Der Arzt im Abtreibungsstrafrecht: Eine verfassungsrechtliche Analyse [1 ed.] 9783428476398, 9783428076390


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Der Arzt im Abtreibungsstrafrecht: Eine verfassungsrechtliche Analyse [1 ed.]
 9783428476398, 9783428076390

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 624

Der Arzt im Abtreibungsstrafrecht Eine verfassungsrechtliche Analyse Von

Ruth Esser

Duncker & Humblot · Berlin

RUTH ESSER

Der Arzt im Abtreibungsstrafrecht

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 624

Der Arzt im Abtreibungsstrafrecht Eine verfassungsrechtliche Analyse

Von R u t h Esser

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Esser, Ruth: Der Arzt im Abtreibungsstrafrecht : eine verfassungsrechtliche Analyse / von Ruth Esser. Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 624) Zugl.: Köln, Univ., Diss., 1992 ISBN 3-428-07639-7 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-07639-7

Meinen Eltern

Vorwort Die Juristische Fakultät der Universität zu Köln nahm diese Arbeit im Wintersemester 1992/93 als Dissertation an. Das Manuskript wurde im Mai 1992 abgeschlossen. Danach erschienene Literatur sowie spätere rechtspolitische Ereignisse konnten vereinzelt noch berücksichtigt werden. Mein Dank gilt Herrn Professor Dr. Wolfgang Rüfner für die Betreuung der Arbeit als Doktorvater. Ich danke auch Herrn Professor Dr. Martin Kriele, dem die zweitgutachterliche Stellungnahme oblag und der den Kontakt zum Verlag Duncker & Humblot hergestellt hat. Ferner bin ich Bundesverfassungsrichter a.D. Herrn Professor Dr. Willi Geiger zu Dank verbunden, der mir im Februar 1990 den Anstoß zur Bearbeitung des gewählten Themas gab. Mein Vater, Notar Dr. Werner Esser, hat mir mit fachkundigem und väterlichem Rat stets zur Seite gestanden. Herr Staatsanwalt Rainer Beckmann gab mir zahlreiche fachliche und kritische Anregungen. Herr Rechtsanwalt Norbert Geis (MdB) ermöglichte mir durch großzügige Freistellung eine schnellere Fertigstellung der Arbeit. Frau Hildegard Esser und Frau Sabine Baumann übernahmen die mühsame Arbeit des Korrekturlesens. Ihnen allen gilt mein Dank. Schließlich bedanke ich mich bei dem Verlag Duncker & Humblot für die zügige Publikation der Arbeit in der Reihe "Schriften zum Öffentlichen Recht".

Köln, im Oktober 1992

Ruth Esser

Inhaltsverzeichnis Einleitung

19 Erster Teil Berufsrechtliche Aspekte des ärztlichen Aborts

A. Das tradierte ärztliche Berufsbild, sein Wandel und die Einbindung des Ärztestandes in das staatliche Abtreibungsstrafrecht

24

I. Das traditionelle Berufsbild des Arztes und seine Festschreibung im ärztlichen Berufsrecht

24

II. Erweiterungen des ärztlichen Berufsbildes - die Orientierung am Gemeinwohl III. Neue Anforderungen an die Ärzteschaft

27 29

IV. Der Einiluß dieser gewandelten Anforderungen auf das Berufsrecht des Arztes unter besonderer Berücksichtigung der Einstellung zur Abtreibung

31

1. Das Bundesrecht

31

2. Die Standesdeklarationen

33

3. Die einschlägige Entwicklung der Berufsordnungen

35

4. Analyse der Regelung des Aborts in den Berufsordnungen für die deutschen Ärzte und eigene Stellungnahme

36

V. Ergebnis zu A

42

Β. Der Einiluß der Einbindung des Arztes in das Abtreibungsstrafrecht auf das Arzt-PatientVerhältnis

43

I. Das Zwei-Personen Verhältnis Arzt-Patient

43

II. Unzulässige Ausnahme vom Zweipersonenverhältnis Arzt-Patient bei der Abtreibung

44

III. Ergebnis zu Β

45

C. Fazit

46

Zweiter

Teil

Analyse der Beteiligung des Arztes am Abort auf der Grundlage des geltenden Verfassungsrechts A. Verfassungsrechtliche Grundlagen der Beteiligung des Arztes am Abort I. Die Handlungsmöglichkeiten des Arztes innerhalb der §§ 218 ff. StGB.

47 47

10

Inhaltsverzeichnis 1. Das Mitwirkungsverweigerungsrecht (Art. 2 des 5.StrRG)

47

2. Die Beratung der Schwangeren durch einen Arzt (§ 218 b Abs. Nr. 1 und 2 StGB) 48 3. Die ärztliche Indikationsfeststellung (§§219 Abs. 1, 218 a StGB) a) Der Begriff der "Indikation"

48 49

b) Die Erst-Feststellung ( § 2 1 9 Abs. 1 StGB)

50

c) Die Indikationsfeststellung (§ 218 a StGB)

52

4. Die Durchführung der Abtreibung

53

5. Pränatale Diagnostik als Vorstufe zum möglichen Abort aufgrund eugenischer Indikation 6. Verschreibung nidationshemmender Mittel (§ 219 d StGB) II. Überlegungen zum verfassungsrechtlichen Status des ungeborenen Kindes

53 54 54

1. Die Bedeutung des verfassungsrechtlichen Status des Embryos für die Beteiligung des Arztes am Abort

55

2. Zur Grundrechtsträgerschaft des ungeborenen Kindes in bezug auf das Recht auf Leben

55

a) Meinungsstand

56

aa) Die Literatur bb) Das Bundesverfassungsgericht b) Eigene Stellungnahme 3. Die Schutzpflicht des Staates aus Art. 1 Abs. 1 S. 2, 2 Abs. 2 S. 1 G G

56 57 58 64

a) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur staatlichen Schutzpflicht b) Die verfassungsrechtliche Literatur 4. Ergebis zu I I III. Die Rechtsnatur der Indikationstatbestände des § 218 a StGB 1. Meinungsstand

64 67 67 67 68

a) Die Literatur

68

b) Die Rechtsprechung

69

2. Eigene Stellungnahme IV. Fazit

71 74

B. Die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit der Beteiligung des Arztes am Abort und seiner gesetzlichen Einbindung in das Abtreibungsstrafrecht

75

I. Das staatliche, grundsätzlich strafbewehrte Abtreibungsverbot - auch für ärztliche Abtreibungen

75

1. Formen staatlichen Schutzes

75

2. Die "Pflicht zum Einsatz des Strafrechts"

76

3. Zur Kritik an der "Pflicht zum Einsatz des Strafrechts"

77

4. Ergebnis zu 1

82

II. Die Unzulässigkeit einer Indikationsfeststellung ex ante

82

1. Der Legalisierungsanschein der Indikationsfeststellung im Vorfeld der Tat

82

2. Berücksichtigung der "Fristenregelungs'VEntscheidung

85

3. Ergebnis zu I I III. Das Mitwirkungsverweigerungsrecht des Art. 2 Abs. 2 des 5.StrRG

86 87

Inhaltsverzeichnis 1. Darstellung der Regelung

87

a) Art. 2 Abs. 1 des 5.StrRG

87

b) Art. 2 Abs. 2 des 5.StrRG

88

2. Die verfassungsrechtliche Problematik

88

a) Zur Verfassungswidrigkeit der Regelung des Art. 2 Abs. 2 5.StrRG

88

b) Keine sonstige Einschränkbarkeit des Grundsatzes aus Art. 2 Abs. 1 des 5.StrRG

90

3. Ergebnis zu I I I

92

IV. Die ärztliche Verschreibung nidationshemmender Mittel (§ 219 d StGB)

92

1. Darstellung der Problematik

92

2. Verfassungsrechtliche Bewertung

93

3. Keine Pflicht zur Verschreibung nidationshemmender Mittel (§ 219 d StGB)

95

4. Ergebnis zu IV.

95

V. Fazit

96

Dritter

Teil

Analyse der Beteiligung des Arztes am Abort auf Grundlage der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB A. Zulässigkeit der Beteiligung des Arztes an rechtmäßigen Abtreibungen I. Ausnahme vom staatlichen, grundsätzlich strafbewehrten Abtreibungsverbot II. Zulässigkeit der Indikationsfeststellung ex ante

98 98 98

III. Das Mitwirkungsverweigerungsrecht des Arztes (Art. 2 des 5.StrRG)

99

IV. Straflose Verschreibung nidationshemmender Mittel (§ 219 d StGB)

100

V. Ergebnis zu A Β. Verfassungsrechtliche Fragen bezüglich des nach § 218 a StGB indizierenden Arztes I. Bedeutung und Charakter der rechtfertigenden Indikationsfeststellung 1. Die Bedeutung der Indikationsfeststellung

101 101 101 101

a) Die rechtliche Bedeutung

101

b) Die tatsächliche (oder faktische) Bedeutung

102

2. Der Charakter der Indikationsfeststellung als staatliche Aufgabe

103

a) Die staatliche Schutzpflicht

104

b) Der Schwangerschaftsabbruch als "sozialer Tatbestand"

105

3. Ergebnis zu 1 II. Die fachliche Qualifikation und Kompetenz des Arztes zur Indikationsfeststellung 1. Zur Systematik der Indikationstatbestände 2. Die einzelnen Indikationstatbestände des § 218 a StGB a) Die medizinische Indikation (§ 218 a Abs. 1 Nr. 2 StGB)

105 106 106 107 107

b) Die eugenische Indikation (§ 218 a Abs. 2 Nr. 1 StGB)

109

c) Die kriminologische Indikation (§ 218 a Abs. 2 Nr. 2 StGB)

112

d) Die allgemeine Notlagenindikation (§ 218 a Abs. 2 Nr. 3 StGB)

113

Inhaltsverzeichnis e) Ergebnis zu 2 3. Die Informationsbasis des indizierenden Arztes a) Informationen über die tatsächlichen Voraussetzungen der Indikation aa) Meinungsstand bb) Eigene Stellungnahme b) Informationen über rechtliche Gesichtspunkte c) Ergebnis zu 3 4. Die "Unzumutbarkeit der anderweitigen Abwendung"

116 116 117 117 118 120 121 121

5. Die Begründung des Gesetzgebers fur die Betrauung des Arztes mit der Indikationsfeststellung

123

6. Ergebnis zu I I

124

7. Annex: Die Kompetenz des Arztes zur Durchführung der Abtreibung

125

. Notwendigkeit, Zeitpunkt und Umfang einer staatlichen Kontrolle der ärztlichen Indikationsfeststellung

126

1. Die verfassungsrechtliche Notwendigkeit einer staatlichen Kontrolle der ärztlichen Indikationsfeststellung

127

a) Der Grundsatz des "Nemo plus iuris in alium transferre potest quam ipse habet" b) Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) aa) Grundsätzliches

127 128 128

bb) Übertragung dieser Grundsätze auf den nach § 218 a StGB indizierenden Arzt cc) Ergebnis zu b) c) Das staatliche Gewaltmonopol

130 132 132

aa) Beschreibung des Gewaltmonopols

133

bb) Zulässige Ausnahmen vom staatlichen Gewaltmonopol

134

cc) Die unzulässige Durchbrechung des staatliche Gewaltmonopols durch "Privatisierung" der Indikationsfeststellung dd) Ergebnis zu c) d) Rechtsstaatlich unzulässige Interessenüberlagerung aa) Grundsätzliches

135 137 137 137

bb) Vergleich mit der Regelung der Sozialberatung nach der Fristenregelung (1974)

138

cc) Übertragung dieser Gedanken auf den nach § 218 a StGB indizierenden Arzt dd) Ergebnis zu d) e) Das staatliche Rechtsprechungsmonopol (Art. 92 GG)

139 139 140

aa) Grundsätzliches

140

bb) Der RechtsprechungsbegrifT des Art. 92 G G

140

cc) Strafausschluû via staatlich nicht kontrollierbarer Indikationsfeststellung als unzulässiger EingrifTin das staatliche Rechtsprechungsmonopol dd) Ergebnis zu d) f) Grundrechtsschutz durch Verfahren

141 142 143

Inhaltsverzeichnis aa) Die Literatur

143

bb) Das Bundesverfassungsgericht

143

cc) Das "Gebot effektiven Rechtsschutzes" und die §§ 218 ff. StGB

144

dd) Ergebnis zu f)

145

g) Staatliche Indikationsüberprüfung nach dem Willen des Gesetzgebers

145

h) Ergebnis zu 1

147

2. Verfassungsrechtliche Anforderungen an den Zeitpunkt einer staatlichen Kontrolle der ärztlichen Indikationsfeststellung

147

a) Präventive Kontrolle

147

aa) Präventive Überprüfung als stärkste Form der Kontrolle

148

bb) Präventive staatliche Kontrolle bei der gegenwärtigen Gesetzeslage?

150

cc) Ergebnis zu a) b) Repressive Kontrolle der ärztlichen Indikationsfeststellung

151 151

aa) Standesgerichtliche Selbstkontrolle als Ersatz für die Überprüfung der Indikationsfeststellung durch staatliche Gerichte? bb) Formelle oder materielle Kontrolle? c) Ergebnis zu 2

152 153 153

3. Der Umfang einer gerichtlichen Überprüfung der ärztlichen Indikationsfeststellung nach § 218 a StGB

153

a) Meinungsstand

154

aa) Meinung 1 : Bejahung eines unüberprüfbaren ärztlichen Beurteilungsspielraums

154

bb) Meinung 2: Ablehnung eines unüberprüfbaren ärztlichen Beurteilungsspielraumes b) Analyse der verschiedenen Argumente und eigene Stellungnahme

156 157

aa) Der Streit um den Beurteilungsspielraum bei der Auslegung "unbestimmter Rechtsbegriffe" im Verwaltungsrecht

158

bb) Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Formulierung "nach ärztlicher Erkenntnis" cc) Verstoß gegen das Prinzip der Rechtssicherheit

161 163

dd) "Indikationsfeststellung nicht objektivierbar"

165

ee) "Eigener Beurteilungsspielraum zum Schutz des Arztes"

166

ff) "Fehlende Sachkenntnis der Gerichte"

167

gg) "Nach ärztlicher Erkenntnis" als "normative Ermächtigung"

169

hh) "Keine Anwendbarkeit der allgemeinen Notstandsregeln"

170

ii) Abschließende Stellungnahme

171

c) Ergebnis zu 3. 4. Ergebnis zu I I I IV. Fazit C. Verfassungsrechtliche Fragen bezüglich des nach § 219 StGB feststellenden Arztes

172 172 172 173

I. Die fachliche Qualifikation und Kompetenz des nach § 219 StGB feststellenden Arztes

173

14

Inhaltsverzeichnis II. Die rechtliche Bedeutungslosigkeit der Sachaussage der Erst-Feststellung nach § 219 Abs. 1 StGB

173

1. Sinn und Zweck der Erst-Feststellung

174

a) Der Wille des Gesetzgebers

174

b) Die Ansicht der Literatur

174

2. Eignung der Erst-Feststellung zur Umsetzung der staatlichen Schutzpflicht

175

3. Ergebnis zu I I

176

III. Die Funktion der Erst-Feststellung als Entscheidungshilfe für den abtreibenden Arzt

176

1. Problemstellung

177

2. Eigene Stellungnahme

177

IV. Die gerichtliche Nachprüfbarkeit der Erst-Feststellung ( § 2 1 9 Abs. 1 StGB) V Fazit

178 179

Vierter

Teil

Gesamtergebnis und Überlegungen de lege ferenda A. Gesamtergebnis

180

B. Überlegungen de lege ferenda

182

I. Konsequenzen aus dem Gesamtergebnis für eine Neuregelung des Abtreibungsstrafrechts

182

1. Keine Privilegierung des ärztlichen Aborts

182

2. Keine Indikationsfeststellung ex ante

183

3. Strafschärfung für fahrlässige Gesundheitsgefährdung der schwangeren Frau

183

II. Berücksichtigung dieser Überlegungen in der aktuellen Debatte um die Neufassung des Abtreibungsstrafrechts

183

1. Privilegierung des ärztlichen Aborts

184

2. Indikationsfeststellung ex ante

184

3. Strafschärfung für fahrlässige Gesundheitsgefährdung der schwangeren Frau

186

Schlußbemerkung

186

Literaturverzeichnis

188

Abkürzungen aA

anderer Ansicht

aaO

am angegebenen Ort

Abs

Absatz

aF

alte Fassung

AG

Amtsgericht

AK

Alternativ-Kommentar

ÄM

Ärztliche Mitteilungen

Anm

Anmerkung

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

ArbuR

Arbeit und Recht

ArchGyn

Archives of Gynecology

ARSP

Archiv fur Rechts- und Sozialphilosophie

Art

Artikel

ArztR

Arztrecht (Zeitschrift)

AT

Allgemeiner Teil

A ufi

Auflage

AWMF

Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich-Medizinischer Fachgesellschaften

BayÄBl

Bayerisches Ärzteblatt

BBG

Bundesbeamtengesetz

Bd

Band

BEG

Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der national-sozialistischen Verfolgung

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGBl

Bundesgesetzblatt

BGH

Bundesgerichtshof

BGHSt

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen

BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen

BK

Bonner Kommentar

BMJ

Bundesministerium der Justiz

BMJFG

Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit

BO

Berufsordnung

BRRG

Beamtenrechtsrahmengesetz

BSeuchenG

Bundesseuchengesetz

BT

Besonderer Teil

BT-Drs

Bundestagsdrucksache

16

Abkürzungen

BuÄO

Bundesärzteordnung

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerwG

Bundesverwaltungsgericht

bzw

beziehungsweise

CDU

Christlich Demokratische Union Deutschlands

CSU

Christlich-Soziale Union in Bayern e.V.

dass

dasselbe

DÄB1

Deutsches Ärzteblatt

DB

Der Betrieb

DDR

Deutsche Demokratische Republik

ders

derselbe

dh

das heißt

dies

dieselbe

Diss

Dissertation

DJT

Deutscher Juristentag

DÖV

Die öffentliche Verwaltung

DP

Deutsche Partei

DRiZ

Deutsche Richterzeitung

Drs

Drucksache

DtZ

Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift

DVB1

Deutsches Verwaltungsblatt

E

Entwurf

ESchG

Embryonenschutzgesetz

etc

et cetera

EuGRZ

Europäische Grundrechtszeitschrift

f

folgende

FamRZ

Zeitschrift für das gesamte Familienrecht

FamSchHG

Familien- und Schwangerenhilfegesetz

FDP

Freiheitlich Demokratische Partei

ff

fortfolgende

Fn

Fußnote

FS

Festschrift

GA

Goltdammer's Archiv für Strafrecht

GG

Grundgesetz

GV N W

Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land NordrheinWestfalen

HdbStR

Handbuch des Staatsrechts

HeilberG

Heilberufsgesetz

hM

herrschende Meinung

Hrsg

Herausgeber

idFv

in der Fassung vom

insbes

insbesondere

Abkürzungen JA

Juristische Arbeitsblätter

JB

Juristische Blätter

Jjb

Juristen-Jahrbuch

JR

Juristische Rundschau

Jura

Juristische Ausbildung

JuS

Juristische Schulung

JVL

Juristen-Vereinigung Lebensrecht e.V.

JZ

Juristenzeitung

LAG

Lastenausgleichsgesetz

LG

Landgericht

LK

Leipziger Kommentar

MBO

Muster-Berufsordnung

MDR

Monatsschrift für deutsches Recht

MedR

Medizinrecht

MMW

Münchener Medizinische Wochenschrift

mwN

mit weiteren Nachweisen

NAV

Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

Nr

Nummer

NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

NW

Nordrhein-Westfalen

og

oben genannt

OLG

Oberlandesgericht

PsychKG

Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten

RÄO

Reichsärzteordnung

RGBl

Reichsgesetzbatt

RGSt

Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen

RheinÄBl

Rheinisches Ärzteblatt

RVO

Reichsversicherungsordnung

Rz

Randziffer

S

Seite/Satz

s

siehe

SGb

Die Sozialgerichtsbarkeit

SGV N W

Sammlung des bereinigten Gesetz- und Verordnungsblattes für das Land Nordrhein-Westfalen

SJZ

Schweizer Juristenzeitung



Systematischer Kommentar

sog

sogenannt

Sonderausschuß-Si

Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform

SPD 2 Esser

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

18

Abkürzungen

StÄG

Strafrechtsänderungsgesetz

Sten Dienst

Stenographischer Dienst

StGB

Strafgesetzbuch

StPO

Strafprozeßordnung

StrRG

Strafrechtsreformgesetz

StV

Strafverteidiger

ua

und andere/unter anderem

UN

United Nations

UPR

Umwelt- und Planungsrecht

uU

unter Umständen

ν

von

VersR

Versicherungsrecht Juristische Rundschau für die Individualversicherung

VGH

Verfassungsgerichtshof

vgl

vergleiche

WdStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

WHO

World Health Organization

WP

Wahlperiode

WMA

World Medical Association

zB

zum Beispiel

ZBR

Zeitschrift für Beamtenrecht

ZfG

Zeitschrift für Gesetzgebung

ZfP

Zeitschrift für Politik

zit

zitiert

ZPO

Zivilprozeßordnung

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

ZSR

Zeitschrift für Sozialreform

ZStW

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

Einleitung I. Einführung in die Problematik

1. Die vielfältige Abtreibungsproblematik läßt sich von mehreren Standpunkten aus angehen. Eine Erörterung aus rechtlicher Sicht ist nicht nur legitim. Ihre Ergebnisse beanspruchen zudem wegen der Allgemeinverbindlichkeit des Rechts Beachtung durch jedermann - nicht zuletzt durch die Ärzteschaft -, was für andere Normsysteme, wie Moral und Ethik, nicht in derselben Weise zutrifft. In der Öffentlichkeit ist die Diskussion "um den § 218" erneut entbrannt. Wer sich um eine rechtliche Argumentation bemüht, sieht sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, er wolle "den Knüppel des Strafrechts schwingen". Die Fixierung auf das Strafrecht ist unter allen, die mit der Problematik des Schwangerschaftsabbruchs konfrontiert werden (Politiker, Ärzte, Kirchenleute und Juristen), verbreitet. Die gegenüber dem einfachgesetzlichen Strafrecht vorrangige Bedeutung des geschriebenen und ungeschriebenen Verfassungsrechts unterschätzen oft selbst diejenigen, die es angesichts des umfangreichen einschlägigen Schrifttums der letzten Jahre eigentlich besser wissen müßten. Die vorliegende Arbeit will erneut versuchen, die Aufmerksamkeit auf die gegenüber dem Strafrecht höhere Beachtlichkeit des Verfassungsrechts hinzulenken. 2. Die "(Muster-)Berufsordnung für die deutschen Ärzte" 1 enthält alle wesentlichen Eckpunkte, an denen eine verfassungsrechtliche Analyse der Funktion des Arztes im Abtreibungsstrafrecht anzusetzen hat: - aus dem "Gelöbnis" ihrer Präambel: * "Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten (...)." * "Ich werde jedem Menschenleben von der Empfängnis an Ehrfurcht ent-

1 Muster-Berufsordnung fur die deutschen Ärzte von 1976 in der geänderten Fassung von 1988, DÄB1. 1988, 2547 ff.

20

Einleitung

gegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden." § 1 Abs. 2: "Aufgabe des Arztes ist es, das Leben zu erhalten (...)." § 5: "Der Arzt ist grundsätzlich verpflichtet, das ungeborene Leben zu erhalten. Der Schwangerschaftsabbruch unterliegt den gesetzlichen Bestimmungen." Hiernach gründen Aufgaben und Pflichten, ja das Berufsethos des Arztes in verschiedenartigen Normsystemen. Zur "edlen Überlieferung des ärztlichen Berufes" gehört gewiß auch der Hippokratische Eid, formal und inhaltlich als Vorläufer des "Gelöbnisses" deutlich erkennbar und erst jüngst noch als Grundlage einer speziellen Handlungsrichtlinie von der Bundesärztekammer bestätigt2. Damit ist das arztethische Normensystem angesprochen. Mit den "Geboten der Menschlichkeit" geraten die allgemein-verbindliche Ethik und Moral in den Blick, nicht zuletzt der Dekalog. Der Hinweis auf die "gesetzlichen Bestimmungen", denen der Schwangerschaftsabbruch unterliegt, gilt zwar in erster Linie der strafrechtlichen Indikationenregelung von 19763, aber wohl nicht zuletzt auch dem Grundgesetz. Der Arzt, den das Strafgesetzbuch bislang als Straftäter ausdrücklich nur beim Geheimnisverrat (§ 203 StGB) und bei der Fälschung bzw. beim unrichtigen Ausstellen von Gesundheitszeugnissen (§§ 277,278 StGB) benannte, erhält in der Indikationenregelung eine Schlüsselrolle4; dies deutet schon seine elf-malige Erwähnung in den §§ 218 bis 219 d StGB an. Denn die ehedem kriminalisierte Vornahme der Abtreibung durch einen Arzt kann nunmehr die Straffreiheit des Arztes und der Schwangeren bewirken. Jähnke führt zutreffend aus: "Im Mittelpunkt der Bestimmungen steht der Arzt." 5 Auf den ersten Blick erscheint der Medziner im Gesetzestext eher positiv als Helfer der Frau in Not, denn als Täter eines Delikts, das das Bundesverfassungsgericht als "Tötungshandlung"6 bewertet. Neben der 21 mal erwähnten Frau oder Schwangeren, die die Abtreibung wünscht, wird dagegen das ungeborene Kind 7 - immerhin der hauptbetroffene Dritte und auch nach Vorgabe 2 Vgl. Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer zur pränatalen und perinatalen Schmerzempfindung, DÄB1. 1991, C-2301. 3 §§ 218 ff. Strafgesetzbuch - StGB - (RGBl. I, S. 25) eingeführt durch das 15. Strafrechtsänderungsgesetz - StÄG - vom 18.5.1976, BGBl. I, S. 1213 ff.

* Vgl. Häußler, in: Kaiser (Hrsg.), a.a.O., Bd. 35/1, S. 43, 50. 5 LK-Jähnke, Rz. 13 vor § 218. 6 BVerfGE 39, 1, 46. 7

Die zutreffende Bezeichnung des Feten oder Embryo als "ungeborenes Kind" hat eine lange Tradition. Sie wurde etwa schon im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 gewählt, wo es heißt: "Die allgemeinen Rechte der Menschheit gebühren auch den noch ungeborenen Kindern von der Zeit ihrer Empfängnis." ( I 1. 10).

Einleitung

der Reformer primäres Schutzgut des Abtreibungsstrafrechts 8 - im Gesetzestext nicht als Schutzgut und nur einmal als eine von mehreren Voraussetzungen zur Straffreiheit der Täter genannt (§ 218 a Abs. 2 Nr. 1 StGB). Die neuartige, geradezu umwälzende Einbindung des ärztlichen Berufsstandes in eine "gezielte Aktion des Gesetzgebers zur Erreichung eines bestimmten gesellschaftspolitisch erwünschten Ziels, der «Eindämmung der Abtreibungsseuche»"9, also als Beitrag zur Problemlösung konzipiert, führte eben dadurch zu Spannungen mehrfacher Art: Ist die dem Arzt von Gesetzes wegen zugedachte Funktion vereinbar mit der "Ehre und edlen Überlieferung des ärztlichen Berufes"? "den Geboten der Menschlichkeit"? dem Grundgesetz, der grundgesetzlichen Wertordnung und ungeschriebenen "übergesetzlichen" verfassungsrechtlichen Verboten, Geboten und Prinzipien, wie etwa dem ausnahmslosen Verbot der vorsätzlichen Tötung nicht-angreifender Unschuldiger oder den Prinzipien der Güterabwägung und des schonendstens Interessenausgleichs? Dies gilt zum einen für die grundsätzliche Konzeption der §§ 218 ff. StGB, deren Kernbereich in der Feststellung eines strafbefreienden Indikationstatbestandes im Vorfeld der Tat zu sehen ist (§ 218 a StGB). Zum anderen ergeben auch die einzelnen Handlungsmöglichkeiten, die dem Arzt innerhalb dieser Vorschriften offenstehen, Anlaß zu einer kritischen Analyse seiner Tätigkeit im Rahmen der §§ 218 ff. StGB. Neben der Vornahme der Abtreibung verdient dabei vor allem die ärztliche Qualifikation und Kompetenz zu der in §§ 218 a, 219 StGB vorgesehenen Feststellung eines Indikationstatbestandes Aufmerksamkeit. Nicht ohne Grund wird gerade die Einbeziehung des Arztes in die §§ 218 ff. StGB als "der eigentliche Problempunkt der aktuellen Indikationenregelung"1 ο bezeichnet. Es ist zu erwarten, daß die gegenwärtige Indikationenregelung in absehbarer Zeit neu gefaßt werden wird. Der Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag - hat es dem gesamtdeutschen Gesetzgeber zur Aufgabe gemacht, "bis spätestens zum 31. Dezember 1992 eine Regelung zu treffen, die den Schutz vorgeburtlichen Lebens und die verfassungskonforme Bewältigung von Konfliktsituationen schwangerer Frauen (...) besser gewährleistet, als dies in beiden Teilen Deutschlands derzeit der Fall ist" (Art. 31 Abs. 4 S. 1 Einigungsvertrag). Aus die-

8

Vgl. die zahlreichen Angaben zur parlamentarischen Debatte (Indikationenregelung) bei

Gante, § 218, S. 179 ff. • BVerfGE 39, 1, 59. 10 Kluth, in: JVL-Schriftenreihe Nr. 4 (1987), S. 49, 52.

22

Einleitung

sem Anlaß wurden sieben Gesetzentwürfe in den Deutschen Bundestag eingebracht 11 . Die Entwürfe der Gruppen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNiiN und PDS/Linke Liste sehen beide ein "Recht auf Schwangerschaftsabbruch" bis zur natürlichen Geburt vor und können, weil sie schon aus diesem Grunde verfassungrechtlich indiskutabel sind, hier unbeachtet bleiben. Die übrigen Entwürfe sehen alle eine die Schwangere privilegierende Beteiligung des Arztes an Abtreibungen vor. In diesem Punkt unterscheiden sie sich nicht von der aktuellen Indikationenregelung. Daher dürfte eine Behandlung der hier thematisierten Problematik auf Grundlage der noch gültigen Fassung der §§ 218 ff. StGB von 1976 trotz der zu erwartenden Neuregelung nach wie vor sinnvoll sein. Zudem ergeben sich aus der Erörterung auch einige Gesichtspunkte, deren Beachtung unabhängig von einer konkreten gesetzlichen Ausgestaltung des Abtreibungsstrafrechts hilfreich sein kann, wenn man den Schutz des ungeborenen Kindes ernsthaft anstrebt.

II. Vorgehensweise Der erste Teil behandelt die berufsrechtlichen Aspekte des ärztlichen Aborts. Ein zweiter Teil widmet sich der Einbindung des Arztes in das Abtreibungsstrafrecht auf der Grundlage des geltenden bundesdeutschen Verfassungsrechts. Dabei steht nach einer Darstellung der verschiedenen Handlungsmöglichkeiten des Arztes innerhalb der §§ 218 ff. StGB und der verfassungsrechtlichen Grundlagen der ärztlichen Abtreibungstätigkeit - eine Auseinandersetzung mit der grundsätzlichen Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Einbindung des Arztes in die §§ 218 ff. StGB an. In einem dritten Teil werden sodann verschiedene verfassungsrechtliche Fragen erörtert, die sich ergeben, wenn man von der umstrittenen, aber immer noch verbreiteten Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB ausgeht. Es geht um Einzelheiten der gesetzlichen Ausgestaltung der Indikationenregelung, wie etwa die Kompetenz des Arztes zur Indikationsfeststellung nach § 218 a StGB, die Frage nach deren gerichtlicher Überprüfbarkeit sowie die Bedeutung und Eignung des nach § 219 Abs. 1 StGB feststellenden Arztes. Ein vierter und letzter Teil beinhaltet die Zusammenfassung der einzelnen Ergebnisse sowie zum Abschluß einige Überlegungen zu einer verfassungskonformen Neufassung des strafrechtlichen Lebensschutzes für das ungeborene Kind auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse. » Deutscher Bundestag, 12. WP, Gesetzentwurf der Fraktion der FDP, BT-Drs. 12/551; Deutscher Bundestag, 12. WP, Gesetzentwurf der Abgeordneten Christina Schenk, Dr. KlausDieter Feige, Ingrid Köppe und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BT-Drs. 12/696; Deutscher Bundestag, 12. WP, Gesetzentwurf der Fraktion der SPD, BT-Drs. 12/841; Deutscher Bundestag, 12. WP, Gesetzentwurf der Abgeordneten Petra Bläss, Jutta Braband, Ulla Jelpke, Andrea Lederer und der Gruppe PDS/Linke Liste, BT-Drs. 12/898; Deutscher Bundestag, 12. WP, Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU, BT-Drs. 12/1178 (neu); Deutscher Bundestag, 12. WP, Gesetzentwurf der Abgeordneten Herbert Werner (Ulm) u.a., BT-Drs. 12/1179; Deutscher Bundestat, 12. WP, Gesetzentwurf der Abgeordneten Wettig-Danielmeier u.a., BT-Drs. 12/2605 (neu) = sog. Gruppenantrag; (Entwürfe in zeitlicher Reihenfolge).

Einleitung

Nachtrag Die vorliegende Arbeit wurde im Mai 1992 abgeschlossen. Der Deutsche Bundestag nahm am 26.6.1992 mit 355 von 654 Stimmen bei 16 Enthaltungen den sog. Gruppenantrag, den Gesetzentwurf der Abgeordneten Wettig-Danielmeier u.a. ("Gesetz zum Schutz des vorgeburtlichen/werdenden Lebens, zur Förderung einer kinderfreundlicheren Gesellschaft, für Hilfen im Schwangerschaftskonflikt und zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs" - Schwangeren- und Familienhilfegesetz)i2) in der vom Sonderausschuß des Deutschen Bundestages "Schutz des ungeborenen Lebens" empfohlenen F a s s u n g ! 3 an. Der Gruppenantrag enthält gegenüber der Fristenregelung von 1974 weitere Punkte, die Anlaß zu verfassungsrechtlichen Bedenken gebend; insbesondere die ausdrückliche Rechtfertigung des mit Einwilligung der Schwangeren und nach deren Beratung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche ärztlicherseits durchgeführten Aborts und die zulässige anonyme Beratung, über die wohl auch nur eine anonyme Bescheinigung zu erfolgen hat. Der Bundesrat stimmte dem Gesetz am 10.7.1992 zu. Das Bundesverfassungsgericht hat am 4.8.1992 auf Antrag von 248 Bundestagsabgeordneten der CDU/CSU und der Bayerischen Staatsregierung durch den Erlaß einer einstweiligen Anordnung das Inkrafitreten des strafrechtlichen Teils des "Schwangeren- und Familienhilfegesetzes" verhindert. Eine Entscheidung des daraufhin eingeleiteten Normenkontrollverfahrens steht noch aus.

« BT-Drs. 12/2605 (neu). « Deutscher Bundestag, 12. WP, Empfehlung und Bericht des Sonderausschusses "Schutz des ungeborenen Lebens", BT-Drs. 12/2875. 14 Dazu ausführlich Beckmann, MDR 1992, 1013 ff. (1017).

Erster Teil

Berufsrechtliche Aspekte des ärztlichen Aborts In der Bundesrepublik Deutschland wird aufgrund der gegenwärtigen gesetzlichen Regelung ι nahezu jede Abtreibung von einem Arzt durchgeführt. Hierdurch entsteht der Eindruck, als sei die Vornahme von Aborten eine ärztliche Behandlung wie jede andere. Diese in weiten Kreisen der Bevölkerung verbreitete Ansicht wirft die Frage auf, ob die "Behandlung Abtreibung" in das Berufsbild des Arztes paßt. Einer verfassungsrechtlichen Beurteilung der verschiedenen Handlungsmöglichkeiten des Arztes im Rahmen der §§ 218 ff. StGB soll daher eine kurze Darstellung und Bewertung der arztrechtlichen Seite dieser Thematik vorangehen.

A. Das tradierte ärztliche Berufsbild, sein Wandel und die Einbindung des Ärztestandes in das staatliche Abtreibungsstrafrecht Ausgangspunkt der hier anzustellenden Überlegungen ist das Berufsbild des Arztes.

I. Das traditionelle Berufsbild des Arztes und seine Festschreibung im ärztlichen Berufsrecht Lange Zeit beschrieben die im Hippokratischen Eid 2 enthaltenen Grundsätze das ärztliche Selbstverständnis. Von besonderer Bedeutung ist darunter das Versprechen, jedes berufliche Tun nur auf das Wohl des Patienten auszurichten und ihm keinen Schaden zuzufügen^ - weithin unter der Kurzformel "salus aegroti su-

1 "Indikationenregelung" zum Schwangerschaftsabbruch, rechtsänderungsgesetz vom 18.5.1976, BGBl. I., S. 1213 ff.

eingeführt durch das 15. Straf-

2 Zur Person des Hippokrates sowie zu den teilweise umstrittenen Einzelheiten über Ursprung und Authentizität des Eides siehe Franz Büchner, Der Eid des Hippokrates; Wolff, Abschied von Hippokrates; Lichtenthaeler, Der Eid des Hippokrates; Deichgräber, Der hippokratische Eid; TölleKastenbein, Das Genfer Arztgelöbnis und der Hippokratische Eid; jeweils m.w.N. 3

Deichgräber,

S. 13.

25

Α. Die Einbindung des Ärztestandes in das Abtreibungsstrafrecht

prema lex", "neminem laedere" oder "nil nocere" bekannt4. Die Einstellung des "hippokratischen Arztes" zur Abtreibung war eindeutig und ablehnend. Dem Wortlaut des Eides zufolge verpflichtete er sich: "Ich werde (...) keiner Frau ein fruchtabtreibendes Zäpfchen g e b e n " 5. Die Abtreibung galt - ebenso wie die Euthanasie^ - als schwerer Verstoß gegen den Grundsatz des "nil nocere" 7, der also auch das ungeborene Kind schützte. Im Unterschied zur heute nahezu weltweiten Praxis blieb die Abtreibung zu damaliger Zeit sog. Hetären vorbehalten^, die damit zugleich ein für ihr Gewerbe typisches Risiko in den Griff bekamen. Das Abtreibungsverbot war elementarer Bestandteil ärztlicher Ethik? Die wesentlichen Grundsätze hippokratischer Ethik fanden auch im Berufs recht der Ärzte ihren Niederschlagt und sind heute dort noch teilweise erkennbar. Das oft spannungsgeladene Verhältnis von Arzt und Recht 11 beschreibt Eberhard Schmidt treffend: "Die Standesethik steht nicht isoliert neben dem Recht. Sie wirkt allenthalben und ständig in die rechtlichen Beziehungen des Arztes zum Patienten hinein. Was die Standesethik vom Arzt fordert, übernimmt das Recht weithin zugleich als rechtliche Pflicht. Weitmehr als sonst in den sozialen Beziehungen des Menschen fließt im ärztlichen Berufsbereich das Ethische mit dem Rechtlichen zusammen" 12 . Das Arztrecht umfaßt, ohne einen in sich geschlossenen Normenkomplex zu bilden^, die gesamte Tätigkeit des Arztes, speziell das Verhältnis zu seinem berufli4 Laufs, FS-Weitnauer, S. 363, 364; Lichtenthaeler, S. 113; Wolff, krates, S. 55; Deichgräber, S. 26; Deutsch, Arztrecht, S. 4. 5

Deichgräber,

Abschied von Hippo-

S. 15.

6

"Ich werde niemandem, auch auf eine Bitte nicht, ein tödlich wirkendes Gift geben und auch keinen Rat dazu erteilen", Eidestext nach Deichgräber, S. 15. 7 8

Deichgräber,

S. 36.

Wolff, Abschied von Hippokrates, Voss/Voss/Hoffacker (Hrsg.), S. 25.

S.

57;

Deichgräber,S. 38

ff.;

Kluxen,

in:

9 Kluxen, in: Voss/Voss/Hoffacker (Hrsg.), S. 25; vgl. ferner Laufs, FS-Geiger, S. 228, 231; Dinkel, DÄB1. 1991, A-456 ff. 10 Vgl. auch Laufs, Fortpflanzungsmedizin, S. 29 ff; Schadewaldt, RheinÄBl. 1990, 669 ff; Kirchmaier/Thieser, in: Kaufmann (Hrsg.), S. 5, 12; Hege, BayÄBl. 1987, 410, 416. 11 Zum Verhältnis "Arzt und Recht" gibt es eine umfangreiche Literatur; einerseits wird vom Recht wegen des geringeren Standards seiner Regeln als dem "ethischen Minimum" gesprochen (Jellinek, S. 45), andererseits wird es wegen der Möglichkeiten seiner Durchsetzbarkeit gegenüber der Ethik als das "ethische Maximum" bezeichnet (Gustav Schmoller, zit. nach Karl Engisch, S. 93); vgl. ferner Radbruch, in: Wolf-Schneider (Hrsg.), S. 134; Wieland, S. 76 f.; Taupitz, NJW 1986, 2851; Cramer, Gen- und Genomanalyse, S. 282 ff; Schreiber, Notwendigkeit, S. 29 ff; ders., FS-Dünnebier, S. 633 ff; Laufs, Medizin und Recht im Zeichen des technischen Fortschritts, 1978; Deutsch, VersR 1987, 949 ff; Uhlenbruch in: Laufs/Uhlenbruck u.a. (Hrsg.), Arztrecht, § 39 Rz. 1:

12 Schmidt, in: Ponsold, S. 2; vgl. auch BGHSt 32, 367, 379; Schaefer, Trochei, NJW 1971, 1057 ff.

Ä M 1959, 1304 ff;

26

1. Teil: Berufsrechtliche Aspekte des ärztlichen Aborts

chen Gegenüber H Als spezielle Normierung ärztlicher Standespflichten auf der Ebene des allgemeinen Rechts sind z.B. der Schutz des Patienten vor unsachgemäßer und rechtswidriger Behandlung durch die Körperverletzungstatbestände der §§ 223 ff. StGB sowie die Festschreibung der ärztlichen Schweigepflicht durch den Tatbestand der strafbewehrten Verletzung von Privatgeheimnissen (§ 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB) und deren prozessuale Sicherung durch das Zeugnisverweigerungsrecht (§ 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO 1 *) zu nennen^. Eine besondere berufsrechtliche Ausprägung finden die Grundsätze ärztlichen Handelns in der Bundesärzteordnung (BuÄO) 1 7 und den Berufsordnungen der Länder für die deutschen Ärzte (BO) 1 8 . So nennt § 1 Abs. 1 BuÄO den Arzt "Diener des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes". Die Muster-Berufsordnung (MBO) in der jetzt gültigen Fassung der Beschlüsse des 91. Deutschen Ärztetages (1988) 1 9 , die den Berufsordnungen der Länder zugrundeliegt, greift diese Formulierung der BuÄO in § 1 Abs. 1 S. 4 auf und fügt hinzu, der Arzt habe "seine Aufgaben nach seinem Gewissen und nach den Geboten der ärztlichen Sitte" zu erfüllen. Durch die Aufnahme ärztlicher Verhaltensregeln in das Recht wird die Tätigkeit des Arztes in die Rechtsordnung des Grundgesetzes integriert 2^. Die dort vor allem durch den Grundrechtskatalog geschützten Rechte des Einzelnen zeichnen dem Arzt neben seiner "Standesethik" einen zusätzlichen Rahmen seiner Berufsausübung vor, der sich in weiten Teilen mit den tradierten Werten ärztlicher Ethik deckt 21 .

13 Rieger, Rz. 211; den Arzt betreffende Vorschriften gibt es im allgemeinen Recht - dem Zivil-, Straf- oder öffentlichen Recht {Laufs, Arztrecht, Rz. 39); diese allgemeinen Gesetze sind zum Teil unter arztrechtlichen Gesichtspunkten spezifiziert worden, so im Bundesrecht (Bundesärzteordnung) und auf satzungsrechtlicher Ebene (Länderberufsordnungen für die deutschen Ärzte); vgl. auch Cramer, Gen- und Genomanalyse, S. 285 ff.

14 Vgl. Laufs, Arztrecht, Rz. 7 ff. 15

Strafprozeßordnung i.d.F.v. 22.10.1987, BGBl. I S. 2294.

16 Vgl. Siebert, S. 61; Rieger, Rz. 221; Eser, ZStW 97 (1985) 1 ff. 17 Bundesärzteordnung i.d.F.v. 16.4.1987, BGBl. I (1987), 1219 ff. Sie ist eine bundeseinheitliche Regelung der subjektiven Berufszulassungsvoraussetzungen ( Narr, Rz. 644). « Muster-Berufsordnung (MBO) für die deutschen Ärzte von 1976 (DÄB1. 1976, 1543 ff) in der geänderten Fassung von 1988 (DÄB1. 1988, 2547 ff). Die MBO normiert die speziellen Pflichten und Aufgaben des Arztes. Sie ist eine auf dem Kammergesetz des jeweiligen Landes (z.B. §§ 28, 29 HeilBerG N W i.d.F.v. 9.3.1989, GV N W S. 170) beruhende autonome Satzung i.S.d. Art. 80 Abs. 1 G G mit unmittelbarer Rechtswirkung (BVerfG NJW 1972, 1504, 1505; Narr, Rz. 644, 697); sie bedarf zu ihrer Gültigkeit der Übernahme durch die jeweilige Landesärztekammer {Narr, Rz. 715; Rieger, Rz. 398.) und ist nicht bloß ein ständischer Ehrenkodex, dessen Beachtung in das Belieben des Arztes gestellt ist. Zur Geschichte der Berufsordnungen vgl. BVerfGE 33, 125 (= NJW 1972, 1504, 1505 f.). 1 9 Abgedruckt u.a. bei Ratzel, in: Schmid (Hrsg.), 9/Anh.I. 20 Vgl. dazu Brenner, A I I 1, 2.

Α. Die Einbindung des Ärztestandes in das Abtreibungsstrafrecht

27

II. Erweiterungen des ärztlichen Berufsbildes die Orientierung am Gemeinwohl Das ursprüngliche ärztliche Berufsbild hat mit der Zeit einen Wandel erfahren, der sich besonders deutlich in der veränderten Einstellung des Ärztestandes zur Abtreibung niederschlägt. Hierzu mag beigetragen haben, das das gewandelte Berufsbild sich nicht mehr ausschließlich an Individualinteressen orientiert, sondern mehr und mehr gesellschaftliche Belange aufgreift und so einen zunehmenden Bezug zum Gemeinwohl erkennen läßt 2 2 . Schon die Reichsärzteordnung 2 3 bezeichnete den ärztlichen Beruf ausdrücklich als "öffentliche Aufgabe". Auch nach § 1 der Bundesärzteordnung hat der Arzt "der Gesundheit des Einzelnen und des gesamten Volkes" zu dienen. Das Bundesverfassungsgericht spricht von einem "für das Gemeinwohl unabdingbaren Berufsauftrag des Arztes" 24 . Die rechtlichen Regelungen des ärztlichen Berufes spiegeln in verschiedenen Bestimmungen die Verpflichtung des Arztes zum Dienst am Gemeinwohl wider: Die mit der Approbation verbundene Pflichtmitgliedschaft in einer Ärztekammer, die öffentlich-rechtlich geregelte Ausbildung, die Honorargestaltung anhand staatlicher Gebührenordnungen sowie die Tatsache, daß der Arzt bei der Ausübung seines Berufes staatlich genehmigten satzungsrechtlichen Berufsordnungen unterliegt, verdeutlichen beispielhaft die gemeinschaftsbezogene Ausrichtung ärztlicher Tätigkeit 25 . Einhergehend mit dieser starken Bindung des Arztes an die Gemeinschaft zeichnet sich eine zunehmende "Sozialisierung der Medizin" 2 ^ ab. So wie die Begriffe Gesundheit und Krankheit zunehmend gesellschaftlich bestimmt werden 2?, unterliegen auch die Anforderungen an den Arzt gesellschaftsbezogenen Kriterien 2^. Die World Health Organization (WHO) - eine Sonderorganisation der United Nations

21 Die rechtliche Einbindung der ärztlichen Tätigkeit ist wichtig, da "nur wenige Ärzte die normativen Grundsätze der Ethik kennen", Pflanz, DÄB1. 1989, C-1239. 22 Hege, BayÄBl. 1987, 410, 418; vgl. auch Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck u.a. (Hrsg.), Arztrecht, § 2 Rz. 7 ff.

Reichsärzteordnung - RÄO - vom 13.12.1935, RGBl. I., S. 1433. 2

* BVerfG NJW 1979, 1925, 1930; vgl. Brenner, Taupitz, NJW 1986, 2851, 2854. 2

C I 1; Laufs, NJW 1988, 1499, 1501;

* Vgl. Laufs, FS-Weitnauer, S. 363, 371.

26

Vgl. auch Papageorgiou, in: Kaufmann (Hrsg.), S. 1, 2; Laufs, Fortpflanzungsmedizin, S.

23. 27

Vgl. Anschütz, Ärztliches Handeln, S. 100 ff: "Der Gesundheitsbegriff ist also von der jeweiligen gesellschaftlichen Situation abhängig und durch Sozialerwartungen ungeheuer stark beeinflußt" (S. 100). 28

m.w.N.

Vgl. Laufs, FS-Weitnauer, S. 363, 367; ders., FS-Geiger, S. 228, 230; Lukowsky,

S. 51

28

1. Teil: Berufsrechtliche Aspekte des ärztlichen Aborts

(UN) 29. definiert in ihrer Satzung vom 22.7.1946 Gesundheit erstmalig als "a state of complete physical, mental and social 30 well-being and not merely the absence of disease or infirmity" 31 . Durch die Komponente des "sozialen Wohlbefindens" erfuhr der bisherige, an der individuellen Befindlichkeit des Patienten orientierte Gesundheitsbegriff eine starke Ausweitung. Die Gemeinschaftsbezogenheit der ärztlichen Tätigkeit zeigt sich an solchen Aufgaben, die zwar auch den Einzelnen betreffen, aber nicht vorrangig individuellen Interessen gelten: Hierher gehören etwa der B e t r i e b s 3 2- oder Anstaltsarzt, der wortwörtlich für ein "gesundes" Betriebsklima sorgen soll, der im öffentlichen Gesundheitswesen tätige Mediziner, der z.B. als S c h u l a r z t 3 3 der "Aufrechterhaltung der Volksgesundheit" dient, die in den Gesundheitsämtern beschäftigten Ärzte als Sonderpolizeibehörde H Obwohl hier durchaus Ansatzpunkte einer "Fremdbestimmtheit" des Arztes durch Interessen des Gemeinwohls erkennbar sind, liegt solange kein Widerspruch zum "nil nocere"-Prinzip vor, als die Tätigkeit des Arztes - wenn auch nicht vorrangig, so doch zumindest mittelbar - dem Einzelnen zugute kommt und diesem nicht schadet.

29

Rieger, Rz. 1898.

30

Hervorhebung von der Verfasserin.

31

D.h.: Zustand völligen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht bloß die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen; Originalwortlaut zitiert nach Laufs, FS-Weitnauer, S. 363, 365; vgl. auch BVerfGE 56, 54, 74; Dreher/Tröndle, Rz. 10 zu § 218 a; zur Entwicklung des Gesundheitsbegriffs vgl. von Engelhardt, in: Eser u.a. (Hrsg.), Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Sp. 408 ff.; kritisch zu diesem Gesundheitsbegriff Bachmann, M M W 1977, 249 ff.; Jungmann, DÄB1. 1976, 2951, 2952; Fritsche, MedR 1990, 237, 239; Geiger, FS-Stein, S. 83, 93 ff. 3

2 Dazu Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck u.a. (Hrsg.), Arztrecht, § 12 Rz. 28 ff.

33 34

§ 29 Schulverwaltungsgesetz von 18.1.1985 i.d.F.v. 19.3.1985, G V N W S . 288.

Friauf in: v.Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, S. 262. Deutlich zeigt sich dies z.B. bei den Aufgaben, die den Gesundheitsämtern bzw. den dort beschäftigten Ärzten nach dem Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (insbes. §§ 8, 9, 30, 36 PsychKG N W vom 2.12.1969, G V N W , S. 872, i.d.F.v. 18.12.1984, G V N W 1985, S. 14) zugewiesen sind sowie anhand der ihnen im Rahmen der Seuchenbekämpfung nach dem Bundesseuchengesetz (insbes. §§ 5, 31, 32 Abs. 3 BSeuchenG) zugeschriebenen Funktionen. Erwähnt sei auch die ärztliche Gutachtertätigkeit in gerichtlichen Verfahren (dazu ausfuhrlich und m.w.N. Laufs, Arztrecht, Rz. 451 ff.). Der Arzt wird in diesen Fällen als Sachverständiger (vgl. z.B. § § 7 2 ff., 246 a StPO, §§ 402 fT. ZPO v. 12.9.1950, BGBl. S. 533 i.d.F.v. 17.12.1990, BGBl. I 2847) zum "Gehilfen des Richters" (Lauf, Artzrecht, Rz. 462; vgl. Hege, BayÄBl. 1987, 410, 420) und steht somit im Dienste der Rechtspflege, deren ordnungsgemäße Aufrechterhaltung der Allgemeinheit wesentlich zugute kommt.

Α. Die Einbindung des Ärztestandes in das Abtreibungsstrafrecht

29

III. Neue Anforderungen an die Ärzteschaft Von anderer Qualität sind diejenigen Modifikationen des ärztlichen Berufsbildes, die aufgrund der besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verzeichnenden Entwicklungen auf dem Gebiet der Medizin, der medizinischen Technik und des Arztrechts erfolgten 35. Sie stellen den ein zelnen Arzt und den Berufsstand insgesamt vor neue Herausforderungen und drängen auf eine Veränderung des Berufsbildes, die dessen Strukturen nicht immer in "arztgerechter Weise" fortbildet, sondern zumindest teilweise radikal v e r ä n d e r t 3 ^ Diese Herausforderungen lassen zwei wesentliche Trends erkennen: zum einen muten die enormen medizin-technischen Fortschritte dem Arzt neue Aufgaben zu, die über die zuvor beschriebenen Erweiterungen des tradierten ärztlichen Berufsbildes im Interesse des Gemeinwohls hinausgehen37; zum anderen aber werden dem Mediziner Handlungen angesonnen, die zwar auch in früherer Zeit medizin-technisch möglich waren, die aber als standeswidrig abgelehnt wurden. Zur erstgenannten Gruppe rechnen u.a. die Fortpflanzungs- und Reproduktionsmedizin 3 8, die pränatale Diagnostik3^ als Teil der Gentechnologie sowie die Organtransplantat i o n ^ nach Hirntod 4 1 . Zur letztgenannten Gruppe zählen etwa die Aufforderung an die Ärzteschaft zur Mitwirkung am Vollzug der Todesstrafe durch tödliche Injektionen ("drug-injections") 42, zur Praktizierung von Euthanasie, etwa an neugebore35 Vgl. zum Wandel des ärztlichen Berufsbildes Anschütz, Ärztliches Handeln, 179 ff.; Thielicke, S. 13; Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck u.a. (Hrsg.), Arztrecht, § 4 Rz. 1 ff. 36

Vgl. Laufs, FS-Geiger, S. 228, 230; Rössler, Monatsschrift Kinderheilkunde 1982, 75.

37

Vgl. Rössler, Monatsschrift Kinderheilkunde 1982, 75.

38 Günther/Keller (Hrsg.), Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik - Strafrechtliche Schranken?, 1987; Jung, ZStW 100 (1988), S. 3 ff.; Laufs, Rechtliche Grenzen der Fortpflanzungsmedizin, 1987; Braun/Mieth/Steigleder (Hrsg.), Ethische und rechtliche Fragen der Gentechnologie und der Reproduktionsmedizin, 1987; Cramer ; Genom- und Genanalyse, 1991; Hofmann, JZ 1986, 253 ff.; Schlag, Verfassungsrechtliche Aspekte der künstlichen Fortpflanzung, 1991; Kluth, ZfP 1989, 115 ff.; Coester-Waltjen, FamRZ 1992, 369 ff. 39

Vgl. Eick-Wildgans, in: Kaufmann (Hrsg.), S. 99 ff m.w.N.; ferner Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer zur pränatalen Diagnostik, DÄB1. 1987, B434 ff. 40 Vgl. Schwerd, in: Schwerd (Hrsg.), Rechtsmedizin, S. 280, 281; Schreiber, (Hrsg.), S. 73 ff. m.w.N. 41 Zu dieser Problematik vgl. Schreiber, 30 f; Laufs, Fortpflanzungsmedizin, S. 39 ff.

in: Kaufmann

JZ 1983, 539 f.; Geiger, in: Weigelt (Hrsg.), S. 17,

42 Auf Antrag der amerikanischen Ärzte beschloß der Weltärztebund 1981 in Lissabon als Reaktion auf die geänderte Gesetzgebung in einigen US-Bundesstaaten, daß sich Ärzte nicht an Exekutionen durch Giftinjektionen beteiligen dürfen, vgl. Burkhart DÄB1. 1991, B-1482. In Polen konnte das bislang sehr liberale Abtreibungsstrafrecht in der letzten Zeit praktisch nicht mehr angewandt werden, weil die polnische Ärztekammer in die Berufsordnung eine Bestimmung aufgenommen hatte, nach der ein Arzt, der eine Abtreibung vornimmt, seine Aprobation verlieren kann, vgl. DÄB1. 1992, A-3298. Die polnische Ärzteschaft hat also ihren Standesangehörigen strengere Maüstäbe gesetzt als sie das staatliche Recht vorsah.

30

1. Teil: Berufsrechtliche Aspekte des ärztlichen Aborts

nen mißgebildeten Kindern durch Verhungernlassen ("low-calorie-diet") 43 sowie zur Durchführung von Abtreibungen 44. Sind diese Anforderungen auch neuartig, so kristallisiert sich doch aus beiden Bereichen eine den Arzt seit altersher begleitende Problematik heraus: Die Frage nach dem "Ob", dem Ausmaß und den Grenzen der Verfügung über menschliches Leben 4 *. Sowohl das bereits in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts von Binding und Hoche 46 als "Pflicht des gesetzlichen Mitleids" propagierte Verlangen nach Legalisierung der Euthanasie als auch die Mitwirkung an der Vollstreckung der Todesstrafe und die Durchführung von Aborten sind Handlungen, die den Arzt in Konflikt mit dem hippokratischen "nil nocere" und mit dem speziellen eidlichen Gelöbnis, Euthanasie und Abtreibung zu unterlassen, bringen. Sie werfen die Frage nach seiner Stellung als "Herr über Leben und Tod" 4 7 auf. Neu ist somit nicht der Tenor dieser existentiellen Fragen, wohl aber deren Vielfältigkeit sowie die Antworten, die aus der Ärzteschaft hie/auf zu hören sind; deren Reaktionen haben sich in weiten Teilen offensichtlich von den klassischen Berufsgrundsätzen abgekoppelt48. Zu keiner Zeit lag auf medizinischem Gebiet eine so weite Spanne zwischen dem technisch Möglichen und dem ethische Vertretbaren wie heute 49 , selten war daher gerade für die Ärzteschaft die Gefahr, der "Verführung durch das Machbare" 50 zu erliegen, derart groß. Zwar gab es auch in früherer Zeit Ärzte, die Abtreibungen (oder sonstige standes-widrige Handlungen) vornahmenSi. Soweit landesrechtlich

43 Furch, DÄB1. 1981, 2447, 2448; vgl. ferner zu Euthanasiemaßnahmen Lukowsky, S. 233; Gemeinsame Erklärung der Hamburger Gesundheitsbehörde und der Ärztekammer Hamburg vom 11.1.1961, Ä M 1961, 234; Laber, MedR 1990, 182 fT; Peters, Schutz des Kindes, S. 242 ff. 44

Vgl. Geilen, JZ 1968, 145 ff.

45

Vgl. Kirchmaier/Thieser,

46

Binding/Hoche,

47

Vgl. Müller, in: Müller/Stucki (Hrsg.), S. 205, 210.

in: Kaufmann (Hrsg.), S. 5; Fritsche,

MedR 1990, 237, 238 f.

S. 30 f.

48

Dennoch steht die verfaßte Ärzteschaft - zumindest expressis verbis - auch heute noch hinter dem hippokratischen Eid. Das ist u.a. aus der Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer zur pränatalen und perinatalen Schmerzempfindung zu schließen, wo es heißt: "(...) ist und war der Arzt dennoch - aufgrund des hippokratischen Eides und auch unter berufsrechtlichen Gesichtspunkten - zu angemessenen analgetischen Maßnahmen verpflichtet", DÄB1. 1991, C-2301. Wenn für die Schmerzzufügung noch die hippokratischen Grundsätze gelten, muß dies erst recht für die viel gravierendere Tötung des ungeborenen Kindes durch Abtreibung der Fall sein. 4

* Vgl. dazu Laufs, Arztrecht, Rz. 1.

50 51

Koslowski/Kreuzer/Löw

(Hrsg.), Die Verführung durch das Machbare, 1983.

Schon die Abfassung des hippokratischen Eides läßt darauf schließen, daß es eben Ärzte gab, die sich anders verhielten, vgl. FechU in: Baumeister/Smets (Hrsg.), S. 1, 7 f.

Α. Die Einbindung des Ärztestandes in das Abtreibungsstrafrecht

31

vorgeschrieben, wurde dabei sogar das Vorliegen einer medizinischen I n d i k a t i o n 5 2 zum Schwangerschaftsabbruch nach § 14 Erbgesundheitsgesetz5 3 von Gutachtersteilen beurteilt, die von den Ärztekammern auf der Grundlage der Vierten Ausführungsverordnung zum Erbgesundheitsgesetz54 eingerichtet wurden 55 . Das machte die Abtreibimg als solche aber noch nicht standesgemäß. Ihre Ausführung durch Mediziner wurde zwar in engem Umfang toleriert 5*, man war sich jedoch einig, daß es sich dabei um eine im Kern unärztliche Tätigkeit handelte 57 .

IV. Der Einfluß dieser gewandelten Anforderungen auf das Berufsrecht des Arztes unter besonderer Berücksichtigung der Einstellung zur Abtreibung Die letztbeschriebenen Anforderungen an die Ärzteschaft beeinflussen auch das Berufsrecht des Arztes. 1. Das Bundesrecht Erste Ansätze zu einer reichs-, bzw. bundeseinheitlichen Einbindung der Ärzteschaft in die strafrechtliche Abtreibungsregelung enthielt ein Gesetzentwurf aus dem Jahr 1927 ( Έ 1927"), der - in Anlehnung an die Entscheidung des Reichsgerichts zum "übergesetzlichen Notstand" anläßlich eines mit Selbstmordgefahr begründeten ärztlichen Schwangerschaftsabbruchs 58 - in Fällen vitaler Indikation bei ärztlicher Durchführung und Einwilligung der Schwangeren den Straftatbestand der Abtreibung als nicht erfüllt ansah5 9. Auf die Regelung des § 14 ErbgesundheitsG aus dem Jahr 1933 wurde bereits h i n g e w i e s e n ^ . Ein weiterer, bislang kaum 52 Zur medizinischen Beurteilung des therapeutischen Aborts (1945-1949) vgl. Gante, § 218, S. 34 ff. 53 Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7.1933 (RGBl. I, S. 539); eine gleiche Formulierung enthielt dasselbe Gesetz i.d.F.v. 26.6.1935 (RGBl. I, S. 773). 54 Art. 5-7 der Vierten Ausführungsverordnung zum Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 18.7.1953, RGBl. I 1035 (auszugsweise abgedruckt bei Spann, S. 284); siehe auch Ahrens, in: Ahrens (Hrsg.), S. 5, 9. 55 Koch, in: Eser/Koch, Schwangerschaftsabbruch I, S. 17, 71; in den Bundesländern, in denen das Gesetz zumindest partiell auch nach 1945 noch fortgalt, waren die Gutachterstellen bei der Behörde des öffentlichen Gesundheitsdienstes oder den Ärztekammern eingerichtet, vgl. Bösche, in: Müller/Stucki (Hrsg.), S. 188, 190; Ahrens, in: Ahrens (Hrsg.), S. 5 ff. (10 f.); Heiss, S. 47. 56 Nur in Fällen vitaler Indikation, vgl. Winter/Naujoks, S. 169 ff; Lewy-Lenz (Hrsg.), S. 40 ff; keine Ausnahmen läßt gelten Fecht, in: Baumeister/Smets (Hrsg.), S. 1 19 ff.

57 Vgl. Gante, § 218, S. 34 ff; Hepp, in: Böckle (Hrsg.), S. 47, 55. 58 Entscheidung vom 11.3.1927, RGSt 61, 242 ff; vgl. dazu Gante, § 218, S. 35. 59 Vgl. E 1927, Begründung, S. 128 ff, zitiert nach Koch, in: Eser/Koch, Schwangerschaftsabbruch I, S. 17, 68. 60 S.o. Teil 1 A III.

32

1. Teil: Berufsrechtliche Aspekte des ärztlichen Aborts

beachteter Schritt erfolgte mit dem Dritten Strafrechtsänderungsgesetz von 1953: Dessen Art. 2 Nr. 35 hob das Verbot der Ankündigung oder Anpreisung von Abtreibungsmitteln, -gegenständen oder -verfahren (damals: § 219 StGB a.F.) gegenüber Ärzten auf für solche "Mittel, Gegenstände oder Verfahren, die zu ärztlich gebotenen Unterbrechungen der Schwangerschaft" dienten 61 . Weitergehende Auflockerungen des Abtreibungsstrafrechts ließ jedoch das politische Klima noch nicht zu. So wurden auch spätere Gesetzentwürfe der 60er Jahre - der "E 1960" und der "E 1962", die beide neben der medizinischen allenfalls noch die kriminologische Indikation als "ernsthaft diskussionswürdig" 62 ansahen und inhaltlich bezüglich der Einbindung des Arztes weitgehend dem "E 1927" entsprachen63 - nicht weiter verfolgt. Erst Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre wurde eine gründliche Umwälzung des Arzt- und Abtreibungsrechts auf den Weg gebracht. Dieser führte nach kontroversen Debatten im Parlament und im Sonderaussschuß für die Strafrechtsreform 64 und dem Fehlschlag der vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig ver 66 w o r f e n e n 6 5 Fristenregelung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes schließlich 67 zur derzeit im 15. Strafrechtsänderungsgesetz verankerten sog. Indikationenregelung 6 8 zum Schwangerschaftsabbruch. Im Gegensatz zur früheren Gesetzeslage behandelt nun die Neufassung des Abtreibungsstrafrechts den Arzt erstmals als Mittäter und überträgt ihm geradezu diese Rolle. Die straffreie Abtreibung setzt nun notwendig ärztliche Mitwirkung voraus; sein Handeln wird nicht weiterhin kriminalisiert, sondern zur "conditio sine qua non" der gesetzlichen Strafbefreiungsvoraussetzung 6^ aufgewertet. Der Arzt wird somit von Staats wegen für eine lebensvernichtende70 Tätigkeit instrumentali61

Drittes Strafrechtsänderungsgesetz vom 4.8.1953, BGBl. 1953, S. 735 ff.

62

Koch, in: Eser/Koch, Schwangerschaftsabbruch I, S. 17, 75; vgl. auch Dreher/Tröndle, 2 vor § 218; Gante, § 218, S. 65 ff

Rz.

« Vgl. § 159 des "E 1960", bzw. "E 1962", zitiert nach Koch, in: Eser/Koch, Schwangerschaftsabbruch I, S. 17, 75; vgl. zur Diskussion um den "E 1962" Lenckner, Notstand, S. 243 ff. 64 Vgl. dazu die umfangreichen Protokolle, Deutscher Bundestag, 7. WP, Sten. Dienst, 20. Sonderausschuß-Si. v. 28.11.1971 - 77. Si. vom 28.1.1976, S. 1277-2462.

65 BVerfGE 39, 1 ff. ("Fristenlösungs"-Urteil). 66

Fünftes Gesetz zur Reform des Strafrechts - 5.StrRG - vom 18.6.1974, BGBl. I., S. 1297, geändert durch Gesetz vom 18.5.1976, BGBl. I., S. 1213 ff. 67

15. Strafrechtsänderungsgesetz - StÄG - vom 18.5.1976, BGBl. I., S. 1213.

68

Zur Entwicklung des § 218 a StGB vgl. ausfuhrlich und jeweils m.w.N. Gante, § 218, (insbes. S. 157 ff.); Dreher/Tröndle, Rz. 1 ff. vor § 218; Sch-Sch-Erer, Rz. 2 ff. vor § 218; Roxin, JA 1981, 226 ff 69 70

Zur Rechtsnatur der indizierten Abtreibung s.u. Teil 2 A I I I .

Vgl. dazu fur die inzwischen anerkannte Tatsache, daß es sich von der Konjugation (Verschmelzung von Ei- und Samenzelle) an um einen Menschen handelt, Blechschmidt, Wie beginnt das menschliche Leben?, 1984; ders., in: Hoffacker u.a. (Hrsg.), S. 31 ff.; Büchner, Der Mensch in der Sicht moderner Medizin, S. 65 ff; ders., DÄB1. 1972, 759 ff., 835 ff; Lejeune, in: JVL-Schriftenreihe, Nr. 3 (1986), S. 15 ff; Berberich, S. 119 ff; zum Zusammenhang Nida-

Α. Die Einbindung des Ärztestandes in das Abtreibungsstrafrecht

33

siert und per Gesetz in einen bisher nahezu ausnahmslos71 kriminellen Tatvorgang hereingezogen, der in unlösbarem Widerspruch zum ärztlichen Prinzip des auch das ungeborene Kind schützenden "nil nocere" steht 72 .

2. Die Standesdeklarationen Auch die Standesdeklarationen der verfaßten Ärzteschaft tragen Spuren einer gewandelten Einstellung zur ärztlichen Abtreibung: Der Weltärztebund 7 3 verabschiedete 1948 - als gegenüber dem Hippokratischen Eid "zeitgemäßere moralpolitische Orientierungshilfe" 74 - das Genfer Gelöbnis 75 , das 1956 vom 59. Deutschen Ärztetag inhaltlich übernommen und seither als Präambel jeder ärztlichen Berufsordnung vorangestellt wurde. In weitgehender Anlehnung an den Hippokratischen Eid umschreibt es - nach Übernahme in die Berufsordnungen auch rechtsverbindlich - die klassischen Grundsätze ärztlichen Handelns. Zu Lebensschutz und Abtreibung heißt es präzise und eindeutig: der Arzt ist zur bedingungslosen Achtung des menschlichen Lebens "von der Empfängnis an" verpflichtet 76 . Neue Maßstäbe für das Verhalten des Arztes zur Abtreibung setzte der Weltärztebund erstmals 1970 in der Deklaration von Oslo 77 . Danach kann die Abtreibung tion-Lebensbeginn vgl. Lejeune, in: Hoffacker u.a. (Hrsg.), S. 16 ff. (21); Schleiermacher, in: Voss/Voss/Hoffacker (Hrsg.), S. 35 ff; zum Zusammenhang Gehirnentwicklung-Lebensbeginn vgl. Laufs, Fortpflanzungsmedizin, S. 45 f. m.w.N.; Schlag, S. 122 f.; Beckmann, Rheinischer Merkur, 11.1.1991, S. 22; Schreiber, in: Schütz/Kaatsch/Thomsen (Hrsg.), S. 120, 126; vgl. ferner Keller, in: Günther/Keller (Hrsg.), S. 111, 112 f. m.w.N.; Beschlüsse des 56. Deutschen Juristentages von 1986, NJW 1986, 3069 f. Da das ungeborene Kind ein Mensch ist, ist also jede Abtreibung eine Tötungshandlung (BVerfGE 39, 1, 46: "Der Schwangerschaftsabbruch ist eine Tötungshandlung"). Es ist daher durchaus berechtigt und nicht polemisierend, die Abtreibung als "Tötung eines ungeborenen Kindes" zu bezeichnen. Zum Begriff «töten» im Zusammenhang mit der Abtreibung siehe SG Dortmund MedR 1984, 113, 116; Gössel JR 1976, 1; v.Hippel, JZ 1986, 53, 57 m.w.N. in Fn. 57; Levy-Lenz (Hrsg.), S. 31; auch die systematische Stellung im StGB ist ein Anhaltspunkt dafür. A.A. Amendt, S. 13 ff; v.Paczensky, in: v.Paczensky/Sadrozinski, S. 9. 7

1 Zur "medizinischen Indikation" des Reichsgerichtes s.o. Teil 1 A IV 1.

72

Der sichtbare Widerstand der Ärzteschaft gegen diese Einbindung war zur Zeit der Reformdiskussion und danach nur gering. So räumte die Bundesärztekammer ein, daû sie sich zunächst bewußt in der Diskussion um die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs zurückhielt, DÄB1. 1972, 729 f. 73

World Medical Association -WMA-, Vereinigung zur Förderung der Zusammenarbeit ärztlicher Organisationen der ganzen Welt (1946), vgl. Rieger, Rz. 1896. 74

Kirchmaier/Thieser,

in: Kaufmann (Hrsg.), S. 5, 7.

75

Das Genfer Gelöbnis von 1948, revidiert von der 22. Generalversammlung in Sidney 1968, erneut überarbeitet von der 35. Generalversammlung in Venedig 1983, vgl. Narr, Rz. 718; TölleKastenbein, S. 34; Wolff, Abschied von Hippokrates, S. 71. 76

Tölle-Kastenbein,

77

DÄB1. 1970, 2688; 1972, 731.

3 Esser

S. 7.

34

1. Teil: Berufsrechtliche Aspekte des ärztlichen Aborts

nach ärztlicher Auffassung "nur" - aber dann immerhin - als "therapeutische Maßnahme gerechtfertigt werden"78; nähere Voraussetzungen hierzu werden nicht genannt. Damit lag nun eine gegenüber dem Hippokratischen Eid und dem Genfer Gelöbnis modifizierte standesethische Grundlage zur Durchführung des Aborts unter ärztlicher Mitwirkung vor. Die Deklaration von Oslo erschloß allerdings - wie schon angedeutet7 9 - damit der ärztlichen Praxis kein neues Betätigungsfeld. Schon geraume Zeit vorher (und somit auch vor der Strafrechtsreform von 1974/75) erfolgte die überwiegende Zahl der Schwangerschaftsabbrüche - auch bei nicht-vitaler Indikation - nicht durch sog. Engelmacher oder Kurpfuscher, sondern durch approbierte Ärzte in Krankenhäusern oder P r i v a t p r a x e n S O . Die Deklaration schrieb eine bis dahin nur tolerierte Handhabe erstmals standesrechtlich fest.81 Erwähnt sei in diesem Zusammenhang abermals der Gesundheitsbegriff der World Health Organization (WHO) von 1946 8 2 . Durch eine Verknüpfung des "Rechtfertigungsgedankens" der Deklaration von Oslo mit dieser Begriffsbestimmung wurde die gesellschaftliche Anerkennung eines "therapeu tischen Aborts" in großem Umfang ermöglicht; denn nunmehr ließ sich nahezu jede aus der Sicht der Schwangeren wünschenswerte Abtreibung als "gerechtfertigte Therapie zur Erreichung vollständigen Wohlbefindens" d a r s t e l l e t 3.

78 Diese Formulierung wurde 1986 in die vom 89. Deutschen Ärztetag beschlossenen "Gesundheits- und sozialpolitischen Vorstellungen der Deutschen Ärzteschaft" (S. 33 f.) aufgenommen. 79

S.o. Teil 1 A III.

80

Gante, § 218, S. 235 ff.; Tröndle, Jura 1987, 66, 67; Lenzen, FS-Tröndle, S. 723, 742; W.Esser, SGb 1987, 453, 459; Bogs, ZSR 1973, 511, 519, der den Göttinger Gynäkologen Kirchhoff (Berliner Ärzteblatt 1973, 588) zitiert: "Die einstigen Laienabtreiber sind ausgestorben. Abgetrieben wird heute «geschickt», nämlich vom Fachmann." In der Bundesrepublik wurden vor der Reform rd. 21 Todesfälle pro Jahr als Folge illegaler Schwangerschaftsabbrüche registriert, Ossenbühl/RudoIphi, in: Arndt/Erhard/Funke (Hrsg.), S. 67, 100; Deutscher Bundestag, 7. WP, BT-Drs. 7/1981 (neu), S. 6: der "weitaus größere Teil" der illegalen Schwangerschaftsabbrüche werde von Ärzten durchgeführt. 81 Anläßlich einer Arbeitstagung in Friedrichsroda bei Eisenach verfaßten einige Ärtze, die unzufrieden mit der gegenwärtigen Politik ihrer Standesvertretung in puncto

Abtreibung sind, im September 1992 das sog. "Wartburg-Manifest", in dem sie sich zur unbedingten Achtung des menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod verpflichten, vgl. Deutsche Tagespost, Nr. 116, 24.9.1992, S. 2. 82 83

S.o. Teil 1 A II.

Das Bundesjustizministerium bat die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie 1970 um eine Stellungnahme zur Reform des Abtreibungsstrafrechts. Danach beschrieben zwar 85% der Befragten (d.h. des weitaus größten Teils aller westdeutschen Frauenärzte) die medizinische Indikation mit einer ernsten Gefahr flir Leben und Gesundheit der Schwangeren. Unter "Gesundheit" verstanden sie allerdings körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden i.S.d. Definition des Gesundheitsbegriffes der WHO, Ahrens, in: Ahrens (Hrsg.), S. 5, 20. Jungmann (DÄB1. 1976, 2951, 2952) weist daraufhin, daß der Gesundheitsbegriff der WHO eine politische Definition ist, "geeignet und auch dazu bestimmt, politische Ansprüche, Erwartungen und Regelungen auszulösen, ungeeignet, ja unbrauchbar jedoch für die wissenschaftliche und praktische Medizin".

Α. Die Einbindung des Ärztestandes in das Abtreibungsstrafrecht

35

3. Die einschlägige Entwicklung der Berufsordnungen Vor allem die ärztlichen B e r u f s o r d n u n g e n s 4 der alten Bundesländer belegen den Wandel der Standesauffassung zum Abort. Lange vor Inkrafttreten der Indikationenregelung enthielt bereits die Muster-Berufsordnung für die deutschen Ärzte 1937 (MBO 193785) eine vom Hippokratischen Eid und dem Genfer Gelöbnis abweichende Vorschrift zur Abtreibung; dort bereits wurde in § 3 geregelt, daß eine ärztliche Abtreibung (nur) im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen möglich war86. Auch § 3 MBO 1962 87 lautete: "Der Arzt ist grundsätzlich verpflichtet, das keimende Leben zu erhalten. Schwangerschaftsunterbrechungen unterliegen den gesetzlichen Bestimmungen."^ Der Rahmen der den § 3 S. 2 MBO 1937/1962 ausfüllenden gesetzlichen Regelungen war jedoch im Vergleich zur späteren Rechtslage noch relativ eng gesteckt, da die Abtreibung g r u n d s ä t z l i c h 8 9 nach § 218 StGB a.F. ohne Täterqualifikation, also für Schwangere und Arzt, strafbar war. Die vom 79. Deutschen Ärztetag - also nach der Verwerfung der verfassungswidrigen Fristenregelung - beschlossene MBO 1976 9 0 verpflichtet den Arzt in § 5 ebenfalls grundsätzlich zum Erhalt des "keimenden Lebens", unterwirft aber zugleich den Schwangerschaftsabbruch - wie die MBO 1937/1962 - den "gesetzlichen Bestimmungen". Inhaltlich bleibt die Formulierung der früheren MBO fast vollständig erhalten, lediglich der Begriff "Schwangerschaftsunterbrechung" wird durch die medizinisch zutreffendere Bezeichnung "Schwangerschaftsabbruch" ersetzt. Die Bezugnahme auf die "gesetzlichen Bestimmungen" erhält aber von 1976 an ein anderes Gewicht. Sie bedeutet die standesrechtliche Anerkennung der weiteren, durch das 15. Strafrechtsänderungegesetz eingeführten "Indikationen" - der eugenischen, kriminologischen und der allgemeinen Notlagenindikation. Hier wird der durch die MBO 1937/1962 begonnene Einbruch in das herkömmliche Berufsethos und -recht erheblich ausgeweitet.

8* Vgl. hierzu Seeger,, DVB1 1958, 487 ff.; Baldus, DÄB1 1982, A/B-63 ff 85

Die M B O wurde von der Reichsärztekammer aufgrund § 14 R Ä O erlassen, vgl. Spann, S.

217. 86

Berufsordnung für die deutschen Ärzte vom 5.11.1937, Ahrens, in: Ahrens (Hrsg.), S. 5,

11. 87 Vgl. zur Geschichte und Entwicklung der ärztlichen Berufsordnungen Spann, S. 215 ff; Weissauer/Poellinger, S. 7 ff; BVerfG N J W 1972, 1504 ff ("Facharztbeschluß"). 88

Spann, S. 222; Tolle-Kastenbein,

S. 37.

89

Z u den Ausnahmen bei vitaler Indikation und innerhalb des Geltungsbereichs des Erbgesundheitsgesetzes vgl. oben Teil 1 A I I I . 90 Diese wurde 1977 und 1979 mit unverändertem Wortlaut bestätigt (DÄB1. 1979, 24422446) und im wesentlichen unverändert in alle Länderberufsordnungen übernommen.

36

1. Teil: Berufsrechtliche Aspekte des ärztlichen Aborts

Die Fassung der MBO in der Bekanntmachung von 1 9 8 3 9 1 erhielt als neue Überschrift des § 5 den Titel "Erhaltung des ungeborenen Lebens", eine Bezeichnung, die immerhin deutlicher als das vormalige "keimende Leben" das Schutzobjekt benennt. In einem dritten Satz wurde ein sog. Gewissensprivileg des Arztes angefügt, wonach dieser nicht gegen sein Gewissen zur Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs gezwungen werden k a n n 9 2 . Die MBO aus dem Jahr 1 9 8 8 9 3 enthält statt eines ausdrücklichen Gewissensprivilegs den Art. 2 Abs. 2 5.StrRG entsprechenden Hinweis, der Arzt dürfe nicht zur Vornahme eines Schwangerschaftsabbruch gezwungen werden.

4. Analyse der Regelung des Aborts in den Berufsordnungen für die deutschen Ärzte und eigene Stellungnahme Die Behandlung des Aborts in den Berufsordnungen verdient besondere Aufmerksamkeit; handelt es sich dabei doch um ein eigenes standesrechtliches Regelwerk - nicht etwa ein Bundes- oder Landesgesetz. Die Selbstverständlichkeit, mit der dort das Genfer Gelöbnis mit der Zusicherung einer ehrfürchtigen Behandlung jedes Menschenlebens von der Empfängnis an als Präambel und nachfolgend die wenngleich nur grundsätzliche - Verpflichtung zum Erhalt des ungeborenen Lebens neben der Unterwerfung des Schwangerschaftsabbruchs unter die "gesetzlichen Bestimmungen" steht, verwundert und wirft die Frage nach der eigentlichen Bedeutung dieses Zusatzes in § 5 S. 2 MBO auf. a) Herausgelöst aus dem Gesamttext scheint der Verweis auf die Geltung der "gesetzlichen Bestimmungen" zunächst überflüssig, da ja an die Rechtsordnung jeder, der in ihrem Geltungsbereich lebt, gebunden ist - unabhängig von Stand, Geschlecht, Alter oder anderen willkürlichen Merkmalen. Demnach gilt auch für den Arzt in seiner Berufsausübung grundsätzlich jede staatliche Norm, die ein Tun oder Unterlassen gebietet, verbietet oder auch nur sanktionslos hinnimmt, ohne daß sie erst durch seinen Berufsstand in Geltung gesetzt werden muß. Was die ausdrückliche Übernahme der "gesetzlichen Bestimmungen" standesethisch an Brisanz enthält, wird erst deutlich in der Gegenüberstellung mit der bisherigen Standesethik. Die "gesetzlichen Bestimmungen" sehen seit Aufnahme dieser Regelung in die B e r u f s o r d n u n g 9 4 und unter Berücksichtigung der reichsge-

91 DÄB1. 1983, 75 fT. 92

Dies entspricht Art. 2 Abs. 2 des 5.StrRG; 1985 wurde diese Version des § 5 beibehalten, vgl. Vorabdruck DÄB1. 1985. «

DÄB1. 1988, 2547 ff.

94 Vgl. Spann, S. 215 ff.

Α. Die Einbindung des Ärztestandes in das Abtreibungsstrafrecht

37

richtlich entwickelten medizinischen Indikation Fälle vor, in denen der abtreibende Arzt straffrei bleibt. Seit 1976 sind die herangezogenen "gesetzlichen Bestimmungen" vorrangig die §§ 218 ff. StGB (1976), § 200f RVO und Art. 2 Abs. 2 5.StrRG einfachgesetzliche Regelungen also, die den Rahmen der Sanktionslosigkeit von Abtreibungen stark erweitern. Der Verweis auf diese Normen spricht damit rein faktisch eine Billigung der Einschränkung des Grundsatzes von der Unantastbarkeit des Lebens9^ in weitem Umfang aus. Somit erhält diese zunächst als überflüssiger Allgemeinplatz erscheinende Passage eine geradezu umwälzende Bedeutung: Die Berufsordnung, das "Grundgesetz ärztlicher Tätigkeit"9^, übernimmt eine in ihrem ethischen Niveau gegenüber den hergebrachten Grundsätzen ärztlicher Berufsausübung weniger anspruchvolle, ja dieser sogar widersprechende Vorschrift 97 . Erstmals wird eine Tätigkeit Gegenstand ärztlicher Berufszüge/« (und nicht nur einer am Standesethos vorbeilaufenden Praxis), die durchaus keine Heilbehandlung9^, sondern ein Tötungsakt ist und somit dem "nil nocere"-Prinzip entgegensteht". Je nachdem, ob man die indizierte Abtreibung als gerechtfertigt 100 ansieht oder nur als strafbefreit, aber gleichwohl rechtswidrig 101 , bedeutet die Regelung des § 5 S. 2 MBO die standesrechtliche Bekräftigung einer gesetzlichen Erlaubnis der Tötung ungeborener Kinder oder die förmliche Duldung einer Unrechtstat nach staatlichem Recht 1 0 2 . b) Bemerkenswert ist zudem, daß die Formulierung "unterliegt den gesetzlichen Bestimmungen" nicht etwa auf eine Regelung in einer bestimmten Ausgestaltung verweist; vielmehr bewirkt sie die automatische Anpassung ärztlicher Standesregeln und damit zugleich ärztlicher Standesethik an das jeweils gesetzlich verbindliche

95 Dazu Opderbecke/Weißauer,

DÄB1. 1987, B-1753, B-1755.

96 Berichterstattung über den 91. Deutschen Ärztetag, DÄB1. 1988, 1087. 97 Vgl. dazu Furch, DÄB1. 1981, 2447, 2499. 98 Vgl. Mayer, DÄB1. 1990, A-4004, A-4007; Lenzen, FS-Tröndle, S. 723, 727; diese Ansicht teilt flir Abtreibung aus allgemeiner Notlagenindikation auch LK-Jähnke, Rz. 35 zu § 218 a. Vgl. den Bielefelder Historiker Schmuhl, der zum Thema "Medizin im Nationalsozialismus" bilanziert, "Heilen und Vernichten" seien damals zwei Facetten ein und desselben beruflichen Selbstverständnisses gewesen; die betreffenden Psychiater hätten nicht trotz, sondern wegen ihres ärztlichen Berufsethos aktiv am Töten der Kranken mitgewirkt (Kersting, DÄB1. 1991, C-2513). 99 Vgl. dazu "Abtreibung ist keine Heilbehandlung" in FAZ vom 10.7.1985, erwähnt bei v.Hippel, JZ 1986, 53, 55. Im weiteren Sinne zu dieser Problematik Zielinska, MedR 1990, 313 ff 100 So etwa die Ärztekammer Baden-Württemberg, die diese Haltung zwar "aus arzt-ethischer Sicht" bedauert, Nachweis bei W.Esser, in: JVL-Schriftenreihe Nr. 6 (1989), S. 71, 85. 101 So die Ärztekammer Hamburg, Nachweis bei W.Esser, (1989), S. 71, 88 ff.

in: JVL-Schriftenreihe Nr. 6

102 Der Präsident der Ärztekammer Hamburg (s.o.) bemerkt zu dem sich hiernach aus § 5 S. 2 MBO ergebenden Dilemma lediglich: " (...) Dabei glaube ich nicht, daß das Standesrecht heute dazu benutzt werden darf, schärfere Bestimmungn anzulegen als es der Gesetzgeber oder das Bundesverfassungsgericht tut", Nachweis bei W.Esser, in: JVL-Schriftenreihe Nr. 6 (1989), S. 71, 91.

38

1. Teil: Berufsrechtliche Aspekte des ärztlichen Aborts

"ethische M i n i m u m " ! 0 3 . D e r Ärztestand toleriert also im voraus in einer Frage um Leben und Tod standesrechtlich jeweils die Regelung, die der staatliche Gesetzgeber vorgibt 1 0 4 . Eine solche Handhabe ist rechtlich keineswegs zwingend. Der sog. Wesentlichkeitslehre 10^ zufolge können zwar entscheidende und insbesondere grundrechtsrelevante Fragen nicht von autonomen Satzungsgewalten - wie etwa den Ärztekamm e r n ^ - geregelt werden, sondern bedürfen der Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers 107. Infolgedessen können berufsständische Vereinigung ihren Angehörigen zwar keine hinter den staatlichen Vorgaben zurückbleibenden Vorschriften machen 10 «. Unberührt davon bleibt jedoch das Recht jeder Standesvereinigung, eine gegenüber dem staatlichen (Straf-)Recht als "ethischem Minimum" striktere 109 Regelung zu erlassen 110 Gerade für den Ärztestand wäre wegen seines spezifischen Heilauftrages ein über den für jedermann gültigen gesetzlichen Minimalanforderungen liegender Kodex für den Umgang mit menschlichem Leben angemessen111.

103 JeUinek,S. 45. 104 W.Esser, in: JVL-Schriftenreihe, Nr. 6 (1989), S. 71 ff. (=FS-Geiger, S. 207 ff.) spricht von einer in vorauseilendem Gehorsam erteilten "Blankoermächtigung der Ärzteschaft an den Gesetzgeber zur Normierung der Standesethik im Bereich des Schwangerschaftsabbruchs" (S. 78). Gerade dieser Kritikpunkt wurde unlängst auch von Teilen der Ärzteschaft - wenn auch ergebnislos - aufgenommen. Das Minderheitsvotum des Ausschusses "Problematik des Schwangerschaftsabbruchs" der Bundesärztekammer, welches auf dem 94. deutschen Ärztetag 1991 in Hamburg zur Diskussion gestellt wurde, formuliert: "Dabei muß die Ärzteschaft auf einer größeren Rechtssicherheit bestehen, wobei die besondere Verpflichtung des ärztlichen Berufsstandes im Geblöbnis und im § 5, jedem Menschenleben von der Empfängnis an Ehrfurcht entgegenzubringen und die Pflicht, auch das ungeborene Leben grundsätzlich zu erhalten, glaubwürdig zu respektieren ist und in die Überlegungen zu einer Reform des Abtreibungsrechts mit einzubeziehen ist", Deutscher Ärztetag, Minderheitsvotum, S. 3/4; siehe auch Deutscher Ärztetag, DÄB1. 1991, B-1191: Entschließung zum Tagesordnungspunkt VIc. 105 Dazu v.Arnim, ff. m.w.N.

DVB1. 1987, 1241 ff. m.w.N.; Cramer, Gen- und Genomanalyse, S. 288

106 zur den rechtlichen Grenzen der Rechtssetzungsbefugnis von Ärztekammern vgl. Schenke, NJW 1991, 2313 ff. 107 Vgl. dazu auch den "Facharzt"-Beschluß des BVerfG, NJW 1972, 1504 ff. (= BVerfGE 33, 125 ff). io« Cramer, Gen- und Genomanalyse, S. 109 f. 109 Vgl. auch Zielinska, MedR 1990, 313 ff. Gegenüber dem staatlichen Recht wesentlich strengere Maßstäbe an standesgetreues Verhalten enthalten z.B. die Regelungen über kollegiales Verhalten in § 15 MBO und die Empfehlung der Bundesärztekammer und ihres Wissenschaftlichen Beirates, die "rechtsverbindlich" Schmerzverhinderungsmaßnahmen zu Gunsten des Kindes beim Abort anordnen, obwohl die vorsätzliche Schmerzzufugung beim Ungeborenen nicht strafbar ist (DÄB1. 1991, C-2301 ff). HO Dem widerspricht es nicht, daß auch der Arzt an das staatliche Recht gebunden ist (s.o.

Α. Die Einbindung des Ärztestandes in das Abtreibungsstrafrecht

39

c) Angesichts der heftigen Auseinandersetzung um die Rechtsnatur des nach § 218 a StGB indizierten Aborts in der juristischen Literatur und Rechtsprechung! 12 verwundert zudem die Unbekümmertheit, mit der die Berufsordnungen auf die "gesetzliche Regelung" verweisen. Welche Schlußfolgerungen soll der einzelne Arzt für sein Verhalten aus der ( j e w e i l i g e n ) Gesetzeslage ziehen? Den Ärzten obliegt zwar die "Pflicht (...), sich (...) über die für ihre Berufsausübung geltenden Bestimmungen zu unterrichten"! 13. E s ist aber für einen Arzt wegen des juristischen Streits um diese Frage unmöglich, die rechtliche Bedeutung des Abtreibungs-

Teil 1 A I V 4 a). Der Gesetzgeber kann die Tätigkeit "Abtreibung" dem ärztlichen Berufsbild nämlich nicht von Gesetzes wegen zuschreiben. Hält man auch den indizierten Abort mit der im Verfassungsrecht herrschenden Ansicht flir rechtswidrig (dazu ausfuhrlich unten Teil 2 A III), so scheitert eine Einbeziehung dieser Handlung in das Berufsbild schon an deren Rechtsnatur; denn rechtswidrige Handlungen dürfen nicht einem vom Staat geregelten Berufsbild zugeordnet werden. Aber auch, wenn Abtreibungen in bestimmten Fällen als gerechtfertigt gelten, können diese jedenfalls nicht gegen den Willen der Standesvertretung durch staatliches Gesetz in das Berufsbild des Arztes integriert werden. Dem Gesetzgeber steht nach anerkannter Auffassung zwar eine Fixierungs- und Typisierungskompetenz im Bereich der Berufsbilder zu; d.h. er ist befugt, Berufsbilder "in bestimmter Weise" zu fixieren und zu typisieren (vgl. BVerfGE 13, 97, 106) u.a. durch Zuweisung bestimmter Tätigkeiten (Berufsinhalte). Die Typisierungsbefugnis ist jedoch nicht unbegrenzt, sie ist "kein Freibrief zur gesetzlichen Fertigung von Zwangsjacken" (Breuer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR VI, § 147 Rz. 39). Der Gesetzgeber muß sich vielmehr an den "vorgegebenen Sachverhalten" der betroffenen Tätigkeit orientieren. Die Typisierung eines in freiheitlicher Autonomie entstandenen Berufsbildes ("autonomes Berufsbild"; zur Unterscheidung vom rechtlich geprägten "heteronomen Berufsbild" vgl. Maunz/Dürig/Herzog/Scholz-ScAo/z, Rz. 270 zu Art. 12; Leibholz/Rinck/Hesselberger, Rz. 256 zu Art. 12) ist zudem grundsätzlich als Freiheitseingriff zu sehen und daher am Schrankenvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 S. 2 G G zu messen (Maunz/Dürig/Herzog/Scholz-ScAo/z, Rz. 271 zu Art. 12). Unter Zugrundelegung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bedarf die Typisierung von Berufsbildern also der Rechtfertigung durch wichtige Gemeinschaftsinteressen (vgl. v. Münch- Gubelt, Rz- 14 zu Art. 12). Die Aufnahme der Abtreibung in den Katalog ärztlicher Aufgaben widerspricht aber nicht nur dem "autonomen Berufsbild" des Arztes, das wesentlich durch die überlieferten und zuvor genannten Standesgrundsätze geprägt wird; die Festschreibung dieser Tötungshandlung als Tätigkeit eines zur Lebenserhaltung sowie zum Heilen und Lindern von Schmerzen berufenen Standes (vgl. § 1 Abs. 2 MBO) würde dieses Berufsbild geradezu pervertieren. Zudem läßt sich nicht erkennen, welche wichtigen Gemeinschaftsinteressen es rechtfertigen sollen, sich über die dem "autonomen Berufsbild" immanenten Schranken hinwegzusetzen (dazu, daß auch der Gesundheitsschutz der Schwangeren nicht notwendig eine Einbindung des Arztes erfordert, s.u. Teil 3 Β I I 7). Es stände dem Gesetzgeber - die Rechtmäßigkeit von Abtreibungen einmal unterstellt - allerdings frei, einen neuen Berufsstand zur Erfüllung dieser Aufgabe zu schaffen. In diesem Sinne Schloß die Heidelberger Humangenetikerin Schroeder-Kurth ihre Stellungnahme vor dem Sonderausschuß "Schutz des ungeborenen Lebens" des Deutschen Bundestages mit der Fragestellung ab: "Sollte dann nicht der Staat besser den Arztstand von dieser Tätgkeit befreien und einen neuen Beruf kreieren, den staatlich geprüften Abtreiber?" (Schroeder-Kurth, Anhörung, Ausschuß-Drs. 76, S. 7). 111 Erstaunlich wirkt in diesem Zusammenhang die Aussage des Vorsitzenden des Berufsordnungsausschusses der Bundesärztekammer und Präsidenten der Ärztekammer Westfalen-Lippe, "es sei bisher immer gelungen, sich bei der Weiterentwicklung der Berufsordnung von modischen Zeitströmungen freizuhalten", Bericht über die Verabschiedung der neuen MBO auf dem 91. Deutschen Ärztetag, DÄB1. 1988, B-1087.

Dazu unten Teil 2 A III. So z.B. § 2 7 Nr. 1 Heilberufsgesetz N W vom 30.7.1975, in der Neufassung vom 9.3.1989, G V N W 1989, S. 170.

40

1. Teil: Berufsrechtliche Aspekte des ärztlichen Aborts

gesetzeswerkes ohne rechtlichen Beistand gründlich zu erfassen und zutreffend so zu würdigen, daß er seine Entscheidung über die Vornahme von Abtreibungen danach solide begründen kann. Da die Abtreibung dem Arzt eine für seinen Berufsstand untypische Handlung abverlangt, ist die Standesvertretung in erhöhtem Maße verpflichtet, ihre Pflichtmitglieder durch klare und aus sich heraus verständliche Vorschriften und Erläuterungen auch in den Rechtsfragen des Aborts zu informieren und zu unterrichten, um ihnen damit Schutz zu gewähren gegenüber unärztlichem und sogar rechtswidrigem Verlangen ι H Die Reduzierung der Maßstäbe für den ärztlichen Umgang mit dem Leben ungeborener Kinder auf die Ebene des strafbefreiten Eingriffs droht darüberhinaus einen zuvor bereits erwähnten Zusammenhang in sein Gegenteil zu verkehren: Die von Eberhardt Schmidt 11 5 treffend beschriebene Einflußnahme ärztlicher Standesethik auf das Arztrecht wird durch § 5 S. 2 MBO umgekehrt. Nicht mehr die ärztliche Ethik bestimmt, was das Arztrecht als Pflicht des Arztes aufnimmt, sondern eine vom Strafrecht nicht geahndete Handlung - eme Tötungshandlung116 - wird dem ärztlichen Aufgabenkatalog eingegliedert 117. Diese vom Gesetzgeber vorgegebene und von den Organen der Ärzteschaft nachvollzogene Einbindung der Ärzte in das Abtreibungsgeschehen beeinflußt zwangsläufig auch deren Rechtsbewußtsein bezüglich des indizierten Aborts im Sinne einer nun standesethisch anerkannten und "legalen" "Heil"-Behandlung. Deutlich zeigt dies eine Umfrage im Jahre 1988/89 bei allen bundesdeutschen Landes-Ärztekammern 11»: Die Antworten der Präsidenten bzw. Justitiare der Kammern auf die ihnen jeweils von einem Arzt/einer Ärztin ihres Kammerbezirkes gestellte Frage nach der Rechtsnatur der indizierten Abtreibung (Recht oder Unrecht?) sind uneinheitlich und widersprüchlich. Sie bezeugen eine weitgehende Desorientierung selbst der Standesvertretungen in dieser elementaren Frage, die beim Arzt in der Praxis noch fataler sein dürfte. Man hätte sich dieser Streitfrage seitens der Standesvertretungen durch Verweis auf tradierte, auch in den berufsständischen Regelwerken festgeschriebene Grundprinzipien entziehen können. Stattdessen erklärte der Justitiar der Ärztkammer Hamburg auf dem 91. Deutschen Ärztetag (1988) in Frankfurt: "Für den Arzt ist die Rechtsbasis der § 218 StGB; daran hat er sich zu halten" 11 9. 114

Vgl. dazu Taupitz, NJW 1986, 2851, 2856.

115 S.o. Teil 1 A I. 116 S.o. Teü 1 A I V 1. 117 Vgl. Laufs, FS-Weitnauer, S. 363, 375, 377; ders., FS-Geiger, S. 228, 239; ders., FSWeißauer, S. 88, 91, 92 f. Ii« W.Esser, Über die Orientierung im Ärztestand zur Rechtsnatur des Notlagen-Aborts, in: JVL-Schriftenreihe, Nr. 6 (1989), S. 71 ff. 119 Bundesärztekammer, Stenographischer Bericht des 91. Deutschen Ärztetages, S. 111 f.,

Α. Die Einbindung des Ärztestandes in das Abtreibungsstrafrecht

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d) Unverständlich erscheint diese Bindung einer Standesregelung an eine Gesetzesregelung, die ärztlichen Berufsgrundsätzen widerspricht, auch angesichts der von Seiten der Ärzteschaft hochgeachteten und gegen staatliche Bevormundung energisch verteidigten ärztlichen Selbstverwaltung! 20; diese wird ansonsten zu Recht 1 2 1 stets als Garantie einer "sach- und fachgerechten Wahrung der beruf-lichen Belange" 122 gesehen. Aus gutem Grund sollen diese Befugnisse dem Ärztestand weitgehend die Unabhängigkeit von staatlichen Vorgaben sichern. Umso weniger leuchtet ein, warum sich die Ärzteschaft in einem so vitalen Punkt nicht auf dieses Selbstbestimmungsrecht besonnen hat. Zu einer Ausrichtung an den Wünschen des Gesetzgebers bestand weder eine rechtliche Verpflichtung noch sonst ein zwingender Anlaß. In Anlehnung an antike Vorbilder hätte es vielmehr nahegelegen, diese Tätigkeit einem nicht-ärztlichen Berufsstand zu überlassen 123, ist es doch der Ärzteschaft insgesamt bislang auch erfolgreich gelungen, sich gegen die Mitwirkung an der Vollstreckung von Todesurteilen oder Folterungshandlungen zu wehren 12 *. e) Die zunächst als Gewissensprivileg ausgestaltete und später unabhängig davon gewährte Freistellung des Arztes von der Verpflichtung zur Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs (§ 5 S. 3 MBO) zeigt, daß die Vornahme einer Abtreibung zwar als ethisches Problem 1 gesehen wird. Nicht erkannt wird jedoch, daß es sich dabei um eine fundamentale verfassungsrechtliche Frage handelt, die primär

zit. nach W.Esser, in: JVL-Schriftenreihe, Nr. 6 (1989), S. 71, 79. Erwähnt sei hier auch folgende Begebenheit, die exemplarisch für das (Nicht-)Wissen vieler Mediziner hinsichtlich der rechtlichen Regelung des (ärztlichen) Aborts ist: In Frankfurt trafen sich im Jahr 1987 35 Ärzte, um sich mit einer Staatsanwältin über die Rechtslage zu §§218 ff. StGB zu unterhalten. Diese hielt in einem von ihr im Anschluß verfaßten Protokoll fest, daß damals "den Wortlaut und Inhalt der §§ 218 ff. StGB offensichtlich (außer Herrn ...) keiner der anwesenden 35 Ärzte kannte", zitiert nach Beckmann,, Rheinischer Merkur, 12.7.1991, S. 7. 120 spann, S. 216; diese steht den Landesärztekammern als Körperschaften des öffentlichen Rechts aufgrund der jeweiligen Kammergesetze bzw. Heilberufegesetze zu. Der Deutsche Ärztetag hat als Organ der Bundesärztekammer kein eigenes Selbstverwaltungssrecht. Vgl. Rieger, Rz. 2 ff., 552. 121 BVerfG NJW 1972, 1504, 1506 ("Facharzt"-Beschluß). 122

DÄB1. 1988, 1543 (ohne namentliche Nennung); vgl. auch Spann, S. 216.

123

Dies fordert auch Mayer, DÄB1. 1990, A-4004, A-4007. Man denke an die o.g. Praxis aus hippokratischer Zeit (Hetäre), s.o. Teil 1 A I; Wolff, Abschied von Hippokrates, S. 55 f. 124 S.o. Teil 1 A III; vgl. auch Burkhard 2448.

DÄB1. 1991, B-1482; Furch, DÄB1. 1981, 2447,

125 Vgl. d azu s toll, DÄB1. 1986, 1185. Das Gewissensprivileg stellt ein Novum im ärztlichen Berufs- und Standesrecht dar. Laufs (Heilauftrag, S. 28) stellt dies für das Gewissensprivileg bei der Beteiligung an der In-vitro-Fertilisation (§ 6 a MBO) fest; da diese Vorschrift aber erst nach § 5 S. 2 und 3 in die MBO eingefügt wurde, muß die Aussage für den dort festgeschriebenen Vorbehalt erst recht gelten.

42

1. Teil: Berufsrechtliche Aspekte des ärztlichen Aborts

auf der Ebene des Rechts zu beantworten ist 1 2 ^. Durch den Verweis auf die "gesetzlichen Bestimmungen" wird die von einem Arzt vorgenom mene Abtreibung im Rahmen der Indikationsregelung einem normalen ärztlichen Vorgang gleichgestellt 0 Zusammenfassend ist der Verweis der ärztlichen Berufordnungen im jeweiligen § 5 auf die zu den dort genannten "gesetzlichen Bestimmungen" zählende strafrechtliche Regelung der Abtreibung als entscheidende Einbruchsteile zur Einbindung des ärztlichen Berufsstandes in die gängige Abtreibungspraxis zu werten. Im Gegensatz zur staatlicherseits geschaffenen strafrechtlichen Regelung ist diese Einbindung der Ärzteschaft selbst anzulasten. Durch die Verknüpfung ihrer berufsrechtlichen Regelung mit der staatlichen Indikationenregelung trug die Ärzteschaft zur heutigen ärztlichen Abtreibungspraxis nicht unerheblich bei. Bedenkt man eines der Ziele, die der Gesetzgeber mit der Einbindung der Ärzteschaft in das Abtreibungsgeschehen verfolgte hat, nämlich die Verhinderung der von sog. Laienabtreibern vorgenommenen Abtreibungen 127 , so entsteht der Eindruck, als habe sich der ärztliche Berufsstand als "Ausfuhrungsorgan gesetzlicher Ordnungsvorstellungen" i 2 « freiwillig einspannen lassen 129 . Das Vertrauen in die ärztliche Unabhängigkeit und der Glauben an den hohen Stellenwert ärztlicher Berufsethik wird hierdurch erschüttert 130. V. Ergebnis zu A. Die Vornahme von Abtreibungen gehörte nicht schon immer zum Aufgabenkatalog ärztlicher Tätigkeit. Das ärztliche Berufsbild hat vielmehr in den vergangenen 30 126 vgl. Aussage des Präsidenten der Ärztekammer Hamburg, Nachweis bei W.Esser, Schriftenreihe, Nr. 6 (1989), S. 71 ff., 91.

in: JVL-

127 Vgl. dazu Gante, § 218, S. 235 ff. 12« Vgl. Hege, BayÄBl. 1987, 410, 422; Hepp, in: Böckle (Hrsg.), S. 47, 57. 129 ygi. di e Aussage des Mehrheitsvotums des Ausschusses des Deutschen Ärztetages "Zur Problematik des Schwangerschaftsabbruchs" (1990) zum ärztlichen Berufsbild: Zwar sei es Inhalt ärztlichen Handelns und Selbstverständnisses "Krankheiten zu heilen, Leiden zu mindern und Leben zu bewahren", doch könnten durchaus Ausnahmesituationen - wie etwa eine Konfliktschwangerschaft - auftreten, in denen von diesen Grundsätzen abgewichen werden müsses - "die Tötung ungeborenen menschlichen Lebens" dürfe selbstverständlich "nur als «ultima ratio» zugelassen" werden, Deutscher Ärztetag, Mehrheitsvotum, DÄB1. 1991, B-l 189. «ο Vgl. Böhmer, FS-Geiger, S. 181 ff. (188 f.); Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck u.a. (Hrsg.), Arztrecht, § 4 Rz. 28. Freilich gibt es nach wie vor viele Ärzte, denen dieses Vertrauen zurecht entgegengebracht wird. Dies kommt nicht zuletzt in dem bereits erwähnten Minderheitsvotum des Ausschusses Deutscher Ärztetag (1990) "Zur Problematik des Schwangerschaftsabbruchs" zum Ausdruck. Vgl. auch die Stellungnahme des Verbandes der niedergelassenen Ärzte Deutschlands ( N A V ) vom 24.6.1971 (abgedruckt bei Pawlowski, S. 155): "Jede Schwangerschaftsunterbrechung ist eine Vernichtung neuen Lebens und damit ein Akt der Tötung. (...) Zugleich hält der N A V es flir bedenklich, daß die Diskussion um eine etwaige Änderung des § 218 StGB zum Teil in einer geradezu beschämenden Manier geführt wird. Schließlich geht es um Sein oder Nichtsein von Leben."

Β. Der Einfluß auf das Arzt-Patient-Verhältnis

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Jahren einen Wandel erfahren, der sich im Standesrecht sowie nicht zuletzt im staatlichen Abtreibungsstrafrecht widerspiegelt.

B. Der Einfluß der Einbindung des Arztes in das Abtreibungsstrafrecht auf das Arzt-Patient-Verhältnis Die Einbindung der Ärzteschaft in das Abtreibungsstrafrecht berührt auch das Verhältnis zwischen Arzt und Patient.

I. Das Zwei-Personen Verhältnis Arzt-Patient Das Verhältnis Arzt-Patient ist vom Grundsatz her ein Zwei-Personen-Verhältnis. Es ist in rechtlicher Hinsicht vornehmlich vom Arztvertrag 13 1, einem zivilrechtlichen Dienstvertrag 132 (§611 Abs. 1 BGB133) geprägt 134 . Dieser begründet ein besonderes Vertrauensverhältnis, aus dem spezielle Obhuts- und Sorgfaltsverpflichtungen - wie beispielsweise Schweige- und Aufklärungspflicht - erwachsen 135 . Das Arzt-Patient-Verhältnis wird komplizierter, wenn Private und/oder juristische Personen als Dritte (oder gar Vierte) einbezogen werden: Der häufigste, ja der Regelfall, ist die Einbeziehung einer gesetzlichen K r a n k e n k a s s e 1 3 6 . Des weiteren wird das Arzt-Patient-Verhältnis um einen Dritten erweitert, wenn der Abschluß eines Arztvertrages mit einem Geschäftsunfähigen (§ 104 BGB) oder einem in seiner Geschäftsfähigkeit beschränkten Minderjährigen (§ 107 BGB) ansteht 1 3 7 , dessen Zustandekommen eine Willenserklärung des gesetzlichen Vertreters erfordert. Ein Dritter oder gar Vierter ist auch an dem Rechtsverhältnis zum Arzt beteiligt,

131

Dazu Uhlenbruch, in: Laufs/Uhlenbruck u.a. (Hrsg.), Arztrecht, § 39.

132 B G H N J W 1975, 305; Brenner, C I 1.1.1; Tiemann, S. 139; kein Vertrag liegt etwa bei Zwangseinweisungen vor, vgl. Laufs, Arztrecht, Rz. 48 Fn. 4. 133

Bürgerliches Gesetzbuch vom 18.8.1896, RGBl. S. 195, i.d.F.v. 5.4.1991, BGBl. I 854.

134

Laufs, Arztrecht, Rz. 47 f.

l" 136 137

Vgl. Geiger, FS-Stein, S. 83, 90; Taupitz, NJW 1986, 2851, 2856 f. Vgl. Schlegelmilch, in: Jung/Meiser/Müller (Hrsg.), S. 58.

Eine Ausnahme liegt z.B. in den Fällen der §§ 112, 113 BGB vor, wodurch u.U. auch der Abschluß eines Arztvertrages gedeckt sein kann, vgl. Brenner, C I 5.4 und Β I 3.1.9; Laufs, Arztrecht, Rz. 62. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, daß der mindeijährige Patient als Bote des gesetzlichen Vertreters dessen auf Abschluß eines Arztvertrages gerichtete Erklärung überbringt, so daß durch Annahme dieses Vertragsangebotes zwischen dem Arzt und dem gesetzlichen Vertreter ein Vertrag zugunsten des Patienten in Form eines Vertrages zugunsten Dritter i.S.d. § 328 BGB entsteht; vgl. dazu Palandt-Zfemr/c/u, Rz. 1 ff. zu § 328.

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1. Teil: Berufsrechtliche Aspekte des ärztlichen Aborts

wenn ein Ehegatte einen Arzt zur Behandlung des anderen Ehepartners oder eines gemeinschaftlichen Kindes heranzieht (§ 1357 BGB) 138. Gemeinsam ist diesen Beispielen, daß die Einschaltung eines Dritten immer dem Wohl der zu behandelnden Person dient Die gesetzliche Krankenkasse befreit den Patienten von seiner Zahlungsverpflichtung gegenüber dem Arzt, der gesetzliche Vertreter des Mindeijährigen ermöglicht erst das Zustandekommen eines wirksamen Arztvertrages zugunsten des nicht (voll) Geschäftsfähigen; ähnliches gilt beim Abschluß eines Arztvertrages für den Ehegatten (§ 1357 BGB). Die Berufung des Arztes zum Heilen und dem arztrechtlichen Prinzip des "nil nocere" kommt folglich in allen diesen Konstellationen zur Geltung. Hiervon und vom "salus aegroti" erhält die Beiziehung Dritter ihre Rechtfertigung. Ein Arztvertrag, der im Interesse des Dienstberechtigten einen Dritten zum bloßen Behandlungsobjekt macht und nicht dessen Wohl dient, diesem vielmehr Schaden zufügt, ist weder mit Grundsätzen ärztlicher Ethik noch mit ärztlichem Standes- oder Arztrecht vereinbar. Erweiterungen des herkömmlichen Arzt-Patient-Verhältnisses unterliegen der Gefahr, daß hier fremde Interessen ins Spiel kommen, die dem Wohl des Behandelten - sei er selbst oder ein Dritter der Auftraggeber der Behandlung - zuwiderlaufen. Diese Gefahren werden bei den vorstehenden typischen Konstellationen durch das Vertragsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches und die Rechtsprechung weitgehend gebannt.

II. Unzulässige Ausnahme vom Zweipersonenverhältnis Arzt-Patient bei der Abtreibung Betrachtet man das Verhältnis der an der Abtreibung Beteiligten, das ebenfalls ein Dreiecksverhältnis i s t 1 3 9 , so drängt sich die Problematik einer Verletzung der Interessen des nicht-beauftragenden, sondern vom Eingriff lediglich betroffenen Dritten geradezu auf. Der auf die Vornahme einer Abtreibung gerichtete Vertrag zwischen Arzt und Schwangerer hat, ungeachtet der Zweifel an seiner rechtlichen Gültigkeit 14 0, die 13« Vgl. Laufs, Arztrecht, Rz. 64; zum Abschluß eines Krankenhausvertrages und eines Behandlungsvertrages mit den liquidationsberechtigten Ärzten eines Krankenhauses, vgl. BGHZ 94, 1 (= NJW 1985, 1394). Eberbach, JR 1989, 265, 268. 140

Ein auf Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs gerichteter Arztvertrag kann nur dann rechtsgültig sein, wenn es sich dabei um eine rechtmäßige Handlung, also eine gerechtfertigte Abtreibung handelt. Da aber jede Abtreibung rechtswidrig ist (s. dazu Teil 2 A III), wird gegen das gesetzliche Verbot des § 218 StGB verstoßen, so daß alle auf einen Schwangerschaftsabbruch gerichteten Verträge gem. § 134 BGB nichtig sind; vgl. dazu Dreher/Tröndle, Rz. 9e vor § 218.

Β. Der Einfluß auf das Arzt-Patient-Verhältnis

45

Tötung eines beteiligten Dritten - nämlich des ungeborenen Kindes - zum Gegenstand. Damit steht zumindest in allen Fällen nicht-vitaler Indikation - also wenn das Leben der Schwangeren nicht unmittelbar gefährdet ist - das ungeborene Kind als durch die Bedrohung seines Lebensrechts Hauptbetroffener im Mittelpunkt des ärztlichen Handelns. Wenngleich es nicht Vertragspartner im bürgerlich-rechtlichen Sinne ist, besteht doch eine berufsrechtlich begründete Garantenpflicht zu seinen Gunsten 141 und wird seine rechtliche Position 1 4 2 durch den Vollzug des Vertragszweckes, die Abtreibung, nachhaltig beeinträchtigt, nämlich vernichtet. Der Arzt sieht sich also zwei Patienten 143 gegenüber: der Mutter und dem Ungeborenen 144 . Die Tötung des ungeborenen Kindes aufgrund vertraglicher Absprache zwischen Arzt und Schwangerer ist demnach ein Vertrag zu Lasten Dritt e r 1 4 ^ Ein solcher ist nicht nur unter zivilrechtlichen Gesichtspunkten unzulässig und u n w i r k s a m 1 4 ^ ; er widerspricht darüber hinaus dem arztrechtlichen Grundsatz des "nil nocere" sowie den in § 1 BuÄO und § 1 MBO niedergelegten Prinzipien, denn er verstößt gegen den allgemeinen und vorstaatlichen Grundsatz des absoluten Verbotes der Tötung nicht-angreifender Unschuldiger. Die Gefahr, daß es zu einer derartigen Konstellation auch in anderen Grenzbereichen kommt, etwa am Ende des menschlichen Lebens, ist durchaus a b z u s e h e n 1 4 7 .

III. Ergebnis zu B. Einhergehend mit einem Wandel der Grundwerte ärztlicher Ethik hat sich auch das Verhältnis zwischen Arzt und Patient in diesem Bereich geändert 14«. Die ärztli-

141

Laufs, Fortpflanzungsmedizin, S. 22 f.; vgl. auch BGHZ 106, 153 ff

142

Dazu ausfuhrlich unten Teil 2 A II.

143 Die Qualifizierung des Ungeborenen als zivilrechtlichen Vertragspartner des Arztes ist hier unerheblich; denn entscheidend ist, daß durch die Behandlung der Mutter das in dieser heranwachsende Kind (indirekt) betroffen wird, seine Interessen vom behandelnden Arzt also auch berücksichtigt werden müssen. Vgl. hierzu ferner Kapp, Der Fötus als Patient?, MedR 1986, 275 ff.; van der Daele, Kritische Justiz 1988, 16 fT. 144 Reiter (Stimmen der Zeit 1991, 515, 522) spricht insofern von einer "Anwaltsfunktion" des Arztes. 145 Zur anerkannten Zulässigkeit eines Vertrages zu Gunsten des Ungeborenen vgl. PalandtHeinrichs, Rz. 8 zu § 1; vgl. auch Cramer , Gen- und Genomanalyse, S. 142 ff. 146

Palandt-Heinrichs, Rz. 10 vor § 328.

1 4 7 Vgl. Lutterotti (MedR 1992, 7, 12), der von einer großen Anzahl von Euthanasie-Fällen in Holland berichtet, in denen das Todesverlangen nur von den Angehörigen des Kranken oder Alten geäußert wurde. Einer epd-Meldung des Kölner Stadtanzeiger vom 12.1.1991 zufolge leisten nach Angaben einer medizinischen Fachzeitschrift in den Niederlanden Ärzte in 2.000 Fällen Sterbehilfe oder Hilfe zum Selbstmord. Von den niederländischen Gerichten wird die ärztliche Sterbehilfe unter bestimmten Umständen geduldet, wenn sie mit der "erforderlichen Sorgfalt" geleistet wird.

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1. Teil: Berufsrechtliche Aspekte des ärztlichen Aborts

che Abtreibung hat zur Einbeziehung eines Dritten in das Arzt-Patient-Verhältnis geführt, die nicht einmal ansatzweise zu dessen Gunsten erfolgt, sondern vielmehr mit höchster Wahrscheinlichkeit dessen vorgeburtliche Tötung bedeutet.

C. Fazit Durch die widerstandslose Hinnahme der Einbindung des ärztlichen Berufsstandes in das Abtreibungsstrafrecht hat die Ärzteschaft einen wesentlichen Teil ihres standesrechtlichen Selbstbestimmungsrechtes ohne zwingenden Grund preisgegeben. Indem sie ihre Standesethik durch die entsprechende Bestimmung in ihrer Berufsordnung an das Gesetzesrecht angeglichen hat, nahm sie eine standeswidrige Handlung, die zudem noch dem allgemeinen Tötungsverbot widerspricht, in ihren Handlungskatalog auf. Die Aufgabe des hippokratischen "nil nocere"-Prinzips hat dazu gefuhrt, daß Abtreibungen inzwischen "zur häufigsten gynäkologischen Operation in der Welt geworden" sind 1 4 9 . Der heilende und helfende Arzt verwandelt sich nunmehr in einen Mediziner, der ein hilfloses Kind auf Verlangen Dritter töt e t 1 5 0 . Hierin liegt nicht zuletzt eine Gefahr für die Glaubwürdigkeit des ärztlichen Berufsstandes 151.

n« Vgl. Laufs, FS-Geiger, S. 228, 230; Hepp, in: Böckle (Hrsg.), S. 47, 54: "Hier liegt einer der Ansatzpunkte des Konflikts, der letztlich das Berufsbild des Arztes in der Gesellschaft und schließlich auch das Selbstverständnis der Ärzteschaft verändern muß und wird". 149

Bräutigam, in: Voss/Voss/Hoffacker (Hrsg.), S. 143.

150 Vgl. Geiger, Jura 1987, 60, 63. 151 Gott, F O R U M des Praktischen und Allgemein-Arztes 1991, 164; Lutterotti, 7, 11.

MedR 1992,

Zweiter Teil

Analyse der Beteiligung des Arztes am Abort auf der Grundlage des geltenden Verfassungsrechts A. Verfassungsrechtliche Grundlagen der Beteiligung des Arztes am Abort Nachdem sich gezeigt hat, daß die Abtreibung mit ärztlichen Berufsgrundsätzen unvereinbar ist, stellt sich die Frage, ob die vom Gesetz eingeplante Mitwirkung eines Arztes beim Abort darüber hinaus nicht auch wesentlichen Verfassungsgrundsätzen widerspricht. Dies wird im einzelnen anhand der Beteiligung des Arztes am Abort im Rahmen der §§ 218 ff. StGB in der Fassung des 15. StÄG vom 18.5.1976 untersucht. Neben einer kurzen Darstellung der einzelnen Handlungsmöglichkeiten des Arztes (I) sind als Grundlage einer solchen Erörterung Überlegungen zum verfassungsrechtlichen Status des ungeborenen Kindes (II) und zur Rechtsnatur des indizierten Aborts (III) notwendig.

I. Die Handlungsmöglichkeiten des Arztes innerhalb der §§ 218ff. StGB Grundlage für eine verfassungsrechtliche Beurteilung der ärztlichen Beteiligung am Abort sind die Handlungsmöglichkeiten, die dem Arzt nach geltendem Recht offenstehen.

1. Das Mitwirkungsverweigerungsrecht

(Art 2 des 5.StrRG)

Zunächst einmal kann sich der Arzt grundsätzlich jeder Beteiligung an einer Abtreibung aufgrund der Regelung des Art. 2 Abs. 1 des 5.StrRG enthalten. Diese Vorschrift, die ihrem Inhalt nach § 5 S. 3 der Muster-Berufsordnung der Länder für die deutschen Ärzte entspricht, umfaßt grundsätzlich alle an einem Abort beteiligten Personen 1, also auch den Arzt. Zumindest bei nicht-vitaler Indikation 2 wird anerkannt, daß kein Arzt zur Vornahme einer Abtreibung verpflichtet ist 3.

1 So auch Harrer, 2

DRiZ 1990, 137, 138.

Im einzelnen zu den Indikationstatbeständen s.u. Teil 3 Β I I 2.

3 Dreher/Tröndle,

Rz. 9e vor § 218, 4 zu § 218 a.

48

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

2. Die Beratung der Schwangeren durch einen Arzt (§ 218 b Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB) Jeder Abtreibung, die straffrei bleiben soll, müssen zwei Beratungen vorausgegangen sein: die sog. Sozialberatung (§ 218 b Abs. 1 Nr. 1 StGB) und die Beratung über ärztlich bedeutsame Gesichtspunkte des Aborts (§ 218 b Abs. 1 Nr. 2 StGB). Im ersten Fall kann, in letzterem muß ein Arzt als Berater fungieren. Diese Tätigkeiten des Arztes sollen jedoch hier unberücksichtigt bleiben. Zum einen ist die Sozialberatung keine ausschließlich ärztliche Tätigkeit; sie wird sogar überwiegend von Nicht-Medizinern durchgeführt. Im Mittelpunkt der hier anzustellenden Erörterungen stehen aber nur diejenigen Handlungsmöglichkeiten innerhalb des Abtreibungsstrafrechts, die ausschließlich einem Arzt vorbehalten sind. Die Aufklärung über ärztlich bedeutsame Gesichtspunkte obliegt zwar ausschließlich einem Mediziner, auch ist sie bezüglich ihres Inhaltes in Detailfragen u m s t r i t t e n 4 . Verfassungsrechtlich ist diese Art der Aufklärung jedoch unbedenklich, da sie im wesentlichen eine Risikoaufklärung mit Warnfunktion darstellt und, wenn hierbei die allgemeinen Grundsätze für jede ärztliche Aufklärung^ beachtet werden, den Entschluß der Schwangeren zur Abtreibung eher schwächt als stärkt.

3. Die ärztliche Indikationsfeststellung

(§§ 219 Abs. 1, 218 a StGB)

Vor der straffreien Abtreibung haben zwei Ärzte Feststellungen über das Vorliegen eines Indikationstatbestandes zu treffen. Hierbei sind das Gutachten nach § 219 Abs. 1 StGB und dasjenige nach § 218 a StGB zu unterscheiden. Letzteres ist im Gesetz nicht ausdrücklich als Feststellung erwähnt. Daß aber auch der abtreibende

4

So sehen einige darin eine über die vor jeder Operation erforderliche Aufklärung über ärztliche Gesichtspunkte hinausgehende Beratung (Beulke, FamRZ 1976, 596, 600; Koch, in: Eser/Koch, Schwangerschaftsabbruch I, S. 17, 170; Hirsch/Weißauer, S. 63), andere halten sie fur mit dieser identisch (LK-Jähnke, Rz. 11 zu § 218 b). Allgemein anerkannt ist jedoch, daß sie neben einer Unterrichtung über die rein medizinische Seite des Eingriffs - wie körperliche und seelische Risiken, Kontraindikationen, verschiedene Abtreibungsmethoden, Verfassung von Mutter und ungeborenem Kind (Sch-Sch-£ser, Rz. 18 zu § 218 b; LK-Jähnke, Rz. 11 zu § 218 b) - eine Erörterung der "gegenwärtigen und künftigen Gesamtsituation der Schwangeren" enthalten muß (BVerfGE 39, 1, 63; Deutscher Bundestag, 7. WP, Bericht des federführenden Ausschusses des Deutschen Bundestages zum 5.StrRG, BT-Drs. 7/1981 (neu), S. 16 f.; Deutscher Bundestag, 7. WP, Sten. Dienst, 75. Sonderausschuß-Si. v. 14.1.1976, S. 2406 f.). Dazu gehört auch eine Aufklärung darüber, daß bei einer Abtreibung menschliches Leben vernichtet wird (BVerfGE 39, 1, 63; BGH NJW 1983, 350, 351; Dreher/Tröndle, Rz. 13 zu § 218 b; LK-Jähnke, Rz. 11 zu § 2 1 8 b; Lackner, Rz. 3 zu § 218 b; SK-Rudolphi, Rz. 14 zu § 218 b; Müller-Emmert, DRiZ 1976, 164, 167; Narr, Rz. 795; Sch-Sch-£*?r, Rz. 18 zu § 218 b; Koch, in: Eser/Koch, Schwangerschaftsabbruch I, S. 17, 170; krit. Laufhütte /Wìlkitzki, JZ 1976, 329, 333). 5

Vgl. Laufs, Arztrecht, Rz. 144 ff. m.w.N.

Α. Verfassungsrechtliche Grundlagen

49

Mediziner eine Indikation festzustellen hat, ergibt sich aus der gesetzlichen Formulierung des § 218 a StGB, wonach der Abbruch der Schwangerschaft "nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt" sein muß. Eine dahingehende Erkenntnis des Arztes aber setzt einen eigenen Befund über das Vorliegen eines Notlagentatbestandes voraus6.

a) Der Begriff der "Indikation" Vor einer Darstellung der ärztlichen Feststellungstätigkeit im Zusammenhang mit dem Abort sind einige begriffliche Anmerkungen angebracht. Beide Feststellungen werden landläufig mit dem Begriff "Indikation" umschrieben, der im Gesetz nicht verwendet wird. Eine Betrachtung der eigeritlichen Bedeutung dieses Begriffs wirft jedoch Zweifel an der Berechtigung seiner Anwendung im Rahmen des gegenwärtigen Abtreibungsstrafrechts auf. Nach herkömmlicher Terminologie steht der vom lateinischen "indicare" (= anzeigen) abgeleitete Begriff Indikation für "(Heil-)Anzeige; zwingender Grund zur Anwendung eines bestimmten diagnostischen und/oder therapeutischen Verfahrens in einem bestimmten Krankheitsfall"? bzw. einem "Grund oder Umstand, eine bestimmte ärztliche Maßnahme durchzuführen"«. Diese Beschreibung trifft auf die Indikationen i.S.d. §§ 219 Abs. 1, 218 a StGB nicht zu. Beide dienen weder der Feststellung einer Krankheit? (Diagnose) noch als Grundlage eines Heilverfahrens (Therapie) 10 ; auch bezwecken sie keine andere genuin ärztliche Maßnahme. Vielmehr umschreiben sie Umstände, unter denen eine geplante Straftat, nämlich der Schwangerschaftsabbruch, ausnahmsweise ohne strafrechtliche Folgen bleiben soll 1 Insbesondere die Feststellung nach §219 Abs. 1 StGB kann nicht als "Indikation" bezeichnet werden. Dies verbietet sich noch aus einem weiteren Grund:

6 Dies gilt umso mehr, als der nach § 218 a StGB indizierende Arzt die Letztverantwortung für das Vorliegen eines Indikationstatbestandes trägt, Sch-Sch-£rer, Rz. 16 zu § 219 m.w.N.; siehe auch unten Teil 3 C II. 7

Pschyrembel

Stichwort "Indikation", S. 781; vgl. auch Anschütz, Ärztliches Handeln, S. 257

ff. 8 Roche, Lexikon Medizin, Stichwort "Indikation", S. 864; vgl. auch Uhlenbruch, in: Laufs/Uhlenbruck u.a. (Hrsg.), Arztrecht, § 51 Rz. 1; Dreher/Tröndle, Rz. 7 zu § 218 a zum Begriff "angezeigt".

9 Da eine Schwangerschaft keine Krankheit ist (vgl. Schulin, Rz. 231, 257 ff.; Krauskopf/Schroeder-Printzen, Anm. 2.3. zu § 128), gilt dies auch fur deren "Beseitigung" durch Abtreibung aufgrund einer gesetzlich umschriebenen Notlage. 10 Vgl. zum Zusammenhang Indikation-Diagnose-Therapie Anschütz, in: Eser u.a. (Hrsg.), Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Sp. 538. 11

Zur Rechtsnatur des nach § 218 a StGB indizierten Aborts siehe unten Teil 2 A III.

4 Esser

50

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

Der Arzt hat nach § 219 Abs. 1 StGB nicht festzustellen, «daß», sondern nur "ob die Voraussetzungen des § 218 a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 und 3 StGB gegeben sind" R Auch eine Feststellung mit negativem Inhalt ermöglicht also bereits den weiteren Ablauf des Abtreibungsprocedere 13. Hiermit aber geht der Bezug zum allgemeinen "Indikations"-Verständnis vollends verloren. Allein zur Unterscheidung von der auch dem abtreibenden Arzt obliegenden Fallbeurteilung (§ 218 a StGB), die immerhin bei angestrebter Straffreiheit zu einem positiven Ergebnis hinsichtlich des Vorliegens eines der Tatbestände des § 218 a StGB kommen muß, wird fortan die Tätigkeit des nach § 219 Abs. 1 StGB handelnden Mediziners in Übereinstimmung mit dem Gesetzeswortlaut lediglich als "Feststellung" oder als "Erst-Feststellung" bezeichnet, während für die nachfolgende Beurteilung des Abtreibers nach § 218 a StGB - trotz der vorgenannten Bedenken - der Indikations-Begriff beibehalten wird 1 4 .

b) Die Erst-Feststellung (§ 219 Abs. 1 StGB) Die Straffreiheit des abtreibenden A r z t e s 1 * setzt gem. §219 Abs.l S. 1 StGB voraus, daß ihm die Feststellung eines anderen Arztes darüber vorgelegen hat, o b einer der Indikationstatbestände des § 218 a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 StGB erfüllt und die Frist des § 218 a Abs. 3 StGB gewahrt ist 1 6. Wie schon gesagt 17 , genügt dabei auch eine negative Erst-Feststellung den Anforderungen des § 219 Abs. 1 StGB. Daraus folgt, daß diese den abtreibenden Arzt nicht b i n d e t 1 8 und ihn in seiner Ver-

12 In allen früheren Gesetzesfassungen - auch in § 219 StGB a.F. - war eine positive Indikationsfeststellung des erstfeststellenden Arztes erforderlich, vgl. Sch-Sch-£ter, Rz. 4 zu § 219; Dreher/Tröndle, Rz. 4 zu § 219. 13 Dreher/Tröndle, § 219; Hirsch/Weißauer,

Rz. 4 zu § 219; SK-Rudolphi, Rz. 3 zu § 219; Sch-Sch-£jer, Rz. 4 zu S. 23; Laufhütte/Wilkitzki, JZ 1976, 329, 336.

14 Die Einführung des hier unzutreffenden Ausdrucks "Indikation" läßt das Bemühen erkennen, der Abtreibungstätigkeit den Anschein ärztlicher Normalität zu verleihen, vgl. auch Horstkotte, Deutscher Bundestag, 7. WP, Sten. Dienst, 25. Sonderausschuß-Si. v. 13.2.1974, S. 1470 ("den Schwangerschaftsabbruch wie einen normalen ärztlichen Vorgang behandeln"). 15 Die Frau ist auch bei Fehlen der Erst-Feststellung nicht nach § 219 Abs. 1 StGB strafbar (§ 219 Abs. 1 S. 2 StGB). 16 Die Erst-Feststellung muß sich nicht auch auf das Vorliegen der nach § 218 a Abs. 1 Nr. 1 StGB erforderlichen Einwilligung der Schwangeren beziehen; § 219 Abs. 1 S. 1 StGB erwähnt lediglich die Voraussetzungen des § 218 a Abs. 1 Nr. 2 , Abs. 2, 3 StGB; vgl. auch Deutscher Bundestag, 7. WP, Sten. Dienst, 76. Sonderausschuß-Si. v. 21.1.1976, S. 2430, 2433; Deutscher Bundestag, 7. WP, Bericht und Antrag des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform vom 3.2.1976, BT-Drs. 7/4696, S. 7, 12; Dreher/Tröndle, Rz. 4 zu § 219.

"

S.o. Teil 2 A I 3a.

« L G Kiel VersR 1984, 451; LK-Jähnke, Rz. 8 zu § 219; Dreher/Tröndle,

Rz. 4 zu § 219.

Α. Verfassungsrechtliche Grundlagen

51

antwortung für die eigene Indikationsstellung (§ 218 a StGB) und die nachfolgende Abtreibung nicht einschränkt oder entlastet19. Die als solche zu k e n n z e i c h n e n d e 2 0 Feststellung i.S.d. § 219 Abs. 1 S. 1 StGB kann grundsätzlich jeder Arzt treffen, der nicht selber den Abbruch der Schwangerschaft vornimmt (§ 219 Abs. 1 S. 1 StGB) 21 . Ohne daß dies dem Gesetzestext unmittelbar zu entnehmen ist, wird jedoch überwiegend gefordert, daß zumindest bei Eingriffen im Gebiet der Bundesrepublik der Arzt nach deutschem Recht approbiert sein muß 2 2 . Einer darüber hinausgehenden fachlichen Qualifikation, etwa eugenischer, gerichts- oder sozialmedizinischer Kenntnisse, bedarf der nach § 219 Abs. 1 S. 1 StGB tätige Arzt nicht 2 3. Zwar kommt wegen der notwendigen Approbation für Humanmedizin nach deutschem Recht zur Erst-Feststellung kein Psychologe oder Heilpraktiker in Betracht, ebenso kein Zahn- oder Tierarzt. Den formalen Voraussetzungen des § 219 Abs.l S. 1 StGB genügt hingegen die Feststellung etwa durch einen Arzt für Allgemeinmedizin oder gar einen Facharzt eines Spezialgebietes wie z.B. ein Facharzt für Hals-, Nasen-, Ohrenkrankheiten, Orthopädie oder Urologie 24 . Nach § 219 Abs. 2 S. 1 StGB ist ein Arzt von der Erst-Feststellung nicht einmal deswegen ausgeschlossen, weil er wegen einer Tat im Zusammenhang mit einem Schwangerschaftsabbruch rechtskräftig verurteilt worden ist. Vielmehr darf ein Mediziner diese Feststellung erst dann nicht mehr treffen, wenn ihm die zuständige Stelle2^, die hierbei über einen Ermessensspielraum verfügt 2^, dies wegen einer solchen Tat untersagt hat 2 7 .

LK-Jähnke, Rz. 8 zu § 219; v.Hippel, JZ 1986, 53, 54; Augstein/Koch, S. 130 ff.; Bericht und Antrag des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform vom 3.2.1976, BT-Drs. 7/4696, S. 11. 20 Dreher/Tröndle,

Rz. 4 zu § 219.

21

Nicht vereinbar mit § 219 Abs. 1 StGB ist ein sog. "Ärztinnenprivileg", d.h. die Selbstbegutachtung einer Ärztin mit Abtreibungswunsch, LK-Jähnke, Rz. 7 zu § 219; Gössel, JR 1976, 1, 2. 22 Deutscher Bundestag, 7. WP, Bericht und Antrag des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform vom 3.2.1976, BT-Drs. 7/4696, S. 11; Dreher/Tröndle, Rz. 3 zu § 219; Lackner, Rz. 2 zu § 219; ders. NJW 1976, 1233, 1237; Sch-Sch-£w>r, Rz. 8 zu § 219; Müller-Emmert, DRiZ 1976, 164, 167/168. Rudolphi sieht bei einer im Ausland erfolgten Abtreibung eine Approbation des ausländischen erstfeststellenden Arztes nach Maßgabe des jeweiligen Landesrechts als ausreichend an, SK-Rudolphi, Rz. 6 zu § 219. 23

Sch-Sch-Eser, Rz. 10 zu § 219; LK-Jähnke, Rz. 6 zu § 219; kritisch dazu Kluth, NJW 1986, 2348, 2349; v.Hippel, JZ 1986, 53, 58 ff.; ders., in: JVL-Schriftenreihe, Nr. 4 (1987), S. 17 ff; Tröndle, Jura 1987, 66, 72. 24 Letzteres ergibt der Umkehrschluß aus § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB, wo Zahn- und Tierarzt neben dem Arzt eigens aufgeführt sind, Dreher/Tröndle, Rz. 3 zu § 219. 25

Nach Dreher/Tröndle,

26

Dreher/Tröndle,

27

Zum vorläufigen Verbot der Erstellung von Erst-Feststellungen vgl. § 219 Abs. 2 S. 2

StGB.

Rz. 5 zu § 219 etwa die Bezirksregierung oder das Berufsgericht.

Rz. 5 zu § 219.

52

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

c) Die Indikationsfeststellung (§ 218 a StGB) Nach § 218 a StGB setzt die Straflosigkeit des abtreibenden Arztes neben der Einwilligung der Schwangeren das Vorliegen eines der dort genannten Indikationstatbestände voraus. Gleiches gilt für die Schwangere, die sich nicht einer Beratung nach § 218 b Abs. 1 Nr. 1 StGB unterzogen und daher nicht die Privilegierung des § 218 Abs. 3 S. 2 S t G B 2 8 erworben hat. Das Gesetz unterscheidet vier Tatbestände: die medizinische Indikation (§ 218 a Abs. 1 Nr. 2 StGB), die eugenische Indikation (§ 218 a Abs. 2 Nr. 1 StGB), die kriminologische Indikation (§ 218 a Abs. 2 Nr. 2 StGB) und die allgemeine oder "sonstige" Notlagenindikation (§ 218 a Abs. 2 Nr. 3 StGB). Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt soll die für ihn unverbindliche 29 ErstFeststellung (§ 219 Abs. 1 StGB) auswerten. Er darf sie jedenfalls nicht ungeprüft übernehmen; vielmehr hat er das Vorliegen der Indikationsvoraussetzungen eigenständig und eigenverantwortlich zu e r m i t t e l n ^ . Ob und in welchem Umfang der abtreibende Arzt die ihm von der Schwangeren geschilderte Sachlage durch eigene weitere Ermittlungen aufzuklären hat, besagt der Gesetzeswortlaut nicht 3 1 . Dieser gibt vielmehr nur an, der Arzt habe seine Feststellung "nach ärztlicher Erkenntnis" 3 2 zu treffen. Eine Approbation für Humanmedizin nach deutschem Recht wird nach allgemeiner Ansicht auch beim letztindizierenden Mediziner gefordert 3 weitere fachli-

28 Diese Regelung wird vielfach als "verkappte Fristenregelung" bezeichnet, vgl. Tröndle, ZRP 1989, 54; Deutscher Richterbund, DRiZ 1975, 397, 398; Gössel, BT, § 10 Rz. 52; LK-Jähnke, Rz. 31 vor § 218; Lackner, Rz. 12 zu § 218; Roxin, JA 1981, 226, 229; Schmitt, FamRZ 1976, 595; Würtenberger, in: JVL-Schriftenreihe Nr. 5 (1988), S. 31, 34.

29 S.o. Teil 2 A I 3 a. 30 Dreher/Tröndle, Rz. 4 zu § 218 a. Die alleinige Verantwortung für das Vorliegen der Indikationsvoraussetzungen nach § 218 a StGB trägt der abtreibende Arzt ( O L G Bremen VersR 1984, 288, 289; L G Kiel VersR 1984, 451; Sch-Sch-Eyer, Rz. 1 zu § 219; Müller-Emmert, DRiZ 1976, 164, 168); ein Sachverhalt, der zunehmend auf starke Kritik der Ärzte stößt (vgl. Deutscher Bundestag, 8. WP, Bericht der "Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem reformierten § 218 des StGB", BT-Drs. 8/3630, S. 22; Schmitt, FamRZ 1976, 595, 596) und verfassungsrechtlich bedenklich ist (Dreher/Tröndle, Rz. 4 zu § 218 a StGB m.w.N.). 31

Dazu unten Teil 3 Β I I 3.

32

Zur Bedeutung dieser Formulierung s.u. Teil 3 Β I I I 3.

33 Sch-Sch-Erer, Rz. 55 zu § 218 a; Dreher/Tröndle, Rz. 4 zu § 218 a; SK-Rudolphi, Rz. 11 zu § 218 a. Schroeder will bei einem Schwangerschaftsabbruch in der Bundesrepublik das Tätig-

Α. Verfassungsrechtliche Grundlagen

53

che Qualifikationen jedoch nicht. Insbesondere ist nicht erforderlich, daß es sich um einen Gynäkologen handeltH So praktizieren selbst in bundesweit bekannten Abtreibungspraxen N i c h t - G y n ä k o l o g e n 3 5 . Im Gegensatz zur Regelung beim erstfeststellenden Arzt sieht das Gesetz keinen Ausschluß für einschlägig vorbestrafte Mediziner nach Verfügung der zuständigen Stelle vor, so daß auch ein wegen eines Delikts im Zusammenhang mit §§ 218 ff. StGB rechtskräftig verurteilter Arzt weiterhin straffrei nach § 218 a StGB abtreiben kann, soweit und solange gegen ihn kein Berufsverbot (§§ 70 ff. StGB) verhängt wird.

4. Die Durchführung

der Abtreibung

Schließlich ist für die Straffreiheit des Aborts gem. § 218 a Abs. 1 StGB die Vornahme desselben durch einen Arzt erforderlich. Bezüglich seiner Qualifikation kann auf die Ausführungen zum letztindizierenden Mediziner verwiesen werden, da dieser mit dem abtreibenden identisch ist.

5. Pränatale Diagnostik als Vorstufe zum möglichen Abort aufgrund eugenischer Indikation Eine weitere, allerdings nur in mittelbarem Zusammenhang mit dem Abtreibungsgeschehen stehende Aufgabe ist dem Arzt durch Richterrecht zugewiesen worden. Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes verurteilte 1983 in zwei Entscheidungen Ärzte, die die mögliche Schädigung eines ungeborenen Kindes trotz Anfragen der Eltern nicht erkannt hatten. Da den Eltern daher die Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch aufgrund eugenischer Indikation (§ 218 a Abs. 2 Nr. 1 StGB) genommen worden sei, verpflichtete der Bundesgerichtshof die Ärzte zu lebenslanger Unterhaltsleistung bzw. zur Erbringung der durch die Behinderungen bedingten Mehraufwendungen für die jeweils mit gesundheitlichen Schäden zur

werden eines nicht approbierten ausländischen Arztes ausreichen lassen (Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 1, § 6 Rz. 8). Bei einer Auslandsabtreibung läßt jedoch die überwiegende Ansicht auch bezüglich der Voraussetzungen des § 218 a StGB die Vornahme derselben durch einen nach Ortsrecht approbierten Arzt zu (Dreher/Tröndle, Rz. 4 zu § 218 a; Lackner, Rz. 7 zu § 218 a; Laufhütte/Wilkitzki, JZ 1976, 329, 330). Der EingrifT eines Laien kann jedoch dann straffrei sein, wenn für den Fall des Wartens auf einen Arzt die Gefahr des Todes oder eines schweren Gesundheitsschadens für die Schwangere besteht, Dreher/Tröndle, Rz. 4 zu § 218 a; Lackner, Rz. 7 zu § 218 a; Sch-Sch-£rer, Rz. 22 zu § 218. 34 LK-Jähnke, Rz. 17 zu § 218 a. 35 So etwa der Arzt F.A.Stapf, der 1991 in Stuttgart/Baden-Württemberg eine neue Abtreibungspraxis eröffnete, Stuttgarter Zeitung vom 20.2.1991; hierzu auch Beckmann, Politische Studien 1989, S. 635, 648. Zum "Ärztinnenprivileg" vgl. Dreher/Tröndle, Rz. 4 zu § 218 a; LKJähnke, Rz. 18 zu § 218 a.

54

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

Welt gekommenen K i n d e r 3 6. Möglicherweise sieht der Bundesgerichtshof eine dahingehende Aufklärung selbst dann als erforderlich an, wenn die Schwangere nicht nach der Möglichkeit einer Schädigung des Kindes gefragt hat 3 7 . Wenn sich der Arzt nicht der Gefahr weitreichender Ersatzpflichten aussetzen will, wird er als Folge dieser Rechtsprechung seine Patientin nach Feststellung einer Schwangerschaft auf die Möglichkeit einer Pränataldiagnose 38 h i n w e i s e n 3 9 . Will oder kann er diese schon nicht selber vornehmen - in diesen Fällen muß der Arzt die Schwangere laut Bundesgerichtshof an einen Kollegen verweisen 4^ -, so hat er doch zumindest eine "Indikation" zu dieser Untersuchung zu erstellen, nämlich festzustellen, ob die Patientin zu einer Risikogruppe gehört, bei der eine pränatale Diagnose anzuraten ist 4 1 . Wegen des nur indirekten Zusammenhangs, der zwischen dieser Thematik und der Beteiligung des Arztes an Abtreibungen nach §§ 218 ff. StGB besteht, soll diese Frage hier jedoch nicht näher behandelt werden.

6. Verschreibung

nidationshemmender Mittel (§ 219 d StGB)

Nach § 219 d StGB gilt die Wirkung solcher Mittel, die die Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutterschleimhaut verhindern, nicht als Abtreibung i.S.d. §§ 218 ff. StGB 4 2 . Einfachrechtlich besteht daher fur den Arzt die Möglichkeit, solche vermeintlichen "Verhütungsmittel" zu verschreiben, die nicht die Konjugation verhindern, sondern zum Tod des ungeborenen Kindes im vornidativen Stadium führen.

II. Überlegungen zum verfassungsrechtlichen Status des ungeborenen Kindes Eine rechtliche Analyse der Beteiligung des Arztes innerhalb des Abtreibungsstrafrechts setzt Klarheit über den Status voraus, der dem ungeborenen Menschen nach dem Grundgesetz zukommt.

BGHZ 86, 240 ff.; 89, 95 ff; dazu Grunsky, Jura 1987, 82, 84; Stürner, Jura 1987, 75, 79. 37 Stürner, Jura 1987, 75, 79. 38 Vgl. hierzu Laufs, Fortpflanzungsmedizin, S. 16, 90 ff. m.w.N.; Laufs/Uhlenbruck u.a. (Hrsg.), Arztrecht, § 50 Rz. 12 ff; Berberich, S. 75 ff.

Uhlenbruch in:

39 Nach Müller (NJW 1984, 1799, 1801) verpflichtet diese Aufklärungs- und Beratungspflicht letztlich den Arzt zur Mitwirkung an der Tötung des ungeborenen Kindes.

40 BGHZ 89, 95, 97. 41 Vgl. dazu auch Cramer, Eberbach, JR 1989, 265 ff. 42

Dreher/Tröndle,

Gen- und Genomanalyse, S. 95 f.; ders., MedR 1992, 14 ff;

Rz. 4 zu § 218 a m.w.N.; s.u. Teil 2 Β IV.

Α. Verfassungsrechtliche Grundlagen

55

L Die Bedeutung des verfassungsrechtlichen Status des Embryos für die Beteiligung des Arztes am Abort Die Tätigkeit des Arztes im Gefüge der §§ 218 ff. StGB ist verfassungsrechtlich relevant, betrifft sie doch das Leben eines ungeborenen Kindes, also einen "Höchstwert" 43 unserer Rechtsordnung. Der abtreibende Mediziner beeinträchtigt nicht nur die physische Existenz des ungeborenen Kindes, er greift gleichzeitig in dessen rechtliche Position ein. Die grundgesetzliche Rechtsordnung unterscheidet zwischen Rechtssubjekten und Rechtsobjekten. So kommen auch für den Status des ungeborenen Kindes zwei Möglichkeiten in Betracht. Der Embryo 4 4 kann als Mensch zum einen selbständiges Rechtssubjekt, also Träger des Grundrechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) sein. Andererseits kann er als bloßes Rechtsgut einer aus den objektiven Wertvorstellungen der Verfassung erwachsenden grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates ( A r t . 1 A b s . 1 S. 2 , 2 A b s . 2 S. 1 G G ) unterliegen^.

2. Zur Grundrechtsträgerschaft des ungeborenen Kindes in bezug auf das Recht auf Leben Das ungeborene Kind ist vom Grundgesetz nicht eigens als Inhaber des Rechts auf Leben genannt. Dies erklärt, warum im Zusammenhang mit der Vereinigung der beiden Teile Deutschlands in der politischen Diskussion die Forderung nach einer ausdrücklichen Aufnahme des Lebensrechts ungeborener Menschen ("ungeborenes, sterbendes, behindertes Leben"4^) in das Grundgesetz laut wurde. Gleichwohl läßt sich auch ohne einen solchen Schritt die Anerkennung einer eigenen, zumindest partiellen Grundrechtsträgerschaft des noch nicht geborenen Kindes dem Grundgesetz entnehmen; dann nämlich, wenn auch der ungeborene Mensch "jeder" i.S.d. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist.

43 BVerfGE 39, 1, 42. 44 In Anlehnung an die Definition in § 8 Abs. 1 Embryonenschutzgesetz ("Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an", Gesetz zum Schutz der Embryonen vom 13.12.1990, BGBl. I, 2746) wird die Bezeichnung «Embryo» hier synonym für «ungeborenes Kind» verwandt. Die medizinische Terminologie, wonach je nach Entwicklungsstadium weiterhin zwischen Blastozyste (befruchtetes Ei bis zur Einnistung) und Fötus (Embryo nach dem dritten Schwangerschaftsmonat) unterschieden wird, bleibt unbeachtet. 45 46

Vgl. Böckenförde,

Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989.

So im sog. "Dritten Weg" der Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth (vgl. FAZ, Nr. 58, 9.3.1991, S. 4 oder DÄB1. 1991, B-1789); vgl. hierzu Roellecke, FamRZ 1991, 1045, 1047; Tröndle, Neuregelung, S. 11 ff.

56

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

a) Meinungsstand Der verfassungsrechtliche Status des ungeborenen Kindes wird unterschiedlich beurteilt.

aa) Die Literatur (1) Die inzwischen überwiegende 47 Meinung in der verfassungsrechtlichen Literatur billigt dem Menschen bereits vor der Geburt hinsichtlich des Grund- und Menschenrechts 48 auf Leben Rechtssubjektivität zu 4 9 . Schon 1956 nennt Dürig das ungeborene Kind ausdrücklich als "Inhaber des Rechts auf L e b e n " 5 0 . Diese Ansicht teilt nunmehr selbst die Mehrzahl derjenigen Stimmen im Schrifttum, die ansonsten keine nennenswerten verfassungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich der derzeitigen Ausgestaltung des Abtreibungsstrafrechts erkennen lassen**. Zur Grundrechtsfähigkeit des ungeborenen Kindes bekannte sich auch die Bundesregierung. In ihrer Anwort auf eine Große Anfrage der Abgeordneten Schoppe und der

47 Vgl. Harrer,

Jura 1990, 353, 357.

48 Unter Menschenrechten versteht man im Gegensatz zu den sog. Bürgerrechten diejenigen Rechte, die nicht nur einem bestimmten Personenkreis zukommen - etwa "allen Deutschen", Art. 8, 9, 11 G G -, sondern jedermann zustehen {Hesse, Staatsrecht, Rz. 284 m.w.N.). Nach Herzog (EuGRZ 1990, 483) sind die Men^chenrechte darüber hinaus überpositive und damit vorstaatliche Rechte, Grundrechte dagegen vom Staat gewährte Rechte und damit ein Minus gegenüber den Menschenrechten. Das Lebensrecht ist demnach genauer ein Menschenrecht; vgl. Brugger, AöR 114 (1989) 537 ff. (555 ff.). Zum Menschenrecht des Embryo im Zusammenhang mit der Menschenwürde vgl. Heuermann/Kröger, MedR 1989, 168, 171; zur Diskussion des Grundrechtsstatus in der ehemaligen DDR vgl. Poppe, Staat und Recht 37(1988) 283 fT. 49 Herzog, JR 1969, 441, 442; Spaemann, ZRP 1974, 114 fT.; Lang-Hinrichsen, FamRZ 1974, 497 ff.; v.Mutius, Jura 1983, 30, 32; ders., Jura 1987, 109 ff.; Isensee, NJW 1986, 1645, 1646; Hohm, NJW 1986, 3107, 3108; Geiger, FamRZ 1986, 1 ff.; Lorenz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR VI, § 128 Rz. 10; v.Münch-v.Münch, Rz. 39 zu Art. 2; ders., Vorb. zu Art. 119 Rz. 7 ff; Steiger, in: Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, S. 255, 262 ff; Β adura, Staatsrecht, C 35, S. 91; y.MangoJdt/Klein/S tare k, Rz. 129 zu Art. 2 Abs. 2; AK-Podlech, Rz. 11 ff. zu Art. 2 Abs. 2; Jarass/Pieroth-Jlara«, Rz. 46 zu Art. 2, der allerdings den ungeborenen Menschen als "physischen Teil der Mutter" bezeichnet; Schunck/De Clerck, S. 171; Belling, S. 67 ff; Eser, in: Hofmann (Hrsg.), Schwangerschaftsunterbrechung, S. 148; Sch-Sch-isser, Rz. 3 vor § 218; Stern, Staatsrecht I I I / l , § 70 I V 5e; Kluth, in: Der Status des Embryo, S. 137 ff; ders., GA 1988, 547, 550 f. m.w.N.; von der Pfordten, ARSP 1990, 69 ff; Katz, Staatsrecht, Rz. 698 unter Berufung auf die "herrschende Meinung"; Köhler, GA 1988, 435, 447 f.; Schünemann, ZRP 1991, 379, 384; Cramer, Gen- und Genomanalyse, S. 51 ff, 62; Pöltner, in: JVL-Schriftenreihe, Nr. 8 (1991), S. 7 ff; Classen, GA 1991, 209, 211; Hofmann, Das Lebensrecht des Nasciturus, S. 45; Kunig, Jura 1991, 415, 417 f.; vgl. auch Böckenförde, Stimmen der Zeit 1971, 147, 149 ff, (188); Laufs, Fortpflanzungsmedizin, S. 35; Weiß, JR 1992, 182 ff. 50 51

M a u n z / D ü r i g / H e r z o g / S c h o l z - R z . 21 zu Art. 2.

So z.B. v.Münch-v.Münch, Rz. 39 zu Art. 2; ders., Vorb. zu Art. 1-19 Rz. 7 ff; Jarass/Pieroth-/araw, Rz. 46 zu Art. 2; AK-Podlech, Rz. 11 ff zu Art. 2 Abs. 2; Eser, in: Eser/Hirsch (Hrsg.), S. 107.

Α. Verfassungsrechtliche Grundlagen

57

Fraktion DIE G R Ü N E N 5 2 zur «Sozialisation von unerwünschten Kindern» vom 18.10.1990 führt sie aus: "Zu den Grundlagen unseres Staates und unserer Gesellschaft gehören die Unantastbarkeit der Würde des Menschen und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Diese unabdingbaren Grundrechte, die unsere Verfassung garantiert, stehen jedem Menschen auch schon vor seiner Geburt zu, denn auch das ungeborene Leben ist bereits menschliches L e b e n . " 5 3 (2) Nur wenige Literaturstimmen leugnen den subjektivrechtlichen Status des noch nicht geborenen Kindes in bezug auf das L e b e n s r e c h t 5 4; teilweise wird ihm ein lediglich "moralischer Status" z u g e b i l l i g t e s .

bb) Das Bundesverfassungsgericht Die Frage nach der Grundrechtsträgerschaft des Embryos in bezug auf das Lebensrecht ist verfassungsgerichtlich noch nicht geklärt. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner die Fristenregelung als verfassungswidrig verwerfenden Entscheidung zu dieser Frage nicht abschließend geäußert, sondern sich im wesentlichen auf einen Verstoß der damaligen Abtreibungsregelung gegen die staatliche Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG (Menschenwürde) und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (Recht auf Leben) gestützt5^ Das Gericht ließ mit der Erklärung, diese Frage brauche "im vorliegenden Verfahren (...) nicht entschieden zu werden" vielmehr ausdrücklich offen, "ob der nasciturus selbst Grundrechtsträger ist oder aber wegen mangelnder Rechts- und Grundrechtsfähigkeit «nur» von den objektiven Normen der Verfassung in seinem (sie!) Recht auf Leben geschützt wird" 5 7. Gleichwohl enthält das Urteil eine Reihe von Hinweisen, die erkennen lassen, daß das Bundesverfassungsgericht der Anerkennung einer partiellen Grundrechtsträgerschaft in bezug auf das Lebensrecht zuneigte58.

52

Deutscher Bundestag, 11. WP, BT-Drs. 11/7382.

53

Deutscher Bundestag, 11. WP, Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Frau Schoppe und der Fraktion DIE G R Ü N E N «Sozialisation von unerwünschten Kindern», BT-Drs. 11/8145, S. 2. 54 Hamann/Lenz, Anm. Β 8, S. 144; Roellecke, in: Baumann (Hrsg.), S. 40; BK-Wernicke, Erstbearbeitung, Anm. I I 2b; Hoerster, JuS 1989, 172 ff.; ders., JuS 1991, 190, 191; ders., Universitas 1991, 17 ff; Frommet, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 14/90, S. 12, 13 f.; Rüpke, S. 125; Jerouscheck, JZ 1989, 279 ff.; Ramm, JZ 1989, 861, 867. 55

So etwa Frommel, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 14/90, S. 12, 13; dagegen Lenzen, M D R 1990, 969 ff. ("Hat das ungeborene Kind nur einen moralischen Status?"); Schünemann, ZRP 1991, 379, 384; Dreher/Tröndle, Rz. 6c vor § 218 spricht von einem "menschenrechtlichen Status". 56 Vgl. BVerfGE 39, 1 ff. Leitsatz 1. 57 BVerfGE 39, 1, 41. 58 Vgl. etwa BVerfGE 39, 1, 36 ff.

58

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

b) Eigene Stellungnahme Mit der in der Literatur herrschenden Meinung ist eine partielle Grundrechtsträgerschaft des noch nicht geborenen Kindes bezüglich des Grund- und Menschenrechts auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG anzuerkennen. aa) Voraussetzung jeder Grundrechtsträgerschaft ist zunächst, daß der betreffende Träger das jeweilige Recht theoretisch und praktisch innehaben kann. Für eine partielle subjektive Grundrechtsträgerschaft des ungeborenen Kindes in bezug auf das Lebensrecht spricht daher entscheidend, daß der Embryo nach wissenschaftlich nicht mehr ernsthaft bestrittener Erkenntnis vom Augenblick der Verschmelzung der männlichen und weiblichen Zellkerne (Konjugation) an nicht nur "menschliches Leben", sondern ein in seinen Anlagen vollständiger Mensch in seinem frühesten Entwicklungsstadium ist 5 9, der daher leben kann und lebt. (1) Dieser auf den Lebensbeginn bezogenen A r g u m e n t a t i o n ^ folgen die meisten Stimmen der in der Literatur herrschenden Meinung. Teils hängen sie dabei noch der Lebensdefinition des Bundesverfassungsgerichts an, wonach "ein menschliches Individuum (...) nach gesicherter biologisch-physiologischer Erkenntnis jedenfalls* 1 vom 14. Tag nach der Empfängnis an (besteht)" 62 . Andere Autoren vertreten jedoch bereits - wohl auch in Anlehnung an die Bestimmung des § 8 Abs. 1 ESchG 63 , die auf die Konjugation abstellt - die nur konsequente64 Forderung nach einer schutzintensiveren, schon vor der Nidation einsetzenden Interpretation des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG mit einer möglichst frühzeitig beginnenden Grundrechtsfähigkeit65. Angesichts des fortgeschrittenen Wissens über den Beginn des Lebens besteht wohl zu der vom Bundesverfassungsgericht in dieser Frage geäußerten Zurückhaltung keine weitere Veranlassung6 6. 59

S.o. Teil 1 A I V 1.

60

Zur Berechtigung dieser Argumentation vgl. Keller,

in: Günther/Keller (Hrsg.), S. 111,

116. 61

Hervorhebung von der Verfasserin.

62

BVerfGE 39, 1, 37 (Nidation, Individuation, vgl. dazu Hofmann , in: Hofmann (Hrsg.), Schwangerschaftsunterbrechung, S. 88 f.). 63

Siehe die Defmtion oben Teil 2 A I I 1.

64

Dies anerkennt sogar Jerouschek, JZ 1989, 279, 281.

« y.Mutius, Jura 1987, 109, 111; Lorenz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR VI, § 128 Rz. 12 m.w.N. in Fn. 54; Dreher/Tröndle, Rz. 6c vor § 218. Der hiergegen erhobene Einwand, diese Auslegung fasse den Begriff "jeder" zu weit (so Sass, in: Arzt und Christ 1984, 166, 169), ist mit Bezugnahme auf die vorstehenden Ausführungen zum Lebensbeginn (s.o. Teil 1 A I V 1) zu entkräften (Kluth, in: Der Status des Embryo, S. 137, 139). Dürig (AöR 81 (1956) 117, 126) formuliert in diesem Sinne mit Verweis auf den umfassenden Menschenwürdegehalt des Art. 1 Abs. 1 GG: "Wer vom Menschen gezeugt wurde (...) nimmt an der Würde «des Menschen» teil." Dies läflt sich auch auf das Lebensrecht übertragen. Vgl. auch Schlag, S. 117 ff. 66

Das Bundesverfassungsgericht betont, daß spätestens von diesem Zeitpunkt an ein mit der

Α. Verfassungsrechtliche Grundlagen

59

(2) Diese Lebensdefinition wird von einigen Autoren als "biologistisch" abgelehnt. Nach Hoerster hat der Ungeborene zwar unzweifelhaft menschliche Qualität im Sinne einer biologischen Gattungszugehörigkeit, so daß insoweit grundsätzlich von einer Gleichwertigkeit geborener und ungeborener Menschen auszugehen sei; ihm fehlten jedoch zur Grundrechtsträgerschaft (und damit auch zur strafrechtlichen Schutzwürdigkeit hinsichtlich seiner vorgeburtlichen Tötung) ebenso wie dem Kleinkind Ichbewußtsein und Personalität. Aus der bloßen "Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies/Gattung" (sog. Speziesismus) ergebe sich keine besondere Schutzwürdigkeit und keine Notwendigkeit zur Anerkennung eines Lebensrechts67. Dem ist entgegenzuhalten, daß eine Lebensdefinition, die die Konsequenzen, die aus dem Menschsein fließen, von anderen Faktoren als der reinen Zugehörigkeit zur "Gattung Mensch" abhängig macht, nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Dies zeigt schon ein Blick auf die historische Motivation des Verfassungsgesetzgebers zur Aufnahme des Lebensrechts in das Grundgesetz. Sollte doch gerade die Festschreibung dieses Grundrechts "ein Bekenntnis zum grundsätzlichen Wert des Menschenlebens"^ sein und eine erneute Differenzierung von "lebenswertem" und "lebensunwertem" Leben v e r h i n d e r n ^ . Die Anbindung des Lebensrechts an Personalität im Sinne von aktuellem Ichbewußtsein aber weist den Weg in Richtung

Geburt keineswegs abgeschlossener Prozeß kontinuierlicher Entwicklung beginne, der "keine scharfen Einschnitte aufweist und eine genaue Abgrenzung der verschiedenen Entwicklungsstufen des menschlichen Lebens nicht zuläßt", BVerfGE 39, 1, 38. 67 Hoerster, Universitas 1991, 19 ff. (23 fT.); ders., JuS 1989, 172, 175; ders., JuS 1991, 190 ff. (dagegen Schroeder, JuS 1991, 362 ff.); ders., Abtreibung im säkularen Staat, 1991; ders., JZ 1991, 503 ff.; vgl. hierzu auch Singer, Praktische Ethik, S. 107; Leist, S. 57 ff. 68 69

BVerfGE 39, 1, 36.

Kluth, in: Der Status des Embryo, S. 137, 138. So argumentiert auch das Bundesverfassungsgericht, das den ungeborenen Menschen in der "Fristenregelungs"-Entscheidung - trotz seiner Zurückhaltung zur Frage nach der Rechtssubjektivität desselben - ausdrücklich als selbständiges Rechtsgut des Art. 2 Abs. 2 S. 1 G G (BVerfGE 39, 1, 36) sowie als "jeder" i.S.d. des Art. 2 Abs. 2 S. 1 G G ansieht und bisweilen sogar ausdrücklich vom "Lebensrecht des Ungeborenen" (BVerfGE 39, 1, 48) spricht (BVerfGE 39, 1, 36, 37). Zu Unrecht wirft Jerouschek (JZ 1989, 279, 280) dem Bundesverfassungsgericht einen Zirkelschluß vor. Dies träfe nur zu, wenn die Karlsruher Richter sich ausschließlich auf eine juristische Definition des Menschseins beschränkt und aufgrund dieser Definition "jedem" das Recht auf Leben "zugestanden" hätten. Das Gericht beruft sich aber gerade auf eine biologisch-naturwissenschaftliche Definition des Lebensbeginns (BVerfGE 39, 1, 37 f.). In diesem Sinne ist mit Stern davon auszugehen, daß "die Grundrechtsberechtigung in den auf die menschliche Existenz als solche abstellenden Grundrechten (...) als verfassungsrechtliche Kategorie nach Mäßstäben bestimmt werden (muß), die in den Grundrechtsnormen und ihren Schutzintentionen angelegt" sind (Stern, Staatsrecht I I I / l , § 70 4d.) Für das Grund- und Menschenrecht auf Leben bedeutet das, daß es eben jedem Lebenden aus sich heraus zusteht und nicht erst vom Staat verliehen werden muß (Stern, Staatsrecht I I I / l , § 70 I V 5).

60

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

Euthanasie™ und bereitet der erneuten Möglichkeit der Vernichtung derartiger "Un-Personen" - ob geboren oder ungeboren - den Boden 71 . Die von Hoerster vertretene, auf die anglo-amerikanische "Bio-Ethik" zurückgehende 72 These findet letztlich ihre Widerlegung, die angesichts des im Vordergrund stehenden Themas dieser Arbeit hier nicht im gebotenen Umfang erfolgen kann, darin, daß sie - wie Pöltner 7 3 überzeugend darlegt - Menschsein als Fähigkeit oder Eigenschaft versteht, nicht aber als notwendige Voraussetzung des Innehabens und/oder Ausübens aller menschlichen Fähigkeiten und Eigenschaften. Wer aber das Menschsein von Fähigkeiten wie etwa dem Ich-Bewußtsein oder der Personalität abhängig macht, überwindet damit nicht den von Hoerster abgelehnten "Speziezismus". Dieser wird vielmehr lediglich durch einen anderen überlagert, denn dann "legt eine neue, nur anders zusammengesetzte «Spezies» - die Klasse der Selbstbewußtseinsbesitzer - fest, wer Mensch ist und wer nicht, wessen Dasein zu achten ist und wessen nicht" 74 . bb) Weitere Anhaltspunkte für die Bejahung einer partiellen Grundrechtsträgerschaft des ungeborenen Kindes ergeben sich - wie soeben angedeutet - aus der Entstehungsgeschichte des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Hierauf stützt auch das Bundesverfassungsgericht seine A r g u m e n t a t i o n 7 5 . Die Frage, ob auch das ungeborene Kind "jeder" i.S.d. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG sei, wurde im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates kontrovers d i s k u t i e r t 7 6 . Aus den parlamentarischen Debatten geht aber hervor, daß zumindest ein beachtlicher Teil der "Mütter und Väter des Grundgesetzes" das ungeborene Kind unter den Schutz des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG stellen wollte 7 7 . Bemerkenswerterweise wurde in der abschließenden Plenarberatung des

70 Vgl. auch Adler, DÄB1. 1980, 765, 771; Schottjer,

ZRP 1992, 132 ff

71

Gegen die Ansicht Hoersters und Singers überzeugend von der Pfordten, ARSP 1990, 69 ff.; Spaemann, in: Low (Hrsg.) S. 48 ff.; Büchner, ZRP 1991, 431; Suarez, SJZ 1990, 205 ff; Hruschka, JZ 1991, 507 ff; Eser, ZRP 1991, 291, 293; Schünemann, ZRP 1991, 379, 384; Low, in: JVL-Schriftenreihe Nr. 6 (1989) S. 23 ff; Vtejhues, Stimmen der Zeit 1990, 752 ff; ders.; Stimmen der Zeit 1991, 455 ff; Schockenhoff, Stimmen der Zeit 1990, 805ff; Bydlinski, JB 1991, 477 ff; Weiß, JR 1992, 182 ff 72

Vorreiter dieser sog. Bio-Ethik ist Singer, Praktische Ethik, 1984; ders., in: Sass (Hrsg.), S.

139 ff. Pöltner, in: JVL-Schriftenreihe, Nr. 8 (1991), S. 7 ff 74 Pöltner, in: JVL-Schriftenreihe, Nr. 8 (1991), S. 7, 18. BVerfGE 39, 1, 41: "Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen". 75 Vgl. BVerfGE 39, 1, 38-40. 76 Vgl. hierzu beispielhaft für die unterschiedlichen Standpunkte die Äußerungen der Abgeordneten Dr.Seeboom (DP) und Frau Dr. Weber ( C D U ) einerseits und des Abgeordneten Dr.Greve (SPD) andererseits bei Stern, Staatsrecht I I I / l , § 70 I V 3b; hierzu ferner Gante, § 218, S. 53 ff; Lang-Hinrichsen, FamRZ 1974, 497, 498. 77 Vgl. dazu BVerfGE 39, 1, 38-40; kritisch dazu Stern, Staatsrecht I I I / l , § 70 I V 3b.

Α. Verfassungsrechtliche Grundlagen

61

Parlamentarischen Rates am 8.5.1949 die Auffassung der Ratsmitglieder Seebohm, Wessel und Weber widerspruchslos akzeptiert, die sich für eine auch das ungeborene Kind umfassende Interpretation des Wortes "jeder" aussprachen 78. Die Ansicht einiger Stimmen in der Literatur 7 9, die davon ausgehen, der Verfassungsgesetzgeber habe das ungeborene Kind auf keinen Fall durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG schützen wollen, läßt sich historisch nicht stichhaltig b e l e g e n ^ . Die hier vertretene Auslegung des Begriffs "jeder" wird in grundrechtsdogmatischer Hinsicht unterstützt, wenn man den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verankerten Grundsatz berücksichtigt, wonach ein Grundrecht "im Zweifel" so auszulegen ist, daß es die größtmögliche Wirksamkeit erlangt 81 . Ein Prinzip, das sich hinsichtlich der vorliegenden Problematik kurz mit "in dubio pro embryone" 82 umschreiben läßt. cc) Für die Anerkennung einer pränatalen Grundrechtsträgerschaft bezüglich des Lebensrechts spricht zudem, daß auch das Bundesverfassungsgericht - wie schon angemerkt - das noch nicht geborene Kind als "jeder" im Sinne dieser Norm und als selbständig durch diese geschützes Rechtsgut bezeichnet83. Es ist logisch nahezu unmöglich, daß jemand zwar "jeder" i.S.d. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG sein könnte, aber nicht zugleich Träger dieses Grundrechts 84. So argumentiert Steiger, daß die Grundrechtsträgerschaft des Ungeborenen in puncto Leben "rechtslogisch zwingend" und sie ihm abzusprechen gefahrlich sei: Warum könne dann nicht auch einem bereits Geborenen die Fähigkeit, Träger dieses Grundrechts zu sein, abgesprochen werden, obwohl auch er ein "jeder" ist?8 5 Steiger befürchtet zu Recht eine aus dieser Argumentation erwachsende Verobjektivierung der Grundrechte zum Nachteil des Subjekts8 6.

78 Parlamentarischer Rat, Sten. Bericht, 10. Si. v. 8.5.1949, S. 214, 218, 223; vgl. hierzu Gante, § 218, S. 53 f. 79 Hoerster, JuS 1989, 172 fT; Β Κ-Wernicke, Erstbearbeitung, Anm. I I 2b zu Art. 2; Jerouschek, JZ 1989, 279 ff.; Hamann/Lenz, Anm. 8 zu Art. 2; Roellecke, in: Baumann (Hrsg.), S. 40 f.; Stein, § 21 I. 80

Siehe die zahlreichen Quellenangaben zu dieser Parlamentarischen Debatte bei Stern, Staatsrecht I I I / l , § 70 IV 3b; Gante, § 218, S. 53 ff. 81

BVerfGE 39, 1, 37 f. mit Verweis auf BVerfGE 32, 54, 71; 6, 55, 72.

82

Pap, S. 241; Kluth, in: Der Status des Embryo, S. 137, 139; Cramer , Gen- und Genomanalyse, S. 57. « 84

Vgl. BVerfGE 39, 1, 36 f. Siehe Steiger, in: Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, S. 255, 262.

8

* Diese Bedenken teilt aus ärztlicher Sicht Adler; DÄB1. 1980, 765, 771. Genau in die von Steiger angedeutete Richtung aber tendieren Ansichten wie die von Singer und Hoerster. 86

Steiger, in: Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, S. 255, 262 f.

62

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

dd) Gegen eine Grundrechtsträgerschaft des Embryo spricht ferner nicht, daß etwa die zivilrechtliche Rechtsfähigkeit des Menschen erst mit Vollendung der Geburt (§ 1 BGB) einsetzt. In systematischer Hinsicht ist zu beachten, daß die Verfassung stets aus sich selber heraus zu interpretieren ist. Nicht dagegen definiert das einfache, unter dieser stehende Gesetzesrecht (wie etwa § 1 BGB) die Begriffe der Verfassung^. Zudem decken sich die Geltungsbereiche der Grundrechts-, Rechts-, Geschäfts- und Prozeßfähigkeit zwar teilweise, kongruent sind sie jedoch nicht. So besitzt z.B. ein nicht geschäftsfähiges, minderjähriges Kind durchaus Grundrechtsfähigkeit» 8. Letztere meint nämlich lediglich die Fähigkeit, Inhaber der vom Grundgesetz ausgewiesenen Grundrechte zu s e i n 8 9 Diese Fähigkeit besitzt das ungeborenen Kind in bezug auf das Recht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 durchaus. Da "Sinnmitte der Grundrechte"^ der Mensch ist und nicht das Recht dem Menschen die Eigenschaft des Menschseins verleiht, sondern diese nur respektiert und daraus Folgerungen zieht, muß sich die Zuerkennung der Grundrechtsfahigkeit hinsichtlich des Rechts auf Leben notwendig an dem Zeitpunkt ausrichten, von welchem ab mit biologisch gewährleisteter Sicherheit menschliches Leben existiert 91 - mithin vom Augenblick der Befruchtung an92. ee) Die Anerkennung der pränatalen Grundrechtsträgerschaft in bezug auf das Lebensrecht ist auch nicht etwa systemfremd 93. Das Zivilrecht kennt bereits Vergleichbares, wenngleich es hierbei stets um künftige und zumeist Vermögensrechte des Ungeborenen geht: "Wer zur Zeit des Erbfalls noch nicht lebte, aber bereits erzeugt war, gilt als vor dem Erbfall geboren" (§ 1923 Abs. 2 BGB). Das ungeborene Kind wird also mit seiner Geburt bei der Erbfolge berücksichtigt, wie ein bereits beim Erbfall Geborener. Oder § 1912 Abs. 1S. 2 BGB: "Eine Leibesfrucht erhält zur Wahrung ihrer künftigen Rechte, soweit diese einer Fürsorge bedürfen, einen Pfleger" 94 . Sogar Vertriebener i.S.d. Lastenausgleichsgesetz ( L A G ) 9 5 und Verfolgter 87

Hermes, S. 227; Murswiek,

S. 107; Geiger• FamRZ 1986, 1, 2.

8« Vgl. Hohm, NJW 1986, 3107 ff. 89 Vgl. v.Münch-v.Münch, Rz. 7 vor Art. 1-19 m.w.N.; Hohm, NJW 1986, 3107, 3108 m.w.N. » 91

Stern, Staatsrecht I I I / l , § 70 I V 5. Zum Lebensbeginn s.o. die Hinweise in Teil 1 A IV 1.

92

Hoerster weist darauf hin, die Grundrechtsfähigkeit habe nicht zwingend an den Zeitpunkt der Empfängnis anzuknüpfen (JuS 1989, 172, 173; ähnlich Ramm, JZ 1989, 861, 867). Dies mag zwar in dieser Allgemeinheit berechtigt sein, kann jedoch aus den dargelegten Gründen nicht gelten, wo es um das Recht auf Leben, die notwendige Voraussetzung aller anderen Grundrechte geht. Vgl. auch v.Mutius, Jura 1987, 109, 110; Maunz/Dürig/Herzog/Scholz-ßürfc, Rz. 24 zu Art. 1; Stern, Staatsrecht I I I / l , § 70 I V 5d. 93

Vgl. auch Laufs, Fortpflanzungsmedizin, S. 49 f.

94

Vgl. dazu Vaianât- Heinrichs, Rz. 5 f. zu § 1 m.w.N.

Α. Verfassungsrechtliche Grundlagen

63

iS.d. Bundesgesetzes zur Entschädigung für Opfer der national-sozialistischen Verfolgung (BEG) 9 6 kann der Ungeborene s e i n 9 7 . ff) Auch die beiden dissentierenden Richter verneinten in ihrem Minderheitsvotum zur "Fristenregelungs"-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine Grundrechtsträgerschaft des Ungeborenen nicht völlig. Sie äußern sich zwar nicht speziell zu diesem Problemkreis, bezeichnen das ungeborene Kind an einer Stelle aber immerhin als "potentiellen Grundrechtsträger" 9 8. ihre wesentliche Kritik an der Mehrheitsentscheidung zielt auch nicht auf die grundsätzliche Anwendung des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, sondern auf die aus diesen Normen abgeleitete Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß von S t r a f n o r m e n 9 9 . Die Minderheits-Richter betonen sogar, der Embryo sei bezüglich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG - allerdings in seiner Funktion als Abwehrrecht - "durchgängig in gleicher Weise geschützt wie jedes geborene Menschenleben"1 oo. gg) Mit guten Gründen bejaht die herrschende Meinung im verfassungsrechtlichen Schrifttum eine partielle Grundrechtsträgerschaft des ungeborenen Kindes bezüglich des Rechts auf Leben. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG steht dem Embryo von der Konjugation an zu. Auch den Aussagen des Bundesverfassungsgerichts sind keine dieser Ansicht widersprechenden Argumente zu entnehmen. Vielmehr legt eine genaue Analyse des "Fristenregelungs"-Urteils die Annahme nahe, daß die Karlsruher Verfassungsrichter einer Grundrechtsfähigkeit des Ungeborenen eher zustimmend als ablehnend gegenüberstanden. Die Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts in der hier diskutierten Frage läßt sich mit der durchaus von vielen Gerichten geübten Praxis erklären, nicht entscheidungserhebliche Aussagen zu unterlassen.

In zwei Fällen machte bereits ein von einem Vormundschaftsgericht bestellter Pfleger für Ungeborene mit einer Verfassungsbeschwerde geltend, daß eine Verletzung des Grundrechts auf Leben seines Pfleglings durch die öffentliche Gewalt drohe. Das Bundesverfassungsgericht lehnte die Annahme einer Beschwerde mit der Begründung ab, der Pfleger sei nicht in seinen (sie) Grundrechten betroffen (BVerfG, Az. 1 BvR 513/77). Zur eigentlichen prozessualen Frage, ob nämlich dem ungeborenen Kind ein Grundrecht zustehe und ob dieses im Blick auf die bevorstehende Abtreibung betroffen sei, führte das Gericht nichts aus. In dem Beschluß über die weitere, von einem "ftir alle in der Bundesrepublik Deutschland erzeugten, noch nicht geborenen Kinder" bestellten Pfleger am 7.3.1991 erhobene Verfassungsbeschwerde, in der die derzeitige Indikationenregelung als Verletzung des Grundrechts auf Leben gewertet wurde, läßt das Gericht diese Frage ebenfalls dahinstehen und lehnt das Begehren als unzulässige Popularklage ab (BVerfG, Beschluß vom 19.2.1992, Az. 2 BvR 386/91). «

BVerwGE 14, 43 ff. BGH FamRZ 1968, 250.

97 Vgl. auch §§ 1650 Abs. 1, 1963, 2141 BGB. *

BVerfGE 39, 1, 68 ff., 79.

»

BVerfGE 39, 1, 68 ff., 71 ff.

loo BVerfGE 39, 1, 68 ff, 79.

64

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

Als Ergebnis bleibt also festzuhalten: Der Arzt greift bei jeder Abtreibung in das Grund- und Menschenrecht des ungeborenen Kindes auf Leben ein.

3. Die Schutzpflicht

des Staates aus Art. 1 Abs. 1 S. 2, 2 Abs. 2 S. 1 GG

Neben seiner Grundrechtsträgerschaft ist für den verfassungsrechtlichen Status des ungeborenen Menschen die aus dem objektiven Gehalt der Art. 1 Abs. 1 S. 2 und 2 Abs. 2 S. 1 GG fließende Schutzpflicht des Staates von Bedeutung. Sie ist heute im Grunde nicht mehr umstritten K*1 und gilt bereits als "verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit" 102.

a) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur staatlichen Schutzpflicht aa) Erstmals klingt der Gedanke einer aus den Grundrechten abzuleitenden Schutzverpflichtung des Staates in einem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1951 an1**3. Grundlage der Anerkennung einer staatlichen Schutzpflicht war zunächst lediglich die M e n s c h e n w ü r d e 1 0 4 . Art. 1 Abs. 1S. 2 GG - so das Bundesverfassungsgericht - "verpflichtet den Staat zwar zu dem positiven Tun des «Schützens», doch ist dabei nicht Schutz vor materieller Not, sondern Schutz gegen Angriffe auf die Menschenwürde durch andere (...) gemeint" 105 . Hier deutet sich bereits die der Konkretisierung dieses Schutzpflichtgedankens vorausgegangene Akzentverschiebung des ursprünglichen Grundrechtsverständnisses in Form einer Funktionserweiterung gegenüber der traditionellen Grundrechtslehre an: Während man die im Zuge der Aufklärung errungenen Grundrechte über lange Zeit hinweg in ihrem ursprünglichen liberalen Sinn als reine Abwehrrechte des einzelnen gegenüber dem Staat zur Wahrung seiner persönlichen Freiheit verstand, interpretierte man sie schrittweise als subjektive Leistungs- oder Teilhaberechte und leitete aus ihnen Aufträge des Staates zur grundrechtsadäquaten organisatorischen und verfahrensrechtlichen Gewährleistung ab106. Die Grundrechte erhielten über ihre bloße Abwehrfunktion (Stichwort: "liberaler Nachtwächterstaat") hinaus den Cha-

101

Z u den weiterhin umstrittenen Detailfragen vgl. umfassend Hermes, S. 58 ff.

102 So Hofmann, U P R 1984, 73. 103 BVerfGE 1, 97, 104. 104 Vgl. Stern, Staatsrecht I I I / l , § 69 I V 4. 105 BVerfGE 1, 97, 104. 106 zu den allgemeinen Grundrechtslehren vgl. umfassend Bleckmann, } S. 197 ΑΓ.; Friesenhahn, 50. DJT, Sitzungsbericht G 1 ff; vgl. auch Klein, N J W 1989, 1633 ff.; Scherzberg, DVB1. 1989, 1128 ff.

Α. Verfassungsrechtliche Grundlagen

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rakter von Weitentscheidungen mit Verfassungsrang, sie erstarkten zu Normen mit objektiv-rechtlichem G e h a l t 1 0 7 . bb) Im weiteren Verlauf gelangte die Grundrechtslehre zu einer Verpflichtung des Staates, sich "schützend und fördernd" vor die Aushöhlung solcher Freiheitsgarantien zu stellen, deren Gewährleistung dem staatlichen Verantwortungsbereich entspringt: "In den Grundrechtsvorschriften der Verfassung verkörpert sich eine objektive Wertordnung, «in der eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt» und die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt" 1 0 8 . cc) Darauf aufbauend hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zur Fristenregelung (1974) eine umfassende S c h u t z p f l i c h t 1 0 9 des Staates statuiert, die diesem nicht nur gebietet, sich eigener rechtswidriger Eingriffe in grundgesetzlich geschütze Positionen zu enthalten, sondern die darüber hinaus den Staat verpflichtet, sich auch bei rechtswidrigen Angriffen Dritter "schützend und fördernd" vor den Bedrohten zu stellen 110 . Hierin liegt insofern eine Erweiterung gegenüber der vorherigen Schutzpflichtdogmatik, als erstmals über das Verhältnis Staat-Bürger hinaus auch die Position privater Dritter mitbedacht und berücksichtigt w i r d 1 1 Die Folgerungen des Bundesverfassungsgerichts gehen von zwei Gedanken aus: Zum einen zieht das Gericht so die Konsequenz aus der bereits erwähnten Anerkennung des Ungeborenen als "jeder" i.S.d. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Schon unmittelbar aus dieser Bestimmung - so die Karlsruher Richter - ergebe sich die Verpflichtung, "jedes menschliche Leben zu schützen" 11 λ Zum anderen findet Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG Berücksichtigung, wonach es Aufgabe aller staatlichen Gewalt ist, die

107 BVerfGE 49, 89, 142; Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1533; ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 232 ff.; ders., Der Staat 29 (1990) 1 ff.; Ossenbühl, NJW 1986, 2100 ff. (2106); Klein, N J W 1989, 1633 mit Verweis auf die ständige Rechtsprechung des BVerfG seit BVerfGE 7, 198, 204 f.; 56, 54, 73. Kritisch hierzu Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, S. 131 ff. 108 BVerfGE 33, 303, 333 mit Verweis auf BVerfGE 7, 198, 205 und die ständige Rechtsprechung des BVerfG. Gemeint war damit beispielsweise die staatliche Verpflichtung zur Gewähr der Freiheit von Forschung, Lehre und Berufsausbildung sowie deren Realisierung durch die Errichtung und Organisation von Hochschulen, BVerfGE 33, 303, 333; 35, "79, 114 ff; vgl. ferner 36, 321, 331; 76, 1, 49 ff. 109 Diese Schutzverpflichtung bestehe zu Gunsten des ungeborenen Kindes "auch gegenüber der Mutter und sei notfalls mit dem Mittel des Strafrechts umzusetzen" (BVerfGE 39, 1, 42).

HO BVerfGE 39, 1, 42 ff. i n So auch Wahl/Masing, JZ 1990, 553, 555. In dieser Entscheidung wird der Gedanke einer Schutzpflicht, die aus der in den Grundrechten verkörperten objektiven Wertordnung entspringt, dogmatisch entwickelt (Stern, Staatsrecht I I I / l , § 69 I V 4; siehe auch Wilms, Z R P 1990, 470 ff). BVerfGE 39, 1, 5 Esser

.

66

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

Würde des Menschen zu achten und zu schützea Die Verbindung zum vorstehend genannten grundrechtlichen Schutzgebot an den Staat aufgrund des Rechts eines jeden Menschen auf Leben zieht das Bundesverfassungsgericht folgendermaßen: "Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewußt ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen" 113. Sowohl Notwendigkeit als auch Umfang der Verpflichtung des Staates zu rechtlichem Schutz ergäben sich bereits aus dem objektiven Gehalt der Grundrechte 114 . Dabei sei die Schutzverpflichtung umso ernster zu nehmen, je höher der Rang des betreffenden Rechtsgutes innerhalb der Werteordnung des Grundgesetzes angesiedelt sei 11 5. Anhand der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts lassen sich drei wesentliche, für dem Schutz des ungeborenen Kindes besonders bedeutsame Elemente der Schutzpflicht erkennen: (1) das Verbot eigener rechtswidriger Eingriffe seitens des Staates in das schutzbedürftige Rechtsgut, (2) das Gebot zur Abwehr rechtswidriger Eingriffe seitens privater Dritter in dieses Rechtsgut und (3) das Gebot zu seiner aktiven Förderung (und damit zugleich ein Verbot der Förderung von Unrecht) 11 6. dd) Das Bundesverfassungsgericht hat die aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG hergeleitete staatliche Verpflichtung zum Schutz des Lebens Einzelner im weiteren Verlauf seiner Rechtsprechungspraxis mehrfach bestätigt 117 . Im Zusammenhang mit der "Kalkar-Entscheidung 1 ^ hat es den Umfang der grundgesetzlichen Schutzpflicht nochmals erweitert. Danach ist der Staat nicht nur verpflichtet, die ihm Anvertrauten vor Grundrechtsverletzungen zu bewahren; bereits Regelungen, "die im Laufe ihrer Vollziehung zu einer nicht unerheblichen Grundrechtsgefährdung führen, können selbst schon mit dem Grundgesetz in Widerspruch geraten", so daß es auch diese staatlicherseits abzuwehren gilt. Damit wird der grundgesetzliche Rechtsgüterschutz durch die staatliche Schutzpflicht in den Bereich bloßer Gefährdungen vorverlegt 119. Bei dieser Entscheidung liegt der Akzent vorrangig auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG tritt demgegenüber zurück 120.

! " BVerfGE 39, 1, 41. 114 BVerfGE 39, 1, 41/42. 115 Vgl. dazu auch Robbers, S. 131 fT. 11« BVerfGE 39, 1, 42; so auch BMJ, Stellungnahme, S. 9 f. 117 BVerfGE 39, 1, 42 ff.; 46, 160, 164 (Schleyer); 49, 24, 53 ff. (Kontaktsperregesetz); 49, 89, 141 f. (Kalkar); 53, 30, 57 ff. (Mühlheim-Kärlich); 56, 54, 76 ff. (Fluglärm); 66, 39, 59 (Nachrüstung); vgl. auch V G H Kassel NJW 1990, 336, 337. 118 BVerfGE 49, 89, 141 f. 119 Hingewiesen sei noch auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes Kassel (NJW

Α. Verfassungsrechtliche Grundlagen

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b) Die verfassungsrechtliche Literatur Über die vorstehende richterliche Argumentation hinaus gründet die verfassungsrechtliche Literatur 1 2 1 eine aus den Grundrechten erwachsende staatliche Schutzpflicht auf die "Etablierung des Staates als Friedensordnung", die dem Staat die Berechtigung zur Statuierung des Gewaltmonopols mit korrespondierender Gehorsamspflicht des Bürgers verleihe. Voraussetzung der Gewaltunterworfenheit des Bürgers sei die Gewährleistung von Sicherheit durch den Staat 1 2 2 . Die in den einzelnen Grundrechten zum Ausdruck kommenden objektiven Schutzgüter stellten quasi eine Konkretisierung der aus der staatlichen Friedensgarantie resultierenden Schutzpflicht dar 123. Da die Schutzpflicht auch den Interessen des noch nicht geborenen Kindes dient, wird auch dieses von der Friedensgarantie umfaßt.

4. Ergebnis zu II. Der Arzt, der sich im Rahmen der §§ 218 ff. StGB betätigt, kann also in zweifacher Hinsicht mit der Verfassung in Konflikt geraten: zum einem mit dem Grundrecht des ungeborenen Kindes auf Leben, zum anderen mit der objektiv-rechtlichen staatlichen Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2,2 Abs. 2 S. 1 GG.

III. Die Rechtsnatur der Indikationstatbestände des § 218 a StGB Eine rechtliche Auseinandersetzung mit der Abtreibungsproblematik kommt nicht an der zentralen Frage nach Recht oder Unrecht des indizierten Aborts, also nach der Rechtsnatur der Indikationstatbestände des § 218 a StGB vorbei. Auch eine Analyse der Beteiligung des Arztes innerhalb des Abtreibunsstrafrechts verlangt Klarheit über die rechtssystematische Einordnung der sog. Indikationstatbestände. Hierüber besteht in Literatur und Rechtsprechung keine Einigkeit. Da diese

1990, 336, 337 = JZ 1990, 87 ff). Der Verwaltungsgerichtshof leitet unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus einer Verletzung der staatlichen Schutzpflicht die Ermächtigung zum Eingriff in Freiheitsrechte anderer ohne gesetzliche Grundlage ab; vgl. dazu ausführlich Wahi/Masing, JZ 1990, 553 ff. 120 Hermes, S. 45. 121 Vgl. hierzu umfassend Hermes, S. 58 ff., 63 ff. m.w.N.; Cramer , Gen- und Genomanalyse, S. 76. 122 Vgl. auch Murswiek,

S. 102 ff; umfassend Dietlein, S. 128 ff

123 Klein, NJW 1989, 1633, 1636 m.w.N.; Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, insbes. S. 27 ff.; vgl. ferner Robbers, S. 217 ff; Hermes, NJW 1990, 1764, 1765; ders., Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987; Burmeister (JR 1989, 52 ff.) sieht auch in Art. 6 Abs. 2 G G eine Wurzel der staatlichen Schutzpflicht.

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Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

Problematik bereits häufig erörtert worden i s t 1 2 4 - wohl am ausfuhrlichsten in der Dissertation von B e l l i n g 1 2 5 - mag hier eine kurze Darstellung dieser Auseinandersetzung genügea Es zeigt sich dabei erneut die Relevanz des Verfassungsrechts für diese Thematik.

1. Meinungsstand a) Die Literatur Obwohl die Literatur während der letzten Jahre einen Meinungswandel erkennen läßt, sind die Ansichten zur Rechtsnatur des indizierten Aborts nach wie vor unterschiedlich. aa) Immer noch sieht eine Reihe strafrechtlicher Autoren die Tatbestände des § 218 a StGB - zumeist unter Außerachtlassung oder nur periphärer Beachtung verfassungsrechtlicher Aspekte - als Rechtfertigungsgründe an (sog. Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB) 1 2 6 . Zu den Vertretern dieser Auffassung zählt auch die derzeit von CDU/CSU und FDP gebildete Bundesregierung 12? bb) Die in erster Linie verfassungsrechtlich argumentierenden Gegner der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB verneinen unter Hinweis auf die Vorgaben des Grundgesetzes eine rechtfertigende Wirkung der Indikationstatbestände. Allenfalls die vitale 1 2 8 oder strenge medizinische 129 Indikation, d.h. wenn Leben oder Gesundheit der Mutter durch Schwangerschaft und/oder Geburt ernsthaft bedroht ist, gilt als Ausnahme 130 ; einige Autoren lehnen auch diesbezüglich eine Rechtfertigung 124 Vgl. Dreher/Tröndle, Rz. 8, 9 vor § 218 a m.w.N. sowie die zahlreichen Hinweise in der Übersicht "Pro und Contra Rechtfertigungsthese" in: JVL-Schriftenreihe, Nr. 6 (1989), S. 93 ff., Nr. 7 (1990), S. 65 f. 125

Belling , Ist die Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB haltbar?, 1987.

126

LK-Hirsch, Rz. 84 f. zu § 34; Sch-Sch-£ser, Rz. 5 zu § 218 a; Eser, FS-Schmitt, S. 171 if.; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 1, § 6 Rz. 15; Wessels, BT 1, § 4 IV; Lenckner, GA 85, 295, 306; Gropp, GA 1988, 1 ff.; Engelhardt, DRiZ 1986, 11, 13; kritisch Lackner, Rz. 4 zu § 2 1 8 a; weitere Nachweise bei Dreher/Tröndle Rz. 8b vor § 218; Ulsenheimer, in: Laufs/Uhlenbruck u.a. (Hrsg.), Arztrecht, § 143 Rz. 33. 127 Deutscher Bundestag, 11. WP, Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Höpfinger vom 23.3.1989 auf eine Anfrage des Abgeordneten Jäger, BT-Drs. 11/4279 m.w.N.

ι 2 « Zu diesem Begriff Belling, S. 74 f. 129 Vgl. Dreher/Tröndle,

Rz. 9 zu § 218 a.

130 Belling , S. 110 ff., 129 ff.; Bosch,, FamRZ 1984, 262 f.; ders., FamRZ 1974, 651; Maunz/Dürig/Herzog/Scholz-Z)wWg, Rz. 21 ff. zu Art. 2 Abs. 2; Geiger, Jura 1987, 60; Müller, DB 1986, 2667, 2673; Brießmann, JR 1991, 397 ff.; Dierks, in: Schmid (Hrsg.), S. 29 fT. (32); Neuer, S. 33 ff. 40 ff., 80 ff; weitere Nachweise bei Dreher/Tröndle Rz. 8a vor § 218; Kaup, S. 202; vgl. auch Laufs, Fortpflanzungsmedizin, S. 53 sowie den Beschluß des Bayerischen Landtages vom 12.6.1986, BayLT-Drs. 10/10529.

Α. Verfassungsrechtliche Grundlagen

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a b 1 3 1 . Diese mittlerweile im Schrifttum herrschende 132 Ansicht sieht jedenfalls in den übrigen Indikationstatbeständen - die weit über 90 % der Praxis umfassen 133 lediglich Schuld- 134 , Straf- 135 oder Strafunrechtsausschließungsgründe 136.

b) Die Rechtsprechung Auch die Rechtsprechung zu dieser Frage ist uneinheitlich. aa) Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem bereits mehrfach erwähnten Urteil vom 25.2.1975 137 nicht eindeutig zur Frage der Rechtsnatur der indizierten Abtreibimg Stellung genommen. Das Gericht räumte dem Gesetzgeber lediglich ein, "außergewöhnliche Belastungen für die Schwangere (...) als unzumutbar zu werten und in diesen Fällen den Schwangerschaftsabbruch straffreies 8 zu lassen" 1 39. Gleichwohl enthält das Urteil eine Reihe von Hinweisen darauf, daß der Abort auch nach der Neufassung der §§ 218 ff. StGB grundsätzlich eine von der Rechtsordnung mißbilligte und daher rechtswidrige Handlung i s t 1 4 0 . Auch einer Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1990 kann keine Anerkennung der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB entnommen werden. Der Beschluß ent-

131 Belling , S. 129 ff, will allenfalls eine doppelt-vitale Indikation als Rechtsfertigungsgrund anerkennen; W.Esser (MedR 1983, 57 ff.; ders. SGb 1987, 454 ff) und Kluth ( G A 1988, 457, 556 f.) halten eine rechtfertigende Wirkung aus verfassungsrechtlichen Erwägungen in keinem Fall für möglich.

«2 ygi. Laufs, NJW 1988, 1499, 1500. 133 Spieker, Jura 1987, 1 ff; ders., in: Hoffacker u.a., S. 251 ff; vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 12 (Gesundheitswesen), Reihe 3 (Schwangerschaftsabbrüche), in: Statistisches Jahrbuch 1991, S. 432.

Dreher/Tröndle

Rz. Rz. 9 vor § 218 m.w.N.; vgl. BayObLG NJW 1990, 2328, 2331.

"5 Otto,, Strafrecht, § 13 I I I 2 b; Reis, S. 169. 136 Günther, S. 314 ff 137

BVerfGE 39, 1 ff - "Fristenlösungs"-Urteil.

138

Hervorhebung von der Verfasserin.

139

Zif. 5 des amtlichen Leitsatzes, BVerfGE 39, 1. 140 BVerfGE 39, 1, 43 ff. So liest man beispielsweise vom Schwangerschaftsabbruch als von einer "grundsätzlich rechtswidrigen Tat" (BVerfGE 39, 1, 44); ferner lehnt das Bundesverfassungsgericht die Anerkennung eines rechtsfreien Raumes in diesem Zusammenhang ab und verweist auf den Grundgedanken der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 G G (BVerfGE 39, 1, 43). In dem Satz "Die Lösung solcher (erg. Schwangerschafts-)Konflikte durch eine Strafandrohung erscheint im allgemeinen nicht als angemessen" weist das Gericht ausdrücklich auf seine "Gesundbeter"-Entscheidung aus früheren Jahren hin (BVerfGE 39, 1, 49 mit Verweis auf BVerfGE 32, 98, 109). Wenn dieser Vergleich nicht oberflächlich gemeint sein soll, dann handelt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts die abtreibende Schwangere - ebenso wie der Ehemann, der aus Gewissensgründen keinen Arzt zu seiner schwerkranken Ehefrau rief - nicht rechtmäßig, sondern lediglich frei von Schuld.

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Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

hält lediglich die Aussage, die Auffassung des Bundesarbeitsgerichts, welches die Formulierungen "nicht strafbar" (§ 218 a StGB) und "nicht rechtswidrig" (§ 200f RVO) gleichgesetz hatte, sei kein Zirkelschluß, sondern "verständlich" 141 . Die "Verständlichkeit" aber ist keine juristische Kategorie. Zumindest ist dieser Begriff nicht geeignet, Aussagen über die Wirksamkeit eines Gesetzes zu machen. bb) Nach der grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1975 befaßten sich letztinstanzliche Gerichte lange Zeit nur im zivilrechtlichen Bereich mit der hier anstehenden Thematik. Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs vertrat in mehreren Urteilen - erstmals im Jahr 1984 - die Rechtfertigungsthese 142. Die verfassungsrechtliche Problematik blieb in den Urteilsbegründungen aber stets unbeachtet. Vielmehr begnügte sich der Bundesgerichtshof mit dem Verweis auf eine angeblich "ganz herrschende Meinung" 1 4 3 , ohne diese näher zu belegen und den eigenen Standpunkt zu begründen. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs Schloß sich am 3.12.1991 der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB a n 1 4 4 . Eine Auseinandersetzung mit der verfassungsrechtlichen Problematik findet sich in dieser Entscheidung ebenfalls nicht. Der Bundesgerichtshof begründet seine Ansicht allein mit einem Verweis auf die Entstehungsgeschichte des Gesetzes und den vermeintlichen Willen des Reformgesetzgebers. cc) Am 26.4.1990 lehnte erstmals ein letztinstanzliches Strafgericht für die in § 218 a Abs. 2 Nr. 3 StGB geregelte sog. allgemeine Notlagenindikation die rechtfertigende Wirkung a b 1 4 5 . Der Dritte Strafsenat des Bayerischen Obersten Landesgerichts als Revisionsinstanz sah die Notlage im Gegensatz zur Vorinstanz (Landgericht Memmingen) nicht als Rechtfertigungs-, sondern lediglich als Schuldausschließungsgrund an. Diese Meinung vertraten zuvor verschiedene unterinstanzliche Gerichte 146 .

141 BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluß vom 18.10.1989 - 1 BvR 1013/89 -, NJW 1990, 241. ι « BGHZ 86, 240, 245; 89, 95, 102; 95, 199, 207. 143 BGHZ 86, 240, 245; vgl. dazu Müller, dungsgrundlage, NJW 1984, 1799 ff.

Die "ganz herrschende Meinung" als Entschei-

144 BGH, Urteil vom 3.12.1991 - 1 StR 120/90 ( L G Memmingen) -, NJW 1992, 763, 768. 145 Urteil des BayObLG vom 26.4.1990, RREg. 3 St 78/89 = NJW 1990, 2328 ff. = BayObLGSt 1990, 49 ff. 146 ArbG Iserlohn, NJW 1987, 1509; SozG Dortmund, MedR 1984, 113.

Α. Verfassungsrechtliche Grundlagen

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2. Eigene Stellungnahme Gegen die Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB sprechen verschiedene, vorrangig verfassungsrechtliche Gründe. a) Der den Lebensschutz des Ungeborenen einschränkende § 218 a StGB entspricht nicht den formellen und materiellen Voraussetzungen eines Eingriffsgesetz e s 1 4 7 i.S.d. Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG. Es liegt zum einen ein Verstoß gegen das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG vor 14 «. Denn § 218 a StGB stellt eine Einschränkung des Grundrechts 149 aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG dar, das auch dem ungeborenen Kind zusteht 150 . Auch wird die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG verletzt, da bei jeder Abtreibung das Lebensrecht des Ungeborenen nicht nur beeinträchtigt, sondern sogar völlig vernichtet und damit mehr als nur "in seinem Kern angetastet" (Art. 19 Abs. 2 GG) w i r d 1 5 1 . Ferner fehlt es an einer ausreichenden Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Im Schwangerschaftskonflikt ist in der weitaus überwiegenden Zahl aller Fälle nicht das Leben der Frau bedroht, sondern deren Lebensqualität; auf Seiten des Kindes hingegen steht stets dessen Leben, ein gegenüber der Lebensqualität höherwertiges Rechtsgut 152 . Mit der vom Bundesverfassungsgericht im "Fristenregelungs"-Urteil bestätigten Gleichwertigkeit von geborenem und ungeborenem L e b e n 1 5 3 sowie mit dem Grundrecht des ungeborenen Kindes aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG läßt sich bei der für eine Rechtfertigung der Abtreibung erforderlichen Güterabwägung ein Vorrang der Interessen der Frau vor dem Lebensinteresse des ungeborenen Kindes nicht vereinbaren. b) Auch unter strafrechtssystematischen Gesichtspunkten ist eine Rechtfertigung des Aborts nicht zulässig. Eine Berufung auf Notwehr (§ 32 StGB) scheidet bereits wegen der Handlungs- und damit zugleich Angriffsunfähigkeit des ungeborenen Kindes aus 1 5 4 . § 34 StGB kann ebensowenig wie der Gedanke des sog. über147 Bereits dem Gesetz und nicht erst der Abtreibung als solcher kommt Eingriffscharakter zu, vgl. dazu W.Esser, ArztR 1983, 1, 3 f.

"8 Vgl. Kunig, Jura 1991, 415, 421. 149 Zum Grundrechts-Begriffin Art. 19 Abs. 1 S. 2 G G vgl. v.Münch-Hendricks, Rz. 17 f., 4 zu Art. 19.

150 s.o. Teil 2 A II. 151 So auch Kaup, S. 200 f. 152 Vgl. BVerfGE 39, 1, 43. 153 BVerfGE 39, 1, 59. 154 So schon RGSt 61, 243, 248; Gropp, S. 111 f.; Dreher/Tröndle, Rz. 9h vor § 218; Geiger, FamRZ 1986, 1, 5. Eine Rechtfertigung der Abtreibung würde vielmehr ein Nothilferecht zugunsten des ungeborenen Kindes gegenüber der tatsächlich angreifenden Schwangeren in unzulässiger Weise ausschließen, vgl. BayObLG NJW 1990, 2328, 2333.

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Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

gesetzlichen Notstandes zur Rechtfertigung herangezogen werden, da es - selbst im Falle vitaler Indikation - an einem "wesentlichen Überwiegen" der auf Seiten der Mutter bedrohten Rechtsgüter fehlt; insoweit gilt das zuvor A u s g e f ü h r t e 1 5 5 . Schließlich scheidet auch der aus der Sicht des Arztes denkbare Gesichtspunkt einer sog. "rechtfertigenden Pflichtenkollision" a u s 1 5 6 . Sollte § 218 a StGB entgegen seinem Wortlaut Rechtfertigungswirkung zu entnehmen sein, so stünden dem geradezu "übergesetzliche" verfassungsrechtliche Hindernisse entgegea c) Ein Rechtfertigungsversuch, der in den §§ 218 ff. StGB ein Gebot an die Schwangere zum Austragen des Kindes sieht, dieses für unzumutbar hält und daher ein Nichtbefolgen (Unterlassen) desselben für gerechtfertigt erklärt 1 ^, überzeugt auch nicht. Es entspricht der herrschenden Meinung sowie der allgemeinen Dogmatik zur Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen, die auf den Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit abstellt, daß im Abort eine aktive Handlung von Arzt und Frau zu sehen i s t 1 5 8 . Die §§218 ff. StGB schaffen keine Handlungspflicht für die Schwangere, sondern stellen nur ein aus deren Schwangerschaft (d.h. der Tatsache, daß in ihr ein neuer Mensch heranwächst) folgendes Verbot fest - das allgemeine Tötungsverbot159. d) Die indizierte Abtreibung läßt sich auch nicht mit dem vermeintlichen "Willen des Gesetzgebers" rechtfertigen. Vielfach wird versucht, mit diesem Hinweis eine am Wortlaut des § 218 a StGB ("nicht strafbar") vorbeigehende, den indizierten Abort rechtfertigende Interpretation zu legitimieren 160. Dabei wird außer Acht gelassen, daß gerade der im Wortlaut zum Ausdruck kommende verobjektivierte Wille des Gesetzgebers - der keineswegs mit dem Willen einiger Reformpolitiker, die eine Rechtfertigung der Abtreibung anstrebten, gleichgesetzt werden kann - einer sol-

155 s.o. Teil 2 A I I I 2a. 156 Eine solche Situation könnte allenfalls entstehen, wenn der Arzt das Leben der Mutter nur durch das Töten des Kindes retten könnte. Ihm obläge alsdann gegenüber der Mutter eine Handlungspflicht aus § 323 c StGB oder aufgrund Arztvertrages, gegenüber dem Kind eine Unterlassenspflicht angesichts des allgemeinen Tötungsverbotes. Lebenserhaltungsgebot und Tötungsverbot stehen also einander gegenüber. Nach wohl herrschender Meinung liegt eine rechtfertigende Pflichtenkollision jedoch nur dann vor, wenn der Pflichtige bei gleichwertigen Pflichten dem Unterlassen nachkommt und dabei die Handlungspflicht verletzt (Küper, JuS 1971, 474, 475; Roxin, FSOehler, S. 180, 181; Dreher/Tröndle, Rz. 11 zu § 32). Die Tötung des Kindes kann daher allenfalls entschuldigende Wirkung haben. Vgl. auch Belling (S. 112), der die rechtfertigende Pflichtenkollision bereits tatbestandsmäßig ausschließt. 157

Schlink/Bernsmann,

Stellungnahme, S. 26 ff; v.Renesse, ZRP 1991, 321, 322.

15« Büchner, ZRP 1991, 431, 433. 159 Vgl. auch Otto, in: JVL-Schriftenreihe Nr. 9 (1992), S. 55, 67 f. iw So etwa BGH NJW 1992, 763, 768.

Α. Verfassungsrechtliche Grundlagen

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chen Auslegung des § 218 a StGB entgegesteht^i. Doch selbst wenn man einen dahingehenden gesetzgeberischen Willen unterstellen will, stößt ein solcher Rechtfertigungsversuch zwangsläufig an die vorstehend genannten unüberwindbaren Hindernisse aus dem V e r f a s s u n g s r e c h t 1 6 2 . Diese Grenzen machen eine Argumentation mit dem "Willen des Gesetzgebers" u n m ö g l i c h 1 ^ . e) Da jede Güterabwägung dort ihre Grenze erreicht, wo Leben gegen Leben 1 m u ß dieser Grundsatz konsequenterweise auch in den zahlenmäßig irrelevanten Situationen vitaler Indikation gelten, in denen auch auf Seiten der schwangeren Frau deren Leben ernsthaft in Gefahr i s t 1 6 5 . Ein schonender Ausgleich zwischen den gleichwertigen Rechtsgütern ist hier nicht möglich, übergeordnete Abwägungskriterien liegen nicht vor 166. steht

Ein Überwiegen der Belange der Schwangeren läßt sich weder in diesen, noch in den anderen Indikationsfällen dadurch konstruieren, daß man auf ihrer Seite sog. "Interessen der Allgemeinheit" (das Wohl bereits geborener weiterer Kinder oder des Ehemanns, Schutz der Frauen vor Laienabtreibern etc.) h e r a n z i e h t ^ . Denn: "Die pauschale Abwägung von Leben gegen Leben, die zur Freigabe der Vernichtung der vermeintlich geringeren Zahl im Interesse der Erhaltung der angeblich größeren Zahl führt, ist nicht vereinbar mit der Verpflichtung zum individuellen Schutz jedes einzelnen konkreten Lebens" 1 68. Niemand kann unschuldig zur Aufopferung seines eigenen Lebens gezwungen werden, niemand hat seine Tötung zum Wohle anderer zu d u l d e n 1 6 9 . Daher ist die direkte und vorsätzlich Tötung eines angriffsunfähigen, ungeborenen Menschen stets rechtswidrig.

161 Vgl. etwa Tröndle (Dreher/Tröndle, Rz. 8a vor § 218), der die Auffassung vertritt, der Gesetzgeber habe die Rechtsnatur der Indikationen bewußt ofTen gelassen. Ausfuhrlich zu dieser Frage auch Belling ( S. 97 ff.); vgl. ferner BayObLG, NJW 1990, 2328, 2330. ι « Vgl. Dreher/Tröndle,

Rz. 8a vor § 218.

163 Zur Argumentation mit dem "Willen des Gesetzgebers" vgl. BVerfGE 1, 199, 312; Geiger, EuGRZ 1990, 173, 178. 1 6 4 So die ganz herrschende Meinung, vgl. BGH NJW 1953, 513; OLG Hamm JZ 1976, 612; Dreher/Tröndle, Rz. 10 zu § 34; ders., Rz. 9c vor § 218 m.w.N.; sehr instruktiv Küper, JZ 1981, 785 ff. (790 ff.). Ι « W.Esser, ArztR 1981, 260 ff; ders., MedR 1983, 57 ff; Kluth, GA 1988, 547, 556 (557); differenzierend Belling (S. 110 ff., m.w.N.), der zwischen einfach-vitaler und doppeltvitaler Indikation unterscheidet (S. 129 ff.). 166 vgl. auch Berberich (S. 157 ff.), der daraufhinweist, daß sich eine Güterabwägung Leben gegen Leben auch zu Lasten des Lebens der Mutter auswirken könnte. 167 So aber Eser, in: Eser u.a. (Hrsg.), Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Sp. 702, 703. 1« BVerfGE 39, 1, 58; vgl. auch Beckmann, ZRP 1987, 80, 85; Dreher/Tröndle, § 218 m.w.N. 169

Dreher/Tröndle,

Rz. 9c vor § 218.

Rz. 9c vor

74

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

0 Wegen der gravierenden verfassungsrechtlichen Mängel der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB ist der Schwangerschaftsabbruch mit der in der verfassungsrechtlichen Literatur herrschenden 1 7 0 Meinung auch bei Vorliegen eines Indikationstatbestandes des § 218 a StGB als Unrecht zu w e r t e n ! 7 1 . Dies gilt auch für den vital-indizierten Abort. Ob der Täter Strafbefreiung wegen Schuld-, Straf- oder Strafunrechtsausschlusses erhält, erscheint für das Thema dieser Arbeit unerheblich, da diese Details auf die verfassungsrechtliche Bewertung der Beteiligung des Arztes keinen Einfluß haben; hierfür ist nur erheblich, ob es sich bei der Abtreibung um Recht oder Unrecht handelt.

IV. Fazit Die vorstehenden Ausführungen führten zu folgendem Ergebnis: Erstens: Eine straffreie Abtreibung setzt nach der gegenwärtigen Regelung der §§ 218 ff. StGB die Mitwirkung eines Arztes voraus. Zweitens: Der Arzt greift bei der Abtreibung in die physische Existenz eines Grundrechtsträgers ein und vernichtet damit zugleich das durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geschützte Grund- und Menschenrecht des ungeborenen Kindes auf Leben. Drittens: Als rechtswidrige Menschenrechtsverletzung kann eine indizierte Abtreibung bei Vorliegen eines Indikationstatbestandes allenfalls straffrei bleiben, aber nicht gerechtfertigt werden. Viertens: Die aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt des Art. 1 Abs. 1 S. 2,2 Abs. 2 S. 1 GG resultierende Schutzpflicht gebietet dem Staat als Rechtsschutzpflicht die Abwehr aller rechtswidrigen Angriffe auf das Leben des ungeborenen Kindes. An diesen Grundsätzen hat sich ein verfassungsrechtlich einwandfreier Lebensschutz des ungeborenen Kindes zu orientieren.

™ 171

Vgl. Laufs, NJW 1988, 1499, 1500.

Vgl. auch Kaufmann, (JZ 1992, 981, 982): "Sie (die Gegner der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB, Anm. d. Verf.) haben ja auch zweifellos die besseren Argumente auf ihrer Seite, was nicht heißt: die allein guten".

Β. Die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit des ärztlichen Aborts

75

B. Die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit der Beteiligung des Arztes am Abort und seiner gesetzlichen Einbindung in das Abtreibungsstrafrecht Die Ergebnisse aus Teil 2 A sind auch der verfassungsrechtlichen Bewertung der Beteiligung des Arztes an Abtreibungen und seiner gesetzlichen Einbindung in die Regelung der §§ 218 ff. StGB zugrunde zu legen. Dies betrifft einmal die grundsätzliche Durchführung von Abtreibungen durch Ärzte sowie deren Indikationsfeststellung im Vorfeld der Tat (ex ante). Auswirkungen ergeben sich darüber hinaus für das Mitwirkungsverweigerungsrecht aus Art. 2 des 5.StrRG und für § 219 d StGB.

I. Das staatliche, grundsätzlich strafbewehrte Abtreibungsverbot - auch für ärztliche Abtreibungen Der Staat hat das Grundrecht des ungeborenen Kindes auf Leben zu wahren und die ihm obliegende Schutzverpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 S. 2, 2 Abs. 2 S. 1 GG zu verwirklichen. Dieser Schutzauftrag erfordert als letztes Durchsetzungsmittel ein generelles, strafbewehrtes Abtreibungsverbot, das auch die ärztliche Abtreibung umfassen muß.

1. Formen staatlichen Schutzes Wenn der Staat seine "umfassende" 172 Schutzpflicht ernst nimmt, hat er sich vor allem eigener rechtswidriger Eingriffe in das Leben seines Schutzbefohlenen - hier des ungeborenen Kindes - zu enthalten1"^. Dies bedeutet konsequenterweise auch den Verzicht auf öffentliche Förderung, wie z.B. die weitere Gewährung der Sachleistung Abtreibung 174 durch die gesetzlichen Krankenkassen gem. § 200f R V O 1 7 5 . Hierauf soll jedoch wegen der im Mittelpunkt stehenden Analyse der ärztlichen Beteiligung an der Abtreibung nicht eingegangen werden. Darüber hinaus hat sich der Staat, wie das Bundesverfassungsgericht ausführt, "schützend (...) vor dieses Leben zu stellen"17 d.h. er hat jeden auf seine Beeinträchtigung oder Vernichtung "2 BVerfGE 39, 1, 42; vgl. hierzu auch Hermes, S. 49; Gropp, S. 173 f. 173 S.o. Teil 2 A I I 3. ι™ Gem. §§ 200f RVO i.V.m. 2 Abs. 2 S. 1 S GB V erbringt der Staat durch seine gesetzlichen Krankenkassen, also durch öffentlich-rechtliche Körperschaften, die Abtreibung als Sachleistung selber (vgl. Nicolay/Knieps, in: v.Maydell/Ruland, § 14 Rz. 40); es handelt sich daher eigentlich nicht um eine "Kassenfinanzierung" der Abtreibungen, sondern: "Der Staat tötet" (so zutreffend Isensee, NJW 1986, 1645, 1646). 175 Vgl. Philipp, M D R 1991, 1 ff. m.w.N.; ders., Jura 1987, 86 ff.; ders., NJW 1987, 2275 ff.; Isensee, NJW 1986, 1645 fT.; vgl. auch Kluth, Jura 1989, 408 ff. 176 BVerfGE 39, 1, 42.

76

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

zielenden Angriff abzuwehren. Zur Verwirklichung dieser Aufgabe muß er alle ihm verfügbaren Mittel zielgerichtet und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit 177 einsetzen. Er genügt seiner spezifischen Pflicht zu aktivem Schutz daher nicht schon dann ausreichend, wenn er "sozial-flankierende Maßnahmen" ergreift, zu denen der Sozialstaat schon unabhängig von der Abtreibungsproblematik verpflichtet ist. Der Staat ist vielmehr aus Art. 1 Abs. 1 S. 2, 2 Abs. 2 S. 1 GG auch zur Gewähr von Rechtsschutz als «ultima ratio» verpflichtet, um rechtswidrige Angriffe privater Dritter auf das Leben des Ungeborenen zu verhindern.

2. Die "Pflicht

zum Einsatz des Strajrechts"

Innerhalb der verschiedenen Instrumentarien des staatlichen Rechtsgüterschutzes (staatliche Förderung, Aufklärung, Kennzeichnung eines Vorgangs als Unrecht, Verbot einer Tätigkeit etc.) steht alleine dem Recht die Möglichkeit der zwangsweisen Durchsetzbarkeit zu. Da es als "ethisches Minimum" ( J e l l i n e k ) 1 7 ® über die stärksten Sanktionen verfügt, kommt das Recht unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich erst als letztes Mittel, als «ultima ratio» zur Anwendung, dann also, wenn andere und weniger einschneidende Regelungsmechanismen keinen ausreichenden Schutz bieten können. Dies gilt insbesondere für das Strafrecht 179 . Denn allein das Strafrecht beinhaltet die Sanktionsmöglichkeit der Kriminalstrafe und betrifft den Bürger daher am w e i t r e i c h e n d s t e n 1 8 0 . Das verfassungsrechtlich vorgegebene Ziel rechtlicher Schutzgewähr beinhaltet daher auch die Notwendigkeit s/ra/rechtlicher Regelungen. Das Bundesverfassungsgericht geht in der "Fristenregelungs"-Entscheidung davon aus, daß der Staat zwar in der Wahl seiner Mittel zum Schutz des Ungeborenen und damit zur Erfüllung seiner Schutzpflicht prinzipiell frei sei1®1; eine Grenze werde aber dort erreicht, wo der Gesetzgeber auf strafrechtlichen, d.h. repressiven,

177 BVerfGE 39, 1, 46 f. 17« S.o. Teil 1 A I. 179 Vgl. BVerfGE 39, 1, 47. 1«° So auch Jescheck, S. 9; Lenz, VersR 1990, 1209; Dreher/Tröndle, Rz. 6a vor § 218; Eberbach, JR 1989, 265, 267; Steiner, in: Hoffacker u.a. (Hrsg.), S. 156, 157; Maunz/Dürig/Herzog/Scholz-Z)«>ig, Rz. 22 zu Art. 2 Abs. 2; v.Mangoldt/Klein/Starck, Rz. 144 zu Art. 2 Abs. 2; Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 46; Büchner, Z R P 1991, 431, 432 f.; Cramer , Gen- und Genomanalyse, S. 112; Brießmann, JR 1991, 397, 399 f.; Eser, JZ 1991, 291, 295; Schünemann, Z R P 1991, 379, 386; im Grundsatz auch v.Renesse, Z R P 1991, 321, 322. l«i BVerfGE 39, 1, 44 f.

Β. Die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit des ärztlichen Aborts

77

Schutz völlig verzichte. Als «ultima ratio» - also dann, wenn weder finanzielle noch menschliche oder sonstige Hilfen die Schwangere von ihrem Entschluß zur Abtreibung abbringen k ö n n e n 1 8 2 . "muß auch dieses letzte Mittel eingesetzt werden, wenn anders ein effektiver Lebensschutz nicht zu erreichen i s t " 1 8 3 . Allerdings gebe es Situationen, in denen es "verfassungsrechtlich hinzunehmen" sei, wenn der Gesetzgeber darauf verzichte, das Austragen der Schwangerschaft mit dem Mittel des Strafrechts zu erzwingen184.

3. Zur Kritik

an der "Pflicht

zum Einsatz des Strafrechts"

Vornehmlich diese Festschreibung einer Pflicht zur Schaffung von Strafnormen kritisierten die dissentierenden Bundesverfassungsrichter in ihrem Minderheitenvotum zur "Fristenregelungs"-Entscheidung 185. Nach ihrer Ansicht kann aus dem durch die Grundrechte gewährten objektiv-rechtlichen Status niemals die Verpflichtung zur Schaffung solcher Tatbestände erwachsen, die die stärksten Eingriffe in die Rechtssphäre des Einzelnen durch das Instrument der Strafe ermöglichten. Die gegenteilige, von der Senatsmehrheit vertretene Meinung verkehre den Charakter der Grundrechte als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat in ihr G e g e n t e i l 1 8 6 . Die Meinung der beiden dissentierenden Richter ist abzulehnen. a) Für die hier angesprochene Diskussion gelten dieselben Argumente wie für die Begründung der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit von strafrechtlichen Schutzvorschriften für Gesundheit (§§ 223 ff. StGB) und Leben (§§ 211 ff. StGB) des geborenen Menschen. Der Staat ist zwar, wie das Bundesverfassungsgericht ausführt, nicht verpflichtet, zum Schutz des ungeborenen Kindes die gleichen strafrechtlichen Regelungen zu ergreifen wie zum Schutz des geborenen Men-

unbestrittene187

182 Schwangerschaftskonflikte sind sehr häufig nicht-materieller Natur und daher nicht mit finanziellen Hilfen, oft aber auch nicht mit menschlichem Beistand überwindbar; man denke nur an die häufig hinter einer Abtreibung stehenden Partnerschaftskonflikte; so auch Gesetzentwurf der Fraktion der SPD, Deutscher Bundestag, 12. WP, BT-Drs. 12/551, Begründung, S. 3.

183 BVerfGE 39, 1, 47. 184 BVerfGE 39, 1, 48. 185 BVerfGE 39, 1, 68 ff. 186 Eine derartige Pflicht wird auch von denen verneint, die sich für eine Fristenregelung aussprechen, vgl. etwa Gesetzentwurf der Fraktion der SPD, Deutscher Bundestag, 12. WP, BT-Drs. 12/841, S. 15 f.; Gesetzentwurf der Fraktion der FDP, Deutscher Bundestag, 12. WP, BT-Drs. 12/551, S. 13; vgl. auch Jerouschek, JZ 1989, 279 fT.; v.Münch-v.Münch, Rz. 49 zu Art. 2; Frommel, ZRP 1990, 351 ff. 187 Vgl. v. Münch-v.Münch, Rz. 48 zu Art. 2; AK-Podlech, Rz. 20 zu Art. 2 Abs. 2; v.Mangoldt/Klein/Starck, Rz. 144 zu Art. 2 Abs. 2; Herzog, JR 1969, 441, 444; Leisner, in: Leisner/Goerlich, S. 9, 26; Murswiek, S. 120 Fn. 62; Hermes, S. 6.

78

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

sehen 188; dies geschieht nach der gegenwärtigen Regelung, die ja letztlich auf der Anerkennung einer Strafpflicht beruht, ohnehin nicht. Es findet schon insofern eine Differenzierung statt, als der Strafrahmen des Abtreibungstatbestandes weitaus geringer ist als der für die Tötung eines geborenen Menschen. Ein völliger Wegfall der strafrechtlichen Schutzvorschriften läßt sich jedoch mit dem Grund- und Menschenrecht des ungeborenen Kindes auf Leben und der staatlichen Schutzpflicht nicht vereinbaren!89. b) Der Ansicht der Minderheits-Richter liegt ein überholtes Verständnis der Grundrechte zugrunde, wenn sie diesen ausschließlich eine Abwehrfunktion zuweisen. Nach heute herrschender Auffassung kommt den Grundrechten - wie oben ausgeführt 1 90 - daneben u.U. auch eine den Staat zu positivem Tun verpflichtende Gewährleistungsfunktion zu191. Ein solches positives Tun kann auch in der Schutzgewährbestehen. c) Darüber hinaus übersehen die dissentierenden Richter den Zusammenhang von staatlicher Schutzpflicht und staatlichem Gewaltmonopol mit korrespondierender Gehorsamspflicht des B ü r g e r s 1 9 2. Einerseits folgt aus der Schutzpflicht des Staates für bestimmte Rechtsgüter, daß er diese gegen Argriffe Dritter zu verteidigen hat. Andererseits nimmt der Staat innerhalb der rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes für sich das Gewaltmonopol in Anspruch, indem er gleichzeitig die Gewaltanwendung durch Private verbietet. Letzteres aber hat zur Folge, daß sich der Private grundsätzlich nicht auf eigene Initiative gegen gewaltsame Angriffe Dritter mit Gewalt verteidigen darf. An seiner Stelle hat daher der Staat alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel zur Erfüllung seiner Schutzpflicht e i n z u s e t z t e n 1 9 3 . Zu diesen Mitteln zählt als «ultima ratio» auch das Strafrecht, das zwar nicht wahllos und nach freiem Belieben eingesetzt werden d a r f 1 9 4 > w o h l aber dann, wenn anders ein effektiver Schutz für elementare Rechtsgüter nicht zu erreichen i s t 1 9 5 .

1«8 Vgl. BVerfGE 39, 1, 45. 189

Interessant in diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis von Stern (Staatsrecht I I I / l , § 69 I V 4 Fn. 251 mit Verweis auf BVerfGE 50, 142, 162), daß der am Minderheitsvotum zur "Fristenregelungs"-Entscheidung beteiligte Richter Dr.Simon beim Beschluß zur Verfassungsmäßigkeit des § 170 b StGB (Verletzung der Unterhaltspflicht) kein Sondervotum abgab, obwohl der Senat dort in ähnlicher Weise fur die Notwendigkeit von Strafschutz argumentierte. 190 s.o. Teil 2 A I I 3. 191 Stern, Staatsrecht I I I / l , § 69 I V 4 e ß; Alexy, S. 395 ff; vgl. Dietlein, S. 56 ff im Ossenbiihl, in: Arndt/Erhardt/Funke (Hrsg.), S. 251, 253; vgl. dazu auch unten Teil 3 Β I I I lc. 193 Vgl. Badura, Staatsrecht, Η 22; Murswiek,

S. 104.

19* BVerfGE 39, 1, 46 f. 195 Ossenbiihl, in: Arndt/Erhardt/Funke (Hrsg.) S. 251, 253; Dietlein, S. 161 ff; vom Ergebnis her auch Rüfner, in: Gedächtnisschrift Martens, S. 215, 217 Fn. 11; ders., in: JVL-Schriftenreihe, Nr. 8 (1991), S. 25, 26; ähnlich Murswiek, S. 120 Fn. 62.

Β. Die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit des ärztlichen Aborts

79

Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch dann nicht, wenn man auf das Notwehrrecht als anerkannte und zwingende Ausnahme vom staatlichen Gewaltmonopol 196 verweist Zwar ist dann privater Gewalteinsatz zur Gewaltabwehr zulässig; doch kann ein ungeborenes Kind dieses Mittel der Selbstverteidigung zur Abwehr seiner bevorstehenden Tötung nicht ergreifen. Nothilfe zu seinen Gunsten ist zwar möglich; der Staat darf sich auf die zufällige Schutzgewähr durch Dritte aber nicht verlassen und bleibt daher für seinen Schutz zuständig. d) Für den zwingenden Einsatz des Strafrechts zum Schutz des ungeborenen Kindes spricht ferner, daß die Abtreibung klar als Unrecht zu kennzeichnen i s t 1 9 7 . Kein anderes Mittel vermag Unrecht stärker kenntlich zu m a c h e n d e . Nicht jedes Unrecht muß aber mit dem Strafrecht gekennzeichnet werden, nicht jedes Unrecht muß der Staat bestrafen 1 ". Dies ist vielmehr nur bei Unrecht von erheblicher Schwere erforderlich. "Die Schutzverpflichtung des Staates muß umso ernster genommen werden, je höher der Rang des in Frage stehenden Rechtsgutes innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes anzusetzen i s t " 2 0 0 . Da das Leben nach Maßgabe der Verfassung einen "Höchstwert" und die "vitale Basis der Menschenwürde" 201 darstellt, handelt es sich bei der Abtreibung um besonders schweres Unrecht. Das Bundesverfassungsgericht sagt hierzu: "Dem Wert des von der Vernichtung bedrohten Rechtsgutes entspricht der Ernst der für die Vernichtung angedrohten Sanktionen, dem elementaren Wert des Menschenlebens die strafrechtliche Ahndung seiner Vernichtung" 202 . Das ungeborene Kind als schwächstes Glied der Gesellschaft kann seine Rechte nie mit eigenen Mitteln verteidigen und wird nur in den seltensten Fällen einen "natürlichen" Interessenvertreter (etwa in Gestalt seines Vaters) gegenüber seiner Mutter und dem Abtreiber haben; daher kann gerade dieser Bereich nicht grundsätzlich von der Möglichkeit des Einsatzes strafrechtlicher Mittel als «ultima ratio» ausgeschlossen w e r d e n 2 0 3 . Dies gilt umso mehr, als das Leben als einziges aller Grund- und Menschenrechte nie teil- oder zeitweise, sondern stets nur ganz und irreversibel entzogen werden kann. ™

Vgl. Schmidhäuser,

GA 1991, 97, 123 f.

1 9 7 BVerfGE 39, 1, 46. 1 9 8 Vgl. Büchner, ZRP 1991, 431, 432. 199 Als gegenüber der Strafe minder schwere Sanktionsmittel sind etwa die Maßnahmen nach dem OWiG (Gesetz über Ordnungswidrigkeiten i.d.F.v. 19.2.1987, BGBl. I, 602) oder die Schadensersatzregelungen des Zivilrechts zu nennen.

200 BVerfGE 39, 1, 42; Hermes, S. 49. 201 BVerfGE 39, 1, 42; vgl. auch Herzog, EuGRZ 1990, 483 ff. 202 BVerfGE 39, 1, 47 f. 203 Vgl. Böckenförde,

Stimmen der Zeit 1971, 147, 162.

80

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

Zu bedenken ist auch, daß die Strafandrohung nach der Indikationenregelung nur dann zum Tragen kommt, wenn keine der gesetzlich beschriebenen Notlagen vorliegt. Nur wenn kein Beratungs- und Hilfsangebot die Schwangere von ihrem Entschluß zur Tötung des ungeborenen Kindes abbringen kann - etwa wenn es am Willen zur Austragung des Kindes fehlt oder die Frau schon die allgemein mit einer Schwangerschaft verbundenen Belastungen als unzumutbar empfindet - kommt das Strafrecht als «ultima ratio» der staatlichen Instrumente des Rechtsgüterschutzes zum Einsatz. Ansonsten würde es in diesen Situationen an jeder Möglichkeit des Lebensschutzes fehlen 204 . e) Einer Pflicht zur Schaffung von Strafnormen kann nicht entgegengehalten werden, das Strafrecht sei kein geeignetes Mittel zum Schutz des ungeborenen Kindes 2 0 *. Einen absoluten Rechtsgüterschutz gibt es auf keinem Gebiet. Diebstähle, Körperverletzungen und andere Delikte werden trotz einschlägiger strafbewehrter Verbote immer wieder begangen. Niemand plädiert mit dieser Begründung für die Abschaffung der Diebstahls- oder Körperverletzungstatbestände. Wenn auch Abtreibungen in großem Umfang straflos b l e i b e n 2 0 6 (zumal bei geringer Durchsetzungsbereitschaft seitens der Strafverfolgungsbehörden 207), so läßt sich damit nicht der generalpräventive Charakter 20» einer Abtreibungsstrafnorm leugnen209. Dies würde unzutreffenderweise bedeuten, daß Schwangere sich durchweg in dem komplexen Entscheidungsvorgang für oder gegen eine Abtreibung nicht durch rechtliche Vorhaltungen mitbeeinflussen ließen. Gerade in einer zunehmend säkularisierten Welt kommt dem (Straf-)Recht eine wichtige bewußtseinsbildende Funktion, wenn nicht gar die Hauptrolle als präventive Kraft zu210. 204

So auch Benda , Anhörung, AusschuD-Drs. 49, S. 9; Beckmann, M D R 1992, 1013 ff.

(1017). 205 So auch Günther, MedR 1992, 65, 68. 206 Daß es nach einer Abtreibung zu einer Verurteilung kommt, ist äußerst unwahrscheinlich; die Beteiligten halten das Delikt aus eigenem Interesse geheim, Unbeteiligte erfahren zumeist nichts davon, das Opfer kann sich nicht wehren und wird unauffällig beseitigt. Eine Totalerhebung aller Verfahren wegen Schwangerschaftsabbruchs seit 1976 ergab, daß 51, 7% der Verfahren zufallig, also durch Feststellungen bei anderen Ermittlungen zustande kamen, vgl. Liebt, Anhörung, Ausschuß-Drs. 74, S. 3. 207 Zur Strafverfolgungspraxis vgl. Kaiser, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 14/90, S. 21, 24. Von den im Rahmen der Totalerhebung befragten Richtern und Staatsanwälten antworteten auf die Frage, ob die Polizei Schwangerschaftsabbrüche gezielt verfolge oder ob die entsprechenden Ermittlungstätigkeiten eher das Ergebnis von "Zufallserkenntnissen" seien, 96,8% mit "eher zufällig", Liebl, Anhörung, Ausschuß-Drs. 74, S. 12. 208 Vgl. dazu Jescheck, S. 3 ff., 58 ff. (m.w.N.); Maurach/Zipf,

A T 1, § 7 Rz. 6 ff.

209 Günther, MedR 1992, 65, 69. 210 Es gibt zwar mehrere Gründe, die generell die Wirksamkeit des Strafrecht zur Bekämpfung der Kriminalität beeinträchtigen. Auf diese kann hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Doch

Β. Die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit des ärztlichen Aborts

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0 Einem ausnahmslosen Verbot auch ärztlicher Abtreibungen steht schließlich nicht die zusätzliche gesundheitspolitische Zielsetzung der Reform des Abtreibungsstrafrechts entgegen2 n . Hintergrund der Festschreibung des "Arztvorbehalts" war zwar neben der Senkung der Abtreibungsrate der Wille des Reform-Gesetzgebers, die zu einer Abtreibung entschlossene Frau vor Laienabtreibern und sog. Kurpfuschern und den mit deren Abtreibungspraxis verbundenen gesundheitlichen Risiken zu bewahren 2 ! 2 . Dies erfordert aber keine durch Straflosigkeit herbeigeführte Privilegierung des ärztlichen Aborts 2 1 3 . Die Gesundheit der Frau wird am besten vor den mit einer Abtreibung verbundenen k ö r p e r l i c h e n 2 1 4 und seelischen215 Gefahren dadurch geschützt, daß sie den Schwangerschaftsabbruch unterläßt. Schon aus diesem Grund dient ein generalpräventives Abtreibungsverbot nicht nur dem Leben des ungeborenen Kindes, sondern auch der Gesundheit der Frau. Die Minderung des Begehungsrisikos einer

kann das wiederholte Verbreiten der Auffassung, eine Norm sei ohnehin nicht durchsetzbar und daher wirkungslos, durchaus deren Wirkungslosigkeit auslösen: "Die subjektive Einschätzung der Sanktionswahrscheinlichkeit deckt sich nicht notwendig mit der objektiven Sanktionswahrscheinlichkeit. Nicht die Nichteffizienz, sondern deren Bekanntwerden bzw. deren Annahme ist ein erheblicher Grund für eine weitere Schwächung der Geltungskraft, was Raum für Manipulationen der öffentlichen Meinung gibt" (Driendl, S. 50). 211 Deutscher Bundestag, 6. WP, Regierungsentwurf, BT-Drs. 6/3434, S. 9; Kluth, G A 1988, 547; LK-Jähnke, Rz. 16 vor § 218. 212 Sch-Sch-£rer, Rz. 55 zu § 218 a; SK-Rudolphi, Rz. 11 zu § 218 a. Zur fragwürdigen Berechtigung dieses Arguments vgl. Gante, § 218, S. 235 ff, der beschreibt, wie in der ersten Hälfte der 60er bis zum Beginn der 70er Jahre bewußt falsche (überhöhte) Zahlen (10.000-40.000) über Todesfälle nach kriminellen Aborten in die Diskussion gebracht wurden. Dabei betrug die Gesamtzahl der Todesfälle von Frauen im gebärfähigen Alter (15-45 Jahre) 1961 13.631 und 1966 13.430, davon 97 Todesfälle nach einer Fehlgeburt. 213 Trotz dieser anerkannten Zielsetzung der Reform der §§ 218 ff. StGB ist zum einen nach wie vor umstritten, ob auch die Gesundheit der schwangeren Frau Schutzgut der §§ 218 ff. StGB ist. Dies bejahen Dreher/Tröndle, Rz. 6 vor § 218 ("nachrangiges Schutzgut"); Sch-Sch-Erer, Rz. 7 vor § 218; wohl auch Lackner, Rz. 1 zu § 218; ders., NJW 1976, 1233, 1236; Preisendanz, Anm. I I 1 zu § 218; Arzt/Weber L H 1 Rz. 360 Fn. 1; ablehnend BGHSt 28, 11, 15; LK-Jähnke, Rz. 16 vor § 218; Bemmann, ZStW 83 (1971) 81, 86; Lenckner, Notstand, S. 245 ff.; Lüttger, JR 1969, 445, 447; Rudolphi, ZStW 83 (1971) 105, 111; Schmidt, N J W 1960, 361, 362. Aber selbst wenn man diese Ansicht teilt, folgt daraus nicht zwingend, daß das Gesetz einen zur Straffreiheit führenden Arztvorbehalt enthalten muß. 214 Vgl. Bräutigam, in: Voss/Voss/Hoffacker (Hrsg.), S. 143 ff; Langendörfer, in: Hoffacker u.a. (Hrsg.), S. 60 ff; Hepp, in: Böckle (Hrsg.), S. 47, 49 f. In diesem Zusammenhang kann nicht auf die Gefahren verwiesen werden, die mit einer Schwangerschaft und der Geburt des Kindes verbunden sind. Zwar setzt sich die Frau diesem Risiko aus, wenn sie die Abtreibung unterläßt. Zielsetzung der §§ 218 ff. StGB war es jedoch in gesundheitspolitischer Hinsicht nicht, die Frau vor den Risiken einer Schwangerschaft und Geburt zu schützen, sondern allenfalls, sie vor den Folgen unsachgemäßer Abtreibungen zu bewahren. 215 Vgl. Simon, in: JVL-Schriftenreihe Nr. 4 (1987), S. 31 ff. Die seelischen Folgen sind allerdings unabhängig davon, ob die Abtreibung von einem Facharzt vorgenommen wurde oder nicht. 6 Esser

82

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

Straftat für den Täter ist sonst nirgendwo Zweck einer Strafnorm und begegnet schon von daher Bedenken gegen seine Zulässigkeit. Dies gilt umso mehr, wenn damit die Herabsetzung von Hemmschwellen beim Täter und/oder eine Erhöhung der Gefährdung des primären Schutzgutes der Norm einhergeht. Entschließt sich die Schwangere trotz des Verbotes zum Abort, so setzt sie sich der Gefährdung ihrer Gesundheit freiwillig und wissentlich aus. Von daher ist sie zumindest nicht in gleichem Maße schutzwürdig wie das ungeborene Kind, das ohne seinen Willen in die sein Leben gefährdende Situation gerät. Der Staat braucht sich die möglichen Gesundheitsgefahren durch nicht fachgerechte Abtreibungen nicht zurechnen zu lassen. Das Lebensrecht des Kindes aber gebietet ihm die Abwehr eines jeden Angriffs auf dessen Leben. Diese grundsätzliche Abwehr wird durch die Einbindung des Arztes in das Abtreibungsstrafrecht geschwächt. 4. Ergebnis zu L Der Staat hat das ungeborene Kind, wenn alle weniger einschneidenden Schutzinstrumente versagen, auch durch den Einsatz des Strafrechts zu schützen. Eine strafrechtliche Privilegierung der ärztlichen Abtreibung ist unzulässig. Die Abtreibung muß vielmehr ausnahmslos einem staatlichen Verbot unterliegen, das sich an jeden richtet, der das Leben des Ungeborenen zu beeinträchtigen beabsichtigt. II. Die Unzulässigkeit einer Indikationsfeststellung ex ante Ein generelles strafrechtliches Abtreibungsverbot bedeutet nicht zwingend, daß jeder Abort auch geahndet werden muß. Die Gewährung von Straffreiheit aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls ist trotz eines Verbotes grundsätzlich - wie bei jeder anderen Straftat auch - denkbar und verfassungsrechtlich geboten216. Daher ist es möglich, die Abtreibung in solchen Situationen, wie sie §218 a StGB beschreibt, im Einzelfall ohne Strafe zu lassen. Dennoch wirft die konkrete Ausgestaltung der gegenwärtigen Indikationenregelung, insbesondere die den Ärzten nach §§ 218 a und 219 StGB möglichen Feststellungen, auch in diesem Punkt verfassungsrechtliche Bedenken auf.

1. Der Legalisierungsanschein der Indikationsfeststellung im Vorfeld der Tat Die mehr als 15-jährige Gewöhnung an das geltende Abtreibungsstrafrecht hat zu seiner verbreiteten gesellschaftlichen Akzeptanz geführt. Die Feststellung der In216

Vgl. BVerfGE 39, 1, 48.

Β. Die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit des ärztlichen Aborts

83

dikationen im Vorfeld der Tat und das in der Praxis nahezu generelle Ausbleiben einer gerichtlichen Überprüfung derselben ex p o s t 2 1 7 verleiten selbst solche Bürger, die jeden Gedanken an ein eigenes Abtreibungsvorhaben zurückweisen, zu der Annahme, durch die ärztliche Feststellung nach §§ 218 a, 219 Abs. 1 StGB sei die unzumutbare Notlage der Schwangeren tatsächlich bewiesen und die nachfolgende Abtreibung somit "rechtens". Diesen Legalitätsanschein erweckt die Indikationsfeststellung vornehmlich dadurch, daß ein hierzu durch Gesetz berufener Dritter, der am Schwangerschaftskonflikt unbeteiligt ist und zudem als Arzt einem geachteten Berufsstand angehört, vor Tatbegehung eingeschaltet wird. Vergleichbare Konstellationen sind dem bundesdeutschen Strafrecht ansonsten unbekannt 218 . Das Gesetz kennt keine Instanz, die das Vorliegen von zum Strafausschluß führenden Umständen dem "normalen" Täter vor der Tat bescheinigt219. So weist Eser zutreffend darauf hin, daß in diesen Fällen "offenbar noch niemand auf den Gedanken gekommen ist, das Vorliegen der strafbefreienden Merkmale von irgendeinem Dritten (...) ex ante prüfen und bestätigen zu lassen (...)" 22 0. Wohl aber kennt das behördliche Genehmigungsverfahren Vergleichbares; derartige Verfahren haben jedoch stets die Rechtmäßigkeit eines geplanten Vorhabens, nicht dessen Strafbarkeit zum Gegenstand. So wird die vor der Abtreibung festgestellte Indikation vielfach und aus der Sicht des Laien durchaus verständlich mit einer Genehmigung gleichgesetzt und als Vorwegfreispruch oder Erlaubniserteilung mißverstanden 221 . Dieser Anschein entsteht selbst dann, wenn man eine rechtliche Bindungswirkung der ärztlichen Feststellung verneint 222 . Eine an den Laien gerichtete Rechtsnorm - wie der § 218 a StGB - ist hinsichtlich ihres Rechtsscheins

217

Vgl. die oben angeführten Gründe für die geringe Wahrscheinlichkeit einer Aufdeckung dieses Delikts Teil 2 Β I 3e. 218

Vgl. Tröndle,

Anhörung, Ausschuß-Drs. 29, S. 14 f.

219

Tröndle ( A W M F , S. 46) weist auf folgenden Vergleichsfall hin: Als Hackethal von einer Schwerbehinderten Frau um aktive Sterbehilfe gebeten wurde, wobei ofTen gewesen sein mag, ob die Tat eine tatbestandsmäßige Tötung auf Verlangen oder eine straflose Beihilfe zur Selbsttötung gewesen wäre, bat er die Staatsanwaltschaft und hernach die zuständige Polizeidienststelle vergeblich um Vorabentscheidung oder «Genehmigung» der Tat, VG Karlsruhe, JZ 1988, 208 fT. 220 Eser, ZRP 1991, 291, 295. Er zieht jedoch daraus die Folgerung, daß die vor der Abtreibung erfolgte Selbsteinschätzung der Schwangeren (sog. Diskurs-Modell) statt der gegenwärtigen Indikationsfeststellung durch einen Dritten verbindlich und gerichtlich unüberprüfbar zur Straffreiheit fuhren müsse. Diese Aussage ist nicht verwunderlich, da Eser ebenso wie Gropp ( G A 1988, 1, 15 f.) den "Gang über den Rubikon" hinnimmt und den Grundsatz von der Unantastbarkeit unschuldigen, nicht-angreifenden Lebens verläßt: "So bricht § 218 a StGB namentlich auch mit dem ansonsten die Rechtfertigungsdogmatik beherrschenden Prinzip, daß unschuldiges und an der Entstehung der Notlage unbeteiligtes menschliches Leben nicht mit direktem Vorsatz ausgelöscht werden darf* (JZ 1991, 1003, 1012 Fn. 87). 22 1 Der Vergleich zeigt zudem, daß die Feststellung einer Indikation vor der Abtreibung die Schwangere gegenüber allen anderen Tätern ohne ersichtlichen Grund privilegiert. Damit erscheint eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht ausgeschlossen. 222

Dazu unten Teü 3 Β 3 III.

84

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

aus Laiensicht und nicht vorrangig aus rechtswissenschaftlicher Perspektive zu beurteilen. Wenn der Staat, der jeden rechtswidrigen Angriff auf das Leben abwehren soll, ein "Vorweg-Verfahren" einrichtet, in dem die Voraussetzungen für den Wegfall des Strafschutzes für das ungeborene Kind geprüft werden 2 ^, und wenn er sich in der Praxis weitgehend mit dieser Vorwegprüfung anstelle einer gerichtlichen Nachprüfung begnügt, so ist die Abtreibung, deren klare rechtliche Kennzeichnung als Unrecht geboten i s t 2 2 4 , für die Öffentlichkeit und den einzelnen potentiellen Täter nicht mehr als solche erkennbar 22 *. Mit dem unbedingten Gebot zur Abwehr jedes Angriffs ist es daher nicht zu vereinbaren, schon im Vorfeld der Unrechtstat deren Folgen zu regulieren 22 ^ Dieser Legalitätsanschein wird erzielt, ohne daß der Gesetzgeber eine Rechtfertigung des indizierten Schwangerschaftsabbruchs im Gesetz zum Ausdruck gebracht hat, wie er dies bei sonstigen Rechtfertigungstatbeständen entsprechend dem Gebot der Gesetzesklarheit zu tun pflegt 2 2 7 . Diese Unterlassung beruht nicht auf einem Versehen. Der Gesetzgeber hat es vielmehr "nicht gewagt" 22 ^, eine Rechtfertigung explizit auszusprechen. Wie aus den Sitzungsprotokollen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform ersichtlich 22 ?, war den Verantwortlichen vielmehr bekannt, daß die weiteren Ziele der Reform des Abtreibungsstrafrechts (Strafbefreiung des Arztes, Ausschluß der Nothilfe Dritter zu Gunsten des

223 Daß eine Prüfung durch den abtreibenden Arzt erfolgt, wird der Schwangeren auch dann klar, wenn keine schriftliche Dokumentation wie bei der Indikationsfeststellung vorliegt; schließlich wird vor dem Abort - zumindest den Vorstellungen des Gesetzgebers zufolge - ein Patientengespräch stattfinden, das gerade die Prüfung der Indikationsvoraussetzungen zum Gegenstand hat. 224 BVerfGE 39, 1, 46. 225 Vgl. Büchner, ZRP 1991, 431, 432; zum nur "symbolischen Strafrecht" Hassemer, NStZ 1989, 553 ff (554). Siehe auch Tröndle, Anhörung, Ausschuß-Drs. 29, S. 14 f. Ausschließlich auf die Abwehr der bevorstehenden Abtreibung bezog sich ein Urteil des Amtsgerichts Celle (Vormundschaftsgericht), das gegenüber einer Mindeijährigen mit Abtreibungswunsch und dem von ihr beauftragten Arzt ein ausdrückliches Abtreibungsverbot aussprach, da kein strafbefreiender Indikationstatbestand vorlag (Beschluß vom 9.2.1987, mit ausführlicher Begründung in NJW 1987, 2307 ff); vgl. dazu auch Hofmann, Das Lebensrecht des Nasciturus, S. 154 ff. 226 im "Theissen"-Urteil formuliert der Bundesgerichtshof unlängst: "Das Gesetz sieht also ein System von Maßnahmen vor, das einerseits Schwangerschaftsabbrüche soweit wie möglich verhindern will, das andererseits aber, falls es doch zum Abruch kommt, dessen Voraussetzungen (einigermaßen) eingehend regelt, in gewisser Weise institutionalisiert" ( B G H NJW 1992, 763, 767); damit beschreibt der Bundesgerichtshof die Lage zwar treffend. Zu dem aus dieser Schilderung erkennbaren Problem nimmt er aber nicht Stellung. Die Regelung der Folgen der Tat ex ante beeinträchtigt nämlich gerade durch ihren Legalisierungsanschein die gebotene Abwehr. 227

Vgl. §§ 32, 34, 142 Abs. 2 Nr. 2, 226 a, 240 Abs. 2.

22

Maurach/Schroeder/Maiwald,

*

229

BT 1, § 6 Rz. 15.

Vgl. Horstkotte, Deutscher Bundestag, 7. WP, Sten. Dienst, 25. Sonderausschuß-Si. v. 13.2.1974, S. 1469 ff. (1470).

Β. Die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit des ärztlichen Aborts

85

ungeborenen Kindes und Abtreibungshilfe der gesetzlichen Krankenkassen in allen Indikationsfällen) nur bei gerechtfertigten Abtreibungen erreichbar waren. Demnach vertraute der Gesetzgeber wohl darauf, daß der durch die Gesamtreform des Abtreibungsstrafrechts erweckte Rechtsschein der Legalität des indizierten Aborts zu einer faktischen Nichtanwendung der strafrechtlichen Bestimmungen fuhren würde. Vieles spricht für eine zutreffende Einschätzung der vom Gesetz hervorgerufenen, durch seinen Wortlaut aber nicht gedeckten sozialen Dynamik und einer entsprechenden Akzeptanz in der Öffentlichkeit.

2. Berücksichtigung

der "Fristenregelungs"-Entscheidung

Es könnte nun aber eingewandt werden, in den indizierten Fällen habe die Schwangere ein berechtigtes Interesse daran, vor der Abtreibung - eben durch eine Indikationsfeststellung - zu erfahren, ob ihr für den beabsichtigten Abort Strafe drohe oder nicht. Das Strafrecht solle ja für indizierte Abtreibungen gerade keine präventive Wirkung entfalten, was - wie das Bundesverfassungsgericht in der "Fristenregelungs"-Entscheidung ausdrücklich feststellt - auch "verfassungsrechtlich hinzunehmen" 2 * 0 sei; denn es handele sich um Situationen, in denen der Gesetzgeber auf die Androhung von Strafe verzichte, da die Schwangerschaft 2*1 bzw. das Erzwingen ihrer Fortsetzung mit den Mitteln des Strafrechts 2 32 ftr die Schwangere unzumutbar sei. Diese Überlegung liegt aus Sicht der Schwangeren nahe. Der Gesetzgeber aber hat bei der rechtlichen Behandlung des Schwangerschaftskonflikts zwei widerstreitende Interessen zu berücksichtigen: Das Interesse des ungeborenen Kindes erfordert die unbedingte Abwehr aller Angriffe auf sein Grund- und Menschenrecht auf Leben, die schwangere Frau erwartet eine klare Umschreibung der Situationen, in welchen sie bei Abtreibung keine Strafandrohung zu fürchten hat. Der Rahmen dessen, was "verfassungsrechtlich hinzunehmen" ist, wird jedoch durch das grundgesetzlich geschützte Lebensrecht des ungeborenen Kindes bestimmt. Der Gesetzgeber darf daher keine Regelung treffen, die sich in irgendeiner Weise zwangsläufig zu Lasten des Ungeborenen auswirkt, d.h. die Regelung darf die Frau jedenfalls nicht in ihrem Entschluß zur Abtreibung bestärken. Der Legalisierungsanschein der Indikationsfeststellung führt aber zu einer mit dem Verfassungsrecht nicht zu vereinbarenden Schwächung der Position des ungeborenen Kindes. Die präventive, dem Schutz des ungeborenen Kindes dienende

230 BVerfGE 39, 1, 48. 231 BVerfGE 39, 1, 49. 232 BVerfGE 39, 1, 48.

86

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

Wirkung, die eine strafrechtliche Norm - und so auch das grundsätzliche Abtreibungsverbot des § 218 Abs. 1 StGB - entfaltet, ist durch die Indikationenregelung in § 218 a StGB weitgehend eingeschränkt - und zwar zu Lasten des ungeborenen Kindes. Die getroffene Regelung ist vielmehr aufgrund ihres Rechtsscheins geeignet, den Unrechtscharakter der Abtreibung zu verschleiern und die Schwangere in ihrem Entschluß zur Abtreibung zu stärken. Hierdurch wird das grundsätzlich vorrangige und höherwertige Interesse des Kindes an der Abwehr aller Angriffe auf sein Lebensrecht beeinträchtigt. Mit einer Regelung, die eine Indikationsfeststellung ex ante enthält, berücksichtigt der Staat aber einseitig die zumeist nur nachrangigen, in Extremsituationen allenfalls gleichrangigen Interessen der schwangeren Frau. Auch für die vitale Indikation gilt nichts anderes. Denn der vital-indizierte Abort ist ebenfalls rechtswidrig 233 und darf nicht durch einen Anschein der Legalität zu Lasten des Lebensrechts des ungeborenen Kindes privilegiert werden. Zudem besteht für eine Feststellung im Vorfeld der Tat hier auch kein praktisches Bedürfnis. Die Anzahl der Fälle ist zum einen schon zahlenmäßig nicht relevant. Zum anderen ist der Tatbestand einer Lebensgefahr für die Schwangere klar umrissen, so daß aufgrund der ohnehin gebotenen ärztlichen Dokumentation einer jeden Behandlung der Sachverhalt leicht beweisbar ist und für die Beteiligten daher bei einer gerichtlichen Prüfung ex post kein erhebliches Bestrafungsrisiko besteht.

3. Ergebnis zu II. Nach den vorstehenden Überlegungen darf der Staat vor allem aus Gründen der Prävention im Vorfeld der Abtreibung kein Normsystem bereitstellen, das sich nicht mit der Abwehr des rechtswidrigen Eingriffs, sondern mit der Regulierung seiner Strafbarkeit befaßt. Von daher ist das derzeitige Abtreibungsstrafrecht nicht nur bezüglich der Vornahme der Abtreibung durch Ärzte, sondern auch hinsichtlich der Indikationsfeststellung ex ante bereits grundsätzlich und zunächst unabhängig von der Person des Indizierenden nicht mit der Verfassung vereinbar. Das dem Grundgesetz zu entnehmende Abtreibungsverbot gilt für alle - nicht nur für die Schwangere und Laienabtreiber, sondern auch für Ärzte. Niemand - auch nicht ein Arzt - darf den staatlichen «ultima ratio»-Schutz für das ungeborene Kind durch zwangsläufig mit einem Legalisierungsanschein behaftete Feststellungen im unmittelbaren Vorfeld der Tat beeinträchtigen. Hielte die Ärzteschaft am absoluten Verbot der vorsätzlichen Tötung nicht-angreifender Unschuldiger fest und lehnte sie jede Mitwirkung am Abort ab, so würde diese verfassungsrechtlich gebotene Haltung auch der in Teil 1 festgestellten berufsrechtlichen Unvereinbarkeit der Abtreibungstätigkeit mit dem ärztlichen Beruf Rechnung tragen.

233 s.o. Teil 2 A I I I 2e.

Β. Die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit des ärztlichen Aborts

87

III. Das Mitwirkungsverweigerungsrecht des Art. 2 Abs. 2 des 5.StrRG Die Rechtswidrigkeit ausnahmslos jeder Abtreibung wirkt sich auch auf den Umfang des ärztlichen Rechts zur Verweigerung der Mitwirkung an Abtreibungen aus Art. 2 des 5.StrRG aus. Dieses Recht erweist sich bei näherer Prüfung als (unzulässige) Pflicht zur Vornahme von Abtreibungen bei vitaler Indikationslage.

1. Darstellung der Regelung a) Art. 2 Abs. 1 des 5.StrRG Nach Art. 2 Abs. 1 des 5.StrRG ist niemand verpflichtet, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken 234 . Diese, ihrem Inhalt nach § 5 S. 3 der Muster-Berufsordnung für die deutschen Ärzte entsprechende Vorschrift, umfaßt mit dem Begriff "niemand" einen weiten Personenkreis, jedenfalls aber den mit Sozialberatung und Abtreibung konfrontierten A r z t 2 3 5 , um dessen Stellung es vorliegend geht 23 6. Obwohl gesetzgeberisches Motiv für diese Regelung zunächst das Bemühen um die Berücksichtigung von Gewissensgründen w a r 2 3 7 , die der Durchführung eines Aborts entgegenstehen könnten, ist nach heute herrschender Meinung die Berufung auf Art. 2 Abs. 1 des 5.StrRG nicht auf die Geltendmachung derartiger Motive beschränkt 238 . Die Weigerung bedarf keiner Begründung, sie befreit schon als solche von der Pflicht zur Mitwirkung 23 ?. Die Vorschrift hat vor allem im Zivil- und Arbeitsrecht Bedeutung 240 , so z.B. für Kassen- oder Krankenhausärzte 241. Im strafrechtlichen Bereich ist sie für die Beurteilung der Weigerung eines Arztes auf dem Hintergrund der allgemeinen Hilfelei234 Konsequenterweise erstreckt sich dieses Recht nach der Ansicht von Narr (Rz. 793) auch auf die Verschreibung von nidationshemmend wirkenden Mitteln. 235

Vgl. auch Harrer,

DRiZ 1990, 137, 138; Hirsch/Weißauer,

S. 72 f.

236

Daher soll die Problematik hier auch ausschließlich in bezug auf den Arzt und seine Situation dargestellt werden. Vom Grundsatz her lassen sich diese Überlegungen jedoch ohne weiteres auf jeden übertragen, dem die Beteiligung an einer Abtreibung angesonnen wird. 237 Vgl. Deutscher Bundestag, 6. WP, Regierungsentwurf, BT-Drs. 6/3434, § 220 b; Eser, in: Eser/Hirsch (Hrsg.), S. 200; LK-Jähnke, Rz. 85 zu § 218 a. 23 « Deutscher Bundestag, 6. WP, Regierungsentwurf, BT-Drs. 6/3434, § 220 b; Deutscher Bundestag, 7. WP, Erster Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform zu dem von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts, BT-Drs. 7/1981 (neu), S. 19; LK-Jähnke, Rz. 85 zu § 218 a; Harrer, DRiZ 1990, 137, 138 Fn. 14 m.w.N. 23 * Dreher/Tröndle, Rz. 4 zu § 218 a; LK-Jähnke, Rz. 85 zu § 218 a; Sch-Sch-£«?r, Rz. 68 zu § 218 a; SK-Rudolphi, Rz. 51 zu § 218 a; Sax, JZ 1977, 326, 336.

240 Maier, NJW 1974, 1404, 1405. 2

* i Hirsch/Weißauer,

S. 80 ff; vgl. zur Bereitschaft auch BVerwG NJW 1992, 773 ff.

88

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

stungspflicht (§ 323 c StGB) oder der Rechtswidrigkeit des Nicht-Handelns bei Unterlassungsdelikten von Belang 2 4 2

b) Art. 2 Abs. 2 des 5.StrRG Das grundsätzliche Weigerungsrecht wird in Art. 2 Abs. 2 des 5.StrRG eingeschränkt; Absatz 1 gilt nicht, "wenn die Mitwirkung notwendig ist, um von der Frau eine anders nicht abwendbare Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung abzuwenden." Danach soll der Arzt in den zahlenmäßig unbeachtlichen 2 4 3 Fällen vitaler Indikation seine Mitwirkung bzw. die Vornahme der Abtreibung laut Gesetz nicht verweigern dürfen 244 .

2. Die verfassungsrechtliche

Problematik

Nach in der Literatur verbreiteter Ansicht 2 4 * haben beide Absätze des Art. 2 5.StrRG rein deklaratorische Bedeutung. Beide Normen stellten lediglich ohnehin bestehende Rechte (Art. 2 Abs. 1 des 5.StrRG) oder Pflichten (Art. 2 Abs. 2 des 5.StrRG) klar, begründeten solche aber nicht. Ob sie nichts anderes als die Zusammenfassung allgemeingültiger Rechts- und Grundsätze enthalten, ist fraglich.

a) Zur Verfassungswidrigkeit der Regelung des Art. 2 Abs. 2 des 5.StrRG Art. 2 Abs. 2 des 5.StrRG läuft auf eine mit dem Recht nicht zu vereinbarende Regelung hinaus, nämlich die Pflicht zur Abtreibung ohne rechtfertigenden Grund. Damit enthält diese Norm durchaus einen eigenen^ Regelungsgehalt. Eine solche Rechtspflicht hält - sofern sie die direkte und vorsätzliche Tötung des ungeborenen Kindes beinhaltet - verfassungsrechtlichen Anforderungen auch dann nicht Stand,

242 Maier, NJW 1974, 1404, 1405. 243 Koch, in: Eser/Koch, Schwangerschaftsabbruch I, S. 17, 183; Dreher/Tröndle, § 218; Geiger, FamRZ 1986, 1, 2. 244 Harrer, § 218 a.

DRiZ 1990, 137, 138; SK-Rudolphi,

Rz. 9j vor

Rz. 52 zu § 218 a; Dreher/Tröndle,

Rz. 4 zu

245 LK-Jähnke, Rz. 82 zu § 218 a; vgl. auch Maier, NJW 1974, 1404, 1405; Deutscher Bundestag, 7. WP, Erster Bericht des Sonderausschusses flir die Strafrechtsreform zu dem von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts, BT-Drs. 7/1981 (neu), S. 18/19.

Β. Die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit des ärztlichen Aborts

89

wenn eine vitale Indikation vorliegt 24 ^. Eine Einschränkung des ärztlichen Weigerungsrechtes aus Art. 2 Abs. 1 des 5.StrRG ist unzulässig 247 . aa) Jede Verpflichtung 24 ^ zur Abtreibung verstößt zum einen gegen das auch dem ungeborenen Kind durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG garantierte 24? Recht auf Lebea Selbst die Konstellation der vitalen Indikation, wenn also das Leben des Kindes gegen das Leben der Mutter steht, kann wegen der Gleichwertigkeit von geborenem und ungeborenem L e b e n 2 5 0 eine Abtreibung nicht rechtfertigen 2* l. bb) Darüber hinaus kann sich jeder, dem eine Abtreibung angesonnen wird, auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) berufen 2 * 2 . Die vom Grundgesetz garantierte Gewissensfreiheit umfaßt nach der bekannten Formel des Bundesverfassungsgerichts "jede ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von «Gut»

246 Vgl. auch Lenz, VersR 1990, 1209 ff. 247 So auch Hanack/Hiersche, ArchGyn 228 (1979) 331, 335; Peters, JZ 1972, 86 (Anm. zu BVerfG JZ 1972, 83 fT.). A.A. SK-Rudolphi, Rz. 52 zu § 218 a; LK-Jähnke, Rz. 82 zu § 218 a; Sch-Sch-Eser, Rz. 70 zu § 218 a; Maier, DÄB1. 1974, 352,'353. Dagegen sprach sich noch im Jahr 1972 auch die Ärzteschaft aus. In der "Stellungnahme der Bundesärztekammer zum Entwurf eines Fünften Strafrechtsänderungsgesetzes" (DÄB1. 1972, 729, 730) heißt es: **§ 220 b des Entwurfs (...) bedarf jedoch in zwei Punkten einer Änderung: (...) Zur Mitwirkung an einer Notstandstötung kann ein Arzt auch dann nicht verpflichtet werden, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist." Auch dem Ersten Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform zum 5.StrRG ist keine Begründung für die Regelung des Art. 2 Abs. 2 des 5.StrRG zu entnehmen. Dort heißt es nur: "Dem Gesetzgeber steht es zwar zu, die bisherige uneingeschränkte Strafandrohung in einem gewissen Umfang zurückzunehmen. (...) Eine Legitimation, irgend jemanden zur Mitwirkung an den künftigen straffreien Schwangerschaftsabbrüchen - soweit sie nicht zur Abwendung einer Lebensoder schweren Gesundheitsgefahr von der Mutter notwendig sind - zu verpflichten, hat er nicht" (Deutscher Bundestag, 7. WP, Erster Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform zu dem von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts, BT-Drs. 7/1981 (neu), S. 19). 248 Entscheidend ist hierbei zunächst nicht ein im engen, rechtstechnischen Sinne verstandener Begriff der Verpflichtung. Selbst, wenn man beispielsweise mit Jähnke (LK-Jähnke, Rz. 82 zu § 2 1 8 a) die Ansicht vertritt, daß Art. 2 Abs. 2 5.StrRG keine eigenständige Rechtspflicht zur Abtreibung schaffe, ein Unterlassen des Aborts möglicherweise aber nach den allgemeinen Regeln über die Garantenstellung beim Unterlassungsdelikt oder nach § 323 c StGB zu beurteilen sei, so gerät der Arzt bei Anwendung des Art. 2 Abs. 2 des 5.StrRG doch unzweifelhaft in eine Konfliktlage, wenn er sich einem Fall vitaler Indikation gegenüber sieht: die Abtreibung wird ihm entweder über das 5.StrRG direkt zur Pflicht oder aber sein Unterlassen wird ihm nach §§211, 212, 13 StGB bzw. § 323 c StGB zur Last gelegt. Vom Ergebnis her betrachtet ergibt sich dann auch nach der Ansicht von Jähnke und anderen Autoren, die in Art. 2 Abs. 2 5.StrRG eine nur deklaratorische Regelung sehen, eine Rechtspflicht zum Töten. 249 s.o. Teil 2 A II. 250 BVerfGE 39, 1, 59. 251 S.o. Teil 2 A I I I 2.

90

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

und «Böse» orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfahrt, so daß er gegen sie nicht ohne ernsthafte Gewissensnot handeln könnte." 2 * 3 Dieses Grundrecht gewährt als ein Minimum das Recht, die Vornahme von rechtswidrigen Handlungen und insbesondere einen Verstoß gegen das absolute Verbot der Tötung Unschuldiger zu verweigern.

b) Keine sonstige Einschränkbarkeit des Grundsatzes aus Art. 2 Abs. 1 des 5.StrRG Die Regelung des Art. 2 Abs. 1 des 5.StrRG wird aus den o.g. Gründen auch nicht durch andere Grundsätze eingeschränkt. aa) Eine Einschränkung des Rechts zur Verweigerung der Mitwirkung an Abtreibungen würde die allgemeine Verpflichtung zur Hilfeleistung (§ 323 c StGB) unzulässig ausweiten. Der Arzt wird durch diese Norm nicht stärker in die Pflicht genommen als jeder andere Mensch auch 2 * 4 . Weder für einen Arzt noch für einen sonstigen Hilfspflichtigen aber schafft die Vorschrift des § 323 c StGB eine Pflicht zur Begehung einer rechtswidrigen Tat; um eine solche handelt es sich aber beim indizierten A b o r t 2 5 5 . bb) Aus gleichem Grunde kann das Mitwirkungsverweigerungsrecht des Art. 2 Abs. 1 des 5.StrRG nicht durch eine ärztliche Garantenstellung256 eingeschränkt werden 2 5 7 . Eine solche schafft zwar eine Verpflichtung zum Handeln und kann, wenn sie verletzt wird, die Rechtswidrigkeit eines Unterlassens b e g r ü n d e n 2 5 » . Sie kann jedoch keine Verpflichtung zur Begehung von Unrecht schaffen und folglich auch eine Einschränkung des allgemeinen Weigerungsrechtes nicht tragen 25 9,

252 So auch Dreher/Tröndle, Rz. 4 zu § 218 a unter Berufung auf BVerfGE 32, 98 ff ("Gesundbeter"); Harrer, DRiZ 1990, 137, 139; ähnlich Engelhardt, VersR 1988, 540, 541 (Fn. 10), der im Falle nachträglich auftretender Gewissensbedenken ein Rücktrittsrecht annehmen will; Belling , S. 144 f. hält die Vorschrift des Art. 2 Abs. 2 des 5.StrRG nur insoweit für verfassungsgemäß, als sie die doppelt-vitale Indikation betriff; doch auch in diesen Fällen gesteht er einem Arzt die Verweigerung der Vornahme der Abtreibung unter Berufung auf sein Gewissen zu; ähnlich auch Gropp, S. 181 ff. 253 BVerfGE 12, 45, 55. Zum Gewissensbegriff statt vieler Podieck, AöR 88 (1963) 185 ff.; Hamel, AöR 89 (1964) 322 ff.; Geiger, Gewissen, 1962; Rupp, NVwZ 1991, 1033 ff. 2 *4 RGSt 75, 68; BGH NJW 1983, 350, 351; Dreher/Tröndle,, Arztrecht, Rz. 94; Ratzel, Ärztliches Standesrecht, S. 39. 2 2

«

S.o. Teil 2 A I I I 2.

*6 Maier, NJW 1974, 1404, 1405.

257

So auch Hirsch/Weißauer,

S. 77.

Rz. 6 zu § 323 c; Laufs,

Β. Die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit des ärztlichen Aborts

91

cc) Schließlich kann das Weigerungsrecht nicht durch eine vertragliche Verpflichtung zur Vornahme der Abtreibung unterlaufen w e r d e n 2 60. Autoren, die derartiges befürworten 2*!, können zu einer solchen Ansicht nur unter Anerkennung der sog. Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB gelangen; denn anderenfalls steht einer vertraglichen Verpflichtung zur Abtreibung die Regelung des § 134 BGB e n t g e g e n 2 * 2 Danach ist jedes Rechtsgeschäft, welches gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, nichtig. Ein wegen eines Verstoßes gegen das Abtreibungsverbot des § 2 1 8 StGB nichtiger Vertrag aber kann keine Verpflichtungen b e g r ü n d e n 2 * 3 . Folglich kann also auch ein Arzt, der sich - etwa gegenüber einem Krankenhausträger - vertraglich zur Vornahme von Abtreibungen verpflichtet hat, nicht zur Einhaltung dieser Vertragspflicht angehalten werden. Eine insoweit teilweise angeführte Einschränkung der Vertragsfreiheit - insbesondere des Kassenarztes 2*4 - besteht nicht.

258

Dreher/Tröndle,

259

Vgl. auch Ulsenheimer, in: Laufs/Uhlenbruck u.a. (Hrsg.), Arztrecht, § 143 Rz. 45.

Rz. 5 ff zu § 13 m.w.N.

260 Die Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts, die Stellenanzeige einer städtischen Frauenklinik mit dem Wortlaut "Es wird vorausgesetzt, daß die Ärztinnen/Ärzte bereit sind, Schwangerschaftsabbrüche im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen durchzufuhren", verletze nicht Art. 2 des 5.StrRG (BVerwG NJW 1992, 773 ff), begegnet folgenden Bedenken: Wenn diese Vorschrift angesichts der ihr innewohnenden, zuvor erörterten Probleme einen Sinn haben soll, könnte dieser in der Herstellung der Chancengleichheit des nicht abtreibungswilligen Arztes gegenüber seinen abtreibungsbereiten Kollegen liegen. Diese aber wird bei einer Stellenausschreibung wie der o.g. verletzt, da sie einem nicht abtreibungsbereiten Arzt, der seine Haltung offenbart, jede Bewerbungsaussicht nimmt. Zum anderen mutet die Bewerbung aufgrund einer derartigen Anzeige dem abtreibungsunwilligen Bewerber einen stillschweigenden Verzicht auf das Weigerungsrecht des Art. 2 des 5.StrRG für den Zeitpunkt der Bewerbung, aber auch für die Zukunft zu. Insofern berührt wohl schon allein diese Ausschreibung - entgegen der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts den durch Art. 2 des 5.StrRG geschützten Bereich. 261 Eser, in: Eser/Hirsch (Hrsg.), S. 201; Grupp, NJW 1977, 329, 331 f.; Schneider, 1977, 1702 f.; Maier, NJW 1974, 1404, 1410; ders., DÄB1. 1974, 383 f.

DB

2 « Vgl. BayObLG NJW 1990, 2328, 2332; OLG Bremen, VersR 1984, 288; Palandt-7/emrichs, Rz. 14 zu § 134; Belling. , S. 145; Brießmann, JR 1991, 397, 402. 2

« Vgl. Lenz,, VersR 1990, 1209, 1214. Zu diesem Ergebnis gelangen auch Sax (JZ 1977, 326, 336) und Jähnke (LK-Jähnke, Rz. 85 zu § 218 a), allerdings mit der Begründung, Art. 2 Abs. 1 des 5.StrRG sei als zwingende gesetzliche Regelung nicht abdingbar und habe daher auch gegenüber vertraglichen Verpflichtungen Vorrang; vgl. auch Harrer (DRiZ 1990, 137, 139), der diesbezüglich auf das Vorhandensein von Gewissensgründen abstellen will. 264

Vgl. Maier, DÄB1. 1974, 383.

92

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

3. Ergebnis zu III. Entgegen dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 des 5.StrRG ist der Arzt auch bei vitaler Indikation nicht zur Vornahme von Abtreibungen verpflichtet.

IV. Die ärztliche Verschreibung nidationshemmender Mittel (§ 219 d StGB) Die in Teil 2 A zugrunde gelegten Prinzipien haben auch Auswirkungen auf die Regelung des § 219 d StGB.

1. Darstellung der Problematik a) In der gegenwärtigen Diskussion um die Neuregelung des Abtreibungsstrafrechts spielt die Vorschrift des § 219 d StGB, wonach "Handlungen, deren Wirkung vor Abschluß der Einnistung des befruchteten Eies in die Gebärmutter" eintreten, "nicht als Schwangerschaftsabbruch im Sinne dieses Gesetzes" gelten, eine nur untergeordnete Rolle. In der Praxis hingegen ist § 219 d StGB, der als einzige Norm im Kontext der §§218 ff. StGB das geschützte Rechtsgut ausdrücklich nennt, von großer Bedeutung. Ohne diese Regelung nämlich würden Verschreibung und Anwendung solcher "Verhütungsmittel", die nicht die Konjugation, sondern die Einnistung der bereits befruchteten Eizelle in die Gebärmutterschleimhaut (Nidation) v e r h i n d e r n 2 ^ unter das Verbot des § 218 StGB fallen. Daran wird deutlich, welche Verbindung zwischen dieser Norm und der Stellung des Arztes im Rahmen der §§218 ff. StGB besteht: dieser wird durch die Verordnung nidationshemmender Mittel innerhalb der "strafrechtlichen Lebensschutzlücke"26 6 des § 219 d StGB tätig. b) Über die Entstehung des § 219 d StGB, deren Kenntnis für seine rechtliche Einordnung hilfreich ist, gibt Gante 2 6 7 detailliert Aufschluß. Von den frühen 70er Jahren an bis zur Gesetzgebungsphase 1976 bestand unter allen Parteien mit nur unwesentlichen Abweichungen Einigkeit darüber, daß der Beginn des strafrechtlichen Lebensschutzes auf den Zeitpunkt der Nidation festgelegt werden sollte. Ausschlaggebend dafür waren nicht Zweifel an der Menschqualität des Embryos in diesem frühen Entwicklungsstadium; darauf weist schon der als Fiktion ("gelten")

265 Z.B. Spirale, Intrauterinpessar (IUP), «Pille danach», «Minipille» sowie gewisse Formen der "normalen" Pillenpräparate (vgl. Guillebaud, S. 170 if.). 266 Ygi# Cramer, Gen- und Genomanalyse, S. 115; Gropp, S. 35 ff.

267 Gante, § 218, S. 262-274.

Β. Die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit des ärztlichen Aborts

93

formulierte Gesetzestext des § 219 d StGB hin. Vielmehr ging es vorrangig darum, die Anwendbarkeit sog. "Nidationshemmer" für familienplanerische Maßnahm e n 2 ^ nicht zu b e e i n t r ä c h t i g e n 2 ^ . Daß auch keineswegs kriminalpolitische Aspekte 2 7 0 - wie etwa Schwierigkeiten beim Nachweis einer Abtreibung vor der Nidation - den Ausschlag zur Schaffung des § 219 d StGB gaben, belegt Gante u.a. mit einer Aussage von Horstkotte (Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz) im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform: Die praktische Unmöglichkeit der Verfolgung von Abtreibungshandlungen vor der Nidation sei durchaus kein Hindernis für einen strafrechtlichen Lebensschutz auch in der ersten Lebenphase; so ließen sich etwa Beihilfe- und Anstiftungshandlungen strafrechtlich verfolgen: "Diese Möglichkeit besteht. Der Gesetzgeber will bewußt darauf verzichten, diese Möglichkeit zu nutzen, und zwar in der Erwägung, daß der Gebrauch von Nidationshemmern, verglichen mit dem Schwangerschaftsabbruch, allemal die wünschenswertere Lösung ist" 2 7 *.

2. Verfassungsrechtliche

Bewertung

a) Die durch § 219 d StGB gewährte Straffreiheit knüpft vornehmlich an einen Vorgang, nämlich die Einnistung des ungeborenen Kindes in die Gebärmutterschleimhaut an, nicht an eine Frist. Dennoch läßt sich diese Regelung als "Fristenregelung im kleinen" 2 7 2 bezeichnen. Denn die Nidation ist das Ende einer in der Regel vierzehntägigen Zeitspanne 27 3 und nidationshemmend wirkende Handlungen/Mittel sind nach § 219 d StGB bereits tatbestandsmäßig von der Strafvorschrift des § 218 StGB ausgenommen274. Innerhalb der Indikationenregelung enthält das Gesetz also neben der sog. "verkappten Fristenregelung" für die beratene Schwangere (§218 Abs. 3 S. 2 StGB) eine zweite Fristenregelung fur Schwangere und Arzt in Gestalt des § 219 d StGB. Ihre verfassungsrechtliche Beurteilung richtet sich nach den Grundsätzen, an denen jede Fristenregelung zu messen ist. Denn auch der noch nicht eingenistete Embryo

268

Insbesondere in der sog. "Dritten Welt", vgl. Gropp, a.a.o:; S. 51; Gante, § 218, S. 267.

269 Vgl. auch Scheck, Arzt und Christ 1973, S. 16 fT. 270

Diese halten für ausschlaggebend Gropp, S. 50 fT.; Eser, JuS 1970, 459, 461.

27 1

Horstkotte, Deutscher Bundestag, 7. WP, Sten. Dienst, 25. Sonderausschuß-Si. v. 13.2.1974, S. 1474 f. 27 2 De With (SPD), Deutscher Bundestag, 7. WP, Sten. Dienst, 95. Sonderausschuß-Si. v. 25.4.1974, S. 6383 (siehe Gante, § 218, S. 274). 2

™ SK-Rudolphi, Rz. 2 zu § 219 d.

27 4

Dreher/Tröndle,

Rz. 4 zu § 218.

94

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

ist ein M e n s c h 2 7 5 , ein "jeder" i.S.d. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und damit Inhaber des Rechts auf Leben 27 *. Er hat somit Anspruch auf den Schutz durch den Staat 2 7 7 . b) Der Verzicht auf strafrechtlichen Schutz des ungeborenen Kindes vor der Nidation verletzt daher das Grund- und Menschenrecht des ungeborenen Kindes auf Leben und widerspricht der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2,2 Abs. 2 S. 1 G G 2 7 8 . Das Bundesverfassungsgericht hat zwar zur staatlichen Schutzpflicht vor der Nidation bislang noch nichts ausgesagt. Die Formulierung "jedenfalls 219 ab dem vierzehnten T a g " 2 8 0 steht einer Erstreckung auf die vornidative Lebensphase aber keineswegs entgegen281. Die Karlsruher Richter haben die Frage vielmehr bewußt offen gelassen, da sie im Zusammenhang mit der Prüfung der Fristenregelung (1974) nicht relevant w a r 2 8 2 . c) Zudem läßt § 219 d StGB mit Blick auf das Embryonenschutzgesetz verfassungsrechtliche Konsequenzen vermissen. Der Gesetzgeber sah sich zu Recht veranlaßt, den in vitro erzeugten Embryo von der Konjugation an (vgl. §8 Abs. 1 ESchG) strafrechtlich zu schützen. Daß für ein ungeborenes, in utero gezeugtes Kind im gleichen Alter dieser Schutz nicht gelten soll, legt die Annahme nahe, daß hierdurch - neben der Verfassungswidrigkeit wegen eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 S. 2, 2 Abs. 2 S. 1 GG - das allgemeine Gleichbehandlungsgebot (Art. 3 Abs. 1GG) verletzt w i r d 2 8 3. d) Der Verzicht auf jeglichen strafrechtlichen Schutz des ungeborenen Menschen im vornidativen Entwicklungsstadium läßt sich schließlich nicht damit rechtfertigen, daß Handlungen in diesem Stadium nicht oder nur schwer nachweisbar seien. Über die Anwendung des § 219 c StGB hinaus, der das Inverkehrbringen von Mitteln zur rechtswidrigen Abtreibung unter Strafe stellt, könnte durchaus eine Handhabe geschaffen werden, um den Vertrieb nidationshemmender Mittel zu unterbin-

275 s.o. Teil 1 A IV 1. 276 S.o. Teil 2 A II; Geiger, FamRZ 1986, 1 ff.; Geiger, FS-Tröndle, S. 647, 649 f.; ders., in: Weigelt (Hrsg.), S. 17, 26 ff; Hirsch, MedR 1987, 12, 13; Dreher/Tröndle, Rz. 6c vor § 218 m.w.N. 277 Zu der Aussage des Bundesverfassungsgerichts, wonach menschliches Leben "jedenfalls" mit dem 14. Tag vorliege (BVerfGE 39, 1, 37), s.o. Teil 2 A II b aa (1). 27

® Narr, Rz. 793; Scheck, Arzt und Christ 1973, S. 16 ff (35).

279

Hervorhebung von der Verfasserin.

2*0 BVerfGE 39, 1, 37. 281

Belling, S. 143 f. Fn. 2; Cramer, Gen- und Genomanalyse, S. 54 m.w.N.

2*2 Vgl. Pap, S. 225. 283 Vgl. Sch-Sch-.Erer, Rz. 6a vor § 218, der auf diesen Wertungswiderspruch hinweist und eine weitere Prüfung dieser Frage, wenn nicht gar gesetzgeberische Konsequenzen fordert.

Β. Die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit des ärztlichen Aborts

95

den. Damit ließe sich auch der Umfang des Gebrauchs derartiger Mittel und die Anzahl der auf diese Weise durchgeführten Abtreibungen r e d u z i e r e n 2 8 4.

3. Keine Pflicht zur Verschreibung nidationshemmender Mittel (§ 219 d StGB) Der o.g. Art. 2 des 5.StrRG spricht unmittelbar nur vom Weigerungsrecht bei "Schwangerschaftsabbrüchen", also nicht bei den sachlich § 219 d StGB unterfallenden vornidativen Abtreibungen. Man könnte einwenden, daß Art. 2 des 5.StrRG daher auf die Verschreibung nidationshemmender Mittel als Beihilfehandlung zum Abort keine Anwendung findet. Der Wortlaut des § 219 d StGB legt jedoch eine andere Auslegung nahe. Die Formulierung "im Sinne dieses Gesetzes" bezieht sich wohl ausdrücklich auf das Strafgesetzbuch, nicht aber auf andere oder Nebengesetze285. Diese Art der Mitwirkung ist zumeist auch nicht im Katalog der Mitwirkungshandlungen i.S.d. Art. 2 des 5.StrRG a u f g e f ü h r t 2 8 6 . Es entspricht der ratio des Art. 2 des 5.StrRG, niemanden zur Mitwirkung an der Tötung eines anderen Menschen zwingen zu wollen, wenn man seinen Anwendungsbereich auch auf die von § 219 d StGB erfaßten Handlungen ausdehnt. Im übrigen wäre eine Pflicht zur Verschreibung nidationshemmender Mittel auch aus den o.g. Gründen 287 verfassungsrechtlich nicht zulässig.

4. Ergebnis zu IV Der Arzt, der nidationshemmende Mittel verschreibt, verstößt gegen das Grundgesetz. Jede derartige Verschreibung ist somit eine rechtswidrige Tat, die allerdings einfachrechtlich nicht erfaßt und nicht sanktioniert wird. Über die rechtliche Bedeutung ihres Tuns dürften jedoch die wenigsten Ä r z t e 2 8 8 informiert sein.

284 Vgl. Hirsch (MedR 1987, 12, 14), der auch daraufhinweist, daß gegenwärtig noch nicht einmal eine Regelung gegen die sittenwidrige Anwendung von Nidationshemmern besteht, etwa, wenn eine Prostituierte diese Methode der "Verhütung" als sicherer und komplikationsloser vorzieht und dabei das Sterben einiger ungeborener Kinder in Kauf nimmt.

285 Hirsch, MedR 1987, 12, 15. 256 Vgl. etwa die Aufzählung bei Harrer, Maier, NJW 1974, 1404 fT. 287 288

DRiZ 1990, 137, 138; Hirsch/Weißauer,

S. 71 ff.;

S.o. Teil 2 Β I I I 2a.

Gleiches gilt auch für Apotheker, die Nidationshemmer abgeben; vgl. dazu Narr; Rz. 793; Hirsch, MedR 1987, 12, 15.

96

Teil 2: Der ärztliche Abort und das geltende Verfassungsrecht

V. Fazit Das Grundrecht des ungeborenen Kindes auf Leben und die daraus folgende staatliche Schutzpflicht gebieten ein umfassendes Abtreibungsverbot, das sich auch auf den Arzt erstreckt. Aus diesem Grunde ist bereits die Normierung von Tatbeständen, die zwingend zum Strafausschluß fuhren, verfassungsrechtlich bedenklich. Die Feststellung derartiger Tatbestände im Vorfeld der Tat ist - unabhängig von der Person des Feststellenden und der Frage nach der Bindungswirkung einer solchen Feststellung für ein nachfolgend einschreitendes Gericht - unzulässig. Schon aus diesem Grunde leidet die gegenwärtige Fassung des § 218 a StGB an verfassungsrechtlichen M ä n g e l n 2 8 9 Eine Pflicht zur Abtreibung besteht für den Arzt entgegen der Regelung des Art. 2 Abs. 2 des 5.StrRG auch bei vital-indizierten Fällen nicht. Auch der Arzt, der innerhalb der strafrechtlichen Schutzlücke des § 219 d StGB nidationshemmende Mittel verschreibt, verstößt gegen das Grundgesetz und begeht Unrecht.

289 Die Frage, ob eine verfassungskonforme Interpretation des § 218 a StGB - etwa in der Weise, daß seine Indikatonstatbestände als reine Straf· oder Schuldausschießungsgründe verstanden werden - möglich ist, kann hier wegen des durch das Thema der Arbeit gesteckten Rahmens nicht behandelt werden. Eine solche Deutung erscheint aber zumindest schwierig, wenn man das · schon deshalb fragwürdige · Gesamtkonzept des Abtreibungsstrafrechts betrachtet (insbesondere die Leistungen der Krankenkassen nach § 200f RVO, Ausschluß des Nothilferechts und die Rechtswirksamkeit des Arztvertrages), das ohne rechtfertigende Indikationstatbestände kaum aufrechterhalten werden könnte.

Dritter

Teil

Analyse der Beteiligung des Arztes am Abort auf Grundlage der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB Die Neuregelung des Abtreibungsstrafrechts Anfang der 70er Jahre sollte in erster Linie die Abtreibungsrate senken und zwar - nach dem Motto "Helfen statt Strafen" - vorrangig durch ein verstärktes Angebot von sozialen Hilfen an die Schwangere und deren Beratung 1. Als Anreiz für die Inanspruchnahme der Sozialberatung und der dort vermittelten Hilfen honorierte man das Aufsuchen der Beratungsstelle mit der Strafbefreiung für eine trotz Beratung vorgenommene ärztliche Abtreibung (§ 218 Abs. 3 S. 2 StGB)2 Diese Regelung wurde auch der bereits angesprochenen gesundheitspolitischen Zielsetzung der S t r a f r e c h t s r e f o r m 3 gerecht. Der Gesundheitsschutz der Frau durch Mitwirkung des Arztes an Stelle eines Laien erforderte nach den Vorstellungen des Reformgesetzgebers weiterhin, daß der Abort zumindest in gewissen Fällen nicht nur nicht strafbar, sondern auch rechtmäßig war. Anderenfalls würde sich kaum ein Arzt dem strafrechtlichen Risiko und der Gefahr von Nothilfehandlungen (§ 32 StGB) zu Gunsten des ungeborenen Kindes aussetzen und die Nachteile in Kauf nehmen, die die Unwirksamkeit des Arztvertrages (§ 134 BGB) für sein Leistungsentgelt mit sich bringt. Auch die gleichfalls mit gesundheitspolitischer Zielsetzung eingeführten sog. flankierenden Maßnahmen setzten einen "nicht rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch" (vgl. etwa § 200f RVO) voraus. Man mußte somit eine Regelung schaffen, nach der die Abtreibung - wie Horstkotte es formuliert - "wie ein normaler ärztlicher Vorgang" behandelt werden konnte4, also rechtmäßig war5. 1 Vgl. Sch-Sch-Eser, Rz. 3 vor § 218. 2

Vgl. Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD, FDP (Fristenregelung), Deutscher Bundestag, 7. WP, BT-Drs. 7/375, Begründung, S. 6 ff; Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD, FDP (Indikationenregelung), Deutscher Bundestag, 7. WP, BT-Drs. 7/4128, Begründung, S. 6. 3 S.o. Teil 2 Β I 3f; vgl. hierzu ausführlich Gante, § 218, S. 226 ff.; Kluth, GA 1988, 547. 4

Horstkotte, Deutscher Bundestag, 7. WP, Sten. Dienst, 25. Sonderausschuß-Si. vom 13.2.1974, S. 1470. 5 Vgl. BGH NJW 1985, 671, 672: Daß der Abtreibungsvertrag weder gegen ein gesetzliches Verbot verstoße noch sittenwidrig sei, ergebe sich aus der "gesetzlichen Gesamtregelung des Schwangerschaitsabbruchs einschließlich der sogenannten flankierenden Maßnahmen". Hier wird aus der Konstruktion der §§ 218 ff. StGB und der flankierenden Maßnahmen auf die Rechtsnatur der Abtreibung geschlossen.

7 Esser

98

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

Vermutlich waren diese Zielvorgaben für die Aufstellung und Verbreitung der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB ausschlaggebend^. Da diese These in Bundesgerichtshof und Bundesregierung einflußreiche Vertreter hat, lohnt es sich zu untersuchen, ob das gegenwärtig in §§ 218 ff. StGB normierte Abtreibungsstrafrecht wenigstens dann rechtlich einwandfrei ist, wenn die indizierte Abtreibung als rechtmäßig gilt.

A. Zulässigkeit der Beteiligung des Arztes an rechtmäßigen Abtreibungen Ist der nach § 218 a StGB indizierte Schwangerschaftsabbruch rechtmäßig, so bestehen aus Rechtsgründen keine Bedenken gegen eine Beteiligung des Arztes an dieser - standesethisch gleichwohl abzulehnenden7 - Handlung.

I. Ausnahme vom staatlichen, grundsätzlich strafbewehrten Abtreibungsverbot Sind indizierte Abtreibungen rechtmäßig, so können sie auch nicht strafbar sein. Sie müssen daher vom strafbewehrten Abtreibungsverbot ausgenommen werden.

II. Zulässigkeit der Indikationsfeststellung ex ante Gegen eine Feststellung der rechtfertigenden Indikation im Vorfeld der Tat läßt sich nicht einwenden, sie täusche die Legalität der Abtreibung vor; denn wenn der indizierte Abort als gerechtfertigt gilt, soll ja gerade die ärztliche Indikationsfeststellung ergeben, ob die tatsächlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen vorliegen.

6

Vgl. Lackner (Rz. 4 zu § 218 a): "Die gegen die Rechtfertigungsthese vorgebrachten Einwendungen haben erhebliches Gewicht. Zu bedenken bleibt aber, daß die Gesamtregelung des indizierten Schwangerschaftsabbruchs bei Verneinung der Rechtmäßigkeit unschlüssig und in hohem Maße innerlich widersprüchlich wird"; vgl. ferner Koch, dem die Rechtfertigungsthese als die "dogmatisch konsistentere Lösung" erscheint (in: Eser/Koch (Hrsg.), Schwangerschaftsabbruch I, S. 17, 117). Diese Autoren und der Bundesgerichtshof (s.o.) unterliegen einem Zirkelschluß, wenn sie die Rechtmäßigkeit der indizierten Abtreibung aus den rechtlich nicht fundierten Zielvorstellungen des Reformgesetzgebers folgern. Vgl. auch hierzu kritisch Kluth, JZ 1992, 533, 534. 7

Vgl. Teil 1.

. Die

ulässigkeit des ärztlichen Aborts

99

III. Das Mitwirkungsverweigerungsrecht des Arztes (Art. 2 des 5.StrRG) Auch bei Anerkennung der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB kann ein Arzt nicht zur Vornahme von Abtreibungen gezwungen werden. 1. Das Mitwirkungsverweigerungsrecht des Arztes besteht entgegen dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 des 5.StrRG auch bei vitaler Indikation. Dies gilt, obwohl er sich nun« nicht darauf berufen kann, zur Begehung einer Unrechtstat nicht verpflichtet zu sein. Der strafrechtlich relevante Umfang der Hilfsverpflichtung des Arztes bestimmt sich nach § 323 c StGB. Diese Norm aber legt einem Arzt keine weitergehenden Pflichten auf als jedem anderen Hilfspflichtigen 9. Daher kann er die Vornahme des Aborts zumindest dann verweigern, wenn andere zu seiner Vornahme bereit und in der Lage sind1**. Selbst wenn dies nicht der Fall ist, kann der Arzt jedoch unter Berufung auf sein Grundrecht auf Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) die Mitwirkung an der Abtreibung verweigern. Die Abtreibung ist eine Tötungshandlung. Die Weigerung, einen anderen Menschen zu töten, unterfällt dem Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG (Gewissensfreiheit) 11. Das gilt auch fur die Weigerung eines Arztes zur Vornahme einer Abtreibung. Denn die Gewissensfreiheit beinhaltet neben dem sog. forum internum auch die Gewissensausübung in Form von Handeln oder Unterlass e n 1 2 . Daran ändert sich auch unter Beachtung der verfassungsimmanenten Schranken13 dieses Grundrechts nichts. Zu diesen zählt zwar auch die Sicherung von Leben und Freiheit der Person 1 4. Man könnte nun argumentieren, die Gewissensfreiheit des Arztes würde zulässig durch Art. 2 Abs. 2 des 5.StrRG eingeschränkt, wenn das Leben der Schwangeren bedroht sei und kein anderer Arzt zur Verfügung stehe, der die Abtreibung vornehmen könne. Dabei wird aber übersehen, daß bei vitaler Indikationslage nicht nur das Leben der Schwangeren gefährdet ist. Der Arzt, an den das Abtreibungsgesuch gerichtet wird, sieht sich zwei Menschen gegenüber. Durch eine Rettungshandlung zu Gunsten der Mutter würde das Leben

8

So aber bei Ablehnung der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB, s.o. Teil 2 Β I I I 2 a bb.

9 S.o. Teil 2 Β I I I 2 b aa. w Vgl. BGHSt 2, 296, 298; NJW 1952, 394; Dreher/Tröndle,, 11

Vgl. v.Mangoldt/Klein/Starck,

Rz. 6 zu § 323 c m.w.N.

Rz. 93 zu Art. 4.

12 Vgl. v.Mangoldt/Klein/Starck, Rz. 37 f. zu Art. 4; v.Münch-v.Münch, Rz. 27 zu Art. 4 m.w.N.; Rupp, NVwZ 1991, 1033, 1034.

« Vgl. dazu Rupp, NVwZ 1991, 1033, 1036 m.w.N. M Vgl. v.Mangoldt/Klein/Starck, Verfassungsrecht, Rz. 312.

Rz. 50 zu Art. 4; BK-Zippelius, Rz. 84 zu Art. 4; Hesse,

100

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

des Kindes nicht nur bedroht, sondern sogar vernichtet 15 . Wäre der Arzt bei einer Konstellation Leben gegen Leben zur Tötung eines der beiden Menschen verpflichtet, könnte sich diese Pflicht auch zu Lasten der Mutter auswirkea Spätestens an dieser Schlußfolgerung erweist sich die Unvertretbarkeit einer ärztlichen Tötungsverpflichtung bei vitaler Indikation. Es liegt auch nahe, das Recht zur Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe vergleichsweise heranzuziehen (Art. 4 Abs. 3 GG); es ist der einzige, ausdrücklich festgeschriebene Fall der grundgesetzlich garantierten Freiheit der Gewissensausübung. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts darf niemand zu einer Kriegshandlung gezwungen werden, "wenn ihm sein Gewissen die Tötung grundsätzlich und ausnahmslos zwingend verbietet" 16 . Dies muß erst recht für die Weigerung zur Tötung eines unschuldigen, nicht-angreifenden ungeborenen Kindes gelten. 2. Die Berufung auf die verfassungrechtlich geschützte Gewissensfreiheit steht auch sonstigen Einschränkungen des Weigerungsrechts aus Art. 2 Abs. 1 des 5.StrRG entgegen. Weder eine Garantenstellung, noch ein zur Abtreibung "verpflichtender" Vertrag 17 stehen dem Weigerungsrecht des Arztes entgegen.

IV. Straflose Verschreibung nidationshemmender Mittel (§ 219 d StGB) Die Verschreibung nidationshemmender Mittel im Rahmen des § 219 d StGB ist auch auf Basis der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB verfassungsrechtlich unzulässig. Diese als "Fristenregelung im kleinen" bezeichnete Regelung macht die Strafbefreiung der gleichwohl lebensvernichtenden Anwendung dieser Mittel und deren Verschreibung nicht von einem rechtfertigenden Grund (Indikation) abhängig. Sie ist demnach auch auf Basis der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB verfassungswidrig. Rechtmäßig wären Verschreibung und Anwendung nidationshemmender Mittel lediglich in Fällen, in denen eine Indikationslage i.S.d. § 218 a StGB vorliegt. Da aber die Frau bei Anwendung eines Nidationshemmers im Regelfall nicht einmal weiß, sondern nur befürchtet, daß sie schwanger ist, wird es zu einer ärztlichen Indikationsfeststellung in diesem Zeitpunkt nur in den seltensten Fällen kommen.

15 Dies gilt natürlich nur dann, wenn die Abtreibung die einzige Möglichkeit ist, das Leben der Mutter zu erhalten; ansonsten stellt sich aber auch die Gewissensproblematik nicht.

« BVerfGE 48, 127, 164. 17 S.o. Teil 2 Β I I I 2b. Auch die Anmerkungen im Zusammenhang mit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Stellenausschreibung einer städtischen Frauenklinik (s.o. Teil 2 Β I I I 2 b cc in der Fußnote) gelten hier sinngemäß.

. Die

ulässigkeit des ärztlichen Aborts

101

Denkbar wäre es jedoch, nidationshemmende Mittel prinzipiell nur an solche Frauen abzugeben, die sich - unabhängig von einer eingetretenen Schwangerschaft in einer Lage befinden, die einer der in § 218 a StGB umschriebenden Notsituationen entspricht. Das aber liefe praktisch auf eine ersatzlose Streichung des § 219 d StGB hinaus.

V. Ergebnis zu A. Die Beteiligung des Arztes an rechtmäßigen Abtreibungen ist auf Grundlage der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB zulässig. Hierzu kann er jedoch in keinem Fall verpflichtet werden; das Weigerungsrecht des Art. 2 Abs. 1 des 5.StrRG gilt auch für Fälle vitaler Indikation. Die Verschreibung nidationshemmender Mittel ist nur bei Vorliegen einer Notlage (entsprechend § 218 a StGB) zulässig.

B. Verfassungsrechtliche Fragen bezüglich des nach § 218 a StGB indizierenden Arztes Wenngleich die Beteiligung des Arztes an Abtreibungen unter Zugrundelegung der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB zulässig ist, erweckt die gegenwärtige Ausgestaltung der §§ 218 ff. StGB dennoch im Hinblick auf die Funktion des Arztes innerhalb dieser Normen verfassungsrechtliche Zweifel.

I. Bedeutung und Charakter der rechtfertigenden Indikationsfeststellung Eine wesentliche Aufgabe des im Rahmen der §§ 218 ff. StGB tätigen Arztes ist die Indikationsfeststellung (§ 218 a StGB). Daher ist es zunächst hilfreich, Bedeutung und Charakter der ärztlichen Feststellung nach § 218 a StGB darzustellen. Es ist zwischen rechtlicher und tatsächlicher Bedeutung zu differenzieren.

1. Die Bedeutung der Indikationsfeststellung a) Die rechtliche Bedeutung Die rechtfertigenden Indikationen des § 218 a StGB sind wegen der die Schwangere begünstigenden Regelung des § 218 Abs. 3 S. 2 StGB zumeist unmittelbar nur für die Straffreiheit des abtreibenden Arztes relevant. Der Arzt befindet mit der Indikationsfeststellung über die Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit der geplanten Abtreibung. Er bestimmt damit deren Rechtsnatur.

102

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

Die Tätigkeit des Arztes kann daher als Genehmigung bezeichnet werden. Die Feststellung der Rechtsnatur der Abtreibung ist für deren Straffreiheit sowie für die auf einen rechtmäßigen Abort beschränkten weiteren Folgen (Wirksamkeit des Arztvertrages, Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen etc.) von großer Relevanz. Daher ist die rechtliche Bedeutung der ärztlichen Indikationsfeststellung erheblich.

b) Die tatsächliche (oder faktische) Bedeutung Hinzu kommt eine große faktische Bedeutung dieser Feststellung. Bei der gegenwärtigen Ausgestaltung des Abtreibungsstrafrechts liegt in der Feststellung einer Indikation nach § 218 a StGB der tatsächliche Engpaß auf dem Weg zur Durchführung einer Abtreibung. Wenn zum Abtreibungszeitpunkt keine Indikation i.S.d. § 218 a StGB vorliegt, tragen der abtreibende Arzt und die nicht-beratene Schwangere das Risiko einer Bestrafung nach § 218 Abs. 1 StGB. Dagegen bilden die weiteren Voraussetzungen keine nennenswerten Hindernisse auf dem Weg zur straffreien Abtreibung. Die ärztliche Erst-Feststellung (§ 219 Abs. 1 StGB), die auch dem Gesetz genügt, wenn sie die Indikation verneint, ist in aller Regel von der Schwangeren leicht zu erlangen^. Ihre prohibitive Wirkung zugunsten des Kindes ist daher gleich null 1 9; ihr Fehlen kann zudem lediglich für den Arzt zu einer Strafbarkeit gem. § 219 Abs. 1 S t G B 20 führen. Auch die Beschaffung eines Nachweises über die Sozial-Beratung mag zwar als lästiger Gang empfunden werden, ist aber in der Praxis keine wirkliche Hürde 2 1 , da die Schwangere sich hierbei nicht auf ein zeitraubendes Gespräch einlassen muß. Die medizinische Beratung erfordert nicht einmal einen zusätzlichen Arztbesuch22.

Selbst wenn beide Beratungen unterbleiben, besteht nur für den Arzt die Gefahr einer Strafbarkeit mit einem nur geringen Strafmaß 2^, nicht für die Schwangere 18 Würde der erstfeststellende Arzt sehr strenge Maßstäbe an das Vorliegen einer Indikation stellen, so wäre diese zwar u.U. eine wirkliche Hemmschwelle. Immerhin hat Holzhauer (in: Kaiser (Hrsg.), Bd. 38, S. 296 ff.) anläßlich einer empirischen Untersuchung zur Rolle des reformierten § 2 1 8 StGB bei der Entscheidungsfindung betroffener Frauen festgestellt, daß ca. 50% der Frauen, denen die Erst-Feststellung verweigert wurde, das Kind anschließend ausgetragen haben. Das Gesetz trifft aber keine Vorkehrungen, die eine solche "strenge" Feststellung durch den Arzt gewährleistet. Der Staat aber kann den Erfolg seiner gesetzlichen Regelungen nicht davon abhängig machen, daß sich andere - hier die Ärzte - besonders gewissenhaft verhalten.

w Dazu unten Teil 3 C II. 20 2

Strafmaß: Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe.

1 Vgl. auch Brugger, NJW 1986, 896, 899.

22

Zumeist erfolgt sie ohnehin zeitgleich mit der Indikationsfeststellung des abtreibenden Medi-

ziners. 23

§ 218 b StGB: Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe.

103

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

(§ 218 b Abs. 1 S. 2 StGB). Nie kann das Fehlen dieser Voraussetzungen zu einer Strafbarkeit nach dem mit einem weitaus größeren Strafmaß belegten Delikt des § 218 StGB 2 4 führen 2 ^ Die abtreibenden Ärzte werden daher schon im eigenen Interesse ihre Bereitschaft zur Durchführung einer Abtreibimg zumeist von einer eigenen positiven Indikation abhängig machen. Da die schwangere Frau wiederum auf einen Arzt angewiesen ist - will sie sich nicht einem "Kurpfuscher" anvertrauen, einen Arzt im Ausland aufsuchen oder den Verlust ihrer Privilegierung nach § 218 Abs. 3 S. 2 StGB riskieren - ist die Indikationsfeststellung letztlich auch für sie bedeutsam. Aus alledem folgt, daß nicht nur rechtlich, sondern auch tatsächlich die Entscheidung über Leben und Tod des ungeborenen Kindes primär bei der Indikationsfeststellung nach § 218 a StGB getroffen wird 2 6 . Stellt der zwecks Durchführung eines Aborts aufgesuchte Arzt eine Indikation positiv fest, führt dies in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle zur Abtreibung, zumal von der Indikationsfeststellung bis zur tatsächlichen Vornahme des Aborts keine weitere Zeit verstreichen muß 2 7 , in der die Schwangere ihren Entschluß überdenken und eventuell aufgeben könnte.

2. Der Charakter der Indikationsfeststellung

als staatliche Aufgabe

Die derzeitige Indikationenregelung sieht eine Feststellung der Indikationen "nach ärztlicher Erkenntnis" 2^ vor. Das gesetzlich vorgeschriebene Tätigwerden eines privaten Mediziners erweckt vordergründig den Anschein, als sei die Indikationsfeststellung bereits vom Reformgesetzgeber als rein private Tätigkeit konzipiert. Denn während noch der sozial-liberale "Fristenregelungs-Entwurf ' aus dem Jahr 1974 zumindest für den Fall einer die zwölf-Wochen-Frist überschreitenden Abtreibung die Indikationsfeststellung durch eine Gutachterkommission v o r s a h 2 ? , 24

Strafmaß: im Regelfall Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe.

25

Bemerkenswerterweise ist das ungeborene Kind auch nur mittelbar Schutzgut der hier erwähnten §§218 b, 219 StGB (Sch-Sch-Ercr, Rz. 1 zu § 218 b und Rz. 1 zu § 219; Lackner, Rz. 1 zu § 218 b und Rz. 1 zu § 219; a.A. LK-Jähnke, Rz. 18 vor § 218 - Schutzgut ist nur das Verfahren -). Diese Vorschriften zielen in erster Linie auf die Einhaltung eines bestimmten Verfahrens ab. Im Gegensatz zu § 218 StGB handelt es sich bei den §§ 218 b, 219 StGB nicht um Tötungsdelikte, sondern um eine Art "Verwaltungsunrecht" (Gössel, JR 1976, 1 ff.). 26 So - allerdings bei Ablehnung der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB - auch Büchner, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 14/90, S. 3, 9; Kìuth, NJW 1986, 2348, 2349 (Fn. 22); ders., in: JVL-Schriftenreihe, Nr. 4 (1987) 49, 51; Laufs, MedR 1990, 231, 237 (= JVL-Schriftenreihe, Nr. 7 (1990), S. 47 ff.); vgl. ferner Dreher/Tröndle, Rz. 4 zu § 218 a, der von einer "Verfugung über ein grundgesetzlich geschütztes Rechtsgut" durch die Indikationsfeststellung spricht. 27

Vgl. dagegen die Drei-Tages-Frist bei der Beratung, § 218 b Abs. 1 Nr. 1 StGB.

28

Zu der zunächst vorgesehenen Begriffswahl "nach Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft" vgl. BGH NJW 1992, 763, 766; Sch-Sch-Eser, Rz. 16 zu § 218 a; Deutscher Bundestag, 7. WP, Sten. Dienst, 75. Sonderausschuß-Si. v. 14.1.1976, S. 2395. »

Vgl. § 219 Abs. 1 StGB a.F.; abgedruckt z.B. auch in BVerfGE 39, 1, 4 ff.

104

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

wurde die Feststellung der Tatbestände des § 218 a StGB erst durch das 15. Strafrechtsänderungsgesetz eine von fast jedem Arzt vorzunehmende A u f g a b e 30. Das der Abtreibung vorausgehende "Verfahren" als rein private Angelegenheit anzusehen, ist aber verfehlt. Bei der ärztlichen Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines rechtfertigenden 3* Indikationstatbestandes des § 218 a StGB handelt es sich vielmehr um eine staatliche Aufgabe 32 . Dies ergibt sich aus mehreren Überlegungen.

a) Die staatliche Schutzpflicht Die Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2,2 Abs. 2 S. 1 GG gebietet dem Staat insbesondere die Abwehr rechtswidriger Eingriffe Dritter in das Rechtsgut Lebend. Hierzu bedient er sich u.a. der "Mittel des Strafrechts 3 4 " , indem er den Abort in § 218 Abs. 1 StGB grundsätzlich unter Strafe stellt. Von dieser prinzipiellen Pflicht zur Schutzgewährung auch durch das Strafrecht 35 hat sich der Staat nur in bestimmten Konfliktsituationen der Schwangeren freigestellt 3 ^. Wenn nun die Schutzgewähr staatliche Pflicht ist, ist es auch hoheitliche Aufgabe, die Fälle, in denen der Staat ungeborenen Kindern den Schutz mittels strafrechtlicher Sanktionen versagt, von den weiterhin strafbaren zwecks unterschiedlicher Behandlung zu trennen 3 7. Diese Selektionsaufgabe fällt der ärztlichen Feststellung nach § 218 a StGB z u 3 8 . Mit der Indikationsfeststellung trifft der Arzt daher die rechtliche und tatsächliche Entscheidung über das Leben des ungeborenen Kindes; er verfügt über einen "Höchstwert" 39 unserer Verfassung.

30 Anderes gilt jedoch derzeit noch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, wo die §§218 ff. StGB noch nicht gelten. Dort entscheidet über einen jenseits der Zwölf-Wochen-Frist liegenden Abort eine sog. Fachärztekommission, § 2 Abs. 2 des Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft (1972) i.V.m. § 5, 6 der Durchfuhrungsbestimmungen zu diesem Gesetz, vgl. dazu Mahrad, S. 80 f. 31 Wird in den Indikationstatbeständen des § 218 StGB kein Rechtfertigungsgrund gesehen, so kann die Indikationsfeststellung auch nicht als staatliche Aufgabe bezeichnet werden; denn dann kommt ihr vor der Abtreibung rein rechtlich gar keine Bedeutung zu; sie ist dann nur für die Beurteilung der Strafbarkeit ex post relevant; vgl. hierzu Hülsmann, StV 1992, 78 ff. 32 Vgl. BVerfGE 39, 1, 50; so auch Schreiber, FamRZ 1975, 669, 673; Beulke, FamRZ 1976, 596, 601 f.; BMJ, Gutachten, S. 12 f.; zweifelnd BGH NJW 1992, 763, 767. 33 3

BVerfGE 39, 1, 42.

* BVerfGE 39, 1, 45.

35

Dazu oben Teil 2 Β I.

3

* BVerfGE 39, 1, 44 ff.

3

? Vgl. auch Kluth, NJW 1986, 2348, 2349.

3

* Vgl. BMJ, Stellungnahme, S. 6.

39

BVerfGE 39, 1, 42.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

105

Die Indikationsfeststellung als Erfüllung einer staatlichen Pflicht ist somit Hoheitsaufgabe 40. Dieser Gedanke wird vom Bundesverfassungsgericht bestätigt, das immerhin von einer Pflicht des Staates zur Prüfung der Indikationsvoraussetzungen spricht 41 .

b) Der Schwangerschaflsabbruch als "sozialer Tatbestand" Gegen eine Sicht der Indikationsfeststellung als ausschließlich private Angelegenheit spricht ferner, daß der Abtreibung, der sie vorauszugehen hat, auch eine "soziale D i m e n s i o n " 4 2 zukommt: Jede Abtreibung betrifft unmittelbar mindestens drei Beteiligte - das ungeborene Kind, die Schwangere und den A r z t 4 3 . Das Bundesverfassungsgericht folgert hieraus: "Wäre der Embryo nur als Teil des mütterlichen Organismus anzusehen, so würde auch der Schwangerschaftsabbruch in dem Bereich privater Lebensgestaltung verbleiben, in den einzudringen dem Gesetzgeber verwehrt ist. Da indes der nasciturus ein selbständiges menschliches Wesen ist, das unter dem Schutz der Verfassung steht, kommt dem Schwangerschaflsabbruch eine soziale Dimension 44 zu, die ihn der Regelung durch den Staat zugänglich und bedürftig macht" 45 . Als Teil dieser Regelung hat daher auch die Indikationsfeststellung nach § 218 a StGB eine "soziale" und nicht nur auf das Private beschränkte Dimension.

3. Ergebnis zu L Die ärztliche Feststellung nach § 218 a StGB ist eine Verfügung über das Lebensrecht des ungeborenen Kindes. Sie ist faktisch die eigentliche Hürde auf dem Weg zur Abtreibung und der Sache nach eine staatliche Aufgabe. 40 So auch Eser(JZ 1991, 1003, 1008), der auch - wohl zutreffend - das BayObLG NJW 1990, 2328 ff. in diesem Sinne interpretiert.

BVerfGE 39, 1, 50; vgl. zur Interpretation dieses Zitats unten Teil 3 Β I I I 2 a aa (in der Fußnote). 42

BVerfGE 39, 1, 42. Laufs (NJW 1988, 1499, 1500) bezeichnet den Schwangerschaftsabbruch als "soziales Phänomen"; vgl. auch Böckle (Hrsg.), Schwangerschaftsabbruch als individuelles und gesellschaftliches Problem, 1981. 43 Der ebenfalls beteiligte Erzeuger hat nur in den seltensten Fällen die Möglichkeit der Einflußnahme zugunsten des Kindes. 44 4

Hervorhebung von der Verfasserin.

* BVerfGE 39, 1, 42. Geiger (Jura 1987, 60, 64) bemerkt hierzu, ebenso eindeutig wie die Tatsache, daß die Entscheidung jedes Menschen zur Aufnahme intimer geschlechtlicher Kontakte diesseits aller Möglichkeiten staatlicher Regelung stehe, sei der Umstand, daß mit der Entstehung eines neuen menschlichen Wesens als Folge einer solchen zwischenmenschlichen Beziehung dieser noch nicht geborene Mensch selbständig unter dem Schutz des Staates stehe und daher nicht dem privaten Gutdünken seiner Eltern oder hinzugezogener Ärzte ausgesetzt sein dürfe.

106

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

II. Die fachliche Qualifikation und Kompetenz des Arztes zur Indikationsfeststellung Vor allem in bezug auf die fachliche Qualifikation des Arztes zur Indikationsfeststellung nach § 218 a StGB ist die gegenwärtige Fassung der §§ 218 ff. StGB verfassungsrechtlich problembeladen.

L Zur Systematik der Indikationstatbestände Den Protokollen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform des Deutschen Bundestages ist zu entnehmen, daß der mehrheitlich sozial-liberal zusammengesetzte Reformgesetzgeber bei der Formulierung des § 218 a StGB von einer allgemeinen medizinisch-sozialen Oberindikation" in § 218 a Abs. 1 Nr. 2 StGB ausg i n g t . Die weiteren drei Indikationstatbestände wurden mittels eines Kunstgriffes als deren Unterfälle konstruiert, bei denen die Voraussetzungen des § 218 a Abs. 1 Nr. 2 StGB unwiderlegbar "auch als erfüllt" gelten4?. Diese Systematik wird heute in der überwiegenden Literatur abgelehnt48. Mit einer derartigen Ausweitung der medizinischen Indikation des § 218 a Abs. 1 Nr. 2 StGB wäre beispielsweise die unterschiedliche Befristung der einzelnen Indikationen (keine Frist für die medizinische, 22 Wochen für die eugenische, 12 Wochen für die kriminologische und die Notlagenindikation, § 218 a Abs. 3 StGB) nicht vereinbar 4 9 . Vielmehr sprechen gewichtige Vermutungen dafür, daß mit dieser "Oberindikations"-Systematik eine Erweiterung der für die Indikationen des § 218 a Abs. 2 StGB zweifelhaften Kompetenz des Arztes bezweckt wurde 50 . Lackner spricht gar von einer "Feigenblatt"-Funktion dieser Systematik51. Im folgenden

46 Deutscher Bundestag, 7. WP, Bericht und Antrag des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform vom 3.2.1976, BT-Drs. 7/4696, S. 4. 47 Deutscher Bundestag, 7. WP, Sten. Dienst, 25. Sonderausschuß-Si. v. 13.2.1974, S. 1470, 71. Sonderausschuß-Si. v. 26.11.1975, S. 2345; vgl. auch Müller-Emmert, DRiZ 1976, 164, 166; Laußütte/Wilkitzki, JZ 1976, 329, 331/332; Sch-Sch-£*?r, Rz. 2 zu § 218 a; Dreher/Tröndle, Rz. 1 zu § 218 a. 4

« Lackner, NJW 1976, 1233, 1239; Schreiber, FamRZ 1975, 669, 670; Beulke, FamRZ 1976, 596, 598; SK-Rudolphi, Rz. 6 zu § 218 a; Bockelmann, BT/2, § 8 Β I I 2b cc; Roxin, JA 1981, 226, 230; Tröndle, Jura 1987, 66, 70. 49

Maurach/Schroeder/Maiwald,

BT 1, § 6 Rz. 14.

50 Vgl. Beulke, FamRZ 1976, 596, 598; LK-Jähnke, Rz. 2 zu § 218 a; SK-Rudolphi, Rz. 6 zu § 218 a. So ganz deutlich auch die Schlußfolgerung bei Hollmann (ArztR 1981, 205): "Im Gesetzestext steht vielmehr die medizinische Indikation als eine Art indikatives Prä in Verbindung zu den eugenischen/kriminologischen und durch Notlage begründeten Unterfällen. Deshalb kann nur der Arzt als einzige kompetente Person bezeichnet werden, die die Entscheidung zu treffen hat, ob eine Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch gegeben ist oder nicht". 51 Lackner, NJW 1976, 1233, 1236/1237.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

107

werden die einzelnen Indikationen daher als selbständig nebeneinander stehende Tatbestände erörtert.

2. Die einzelnen Indikationstatbestände

des § 218 a StGB

Zweifel an der ärztlichen Feststellungskompetenz tauchen bei jedem der Indikationstatbestände des § 218 a StGB auf.

a) Die medizinische Indikation (§ 218 a Abs. 1 Nr. 2 StGB) aa) Dem medizinischen Fortschritt ist es zu verdanken, daß die mit einer Lebens- oder schweren Gesundheitsgefahr für die Schwangere begründete medizinische Indikation heutzutage so gut wie nicht mehr v o r k o m m t 5 2. Der Schwerpunkt dieser, in ihrer Grundstruktur auf die schon genannte Entscheidung des Reichsgerichts von 1927 5 3 und die Regelung des § 14 Erbgesundheitsgesetz zurückzuführ e n d e n 5 4 Indikation hat sich in den letzten Jahren zunehmend auf den psychosomatischen Bereich (Depressionen, Selbstmordgefahr etc.) verlagert 55 ; denn als Gesundheitsgefahr i.S.d. § 218 a Abs. 1 Nr. 2 StGB sind neben körperlichen Leiden auch solche seelischer Natur anerkannt 56. Man spricht daher von einer medizinisch-sozialen Indikation5?. Auch der Umstand, daß seit der Neuregelung des Abtreibungsstrafrechts von 1976 auch die "gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren" (§ 218 a Abs. 1 Nr. 2 StGB) in die Entscheidung über das Vorliegen des Indikationstatbestandes einzufließen haben, hat zu einer starken Gewichtung des "sozialen" Elements dieses Tatbestands geführt 58. Das Bild der "verbrauchten Mutter" 5 ? wurde zum Leitmotiv dieser Indikation. Dies wiederum führt zu Überschneidungen mit der allgemeinen N o t l a g e n i n d i k a t i o n ^ o . Deshalb wird heute die

«

Sch-Sch-£rer, Rz. 7 zu § 218 a; Geilen, JZ 1968, 145, 147.

53

RGSt 61, 242 ff.; siehe auch Teil 1 A I V 1.

54

Preisendanz,

Anm. 4 zu § 218 a.

55 Dreher/Tröndle,,

Rz. 6 zu § 218 a; B G H NJW 1992, 763,767.

56 Dreher/Tröndle,

Rz. 6 zu § 218 a; Preisendanz,

Anm. 4 b cc zu § 218 a.

57 LK-Jähnke, Rz. 35 ff. zu § 218 a m.w.N.; Hanack/Hiersche, ArchGyn 228 (1979) 331, 332. Vereinzelt wird auch von medizinisch-somatischer oder medizinisch-psychischer Indikation gesprochen, vgl. Hollmann, ArztR 1981, 205. 58

Eser, in: Eser/Hirsch (Hrsg.), S. 155.

59 O L G Düsseldorf, N J W 1987, 2306; Sch-Sch-£yer, Rz. 10 zu § 218 a m.w.N. «ο LK-Jähnke, Rz. 35 zu § 218 a.

108

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

"medizinische Indikation" auch häufig bejaht, wenn keine "klassischen" medizinischen Gründe vorliegen6 ι. Obwohl die Annahme nahe liegt, gerade die medizinische Indikation sei eine typisch ärztliche und werfe daher bezüglich der Qualifikation des Mediziners keine Schwierigkeiten auf, ergibt eine nähere Analyse dieses Tatbestandes etwas anderes. Problematisch ist für den Arzt die Frage, was er unter der Gefahr einer "schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes" (§ 218 a Abs. 1 Nr. 2 StGB) zu verstehen hat. Legt man hier den unscharfen und dehnbaren Gesundheitsbegriff der World Health O r g a n i s a t i o n 6 2 z u grunde, so reicht bereits jede subjektive Schmälerung des sozialen Wohlbefindens zur Anerkennimg einer Indikation a u s 6 3. Dies aber würde dem ursprünglichen Sinn der medizinischen Indikation, wie sie insbesondere vom Reichsgericht gesehen wurde, nicht mehr gerecht 64. Andererseits muß aber bedacht werden, daß durch diese Indikation gerade auch solche Belastungen erfaßt werden sollen, die keinem üblichen Krankheitsbild entsprechen, sondern erst aufgrund einer Gesamtabwägung aller in Betracht kommenden Umstände zu einer Überforderung der schwangeren Frau f ü h r e n 6 5 . Es fehlen also klare Maßstäbe, an denen sich der indizierende Arzt orientieren und so zu einer zutreffenden Beurteilung gelangen könnte 66 . Der Gesetzgeber und ein Teil der Literatur sehen die Lösung dieses Qualifikationsproblems, das sich auch bei den anderen Indikationen stellt, darin, daß der indizierende Arzt einen erfahrenen Kollegen beizuziehen hat, wenn er sich alleine eine sachgerechte Beurteilung nicht zutraut 67 . Die Beiziehung eines Kollegen mit besonderer Qualifikation, die gesetzlich keinesfalls vorgeschrieben ist 6 8 , kann aber allenfalls das Kompetenzdefizit des Arztes auf einem medizinischen Fachgebiet behe-

Dreher/Tröndle, (Hrsg.), S. 17, 173. «

Rz. 6 zu § 218 a; Sch-Sch-£ser, Rz. 7 zu § 218 a; Koch, in: Eser/Koch

S.o. Teil 1 A II.

63

Vgl. Seeber, Herder-Korrespondenz 1990, 411, 413; Ahrens, in: Ahrens (Hsg.), Ärztliches Handeln, S. 5, 21. 64

«

Vgl. Dreher/Tröndle,

Rz. 10 zu § 218 a; ebenso Sch-Sch-£rer, Rz. 10 zu § 218 a.

Lackner, Rz. 11 zu § 218 a.

66 Vgl. auch den Bericht über eine Sonderveranstaltung der Bundesärztekammer, DÄB1. 1987, B-145, demzufolge Koch (Max-Planck-Institut) erklärte, dem reformierten § 218 a mangele es an "interpretativer Genauigkeit". 67 Deutscher Bundestag, 7. WP, Bericht und Antrag des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform vom 3.2.1976, BT-Drs. 7/4696, S. 11; Sch-Sch-Ercr, Rz. 16 zu § 218 a; LKJähnke, Rz. 49 zu § 218 a. 68 Eser, in: Eser/Hirsch (Hrsg.), S. 166 für die Erst-Feststellung; die Kompetenzprobleme betreffen aber beide Ärzte.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

109

ben69 Die eigentliche Schwierigkeit zeigt sich daher bei dem "sozialen" Bereich innerhalb der medizinischen I n d i k a t i o n ? * ) ; Wie soll ein Arzt eine zutreffende Beurteilung der "gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren" (§ 218 a Abs. 1 Nr. 2 StGB) abgeben können?7! Selbst wenn davon auszugehen wäre, daß er sich im Zuge der medizinischen Ausbildung und Berufsausübung eine gewisse, vielleicht sogar überdurchschnittliche Menschenkenntnis erwirbt, reicht dies alleine als Grundlage einer derartig weitreichenden Entscheidung nicht aus 72 . Zusätzlich ist psychologisches sowie sozial-pädagogisches Wissen gefragt; Kenntnisse, die sich einzelne Ärzte durchaus durch Erfahrung, Selbststudium oder Kursteilnahme erwerben mögen, über die aber keineswegs jeder indizierende Arzt verfügt 73 . Hier hilft auch der Rat eines Kollegen nicht weiter 74 . Ein Arzt mit rein medizinischer Ausbildung ist mit dieser Aufgabe bei auch noch so großer Motivation überfordert.

b) Die eugenische Indikation (§ 218 a Abs. 2 Nr. 1 StGB) Diesem Tatbestand unterfallen all die Situationen, in denen "dringende Gründe" für die Annahme sprechen, daß das erwartete Kind mit nicht behebbaren Gesundheitsschäden zur Welt kommen wird, die zu einer unzumutbaren Belastung der

69 Zu den Schwierigkeiten, die sich auch hier ergeben können, vgl. Stoll, DÄB1. 1990, A2796: "Schon im Bereich der medizinischen Indikation läßt sich nicht vollständig beurteilen, ob ein Abbruch notwendig ist. Als Beispiel sei nur genannt: Schwangerschaften bei Herzkrankheiten mit unterschiedlich zu beurteilender Gefährdung des mütterlichen Lebens (...). Ärzte beurteilen jede dieser Indikationen unterschiedlich. Die Entscheidung erfolgt nach Aufklärung und Beratung letztlich durch den Willen der Mutter."

70 Hanack/Hiersche,

ArchGyn 228 (1979) 331, 332.

71

Vgl. Jähnke, FS-Baumann, S. 187, 189 (allerdings bezüglich desselben Tatbestandmerkmals bei der allgemeinen Notlagenindikation). 72 Vgl. auch Otto, JR 1990, 342, 343. 73 Interessant ist in diesem Zusammenhang das Ergebnis einer Heidelberger Studie aus den Jahren 1989/90, der 151 Interviews mit Frauen am Tage der Abruptio und 39 Gespräche mit Frauen, deren Abtreibung sieben bis acht Jahre zurücklag, zugrundeliegen. Daraus geht u.a. hervor, daß bei 66% der Frauen, deren Abtreibung bereits sieben oder acht Jahre zurücklag und die sich auf eine medizinische Indikation gestützt hatten (insgesamt 15,5%), eigentlich eine allgemeine Notlagenindikation zugrunde gelegen hatte; vgl. von Loe/Schmidt, DÄB1. 1991, B-1048, 1049. Deutlich wird hier, wie groß die Gefahr eines ärztlichen Qualifikationsdefizits auch bei der scheinbar "unproblematischen" medizinischen Indikation ist. 74 In diesem Sinne auch Schreiber, FamRZ 1975, 669, 670; Schmitt, JZ 1975, 356, 359. Die 1981 vom damals sozial-liberal geführten Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit bei der Organisation der Stimezo Nederland in Auftrag gegebene Studie zum Schwangerschaftsabbruch ( § 2 1 8 Gesetz und Praxis im internationalen Vergleich, "Stimezo-Analyse" von Ketting/van Praag) kommt zu der Erkenntnis, daß von den "medizinischen" Indikationen, die 14% aller Eingriffe im Jahr 1983 ausmachten, wahrscheinlich die Hälfte zu Unrecht erteilt wurde, S. 29. Für die Zeit vor der Reform vgl. Gante, § 218, S. 107.

110

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

Schwangeren f ü h r e n 7 5 . Hierzu zählen neben körperlichen Beeinträchtigungen seelische oder psychische Schädigungen des Kindes wie Schwachsinn, Epilepsie etc. 76 . aa) Bei der eugenischen Indikation, die auch als kindliche oder embryopathische bezeichnet wird, muß der Arzt den Wahrscheinlichkeitsgrad der künftigen dauerhaften Schädigung des zu erwartenden Kindes prognostizieren 77. Der Gesetzgeber selber hat zum Wahrscheinlichkeitsgrad dieser Prognose außer der Formulierung "dringende Gründe für die Annahme, daß (...)" keine Vorgaben gemacht. Die Angaben in der zahlreichen Literatur weisen eine enorme Spannbreite auf 7 8 : geforderte Prozentsätze von 8 bis 10%79 stehen neben 25%so oder 50% und mehr 8 *. Teilweise wird - wohl in Erkenntnis der in der Festlegung eines solchen Prozentsatzes liegenden Willkür - auf eine bestimmte Prozentzahl verzichtet und ein "erheblicher Grad an Wahrscheinlichkeit" gefordert, der Sich auf bestimmte Untersuchungen stützen müsse 82 . Ungeklärt ist ferner, welche konkreten medizinisch-genetischen Untersuchungen der Annahme einer embryopathischen Indikation vorauszugehen h a b e n 8 Die Genauigkeit der Angaben über den Gesundheitszustand des Ungeborenen variiert aber je nach Qualität der Untersuchungsmethode. Zwar hat sich die Problematik der ungewissen Wahrscheinlichkeit inzwischen insoweit ein wenig relativiert, als die Möglichkeiten der Vorhersage kindlicher Schädigungen immer genauer werden; ein nicht unbeachtliches "Restrisiko" bleibt jedoch bestehen 84 .

75 Vgl. auch die Stellungnahme der Bundesvereinigung Lebenshilfe ftir geistig Behinderte e.V. zur Anhörung des Sonderausschusses "Schutz des ungeborenen Lebens" des Deutschen Bundestages, die in einer eugenischen Indikation eine "Diskriminierung geschädigten oder behinderten Lebens" sieht und keine Rechtfertigung für die Tötung ungeborener oder geborener Kinder mit Behinderung anerkennt, Anhörung, Ausschuß-Drs. 75; vgl. auch Pluisch, S. 37. 76

Lackner, Rz. 13 zu § 218 a; Cramer, Gen- und Genomanalyse, S. 86.

77

Hanack/Hiersche,

78

Dazu Laufs, MedR 1990, 231, 236; Cramer, Gen- und Genomanalyse, S. 87 f.

7

ArchGyn 228 (1979) 331, 332.

* LK-Jähnke, Rz. 56 zu § 218 a; Hanack/Hiersche,

ArchGyn 228 (1979) 331, 332.

80

Lackner, Rz. 13 zu § 218 a; Deutscher Bundestag, 6. WP, Regierungsentwurf, BT-Drs. 6/3434, S. 24; Gropp, S. 214; Laufhütte/Wilkitzki, JZ 1976, 329, 332; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 1, § 6 Rz. 21; Haft, BT, § 15 I I 3. «

Schlund, ArztR 1990, 105, 106.

« Dreher/Tröndle, Rz. 16 zu § 218 a; Laufs, MedR 1990, 231, 236; vgl. auch Pluisch (S. 38 ff., insbesondere 47 ff.), der schlußfolgert: "Der Diagnosegrad erweist sich damit letztlich als Ausfluß der individuellen Zumutbarkeit, der das Gesetz tragenden Erwägungen, die deutlich machen soll, daß die Frau im Vordergrund der Überlegung steht" (S. 61). 83 84

Vgl. Dreher/Tröndle,

Rz. 16 zu § 218 a.

Cramer, Gen- und Genomanalyse, S. 95; ders., ZRP 1992, 136, 137; Stoll, DÄB1. 1990, A-2796. Wie hoch das "Restrisiko" für das ungeborene Kind ist, zeigt folgender Fall, der vom Bundesgerichtshof 1987 entschieden wurde: Es ging dabei um die Frage, ob das Risiko einer

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

111

bb) Hinzu kommt eine weitere für den Arzt kaum lösbare Schwierigkeit: Die eugenische Indikation ist nicht als "Mitleidsindikation" für Menschen konzipiert, denen die Führung eines nach den Maßstäben der Geborenen "lebenswerten" Lebens nicht möglich ist 8 5 . Der Indikationstatbestand erfordert nämlich ferner, daß infolge der kindlichen Schädigung "von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann" (§ 218 a Abs. 2 Nr. 1 StGB). Demnach ist aus der kindlichen Schädigung und ihrer Wahrscheinlichkeit alleine noch nicht auf eine eugenische Indikation zu schließen. Vielmehr hängt die Annahme einer derartigen Notlage letztlich von der Belastbarkeit der Schwangeren und nicht von der Befindlichkeit des Kindes ab 8 Mangels genereller Beurteilungskriterien wird in der Praxis zwar die Leitregel gelten, daß die Gründe für die Annahme einer unzumutbaren Belastung umso beachtlicher sind, je schwerer die angenommene Behinderung des Kindes wiegt - auch bei nur geringer Wahrscheinlichkeit der Schädigung 87 . Dennoch ist eine individuelle Beurteilung des Einzelfalles erforderlich und nicht die Orientierung alleine an festen Prozentsätze oder bestimmten Krankheitsbildern 88 . Hiernach aber ergeben sich ähnliche Schwierigkeiten wie bereits im Rahmen der medizinisch-sozialen Indikation: Während sich der Arzt wegen der zu erwartenden Schädigung des Kindes zumindest in gewissen Grenzen noch auf das Urteil eines Fachmannes berufen kann (und muß) 8 9 , ist nicht sicher, daß er die zur Beantwortung der Zumutbarkeitsfrage erforderliche Befähigung besitzt. Nur ein Teil der gesetzlich zur Indikationsfeststellung befugten Ärzte wird diese Aufgabe sachgerecht lösen k ö n n e n ^ . Schon gar nicht ist gewährleistet, daß dies gerade diejenigen Ärzte sind, die sich selbst für die Aufgabe empfehlen und anbieten. Schädigung des Kindes bei eingetretener Schwangerschaft trotz liegenden Intra-uterin-Pessars für die Anerkennung einer Indikation ausreicht. Obwohl es in diesen Fällen nur sehr selten überhaupt zu einer Schwangerschaft komme, von diesen Schwangerschaften wiederum 50% mit einer Frühgeburt endeten und eine Studie aus den USA bei 1000 Kindern, die trotz Intra-uterin-Pessars empfangen und geboren worden waren, in keinem Fall eine Mißbildung festgestellte, fuhrt der Bundesgerichtshof aus: "Das Risiko (einer Mißbildung infolge des Pessars) ist damit allerdings nicht gänzlich ausgeschlossen. (...) Sofern besorgte Patientinnen in dieser Situation (...) die Frucht nicht mehr austragen wollen und sich wegen des aufgezeigten Risikos und der Möglichkeit des spontanen Aborts ängstigen, wird (...) die Interruptio wegen medizinisch-sozialer Indikation in der ärztlichen Praxis allgemein für zulässig erachtet und akzeptiert" (BGH NJW 1987, 2306, 2307). Man fragt sich, wann denn nach diesem höchstrichterlichen Maß stab ein Risiko einmal zur Anerkennung einer Indikation nicht ausreichen sollte. Zur Frage der Pflicht zur Pränataldiagnose vgl. Cramer , Gen- und Genomanalyse, S. 102 ff. 85 Sch-Sch-Erer, Rz. 28 zu § 218 a m.w.N. 86

Vgl. Cramer , Gen- und Genomanalyse, S. 88 ff; Pluisch, S. 79 ff.

87 Schlund, ArztR 1990, 105, 107. 8« Vgl. Beck, Frauenarzt 1992, 279, 282. 89 Auch zur Feststellung dieser Indikation soll zwar der nicht geschulte Arzt einen erfahrenen Kollegen hinzuziehen (LK-Jähnke, Rz. 58 zu § 2 1 8 a m.w.N.). Die Unsicherheit bezüglich des erforderlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes kann jedoch auch ein solcher nur in beschränktem Maße beseitigen (Laufs, MedR 1990, 231, 236).

*> Pluisch, S. 126 f.; vgl. auch Schmitt, JZ 1975, 356, 359.

112

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

c) Die kriminologische Indikation (§ 218 a Abs. 2 Nr. 2 StGB) Voraussetzung der k r i m i n o l o g i s c h e n ^ l Indikation ist die Annahme dringender Gründe dafür, daß die Schwangerschaft die Folge einer an der Frau begangenen rechtswidrigen Tat nach §§ 176 bis 179 StGB ist. Diese Feststellung gelingt nur selten anhand bloß medizinischer Kriterien^ 2. in der Regel kann lediglich ein gerichtsmedizinisch vorgebildeter A r z t 9 3 anhand von Spuren am Körper der Frau auf eine rechtswidrige Tat im o.g. Sinne schließen. Eine derartige Feststellung wird jedoch dadurch erschwert, daß vom Zeitpunkt der Tat bis zur Feststellung der Schwangerschaft in der Regel mindesten zwei Wochen (Ausbleiben der Regelblutung) vergangen sein werden, mit der Folge, daß die Tatspuren eventuell bereits verblaßt sind und daher an Eindeutigkeit verloren h a b e n H Selbst wenn der Arzt etwaige Tatzeugen anhört, was ihm weder das Gesetz noch dessen Kommentierung auferlegt, wird er aufgrund seiner Ausbildung zumeist nicht in der Lage sein, deren Aussagen richtig zu w ü r d i g e n ^ . Auch die kriminologische Indikation drängt den Arzt also von Gesetzes wegen in die ihm fremde Rolle eines Quasi-Richters oder Psychologen^. Dies umso mehr, als die Schwangere nicht verpflichtet ist, zuvor oder gleichzeitig Anzeige wegen einer Tat nach §§ 176 ff. StGB zu erstatten 9 7, w a s immerhin zur Folge hätte, daß ein von Berufs wegen dazu weit mehr Befähigter über das Vorliegen einer solchen rechtswidrigen Tat zu befinden hätte. Somit dürfte ein Arzt gerade den Anforderungen, die eine kriminologische Indikation an ihn stellt, durchweg nicht gewachsen sein^ß.

91 Der Begriff der "ethischen" Indikation (vgl. Lackner, Rz. 16 zu § 218 a; Schmitt, JZ 1975, 356, 358) wird zu Recht nur selten verwendet. Wie könnte man auch die Tötung eines unschuldigen Menschen - egal aus welch noch so sehr mit Verzweiflung erklärbaren Motiven - als "ethisch" bezeichnen? 9

2 Schreiber,

FamRZ 1975, 669, 670.

« Vgl. Dreher/Tröndle, 72, 77.

Rz. 22 zu § 218 a; Otto, JR 1990, 342; Hiersche, Gynäkologe 1982,

w Vgl. LK-Jähnke, Rz. 63 zu § 218 a; Beulke, FamRZ 1976, 596, 601. 95 Vgl. Otto, JR 1990, 342. Siehe auch Martin Hirsch, Bundesverfassungsrichter a.D., der in der Frankfurter Rundschau vom 15.5.1991 daraufhinwies, der Arzt sei kein Kriminalbeamter; Hirsch zieht daraus allerdings die verfassungsrechtlich unhaltbare Konsequenz einer alleinigen Entscheidungsfreiheit der Schwangeren.

96 Vgl. Dreher/Tröndle, 97 9

Rz. 22 zu § 218 a.

Sch-Sch-Eser, Rz. 35 zu § 218 a; Dreher/Tröndle,

Rz. 20 zu § 218 a.

« Ebenso Beulke, FamRZ 1976, 596, 601; Hanack/Hiersche, 333.

ArchGyn 228 (1979) 331,

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

113

d) Die allgemeine Notlagenindikation (§ 218 a Abs. 2 Nr. 3 StGB) Die weitaus stärksten Zweifel an der ärztlichen Qualifikation und Kompetenz erweckt allerdings die Feststellung der sog. allgemeinen Notlagenindikation9 9 , mißverständlich auch als "soziale" Indikation bezeichnet 100 , die mit über 90% den Großteil aller Indikationen ausmacht 101 . Deutlicher noch als bei den vorstehend erörterten Tatbeständen zeigt sich hier die mit fehlender Kompetenz gepaarte konzeptionelle Überforderung des Arztes: Festzustellen hat er eine Notlage allgemeiner Art, deren Schwere die Durchsetzung der Austragung des Kindes mit den Mitteln des Strafrechts nicht geboten erscheinen läßt 1 0 2 . aa) Gegenstand weitverbreiteter Kritik ist der Begriff der «Notlage» 103 . Was darunter zu verstehen ist, läßt sich exakt weder dem Gesetzestext noch der zahlreichen (Kommentar-)Literatur entnehmen 104 . Mancherorts wird diese begriffliche Unbestimmtheit damit begründet, daß die Vielgestaltigkeit der denkbaren Konfliktsituationen eine Reduzierung auf bestimmte Tatbestandsmerkmale unmöglich mache 1 0 5 . Diese Begründung überzeugt nicht; denn wenn eine Indikationsfeststellung im Vorfeld der Tat einen Sinn haben soll, dann doch nur, wenn die Indikationstatbestände so klar gefaßt sind, daß sie den Ärzten als Richtlinien dienen können, anhand derer sie "indikationswürdige" von den "indikationsunwürdigen" Konfliktsituationen unterscheiden k ö n n e n 1 0 6. Ihre Schwäche liegt darin, daß es sich um inhaltsleere - und daher nicht brauchbare - Richtlinien handelt 107 .

99 Lackner, Rz. 19 zu § 218 a; Schultz., M D R 1980, 369; Schmitt, JZ 1975, 356; Beulke, FamRZ 1976, 596, 599.

*oo LK-Jähnke, Rz. 64 zu § 218 a; kritisch Dreher/Tröndle,

Rz. 24 zu § 218 a.

ιοί S.o. Teil 2 A I I I 1 a bb. 102 Vgl. BVerfGE 39, 1, 49, woraus allerdings nicht zwingend zu entnehmen ist, daß dabei ein Arzt tätig werden muß. 103

Hiller/Hiersche,

DÄB1. 1978, 781 ff.; Dreher/Tröndle,

Rz. 24 ff. zu § 218 a StGB m.w.N.

104

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshof hat in seiner "Theissen"-Entscheidung allerdings einige Fälle aufgezählt, in denen er eine allgemeine Notlage nicht anerkennt (etwa allein die Anzahl schon geborener Kinder oder den Entschluß zur Kinderlosigkeit), vgl. BGH NJW 1992, 763, 769. 105 Vgl. Deutscher Bundestag, 8. WP, Bericht der "Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem reformierten § 218 des StGB", BT-Drs. 8/3630, S. 81ff.; Laufliütte/Wilkitzki, JZ 1976, 329, 332 Fn. 66; Schmitt, JZ 1975, 356, 358; Hollmann, ArztR 1981, 206, 207.

106 vgl. LK-Jähnke, Rz. 33 vor § 218. 107 Vgl. Deutscher Bundestag, 8. WP, Bericht der "Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem reformierten § 218 des StGB", BT-Drs. 8/3630, S. 82; Arzt/Weher, L H 1 Rz. 387; Hanack/Hiersche, ArchGyn 228 (1979) 331, 334; Hollmann, ArztR 1981, 205, 207; SKRudolphi, Rz. 42 zu § 218 a; Jähnke, FS-Baumann, S. 187, 190. 8 Esser

114

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

Fest steht lediglich, daß die "sonstige" Notlage eine andere Form der Bedrängnis ist, als in den bereits beschriebenen Indikationsfällen 108. Während die in die medizinische Indikation nach § 218 a Abs. 1 Nr. 2 StGB einfließenden sozialen Aspekte in erster Linie solche waren, die sich - wenn auch im weiteren Sinne - auf die Gesundheit der Schwangeren niederschlagen, können im Rahmen der hier zu beurteilenden Notlage auch rein wirtschaftliche, familiäre oder sonstige soziale Gesichtspunkte bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt w e r d e n 1 0 9 . Nach Poettgen hat der Arzt die "Gesamt-Leib-Seele-Situation" der Frau zu erfassen 1 10. Was den Schweregrad der Belastung anbelangt, wird nach herrschender Meinung davon ausgegangen, daß dieser jedenfalls die üblicherweise mit einer Schwangerschaft verbundenen Belastungen übersteigen m u ß 1 1 1 . Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Fristenregelung muß die allgemeine Notlage überdies ähnlich schwer wiegen wie die medizinische I n d i k a t i o n 1 1 s o daß "die Kongruenz mit den anderen Indikationsfällen gewahrt" bleibt 1 1 3 . bb) Was einen Arzt mit rein medizinischer Ausbildung zu einer solchen Feststellung befähigen soll, ist nicht erkennbar 11 *. Bezeichnenderweise überschrieb der Chefarzt der Gynäkologischen Abteilung der Münchener Universitätsklink Hepp sein 1987 auf einer Sonderveranstaltung der Bundesärztekammer gehaltenes Referat zum Thema Schwangerschaftsabbruch wie folgt: "Notlagenindikation - auch 108 Dreher/Tröndle,

Rz. 25 f. zu § 218 a.

κ» Sch-Sch-£jer, Rz. 44 zu § 218 a; ders., in: Eser/Hirsch (Hrsg.), S. 160; Poettgen, DÄB1. 1977, 515 fT. no Vgl. Poettgen, DÄB1. 1977, 515, der diesen BegrifT dort ftir die Beratung des Arztes im Fall einer Notlagenindikation prägte. m S Κ-Rudolphi, Rz. 41 f. zu § 218 a; Eser, in: Eser/Hirsch (Hrsg.), S. 161; Dreher/Tröndle, Rz. 26 zu § 218 a. 112 BVerfGE 39, 1, 49. Ι " BVerfGE 39, 1, 50; vgl. auch O L G Bremen, VersR 1984, 288; L G Kiel, VersR 1984, 451, 452; A G Celle, N J W 1987, 2307, 2310; Dreher/Tröndle, Rz. 26 zu § 218 a. Diese Vorgabe der Karlsruher Richter hat der Gesetzgeber allerdings bei der Formulierung des § 218 a Abs. 2 Nr. 3 StGB nur bruchstückhaft beachtet. Hiernach soll es schon genügen, wenn die allgemeine Notlage "so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann". 114 Vgl. dazu Poettgen (DÄB1. 1977, 515, 516), der dem bei einer Notlagenindikation beratenden Arzt sogar den Besuch einer Selbsterfahrungsgruppe zur eigenen Weiterbildung empfielt! Siehe auch Otto, JR 1990, 342, 343; Stoll, DÄB1. 1986, 1185; Lecheler, MedR 1985, 214, 215; Jähnke, FS-Baumann, S. 187, 190; Schmid-Tannwald, in: v.EifT (Hrsg.), S. 51, 55 f.; Ketting/van Praag, S. 29; Jähnke, FS-Baumann, S. 187, 189: "Die solchen Problemen zugrundeliegenden Sachverhalte sind ärztlicher Erkenntnis nicht zugänglich". Die Ansicht von Laufhütte (Deutscher Bundestag, 7. WP, Sten. Dienst, 75. Sonderausschuß-Si. v. 14.1.1976, S. 2396), wonach sich die Kompetenz des Arztes zur Feststellung nicht-medizinischer Umstände daraus ergebe, daß dieser auch in anderen Fällen die "künftigen Lebensverhältnisse" der Patienten zu beurteilen habe, überzeugt nicht. Denn in keinem anderen Fall hängt von dieser Beurteilung die Entscheidung über das Leben eines Dritten ab.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

115

eine Not des A r z t e s " 1 1 5 . Insbesondere ein Nicht-Gynäkologe wird nicht, zumindest nicht mit der gehörigen Sicherheit, beurteilen können, ob im konkreten Fall die normalen Schwangerschaftsbelastungen überschritten werden. Darüber hinaus handelt es sich bei den im Rahmen der Notlagenindikation zu treffenden Feststellungen fast ausschließlich nicht um solche medizinischer N a t u r 1 1 d e n n die allgemeine Notlage kann auf mannigfachen Umständen beruhen, die außer "ärztlicher Erkenntnis", wie sie § 218 a Abs. 2 StGB lediglich verlangt, auch Kenntnisse auf zahlreichen nicht-medizinischen Sachgebieten erfordert, z.B. dem Sozial-, Arbeits-, Zivil- oder Wirtschaftsrecht, der Betriebswirtschaft etc. 1 1 7 . Da die Kompetenz des ärztlichen Berufsstandes insbesondere bei diesem mit weitem Abstand häufigsten Tatbestand des § 218 a StGB derart ungewiß ist, entsteht der Eindruck, als sei diese Überforderung 11« bereits in der Konzeption des Gesetzes bewußt eingeplant worden, um auf dem Umweg einer Indikationenregelung die am Urteil des Bundesverfassungsgerichts gescheiterte Fristenregelung dennoch in der Praxis zu ermöglichen 119. In diesem Zusammenhang verdient eine empirische Untersuchung des MaxPlanck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht aus dem Jahr 115 Referat zur Sonderveranstaltung zum XI. Interdisziplinären Forum für Fortschritt und Fortbildung in der Medizin der BuÄK, zitiert nach: Neue Ärztliche vom 22.1.1987 und DÄB1. 1987, B-145; vgl. ferner Hepp, in: Böckle (Hrsg.), S. 47, 55 f; ders., in: Stimmen der Zeit 1992, 590, 593.

LK-Jähnke, Rz. 77 zu § 218 a. H 7 Büchner, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 14/90, S. 3, 10; Sch-Sch-£H»r, Rz. 51 zu § 218 a; Stoll, DÄB1. 1986, 1185; Beulke, FamRZ 1976, 596, 601; N.J.. DÄB1. 1990, B-1665; Hiersche, Gynäkologe 1982, 72, 77; Stoll gyne 1989, 225, 228; Hege, BayÄBl. 1990, 506, 507. Daß selbst medizinfremde Kenntnisse keine Garantie flir eine sachgemäße Indikationsfeststellung sind, mögen folgende Zitate von nach eigenen Angaben abtreibungserfahrenen Ärzten belegen: Der Memminger Abtreibungsarzt Dr. Theissen sagte in einem Interview im Rahmen der ARD-Sendung "Mit unnachgiebiger Härte" (2.2.1989, 20.15 Uhr): "Ich glaube, daß letztlich die Notlage gar nicht zu beurteilen ist von uns, weil nach einhelliger Meinung aller Gutachter nie nachzuempfinden ist, was die Patientin einem vorträgt. Und ich - ehrlich gesagt - will es auch nicht. (...) Ich möchte Partner der Patientin sein und nicht in alle Ecken hineinleuchten, ob das, was sie mir angeben, auch richtig ist. Auch unter der Gefahr, daß sie, wenn sie gute Schauspielerinnen sind, mir mal was vormachen. Aber das nehme ich in Kauf, weil ich nicht möchte, daß die Patientinnen nachher in mir den Schnüffler sehen, sondern den Partner." In einer am 13.6.1988 um 20.30 Uhr auf West 3 ausgestrahlten Sendung ("48 Stunden: Reportage über Schwangerschaftsabbruch") äußerte sich ein Abtreibungsarzt folgendermaßen: "Es gibt auch Ärzte, die nicht ganz unberechtigter Weise sagen, eine ungewollte Schwangerschaft ist per se eine so schwere Notlage, daß sie nicht anders als durch einen Abbruch abzuwenden ist"; vgl. mit weiteren einschlägigen Zitaten Beckmann, Politische Studien 1989, 635, 645. ne Vgl. Hiller/Hiersche,

DÄB1. 1978, 781, 782.

119 Vgl. Ketting/van Praag, S. 29: "Das Gesetz tendiert so zu einer versteckten «Fristenlösung»." Daher wird die soziale Indikation in verfassungsrechtlicher Hinsicht auch besonders kritisiert, vgl. Dreher/Tröndle, Rz. 24 ff. zu § 218 a m.w.N.

116

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

1 9 8 6 1 2 0 Erwähnung. Danach waren mehr als zwei Drittel der befragten Gynäkologen der Ansicht, daß eine besondere, über die rein medizinische Ausbildung hinausgehende Qualifikation für die Indikationsfeststellung vonnöten sei 1 2 1 . In der gleichen Umfrage brachten 67,7% der Befragten zum Ausdruck, daß die derzeitige gesetzliche Regelung den Interessen der Ärzte nicht gerecht werde, vor allem im Zusammenhang mit dem gesetzlichen Vorverfahren zum Schwangerschaftsabbruch im Bereich der Notlagenindikation; ein Drittel dieser 67,7% sprach sogar direkt von einer Überforderung der Ärzte. Untermauert wird diese Feststellung durch eine Passage aus dem vom 94. Deutschen Ärztetag (1991) angenommenen Mehrheitsvotum des Ausschusses des Deutschen Ärztetages (1990) "Zur Problematik des Schwangerschaftsabbruchs", wo es heißt: "Der Ausschuß ist der Überzeugung, daß es aus ärztlicher Erkenntnis nicht möglich ist, die Notlage bei einer Frau - die immer eine subjektive ist - festzustellen" 122 Wenn dies zutrifft, dann gibt keine der bislang getroffenen Feststellungen einer allgemeinen Notlagenindikation den wirklichen Sachverhalt verläßlich wider.

e) Ergebnis zu 2. Die nach § 218 a StGB indizierenden Ärzte sind in den meisten Fällen zur Feststellung eines Indikationstatbestandes nicht kompetent. Deshalb liegt die Vermutung nahe, daß sie die Indikationsvoraussetzungen ex ante nicht verläßlich belegen.

3. Die Informationsbasis

des indizierenden Arztes

Von Belang für die Kompetenz des indizierenden Arztes ist ferner, welche fallbezogenen Informationen ihm zur Verfügung stehen und inwieweit er die rechtliche Bedeutung der Indikation und damit auch seiner eigenen Tätigkeit erfaßt hat.

120

Untersuchung des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht/Freiburg, in der 1986 insgesamt 406 männliche und weibliche Gynäkologen aus Hessen und Baden-Württemberg (=20,5% aller berufstätigen Gynäkologen dieser Bundesländer) über ihre Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch befragt wurden, zitiert nach: Häußler, DÄB1. 1988, A1685 ff.; Häußler/Holzhauer, ZStW 100 (1988) 817 fT. 121

Dies forderten (1976) auch der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und der Vorstand des Berufsverbandes der Frauenärzte, Resolution zur Reform des § 218, in: Lau, S. 173 f. 122 Deutscher Ärztetag, Kommentar, S. 12; vgl. auch Bericht über den Deutschen Ärztetag, DÄB1. 1991, B-1187, 1188. Die hieraus von der Ausschußmehrheit abgeleitete Konsequenz "Darum muß nach entsprechender Pflichtberatung die Entscheidung von der Betroffenen eigenverantwortlich gefällt werden" (Deutscher Ärztetag, Mehrheitsvotum, DÄBL. 1991, B-1189, 1191) ist freilich keine verfassungsrechtlich haltbare Lösung des ärztlichen Kompetenzproblems; vgl. auch Schmid-Tannwald, in: v.Eiff (Hrsg.), S. 51, 56; Laufs, Fortpflanzungsmedizin, S. 35 f.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

117

a) Informationen über die tatsächlichen Voraussetzungen der Indikation Abgesehen von den allgemeinen fachspezifischen Kenntnissen, die eine zutreffende Beurteilung des Vorliegens eines Indikationstatbestandes voraussetzt, hängt die Objektivität des Indizierenden (und damit auch diejenige seiner Feststellung) von seiner Kenntnis des zugrunde liegenden Sachverhaltes ab. Bei der medizinischen und eugenischen Indikation fließen zwar auch solche Faktoren in die Beurteilung mit ein, die nicht oder nur wenig von der Schwangeren beeinflußbar s i n d 1 2 3 . Insoweit ist die Objektivität dieser Indikationen noch am ehesten gewährleistet. Bei der kriminologischen und der allgemeinen Notlagenindikation hingegen ist der indizierende Arzt auf das angewiesen, was eine "kritische Exploration" der Schwangeren zu Tage fördert 124. Inwieweit und mit welchen Mitteln er die Richtigkeit ihrer Angaben zu überprüfen und ob er zur vollständigen Sachverhaltsaufklärung die Schwangere auszufragen oder gar weitere Ermittlungen anzustellen hat, ist dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmen. Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs bezeichnet in einem seiner Urteile zum Schadensersatzanspruch bei mißglückter Abtreibung die Indikationsfeststellung als das "Ergebnis der aus dem Gespräch mit der Schwangeren gewonnenen ärztlichen Erkenntnis" 125 . Wegen der Bedeutung, die der Indikationsfeststellung für die Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht zuk o m m t 1 2 6 , stellt sich die Frage, ob der indizierende Arzt seine Entscheidung über das tatsächliche Vorliegen der nicht rein medizinischen Indikationsvoraussetzungen allein auf der Grundlage der Aussagen der Schwangeren treffen darf 1 2 7 . Darüber gehen die Meinungen auseinander.

aa) Meinungsstand (1) Jähnke und Eser gestehen dem Arzt im Rahmen der Feststellung einer kriminologischen Indikation zwar zu, sich von der Schwangeren die Ermächtigung zur Einholung weiterer Auskünfte erteilen zu lassen; verpflichtet sei er dazu jedoch nicht 1 2 8 . Diese Ansicht teilt der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs, der den Arzt

123 s.o. Teil 3 Β I I 2 b. 124 LK-Jähnke, Rz. 63, 77 zu § 218 a; Dreher/Tröndle, Rz. 22 zu § 218 a; Stellungnahme der Bundesregierung zum Kommissionsbericht, Deutscher Bundestag, 8. WP, Bericht der "Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem reformierten § 218 des StGB", BT-Drs. 8/3630, S. I I I . 125 B G H Z 95, 199 ff. = B G H FamRZ 1985, 1011, 1013 = N J W 1985, 2752. 126 S.o. Teü 3 Β I 2 a. 127 Vgl. dazu auch Hanack/Hiersche, ArchGyn 228 (1979) 331, 332, die auf die Schwierigkeiten bei der Feststellung der erforderlichen Fakten hinweisen. 128 LK-Jähnke, Rz. 63 zu § 218 a; Sch-Sch-Erer, Rz. 37 zu § 218 a; Eser., JZ 1991, 1003, 1010 f.

118

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

nicht für verpflichtet hält, "sich gleichsam als Ermittlungsbehörde zu betätigen und an andere Personen und Einrichtungen heranzutreten als bei sonstiger ärztlicher Behandlung"129. Das Erkenntnismittel des Arztes sei die Befragung der Patientin. Auch nach dem bereits zitierten Mehrheitsvotum des Ausschusses des Deutschen Ärztetages (1990) "Zur Problematik des Schwangerschaftsabbruchs" hat der Arzt bei der Indikationsfeststellung von der Glaubwürdigkeit seiner Patientin auszugehen "wie auch sonst in der Arzt-Patient-Beziehung"130. Allerdings sieht Jähnke bei einer kriminologischen Indikation in dem - rechtlich nach herrschender Meinung nicht gebotenen131 - Verlangen nach einer Strafanzeige durch die Frau zumeist den einzigen Weg für den Arzt zur Erfüllung der ihm obliegenden Prüfungspflicht 132. An anderer Stelle hält er gar die Einschaltung des Jugendamtes zur Erforschung einer allgemeinen Notlagenindikation immerhin für vertretbar 133. (2) Tröndle hingegen sieht sowohl im Rahmen der kriminologischen als auch bei der allgemeinen Notlagenindikation eine Feststellung allein aufgrund der Informationen der Schwangeren als unzulässig an. Der Arzt habe vielmehr weitere Erkundigungen einzuholen134 und dürfe "keinesfalls auf das bloße Vorbringen der Schwangeren hin" entscheiden135.

bb) Eigene Stellungnahme Insbesondere im Fall der allgemeinen Notlagenindikation erscheint eine Indikationsstellung auf einer der Ansicht zu (1) entsprechenden, schmalen Informationsbasis insofern bedenklich, als "Informant" gerade die Schwangere ist, die den Arzt

129 B G H N J W 1992, 763, 767.

130 Deutscher Ärztetag, Kommentar, S. 10. 131 S.o. Teil 3 Β I I 2 c. 132 LK-Jähnke, Rz. 63 zu § 218 a; so auch Wilkitzki/Lauritzen,

S. 54; Gropp, S. 204.

133 Jähnke, FS-Baumann, S. 187, 197: "Jeder Antrag auf Zubilligung von Sozialleistungen unterliegt der Nachprüfung, je nach den Umständen auch mittels Hausbesuchs. Hier beansprucht die Schwangere, daß der Staat seine Schutzpflicht gegenüber dem Ungeborenen zurücknehme. Das Gewicht einer solchen Entscheidung rechtfertigt ein Eindringen in die häusliche Sphäre sehr viel nachhaltiger als etwa der Antrag auf Gewährung von Pflegegeld." 134 Dreher/Tröndle, Rz. 22 zu § 218 a; vgl. auch Hanack/Hiersche, ArchGyn 228 (1979) 331, 334, die Bedenken bzgl. der tatsächlichen Seite der Indikationsfeststellung äußern; vgl. ferner kritisch Stürner, Jura 1987, 75, 76; Lecheler, MedR 1985, 214, 215; Hiersche, Gynäkologe 1982, 72, 77. 135 Dreher/Tröndle,

Rz. 13 zu § 218 a.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

119

mit dem Wunsch nach einer ärztlichen Bejahung der Notlage und nachfolgender Abtreibung aufsucht. Bliebe der Mediziner alleine auf deren Aussagen angewiesen, geriete er in eine Abhängigkeit von der Situationsbeurteilung und dem Handlungsinteresse seiner Patientini 3 * und könnte schon aus diesem Grunde die ihm vom Gesetz zugedachte Rolle eines neutralen Gutachters nicht erfüllen. Denn es ist anzunehmen, daß die mit einem bestimmten Begehren an ihn herantretende Schwangere ihre Lage nicht objektiv schildern wird, sondern nur eine ihrem Vorhaben günstige, also etwa verkürzte oder gar unzutreffende Lagebeschreibung vorträgt 137 . Hinzu kommt, daß eine nüchterne Darstellung der Situation durch die schwangere Frau häufig dadurch erschwert wird, daß sie dem Druck ihrer zur Abtreibung drängenden Umwelt ausgesetzt i s t 1 3 8 . Insoweit erscheint der Vorschlag Jähnkes13?, das Jugendamt zur Wahrung der Interessen des ungeborenen Kindes einzuschalten, zumindest als Schritt in die richtige Richtung. Der Einwand, ein eigenständiges Bemühen des Arztes um zusätzliche Informationen, die über die von der Schwangeren geoffenbarten Tatsachen hinausgehen, würde das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient stören 1 4 0 , ist nicht stichhaltig: Die Wahrung eines Arzt-Patient-Verhältnisses kann nicht dazu führen, daß Dritte, die ebenfalls "unter dem Schutz der Verfassung" stehen, davon in verfassungswidriger Weise beeinträchtigt werden. Dies aber ist bei der Abtreibung der Fall. Bei einer Indikationsfeststellung, die ausschließlich auf den von der Schwangeren gemachten Auskünften beruht, wird es daher häufig zu einer Erkenntnis nach Wunsch der Frau, nicht aber einer "ärztlichen Erkenntnis" kommeni42.

136 Vgl. Geiger, Jura 1987, 60, 63; ferner Schadewaldt (RheinÄBl. 1990, 669 ff.), der auf die Gefahr einer nicht mehr gegenüber jedermann unabhängigen Ärzteschaft hinweist.

«7 Vgl. auch Kluxen,, in: Voss/Voss/Hoffacker (Hrsg.), S. 25, 26; Stoll, 227: "Die betroffene Frau erwartet also, daß ihrem Wunsch entsprochen wird".

gyne 1989, 225,

138 Vgl. Schmid- Tannwald, Anhörung Bundesrat, S. 110, 116; vgl. auch Jähnke, FS-Baumann, S. 187, 190: "Wie nirgends sonst führt im Bereich des § 218 a StGB die herkömmliche Haltung des Arztes, seinem Patienten Glauben zu schenken, in die Irre. Damit steht dem Arzt bei seiner Entscheidung nichts zu Gebote, auf das er sich stützen kann: medizinische Kenntnisse nützen nichts, Mittel der Sachverhaltsfeststellung außerhalb seiner Praxis hat er nicht, und die Schilderungen der Schwangeren sind interessen- oder oft auch fremdbestimmt".

u* Jähnke, FS-Baumann, S. 187, 197. 140

Diesen Einwand machte gerade die Bundesärztekammer in ihrer viel kritisierten Stellungnahme zur Bayerischen Normenkontrollklage, DÄB1. 1991, B-703, 704; zur Kritik an dieser Stellungnahme vgl. Beckmann, Die Welt vom 9.1.1991; Hege, BayÄBl. 1990, 506, 507. 141 BVerfGE 39, 1, LS a). 142 Vgl. Büchner, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 14/90, S. 3, 10; Häußler-Sczepan, in: Kaiser (Hrsg.), Bd. 39, S. 38 ff.; Wuermeling,, in: JVL-Schriftenreihe, Nr. 2 (1985), S. 68 ff. Vgl. Dinkel, DÄB1. 1991, A-456, 457: "Der Arzt heilt aus Bedürfnis, aber nie aus eigener Ermächtigung, sondern immer nur im Auftrag seines Patienten. Er handelt dagegen stets aus eigener Verantwortung, der Patient hat niemals ein Verfugungsrecht über ihn". Siehe auch Horn, JuS 1979, 29 ff.

120

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

Eine realistische Differenzierung von rechtmäßigen und rechtswidrigen bzw. daher strafbefreiten und strafwürdigen Fällen, wie sie das verfassungsrechtlich geschützte Lebensrecht des ungeborenen Kindes und die staatliche Schutzpflicht erfordern, ist nicht möglich, solange der Arzt seiner Beurteilung ausschließlich die Angaben der Schwangeren zugrunde legt 1 4 3 .

b) Informationen über rechtliche Gesichtspunkte Der indizierende Arzt wird "in der Normdurchsetzung" tätig 1 4 4 . Daher ist von ihm auch ein für eine zutreffende Situationserfassung notwendiges gewisses Mindestmaß an Kenntnissen über die rechtlichen Grundlagen seines Tun zu erwart e n 1 4 5 . Derartige fachübergreifende Anforderungen sind aus anderen Berufszweigen durchaus bekannt: So soll z.B. nach § 4 der "Verordnung über die Prüfung zum anerkannten Abschluß Geprüfter Tierpflegemeister/Geprüfte Tierpflegemeisterin vom 11.07.1990" 1 4 6 der Prüfungsteilnehmer im Prüfungsfach "Grundlagen für rechtsbewußtes Handeln rechtliche Grundkenntnisse (...) insbesondere anhand von betriebsbezogenen und praxisnahen Fällen nachweisen, daß er die Bedeutung der Rechtsvorschriften für seinen Funktionsbereich erkennen und beurteilen kann. In diesem Rahmen können geprüft werden: 1. Aus dem Grundgesetz: a) Grundrechte b) Gesetzgebung c) Rechtsprechung (...)". Eine entsprechende Regelung für den akademischen Beruf des Arztes, in dessen Hand Leben und Gesundheit von Mitmenschen liegen, fehlt. Daher sind Kenntnisse der Verfassungsrechtslage, der einschlägigen Gesetze oder gar des "Fristenregelungs"-Urteils, deren Notwendigkeit sich wegen der Grundrechtsrelevanz des Aborts geradezu aufdrängen, beim indizierenden und abtreibenden Arzt

143 In diesem Sinne auch Dreher/Tröndle, Rz. 13, 22 zu § 218 a. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist die folgende Passage aus dem Gutachten des BMJ (1975) zur Begutachtung der Indikationsfeststellung: "Voraussetzung ist, daß der Prüfer neutral und für die in Betracht kommende Indikation sachverständig ist. Die vom Gericht geforderte «Prüfung» setzt ein Verfahren voraus, in dem die für die Begutachtung notwendigen Daten erhoben werden können. Soweit nicht sichere, objektivierte Befunde, insbesondere Röntgenaufnahmen, vorhanden sind, wird es notwendig sein, daß der Prüfer die Schwangere persönlich sieht" (BMJ, Gutachten, S. 12).

Häußler, DÄB1. 1988, A-1685; dies., in: Kaiser (Hrsg.), Bd. 35/1, S. 42, 49 f. 1 4 5 So auch Holtmann, ArztR 1981, 205. 146

BGBl. I (1990), S. 1404 ff.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

121

nicht zu u n t e r s t e l l e n 147. Selbst bruchstückhafte Kenntnisse des Gesetzes - etwa der Formulierung, er habe "nach ärztlicher Erkenntnis" zu indizieren - helfen ihm nicht weiteres. Aus den strafrechtlichen Normen der §§ 218 ff. StGB, die das geschützte Rechtsgut nicht benennen, ist für den juristischen Laien nur schwer der hohe Wert des Lebensrechts des Ungeborenen und sein Schutzanspruch h e r a u s z u l e s e n 149. Schließlich erweckt auch die bereits erwähnte Orientierungslosigkeit sogar der ärztlichen Standesvertretungen über die Rechtsnatur des indizierten Aborts 150 Zweifel daran, ob beim abtreibenden Arzt "rechtsbewußtes Handeln", wie es schon vom Tierpflegemeister erwartet wird, gewährleistet ist.

c) Ergebnis zu 3. Neben den Schwierigkeiten, die seine rein fachliche Qualifikation betreffen, entscheidet der Arzt zudem also auf nur unzureichender Informationsbasis, wenn er sich - insbesondere im Rahmen der kriminologischen und der allgemeinen Notlagenindikation - ausschließlich auf die Angaben der Schwangeren stützt Darüber hinaus fehlen den meisten Ärzten in der Praxis bereits aufgrund von Mängeln in der Ausbildung die grundlegenden Informationen über die rechtliche Relevanz ihrer Abtreibungstätigkeit.

4. Die "Unzumutbarkeit

der anderweitigen Abwendung"

Dem Arzt obliegt neben der Feststellung der tatsächlichen Elemente eines bestimmten Indikationstatbestandes "nach ärztlicher Erkenntnis" die Aufgabe, zu beurteilen, ob im Einzelfall die Fortsetzung der Schwangerschaft bzw. das Erzwingen der Austragung des Kindes mit den Mitteln des Strafrechts, der schwangeren Frau zumutbar ist151.

14? Geiger, Jura 1987, 60, 63; vgl. auch V G H Mannheim, NJW 1991, 2362, 2363: "Bei der Einlassung des Klägers ist allgemein zu berücksichtigen, daß er Arzt und nicht Jurist ist und daß er deshalb für die differenzierten Unterschiede zwischen bloßer Straffreiheit, Rechtfertigung oder gar Erteilung einer Erlaubnis kein ausreichendes begriffliches Verständnis hat". 148 Jähnke, FS-Baumann, S. 187, 190. 149 "in ihrer Kompliziertheit werden diese Regelungen selbst von Jurastudenten erst nach mehrstündigen Erläuterungen verstanden. Das tatbestandlich geschützte Rechtsgut, dessen Wertigkeit dem Bürger verdeutlicht werden müßte, bleibt unerwähnt", Günther, MedR 1992, 65, 69. 150 W.Esser, in: JVL-Schriftenreihe, Nr. 6 (1989), S. 71 ff. 15 1 Entweder darf die jeweilige Notlage nicht auf andere, fur die Schwangere zumutbare Weise abzuwenden sein (§ 218 a Abs. 1 Nr. 2 oder Abs. 2 Nr. 3b StGB; vgl. Lackner, NJW 1976,

122

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

Der Begriff der «Zumutbarkeit» 152 bzw. «Unzumutbarkeit», der mit steigender 1 T e n d e n z ^ 53 in gesetzlichen Vorschriften verwendet wird ist nicht ohne weiteres aus sich selbst verständlich. Er unterfällt der Gruppe der sog. normativen Tatbestandmerkmale oder "unbestimmten Rechtsbegriffe", worunter man solche Tatumstände versteht, die wertungsbedürftig, d.h. nur im Wege eines ergänzenden Werturteils feststellbar sind155. Zur Auslegung derartiger Begriffe ist der Rechtsanwender hier also zunächst und vor der Abtreibung ausschließlich der Arzt - auf eine umfassende Interessenabwägung verwiesen. Dabei stehen einander jeweils verschiedene Positionen gegenüber: Im Rahmen der §§ 218 ff. StGB können auf Seiten der Schwangeren unterschiedliche Rechtsgüter stehen (Leben, Gesundheit, persönliches Wohlergehen, Freiheit und Selbstbestimmung etc.), auf Seiten des ungeborenen Kindes ist stets "nur" dessen Leben betroffen, das aber alle vorgenannten Rechtsgüter zumindest als künftige einschließt. Damit der staatliche Schutzauftrag durch die §§ 218 ff. StGB verwirklicht werden kann, muß der Arzt auch zur Abwägung der konkurrierenden Rechtsgüter und Interessen in der Lage sein. Das setzt voraus, daß er genau über den tatsächlichen und rechtlichen Hintergrund seiner Entscheidung informiert ist. Beides ist nicht gewährleistet. Bedingt durch die Ungewißheit seiner Qualifikation zur Feststellung der tatsächlichen Voraussetzungen einer Indikation ist der Mediziner daher auch mit der Zumutbarkeitsprüfung im Rahmen des § 218 a StGB überfordert.

1233, 1238; Sch-Sch-Eser, Rz. 25, 47 zu § 218 a; Hirsch/Weißauer, S. 37) oder aber die dringend erwartete Schädigung des Kindes muß so schwer wiegen, daß "von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann" (§ 218 a Abs. 2 Nr. 1 StGB). Einzig im Rahmen der kriminologischen Indikation soll eine derartige Abwägung nicht erforderlich sein; hier impliziere bereits das Vorliegen einer rechtswidrigen Tat nach §§ 176 bis 179 StGB die Unzumutbarkeit der Schwangerschaftsfortsetzung im Sinne einer vorweggenommene Wertung des Gesetzgebers. 152

Zu den inhaltlichen Anforderungen an die Zumutbarkeit vgl. auch BMJ, Gutachten, S. 7

f. 153 Vgl. preis t z f G 1988, 319, 327, der in der ansteigenden Tendenz zur Aufnahme dieses Begriffs in die Gesetze eine Überforderung der Rechtsanwender sieht. 154 Vgl. umfassend zum Begriff der Zumutbarkeit Preis, ZfG 1988, 319 ff. m.w.N.; Weber, Jjb 3 (1962/63) 212 ff.; Ossenbühl, in: Rüthers/Stern (Hrsg.), S. 315 ff.; Henkel, FS-Mezger (1954), S. 249 ff.

155 Wessels, AT, § 5 I I I 2; Sch-Sch-Cramer, Rz. 64 vor § 13.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

123

5. Die Begründung des Gesetzgebers für die Betrauung des Arztes mit der Indikationsfeststellung Die vorstehenden Bedenken bezüglich der Kompetenz des indizierenden Arztes teilte der Reformgesetzgeber nicht. Von einem Fehlen der erforderlichen Qualifikation sei schon deshalb nicht auszugehen, weil sich der Arzt, der eine Indikation feststelle, ohne dazu aufgrund seines Fachwissens in der Lage zu sein, in Konflikt mit dem Standesrecht bringe 1 5 6 . Dieser Hinweis vermag die vorstehend angeführten Zweifel nicht zu zerstreuen. Aus den jeweiligen Landes-Berufsordnungen für die deutschen Ärzte kommen als standesrechtliche Regelungen vor allem die Pflicht zur Ausübung des ärztlichen Berufes nach dem Gewissen des Arztes und ärztlicher Sitte (§ 1 Abs. 1) sowie die Pflicht zur Fortbildung (§ 7) in Betracht. Eine sorgfaltige Befolgung dieser Standesregeln hilft dem indizierenden Arzt aber nicht, fachübergreifende Sachverhalte zu erfassen. Ob einer Schwangeren etwa aufgrund ihrer familiären oder finanziellen Situation das Austragen des Kindes zumutbar ist oder nicht, läßt sich aufgrund einer medizinischen Ausbildung nicht beurteilen. Gleiches gilt für die Feststellung einer kriminologischen Indikation. Eine berufsbegleitende Fortbildung in diese Richtung wird erst seit jüngstem ärztlicherseits gefordert 157. Ob Seminare oder Fachkurse überhaupt das Wissen und die Erfahrung vermitteln können, das auf den einschlägigen nicht-medizinischen Gebieten normalerweise durch langjährige Studiengänge und anschließende Praktika vermittelt wird, muß bezweifelt w e r d e n 1 5 8 . Auch wurde schon in Teil 1 auf die Ineffektivität des Standesrechts zur Kontrolle des ärztlichen Verhaltens im Zusammenhang mit Abtreibung h i n g e w i e s e n 1 5 9 . Es mangelt in der Regel an wirkungsvollen Sanktionsmöglichkeiten. Das Standesrecht bietet daher keine hinreichende Gewähr für die erforderliche Qualifikation des Indizierenden. Auch die gesetzlich vorgeschriebene Erst-Feststellung (§ 219 StGB) ga-

156 Deutscher Bundestag, 7. WP, Bericht und Antrag des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform vom 3.2.1976, BT-Drs. 7/4696, S. 11; Bardens (SPD) Deutscher Bundestag, 7. WP, Sten. Dienst, 75. Sonderausschuß-Si. v. 14.1.1976, S. 2407; Wilkitzki (BMJ) Deutscher Bundestag, 7. WP, Sten. Dienst, 76. Sonderausschuß-Si. v. 21.1.1975, S. 2431. 1 5 7 Deutscher Ärztetag, Kommentar, S. 10. 158 Vgl. Deutscher Ärztetag, Mehrheitsvotum, DÄB1. 1991, B-1189, 1192 sowie die o.g. Ergebnisse der Max-Planck-Studie, zitiert nach Häußler, DÄB1. 1988, A-1685. 159

Der aus dem Rechtsstaatsprinzip erwachsenden sog. Wesentlichkeitstheorie (s.o. Teil 1 I V 4b) ist mit dem Verweis auf standesrechtliche Sanktionen nicht Genüge getan. Die (völlige) Überlassung eines derart grundrechtsrelevanten Bereichs wie der Indikationsfeststellung an eine autonome Satzungsgewalt - im Fall der Berufsordnungen also der berufsständischen Kammern - entspricht nicht rechtsstaatlichen Anforderungen.

124

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

rantiert keinen sicheren Schutz vor dem Tätigwerden nicht-kompetenter Medizinerl 60.

6. Ergebnis zu II. Die Indikationsfeststellung durch einen Arzt genügt aus verschiedenen Gründen nicht den Anforderungen des geltenden Verfassungsrechts - insbesondere unter Berücksichtigung des Grundrechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) - an eine strafrechtliche Regelung zum Lebensschutz ungeborener Kinder. Die nötige fachliche Qualifikation und damit auch Kompetenz zur Feststellung des Vorliegens eines Indikationstatbestandes ist bei Ärzten nicht gewährleistet, da es sich dabei um ein ihnen in weiten Teilen völlig fachfremdes Gebiet handelt. Darüber hinaus sieht das Gesetz in seiner gegenwärtigen Form weder Richtlinien noch Hilfsmittel vor, die dem Arzt eine zutreffende Beurteilung des Sachverhaltes ermöglichen; er ist vielmehr auf die physische und psychische Befindlichkeit und den Wortvortrag der ihn mit Abtreibungswunsch aufsuchenden Schwangeren beschränkt. Auch soweit ihm diese freiwillig weitere Informanten benennt, etwa den Vater des Kindes oder den Arbeitgeber, dürften dies regelmäßig solche sein, von denen sie sich eine Bestätigung ihrer Notlagenbehauptung erhofft. Mit der Indikationsfeststellung ist der einzelne Arzt sowie der ärztliche Berufsstand insgesamt bei der gegenwärtigen Ausgestaltung der §§ 218 ff. StGB überfordert 161. Dies war voraussehbar und ist somit vom Gesetzgeber zumindest bewußt in Kauf genommen worden. All das führt zu einer erheblichen Schwächung der Stellung des Ungeborenen. Der nicht qualifizierte Arzt entscheidet nicht nur über das Vorliegen der Voraussetzungen von Straflosigkeit, sondern auch über die Rechtmäßigkeit einer Tötungshandlung. Damit löst er zugleich die mit einer Rechtfertigung des Aborts verbundenen K o n s e q u e n z e n 162 - insbesondere Ausschluß des Nothilferechts zu Gunsten des ungeborenen Kindes, Wirksamkeit des Arztvertrages, Zulässigkeit der Kassenleistungen nach § 200f RVO etc. - aus. Das Ergebnis entspricht der in den Teilen 1 und 2 festgestellten Unverträglichkeit des ärztlicherseits durchgeführten Aborts mit dem ärztlichen Berufsbild.

ie> Dazu im einzelnen unten Teil 3 C; vgl. die Ausführungen bei Lackner, NJW 1976, 1233, 1241. ι « Vgl. auch LK-Jähnke, Rz. 27 zu § 218 a Fn. 31 m.w.N.; Petersen, DÄB1. 1991, A-178 f.; Laufs, NJW 1991, 1516, 1518. 162 z u den allgemeinen Folgen der Rechtfertigung vgl. Jescheck, S. 298 f.

125

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

7. Annex: Die Kompetenz des Arztes zur Durchführung

der Abtreibung

Auch die Kompetenz der Arztes zur Durchführung der Abtreibung ist zu hinterfragen. Daß ein Arztvorbehalt, wie ihn § 218 a StGB vorsieht, verfassungsrechtlich auch im Hinblick auf den Gesundheitsschutz der Frau - nicht geboten ist, wurde bereits d a r g e l e g t 1 ^ . So können auch nicht die Bedenken geteilt werden, die einige Stimmen in der Literatur daran haben, daß das Gesetz in § 218 a StGB keinen Fach- Arztvorbehalt enthält, vielmehr grundsätzlich jeder Arzt mit deutscher Aprobation bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen straffrei eine Abtreibung vornehmen k a n n 1 6 4 Über das oben Gesagte hinaus ist dem Folgendes zu entgegnen: Zunächst unterscheidet sich die hier gestellte Frage wesentlich von der nach der ärztlichen Kompetenz zur Indikationsfeststellung; denn bei der Durchführung der Abtreibung handelt es sich im Gegensatz zur Feststellung eines Indikationstatbestandes um einen Vorgang, der zwar dem ärztlichen Berufsbild und einer Reihe von Verfassungsgrundsätzen widerspricht, der aber zunächst ein medizin-technischer Eingriff ist und somit vorrangig medizinische Kenntnisse, nicht aber die Fähigkeit zur Vornahme rechtlicher o.a. Wertungen voraussetzt. Zudem erfordert jede medizinische Therapie die Einhaltung der "Regeln der ärztlichen Kunst" 165. Danach macht sich beispielsweise ein Ohrenarzt, der einen chirurgischen Eingriff vornimmt, nicht nach §§ 223 ff. StGB wegen einer Körperverletzung strafbar, solange er dabei kunstgerecht ("de lege artis") verfährt. Entscheidend für die Einordnimg einer Behandlung als Körperverletzung oder Heileingriff im (straf-)rechtlichen Sinne ist - neben den sonstigen Voraussetzungen (Einwilligung) lediglich, daß die Behandlung aufgrund ausreichenden Fachwissens und unter Befolgung der von den Standards der Disziplin anerkannten Grundsätze und Methoden ausgeführt w i r d 166. Zwar bietet für die Umsetzung dieser Grundsätze auf fachärztlichem Gebiet am ehesten ein Facharzt die Gewähr; daraus aber zwingend zu folgern, fachfremde Mediziner genügten diesen Anforderungen durchweg nicht, erscheint überzogen. Eine Abtreibung ist zwar keine H e i l b e h a n d l u n g ! 6 7 > gilt aber nach dem Gesetz als ärztliche Tätigkeit. Daher läßt sich für Abtreibungen ebenso

1« S.o. Teil 2 Β I 3f. 164 So Sch-Sch-Eser, Rz. 55 zu § 218 a; SK-Rudolphi, i«

1 6 6 Dreher/Tröndle, 7

Rz. 11 zu § 218 a.

In diesem Sinne Laufs, Arztrecht, Rz. 336 ff.; LK-Jähnke, Rz. 17, 21 zu § 218 a. Rz. 9c zu § 223; Laufs, Arztrecht, Rz. 55.

16 Lenzen, FS-Tröndle, S. 723, 727; vgl. auch v.Hippel, JZ 1986, 53, 55. Cramer (Genund Genomanalyse, S. 94) verneint den Charakter der Abtreibung als Heileingriff ausdrücklich nur aus der Sicht des Kindes; er formuliert jedoch: "Tötung ist nicht Heilung, sondern Vernichtung der Existenz."

126

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

wenig wie für Heilbehandlungen die zwingende Notwendigkeit eines Fach-Arztvorbehaltes begründen. Aus Sicht des Kindes besteht weder an einem Arzt- noch an einem Facharztvorbehalt ein Interesse. Seine Belange werden nicht stärker beeinträchtigt, wenn statt eines Gynäkologen ein sonstiger Arzt den Abort durchführt. Allerdings muß der Arzt sicherstellen, daß er dem ungeborenen Kind keine Schmerzen zufügt 1 6 8 . Soweit es hierzu einer Anästhesie bedarf, erfordert dies ohnehin die Beiziehung eines Fachanästhesisten.

III. Notwendigkeit, Zeitpunkt und Umfang einer staatlichen Kontrolle der ärztlichen Indikationsfeststellung Der in aller Regel unzureichend qualifizierte Arzt stellt die Indikation aufgrund einer strafrechtlichen Norm - des § 218 a StGB - fest. Unbestritten ist jede Anwendung gesetzlicher Vorschriften - also der Gesetzesvollzug - einer Überprüfung durch den Staat zugänglich. Unter verschiedenen verfassungsrechtlichen Aspekten bedarf es dieser sogar notwendigerweise. Generell als selbstverständlich akzeptierte Rechtsgrundsätze werden allerdings schnell in Zweifel gezogen, sobald ihre Anwendbarkeit auf den Bereich Abtreibung ansteht 1 Gleichwohl ist eine Erörterung der hier anstehenden Fragen angebracht; denn es gilt zu zeigen, daß eine Übertragung der allgemeinen rechtsstaatlichen Regeln auf die hier thematisierte Problematik nicht nur möglich, sondern zudem verfassungsrechtlich geboten ist. Anlaß für die vorliegenden Erörterungen sind daher nicht verfassungsrechtliche Zweifel an der Zulässigkeit einer staatlichen Überprüfung der Indikationsfeststellung; ausschlaggebend ist vielmehr das Aufsehen 17o, das im Jahr 1989 ein Prozeß vor dem Landgericht M e m m i n g e n 1 7 1 erregte sowie die sich daran anschließende juristische Diskussion. Gegenstand dieses Verfahrens war die Abtreibungstätigkeit des Dr. Horst Theissen, auf die die Strafverfolgungsbehörden anläßlich eines gegen 168 Vgl. di e Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer, nach der ein Schmerzempfinden ab der 9. Woche p.c. nicht auszuschließen ist und die aus diesem Grunde nach dem Alter des Kindes gestaffelte Schmerzverhinderungsmaßnahmen "rechtlich verbindlich" empfiehlt, DÄB1. 1991, C-2301 ff.; vgl. zur Schmerzempfindlichkeit auch Wisser/Hepp, in: JVLSchriftenreihe Nr. 6 (1989), S. 55 ff. 169 Dieses "Phänomen" zeigt sich innerhalb der gesamten Abtreibungs-Diskussion. Man vergleiche etwa nur die Argumentation zu den Themen Vergewaltigung in der Ehe, Kinderpornographie, Gewalt in der Familie, Umweltschutz, Tierschutz etc. Die Argumente, die auf diesen Gebieten z.B. zur Rechtfertigung des Einsatzes des Strafrechts verwandt werden, lassen sich sinngemäß fast alle auch auf den Schutz des ungeborenen Kindes vor Abtreibung übertragen.

"0 Dazu Pro Familia (Hrsg.), S. 167 ff. 171 LG Memmingen, Urteil vom 5.5.1989 - 1 Kls 23 Js 9443/86 (zitiert nach Beckmann, MedR 1990, 301 Fn. 2), siehe dazu BGH NJW 1992, 763 ff.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

127

ihn eingeleiteten Steuerstrafverfahrens aufmerksam wurden. Während die öffentliche Diskussion sich schnell an der grundsätzlichen Frage einer "Einmischung" des Staates in den Bereich der ärztlichen Indikationsfeststellung entzündete 172 , wird seitdem in juristischen Fachkreisen in erster Linie diskutiert, ob die Formulierung des § 218 a StGB, wonach der Arzt den Indikationstatbestand "nach ärztlicher Erkenntnis" festzustellen habe, diesem einen gerichtsfreien Beurteilungsspielraum zubillige oder ob die Beurteilung des Arztes in vollem Umfang einer staatlichen (genauer gerichtlichen) Überprüfung unterliege17 3. Es geht also nicht vorrangig um das grundsätzliche "Ob" einer staatlichen Kontrolle, sondern um deren Umfang. Eine Auseinandersetzung mit der letztgenannten Frage erfordert jedoch zunächst eine Betrachtung der grundsätzlichen Problematik. Bevor es um den erforderlichen Umfang staatlicher Überprüfung geht, sind zunächst die Gründe aufzuzeigen, die eine staatliche Kontrolle der Beurteilung des indizierenden Arztes notwendig machen (1). Sodann ist - bejahendenfalls - nach dem Zeitpunkt einer staatlichen Überprüfung zu fragen (2). Erst dann steht die Frage nach dem Umfang der staatlichen Überprüfung an (3).

1. Die verfassungsrechtliche Notwendigkeit einer staatlichen Kontrolle der ärztlichen Indikationsfeststellung Dürfte der Staat die Feststellung des Arztes nach § 218 a StGB nicht inhaltlich überprüfen, so wäre sie eine rein private Angelegenheit zwischen der Schwangeren und ihrem Arzt. Es käme zu einer "Privatisierung" der ärztlichen Indikationsfeststellung. Da die Feststellung nach § 218 a StGB das Lebensrecht des ungeborenen Kindes betrifft, erscheint diese Sicht der Indikationsfeststellung verfassungsrechtlich bedenklich.

a) Der Grundsatz des "Nemo plus iuris in alium transferre potest quam ipse habet" Staatliche Aufgaben werden in der Regel durch öffentlich-rechtliche Verwaltungsträger wahrgenommen 174 . Dies ergibt sich u.a. aus dem staatlichen Gewaltmonopol, das die Ausübung hoheitlicher Befugnisse grundsätzlich dem Staat vorbehält 17 *. Nicht selten erfolgt allerdings zur Entlastung der Verwaltung 1™ 172

Schünemann, ZRP 1991, 379 f.

173

Zu dieser Auseinandersetzung im einzelnen s.u. Teil 3 Β I I I 1-3. Krebs, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, § 69 Rz. 6; vgl. auch Wolff/

Bachof/Stober,

Verwaltungsrecht II, § 104 Rz. 1.

175

So v.Heimburg, S. 34; Merten, Rechtsstaat, S. 31 ff., 41 ff.

176

Wolff/Bachof/Stober,

Verwaltungsrecht II, § 104 Rz. 1.

128

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

soweit die Rechtsordnung nicht ausdrücklich den Einsatz öffentlich-rechtlicher Organisationsformen vorsieht 177 - die Übertragung staatlicher Aufgaben auf Private 1 7 8 . Hierfür gelten bestimmte unverzichtbare rechtsstaatliche Kautelen, die auch für eine Übertragung der "staatlichen Aufgabe Indikationsfeststellung" 1 auf Private erfüllt sein müssen. Hierzu zählt zum einen der römisch-rechtliche Satz: "nemo plus iuris in alium transferre potest quam ispe habet". Angewandt auf die zu erörternde Problematik heißt das: Der Staat kann die Indikationsfeststellung nach § 218 a StGB nur dann auf Private übertragen, wenn ihm diese Aufgabe selber rechtmäßigerweise zusteht1 so. Danach wäre zu prüfen, ob der Staat rechtfertigende Indikationen feststellen darf. Dies führt aber unweigerlich zu der dahinterstehenden Frage nach der verfassungsrechtlichen Haltbarkeit der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB. Diese aber soll im vorliegenden Zusammenhang gerade unterstellt werden. Folglich können hierzu keine Ausführungen gemacht werden.

b) Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) Des weiteren gilt für die Übertragung staatlicher Aufgaben auf Private die Regel, daß unter Beachtung des verfassungsrechtlichen Prinzips der Gesetzmäßigkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) jede Überantwortung hoheitlicher Aufgaben auf Private staatlicher Kontrolle 1 8 1 bedarf. Dies gilt auch für die Indikationsfeststellung nach §218 a StGB.

aa) Grundsätzliches Lagert der Staat Aufgaben in den privaten Bereich aus, geschieht dies häufig durch Übertragung auf sog. Beliehene 182 . Ungeachtet der verschiedenen theoreti-

177

Erichsen, in: Erichsen/Martens (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 404 f.

178

Krebs, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, § 69 Rz. 10; Badura, Verwaltungsmonopol, S. 251 ff. Zur früher grundsätzlich umstrittenen, heute jedoch allgemein anerkannten verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Übertragung hoheitlicher Aufgaben auf Private siehe Steiner, öffentliche Verwaltung, S. 255 ff. (insbes. die ausfuhrliche Darstellung S. 256 Fn. 23); Bansch, S. 57 ff. 1 7 9 S.o. Teil 3 Β I 2. 180 181

Vgl. Creifelds,

Rechtswörterbuch, S. 583; Bansch, S. 105.

Aus der Verwendung des Begriffs "Kontrolle" dürfen keine Schlüsse auf den Zeitpunkt einer staatlichen Überprüfung gezogen werden. Es wäre verfehlt, in diesem Stadium der Erörterungen unter staatlicher Kontrolle ausschließlich eine Überprüfung im Vorfeld der Tat zu verstehen. Zunächst geht es ausschließlich um die grundsätzliche Notwendigkeit, noch nicht um den Zeitpunkt einer staatlichen Überprüfung der ärztlichen Indikationsfeststellung.

129

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

sehen Ansätze zur Definition dieses verwaltungsrechtlichen Instituts 1 8 3 sind dies "Personen des Privatrechts, denen die Zuständigkeit eingeräumt ist, bestimmte einzelne hoheitliche Kompetenzen im eigenen Namen wahrzunehmen" 184 . Die Überlassung der Indikationsfeststellung an private Ärzte ähnelt einer solchen Konstellation 1 8 $. Unter den zahlreichen, fur die staatliche Aufgabenerfüllung insbesondere auf der Grundlage des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit (Art. 28 Abs. 1, 20 Abs. 3 G G ) 1 8 * geltenden Richtlinien ist das sog. Gesetzmäßigkeitsprinzip 187, "der zentrale Grundsatz des Rechtsstaatsgedanken"188, von besonderer Bedeutung. Danach ist die Verwaltung als Form des organisierten staatlichen Handelns 1 8 9 an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). Diese verfassungsrechtlich verankerte Bindung ist auf stete Kontrolle angelegt 190 . Nur dadurch, daß die jeweilige Tätigkeit des verfaßten Staates immer wieder an den ihr zugrunde liegenden Maßstäben gemessen wird 191, bleibt deren Einhaltung und somit auch die gesetzes- und rechtsbezogene Bindung gewährleistet. Da der Rechtsstaat die Möglichkeit einkalkuliert, daß auch seine Organe rechtswidrig handeln, unterwirft er sie einem umfassenden Kontrollsystem1 92. Auf diese Weise realisiert sich die Verantwortlichkeit des demokratisch legitimierten Staates vor seinem Staatsvolk193. Diese Grundsätze gelten auch für die Einbeziehung Privater in die staatliche Aufgabenerfüllung. Die rechtsstaatliche Bindung hoheitlicher Gewalt schließt organisatorisch jede Verwaltungsform aus, die "eine Herabsetzung rechtsstaatlicher

1 8 2

Vgl. dazu Maurer, § 23 Rz. 56 ff. m.w.N.; Steiner, öffentliche Verwaltung; Woljf/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht II, § 104; v.Münch, in: Erichsen/Martens (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 9 ff, 17 ff. 183

Zu den verschiedenen Definitionsversuchen umfassend v.Heimburg,

S. 30 ff

184

Woljf/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht II, § 104 Rz. 2; vgl. auch Maurer, § 23 Rz. 56; Steiner, öffentliche Verwaltung, S. 13 m.w.N. «5 Kluth, NJW 1986, 2348, 2349; Geiger, Jura 1987, 60, 64.; ders., in: JVL-Schriftenreihe Nr. 9 (1992), S. 29, 47. 186 Dazu umfassend Stern, Staatsrecht I, § 20; Maunz/Dürig/Herzog/Scholz-//erzog, Rz. 30 ff. zu Art. 20 (VII).

Siehe v. Münch-ScAnapp, Rz. 23 zu Art. 20; vgl. ferner Stern, Staatsrecht I, § 20 IV 4. I 8 8 So v. Münch-Schnapp, Rz. 36 zu Art. 20. ι 8 * Krebs, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, § 69 Rz. 1. 190 ygi. z u m Stichwort "Kontrolle" ausführlich Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, § 59 Rz. 188 ff 191

Kirchhof,

192

Isensee, FS-Eichenberger, S. 23, 30.

iw Kirchhof, 9 Esser

in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, § 59 Rz. 188; vgl. Murswiek, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, § 59 Rz. 189.

S. 117.

130

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

Standards zur Folge h a t " 1 9 4 . Nach Steiner übernimmt der Staat mit der Ausgliederung von Kompetenzen aus seinem immittelbaren Bereich und deren Übertragung auf Private eine "spezifische Garantenstellung"195. Daher erfordert gerade die Beauftragung Privater - also von Natur aus nicht in einem öffentlichen Dienstverhältnis stehender und somit grundsätzlich nicht unmittelbar an die Verfassung gebundener Personen - mit der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben eine staatliche Kontrolle ihrer Auftragstätigkeit 196. Ansonsten könnte der Staat das Prinzip der Gesetzmäßigkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) unterlaufen, indem er die ihm obliegenden Aufgaben je nach Belieben auf Privatpersonen übertrüge 197 , gleichsam die "Flucht ins Privatrecht" 19» anträte 199 .

bb) Übertragung dieser Grundsätze auf den nach § 218 a StGB indizierenden Arzt (1) Ähnlich dem Beliehenen wird auch der Arzt in seiner ihm nach den §§ 218 ff. StGB zugewiesenen Funktion tätig. Bei der Indikationsfeststellung nach § 218 a StGB führt er eine staatliche Aufgabe aus 2 0 0 . Zwar handelt er dabei im Gegensatz zum Beliehenen, der als selbständiger Hoheitsträger nach außen auftritt 2 0 1 , in den Formen des Privatrechts und nicht als öffentlich-rechtliche Institution 2 0 2 . Doch nimmt er als Privater eine staatliche Aufgabe wahr. Damit ist er als "verlängerter Arm der vollziehenden Gewalt" ebenso wie diese an "Gesetz und Recht gebunden" i*

Krebs, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, § 69 Rz. 79.

195

Steiner, öffentliche Verwaltung, S. 273; von einer "Garantenstellung" spricht auch Gallwas, WdStRL 29 (1971) 211, 221 ff. 196 Vgl. Kluth, NJW 1986, 2348, 2349. 197 Vgl. Krebs, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, § 69 Rz. 51: "Die vom Grundgesetz doppelt (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG) betonte Verfassungsbindung der Verwaltung liefe inhaltlich zum großen Teil leer, wenn die Verfassung für die Verwaltungsorganisation als Erscheinungsund Wirklichkeitsform der Verwaltung keine substanzhaften Aussagen bereithielte." 1 9 8 Siehe Rüfner, S. 358 f., 364 Fn. 75, der auf Fritz Fleiner als den "Urheber" dieses aus dem Bereich der Grundrechtsbindung der Verwaltung bekannten Ausdrucks verweist; v.MünchSchnapp, Rz. 40 zu Art. 20. 1 9 9 Ausfluß dieses Gedankens ist beispielsweise der Grundsatz, daß die Übertragung staatlicher Aufgaben auf sog. Beliehene unter dem auf dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit beruhenden ( v.Münch-Schnapp, Rz. 38 f. zu Art. 20) Vorbehalt des Gesetzes steht, d.h. daß Beleihung (wie jedes Verwaltungshandeln) nur durch oder aufgrund eines Gesetzes möglich ist (Maurer, § 23 Rz. 58; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht II, § 104 Rz. 6). Kontrolle erfolgt hier in Form einer Fach- bzw. Rechtsaufsicht ( Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht II, § 104 Rz. 7; siehe ferner Bansch, S. 150 fT; Mennacher, S. 112 f.; Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 876; Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht I, S. 545; Steiner, öffentliche Verwaltung, S. 283 Fn. 144 fT. m.w.N.). 200

s.o. Teü

3 Β I 2.

201 Maurer, § 23 Rz. 59. 202 Zu denken ist etwa an Verwaltungshelfer, Schülerlotsen etc.; vgl. Maurer\ Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht II, § 104 Rz. 4.

§ 23 Rz. 60 ff.;

131

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

(Art. 20 Abs. 3 GG) und unterliegt dabei folglich der Kontrolle durch seinen Auftraggeber, den S t a a t 2 0 3.

(2) Die Notwendigkeit staatlicher Kontrolle der ärztlichen Indikationsfeststellung ergibt sich auch aus dem in der Literatur mehrfach erörterten Problem der sog. Gespannbildung 204 . Darunter versteht man das Zusammenwirken zweier abtreibungswilliger Ärzte dergestalt, daß der eine die ärztliche Beratung und Erst-Feststellung durchführt, während der andere nach § 218 a StGB indiziert und die Abtreibung vornimmt 2 0 5 . Schon das Bundesverfassungsgericht sah diese Gefahr nach den Erfahrungen in England, wo ebenfalls zwei Indikationen von beliebigen Ärzten zu erstellen sind, und führte dazu aus, daß sich bei einem derartigen Verfahren "vor allem solche Ärzte zur Verfügung stellen, die im Schwangerschaftsabbruch entweder ein gewinnbringendes Geschäft sehen oder jedem Wunsch einer Frau nach Schwangerschaflsabbruch zu entsprechen geneigt sind, weil sie darin lediglich eine Manifestation des Selbstbestimmungsrechts oder ein Mittel zur Emanzipation der Frau erblicken" 2 °6. Im Ergebnis führe dies zu der oben beschriebenen Praxis, daß nämlich "bei den darauf spezialisierten Privatärzten praktisch jeder gewünschte Schwangerschaftsabbruch durchgeführt" werde 2 0 7 . Wirkungsvoll begegnet werden kann einer derartigen Handhabung der §§ 218 ff. StGB nur dann, wenn der Arzt einer - wie auch immer gearteten 208 - staatlichen Kontrolle hinsichtlich der Richtigkeit seiner Feststellung unterliegt.

203 So auch BayObLG NJW 1990, 2328, 2329; Dreher/Tröndle,

Rz. 8c vor § 218.

204

Dieses Problem behandelt auch Steiner in seiner Normenkontrollklage flir die Bayerische Staatsregierung auf Feststellung der Nichtigkeit der §§ 218 b, 219 StGB und §§ 200 fund g RVO (S. 17). Steiner sieht die Gespannbildung aber in erster Linie als Folge der rechtlichen Bedeutungslosigkeit der Erst-Feststellung an. Dem kann nicht gefolgt werden; denn selbst wenn diese rechtlich flir den abtreibenden Arzt bindend wäre, könnten zwei abtreibungswillige Ärzte bei freier Arztwahl durch die Schwangere dennoch als Gespann zusammenwirken, indem der Erstfeststellende jeweils ein positives Votum abgibt. Die Strafandrohung des § 219 a StGB ist wegen des notwendigen Handelns "wider besseres Wissen" hier kein Hinderniss, wie auch Steiner bemerkt (S. 17); vgl. auch Eser, in: Eser/Hirsch (Hrsg.), S. 167; Hirsch/Weißauer, S. 42; Schreiber, FamRZ 1975, 669, 672. 205 Dazu statt vieler Schreiber, FamRZ 1975, 669, 672; Hirsch/Weißauer, S. 42; Seebald, GA 1976, 65, 69. 206 BVerfGE 39, 1, 63 ("Lane-Report"). Die Fristenregelung (1974) kannte keine Indikationsfeststellung. Die vom Bundesverfassungsgericht angesprochene "Gespannbildung" bezog sich nach der damaligen Regelung auf die Identität von sozialberatendem und abtreibendem Arzt. Vgl. Lane-report, in: Schriftenreihe BMJFG, Bd. 32. 207

BVerfGE 39, 1, 64.

20* Dazu unten Teil 3 Β I I I 2.

132

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

(3) Hinzu kommt, daß rechtsstaatliche Voraussetzung jeder Erfüllung hoheitlicher Befugnisse durch Private deren fachliche Eignung i s t 2 0 9 . Die Betrauung sog. Beliehener mit staatlichen Verwaltungsaufgaben geschieht nicht zuletzt gerade wegen ihres besonderen Fachwissens oder ihrer im Vergleich zur Verwaltungsbehörde größeren Sachnähe 210 ; eben darin liegt die Rechtfertigung für die Auslagerung in den privaten Bereich. Diese bedeute zwar - so Steiner - ein "Minus an institutionalisierter Amtlichkeit" 2 1 1 und insofern zugleich ein potentielles rechtsstaatliches und demokratisches Minus; doch müsse dieses Manko in gewissen Grenzen "unter praktischen Gesichtspunkten" 212 hingenommen werden, insbesondere dann, wenn es durch besondere Fachkunde des Privaten ausgeglichen werde 21 3. Beim indizierenden Arzt fehlt aber in der Regel eine "besondere Fachkunde" 214 . Staatliche Kontrolle ist daher umso dringlicher. cc) Ergebnis zu b) Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit des Art. 20 Abs. 3 GG gebietet daher eine staatliche Kontrolle der ärztlichen Indikationsfeststellung. c) Das staatliche Gewaltmonopol Eine Aufgabenübertragung vom hoheitlichen in den privaten Bereich darf des weiteren das staatliche Gewaltmonopol nicht verletzen. Auch unter diesem Aspekt erscheint es zweifelhaft, ob das Fehlen einer staatlichen Kontrolle der Indikationsfeststellung durch eine Privatperson verfassungsrechtlich hinnehmbar ist. Ein Zusammenhang zwischen Gewaltmonopol und Indikationsfeststellung ergibt sich aus folgender Überlegung: Der rein privat indizierende Arzt, der das Vorliegen eines Indikationstatbestandes bejaht, verfügt über das Lebensrecht des ungeborenen Kindes; er schafft aufgrund der Genehmigungswirkung der rechtfertigenden Indikationsfeststellung die Rechtsgrundlage der Abtreibung. 209 Vgl. Steiner, öffentliche Verwaltung, S. 277. 210 Maurer, § 23 Rz. 57. 211 Siehe Steiner, öffentliche Verwaltung, S. 270 m.w.N. 212 Steiner, Öffentliche Verwaltung, S. 270. 213 Auch bezüglich der Erfüllung von Verwaltungsaufgaben, in dem Bereich also, in dem der Begriff des sog. Beliehenen geprägt wurde, sind daher einer Kompetenzübertragung in die private Sphäre verschiedene Grenzen gesetzt. Die Begründung der einzelnen Beschränkungen ist wiederum uneinheitlich; vgl. zu dieser Frage Ossenbühl, Diskussionsbeitrag, W d S t R L 29 (1971) 137, 161 f.; v. Heimburg, S. 22 ff.; Bansch, S. 68 f.; vgl. auch Steiner, öffentliche Verwaltung, S. 261; Ule, Diskussionsbeitrag, W d S t R L 29 (1971) 269; Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht I, S. 543. 214 S.o. Teil 2 Β II.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

133

Zudem beinhaltet die staatlich nicht überprüfbare Indikationsfeststellung die Verfugung eines Privaten über den staatlichen Strafanspruch. Mit der positiven Feststellung nach § 218 a StGB befindet der Mediziner nämlich zugleich über seine eigene Strafbarkeit und die der nicht beratenen Schwangeren. Er entscheidet damit über den sich auch gegen ihn richtenden staatlichen Strafanspruch. Dadurch aber wird die Strafgewalt des Staates 2 15 als Teilaspekt des staatlichen Gewaltmonopols berührt 21 6.

aa) Beschreibung des Gewaltmonopols Der Gewaltbegriff selber ist - wie etwa die aus dem Strafrecht bekannte Diskussion um seine Interpretation zeigt 2 1 7 - weitgehend unklar und wenig konturiert 218 . Die juristische Terminologie verwendet ihn teils in der Bedeutung von Herrschaft ("potestas", "imperium"), teils in der Funktion von physischem oder psychischem Zwang ("violentia", "vis") 2 1 9 . Das Gewaltmonopol meint speziell den letztgenannten Aspekt 2 2 0 . Es kann mit Merten 2 2 1 als "die alleinige Innehabung öffentlicher Herrschaft, d.h. der Berechtigung und Fähigkeit, sich aus eigener Zuständigkeit gegenüber anderen Personen durchzusetzen", charakterisiert werden. Teil der monopolisierten Staatsgewalt ist auch die durch Verhängung von Kriminalstrafen ausgeübte Strafgewalt des Staates 222 . Sie bezweckt die innerstaatliche Friedenssicherung, u.a. durch den Gesetzesgehorsam des Bürgers 22^. In "pathologischen Fällen der Gesetzesmißachtung"22* muß dieser entweder im Wege des Vollstreckungszwanges herbeigeführt oder der Gesetzesungehorsam im nachhinein mit Strafe belegt werden. Das staatliche Gewaltmonopol steht in engem Zusammenhang mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit: Das Gewaltmonopol sichert einerseits die friedenswahrende Funktion des Staates und seine innere Souveränität, indem es Gewalttätigkei215

Vgl. Jescheck, S. 9 m.w.N.

216 Pensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR I, § 13 Rz. 74. 2Π Vgl. dazu BVerfGE 73, 206, 242 ff.; BGHSt 23, 46, 53 f.; Dreher/Tröndle,, § 240 m.w.N.

Rz. 5 zu

218 Zum Begriff der Gewalt vgl. Matz,, S. 25 ff. 219 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR I, § 13 Rz. 74 ff; Merten, in: Randelzhofer/Süß (Hrsg.), S. 324, 325. 220 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR I, § 13 Rz. 75. 221 Merten, in: Randelzhofer/Süß (Hrsg.), S. 324, 325. 222 Vgl. Bettermann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, § 73 Rz. 1, 72. 223 Vgl. Merten, Rechtsstaat, S. 30; Welzel, 224 Merten, Rechtsstaat, S. 30.

JZ 1956, 238, 240; ders., JZ 1957, 130, 132.

134

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

ten der Bürger untereinander verhindert 225 ; damit wird es zum "staatserhaltenden Charakteristikum" 22 *. Das Rechtsstaatsprinzip wiederum soll verhindern, daß der (gewaltlose) Bürger der staatlichen Gewalt schrankenlos ausgeliefert i s t 2 2 7 . Andererseits kann man das staatliche Gewaltmonopol als notwendige Konsequenz des angestrebten Rechtsschutzes des Schwächeren vor dem Stärkeren a n s e h e n 2 2 8 . Damit der Schwache vor dessen Faustrecht bewahrt und nur dem Recht unterworfen bleibt, ist eine Monopolisierung legitimer Gewalt in Händen eines neutralen Dritten, des Staates, erforderlich 22 ^ Das Gewaltmonopol ist also Mittel zur Durchsetzung des Rechtsstaats, das Rechtsstaatsprinzip Regulativ des Gewaltmonopols2 3 0.

bb) Zulässige Ausnahmen vom staatlichen Gewaltmonopol Trotz der wichtigen Funktion, die dem Privatgewalt grundsätzlich ausschließenden staatlichen Gewaltmonopol innerhalb der Verfassungsordnung zukommt, erfahrt dieser Grundsatz verfassungsrechtlich zulässige Ausnahmen. Zu nennen sind hier an erster Stelle das Recht eines jeden Bürgers zur Übung von Notwehr (§32 StGB) 2 3i bzw. Nothilfe (§227 BGB) und Selbsthüfe (§229 B G B ) 2 3 2 sowie der Agressivnotstand (§ 228 BGB). Diese Ausnahmen haben vor der Verfassung Bestand, da sie erst zum Tragen kommen, wenn der Staat nicht oder nicht rechtzeitig zum Einsatz seiner Gewalt zur Schutzgewährung für den Bürger in der Lage ist, wozu er aufgrund der Monopolisierung jeder Art rechtmäßiger Gewaltanwendung verpflichtet ist2^3. i n die Reihe der verfassungsrechtlich zulässigen Ausnahmetatbestände reihen sich ferner (noch) das elterliche

225 Vgl. auch Dietlein, S. 26 ff. 226 Vgl. Quaritsch, S. 234. "Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes (...) das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht", Max Weber, in: v.Winkelmann (Hrsg.), S. 494. 227 Hiervon gehen etwa aus Matz, in: Randelzhofer/Süß (Hrsg.), S. 336, 339; Isensee, FS-Eichenberger, S. 23, 25; Randelzhofer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR I, § 15 Rz. 9, 39. 22« Vgl. Stern, Staatsrecht I, § 20 I V 4; Merten, FS-Doehring, S. 579, 585 fT. 229 So Merten, in: Randelzhofer/Süß (Hrsg.), S. 324, 330 f.; ders., Rechtsstaat, S. 33: "Durch die Monopolisierung der Gewalt wird der Staat zum Friedensverband". 230 Vgl. ferner Matz, S. 97 ff. 231 Vgl. Schmidhäuser, GA 1991, 97, 122 f. 232 Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 56; Schroeder y FS-Maurach, S. 127; Arzt, FSSchaffstein, S. 77-88 (80, 82, 86). Ähnliches gilt für das Recht zur vorläufigen Festnahme (§ 127 StPO), Merten,, in: Randelzhofer/Süß (Hrsg.), S. 324, 333. 233 Isensee, FS-Eichenberger, S. 23, 27; Merten, in: Randelzhofer/Süß (Hrsg.), S. 324, 333 f; ders., FS-Doehring, S. 579, 586.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

135

Züchtigungsrecht234 (Art. 6 Abs. 2 GG) sowie das Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs.4GGein235. Die vorgenannten Situationen stellen zwar Ausnahmen vom staatlichen Gewaltmonopol dar, verletzen dessen Intentionen jedoch nicht.

cc) Die unzulässige Durchbrechung des staatlichen Gewaltmonopols durch "Privatisierung" der Indikationsfeststellung Eine unzulässige Durchbrechung des staatlichen Gewaltmonopols und damit eine Abkehr von den diesem zugrunde liegenden Prinzipien bedeutet jedoch die durch den Verzicht auf staatliche Kontrolle erfolgte "Privatisierung" der Indikationsfeststellung.

(1) Von einer unzulässigen Durchbrechung des staatlichen Gewaltmonopols ist schon deshalb auszugehen, weil keine der genannten Facetten der Indikationsfeststellung zum Abort mit einer der zuvor beschriebenen Ausnahmen vergleichbar ist. Es handelt sich weder um eine Situation, in der obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig erreichbar ist, noch um einen Fall, der eine andere Behandlung erfordert, weil es sich etwa - wie beim elterlichen Züchtigungsrecht - um einen verfassungsrechtlich besonders ausgestalteten Bereich handelt. (2) Dies gilt auch, wenn man die unkontrollierbare Indikationsfeststellung als Erlaubnis zur Abtreibung wertet. Die einzig entfernt als Parallele zu den o.g. zulässigen Ausnahmen in Betracht kommende Fallgruppe ist die von Notwehr und Nothilfe. Doch wie oben ausgeführt 236 , ist die Anerkennimg einer Notwehrlage nicht möglich, mangelt es doch bereits an der Handlungs- und Angriffsfähigkeit des ungeborenen Kindes 2 3 7 . Nach Abschaffung der Todesstrafe (Art. 102 GG) steht nicht einmal mehr einem Gericht die Entscheidung zur Tötung eines Menschen za Wegen ihrer Rechtsna234 Hierbei handelt es sich jedoch lediglich um in Einzelfallen vom Staat gestattete Gewaltanwendung auf dem Hintergrund der verfassungsrechtlich vorgegebenen Garantie des auch angemessene Züchtigungen umfassenden Elternrechts (dazu Maunz, FS-Scheuner, S. 419 ff.); vgl. Merten, in: Randelzhofer/Süß (Hrsg.), S. 324, 334. 235 Das tatsächlich kaum bedeutsame Widerstandsrecht steht wiederum unter dem Vorbehalt der Unmöglickeit anderweitiger, also auch staatlicher Abwendbarkeit und kann von daher im An satz mit Notwehr und Nothilfe verglichen werden (Merten, in: Randelzhofer/Süß (Hrsg.), S. 324, 334; vgl. auch Wässermann, in: Randelzhofer/Süß (Hrsg.), S. 348 ff). 23

* S.o. Teil 2 A I I I 2b.

237

Dreher/Tröndle,

Rz. 9h vor § 218; Geiger, FamRZ 1986, 1, 5.

136

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

tur 2 3 8 und der Nichteinmischung des Staates entfaltet die Indikationsfeststellung jedoch eine dem Todesurteil ähnliche Wirkung 2 3 9 . Dem indizierenden Arzt aber wird - schließt man seine Kontrolle durch den Staat aus - eine solche Machtstellung eingeräumt. Er wäre alsdann befugt, staatlich unkontrolliert und ausschließlich im privaten Bereich über die Rechtmäßigkeit der Tötung eines Menschen und damit über die Verfugung über dessen Lebensrecht zu entscheiden. (3) Ähnliche Bedenken ergeben sich unter dem Aspekt der Indikationsfeststellung als Verfügung über den staatlichen Strafanspruch. Wenn - wie gezeigt - die Vollstreckung von Strafe 2 4 0 und sonstigen Zwangsmitteln Teil der dem Staat vorbehaltenen Gewalt ist, gehört denknotwendig auch das Verfahren, das die Voraussetzungen von Verhängung und Vollstreckung der "Strafe" klären soll, zur staatlichen Gewaltausübimg. Denn über die Recht- oder Unrechtmäßigkeit der jeweiligen Anwendung staatlicher Gewalt zu entscheiden, heißt in einem Rechtsstaat letztlich, über deren Einsatz oder Unterlassen zu befinden; unterscheidet sich der Rechtsstaat doch gerade durch das unbedingte Erfordernis der Rechtmäßigkeit jeder staatlichen Gewaltanwendung vom Machtstaat 241 . Liegt nun aber die Entscheidung über die Anwendung oder auch nur den Verzicht staatlicher Gewalt in den Händen Privater, obliegt die Entscheidung über deren Einsatz nicht mehr dem Staat, sondern einem Privaten, der nicht unmittelbar kraft Verfassung an Gesetz und Recht gebunden ist (Art. 20 Abs. 3 GG) und der zudem nicht die das Richteramt kennzeichnende persönliche Neutralität gewährleistet 2 4 2 . Wäre eine verbindliche Entscheidung über die Ausübung staatlicher Strafgewalt in verfassungsrechtlich einwandfreier Weise durch Private möglich, so ginge der "Primat des Rechts" 2 4 3 verloren. Denn der einzelne sähe sich nun nicht mehr dem ausschließlich rechtmäßigen Gewaltgebrauch durch den Staat gegenüber, sondern müßte Gewalt von Seiten Privater in Form der Entscheidung über die Verhängung von Zwangsmitteln, wie etwa der Strafe, fürchten.

238

Sofern man - wie in diesem Teil der Arbeit - die Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB un-

terstellt. 239

Das Argument, die Indikationsfeststellung hindere die Schwangere nicht, ihre Abtreibungsabsicht aufzugeben, spricht nicht gegen diese Bewertung. Auch ein rechtskräftiges Todesurteil hat nach Begnadigung keine Vollstreckung zur Folge. 240 Vgl. Merten, Rechtsstaat, S. 31. Mi Merten, Rechtsstaat, S. 29 m.w.N.; vgl. auch Darmstaedter, Freiheit, S. 66.

S. 1 ff., 122; Bettermann,

242

Vgl. Bettermann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, § 73 Rz. 34.

243

Siehe Stern, Staatsrecht I, § 20 I V 4.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

137

dd) Ergebnis zu c) Eine "Privatisierung" der Indikationsfeststellung ist daher auch mit dem rechtsstaatlichen Gewaltmonopol unvereinbar.

d) Rechtsstaatlich unzulässige Interessenüberlagerung Bei der Betrachtung der staatlich nicht kontrollierbaren Indikationsfeststellung tritt zudem in der Person des Indizierenden eine gesetzlich vorprogrammierte Interessenüberlagerung zutage, die verfassungsrechtliche Bedenken aufwirft Denn der indizierende Arzt ist identisch mit demjenigen, gegen den sich bei einer nicht indizierten, rechtswidrigen und nicht strafbefreiten Abtreibung der staatliche Strafanspruch richtet und der von der Durchführung der Abtreibung einen finanziellen Vort e i l 2 4 4 zu erwarten hat. Er soll also als Privater im öffentlichen Interesse eine Feststellung treffen, die ihn selber erheblich, wenn nicht gar vorrangig, berührt.

aa) Grundsätzliches Interessenüberlagerungen können stets auftreten, wenn Private in der Erfüllung hoheitlicher Aufgaben tätig werden. Denn im Unterschied zur Wahrnehmung von Hoheitsaufgaben durch Körperschaften des öffentlichen Rechts ist der mit einer solchen betraute Private als natürliche Person unmittelbar der Versuchung ausgesetzt, vorrangig oder ausschließlich private Interessen zu verfolgen 24^. Unter rechtsstaatlichen Aspekten ist daher bei der Ausübung staatlicher Aufgaben durch Private dafür zu sorgen, daß deren Privatinteressen hinter dem öffentlichen Interesse z u r ü c k t r e t e n 2 4 6 . Eine rechtsstaatlich gebundene Auslagerung staatlicher Aufgaben auf Private setzt notwendig die "Sicherung der staatlichen Motivation" des Privatrechtssubjekts voraus 247 .

244 Vgl. Steiner, Normenkontrollklage, S. 19. Zwar betreibt der Arzt nach § 1 MBO kein Gewerbe, der mit der Berufsausübung einhergehenden Verdienst ist jedoch mehr als eine bloße angenehme Begleiterscheinung. Es gibt eine ganze Reihe von Ärzten, die sich ausschließlich auf die Vornahme von Abtreibungen "spezialisiert" haben, dazu Beckmann, Rheinischer Merkung, 12.7.91, S. 7; ders., Politische Studien 1989, 635, 641; vgl. auch Mayer, zitiert in Ärztezeitung, 9.1.1991; Steiner, in: HofTacker u.a. (Hrsg.), 156, 163. 245

Krüger,

246

Vgl. Steiner, Öffentliche Verwaltung, S. 266.

Allgemeine Staatslehre, S. 874; siehe auch Bansch, S. 114 ff.

138

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

bb) Vergleich mit der Regelung der Sozialberatung nach der Fristenregelung (1974) In einen vergleichbaren Interessenkonfikt konnte der Arzt geraten, der im Rahmen der verfassungswidrigen Fristenregelung (1974) zugleich als Abtreiber und Sozialberater fungieren durfte. Die personelle Trennung von sozialberatendem und abtreibendem Arzt nach heutigem Recht (§ 218 b Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 StGB) dient gerade der Umsetzung eines vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Grundsatzes 24»: Im "Fristenregelungs"-Urteil wurde nämlich u.a. die damalige Form des § 218 c Abs. 1 Nr. 1 StGB a.F. beanstandet, wonach die Sozialberatung durch jeden beliebigen Arzt möglich war, auch durch denjenigen, der anschließend die Abtreibung vorn a h m 2 4 9 . Hierin sah die Senatsmehrheit 250 eine Interessenkollision. Sowohl der Arzt, der die Schwangere über soziale Hilfen für Mutter und Kind informiere, als auch deijenige, der die medizinische Aufklärung vornehme, habe - sofern er selber der von der Schwangeren mit dem an ihn gerichteten Abtreibungswunsch aufgesuchte sei - letztlich ein größeres (finanzielles) Interesse an der Durchführung der Abtreibung als an deren Verhinderung. "Eine Aufklärung in der hier vorgesehenen Weise 2 5 1 mit dem verfassungsrechtlich gebotenen Ziel, auf eine Fortsetzung der Schwangerschaft hinzuwirken, kann von dem Arzt, der von der Schwangeren gerade zu dem Zwecke aufgesucht wird, daß er den Schwangerschaftsabbruch vornehme, nicht erwartet werden." 252

247

Steiner, öffentliche Verwaltung, S. 283. Diesem Ziel dienen beispielsweise die Vorschriften über Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen (§§ 22 ff. StPO, §§ 41 ff. ZPO). Besonders deutlich wird das Bemühen um die Vermeidung solcher nachteiliger Interessenkollisionen in der verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Unabhängigkeit der Richter (Art. 97 GG). Deren Aufgaben können zwar wegen der Regelung des Art. 92 G G bereits grundsätzlich nicht durch Private wahrgenommen werden; dennoch wird das Erfordernis ihrer Unabhängigkeit eigens in der Verfassung verankert. 248 Deutscher Bundestag, 7. WP, Bericht und Antrag des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform vom 3.2.1976, BT-Drs. 7/4696, S. 9/10. 249

BVerfGE 39, 1, 65.

250

Diese Ausführungen lassen leider an manchen Stellen nicht mit letzter Klarheit erkennen, auf welche Art der Beratung - soziale oder ärztliche - sie sich beziehen. 251 252

Unklar ist hier, welche Beratung gemeint ist.

BVerfGE 39, 1, 63. Einiges spricht für einen derartigen Interessenkonflikt: Es ist zu erwarten, daß ein Arzt, der zum Zwecke der Vornahme eines Aborts konsultiert wird, zumindest tendenziell ein größeres Interesse daran haben wird, diesen durchzuführen, als daran, die Schwangere in der Beratung von ihrer Entscheidung abzubringen und damit auf eine Einnahmequelle zu ver-

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

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cc) Übertragung dieser Gedanken auf den nach § 218 a StGB indizierenden Arzt Mindestens in gleicher Weise treffen diese Bedenken auf den nach § 218 a StGB indizierenden Arzt in der gegenwärtigen Ausgestaltung der Abtreibungsregelung zu. Auch hier soll die - angesichts der rechtlichen Unbeachtlichkeit der Erst-Feststell u n g 2 5 3 zudem einzig entscheidende - Feststellung eines Indikationstatbestandes gerade durch denjenigen erfolgen, der in der Regel ein Interesse am Vollzug der Abtreibung und der Absicherung seiner Straffreiheit durch eine positive Indikationsfeststellung hat. So kommt es zwangsläufig zu einer unzulässigen Interessenüberlagerung254

Zu bedenken ist auch, daß die Indikation im Gegensatz zur Sozialberatung, die gem. § 218 Abs. 3 S. 2 StGB für die Straffreiheit der Schwangeren notwendig und ausreichend ist, nach erfolgter Beratung in erster Linie für den abtreibenden Arzt Bedeutung hat. Gerade der Mediziner aber, der die Abtreibung durchführt, stellt nun letztverantwortlich die in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle nur für seine eigene Straffreiheit erforderliche Indikation fest. Der bei fehlender staatlicher Kontrolle über den staatlichen Strafanspruch Verfügende also ist identisch mit dem durch die Verfügung Begünstigten. Damit ist ein Interessenkonflikt, wie ihn das Bundesverfassungsgericht beschrieb, gesetzlich geradezu vorprogrammiert 25 5.

dd) Ergebnis zu d) Eine "Sicherung der staatlichen Motivation" des Indizierenden ist ohne staatliche Kontrolle nicht gewährleistet, da die derzeitige Gesetzeslage eine Interessenüberlagerung in der Person des nach § 218 a StGB indizierenden Arztes unvermeidbar macht.

ziehten (s.o.). Dies gilt umso mehr, als die wegen Abtreibung aufgesuchten Mediziner in der Regel solche sind, von denen bekannt ist, daß sie zur Vornahme von Abtreibungen generell bereit sind. Hinzu kommt der enorme Zeitdruck, dem die meisten Ärzte heutzutage ausgesetzt sind und der ein ausführliches Patientengespräch zur vielgefragten Ausnahme werden läßt (vgl. Anschütz, Ärztliches Handeln, S. 243 f.) Die Befürchtung, daß die auf Fortsetzung der Schwangerschaft gerichtete Beratung allenfalls halbherzig erfolgen wird und die Rechte des ungeborenen Kindes in einer solchen Konstellation keine ausreichende Berücksichtigung erfahren, ist nicht von der Hand zu weisen.

253 s.u. Teü 3

C II.

254 Vgl. Deutscher Bundestag, 8. WP, Bericht der "Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem reformierten § 218 des StGB", BT-Drs. 8/3630, S. 23. 255 Vgl. Bartsch, S. 81, der von der Gefahr des Ersatzes der "Herrschaft des Rechts" durch eine "Herrschaft interessenorientierter Privatmacht" spricht, wenn die richterliche Unabhängigkeit nicht gewährleistet ist.

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Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

e) Das staatliche Rechtsprechungsmonopol (Art. 92 GG) Eine staatliche Kontrolle der ärztlichen Feststellung nach § 218 a StGB ist auch deshalb erforderlich, weil anderenfalls das in Art. 92 GG normierte staatliche Rechtsprechungsmonopol verletzt wird.

aa) Grundsätzliches Teile des Schrifttums schließen gewisse, als "genuine Staatsaufgaben" 25 6 bezeichnete Bereiche hoheitlicher Tätigkeit ausnahmslos von der Übertragbarkeit auf Private aus. Vertreter dieser Ansicht sprechen insbesondere von einem Rechtsetzungs- und Rechtsprechungsmonopol des S t a a t e s 2 5 7 . Andere erkennen die Existenz derartiger Monopole zwar grundsätzlich an, erachten aber in begrenztem Rahmen deren Durchbrechung für zulässig 258 . Übereinstimmung besteht jedoch insoweit, als der Bereich der Strafgerichtsbarkeit von einer Übertragung in private Hände völlig ausgenommen wird. Diese ist nach ganz herrschender Auffassung Kernbestandteil der gem. Art. 92 GG den staatlichen Richtern vorbehaltenen Ausübung der rechtsprechenden Gewalt 2 5 9 . Dieser Aspekt des staatlichen Rechtsprechungsmonopols ist auch vorliegend von B e l a n g 2 ^ .

bb) Der Rechtsprechungsbegriff des Art. 92 GG In der einschlägigen Literatur und Rechtsprechung unterscheidet man zwischen einem formellen und einem materiellen Begriff der Rechtsprechung 2^. Vorliegend 256 So v. Heimburg, S. 22. 257 Scheuner, W d S t R L 29 (1971) 248 f; v.Heimburg, S. 22; vgl. auch Bettermann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, § 73 Rz. 72 ff. 25« Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht I, S. 538; Mennacher, S. 99 ff. (103 f., 109); Sc heuner, DÖV 1952, 609, 615; ferner Bansch, S. 79 ff. 259 Michaelis, S. 54; Mennacher, S. 104; Bauer JZ 1965, 163, 164; Bansch, S. 79 Fn. 236 m.w.N.; Stern, Staatsrecht I, § 20 I V 4; Häberle, DÖV 1965, 369 ff. (372 f.); Schmidt-Bleibtreu/Klein, Anm. 6 zu Art. 92; Volk, ZStW 21 (1971) 405, 419; v.Münch-Meyer, Rz. 6 zu Art. 92; Maunz/Dürig/Herzog/Scholz-//erzo£, Rz. 47 zu Art. 92; Leibholz/Rinck/Hesselberger, Anm. 1 zu Art. 92; so auch BVerfGE 22, 49, 78 mit Verweis auf BVerfGE 8, 197, 207; 12, 264, 274. 260 j)aß neben der staatlichen auch eine private Gerichtsbarkeit existiert - etwa die Schiedsgerichtsbarkeit - fuhrt zu keiner anderen Beurteilung der Situation; denn die Strafgerichtsbarkeit ist wegen der ihr eigenen Verurteilung in Form der Strafe, die die Rechtssphäre des Bürgers besonders berührt, Kernbereich der ausschließlichen staatlichen Gerichtsbarkeit, vgl. Jarass/Pieroth-P/eroiA, Rz. 3 zu Art. 92; siehe ferner Bettermann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, § 73 Rz. 77 ff. 261 Zu diesem Begriff Schmidt-Bleibtreu/Klein, Anm. 2 f. zu Art. 92; vgl. auch BVerfGE 76, 100 ff; Leibholz/Rinck/Hesselberger, Anm. 1 ff. zu Art 92; Maunz/Dürig/Herzog/ScholzRz. 20 ff. zu Art. 92; Bettermann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, § 73 Rz. 17-60.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

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ist mit dem Bundesverfassungsgericht und einem großen Teil der Literatur von einem materiellen Rechtsprechungsbegriff auszugehen262. Danach ist Art. 92 GG vorrangig eine Norm, die aufgrund ihres materiellen Gehalts eine Zuweisung bestimmter Aufgaben an die Gerichte bereits vollzogen h a t 2 6 3. Mit Hesses ist der Begriff der Rechtsprechung i.S.d. A r t 92 GG als Institut zu charakterisieren, das "durch die Aufgabe autoritativer und damit verbindlicher Entscheidung in Fällen bestrittenen oder verletzten Rechts in einem besonderen Verfahren" geprägt i s t 2 6 4 .

cc) Strafausschluß via staatlich nicht kontrollierbarer Indikationsfeststellung als unzulässiger Eingriff in das staatliche Rechtsprechungsmonopol Eine staatlicherseits nicht kontrollierbare Indikationsfeststellung durch einen Privatarzt betrifft den Kernbreich des auf Art. 92 GG gründenden Rechtsprechungsmonopols; denn die ärztliche Feststellung aufgrund einer strafrechtlichen Norm ist dann nicht allein eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit der indizierten Abtreibung, sie erhält in materieller Hinsicht zudem den Charakter einer rechtlichen Entscheidung über die (Nicht-)Verhängung einer Kriminalstrafe 26 (1) Der Richter, der im Einzelfall den Verzicht auf Strafe aus tatsächlichen oder Rechtsgründen ausspricht, entscheidet die Frage nach der Strafbarkeit einer Handlung negativ und zwar in "autoritativer und verbindlicher" Weise. Gleiches vollzieht auch der keiner staatlichen Kontrolle ausgesetzte Mediziner, der durch die positive Indikationsfeststellung sich selbst und der nicht-beratenen Schwangeren die notwendige und entscheidende Strafbefreiungsvoraussetzung schafft. Das Gesetz knüpft die Nicht-Strafbarkeit ausdrücklich an das Vorliegen gewisser Tatumstände. Indem der Arzt diese letztverbindlich als gegeben hinstellt, löst er die vom Gesetz

262 BVerfGE 3, 377, 381; 4, 331, 346; 22, 49, 73 ff.; 60, 175 fT.; 76, 100, 106; Stern, Staatsrecht II, § 43 I 4; BYL-Achterberg, Rz. 111 zu Art. 92; v.Münch-Meyer, Rz. 6 zu Art. 92; Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 547, 548 f.; Rumpf, WdStRL 14 (1956) 136, 149; Bachof W d StRL 14 (1956) 174, 178; Niese, Z S t W 7 0 (1958) 337, 352; Badura, Staatsrecht, Η 2; Friesenhahn, FS-Thoma (1950), S. 21. 263 Schmidt-Bleibtreu/Klein, Anm. 4 zu Art. 92. Im Gegensatz dazu ist Rechtsprechung nach dem formellen Rechtsprechungsbegriff "die Summe der den Spruchgerichten gesetzlich zugewiesenen Funktionen" (Schmidt-Bleibtreu/Klein, Anm. 2 zu Art. 92). Damit käme der Vorschrift des Art. 92 G G lediglich die Bedeutung einer organisationsrechtlichen Norm ohne eigenständigen materiellen Gehalt zu. Eine inhaltliche Ausfüllung des Rechtsprechungsbegriffs hätte durch andere Verfassungsnormen (etwa Art. 19 Abs. 4, 104 Abs. 2 GG) zu erfolgen. 264 Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 548; in diesem Sinne auch Scheuner, FS-Smend, S. 251, 278; Thoma, in: Anschütz/Thoma, Staatsrecht II, S. 124, 129; Roellecke, W d S t R L 34 (1976) 7 ff; Starck, WdStRL 34 (1976) 43 ff.; Stern, Staatsrecht II, § 43 I 4. 265

Vgl. auch Pluisch, S. 123.

142

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

beschriebene Rechtsfolge aus. Von daher unterscheiden sich die Aussagen des "staatsfrei" indizierenden Arztes und des Richters also nicht. (2) Augenscheinlich ist allerdings ein äußerer Unterschied, der jedoch letztlich einer Subsumtion der Tätigkeit des "staatsfrei" indizierenden Arztes unter Art. 92 GG nicht entgegensteht. Die beiden o.g. Feststellungen über die Strafbarkeit einer Handlung unterscheiden sich dadurch, daß der Richter seine Entscheidung in aller Regel266 post festum trifft, während der Mediziner seine und der nicht-beratenen Schwangeren Straffreiheit zeitlich vor dem Abort attestiert. Diese Abweichung hat für die Qualität der jeweiligen Entscheidung in bezug auf die strafrechtlichen Folgen keine Bedeutung. Denn in beiden Fällen wird darüber befunden, ob ein bestimmtes Verhalten mit einem "Unwerturteil" oder dem "Vorwurf der Auflehnung gegen die Rechtsordnung" und der "Feststellung der Berechtigung dieses Vorwurfs"267 belegt werden soll oder nicht. Für den Inhalt dieser Feststellung spielt der Zeitpu ikt, zu dem sie getroffen wird, keine Rolle. (3) Das Rechtsprechungsmonopol gewährleistet darüber hinaus im Interesse des einzelnen Bürgers und des Gemeinwohls, daß Entscheidungen nur von Personen gefällt werden, die mit der erforderlichen Sachkunde ausgestattet und persönlich zuverlässig sind, unabhängig von privaten Interessen h a n d e l n 2 6 8 (vgl. Art. 97 Abs. 1 GG) und deren Auswahl nicht manipulierbar ist. All diese Voraussetzungen sind beim indizierenden und abtreibenden Privatarzt nicht gesichert, sie fehlen teils sogar. Weder ist er ausreichend kompetent, noch unabhängig von den Interessen der Schwangeren; auch seine Auswahl ist durch die freie Arztwahl durchaus manipulierbar. Eine "Privatisierung" der Indikationsfeststellung ist folglich auch aus diesen Erwägungen heraus nicht mit der Verfassung vereinbar.

dd) Ergebnis zu d) Mithin ist die Indikationsfeststellung des staatlicherseits unkontrollierbaren Arztes als Verfügung über den Strafanspruch des Staates dem materiellen Rechtsprechungsbegriff des Art. 92 GG zuzuordnen und unterfällt damit zugleich dem klassischen Rechtsprechungsmonopol des Staates. Auch dies macht eine staatliche Kontrolle der Feststellung des Arztes nach § 218 a StGB notwendig.

266 Jarass/Pieroth-PferoiA, Rz. 2 zu Art. 92; - anders etwa beim vorbeugenden Rechtsschutz. 267 BVerfGE 22, 49, 80. 268 Vgl. Bettermann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, § 73 Rz. 34.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

143

f) Grundrechtsschutz durch Verfahren Darüber hinaus sprechen bei rechtfertigender Indikationsfeststellung auch verfahrensrechtliche Gesichtspunkte für die Notwendigkeit einer staatlichen Kontrolle des indizierenden Arztes; denn dieser entscheidet bei der Feststellung eines Indikationstatbestandes über die Rechtmäßigkeit des Entzugs eines Grundrechts.

aa) Die Literatur In der Literatur allgemein anerkannt ist, daß für die Grundrechtswahrung das Verfahren eine wichtige Rolle spielt 2 6 9 . Teilweise wird sogar in der Garantie eines ordnungsgemäßen Verfahrens die einzige Möglichkeit der Grundrechtsdurchsetzimg oder -gewährleistung gesehen 2 7 *). Man spricht von einem aus den prozessualen Grundrechten, aber auch unmittelbar aus dem materiellen Grundrecht abgeleiteten "Anspruch auf effektiven Rechtsschutz" 271 . Ohne einen solchen Verfahrensschutz besteht in der Tat keine Möglichkeit, das betreffende Grundrecht im Bestreitensfall gegenüber dem Agressor durchzusetzen. Damit aber verlöre das jeweilige Recht nicht nur seine formelle, sondern vor allem seine materielle Bedeutung; es stünde dann nur noch "auf dem Papier", ohne daß sein Inhaber in den Genuß seiner Ausübung käme.

bb) Das Bundesverfassungsgericht Auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewinnt dieser Gedanke zunehmend an Bedeutung. Die Karlsruher Verfassungsrichter leiten seit geraumer Zeit das Gebot eines effektiven Rechtsschutzes durch ein grundrechtswahrendes Verfahren nicht nur aus den festgeschriebenen prozessualen Grundrechten, sondern unmittelbar aus dem materiellen Gehalt des Grundrechts ab. Im "Hamburger-U-Bahnbau"-Urteil entwickelte das Bundesverfassungsgericht diesen Gedanken erstmalig; es führte aus, die Garantie gerichtlicher Kontrolle ergebe sich nicht nur aus Art. 19 Abs. 4 GG, sondern bereits direkt aus dem Grundrecht auf Eigentum (Art. 14 Abs. 1 S. 1 G G ) 2 7 2 . In der "Mülheim-Kärlich"-Entscheidung ent-

269 vgl. Bethge, NJW 1982, 1 ff. m.w.N. 270 Hesse, EuGRZ 1978, 427 ff; Goerlich, DVB1. 1978, 362 ff; Rupp, AöR 101 (1976) 161, 187 ff; Starck,, JuS 1981, 237 ff; vgl. auch Redeker., NJW 1980, 1593, 1595; Lorenz, AöR 105 (1970) 623, 625, 627; Bleckmann, S. 251 f.; vgl. auch Kunig, Jura 1991, 415, 420 f. 271 So Lorenz, AöR 105 (1980) 623 ff; vgl. auch Stürner,

Aufklärungspflicht, S. 31 ff.

272 BVerfGE 35, 348, 361; 37, 132, 141; 39, 276, 294; 45, 297, 333; 49, 220, 225; 52, 391, 407; 53, 30, 57 ff; vgl. auch unlängst BVerfG NJW 1991, 1283 ff; NJW 1992, 359 ff.

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Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

nahm das Gericht auch dem Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) ein Gebot zu effektivem Rechtsschutz. Es entspräche dem objektiv-rechtlichen Gehalt dieses Grundrechts und der daraus folgenden Schutzpflicht, wenn die wirtschaftliche Nutzung der Atomenergie, die die Gefahr einer Beeinträchtigung des Lebensrechts in sich berge, von einer vorherigen staatlichen Genehmigung abhängig gemacht werde 2 7 3 ; seiner Schutzpflicht trage der Staat dadurch Rechnung, daß er die Genehmigung im Einzelfall von einem formalisierten Genehmigungsverfahren und der Prüfung der Genehmigungsvoraussetzungen von Amts wegen abhängig mache 2 7 4 . Das Gericht geht insoweit also sogar von einer Pflicht zur präventiven Kontrolle durch den Staat aus.

cc) Das "Gebot effektiven Rechtsschutzes" und die §§ 218 ff. StGB Unter Anwendung dieses Grundsatzes erfordert auch das Grundrecht des ungeborenen Kindes auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG eine verfahrensmäßige Sicherung 2 7 5. Dies gilt umso mehr, als die prozessualen Grundrechte unmittelbar hier nicht herangezogen werden können. Denn sie setzen entweder das Handeln der öffentlichen Gewalt (Art. 19 Abs. 4 GG) oder ein bereits bestehendes Verfahren (Art. 101 Abs. 1S. 2,103 Abs. 1 GG) voraus oder beziehen sich ausdrücklich nur auf den Freiheitsentzug (Art. 104 Abs. 2 GG). Zudem ist die Gefährdung, der das Kind nach erfolgter Indikationsfeststellung durch den abtreibenden Arzt ausgesetzt ist, höher als diejenige, die das Bundesverfassungsgericht in der o.g. Entscheidung für die Nutzung der Atomenergie annimmt. Da zwischen der Indikationsfeststellung und dem Abort keine weitere Zeit mehr verstreichen muß, bleibt der zum Zeitpunkt der ärztlichen Feststellung abtreibungswilligen Schwangeren zumeist keine Zeit mehr, um von ihrem Entschluß abzurücken. Der Staat ist daher unmittelbar aus dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG heraus verpflichtet, das Lebensrecht des ungeborenen Kindes durch ein Verfahren "von Amts wegen" vor rechtswidrigen Abtreibungen zu sichern; er muß dafür Sorge tragen, daß dem Ungeborenen das Lebensrecht nur entzogen wird, wenn ein rechtfertigender Indikationstatbestand vorliegt 2 ™. Er kann diese Entscheidung nicht ausschließlich einem Privaten überlassen. 273 BVerfGE 53, 30, 57. 274 BVerfGE 53, 30, 59. 275 So auch Schünemann, ZRP 1991, 379, 390 f.; vgl. auch Geiger, in: JVL-Schriftenreihe Nr. 9 (1992), S. 29, 46. 276 Vgl. auch für den Bereich der Abtreibungshilfe nach § 200f RVO W.Esser, 453, 456; siehe ferner v.Hippel, JVL-Schriftenreihe Nr. 4 (1987), S. 17 ff.

SGb 1987,

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

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Innerhalb eines solchen Verfahrens bestünde auch die Möglichkeit, etwa den Vater des Kindes anzuhören, dessen Sachverhaltsschilderung u.U. von der der Schwangeren abweichen und Informationen zutage bringen könnte, die für eine objektive Beurteilung der Lage wichtig sind 2 7 7 . Auch wäre in einem Verfahren die Adoption als mögliche Alternative zur Abtreibung zu erörtern 278 . Ohne ein grundrechtswahrendes Verfahren aber ist eine ausreichende Beachtung der Interessen des Kindes nicht gewährleistet. Ein staatliches Verfahren aber setzt wiederum notwendig die hoheitliche Kontrolle des indizierenden Arztes voraus.

dd) Ergebnis zu 0 Auch unter verfahrensrechtlichen Aspekten ist staatliche Kontrolle der ärztlichen Indikationsfeststellung geboten.

g) Staatliche Indikationsüberprüfung nach dem Willen des Gesetzgebers Schließlich darf nicht übersehen werden, daß der sozial-liberale Reformgesetzgeber selber eine staatliche Kontrolle des indizierenden Arztes durchaus wollte. Das Ausstellen einer "unrichtigen Feststellung über die Voraussetzungen des § 218 a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 und 3" ist nämlich immerhin für den erst-feststellenden Arzt nach § 219 Abs. 1 StGB strafbar. Bereits der Wortlaut dieser Vorschrift verdeutlicht, daß der Gesetzgeber nicht nur von einer grundsätzlichen Unterscheidbarkeit zwischen "richtigen" und "unrichtigen" Indikationen ausgegangen ist, sondern die gerichtliche Überprüfung des Tatbestandsmerkmals "unrichtig" durchaus für möglich und erstrebenswert gehalten hat. Nach Jähnke soll diese Norm daher auch die "sachliche Richtigkeit des Gutachtens (des nach § 219 Abs. 1 StGB feststellenden Arztes, Anm.d.Verf.) g e w ä h r l e i s t e n " 2 7 9 . "Unrichtig" sei ein Gutachten dann, wenn es "in einem wesentlichen Punkt (...) den Tatsachen widerspricht" 28**, wobei «wesentlich» exakt "die Punkte sind, die nach § 218 a StGB für die Entscheidung des abbrechenden Arztes von Bedeutung sind" 2 8 1 .

27 7 Schiinemann (ZRP 1991, 379, 390 f.) spricht in diesem Zusammenhang von einem " Krisenmanagement". 278 Wer die Adoption als humane Konfliktbewältigung grundweg ablehnt, mutet dem ungeborenen Kind stets ungleich mehr zu als der Schwangeren. Zu den unterschiedlichen Auswirkungen von Abtreibung und Adoption auf die betroffenen Frauen vgl. Poensgen, Abschied von den unvergessenen Kindern - Frauen nach Schwangerschaftsabbruch und Adoption, 1991.

2™ LK-Jähnke, Rz. 1 zu § 219 a; so auch SK-Rudolphi,

Rz. 1 zu § 219 a.

280 LK.Jähnkey Rz. 5 zu § 219 a. 2S1 LK-Jähnke, Rz. 5 zu § 219 a; ebenso Sch-Sch-£yer, Rz. 5 zu § 219 a. 10 Esser

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Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

Bei der Entscheidung über das Vorliegen einer Strafbarkeit nach § 219 a StGB ist der Richter also zu einer vollen inhaltlichen Überprüfung der Indikationstatbestände des § 218 a StGB befugt und verpflichtet. Wenn schon eine von ihrem inhaltlichen Ergebnis her bezüglich der Entscheidung des abtreibenden Arztes völlig unverbindliche und somit für den Lebensschutz des Ungeborenen letztlich irrelevante Erst-Feststellung inhaltlich staatlich - d.h. hier gerichtlich - überprüft werden kann, so muß daß erst recht (argumentum de maiore ad minus) für die im Abtreibungsverfahren einzig entscheidenden Indikationen des § 218 a StGB g e l t e n 2 8 2. Dies umso mehr, wenn man - was hier dahinstehen kann - der Auffassung folgt, wonach die Vorschrift des § 219 a StGB lediglich das "beim Schwangerschaftsabbruch vorgeschriebene Verfahren" 283 oder "die Entscheidungsfreiheit der Schwangeren und des abbrechenden Arztes" 2 8 4 als geschütztes Rechtsgut zum Gegenstand hat. Geschütztes Rechtsgut der §§ 218, 218 a StGB ist nämlich, so wiederum Jähnke, das "sich im Mutterleib entwickelnde Leben" 28 *, ein gegenüber dem Rechtsgut "Verfahren" ungleich höherrangiges und daher um so mehr schutzwürdiges Gut. Gleiches zeigen die Stellungnahmen führender, am Reformgesetzgebungsverfahren Beteiligter zu dieser Frage. So sprach Wilkitzki (Regierungsdirektor im damaligen Bundesministerium der Justiz) im Zusammenhang mit der Erst-Feststellung nach § 219 StGB davon, "daß auch dann, wenn eine positive Feststellung getroffen sei, später durch das Gericht festgestellt werden könne, daß keine Indikation vorgelegen h a b e " 2 8 6 . Wenngleich sich diese Passage auch nur auf die (rechtlich unbedeutende) Erst-Feststellung bezieht, so gilt sie "de maiore ad minus" auch und gerade für die eigentlich entscheidende Indikation des abtreibenden Arztes 2 » 7 . An anderer Stelle wird Wilkitzki direkt bezogen auf die Indikation nach § 218 a StGB mit folgender Aussage zitiert: "... ob wirklich eine anerkannte Indikation vorliege, werde unter Umständen erst hinterher durch das Gericht festgestellt" 288 . Der vorstehende Gedanke wird hier nur bestätigt, woraus zu schließen ist, daß im Gesetzgebungsver282 So auch Beckmann, MedR 1990, 301; vgl. ferner Eser (JZ 1991, 1003, 1008), der u.a. aus diesem Grunde eine (allerdings eingeschränkte) gerichtliche Überprüfbarkeit der Indikationsfeststellung befürwortet. Er wendet sich insbesondere gegen die "nicht belegbare Behauptung von Frommer' ( Z R P 1990, 353 Anm. 9), wonach eine gerichtliche Überprüfung der Indikationsfeststellung vom Gesetzgeber nicht gewollt war und verweist auf den Bericht der "Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem reformierten § 218 des Strafgesetzbuches" aus dem Jahr 1980, Deutscher Bundestag, 8. WP, BT-Drs. 8/3630, S. 22 f. 283 LK-Jähnke, Rz. 2 zu § 219 a. 284 Gropp, S. 235. 285 LK-Jähnke, Rz. 15 vor § 218. 286 Deutscher Bundestag, 7. WP, Sten. Dienst, 76. Sonderausschuß-Si. v. 26.1.1976, S. 2426, 2431 f.; 73. Sonderausschuß-Si. v. 3.12.1975, S. 2365, sowie die weiteren Hinweise bei Eser, JZ 1991, 1003, 1008 Fn. 42. 287 Vgl. auch Beckmann, MedR 1990, 301. 288 Deutscher Bundestag, 7. WP, Sten. Dienst, 73. Sonderausschuß-Si. v. 3.12.1975, S. 2365.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

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fahren durchaus von einer gerichtlichen Überprüfung der Indikationen ausgegangen wurde 289 .

h) Ergebnis zu 1. Die vorstehenden Überlegungen ergeben, daß staatliche Kontrolle des indizierenden Arztes erforderlich ist Eine "Privatisierung" der Indikationsfeststellung ist auch auf Basis der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB verfassungsrechtlich nicht haltbar und war darüber hinaus vom Reformgesetzgeber nicht beabsichtigt. Wenn der Staat schon die Indikationsfeststellung von einem dazu nicht qualifizierten Privatarzt vornehmen läßt, so muß er seine Verantwortung gegenüber dem ungeborenen Kind, die ihm aus der ihm obliegenden Schutzpflicht erwächst, umso dringlicher durch eine (effektive) Kontrolle des indizierenden Arztes wahrnehmen.

2. Verfassungsrechtliche Anforderungen an den Zeitpunkt einer staatlichen Kontrolle der ärztlichen Indikationsfeststellung Eine staatliche Kontrolle der ärztlichen Feststellung der Indikationstatbestände nach § 218 a StGB hat sich als verfassungsrechtlich notwendig erwiesen. Offen ist die Frage, zu welchem Zeitpunkt sie zu erfolgen hat, ob eine präventive Kontrolle vor Ausführung der Abtreibung oder eine repressive Überprüfung seiner Feststellung im Nachhinein geboten ist.

a) Präventive Kontrolle Eine präventive Kontrolle übten bereits zur Feststellung einer medizinischen oder eugenischen Indikation nach § 14 Erbgesundheitsgesetz29o die sog. Gutachterkommissionen29 ι in der Zeit vor der Reform des Abtreibungsstrafrechts aus. Gutachterkommissionen waren nach der Fristenregelung (1974) vorgesehen, wenn eine Abtreibung nach Ablauf der zwölften Woche anstand 292 . In diesen Fällen erfolgt

269

So auch Büchner, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 14/90, S. 3, 10 Fn. 43.

290 Gesetz vom 14.7.1933, RGB1.I 539 i.d.F.v. 26.6.1953, RGB1.I 773; vgl. dazu Gante, § 218, S. 24 f.; Spann, S. 283 f. 291 Vgl. Eser, in: Eser/Hirsch (Hrsg.), S. 165 m.w.N.; ferner Spann, S. 283 ff. 292 s.o. Teil 1 A III. Präventiv tätige Gutachterstellen gibt es nach heutigem Recht z.B. noch zur Wahrnehmung der Aufgaben nach § 5 Abs. 1 und 2 KastrationsG (Gesetz über die Gutachterstellen bei den Ärztekammern vom 16.6.1970, GV N W S. 434/SGV N W 2122, zuletzt geändert durch Gesetz vom 18.12.1984, GV N W S. 806).

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Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik auch heute noch eine Präventivkontrolle durch sog. Fachärztekommissionen 29 3.

aa) Präventive Überprüfung als stärkste Form der Kontrolle Prävention dient der Vorbeugung oder A b s c h r e c k u n g 2 ? 4 Präventive Kontrolle durch den Staat erfolgt regelmäßig in der Weise, daß ein bestimmtes Vorhaben vor Ausführungsbeginn von einer staatlichen Instanz auf seine Vereinbarkeit mit dem Recht hin untersucht 295 und je nach Ergebnis erlaubt bzw. genehmigt wird oder nicht 2 9 6 . Eine derartige Kontrolle stellt die stärkste Form aller Überprüfungsmechanismen dar, da sie die Ausführung der beabsichtigten Handlung blockieren soll, falls sich diese als gesetzeswidrig erweist. Der Staat hat in der Regel keine Wahlfreiheit zwischen beiden Kontrollformen. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zufolge hat er jeweils das mildeste unter allen zum gleichen Erfolg führenden Mitteln zu w ä h l e n 2 9 7 . Die Wahl der jeweiligen Kontrollvariante muß sich vor allem am Rang des durch die Überprüfung zu schützenden Rechtsgutes orientieren. So stehen Eingriffe in besonders sensible Grundrechtsbereiche - wie etwa persönliche Freiheit oder Wohnung - generell unter dem Vorbehalt präventiver richterlicher Genehmigung (vgl. Art. 104 Abs. 2, 13 Abs. 2 GG)298. Wegen der Bedeutung des durch den Abort vernichteten Rechtsguts Leben ist unter Zugrundelegung der Rechtfertigungsthese zu § 218 a S t G B 2 9 9 bei der Abtrei293 Dazu Mahrad, S. 80 ff. Nach § 2 Abs. 2 des Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft (Gesetz vom 9.3.1972, GBl. I Nr. 39, S. 526), der aufgrund der betreffenden Regelung im Einigungsvertrag (Vertrag zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag Kap. I I I Abschnitt 1 4 . ) weiterhin besteht, trifft die Entscheidung über "die Zulässigkeit einer später als zwölf Wochen nach Schwangerschaftsbeginn durchzuführenden Unterbrechung" eine Fachärztekommission. Zur vorläufigen Rechtslage und den unterschiedlichen Regelungen des Abtreibungsstrafrechts in beiden Teilen Deutschlands vgl. Stern, DtZ 1990, 289 ff; Schneiders, M D R 1990, 1049 ff; Sachs, DtZ 1990, 193 ff; Reis, NJW 1991, 662 ff; Helgerth/König, JR 1991, 177 ff; Eser, GA 1991, 241 ff.

294 Vgl. dazu Jescheck, S. 59 ff. 295 Vgl. Woljf/Bachof, 296 Kirchhof,

Verwaltungsrecht I, § 48 I I a.

in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. III, § 59 Rz. 195.

297 Vgl. v.Münch-v.Münch, Rz. 55 zur Vorb. Art. 1-19; ders. Rz. 27 zu Art. 20; Schnapp, JuS 1983, 850 ff. 29« Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. III, § 59 Rz. 10. Vgl. hingegen den ähnlich gelagerten Fall der presserechtlichen Vorzensur. Diese Präventivkontrolle ist von Art. 5 Abs. 1 S. 3 G G nach herrschender Ansicht nicht erfaßt, vgl. statt vieler v.Münch-v.Münch, Rz. 40 ff. zu Art. 5. In Anbetracht des hohen Stellenwertes, den die Rechtsordnung der Pressefreiheit zuweist, erscheint eine Vorzensur als unverhältnismäßig.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

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bung nur eine präventive Kontrolle der ärztlichen Indikationstätigkeit sinnvoll und geboten: Überprüft werden soll nämlich die Frage, ob ein Tatumstand vorliegt, der eine Abtreibung rechtmäßig und ohne strafrechtliche Konsequenzen für die Beteiligten möglich macht. Eine Beantwortung dieser Frage kann nur von Interesse sein, solange das ungeborene Kind noch lebt und die Möglichkeit besteht, sein Leben gegebenenfalls durch die Androhung von Strafe zu schützen. Nach erfolgter Abtreibung kann die Schutzfunktion der Kontrolle nicht mehr diesem vernichteten Einzelleben zugute kommen, sondern allenfalls noch generalpräventive Wirkung e n t f a l t e n 3 0 0 . Auch das Bundesverfassungsgericht mag von der Notwendigkeit einer solchen spezialpräventiven Kontrolle ex ante ausgegangen sein, wenn es in der "Fristenregelungs"-Entscheidung davon spricht, "der Staat" habe das Vorliegen der Indikationen zu prüfen und gegebenenfalls zu b e s c h e i n i g e n 301 ; denn derartiges ist nur vor der Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs möglich.

299

Anders sähe es aus, wenn man die Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB ablehnt. Angesichts des bereits angesprochenen (s.o. Teil 2 Β II) Legalisierungsanscheins, der einer Indikationsfeststellung ex ante anhaftet, muß das Fehlen präventiver Kontrolle durch den Staat dann sogar als positiv bewertet werden: Eine präventive Überprüfung der ärztlichen Indikationsfeststellung durch den Staat würde nämlich den jeder Indikationsfeststellung im Vorfeld der Tat ohnehin anhaftenden Legalisierungsanschein noch verstärken: Durch die Einschaltung staatlicher Instanzen in dieses Vor-Verfahren, deren Handeln per se eine größere Überzeugungskraft zukommt als dem Tätigwerden Privater, würde für den Laien die unzutreffende Annahme noch bestärkt, der Staat "erlaube" den Abort in den indizierten Fällen und sei zu dieser Erlaubnis auch befugt (Büchner, ZRP 1991, 431, 434; vgl. auch Kriele, ZRP 1975, 73, 70), obwohl es in Wirklichkeit nur um die Feststellung der Straflosigkeit geht. Insoweit erweckt auch das Schünemann'sche "Krisenmanagement" (ZRP 1991, 379, 390 f.) Bedenken. Den Vorschlägen deijenigen, die die Einrichtung staatlicher Kommissionen fordern (vgl. z.B. den Vorschlag von v.Hippel FAZ vom 1.6.1988, S. 9), liegt der Gedanke zugrunde, man könne durch eine staatlicherseits durchgeführte Indikationsprüfung einer im Vergleich zur heutigen Indikationspraxis größeren Zahl von ungeborenen Kindern das Leben erhalten. Solche Vorstellungen basieren aber letztlich auf dem Gedanken einer Güterabwägung. Man will einige Kinder zur Abtreibung "freigeben", um eine vermeintlich größere Zahl von ihnen zu retten. Eine derartige Abwägung ist aber dort, wo es um das Rechtsgut Leben geht, nicht zulässig: "Der Schutz des einzelnen Lebens darf nicht deswegen aufgegeben werden, weil das an sich achtenswerte Ziel verfolgt wird, andere Leben zu retten. Jedes menschliche Leben - auch das sich erst entwickelnde Leben - ist als solches gleich wertvoll und darf deshalb keiner irgendwie gearteten unterschiedlichen Bewertung oder gar zahlenmäßigen Abwägung unterworfen werden" (BVerfGE 39, 1, 59. Auch der Bundesgerichtshof verneinte im Fall zweier "NS-Ärzte" den rechtfertigenden übergesetzlichen Notstand, obwohl sich die Mediziner darauf beriefen, sie hätten in "geringem" Umfang an der Massentötung Geisteskranker mitgewirkt, um durch "großzügiges" Aussortieren möglichst viele retten zu können (BGH NJW 1953, 513 f.): "Ausschlaggebend war (...) in jedem Fall die Rechtspflicht zur Befolgung des Tötungsverbots. (...) Der herrschenden, von der christlichen Sittenlehre her bestimmten Kulturanschauung widerspricht es, den für die Erhaltung von Sachwerten angemessenen Grundsatz des kleineren Übels anzuwenden und den rechtlichen Unwert der Tat nach dem sozialen Gesamtergebnis abzuwägen, wenn Menschenleben auf dem Spiel stehen."). Zu dieser Problematik ausführlich Küper, JuS 1981, 785 fT. 300 Zu diesem Ergebnis gelangt auch Beulke, FamRZ 1976, 596, 602. 301 BVerfGE 39, 1, 50. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 39, 1,

150

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

bb) Präventive staatliche Kontrolle bei der gegenwärtigen Gesetzeslage? Die Ausgestaltung des derzeitigen bundesdeutschen Abtreibungsstrafrechts sieht keine präventive hoheitliche Kontrolle vor, weder durch den Staat noch durch gemeindliche Gesundheitsämter oder staatlich beauftragte bzw. von den Ärztekammern als Körperschaften des öffentlichen Rechts eingerichtete Gutachterkommissionen. (1) Die nach § 219 Abs. 1 StGB erforderliche Erst-Feststellung kann aus mancherlei Gründen nicht als Instrument einer derartigen präventiven Kontrolle gelten. Sie wird zum einen ebenfalls von einer Privatperson erstellt und kann schon aus diesem Grunde nicht als staatliche Kontrolle angesehen werden. Welchen realen Nutzen darf man sich auch von einer "Kontrolle" versprechen, deren Ergebnis allenfalls eine Entscheidungshilfe 302, nie aber ein rechtlich verpflichtender Maßstab sein kann?303

(2) Auch der Versuch, in der ärztlichen Approbation eine staatliche Präventivkontrolle zu sehen, überzeugt nicht. Verleiten könnte zu dieser Annahme der Umstand, daß ein Rechtsanspruch auf Erteilung der Approbation besteht, wenn die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 BuÄO vorliegen. Da hierzu u.a. der Abschluß einer ärztlichen Ausbildung z ä h l t 3 0 4 und die Indikationsfeststellung "nach ärztlicher Er-

50) können die bei Ablehnung der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB zutreffenden Argumente gegen eine präventive Kontrolle der Indikationsfeststellung als Ersatz für die gebotenen staatlichen Abwehrmaßnahmen (s.o.) nicht entkräften. Zum einen sind diese Bemerkungen zu einem künftigen Indikationenmodell nur ein obiter dictum des die Fristenregelung verwerfenden Urteils (so auch Eser, JZ 1991, 1003, 1009, der allerdings letztendlich zu anderen Ergebnissen gelangt). Zum anderen ergibt sich ihr geringer Stellenwert aus dem Zusammenhang des Urteils. Nachdem das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat, der Gesetzgeber verletze seine Schutzpflicht nicht, wenn er echte Konfliktfalle aus dem Strafrechtsschutz herausnehme, heißt es weiter: "Auch in diesen Fällen darf der Staat sich nicht damit begnügen, bloß zu prüfen und gegebenenfalls zu bescheinigen, daß die gesetzlichen Voraussetzungen fur einen straffreien Schwangerschaftsabbruch vorliegen. Vielmehr wird auch hier von ihm erwartet, daß er Beratung und Hilfe anbietet (...)." Die Zulässigkeit und Notwendigkeit einer staatlichen Indikationsprüfung vor der Tat könnte sich daraus allenfalls dann herleiten lassen, wenn sich das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang mit dem o.g. Problem des Rechtsscheins auseinandergesetzt hätte und der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB gefolgt wäre. Beides ist nicht erfolgt. 302 Dazu unten Teil 3 C III. 303 Zudem enthält das Verfahren nach §§219 Abs. 1 i.V.m. 218 a StGB kein Instrumentarium zur Mißbrauchsabwehr und bietet auch keine Garantie dafür, daß tatsächlich alle rechtlich bedeutsamen Gesichtspunkte - insbesondere diejenigen, die den Interessen des ungeborenen Kindes Rechnung tragen - in die Beurteilung einfließen (vgl. Beckmann, MedR 1990, 301 Fn. 7). Den gesetzlichen Anforderungen an eine Feststellung nach § 219 Abs. 1 StGB genügt ja sogar eine Bescheinigung, die das Vorliegen einer Notlage verneint. Schon aus diesem Grunde vermag die ErstFeststellung entgegen Bernsmann (ArbuR 1989, 10, 15) nicht einmal ansatzweise die Aufgabe einer präventiven Kontrolle zu erfüllen. 304 Vgl. auch Rieger, Rz. 84.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

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kenntnis" zu erfolgen hat, könnte der Eindruck entstehen, damit sei eine Garantie für ein Handeln "de lege artis" in jeder Hinsicht gegeben. Abgesehen davon, daß eine derartige Annahme die Existenz sog. ärztlicher Kunstfehler unbeachtet ließe, ist über die rein medizinischen Kenntnisse hinaus beim Schwangerschaflsabbruch vielfach - ja wie gezeigt sogar ü b e r w i e g e n d e s . d i e Fähigkeit zu nicht-medizinischen Bewertungen gefragt. Schon insoweit reicht die Garantie eines "kunstgerechten" ärztlichen Handelns - und nur ein solches kann nach einer medizinischen Ausbildung erwartet werden - nicht aus. (3) Auch das allgemeine Standesrecht stellt keine Präventivkontrolle im o.g. Sinne dar. Zwar bindet es den Arzt an den Staat insoweit, als es ihn zu gewissenhafter Berufsausübung (§ 1 BuÄO, § 1 MBO, § 26 Abs. 1 HeilBerG NW) verpflicht e t 3 0 6 . Doch werden auch Verstöße gegen diese berufsrechtlichen Verpflichtungen erst im Nachhinein geahndet 307 .

cc) Ergebnis zu a) Das gegenwärtige Abtreibungsstrafrecht sieht keine staatliche Präventivkontrolle der Indikationsfeststellung vor3°8. Eine solche wäre jedoch erforderlich. Das Rechtsgut Leben wird durch eine Abtreibung irreversibel zerstört. Ohne staatliche Kontrolle der Indikationsfeststellung bliebe ungewiß, ob die Erlaubnis zur Abtreibung rechtmäßigerweise erteilt wird. Dies wäre verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar. Daher hat der Staat - etwa durch Gutachterkommissionen - vor Ausführung der Abtreibung zu prüfen, ob diese gerechtfertig ist oder nicht. Fehlt es an einer rechtfertigenden Indikation, ist staatliche Abwehr des Angriffs auf das Leben des ungeborenen Kindes geboten.

b) Repressive Kontrolle der ärztlichen Indikationsfeststellung Das rechtsstaatliche Bedürfnis nach Kontrolle der Indikationsfeststellung des abtreibenden Arztes sowie das Fehlen einer präventiven Überprüfung seiner Tätigkeit durch den Staat machen eine repressive Kontrolle unentbehrlich. Eine derartige hoheitliche Überprüfung beurteilt das Vorliegen der ante festum festgestellten Indikationsvoraussetzung im Nachhinein. 305 Dazu Teil 3 Β I I .

306 Vgl. Beulke,, FamRZ 1976, 596, 602. 307 Vgl. zur Berufsgerichtsbarkeit Spann, S. 313 ff.; Laufs, Arztrecht, Rz. 29, 38. 308 Kluth, NJW 1986, 2348; SK-Rudolphi, Rz. 23 vor § 218; Beulke, FamRZ 1976, 596, 601; Büchner, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 14/90, S. 3, 9.

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Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

aa) Standesgerichtliche Selbstkontrolle als Ersatz für die Überprüfung der Indikationsfeststellung durch staatliche Gerichte? Wie bereits erwähnt 3 0 9 , sehen einige Autoren in der standesrechtlichen Bindung des Arztes eine Garantie für dessen Qualifikation. Da das ärztliche Standesrecht in den jeweiligen Kammergesetzen 310 auch eine Kontrollinstanz zur Wahrung seiner Grundsätze in Form von Standesgerichten vorsieht, liegt es nahe, diese rein standesrechtlichen Instrumente auf ihre Eignung zur repressiven Indikationskontrolle hin zu prüfea Man könnte sich insoweit auf den Standpunkt stellen, eine repressive Konrolle der Indikationsfeststellung durch staatliche Gerichte werde schon mit Hinweis auf die vorhandene Standesgerichtsbarkeit, die Verstöße von Standesangehörigen gegen Berufs- und allgemeine Standespflichten ahndet 3 1 1 , überflüssig. Hier ist die sog. Wesentlichkeitstheorie 312 zu beachten. Danach sind alle wesentlichen Eingriffe in Rechtspositionen des Bürgers, insbesondere solche, die dessen Grundrechte beeinträchtigen 3!3, vom staatlichen Gesetzgeber selber zu regeln; sie dürfen also nicht der Regelungsbefugnis autonomer Satzungsgewalten - wie etwa den berufsständischen Kammern - überlassen bleiben3 H Aus diesem Grundsatz heraus hat der Gesetzgeber zugleich einzugrenzen, was standesrechtlicher Kontrolle verbleibt. Gleichsam als "Kehrseite" der Eingrenzung der durch die Standesorganisationen regelbaren Bereiche ergibt sich, welche Materie der standesrechtlichen Gerichtsbarkeit und Kontrolle unterfällt. Der Abort gerät als Angriff auf das Leben des ungeborenen Kindes in Kollision mit dessen Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und der staatlichen Schutzpflicht. Daher ist die Regelung der Abtreibungsfrage nach rechtsstaatlichen Grundsätzen der autonomen Satzungsgewalt ärztlicher Standesorganisationen entzogen. Aus gleichem Grunde entspricht eine rein standesrechtliche Kontrolle dieses Vorganges post festum nicht rechtsstaatlichen Anforder u n g e n 3 ^ . Des weiteren folgt aus dem Erfordernis rechtsstaatlicher Überwachung der Ausführung staatlicher Aufgaben, daß der Staat diese Überprüfung selbst vorzunehmen hat und nicht berufsständischen Körperschaften überlassen darf* 16.

309

s.o. Teil 3 Β I I 5, Teil 1 I V 4b.

310 Vgl. z.B. § 48 ff HeilBerG NW. 311 Schwerd, in: Schwerd (Hrsg.), S. 265. 312 S.o. Teil 1 I V 4d. 313 Vgl. BVerfGE 47, 46 (LS) 47; siehe auch den sog. Facharzt-Beschluß des BVerfG, NJW 1972, 1504, 1506 und LS 2. 314 Vgl. dazu Schenke, NJW 1991, 2313 fT. 315 Vgl. auch Laufs, Arztrecht, Rz. 8 m.w.N.; ders., NJW 1988, 1499, 1500. 316 Vgl. dazu ausführlich Schreiber, 2349; v. Heimburg, S. 82.

Notwendigkeit, S. 29 ff. (34 f.); Kluth, NJW 1986, 2348,

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

153

bb) Formelle oder materielle Kontrolle? Staatliche Kontrolle ist mit unterschiedlicher Intensität denkbar, so z.B. lediglich als formale Überprüfung. Eine solche würde sich auf die Prüfung beschränken, ob der abtreibende Mediziner zur positiven Erkenntnis eines Indikationstatbestandes gelangt ist. Für eine rein formelle Kontrolle der ärztlichen Indikationsfeststellung fehlt aber schon der formellé Kontrollgegenstand; denn das Gesetz verlangt für diese im Gegensatz zur Indikation nach § 219 Abs. 1 StGB keine D o k u m e n t a t i o n e n . Deutlich wird dadurch, daß formale Gesichtspunkte bei dieser Indikation eine untergeordnete Rolle spielen. Eine rein formale Überprüfung entspräche auch nicht den o.g. rechtsstaatlichen Grundsätzen. Wenn eine Verpflichtung des Staates zur Kontrolle von Personen, die staatliche Aufgaben ausführen, besteht, ist diese nur effektiv, wenn deren Vollzugstätigkeit auch inhaltlich, also danach überprüft wird, ob tatsächlich eine Notlage vorliegt, die die Straffreiheit der Beteiligten verfassungsrechtlich hinnehmbar macht.

c) Ergebnis zu 2. Die dem Staat obliegende repressive Kontrolle als materielle Überprüfung der Indikationsstellung des abtreibenden Arztes hat ex post durch ein staatliches Gericht zu erfolgen. Dies wird - trotz einiger Divergenzen bezüglich der Frage nach dem Umfang der repressiven Kontrolle (Stichwort: eigener "gerichtsfreier" Beurteilungsspielraum des A r z t e s 3 1 8 ) - sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur allgemein anerkannt 319.

3. Der Umfang einer gerichtlichen Überprüfung der ärztlichen Indikationsfeststellung nach § 218 a StGB Nachdem sich eine staatliche Kontrolle der Indikationsfeststellung als notwendig erwiesen und sich gezeigt hat, daß bei der gegenwärtigen Gesetzeslage eine präventive Kontrollmöglichkeit des Arztes fehlt, steht nunmehr die eingangs angesprochene Frage nach dem Umfang der einzig verbleibenden repressiven Überprüfung der ärztlichen Feststellung an. Zu erörtern ist, ob dem abtreibenden Arzt bei der In-

317 BGH NJW 1985, 2752, 2753. 318 S.u. Teil 3 Β I I I 3. 319 BGH NJW 1985, 2752, 2753; BayObLG JR 1990, 338; Kluth, NJW 1986, 2348 ff.; Dreher/Tröndle, Rz. 13 zu § 218 a; SK-Rudolphi, Rz. 25 a zu § 218 a; Lackner, Rz. 10 zu § 218 a; Stürner, JZ 1990, 709, 712; ders. Jura 1987, 76 f.; Sch-Sch-£rer, Rz. 16 zu § 218 a; selbst Frommel, ZRP 1990, 351, 353 räumt eine begrenzte gerichtliche Überprüfung ein.

154

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

dikationsfeststellung ein eigener Beurteilungsspielraum verbleibt, der einer gerichtlichen Überprüfung entzogen ist.

a) Meinungsstand Wie schon erwähnt 3 2 0 , gehen die Ansichten hierzu auseinander.

aa) Meinung 1: Bejahung eines unüberprüfbaren ärztlichen Beurteilungsspielraums In Rechtsprechimg und Literatur wird teilweise die Existenz eines eigenen ärztlichen Beurteilungsspielraumes bei der Indikationsfeststellung nach § 218 a StGB befürwortet. (1) Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes befand am 9.7.1985 321 über die Anerkennung des Schadensersatzanspruches einer Mutter gegenüber einem Gynäkologen wegen fehlgeschlagener Abtreibung. Er wies die Revision des Beklagten unter grundsätzlicher Anerkennung derartiger Schadensersatzansprüche 322 als unbegründet ab. Einem grundsätzlichen Bekenntnis zur materiellen Überprüfbarkeit der Feststellungen nach §§ 218 a und 219 Abs. 1 StGB schließt sich die Aussage an, aus der Beschränkung auf die "ärztliche Erkenntnis" als Beurteilungsquelle des Mediziners ergäben sich indessen "Grenzen für die Nachprüfbarkeit der ärztlichen Entscheidung". Da die Indikationsvoraussetzungen "zwangsläufig nicht durchweg objektivierbar" seien, gelangte der Bundesgerichtshof zu dem Ergebnis, daß letztlich gerichtlich nur nachprüfbar sei, "ob die Indikationsstellung «nach ärztlicher Erkenntnis» in der damals gegebenen Situation vertretbar erscheint oder nicht." 3 2 3 A m 3.12.1991 Schloß sich der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs im Ergebnis der vorstehenden Auffassung an. "Die Bedeutung des ungeborenen Lebens" - so der Bundesgerichtshof - verlange eine verfassungskonforme Auslegung der §§ 218 ff. StGB, die "seinen Schutz soweit wie möglich gewährleistet" 324 . Aufgabe des

320 s.o. Teil 3 Β I I I 1. 321 BGHZ 95, 199 ff. (VI Z R 244/83) = FamRZ 1985, 1011 fT. = NJW 1985, 2752 ff. (zitiert wird im Folgenden jeweils aus dem Abdruck in der NJW). 322 BGH NJW 1985, 2752, 2755; zur "Kind-als-Schaden-Problematik" vgl. Stürner, Jura 1987, 76, 77; ders., JZ 1986, 122 ff; Grunsky, Jura 1987, 82 ff; Cramer , Gen- und Genomanalyse, S. 154 ff.; ders., MedR 1992, 14 ff; Deuchler, Wrongful Birth, 1984; Franzki, VersR 1990, 1181 ff.; mit anderem Ergebnis Dannemann, VersR 1989, 676 fT. 323 BGH NJW 1985, 2752, 2753. 324 BGH NJW 1992, 763, 766.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

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Richters sei es aber nicht, "das Gesetz so zu gestalten, wie der eine oder andere es gerne gestaltet sähe, weil er es so für richtig hielte; Sache des Richters ist es vielmehr, das Gesetz so anzuwenden wie es gestaltet ist (Art. 20 Abs. 3 G G ) " 3 2 5 . Zweifel bei der Auslegung des Gesetzes dürften "nicht zu Gunsten der Strafbarkeit behoben werden". Unter Beachtung dieses Grundsatzes und der Tatsache, daß die Indikationsfeststellung ein nicht voll objektivierbarer Vorgang sei, habe die Auslegung des Arztes daher, "wenn sie vertretbar war, rechtfertigende Wirkung" 3 2 ^ Das Gericht ist also auf eine Prüfung der Vertretbarkeit der ärztlichen Feststellung beschränkt. Noch weiter schränkte das Oberlandesgericht Düsseldorf in einer Entscheidung vom 21.5.1987 327 die gerichtliche Nachprüfbarkeit ein: "Der ärztlichen Beurteilung (der Indikationsvoraussetzungen, Anm.d.Verf.) ist aber vom Gesetzgeber ein weites Ermessen eingeräumt worden, in das nicht eingegriffen werden soll, auch nicht durch den Richter" 32 8. Selbst eine Vertretbarkeitsprüfung wird abgelehnt. Das Landgericht Memmingen 3 2 9 folgte im Rahmen eines der sog. Memminger-Prozesse dieser Auffassung des Oberlandesgerichts Düsseldorf. (2) In Anlehnung an diese Rechtsprechung vertreten auch einige Stimmen des rechtswissenschaftlichen Schrifttums die Ansicht, dem abtreibenden Arzt sei bei der Indikationsfeststellung ein eigener Beurteilungsspielraum zuzugestehen, der einer gerichtlichen Überprüfung Grenzen setze 330 . Die vom Bundesgerichtshof praktizierte Beschränkung der Überprüfung auf die Feststellung der Vertretbarkeit oder Unvertretbarkeit der ärztlichen Entscheidung wird zwar teilweise

325 BGH NJW 1992, 763, 766. 326 BGH NJW 1992, 763, 768. 327 O L G Düsseldorf, NJW 1987, 2306. 32« O L G Düsseldorf, NJW 1987, 2306, 2307. 329 L G Memmingen, Urt. v. 5.5.1989, 1 Kls 23 Js 9443/86 (zitiert nach Beckmann, MedR 1990, 301 Fn. 2). 330 Eser, JZ 1991, 1003 ff.; ders., in: Eser/Hirsch (Hrsg.), S. 164; Sch-Sch-Eser, Rz. 16 zu § 218 a; Frommel, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 14/90, S. 12 ff.; dies., ZRP 1990, 351 ff.; Köhler, GA 1988, 435 ff; Oberlies, Streit 1988, 82; dies., Streit 1987, 125 ff; Augstein/Koch, S. 86; wohl auch Bernsmann, ArbuR 1989, 10, 16; Kaiser, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 14/90, S. 21 ff; Hülsmann, NJW 1992, 2331, 2336; ders., StV 1992, 81, 85 (Hülsmann verweist in diesem Zusammenhang jedoch unzutreffenderweise auf das vereinzelt auch innerhalb der StPO geltende Opportunitätsprinzip und auf Gnadenakte als Ausnahmen von der gerichtlichen Überprüfbarkeit: das Opportunitätsprinzip der StPO bedeutet keine Privatisierung der Entscheidung über das Absehen von Strafverfolgung, da diese Entscheidung nicht durch Private, sondern durch die Staatsanwaltschaft erfolgt; Gnadenakte sind auch ein untauglicher Vergleichspunkt, da sie ausschließlich mit positiven Wirkungen für die Beteiligten verbunden sind und nicht - wie die Abtreibung - für einen der Beteiligten tödlich enden).

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Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

übernommen 331 , teilweise aber als "wohl zu weit subjektivierend" abgelehnt 332 . Auf eine "rundum ausgeleuchtete Objektivität" der Erkenntnis komme es dennoch nicht a n 3 3 3 .

bb) Meinung 2: Ablehnung eines unüberprüfbaren ärztlichen Beurteilungsspielraumes Nach anderer Auffassung ist die Indikationsfeststellung angesichts ihrer rechtlichen und tatsächlichen Bedeutung inhaltlich durch die Gerichte in vollem Umfang überprüfbar. Ein eigener Beurteilungsspielraum des abtreibenden Mediziners wird nicht anerkannt. (1) In einem Revisionsverfahren anläßlich eines der sog. Memminger-Prozesse hob das Bayerische Oberste Landesgericht am 26.4.1990 ein Urteil des Landgerichts Memmingen 3 3 4 auf* 3 *. Das Landgericht sei u.a. zu Unrecht vom Vorliegen einer allgemeinen Notlage ausgegangen. Ein Umstand, der das Absehen von Strafe im betreffenden Fall ermöglicht hätte, habe nicht vorgelegen. Dies nachzuprüfen sei dem Gericht keineswegs verwehrt, da "die gerichtliche Überprüfung dieser tatsächlichen Voraussetzungen (...) nicht dadurch ausgeschlossen (wird), daß der Gesetzestext Indikationen «nach ärztlicher Erkenntnis» verlangt" 33 ^ Dem voran ging eine Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts aus dem Jahre 1978. Auch dort sprach sich das Gericht für die materielle Überprüfbarkeit der Indikationen aus, ohne dies allerdings näher zu problematisieren oder gar zu begründen 33?. Auch das Oberlandesgericht Bremen - die Vorinstanz in dem

331 So Fromme/, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 14/90, S. 12, 14. Ulsenheimer, in: Laufs/Uhlenbruck u.a. (Hrsg.), Arztrecht, § 143 Rz. 36. Desgleichen findet sich auch in der Pres seerklärung des Deutschen Juristinnenbundes zum § 218 (Streit 1989, 132 ff.), für die ebenfalls Fromme! verantwortlich zeichnete; vgl. auch Harrer, MedR 1990, 178, 179 f.

«2 Sch-Sch-£jer, Rz. 16 zu § 218 a. 333 33

Eser, in: Eser/Hirsch (Hrsg.), S. 164; ders., JZ 1991, 1003, 1010 f.

* L G Memmingen, zitiert nach Beckmann, MedR 1990, 301 Fn. 2.

33 * BayObLG (RReg. 3 St 78/89) NJW 1990, 2339 ff. = JR 1990, 338 ff. = BayObLGSt 1990, 49 ff. = JZ 1991, 1042 ff. (zitiert wird im Folgenden aus dem Abdruck in der NJW). Diese Entscheidung verwarf erstmalig in letzter Instanz die Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB. (Bereits vor der Fassung der §§ 218 ff. StGB in ihrer heutigen Form, aber nach Aufhebung der Fristenregelung durch das Bundesverfassungsgericht ging der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung vom 25.8.1975 von der gerichtlichen Übrprüfbarkeit der Indikationstatbestände aus; BGH 2 StR 541/74, abgedruckt i n J Z 1977, 139 mit Anm. Schroeder); zu prozessualen Fragen im Zusammenhang mit dieser Entscheidung vgl. Lorenz, M D R 1992, 313 ff. 33

* BayObLG NJW 1990, 2328, 2329.

337

BayObLG Urteil vom 22.3.1978 (RReg 5 St 265/77), M D R 1978, 951 f.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

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Verfahren vor dem Bundesgerichtshof, in welchem das o.g. Urteil vom 9.7.1985 erging - ging von einer Überprüfbarkeit der ärztlichen Feststellung aus, wenn es ausführt, daß bei einem "Streit über die Rechtmäßigkeit des ärztlichen Eingiffs" die Nachprüfbarkeit der Frage, ob eine Indikation vorgelegen habe, "Sache des Gerichts" s e i 3 3 8 . Ferner wurde diese Ansicht von einer Reihe unterinstanzlicher Gerichte vertreten, so etwa vom Landgericht Kiel in einer Entscheidung vom 29.9.1983339 und vom Amtsgericht Celle in einem Beschluß vom 9.2.1987340. (2) In der Literatur meldeten sich alsbald gegen die hier zur Diskussion stehende Auffassung des Bundesgerichtshofs kritische Stimmen, die einen unüberprüfbaren Beurteilungsspielraum des Arztes bei der Indikationsfeststellung vornehmlich aus verfassungsrechtlichen Gründen ablehnten und sich für eine umfassende gerichtliche Überprüfung der ärztlichen Feststellung a u s s p r a c h e n 3 4 i . Verkenne der Arzt die tatsächliche Lage, sei dessen Strafbarkeit nach den allgemeinen Irrtumsregeln zu b e u r t e i l e n 3 4 2 j womit dem Umstand Rechnung getragen werde, daß ihm eine umfassend objektive Erfassung der Lage häufig nicht gelinge. In der Folgezeit festigte sich diese Ansicht in weiten Teilen des Schrifttums; sie wird inzwischen gar als "herrschend" bezeichnet343.

b) Analyse der verschiedenen Argumente und eigene Stellungnahme Im Folgenden sollen nun die in der aktuellen Diskussion gängigen Argumente für und wider einen gerichtsfreien Beurteilungsspielraum des Arztes dargestellt und erörtert werden.

«β O L G Bremen Urteil vom 18.10.1983 (1 U 221/82 (b)), VersR 1984, 288 ff. 339 L G Kiel (4 Ο 237/83), VersR 1984, 451 f. 340 A G Celle (25 V I I Κ 3470 SH), NJW 1987, 2307 ff. 341 Vgl. z.B. Kluth, NJW 1986, 2348 ff; ders., JZ 1992, 533; Stürner, JZ 1986, 122 ff; ders., Jura 1987, 76 ff; ders., JZ 1990, 709 ff; Büchner, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 14/90, S. 3 ff; Gössel BT, § 10 Rz. 23; Philipp, Jura 1987, 86 ff (insbesondere zur Frage, ob die Krankenkassen das Vorliegen eines Indikationstatbestandes prüfen müssen); Dreher/Tröndle, Rz. 13 zu § 218 a; SK-Rudolphi, Rz. 25a zu § 218 a; Lackner, Rz. 10 zu § 218 a; Otto, JR 1990, 342 ff; ders., JR 1992, 210 ff; Beckmann, MedR 1990, 301 ff; Pluisch, S. 119 ff. (124).; vgl. auch Lackner, NStZ 1992, 331 ff 342 Welche Irrtumsregel anwendbar ist, richtet sich nach der systematischen Einordnung der Indikationstatbestände. Auf Basis der Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB wäre nach den Regeln über den Irrtum über Rechtfertigungsgründe zuverfahren (dazu Wessels, AT, § 11 III). Stürner will den Verbotsirrtum ( § 1 7 StGB) anwenden (Jura 1987, 75, 76) und Tröndle die Regelung des § 35 Abs. 2 StGB heranziehen (Dreher/Tröndle, Rz. 10 vor § 218); sieht man die Indikationen als Strafausschließungsgründe an, wäre nach den Regeln über den Irrtum über solche zu verfahren (vgl. dazu Wessels, AT, § 12 I I I 1 sowie Dreher/Tröndle, Rz. 31 zu § 16); vgl. ferner LK-Jähnke, Rz. 26 f. zu § 218 a. 343 So Eser, JZ 1991, 1003, 1008/1009.

158

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

aa) Der Streit um den Beurteilungsspielraum bei der Auslegung "unbestimmter Rechtsbegriffe" im Verwaltungsrecht Bei der Indikationsfeststellung im Rahmen des § 218 a StGB hat der Arzt eine Reihe von Begriffen auszulegen und anzuwenden, die rechtstechnisch zur Gruppe der "unbestimmten Rechts- oder G e s e t z e s b e g r i f f e " 344 zählen. Allen voran ist das Tatbestandsmerkmal der (Un-)Zumutbarkeit in § 218 a StGB von Bedeutung34*. Die konkrete Ausfüllung der zumeist auf der Tatbestandsseite angesiedelten "unbestimmten Rechtsbegriffe", die besonders häufig im Verwaltungsrecht Anwendung f i n d e n 3 4 * , ist oft schwierig. Zumeist geht es um Fragen der Erkenntnis 347 , etwa der tatsächlichen Geeignetheit eines Beamtenanwärters (§§ 7, 9 B B G 3 4 8 , 4 B R R G 3 4 9 ) oder der Zuverlässigkeit eines Gastwirts i.S.d. Gaststättengesetzes350 (§§ 4, 21). Überdies kann problematisch sein, welche Sachverhaltsbewertung - die der Verwaltungsbehörde oder des Gerichts - im Einzelfall entscheidend ist. Es ist umstritten, ob dem gesetzlich berufenen Anwender wegen der Unbestimmtheit dieser Begriffe ein eigener Beurteilungsspielraum zusteht 351 . Vorliegend ist zweifelhaft, ob der Arzt aufgrund des Tatbestandsmerkmals «nach ärztlicher Erkenntnis» einen eigenen Beurteilungsspielraum bei der Ausfüllung der unbestimmten Rechtsbegriffe des §218 a StGB hat. Da sich aus der im Verwaltungsrecht geführten Diskussion für den vorliegenden Streitpunkt hilfreiche Schlüsse ergeben können, sei hier kurz auf diese Kontroverse eingegangen. (1) Das verwaltungsrechtliche Schrifttum anerkennt trotz teils unterschiedlicher Ansatzpunkte überwiegend einen einer gerichtlichen Überprüfung nur beschränkt zugänglichen Beurteilungsspielraum der Verwaltung bei der Anwendung "unbestimmter Rechtsbegriffe" 3*2. Teilweise wird sogar eine reine "Vertretbarkeitsprüfung" 3 * 3 durch die Gerichte bejaht - ähnlich wie aus den o.g. Entscheidungen des Bundesgerichtshofs 3*4 bekannt. Begründet wird dies mit dem Bestreben des 344

Vgl. dazu umfassend Maurer, § 7 Rz. 17. Dazu oben Teil 3 Β I I 4.

346 Maurer ( § 7 Rz. 24) bezeichnet u.a. den Begriff des "unbestimmten Rechtsbegriffs" als "den derzeit umstrittensten Bereich der Verwaltung". 347

Maurer, § 7 Rz. 19.

34« Bundesbeamtengesetz i.d.F.v. 11.12.1990, BGBl. I S. 2682. 349 Beamtenrechtsrahmengesetz i.d.F.v. 12.9.1990, BGBl. I S. 2002. 3

*o Gaststättengesetz i.d.F.v. 16.12.1986, BGBl. I S. 2441.

351 Für den Bereich der Strafzumessung vgl. Bruns, S. 1; Siebert, 30, 320 fT. Maurer, § 7 Rz. 20; Bachof, JZ 1972, 208; Wolff/Bachof,

S. 93; siehe auch BGHSt Verwaltungsrecht I, § 31 I c 4.

353 uie t § 2 I; Achterberg, § 18 Rz. 42; Jesch, AöR 82 (1957) 163, 172 fT. 354 BGH NJW 1985, 2752 ff.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

159

Gesetzgebers, durch die Verwendung "unbestimmter Rechtsbegriffe" der größeren Erfahrung und Sachkunde und -nähe der Verwaltung Rechnung zu tragen; in gewissen Bereichen lasse er daher unterschiedliche Wertungen zu und räume der Entscheidung der Verwaltung insbesondere dann den Vorrang ein, wenn die Entscheidungen unwiederholbar seiend. Teile des Schrifttums folgen dem nicht und fordern unter Verweis auf die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG und die ebenfalls gerichtlich nachprüfbaren Generalklauseln des Zivilrechts eine umfassende gerichtliche Kontrolle 3 5 6 . Henkel hält insbesondere zur Ausfüllung des Zumutbarkeitskriteriums ausschließlich den Richter berufen 357 . (2) Das Bundesverwaltungsgericht lehnt es grundsätzlich ab, der Verwaltung einen unüberprüfbaren Beurteilungsspielraum einzuräumen; es geht vielmehr von einer vollständigen gerichtlichen Nachprüfbarkeit der Auslegung "unbestimmter Rechtsbegriffe" durch die Verwaltung aus 35 8. In Anbetracht der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG sei eine gerichtliche Überprüfung der Anwendung "unbestimmter Rechtsbegriffe" geboten, insbesondere wenn im Einzelfall Grundrechte eingeschränkt w ü r d e n 3 5 ? . Von den vorgenannten Ausnahmefällen, in denen nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts ein unüberprüfbarer Beurteilungsspielraum der Verwaltung besteht, seien der Bereich der Prüfungs 36**- und prüfungsähnlichen 361 Entscheidungen genannt, sowie die beamtenrechtliche Beurteilung 362 und die Entscheidungen wertender Art durch weisungsfreie, mit Sachverständigen oder Interessenvertretern besetzte Ausschüsse 363 . Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet die gerichtliche Kontrolle geradezu als notwendiges Korrektiv für die Verwendung "unbestimmter Rechtsbegriffe" 364. Spe-

355 Maurer., § 7 Rz. 20. 356 Forsthoff,

Verwaltungsrecht I, § 51; Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht II, S. 655.

357 Henkel, FS-Mezger, S. 249, 262 ff., 309; Maurer, § 7 Rz. 21. 358 Vgl. BVerwGE 15, 207, 208; 23, 194, 200 f.; 24, 60, 63 f.; 26, 65; 31, 149, 152; 35, 69, 72 ff. m.w.N. 359 Vgl. BVerwGE 45, 309, 324; 49, 169, 181 f. 360 Vgl. statt vieler BVerwGE 70, 143. 361 Vgl. statt vieler BVerwGE 65, 303, 311 (ZVS). 362 Vgl. statt vieler BVerwGE 61, 176, l 5. 363 Vgl. statt vieler BVerwGE 77, 75 ff Weitere gesetzlich vorgesehene Einzelfälle: BVerwGE 72, 300, 316 (Wyhl-Urteil); BVerwGE 72, 38, 54 (Aufnahme in den Krankenhausbedarfsplan). 364 BVerfGE 49, 168, 181.

160

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

ziell für den Bereich der Prüflingsentscheidungen schrieb es unlängst in zwei Beschlüssen eine stärkere gerichtliche Kontrolle festes. (3) Übereinstimmung besteht also darin, daß die Anerkennung eines gerichtsfreien Beurteilungsspielraumes nur dann gerechtfertigt ist, wenn die Behörde gegenüber dem Gericht einen Vorsprung an Kompetenz, Sachnähe (etwa bei der beamtenrechtlichen Beurteilung) oder Erfahrung hat. Anderenfalls ist ein unüberprüfbarer Beurteilungsspielraum - weder als Regel noch als Ausnahme - haltbar. Die o.g. Behörden oder Institutionen, denen auch das Bundesverwaltungsgericht einen eigenen Beurteilungsspielraum zugesteht, sind zudem "neutral", d.h. von den Wünschen und der Auswahl des zu Beurteilenden unabhängig. In anderen Fällen - etwa bei den Prüfungsentscheidungen - rechtfertigt sich die Anerkennung eines eigenen Beurteilungsspielraumes durch die Schwierigkeiten, die beim Nachvollzug einer einmaligen, nicht wiederholbaren Prüfungssituation e n t s t e h e n 3 6 6 . All diese Voraussetzungen, die den Beurteilungsspielraum der Verwaltungsbehörde rechtfertigen können, fehlen beim indizierenden Arzt. Bereits unter dem Aspekt der "größeren Sachkunde und Sachnähe" kann ihm ein unüberprüfbarer Beurteilungsspielraum bei der Indikationsfeststellung nicht eingeräumt werden 3 ^, fehlt es ihm doch - wie zuvor a u s g e f ü h r t 3 ^ - zumeist an der entsprechenden Qualifikation hierzu. Größere Sachnähe kann beim indizierenden Arzt ebenfalls nicht festgestellt werden, da ihm keine besseren Mittel als dem Gericht zur Verfügung stehen, um Kenntnisse über das Vorliegen eines Indikationstatbestandes zu erhalten. Einen gegenteiligen Schluß zieht jedoch der Bundesgerichtshof: die unzureichende Befähigung des Arztes zur objektiven Beurteilung insbesondere des Zumutbarkeitskriteriums im Rahmen der §§ 218 ff. StGB ist für den 1. Strafsenat gerade ausschlaggebend für die Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle auf eine Vertretbarkeitsprüfung und damit für die Anerkennung eines gerichtsfreien Beurteilungsspielraumes369.

Der Arzt ist zudem in weitem Umfang abhängig von den Angaben der ihn mit Abtreibungswunsch aufsuchenden Schwangeren. Deren Konfliktlage ist auch nicht mit einer unwiederholbaren Prüfungssituation vergleichbar. Für die Anerkennung einer Indikation kommt es gerade auf das objektive Vorliegen von Umständen an, die eine Notlage begründen, nicht aber - wie bei einer Prüfungsentscheidung - auf

365 BVerfG NJW 1991, 2005 ff.; NJW 1991, 2008 ff; vgl. dazu Niehues, NJW 1991, 3001 ff. 366 Vgl. BVerfG NJW 1991, 2005, 2007. 367 Zur Sachkenntnis der Gerichte s.u. Teü 3 Β I I I 3 b ff. 36« s.o. Teil 3 Β II. 369 BGH NJW 1992, 763, 766.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

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ein höchstpersönliches Fachurteil des Arztes mit stark subjektiven E l e m e n t e n 3 70. Die für eine Indikationsfeststellung notwendigen Umstände aber sind im Nachhinein durchaus zu rekonstruieren und daher auch von einem Gericht nachzuvollziehen. Legt man die Maßstäbe der "Lehre vom Beurteilungsspielraum" 371 zugrunde, ist folglich ein solcher dem indizierenden Arzt nicht einzuräumen 37 2.

bb) Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Formulierung "nach ärztlicher Erkenntnis" Die Befürworter eines gerichtsfreien Beurteilungsspielraumes des Arztes berufen sich zum Teil auf Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Formulierung "nach ärztlicher Erkenntnis" (§ 218 a StGB). Sie legen diese Formulierung in der Weise aus, daß der Arzt die Entscheidung über das Vorliegen einer Indikation rein subjektiv anhand der ihm nach seiner Erkenntnis zugänglichen Fakten zu fallen habe, ohne dabei "quasi-richterliche Erhebungen" anzustellen 373 . Diese Interpretation ist nicht haltbar. (1) Geht man lediglich vom Wortlaut der Formulierung aus, drängt sich die geradezu banale Frage auf: Nach welch anderer, wenn nicht nach ärztlicher Erkenntnis sollte ein Arzt mit rein medizinischer Vorbildung eine wie auch immer geartete Feststellung treffen? Urteilt nicht ein Richter entsprechend auch nur nach "richterlicher Erkenntnis"? Schon von daher liegt die Überlegung nahe, dieser Terminus sei im Grunde rechtlich belanglos. Das aber hieße, daß von einer gerichtlichen Nachprüfbarkeit der Indikationsfeststellung auszugehen wäre - wie es bei jedem anderen Tatbestandsmerkmal der Normen des Strafgesetzbuches der Fall ist374

370 Vgl. BVerfG NJW 1991, 2005, 2007. 371 So Maurer, § 7 Rz. 20. 372 Die auf Art. 19 Abs. 4 G G gestütze Argumentation zur Ablehnung eines gerichtsfreien Beurteilungsspielraums kann - unabhängig von der Frage ihrer tatbestandlichen Anwendbarkeit - hier nicht übernommen werden; denn es geht - da es sich um eine repressive, also nach der Abtreibung einsetzende Kontrolle handelt - nicht um die verfahrensmäßige Sicherung der Rechte des ungeborenen Kindes, sondern um eine strafrechtliche Regelung, die die Feststellung der Strafbarkeit oder Straflosigkeit der Abtreibung zum Gegenstand hat. 373 Eser, in: Eser/Hirsch (Hrsg.), S. 164; ders., JZ 1991, 1010 f. 374 Siehe dazu auch Stürner (Jura 1987, 75, 76 f.), der das Wortlaut-Argument deshalb nicht überzeugend findet, weil mit der "ärztlichen Erkenntnis" auch ein Hinweis auf den jeweiligen Erkenntnisstand des Arztes gemeint sein kann. 11 Esser

162

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

Die Verfechter eines eigenen Beurteilungsspielraums des Arztes schließen sich dieser Sichtweise aber keineswegs an. Bereits der Reformgesetzgeber der 70er Jahre - so wird argumentiert - sei im Ergebnis von einem unüberprüfbaren Beurteilungsspielraum ausgegangen. Die Zubilligung eines solchen sei ein Kompromiß gewesen, da man sich durch das Bundesverfassungsgericht an der Einführung einer Fristenregelung gehindert sah 3 7 *. Nur die inhaltlichen Anforderungen an das Feststellungsverfahren seien umstritten gewesen; an eine gerichtliche Überprüfung der Indikationsfeststellung habe niemand gedacht. Dieses Vorbringen läßt sich jedoch mit einem Verweis auf die o b e n 3 7 6 angeführten Aussagen aus der Reformdebatte entkräften, aus denen hervorgeht, daß der sozial-liberale Gesetzgeber durchaus von einer Überprüfbarkeit der Indikationsfeststellung ausging. Doch selbst, wenn der Gesetzgeber bei seinen damaligen Beratungen an eine solche Überprüfbarkeit nicht gedacht haben sollte, kann daraus nicht gefolgert werden, daß er eine solche Kontrolle hat ausschließen wollen. (2) Die Befürworter eines eigenen Beurteilungsspielraumes fuhren des weiteren an, der Reformgesetzgeber habe "den Spielraum, den das Bundesverfassungsgericht gelassen hatte", voll ausschöpfen wollen. Dies sei auch der Grund dafür gewesen, den Wortlaut des § 218 b StGB a.F. (Fristenregelung 1974) zu ändern. Danach konnte eine jenseits der Zwölf-Wochen-Frist liegende Schwangerschaft straffrei abgebrochen werden, wenn bestimmte Indikationen "nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft" vorlagen. Nunmehr enthalte § 218 a StGB statt dessen die Formulierung "nach ärztlicher Erkenntnis", die weniger leicht auf einen objektivierbaren Tatbestand und somit gerade auf einen eigenen Beurteilungsspielraum hinweise 377 . Ein Blick in die Literatur zeigt jedoch, daß für die Wahl des Begriffs "nach ärztlicher Erkenntnis" an Stelle der Formulierung "nach Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft" andere Gründe ausschlaggebend waren. Wie Eser darlegt, habe durch diese Begriffswahl verdeutlicht werden sollen, daß der letztindizierende Mediziner seine Prüfung nicht auf medizinisch-wissenschaftliche Aspekte beschränken dürfe, sondern "alle ärztlich bedeutsamen Faktoren, einschließlich des Wertes des ungeborenen Lebens" 378 mitzuberücksichtigen habe. Gestützt wird Eser dabei von Aussagen verschiedener Mitglieder des Sonderausschusses für die

375

So Fromme/, ZRP 1990, 351, 353 Fn. 9, ohne dies allerdings historisch belegen zu kön

nen. 376 s.o. Teil 3 Β I I I lg. 377 Frommel, ZRP 1990, 351, 353 Fn. 9. 378 Sch-Sch-.Eter, Rz. 16 zu § 218 a. Diese Auslegung wird unterstützt vom Bundesgerichtshof ( B G H NJW 1992, 763, 766).

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

163

Strafrechtsreform, die keineswegs auf eine Tendenz zur Subjektivierung der Indikationsfeststellung schließen lassen3?? (4) Zudem ist die Interpretation eines Begriffes von seiner Entstehungsgeschichte her nur dann einwandfrei, wenn sie zu Ergebnissen führt, die im Einklang mit der Verfassung und dem Gesetzeswortlaut s t e h e n 3 80. Allein der Hinweis auf die gesetzesgeschichtliche Herkunft eines Wortes trägt noch keine Auslegung. Die Zubilligung eines unüberprüfbaren Beurteilungsspielraums im Rahmen der Indikationsfeststellung entspricht aber wegen der damit verbundenen Subjektivierung des Lebensschutzes für Ungeborene diesen Voraussetzungen gerade nicht 3 8 1 . Der Wortlaut und die Entstehungsgeschichte der Formulierung "nach ärztlicher Erkenntnis" stützen daher die Anerkennung eines unüberprüfbaren Beurteilungsspielraumes bei der Auslegung der "unbestimmten Rechtsbegriffe" des §218 a StGB nicht.

cc) Verstoß gegen das Prinzip der Rechtssicherheit Neben den bereits erörterten verfassungsrechtlichen S c h r a n k e n 3 8 2 } die einer "Privatisierung" der Indikationsfeststellung entgegenstehen, würde die Anerkennung eines gerichtsfreien Beurteilungsspielraums des Mediziners gegen den aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Grundsatz der Rechtssicherheit 383 verstoßen38^ "Für den Bürger bedeutet Rechtssicherheit in erster Linie Vertrauensschutz." 385 Mit dieser knappen Formulierung umschreibt das Bundesverfassungsgericht den wesentlichen Kern dieses Rechtsgrundsatzes. Rechtssicherheit bedeutet vor allem Rechtsklarheit, Bestimmtheit der Rechtsnormen, Verläßlichkeit der Rechtsordnung 3 8 6 . Im Sinne der Wahrung dieses Verfassungsprinzips ist eine umfassende gerichtliche Überprüfung der Indikationsfeststellung post festum, nicht aber eine "Privatisierung" dieses Vorgangs, unerläßlich. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man

379 Vgl. MüUer-Emmert, Bardens, Köster, in: Deutscher Bundestag, 7. WP, Sten. Dienst, 75. Sonderausschuß-Si. v. 4.1.1976, S. 2396 f.; ferner Plu isch, S. 123. 380

Larenz, Methodenlehre, S. 313 ff., 325 ff.; siehe auch Geiger, Abweichende Meinungen,

S. 46. 3

«i S.o. Teil 3 Β I I I 1, 3b.

3

«2 S.o. Teil 3 Β I I I 1.

383

Dazu umfassend Maunz/Dürig/Herzog/Scholz-i/erzo^, Rz. 61 ff. zu Art. 20 (VII).

384

So auch Pluisch, S. 122; vgl. Büchner, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 14/90, S. 3, 10.

38

5 BVerfGE 13, 261, 271; vgl. dazu auch Muckel, S. 59 ff.

386

Degenhart, Staatsrecht I, Rz. 254.

164

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

bei der Anwendung des Grundsatzes der Rechtssicherheit auf die Konstellation der Indikationsfeststellung beim Abort auch die Position des Hauptbetroffenen - des ungeborenen Kindes - berücksichtigt und nicht allein auf die Interessen der Schwangeren und des Arztes abstellt. (1) An eben dieser Ausgewogenheit mangelt es der Ansicht Frommeis 3 8 7 , die einen Verstoß gegen das Prinzip der Rechtssicherheit gerade umgekehrt in der Möglichkeit unbeschränkter gerichtlicher Überprüfbarkeit der Indikationsfeststellung sieht. Die Indikationstatbestände seien ohnehin nicht objektivierbar und die zugrunde liegenden Sachverhalte allenfalls in einer "Atmosphäre des Vertrauens" 388 zu beurteilen; daher könne es eine "Richtigkeit" ihrer Feststellung und folglich auch deren Nachprüfung durch ein Gericht nicht geben. Diese Argumentation geht darüber hinweg, daß es bei der Indikationsfeststellung um die Entscheidung über das Leben eines Menschen geht. Die dem Lebensschutz des ungeborenen Kindes dienenden §§ 218 ff. StGB können ihre Funktion allenfalls dann erfüllen, wenn die tatsächlichen Indikationsvoraussetzungen zweifelsfrei gegeben und folglich auch nachprüfbar sind 3 8 9 . Die Autorin geht insofern von einem unhaltbaren Verständnis von Rechtssicherheit aus, da sie die Belange des tödlich Hauptbetroffenen außer Acht läßt und Rechtssicherheit nur aus der Sicht von Schwangerer und Arzt - der potentiellen Täter eines Delikts nach §§ 218 ff. StGB definiert. (2) In dieselbe Richtung zielt das Argument, die Rechtssicherheit sei gefährdet, da es bei einer nachträglichen gerichtlichen Kontrolle nicht mehr möglich sei, einen Indikationstatbestand im Voraus mit letzter Bestimmtheit zu e r m i t t e l n 3 9 0 . Auch hier wird der Kern des Problems verkannt. Bei keinem anderen Tatbestand des Strafgesetzbuches kann sich der Täter im Vorfeld attestieren lassen, daß die von ihm beabsichtigte Tat keine strafrechtlichen Konsequenzen nach sich ziehen w i r d 3 9 1 . Hieran nimmt niemand mit der Argumentation fehlender Rechtssicherheit Anstoß. So kann sich etwa, wer eine "geringwertige Sache" zu stehlen gedenkt, nicht im Voraus deren "Geringwertigkeit" i.S.d. § 248 a StGB bescheinigen lassen und damit das geringere Strafmaß sichern 39 ^ Wer Zweifel an der Strafbarkeit einer beabsichtigten Handlung hat, mag einen Rechtsanwalt konsultieren oder eine 387

Frommel, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 14/90, S. 12, 14.

388

Vgl. auch Eser, JZ 1991, 1003, 1011 f, der einen Gegensatz zwischen der "Öffentlichkeit des Gerichtssaales" und dem "vertrauensvollen Arzt-Patient-Gespräch" vermitteln will. 38

* Vgl. Geiger, Jura 1987, 60, 64.

3

*> Oberlies, Streit 1988, 81, 82; vgl. auch dies., Streit 1987, 125 ff.

» i Vgl. Tröndle, 392

Zur Sache 1/92, S. 642 ff.

Man beachte die Behandlung des "Falles Hackethal" durch Gerichte und Polizei, V G Karlsruhe, JZ 1988, 208 ff. (= NJW 1988, 1536 ff.)

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

165

gemeinnützige Rechtsberatungsstelle aufsuchen. Auch dort erhält er keine Straffreiheitsgarantie. Das Interesse des potentiellen Täters daran, vor Strafe sicher zu sein, darf nicht mit Rechtssicherheit verwechselt und somit anerkannt werden. Würde das Strafrisiko durch eine positive Indikationsfeststellung ausgeschaltet, entglitte dem Staat das letzte Präventivmittel, das eine Unrechtstat verhindern kann.

dd) "Indikationsfeststellung nicht objektivierbar" Nochmals sei auf das zuvor angesprochene Argument eingegangen, eine umfassende nachträgliche Kontrolle sei wegen mangelnder Objektivierbarkeit der Indikationsfeststellung nicht geboten 3 93. Dieses Argument ist allenfalls insoweit schlüssig, als es auf die in der Tat höchst subjektive Kenntniserlangung des Arztes in bezug auf die Notlage hinweist 3 9 4 . Jedoch ist die daraus auch vom Bundesgerichtshof 395 gezogene Folgerung, die Lage der Schwangeren in einer Konfliktsituation sei grundsätzlich nicht objektivierbar, abzulehnen. Sicherlich ergeben sich für den indizierenden Arzt Schwierigkeiten bei der Subsumtion der Tatbestandsmerkmale des § 218 a StGB. Diese Problematik ist aber keineswegs auf die Abtreibung beschränkt, sondern allen "unbestimmten Rechtsbegriffen" - und vor allem dem auch für § 218 a StGB relevanten Zumutbarkeitsbegriff - immanent 39 ^. über die Tauglichkeit des Begriffs der Zumutbarkeit als Gesetzesbegriff läßt sich durchaus streiten 397 (insbesondere, wenn von seiner Anwendung das Leben eines Menschen abhängt) - wenn und solange er aber verwendet wird, kann man sich seiner Anwendung nicht durch den Verweis auf eine scheinbar fehlende Objektivierbarkeit entziehen; vielmehr gilt es gerade, ihn - etwa durch eine situationsbezogene, Fallgruppen bildende Rechtsprechung - möglichst zu konkretisie-

393 Auch der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes stützt seine Ansicht u.a. darauf, daß "die Erhebung aller relevanten Faktoren und die daraus folgende Diagnose und Prognose der Belastung der Schwangeren durch die Notlage sowie die Bewertung der Schwere ihres Entscheidungskonflikts zwangsläufig durchweg nicht objektivierbar" seien, weshalb notwendig "stets ein gewisser ärztlicher Beurteilungsspielraum" verbleibe, BGH NJW 1985, 2752, 2753; ähnlich Eser, JZ 1991, 1003, 1011. 394 Bereits oben (Teil 3 Β I I 4) wurden die (verfassungs-)rechtlichen Schwierigkeiten und Umstimmigkeiten genannt, die sich aus einer derart schwachen Informationsbasis des Indizierenden ergeben. 39

* B G H NJW 1985, 2752, 2753; B G H NJW 1992, 763, 767.

396

S.o. Teil 3 Β I I 4.

397

Vgl. Preis, ZfG 1988, 319 ff.

166

Teil 3: Der ärztliche Abort und die Rechtfertigungsthese

ren398. Dazu aber darf das Gericht in der Aufklärung des Einzelfalls nicht beschränkt sein. Auch das Bundesverfassungsgericht dürfte bezüglich der allgemeinen Notlagenindikation in der "Fristenregelungs"-Entscheidung davon ausgegangen sein, daß diese sehr wohl objektiv feststellbar sei und tatsächlich vorliegen müsse; denn das Gericht spricht von einer Pflicht "des Staates" zur Prüfung bzw. Bescheinigung des Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen der straffreien Abtreibung gerade im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zu dieser Indikation 3 ". Wenn eine Objektivierbarkeit und eine Harmonisierung in der Auslegung "unbestimmter Rechtsbegriffe" selbst im Instanzenzug nicht möglich sein sollte, wäre damit die Untauglichkeit des Zumutbarkeitsbegriffs im Rahmen der §§ 218 ff. StGB erwiesen.

ee) "Eigener Beurteilungsspielraum zum Schutz des Arztes" Ein anderes Argument der Vertreter eines eigenen ärztlichen Beurteilungsspielraums bei der Indikationsfeststellung zieht ebenfalls im weiteren Sinne die Rechtssicherheit heran. Durch die Anerkennung eines solchen "Freiraumes" müsse der Arzt davor geschützt werden, daß post festum ein Gericht zu einer von der ärztlichen Entscheidung abweichenden Auffassung bezüglich des Vorliegens eines Indikationstatbestandes gelangen und dem Mediziner die Straffreiheit (die er sich selber zuvor "bescheinigt" hat) wieder aberkennen könne^oo. Es diene daher der Sicherheit des Arztes - für die Schwangere wird in der Regel ohnehin § 218 Abs. 3 S. 2 StGB zur Anwendung kommen -, wenn dieser davon ausgehen könne, daß kein Gericht im nachhinein zu anderen Feststellungen als den von ihm getroffenen kommen könne4**1. Ihn statt dessen auf die Anwendbarkeit allgemeiner Irrtumsregeln zu verweisen, grenze an "fast schon nicht mehr entschuldbaren Zynismus" 4 0 2 . Diese Gedankenkette ist allenfalls insoweit nachvollziehbar, als der Arzt in der Tat bis zum Zeitpunkt der Veijährung eines möglicherweise nicht-indizierten Aborts, zumindest aber bis zum Abschluß eines eventuell eingeleiteten (Straf-) 398 Vgl. die Resolution des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und des Vorstandes des Berufsverbandes der Frauenärzte zur Reform des § 218 (1976), die einen Gesetzeswortlaut fordern, der "die Garantie einschließen muß, daß das Vorliegen einer entsprechenden Indikation im Einzelfall tatsächlich mit allen Mitteln zweifelsfrei bewiesen wird" (in: Lau, S. 173). 399

BVerfGE 39, 1, 50; vgl. auch füuth, ZBR 1987, 240, 242.

*oo So BGH NJW 1985, 2752, 2754. In diesem Sinne sind auch Eser (Sch-Sch-£ser, Rz. 16 zu § 218 a) und Frommel (Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 14/90, S. 12, 15) zu verstehen, die die gerichtliche Überprüfung auf die dem Arzt zum Abtreibungszeitpunkt zugänglichen Erkenntnismöglichkeiten sowie darauf beschränkt wissen wollen, ob der Arzt alle wesentlichen Punkte berücksichtigt und eine zutreffende Abwägung der kollidierenden Interessen vorgenommen hat. 401 So auch BGH NJW 1992, 763, 766. 402 Eser, JZ 1991, 1003, 1013.

Β. Der nach § 218 a StGB indizierende Arzt

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Verfahrens keine abschließende Gewißheit über seine eigene Straffreiheit erlangen kann, wenn man die Möglichkeit einer umfassenden gerichtlichen Überprüfung seiner Feststellung bejaht. Verfassungsrechtlichen Anforderungen hält das Vorgetragene aber nicht stand. So wendet Otto zu Recht dagegen ein, auch eine solche Sicht setze sich dem Vorwurf der unzulässigen Subjektivierung des Lebensschutzes Ungeborener aus. Zwar würde durch einen eigenen Beurteilungsspielraum dem Arzt das Strafbarkeitsrisiko genommen, doch geschähe dies auf Kosten der Lebenschancen des Kindes, dessen Sein oder Nicht-Sein ganz dem persönlichen Ermessen des Entscheidenden, d.h. dem des indizierenden Arztes, unterworfen würde 4 0 3 . In diesem Zusammenhang ist wieder darauf zu verweisen, daß die §§ 218 ff. StGB vorrangig dem verfassungsrechtlich verankerten Lebenschutz des noch nicht geborenen Kindes dienen 404 . Andere Interessen - wie etwa das vorstehend beschriebene des Arztes - haben zurückzutreten, sobald sich aus ihrer Verwirklichung Nachteile für den Hauptbetroffenen ergeben. Der Arzt sieht sich hier auch keiner außergewöhnlichen Unsicherheit g e g e n ü b e r 4 0 5 ; er trägt vielmehr nur das Risiko, welches jeder Täter bei der Begehung einer grundsätzlich rechtswidrigen und strafbaren Handlung auf sich nimmt. Dieses Risiko übernimmt der Arzt freiwillig. Er befindet sich im Gegensatz zur Schwangeren niemals in einer von § 218 a StGB angesprochenen Notlage. Dem Risiko der Strafverfolgung kann er am ehesten entgehen, indem er nämlich jede Mitwirkung an Abtreibungen unterläßt.

ff) "Fehlende Sachkenntnis der Gerichte" Das Argument, einer gerichtlichen Überprüfbarkeit der Indikationsfeststellung stünde die mangelnde Sachkunde der Gerichte auf diesem Gebiet entgegen40^, überzeugt ebenfalls nicht. (1) Es verwundert, daß ein so häufig mit Schadensersatzprozessen gegen Ärzte befaßter Spruchkörper wie der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes gerade in diesem Punkt nicht die sich aufdrängende Parallele zu den zahlreichen 40? "Kunstoder Behandlungsfehler-Prozessen 40« " gegen Ärzte sieht 4 0 9 . Dort geht es um Fälle,

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