Der arthurische Versroman von Chrestien bis Froissart: Zur Geschichte einer Gattung 9783111328973, 3484520833, 9783484520837


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German Pages 278 [280] Year 1980

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einführung
I. DIE AUSEINANDERSETZUNG MIT CHRESTIEN: DER ARTUSROMAN ZWISCHEN TRADITION UND INNOVATION
II. ZUR WIRKUNGSGESCHICHTE DES ARTHURISCHEN VERSROMANS
Verzeichnis der Abkürzungen
Literaturverzeichnis
Namens- und Sachverzeichnis
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Der arthurische Versroman von Chrestien bis Froissart: Zur Geschichte einer Gattung
 9783111328973, 3484520833, 9783484520837

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BEIHEFTE ZUR Z E I T S C H R I F T FÜR R O M A N I S C H E

BEGRÜNDET FORTGEFÜHRT

VON

GUSTAV

VON WALTHER

HERAUSGEGEBEN

Band 177

GRÖBER

VON

VON KURT

PHILOLOGIE

WARTBURG

BALDINGER

BEATE

SCHMOLKE-HASSELMANN

Der arthurische Versroman von Chrestien bis Froissart Zur Geschichte einer Gattung

MAX N I E M E Y E R VERLAG 1980

TÜBINGEN

Gedruckt

mit Unterstützung

der Deutschen

Forschungsgemeinschaft

und

der

Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schmolke-Hasselmann, Beate: Der arthurische Versroman von Chrestien bis Froissart: zur Geschichte e. Gattung / Beate Schmolke-Hasselmann. - Tübingen : Niemeyer, 1980. (Zeitschrift für romanische Philologie : Beih.; Bd.-177) I S B N 3-484-52083-3

I S B N 3-484-52083-3

I S S N 0084-5396

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1980 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz: Fotosatz-Maschinensatz Erich Eisele, Stuttgart Einband: Heinr. Koch, Tübingen D7

Inhaltsverzeichnis

EINFÜHRUNG

Ι

Gattungsterminologie Ziele der Untersuchung Stand der Forschung Textgrundlage Evolution der Gattung Probleme der Chronologie Chrestiens W e r k e im Beziehungsgefüge der Gattung

I 2 3 8 IJ 19 21

I. D I E AUSEINANDERSETZUNG MIT CHRESTIEN: DER ARTUSROMAN ZWISCHEN TRADITION UND INNOVATION

26

Kapitel 1 Zum Vorwurf des Epigonentums

26

D e r Epigonenbegriff Die ambivalente Beziehung zu Chrestien K r i t i k an Chrestien Das Arthurische als bewährte mattere Chrestien als literarische Autorität Traditionsbewußtsein und Diskontinuität

26 29 31 32 33 33

Kapitel 2 Verfestigung der Form

3j

Der arthurische Romananfang Motivdoppelung, Zweiteilung und Doppelkomposition Artusszenen-Struktur

35 41 42

Kapitel 3 Veränderungen im Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit Das brüchige Ideal der Table Ronde Sinn und Notwendigkeit der Integration D i e Unvollkommenheit des Königs Artus Die Rolle des K o n f l i k t s in der arthurischen Gemeinschaft Die A u f l ö s u n g des aue»i«re-Gedankens Sinn und Unsinn der aventure Z u m Problem der costume Yder - ein Anti-Artus-Roman

. . .

.

.

.

48 48 51 51 57 61 65 73 76

.

V

Kapitel 4 E i n e I d e a l f i g u r im Z w i e s p a l t : G a u v a i n - R i t t e r o d e r L i e b h a b e r . Gauvain als Haupthandlungsträger Der chevalier as demoiseles - Triumph und Scheitern Ein neues Motiv: der scheintote Gauvain Die Parodierung des Ideals: La Vengeance Raguidel Gauvain-Roman

.

86 86 91 100

-

ein

Anti106

Kapitel j A l t e matiere,

neuer sens: E r n e u e r u n g v o n I n h a l t u n d A u s s a g e

·

Die Erweiterung des corto/iie-Gedankens in Meraugis Das Prinzip der Variation: Fergus als 'neuer' Perceval Die Thematisierung der Ebenbürtigkeit des Paares: Durmart Anti-Erec-Roman

·

116 117 130

-

ein 139

Kapitel 6 Teilaspekte der Chrestien-Rezeption: V o m Plagiat zur Reminiszenz

149

Chrestiens Werke als 'Quelle' für spätere Artusdichter Das 'Chrestien-Zitat' Das 'Chrestien-Motiv' Die Erwähnung bekannter Figuren im Kontext neuer Romane . . . Die zeitliche Parallelisierung späterer Romane mit dem Werk Chrestiens

I I . ZUR WIRKUNGSGESCHICHTE DES ARTHURISCHEN VERSROMANS ·

.

149 152 160 169 174

.178

Kapitel 1 P o p u l a r i t ä t des arthurischen V e r s r o m a n s

178

Zur Überlieferung Beliebtheit und Verbreitung

180 181

Kapitel 2 Das Publikum Merkmale des Publikums Politisch-soziale Probleme in den arthurischen Versromanen Zum Auftraggeber von Chrestiens Erec Glastonbury und die insulare Artusdichtung Fergus Escanor Meliador Dialektprobleme Explizite Hinweise der Autoren auf ihr Zielpublikum VI

184

.

.

184 .187 190 201 208 220 228 232 233

Kapitel 3 D i e B e d e u t u n g der f r a n z ö s i s c h e n A r t u s d i c h t u n g f ü r E n g l a n d •

·

.23 7

Das Verhältnis von England, Schottland und Frankreich in nichtarthurischen Dichtungen Schottische Artusdichtung als Reaktion auf französische Versromane . Artusdichtung als englische Nationalliteratur

237 240 245

V E R Z E I C H N I S DER A B K Ü R Z U N G E N

249

LITERATURVERZEICHNIS

250

N A M E N S - UND SACHVERZEICHNIS

262

VII

Vorwort

Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 1978 von der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen als Dissertation angenommen. Das Entgegenkommen des Herausgebers, Professor Dr. K u r t Baldinger, und die Großzügigkeit der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie der Philosophischen Fakultät Göttingen ermöglichten ihre Veröffentlichung als Beiheft zur Zeitschrift für romanische Philologie. Meine Lehrer Professor Dr. Wilhelm Kellermann ( f ) und Professor Dr. Hanspeter Schelp ( f ) haben in mir das Interesse an der Literatur des Mittelalters geweckt und mich in vieler Hinsicht angeregt. Besonderen Dank aber schulde ich Herrn Professor Dr. Ulrich Mölk, der diese Arbeit betreut hat. Sein freundlicher R a t und seine Zeit haben mir stets zur Verfügung gestanden; er hat mich ermutigt und gefördert. Bei der Korrektur haben mich Hannelore Schnorrenberg, Claudia Schöning, Gertrud Meyer, Dr. Albert Gier, Michael Heintze und U d o Schöning freundschaftlich unterstützt. Meinen Eltern und meinem Mann danke ich f ü r ihre Geduld und ihr Vertrauen. Dem M a x Niemeyer Verlag, der die sorgfältige und zuverlässige Drucklegung besorgt hat, möchte ich ebenfalls meinen D a n k aussprechen. Göttingen, im April 1980

Beate Schmolke-Hasselmann

IX

Einführung

Ziele der Untersuchung Die Beschäftigung mit den Werken des Dichters Chrestien de Troyes hat sich in der Geschichte der Artusforschung immer von neuem als lohnend erwiesen. Chrestien hat als erster eine Reihe von arthurischen Motiven und Episoden zu einer wohlstrukturierten, umfangreichen Komposition verknüpft und diese wiederum mit neuem, der ursprünglichen Aussage der Einzelelemente übergeordnetem Sinn erfüllt. Die literarästhetische und literaturgeschichtliche Bedeutung dieser ersten Artusromane hat ihnen Weltgeltung verschafft, und eine Betrachtung der Werke späterer Artusdichter kann diese Bedeutung nicht schmälern; es wird sich im Gegenteil erweisen, daß die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung den Wert der frühen Artusdichtung für mehrere Autorengenerationen im 13. Jahrhundert und später bestätigen und mit neuen Argumenten bekräftigen. Die Arbeit versteht sich als Beitrag zu einer Rezeptionsgeschichte der Dichtungen Chrestiens und zu einer Gattungsgeschichte des arthurischen Versromans in französischer Sprache. Evolutive Veränderungen von Chrestiens Erec et Enide bis zu Froissarts Meliador - vom ersten bis zum letzten Beispiel der Gattung - zu beschreiben, ist unser Hauptanliegen. Es ist wenig aufschlußreich, die Werke der Artusdichter nach Chrestien im Vergleich zu ihm unter dem Aspekt der Qualitätsminderung zu werten. Die Fragestellung richtet sich deshalb nicht darauf, Chrestiens Werk erneut als unerreichten Höhepunkt der gesamten Artusdichtung zu bestätigen; vielmehr soll es als am Anfang der Geschichte unserer Gattung stehend begriffen werden, einer Gattung, die im französischen Sprachraum über eine Spanne von zweihundert Jahren zu beobachten ist. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Analyse der Nachwirkung von Chrestiens Werken, jedoch nicht, wie bisher, im Sinne einer Quellen- und Motivuntersuchung, sondern als Frage nach der Rezeption der Artusromane innerhalb derselben Gattung unter dem Aspekt der Auseinandersetzung der Gattungsnachfolger mit dem ersten Artusdichter. Besonderes Interesse gilt den Innovationsbestrebungen, die an einer Reihe von Artusromanen des 13. Jahrhunderts beobachtet werden können. Die Geschichte der Gattung zeigt, daß dort eine Tendenz zur Konsolidierung stets mit der Bemühung um Erneuerung einhergeht. Eine Analyse des Publikums unserer Romane und die Beschreibung ihrer Situierung in den gesellschaftlichen und

politischen Bedingungen der Zeit v o n 1 1 7 0 - 1 3 7 0 bilden den Schluß der Untersuchung. Stand der Forschung Die französischen Artusromane des 1 3 . Jahrhunderts sind -

auch

unter

Artusforschern - sehr wenig bekannt. In der Regel werden sie als minderwertige Produkte mehrerer Generationen v o n Epigonen und

Imitatoren

betrachtet und deshalb aus der literarhistorischen Diskussion

weitgehend

ausgeschlossen; nur zum Z w e c k motivgeschichtlicher Untersuchungen und zur K l ä r u n g v o n Datierungsfragen zieht man sie häufiger heran.

Ent-

sprechend gering ist auch der Anteil an Forschungsbeiträgen, die ihnen gewidmet wurden. Eine Monographie neueren Datums existiert noch nicht. Wer inhaltliche Information über die Artusdichtung sucht,

findet sie in

den

bekannten

nach

Nachschlagewerken 1 .

Chrestien

Eine

größere

G r u p p e v o n Arbeiten zum «nachklassischen» Artusroman entstand um die J a h r h u n d e r t w e n d e in Form von Dissertationen zum T h e m a «Der R o m a n X in seinem Verhältnisse zu Kristian v o n Troyes». Ihr Schwerpunkt liegt in stilistischen und motivgeschichtlichen Untersuchungen 2 . Bisher wurden die Werke inhaltlich oder a p p r o x i m a t i v geordnet, immer aber getrennt voneinander

abgehandelt.

chronologisch Einer

kurzen

Inhaltserzählung folgten Listen v o n M o t i v e n , die auch in anderen R o m a nen vorkommen, Hinweise auf die von Chrestien entliehenen Episoden und wörtlichen Passagen, eine Erörterung der Datierungsfrage und das eine oder andere Werturteil, dessen Maßstab Chrestiens Werke waren, wenn man auch zuweilen f ü r eine besonders hübsche Szene oder einen geistvollen 1

2

Paris, H L F 30, S. 1-270, der immer noch wichtigste und umfangreichste Beitrag unter dem Titel: Les romans en vers du cycle de la Table Ronde. - Gröber 1902. - Bruce 1928, dessen Kapitel III/I, S. 100-128 des ersten Bandes die Chrestien-Nachfolger behandelt und der im zweiten Band die ausführlichsten Inhaltserzählungen ihrer Romane bringt. - Die Literaturgeschichte Holmes 1962 enthält Inhaltserzählungen und hilfreiche Angaben zu Hss. und Datierungsfragen. - Micha 1959 enthält die bisher neueste Obersicht über die Forschungslage. - Bd. IV des neuen Grundrisses ( G R L M A ) enthält unter C 1. den Artikel «Les romans arthuriens» von A . Micha (S. 377-399)· Wilhelm Kellermann, L'ethique chevaleresque et courtoise dans les romans bretons, et son influence (unveröff. Vortrag beim X I . Kongress der Internationalen Artusgesellschaft in Exeter am 19. August 1975). - ders., Ritterliches und höfisches Ethos am Beispiel des nachklassischen französischen Artusromans in Versen. Mit einem Blick auf den entsprechenden deutschen Roman (unveröff. Vortrag im Germanistischen Seminar der Universität Wien am 19. Oktober 1977). Ohne die in diesen (vorwiegend in Göttingen entstandenen) Arbeiten gewonnenen Grundlagen wäre die vorliegende Untersuchung auf erhebliche Schwierigkeiten gestoßen. Das Romanische Seminar in Göttingen konnte noch eine Anzahl der von den ehemaligen Doktoranden benutzten Ausgaben (mit Bleistiftanmerkungen) zur Verfügung stellen; dies verlieh unserer Arbeit einen besonderen Reiz.

2

Dialog zu einem wohlwollenden Zugeständnis an die Fähigkeiten eines späteren Dichters bereit war. Diese Einzelbesprechung der Texte hat den Blick auf das Gemeinsame der Gattungsvertreter und ihre Aussagekraft als Textreihe bisher verwehrt. Der methodische Ansatz unserer Untersuchung zielt deshalb auf eine Betrachtung aller Texte der Gattung «Arthurischer Versroman» unter dem Aspekt der gemeinsamen konstanten Merkmale, die eine gattungsbildende Kontinuität erkennen lassen 3 . Die inhaltliche Definition eines Gattungsbegriffs kann nur aus der Untersuchung der Einzeltexte auf typische Konstituenten abgeleitet werden, die dann ihrerseits verallgemeinert werden dürfen. Das so erarbeitete Bündel von Eigenschaften ermöglicht erst eine gattungsgerechte Bestimmung. Das leitende Interesse ist somit nicht klassifikatorisch, sondern beschreibend 4 .

Textgrundlage Mit Hilfe der weiter oben genannten Nachschlagewerke läßt sich eine Liste von Texten aufstellen, die die Grundlage für die folgende Untersuchung bilden sollen. Eine gewisse Schwierigkeit ergibt sich aus der Tatsache, daß manche Forscher ein Werk als arthurisch bezeichnen, andere ihm jedoch diese Qualität aberkennen. Auch die Herausgeber von Texten führen uns bisweilen auf eine falsche Fährte. So werden einerseits viele Werke roman d'aventure genannt, die eindeutiger und spezifischer die Bezeichnung roman arthurien erhalten müßten, andererseits stößt man auf den Untertitel roman artburien, wo dies kaum gerechtfertigt erscheint. Dies ist ζ. B. bei Le Roman

3

Unserer Untersuchung vergleichbare Ziele verfolgt auch Cormeau 1 9 7 7 . C o r meau erarbeitet in vieler Hinsicht ähnliche Ergebnisse. Die Gattungsmerkmale des nachklassischen deutschen Artusromans entsprechen weitgehend denen des französischen. Die Werke Hartmanns und W o l f r a m s erfüllen im Bezugssystem für die deutschen Dichter des 1 3 . Jahrhunderts dieselbe Funktion wie die Romane Chrestiens in Frankreich (S. 68, 105). Cormeau geht in seinem ersten Abschnitt ausführlich auf gattungstheoretische Fragen ein. Es ist zu hoffen, daß das Projekt einer umfassenderen Behandlung der nicht in seine U n t e r suchung mit einbezogenen übrigen deutschen Artusromane, das Cormeau im V o r w o r t und im einleitenden Kapitel ankündigt, bald verwirklicht wird. Erst ein Gesamtüberblick über französische und außerfranzösische Artusromane unter dem Aspekt der Gattungsgeschichte wird Aufschluß über werkübergeordnete Verwandtschafts- und Interrelationsverhältnisse geben sowie über Ausbreitung und Verfestigung von Konstanten der supranationalen G r o ß gattung Artusroman.

4

Die Darstellung versteht sich auch als kleiner Beitrag zu einer Systemgeschichte der mittelalterlichen Literaturgattungen; daher die nach Möglichkeit eingebrachten Verweise auf und Vergleiche mit anderen verwandten oder zeitgenössischen Gattungen und auf die Beziehungen zur außerfranzösischen Artusdichtung (vgl. Köhler 1 9 7 7 und Jauss 1 9 7 2 ) .

3

de Silence der Fall 5 . Gröber reiht Brun de la Montagne6 und Cristal et Clarie ebenfalls unter die arthurischen Romane ein. Doch macht die Verwendung einiger arthurischer Namen und Schauplätze oder eine allzu lose Verknüpfung der Romanhandlung mit dem Artushof aus einem beliebigen Abenteuerroman noch keinen Artusroman, wenn man die einzelnen Vertreter der Gruppe unter dem Aspekt der Gattungsmerkmale betrachtet. Aus diesem Grund bleiben die oben genannten Werke, wie auch ein Roman vom T y p Blandin de Cornouailles, der mit dem arthurischen Bereich nichts als die Landschaft Cornwall gemein hat, hier unberücksichtigt7. Allein schon das Metrum von Brun de la Montagne (3962 zehnsilbige Laissen) ist ein deutlicher Hinweis auf die Nichtzugehörigkeit zur Gattung. Der Roman de Silence wiederum nennt am Anfang (V. 109) König Artus und am Ende mehrmals Merlin; jeder andere Hinweis auf arthurische Zusammenhänge fehlt. Silence, die Titelfigur, ist eine Frau. Auch dies ist unarthurisch, denn der Artusroman bleibt bis zuletzt ein Ritterroman, muß also unter allen Umständen einen zentralen männlichen Helden aufweisen. Ein weiteres Problem stellen die Prosaromane dar. Ihre arthurische Qualität wird niemand bestreiten. Postuliert man aber eine Großgattung «Arthurischer Roman», so wird bald deutlich, daß die Form (Metrum oder Prosa) ein ganz entscheidendes Kriterium darstellt und man dementsprechend zumindest zwei Gruppen, wenn nicht sogar zwei Gattungen unterscheiden muß: die Versromane und die Prosaromane. Der Versroman gehorcht in Struktur und Bedeutung anderen Gesetzen als der Prosaroman, auch wenn beide zuweilen dasselbe Personal, ähnliche aventure-Abfolgen, die gleiche Länge haben und auch zur selben Zeit entstanden sind. Das Anliegen des Prosaromans ist ein völlig anderes, die Stimmung ernst, der Ausgang tragisch. Die Unabwendbarkeit des Schicksals, die im Tod des Königs und seiner Ritter ihren Ausdruck findet, ein starker Symbolismus, Schuld und Scheitern der Helden an ihrer queste, die mahnende Erzählweise, die mit der Fatalität des Geschilderten zur Einkehr aufrufen will: diese Züge prägen das Wesen des Prosaromans. Eine überindividuelle Gebundenheit des Menschen wird in der heilsgeschichtlichen Deutung des Gesagten offenbar; sie läßt der freien Entfaltung des Einzelnen, wie sie der Versroman thematisiert, keinen Raum. Einen Wahrheitsanspruch kennt der Versroman wie der Prosaroman, doch tritt er in anderer Weise zutage: als allgemeine, exemplarische Wahrheit, die die Stelle der literarisch-theologischen Geschichtsdeutung einnimmt8. s

ed. Thorpe 1972. • ed. Meyer 1875. 7 R . Lejeune in A L M A S. 393-399 klassifiziert Blandin de Cornouailles als Artusroman. 8 Weitere unterschiedliche Merkmale von Prosaroman und Versroman könnte man in folgenden Gegensatzpaaren sehen (die Liste bedarf der Vervollständigung): 4

Die unterschiedlichen Merkmalbündel erlauben es, eine Beschreibung der Artusromane in Versen von der der arthurischen Prosaromane abzutrennen; diese sollen deshalb nur zum Vergleich und zur Illustrierung der für den Versroman postulierten Tendenzen herangezogen werden. Weniger eindeutig ist die Frage zu beantworten, ob die Graalfortsetzungen aufgrund ihrer mit den Versromanen metrisch identischen Form berücksichtigt werden müssen. Die nicht-fortsetzenden Romane sind dadurch gekennzeichnet, daß sie sich mit der Graalsuche in keiner Weise berühren und auch das Personal der Graalfortsetzungen (abgesehen von Gauvain) in ihnen keine oder eine nur geringe Rolle spielt. Auch hier gilt: das Anliegen und die Zielrichtung der Continuations unterscheiden sich von denen der Versromane, sie wollen eine vorgegebene, von Chrestien begonnene Handlung fortsetzen oder zuende führen und dies bedingt ihre innere Struktur. Der nicht-fortsetzende, vom Graalroman unabhängige Versroman hingegen zeichnet sich, wie die frühen Romane Chrestiens, durch seine Geschlossenheit und zielgerichtete Tektonik aus. Andererseits stehen späte Versromane wie Escanor und besonders Claris et Laris in ihrem Umfang, den vielfältigen Handlungssträngen, die jederzeit fallengelassen und wieder aufgenommen werden können (entrelacement-Technik) und auch ihrem Personal den Graalfortsetzungen wiederum so nahe, daß sich eine strenge Trennung nicht durchführen läßt. Es handelt sich jedoch deutlich um zwei verschiedene Erscheinungsformen der Gattung «Arthurischer Versroman», wobei die Graalfortsetzungen als eine Sonderentwicklung des Prosa: Progression von Zeit, Altern der Figuren Starker Symbolismus Heilgeschichtliche Bedeutung der lineage Erzählte Zeit umfaßt mehrere Generationen Prophetische Träume als Vorausdeutung auf kommendes Unheil Wirkung auf den Leser besteht in Furcht, Rührung und Mitleid Lancelot, Guenievre, Morholt, Galaad, Bohort und Perceval sind wichtige Handlungsträger Helden sind Auserwählte, vollbringen Erlösungstaten Weitgehender Verzicht auf Liebesbindung der Handlungsträger, Liebe als unheilvolle Macht Rückgriff auf Geoffrey und Wace und auf außerhalb der Gattung liegende Geschichtsmodelle

Vers: Seelische Reife ohne Alterungsprozeß, Progression von Zeit nur im Hinblick auf das zu erreichende Ziel Weitgehender Verzicht auf Symbole Lineage von sekundärer Bedeutung Erzählte Zeit ι - i Jahre Prophezeihungen dienen der Erhöhung des Helden Wirkung auf den Leser besteht in Bewunderung und Freude Diese Figuren spielen im Versroman keine Rolle Das Motiv der election ist weitgehend eliminiert Liebesbeziehung der Protagonisten zentral, Liebe stets positiv gewertet Rückgriff auf Vorbilder innerhalb der Gattung (Chrestien)

5

Hauptzweiges arthurischer Versdichtung anzusehen sind. Die Ausläufer beider Textgruppen münden in den Prosaroman. - Aus dem Gesagten erklärt es sich, daß in dieser Untersuchung die Continuations zwar wiederholt, aber doch nur am Rande erwähnt werden. Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen verbleiben als Corpus unserer Gattung folgende Texte: Die fünf Artusromane Chrestiens Erec Cliges Lancelot Yvain PercevaP. Fünfzehn weitere Romane (in alphabetischer Reihenfolge): L'Atre Perillem Beaudous Le Bei Inconnu Li Chevaliers as Deus Espees Claris et Laris Durmart Escanor Fergus Floriant et Florete Hunbaut Meliador Meraugis Les Merveilles de Rigomer La Vengeance Raguidel Yder (Jaufre)10 Der Roman Jaufre wurde in die Untersuchung einbezogen, obwohl er nicht in französischer, sondern in provenzalischer Sprache gedichtet ist. Nach unserer Auffassung stellt Jaufre nicht die Bearbeitung einer verlorenen altfranzösischen Vorlage dar; dieser Roman ist eine selbständige Schöpfung. Die Verwandtschaft des einzigen wirklichen Artusromans im provenzalischen Sprachraum mit den nordfranzösischen Texten ist so groß, daß man geneigt ist, ihn unter Vorbehalt derselben Gattung zuzuordnen. Die Gründe für solch nahe Verwandtschaft mögen in den engen kulturellen und politischen Beziehungen von Süden und Norden im 13. Jahrhundert 9

10

Zitiert nach den Ausgaben von Roques, Micha und Roach. Zahlen in [ ] verweisen auf die entsprechenden Verse in den Ausgaben von Foerster und Hilka. Ausgaben s. Literaturverzeichnis. Zitiert wird in der Regel nach den älteren Ausgaben, wenn nicht die neueren (wie ζ. B. diejenigen von Beaudous, Chev. α l'Epee, Mule, Durmart, Cor, Mantel) wesentliche editorische Vorteile bieten.

6

zu suchen sein. Jaufre zeigt, wie sich erweisen wird, die gleichen Gattungsmerkmale wie die anderen hier behandelten Artusromane; er darf sogar als ein besonders typischer Gattungsvertreter angesehen werden 11 . Hinzu kommen fünf Fragmente: Les Enfances Gauvain Gogulor Ilas et Solvas Le Vallet a la Cote Mautaillie (Melior)12 Alle scheinen, soweit man es beurteilen kann, Reste von längeren Romanen zu sein. Soweit ihnen kohärente Hinweise zu entnehmen sind, können sie im Hinblick auf die Häufigkeit und die T y p i k bestimmter Szenen und Motive wichtige Hinweise enthalten. Sie werden deshalb als zusätzliches Material zu den vollständiger überlieferten Texten in die Untersuchung einbezogen. Darüber hinaus werden wir auch die arthurischen Verserzählungen berücksichtigen, eine Gruppe von acht Texten: Le Chevalier ä l'Epee Lai du Cor Lai du Cort Mantel Gliglois Lanval La Mule sans frein Tyolet Melion13 Das Gewicht der Untersuchung liegt jedoch auf den umfänglichen Romanen, weil nur dort die Gattungsevolution, gerade im Rückblick auf Chrestiens Romane, unter verschiedenen Aspekten beobachtet werden 11

Gaston Paris nimmt Jaufre zu Recht in seine Darstellung H L F 30, S. 2 i j f f . auf. - Die einzelnen Romane werden im folgenden mit sehr unterschiedlicher Intensität behandelt. Dies erscheint uns sinnvoll und notwendig dort, w o (wie ζ. B. beim Bei Inconnu oder C o r und Mantel) schon zahlreiche Forschungsergebnisse vorliegen, oder w o die spezifische Fragestellung der Arbeit eine ausführlichere Beschäftigung mit dem einen oder anderen Text nicht zuläßt, da er kein wichtiges Material zu den gewählten Aspekten enthält.

12

Ausgaben s. Literaturverzeichnis. - Es ist zweifelhaft, ob es sich bei Melior wirklich um das Fragment eines arthurischen Romans handelt: eine Königin (Guenievre?) wird hier zu Unrecht des Mordes am K ö n i g (Artus?) angeklagt; Melior bietet sich an, sie im Zweikampf zu verteidigen. Das Fragment stammt u. E. vom A n f a n g des Romans. A n dieser Stelle wäre es als arthurisches Initialmotiv völlig vereinzelt. Die Verserzählungen haben einen U m f a n g von $95 Versen (Cor) bis zu 2942 Versen (Gliglois). Wir unterscheiden sie von den Versromanen aufgrund ihrer Struktur: ihr A u f b a u ist durch die Beschränkung auf eine zentrale aventure gekennzeichnet, das Erzählte wird in knapper Form dargeboten, die Handlung ist einsträngig. Ausgaben s. Literaturverzeichnis.

13

7

kann.

Die

arthurischen

Verserzählungen

werden

aber

zur

Illustration

gewisser Tendenzen in der Evolution und zum Aufzeigen verschiedener Themen und Motive

häufig herangezogen.

Obwohl

sie, bedingt

durch

ihren geringeren Umfang, nicht alle zum Herausarbeiten typischer Strukturen geeignet sind, kann man die Verserzählungen doch in mancher Hinsicht als sehr «reine» Vertreter des arthurischen Erzähltyps bezeichnen 14 . Alle genannten Werke gehören - so lautet unsere Arbeitshypothese

-

einer Gruppe an, die wir Gattung nennen wollen. Es verbindet sie eine Reihe von

Konstanten:

das Metrum,

eine vergleichbare

Struktur,

der

gemeinsame Stoff, typische Inhalte und Aussagen, ähnliche Realisationsumstände sowie ihre Funktion im System der Gattungen 1 5 . Der französische arthurische Versroman als dominanter T y p mit seinen Randgattungen «arthurische Verserzählung» einer

gattungsgeschichtlichen

und

«Continuation»

Untersuchung

bietet als

überdies

den

Gegenstand Vorzug,

als

historisches Faktum vom ersten bis zum letzten Gattungsexemplar über einen langen Zeitraum hinweg beobachtbar zu sein18. Gattung wird dementsprechend als historisch-funktionale Kategorie begriffen.

Evolution der Gattung Gustav Gröber sprach von «Artusepos» als einem T y p Dichtung,

erzählender

der schon bei seinem ersten Vertreter Chrestien vorliege:

Die einzelnen Gedichte sind von ungefähr gleichem Umfang, haben einen ständigen Vers, stehende Motive, Figuren, Figurengruppen, bestimmte Hebel und Mittel zur Vorwärtsbewegung und Hemmung der Handlung und schalten in noch freierer Weise über das Wunderbare als die Dichtungen von T r i s t a n . . . Stehende Figuren dieser epischen Dichtungen sind der walisische König Artus, seine Gemahlin Guenievre, sein N e f f e Gauvain und der Seneschal Kei, die mit anderen auserlesenen Rittern wie Ivain, Lanzelot unter anderem des Königs Tafelrunde ausmachen . . . Gewöhnlich ist einer der Ritter der Tafelrunde, die grad-, nicht artverschieden zu sein pflegen, Träger der Handlung. Aus seinem Leben erzählt die Dichtung Episoden, wenn er als bekannt gelten kann (Episodenepen), oder sein Leben und seine Thaten werden in ihrer 14

Die Verserzählungen Cor und Mantel sind Varianten eines Themas (Keuschheitstest), ebenso wie die Erzählungen Lanval und Melion Varianten auf das Thema Feenliebe darstellen. 15 Weitere Konstanten und charakteristische Merkmale sollen erst im Lauf der Untersuchung herausgearbeitet werden; dazu gehören z . B . die Signale des Gattungstyps am Romananfang oder auch die spezifische politisch-ideologische Besetzung der Gattung. " Cormeau 1977, S. 1 : «Eine Gattung wie der höfische Roman, deren Anfang, Breite und Milieu so klar abgrenzbar sind, gibt dabei vorzüglich die Möglichkeit, die Bildung einer literarischen Tradition nicht nur als individuellen Bezug von Autoren, sondern als überpersönlichen literarischen Prozeß im Spannungsfeld zwischen Autoren und Publikum zu erfassen und damit auch Erkenntnisse vorzubereiten, die über die einzelne historische Gattung hinaus von Bedeutung sind.»

8

Gesamtheit vorgeführt, wenn es erst bekannt gemacht werden soll (biographische Epen). Die Tafelrunde mit Artus und seiner Hofhaltung bildet den Hintergrund dazu Die Handlung setzt sich aus Abenteuern, aventures, zusammen, auf die aufs geradewohl ausgegangen wird, die sich bei einer zu gewissem Zwecke unternommenen Ausfahrt einstellen, oder die aufgesucht werden. Sie dienen dazu, die Tapferkeit und höfische Art des fahrenden Ritters ins Licht zu setzen und ihn als würdiges Mitglied der idealen Rittergilde des Artushofes zu erweisen 17 .

Chrestiens Werk geht auf mindestens zwei Überlieferungsstränge zurück: den schriftlichen der insularen Geschichtsschreibung (lateinisch und volkssprachlich), der, was den arthurischen Teil betrifft, seinerseits aus volkstümlicher Überlieferung und Legenden (Vita Gildae) gespeist ist; den mündlichen der arthurischen Erzähltradition, wie sie in keltisch besiedelten Gebieten vermutet werden muß. Beide Stränge vereint Chrestien in seiner poetischen conjointure und führt so als erster einen (doppelten) Funktionswandel oder Richtungswechsel herbei18. Es entstehen seine Versromane Erec, Cliges, Lancelot, Yvain und Perceval. Chrestien wird damit zum Initiator einer neuen Gattung. Man kann feststellen, daß Chrestien im Laufe seines dichterischen Werdegangs mit seiner Absicht, einzelne arthurische Erzählelemente in eine conjointure zu bringen, nacheinander verschiedene Wege eingeschlagen hat. Nach Erec versucht er es in Cliges mit einer ganz anderen Art der Strukturierung (Geschichte zweier Generationen, orientalisches Lokalkolorit, Wendung gegen Tristan), während er in Yvain wieder zum Typ des Erec zurückkehrt. Lancelot unterscheidet sich von den vorausgehenden Romanen durch eine neue Liebeskonzeption und durch die erstmalige Einführung eines zweiten Helden, der, wenn er auch stets im Schatten des Protagonisten Lancelot verbleibt, doch ebenfalls auf die Suche der Königin Guenievre auszieht. Alle diese Werke sind, im Vergleich mit dem Conte de Graal, noch bestimmt durch die Einheit der Handlung und das Fehlen einer mystisch-religiösen Transzendenz. Chrestiens letztes Werk verbindet den Artusstoff mit dem Graalthema und erhebt die im Lancelot schon angelegte Aufteilung der Handlung auf zwei Protagonisten zum neuen Formprinzip. Mit seinen Romanen schafft Chrestien literaturgeschichtlich gesehen die Prototypen einer Gattung; die Fülle der in ihnen angelegten Möglichkeiten sichert auf fast zwei Jahrhunderte ihren Bestand. Chrestiens Werk bildet darüber hinaus das Grundmuster, das zum Ausgangspunkt eines immanenten Beziehungsgefüges wird. Die Artusromane des 13. Jahrhunderts liefern die Varianten dieses Grundmusters, wenn sie auch nicht, wie neuerdings für die Chansons de geste postuliert wird, vorwiegend extreme

17

18

Gröber 1902, S. 4 9 j f . - Gröber verwendet den mißverständlichen Begriff des «Artusepos», meint damit jedoch weniger einen bestimmten Gattungstyp als vielmehr die epische Erzählweise. Vgl. zu diesen Begriffen die Arbeiten von Jauß 1972 und Köhler 1977. 9

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-

^ e«i»re-Gedankens, den man als «Notwendigkeit» bezeichnen möchte, findet ihren Höhepunkt in Jaufre. Wie Artus selbst aventure zustößt - was sonst nie vorkommt - nämlich indem er entführt wird und wehrlos, ohne Waffen (also ganz unritterlich) durch die Lüfte getragen wird, läßt erkennen, daß der zauberkundige Artusritter, der das Ereignis spielerisch inszeniert hat, dem König einen Denkzettel für seine aventure-Gier zukommen lassen möchte. Auch die anderen Ritter beginnen in jenem Augenblick, am Sinn der «aventure um jeden Preis» zu zweifeln, und in ihrer Angst um den König verfluchen sie alle Abenteuer, als wollten sie ihnen auf immer abschwören: A q u i viras tirar cabels A cavaliers e a donzels, Que tuit rompon.s lor vestiduras Ε maldizon las aventuras Qu'en la forest son atrobadas, Q u ' a gran dolor lor sun tornadas 1 9 2 .

Es bedarf keiner längeren Ausführungen, um darzulegen, daß die aventureKritik, allenthalben spürbar und als durchgehendes Motiv im arthurischen Versroman des 13. Jahrhunderts erkennbar, die Grundfesten der traditionellen Erzählstrukturen des Artusromans dennoch nicht erschüttern kann; zu sehr ist aventure ein unverzichtbares Element des Ritterromans. Die zunehmende Anzahl kritischer Äußerungen gegenüber aventure und chevalerie ist vornehmlich ein Indiz für die veränderte Haltung von Autor und Publikum gegenüber einigen übertriebenen, teilweise absurden, Aspekten dieses Bereichs in Romanen des 12. Jahrhunderts. Es wäre verfehlt, diesen Zug lediglich als Beispiel für einen gewissen Detailrealismus einzuschätzen. Die Realität des 13. Jahrhunderts hat sich offenbar so weit von den Inhalten der Romane entfernt, daß diese, sollen sie nicht skurril und dadurch komisch wirken (was ja keineswegs beabsichtigt ist), durch skeptisch-kritische Distanz reflektiert und ausdrücklich einer vergangenen Zeit zugewiesen werden müssen. Abenteuer, deren Mittelpunkt eine Kampfhandlung darstellt, stehen nicht mehr in einem sinnerfüllenden Zusammenhang wie bei Chrestien, sondern werden entweder zunehmend seltener oder aber sinnentleert und damit beliebig, weil man offensichtlich nicht mehr akzeptieren kann, daß ein bedingungsloses Riskieren von Leben und Gesundheit mehr als alle anderen menschlichen Verhaltensweisen zum Gewinn von Ehre und Liebe verhelfen sollte. C a n t j'ai ceste afaire repris, C a r les sages bien entendans Aiment les preuz et les vallans, E t les chaitives, les chaitis; Ensi est Ii siecles assis, Si le nos covient esgarder. 102

J V.

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363ff.

Zum Problem der Eine ähnliche Wandlung wie der aventure-Gedanke erfährt das Prinzip der costume1'3. Bei Chrestien unterliegt jeder Held ihrem magischen Z w a n g , er muß sich mit ihr auseinandersetzen, obwohl (oder weil) sie so ungerecht, willkürlich und unbegreiflich erscheint. Das Mittel der Auseinandersetzung mit dem Bösen ist der Z w e i k a m p f ; der Stärkere ist in der Lage, die costume nach Belieben aufzulösen oder abzuändern. Der Sieg über dieses Phänomen von mythischen Dimensionen dient als Bemessungsgrundlage f ü r Wert und Bedeutung des Helden. Für den Roman des 1 3 . Jahrhunderts gilt zunächst, daß costumes von mythischer Größe sehr viel seltener auftauchen als bei Chrestien. Als Beispiel f ü r eine Entmythisierung der Joie de la Cort-costume aus dem Erec kann man die Episode der Isle sanz non aus Meraugis anführen, w o costume, von Menschenhand mutwillig geschaffen, mit List unterlaufen werden kann. - Der Artushof gilt allgemein als der Ort der g u t e n costumes"*. Der wichtigste Brauch, der sich mit Nachdruck etabliert, ist die costume des Wartens auf aventure. Artus verteidigt sie mit gleicher Vehemenz und mit ähnlichen Argumenten wie die Hirschjagd im Erec: Vengeance Raguidel:

193 194

Li rois Artus ert coustumiers Que ja a feste ne mangast Devant ce qu'en sa cort entrast Novele d'aucune aventure. Tel fu lors la mesaventure Que Ii jors passe et la nuis vint C'onques nule n' en i avint, S'en fu la cors torble et oscure. Tant atendirent l'aventure Que l'ore del mangier passa. Li rois fu mus et si penssa A ce qu'aventure ne vint; Dedens son euer cest corols tint Que poi s'en faut qu'il ne muert d'ire; Et Ii baron Ii vienent dire: «Sire, por Diu, laissies ester! Vos n'i poes rien conquester En dol faire, ven£s mangier! Vees que vostre chevalier Vont esbahi j a .x., 5a .xx.» - «Onques», dist Ii rois, «ne m'avint A si haut jor ne n'avenra Que je manjuce, anjois venra Aventure d'aucune part. Dius qui tos biens donne et depart,

Zum Begriff der costume s. Köhler 1962, S. 2 0 5 - 2 1 2 . Artus klagt in Β V . 3 j 8 8 ff.: Costume sei jetzt, daß alle möglichen Leute zu den Hof festen kämen und alle gleichermaßen geehrt werden wollten; er könne aber nicht alle gleich behandeln. Vgl. auch C h D E V . 7654Π.

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M ' a le costume maintenue; S'or ne vient que plus soi: tenue, D'auques per ge ma dingnite, E t si m'en a desirete. Bien vuel morir puis que le pert! C e vos di je tot en apert.» 1 9 5

Die Aufrechterhaltung der nach seiner Auffassung von Gott selbst eingesetzten costume ist für Artus lebensnotwendig. Seine Königswürde hängt von ihr ab. Das Ausbleiben von aventure ist für den König existentielle mesaventure, die Auflösung der costume des Wartens hat den Untergang von König und Königtum zur Folge. Daran hat sich seit Chrestien nichts geändert. Fast alle Erwähnungen von Bräuchen dieser Art werden aber durch die Formel «costume ert a eel tens» als vergangen und der Erläuterung bedürftig gekennzeichnet. So muß dem Publikum ζ. B. erklärt werden, warum ein im Zweikampf unterlegener Ritter nicht erst seine Wunden auskurieren darf: «damals verlangte es die Sitte, daß der Ritter sich auf schnellstem Wege, in welchem Zustand auch immer, zum Artushof unter die Gewalt des Königs begab»196. Durch die Kennzeichnung mit «damals, einst, früher» werden solche Details zu Zeugen einer historischen Entwicklung oder sagen - falls man das ehrbare Verhalten der Ritterschaft als literarische Fiktion ansehen will - zumindest implizit etwas über Bräuche zur Zeit der Entstehung des jeweiligen Romans aus. Ein Beispiel hierfür ist die mit auffallender Häufigkeit wiederkehrende Erläuterung der Spielregeln des ritterlichen Kampfes, wobei stets nachdrücklich auf Unterschiede zu den zeitgenössischen Gepflogenheiten hingewiesen wird: E t a eel tans costume estoit Que quant uns hom se conbatoit, N ' a v o i t garde que de celui Qui faissoit sa bataille a lui. O r v a li tans afebloiant E t cis usages decaant, Que vint et eine enprendent un; Cis afaires est si comun Que tuit le tienent de or mes. L a force paist le pre adies: Tos est mues en autre guisse; Mais dont estoit fois et franchisse, Pities, proece et cortoisie, E t largece sans vilonnie, Or fait cascuns tot son pooir, T o t entendent au decevoir 1 9 7

195 198

197

V R V. i8ff. Β V. 3378-85.

BI V. ιο6γ{{. 74

Q u ' i l estoit costume a eel jor S'uns chevaliers en un estor Venoit por joster ne por poindre, N ' e n doit que uns seus a lui joindre, E t se doi i vienent ensanble, II serroient, si com moi sanble, Trestot recreant et honni: J a mais ne serroient servi E n cort a roi, s'il ert seü 1 * 8 .

Die auf nicht-fiktionale Wirklichkeit bezogene Sittenklage steht in direktem Zusammenhang mit der weiter oben angedeuteten Tendenz der Romane, einen Helden zu zeigen, der seinen Wert nicht im Zweikampf, sondern durch Menschlichkeit beweist. Das im Roman beispielhaft vorgeführte Ideal spiegelt in Umkehrung die tatsächlichen Verhältnisse wider. In Merveilles Rigomer V. i4847ff. muß Gau vain erst gegen einen, dann zwei, vier, acht, sechzehn, schließlich gegen alle gegnerischen Ritter gleichzeitig kämpfen 199 . Aber immer wieder wird auf die prinzipielle Unehrenhaftigkeit eines solchen Kampfes hingewiesen 200 . In Le Bei Inconnu nimmt ein im Zweikampf Besiegter sein Schicksal nicht einfach hin, sondern stachelt drei seiner Freunde zur Rache am Schönen Unbekannten an 201 . In Beaudous hetzt der eifersüchtige Madoine fünfzehn Vasallen auf seinen Rivalen, den Helden des Romans. Vergleicht man solche Handlungsweisen rückschauend mit den Räuberkämpfen in Chrestiens Erec, wo die wachsende Übermacht einzig die Funktion hat, Erecs Mut und Stärke zu betonen, wird die Veränderung in der Einstellung deutlich. - Dieselbe Verachtung wie dem «ungleichen Kampf» wird in den arthurischen Versromanen auch dem Angriff auf einen unbewaffneten Gegner zuteil 202 . Die aus Chrestiens Romanen bekannten Auseinandersetzungen mit einem Ritter, der mit Waffen eine Furt verteidigt, werden ebenfalls in einem neuen Licht gesehen; der Held Beaudous versucht, einem solchen Furtritter klarzumachen, daß es sich bei dessen Vorgehen um eine unrechtmäßige costume handle, nämlich schlicht um roberie203. - Ein Brauch, der das Verhältnis zwischen potentiellen Gegnern im Zweikampf regelt, ist der folgende: man kann einen Gegner nicht zuerst grüßen und dann mit ihm kämpfen, sondern nur umgekehrt, da der G r u ß als solcher schon ein Friedensangebot beinhaltet 204 . Zum Abschluß soll eine costume aus dem Yder erwähnt werden; ein Gastgeber, vavassor, macht Yder darauf aufmerksam, daß der Brauch verlange, kein Ritter dürfe am Morgen nüchtern weiterziehen. Darauf entgegnet der H e l d : «Endlich einmal eine angenehme costume\»sos lee A P A u s g . S. 1 8 7 (= Appendice), Zeile 1 5 - 2 3 . Siehe auch E E V . 2 8 2 o f f . 199 200 201 202

Ähnlich in C h D E V . 7 6 5 i f f . Auch BI V . 1025, M R V . 8512, Ε V . 2234. BI V. j57. B I V . 1 0 5 0 , A P und C h E .

203 204 205

Β V. 427. C h D E V. 29ooff. Υ V . 7 8 7 ; ähnlich D V .

i669H.

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- ein Anti-Artus-Roman Yder ist der uneheliche Sohn eines armen Edelfräuleins. Seinen Vater kennt er nicht und macht sich deshalb, kaum erwachsen, auf die Suche nach ihm. Auf seiner Fahrt begegnet er der Königin Guenloie; die gegenseitige Zuneigung findet aber keine Erfüllung, denn Guenloie hat Yder gegenüber ein dur mot (V. 6487) geäußert und ihn damit von sich fortgetrieben. - Dieser Handlungsablauf des nicht erhaltenen Anfangsteils des Romans läßt sich aus den Rückverweisen des überlieferten Textes rekonstruieren. H . Geizer hat dies im Vorwort zu seiner Ausgabe auch weitgehend getan, doch wagte er sich nicht an eine inhaltliche Interpretation des dur mot. Einigen unauffälligen Bemerkungen der Guenloie und gewissen Elementen des Erzählten kann man aber entnehmen, worauf sich jene harten Worte der jungen Königin beziehen sollten: nämlich daß Yder als Jüngling ohne Reichtum und lignage keinen standesgemäßen Ehemann für eine Königin abgeben konnte. Guenloie mag Yder nahegelegt haben, diese Mängel durch bewunderungswürdige Rittertaten wettzumachen und seinen Vater zu finden. So läßt sich auch ihre übergroße Erleichterung erklären, als sie später vernimmt, Yders Vater sei der reiche und mächtige Herzog Nut l'Alman 208 . König Artus erklärt sich am Schluß bereit, Yder zum König zu krönen, um ihm eine Heirat mit Guenloie zu ermöglichen. Es scheint also in Yder nicht zuletzt um Probleme des Standes zu gehen, ähnlich wie in Fergus. Doch ist dies nicht das einzig Bemerkenswerte an unserem Roman. Neu und überraschend an diesem Werk ist vielmehr die literarische Gestaltung der Figuren des Königs Artus und seines Seneschalls Keu. Der Roman Yder soll im folgenden hauptsächlich unter diesem Aspekt betrachtet werden, denn hier erscheinen all jene Entwicklungstendenzen in konzentrierter Form, die auf den vorausgehenden Seiten für Artus und die Artusgemeinschaft in den Versromanen des 13. Jahrhunderts bereits grundsätzlich und allgemeiner als charakteristisch bezeichnet wurden. Als Vorstufe zu einer Interpretation kann an dieser Stelle auf eine längere Inhaltserzählung nicht verzichtet werden; hierbei können jedoch alle Handlungselemente ausgespart werden, die nicht unmittelbar das Verhältnis des Helden zum Artushof und seinen wichtigsten Exponenten Artus, Keu und Gauvain betreffen. Y d e r t r i f f t im W a l d einen Ritter, der sich auf der J a g d verirrt hat. E r dient ihm als K n a p p e und tötet zwei Feinde, die den Ritter bedrohen. A m anderen M o r gen erfährt Y d e r zu seiner großen Freude, daß der Unbekannte K ö n i g Artus selber ist. E r h o f f t , zum Lohn für seine nächtliche H i l f e von ihm zum Ritter geschlagen zu werden. D o c h kaum erreicht man das Jagdlager, muß Y d e r feststellen, daß sein Gefährte aus dem W a l d ihn vollständig vergessen hat. Wenig später w i r d der junge K n a p p e Zeuge eines peinlichen V o r f a l l s : Artus lehnt es ab, einer D a m e in N o t , der er Unterstützung zugesagt hat, zu H i l f e zu kommen, da sein Interesse sich auf ein anderes Vorhaben richtet; er zieht es vor, ohne dazu 20β

Υ V. so34ff.

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das Recht zu haben, den Ritter Talac de Rougemont zu unterwerfen, nur weil dieser sich bisher geweigert hat, sein Lehensmann zu werden. Yder ist entsetzt über die Undankbarkeit, UnZuverlässigkeit und Ungerechtigkeit des Königs, von dem er vorher nur Gutes gehört hat. In seiner Enttäuschung beschließt er, sich einen anderen Herrn zu suchen; lieber hätte er gar keinen Herrn als einen solchen wie Artus. «Ja Deus», dist il, «moi nen äit, Si jo por estre sanz seignor Od icesti plus me demore; En poi de tens l'ai bei (de) servi, Si m'at si tost mis en obli, Ne il de moi ne Ii sovient, Ne il nul covenant ne tient.»207 Yder reitet nun fort. Artus, von den Rittern der Tafelrunde auf sein ungerechtes Verhalten aufmerksam gemacht, schickt ihm nach, jedoch vergeblich. Yder weigert sich, an den Hof zurückzukehren und läßt sich bald danach von einem anderen Fürsten zum Ritter schlagen; dann macht er sich auf, Talac de Rougemont gegen Artus' Angriff Beistand zu leisten. Im Kampfgemenge gegen Artus' Truppen wirft er Keu mehrmals vom Pferd. Damit hat er sich den Seneschall zum Todfeind gemacht. In seinem Haß auf den Überlegenen ersinnt Keu einen hinterlistigen Plan: er will mit dreißig Rittern Yders kleine Schar überfallen und seinem Feind so den Garaus machen. Doch Yder setzt sich tapfer zur Wehr und besiegt alle. Am anderen Tag tritt er zum Kampf gegen Gauvain an. Für diesen Ritter empfindet er große Hochachtung und würde es sogar als Ehre ansehen, wenn er von ihm besiegt würde. Aber es kommt anders; er kann Gauvain in die Enge treiben, und dieser stürzt mitsamt seinem Pferd. Die anderen Ritter der Tafelrunde sind entsetzt. So etwas sei noch nie vorgekommen: Gauvain als Unterlegener im Zweikampf 108 ! Yder fühlt sich als Sieger und beansprucht Gauvains Streitroß als Preis. Als er es fortführen will, schaltet sich Artus persönlich ein. In seiner Empörung über die Niederlage seines besten Ritters will er dem Sieger das Pferd streitig machen. Weil ein heftiger Wortwechsel zu keinem Ergebnis führt, wird Artus handgreiflich; er versucht, das Tier mit Gewalt an sich zu bringen. Yder wehrt sich; beide reißen am Zügel Cist le sache, si(l) le recule, Cist Ii di io, eil le soufraine, Le cheval est en male peine. Cist le resache, et eil le tire, Ja montast entr'els dous grant irei0>. Da mischt sich Keu ein. Wutentbrannt und haßerfüllt stößt er Yder von hinten ein Schwert in den Leib, und dreht es in seiner Gemeinheit auch noch mehrmals in der Wunde um, so daß die Spitze der Waffe in Yders Körper abbricht und in ihm stecken bleibt. Wie tot fällt Yder zu Boden. Nun wird Artus zum zweitenmal bewußt, daß sein Verhalten diesem Ritter gegenüber tadelnswert gewesen ist. Erfüllt von plötzlicher Reue, kümmert er sich um den Leblosen wie ein Arzt. Gauvain, der alles mit angesehen hat, weint vor Mitleid mit dem Verletzten. Artus macht sich derweil bittere Vorwürfe und bezichtigt sich der vilenie, nicht nur Yders wegen, sondern auch, weil er der Dame in ihrer Not nicht geholfen hat und stattdessen einen ungerechten Krieg gegen Talac führt. Die Schuld schiebt er seinem Seneschall zu, der ihm das alles angeraten habe. Seine Rede endet mit dem Wunsch, Gott möge Keu für seine Schlechtigkeit verfluchen. 207 208 209

Υ V. 13 off. Υ V. 228iff. Υ V. 231 j f f . 77

«Alias», dist il, «mal(e) soit l'ure Ke jo le Rogemont assis. La vilanie que jo fis, Quant jo failli a la pucele Qui m'envea sa demoisele, M'a chargie grieve penitance. Ki par vilanie s'avance De suen buen et (de) son prou feire, Al chief del tor en a contraire. El s'ert mise en ma garantie; J a nuls ne fera vilanie Qu'il ne.l compert ou loins ou prez. Cest siege pris trop a engres; Et f o fist Quois qui.l conseilla, Qui onques bien n'aparailla; Maudit seit il de Chesu Crist, Ke onques bien pur bien ne fist, Ε Deu maudie il suen sen.»210 Gauvain fordert, Keu möge für sein Verbrechen mit dem Tod bestraft werden. Er kann nicht begreifen, daß der König seine Anwesenheit noch duldet 211 . Yder überlebt diesen Mordversuch. Seine Freundin Guenloie, die heimlich all sein Tun beobachten läßt, bringt ihn in ein Kloster, wo er in wenigen Wochen geheilt wird. Als die Königin Guenievre erfährt, daß Yder lebt und gesund ist, bittet sie Artus, ihn in die Tafelrunde aufzunehmen. Doch der König ist nicht sofort dazu bereit. Seine Abneigung gegen Yder gewinnt durch die ersten Anzeichen einer unbegründeten Eifersucht erneut die Oberhand, Reue und Einsicht sind dahin. Artus ist verärgert darüber, daß Yder bei seiner Gemahlin in so hohem Ansehen steht. Zwar gibt er endlich ihrer Bitte statt und läßt Gauvain die Einladung, er möge der Tafelrunde beitreten, an Yder ausrichten; dieser kann sich jedoch zunächst nicht entschließen, das Angebot des Königs anzunehmen; zu schlecht waren seine Erfahrungen bisher mit den Rittern der Tafelrunde und ihrem Herrn. Die Aufnahme in diesen Kreis bedeutet für Yder keine Ehre. Erst als Gauvain und Yvain ihm ihre Freundschaft und Waffenbruderschaft anbieten, sagt er um ihretwillen zu und begibt sich, wenn auch im Stillen zögernd, an den Hof. Wenige Zeit später rettet er die Königin vor einem großen Bären, der aus seinem Käfig entwichen und in die Frauengemächer eingedrungen ist: für Artus ein neuer Grund zur Eifersucht. Auch Keu weiß sich vor Wut und Neid kaum zu fassen. Talac, der sich nach Yders Verwundung Artus ergeben hat und nun sein Lehensmann ist, wird derweil von Feinden belagert und bittet deshalb seinen neuen Lehensherrn um Unterstützung. Doch Artus sucht wieder Ausflüchte; zur Zeit müsse er gegen den Schwarzen Ritter zu Felde ziehen und könne ihm deswegen nicht helfen. Talac, der sich fest auf Artus' Beistand verlassen hat, ist bestürzt und beleidigt. Ohne Gruß geht er fort und denkt: «Tenir», dist il, «me puis por sot. Mult ai bien porchacie ma honte.»212 Zum zweitenmal tut Artus ihm schweres Unrecht an. Er begreift, daß man auf das Ehrenwort des Königs nichts mehr geben kann. Gauvain und Yvain schämen sich für ihren Herrn. Um seine Treulosigkeit ein wenig gutzumachen, beschlie210 γ y 2447ff.; der folgende Vers lautet: Assez i out qui dient amen. 211 Υ V. 3 1 1 j f f . 212 Υ V. 3492f.

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ßen sie, T a k e auf eigene Verantwortung beizustehen, und reiten ihm heimlich nach, doch ohne ihren Waffenbruder Yder mitzunehmen, da sie fürchten, seine eben verheilten Wunden könnten bei einem Kampf neu aufbrechen. Yder interpretiert dies als ein neues Zeichen der UnZuverlässigkeit und Schlechtigkeit der einstmals so vorbildlichen Artusritter. Er glaubt sich von seinen Freunden im Stich gelassen. Traurig zieht er allein auf Abenteuer aus. Dabei macht er endlich seinen Vater ausfindig und kehrt an den Artushof zurück. Alle freuen sich mit ihm außer Artus und Keu. Der Seneschall ist neidisch auf Yders Erfolge, während der König immer mehr darunter leidet, daß Guenievre so große Stücke auf Yder hält. Eines Tages fragt er seine Gattin, was sie tun würde, wenn er, Artus, nicht mehr am Leben wäre. Sie versichert ihn ihrer Liebe, doch er dringt weiter in sie und will erfahren, wen sie nach seinem Tode zum Mann nehmen würde. In ihrer Bedrängnis antwortet sie verwirrt, daß in einem solchen Fall noch am ehesten Herr Yder in Frage käme. - Damit scheint Yders Schicksal besiegelt. Artus sinnt nur noch auf Rache. Als Yders Freundin Guenloie vom König denjenigen zum Mann verlangt, der zwei gefährliche Riesen erschlagen und deren berühmtes Zaubermesser erobern könne, wozu Yder sich mit einigen anderen bereit erklärt, erkennt Artus die Möglichkeit, den ungeliebten Ritter in einen Kampf zu schicken, aus dem er nie mehr zurückkehren soll. Keu wird als Kundschafter vorausgesandt. Beim Anblick der schrecklichen Riesen aber übermannt ihn die Feigheit, und er versteckt sich im Gebüsch. Jetzt schickt Artus Yder in das Haus der Riesen, wie er hofft, in den sicheren Tod. Yder hingegen tötet die Riesen und nimmt das Messer an sich, das ihm als Zeichen für seinen Sieg dienen soll. Dann wartet er ruhig auf die anderen Artusritter. Diese haben das Kampfesgeschrei gehört, Gauvain und Yvain wollen Yder zu Hilfe eilen, aber Artus verbietet es. Da erscheint Keu aus seinem Versteck und berichtet, Yder sei tot, vortäuschend, er selbst habe die Riesen erschlagen. Doch Yders Freunde finden den wahren Sieger gesund auf einer Bank sitzend. Keu und Artus sind erzürnt über den Ausgang dieses Abenteuers. Als Yder über Durst klagt, bringt Keu ihm Wasser, das er, keine Mühe scheuend, aus einer giftigen Quelle geschöpft hat. Der Trank verwandelt Yder so, daß er einem Stück trockenen Holzes gleicht. Seine Freunde beklagen diesen schrecklichen Tod; Keu erklärt, der Gifthauch der toten Riesen habe Yder getötet. Um weiterem Unheil vorzubeugen, verläßt Artus mit seinen Rittern diese Stätte. Wenig später wird Yder von zwei heilkundigen Rittern aus Irland als verzaubert erkannt und mit Hilfe eines Gegengiftes wieder gesund gemacht. Am Artushof herrscht indessen beim König und seinem Komplizen eitel Freude über Yders Tod, während Yvain und Gauvain um ihren Freund trauern. Als die irischen Ritter am Hof verkünden, daß Yder noch lebt und was ihm in Wirklichkeit zugestoßen war, wird allen klar, welches Verbrechen Keu begangen hat. Gauvain macht seinem Onkel schwere Vorwürfe: er könne nicht verstehen, warum Artus seinen Seneschall noch immer liebe. «Boens reis», dist il, «gentil et francs, Mult devrfez Keis tenir vil, Car fels et träitres est il; Vos l'amez, si.l tienc en damage. De (vos) prover Ten vos tent mon gage, Que il est träitres mortels, Se il le nie, e il est tels, Li fei träitres ramposnos, Qu'il ne deit converser od nos 2 l \ M

* Υ V. 33jff. 79

Er w i l l ein Gottesgericht herbeiführen und dabei K e u persönlich gegenübertreten. D e r feige K e u versucht z u fliehen, w i r d aber in ein Z i m m e r eingesperrt. Y d e r kehrt noch rechtzeitig an den H o f z u r ü c k , Guenloie erkennt in ihm ihren Bräutigam. N i e m a n d versorgt Y d e r nun lieber mit einer F r a u als der eifersüchtige K ö n i g . H o c h z e i t u n d K r ö n u n g w e r d e n gefeiert, K e u besorgt sich f ü r die Festlichkeiten Geleitschutz, w e i l er Y d e r s V e r g e l t u n g fürchtet. D o c h mit v o r bildlicher G r o ß z ü g i g k e i t vergibt der H e l d ihm seine Missetaten; er k ü ß t und u m a r m t ihn, freilich nicht, ohne noch einmal K e u s üble Eigenschaften z u k o m mentieren 2 1 4 .

Kein anderer Artusdichter des 13. Jahrhunderts ist in seiner negativen Stilisierung des Artushofs so weit gegangen wie der Verfasser dieses Romans. Z w a r ist in vielen anderen Texten, wie oben gezeigt werden konnte, die Tendenz spürbar, den König und seine unmittelbare Umgebung zugunsten anderer K r ä f t e abzuwerten; aber hier werden Artus und Keu in den schwärzesten Farben geschildert, die Idealität des Hofes, sein Vorbildcharakter sind aufgelöst. Nicht mehr der höfische König und seine Tafelrunde vertreten die Norm, an der die ritterliche Welt sich zu orientieren versteht: die neue Norm konstituiert sich aus der Vorbildlichkeit des Helden, erst in Relation zu ihr wird das extrem negative Bild des Königs verständlich. Die unerwartete Konfrontation mit diesem Artus - undankbar, wortbrüchig, eifersüchtig, mit einem Wort: vilain - , der in keiner Weise mehr seinem Ruhm und Ruf entspricht, bedeutet für den jungen, ideal gesinnten Ritter eine tiefe Enttäuschung. Sein Weltbild ist erschüttert. Er, dessen Einstellung zu den Werten des Rittertums noch den überkommenen Vorstellungen entspricht, sieht sich gezwungen, persönlich die Konsequenz zu ziehen: sein Abscheu ist in der Weigerung, der Tafelrunde beizutreten, symbolisiert. Y d e r ist edel, höfisch, treu und großzügig. Niemand kann ihn zu schlechtem Tun überreden. Mit Artus und Keu will er nicht gemeinsame Sache machen. Er hält sich fern von dieser «höfischen» Gesellschaft, die ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird und durch einen charakterschwachen König gekennzeichnet ist, der sich den unheilvollen Ratschlägen eines korrupten baron (Keu) ausliefert. Artus wird nicht als durch und durch schlecht präsentiert, doch läßt er sich allzu schnell zu Handlungsweisen verleiten, die ihm kaum Ehre einbringen können. Ebenso schnell ist er zur Reue bereit, doch sowie es wieder um materiellen Vorteil geht, sind seine guten Vorsätze vergessen. In Yder ist der König wankelmütig, der Macht seiner eigenen Emotionen ausgesetzt. Statt seine Verantwortlichkeit, die ihm niemand abnehmen kann, zu erkennen, schiebt er alle Schuld auf andere: auf Keu und Guenievre. Artus' Eifersucht, die ihn immer tiefer in moralische Schuld verstrickt, taucht auch in anderen Romanen als Motiv auf; hier ist sie thematisiert, ebenso wie seine vilenie. Der Erzähler kommentiert diese Eifersucht 215 : sie ist für ihn die Wurzel allen Übels, kann 214

Υ V.

215

Υ V. j 142-67. 80

6627H.

selbst den edelsten Menschen in den A b g r u n d stürzen. Außer Artus führt er noch z w e i von diesem Laster geprägte Figuren v o r : Yders Vater N u t und den Herrn einer Burg, der nicht nur auf seine amie eifersüchtig ist, sondern sich auch noch von seinem Ratgeber, einem Zwerg, zu allerlei Schandtaten anstiften läßt. Hierin kann man unschwer eine strukturelle und inhaltliche Analogie zum Verhältnis Artus - K e u erblicken. Die Eifersucht nähert den K ö n i g einem literarischen Typus, der sonst im arthurischen Versroman nicht vertreten ist, dem gelos oder mari aus L y r i k und Fabliau. Ähnlichkeiten mit dem Tristanstoff und der Eifersucht des Artus im Prosaroman sind z w a r vorhanden, jedoch macht sie dort die Herrscher zu tragischen oder komischen Figuren, nicht aber zu bösartigen Verbrechern wie in Yder.

In der nicht-arthurischen Literatur ist der T y p

des Eifersüchtigen in der Regel negativ stilisiert, doch während in Artusdichtungen neben Yder die Eifersucht dem K ö n i g eher komische Züge verleiht (gerade, weil sie berechtigt erscheint), führen in unserem Roman die greifbaren Folgen dieses Lasters, das in Yders tadelsfreiem Verhalten keinen A n l a ß findet, zu einem blutigen K o n f l i k t zwischen K ö n i g und Helden und verleihen dem W e r k dramatische Züge. Die Tatsache, daß die ältere Erzähltradition Y d e r mit Lancelot identifiziert 2 1 6 , ist in diesem Zusammenhang interessant, aber im K o n t e x t des Yderromans von untergeordneter Bedeutung. D e r eigentliche Schurke des Stücks ist hier jedoch nicht Artus, sondern K e u . Dies wird manifest an den Epitheta, die im Zusammenhang mit dieser Figur verwendet werden. Während sich die Kritik an Artus auf den V o r w u r f der vilenie

beschränkt und dies gravierend genug erscheint, ergießt sich über

Keu (der z w a r von jeher schon als Nörgler, Spötter und Prahler galt, aber noch nicht als absoluter Bösewicht) nun eine Flut v o n abwertenden A d j e k tiven und Substantiven. Er ist in Yder

die Schande der chevalerie217,

Verräter, Verbrecher und Meuchelmörder 218 . Desbonor2",

felonie220,

ein

damage,

mesprison, träison221 werden ihm vorgeworfen. Das W o r t träitres fällt w o h l z w a n z i g m a l ; sowohl die positiven Figuren des Romans (Gauvain, Y v a i n , Y d e r ) als auch der Erzähler selbst verwenden es für Keu. N e i d , Mißgunst und Verschlagenheit charakterisieren ihn. Gottes Fluch und Z o r n beschwören nicht nur die anderen Ritter der Tafelrunde, sondern auch der Erzähler auf ihn herab 222 . Ε eels de la ro(o)nde table Mult tenoient Keis por metable D'armes, s'il fust de bones mors, Mes onques hoen ne.s out peiors.!223 D a ß K e u dreimal versucht, den Helden zu ermorden, ist schon bezeichnend genug, daß Artus aber sein Komplice ist, erscheint den Romangestalten 216 217 217

218 218

Vgl. hierzu die Ausgabe des Yder, Einl. S. LV ff. Υ V. n 4 8 f f . Υ V. 2746. Υ V. 234jff.

220 221 222 223

Υ Υ Υ Υ

V. 2327, 2746, 3126. V. 3126. V. 246$, 2344, 2462. V. 6628ff. 81

vollends unbegreiflich und muß auch ungewöhnlich auf das Publikum gewirkt haben, es sei denn, sein eigenes Herrscherbild hätte zeitweilig dem in Yder geschilderten entsprochen. Wie soll man es verstehen, daß Artus als ideeller Herr aller ritterlichen Abenteuer bedenkenlos den Gedanken der aventure mißbraucht, einen Ritter aus seiner Tafelrunde scheinheilig mit einer für unlösbar gehaltenen Aufgabe betraut, um ihn zu vernichten? Nirgends besser als in dieser extremen Ausprägung wird die Auflösung des aventure-Gedankens im späteren Artusroman deutlich. Der König ist der einzige, der Keu liebt. Diese Tatsache wirft ein denkbar schlechtes Licht auf ihn, ist Indiz für seine eigene moralisch-sittliche Unzulänglichkeit. Keus Handeln, seine üblen Eigenschaften und sein schlechter Einfluß auf den König führen in Yder zu einer Spaltung der Artusgemeinschaft. Es gibt kein einheitliches Wollen und Streben mehr. Eine Polarisierung ist die Folge: Keu und Artus auf der schlechten Seite, Gauvain, Yvain und der Held auf der guten. Je negativer das Bild der einen Partei, umso positiver das der anderen. Bei Chrestien war die Polarisierung von Gut und Böse noch anders gestaltet: «Gut» war gleichgesetzt mit der arthurisch-höfischen Gemeinschaft, «Böse» bedeutete gleichzeitig un- und außerhöfisch. Hier in Yder ist das Böse nicht mehr außerhöfische Kategorie; es wird zum Bestandteil der Artusgemeinschaft selbst: Artus und Keu sind ihm anheimgefallen. Die durch den König verkörperte Welt ist im Bewußtsein des Helden zu einer Gegenwelt geworden, sie ist in diesem Roman dämonisiert wie in der älteren Gattungsgeschichte die Außenwelt. So gestaltet sich Yder zum AntiArtus-Roman. Der Artushof ist durch einen Dualismus Gut — Böse gekennzeichnet, der ihn für den Helden zur Anti-Welt gestaltet, in der nur die eigene integre Individualität sich noch behaupten kann. Diese letzte Konsequenz, in der Geschichte der Gattung seit langem vorbereitet, ist als ein Element der gattungsinhärenten Dynamik aufzufassen. Artus und Keu waren schon von Chrestien als ambivalente Charaktere konzipiert 224 : sie vereinigen in sich positive und negative Züge und waren von jeher - gerade wegen ihres apriorischen Vorbildcharakters — der Kritik ausgesetzt gewesen. Andere Figuren, die Protagonisten der Romane ζ. B., dürfen Fehler begehen und sie wieder sühnen; man faßt dies als notwendigen Bestandteil ihrer persönlichen Entwicklung auf. Für Artus und Keu gilt dieses Zugeständnis in der Regel nicht, ebensowenig wie für Gauvain, dem in den Romanen der Gauvain-Gruppe auch mehr und mehr unangenehme Eigenschaften zugeschrieben werden. Die gattungsinhärente Statik dieser Figuren erlaubt ihnen innerhalb e i n e s Textes kein Schwanken und Zögern zwischen den Polen Gut und Böse: sie sind entweder absolut vorbildlich oder werden negativ stilisiert, um für die im Laufe der Geschichte der Gattung immer stärker hervortretende Idealisierung des Helden ein Gegengewicht zu schaffen. Auf eine Formel gebracht: je vor224 vgl. Gürttler 1976 und Haupt 1971. 82

bildlicher der Protagonist, umso schlechter das Bild des Königs. Dies gilt für Yder in besonderem Maß und scheint auch für den Roman des Vallet a la Cote Mautaillie zuzutreffen, von dem nur ein, wenn auch sehr aufschlußreiches, Fragment überliefert ist. Man geht nicht zu weit, wenn man in der Anlage dieses verlorenen Romans eine starke Analogie zu Yder vermutet: des Königs vilenie spielt in beiden Texten eine zentrale Rolle. Artus' proece, bei Chrestien unbestritten, besteht in manchen späteren Gattungsexemplaren nur noch als Wunschbild. Der Held muß erkennen, daß er sein Streben nach Idealität und moralisch-positiver Selbstverwirklichung nur noch unhabhängig von Anspruch und Urteil des Artushofs verwirklichen kann. Gab es bei Chrestien noch zwei moralische Instanzen, das kollektive Bewußtsein des Hofs und das individuelle Bewußtsein des Einzelritters, haben Helden wie Yder, Durmart und Meraugis das Ideal so vollständig internalisiert, daß ihr eigenes Selbstverständnis zum Richtwert von Denken und Handeln wird. So kann auch die Distanz zwischen Artushof und Einzelritter am Romanende, wie Yder zeigt, nicht mehr recht überbrückt werden. Während Artus in anderen Romanen sein Unrecht noch einsieht und zur Selbsterkenntnis gelangt, wird in Yder eine oberflächliche Versöhnung von König, Keu und Held nur durch Yders Großmut und cortoisie zuwege gebracht. Artus und Keu ändern sich nicht, zeigen keine Einsicht in ihr verwerfliches Verhalten. Daher gleicht in diesem Roman der Endzustand weniger der traditionellen joie als einem Waffenstillstand. Im Zusammenhang mit einer solcherart gestalteten Individualisierung des Einzelritters gegenüber der Artusgemeinschaft müssen E. Köhlers Gedanken zur Trennung von Individuum und Gesellschaft im Artusroman überprüft werden. Es ist zu fragen, ob die an den Romanen Chrestiens entwickelten und für den gesamten Romantyp als verbindlich angenommenen Thesen ohne größere Modifikationen auch für den Artusroman nach Chrestien gelten können. Die Helden der frühen Romane (Erec, Yvain, Lancelot) sind vor dem Einsetzen der jeweiligen Handlung als integrierte Mitglieder der Artusgemeinschaft gedacht. Wenn immer der Artushof als Ort der joie in seinem Harmoniezustand gestört wird, zieht einer der Ritter (als Erwählter) aus; er vereinzelt sich, um mittels der aventure die Auseinandersetzung mit der bedrohlichen Umwelt zu vollziehen und am Ende die ideale Ordnung wieder herzustellen. Als heldenhafter Kämpfer für die Belange des Artushofs und die Ideale des Rittertums vollzieht er jedoch zugleich auch einen Prozeß der Selbstfindung, der sein Wesen verändert und ihn mit erweitertem Bewußtsein in den Schoß der Gemeinschaft zurückkehren läßt. Die Funktion der aventure als Mittel zur Wiederherstellung einer gestörten Harmonie macht die qieeste zur Suche nach dem Sinn des Lebensganzen, d. h. aber nach einem Sinn, der sich, da die Antagonismen der feudalen Gesellschaft sich eher steigern als vermindern, im Bereich der Immanenz nicht mehr gewinnen läßt. Die Tatsache, daß der Held des höfischen Romans eine Läuterung in Richtung auf eine umfassende individuelle Perfektion durchmacht und dieser Pro-

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zeß zugleich ständige Sicherung einer in Frage gestellten Gemeinschaft ist, besagt nicht weniger, als daß das Individuum als die Gemeinschaft erst Konstituierendes in den Vordergrund rückt, die Vorstellung der Gemeinschaft als das Primäre jedoch nicht aufgegeben werden kann, ohne den Stand als solchen und das Prinzip der hierarchischen Gesellschaft zu gefährden 225 .

Während in der weltlichen Wirklichkeit die aventure stets «Versuch» bleiben muß, nie zur erneuten «In-Eins-Setzung» von Innen und Außen führen kann, da der Bruch zwischen Individuum und Umwelt nach E. Köhlers Auffassung unaufhebbar ist228, vollziehen die Artusromane Chrestiens eine nur ideelle Überwindung der Trennung: sie manifestiert sich im jeweils - wenn auch nur vorübergehend - wieder hergestellten Zustand der joie. Dem ist im Hinblick auf die Artusromane des 1 3 . Jahrhunderts folgendes zu entgegnen: Viele Helden späterer Artusromane (Durmart, Fergus, Yder, der Vallet, Gliglois, Beaudous, Meriadeuc, der Bel Inconnu u. a.) gehören zum Zeitpunkt ihres Auszugs auf aventure nicht dem Artushof an 227 ; sie sind unbekannte junge Knappen, die Ruhm und Rang innerhalb der ritterlichen Gemeinschaft erst erwerben müssen. Die flüchtige Berührung mit den Rittern der Tafelrunde ist der entscheidenden Begegnung mit der künftigen Geliebten oft untergeordnet. Für sie und f ü r sich selbst besteht der junge Held seine Abenteuer, nicht, um eine Bedrohung vom Artushof abzuwenden. Sein Handeln steht nur bedingt im Dienst der Artusgemeinschaft, insofern als jede gute Tat der Gesellschaft von Nutzen ist. Die Selbstfindung steht im Vordergrund. Dies bedeutet, daß der junge Held nicht die Funktion haben kann, einen gestörten Harmoniezustand am Artushof wiederherzustellen. Er wird weder ausgesandt noch ist er Erwählter im Sinne Chrestiens 228 . Er wird nicht mit einem Auftrag betraut, sondern fortgeschickt, wenn er sich als Unbekannter am Hof präsentiert. Eine Trennung des Individuums von der Gesellschaft, wie E. Köhler sie für den frühen Roman postuliert, findet dementsprechend nicht statt, da die innere Verbindung des Einzelritters zum Artushof noch in keiner Weise hergestellt ist. Eine Vereinzelung des Ritters gegenüber der Gesellschaft besteht nur insofern, als er die Idealethik des Artushofs als internalisierten Anspruch an sich selbst versteht. Von der Tafelrunde wird er nicht vor Ende seiner aventure-Fahrt als würdiges Mitglied reklamiert 225 228 227 228

Köhler 1970, S. 83. Köhler 1970, S. S i f . Das Modell dieses Aufbauschemas liefert der Conte del Graal (Perceval-Teil). Auch Erec und Y v a i n werden nicht ausgesandt; Erec nimmt die Entfernung vom Hof auf sich, um eine ihm (und damit dem Artushof) angetane Schmach zu rächen. Y v a i n zieht zum Brunnen, um einerseits die Ehre seiner Sippe, andererseits die Ehre aller Artusritter zu retten. Durch diese Doppelfunktion der queste, die bei Lancelot (dort tritt der Aspekt der Auserwählung hinzu) noch stärker zum Ausdruck kommt, unterscheiden sich die genannten Romane Chrestiens von vielen späteren. 84

und anerkannt. Dementsprechend kann der Hof diesen Ritter nicht reintegrieren, sondern allenfalls integrieren. Für einzelne Ritter wie Yder, Durmart und Vallet ist eine Integration in die Artusgemeinschaft keineswegs das höchste Ziel, da ihnen der Artushof nicht mehr als H o r t der idealen Ordnung erscheinen will. Das Resultat dieser Abwendung von der Scheinidealität, von einer Artusgemeinschaft, die ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr genügt, ist der Rückzug des Ritters auf sich selbst. Das Ideal verwirklicht sich im Individuum, wenn es vor sich selbst bestehen kann. Ein Harmonie- und Freudezustand - unabhängig von der nunmehr sekundären joie des H o f s - entsteht aus dem Bewußtsein einer erfolgreichen Bewältigung der Welt und der daraus resultierenden Negierung einer Entfremdung von Ich und Umwelt. Diese am Ende in sich selbst ruhenden Individuen sind auf die Anerkennung durch die Ritter der Tafelrunde nicht mehr angewiesen; vielmehr nehmen sie die Huldigungen der Artusgemeinschaft entgegen, ohne die Zugehörigkeit zu ihr als Erfüllung eines Lebenswunsches zu empfinden. Die Entfremdung vom Artushof ist damit vollkommen und nicht zu überwinden. Doch ist diese Entfremdungserscheinung nicht als Resultat einer linear fortschreitenden Entwicklung zu verstehen. Die negative Stilisierung der Herrscherfigur und die damit verbundene Betonung der Vorbildlichkeit des ritterlichen Individuums sind Ausdruck einer Haltung von Auftraggeber, Dichter und Publikum, die keineswegs mit jüngeren Texten eine zunehmende Tendenz aufweisen. Vielmehr ist die Kritik an Artus und der Scheinidealität des H o f s von Anbeginn ein konstitutives Merkmal der Gattung, die, wie Cor, Mantel und Yder oder Vallet zeigen, gleichzeitig oder neben Texten artikuliert werden kann, die den Vorbildcharakter von König und Tafelrunde betonen (Fergus, Bel Inconnu u. a.). Die Ausläufer der Gattung enthalten ein durchweg positives Herrscherbild. So wird die Präsentation des Königs Artus zum Gradmesser der Interessenidentität oder -divergenz von Königtum und baronie und ist abhängig von der jeweiligen Gruppe, die einen der Romane in A u f t r a g gibt 229 .

229

s. hierzu die Ausführungen in Teil II.

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Kapitel 4

Eine Idealfigur im Zwiespalt: Gau vain - Ritter oder Liebhaber

Gauvain, der Königsneffe, gehört seit den Anfängen der Artusdichtung zu jener relativ kleinen Gruppe von Figuren, die den personalen Kern der arthurischen Welt bilden. Ein Versroman unserer Gattung ist ohne ihn nicht denkbar230. Gauvain ist in seinen Funktionen ebensowenig austauschbar wie Artus, Keu und Guenievre; für Erec, Yvain, Lancelot oder Perceval gilt dies nicht. Die Träger der Handlung in den Romanen Chrestiens werden in den späteren Romanen durch den jeweils neuen Helden ersetzt und spielen demgemäß in der Artusepik nach Chrestien eine ebenso untergeordnete Rolle wie in den Texten, auf die Chrestien selbst zurückgegriffen hatte. Die Lektüre der frühen Artustexte vermittelt ein umfassendes und festumrissenes Bild der literarischen Figur Gauvains. Bereits bei William of Malmesbury zeichnet er sich durch seine virtus aus; sie wird im Lauf der Gattungsgeschichte zunächst zu seinem entscheidenden Wesensmerkmal. Auch Geoffrey of Monmouth betont diesen Zug, und Wace erwähnt Gauvain selten, ohne seine hervorragenden Eigenschaften zu preisen. Chrestiens Gauvain endlich ist ein Vorbild an proesce, charite, san und cortoisie, eine Inkarnation ritterlicher und höfischer Tugenden, der Erste und Größte, die Sonne der chevalerie231.

Gauvain als Haupthandlungsträger Das Korpus der späten arthurischen Versromane enthält eine größere Gruppe von Texten, die von der Figur des Gauvain geprägt werden. Er ist

230 231

Z u r Funktion der Gauvain-Gestalt in Chrestiens W e r k s. Emmel 1 9 5 1 , S. 2 6 f f . Y v V . 2402: C i l qui des chevaliers f u sire et qui sor toz f u reclamez doit bien estre solauz clamez. Por mon seignor G a u v a i n le di que de lui est tot autresi chevalerie anluminee come solauz la matinee . . . V g l . auch E E V . 2 2 3 2 ^

86

hier nicht mehr nur ideales Vorbild und somit implizit zum role accessoire oder zum second heros verurteilt232, sondern er übernimmt die Rolle der Titel- oder Hauptfigur, tritt funktional an die Stelle, die bis dahin jeweils Yvain, Erec und andere Helden innehatten. Dieser Wandel der GauvainFigur ist in L'Atre Perilleus, Gliglois, Li Chevaliers as Dens Espees, Mule, Vengeance Raguidel und Chevalier ä l'Epee nachweisbar233. Ungeachtet seiner Funktionen als nächster Verwandter des Königs, als Ratgeber und als Kampfgenosse von Lancelot und Perceval ist Gauvain bei Chrestien eine eher passive Figur. Wie kommt es, daß er in der späteren Artusepik zum Haupthelden so vieler Romane wird? Der Grund dafür mag gerade in seiner im Lauf der frühen Werke immer stärker akzentuierten Idealisierung zu suchen sein. Eine literarische Figur mit ausschließlich vorbildlichen Eigenschaften birgt die Gefahr des Langweiligen und Farblosen. Schon Gaston Paris stellte eine «absence de traits marques» bei der Gauvain-Figur fest234, und eine Untersuchung der späten Artusromane, besonders der Gauvain-Gruppe, läßt auf eine gewisse Gegenreaktion auf die übermäßige und dadurch ermüdende Idealisierung Gauvains schließen, die sowohl beim Publikum als auch bei den Autoren der folgenden Generationen in Erscheinung tritt. Ein weiterer Grund für die Bestimmung Gauvains zur Hauptfigur wird von mehreren Autoren explizit genannt: sie empfinden es als deutlichen Mangel, daß Chrestien keinen Gauvain-Roman verfaßt hat: L'en en doit Chrestien de Troies Ce m'est vis, par raison blasmer, Qui sot dou doi Artu corner, De sa cort et de sa mesniee Qui tant fu loee et prisiee Et qui les fez des autres conte Et onques de lui ne tint conte. Trop ert preudon a oblier 235 .

Chrestien hatte es unterlassen, Gauvain ein Werk zu widmen, und hier wartete nun auf seine Nachfolger eine Aufgabe, deren sie sich mit viel Begeisterung annahmen, wie wir heute sehen können. Die Beschäftigung mit Gauvain ist ein bewußter Akt; bisher Versäumtes wird nachgeholt:

232

233

231 235

Paris 1888, H L F 30, S. 33. Für Emmel 1951, S. 67 sind die Gauvain-Romane als Ausdruck des Formverfalls zu werten: es fehle ihnen ein wesentliches Kompositionsmittel des echten Artusromans, nämlich die Beziehung des Helden zur Norm des Artusrittertums in der Gestalt Gauvains. In den genannten Werken ist Gauvain Haupt-Handlungsträger oder einem anderen Helden als gleichwertiger Kampfgenosse zugesellt. Mit Einschränkung gilt das Gesagte auch für Gliglois und Hunbaut. - K. Busby, The figure of Gauvain in Old French Literature, Amsterdam 1980. Paris 1888, H L F 30, S. 29. ChE V . i8ff.

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Roumans a faire m'aparel D e celui qui ainc n'ot parel D e pris ne de valor el mont 236 . Et tos Ii plus vaillans del mont Et eil dont plus dire vos d o i . . · 237 Je cont de monsaignor Gauvein, Q u i tant par ert bien ensaigniez Et qui fu des armes prisiez Q u e nus reconter ne savroit. Qui ses bones teches voudroit Totes retraire et metre en brief, II n'en vendroit onques a chief. Se ne nes puis totes retrere, Por ce ne me doi je pas tere Que je ne die totes voies 238 . W e n n m a n über G a u v a i n schreibt u n d n i c h t über die F i g u r e n , die C h r e s t i e n in den M i t t e l p u n k t gestellt hatte, ist m a n , so der A u t o r v o n Hunbaut,

auch

n i c h t d e m V o r w u r f ausgesetzt, m a n h a b e alle seine I d e e n v o n d e m g r o ß e n V o r g ä n g e r ü b e r n o m m e n , ihn g l e i c h e r m a ß e n b e r a u b t : N e dira nus hon que je robe Les bons dis Chrestien de T r o i e s . . . 239 In diesen A u s s a g e n der C h r e s t i e n n a c h f o l g e r s t e c k t f ü r uns ein gewisser W i d e r s p r u c h , d e n n w i r wissen (oder g l a u b e n z u wissen), d a ß C h r e s t i e n sich sehr w o h l a u s f ü h r l i c h m i t d e m K ö n i g s n e f f e n b e s c h ä f t i g t h a t ; sind i h m d o c h im Conte

del

Graal

m e h r e r e T a u s e n d V e r s e gewidmet 2 4 0 . S o l l t e n dies die

späteren A u t o r e n , die sich sonst m i t seinen W e r k e n so i n n i g v e r t r a u t z e i g e n ( a u c h m i t d e m Perceval),

n i c h t g e w u ß t h a b e n ? O d e r v e r h ä l t es sich n i c h t

Η V. M j f f . Η V . 662ff. 238 C h E V . 8ff. 23» Η V . i86ff., s. auch Anm. JJ. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch eine Stelle aus M R , den man nicht als Gauvain-Roman bezeichnen kann, w o aber der Dichter äußert: Mais eil oevre par grant delit Qui de tel ome fait son dit C o n mesire Gavains estoit, Quant on nul millor ne savoit (MR V . ί ο 969ff.) Vgl. auch den A n f a n g des Romans (V. 7 f f . ) : Del roi Artu et de ses homes, sowie V . io6o6ff. - Wie die Chrestien-Nachfolger gegen ihr Vorbild, wendet sich auch der Dichter der Branche I tadelnd gegen den Schöpfer des Roman de Renart, Pierre de Saint Cloud, dem er den «Vorwurf» macht, Gerichtsverhandlung und Urteil gegen den Fuchs nicht geschildert zu haben: Perroz . . . laissa le mieuz de sa matiere quant il entroblia les plaiz et le jugement qui fu faiz . . . (ed. Roques, V . 4 - 6 ) 240 Zum Streit um die Verfasserschaft des Gauvain-Teils des Conte del Graal s. Pollmann 196J und Köhler 1959. 238 237

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eher so, daß sie die Rolle Gauvains im Conte del Gr aal ebenso stark als role accessoire empfanden wie in der Charrete? Betrachten wir die GraalFortsetzungen, so sehen wir, daß Ζ. B. im Pseudo-Wauchier die Abenteuer Percevals und Gauvains abwechselnd erzählt werden; aber Gauvains queste erschöpft sich in der Suche nach Perceval. Der Pseudo-Wauchier macht deutlich, daß Gauvain nicht dazu bestimmt ist, den Graal zu erringen. Er kann das zerbrochene Schwert nicht zusammensetzen, fragt nicht nach dem Graal und schläft ein, bevor er eine Erklärung f ü r die rätselhaften Vorgänge erhalten hat 241 . Es ist durchaus möglich, daß die Graalfortsetzer mit dieser Darstellung den ursprünglichen Absichten Chrestiens entsprachen. Andere Artusdichter aber wünschten offensichtlich, Werke zu schaffen, in denen ihr vernachlässigter Idealritter einmal der einzige Held, der Mittelpunkt des Geschehens, sein sollte. Man darf annehmen, daß sie mit der Verwirklichung dieses Wunsches auch den Vorstellungen des Publikums arthurischer Versdichtung entgegenkamen: Ma dame me conmande et prie Que une aventure Ii die Qu'il avint au Bon Chevalier, Et je nel puis mie laiscier Quant ele le m'a conmande, Des qu'il Ii piaist et vient a gre 242 .

Selbst wenn man die Behauptung des Autors, seine Herrin habe ihm den Auftrag gegeben, einen Gauvain-Roman zu verfassen, f ü r einen Topos hält, spricht doch die Tatsache f ü r sich, daß er vorgibt, einen expliziten A u f t r a g erhalten zu haben. Wer nun aber erwartet, daß Gauvain in den ihm ganz gewidmeten Werken uneingeschränkt gefeiert wird, sieht sich getäuscht. Seine Funktion als ritterliches Vorbild tritt o f t sehr in den Hintergrund. Er wird kritisiert, begeht Fehler, versagt vor den ihm auferlegten Pflichten. Doch erfüllt er in anderer Hinsicht die Erwartungen des Publikums; eine so alte und festgewordene literarische Tradition wie die mit seinem N a m e n verbundene läßt sich nicht ohne Übergang in ihr Gegenteil verkehren. So fungiert er auch weiterhin als guter Ratgeber des Königs, er empfängt die Gäste bei H o f , man wendet sich an ihn, wenn man Hilfe braucht, und f ü r die unerfahrenen jungen Männer, die an den Hof kommen, ist er immer noch das strahlende Beispiel eines vollkommenen Ritters, dem nachzueifern ihr Lebensinhalt ist. Aus diesem Grund wird er als «Knappenausbilder» sehr geschätzt. Von weither, auch von außerhalb des Artusreichs, sendet man ihm die Knaben. Als Gliglois, Sohn eines reichen deutschen chastelain und Held des gleichnamigen Romans, das vierzehnte Lebensjahr erreicht hat, schickt ihn der Vater zum Artushof: 241

242

In außerfranzösischen Artusromanen ist es jedoch möglich, Gauvain zum Helden der Graalaventure und damit zum Erretter zu erheben. A P V. i f f . 89

Jou vuel que vous allies a court Pour aprendre sens et savoir, Gavain pressentes vo service. S'i vous retient, n'aies cointize, Mais servez le dessy qu'al pie Si chier con aves m'amistie243.

Auch Meriadeuc, der spätere Chevalier as Deus Espees, ist ein Knappe Gauvains bis zu dem Tag, als er plötzlich außergewöhnliche Eigenschaften erkennen läßt und auf aventure zieht. Gauvain ist Weggefährte und Waffengenosse für Fergus, Meriadeuc, Durmart, Meraugis, Yder, denn besser als andere Ritter vom Hof weiß er chevalerie zu erkennen, auch wenn sie sich noch nicht durch große Taten bewiesen hat. Oft gipfelt die Reihe der Abenteuer, die ein Held zu bestehen hat (und damit die Bewährung vor sich und der Welt) darin, daß er sich im Zweikampf gegen Gauvain behaupten muß. Von den verschiedenen Ausformungen und der Funktion des Gauvain-Kampfes wird an anderer Stelle noch zu sprechen sein244. Gauvain wird auch als Herrscher gezeigt; durch den Tod seines Vaters gelangt er in Beaudous zu einem eigenen Land und zu großem Reichtum. Der Roman beginnt damit, daß Artus die Barone zum Krönungsfest seines Neffen einlädt. Das Erlangen eines eigenen Herrschaftsbereichs ist ein weiteres (wenn auch nur vereinzeltes) Indiz für die fortschreitende Verselbständigung und Aktivierung der Gauvain-Figur. Unabhängig von diesen inhaltlichen Aspekten, die je nach der Ausrichtung der Texte verschiedenes Gewicht haben, kann man feststellen, daß kaum ein Autor Gauvains Namen erwähnen kann, ohne zugleich ein Loblied auf ihn zu singen. Einige Beispiele aus verschiedenen Romanen mögen dies illustrieren: Une aventure qui avint Au bon chevalier qui maintint Loiaute, proece et anor, Et qui n'ama onques nul jor Home coart, faus ne vilain 245 . . . . icil Qui d'autres homes valoit mil Por amor, honor, et francise . . . 2 4 e Et si est preus et biaus et gent 247 Bien parlans et cortois et sage . . ,247 . . . eil en cui Dix avoit mise Loiaute, prouece et francise, K'il avoit fait cortois et sage, Sans vilounie et sans outrage, Sans orguel et sans desmesure . . · 2 4 8 243 2244 44 245

G V. 2 4 ff. Vgl. Kapitel 6. ChE V. 3 ff.

90

249 247 248

AP V. 273/f. Η V. inf. AP 49?4ff.

Loiaute, proesce, honor, franchise, amor, cortoisie, sagesse, largesse, biaute, gentilesse... an den Epitheta des Gauvain-Lobs wird deutlich, in welchem Ausmaß Gauvain alle Merkmale des ritterlichen Ideals zuerkannt werden. Kein anderer Held in der gesamten Artusepik vereinigt so viele positive Eigenschaften in sich. Was seit William of Malmesbury vorgeprägt war, findet auch in den meisten Artusromanen nach Chrestien volle Bestätigung24".

Der - Triumph und Scheitern Ein weiterer Wesenszug hingegen, der Gauvain ebenfalls von Anbeginn zugeschrieben wurde und der sich in dem Beinamen chevalier as demoiseles250 niederschlägt, erfährt in den späten Artusromanen nicht nur Bestätigung, sondern nachdrückliche Ausweitung und Betonung: sein besonderes Verhältnis zum weiblichen Geschlecht spielt in fast allen Romanen eine Rolle und wird in manchen Texten zum entscheidenden Element der Strukturbildung. Gauvain ist bekannt dafür, daß er allen Damen in N o t unverzüglich zu Hilfe eilt: Bien puet trestox Ii mondes dire Que c'est ci le Bon Chevalier, Et eil qui tox jors seut aidier As damoiseles au besoig251.

Und Artus hält dies fast f ü r Gauvains Lebensinhalt: Vous ki estes toz iors vescus Por poures dames soustenir Vous ki solies si maintenir Les puceles desiretees.. · 2 5 2

Als er einmal nicht gleich zur Stelle ist, fragt Yvain: - Et mes sire Gauvain, chaeles, Li frans, Ii dolz, ou ert il donques? A s'a'ie ne failli onques Dameisele desconseilliee253.

Natürlich erfüllt Gauvain hiermit ein Gebot ritterlicher Ethik. Aber dies ist auch eine Aufgabe, die er besonders gern erfüllt, und es ist nicht nur seine Rolle als Befreier aus der N o t , die ihm seinen Beinamen eingebracht hat, wie Gaston Paris annahm: 249

250 251 252 253

Im Rosenroman ed. Lecoy V. 2075ff. wird Gauvain als höfischer Idealmensch und absolutes Vorbild gepriesen. Dieser Beiname taucht zuerst in Mer V. 1348 auf. A P V. 141 off. C h D E V. 3 3 i o f f . Y v . V. 3 6 9 2 f f . [3698ff.]. 91

On est sür qu'il ne fait jamais ctefaut έ une demoiselle qui a besoin de protection. [ . . . ] II a ainsi Γηέπίέ le nom de