativen i n diesem Gebiet zu entfalten. Politische Aufgaben sind allerdings nicht schlechthin der zuständigkeitsverändernden Zusammenarbeit entzogen. Entscheidend ist allein, daß die Leitungsinstitution des Zuständigkeitsträgers ihre politischen Wertungen und Initiativen verwirklichen können. Das ist aufgrund fortbestehender Weisungsrechte bei der Organleihe und der Auftragsverwaltung der Fall 4 5 . Über die Wahrnehmung politischer Aufgaben können die Leitungsinstitutionen ferner dann disponieren, wenn sie vor der Vereinbarung der Zuständigkeitsveränderung über ihre politischen Vorstellungen Einigkeit erzielt haben und die m i t der Wahrnehmung zu betrauende Verwaltungseinrichtung an diese Vorentscheidung bin41
Vgl. die Nachweise i m 1. T e i l (§ 2). S. o. § 2 A n m . 16, 39. 43 S. o. § 20 m i t A n m . 32. 44 Diese Bestimmung des § 4 I I des Cuxhaven-Vertrages (oben § 2 A n m . 19, 25) ist nicht i n die Verfassungsänderung einbezogen worden. Z u r Möglichkeit verfassungskonformer Gestaltung des Vertrages s. u. A n m . 50. 45 S. o. § 2, 1. m i t A n m . 4 ff. 42
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4. Teil: Zuständigkeitsvereinbarungen
den. I n einem solchen F a l l w i r d die politische Sachverantwortung nicht delegiert. Vielmehr füllen die verantwortlichen Leitungsinstitutionen die politischen Entscheidungsspielräume aufgrund rechtlich nicht eingeschränkter Willensbildung selbst aus 46 . Die Festlegung ihrer politischen Entscheidung ist nicht mehr eine Frage der Veränderung der Zuständigkeitsordnung, sondern eine Frage der schlichten vertraglichen Bindung und ihrer Grenzen. Da politische Entscheidungen konkrete, situationsbezogene Entscheidungen sind, deren Sinngehalt von den jeweiligen Sozialbedingungen und Wertungen abhängt, w i r d eine solche vertragliche Festlegung politischer Entscheidungen allerdings i m Regelfall befristet oder kündbar sein müssen 47 . Diese Form der politischen Koordinierung, die die verfassungsrechtlich fixierten Entscheidungsspielräume durch faktische Einigung unter Wahrung rechtlicher Selbständigkeit und Verantwortung ausfüllt, entspricht der Struktur des demokratischen Bundesstaates des Grundgesetzes. Denn dieser ist einerseits als ein vielfältig gegliederter Staat auf die Differenzierung des politischen Prozesses, auf die Selbständigkeit der Initiativen und Verantwortlichkeiten angelegt. Zum anderen ist er als ein Funktions- und Wirkungszusammenhang zu verstehen, der nicht nur durch sachgerechte Kompetenzverteilung herzustellen ist, sondern ggf. der Verständigung und des Ausgleichs bedarf 4 8 . Diese Grundstruktur des gegliederten Staates zieht auch der Reichweite der demokratischen Mitbestimmung der Aktivbürgerschaft insoweit eine immanente Grenze, als die Leitungsinstitutionen bei der ihnen anvertrauten Konkretisierung der Wahlentscheidung und unter Wahrung ihrer grundsätzlichen Bindung an diese Entscheidung die Herstellung der funktionalen Einheit des Gesamtstaats als legitimes Motiv berücksichtigen dürfen. Die Spannung zwischen Verantwortungsteilung und Funktionseinheit i m demokratischen Bundesstaat läßt sich allerdings nur zum Teil durch freiwillige politische Koordinierung aufheben. Das liegt in der Natur der politischen Aufgaben. Je vielgestaltiger und langfristiger die fraglichen Aufgaben sind, desto weniger werden die Entscheidungsspielräume i n den Koordinierungsverhandlungen, die der zuständigkeitsverändernden Vereinbarung vorausgehen, ausgefüllt werden können. I n diesen Fällen muß entweder auf die Koordinierung verzichtet oder ihre Zulässigkeit durch Verfassungsänderung herbeigeführt werden. M i t 48 Z u r Problematik einer formal freien Entscheidung bei bestehendem politischen oder sachgesetzlichen Zwang zum Kompromiß s. o. § 3 m i t A n m . 8. 47 H i e r v o n zu unterscheiden ist die K ü n d b a r k e i t von Zuständigkeitsvereinbarungen ohne vereinbarte Festlegung des Inhalts der Aufgabenerfüllung: Sie ändert am Verlust der Sachverantwortung nichts; s.o. § 4 m i t A n m . 20f. 48 S. o. § 14 m i t A n m . 28.
§ 21 Die Fixierung der Sachverantwortung
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Recht hielt es daher die Bundesregierung für erforderlich, für das Zusammenwirken von Bund und Ländern bei der Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur und der Agrarstruktur sowie beim Ausbau und Neubau von wissenschaftlichen Hochschulen eine besondere verfassungsgesetzliche Ermächtigung zu empfehlen 49 . Von der Möglichkeit, politische Aufgaben durch rechtlich frei ausgehandelte Koordinierung der politischen Vorstellungen zu entpolitisieren und sie dadurch der zuständigkeitsverändernden Zusammenarbeit zugänglich zu machen, ist beispielsweise bei der Koordinierung der Planungen für das Umland von Bremen und Hamburg Gebrauch gemacht worden. Die beteiligten Länder haben ihre planerischen Vorstellungen durch gemeinsame, rechtlich nicht institutionalisierte und daher m i t dem Risiko des Scheiterns verbundene Erarbeitung von Richtlinien koordiniert. Die daraufhin gebildeten gemeinsamen Aufbaufonds sind nach Maßgabe dieser Richtlinien zu verwalten. Die Beschränkung der Sachverantwortung, die m i t der Einräumung wechselseitiger Ingerenzen bei der Verwaltung der Fonds eintritt, betrifft, soweit sich dies dem veröffentlichten Material entnehmen läßt, nicht mehr spezifisch politische Entscheidungsspielräume 50 . Anhand dieser Gesichtspunkte ist auch die Verfassungsmäßigkeit der Hochschule
für
Verwaltungswissenschaften
Speyer
zu beurteilen51. Die
Entscheidung über die grundlegende Konzeption der verwaltungswissenschaftlichen Ausbildung und Fortbildung ist eine politische Entscheidung — i m K e r n ebenso wie die Entscheidung über Struktur und gesellschaftliche Funktion der allgemeinen wissenschaftlichen Hochschulen. Die Errichtung einer gemeinsam finanzierten und verwalteten Hochschule setzte daher übereinstimmende Vorstellungen über Aufgabe und Organisation der verwaltungswissenschaftlichen Ausbildung und Fortbildung voraus. Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung dieser politischen Einigung ist es allerdings unerheblich, ob möglicherweise einige Länder aufgrund der pragmatischen Überlegung, daß sie ohne die Beteiligungsverwaltung auf die Wahrnehmung dieser Aufgabe ganz verzichten müßten, ihren rechtlichen Entscheidungsspielraum nicht v o l l ausgeschöpft und statt dessen einem Kompromiß zugestimmt haben". 49 A r t . 91 a I GG i. d. F. des RegE eines Finanzreformgesetzes, BTDrucks. V/2861. 50 S. o. § 3 A n m . 14. — I n solcher vorangehender Konkretisierung der beabsichtigten Kompetenzausübung hätte auch die Möglichkeit zu verfassungskonformer Gestaltung des Cuxhaven-Vertrages gelegen (vgl. o. § 21 m i t A n m . 44). Dem Delegatar wäre lediglich die Aufgabe zu übertragen gewesen, die gemeinsam erarbeitete Verkehrs- u n d hafenpolitische Konzeption nach sachrationalen, insbesondere betriebswirtschaftlichen Maßstäben auszuführen. 51 S. o. § 2 m i t A n m . 29. 52 Vgl. o. § 21 m i t A n m . 46, 48.
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4. Teil: Zuständigkeitsvereinbarungen
Denn m i t solchen Erwägungen setzen sie sich i m Regelfall noch nicht über die richtungsbestimmende Gemeinwohlinterpretation der Mehrheit der Aktivbürgerschaft hinweg. A u f der Grundlage der erzielten politischen Übereinstimmung war es zulässig, daß der Bund und die beteiligten Länder für die Verwaltung der Hochschule einander Ingerenzen eingeräumt haben. Denn die gemeinsame Wahrnehmung ihrer Aufgaben auf dem Gebiet der verwaltungswissenschaftlichen Aus- und Fortbildung betrifft nach der vorausgegangenen politischen Einigung nicht mehr ihre politische Sachverantwortung. Eine grundlegende Umgestaltung der Hochschule — etwa nach dem Vorbild der französischen Ecole Nationale d'Administration — wäre allerdings wiederum eine politische Entscheidung. Eine solche Entscheidung haben der Bund und die einzelnen Länder jeweils selbständig i n voller verfassungsmäßiger Verantwortung zu treffen — gegebenenfalls unter Ausübung ihrer Kündigungsrechte. I m Abkommen über die Finanzierung neuer wissenschaftlicher Hochschulen vom 4. Juni 1964 M haben die Länder die gemeinsame Finanzierung „eines zusätzlichen Investitionsprogramms" vereinbart und erklärt, sie seien hierbei „gewillt, neuen Gedanken für die Gestaltung der Hochschulen Raum zu geben, i n der Erwartung, damit auch die Neuordnung der bestehenden Hochschulen zu fördern". Welche der vielfältigen und teilweise einander ausschließenden „neuen Gedanken" verwirklicht werden sollen, ist nicht festgelegt worden. Diese Fragen der Hochschulreform, die sogar i n den Kernbereich grundgesetzlich fixierter Leitungsverantwortung der Länder hineinreichen, fallen somit in die Zuständigkeit des i m Abkommen vorgesehenen Verwaltungsrats. Die Länder haben folglich — ohne die erforderliche verfassungsrechtliche Ermächtigung — ihre von Rechts wegen unbeschränkte und durch unterverfassungsgesetzliche Normen nicht beschränkbare politische Sachverantwortung delegiert 5 4 . Nur unzureichend festgelegt sind auch die gemeinsamen Förderungsmaßnahmen nach dem Königsteiner Staatsabkommen ss. Aufgrund dieses Abkommens werden die Finanzmittel von einem gemeinsamen Ausschuß verteilt. Er hat damit über die Prioritäten der staatlichen Forschungsförderung zu entscheiden, also etwa über die Rangfolge der Förderungswürdigkeit von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, von Grundlagenforschung und industriell oder militärisch verwertbarer Forschung. Solche Entscheidungen beruhen auf bestimmten Vorstellungen über die zu verwirklichende — oder zu konservierende 58
S. o. § 3 m i t A n m . 12. Z u weiteren Einwänden gegen das A b k o m m e n v o m 4. 6. 1964 s.o. § 19 m i t A n m . 12. 55 S. o. § 3 m i t A n m . 10. 54
§21 Die Fixierung der Sachverantwortung
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— Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, d. h. auf politischen Wertungen. Über diese politische Sachverantwortung haben die Vertragspartner des Königsteiner Abkommens zu Unrecht disponiert. Problematisch ist auch die Koordinierung der auswärtigen K u l t u r politik durch das „Lindauer AbkommenDie nach Maßgabe dieser Vereinbarung abgeschlossenen Kulturabkommen sind nicht Verträge der Länder, für die die Bundesingerenz gemäß Art. 32 Abs. 3 GG gilt, sondern Verträge des Bundes. Seine Vertragsabschlußkompetenz ist durch die vertragliche Regelung, daß er das Einverständnis der Länder zu erbitten habe, eingeschränkt, ohne daß eine verfassungsgesetzliche Ermächtigung hierzu besteht. Wollte man umgekehrt für die auswärtige K u l t u r p o l i t i k eine Transformationskompetenz der einzelnen Länder annehmen und sie als maßgebend für die verfassungsrechtliche Verteilung der Sachverantwortung ansehen, so wäre durch die generelle Pflicht zur Herbeiführung eines allseitigen Einverständnisses die kulturpolitische Sachverantwortung der einzelnen Länder eingeschränkt. Ob eine stillschweigende Gestattung solcher Ingerenzen angenommen werden darf, ist angesichts der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Fixierung der politischen Sachverantwortung und der ausdrücklichen Ausnahme von diesem Grundsatz i n A r t . 32 Abs. 3 GG zumindest zweifelhaft — nicht zuletzt auch m i t Rücksicht auf die Möglichkeit extensiver Interpretation der „auswärtigen Gewalt" des Bundes 57 . Die verfassungsrechtliche Fixierung der politischen Sachverantwortung hat, das zeigte der vorstehende kurze Überblick über ihre Anwendung, Konsequenzen in zwei Richtungen: Sie begünstigt die — i m Regelfall unpolitische — rationalisierende Zusammenarbeit von Bund und Ländern (oben § 2), und sie zieht der — i m Regelfall politischen — koordinierenden Zusammenarbeit enge Schranken. Dieses Ergebnis ist nicht zufällig. Es bringt die zwei leitenden Gesichtspunkte zum Ausdruck, die sich i m demokratischen Bundesstaat des Grundgesetzes aus dem bundesstaatlichen Zuordnungsrecht ergeben: die funktionale Einheit des staatlichen Wirkungszusammenhangs und die (regionale) Gliederung der staatlichen Verantwortung 5 8 . Dem Ziel, die Einheit des Gesamtstaates durch rationelle, ggf. grenzüberschreitende Verwaltungsund Gerichtsorganisation zu gewährleisten, dürfen die bundesstaatlichen Institutionen ihre Sachverantwortung i n unpolitischen Angelegenheiten weitgehend unterordnen. Weder eine „Einheit der Staats56
S.o. §3 m i t A n m . 20f. Z u r Auslegung der A r t . 32, 73 Nr. 1 GG unter dem Gesichtspunkt der Bundeskompetenz s. Mosler, K u l t u r a b k o m m e n des Bundesstaates, ZaöRuVR Bd. 16 (1955/56) S. I f f (7); G.-H. Riedel, Die auswärtige Gewalt nach dem Grundgesetz (1967) S. 246ff.; Christoph Hirsch, K u l t u r h o h e i t u n d Auswärtige Gewalt (1968) S. 161 f. 58 S.o. § 15, 3.; 16, 1. 57
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4. Teil: Zuständigkeitsvereinbarungen
gewalt" noch eine „Unveräußerlichkeit der Rechte des Volkes" hindern sie an sachdienlichen Zuständigkeitsvereinbarungen. Das von der herrschenden Lehre behauptete generelle Delegationsverbot (oben § 4) besteht nicht. A u f der anderen Seite ist die Fixierung der politischen Sachverantwortung die notwendige Folge der Entscheidung des Grundgesetzes für eine demokratische Regierungsform m i t bundesstaatlicher Gliederung. Eine solche Ordnung des staatlichen Ämterwesens hat unter den Bedingungen der territorial homogenen Industriegesellschaft vor allem den Sinn, die Chancen für die demokratische Einflußnahme der A k t i v bürgerschaft auf die staatliche Aufgabenerfüllung zu verbreitern (oben § 15, 3.). Diesem Sinngehalt des „demokratischen Bundesstaates" würde es widerstreiten, wenn Parlamente und Regierungen sich über die verfassungsmäßigen Äußerungen politischer Mitbestimmung der A k t i v bürgerschaft nach eigenem Dafürhalten hinwegsetzen dürften 6 9 . Deshalb kennt das Grundgesetz auch keine Befugnis der Leitungsinstitutionen, ihre — politischen — Kompetenzen „ i n ein gemeinsames Unternehmen einzubringen", sich damit institutionell dem rechtlichen Zwang zum Kompromiß zu unterwerfen und die aus dem demokratischen W i l lensbildungsprozeß i n den einzelnen Ländern hervorgegangenen politischen Konzeptionen preiszugeben 60 . Die verfassungsrechtliche Reichweite der politischen Einflußnahme der Aktivbürgerschaft richtet sich nicht nach dem Ergebnis von Koordinierungsverhandlungen, sondern nach der Verfassung. Die Abwägung zwischen der demokratischen M i t bestimmung und der Leistungsfähigkeit des politischen Entscheidungssystems i m Bundesstaat ist ausschließlich eine Aufgabe des verfassungsändernden Gesetzgebers. I h n t r i f f t daher auch die Verantwortung für eine eventuelle Zurückdrängung demokratischer Mitbestimmung zugunsten effektiver Koordinierung der vielfältigen politischen Initiativen i m Bundesstaat. Eine „Staatsidee des Kooperativen Föderalismus" 61 , die über das hier dargestellte differenzierte Zuordnungsrecht hinausgeht, kann i h m diese Verantwortung nicht abnehmen. Denn sie hat i m deutschen Verfassungsrecht keinen Niederschlag gefunden. Ohne eine verfassungsgesetzliche Institutionalisierung von „Gemeinschaftsaufgaben" 82 müssen sich die Länder — ggf. unter Beteiligung des Bundes — i m Bereich der politischen Aufgabenerfüllung m i t (rechtlich) nicht effektiven Kooperationsformen behelfen, u m die Funktions- und Wirkungseinheit des Gesamtstaates herzustellen 63 . Nur die freiwillige, nicht durch 59 89 81 82 88
Vgl. o. § 4 m i t A n m . 34, 35; § 15 m i t A n m . 74. S. o. § 4 m i t A n m . 26 ff.; 48 ff. S. o. § 15, 3. m i t A n m . 53. Vgl. Köttgen, JöR I I S . 303 ff., sowie oben § 15 m i t A n m . 52. Vgl. o. § 3 nach A n m . 7; § 15, 3. nach A n m . 59; § 21 nach A n m . 45.
§ 21 Die Fixierung der Sachverantwortung
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den rechtlichen Zwang zum Kompromiß institutionalisierte Koordinierung läßt bei sachlicher Unvereinbarkeit der politischen Konzeptionen das Recht zur eigenverantwortlichen Entscheidung unberührt und bewahrt damit zumindest von Rechts wegen die Maßgeblichkeit der demokratisch fundierten politischen Willensbildung i m Bund und i n den einzelnen Ländern. 3. Entdemokratisierte Aufgabenerfüllung Spezielle Vorschriften des Verfassungsrechts können i n den Grenzen des A r t . 79 Abs. 3 GG die politische Sachverantwortung der Leitungsinstitutionen und m i t ihr die demokratische Mitbestimmung der Wählerschaft beschränken. Solche Vorschriften räumen zugleich eine wesentliche Schranke der zuständigkeitsverändernden Zusammenarbeit aus. Ihnen ist daher i m folgenden nachzugehen. Die staatliche Aufgabe, Rundfunk- und Fernsehsendungen zu veranstalten, ist eine politische Aufgabe. Das ergibt sich bereits aus den unmittelbaren und nachhaltigen Konsequenzen, die die A r t und Weise der Vermittlung und Nichtvermittlung von Informationen und Meinungen auf die politische Willensbildung des Volkes haben. I m Interesse eines offenen, freiheitlichen politischen Prozesses hindert A r t . 5 Abs. 1 GG die jeweiligen Inhaber der staatsleitenden Ämter daran, die Meinungsmedien zum eigenen Vorteil einzusetzen und die letzte Wahlentscheidung der Aktivbürgerschaft zu konservieren 64 . A r t . 5 Abs. 1 GG zwingt folglich den Staat zur dezentralisierten Verwaltungsgliederung, d. h. zur Durchbrechung des „geschlossenen Stromkreises einer auf Befehl und Gehorsam gegründeten Hierarchie" 6 5 . Der Bildung gemeinschaftlicher Rundfunk- und Fernsehanstalten der Länder stehen daher weder die politische Sachverantwortung der Regierung i m allgemeinen noch ihre parlamentarische Verantwortung i m besonderen entgegen 66 . Unter diesen Gesichtspunkten wäre auch zu prüfen, welche Grenzen die Freiheit der Kunst (Art. 5 Abs. 3 GG) der subventionierenden K u l t u r politik des Staates zieht 6 7 . Jedenfalls ist es i m Hinblick auf die verfassungsmäßige Sachverantwortung der Leitungsinstitutionen nicht zu beanstanden, wenn die Filmbewertung, die zum Zwecke der steuerlichen Begünstigung durchgeführt wird, infolge der Organisation der F i l m 64
BVerfGE 12, 205 (261); Lenz, Rundfunkorganisation u n d öffentliche M e i nungsbildungsfreiheit, J Z 1963 S. 338 ff. « Köttgen, W D S t R L 16 S. 185. M Zutreffend Hesse, Der unitarische Bundesstaat S. 20 A n m . 81; Bachof, Gutachten S. 64. • 7 Vgl. hierzu Ridder, Freiheit der K u n s t nach dem Grundgesetz, Schriftenreihe der internationalen Gesellschaft f ü r Urheberrecht e . V . Bd.29 (1963) S. 11 ff., 23. 10 Hempel
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4. Teil: Zuständigkeitsvereinbarungen
bewertungsstelle Wiesbaden 68 der dirigierenden Einflußnahme der Landesregierungen entzogen ist. Die „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft" sind nach Maßgabe des A r t . 28 Abs. 2 GG gegen Sachentscheidungen der staatlichen Leitungsinstitutionen abgeschirmt. Beschränkungen der Gemeindezuständigkeiten berühren daher die politische Sachverantwortung der Landesregierungen nicht. Wieweit der Gesetzgeber die Verbindung — und damit zugleich die Beschränkung — politischer Initiativen der einzelnen Gemeinden zulassen darf, richtet sich allein nach A r t . 28 Abs. 2 GG. Unter dem Gesichtspunkt des demokratischen Bundesstaates begegnen jedenfalls zwischengemeindliche Planungsverbände, die Landesgrenzen überschreiten 69 , keinen Bedenken. Gleiches gilt für Delegationen auf dem Gebiet der Sozialversicherungsverwaltung 70 . Auch hier werden keine verfassungsmäßigen Entscheidungsspielräume der staatlichen Leitungsinstitutionen, einschließlich der Wählerschaft, beschränkt. Denn das Grundgesetz hat — soweit auf die demokratische Regierungsform i m Sinne des A r t . 20 Abs. 2 S. 2 GG abgestellt w i r d — die Sozialversicherungsverwaltung zugunsten der beteiligten gesellschaftlichen Gruppen „entdemokratisiert" (vgl. A r t . 87 Abs. 2 GG). V o n „Entdemokratisierung" ist hier deshalb zu sprechen, w e i l f ü r die demokratische Ausübung der Staatsgewalt gemäß A r t . 20 Abs. 2 S. 2 GG die M i t w i r k u n g der — n u r territorial begrenzten — Gesamtheit der wählenden A k tivbürgerschaft an der Regierungsfunktion charakteristisch ist. Soweit die Rechtsordnung darüber hinaus Chancen zu differenzierter u n d konkreter Mitbestimmung, zumal auf örtlicher Ebene (Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG), aber auch auf dem Gebiet des Arbeits-, Sozial- u n d Bildungswesens, eröffnet, trägt sie zwar dem verfassungsmäßigen L e i t b i l d des mündigen, seine U m w e l t verantwortlich mitgestaltenden Bürgers Rechnung 7 1 . Sie v e r w i r k l i c h t h i e r m i t jedoch ein anderes S t r u k t u r p r i n z i p als das der demokratischen Regierungsform i. S. des A r t . 20 Abs. 2 S. 2 G G 7 1 .
A r t . 87 Abs. 3 S. 1 GG scheint eine Generalermächtigung zur Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen an der staatlichen Verwaltung und damit zur Entdemokratisierung der Verwaltungsführung zu enthalten. Wenn es richtig sein sollte, daß die Sachentscheidung und die Verwaltungskontrolle durch gesellschaftliche Gruppen gleichwertig neben der Entscheidungsbefugnis der politischen Leitungsinstitutionen und ihrer wechselseitigen Kontrolle sowie der Einflußnahme der wählenden 68
S. o. § 2 m i t A n m . 28. § 4 Abs. 2 BBauG, B G B l . I 1960 S. 341. Z u m Problem der institutionellen Zuordnung dieser Planungsverbände s. o. § 20 m i t A n m . 4 ff. 70 S. o. § 2 m i t A n m . 61. 71 S. o. § 13, 2. m i t A n m . 31 ff. 72 Vgl. demgegenüber Sultan - Abendroth, Bürokratischer Verwaltungsstaat u n d soziale Demokratie (1955) S. 79, denen zufolge die Selbstverwaltung sozialer Gruppen i m Vordergrund der demokratischen Ordnung steht. 89
§ 21 Die Fixierung der Sachverantwortung
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Aktivbürgerschaft steht 7 3 , dann eröffnet sich auch auf diesem Gebiet für die zuständigkeitsverändernde Zusammenarbeit ein weites Feld. Ist die Regierung durch gesetzlich angeordnete „ministerialfreie Räume" 7 4 ohnehin i n verfassungsmäßiger Weise von der Sachentscheidung ausgeschlossen, so w i r d ihre verfassungsmäßige Sachverantwortung auch nicht verkürzt, wenn — nach dem Vorbild des „Zweiten Deutschen Fernsehens", der gemeinschaftlichen Sozialversicherungsverbände oder der Filmbewertungsstelle Wiesbaden — gesellschaftliche Gruppen mehrerer Länder an der autonomen Verwaltungsführung beteiligt werden. I n dieser praktischen Auswirkung stimmt die funktionelle Integration, die mit der gemeinschaftlichen Sachentscheidung verschiedener Gebietskörperschaften verbunden ist, überein m i t der funktionellen Integration, die i n der Zurückdrängung staatlicher Entscheidungsmacht durch gesellschaftliche Gruppen, d . h . durch Personalverbände, liegt. Beide Formen der funktionellen Integration „neutralisieren" politische Einzelaufgaben 75 ; beide bewirken notwendig eine Entdemokratisierung der staatlichen Aufgabenerfüllung 7 6 ; denn die demokratische Mitbestimmung i. S. des A r t . 20 Abs. 2 S. 2 GG beruht auf der Verantwortung der territorialen Gesamtheit der Aktivbürgerschaft für die Grundlinien der politischen Gestaltung des Gemeinwesens 77 . I n welchem Ausmaß der institutionalisierte Gruppeneinfluß i n der Verwaltung 7 8 Promotor bundesstaatlicher Zuständigkeitsvereinbarungen ist und sein darf, kann hier nicht untersucht werden. Ein wesentlicher Unterschied beider Problemkreise ist jedoch festzuhalten. Wenn gesellschaftlicher Druck, staatliche Praxis und möglicherweise auch das Grundgesetz i n Art. 87 Abs. 3 der funktionellen zu Lasten der territorialen Integration i n der öffentlichen Ordnung Raum verschaffen, so reagieren sie damit auf die Erstreckung sozialstaatlicher Initiativen auf 73
Dagtoglou, Der Private i n der V e r w a l t u n g als Fachmann u n d Interessenvertreter (1964) S. 158f.; Fichtmüller, AöR 91 S. 334 ff.; Ipsen, W D S t R L 24 S. 104 (speziell f ü r die nicht institutionalisierte Einschaltung der Verbände i n die staatliche Wirtschaftspolitik); anders Vorbrugg, Unabhängige Organe der Bundesverwaltung S. 288 ff. 74
Vgl. o. § 21 A n m . 8. Vgl. Köttgen, JöR 11 S. 305; Fichtmüller, AöR 91 S. 345 ff. 76 Vgl. o. § 13 m i t A n m . 93. 77 S. o. § 13 m i t A n m . 35, 68, 81. 78 Vgl. Werner Weber, Die Sozialpartner i n der Verfassungsordnung, a.a.O. S. 239 ff. (S. 250 ff. m. w. Nachw.); Ders., Staatsverwaltung u n d Selbstverwalt u n g i n der Gegenwart (1953) S. 23 f.; Köttgen, JöR 3 S. 106; E. R. Huber, Selbstverwaltung der Wirtschaft (1958) S. 45 ff.; Kölble, Sachverstand u n d Verantwortung i m H i n b l i c k auf die Aufgabenkomplikation i n der Ministerialverwaltung, i n : Sachverstand u n d Verantwortung, Schriftenreihe der Hochschule Speyer Bd. 30 (1966) S. 27 ff. (52 ff.). Z u vergleichbaren Erscheinungen i m amerikanischen Wirtschaftsrecht s. Ehmke, Wirtschaft u n d Verfassung S. 584, 587; Vorbrugg, Unabhängige Organe der Bundesverwaltung S. 110 ff. 75
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4. Teil: Zuständigkeitsvereinbarungen
ehedem private Vorbehaltsbereiche der Gesellschaft. Sie machen sich Hermann Hellers Postulat zueigen: „Je weiter der Rechtsstaat i n die Arbeits- und Güterordnung eindringt, desto notwendiger w i r d die Beseitigung der staatseigenen zugunsten einer Selbstverwaltung" 7 ®. D. h. m i t der Aussparung ministerialfreier Räume zugunsten gesellschaftlicher Selbstverwaltung definiert der Staat letztlich die Reichweite seiner eigenen Aufgabenverantwortung. M i t dem Aufgabentypus der „Förderung" — etwa der wissenschaftlichen Forschung und der landund forstwirtschaftlichen Erzeugung (Art. 74 Nrn. 13, 17 GG) — deutet das Grundgesetz selbst an, daß der Staat nicht sämtliche Gegenstände seiner Initiativen i n vollem Umfange zu reglementieren, also i n das Ministerialsystem einzufügen hat 8 0 . Die Verminderung der staatlichen Sachverantwortung ist daher Ausdruck der Entscheidung, daß die fragliche Angelegenheit insoweit eine „eigene Aufgabe" der zur M i t w i r k u n g berufenen Gruppen sei 81 . Von der Problematik solcher Bemessung der staatlichen Aufgabenverantwortung ist die Disposition über die staatliche Sachverantwortung i m Rahmen der bundesstaatlichen Zusammenarbeit unterschieden. Denn bei der Übertragung der Sachverantwortung von einer staatlichen Institution auf die andere hat der Staat bereits die Entscheidung getroffen, daß es sich nicht u m Angelegenheiten interessierter Gruppen handelt, sondern u m staatliche Aufgaben. A n dieser Stelle trennen sich die Probleme bundesstaatlicher Delegationen und staatlich institutionalisierter gesellschaftlicher Selbstverwaltung. Wenn i m Hinblick auf die M i t w i r k u n g der Gruppen i n der staatlichen Verwaltung die Grenzen der „ministerialfreien Räume" generell abgesteckt werden, so bezeichnen sie noch nicht ohne weiteres die Reichweite der politischen Sachverantwortung, die i m Verhältnis der staatlichen Leitungsinstitutionen zueinander gewahrt bleiben muß. Die Preisgabe der Sachverantwortung zugunsten anderer staatlicher Institutionen ist nicht gleichbedeutend mit der Entdemokratisierung zugunsten gesellschaftlicher Gruppen. Soweit allerdings die bundesstaatliche Zusammenarbeit speziell eine Aufgabe betrifft, die durch grundgesetzlich zugelassene M i t w i r k u n g gesellschaftlicher Gruppen zugleich entdemokratisiert wird, erweitert sich auch der Kreis verfassungsrechtlich statthafter Zuständigkeitsvereinbarungen. 79 Heller, Rechtsstaat oder Diktatur? S. 20. — Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Werner Weber, die Sozialpartner i n der Verfassungsordnung, a.a.O. S. 258 ff. 80 Z u r Reichweite staatlicher Aufgaben s. Peters, öffentliche u n d staatliche Aufgaben, a.a.O. S. 877 ff.; zu staatlich-gesellschaftlichen „Kondominien" s. Werner Weber, Die Sozialpartner i n der Verfassungsordnung, a.a.O. S. 252. 81 Zutreffend w i r d daher gefordert, daß die zur Selbstverwaltung berufenen Gruppen i n spezifischer Nähe zu der ihnen überlassenen Aufgabe stehen müssen; vgl. Köttgen, A r t . Selbstverwaltung, HdSW Bd. 9 S. 223; Vorbrugg, Unabhängige Organe der Bundesverwaltung S. 70.
§ 21 Die Fixierung der Sachverantwortung
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Die Entdemokratisierung durch institutionalisierten Gruppeneinfluß modifiziert zwar die Reichweite der politischen Leitungsverantwortung. Aber gerade als offene Veränderung der Zuständigkeitsordnung ist sie der verfassungsrechtlichen Kontrolle zugänglich, mag auch die Bestimmung der Grenzlinien i m einzelnen schwierig sein. Weniger kontrollierbar, für das überkommene Selbstverständnis demokratischer Verfassungen aber um so zentraler ist die Ablösung politischer Sachverantwortung der Verfassungsorgane durch den Sachverstand. Diese Entwicklung scheint ebenso wie die Beteiligung der Gruppen an der staatlichen Verwaltung eine Entwicklung zugunsten der zuständigkeitsverändernden Zusammenarbeit zu sein. Wenn die politische Sachverantwortung der Leitungsinstitutionen durch verfassungsrechtlich nicht fixierten Sachverstand ersetzt wird, so kann sie auch keine Schranke für Zuständigkeitsvereinbarungen mehr sein. Nicht zufällig stützt daher Geiger seine These, das (frühere) Projekt eines „Deutschen Gemeinschaftswerks" 8 2 könne ohne Verfassungsänderung verwirklicht werden, m i t dem Hinweis, die gemeinsame Willensbildung habe „immer i n Orientierung am Sachverstand" zu erfolgen 88 . Hier w i r d folgerichtig der Sachverstand zur Legitimierung der zuständigkeitsverändernden Zusammenarbeit herangezogen. Daß der Sachverstand schlechthin geeignet sei, die Grenzen der verfassungsrechtlich fixierten Sachverantwortung der Regierung und damit die Grenzen der bundesstaatlichen Zusammenarbeit hinauszuschieben, ist allerdings nicht selbstverständlich. Die Dominanz des Sachverstandes bedeutet noch nicht notwendig „Entpolitisierung" 8 4 der Aufgabenerfüllung und damit automatischen Fortfall der verfassungsmäßigen Fixierung politischer Sachverantwortung der Leitungsinstitutionen. Dem Sachverstand fallen vielmehr faktisch auch Entscheidungen zu, die die politische Gestaltung des Gemeinwesens betreffen. Politische Entscheidungen i n der modernen Industriegesellschaft müssen auf die Bedingungen der arbeitsteiligen, technisierten und durch vielfältige Interdependenzen zu einem einheitlichen W i r kungszusammenhang verflochtenen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung reagieren. Sie setzen daher ein Höchstmaß an Informationen und an Fähigkeiten zu ihrer Auswertung voraus. Damit ist aber der Typus des Politikers, der gesellschaftliche Zusammenhänge überschauen und sie aufgrund seiner Vorstellungen über die rechte Ordnung des Gemeinwesens beeinflussen kann, tendenziell überfordert: Er ist darauf angewiesen, daß er von den Inhabern der Informationen ohne Präjudizierung der Entscheidung bedient w i r d 8 5 . Hierbei ist nicht einmal sicher, 82
S. o. § 3 A n m . 26; § 19 m i t A n m . 16 ff. Geiger, Föderalismus i n der Verfassungsordnung der BRD, a.a.O., S. 18, und o. § 4 m i t A n m . 27. 84 Vgl. o. § 12, 1. m i t A n m . 7. 88
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4. Teil: Zuständigkeitsvereinbarungen
daß solche sachgerechte Bedienung nur eine Frage des guten Willens ist. Forciert w i r d diese Entwicklung noch dadurch, daß Verfassungsorgane die i m technischen Zeitalter hervortretende Autorität des Sachverstandes einsetzen, u m ihre eigenen Durchsetzungschancen i m politischen Kräftespiel zu steigern 86 . Die „Folge einer gewissen Selbstbindung" 8 7 w i r d dabei i n Kauf genommen. Nun ist es zwar nicht ohne weiteres zu beanstanden, daß Entscheidungen von denen getroffen werden, die über den Sachverstand verfügen. Problematisch ist es jedoch, daß i m hier angesprochenen Bereich der Aufgabenerfüllung der Entscheidungsgehalt nach wie vor den Sachverstand transzendiert, daß also m i t einer Entscheidung tatsächlich eine von mehreren Vorstellungen über die rechte Ordnung des Gemeinwesens verwirklicht wird, und daß das Verfassungsrecht gerade diese Entscheidungen den Verfassungsorganen vorbehalten hat 8 8 . Die Verlagerung politischer Entscheidungen auf die sachverständige Verwaltung und die sie ergänzenden Beiräte und Kommissionen 80 stellt daher den Verfassungsstaat, speziell den Regierungsstaat, grundsätzlich in Frage. M i t i h m steht und fällt auch die demokratische Regierungsform, i n der die territoriale Gesamtheit der Aktivbürgerschaft i n den Kreis der Verfassungsorgane einbezogen ist (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) 9 0 . Die demokratische Verfassung, insbesondere das Grundgesetz, stellt den „politischen Beruf" des Bürgers polemisch und optimistisch zugleich der autoritären Regierungsform entgegen. Die politische Staatsleitung und m i t ihr die fest zugemessene und öffentlich sichtbare politische Sachverantwortung sind hierbei nicht weniger entschieden vorausgesetzt. I n diesem Ordnungsentwurf einer finalen und verantwortlichen politischen Steuerung des staatlichen Ämterwesens liegt die entscheidende normative Absage an einen autokephalen, nur seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten unterworfenen Verwaltungsstaat. Damit w i r d einerseits erkennbar, „wie sehr der Trend zum Verwaltungsstaat ein verfassungsrechtliches Konzept belastet, das sich i n bewußter Abkehr von dem totalen Staat u m optimale Einbettung der Verwaltungsordnung in 85 Vgl. hierzu die Bemerkungen Hartmanns, Funktionale A u t o r i t ä t S. 132, über Experten, die m i t jenen E l i t e n rivalisieren, die ihnen ausgeliefert sind. 88 Vgl. Heinze, Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen E n t w i c k l u n g u n d die U m b i l d u n g der Verfassung, i n : Der Staat Bd. 6 (1967) S. 433 ff., insbes. S. 435 m i t A n m . 4 u n d S. 436 m i t A n m . 5. 87 Duppré, Sachverstand u n d Verantwortung, Versuch einer Typologie, i n : Sachverstand u n d Verantwortung i n der öffentlichen Verwaltung, Schriftenreihe der Hochschule Speyer Bd. 30 (1966) S. 10 ff. (22). Vgl. ferner o. § 3 m i t A n m . 8. 88 Ebenso Heinze, Der Staat Bd. 6 S. 436 f. 89 Näher Kölble, Sachverstand u n d Verantwortung, a.a.O. (oben A n m . 78) S. 31 ff., 55 f., 59 f. 90 S. o. § 13 m i t A n m . 64 a, 92.
§21 Die Fixierung der Sacherantwortung
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eine korrespondierende Ordnung der politischen Willensbildung bemüht . . ." 9 1 . Es w i r d aber andererseits auch deutlich, daß die Verfassungsinterpretation an der Normativität dieses Konzepts festzuhalten hat, solange ihm die tatsächliche Entwicklung noch nicht jegliche Realisierungschance genommen hat und soweit der verfassungsändernde Gesetzgeber es nicht punktuell preisgegeben hat 9 2 . Eine Koordinierung politischer Entscheidungen, die, wie etwa i m Falle des „Deutschen Gemeinschaftswerks" oder des gemeinsamen Investitionsprogramms zur Finanzierung neuer Hochschulen, die verfassungsgesetzliche Verteilung der politischen Sachverantwortung verändert, findet daher i n der „Orientierung am Sachverstand" keine hinreichende Legitimation. Gleichwohl verdient es Beachtung, daß die Herrschaft des politisch nicht kontrollierbaren Sachverstands und die Vereinbarung von Zuständigkeitsveränderungen eine Konsequenz gemeinsam haben: die Verminderung der Sachverantwortung demokratisch mitbestimmter politischer Leitungsorgane. Somit zeigt sich erneut, wie wenig das Programm eines „Kooperativen Föderalismus" der demokratischen Leitungsverantwortung entspricht und wie sehr es ihrer Gegnerin, dem autoritären Verwaltungsstaat, verhaftet ist 9 3 . Auch aus diesem Grunde ist es der Verfassungsinterpretation verwehrt, den kooperativen Verwaltungsstaat nur deshalb zu sanktionieren, w e i l unter den gesellschaftlichen Bedingungen der Gegenwart die Realisierungschance des demokratischen Bundesstaates durchaus problematisch ist.
91 Köttgen, S t r u k t u r u n d politische F u n k t i o n öffentlicher Verwaltung, a.a.O., S. 788; ähnlich Teshima, Verwaltungsstaat, a.a.O., S. 587 ff.; anders anscheinend Guilleaume, Regierungslehre, i n : Der Staat Bd. 4 (1965) S. 179 ff. (180 f., 187 f.). 9î I m Ergebnis ebenso Böckenförde t Organisationsgewalt S. 257; Kölble, Sachverstand u n d Verantwortung, a.a.O. (oben A n m . 78) S. 55. 93 Vgl. o. § 15, 3. m i t A n m . 74 ff. Der Vorschlag eines „Deutschen Gemeinschaf tswerks" (oben § 3 A n m . 26) w u r d e ausdrücklich m i t dem Wunsch begründet, politische Sachentscheidungen zu neutralisieren, u m sie der M i t b e stimmung demokratisch legitimierter K r ä f t e zu entziehen, BullBReg. v. 10. 4. 1965 Nr. 65/S. 519 f.
Überblick Aufgabe der vorliegenden Arbeit ist es, einen Beitrag zur Interpretation des demokratischen Bundesstaates i m Sinne des A r t . 20 Abs. 1 GG zu leisten. Diese Aufgabe w i r d i n erster Linie nicht als staatstheoretische verstanden, sondern als hermeneutische. Es gilt, i m Hinblick auf ein vordringliches praktisches Problem, nämlich die zuständigkeitsverändernde Zusammenarbeit von Bund und Ländern, das Grundgesetz nach leitenden Gesichtspunkten für die konkrete Problemlösung zu befragen (§ 1).
Erster Teil Ein wesentliches Motiv für die Zuständigkeitsvereinbarungen von Bund und Ländern ist die rationelle Ordnung der Behördenapparate i n Verwaltung und Rechtsprechung. Die Erweiterung ihrer Zuständigkeiten über Landesgrenzen hinaus soll ihre optimale Auslastung gewährleisten. Zum Ausgleich für die übertragenen Entscheidungsbefugnisse werden gelegentlich Mitwirkungsrechte begründet. I n zahlreichen Fällen beteiligen sich mehrere Länder i n Form gemeinschaftlicher Einrichtungen an der Aufgabenerfüllung (§ 2). Vereinbarungen über die Veränderung der Zuständigkeitsordnungen dienen ferner dem Ziel, die unterschiedlichen politischen Initiativen der einzelnen Länder und des Bundes zu koordinieren, vor allem auf dem Gebiet staatlicher Investitionen und Förderungsmaßnahmen (§ 3). I n der umfangreichen verfassungsrechtlichen Diskussion über diese Erscheinungen der staatlichen Praxis w i r d dem Argument erhebliche Bedeutung zugemessen, daß nach herrschender Auffassung der Bund und die Länder selbständige Staaten sind. Zuständigkeitsvereinbarungen gelten daher folgerichtig als Durchbrechungen der einheitlichen Staatsgewalten, so daß jede Delegation einer besonderen verfassungsgesetzlichen Ermächtigung bedarf (§ 4, 1.). Die Konsequenz, daß i n Ermangelung solcher Ermächtigungen die bundesstaatlichen Zuständigkeitsvereinbarungen durchgängig verfassungsw i d r i g sind, w i r d allerdings als unbefriedigend empfunden, da ihre Zweckmäßigkeit zu einem erheblichen Teil außer Frage steht. Die aus diesem Grunde vorgeschlagenen Eingrenzungen des grundsätzlichen
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Delegationsverbots greifen jedoch nicht durch (§ 4, 2.). Darüber hinaus ergibt sich aus der selbständigen Staatlichkeit der einzelnen Länder, daß sie selbständige Demokratien sind. Jegliche Staatstätigkeit innerhalb eines Landes muß daher speziell durch das Staatsvolk dieses Landes legitimiert sein. Neben den treuhänderischen Zuständigkeitsübertragungen können insbesondere auch die gemeinschaftlichen Einrichtungen mehrerer Länder diesen Anforderungen nicht gerecht werden {§ 5).
Zweiter Teil Die Tragfähigkeit der erwähnten Argumente gegen die Verfassungsmäßigkeit von Zuständigkeitsvereinbarungen steht und fällt m i t der herrschenden Auffassung, daß der Bundesstaat ein aus Staaten zusammengesetzter Staat sei. Unter rechtssystematischem Blickpunkt liegt dieser Vorstellung die Überzeugung zugrunde, daß der Staat — verstanden als Gesamtheit von „Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgew a l t " — notwendig als willens- und handlungsfähiges Rechtssubjekt gedacht werden müsse (§ 6). Diese juristische Qualifikation des Staates t r i f f t auf die Gesamtheit von Bund und Ländern nicht zu, da diese lediglich ein (objektives) institutionelles Gefüge ist und kein einheitliches Subjekt eigener Aufgaben und Befugnisse