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German Pages 624 [628] Year 2005
Andrea Polaschegg Der andere Orientalismus
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
35 (269)
W DE
G Walter de Gruyter · Berlin · New York
Der andere Orientalismus Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert
von
Andrea Polaschegg
W G DE
Walter de Gruyter · Berlin · New York
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN-13: 978-3-11-018495-2 ISBN-10: 3-11-018495-8 ISSN 0946-9419 Biblioft-aßsche information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Copyright 2005 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenxen des Urheberrcchtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Kinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Kinbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin
meiner Mutter, meinem Vater und wem, wenn nicht ihm
Vorbemerkung Die vorliegende Arbeit wurde unter dem Titel Deutscher Qnentalismus im frühen 19. Jahrhundert. Die Regeln der Imagination im Wintersemester 2003 / 2004 von der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Für die Publikation wurde der Text geringfügig überarbeitet; den Satz hat Bernd Klöckener besorgt. In diesem Buch ist viel von Möglichkeitsräumen des Orientalismus die Rede. Hier ist der Ort, all jenen zu danken, die der Arbeit selbst ihren Möglichkeitsraum eröffnet und seine Grenzen so weit gesteckt haben. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Prof. Dr. Ernst Osterkamp, der dieses Projekt nachhaltig unterstützt, es in jeder Form gefördert hat und aus dessen literatur- und ästhetikgeschichtlichen Kenntnissen ich in den vergangenen Jahren maßlos schöpfen durfte. Den fachlichen Anregungen aus Gesprächen mit ihm und aus meiner Tätigkeit an seinem Lehrstuhl verdankt meine Arbeit sehr viel. Neben ihm sind es zwei akademische Lehrerinnen und Lehrer, die — womöglich ohne ihr Wissen - nachhaltig auf mein Projekt eingewirkt haben: Prof. Dr. Gudrun Krämer hat mir während meines Studiums einen ebenso sorgsamen wie pragmatischen wissenschaftlichen Umgang mit der Geschichte und den Gesellschaften des Nahen und Mitderen Ostens beigebracht und mich gelehrt, daß man auch diese Gegenstände nur scharf sehen kann, wenn man sie nicht in die Ferne des Unvergleichlichen rückt. Und von Prof. Dr. Roland Harweg habe ich gelernt, die Wirkungsweisen von Sprache zu begreifen und ihren Eigensinn zu beschreiben, ohne dabei in Determinismus zu verfallen oder die Existenz systemischer Regeln zu leugnen. Ferner gilt mein Dank der Studienstiftung des deutschen Volkes, von deren Förderung während meines Studiums und während der Promotionszeit ich ungemein profitiert habe. Auch danke ich dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz für die Erlaubnis, Archivalien aus seinem Besitz zu publizieren. Den größten Anteil am Zustandekommen dieses Buches haben meine Eltern, die mich während der gesamten Zeit intellektuell, emotional, fachlich und finanziell unterstützt und befeuert haben, und denen ich dafür unendlich dankbar bin. Für das große disziplinäre und thematische Spektrum meiner Arbeit, ihre theoretische Fundierung und ihre mediale Gestalt aber ist letztlich eine
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Vorbemerkung
lange Reihe von Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen verantwortlich: Werner Kogge hat mir in vielen Diskussionen philosophisch zahllose Türen geöffnet, Elke Hartmann hat mich an ihrem breiten Wissen über das Osmanische Reich teilhaben lassen, Rolf Johannsen hat mir kunstgeschichtlich zur Seite gestanden und mich in viele Geheimnisse Friedrich Wilhelms IV. eingeweiht, Hania Siebenpfeiffer hat mir ihre Kompetenz in der Gender-Forschung zur Verfügung gestellt, Andreas Pflitsch hat mich in arabistischen Fragen beraten, Hendrik Pfeiffer in theologischen, und Carlotta Glogowiec ist für mich auf eine fotografische Reise gegangen. An der Redaktion des Buches haben Lea Braun, Christopher Roth, ClausMichael Schlesinger und Rebecca Wittkowski mitgearbeitet. Aber ohne die Kompetenz, die Geduld, das Wissen und den Witz, die mir Ekbert Birr an jedem Tag der langen Arbeit an diesem Projekt geschenkt hat, hätte nichts davon den Weg aufs Papier gefunden. Berlin, im September 2005 Andrea Polaschegg
Inhalt EINLEITUNG
l
TEIL L ORIENTALISMUS DENKEN 1. Orientalismus - Alterität - Imagination l. l Kleine Geschichte der Orientalismusforschung 1.1.1 Orientalismusforschung im linguistic turn 1.1.2 Orientalismusforschung im cultural turn l .2 Exemplarische Aporien: Saids Orientalism l .2.1 From Aeschylus to Kissinger 1.2.2 ... almost a European invention 1.2.3 Alterität 1.3 Wenn Dichotomien reden könnten: Das Eigene und das Fremde 1.3.1 Differenz und Distanz l .3.2 Vom Allgemeinen und Besonderen l .3.3 Im toten Winkel: Die Macht des Nicht-Verstehens
9 10 11 18 28 30 33 35
Fazit
57
39 41 49 51
TEIL II: ORIENTALISMUS IM 19. JAHRHUNDERT GENESE UND GESTALTEN 2. Wo Hegt der Orient? 2.1 Der Ort 2.2 Die Grenzen 2.3 Die Ordnung 2.4 Familienähnlichkeiten in Geographie
63 64 70 85 96
3. Die Teile und ihr Ganzes: Vorspiel auf dem Welttheater 3.1 Die Chinesen 3.2 Die Ägypter 3.3 Die Türken 3.4 Zwischenbilanz 3.5 Der Orient: Das etwas andere Andere
102 103 108 126 133 135
4. Der linguistic turn des deutschen Orientalismus 4. l Übersetzungen
143 146
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Inhalt
4.2 Frühorientalistik I: Bibelwissenschaft 4.3 Die Folgen: Bibel, Hebräer und Juden auf dem orientalistischen Spielfeld 4.4 Frühorientalistik II: Altertumskunde und historisch-vergleichende Sprachwissenschaft 4.5 Die Folgen: Metamorphose der Perser vom vertrauten Anderen zum fremden Eigenen 5. Möglichkeitsräume des Orientalismus 5.1 Von Peking nach Schiras: Schillers Turandot 5.2 Der gegenwärtige Orient 5.2.1 Türkische Präsenz 5.2.2 Die „Orientalische Frage" 5.3 Orientalische Frage(n) an den Ursprung der Kultur: Der Philhellenismus 5.3.1 Historische und politische Hintergründe des griechischen Freiheitskrieges 5.3.2 Die philhellenische Bewegung in Deutschknd 5.3.3 Philhellenismus und Orientalismus oder das Andere der Griechen 5.3.4 Wer sind die Griechen? Mehrfache Lesbarkeit und die Folgen Fazit: Wie man den Orient konstruiert ohne hinzusehen
157 166 177 196 201 205 219 219 224 232 233 241 253 263 276
TEIL III: ORIENTALISMUS VON FALL zu FALL: EINZELSTUDIEN 6. Der Orient bin ich: Goethes Poetologie des Ostens 6.1 Morgenlandfluchten 6. l. l Als Kriegsflüchtling an des Paradieses Pforte 6.1.2 Zeit-Sprung 6.2 Wie man Orientale wird 6.2.1 An den Quellen 6.2.2 Die unlesbare Schrift I 6.2.3 Die goldenen Ranken der Autorschaft 6.2.4 Die unlesbare Schrift II 6.2.5 Die Magie der Namen 6.3 Die Morphologie des Orients 6.3.1 Der Ariadnefaden 6.3.2 Von der Reinlichkeit der Perser 6.3.3 Dauer im Wechsel 6.3.4 Auf dem Truppenübungsplatz der Kulturmorphologie
293 293 294 304 311 312 316 327 331 336 343 344 348 355 365
Inhalt
6.4 Das Paradies der Zeichen 1.4.l Jenseits von Arbitrarität und Kontingenz 6.4.2 Die poetische Auflösung des ethnologischen Dilemmas Zusammenfassung 7. Den Orient um die Ecke gedacht: Wilhelm Hauff 7.1 Orient - Märchen - Markt 7.2 Ex Oriente miraculum? 7.3 Grenzen und Distanzen: Kleiner Grenzverkehr 7.4 Zwischen Stambul und Akara 7.5 Metapher, Witz und Grenze 7.5.1 Gespannte Textur 7.5.2 Der andere Blick 7.5.3 Der Montesquieu vom Neckar? Zusammenfassung 8. Der Orient in Preußen: Friedrich Wilhelm IV. Die Königin von Borneo 8. l Brief-Roman? 8.2 „The willing suspension of disbelief: Im Vogelnest der Autobiographie 8.3 „Noch einmal sattelt mir den Hippogryfen, ihr Musen": Vogel und Flug 8.4 Der goldene Spiegel oder Transkulturelle Monarchie 8.5 In Szene gesetzt 8.6 Ausblick: Lalla Rukh Schluß
XI
373 373 388 396 398 400 407 410 418 424 428 430 437 448 450 454 468 478 492 509 519 531
ANHANG Friedrich Wilhelm IV.: Abentheuer des Fürsten Fendoun mit der Königinn von Borneo (Transkription) Literaturverzeichnis Deutscher Orientalismus — historische Übersicht Personen- und Werkverzeichnis Bildnachweis
537 541 598 608 614
Einleitung Bei allen wissenschaftlichen Fährnissen, die das Forschungsfeld des Orientalismus bereithält, muß, wer es zu Beginn des 21. Jahrhunderts betritt, eines gewiß nicht fürchten: Einsamkeit. Vor allem das Gebiet des 19. Jahrhunderts hat sich durch die literaturwissenschaftliche Urbarmachung der vergangenen fünfundzwanzig Jahre in eine klein parzellierte Kulturlandschaft verwandelt, deren innere Grenzlinien sich in der Regel an den Abmessungen einzelner Autoren und Autorinnen orientieren und somit Grundstücke abzirkeln, von denen kaum eines ohne wissenschaftlichen Pächter ist: Neben zahllosen Forschungen zum Orientalismus bei Johann Wolfgang Goethe1 existiert inzwischen auch eine beträchtliche Reihe von Arbeiten zum Orient bei Heinrich Heine,2 August von Platen,3 Friedrich Rückert,4 August Wilhelm Schlegel,5 Friedrich Schlegel,6 Achim von 1 Siehe Kap. 6 dieser Arbeit. 2 Vgl. exempl. Mounir Fendri: Halbmond, Kreu% undSchibboleth. Heinrich Heine und der islamische Orient. Hamburg 1980; Klaus H. Kiefer: „Decamps' .Türkische Patrouille'. Heines Bild vom Orient". In: Heine-Jahrbuch 35 (1996), S. 1-22; Christiane Barbara Pfeifer: Heine und der islamische Orient. Wiesbaden 1990. 3 Vgl. exempl. Hartmut Bobzin: „,Der Orient sey neubewegt ...'. Platens Studien zum Persischen und seine Ghazelen-Dichtung". In: August Graf von Platen 1795-1835. „Was erwünscht, das ist ihm nie geworden". Eine Ausstellung zum 200. Geburtsjahr des Dichters. Katalog. Hrsg. v. Gunnar Och. Erlangen 1996, S. 89-119; ders.: „Platen und Rückert im Gespräch über Hafis". In: Hartmut Bobzin /Gunnar Och (Hrsg.): August Graf von Platen. Leben, Werk, Wirkung. Paderborn / München / Wien / Zürich 1997, S. 103-121; Johann Christoph Bürgel: „Platen und Hafis". In: Bobzin / Och (Hrsg.): August Graf von Platen, S. 85-102. 4 Vgl. exempl. Mahmoud al-Ali-Huseinat: Rückert und der Onent. Untersuchungen %u Friedrich Rückerts Beschäftigung mit der arabischen und persischen Literatur. Frankfurt a. M. / Bern 1993; Dagmar Kötting: „.Dahinter schlief vom Orient mein Strahl'. Der Scheintod eine erste poetische Beschäftigung Friedrich Rückerts mit dem Orient". In: RiickertStudien l (1993/94), S. 42-72; Mohsen El-Demerdasch: „Der Orient im Leben und Werk Friedrich Rückerts". In: Das Schöne soll schön sein. Aisthesis' in der deutschen Literatur. Festschrift für Wolfgang F. Bender. Hrsg. v. Peter Heßelmann u. a. Bielefeld 2001, S. 23-241. 5 Vgl. exempl. Anil Bhatti: „August Wilhelm Schlegels Indienrezeption und der Kolonialismus". In: Konßkt - Grenze - Dialog. Kulturkontrastive und interdisziplinäre Text^ugänge. Festschrift für Horst Turk zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Jürgen Lehmann u. a. Frankfurt a. M. 1997, S. 185-205; Hak-Su Byun: Hermeneutische und ästhetische Erfahrung des Fremden. August Wilhelm Schlegel. München 1994; Karl S. Guthke: „Benares am Rhein Rom am Ganges. Die Begegnung von Orient und Okzident im Denken A. W. Schlegels". In: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts 1978, S. 396-419.
2
Einleitung
Arnim,7 Clemens Brentano,8 Karoline von Günderrode,9 Christoph Martin Wieland,10 und selbst die Werke Bettina von Arnims,11 Ludwig Tiecks,12 Heinrich von Kleists13 und Wilhelm Heinrich Wackenroders14 sind bereits auf ihre Be- und Verarbeitung des Orients hin untersucht worden. Die Zahl der hier angegebenen Auswahl an fachwissenschaftlichen Texten zum literarischen Orientalismus mag einen ersten Eindruck vermitteln von der tatsächlichen Besiedlungsdichte dieser Forschungslandschaft, deren mosaikartige Gestalt allerdings nicht ihr einziges Strukturmerkmal ist. Quer durch sie hindurch verläuft nämlich eine Schneise, die sich weder an einzelnen Autoren, noch am spezifisch Literarischen der Gegenstände, noch an ihrer nationalen Spezifik orientiert und gerade deshalb viele Arbeiten zum literarischen Orientalismus in Deutschland schneidet oder sie zumindest berührt. Diese Forschungsachse begreift den Orientalismus als ein gesamteuropäisches, bzw. gesamtwestliches und zudem als ein interdiskursives Phänomen, nämlich als eine bestimmte Weise des darstellenden Umgangs mit dem Orient, die sich aus dem Zusammenspiel gesellschaftli-
6 Vgl. exempl. Franz N. Mennemeier: „The own and the foreign orient - Schlegel, Nietzsche, Artaud, Brecht. Notes on the process of reception". In: Erika FischerLichte (Hrsg.): The dramatic touch of difference - Theater, own and foreign. Tübingen 1990, S. 23-29. 7 Gerhard Hoffmeister: „Granada und Jerusalem oder ,Poesie-Orient' versus RealOrient. Referenzbeziehungen zwischen Heine, Arnim und Byron". In: Heinrich Heine und die Romantik. Erträge eines Symposiums an der Pennsylvania State University (21.-23. September 1995). Hrsg. v. Markus Winkler. Tübingen 1997, S. 159-172. 8 Wilhelm Fraenger: Clemens Brentanos Alhambra. Amsterdam 21964. 9 Lucia M. Licher: „A sceptical Muhammedan. Aesthetics as a theory of life's practice in the writings of Caroline von Günderrode". In: International Congress on the Enlightenment V. Münster 1995, Bd. 3, S. 1450-1452; dies.: „,Du mußt dich in eine entferntere Empfindung versetzen'. Strategien interkultureller Annäherung im Werk Karoline von Günderrodes (1780-1806)". In: Der weibliche multikulturelle Blick. Ergebnisse eines Symposiums. Hrsg. v. Hannelore Scholz und Britta Baume. Berlin 1995, S. 21-36; Ingeborg H. Solbrig: „Die orientalische Muse Meletes. Zu den Mohammed-Dichtungen Karoline von Günderrodes". In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 13 (1989), S. 299-322. 10 Vgl. exempl. Sven Aage Jorgensen: „Wielands Antike und Morgenland". In: Begegnung mit dem ,fremden". Grenzen — Traditionen — Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanistenkongresses. Hrsg. v. Eijiro Iwasaki. Tokyo 1990, Bd. 7, S. 129-135. 11 Alev Tekinay: „Zum Orient-Bild Bettine von Arnims und der jüngeren Romantik". In: Arcadia 16 (1982), H. l, S. 47-49. 12 Anke Bosse: „Orientalismus im Frühwerk Ludwig Tiecks". In: Walter Schmitz (Hrsg.): Ludwig Tieck. Literaturprogramm undLebensins^enierung. Tübingen 1997, S. 43-62. 13 Sabine Doering: „Persien im Märkischen Sand. Kleists Bild vom Orient". In: Kleistjahrbuch 1996, S. 171-186. 14 Birgit Tautz: „Wackenroder's Ein wunderbares morgenländisches Mährchen von einem nackten Heiligen. Autopoiesis of World, Rhetoric of ,the Orient'". In: Monatshefte 95 (2003), H. l, S. 59-75; Heinz Härtl: „Übereuropäisches bei Achim und Bettina". In: Die Erfahrung anderer Länder. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von Arnim. Hrsg. v. Heinz Härtl und Hartwig Schulz. Berlin /New York 1994, S. 215-230.
Einleitung
3
eher, wissenschaftlicher, politischer, ökonomischer und ästhetischer Kräfte im neuzeitlichen Europa herausgebildet hat und seither jede Form der Wahrnehmung und Repräsentation dieses Orients mitbestimmt. Die nationalen Vorbilder, denen dieses wissenschaftliche Bild eines westlichen Orientalismus seine Beschaffenheit verdankt, sind Großbritannien und Frankreich, deren repräsentativer Charakter für alle europäischen Gesellschaften die implizite und unhinterfragte Voraussetzung jenes Forschungszweiges ist, der im ersten Kapitel dieses Buches eine ausführliche Diskussion erfahren wird. Somit sind es zwei gegenläufige Linien, welche die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem deutschen Orientalismus bestimmen — eine stark spezialisierte, an einzelnen Autoren und ihren Werken ausgerichtete Beschäftigung und eine, die nationale, diskursive und individuelle Differenzen transzendiert. Wie gesagt, überschneiden sich diese Linien auf dem Forschungsfeld des deutschen Orientalismus immer wieder, und ihre Schnittpunkte lassen sich sogar innerhalb des Aufbaus der entsprechenden Einzelstudien klar bezeichnen: Reflexionen zum Orientalismus als Kulturphänomen trifft man hier zumeist in der Form abgezirkelter Exkurse an — oft im Eingangskapitel oder einem einleitenden Aufriß —, die entweder die historische Vorgeschichte des Orientalismus skizzieren,15 oder eine systematische Positionierung der jeweiligen Arbeit innerhalb der vorangegangenen Auseinandersetzung mit dem europäischen Orientalismus unternehmen.16 Beides geschieht seit den 1980er Jahren nicht mehr ohne expliziten Bezug auf den initialen Text der kritischen Orientalismus-Forschung universal-westlicher Provenienz, Edward W. Saids Orientalism von 1978, der im Laufe dieses Buches ebenfalls noch ausführlicher Thema sein wird. Nach Abschluß dieser Exkurse führt der Weg der entsprechenden Studien dann in der Regel zum philologischen Tagewerk der Einzel- oder Kontext-Analyse zurück. Bis auf sehr wenige Ausnahmen17 geht mit diesem Nebeneinander der autor-/textzentrierten und der gesamt-orientalistischen Frageachse jedoch keine systematische Reflexion der einen durch die andere einher. Die Ar15 Exemplarisch: Doering: Persien im Märkischen Sand, S. 172-176; Andrea Fuchs-Sutniyoshi: Orientalismus in der deutschen Literatur. Untersuchungen %u Werken des 19. und 20. Jahrhunderts von Goethes West-östlichem Divan bis %u Thomas Manns Joseph -Tetralogie. Hildeshcim 1984, S. 19-43; Ludwig Ammann: Östliche Spiegel. Ansichten vom Orient im Zeitalter seiner Entdeckung durch den deutschen Leser 1800-1850. Hildesheim 1989, S. 14-16. 16 Ebenfalls exemplarisch: JVurijam Weber: Der „wahre Poesie-Orient". Eine Untersuchung %ur Orientalismus-Theorie Edward Saids am Beispiel von Goethes West-östlichem Divan und der Lyrik Heines. Wiesbaden 2001, S. 9-1 l;Pfeifer Heine und der islamische Orient, S. IV-XVI. 17 Zwei dieser Ausnahmen sind Hendrik Birus („Goethes imaginativer Orientalismus". In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts NF 1992, S. 107-128; hier: S. 107-110), der eine solche systematische Kopplung der Forschungstraditionen zumindest programmatisch fordert und Anil Bhatti („August Wilhelm Schlegels Indienrezeption und der Kolonialismus"), der sie anhand seines Gegenstandes tatsächlich durchspielt.
4
Einleitung
beiten zum Orientbild einzelner Autoren verhalten sich entweder affirmativ zu den Erkenntnissen der transnationalen und transdiskursiven Orientalismus-Forschung, lehnen sie programmatisch ab oder ignorieren sie, während letztere die Ergebnisse der germanistischen Einzelanalysen entweder ohne Reibungs wider stand absorbieren oder ausblenden.18 Somit ist das parzellierte Feld literaturwissenschaftlicher Orientalismus-Forschung zwar von einigen Überschneidungen dieser verschiedenen wissenschaftlichen Traditionen durchzogen, denen allerdings keine systemische Kopplung und entsprechend auch keine Kommunikation korrespondiert, die also letzdich unverbunden nebeneinander existieren und sich auch unabhängig voneinander entwickeln. Ein Blick auf die gerade beschriebenen Rekurse in den Vorworten und Einleitungen sowie in die Literaturlisten der bislang vorliegenden wissenschaftlichen Beiträge macht jedoch schnell deutlich, daß dieser Umstand keineswegs auf bloße Ignoranz auf Seiten der beteiligten Wissenschaftler zurückgeführt werden darf. Vielmehr scheinen es systematische Gründe zu sein, die eine fruchtbare — und das heißt notwendig auch: kritische — Rezeption der je anderen Forschungsrichtung verhindern, trotz der sich in zahlreichen Rekursen und Einzelbezügen niederschlagenden Einsicht in deren grundsätzliche Relevanz. Und einige dieser Gründe lassen sich auch unmittelbar benennen. Denn mit der literaturwissenschaftlichen Forschung zum Orientbild etwa bei Goethe, Heine oder Günderrode auf der einen, und der Auseinandersetzung mit dem Orientalismus als gesamteuropäischem und gesamtgesellschaftlichem Phänomen auf der anderen Seite, stehen einander nicht (allein) Philologie und Kulturwissenschaft oder theoretische Ansätze und die Arbeit am Text gegenüber. Was hier darüber hinaus nicht zur Deckung kommt, ist ein vermeintlich deutscher Sonderfall mit einem ebenso vermeintlich europäischen Allgemeinen: Denn wie bereits angemerkt, schreibt sich die kritische Orientalismus-Forschung transnationaler Provenienz letztlich aus einem sehr spezifischen, anglofranzösischen Kontext her und hat ihre Parameter und Grundaxiome auch aus der Analyse englischen und französischen Materials gewonnen; eines Materials, das — wie im nachfolgenden historischen Abriß der Orientalismus-Debatte noch genauer aufzuzeigen sein wird — in enger Beziehung zum Orient-Kolonialismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 18 Ein gutes Beispiel für die Absorptionskraft dieser Forschungstradition bieten — neben den Studien Edward Saids selbst (s. u.) - die materialreichen Arbeiten von Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 1998; ders.: „Distanzerfahrung. Darstellungsweisen des Fremden im 18. Jahrhundert". In: Hans-Joachim König / Wolfgang Reinhard /Reinhard Wendt (Hrsg.): Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der Wirklichkeitiwakrnebmung. Berlin 1989, S. 9-42.
Einleitung
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stand und vor diesem Hintergrund auch Eingang in die Reihe wissenschaftlicher Gegenstände gefunden hat. Nun besaßen aber weder Preußen, Bayern oder Württemberg noch das spätere Deutsche Reich Kolonien im Orient. Entsprechend hat sich auch die deutsche Orient-Literatur, OrientWissenschaft und Orient-Politik des 19. Jahrhunderts in einem anderen Gravitationsfeld entwickelt als jene, aus der die Orientalismus-Forschung gesamteuropäischen Anstrichs ihre bis heute gültigen Grundannahmen und Paradigmen ableitet. Vor dem Hintergrund einer solchen Gemengelage aus Spezifika und Universalien, aus (implizitem) Material und Theorie rücken die oben skizzierten Inkommensurabilitäten zwischen literaturwissenschaftlicher Einzeluntersuchung und Orientalismus-Forschung in den Bereich des Erwartbaren oder sogar weiter in den des Wahrscheinlichen. Mit dem Anspruch, das Allgemeine mit dem Besonderen in Beziehung zu setzen, betritt die vorliegende Arbeit das Forschungsfeld des deutschen Orientalismus. Ihr Ziel ist es allerdings nicht, den deutschen „Fall" ins Gesamtarrangement des viel diskutierten westlichen Orientalismus einzurücken und so eine Lücke innerhalb der entsprechenden transnationalen Forschung zu schließen. Vielmehr geht es zunächst einmal darum, den deutschen Orientalismus als spezifische Figuration aus ästhetischen, wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Bewegungen und Eigendynamiken überhaupt Gestalt gewinnen zu lassen, und zwar eine historisch spezifische Gestalt. Der Fokus liegt mit dem frühen 19. Jahrhundert nämlich auf einer Zeit, in welcher Ludwig Ammann besonders auf ästhetischer Ebene eine deutliche Hinwendung zum Orient diagnostiziert hat.iy Wie eine Skizze der Genese dieses Orientalismus seit der Frühen Neuzeit jedoch zeigen wird, läßt sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in Deutschland nicht allein eine quantitative Zunahme an orientalistischen Texten und anderen Kulturzeugnissen verzeichnen, sondern auch eine grundlegende Wandlung sowohl des ästhetischen als auch des wissenschaftlichen Zugriffs auf den Orient und mithin ein Wechsel zu jenem epistemologischen und künstlerischen Wahrnehmungs- und Ordnungsmodus des Morgenlandes, der unsere heutigen Denk- und Gestaltungsmöglichkeiten auf maßgeblicher Ebene noch immer prägt. Meine Analysen bewegen sich somit durchgängig im Raum des national Spezifischen, um diesen Raum in seinen Abmessungen, Binnenstrukturen und Eigengesetzlichkeiten tatsächlich ausloten zu können. Das einzig ^Allgemeine', zu dem dieses Besondere in Beziehung gesetzt werden wird, sind denkbare Alternativen zu der vorgefundenen Ordnung — also letztlich wiederum Spezifisches. Der Verzicht auf einen Vergleich des sich abzeichnen19 Ammann: Östliche Spiegel, i. b. S. 1-3.
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Einleitung
den deutschen Orientalismus mit einem gesamteuropäischen oder gar westlichen eröffnet allerdings die Möglichkeit, das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem innerhalb des so umrissenen Feldes ins Zentrum zu rücken. Dies soll auf drei verschiedenen Ebenen geschehen, die im Rahmen der bisherigen Orientalismus-Forschung nicht selten Gefahr laufen, sich im toten Winkel der Analysen wiederzufinden: Im Nachvollzug der Genese des deutschen Orientalismus von der Frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert gilt das Interesse zunächst vornehmlich den historischen Differenzen in der Rezeption des Orients, und zwar nicht allein zwischen der Zeit vor und nach dem angesprochenen Wandel des deutschen Orientalismus um 1800. Vielmehr wird sich das Augenmerk immer wieder auch auf die Unterschiede zwischen den spezifisch historischen Figurationen und der heutigen Ordnung des Orients richten, die dazu tendiert, in unserer (Selbst-)Wahrnehmung alle Besonderheit einzubüßen und sich zu einer Universalie auszuweiten. Parallel dazu soll besonders bei der Rekonstruktion der orientalistischen Möglichkeitsräume des frühen 19. Jahrhunderts (Kapitel 5) das Spezifische der ästhetischen und der wissenschaftlichen Spielarten des deutschen Orientalismus in den Blick genommen und nach ihrer jeweiligen Signifikanz für das Gesamtarrangement befragt werden. Und schließlich, im letzten Teil der Arbeit, wird an drei exemplarischen Einzelstudien das Verhältnis individuell-poetologischer Strategien zur gesamten Figuration des Orientalismus im Mittelpunkt stehen und damit die dritte große Frage nach dem Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem. Allerdings hat die internationale Debatte um den Orientalismus inzwischen eine zu lange Tradition und ihre impliziten Apriori, Parameter und Methodiken sind bereits viel zu sehr zu einem Teil des wissenschaftlichen common sense auch innerhalb der Germanistik geworden, als daß der Versuch, den deutschen Orientalismus in seiner Spezifik zu begreifen, ohne eine explizite Auseinandersetzung mit eben diesen Vorannahmen tatsächlich gelingen könnte. Da wissenschaftliche Apriori aber nun einmal die Eigenschaft besitzen, sich nicht offen zu zeigen, wird die folgende Suche nach ihnen jenen Weg einschlagen, den Geisteswissenschaftler angesichts systematischer Fragen immer und auch stets mit demselben unerschütterlichen Vertrauen auf Erkenntnis beschreiten: den historischen. Eine kleine Geschichte der Orientalismus-Forschung soll also auf den nächsten Seiten an die Stelle des üblichen synchronen ForschungsüberbEcks treten, um mit ihrer Hilfe ein Epistemogramm der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Orientalismus erstellen zu können, dessen kritische Revision die Entwicklung eines eigenen analytischen Instrumentariums in Aussicht stellt.
Teül Orientalismus denken
l. Orientalismus - Alterität — Imagination Die Zeugnisse ästhetischer, wissenschaftlicher, kultureller und politischer Auseinandersetzung Europas mit dem Orient sind ohne Zahl. Sie Rillen heute Bibliotheken, Museen und Archive, den Fundus von Theatern und Opern, historische Schlösser, Landschaftsgärten und Diplomatenkoffer und umspannen einen Zeitraum, der — abhängig davon, wie weit man die geschichtlichen Wurzeln der Größe „Europa" selbst zurückdatiert - bis ins Mittelalter oder die Antike reicht. Ein Blick in den bis heute in seiner Differenziertheit unübertroffenen Katalog der Berliner Ausstellung Europa und der Orient 800 — 1900\ die 1989 den Versuch einer umfassenden Zusammenschau der „Spuren"2 jener west-östlichen Auseinandersetzung unternahm, zeigt den enormen Facettenreichtum von Medien und Formen, Aspekten und Topoi. Da stehen die ägyptisierenden Bühnenbilder Carl Friedrich Schinkels zu Mozarts Zauberflöte1' neben barocken Stichen der frühägyptologischen Exponate aus dem römischen Museum des Jesuiten Athanasius Kircher,4 Palästina-Karten aus dem 13. Jahrhundert5 neben einem Pyramidenflügel mit Janitscharenregister vom Ende des 18./' niederländische Wandfliesen mit türkischen Reitern neben chinesischen Porzellanfiguren7 und opulenter Salonmalerei. Angesichts der unzähligen Fährten, die quer durch alle Jahrhunderte, Medien, Künste und Alltagswelten verlaufen und von einer ebenso kontinuierlichen wie breiten Auseinandersetzung Europas mit dem Orient zeugen, nimmt es nicht wunder, daß auch die Forschungsbeiträge zur europäischen Orient-Rezeption inzwischen einen beachtlichen Raum auf dem Feld geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Publikationen für sich beanspruchen. An Facettenreichtum stehen diese Arbeiten ihrem Gegenstand um nichts nach. Ihre eigene mediale Textgebundenheit gleichen sie
1 Europa und der Orient. 800-1900. Hrsg. v. Gereon Sievernich und Hendrik Budde. Gütersloh/München 1989. 2 Hendrik Budde /Gereon Sievernich: „Europa und der Orient. 800-1900. Kine Annäherung". In: Europa und der Orient. 800-1900, S. 15-16; hier: S. 15. 3 Europa und der Orient. 800-1900, S. 48 f. 4 Europa und der Orient. 800-1900,5. 59 f. 5 Europa und der Orient. 800-1900, S. 683. 6 Europa und der Orient. 800-1900, S. 302. 7 Europa und der Orient. 800-1900, S. 792 f.
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Orientalismus denken
spielend durch methodische und disziplinäre Pluralität aus: Motivgeschichtliche Studien zum orientalischen Teppich in der europäischen Literatur und Kunst8 sind heute ebenso vertreten wie solche, die ihr Augenmerk auf die kulturelle „Kommunikation zwischen Orient und Okzident" richten.9 Es existieren Diskursanalysen,10 feministische Lektüren,11 wissenschafts-, sozial- und kulturgeschichtliche Arbeiten.12
1.1 Kleine Geschichte der Orientalismusforschung Dieses breite wissenschaftliche Interesse an Geschichte und Systematik europäischer Be- und Verarbeitungen des Orients, wie es sich heute verzeichnen läßt, ist indes eine vergleichsweise junge Erscheinung. Bis weit in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein konnte der europäische Orientalismus unter den Gegenständen geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung nur eine randständige Position behaupten. Zwar erfuhr er wissenschaftliche Bearbeitung,13 die aber das Mindestmaß von philologischer, historischer und kunstgeschichtlicher Grundlagenforschung nie überschritt und überdies mit nichts weniger als mit Leidenschaft betrieben wurde. Es entstanden Überblicksdarstellungen und -artikel,14 deren Detail8 Hans-Günther Schwarz: Orient — Okzident. Der orientalische Teppich in der westlichen Literatur, Ästhetik und Kunst. München 1990. 9 Harry Kühnel: „Kommunikation zwischen Orient und Okzident. Alltag und Sachkultur. Versuch eines Resümees". In: Kommunikation ^wischen Orient und Okzident. Alltag und Sachkulfur. Internationaler Kongreß, Krems an der Donau, 6.-9. Oktober 1992. Wien 1994, S. 5-24. 10 Ute Gerhard /Jürgen Link: „Der Orient im Mediendiskurs - aktuelle Feindbilder und Kollektivsymbolik". In: Michael Lüders (Hrsg.): Der Islam im Außruch? Perspektiven der arabischen Welt. München 1992, S. 277-297. 11 Meyda Yegenoglu: Colonial features — towards a feminist reading of Orientalism. Cambridge 1998. 12 Baber Johansen: „Politics and scholarship. The developement of Islamic Studies in the Federal Republic of Germany". In: Middle East Studies. International perspectives on the state of the art. Hrsg. v. Tareq . Ismael. New York /Westport /Connecticut /London 1990, S. 71-130; Peter Gradenwitz: Musik ^wischen Orient und Okzident. Eine Kulturgeschichte der Wechselbeziehungen. Wilhelmshaven / Hamburg 1977; Hartmut Kaelble / Jürgen Schriewer (Hrsg.): Gesellschaften im Vergleich. Forschungen aus Sozial- und Geschichtswissenschaften. Frankfurt a.M u. a. 1998. 13 Georges Fradier: Orient und Okzident. Wege %u gegenseitiger Verständigung. Düsseldorf 1962. 14 Otto Spies: Der Orient in der deutschen Literatur. 2 Teile. Kevelaer 1949-51; Diethelm Balke: „Orient und Orientalische Literaturen". In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begr. v. Paul Merker und Wolfgang Stammler, hrsg. v. Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Bd. 2. Berlin 21955, S. 816-869; Rene Grousset: Orient und Ok%dent im gegenseitigen Austausch. Stuttgart 1955; Franz Babinger: „Orient und deutsche Literatur". In: Deutsche Philologie im Aufriß. Hrsg. v. Wolfgang Stammler. Berlin 21962, S. 565-588.
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reichtum im Dienste stoff-, motiv- und rezeptionsgeschichtlicher Zusammenschau15 und Materialkompilation, nicht aber der systematischen Auswertung stand. Wenn orientalisierende Literatur in der Germanistik analysiert wurde, dann geschah dies — bis auf wenige Ausnahmen16 — im philologischen Fragehorizont zu einzelnen Autoren oder Werken. Daß sich dies in den frühen achtziger Jahren entscheidend änderte, und zahkeiche Arbeiten publiziert wurden, die sich dem Orientbild in verschiedenen Texten unterschiedlicher Autoren vor dem größeren kulturgeschichtlichen Hintergrund europäischer Orientrezeption und Einflußnahme widmeten,17 läßt sich auf mehrere Faktoren zurückführen, die - wiewohl miteinander verbunden - nicht aufeinander rückführbar sind.
1.1.1 Orientalismusforschung im linguistic turn Einer dieser Faktoren war das post-colonial-movement., jene intellektuelle und künstlerische Bewegung in den Ländern Asiens und Afrikas, die sich an die lange Phase militärischer und politischer Dekolonisierung seit dem Ende des zweiten Weltkriegs18 anschloß. Getragen von der Nachfolgegeneration des Befreiungskampfes, für welche die großen Theorien afroasiatischer Emanzipation des 20. Jahrhunderts — wie etwa die Entwürfe Gamal ad-Din al-Afghanis, Mahatma Gandhis und Mao Zedongs19 selbst bereits zu Klassikern geworden waren, begriff sich diese Bewegung nach wie vor als anti-imperialistisch, nun allerdings in Verbindung mit 15 Fawzy D. Guirgis: Bild und Funktion des Orients in den Werken der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin 1972; Mustafa Mäher: Das Motiv der orientalischen Landschaß in der deutschen Dichtung von Klopstocks JAessias' bis %u Goethes ,Divan'. Stuttgart 1979. 16 Rene Gerard: L'Orient et lapensee romantique allemande. Paris 1963. 17 So erhält die Forschung zu Goethes West-östlichem Oivan in den achtziger Jahren einen enormen Schub (vgl. den differenzierten Forschungsüberblick in: Barbara StemmrichKöhler: 7.ur Funktion der orientalischen Poesie bei Goethe, Herder, Hegel, Exotische Klassik und ästhetische Systematik in den ^Noten und Abhandlungen %um besseren Verständnis des Westösthchen Oivan' Goethes, in Frühschriften Herders und in Hegels Vorlesungen %ur Ästhetik. Frankfurt a. M. u.a. 1992, S. 11-49). Zu Heinrich Heine erscheint die Monographie von Mounir Fendri: Halbmond, Krett^ und Schibboleth 1980. Auch bis zu diesem Zeitpunkt in der Forschung wenig diskutierte Autorinnen werden jetzt unter dem Aspekt des Orientalismus interessant. Vgl. Ingeborg H. Solbrigs Beitrag Die orientalische Muse Meletes von 1989 oder Alev Tckinays Aufsatz: Zum Orient-Bild Bettine von Arnims und der jüngeren Romantik von 1982. 18 Vgl. den Überblick in: Jürgen Osterhammel: „Spätkolonialismus und Dekolonialisation". In: Neue Politische Literatur 37 (1992), S. 404-424. 19 Vgl. Bassam Tibi: „Politische Ideen in der .Dritten Welt' während der Dckolonisation". In: Pipers Handbuch der politischen Ideen. Hrsg. v. Irwing Fetscher und Herfried Münkler. München 1987, Bd. 5, S. 361-402; Heinz Gollwitzer Geschichte des weltpolitischen Denkens. Bd. 2. Göttingen 1982, S. 322-337 u. 575-626.
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einer deutlichen aufklärerischen und ideologiekritischen Geste in Richtung der westlichen Welt. Es waren vor allem in Europa und den USA geborene oder ausgebildete Wissenschaftler, Literaten und Publizisten aus den ehemaligen Kolonien, die auf die europäischen Diskussionspodien traten und eine — zumeist erstmalige — breite Auseinandersetzung der westlichen Staaten mit ihrer kolonialen Vergangenheit und hegemonialen Gegenwart anstießen. Ein nicht unerheblicher Teil von ihnen stammte aus Indien sowie den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens und wurde — wie die Literaturwissenschaftler Edward W. Said,20 Homi K. Bhabha21 und Gayatri Chakravorty Spivak22 - schon bald zu wichtigen Institutionen einer postkolonialen (Literatur-) Theorie und Kritik, die sich aus dem Kontext dieser Debatten heraus in Großbritannien und den USA etablierte.23 Auch in den westdeutschen Wissenschaften setzte zu jener Zeit die bis heute zu verzeichnende Tendenz ein, daß Forschungen zur Rezeption außereuropäischer Völker, Kulturen und Gesellschaften von Wissenschaftlern betrieben werden, die selbst aus jenen Ländern stammen; häufig verbunden mit einer selbst gewählten oder von außen zugeschriebenen Position des ,authentischenc und damit für das Thema vermeintlich automatisch auch kompetenten Sprechers.24 Doch die postkoloniale Bewegung mitsamt ihren gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Folgen und Begleiterscheinungen ist nur ein Faktor, der für die neue Qualität der Orientalismus-Forschung seit Beginn der achtziger Jahre verantwortlich zeichnet. Zeitlich wurde diese Bewegung von einer in vielen westlichen Gesellschaften beginnenden öffendichen Auseinandersetzung um Multikultura20 Edward W. Said: Orientalism. Western Conceptions of the Ortenf.Ncvr York 1978 (dt.: Orientalismus. Frankfurt a. M. /Berlin /Wien 1981); dcrs.: Culture and imperialism. New York 1993 (dt: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Frankfurt a. M. 1994). 21 Homi K. Bhabha: „Difference, discrimination and the discourse of colonialism". In: F. Baker u.a. (Hrsg.): The Politics of Theory. Colchester 1983, S. 190-205; dcrs.: The Location of Culture. London /New York 1995. 22 Gayatri Chakravorty Spivak: In Other Worlds. Essays in Cultural Politics. New York 1987. 23 Einer der wichtigsten Initialtexte für diesen Prozeß der Institutionalisierung ist: B. Ashcroft/G. Griffiths /H. Tiffm (Hrsg.): The Empire Writes Back. Theory and Practice in Post-colonial Literatures. London 1989. Für einen Überblick über die verschiedenen Positionen vgl. Patrick Williams /Laura Chrisman (FIrsg.): Colonial Discourse and Post-colonial Theory. A Reader. New York 1996. 24 Vgl. exemplarisch: Guirgis: Bild und Punktion des Orients in den Werken der deutschen Uteratur, Esin Ilerli: Goethes „West-östlicherDivan"als imaginäre Orient-Reise. Sinn und Funktion. Frankfurt a. M. / Bern 1982; Vridhagiri Ganeshan: „Indien in der deutschen Lyrik Vision und Wirklichkeit". In: Begegnung mit dem ,Fremden", Bd. 9, S. 90-95. Explizit nimmt Mounir Fendri die Kompetenz für sich in Anspruch als „tunesischer Germanist" in der Lage zu sein, historische „Fehlurteile" deutscher Maghreb-Reisender „auszumachen und die Ursprünge noch wirksamer Fehlleistungen herauszustellen". Vgl. Mounir Fendri: Kalturmensch in „barbarischer" Fremde. Deutsche Reisende im Tunisien des 19. Jahrhundert. München 1996, S. 14.
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lismus und andere Konzepte des Zusammenlebens verschiedener Ethnien und Kulturen überlagert; sei es der weißen Bevölkerung mit der indigenen Bevölkerung des Landes oder den Nachkommen der ehemaligen Sklaven (wie in den USA), mit den Bevölkerungsteilen, die aus den ehemaligen Kolonien stammten (wie in England und Frankreich), oder mit nichtwestlichen Migranten (in Deutschland und den USA). Schließlich verstärkten die politischen Entwicklungen im Nahen und Milderen Osten jener Jahre — allem voran die Iranische Revolution 1979 und der Beginn der ersten Intifada 1981 — das öffentliche Interesse an der Region. Im Zuge dessen kam erstmalig die bis heute prominente Rede vom „islamischen Fundamentalismus"25 auf, und der öffentliche Ruf nach Orient-Experten wurde laut. Ihm folgten in Westdeutschland zunächst Publizisten wie Peter Scholl-Latour und Gerhard Konzelmann, deren populärwissenschafdiche Bücher hohe Auflagen erreichten,26 dann die Vertreter der Islamwissenschaften.27 Alle diese Faktoren hatten — in den verschiedenen westlichen Staaten in je unterschiedlichem Maße — zur Folge, daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Nahen und Mittleren Osten selbst sowie mit west-östlichen Kontakten in Geschichte und Gegenwart eine politische Dimension erhielt, die man bis dahin in Arbeiten zum Thema vergeblich suchte.28 Ein Nachdenken über Zusammenhänge westlicher Orient-Rezeption mit Kolonialismus und Imperialismus setzte ein; wiewohl in der Germanistik anfangs eher zögerlich.29 25 Vgl. Gerhard/Link: Der Orient im Mediendiskurs, S. 278 ff.; Armin Kappcl/Silvia Kuskc: „Fundamentalismus — Karriere eines Begriffes". In: Der Islam in den Medien. Hrsg. v. Medicnprojekt Tübinger Religionswissenschaft. Gütersloh 1994, S. 62-86, i. b. S. 71 f. u. 85. 26 Zu deren Schriften vgl. die kritischen Darstellungen in: Verena Klemm und Katrin Hörner (Hrsg.): Das Schwert des „Experten". Pefer S choll-Lalours verzerrtes Araber- undlslamEild. Heidelberg 1993, sowie die berühmte Demontage Konzelmanns in Gernot Rotter. Allahs Plagiator. Die publizistischen Raub^iige des ,^lahosiexperteti" Gerhard Kon^elmann. Heidelberg 1992. 27 Das verzögerte Eintreten der Fachleute in die öffentliche Diskussion hat eine ganze Reihe von Gründen, von denen das wissenschaftliche Selbstverständnis des Faches während der ersten beiden Drittel des 20. Jahrhunderts — nämlich als klassisch philologische und soziologische Disziplin mit klar historischer Ausrichtung — ein wesentlicher ist. Vgl. den historischen Überblick in Babcr Johansen: Politics and Scholarship, S. 71-130. 28 Vgl. exemplarisch: Aziz al-Azmeh: Islamic Studies and the European Imagination. Exeter 1986; Maryan Jameelah: Islam and Orientalism. Lahore 1981; Maxime Rodinson: Europe and the Mystic oj'Islam. Washington 1987. 29 So spricht Andrea Fuchs-Sumiyoshi diese Zusammenhänge zwar in der Einleitung ihrer Studie an, allerdings ohne sich im Verlauf ihrer nachfolgenden Analysen noch einmal darauf zu beziehen. Vgl. Fuchs-Sumiyoshi: Orientalismus in der deutschen Literatur, S. 5-18. Und auch Ludwig Ammann nimmt den Themenkomplex nur kurz auf, um ihn dann zugunsten einer rein literarischen „Entdeckungsgeschichte" beiseite zu legen. Vgl. Ammann: Östliche Spiegel, S. 14-16.
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Den entscheidenden Ausschlag für eine Ausweitung der Auseinandersetzung mit der europäischen Rezeption des Orients auf interdisziplinärer Ebene gab jedoch ein Paradigmenwechsel innerhalb der Humanwissenschaften, der mit den orientalischen Regionen oder der europäischen Kolonialgeschichte selbst zunächst gar nicht in Beziehung stand. Die Rede ist von jener sprachphilosophischen und epistemologischen Wende in den Geistes- und Sozialwissenschaften Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die heute unter dem Schlagwort ,linguistic turn'3u in allen einschlägigen Handbüchern lemmatisiert ist.31 Unter diesem Oberbegriff werden jene, vor allem auf Friedrich Nietzsche,32 den späten Ludwig Wittgenstein,33 Ferdinand de Saussure34 und John L. Austin35 zurückgehenden, theoretischen Bewegungen gefaßt, die sich gegen die Vorstellung von Sprache als Repräsentations- und Darstellungsinstrument von Wirklichkeit richteten und statt dessen die wirklichkeitskonstitutiven und pragmatischen Potentiale sprachlicher Äußerungen in den Blick nahmen. Im Verlauf der siebziger und achtziger Jahre kulminierten diese philosophischen Theorien in den Geistes- und Sozialwissenschaften mit und in neueren Ansätzen der französischen Philosophie - allem voran mit Semiotik und Strukturalismus, der Diskurstheorie Foucaults,36 der Dekonstruktion Derridas37 und postmodernen Theorien38 — sowie mit einer Renaissance 30 Als Terminus in der wissenschaftlichen Diskussion ist der Begriff seit Richard Rorty: The Linguistic Turn. Chicago 1967. 31 Vgl. den entsprechenden Eintrag im Met^ler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen- Grundbegriffe. Hrsg. v. Ansgar Nünning. Stuttgart/Weimar 1998, S. 312f. 32 Einflußreich waren dabei vor allem Nietzsches Arbeiten Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral. In: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. v. Giorgo Colli und Mazzino Montinari. Bd. 5. München 1999; sowie die frühe Schrift: Über Wahrheit und Lüge im außertnoralischen Sinn. In: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Bd. l, München 1999, S. 873-890. 33 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. In: ders.: Werkausgabe. Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a. M. 1984, S. 225-580. Im folgenden abgekürzt als: Wittgenstein PU. 34 Ferdinand de Saussure: Cours des linguistiquegenerals. Hrsg. v. Ch. Bally und A. Sechehaye u. Mitw. v. A. Riedlinger. Genf 1916; dt. Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 1931. (Die zweite Auflage der Übersetzung, mit neuem Register und neuem Nachwort von Peter v. Polenz, erschien signifikanter Weise 1967.). 35 Einflußreich waren besonders seine posthum erschienenen Vorlesungen von 1955: John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words). Deutsche Bearbeitung von Eike von Savigny. Stuttgart 21979. 36 In der bundesrepublikanischen Rezeption waren dies vornehmlich die Ende der sechziger Jahre erschienenen Schriften: Michel Foucault: Archäologe des Wissens. Frankfurt a. M. 71995 und ders.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. 121994. 37 Auch hier waren die aus den sechziger Jahren stammenden Arbeiten von besonderer Bedeutung: Jacques Derrida: Die Schrift und die Differen^ Frankfurt! M. 61994; ders.: „Die difference". In: ders.: Randgänge der Philosophie. Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1976, S. 6-37.
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Walter Benjamins.39 Durchaus 2u Recht als „Paradigmenwechsel" bezeichnet — ein Terminus, dessen Erfolgsgeschichte selbst jener epistemologischen Wende geschuldet ist411 -, blieb im Laufe der siebziger und achtziger Jahre kaum eine Geistes- oder Sozialwissenschaft vom linguistic turn unbeeinflußt. In nahezu allen Disziplinen traten nun Fragen nach unserer Darstellung, Repräsentation und Ordnung der Dinge in den Vordergrund, sowie nach den Auswirkungen dieser Darstellungs-, Repräsentations- und O r dnungs verfahren auf die soziale Wirklichkeit. Gerade in den Bereichen wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit sozialen Wirklichkeiten, die als hierarchisch strukturiert und durch Machtverhältnisse geprägt wahrgenommen wurden, hatte dieser Paradigmen Wechsel weitreichende Folgen. Denn während zuvor die diskursiven Realisationen und Umsetzungen dieser als problematisch diagnostizierten Wirklichkeit als sekundäres „Reden über" aufgefaßt wurden, rückten nun die sprachlichen Darstellungen selbst ins Zentrum der kritischen Analyse. Diese Neustrukturierung und Ausweitung des Analysefeldes fand in besonderem Maße innerhalb der Geschlechter- bzw. Frauenforschung statt, zugleich aber eben auch innerhalb der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Orientalismus. Hier traf der ,lingistic turn' auf das politische und Imperialismus-kritische post-colonial movement und ging mit ihm jene Verbindung ein, die für den deutlichen Anstieg von Arbeiten zum Thema verantwortlich zeichnet. Jetzt schlug die Stunde der Literaturwissenschaft als einer Disziplin, die per definitionem mit der sprachlichen Konstitution von Wirklichkeiten befaßt ist. Aus ihr heraus entstand der überwiegende Teil von Studien zum Orientalismus — unter ihnen Edward W. Saids Studie Onentalism^ deren Erscheinen 1978 sich rückblickend als terminus a quo einer bis heute anhaltenden kritischen Tradition wissenschaftlicher Ausein-
38 Vgl. dazu die Textkompendien: Wolfgang Welsch (Hrsg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Weinheim 1988; Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Mit einer Einführung hrsg. v. Peter Engelmann. Stuttgart 1990. 39 Vgl. dazu aus der bis in die frühen 1990er Jahre reichenden Flut von wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Benjamin exemplarisch: Siegfried Unselt (Hrsg.): Zur Aktualität Walter Benjamins. Frankfurt a. M. 1972; Bernd Witte: Walter Benjamin. Hamburg 1985; Winfried Menninghaus: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos. Frankfurt a. M. 1986. 40 Vgl. Thomas Samuel Kühn: The structure of scientific revolution. Chicago 1962 (dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M. 1967). Diese Publikation stieß eine große wissenschaftstheoretische Diskussion an, die um Kuhns zentralen Begriff kreiste und noch heute kreist. Vgl. dazu den Eintrag „Paradigmenwechsel" in: Meiner Lexikon Literatur- und Kulturtbeorie, S. 412 f. 41 Aufgrund der sprachlich wie inhaltlich katastrophalen Übertragung ins Deutsche zitiere ich im folgenden aus dem amerikanischen Original nach der neueren Ausgabe: Edward W. Said: Orientalism. Western conceptions of the Orient. London 1995.
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andersetzung mit europäischen Orient-Konzepten erweist und eine „Globalisierung und Quasi-Institutionalisierung der Diskussion um die Orientalistik" bewirkte.42 Der US-amerikanische Literaturwissenschaftler, dessen Familie aus Palästina stammt, war selbst Protagonist der postkolonialen Bewegung. Und er verband in Orientalism auf eine für die Wissenschaftslandschaft der späten siebziger Jahre signifikante Weise Antiimperialismus und marxistisch-leninistische Ideologiekritik mit Fragmenten der Theorien Michel Foucaults und Antonio Gramscis43 zu einer Neulektüre orientalistischer Literatur von der Antike bis in die Gegenwart. Durch Saids Prisma betrachtet, verloren nicht nur politische Reden, sondern auch literarische und wissenschaftliche Bearbeitungen des Orients ihre ästhetische oder epistemologische Unschuld und erschienen als Stützen oder sogar als Protagonisten des westlichen Kolonialismus und Imperialismus. Der Erfolg der Studie war bahnbrechend, ihre wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung ist kaum zu überschätzen, und bis heute gilt Onenialism nicht allein als Initial-, sondern nach wie vor als wichtigster Bezugstext der neueren Orientalismusforschung. Es mag dieser weitgehend ungebrochenen Lektüre Saids geschuldet sein, oder aber jener spezifischen Kopplung der postkolonialen Bewegung mit dem linguistic turn, die eine Arbeit wie Qnentalism überhaupt erst ermöglicht hat — jedenfalls fußen seit den frühen achtziger Jahren sämtliche wissenschaftlichen Beiträge zum Thema auf zwei gemeinsamen Grundannahmen, die im folgenden kurz skizziert seien: In verschiedenen Spielarten und mit unterschiedlichen Akzentuierungen zieht sich zum einen die Rede vom Orient als westlicher Erfindung44 und Imagination,45 als Fiktion46 oder Konstruktion47 durch Titel und Einleitungen der einschlägigen Studien.48 Ob die Autoren dabei implizit abbild-
42 So Isolde Kurz in der Einleitung ihrer Studie Vom Umgang mit dem Anderen. Die Orientalismus-Debatte ^wischen Altentätsdiksurs und interkultureller Kommunikation. Würzburg 2000, S. 13. 43 Es sind vor allem das Hegemonie-Konzept Gramscis und sein Begriff des „Konsensus", auf den sich Said hier bezieht. Vgl. Antonio Gramsci: Philosophie der Praxis. Eine Auswahl. Hrsg. v. Christian Riechers. Frankfurt a. M. 1967. 44 Karl Ulrich Syndram: „Der erfundene Orient in der europäischen Literatur vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts". In: Europa und der Orient: 800-1900,$. 324-341. 45 Aziz al-Azmeh: „Islamic studies and the European imagination". In: Islamic Culture 61, H. l (1987), S. 1-27; Stefan Koppelkamm: Der imaginäre Orient. Exotische Bauten des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts in Europa. Berlin 1987. 46 Thomas Pekar: Ertist Jünger und der Orient. Mythos - Lektüre - Reise. Würzburg 1999, S. 12. 47 Sybille Bauriedl: Konstruktionen des Orients in Deutschland. Berlin 1996; Nina Berman: Orientalismus, Kolonialismus und Moderne. Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900. Stuttgart 1996, S. 14. 48 Einschließlich der programmatischen Vorrede zum eingangs erwähnten Ausstellungskatalog, vgl. Budde /Sievernich: „Europa und der Orient 800-1900. Eine Annäherung", S. 15.
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theoretisch argumentieren und von westlichen „Zerrbildern"49 des Orients sprechen, ob sie seinen imaginativen Charakter konstruktivistisch zu Ende denken und zu dem Schluß kommen „Es gibt keinen Orient"5", oder einen Mittelweg beschreiten wie Said selbst, wenn er konstatiert „The Orient was almost a European invention"51 — in jedem Fall gehört die Annahme, der Orient sei eine soziale Konstruktion, inzwischen zum common sense der wissenschaftlichen Debatte. Damit eng verbunden ist die zweite Grundannahme, die besagt, daß zwischen dem imaginären Charakter des Orientbildes in Europa und den herrschenden politischen, militärischen und ökonomischen Machtverhältnissen eine kausale Beziehung bestand und besteht. Wie diese Beziehung genau aussieht, ob die westlichen Imaginationen des Orients direkt für weltpolitische Hegemonien verantwortlich sind52 oder sie nur begleiten,53 ob nur die negativen Konstruktionen des Orients jene Machteffekte zeitigen54 oder jede Imagination aufgrund ihres suggestiven Potentials,55 wird zwar unterschiedlich eingeschätzt. Doch haben die verschiedenen Antworten auf diese Frage in den seltensten Fällen den Charakter einer klar konturierten Position. Trotz zum Teil schwerwiegender theoretischer Differenzen zwischen den existierenden Erklärungsansätzen zum Verhältnis von Imagination und Macht sucht man in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Orientalismusforschung bis heute eine offene Kontroverse um diese Frage vergeblich. Offenbar ist der imaginäre Charakter des Orients und die Existenz eines irgendwie gearteten Zusammenhangs sozialer Konstruktionen mit Machtverhältnissen inzwischen derart evident, daß alle Differenzen im Lichte dieser Selbstverständlichkeit zu Marginalien schrumpfen.
49 So '/,. B. Rana Kabbani: Mythos Morgenland. Wie Vorurteile und Klischees unser Bild vom Orient bis heute prägen. München 1993; Dieter Sudhoff: „Orangen und Datteln. Über den .orientalischen' Roman der Restaurationsxeit". In: Norbert Otto like und Ilartmut Steineckc (Hrsg.): Geschichten aus (der) Geschichte. Zu/n Stand des historischen Erzählens im Deutschland der frühen Restaurations^eit. München 1994, S. 179-223, i. b. S. 180ff. 50 Maxime Rodinson: Die Faszination des Islam. München 21991, S. 143. 51 Said: Orientalism, S. l, Hervorh. v. mir. 52 Suanne M. Xantop: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770-1870). Berlin 1999, i. b. S. 16f; Linda Nochlin: „The imaginary Orient". In: Exotische Welten, Europäische Phantasien. Ausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen und des Württembergischen Kunstvereins, o. O. 1987, S. 172-179, hier. S. 178f. 53 So u. a. Ammann: östliche Spiegel, S. 44; Rodinson: Europe and the Mystique of Islam, S. 40 ff. 54 Sudhoff: Orangen und Datteln, S. 192. 55 So auch Said: Orientalism, S. 6f.; Fuchs-Sumiyoshi: Orientalismtts in der deutschen Literatur, S. 5; Bcrman: Onentalismus, Kolonialismus und Moderne, S. 14.
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1.1.2 Orientalismus Forschung im cultural turn Mit diesem — zumeist stillen — Doppelkonsens weist auch die heutige Forschung also noch deutliche Spuren ihres wissenschaftsgeschichtlichen Ursprungs aus der Verbindung von postkolonialer Bewegung und linguistic turn auf. Und obwohl diese Geburtsstundejahrzehnte zurückliegt, das postcolonial movement in der Zwischenzeit in etablierte Positionen und feste Institutionen eingemündet, sowie Teil des ungeschriebenen Regelwerks fax. political correctness geworden ist, und die wissenschaftlichen Denkwelten der späten siebziger und frühen achtziger Jahre den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften bereits seit längerem nicht mehr als wegweisend gelten, scheint die Orientalismus-Debatte an wissenschaftlicher Relevanz und Brisanz bis heute nichts eingebüßt zu haben. Die Publikationsdichte zum west-östlichen Verhältnis und seiner Geschichte hat seither jedenfalls ebensowenig abgenommen wie das Engagement, mit welchem die entsprechenden Forschungen betrieben werden. Mitverantwortlich für die Kontinuität des wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses am Thema sind zweifellos wiederum (weit-)politische und gesellschaftliche Daten: Der Golfkrieg 1991, Attentate auf westliche Touristen in der arabischen Welt, die zweite Intifada, die Anschläge auf Pentagon und World-Trade-Center im Jahre 2001 sowie die nachfolgenden Militäreinsätze der USA haben die öffentlichen Debatten um das Verhältnis des Westens zur islamischen Welt56 nicht versiegen lassen. Und auch innenpolitisch wurde die Diskussion um Grenzen und Möglichkeiten einer multi-ethnischen Gesellschaft wach gehalten durch die großen politischen Debatten um Asylrecht und Einwanderungsgesetzgebung auf bundesdeutscher ebenso wie auf europäischer Ebene.57 Dennoch läßt sich bei der Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart west-östlicher Beziehungen seit Beginn der neunziger Jahre eine Akzentverschiebung feststellen. Sie hat in wissenschaftlichen Diskursen ebenso stattgefunden wie in öffentlichen und steht nicht nur zeitlich in enger Verbindung mit
56 Zur Geschichte des europäischen Orient-Konzepts und der Verschiebung vom ,Orientalischen' zum ,Islamischen' vgl. i.b. das Kap. 2.4 dieser Arbeit. 57 Zur Auseinandersetzung Anfang der neunziger Jahre vgl. Ute Gerhard: Wenn Flüchtlinge und Einwanderer syi trAsjiantenßuten " werden. Eine kommentierte Dokumentation %um Rassismus im Mediendiskurs. Bochum 1991; Jürgen Link: „Zu Hause „asylantenfrei" - in Übersee auf „Friedensmission"? Über eine eigenartige diskursive Konstellation". In: ders. / Siegfried Jäger (Hrsg.): Die vierte Gewalt. Rassismus und die Medien. Duisburg 1993, S. 3148; Diskurswerkstatt Bochum: Mit "Rassisten in einem Boot? Die Asyldebatte in Politik und Medien von Beginn der 80er Jahre bis %ur Grundgesetsynderung. Hrsg. v. Bündnis 90 / Die Grünen, o. O. 1994.
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dem Ende des Kalten Krieges. Denn während bis dahin zunächst politische, ökonomische und soziale Faktoren in den Blick genommen wurden, wenn es darum ging, das Verhältnis des Westens zu außereuropäischen Gesellschaften zu beschreiben, rückte nun zunehmend das Paradigma der „Kultur" ins Zentrum des analytischen Interesses. Der Kulturbegriff trat nicht allein in Konkurrenz zu dem der Gesellschaft - und vielfach auch an seine Stelle —, sondern gewann in diesem Zusammenhang auch zunehmend an Plausibilität zur Erklärung globaler Zusammenhänge, Konflikte und Dynamiken. Einen ersten Kulminationspunkt erreichte die Erfolgsgeschichte des Kulturkonzepts als weltpolitisches Ordnungsmuster im Sommer 1993, als der US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington in der renommierten Zeitschrift Foreign Affairs seinen Beitrag The clash of avili^ations? veröffentlichte.58 Mit seiner Grundthese, die globalen Konflikte der Zukunft würden sich nicht mehr aus ideologischen oder ökonomischen Quellen speisen, sondern entlang kultureller Grenzen geführt werden, wendete Huntington diesen Konzeptwechsel ins Prognostische und löste eine der breitesten und kontroversesten Debatten seit dem Bestehen des USamerikanischen Publikationsorgans aus. Huntingtons Einteilung der Welt in Kulturen entlang der Grenzen zwischen den großen Religionen und Konfessionen sowie die Prognose eines anstehenden westlich-islamischen Konflikts, wie er sie in seinem drei Jahre später erschienenen Buch gleichen Inhalts (und — bis auf das nun verschwundene Fragezeichen — auch gleichen Titels)59 weiter ausführte, wurde zwar auch in der deutschen Wissenschaft und Öffentlichkeit immer wieder als essentialistisch, reduktionistisch und politisch gefährlich kritisiert.60 Doch verging nach den Anschlägen auf Pentagon und World-Trade-Center im September 2001 kaum ein Tag, bis die Rede vom „Clash of Civilizations" und Debatten über die Huntingtonschen Thesen in der deutschen Publizistik, den Universitäten und auf politischen Foren wieder omnipräsent waren.61 Dies zeigt, daß bei aller Strittigkeit der Positionen des Politologen im einzelnen seine grund58 Samuel P. Huntington: „The clash of civilizations?". In: Foreign Affairs 72 (1993), S. 22-49. 59 Samuel P. Huntington: The clash of civilisations. Remaking of world order. New York 1996. Im selben Jahr noch wurde es ins Deutsche übersetzt: ders.: Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München /Wien 1996. 60 Vgl. Thomas Mohrs: Interkulturalität a/s Anpassung. Eine evolutionstheoretische Kritik an Samuel P. Huntington. Frankfurt a. M. 2000; Monika Mokre (Hrsg.): Imaginierte Kultur — reale Kämpfe. Annotationen %u Huntingtons ,Kampf der Kulturen". Baden-Baden 2000. 61 Bereits am 13. September 2001 erschien der Name Huntingtons in Leitartikeln der deutschen Presse (Josef Joffe: „Die Zielscheibe: Unsere Zivilisation. Terror total und global". In: Die Zeit, Nr. 38, 2001) und füllte Titelzeilen (Hubert Leber: „Jubel aus Nahost. „Kampf der Kulturen" - hat Samuel Huntington mit seinen umstrittenen Prophezeiungen doch Recht?". In: Berliner Zeitung, Nr. 214, 2001).
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sätzliche Vorstellung von der Welt des 21. Jahrhunderts als einer Welt, in der Kulturen — und nicht mehr politische Systeme oder ökonomische Kraftfelder — die distinkten und relevanten Einheiten bilden, auch in der bundesrepublikanischen Wissenschaft und Öffentlichkeit inzwischen ein hohes Maß an Plausibilität gewonnen hat. Hintergrund und Vorbedingung für diesen Kategorienwechsel ist der Zusammenbruch jener während der gesamten Nachkriegszeit gültigen symbolischen Weltordnung, die an die Existenz eines ideologischen und konzeptionellen Gegensystems zum Westen geknüpft war.62 Schließlich standen sich während des Kalten Krieges zwei verschiedene Gesellschafts- und Staatskonzepte gegenüber, die eine Einordnung aller Staaten der Welt nach ihrer ökonomischen, politischen und sozialen Struktur ermöglichten. Nach dem Ende der Sowjetunion verlor die Dichotomic der politischen Systeme ihre pragmatische Referenz, ihre gesellschaftliche Orientierungsfunktion und damit auch ihre Aussagekraft als analytische Begrifflichkeit. Jürgen Link hat die diskursiven Nebenwirkungen dieses Wegfalls mit gespitztem Bleistift skizziert und sie auf den s trukturalis tischen Begriff gebracht: Eine der Begleitformeln dieser Situation ist der Topos vom Ende aller Ideologien und Utopien. Gemeint sind damit natürlich alle nicht westlich-hegemonialen Ideologien und Utopien, während Formeln wie „soziale Marktwirtschaft", „offene Gesellschaft" oder einfach „Freie Welt" weder ideologisch noch utopisch seien. Der strukturalistische Grundsatz der Abhängigkeit semantischer Werte von ihren (in der Regel binären) Oppositionen scheint aber auch hier durchzuschlagen: Mit dem Wegfall des „Sozialismus" ist es auch um die „soziale Marktwirtschaft", mit dem Ende des „Totalitarismus" auch um die „offene Gesellschaft", mit dem Ende des „Kommunismus" auch um die „Freie Welt" merklich stiller geworden.63
Entsprechend setzte eine breite Suchbewegung nach alternativen Ordnungs- und Deutungsmustern der Welt ein. Politische, ökonomische oder soziale Kategorien schienen für diesen Zweck nun zu wenig substantiell zu sein, und ihr Gebrauch stand überdies bald im Ruch des Anachronismus, resp. selbst des Ideologischen.64 62 Zum bundesdeutschen Symbol-System bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs vgl. Axel Drews / Ute Gerhard /Jürgen Link: „Moderne Kollektivsymbolik. Eine diskurstheoretisch orientierte Einführung mit Auswahlbibliographie". In: Internationales Archiv für So^ialgeschichte der deutschen Literatur. \. Sonderheft: Forschungsreferate (1983), S. 256-375; Jürgen Link: „Konturen medialer Kollektivsymbolik in der BRD und in den USA". In: Peter Grxybck (Hrsg.): Cultural Semiotics. Facts and Facets. Fakten und Facetten der Kultursemiotik. Bochum 1991, S. 95-135; Andreas Disselnkötter /Rolf Parr: „Kollektivsymbolsystem - didaktisch aufbereitet". In: ku/tuRRevo/uiion 30 (1994), S. 52-65. 63 Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen 1997, S. 406 f. 64 Vgl. dazu exemplarisch: Anton Sterblin: Gegen die Macht der Illusion. Zu einem Europa im Wandel. Hamburg 1994, S. 135 f.
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So konnte die Kategorie der Kultur(en) eine Leerstelle füllen, die sich weit über die wissenschaftlich-analytische Ebene hinaus erstreckte. Daß der Hang zu Antagonismenbildung dabei auch von Versuchen herrührte und -rührt, neue Feinde und damit neue Identitäten zu schaffen, ist eine soziologische Grundeinsicht. Doch unabhängig davon, ob der seit den späten 1970er Jahren prominente Antagonismus zwischen „dem Westen" und „dem Islam" in der Diskussion mit der Diagnose eines „Clash of Civilization" verbunden ist oder nicht, wird er seit Anfang der neunziger Jahre quer durch alle Diskurse als kultureller Antagonismus gedacht. Die politischen und ökonomischen Faktoren, die noch im Kontext des postcolonial movement fester Bestandteil der Auseinandersetzung mit den westöstlichen Dingen waren, sind im Verlauf dieser jüngeren Entwicklung fast gänzlich aus der Debatte verschwunden. Mit dieser allgemeinen Tendenz zur diskursiven Kulturalisierung der Weltpolitik, resp. zur Ideologisierung der Kulturen der Welt und jener wie auch immer bewerteten - Rede von der kulturellen Dichotomic ,Westen vs. Islam' hat die Auseinandersetzung mit dem Orientalismus sowohl einen Aufschwung als auch eine konzeptionelle Verschiebung erfahren, die sie einem neuerlichen Paradigmenwechsel innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaft ungemein kompatibel machte. Die Rede ist vom viel diskutierten ,cultural turn',65 der sich gleichzeitig mit der eben skizzierten Neuformierung der symbolischen Weltordnung vollzog. Im Zuge dieser kulturwissenschaftlichen Wende konnte der Themenkomplex ,Kulturdif~ ferenz', ,Interkulturalität£ und ,Alterität' von Anfang an eine prominente Stellung behaupten.66 Ein entsprechendes Kapitel fehlt heute in keiner einschlägigen Einführung oder Überblicksdarstellung zu kulturwissenschaftlichen Arbeitsbereichen und Theoriekonzepten.67 Die Stabilität der Alli65 D. Chancy: The cultural turn. Scene-setting essays on contemporary cultural history. London / New York 1994; Klaus P. Hansen (Hrsg.): Kulturbegriff und Methode. Der stille Paradigmenivechsel in den Geisteswissenschaften. Tübingen 1993; Dirk Hartmann / Peter Janich (Hrsg.): Die kulturalistiscbe Wende. 7.ur Orientierung philosophischen Selbstverständnisses. Frankfurt a. M. 1998; Andreas Reckwitx /Holger Sicvert (Hrsg.): Interpretation, Konstruktion, Kultur. Ein Paradigmenwechsel in den So^alwissenschaften. Opladen 1998. 66 Horst Turk: „Alienität und Alterität als Schlüsselbegriffe der Kulturscmantik". In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 22 (1990), H. l, S. 8-31. 67 Vgl. etwa das Kapitel „Alterität und Interkulturalität" von Marina Münkler (für die Altere deutsche Literatur) und Ortrud Gutjahr (für die neuere deutsche Literatur) in: Claudia Bcnthien / Hans Rudolf Veiten (Hrsg.): Germanistik als Kulturmssenschaft. Eine Einführung in neue Theonekon^epte. Reinbek b. Hamburg 2002, S. 323-369; Markus Pausen Einfuhrung in die Kulturwissenschaft. Darmstadt 2003, S. 35-40; Doris BachmannMedick: „Kulturanthropologic". In: Konzepte der Kulturwissenschaften. Hrsg. v. Ansgar Nünning und Vera Nünning. Stuttgart /Weimar 2003, S. 86-107; dies.: „Texte zwischen den Kulturen: ein Ausflug in ,postkolonialc Landkarten'". In: Hartmut Böhme / Klaus Scherpe: Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek b. Hamburg 1996, S. 60-77.
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anz von cultural turn und Beschäftigung mit kultureller Alterität hat ihren Grund in dem zentralen Begriff des Paradigmenwechsels selbst. Auch wenn sich dieser Kulturbegriff durch ein gerüttelt Maß an Diffusität auszeichnet, lassen sich an ihm Spezifika ausmachen, für welche die Leitdisziplin jener kulturwissenschaftlichen Wende verantwortlich zeichnet. Wie der Sprachwissenschaft im Rahmen des linguistic turn kommt diese Rolle beim cultural turn der Edinologie zu — bzw. der (cultural) anthropology als ihrem US-amerikanischen Pendant.68 Dies schlägt sich nicht allein im Renommee nieder, das Ethnologen und ethnologische Methoden69 im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Theoriebildung genießen,711 sondern eben auch im Kulturbegriff selbst, der deutlich ethnologisch belegt ist.71 Denn einerseits wird ,Kultur' im Kontext des cultural turn stets als eine unter mehreren Kulturen verstanden. Das Konzept ist damit dezidiert antiuniversalistisch. Andererseits umfaßt der Begriff innerhalb einer Kultur alles, was nicht Natur ist; also alle Kunstprodukte, sämtliche Lebensäußerungen und Praxen sowie ihre ideellen und normativen Voraussetzungen. In seiner äußerst prägnanten historischen und systematischen Typologie von Kulturbegriffen der Geistes- und Sozialwissenschaften hat Andreas Reckwitz72 den hier zur Verhandlung stehenden unter die Kategorie des „totalitätsorientierten Kulturbegriff' gefaßt und schreibt zum Gebrauch des Begriffs im Rahmen des cultural turn: Der totalitätsorientierte Kulturbegriff wird hier dazu verwendet, um in ethnographischer Perspektive die immanente Komplexität von Lebensweisen und gleichzeitig ihre Distinktheit gegenüber anderen Lebensformen hervorzuheben.73
Nun definiert sich die Ethnologie explizit als „Wissenschaft vom kulturell Fremden"74, so daß im Zuge des ,cutural turn' das Phänomen Alterität na-
68 Daher ist verschiedentlich auch von einer „anthropologischen Wende" die Rede, vgl.: Doris Bachmann-Medick (Hrsg.): Kultur als Text, Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1996; Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist 2000, S. 77 f. 69 Wichtige Bezugstexte sind hier: Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge %um Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. 61999; James Clifford / George K. Marcus: Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Berkley 1986. 70 Vgl. dazu exemplarisch die programmatische Einleitung von Gerhard Neumann und Sigrid Weigel: „Literaturwissenschaften als Kulturwissenschaft". In: dies. (Hrsg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften ^wischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, S. 9-16, i. b. S. 11. Ausführlicher zum Verhältnis von Literaturwissenschaft und Rnthographie: Klaus R. Scherpe: „Grenzgänge zwischen den Disziplinen. Literaturwissenschaft und Ethnographie". In: ders.: Stadt - Krieg - Fremde. Literatur nach den Katastrophen. Tübingen /Basel 2002, S. 217-237. 71 Vgl. dazu systematisch: Werner Kogge: Die Grenzen des Verstehens. Kultur, Differenz Diskretion. Weüerswist 2002, S. 181-204. 72 Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien, S. 64-90. 73 Ebd., S. 78.
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hezu zwangsläufig auch in anderen Humanwissenschaften zu einem zentralen Paradigma avancierte.75 Dabei ging es einerseits methodologisch um die Etablierung „einer Ethnologie der eigenen Kultur, eines ,view point' gewissermaßen von außen oder von ferne"™ andererseits um eine verstärkte Analyse des „Fremden" in allen seinen Ausprägungen. Unabhängig davon, ob Alterität vom jeweiligen wissenschaftlichen Beobachterstandpunkt aus als ontologische Größe verstanden oder — wie in jüngeren Studien nahezu durchgängig - als (soziale) Konstruktion begriffen wird, scheint ihre große Bedeutung und Wirksamkeit als Muster kultureller Orientierung mittlerweile unbestritten zu sein.77 Und das gilt nicht allein für die Ordnung von Kulturen im ethnologischen Sinne. Wie groß das Spektrum von Phänomenen ist, die sich inzwischen mittels der Opposition vom ,Eigenen' und ,Fremden£ untersuchen lassen, illustrieren die Akten des Internationalen Germanisten-Kongresses Begegnung mit dem fremden'in Tokyo 1990 eindrücklich.78 Doch besteht die stetig steigende Zahl von Aufsatzsammlungen zum „Eigenen und Fremden"79 vornehmlich aus Beiträgen zur Aufnahme oder Darstellung außer74 Karl-Heinz Kohl: Ethnologie - die Wissenschaß vom kulturell fremden. Eine Einführung. München 1993. 75 Die weitreichenden Konsequenzen auf dem Feld der Literaturwissenschaft lassen sich besonders deutlich in den Programmen neuerer Einführungen in die Disziplin ablesen. So enthält die Einführung in die Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Miltos Pechlivanos / Stefan Rieger /Wolfgang Struck / Michael Weitz. Stuttgart /Weimar 1995, allein drei Beiträge, die sich mit dem Phänomen des Fremden/Anderen auseinandersetzen: Shankar Raman: „The Racial Turn. ,Race', Postkolonialität, Literaturwissenschaft" (S. 241-255); Hans-Walter Schmidt: „Kulturspezifische I^ektüren. Interkulturclle Hermeneutik oder Ethnographie des I^csens?" (S. 340-346); Markus Krist: „Exkurs: Aufzeichnung und Entgrenzung kultureller Alterität. Topik der Reiseberichte und Rousseaus zweiter Discours" (S. 347-353). 76 Neumann / Weigel: Einleitung: Literaturwissenschaften ah Kulturwissenschaft, S. 11 (Hervorh. i.O). 77 Vgl. Turk: Alienität und Attentat als Schlüsselbegriffe der Kultursemantik; vgl. auch die Beiträge in: Bernd Lenz /Jans-jürgen Lüsebrink (Hrsg.): Fremdheitserfahrung und Fremdheitsdarstellung in ok^dentalen Kulturen. Theorieansät^e, Medien/Texfsorten, Diskursforme». Passau 1999. 78 Neben Klassikern wie „Theorie der Alterität", „Orientalismus, Exotismus, koloniale Diskurse" und „Erfahrene und imaginierte Fremde" finden sich unter den zahlreichen Sektionen der Tagung auch solche zu „Vergangenheit bzw. Zukunft als Fremdes und Anderes" oder zur „Fremdheit der Literatur". Vgl. Begegnung mit dem ,fremden". Grenzen - Traditionen - Vergleiche. Hrsg. v. Eijiro Iwasaki (= Akten des internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990). 11 Bde. München 1990. 79 Vgl. exempl.: Alexander Flonold / Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialst. Mit 149 Abbildungen. Stuttgart / Weimar 2004; dies. (Hrsg.): Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen. Frankfurt a. M. u. a. 2000 (= Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge. Beiheft 2 (1999)); Tanja Hemme: Streifciige durch eine fremde Welt. Untersuchung ausgewählter Zeugnisse deutscher Reisender im südlichen Afrika im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der
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europäischer Kulturen. Gerade die europäische Orient-Rezeption wird dabei immer wieder als Beispiel für den immensen historischen (wo nicht gar anthropologischen) Wirkungsradius dieser Leitdifferenz herangezogen. Zwar findet sich bereits bei Edward W. Said die Idee formuliert, der Orient habe für den Westen stets die Funktion des „Anderen" erfüllt, sei sogar „one of its deepest and most recurring images of the Other"80 gewesen — eine These, die wie viele andere in der Nachfolge der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers konsequent fortgeschrieben wurde. Und auch innerhalb der Germanistik läßt sich eine Auseinandersetzung mit dem Orientalismus in Parametern der Fremdheit bis in die Mitte der achtziger Jahre zurückverfolgen, als — aus dem Kontext der Auslandsgermanistik heraus — die ersten Entwürfe zu einer „Architektur interkultureller Germanistik"81 entstanden. Doch eine neue Qualität erhielt die Rede von Alterität und Fremdheit des Orients erst im Zuge jener kulturwissenschaftlichen Wende, die in den neunziger Jahren die Untersuchungen zum europäischen Orientalismus derart eng an die Topoi jAlterität* und ,Fremdheit* gebunden hat, daß sich das eine ohne Rekurs auf das andere heute kaum mehr thematisieren läßt. Die Debatte um den europäischen Orientalismus weist allerdings noch einen dritten Konsenspunkt auf. Der überwiegende Teil von Beiträgen zum Thema ist getragen von einer skeptischen bis ablehnenden Haltung gegenüber essenzialistischen Deutungsmodellen und trägt in der Diskussion um die Alterität des Orients deutlich gesellschafts- und diskurskritische Züge. Und analog zur Auseinandersetzung mit dem Orient als Imagination des Westens herrscht in der Forschung ebenfalls Konsens darüber, daß auch zwischen dem alteritären Charakter des Orients und den (inter)kulturellen und weltpolitischen Machtverhältnissen ein Zusammenhang besteht — und zwar ein historischer wie systematischer. Selten fehlen Flinweise auf die Machteffekte gesellschaftlicher oder kultureller Alteritätskonzepte in den Arbeiten, seien sie historisch ausgerichtet oder mit aktuellem Bezug. Dabei wird der Konnex zwischen Alterität und Macht wiederum sehr unterschiedlich gefaßt. Die einen sehen Machteffekte allein in Fällen von Diskreditierung des Anderen gegeben, andere nur bei seiner falschen oder kulturellen Fremderfahrung. Stuttgart 2000; Karl Holz (Hrsg.): Beschreiben und Erfinden. Figuren des Fremden vom 18. bis %um 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. u. a. 2000; Horst Turk /Brigitte Schulze /Roberto Simanowski (Hrsg.): Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Literaturen. Nationalismus, Regionalismus, Fundamentalismus. Göttingen 1998, S. 8-60. 80 Said: Orientalism, S. 1. 81 Alois Wierlacher: Architektur interkultureller Germanistik. München 2001; vgl. auch die Beiträge des Sammelbandcs: Das Fremde und das Eigene. Prolegomena %u einer interkulturellen Germanistik. Hrsg. v. Alois Wierlacher. München 1985; sowie die programmatische „Einführung" des Herausgebers in: Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik. Hrsg. v. Alois Wierlacher. München 1987, S. 13-17.
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verzerrenden Darstellung, die dritten in kulturellen Grenzziehungen zwischen „dem Eigenen und dem Fremden" generell. In jedem Fall aber erscheint das Postulat einer wie auch immer gearteten kausalen Beziehung zwischen Macht und Alterität als weitere Selbstverständlichkeit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Orientalismus. Somit hat die Orientalismus-Debatte die beiden großen humanwissenschafdichen Wenden der Nachkriegszeit mit einigem Erfolg nicht allein überstanden, sondern auch an ihr mitgearbeitet. Und so wie viele Ideen und Konzepte des linguistic turn in kulturwissenschaftliche Denkmodelle eher überführt als von ihnen aufgehoben worden sind, läßt sich auch hier eine Synthese von Topoi und Grundannahmen aus beiden denkerischen Bewegungen verzeichnen. Wie bereits sltizziert, ist die Erfolgsgeschichte der beiden zentralen Parameter der Orientalismus-Debatte — namentlich der aus dem linguistic turn hervorgegangene Topos vom Orient als westlicher Imagination, Erfindung oder Konstruktion und das cultural tora-gestützte Postulat vom Orient als „Anderem" - zwar durchaus in verschiedenen theoretischen Bahnen verlaufen. Doch kam es zu zahlreichen Überschneidungen. So ist in kulturwissenschaftlich ausgerichteten Arbeiten die Rede vom „Fremden" allgemein als „Fiktion", „Erfindung" und „sozialer Konstruktion"82 inzwischen gängig. Wie entscheidend diese Kopplung von Alteritäts- und Konstruktionsparametern für die bisherige Auseinandersetzung mit dem Orientalismus gewesen ist, mag ein erneuter Blick in Edward W. Saids Orientalism illustrieren. Bereits hier findet sich nämlich die These, daß zwischen der Alterität des Orients und seinem Konstrukt-Charakter eine Beziehung besteht, und zwar eine kausale und reziproke. Said stellt diesen Konnex dadurch her, daß er beide Faktoren als Teil eines übergeordneten Projekts begreift: der Herstellung von Identität. The construction of identity - for identity, whether of Orient or Occident, France or Britain, while obviously a repository of distinct collective experiences, is finally a construction - involves establishing opposites and „others" whose actuality is always subject to the continuous interpretation and re-interpretation of their differences from „us".83
82 Alois Hahn: „Die soziale Konstruktion des Fremden". In: Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion. Festschrift für Thomas Luckmann. Hrsg. v. Walthcr Sprondel. Frankfurt a. M. 1994, S. 140-163; Dietrich Harth (I Irsg.): Fiktion des Fremden. Erkundung kultureller Grenzen in Literatur und Publizistik. Frankfurt a. M. 1994; Karl Holz (Hrsg.): beschreiben und Erfinden. Figuren des Fremden vom 18. bis %um 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. u. a. 2000; Kai-Uwe Hellmann: „Fremdheit als soziale Konstruktion. Eine Studie zur Systemtheorie des Fremden". In: Die Herausforderung durch das Fremde. Hrsg. v. Ilerfried Münkler unter Mitarb. v. Karin Meßlinger u. Bernd Ladwig. Berlin 1998, S. 401-459. 83 Said: Orientalism, S. 332.
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Um sich eine europäische Identität zu konstruieren, so Said weiter, hat der Westen den Orient als sein Gegenbild entworfen und ihn im Zuge dessen immer weiter „orientalisiert", damit er sich in Abgrenzung zum Orient selbst definieren konnte. Das so entstandene Orientbild sei also weit mehr seiner identitätsstiftenden Funktion für den Westen geschuldet als den tatsächlichen Gegebenheiten84 und in diesem Sinne als europäische Erfindung zu betrachten.85 Allerdings stellt Said noch eine weitere systematische Beziehung zwischen Alterität und Imagination her. Ausgehend von der Annahme, daß sich Identitätskonstruktionen und gesellschaftliche Machtverhältnisse generell unmittelbar und ebenfalls reziprok bedingen,86 konstatiert er: The relationship between Occident and Orient is a relationship of power, of domination, of varying degrees of a complex hegemony [...]. The Orient was OrientaU2ed not only because it was discovered to be „Oriental" in all those ways considered commonplace by an average nineteenth-century European, but also because it could be - that is, submitted to being - made Oriental.87
Aufgrund der Machtverhältnisse einmal als „Projektionsfläche"88 zu identitätskonstitutiven Zwecken etabliert, konnten die westlichen Fiktionen und Imaginationen des Orients die herrschende Hegemonie immer weiter stützen,89 bis — so interpretiert Said die Effekte der Diskursmacht - der reale Orient durch sein fiktives Imago, die orientalische Präsenz durch ihre orientalistische Repräsentation, vollständig ersetzt und Europa damit gänzlich verfügbar wurden.90 Mit dieser Idee, daß sich stets nur diejenigen gesellschaftlichen Gruppen oder globalen Größen zur Projektions fläche kollektiver Imaginationen eignen, welche schwächere Machtpositionen innehaben, setzt Said — bewußt oder unbewußt — eine lange Tradition feministischer Theoriebildung fort, die immer wieder auf die gegenseitige Bedingtheit von weiblicher Machtlosigkeit und der Möglichkeit männlicher Projektionen auf die „Leinwand Frau" hingewiesen hat. Eine ganze Reihe von Arbeiten haben nach Said diese theoretische Analogie aufgegriffen und analytisch fruchtbar gemacht, und so zählt inzwischen auch die Beobachtung, daß der Orient als weiblich imaginiert und repräsentiert wurde,
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Und so schlußfolgert Said, „that Orientalism makes sense at all depends more on the West than on the Orient." (Said: Orientalism, S. 22). Said: Orientalism, S. 5f. Said: Orientalism, S. 332 Said: Orientalism, S. 5f. So u. a. auch: Dietrich Krusche: „Die Macht der Projektion. Aus Anlaß von Edward W. Said .Orientalismus' (1978)". In: ders.: Literatur and Fremde. Zur Hermeneutik kulturräumlicher Distans^ München 21993, S. 209-213; Scheffler: Orientalismus und Exotismus, S. 105; Sudhoff: Orangen und Datteln, S. 180. Said: Orientalism, S. 6. Said: Orientalism, S. 21.
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zu den unhinterfragten Wahrheiten der Orientalismus-Forschung.yi Doch auch durch die Beiträge, in denen keine Parallele zwischen Orient- und Gender-Konzepten hergestellt wird, zieht sich die Grundannahme, daß die Faktoren Identität, Alterität, Imagination und Macht miteinander in wechselseitiger Beziehung stehen und sämtlich an der Konstitution und Perpetuierung des Orientalismus mitwirken. So vielschichtig die Beiträge zur europäischen Orientkonzeption und -rezeption also hinsichtlich ihrer konkreten Gegenstände, historischen Zeiträume und methodologischen Verfahrensweisen auch sein mögen, so groß ist auch die Regelmäßigkeit, mit der dieselben theoretischen Axiome und vorausgesetzten Kausalbeziehungen wiederkehren. Daher erscheint die Debatte letztlich doch übersichtlich, und eine Orientierung in ihr fällt nicht schwer. Das gilt um so mehr, als die besagten Evidenzen und Selbstverständlichkeiten weit über die Grenzen der Diskussion hinaus Gültigkeit haben. Sie lassen sich auf dem großen Forschungsfeld zum „Eigenen und Fremden" ebenso ausmachen wie in der Geschlechterforschung oder der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Identitätskonzepten. Die wichtigsten Grundannahmen seien hier noch einmal zusammengefaßt: Der Orient ist eine soziale Konstruktion. •
Diese soziale Konstruktion hat genuin imaginären Charakter und produziert oder stützt hierarchische Strukturen. • Nur weil der Orient dem Westen auf machtpolitischer Ebene unterlegen ist, eignet er sich als Projektions fläche für westliche Imaginationen. Der Orient fungiert als „Anderer" des Westens. •
•
Diese Alterisierung des Orients dient der Konstruktion westlicher Identitäten und produziert oder stützt somit ebenfalls hierarchische Strukturen. Nur weil der Orient dem Westen auf machtpolitischer Ebene unterlegen ist, kann er zu dessen „Anderem" gemacht werden.
91 Vgl. Dagmar Heinze: „Fremdwahrnehmung und Selbstentwurf. Die kulturelle und geschlechtliche Konstruktion des Orients in deutschsprachigen Reiseberichten des 19. Jahrhunderts". In: Hol'/, (Hrsg.): Beschreiben und Erfinden, S. 45-91; Reina Lewis: Gendering orientalism. Race, feminity and representation. London 1996; Yegenoglu: Colonial Features; Karl-Heinz Kohl: „Cherchez la femme d'Orient". In: Europa und der Orient: 800-1900, S. 356-367; Petra Kappert: „Europa und der Orient". In: Jochen l lippler / Andrea Lueg: Feindbild Islam. Hamburg 1993, S. 44-76, hier: S. 55 f.; Mrinalini Sinha: Colonial Masculinity. The JAanly Englishman' and the ,Effeminate Bengali' in the l^ate Nineteenth Century. Manchester 1995; Richard King: Orientalism and Religion. London 1999, S. 111117. Diese Textpassage wurde unter dem Titel „Orientalism, Hinduism and Feminism" noch einmal separat abgedruckt in: Orientalism. A Reader. Hrsg. v. . L. Macfic. Edinburgh 2000, S. 335-342.
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1.2 Exemplarische Aporien: Saids Orientalism Mit Edward W. Saids einflußreicher Studie besitzt die Orientalismus-Forschung einen Grundlagentext, dessen ungebrochene Rezeption viel von den Kontinuitäten und Homogenitäten der Auseinandersetzung mit dem Thema zumindest mitzuverantworten hat. Schließlich reißt Onentalism all jene Punkte bereits an, die im Verlauf der darauffolgenden Jahre zu Gemeinplätzen der Forschung avancierten. Eine Nennung Saids und seiner Studie fehlt heute in keiner Arbeit zum Thema, und kaum eine Einleitung verzichtet auf eine beipflichtende Wiedergabe der Thesen. Allerdings ist dabei der Umstand bemerkenswert, daß Lektüre und Diskussion des Textes in der deutschen Literatur- und Kulturwissenschaft bislang ohne jeden Rekurs auf die internationale Said-Kritik stattfanden. Das ist um so erstaunlicher, als die kritische Auseinandersetzung mit den Thesen und Prämissen von Onentalism bereits ein Vierteljahrhundert währt und nicht nur im anglo-amerikanischen Raum, sondern auch innerhalb der deutschen Orientwissenschaften seit vielen Jahren auf breiter Ebene und äußerst kontrovers geführt wird. Die Debatte war von Anfang an argumentativ und personell so groß angelegt, daß bereits seit geraumer Zeit Reader und Überblicksdarstellungen bei einer Orientierung auf dem weiten Feld des Streits um Said Hilfestellung leisten.92 Die deutschen Literatur- und Kulturwissenschaften zeigen sich indes von alledem weitgehend unbeeindruckt. Obwohl das Selbstverständnis dieser Fächer deutlich von Interdisziplinarität und durchaus auch von Internationalität gekennzeichnet ist, sucht man hier Bezüge zur anglo-amerikanischen Said-Debatte ebenso vergeblich wie Blicke über den disziplinären Tellerrand auf die entsprechenden Diskussionen in der deutschen Islamwissenschaft. Statt dessen wird Onentalism auch fünfundzwanzig Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung noch als Neuerscheinung gelesen; als von professioneller Rezeption und Kritik oder nachträglichen Revisionen des Autors93 unangeta-
92 Edward Said. A Critical Reader. Hrsg. v. M. Spinkcr. Oxford 1993; Orientalism. A Reader. Hrsg. v. A. L. Macfie. Edinburgh 2000; Jürgen Lütt/Nicole Brechmann /Catherina Hinz/ Isolde Kurz: „Die Orientalismus-Debatte im Vergleich. Verlauf, Kritik, Schwerpunkte im indischen und arabischen Kontext". In: Hartmut Kaelble /Jürgen Schriewcr (Hrsg.): Gesellschaften im Vergleich. Forschungen aus sozial- und Geschichtswissenschaften. Frankfurt a. M. /Berlin /Bern u.a. 1998, S. 511-567; Fred Halliday: .„Orientalism' and its critics". In: British Journal of Middle Eastern Studies 20 (1993), H. 2, S. 145-163. 93 Vgl. das Nachwort zur Ausgabe: Edward W. Said: Orientalism. Western Conceptions of the Orient. With a new afterword. London 1995, S. 329-354, sowie: ders.: „Orientalism reconsidered". In: Race and Class 21 (1985), H. 2, S. 1-15; dcrs.: „Nexus-lczing 1994 - terugblik op .Orientalism'". In: Nexus 10 (1994), S. 38-63.
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steter und somit gänzlich geschichtsloser Text.94 Diese konsequente Erstlektüre hat zur Folge, daß seit langem diagnostizierte Aporien, sachliche und theoretische Fehler Saids wiederholt und in die Literatur- und Kulturwissenschaft hinein fortgeschrieben werden. Und an solchen ist — wie die differenzierte Diskussion der vergangenen Jahre gezeigt hat — die Studie keineswegs arm. Der folgende Blick auf jene Kritikpunkte an Said, über welche in der internationalen Debatte mitderweile Konsens herrscht, steht daher im Dienste einer interdisziplinären Ökonomie und verfährt entsprechend selektiv. Zur Erinnerung sei zuvor noch einmal kurz der Argumentationsgang von Onentalism skizziert: Orientalismus ist nach Edward W. Said ein europäischer Diskurs, der sich von der Antike herschreibt, jedoch erst am Ende des 18. Jahrhunderts zu einer institutionalisierten Form fand. Innerhalb dieses Diskurses, an dem Wissenschaftier ebenso beteiligt waren wie Politiker, Publizisten und Literaten, wurde der Orient jedoch nicht allein beschrieben, sondern zunehmend „orientalisiert" und damit letztlich erst „erfunden".95 Die Schaffung eines solchen erfundenen Orients konnte indes nur aufgrund der bestehenden politischen und ökonomischen Machtverhältnisse gelingen. Sie ging einher mit dem Aufstellen einer ontologischen und epistemologischen Demarkationslinie zwischen dem Westen und dem Osten96 und diente — so Said weiter — der Stärkung europäischer Identität in Abgrenzung zum Orient und schließlich der Etablierung kolonialer und imperialer Superiorität über den Osten.97 Der entscheidende Beitrag des orientalistischen Diskurses zum imperialen Projekt bestand nach Said darin, daß der reale Orient sukzessive mit Hilfe seiner Repräsentation im Raum des Wissens und der Imagination zunächst verdinglicht, dann durch sie ersetzt und auf diesem Wege schließlich frei verfügbar wurde.98 Daß es sich dabei um ein gesamteuropäisches Projekt handelte, welches nach dem Ersten Weltkrieg seine Fortsetzung durch die imperiale Politik der USA fand, steht für Said außer Frage.99 Zwar setzt sich sein Analysematerial fast ausschließlich aus französischen und britischen Quellen zusammen, doch sieht 94 7u den wenigen Ausnahmen zählen zwei Studien, deren Autoren signifikanter Weise selbst Orientwissenschaftler sind, bxw. mit den entsprechenden F-'ächern eng kooperieren: Nina Berman: Orientalismus, S. 35, Anm. 37 und Thomas Scheffler: „Kxotismus und Orientalismus". In: kultuERevolution, ^eitschrift für angewandte diskttrstheorie. 32/33 (1995): Tropische Tropen - Exotismus. Hrsg. v. Nana Badenberg/Alexander Ilonold/ Rolf Parr/Thomas Schwarz, S. 105-111, hier: S. 109, Anm. 51. 95 Said: Orientalism, S. 5 f. 96 Said: Onenta/ism, S. 39. 97 Said: Orientalism, S. 7. 98 Said: Orientalism, S. 31 ff. 99 Said: Orientalism, S. 95.
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er die Superioritätsidee der beiden großen Kolonialmächte im 19. Jahrhundert überall in Europa als „a kind of intellectual authority over the Orient"100 am Werk. Und nicht weniger selbstverständlich ist ihm der Umstand, daß es sich bei diesem Orient durchweg um den arabo-islamischen handelte.1"1 Unter den zahkeichen gegen Qnentalism erhobenen Einsprüchen sind drei, die im Laufe der Debatte mit steter Regelmäßigkeit und besonderem Nachdruck vorgebracht worden sind: der Hinweis auf sein ahistorisches Analyseverfahren, auf die Tautologien seiner Theorie zur „Erfindung" des Orients und schließlich auf die internen Widersprüche seiner Überlegungen zum Verhältnis von Alterität und Macht. Diese Punkte näher zu beleuchten, verspricht insofern einen Ertrag, der über das Verständnis einer einzelnen wissenschaftlichen Studie hinausgeht, als Saids Denkfehler durchaus der Status des Exemplarischen zukommt. Aus eben diesem Grund hat sich die Kritik auch so lange und ausgiebig mit dem Text beschäftigt.102
1.2.1 From Aeschylus to Kissinger Der Vorwurf ahistorischer Verfahrensweise richtet sich vor allem gegen Saids Vorannahme eines orientalistischen Meta-Diskurses, der von Aeschylos und Alexander dem Großen bis in die Gegenwart reicht und spätestens seit der Renaissance1"3 durchweg an eine westliche Dominanz über den Orient gebunden war.1"4 Diese heuristische Annahme bildet das entscheidende Kriterium für Saids Auswahl der zu untersuchenden Quellen und historischen Zusammenhänge, die sämtlich ein negatives oder ver100 Said: Qnentalism, S. 19. 101 Said: Orientalism, S. 17. Zur historischen Unhaltbarkeit dieser Annahme vgl. das Kap. 2 dieser Arbeit. 102 Vgl. die Einleitungen zu: Michael Dutton /Peter Williams.· „Translating theories — Edward Said on Orientalism, imperialism and alterity". In: Southern Review 26 (1993), H. 3, S. 314-357, hier: S. 314ff.; Lütt /Brechmann / Hinz /Kurz: Die Orientalismus-Debatte im Vergleich, S. 511-515. 103 Wann Said genau jenen hegemonialcn orientalistischen Diskurs beginnen sieht, ob tatsächlich bereits in der Antike — wie seine Aeschylos-Lektüre (S. 21 f.) suggeriert —, in der Renaissance (S. 7) oder doch erst Ende des 18. Jahrhunderts (S. 3), bleibt in Orientalism unklar. 104 Zusammenfassend: Hartmut Fähndrich: Orientalismus und,Orientalismus'. Überlegungen %u Edward Said, Michel Foucault und westlichen ,Jslamstudien". In: Die Welt des Islam 28 (1988), S. 178-186, hier: S. 180f. und Lütt/Brechmann/Hinz/Kurz.: Die OnentalismusDebatte im Vergleich, S. 523 f.; ferner: John M. McKenzie: Orientalism. History, theory and the arts. Manchester /New York 1995, S. 11; Sadik Jalal al-'Azm: „Orientalism and Orientalism in reverse". In: Khamsin 8 (1981), S. 5-26, hier: S. 6f.
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zerrtes Orientbild zeichnen. Die Analyse des auf diese Weise vorselektierten Materials verleiht der Ausgangsvermutung entsprechend ein hohes Maß an Evidenz. Doch abgesehen von der unübersehbaren Tautologie dieses Verfahrens zahlt Said dafür den Preis großer historischer Unsauberkeiten. Denn um die Annahme einer hegemonialen Meta-Erzählung ,Orientalismus' seit der Antike aufrechtzuerhalten, muß er große Teile der Weltgeschichte ignorieren. So blendet er nicht allein die für Europa über einen langen Zeitraum äußerst bedrohliche Existenz des Osmanischen Reiches aus,105 sondern mit ihm alle orientalischen Imperien, welche die weltpolitischen Geschicke des vergangenen Jahrtausends entscheidend prägten. Die bis nach Spanien und Sizilien reichende islamische Expansion unter den Kalifen der Umayyaden und Abbassiden findet in Orientalism ebensowenig Erwähnung wie etwa das Sassaniden-Reich, das Byzantische Reich, die Mongolen und das indische Mogul-Reich — Imperien, welche den europäischen bis weit ins 18. Jahrhundert hinein mindestens ebenbürtig waren. Vor dem Hintergrund der Saidschen Ausgangsthese erweist sich das Ausklammern dieser Machtkonstellationen schnell als konstitutive Verkennung. Zu ihr gehört auch das historisch unhaltbare Postulat einer Sonderstellung des Orients innerhalb der europäischen Kolonialprojekte. Denn der Status „place of Europe's greatest and richest and oldest colonies"106, den Said dem Nahen und Mittleren Osten zuschreibt, kommt eben nicht dem Orient, sondern Amerika zu.107 Mit der Okkupation der Neuen Welt und der Südsee beginnt das Zeitalter des Kolonialismus (1500-1960) und hier hat es in den ersten Jahrhunderten auch seinen vornehmlichen Schauplatz.108 Auch im Vergleich mit der Kolonisierung des subsaharischen Afrika verliert die Idee einer besonderen Aggression des Westens gegenüber dem Orient an Plausibilität; zumindest wird man in der europäischen Orient-Politik proto-imperiale Akte wie die vollständige Aufteilung des afrikanischen Kontinents im Jahre 1870 vergeblich suchen.109 Mit dem Wegfall dieser Argumente aber verflüchtigt sich auch die Evidenz von Edward Saids — ohne historischen Beleg bleibender — Behauptung, der Ori105 Parker: From Aeschylus to Kissinger, S. 6 f. Vgl. auch MacKenzie: Orientalism. History, Theory and the Arts, S.U. 106 Said: Orientalism, S. 1. 107 „[...] it may be pointed out that the fate of the native people of the Americas [...] was far worse than that of the peoples of Islam." (Halliday: ,Orientalism' and its critics, S. 160). 108 Zum Begriff,Kolonialismus', zur Geschichte dieses Phänomens sowie seiner Systematik vgl. den hervorragenden Überblick von Jürgen Osterhammel: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. 2. durchges. Aufl. München 1997 Vgl. auch: Scheffler: Exotismus und Orientalismus. 109 Die Aufteilung' des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg fällt schon insofern in eine andere Kategorie, als das Osmanische Reich — ganz anders als die afrikanischen Länder Ende des 19. Jahrhunderts - selbst zu den Kriegsparteien zählte und den Krieg gemeinsam mit dem Deutschen Reich verloren hatte.
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ent sei im Laufe der Geschichte stets der Hauptantagonist des Okzidents gewesen sowie „one of [Europe's] deepest and most recurring images of the Other".110 Und so schlußfolgert Halliday stellvertretend für eine ganze Reihe von Kritikern: The thesis of some enduring, trans-historical, hostility to the Orient, the Arabs, the Islamic world, is a myth - albeit one which many in the region and the West find it convenient to sustain.111
Durch sein Festhalten an diesem mythischen Geschichtsbild gelangt Said zu einer Deutung der orientalistischen Dinge, die den beginnenden Orient-Kolonialismus im 19. Jahrhundert als Telos Jahrhunderte währender westlicher Superiorität begreifen muß und eben nicht als das, was er war: ein historisches Novum und die radikale Umkehrung der bis dahin geltenden politischen und militärischen Machtverhältnisse zwischen Westen und Osten.112 Doch der Blick für Differenzen fehlt in Qnentalism nicht allein auf historischer Ebene. Auch kulturgeographisch erscheint „der Westen" als monolithischer Block ohne jede gesellschaftliche, politische oder staatliche Differenzierung.113 Auf dieser Grundlage kann Said das, was er in französischen und britischen Quellen diagnostiziert, in einer pars-pro-totoBewegung als „europäisches" Phänomen interpretieren. Die Kopplung von orientalistischem Diskurs und kolonialer Aktion in Großbritannien und Frankreich erscheint so nicht als Spezifikum dieser beiden Staaten, sondern als westlicher Idealfall.114 Said denkt den orientalistischen Diskurs so konsequent vom kolonialen Apriori aus, daß auch das gänzliche Fehlen eines Orient-Kolonialismus in den deutschen Ländern keinen Einspruch gegen diese Lesart erheben, sondern eben als „intellectual authority over the Orient" gedeutet und aus der weiteren Analyse ausgeschlossen werden kann.115 Gerade durch diese Engführung auf Fälle gemeinsamen Auftretens von orientalistischem Diskurs und kolonialer Praxis, von Repräsentation und Aktion, Diskurs und militärischer Herrschaft bleibt jedoch der analytische Blick auf deren konkrete funktionale und strukturelle Relation notwendig verstellt.116
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Said: Orientalism, S. 1. Halliday. ,0rientalism' and its critics, S. 160f. Vgl. Scheffler: Exotismus und Orientalismus, S. 105 f. Auf den impliziten Essentialismus dieser Darstellung wurde mehrfach hingewiesen. Vgl. MacKenzie: Orientalism, History, Theory and the Arts, S. 11; ' -Azm: Orientalism and Orientalism in reverse, S. 6; Fähndrich: Orientalismus und,Orientalismus', S. 183. 114 Halliday: ^Orientalism'audits critics, S. 160. 115 Said: Orientalism, S. 19. 116 Vgl. MacKenzie: Orientalism. History, theory, and the arts, S. 11; Fähndrich: Orientalismus und,Orientalismus', S. 180f.
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1.2.2 ... almost a European invention Nun ist Said daran gelegen, mit seiner Studie ein Bewußtsein dafür zu schaffen, daß — wie alle kulturellen Einheiten — auch die Größen ,Orient' und ,Okzident' nicht naturgegeben, sondern als soziale Konstruktionen historischem Wandel unterworfen sind.117 Mit diesem Projekt stellt sich Said zwar explizit in die Tradition der Diskursanalyse Michel Foucaults, sowohl sein theoretisches Grundgerüst als auch seine Begrifflichkeit schreiben sich jedoch deutlich aus der anglo-amerikanischen „discourse analysis" her, einer Spielart der linguistischen Pragmatik, bzw. der Gesprächs- und Kommunikationsanalyse.118 Bei seinem Versuch, diese beiden theoretischen Ansätze zu kombinieren, verstrickt sich Said in zwei eminente Widersprüche.119 Zum einen stellt er neben seine Konstruktions-These die damit theoretisch schwer zu vereinbarende Annahme der außerdiskursiven Existenz eines empirischen Orients.120 Dieser Orient ist zwar nicht Gegenstand der Untersuchung, aber durch Saids kontinuierliche Rekurse auf seine Realität und deren Darstellung innerhalb des orientalistischen Diskurses avanciert er zu einer impliziten Instanz der Analyse, an welcher die orientalistischen Repräsentationen mitsamt ihrer Machteffekte letztlich gemessen und auf ihre „Korrektheit" hin überprüft werden.121 Schließlich liegt nach Said die Macht der Repräsentation des Orients darin, daß sie seinen Platz einnimmt, und sich so der orientalistische Schein im westlichen Bewußtsein zum orientalischen Sein wandelt. Hier zeigt sich die große Nähe des Saidschen Konzepts von Konstruktion zur marxistisch-leninistischen Idee von Ideologie als eines „falschen Bewußtseins".122 Dieses Bewußtsein 117 Said: Orientalism, S. 5. 118 Vgl. dazu die Einführungen: Tcun . Van Dijk (Hrsg.): Discourse studies. A miiltidisciplinarj introduction. 2 Bände. London /Thousand Oaks /New Delhi 1999; )ames Paul Gee: An introduction to discourse analysis. Theory and method. London 1999. 119 In Teilen der islamwissenschaftlichen und geschichtswisscnschaftlichen Debatte um den europäischen Orientalismus wurden und werden die eminenten theoretischen Unterschiede zwischen diesen beiden Ansätzen nicht wahrgenommen und so die Saidschen Widersprüche als interne Widersprüche „der Diskursanalyse" rezipiert. Vgl. da/u exemplarisch: Fähndrich: Orientalismus und ,Onentalismiis'', Ostcrhammcl: Die Eni^auberung Asiens, S. 23 f. 120 Zu der Unvereinbarkeit beider Annahmen vgl. die Rcxension von James Clifford: „Orientalism. By Edward W. Said". In: History and Theory 19 (1980), M. 2, S. 208. 121 Vgl. dazu: Michael Richardson: „Enough Said". In: Anthropology Today 6 (1990), II. 4, S. 16-19, wieder abgedruckt, in: Orientalism. A Reader, S. 208-216, hier: S. 210. 122 Daraufhat auch Baberjohansen hingewiesen (vgl. Johansen: Politics and scholarship, S. 74), wobei allerdings Said zufolge der Imperialismus und nicht der Kapitalismus jenes falsche Bewußtsein hervorbringt (Said: Orientalism, S. 14). Auch mit diesem Gedanken-
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identifiziert Said mit dem Bewußtsein der entsprechenden Autoren, deren Handeln von imperialen Interessen geleitet sei, auf die sich somit der gesamte orientalistische Diskurs zurückführen lasse.123 Vor diesem Hintergrund erweisen sich die in Orientalism omnipräsenten Bezugnahmen auf Foucault als rein rhetorisch - denn weder der Saidsche Intentionalismus noch sein Autorschafts-, Macht- oder Diskurskonzept sind mit der Theorie des Franzosen vereinbar.124 Allerdings erschöpft sich die Problematik der Studie nicht darin, daß hier eine konventionelle Abbildtheorie marxistisch-leninistischer Provenienz mit dem Label der Foucaultschen Diskursanalyse versehen wird. Die theoretischen Inkonsistenzen von Orienialism^ die Said zu Teilen selbst eingeräumt hat,126 verbinden sich vielmehr mit einem zweiten Widerspruch in seiner Argumentation zu einer zentralen Aporie. Denn während Said zu Beginn seiner Ausführungen den Orient als ebenso konstruiert wie alle anderen kulturellen Einheiten ausweist,127 spricht er wenig später vom imaginären Charakter des Orients als Ergebnis und Stütze spezifischer west-östlicher Machtverhältnisse.128 Dieselbe Verfaßtheit also macht den Orient gleichzeitig zu einem allgemeinen und einem besonderen Phänomen. Eine klare Antwort auf die Frage, was unter diesen Bedingungen den Konstruktions-Charakter des Orients von dem anderer kultureller Einheiten konkret unterscheidet, sucht man in Onentalism vergeblich. Doch suggeriert Saids Rede von orientalistischen „Manipulationen" des Orientbildes,129 es sei das zu imperialen Zwecken geschaffene „falsche Bewußtsein" in Europa, welches die Konstruktion ,Orient' zu einer problematischeren gemacht habe als ,Okzident', ,Nation', ,Liebe' oder eine der vielen anderen kulturellen Erfindungen. Dieselbe Denkbewegung durchzieht die Saidschen Überlegungen zum Verhältnis von orientalistischer Wissenschaft und Macht. Auch hier geht er — zunächst analog zu Foucault — von einer generellen Verbindung jeder Form institutionalisierten Wissens mit Macht aus, um dann jedoch die hege-
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schritt wandelt Said auf dem — inzwischen mit zahlreichen Publikationen gepflasterten - Weg der anglo-amerikanischen „discourse analysis". Zu deren Repräscntations-, Macht- und Ideologiebegriff sowie der zugrundeliegenden Marx-Rezeption vgl. die differenzierte Kritik von: Martyn Hammersley: „On the foundations of critical discourse analysis". In: Centre for Language in Education. University of Southampton. Occasional Papers 42(1996), S. 2-20. Said: Orientalism, S. 11. Vgl. dazu noch einmal ausführlich: Dutton /Williams: Translating theories, S. 315-325. MacKenzie: Orientalism. History, theory, and the arts, S. 11; Dutton /Williams: Translating Theories, S. 315-325. Said: „Afterword". In: Orientalism, S. 340. Said: Onentalism, S. 3f. Said: Onentalism, S. 5f. Said: Onentalism, S. 22.
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moniale Verfaßtheit speziell des orientalistischen Wissens herauszustellen und die Existenz europäischer Orient-Wissenschaften für die koloniale Hegemonie verantwortlich zu machen.13"
1.2.3 Alterität Vom Hang Edward W. Saids, allgemeine Beobachtungen der Diskursanalyse aufzunehmen und im Zuge seiner Lektüren des Materials als Besonderheiten des orientalistischen Diskurses zu präsentieren, ist seine Studie nachhaltig geprägt. Als besonders folgenreich für die Orientalismus-Debatte der vergangenen zwei Jahrzehnte hat sich diese theoretische Inkonsistenz an jenem Punkt erwiesen, an dem Said die orientalistischen Repräsentationsstrategien analytisch an das Prinzip kultureller Alterität koppelt. Die von ihm dabei angenommene Kausalbeziehung zwischen westlicher Identitätsfindung, verzerrender Darstellung des Anderen' und Macht gehört, wie bereits angemerkt, inzwischen zu den grundlegenden Konsenspunkten der Orientalismus-Forschung und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Alterität gleichermaßen. Nun hat aber bereits 1981 Sadik Jalal al-'Azm auf die Irrigkeit der Annahme hingewiesen, die verzerrende Darstellung einer anderen Kultur und ihre Einordnung in Schemata der eigenen — wie sie Said im Orientalismus diagnostiziert - sei charakteristischer Bestandteil des imperialistischen Diskurses und ein Spezifikum des Westens. Dabei macht er in Saids Überlegungen zum Verhältnis von Identität und Alterität zunächst jene Art inneren Widerspruchs aus, die sich schon im Kontext von Wissen und Konstruktion gezeigt hat: Said himself admits readily that it is impossible for a culture, be it Eastern or Western or South American, to grasp much about the reality of another, alien culture without resort to categorisation, classification, schematisation and reduction with the necessarily accompanying distortions and misrepresentations. If, as Said insists, the unfamiliar, exotic and alien is always apprehended, domesticated, assimilated and represented in terms of the akeady familiar, then such distortions and misrepresentations become inevitable. [...] If, as the author keeps repeating (by way of censure and castigation), the Orient studied by Orientalism is no more than an image and a representation of the Occident (the representer in this case) then it is also true that the Occident in doing so is behaving perfectly naturally and in accordance with the general rule - as stated by Said himself - governing the dynamics if the reception of one culture by another.131 130 Daß dies nicht zuletzt seinem konventionellen Begriff von Macht geschuldet ist, haben Dutton / Williams sehr überzeugend nachgewiesen, vgl. Dutton / Williams: Translating theories, S. 317. 131 Al-'Azm: Orientalism and Orientalism in reverse, S. 9 f.
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So führt al-'Azm die Fehlurteile Saids auf eine grundsätzliche methodische Schwäche zurück, die sich ebenfalls in nahezu allen Beiträgen zu Orientalismus und Alterität diagnostizieren läßt: einen — zweifellos gut gemeinten, weil dem Willen europäischer Selbst-Kritik ensprungenen — Eurozentrismus.132 Die islamische Welt nämlich, so al-'Azm weiter, habe das Christentum ebenso konsequent nach Maßgabe der eigenen Ordnungen wahrgenommen und klassifiziert wie das Abendland den Islam; und zwar zu allen Zeiten.133 Um die Kongruenz der Repräsentationsstrategien zu verdeutlichen, greift er eine Passage zur christlich-mittelalterlichen Islam-Rezeption aus Orientalism heraus und transformiert sie vermittels minimaler Änderungen in einen Text über die Rezeption des Christentums im islamischen Mittelalter, dessen Kommensurabilität seiner Vorlage um nichts nachsteht. Aufgrund ihres hohen illustrativen Potentials sei diese Transformation al'Azms, etwas ausführlicher zitiert. Said bezieht sich in seinem Beispiel auf Ergebnisse der Studie Islam and the West. The Making of an Image™ von Norman Daniel, die bereits 1960 erschien und als entscheidende Vorläuferin von Orientalism zu werten ist. Er schreibt: One constraint acting upon Christian thinkers who tried to understand Islam was an analogical one; since Christ is the basis of Christian faith, it was assumed — quite incorrectly - that Mohammed was to Islam as Christ was to Christianity. Hence the polemic name ,Mohammedanism' given to Islam, and the automatic epithet ,imposter' applied to Mohammed. Out of such and many other misconceptions ,there formed a circle which was never broken by imaginative exteriorisation. ... The Christian concept of Islam was integral and self-sufficient.' Islam became an image - the word is Daniel's but it seems to me to have remarkable implications for Orientalism in general - whose function was not so much to represent Islam in itself as to represent it for the medieval Christian.135
Al-'Azm kontrastiert diese Passage nun mit ihrer schlichten kulturellen Umkehrung und formuliert: One constraint acting upon Muslim thinkers who tried to understand Christianity was an analogical one; since Mohammed was no more but the Messenger of God it was assumed - quite incorrectly - that Christ was to Christianity as Mohammed was to Islam, namely, a plain Messenger of God or ordinary prophet. Hence the polemics against His incarnation, sonship, divinity, crucifixion, resurrection, and the automatic epithet of,forgers' applied to the first guardians of the Holy Scriptures. Out of such and many other misconceptions ,there formed a circle which was never broken by imaginative exteriorisation. ... the Muslim concept of Christi132 /u diesem Punkt vgl. auch: Ziauddin Sardar: Derfremde Orient. Geschichte eines Vorurteils. Berlin 2002, S. 100-114. 133 Vgl. die Beispiele im Kapitel ,The representation of Islam by the West' in al-'Azm: Orientalism and Orientalism in reverse, S. 10-13. 134 Norman Daniel: Islam and the West. The Making of an Image. Edinburgh 1960. 135 Said: Orientalism, S. 60.
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anity was integral and self-sufficient.' Christianity became an image - the word is Daniel's but it seems to me to have remarkable implications for how one culture receives another in general — whose function was not so much to represent Christianity in itself as to represent it for the medieval Muslim.136
In Bezug auf ihren Wahrheitsgehalt unterscheiden sich die beiden Texte nicht voneinander. Dabei ist das Beispiel letztlich willkürlich gewählt. Jedem Blick in eine syrische Tageszeitung oder eine äygptische Seifenoper, in Werke arabischer Gelehrsamkeit oder moderner arabischer Literatur,13' in Reiseberichte138 oder Briefe osmanischer Gesandter am preußischen Hof139 präsentiert sich das gleiche Bild: eine verzerrende Darstellung des Westens, wahrgenommen und prozessiert nach Maßgabe der islamischen Kultur.1*' Einen kulturellen Perspektivewechsel, wie ihn al-'Azm hier unternimmt, sucht man in Orientalism ebenso vergeblich wie in Arbeiten zum Thema Alterität, die systematisch-theoretischen Anspruch haben. Sie alle gründen ihre Überlegungen zum Verhältnis von Repräsentation, Identität, Alterität und Macht ausschließlich auf (west-)europäisches Material, von dem aus dann entweder Erkenntnisse auf anthropologischer Ebene abgeleitet141 oder aber — weit häufiger — Rückschlüsse auf die Quellen westlicher Hegemonie gezogen werden.142 Welches enorme epistemologische Potential jedoch bei einem Verzicht auf diese Art des vergleichenden Blicks verloren geht und wie schnell jener wohlmeinende Eurozentrismus in konstitutiven Verkennungen mündet, hat al-'Azm am Beispiel Said überzeugend dargetan. Denn nur durch das Ausblenden vergleichbarer Repräsentationsstrategien in anderen Kulturen und durch seinen engen Fokus auf westliche Quellen gelingt es Said, die darin nachweisliche in136 Al-'Azm: Orientalism and Orientalism in reverse, S. l Of. 137 Vgl. Rotraut Wieland: Das Bild der Europäer in der modernen arabischen Erzähl- und Theaterliteratur. Wiesbaden 1980. 138 Vgl. die Darstellung arabischer Reiseberichte von den 1820er Jahren bis xur Zeit vor dem '/weiten Weltkrieg in: Nazik Saba Yared: Arab Travellers and Western Civilisation. London 1996; sowie Bernard Lewis: The Muslim discovery of Europe. New York 1982. 139 Vgl. dazu Karl Pröhl: Die Bedeutung preußischer Politik in den Phasen der orientalischen Frage. Ein Beitrag %ur Entwicklung deutsch-türkischer Begehungen von 1606 bis 1871. Frankfurt a. M. u.a. 1986, S. 114ff. 140 Auf diesen Umstand haben Kritiker schon früh hingewiesen, so /. B. Annemarie Schimmel in ihrer Rezension von Orientalism in: Journal of Ecumenical Studies 17 (1980), S. 149 sowie Ulrich Krker-Sonnabend in der seinen in: Orient'22 (1981), S. 91. 141 Vgl. exempl.: Clemens Murath: „Intertextualität und Selbstbezug. Literarische Fremdcrfahrung im Lichte der konstruktivistischen Systcmtheorie". In: Reisen im Diskurs, Modelle literarischer Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis %ur Postmoderne. Hrsg. v. Anne Fuchs und Theo Harden. Heidelberg 1995, S. 3-18; Ram A. Mall: Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie — eine neue Orientierung. Darmstadt 1995; Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt a. M. 1990. 142 Ebenfalls exemplarisch: Turk: Alientität und Alterität als Schlüsselbegriffe der Kultursemantik. Vgl. auch die Beiträge in: Honold /Scherpe (Hrsg.): Das Fremde und in: Uli Bielefeld (Hrsg.): Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt? Hamburg 21992.
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korrekte Repräsentation des kulturell Anderen selbst als Quelle und Instrument orientalistischer und imperialer Macht auszumachen. Allein dem analytischen Eurozentrismus von Orientalism ist die Annahme geschuldet, die Abgrenzung gegenüber einem kulturell Anderen zur Konstitution der eigenen Identitätsstiftung sei ein Spezifikum des Westens und funktionaler Teil seiner Superiorität über den Orient. Womöglich ist die ,authentisch' — orientalische Sprecherposition Saids143 dafür verantwortlich, daß sein Eurozentrismus unter post-kolonialem Vorzeichen bislang kaum diagnostiziert wurde und entsprechende Einwände, wo überhaupt erhoben,144 in der Literatur- und Kulturwissenschaft ungehört verhallten. Andererseits steht Said mit dieser Selbstbeschränkung seiner Wahrnehmung auf Europa und die USA ganz in der Tradition und gegenwärtigen Normalität aller systematischen Wissenschaften. Sämtliche großen kulturellen Theorieentwürfe mit Relevanz für die Analyse gesellschaftlicher und kultureller Prozesse — von der Hermeneutik über die Diskursanalyse, Systemtheorie und Psychoanalyse bis hin zu weiten Teilen der Geschlechtertheorie — fußen ausschließlich auf Beobachtungen westlicher Gesellschaften und Zusammenhänge.145 So kann es nicht verwundern, wenn Saids Versäumnis einer kontrastiven Analyse im toten Winkel auch seiner wissenschaftlichen Leserschaft liegt. In eben diesen Winkel blickt al-cAzm. Was er dort aufzeigt, entzieht der prominenten Gleichsetzung von kultureller Abgrenzung und (verzerrender) Repräsentation mit Macht und Hegemonie den empirischen und theoretischen Boden. Damit aber gerät auch ein Grundpfeiler der literatur- und kulturwissenschaftlichen Alteritätsdebatte ins Wanken. Denn wenn sich die arabo-islamische Kultur gegen den Westen ebenso abgrenzt, ihn mit ihren eigenen Maßstäben mißt und in verfremdende Schemata preßt wie das Abendland den Orient, dann können die europäischen Abgrenzungs- und Repräsentationsstrategien selbst nicht Quelle oder Ausdruck von Macht über den Orient sein.146 Wenn Alteritätskonzepte eine konstitutive Größe kultureller Identitätsstiftung generell sind, dann kann in der Alterität selbst keine hegemoniale Struktur liegen.
143 Kritisch dazu: Michael Richardson: Enough Said, S. 16-19, wiederabgedruckt in: OrientaKsm. A 'Reader, S. 208-216, hier: S. 211. 144 Vgl. dazu: Dutton/Williams: Translating theones, S. 342. 145 Vgl. dazu: Mohammed Arkoun: „.Westliche1 Vernunft kontra ,islamische' Vernunft? Versuch einer kritischen Annäherung". In: Lüders (Hrsg.): Der Islam im Aaßruch?, S. 261-274, sowie: Urs Bitterli: Die ,Wilden' und die Zivilisierten'. Grundlage einer Geistesund Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. 2., durchges. u. erw. Auflage, München 1991, S. 164f. 146 Wie verbreitet die Saidsche Vorstellung noch immer ist, daß kulturellen Abgrenzungsproxessen eine „Feindseligkeit" inhärent sei (Said: Orientalism, S. 45), illustrieren Beiträge und Titel des Sammelbandes Die Macht der Differenzen. Hrsg. v. Reinhard Dussel, Geert Edel und Ulrich Schödclbauer. Heidelberg 2001.
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1.3. Wenn Dichotomien reden könnten: Das Eigene und das Fremde Jede Beschäftigung mit dem Phänomen des Orientalismus bewegt sich also auf einem Feld zwischen den Größen Alterität, Imagination, Repräsentation und Macht. Wie die internationale Orientalismus-Debatte gezeigt hat, basiert jedoch die Art, wie Said dieses Feld analytisch bestellt und jene Größen zueinander in Beziehung setzt, auf konstitutiven Verkennungen und führt in Aporien, welche auch weite Teile der Diskussion um ,das Eigene und das Fremde' bestimmen. Viele davon lassen sich allein durch sorgfältige Analyse des historischen Materials korrigieren. Andere wiederum sind derart grundlegend und in einem Maße dem Alltags Verständnis affin, daß auch das sperrigste Textbeispiel solange gegen ihre Evidenz keinen Einspruch zu erheben vermag, wie die Parameter seiner Analyse derselben Evidenz verwiesen sind. Um die anstehende historische Untersuchung nicht zu überfordern, sei also zuvor noch einmal hinter dem Rücken der Forschung nach jenen Axiomen gegriffen, deren Evidenz im Lichte des oben Diskutierten bereits erste Haarrisse aufwies. Mit seiner Lektüre von Orientalism gegen den Strich der Saidschen Grundannahmen hat Sadik Jalal al-'Azm eine Einsicht in die wissenschaftliche Debatte zum Thema eingebracht, die sich auf zentrale Erkenntnisse der kulturwissenschaftlichen Identitäts-Forschung stützen kann.147 Im Kontext dieser Forschung gilt nicht allein die Annahme als selbstverständlich, daß es sich bei kulturellen Abgrenzungsbewegungen gegenüber Anderem und dessen verzerrender Wahrnehmung um ein allgemeines Phänomen bei Prozessen kollektiver Identitätsfindung handelt.148 Darüber hinaus fußt die Forschung zu kultureller Identität unterhalb ihrer verschiedenen
147 Hier vor allem die xenologischen Ansätze von Aleida und Jan Assmann, dargelegt in den Schriften: Aleida Assmann /Jan Assmann: „Aspekte einer Theorie des unkommunikativen Handelns". In: Jan Assmann / Dietrich Harth (Hrsg.): Kultur und Konflikt. Frankfurt a. M. 1990, S. 11-48; Jan Assmann: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität". In: ders. / Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, S. 9-19; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992; sowie die Beiträge in: Aleida Assmann / Hcidrun Friede (Hrsg.): Identitäten. Frankfurt a. M 1998. 148 Zum Thema „Grenze" in diesem Zusammenhang vgl: Roland Posner: „Kultur als Zeichensystem. Zur semiotischen Explikation kultunvissenschaftlicher Grundbegriffe". In: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hrsg.): Kultur als Lebensive/t und Monument. Frankfurt a. M. 1991, S. 37-74; Wilhelm E. Mühlmann: „Ethnogonie und Ethnogenesc. Theoretisch-ethnologische und ideologiekritische Studie". In: Studien ^iir Ethnogenese. Opladen1985,S. 9-27.
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theoretischen Ansätze149 inzwischen auf der gemeinsamen Erkenntnis, daß die Grenzen einer Kultur für ihr Bestehen konstitutiv sind, daß eine Kultur ohne Grenzen nicht allein schlecht funktioniert, sondern zu existieren aufhört. Die Idee von Grenzen als Konstitutiva von Systemen und Entitäten läßt sich in der Geschichte des Denkens von Luhmann über Hegel bis Platon zurückverfolgen.150 Im Kontext kultureller Grenzen allerdings erhält sie eine besondere Brisanz. Denn hier folgt daraus, daß „jede Kultur [...] eine Grenze ziehen muß"151, um als distinkte Größe überhaupt zu existieren und sich als Kultur begreifen zu können. Die Differenzierung zwischen dem, was zur Kultur gehört, und dem, was nicht dazu gehört, die Abgrenzung gegen ein ,Anderes', erscheint vor diesem Hintergrund weder als zusätzliche Festigung einer Kultur, noch läßt sich diese Abgrenzung a priori als Akt der „Feindseligkeit" beschreiben, der dem interkulturellen Miteinander im Wege steht.152 Vielmehr handelt es sich bei der Grenzziehung um eine Operation, die jede Kultur kontinuierlich unternehmen muß, um sich als soziale Wirklichkeit zu erhalten und gleichzeitig eine Umwelt zu schaffen, mit der sie in Beziehung treten kann. Auch für diesen Zusammenhang gelten die systemtheoretischen Regeln Niklas Luhmanns, daß „Identität nur durch Differenz möglich ist"153 und daß Geschlossenheit und Offenheit auch des kulturellen Systems im Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit zueinander stehen.154 Nur aufgrund ihrer Geschlossenheit können Kulturen ihrer Umwelt gegenüber offen sein. Daraus aber folgt unmittelbar, daß Kulturen als autopoietische Systeme ihre Umwelt nach eigener Maßgabe aufnehmen und prozessieren.155 Die in seiner Nachfolge oft wiederholte Beobachtung Saids, „that Orientalism makes sense at all depends more on the West than on the Orient",156 stellt sich im Lichte der kulturwissenschaftlichen Identitätsforschung als Einblick 149 Als wichtiger Bczugstext für psychoanalytischen Ansätze gilt Kristeva: Fremde sind wir uns selbst. Für strukturalistische Arbeiten maßgeblich ist Tzvetan Todorov: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. Frankfurt a. M. 1985, und die semiotischen Beiträge beziehen sich u.a. auf Jurij M. Lotman: „Über die Semiosphäre". In: Semiotik 12 (1990), H. 4, S. 287-305. 150 Dazu systematisch: Kogge: Die Grenzen des Verstehens, S. 292 ff. 151 Assmann /Assmann: Aspekte einer Theorie des unkommunikativen Handelns, S. 27. 152 Said: Orientalism, S. 45. 153 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 41993, S. 243. Ein explizit systemtheoretischcr Versuch zur Konstitution kultureller Identitäten findet sich in dem Aufsatz: Hellmann: Fremdheit als soziale Konstruktion. 154 Luhmann: Soziale Systeme, S. 602 ff. 155 Zur Autopoiesis als zentralem Paradigma der Systemtheorie vgl. Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung. Opladen 2000 sowie Hans Rudi Fischer: „Selbstorganisation. Kritische Bemerkungen zur Begriffslogik eines ,neuen' Paradigmas". In: Selbstorganisation als integratives Prinzip der Wissenschaft. Hrsg. von K. Kratky u. F. Wallner. Darmstadt 1990, S. 89-108. 156 Said: Orientalism, S. 22.
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in die generellen Existenz- und Funktionsweisen kultureller Systeme dar. Sie besagen, daß beide Größen, das Eigene wie das Andere, Ergebnisse dieser Differenzierungs- und Grenzziehungsoperation einer Kultur, damit beide gleichermaßen „sozial konstruiert" sind157 und nur als relationale Größen existieren. Und es bedeutet ferner, daß das Andere als systemerhaltende Kontrastfolie notwendig nach Maßgabe des Eigenen geschaffen ist. Wer entdeckt, daß der Okzident sich gegen den Orient abgegrenzt, ihn zu seinem ^Anderen' gemacht, dabei die eigenen Kategorien angelegt und sein Gegenüber verzerrt dargestellt hat, ist dabei also auf ein allgemeines Grundprinzip kultureller Identitätskonstitution gestoßen.
1.3.1 Differenz und Distanz Für die Beschreibung dieser Grenzziehung hat sich sowohl in der neueren Kulturtheorie als auch in der kulturwissenschaftlichen Debatte zur Alterität die Unterscheidung „zwischen dem Eigenen und dem Fremden"158 etabliert. Beim Versuch, dieses auch alltagssprachlich so plausible Begriffspaar als Werkzeug systematischer Analysen zu gebrauchen, weist die Opposition vom ,Eigenenc und ,Fremdenc jedoch eine Schwachstelle auf, mit der sich bereits die Arbeitsgruppe „Die Herausforderung durch das Fremde" an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften beschäftigt und dabei beobachtet hat: ,Das Fremde' ist kein theoretisch signifikanter Begriff, nicht weil es zuwenig, sondern weil es zuviel bezeichnet. [...] .Fremd' kann zum einen heißen, was als Nichtzugehöriges exkludiert ist, zum anderen, was unvertraut oder kaum bekannt ist.159
Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich dieser semantische Doppelcharakter des Fremden als Folge einer terminologischen Schweißnaht, die durch die etablierte Opposition vom „Eigenen und Fremden" hindurch verläuft. Denn in dieser Opposition sind Elemente aus zwei verschiedenen Dichotomien zusammengefügt, die zwei völlig unterschiedliche Operationen beschreiben. Da ist zum einen die gerade skizzierte Konstitution des kulturell ,Eigenen' durch Abgrenzung gegenüber dem, was ,anders' ist. Diese beiden Begriffe - das ,Eigene' und das ,Andere' - stehen einander komplementär gegenüber und bilden zusammen eine Dichotomic der DIFFERENZ.
157 S.o.Kap. 1.1.2. 158 Assmann /Assmann: Aspekte einer Theorie des unkommunikativen Handelns, S. 27. Kritisch dazu: Kogge: Die Grenzen des Verstehen, S. 298. 159 Herfried Münkler / Bernd Ladwig: „Einleitung. Das Verschwinden des Fremden und die Pluralisierung der Fremdheit". In: Die Herausforderung durch das Fremde. Hrsg. v. Herfried Münkler unter Mitarb. v. Karin Meßlinger und Bernd Ladwig. Berlin 1998, S. 11-25.
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Die Größe des ,Fremden' aber stammt aus einem ganz anderen systematischen Zusammenhang. Zwar unterscheidet unser alltäglicher Sprachgebrauch in der Regel nicht zwischen dem ^Anderen' und ,Fremden' und kennt als Gegenbegriff zu beidem nur das ,Eigene'. Begreift man die Begriffe aber nicht ausschließlich als Wörter, sondern als Kategorien, dann zeigt sich, daß ,Fremdheit' mit Operationen von Differenz und Identitätskonstitution nichts zu tun hat. Denn Fremdheit ist eine Kategorie der Hermeneutik oder allgemeiner der Epistemologie. Der Begriff bezeichnet das, was nicht unmittelbar oder selbst-verständlich ist,160 worin wir uns denkend und handelnd nicht problemlos orientieren,161 was uns als erklärungsbedürftig begegnet. Schon Friedrich Schleiermacher hatte die hermeneutische Auslegung definiert als „alles Verstehen fremder Rede"162 und festgestellt, daß diese Fremdheit nicht notwendig jenseits der Grenzen des ,Eigenen' liegt, sondern immer da erscheint, wo „das sichere und vollkommene Verstehen nicht unmittelbar mit dem Vernehmen zugleich erfolgt".163 Und auch auf systematischer Ebene steht das ,Fremde' nicht in Opposition zum ,Eigenen'. Vielmehr bildet diese Kategorie mit dem ,Vertrauten' ein Begriffspaar, in dem sich — analog zum Verhältnis des ,Eigenen' zum ^Anderen' — die beiden Größen komplementär zueinander verhalten: ,Fremd' ist oder wird, was nicht (mehr) ,vertraut' ist, während das Fremde seine Fremdheit verliert, sobald wir uns damit verstehend ,vertraut' machen. Die Dynamik jener wechselseitigen Bedingtheit der Konzepte vom ,Vertrauten' und ,Fremdene entsteht und entwickelt sich entsprechend auch nicht in der Sphäre der Identität, sondern der des Verstehens. Daher ziehen dezidiert hermeneutische Arbeiten die Begriffsopposition vom ,Vertrautenc und ,Fremden' der gängigen vor.164 Und im Kontext der modernen Hermeneutik findet sich auch das leitende Parameter dieser Verstehensprozesse: Sowohl das Verstehen des fremden' als 160 Friedrich Schleiermacher: „Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. . Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch". In: Schleiermacher. Hermeneutik und Kritik. Hrsg. u. eingel. v. Manfred Frank. Frankfurt a. M. 61995, S. 309-346. 161 Zum Zusammenhang von Verstehen, Sinn, Handeln und Orientieren vgl. Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundlage einer Theorie der Strukturierung. Mit einer Einführung von Hans Joas. Studicnausgabe. Frankfurt a. M. /New York 1992, S. 51 ff. 162 Schleiermachcr: Über den Begriff der Hermeneutik, S. 309. 163 Schleiermacher: Über den Begriff der Hermeneutik, S. 325. 164 Hinrich C. Sceba: „Fremdheit und Fremdsprachigkeit. Zur hermeneutischen Theorie der Alterität". In: Begegnung mit dem , fremden", Bd. 2, S. 38-44, i. b. S. 43; Hak-Su Byun: Hermeneutische und ästhetische Erfahrung des Fremden. August Wilhelm Schlegel. München 1994, i. b. S. 11 ff. Zum erstaunlichen Umstand, daß im großen Reigen theoretischer Ansätze zum „Fremden" ausgerechnet die Hermeneutik vergleichsweise wenig repräsentiert ist, und zu möglichen Gründen dafür vgl. Werner Kogge: Verstehen und Fremdheit in der philosophischen Hermeneutik. Gadamer und Heidegger. Zürich /New York 2001, i. b. S. 9 ff.
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auch umgekehrt die Verfremdung des ,Vertrauten' funktionieren nach Maßgabe von Überwindung und Schaffung einer DISTANZ.165 Eine kurze Erinnerung an die Etymologie des Wortes ,fremd' mag das illustrieren: Der Begriff leitet sich ab von der germanischen Partikel fram-, was „fern von, weg von" bedeutet — nicht aber „anders".166 ,Fremd' ist oder wird das, wozu wir Abstand haben oder in Distanz treten. Das ,Andere' hingegen ist Ergebnis einer Unterscheidung. Während die system- und identitätserhaltende DlFFERENZierung zwischen dem ,Eigenen' und dem ^Anderen' über Operationen von Grenzziehung, Positionierung und Zuordnung funktioniert, entsteht die Relation zwischen dem ,Vertrauten' und dem ,Fremden' durch die Dynamik zwischen hermeneutischer DlSTANZnahme und verstehender Annäherung. Trennt man die etablierte Opposition vom ,Eigenen' und ,Fremden' also an ihrer Nahtstelle entlang wieder auf, dann werden zwei sehr unterschiedliche Strategien sichtbar, die im Kontext von Alterität und Fremdheit am Werke sind: Die eine läuft auf einer Achse mit den Endpunkten ,das Eigene' und ,das Andere', operiert nach Maßgabe der DIFFERENZ und dient der Konstitution von Identität, die andere läuft auf einer Achse mit den Endpunkten ,das Vertraute' und ,das Fremde', operiert nach Maßgabe der DISTANZ und durchzieht die Sphäre des Verstehens. Gemeinsam ist beiden Begriffsoppositionen die reziproke Beziehung ihrer jeweiligen Elemente zueinander. Denn so wie bei Prozessen der Identitätskonstitution die Größen ,das Eigene' und ,das Andere' in einem Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit stehen, verläuft auch die Beziehung des ,Vertrauten' zum ,Fremden' nicht monolinear. Fremdheit kann ebenso Produkt von Verstehensakten sein wie ihr Anstoß. Zwar machen wir uns nur dann daran, etwas zu verstehen, wenn es uns als nicht unmittelbar zugänglich - also fremd - erscheint. Gleichzeitig verfügen wir aber über ein immenses Sinnstiftungspotential, mit dessen Hilfe es „immer gelingt, irgendwie zu verstehen und irgendeinen Sinn im Gegenstand zu erkennen",167 die potentielle Fremdheit der Dinge und Zusammenhänge also auf ein Minimum zu reduzieren — und zwar unabhängig von der Beschaffenheit dieser Dinge und Zusammenhänge. Gegen den Widerstand dieses Sinnstiftungspotentials einen entsprechenden Gegenstand überhaupt aus dem Bereich des Selbstverständlichen herauszulösen und zu ihm in analytische 165 Seeba: Fremdheit undFremdspracbigkeit, S. 43; Byun: Hermeneutische und ästhetische Erfahrung des Fremden, S.U. 166 Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Scebold. 23., erweiterte Auflage. Berlin /New York 1995, S. 285; vgl. auch: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Band 4. Bearbeitet von Jacob Grimm, Karl Weigand und Rudolf Hildebrand. Leipzig 1878, Sp. 125-129. 167 Kogge: Verstehen und Fremdheit in der philosophischen Hermeneutik, S. 15 (Hervorh. i. O.).
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Distanz zu treten, ist mit einem nicht unerheblichen Aufwand verbunden. Selbst wissenschaftliche Diskurse, deren Gegenstände — wie etwa die Geschichte oder die Literatur - bereits seit zweihundert Jahren und gestützt von der Macht der Institution als erklärungsbedürftig und eben nicht selbst-verständlich ausgewiesen sind, müssen diese Distanz im Kontext von Forschung, Lehre und öffentlicher Vermittlung kontinuierlich neu herstellen. Gegenstände in diesem Sinne zu ver-fremden, um sie dann jenseits der Sphäre ihrer unmittelbaren Evidenz verstehen zu können - in wissenschaftlichen Diskursen wird an dieser Stelle gemeinhin das Adjektiv „richtig" in den Ring geworfen —, ist der notwendig erste Schritt jeder hermeneutischen Arbeit und jedes expliziten Erkenntnis-Vorgangs. Die Einsicht, daß ein distanzierender Blick auf vertraute Dinge sie zu fremden macht und erst diese Fremdheit Erkenntnis im emphatischen Sinne ermöglicht, hat sich in gewisser Weise auch innerhalb der wissenschaftlichen Debatte um Alterität durchgesetzt. Denn wenn hier immer wieder von einem „Fremd-Werden oder Fremd-werden-Lassen des eigenen Selbstverständnisses"168 die Rede ist und ein „ethnologischer" oder „fremder Blick auf das Eigene" gefordert wird, dann gründet dieses Projekt auf eben jener Beobachtung. Es gibt also keinen Anlaß, vom Primat der Fremdheit vor dem Vertrauten auszugehen und Verstehensakte als monolineare Transformation des Fremden in Vertrautes zu begreifen. Die Definition, das Fremde sei das jeweils nicht Selbst-verständliche, das, was es erst noch zu verstehen gilt, ist durch den Umkehrschluß zu ergänzen, daß gleichzeitig jeder Akt eines „nicht unmittelbaren" Verstehens seinen Gegenstand aus dem Bereich des Vertrauten löst und ihn dabei notwendig zu einem fremden macht. Das Fremde ist im gleichem Maße Effekt des Verstehens wie sein Ausgangspunkt. Beide Begriffspaare — ,das Eigene und das Andere' ebenso wie ,das Vertraute und das Fremde' — stehen somit in einer vergleichbar reziproken Beziehung zueinander. Und entsprechend weisen die mit ihnen verbundenen Operationen — die des Verstehens und die der Identitätskonstitution — auch eine vergleichbar relationale Struktur auf. Neben dem all tags sprachlichen Gebrauch der Begriffe ,eigen' und ,fremd' mag diese Strukturanalogie mit dafür verantwortlich zeichnen, daß in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem großen Thema Alterität zwischen den beiden Operationen nicht unterschieden wird. Abgesehen von dieser partiellen Kongruenz aber könnten die Verfahrensweisen von Identitätsbildung und Verstehen mit ihren Parametern der DIFFERENZ und der DISTANZ unterschiedlicher kaum sein: Identitätskonstituierende Differenzierungen zwischen dem ,Eigenen' und dem 168 Gutjahr: Alterität und Interkulturaltiät. Neuere deutsche Literatur, S. 352.
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' funktionieren schließlich über das Etablieren einer Grenze, die ihre soziale und kulturelle Funktion nur erfüllen kann, wenn sie als stabil und fix wahrgenommen wird. Die Operation des Verstehens, also die Verwandlung von ,Vertrautemc in ,Fremdes' und vice versa, zeichnet sich dagegen gerade durch eine (dis)kontinuierliche Bewegung zwischen Distanznahme und Annäherung aus, die nur so lange ihre epistemologische Funktion erfüllt, wie sie nicht zum Stillstand kommt. Während Verstehensprozesse aufhören, sobald die Distanz zum Fremden stabil bleibt, geraten Identitäten ins Wanken, wenn Differenzen in Bewegung geraten. Das durch Differenz geschaffene ,Andere' und das durch Distanz hergestellte ,Fremde' auch terminologisch konsequent zu unterscheiden, scheint um so sinnvoller und möglicherweise sogar notwendiger zu sein, als die Sphären von Identität und Verstehen in der Praxis kultureller Sinnund Bedeutungsproduktion ineinander spielen. Oft begegnet uns das kulturell Andere tatsächlich als fremd, und nicht selten suggeriert uns das Eigene in der Tat Vertrautheit. Allerdings läßt sich aus diesen Beobachtungen nicht ableiten, daß hier auch die Verfahrensweisen von Identitätskonstitution und Verstehen, von DIFFERENZierung und DlSTANZierung zur Deckung kommen. Gerade diesen Rückschluß aber ziehen — so automatisch wie implizit — sämtliche Überlegungen, Analysen und Ansätze zum Thema, die terminologisch und systematisch nicht zwischen Fremdheit und Alterität differenzieren. Sie alle tendieren dazu, im Zuge ihrer Gleichsetzung des ,Fremden' mit dem ,Anderen' bzw. der Subsumierung des einen unter das andere auch die Operationen von verstehender Distanzreduktion und identitätskonstitutiver Grenzziehung übereinander zu blenden.169 Und eben dies mündet nahezu zwangsläufig in eine theoretische Aporie, deren logische Spannung die Debatte um das Fremde durchweg prägt und antreibt. Allerdings wird diese Spannung nicht als Schwäche der analytischen Parameter wahrgenommen, sondern als Charakteristikum 169 Wie konsumtiv die terminologische Differenzierung zwischen dem ,Anderen' und dem ,Fremden' für die konsequente theoretische Differenzierung der Größen ist, zeigen die Ergebnisse der bereits erwähnten Arbeitsgruppe „Die Herausforderung durch das Fremde", deren Mitglieder durch ihren Hinweis auf den Doppelcharakter des Fremden bereits ein großes Stück theoretischer Klärungsarbeit geleistet haben. In der oben anziticrten Einleitung heißt es weiter: „ .Fremd' kann zum einen heißen, was als Nichtzugehöriges exkludiert ist, zum anderen, was unvertraut oder kaum bekannt ist. Wir bezeichnen die erste Bcdeutungsdimcnsion als soziale., die zweite als kulturelle oder lebensweltliche Fremdheit." (Die Herausforderung durch das Fremde, S. 12, Hervorh. i. O.). Zwar wird diese Differenzierung zwischen „sozialer" und „kultureller" Fremdheit in der Studie als „grundbegriffliche Unterscheidung" (S. 22) gehandelt, doch bei genauerer Betrachtung der Beiträge zeigt sich, daß das Festhalten an der Oberkategorie des „Fremden" für beide Operationen eine terminologische Unscharfe ins theoretische Spiel bringt, die letztlich alle systematischen Differenzicrungsbemühungcn wieder unterläuft.
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des Phänomens selbst diskutiert: Es ist die in der Forschung äußerst prominente Rede vom „Paradox der Alterität",170 in welcher sich die mangelnde theoretische Differenzierung zwischen der Operation identitätskonstitutiver Abgrenzung vom Anderen und der Operation verstehender Annäherung an das Fremde niederschlägt. Denn die „Paradoxie" des Fremden/Anderen besteht aus Sicht der Forschung darin, daß es als Idenütätskonstituüvum notwendig außerhalb des Eigenen liegt und zugleich verstehend angeeignet wird.171 Der entscheidende Denkfehler liegt dabei in der unbewiesenen Annahme, daß das Fremde im Zuge von distanzreduzierenden Verstehensprozessen nicht allein seine Fremdheit verliert, was tatsächlich der Fall ist, sondern automatisch auch seine identitätskonstitutiven Differenzen einbüßt, wofür de facto jedes Indiz fehlt. So schreibt etwa Walter Hinderer in seiner Einführung zur ersten Sektion des internationalen Germanisten-Kongresses in Tokyo 1990: Das Problem einer Erkenntnistheorie und Hermeneutik des Fremden oder Anderen steckt aber bereits in dem offensichtlichen Paradoxon, daß sobald das Fremde oder Andere erkannt, beziehungsweise adäquat interpretiert ist (oder scheint), es nicht mehr fremd oder anders, sondern eben angeeignet ist. [A]uf diese Weise [wird] das Fremde zum Eigenen oder das Eigene zum Fremden.172
Unterscheidet man dagegen analytisch zwischen der Operation des Verstehens, die eo ipso darauf abzielt, die DISTANZ zum Fremden zu verringern, bis sich seine Fremdheit in Vertrautheit aufgelöst hat, und der Operation der Identitätskonstitution, die qua Grenzziehung das -ndere als DlFFERENTES generiert, dann löst sich das viel beschriebene „Paradox des Fremden" auf: Die Differenz des Anderen bleibt von der Annäherung an das Fremde unberührt, weil Anderes und Fremdes Effekte zweier völlig unterschiedlicher Prozesse sind. Schließlich kann sich die Annahme, Verstehensprozesse — sei es von kulturell oder historisch Fremdem — würden (automatisch oder überhaupt) zu einer Nivellierung von Unterschieden führen, weder auf Ergebnisse der Kulturtheorie noch der Epistemologie stützen. Und so läßt sich die Beobachtung Axel Horstmanns durchaus als kritische Paraphrase des besagten fremdheitstheoretischen Kurzschlusses von Alterität und Fremdheit, Differenz und Distanz lesen, wenn er schreibt: 170 Vgl. exempl.: Dieter Mersch: „Das Paradox der Alterität". In: Ethnosyntrismus. Hrsg. v. Manfred Brockcr und Heino Heinrich Nau. Darmstadt 1997, S. 27-45; Hahn: Die soziale Konstruktion des Fremden, S. 141; Hcllmann: Fremdheit als soziale Konstruktion, S. 410. 171 So auch in der Einleitung zum Band Die Herausforderung durch das Fremde: „In dem Maße, wie die Kontakte mit Fremden und Fremdem ihre Außerordentlichkeit verlieren und zu wiederholbaren (redundanten) Ereignissen werden, erweist sich das Fremde als Teil eben der Ordnung, die sich zunächst in Entgegensetzung zum und durch Ausschluß des Fremden ihrer Integrität versichert hatte." (S. 14). 172 Walter Hinderer: „Einführung". In: Begegnung mit dem ,fremden", Bd. 2, S. 11-13, hier: S. 11 (Hervorh. i. O).
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[W]o .Verstehen' und .Interpretieren' als .assimilative' Prozesse aufgefaßt werden, droht am Ende beiden, Subjekt und Objekt der hermeneutischen Bemühung, der Verlust ihrer auf Differenz und Unterscheidbarkeit beider beruhenden Individualität [...].173
Die gängige analytische Gleichsetzung von Idenütätsstiftungs- und Verstehensprozessen im Kontext der Fremdheitstheorie scheint einerseits der höchst suggestiven morphologischen Verwandtschaft der Begriffe „Aneignung" und „Eigenes" geschuldet zu sein, andererseits auf den gemeinsam reziproken Charakter des Fremden und des Anderen zurückzugehen. In jedem Fall aber hat sie weitreichende theoretische Folgen. Denn auf dieser Überblendung fußt nicht allein die verbreitete Idee einer Paradoxie des Fremden als einer Entität, die sich an zwei Orten zugleich befinde, (verstehend) inkludiert und gleichzeitig (identitätsbüdend) exkludiert werde, sondern auch die etablierte Vorstellung vom direkten Zusammenhang zwischen Alterität, Verstehen und hegemonialer Macht. Dieter Mersch führt in seinen Ausführungen zum „Paradox der Alterität" exemplarisch vor, wie kurz die Argumentationswege von der irrigen Annahme einer paradoxalen Struktur des Fremden hin zur Diagnose mehr oder minder auswegloser Hegemonien sind: Fremdes, dessen Ursprung durchschaut, dessen Wahrheit oder Unwahrheit begründet und dessen Legitimität und Illegitimität erkannt ist, erscheint nicht länger als Fremdes. Entsprechend führt die diskursive Vernunft überall das Unbekannte auf Bekanntes, das Unverständliche auf Verstehbares und das Unerklärliche in den Horizont der Erklärungen zurück. [...] Sämtliche Figuren des traditionellen Denkens [...] unterstehen damit durchgängig einer „Reduktion des Anderen auf das Selbe" [Levinas, A.P.]. Sie verraten eine genuine Gewaltsamkeit, die das Fremde entweder zu erklären oder auszuschließen, zu vereinnahmen oder zu erniedrigen, zu umarmen oder zu vernichten trachtet. Beide Alternativen bezeugen die gleiche Strategie der Abwehr: die Integration des Anderen wie seine Ausgrenzung und Vernichtung.174 173 Axel Horstmann: „Das Fremde und das Eigene - .Assimilation' als hermeneutischcr Begriff. In: Archiv für Begriffsgeschichte 30 (1986/87), S. 7-43, hier: S. 32. Den bislang konsequentesten Versuch einer systematischen Trennung der Bereiche des Fremden/ Vertrauten und Eigenen/Anderen im Rahmen der Fremdheitstheorie hat Kai-Uwe Hellmann unternommen. Da er jedoch ausschließlich systemtheoretisch arbeitet und die Systemtheorie weder Konzepte noch eine Terminologie zur Beschreibung von Verstehensprozessen bereithält, bleibt Hcllmann nichts anderes übrig, als seine zunächst prä/ise gefaßte Unterscheidung zwischen „Zugehörigkeit"/"Nichtzugehörigkeit" und „Vertrautheit'V'Fremdheit" (S. 435) letztlich doch wieder unter dieselbe Oberkatcgorie zu fassen - in seinem (systemtheoretischen) Fall unter die Kategorie der Differenz - und damit die zuvor sorgsam herausgearbeitete Unterscheidung zu verwischen: „Die Paradoxie ließe sich somit dergestalt auflösen, daß das Inklusionsgebot der primären Differenzierungsform und das Inklusionsverbot einer sekundären Differenzierungsform zugeschrieben werden. Beide existieren nebeneinander, widersprechen sich aber gerade darin, wie sie das Verhältnis von Inklusion und Exklusion definieren." (Hellmann: Fremdheit als soziale Konstruktion, S. 446). 174 Mersch: Das Paradox der Alterität, S. 28 f.
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Der relationale Charakter, den das Fremde - das per definitionem NichtVertraute — als eines der ganz wenigen Momente mit dem Anderen — dem eo ipso Nicht-Eigenen — teilt, gerinnt hier unter den Bedingungen mangelnder analytischer Differenzierung zwischen Verstehensprozessen und solchen der Identitätskonstitution zum Nucleus hegemonialer Macht. Wie genuin westlich diese hegemoniale Macht relationaler Bezugnahmen in der Forschung gedacht wird, mag ein Auszug aus Peter Horns Beitrag zum Tokyoter Germanisten-Kongreß „Begegnungen mit ,dem Fremden'" illustrieren, der aus dem relationalen Charakter des Fremden direkt auf Existenz und Funktionsweise eines kolonialen Diskurses rückschließt: Das „Fremde", das „Exotische", ja das „Barbarische" ist so nichts anderes als das auf andere Völker projizierte Eigene, dessen Existenz mit der Stringenz der Logik des Diskurses selbst aus dem Diskurs verdrängt und von ihm verleugnet wird. Natürlich gibt es dann auch einen Diskurs über dieses Fremde [...]. Aber es ist entweder ein vereinnahmender Diskurs, der das Fremde dem Gleichen gleichmacht und es ihm unterwirft, oder ein ausgrenzender Diskurs: einer, der behauptet, solche Diskurse seien keine Diskurse. Beide Diskurse aber sind kolonisierend, indem sie das Vereinnahmte oder Ausgeschlossene dem hegemonialen Diskurs hierarchisch unterordnen.175
Nun hat aber bereits Sadik Jalal al-'Azm in seiner Said-Kritik gezeigt, daß weder das Moment der „Vereinnahmung" (d.i. die Wahrnehmung der fremden Kultur nach Maßgabe der vertrauten) noch der Abgrenzung der eigenen Kultur gegen die andere als spezifisch westlich oder „kolonisierend" betrachtet werden können, sondern Verfahrensweisen sind, die allen Kulturen eignen. Das von Mersch und Hörn repräsentativ für die gesamte wissenschaftliche Debatte entworfene Horrendum eines allmächtigen „hegemonialen Diskurses", der das Fremde/Andere gleichsam umzingelt, indem er es im steten Rückbezug auf sich selbst inkludiert und exkludiert, seine Fremdheit betont und sie ihm entzieht, erweist sich als direkter ideologiekritischer Rückstoß der irrigen theoretischen Annahme einer „Paradoxie des Fremden". Beides gründet in der besagten mangelnden analytischen Unterscheidung zwischen Anderem und Fremden, Differenz und Distanz, Operationen der Identitätskonstitution und des Verstehens. Mit einem derart groben analytischen Instrumentarium lassen sich komplexe diskursive Gestalten nicht gewinnbringend untersuchen. Durch das terminologische Auseinanderziehen der beiden Achsen von DIFFERENZ (,das Eigene' und ,das Andere') und DISTANZ (,das Vertraute' und ,das Fremde') entfaltet sich dagegen ein Koordinatensystem, das es selbst bei der schwierigen Gemengelage des Orientalismus ermöglicht, die 175 Peter Hörn: „Die F,r/:eugung des Fremden in der Stringent der Logik". In: Begegnung mit dem .fremden". Bd. 2, S. 21-28, hier: S. 25.
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Sphären von Identität und Verstehen auseinanderzuhalten. Eine Analyse des deutschen Orientalismus im 19. Jahrhundert ist auf eine Klarheit dieser Unterscheidung in besonderem Maße angewiesen. Bereits Said hatte bei seinen Überlegungen zum Machtverhältnis zwischen Orient und Okzident dem Umstand großes Gewicht beigemessen, daß sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Westeuropa eine Orientwissenschaft herauszubilden beginnt, die seines Dafürhaltens einen entscheidenden Beitrag zum Gelingen des kolonialen Projekts geleistet hat. Nun existierten keine deutschen Kolonien im Orient, dafür jedoch eine elaborierte und prominente Wissenschaft vom Orient. Diese Orientalistik entstand — auch darauf hat Said hingewiesen — aus den historisch-kritischen Bibelwissenschaften und arbeitete noch Jahrzehnte nach ihrer Ausdifferenzierung mit deren Methoden, die hermeneutische waren. Prozesse und Verfahrensweisen des Verstehens spielen also für den institutionalisierten Teil des deutschen Orientalismus eine eminent wichtige Rolle. Um den Einfluß dieser Institutionalisierung des Orients als erklärungsbedürftiges und somit fremdes Phänomen auf den Orientalismus in anderen Diskursen sowie auf Strategien kultureller Grenzziehung untersuchen zu können, ist eine auch begriffliche Unterscheidung zwischen beiden Operationen unerläßlich. Schließlich überlagern sich auf der Ebene der Diskurse und ihrer Praktiken Abgrenzungsstrategien, Verfremdungen, hermeneutische Prozesse und Akte der Zuschreibung immer wieder, spielen zusammen oder wechseln einander ab. Eine fehlende Differenzierung zwischen Identitätsstrategien und solchen des Verstehens an dieser Stelle würde von vorne herein die Existenz eben jenes systematischen Zusammenhangs konstatieren, nach dem zu fragen sich die Analyse erst zur Aufgabe gemacht hat.
1.3.2 Vom Allgemeinen und Besonderen Daß die (terminologische Naht, die in der Mitte der Opposition vom ,Eigenen' und ,Fremden' verläuft, trotz jahrelanger Belastung durch eine breite Debatte des Themas und seiner Begriffe bislang kaum je sichtbare Risse aufwies, hat aber noch einen anderen als die bereits diskutierten Gründe. Die dritte und vielleicht tragfähigste Stütze der gängigen Dichotomic bildet nämlich die konkrete Erfahrung. Es war bereits die Rede davon, daß uns auf der Ebene kultureller Orientierung das Differente oftmals auch als fremd erscheint und vice versa. Für unsere heutige Wahrnehmung anderer Kulturen ist diese vorsichtige Formulierung allerdings zu präzisieren: Denn wenn wir auf kultureller Ebene die Grenzen des ,Eigenen' überschreiten, dann finden wir uns immer und unmittelbar auch auf ,fremdem' Terrain wieder. Der Orient erscheint uns gleichzeitig als
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Anderes und Fremdes, nicht weniger die anderen asiatischen Kulturen, die Gesellschaften des subsaharischen Afrika oder Lateinamerikas. Sie alle fallen tatsächlich sowohl in unsere Kategorie der ,anderen Kultur' als auch in die des ,nicht unmittelbar Verständlichen'. Für alle diese Kulturen hat unsere Gesellschaft im Laufe der vergangenen zwei Jahrhunderte eigene Wissenschaften und Experten ausgebildet, die mit dem Verstehen und Erklären des Anderen und Fremden betraut sind. Selbst unter Aufbietung aller analytischen Kraft und des größten Differenzierungswillens ist dieser institutionell gestützten, alltäglichen Erfahrung nicht beizukommen. Die Wahrnehmung kultureller Fremdheit und kultureller Differenz erscheinen wie die berühmten zwei Seiten eines Blattes Papier: Wo Fremdheit ist, ist Differenz, und wo Unterschiede sind, da hört auch das unmittelbare Verstehen auf. Es liegt also nahe, wenn schon nicht die Kategorien vom ,Fremden' und ^Anderen' selbst, so doch zumindest die Grenze zwischen ,Eigenem' und ,Anderem' und zwischen ,Vertrautem' und ,Fremdem' für dieselbe zu halten. Worüber diese Alltagserfahrung allerdings keine Auskunft gibt, ist die historische und kulturelle Reichweite ihrer Gültigkeit. Aus dem analogen Verlauf unserer kulturellen Systemgrenzen mit den Grenzen unseres Verstehens heute läßt sich nicht ableiten, ob es sich bei dieser Grenz-Kongruenz um ein historisch und kulturell allgemeingültiges Prinzip oder um das Spezifikum einer europäischen Ordnung der kulturellen Dinge in der Moderne handelt. Wir wissen weder, ob der Orient Europa immer schon different und fremd erschien, noch wissen wir, ob Europa dem Nahen und Mittieren Osten kulturell different und fremd erscheint. Befriedigende Antworten darauf können nur sorgfältige kontrastive Vergleiche geben, die jedoch in Bezug auf eben diesen Punkt — das Zusammenspiel von Identität und Verstehen - bislang noch ausstehen. Einen solchen Vergleich auf historischer Ebene anzustellen, hat sich diese Arbeit zur Aufgabe gemacht. Den deutschen Orientalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entlang der systematischen Achsen von Differenz und Distanz zu analysieren, verspricht Erkenntnisse über die Genese des heute diagnostizierbaren analogen Grenzverlaufs. Er kann Licht bringen in die potentielle historische Bedingtheit des Verhältnisses von Fremdheits- und Alteritätserfahrung — aber eben auch nur in diese. Inwiefern es sich bei diesen Ordnungen der kulturellen Dinge um europäische Spezifika handelt, ob sie also auch für die Wahrnehmung Europas durch andere Kulturen gilt, läßt sich jedoch aus einem historischen Vergleich nicht ableiten. Wie entscheidend diese Fragen allerdings selbst für wissenschaftliche Arbeiten sind, die sich ausschließlich mit europäischen Konstellationen beschäftigen, hat die Kritik Sadik Jalal al-'Azms an Edward W. Said eindrücklich gezeigt. Denn Hypothesen zur kulturellen
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Allgemeingültigkeit oder Spezifizität dessen, was an Fremdheits- und Alteritätskonzepten im europäischen Kontext diagnostiziert wird, liegen nicht nur Saids Orienialism, sondern ausnahmslos allen Arbeiten zum Orientalismus zugrunde — sei es in impliziter oder expliziter Form. Schließlich bildet seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Kolonialismus den systematischen und historischen Fluchtpunkt der Orientalismus-Forschung. Mit ihm ist bis heute die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Orientalismus und Macht latent, und entsprechend sind Annahmen über kulturelle Besonderheit oder Allgemeingültigkeit der analysierten Phänomene den Studien zum Thema stets inhärent. Al-'Azms Verfahren des kontrastiven Schulterblicks hat indes deudich werden lassen, auf welche Irrwege diese Art impliziter Vorannahmen fuhren und welche Klärung bereits ein kurzer Blick über den westlichen Horizont hinaus bringen kann. Das hohe Erkenntnispotential von Gedankenexperimenten nutzend, sei daher zum Abschluß dieser theoretischen Überlegungen zu Orientalismus, Alterität und Fremdheit der Versuch unternommen, zwei andere Kontexte des „Eigenen und Fremden" auf die Grenzverläufe von Identität und Verstehen hin zu durchleuchten. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse unter den Füßen, soll schließlich der Blick über den europäischen Tellerrand gewagt werden.
1.3.3 Im toten Winkel: Die Macht des Nicht-Verstehens Wie die Vielfalt von Phänomenen zeigt, die in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren unter den Aspekten von Fremdheit und Alterität beleuchtet und diskutiert worden sind, beschränkt sich die Wirkung von Grenzziehungen zwischen dem ,Eigenen' und ^Anderen' sowie dem ,Vertrauten' und ,Fremden' nicht auf den (inter)kulturellen Bereich. Auf die längste Tradition innerhalb der europäischen Wissenschaftsgeschichte zurückblicken kann dabei wohl die Auseinandersetzung mit Differenz- und Distanzerfahrungen beim Umgang mit vergangenen Zeiten und Epochen. Schließlich war der Versuch, historische Distanzen verstehend zu überbrücken, über lange Jahrhunderte Gegenstand der praktischen Hermeneutik — und ist es zu einem nicht unerheblichen Teil auch heute noch. Vergleicht man nun unsere heutige Wahrnehmung anderer Epochen mit der anderer Kulturen, dann springen die Parallelen direkt ins Auge: Auch in unserem Umgang mit der Vergangenheit läßt sich die Differenzerfahrung von dem Eindruck der Erklärungsbedürftigkeit nicht trennen. Welchen methodischen Zugriff auf zurückliegende Zeiten man auch immer wählt, jeder Schritt über die Grenzen der eigenen Zeit führt unmittelbar auch auf
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fremdes Terrain. Analog zu unserer interkulturellen Wahrnehmung erscheinen auch bei der Auseinandersetzung mit vergangenen Zeiten Alterität und Fremdheit als zwei Seiten eines Blattes Papier. Daher unterscheidet auch die hermeneutische Methodologie bei ihrer Beschäftigung mit der historischen Fremde nicht konsequent zwischen den Kategorien der ,Differenz' und der ,Distanz'. Allerdings hinkt der Vergleich unserer Erfahrung von kulturellen und historischen Differenzen auf dem Bein der unmöglichen Umkehrbarkeit der Blickrichtung. Anders als kulturelle ist historische Fremdheit eo ipso nur einseitig zu erfahren — in Blickrichtung von der Gegenwart in die Vergangenheit. Daher sei noch eine zweite, bereits mehrfach ins Spiel gebrachte, Differenz zum Vergleich mit der kulturellen herangezogen, bei der eine solche Umkehrbarkeit der Sichtweisen gegeben ist: die der Geschlechter.176 Daß die heterosexuelle Ordnung der Geschlechter (im Sinne des engl. jgender') maßgeblich über Differenzen innerhalb der Opposition ,männlich' vs. ,weiblich' funktioniert, ist mittlerweile unbestritten. Zwar wird in der Forschung die Frage kontrovers diskutiert, in welcher Weise diese Differenzen mit körperlichen Unterschieden in Beziehung stehen, ob sie als ideologische Konstrukte betrachtet werden müssen oder als Effekte performativer Akte.177 Einigkeit herrscht dabei aber über den Umstand, daß sich weibliche Identität ebenso durch Abgrenzung gegenüber dem Männlichen konstituiert wie die Schaffung männlicher Identität vermittels einer Differenzierung gegenüber dem Weiblichen stattfindet.178 In dieser binären 176 Wie oben bereits angemerkt, ist die Forschungslandschaft keineswegs arm an Kreuzungspunkten zwischen der Orientalismus- und der Gender-Forschung. Allerdings nehmen die an diesen Punkten entstandenen Arbeiten allein die Phänomenebene in den Blick und suchen auf ihr nach Verbindungen von orientalistischen Topoi und Gendereffckten. In den Studien ist der orientalistische Blick auf die orientalische Frau Gegenstand, der weibliche Blick auf den Orient, nicht aber die systematischen Analogien zwischen dem oricntalistischen Diskurs und der Gender-Ordnung. Vgl. dazu den Überblick in Kurz: Vom Umgang mit dem anderen, S. 185-194. Um die systematischen Parallelen zwischen Orientalismus und der Ordnung der Geschlechter, nicht um die phänomenalen Überschneidungen, geht es dagegen in den folgenden Überlegungen. 177 Vgl. für den deutschen Kontext den Forschungsüberblick von Claudia Breger/Dorothea Dornhoff / Dagmar von Hoff: „Gender Studies / Gender Trouble. Tendenzen und Perspektiven der deutschsprachigen Forschung". In: Zeitschriftßir Germanistik NF 9 (1999), II. l, S. 72-113; ferner die Beiträge in: Gender Studien. Eine Einführung. Hrsg. v. Christina von Braun und Inge Stephan. Stuttgart/Weimar 2000. Eine Dokumentation der verschiedenen theoretischen Positionen enthält der Band: Kritik der Kategone .Geschlecht'. Feministische Studien 11 (1993), H. 2. 178 Gegen diese binäre Opposition, ihre Voraussetzung in heterosexueller Denkwelt und Praxis und für die Etablierung hybrider Formen von Sexualität und Geschlecht jenseits von Festschreibung durch Identität und Norm, ist in den neunziger Jahren eine Bewegung angetreten, die unter dem Label „Queer Theory" und „Queer Studies" inzwischen zu einem festen Bestandteil der Gender-Forschung und -Politik avanciert
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Opposition sind Männer Frauen ebenso ein ,Anderes' wie Frauen Männern. Analog zum Verhältnis von Orient und Okzident wird die Grenze zwischen dem jeweils ,Eigenen' zum jeweils ,Anderen' auch hier von beiden Seiten gezogen. Anders stellt sich dies allerdings bei der Unterscheidung zwischen ,Vertrautem' und ,Fremdemc dar. Auf der Ebene des Verstehens nämlich findet die Kongruenz der identitätskonstitutiven Grenzziehungen zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit keine Entsprechung. Zwar wird das Weibliche vom Männlichen als erklärungsbedürftig und fremd erfahren, das Männliche vom Weiblichen jedoch nicht. Über das Rätsel der Weiblichkeit haben die Menschen zu allen Zeiten gegrübelt [...]. Auch Sie werden sich von diesem Grübeln nicht ausgeschlossen haben, insoferne Sie Männer sind; von den Frauen unter ihnen erwartet man es nicht, sie sind selbst dieses Rätsel.179
Auch ein Jahrhundert nach Sigmund Freuds berühmten Eingangsworten zu seiner 33. Vorlesung ist der Topos der ,opaken Weiblichkeit' für die Ordnung der Geschlechter — sei es im literarischen, psychoanalytischen oder medizinischen Diskurs — ausgesprochen wirksam. Flankiert wird dieser Topos von dem nicht weniger wirkmächtigen Konzept einer Selbstverständlichkeit des Männlichen, die ebenfalls interdiskursiv (reproduziert und gestützt wird. Und es mehren sich Stimmen, die in der großen Verbreitung von Frauenforschung bei traditionell marginaler Existenz einer Männerforschung die — unbeabsichtigte - Verlängerung dieser Struktur sehen.180 Das aber bedeutet, daß die Grenzen zwischen ,Eigenem' und ,Anderem' und zwischen ,Vertrautemc und ,Fremden' hier nur aus einer, der männlichen, Perspektive kongruent erscheinen. Allein das Weibliche erscheint dem Männlichen sowohl als anders als auch als fremd, während das Männliche dem Weiblichen zwar ein Anderes ist, deshalb aber nicht weniger evident. Daß in dieser Ordnung nun ausgerechnet das Weibliche verstanden werden will, während das Männliche selbstverständlich ist, läßt sich als Indiz für einen direkten Zusammenhang dieser inkongruenten Ordnung der Fremdheit mit bestehenden Machtverhältnissen deuten. Auch die (post)feministische Forderung nach Ausweitung und fester Institutionalisierung der Männer forschung argumentiert mit diesem Zusamist. Vgl. dazu u.a.: Claudia Breger: ,,,Gekreuxt' und queer. Überlegungen xur Rekonxeptualisierung von gender, Ethnixität und Sexualität". In: Differenzen in der Geschlechterdifferem^ — Differences within Gender Studies. Aktuelle Perspektiven der Gescklechterforschung. Hrsg. v. Kati Röttger und Heike Paul. Berlin 1999, S. 66-85. 179 Sigmund Freud: „33. Vorlesung: Die Weiblichkeit". In: dcrs.: Studienausgabe. Bd. 1: Vorlesungen ^tir Einßihrung in die Psychoanalyse. Neue Folge der Vorlesungen /ur l Einführung in die Psychoanalyse. Hrsg. v. Alexander Mitscherlich /Angelika Richards / James Strachcy. Frankfurt a. M. 2000, S. 545. 180 Ute Frevert: „Männergeschichtc oder die Suche nach dem .ersten' Geschlecht". In: Manfred Heltingu.a. (Hrsg.): Was ist Gesellschaßsgescbichte?. München 1991, S. 31-43.
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menhang und verweist auf das genderpolitisch subversive Potential der Unternehmung, Männlichkeit zu einem Gegenstand der Wissenschaft zu machen und ihr so die Selbstverständlichkeit zu nehmen. Entsprechend ist in jüngster Zeit eine deutliche Zunahme an Publikationen zu Männlichkeit(en) und MännlichkeitsForschung zu verzeichnen.181 Differenzerfahrung — so läßt sich schließen — geht also keineswegs notwendig mit Fremdheitserfahrung einher, die Grenzen des ,Eigenen' sind nicht unbedingt auch die Grenzen des ,Vertrauten'. Und eine der Bedingungen für die Möglichkeit, das ^Andere' trotz deutlicher Differenzen als ,vertraut' wahrzunehmen, scheint in den Machtverhältnissen zu liegen. Im Falle der Geschlechter jedenfalls versteht sich die machtvollere Position von selbst, während die machtlosere als erklärungsbedürftig erscheint. Dieser Eindruck einer gegenseitigen Bedingtheit von Evidenz und Macht erhärtet sich, wenn man die Ordnung der west-östlichen Dinge vom Nahen und Milderen Osten aus betrachtet. Hier besteht — wie al-'Azm und mit ihm andere Said-Kritiker betont haben — ebenfalls kein Zweifel daran, daß die (nah)östlichen Gesellschaften den Westen ebenso als kulturell different erfahren wie die europäischen den Osten und sich auch über Verfahren der Alterisierung gegen ihn abgrenzen. Die Rede von den ,eigenen' Traditionen und der ,eigenen' Kultur, auf die es sich zu besinnen oder zu beziehen gelte — seien sie nun als arabische, persische, türkische oder islamische gedacht —, ist im Nahen und Mittleren Osten omnipräsent, und der Westen fungiert dabei als wichtigste Gegenfolie. Gleichzeitig aber fehlen Hinweise auf eine irgendwie geartete Erklärungsbedürftigkeit des Westens für den Osten. Anzeichen dafür, daß der Westen vom Osten als unzugänglich und fremd wahrgenommen wird, so wie uns der Orient ,fremd' zu sein dünkt, sucht man in den Gesellschaften des Nahen und Mittieren Ostens vergeblich. Es existiert keine unseren „Orient-Experten" analoge Institution — weder in der Wissenschaft noch in Presse und Publizistik; und das, obwohl Europa und die USA in dortigen Medien und der Öffentlichkeit durchweg Thema sind. Ebensowenig kennt die lange Tradition arabischer Wissenschaften eine unserer Orientalistik analoge Disziplin, in welcher der Westen Gegenstand soziologischer oder kulturwissenschaftlicher Forschung ist.182 181 Männlichkeit - Männlichkeitsforschung. Die Philosophin 22 (2000),· Männlichkeiten. Feministische Studien 18 (2000), H. 2; Männerbilder. Der Deutschunterricht. Themenheft 42 (1995), H. 2; Walter Erhart: Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit. München 2001; Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis %ur Gegenwart. Hrsg. v. Claudia Benthien und Inge Stephan. Köln/Weimar/Wien 2003. 182 Daß ausgerechnet Japan im Verlauf des 18. Jahrhunderts ein solches Wissen über den Westen institutionalisierte, scheint angesichts der weltpolitischen Bedeutung dieses Landes seit dem 19. Jahrhundert nicht ohne Signifikanz zu sein. Dieser quasi-ethnologische Wissenstypus in Japan bezog sich zuerst auf China und wurde erst später auf
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Und wenn der ägyptische Philosoph Hasan Hanafi, unterstützt von einer ganzen Reihe anderer arabischer Wissenschaftler und Intellektueller, seit den neunziger Jahren die Gründung einer „Okzidentalistik" an Universitäten im Nahen Osten fordert, dann begreift sich dieses Projekt als ebenso politisch subversiv wie die Forderung nach einer Institutionalisierung der Männerforschung — nämlich explizit als Beitrag zur kulturellen Dekolonisierung.183 Um jedoch die spezifischen gesellschafdichen und historischen Bedingungen für eine Institutionalisierung von Wissen nicht schlanker Hand zu nivellieren und den Anhaltspunkt einer nicht vorhandenen Okzident-Wissenschaft nicht zu sehr zu strapazieren, sei noch ein Beispiel aus dem Bereich der Literatur im Nahen und Mittleren Osten hinzugezogen. Greift man etwa zu Autobiographien oder vergleichbaren Selbstzeugnissen zeitgenössischer arabischer, iranischer oder türkischer Autoren und überfliegt darin die Passagen zu ästhetischen Einflüssen auf das jeweilige künstlerische Schaffen, dann ergibt sich bei allen Unterschieden im Einzelnen doch ein bemerkenswertes Gesamtbild: Bereits einer kursorischen Lektüre dieser Texte kann die Selbstverständlichkeit und Problemlosigkeit nicht entgehen, mit der Autoren wie der kurdisch-türkische Erzähler Yasar Kemal,184 der ägyptische Nobelpreisträger Nagib Mahfuz185 oder der ebenfalls ägyptische Schriftsteller Gamal al-Ghitani186 sich mit europäischen Werken etwa von Kafka, Baudelake, Joyce oder Celan poetologisch auseinandergesetzt haben. Die Zugehörigkeit dieser Literatur zur wesdichen Kultur wird von den Literaten dabei nicht in Frage gestellt, es mangelt also keineswegs an einer Wahrnehmung der kulturellen Differenz. Dennoch findet sich in keinem dieser Texte ein Hinweis darauf, daß die künstlerische Auseinandersetzung mit der europäischen Literatur über jenen steinigen Weg des interkulturellen Verstehens geführt hat, den zeitgenössische europäische Autoren im umgekehrten Fall stets beschreiten.187 Europa übertragen. Vgl. dazu ausführlich: Steffi Richter: Ent-Ztveiung. Wissenschaftliches Denken in Japan ^wischen Tradition und Moderne. Berlin 1994. 183 Hasan Hanafi: „De l'Orientaüsme ä l'Occidentalisme". In: Peoples mediterraneens 50 (1990), S. 115-119. Vgl. dazu auch die differenzierte Studie von Thomas Hildebrandt,: Emanzipation oder Isolation vom westlichen Lehrer? Die Debatte um Hasan Hanaßs „Einführung in die Wissenschaft der Ok^tdentalistik". Berlin 1998. Isolde Kurz, die einen ansonsten sehr differenzierten Überblick über die arabisch-islamische Orientalismus-Debatte bietet, diskutiert Hanafis Position nicht. Vgl. Kurz: Vom Umgang mit dem anderen, S. 37-110. 184 Vgl. Yasar Kemal: Der Baum des Narren. Mein Leben. Im Gespräch mit Alain Bosquet. Zürich 1997, S! 93f., 158ff. 185 Vgl. Hartmut Fähndrich: Nagib Machfus. München 1991, S. 43 ff. 186 Gamal al-Ghitani: „Intertextual Dialectics". In: Ferial J. Ghazoul / Barbara Harlow (Hrsg.): The View from Within. Writers and Critics on Contemporary Arabic Literature. Cairo 1994, S.I 7-26, hier: S. 17f. 187 Vgl. Andreas Pflitsch: Gegenwelten. Zur Literaturtheorie von Idwär al Harräts. Wiesbaden 2000, S. 91-101.
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Hier gibt es kein Studium kommentierter Ausgaben mit kulturspezifischen Anmerkungen und Begriffserklärungen im Anhang, keine vorbereitenden Reisen, keine Beschäftigung mit europäischer Kulturgeschichte. Die nahöstlichen Autoren haben die Texte ihrer europäischen Kollegen gelesen und sahen sich dabei mit nicht mehr und mit nicht weniger Verstehensproblemen konfrontiert als bei der Lektüre arabischer, persischer oder türkischer Literatur. Dabei sei betont, daß in dieser Beobachtung das Kriterium eines ,richtigen' und ,falschen' Verstehens keine Rolle spielt. Wenn hier davon die Rede ist, der Westen sei dem Osten evident, dann impliziert das keine Aussage über eine etwaige ,Adäquatheit' der Rezeption. Nicht sie steht hier zur Diskussion, sondern die Frage, ob etwas als fremd wahrgenommen wird und in einem bewußten Akt verstanden werden muß oder nicht, ob der jeweilige Beobachter zu seinem Gegenstand in einer hermeneu tischen Distanz steht oder nicht. In eben dieser Beziehung unterscheidet sich unsere westliche Ordnung des Verstehens offenbar von der des Nahen Ostens; und zwar in derselben Weise, wie sich die Wahrnehmung des Weiblichen von der des Männlichen unterscheidet. So wie dem Männlichen das Weibliche erklärungsbedürftig erscheint, ist dem Westen der Orient fremd. Und so evident wie dem Weiblichen das Männliche ist, so selbst-verständlich ist dem Osten der Westen. Wertet man nun die strukturelle Korrelation dieser Inkongruenz der Wahrnehmung mit den jeweils bestehenden Machtverhältnissen nicht als Zufall, dann deutet sich ein systematisches Verhältnis zwischen Fremdheitserfahrung und Macht an. Offenbar erscheint vom Standpunkt der hierarchisch höheren Position die untere tendenziell als rätselhaft und erklärungsbedürftig, während vom Standpunkt der hierarchisch untergeordneten Position die höhere Evidenz besitzt und keiner weiteren Erklärung bedarf. Etwas überspitzt könnte man formulieren: Offenkundig muß man sich das (Nicht-)Verstehen leisten können. Unsere heutige theoretische und lebensweltliche Ineinssetzung des ..Anderen' mit dem ,Fremdenc, die Kongruenz der Grenze unseres eigenen kulturellen Systems mit der Grenze dessen, was wir unmittelbar verstehen können, ist somit Ergebnis einer zwar nicht einmaligen, aber doch spezifischen interkulturellen Konstellation von Differenz, Distanz und Macht. Die Spezifik dieser Konstellation liegt in der Existenz von Fremdheitserfahrung begründet, nicht in einer Wahrnehmung von Differenz. Nur durch eine analytische Trennung von Operationen der Identität (das Eigene/das Andere) und solchen des Verstehens (das Vertraute/das Fremde) wird es möglich, die Spezifik dieser Konstellation überhaupt sichtbar zu machen — eine Spezifik, die sich weder kulturell noch historisch universalisieren läßt.
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Fazit Blickt man durch das Prisma dieser theoretischen Überlegungen auf das Feld des historischen Orientalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und eben das soll im folgenden geschehen, dann ergeben sich einige neue Orientierungspunkte und Leitlinien für die Analyse, während sich andererseits die Randmarkierungen merklich verschieben. Die Dichotomic ,das Eigene' und ,das Fremde' hat sich zu zwei Achsen auseinandergezogen, die nun jenes Feld umreißen und eine komplexere Binnenstruktur sichtbar werden lassen. Innerhalb dieses Koordinatensystems werden anhand der Unterscheidung ,das Eigene' und ,das Andere' Strategien von Grenzziehung und Verortung erkennbar, während es die Unterscheidung ,das Vertraute' und ,das Fremde' erlaubt, den Verlauf von Verstehensprozessen sowie die Einordnung der kulturellen Dinge in evidente und opake nachzuvollziehen. Unter welchen Bedingungen, wann und ob überhaupt der Orient als kulturell ^Anderer' wahrgenommen, wodurch und in welchem Ausmaß er sich aus dem Bereich des Vertrauten löste und zum ,Fremden' wurde und ob schließlich die orientalische Fremde als die eigene oder die des Anderen erschien, sind die Leitfragen der vorliegenden Arbeit. Diese Fragen werden mit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine historische Zeit abtasten, in welcher sich ein institutionalisiertes Wissen über den Orient in Deutschland konstituiert und parallel dazu die literarische und poetologische Auseinandersetzung mit dem Orient im deutschsprachigen Raum große Prominenz gewinnt. Die beiden Entwicklungen sind nicht allein aufgrund historischer Gleichzeitigkeit, sondern darüber hinaus durch enge personelle, diskursive und praktische Überschneidungen und Einflußnahmen verbunden. Daß es sich bei der deutschen Orientwissenschaft des 19. Jahrhunderts — im Unterschied zur französischen oder britischen — um eine historische Wissenschaft hermeneutischer Provenienz handelte, die sich nicht zuletzt mit literarischen Texten beschäftigte, daß die ersten orientalistischen Lehrstühle nahezu zeitgleich mit den ersten germanistischen eingerichtet wurden und im Zuge desselben Prozesses wissenschaftlicher Ausdifferenzierung auch eine Disziplin namens Indogermanistik entstand, daß Orient-Wissenschaftler orientalisierende Lyrik schreiben und Orient-Literatur Eingang in die Wissenschaft findet - allein diese Schlaglichter zeigen bereits, wie vielschichtig die Bezüge zwischen Ästhetik und Wissen, dem ,Deutschen' und dem ,Orientalischen' sind. Und sie lassen erahnen, daß die Frage nach der Art, wie der Orient „repräsentiert" wurde, nicht die vordringlichste und möglicherweise ebensowenig eine geeignete ist, um diese komplexen Interferenzen zu analysieren.
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Die Relevanz der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert für eine Untersuchung des deutschen Orientalismus liegt nämlich nicht allein darin, daß in jener Zeit eine diskursive Ordnung der interkulturellen Dinge erst entsteht, die unsere Denkwelten bis heute prägt. Es ist zudem eine Zeit, in welcher Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen von Repräsentation und Verstehen selbst Gegenstand großer Debatten waren und Versuche nationaler, kultureller und gesellschaftlicher Identitätskonstitution weite Bereiche wissenschaftlicher, politischer und kultureller Auseinandersetzungen prägen. Legt man an eben diese Zeit das Koordinatensystem mit den zwei Achsen von ,Eigenem'/Anderem' und vom ,Vertrauten'/,Fremden' an, dann zeigt sich eine deutliche Analogie der historischen und der theoretischen Problematik. Die „Krise der Repräsentation", die Herausforderung des Verstehens fremder (Zeit-)Räume, der Einschlag von Kontingenz und die Suche nach Bewältigungsstrategien, durchziehen als neuralgische Punkte das diskursive Feld des 19. Jahrhunderts ebenso wie heutige Debatten um Perfotmanvität, Kulturdifferenz und soziale Konstruktion. Diese strukturale Verwandtschaft von historischem Gegenstand und theoretisch-methodischer Problemstellung erfordert zweifellos eine gesteigerte Wachsamkeit und Sorgfalt der wissenschaftlichen Arbeit. Gleichzeitig liegen in ihr aber die eigentliche Aktualität und Brisanz des frühen 19. Jahrhunderts für eine Analyse des Zusammenhangs von kulturellen Identitäts- und Verstehenskonzepten. Zur Frage nach dem Verhältnis von Interkulturalität und Macht — einer Frage, welche die Orientalismus-Forschung so stark wie kaum eine andere antreibt und die dabei so implizit wie kaum eine andere bleibt - kann die vorliegende Arbeit allerdings nur einen sehr spezifischen und (gemessen am universalistischen Charakter der in der Debatte gestellten Machtfrage) entsprechend kleinen Beitrag leisten. Auf systematischer Ebene erlaubt das Koordinatensystem von Identität und Verstehen einen differenzierteren Blick aufgegebene und potentielle Machtverhältnisse diskursiver Ordnungen — und auf die bei mangelnder Differenzierung drohenden Kurzschlüsse. Auf historischer Ebene versucht die anstehende Untersuchung, die Möglichkeitsräume eines Sinnsystems auszuloten, in dem — so die heuristische These — das kulturell ^Andere' noch nicht automatisch auch als ,Fremdes' wahrgenommen wurde. Da Macht nach Michel Foucault jedoch „nur in acfu" existiert und somit allein als „Ensemble von Handlungen in Hinsicht auf mögliche Handlungen"188 beschrieben werden kann, Handlungsoptionen sich gleichzeitig aber nur innerhalb solcher Möglichkeits188 Michel Foucault: „Wie wird Macht ausgeübt?". In: Hubert L. Dreyfus /Paul Rabinow: Michel Foucault. jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Weinheim 21994, S. 251-261, hier: S. 254 f.
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räume des Sinns öffnen und schließen, verspricht eine genauere Analyse des deutschen Orientalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts also durchaus Erkenntnisse über die Wirkungsweisen von Macht. Nur geht diese Arbeit eben nicht von einer vorgeordneten Größe der Macht aus, um deren Weg dann über die Handlungen zum Sinn zu verfolgen, sondern verfährt in umgekehrter Analyserichtung: Sie schreitet die Möglichkeitsräume des Sinns ab, verfolgt ihre Begrenzungen und Öffnungen, besieht sich die entstehenden oder verschwindenden Handlungsoptionen und kann auf diese — aber eben nur auf diese — Weise Einblicke in Wirkungsweisen von Macht gewinnen.
TeüII Orientalismus im 19. Jahrhundert: Genese und Gestalten
2. Wo Hegt der Orient? Wer sich auf die Spur des deutschen Orientalismus im 19. Jahrhundert setzen will, der kommt nicht umhin zu fragen, was man zu jener Zeit unter jOrient' überhaupt verstand. Schließlich bezeichnet der Begriff eine kommunikable Größe, die als Sinneinheit1 historischen Veränderungen unterworfen ist - ein Schicksal, das sie mit allen übrigen Begriffen und Sinnkonzepten teilt. Gewandelt haben sich im Laufe der Jahrhunderte nicht allein die Konnotate und Assoziationen, die sich mit dem Begriff ,Orientc für Europa verbanden, sondern das Konzept selbst, seine Extension und seine Grenzen. Und auch dadurch zeichnet sich der Orient nicht vor anderen Sinneinheiten aus, weshalb ich den Begriff hier und im folgenden auch nicht mit den in der Forschung sonst obligatorischen de-ontologisierenden Anführungszeichen versehen werde. Die titelgebende Leitfrage dieses Kapitels nach der Lage des Orients ist also keineswegs metaphorisch gemeint. Schließlich steht von einer Sinneinheit, die wie der Orient durch ganz verschiedene Diskurse konstituiert wurde und wird — durch geographische, historische, sprachwissenschaftliche, politische und ästhetische — nicht zu erwarten, daß wir sie in der Topologie und Topographie des frühen 19. Jahrhunderts an eben jenem Ort auffinden, wo sie heute liegt. Abgesehen vom Wort Orient selbst gibt es somit wenig, was in diesem Zusammenhang - zumal ungeprüft - als transhistorische Konstante angenommen werden darf. Doch wie Nina Berman zu recht bemerkt hat, ist die deutsche Bedeutungsgeschichte des Begriffs und damit auch des Konzepts bislang ungeschrieben.2 Diesem Desiderat der Forschung tatsächlich angemessen zu antworten, kann eine Studie dieser Anlage nicht leisten. Dennoch soll auf den folgenden Seiten die geo-diskursive Lage des deutschen Orients im vorvergangenen Jahrhundert so weit rekonstruiert werden, daß sich die weitere Analyse mit einer zumindest grob gerasterten topologischen Karte ausgestattet weiß, um sich bei ihrem Gang über das 1 Umberto Eco bietet die Kategorie der .kulturellen Einheit' als Alternative zur strukturalistischen Rede vom .Signifikat' an und fokussiert damit stärker als Ferdinand de Saussure den sozialen und pcrformativen Charakter von Bedeutung. Vgl. Umberto Eco: Einführung in die Semiotik. Autorisierte deutsche Ausgabe von Jürgen Trabant. München 81994, S. 74 ff. 2 Der „Überblick", den die Autorin gleichwohl über diese ungeschriebene Geschichte zu geben verspricht, ist aufgrund ihres gänzlichen Verzichts auf Belege wissenschaftlich nicht fruchtbar zu machen. Vgl. Berman: Onentalismus, Kolonialismus und Moderne, S. 16.
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Feld des historischen Orientalismus nicht in Anachronismen zu verirren. Nach einer ersten Umrißskizze der diskursiven Geographie des Orients und Überlegungen zu den Gründen für die Sinnhaftigkeit und die enorme Produktivität dieses — wie sich zeigen wird — höchst unwahrscheinlichen Konzepts wird die Frage zur Verhandlung stehen, in welchen politischen und Wissens-Kontexten der deutsche Orientalismus im frühen 19. Jahrhundert steht. Flankiert werden diese sinn- und wissens-archäologischen Rekonstruktionsbemühungen von dem Versuch, wissenschaftliche Denkmuster und Herangehensweisen zu entwickeln, die ein Sinngeschehen wie das des Orientalismus samt seiner handlungskonstitutiven Wirkungen zu beschreiben erlaubt.
2.1 Der Ort Die begriffsgeschichtliche Frage nach Gestalt, Ort und Grenzen eines historisch gebundenen Sinnkonzepts ist eine ^nm^j-geschichtliche Frage und darf sich entsprechend von der Etymologie eines Wortes nicht mehr als einen Fingerzeig erhoffen. Im Falle des Begriffs Orient ist dies jedoch ein Fingerzeig im wahrsten Sinne des Wortes. Denn ,Orient' (von lat. oriens — „Osten, Morgen")3 ist ursprünglich selbst ein hinweisender, deiktischer4 Terminus. In Abhängigkeit vom räumlichen Standort des Sprechers bezeichnete er die Richtung des Sonnenaufgangs, den „Morgen", und jene Region, die in Richtung des Sonnenaufgangs liegt, das „Morgenland".5 Insofern sind die deutschen Begriffe „Morgen" und „Morgenland", die bis ins 20. Jahrhundert hinein synonym zu ,Orient' gebraucht wurden,6 also wortgetreue Übertragungen des Lateinischen. Der Erfinder des deutschen Wortes ,Morgenland' allerdings schuf diesen Terminus im Zuge eines Übersetzungsvorgangs, bei dem das Lateinische nur die Funktion eines Hilfsmittels hatte, aber nicht Ausgangssprache war. Es war Martin Luther, der im Zuge seiner Bibelübersetzung das ,Morgenlandc als Entsprechung des hebräischen D"Tj? (kädäm) im Alten und des griechischen ( 3 Art. „Orient". In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 7. Bearb. v. Dr. Matthias Lexer. Leipzig 1889, Sp. 1345 f. 4 Mit dem linguistischen Fachtcrminus Deixis (von gr. — ich syige) wird allgemein situationsabhängige Rede bezeichnet, wobei man zwischen personaler (x.B. ich, du, meine Schwester), temporaler (z.B. beute, morgen, vor drei Tagen) und lokaler Deixis (x.B. hier, dort, binferetc.) unterscheidet. In dieser Kategorisierung ist .Orient' also ein Raumdeiktikon. Vgl. den komprimierten Exkurs in: Peter Eisenbcrg: Grundriß der deutschen Grammatik. 3., überarbeitete Auflage. Stuttgart/ Weimar 1994, S. 186-189. 5 Art. „Morgenland". In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 6. Bearb. von Dr. Moriz I ieyne. Leipzig 1885, Sp. 2572. 6 Ebd.
Wo liegt der Orient?
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tolae) im Neuen Testament ersann, die beide raumdeiktischen Charakter haben.7 Das Wort Morgenland findet sich etwa in Gen 25,6 — einem Bericht über Abraham, den Luther mit den folgenden Worten wiedergibt: Aber den Kindern / die er von den kebsweibern hatte / gab er Geschencke / vnd lies sie von seinem son Jsaac ziehen / weil er noch lebet / gegen dem auffgang in das Morgenland.8
Und auch im Buch Richter ist mehrmals von denen „aus dem Morgenland" die Rede.9 Damit sind, dem Standort des Erzählers entsprechend, die Gebiete östlich des israelitischen Territoriums gemeint.111 Ähnliches gilt für die Verwendung des Begriffs in der wohl berühmtesten und für das abendländische Konzept des Orients ungleich einflußreicheren ,Morgenland'-Stelle der Bibel, der Geburtsgeschichte Jesu nach Matthäus (Mt 2,l f.). Hier heißt es: DA Jhesus geborn war zu Bethlehem / im Jüdischenlande zur zeit des kömges Herodis / Sihe / da kamen die Weisen vom Morgenland gen Jerusalem / vnd sprachen / Wo ist der newgeborne König der Juden? Wir haben seinen Sternen gesehen im Morgenland / vnd sind komen jn an zu beten.11
Ebenso wie in den alttestarnentlichen Stellen bezieht sich „Morgenland" hier auf jene Regionen, die vom judäischen Blickpunkt aus in Richtung der aufgehenden Sonne liegen, während die Stadt Davids der virtuelle Stand7 Das Hebräische Dip (kädäm) bedeutet im Alten Testament, Gerhard Lisowski zufolge, 2 mal „vom", 29 mal „Osten" und 30 mal „Vorzeit". Es hat somit in jeder seiner Belegungen deiktischen Charakter. Vgl.: Konkordat^ %um Hebräischen Alten Testament. Nach dem von Paul Kahle in der Biblia Hebraica edidit Rudolf Kittel besorgten masoretischen Text unter verantwortlicher Mitw. v. lx:onhard Rost ausgcarb. u. geschr. v. Gerhard Lisowski. 3., verb. Aufl. bes. v. Hans Peter Rüger. Tübingen 1990, S. 1237. Auch das griechische (anatolae) ist primär ein räumliches Deiktikon. Vgl. den Art. „ ". In: Exegetisches Wörterbuch %um Neuen Testament, Hrsg. v. Horst Balz und Gerhard Schneider. Bd.l. Stuttgart 21992, Sp. 224f. 8 Hier und im folgenden zitiere ich die Bibelstellen der Originalausgabe der LutherBibel von 1545 in ihrer digitalen Edition: Die Luther-Bibel. Originalausgabe 1545 und revidierte Fassung 1912. CD-ROM. 2. Ausgabe. Dircctmedia. Berlin 2000. 9 So z.B. Ri 6,3.33; 7,12; 8,10: Dip ^3 (bette kädäm = Söhne des Ostens). 10 Im Falle des Richterbuches ist dies wohl konkret das Gebiet der Ammoniter und Moabiter. Vgl. z.B. zu Ri 8,10: Das Alte Testament Deutsch. Teilbd. 9: Die Bücher josua, Richter, Rath. Übersetzt und erklärt von Hans Wilhelm Hcrtzberg. 2. durchges. Aufl. Göttingen 1959, S. 197. 11 Lutz Ulrich hat in seinem Kommentar noch einmal auf die Übcrsetzungsschwicrigkeiten des in dieser Textstelle gleich zweimal auftretenden Wortes hingewiesen, das „Osten" ebenso heißen kann wie „Aufgang" und das Luther in beiden Fällen mit „Morgenland" übersetzt. Er überträgt: „[...] da kamen Magier von Osten nach Jerusalem [...] Wir haben nämlich seinen Stern beim Aujgeben gesehen [..-]·" Vgl. Lutz Ulrich: Das Evangelium nach Matthäus. 5., völlig neu bearb. Aufl. Düsseldorf/ /ürich 2000, S. 157 (Hervorh. v. mir). Der griechische Begriff ist hier aber wohl schon mit alttestamcntlichen Konnotationen der Verheißung verbunden. Vgl. Art. . In: Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament I, Sp. 224f.
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ort des Sprechers und seiner Zuhörer ist.12 In der Frühzeit der christlichen Ikonographie werden die morgenländischen Weisen, die sich dann zu den uns geläufigen drei Königen wandeln13 und als solche im 12. Jahrhundert Eingang in den Reliquienkult finden,14 daher zunächst in persischer Gewandung dargestellt.15 Doch während zu biblischer Zeit die geographischen Bezüge des Begriffs Morgenland in den heiligen Texten noch eindeutig sind, beginnt in späteren Jahrhunderten die morgenländische Deixis zu schillern. Denn mit der Wanderung der kulturellen und religiösen Zentren im Bewußtsein des abendländischen Christentums nach Westen wanderte auch der entsprechende Orient westwärts. Diese Wanderbewegung des abendländisch-christlichen Sehepunktes und seiner Raumdeixis schlug sich auch in der Ikonographie der Weisen aus dem Morgenland nieder: Auf Mosaiken des 5. und 6. Jahrhunderts, also nachdem das Christentum römische Staatsreligion geworden war, tragen sie phrygische Mützen16 — und Phrygien befindet sich westlich von Palästina, in Kleinasien. Doch von Rom, Cluny oder Wittenberg aus betrachtet, liegen eben nicht allein das gesamte Heilige Land, sondern auch die Gebiete der Ostkirchen „im Orient". Entsprechend zitiert das Gnmmsche Wörterbuch noch Luther mit dem Satz: wie auch bis auf den heutigen tag die bischoue und kirchen gegen gantz orient den bapst nicht angesehen haben und noch nicht ansehen.17
Da jedoch gleichzeitig im christlichen Abendland die Kontinuität der biblischen Überlieferung mit ihrer spezifischen Orient-Deixis ungebrochen blieb, war der westeuropäischen Tradition von vorne herein eine doppelte Perspektive auf das Morgenland eingeschrieben mit zwei gleichzeitig existierenden Beobachterstandpunkten: dem virtuellen von Israel/Juda und dem lebensweltlichen Westeuropas.18 12 Vgl. Art. „Drei Könige". In: Lexikon der christlichen Ikonographie. Hrsg. v. Engelbert Kirschbaum Sj. Sonderausgabe. Freiburg 1990, Bd.l, Sp. 539-548. Im folgenden angegeben als LCI mit Band- und Spaltenzahl. 13 Verbunden mit einer Vielzahl biblischer Konnotationen in der ikonographischen Ausgestaltung. Vgl. LCI, Bd. l, Sp. 539-548. 14 In Deutschland läßt sich der Beginn aktiver Verehrung mit der Überführung der Reliquien von Mailand nach Köln durch Friedrich Barbarossa auf das Jahr 1164 datieren. Vgl. LCI, Bd. l.Sp. 539f. 15 Vgl. Ulrich: Das Evangelium nach Matthäus, S. 165ff.; Art.: „Drei Könige". In: LCI, Bd. l,Sp. 541. 16 Ulrich diskutiert verschiedene Mosaiken, in denen — zeichengeschichtlich nicht uninteressant — persische Gewandung und phrygische Kopfbedeckung zusammen auftreten. Ulrich: Das Evangelium nach Matthäus, S. 165 ff. 17 Art. „Orient". In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 7. Bearb. v. Dr. Mathias von Lexer. Leipzig 1889, Sp. 1345. 18 Auch Thomas Scheffler spricht von „zwei verschiedenen Sichtachsen" auf den Orient, die er an die biblische Tradition einerseits und an die des römischen Reiches anderer-
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Allerdings ist der Begriff Orient in seiner Gebrauchsgeschichte dennoch nicht mit dem vergleichsweise jungen Abstraktum ,Osten' gleichzusetzen. Denn anders als die semantisch leere Größe ,Osten' besaß ,Orient' durchweg eine eigene Bedeutungskomponente, die in seiner Übersetzung als „Morgen" oder „Sonnenaufgang" noch aufscheint. Auch Luther verwendet in seiner Bibelübersetzung zur Bezeichnung jener Himmelsrichtung durchgängig den Terminus „Sonnen auffgang"19 oder ellyptisch „auffgang"20, während man das Wort ,Ostenc bei ihm vergebens sucht.21 Der Grund dafür ist in der christlichen Bildtradition zu suchen. Schon in der frühen Ikonographie wurde der Aufgang der Sonne als Allegorie der Auferstehung Christi gelesen, als Zeichen des österlichen Morgens nach dem Durchgang durch die Nacht des Todes.22 Bereits in karolingischer Zeit fand diese eschatologische Ausdeutung der östlichen Himmelsrichtung auch architektonisch ihren Niederschlag: Bis weit ins Mittelalter hinein und sogar darüber hinaus wurden basilikale Kirchenbauten „orientiert", also mit dem Altarraum nach Osten ausgerichtet, und die Kircheninnenräume entsprechend ikonographisch ausgestaltet: „im Osten im Apsisbild die Erscheinung der Majestät Christi, im Westen Darstellung des Jüngsten Gerichts".23
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seits knüpft. Mit letzerem nimmt Scheffler Bezug auf den im Zuge der umfassenden Rcichsreform unter Diocletian (reg. 284-305) eingerichteten Verwaltungsbezirk ,oriens'. Vgl.: Scheffler: Exotismus und Orienta/tsmus, S. 105-111, hier: S. 106. Für die Ikonographie der Heiligen drei Könige bleibt dieser Umstand insofern lange Zeit folgenlos, als sich bereits im frühen Mittelalter eine allegorische Darstellung der Figurengruppe durchsetzt und die Könige als Repräsentanten der drei Weltalter, später — im Rekurs auf die drei Söhne Noahs — auch als Stellvertreter der drei bekannten Erdteile Asien, Afrika und Europa interpretiert und ikonographisch inszeniert werden, wodurch sich ihre ursprünglich regionale Signatur verwischt. Vgl. Ulrich: Das Evangelium nach Matthäus, S. 165ff; vgl. ferner LCI, Bd. l, Sp. 539f. So z.B. Num21,ll;Dtn4,41. So z.B. Num 23,7;jos 16,1. Es findet sich — als Ersatz für die Sonnenaufgangs-Terminologie — erst in der revidierten Fassung von 1912. Das symbolische Potential der Sonne und vor allem ihres Aufgangs leitet sich hier aus der orientalischen und griechisch-römischen Antike mit ihren entsprechenden Sonnengottheiten her und ist - aus religionsgeschichtlicher Perspektive betrachtet selbstverständlich - keine genuin christliche Erfindung. Vgl. Art. Sonne. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Tübingen Jl956-1965. Bd. 6. Hrsg. v. Kurt Galling. Tübingen 1962, Sp. 137-139. Das Lexikon wird im folgenden zitiert als RGG3 mit Band- und Spaltenangabe. Art.: „Kirchenbau". In: RGG3, Bd. 3. Hrsg. v. Kurt Galling. Tübingen 1959, Sp. 1358. Diese, auf einer symbolisch-allegorischen Ordnung fußende, Orientierung der Kirchen stellt unter den Sakralbauten der großen monotheistischen Religionen eine Ausnahme dar. Denn sowohl Synagogen als auch Moscheen sind auf je einen fixen geographischen Punkt ausgerichtet, nach Jerusalem und Mekka, nicht aber nach einer Himmelsrichtung. Es ist allein der westeuropäische Standort, der hiesige Synagogen und Moscheen ebenso orientiert wirken läßt wie Kirchen.
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Und in diesem Zusammenhang sind wohl auch die Ursprünge des berühmten Diktums „ex Oriente lux" zu suchen.24 Zu bemerken ist, daß bis ins 15. Jahrhundert ähnliches für die Konzeption von Landkarten gilt. Auch sie waren geostet, d. h. der Osten bildete die Oberseite des Blattes und war mit einer eschatologischen Bildlichkeit versehen, der Auferstehung von den Toten und dem letzten Gericht.25 Erst die Wiederentdeckung und Veröffentlichung der Geographie des Ptolemäus leitete eine Wende ein, die diese jahrhundertealte Praxis allmählich ablösen sollte.26 Seitdem sind unsere Karten genordet, auch wenn wir uns - mit oder ohne ihre Hilfe — in der Welt noch immer „orientieren". Begriffsgeschichtlich betrachtet war der Orient also bereits mit Bedeutung beladen, bevor er seinen deiktischen Charakter verlor und zum Eigennamen für einen fixen geographischen und kulturellen Raum wurde. Rückblickend läßt sich dieser Wandel des Wortes .Orient' von einer situationsabhängigen Richtungsangabe zum Ortsnamen durchaus als Prozeß der Globalisierung einer ursprünglich allein westeuropäischen Perspektive auf die Welt lesen. Schließlich bezeichnen heute auch US-Amerikaner mit ,Orient' Regionen, die in ihrem Westen liegen, während sie Europa zum Westen zählen, obwohl es eigentlich das amerikanische Morgenland sein müßte.27 Und selbst im arabischen Sprachraum hat sich die ursprünglich
24 Die historische Quelle des Satzes liegt im Dunkeln. Biblisch ist er nicht, womöglich aber stammt er aus einer frühen Liturgie - die architektonische Symbolik der Kircheninnenräume legt diese Vermutung jedenfalls nahe. 25 David Woodward: „Medieval Mappacmundi". In: John B. Harley/ David Woodward (Hrsg.): Cartography in Prehistoric, Ancient, and Medieval Europe and the Mediterranean. Chicago/ London 1987, S. 286-370. Bekannte Beispiele sind die Weltkarte von Hereford (ca. 1290) oder auch die Ebsdorfer Weltkarte (13. Jh.), Abb. s. ebd., S. 310 und 311. 26 Heien M.Wallis/ Arthur H. Robinson (Hg.): Cartographical Innovations. o.O. 1987, S. 164 u. 196-199, sowie O. .A. W. Dilke: „Cartography in the Ancient World. A Conclusion". In: Harley/ Woodward (Hrsg.): Cartography in Prehistoric, Ancient, and Medieval Europe., S. 276-279, hier: S. 276, sowie im selben Band von John B. Harley/ David Woodward: Concluding Remarks. In: ebd., S. 502-509, hier: S. 506. 27 Auf diesen Umstand haben auch Ingeborg H. Solbrig (Art.: „Orient-Rezeption". In: Das Fischer Lexikon Literatur. 3 Bde. l Irsg. v. Ulfert Ricklefs. Neuausgabe. Frankfurt a. M. 2000, Bd. 3, S. 1450-1477, hier S. 1450) und Nina Berman hingewiesen. Allerdings deutet letztere — womöglich aus mangelnder Kenntnis der Funktionsweise von Deiktika — diesen Wandel der Referentialität des Begriffs kurzschlüssig als Veränderung hin zu einer „ideologischen Perspektive" (Berman: Onentalismus, Kolonialismus und Moderne, S. 16). Aus tcxtlinguistischer Perspektive hat sich Roland Harweg mit vergleichbaren Ausdrükken beschäftigt (nämlich den Wendungen „im Nahen Osten" und „im Fernen Osten") und ist zu dem Schluß gekommen, daß sie in ihrer US-amerikanischen Verwendung ihren deiktischen Charakter verloren haben und zu Eigennamen geworden sind. Vgl. Roland Harweg: „Lokale Deixis im zweidimensionalen Raum oder Die Deixis der Himmelsrichtungen". In: ders.: Studien ^ur Deixis. Aufsätze. Bochum 1990, S. 55-102, hier: S. 85 ff.
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europäische Deixis durchgesetzt, und ,der Osten' (ij.>^ — as-sarq) ist längst zur Selbstbezeichnung geworden.28 Mit dem Ende des deiktischen Gebrauchs von .Orient' stößt allerdings auch die analytische Aussagekraft der Begriff s etymologic an ihre Grenzen. Um Näheres darüber zu erfahren, was der Begriff Orient im deutschsprachigen Raum der Neuzeit denotierte, ist nach den geographischen und semantischen Abmessungen einer Sinneinheit zu fragen, die sich aus ihrer deiktischen Vergangenheit nicht rekonstruieren läßt. Denn weder beschränkte sich das Morgenland der vergangenen Jahrhunderte auf Regionen im Osten Europas, noch zählten tatsächlich alle östlichen Länder zum Orient. Und schließlich war und ist ,Orient' nicht die einzige Ordnungskategorie für jene Weltregionen. Parallel zu ihr existierten — und existieren noch heute — die Konzepte ,Asien' und ,Afrika', deren geographische und semantische Konturen weit weniger evident und historisch konstant sind als die kontinentale Implikation der Begriffe dies suggerieren mag.29 Diese drei Sinneinheiten ,Asien', ,Afrika' und , Orient' lagen während der vergangenen Jahrhunderte nie distinkt nebeneinander, sondern sie standen in engem Wechselverhältnis, haben sich semantisch und geographisch überlappt und häufig auch gegeneinander verschoben.30 Entsprechend lohnend sind Seitenblicke auf diese beiden alternativen Beschreibungskategorien des (süd-) östlichen Raums für eine Beantwortung der Frage nach Lage und Grenzen des Morgenlandes im 19. Jahrhundert.
28 Vgl. den Eintrag 3^ (sarq) in: Hans Wehr: Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart. Arabisch-Deutsch. Wiesbaden M990, S. 650. Auch dieser Begriff leitet sich morphologisch aus der Wurzel „aufgehen (Sonne), leuchten, strahlen" her (vgl. ebd. S. 649) und hat — stärker als das Wort .Orient' im Deutschen - diese Konnotation bis heute behalten. Zur Belegung des Begriffs in der arabischen Welt vgl. Arkoun: „Westliche" Vernunft kontra „islamische" Vernunft?, S. 262f. 29 Daß die Grenzen eines Kontinents ihre Selbstverständlichkeit verlieren, sobald sie außerhalb naturwissenschaftlicher Spezialdiskursc, etwa auf dem Feld der Kultur oder Politik, zum Thema werden, zeigt die bis heute anhaltende Debatte um die Grenzen Europas sehr eindrücklich. Die Frage, wo Europa liegt, ist auch hier keineswegs eine metaphorische. Vgl. Herfried Münkler „Wo liegt Europa? Mythos und politische Idee". In: Gert-Joachim Glaeßner/ Klaus Suhl (Hrsg.): Auf dem Weg nach Europa. Europäische Perspektiven nach dem Ende des Kommunismus. Opladcn 1994, S. 11-29. Zum historiographischcn Versuch, „Europa" durch Rekurs auf eine gemeinsame Geschichte '/M begrenzen, vgl. Hagen Schulze: Phoenix Europa. Die Moderne. Von 1740 bis heute. Berlin 1998, S. 9-14, i.b. S. 11; zur anhaltenden und in diesem Zusammenhang besonders signifikanten Diskussion um den möglichen Beitritt der Türkei zur EU siehe die Zusammenstellung von Seref Ates: „Der EU-Beitritt der Türkei und seine Spiegelung in der deutschen und türkischen Presse". In: KAS-AI10 (2002), S. 31-72. 30 Eine Begriffsgeschichte Asiens und Afrikas fehlt bislang ebenfalls. Doch trotz seiner abbildtheoretischen Grundannahmen hat Jürgen Osterhammcl mit seiner detailreichen Studie Die En^auberung Asiens bereits einiges zur Klärung konzeptgeschichtlicher Fragen beigetragen. Vgl. Osterhammcl: Die En^auberung Asiens, i.b. S. 41-63.
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2.2. Die Grenzen Wer im 18. und 19. Jahrhundert aus den deutschen Staaten in den Orient reisen wollte — das zeigt bereits ein kursorischer Überblick über die geographischen Abmessungen des damaligen Morgenlandes —, der mußte das heutige Europa nicht verlassen. Der gesamte Südosten des Kontinents gehörte schon seit dem 16. Jahrhundert zum Osmanischen Reich, war also in deutschen Augen „türkisch".31 Bosnien, Serbien, die Walachei oder Moldau muteten den Westeuropäer nicht weniger orientalisch an als die arabische Halbinsel. Von Westen kommend, befand man sich tatsächlich bereits kurz hinter Wien in einer west-östlichen Grenzregion. Ferdinand Lassalle etwa schieb am 28. September 1856 über das ungarische Pest, es sei „eine der prächtigsten Städte, die ich je gesehen habe, und was ihr einen besonders eigentümlichen Charakter gibt, ist diese erste Vermittlung von Morgenland und Abendland, die jeder von Westen kommende schon in ihr wahrnehmen wird."32 Und „das erste Stück Orient, das [ihm] zu Gesichte kommen sollte", war Belgrad, dessen Basare, Moscheen und buntes Treiben auf den Straßen den Reisenden ebenso unmittelbar in die Märchen der 1001 Nacht versetzten33 wie seine Zeitgenossen der Anblick von Tiflis34 oder Kairo.35 Doch nicht nur der Osten Europas, nicht allein der Balkan - einschließlich der griechischen Halbinsel, die bis ins frühe 19. Jahrhundert ebenfalls osmanisch war —, sowie Kreta und Zypern gehörten zum Orient. Auch eine Reise in den Südwesten des Kontinents, nach Spanien oder Sizilien, konnte im 18. und 19. Jahrhundert zur „Morgenlandfahrt" werden. In Spanien war es vor allem die aus 700 Jahren islamischer Geschichte des Landes zurückgebliebene Architektur, die besonders Andalusien in deutschen Augen orientalisches Colorit verlieh.36 Zwei dieser Bauten, die Fe31 Die Osmanen als „Türken" zu bezeichnen und das Osmanische Reich als „Türkei", war im deutschsprachigen Raum bereits seit dem 16. Jahrhundert verbreitet. Auch wurde der Begriff lange Zeit als pars pro toto für „Muslime" verwandt. Vgl. Art.: „Türke". In: Deutsches Wärterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 11. Bearb. v.d. Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches zu Berlin. Leipzig 1952, Sp. 1848-1854. 32 Brief Ferdinand Lassalles an Sophie Hatzfeld und seine Eltern v. 28.9.1856. In: Ferdinand Lassalle: Nachgelassense Briefe und Schriften. Hrsg. v. Gustav Mayer. Bd. 6. Berlin 1925, S. 159. Den Hinweis auf diese großartige Quelle verdanke ich dem Aufsatz von Scheffler: Exotismus und Orientalismus, S. 105. 33 Lassalle: Nachgelassense Briefe und Schriften, Bd. 6, S. 165. 34 Friedrich Bodenstedt: Tausendundein Tag im Orient. Hrsg. u. mit einem Nachwort v. Carsten-Michael Walbiner. Frankfurt a. M. 1992, S. 46. 35 Hermann Fürst von Pückler-Muskau: Aus Mehemed Alis Reich. Ägypten und der Sudan um 1840. Mit einem Nachwort von Günther Jantzen und einem biographischen Essay von Otto Flake. Zürich 31994, S. 156.
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stung Alhambra (von arab. al-bamra - „die Rote") im Bergland von Granada und die große Moschee von Cordoba wurden auf der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert für Westeuropäer sogar zum Innbegriff „maurischer" Architektur und Kultur, ebenso wie zum baugeschichtlich einflußreichsten Vorbild jener Architekturform auch im Deutschland des 19. Jahrhunderts.37 Um den spanischen Orient zu erleben, genügte seit den 1840er Jahren ein Ausflug nach Potsdam zum Dampfmaschinenhaus des Ludwig Persius38 oder zur Wilhelma, der „maurischen" Palastanlage des Königs Wilhelm von Württemberg in Stuttgart-Bad Cannstatt.39. Allerdings war Spanien nicht allein aufgrund seiner islamischen Architektur orientalisch konnotiert, sondern auch durch seine Dichtung. Jean Paul etwa zweifelt in seiner Vorschule der Ästhetik nicht daran, daß die (romantische) Poesie „orientalisch kühner im glühenden Spanien" anzutreffen sei als im Norden Europas.40 Und auch einer der prominentesten Wiederentdecker Spaniens für die deutsche Literatur und Gelehrsamkeit, Johann Gottfried Herder, hat offenbar die Literatur im Blick, wenn er über die Spanier im allgemeinen schreibt: Ihr Land und Charakter, ihre Verwandtschaft mit den Arabern, ihre Verfassung, selbst ihr stolzes Zurückbleiben in manchem, worauf die europäische Kultur treibt, macht sie gewissermaßen zu europäischen Asiaten. Die Verwicklungen, das Abenteuerleben, von dem ihre Romane voll sind, macht ihr Land hinter dem Gebirge, die schöne Wüste unserer Phantasie, zu einem Zauberland.41
Das „stolzef ] Zurückbleiben", welches Herder hier als spanische Charaktereigenschaft aufruft, bezieht sich wohlgemerkt nicht auf das islamische Spanien, sondern auf die Zeit nach der Reconquista.42 Auch dieses Spa36 Einen Überblick über die Rezeptionsgeschichte des „maurischen Spaniens" im 19. Jahrhundert bietet der Beitrag: Michael Scholz-Hänsel: „ .Antiguedades Arabes de Espana'. Wie die einst vertriebenen Mauren Spanien zu einer Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert verhalfen". In: Europa und der Orient. 800-1900, S. 368-382, allerdings mit Schwerpunkt auf britischen Autoren. 37 Vgl. dazu das Kapitel „Die Faszination der Alhambra: Wissenschaftlicher Orientalismus" in: Koppelkamm: Der imaginäre Orient, S. 61-76; ders.: „Orientalisierende Architektur des 18. und 19. Jahrhunderts". In: Exotische Welten. Europäische Phantasien, S. 164171. Gerhart Hoffmeister. „Exoticism. Granada's Alhambra in European Romanticism". In: ders. (Hrsg.): European Romanticism. Literary Cross-Currents, Modes and Models. Detroit 1990, S. 113-126. 38 Vgl. dazu die ausführliche, wenn auch mit anderem Schwerpunkt versehene, Studie von Matthias Staschull: Industrielle Revolution im Königspark. Architekturverkleidungen technischer' Parkgebäude des 19. Jahrhunderts in Potsdam am Beispiel von Ladung Persius' Dampfmaschinenhaus ßr den Park von Sanssouci. Marburg 1999. Ebenso Koppelkamm: Der imaginäre Orient,^. 86ff. 39 Zur Wilhelma ausführlicher: Koppelkamm: Der imaginäre Orient, S. 64-72. 40 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: Jean Paul SW I, Bd. 5, S. 92. 41 Zit. nach: Spanien und Europa. Hrsg. v. Hans Hinterhäuser. München 1979, S. 108. 42 Bis zum späten 18. Jahrhundert wurde Spanien in Deutschland „wegen des brutalen Aufbaus seines Imperiums durch eine als unbesiegbar geltende Armee, des grausamen
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nien und seine Literatur, die Romanzen, die Romane des Cervantes43 oder die Dramen Calderons44 also, muten für Herder „asiatisch" an — eine diskursive Kontinentalverschiebung, die uns noch mehrfach begegnen wird. Wie tief die Wahrnehmung Spaniens als Teil des Orients im Alltagsverständnis des frühen 19. Jahrhunderts verankert war, zeigt der Blick in eine zu jener Zeit ungemein prominente Sammlung erbaulicher Geschichten, Märchen, Fabeln und Phantasien, deren erster Band 1786 unter dem Titel Palmblätter. Erlesene morgenländische Erzählungen für die Jugend veröffentlicht wurde.45 Ihr Autor, der protestantische Pfarrer und Schwiegersohn Christoph Martin Wielands, August Jacob Liebeskind, hatte die Schauplätze seiner insgesamt 131 „morgenländischen Erzählungen" großzügig über den damaligen Orient verteilt. Und neben arabischen, persischen und indischen Handlungsorten findet sich hier - ganz selbstverständlich, wie es scheint — auch das christliche Spanien. Die Geschichte Der Dechant des Bistums Badajo^ findet hier ihren Handlungsort, rekrutiert ihre Protagonisten durchweg aus dem katholischen Klerus und hat gleichwohl morgenländischen Charakter. In ähnlicher Weise orientalisch kodiert wie Spanien, wenn auch als morgenländischer Schauplatz in der Literatur nicht in diesem Maße prominent, war im 19. Jahrhundert zudem Sizilien. Genauer gesagt wurde die damalige Gegenwart Siziliens als orientalisch wahrgenommen, während die Imperialismus seiner Kolonialpolitik und vollends im Zeitalter der Konfessionskriege mit Unterdrückung, Inquisition, militanter Gegenreformation, intriganter Jesuitenpolitik, übersteigerter Etikette und Ehrsucht identifiziert. So verdüsterte sich das Bild zur schwarzen Legende (leyenda negra) einer unaufgeklärten, unfreien und antichristlichen Nation [...]." (Weltliteratur: Die Lust am übersetzen im Jahrhundert Goethes. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. Ausstellung und Katalog Reinhard Tgahrt. Marbach 1982, S. 575). 43 Erstmalig ins Deutsche übertragen von Friedrich Justin Bertuch: Leben und Thaten des weisen Junkers Don Quixote von la Mancha. Aus der Urschrift des Cervantes, nebst der Fortsetzung des Avellaneda. In sechs Bänden. Von F.J. Bertuch. Leipzig 1775-77. 44 Calderon verdankte seine euphorische Aufnahme in Deutschland nicht zuletzt den Übersetzungen durch August Wilhelm Schlegel, vor allem der Übertragung des Dramas Don Fernando und Don Enrique von 1809. Zur Übersetzungsgeschichte der spanischen Literatur im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert vgl. die konzisc Darstellung im Marbachcr Katalog Weltliteratur: Die Lasi am Übersetzen im Jahrhundert Goethes, S. 575595, zu Schlegels Calderon-Übersetzung i.b. S. 590. 45 Während der erste Band noch anonym erschien - allerdings mit einem Vorwort von Johann Gottfried Herder versehen -, veröffentlichte Liebeskind zwei Jahre später unter eigenem Namen den zweiten. Aufgrund der hohen Nachfrage erschienen nach seinem Tod (1793) noch zwei weitere Teile der Palmblätter (1796 und 1800), deren Autorschaft bis heute allerdings nicht eindeutig geklärt ist. In den Jahren 1814 und 1819 veranstaltete das Berliner Vcrlagshaus G. Riemer schließlich Nachdrucke einzelner Bände und 1831 einen vollständigen Nachdruck aller vier Teile. Vgl. das Nachwort von Dieter Laux in der Gesamtausgabe Palmblätter. Erlesene morgenländische Erzählungen ßir die Jugend. Gesammelt von August Jacob Liebeskind. Leipzig 1976, S. 429-441. 46 Liebeskind: Palmblätter, S. 118-125.
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Vergangenheit des Landes unter das klassizistische Konzept der griechischen Antike fiel, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf sizilianischem Boden wieder entdeckt wurde.47 Noch 1854 wurden Berichte von Reisen durch Sizilien als Orient-Reiseberichte veröffentlicht und trugen Titel wie Ein Jahr im Orient oder Griechenland unter Otto II., die Türkei unter Abdul-Medschid und Sialien unter Ferdinand 7/.48 Wie bei der Zuordnung Spaniens zum Morgenland kam auch im Falle Siziliens der Baukunst eine Schlüsselrolle zu. Die islamische Architektur der Insel wurde sogar mit der Spaniens in direkte Verbindung gebracht. So hatte der Architekt Ludwig Zahnt, bevor er 1837 mit dem „maurischen" Entwurf der Stuttgarter Wilhelma beauftragt wurde, zusammen mit seinem Kölner Kollegen Hittorf in den 1820er Jahren eine Studienreise nach Sizilien unternommen.49 Die aus der sizilianischen Baukunst islamischer Provenienz gewonnenen Anregungen ließ er dann in seine Württemberger Pakstanlage einfließen, die sich primär am Vorbild der andalusischen Alhambra orientierte und so zu einem Konglomerat der verschiedensten orientalischen Bauformen wurde.50 Geographisch betrachtet waren die morgenländischen Regionen des südlichen europäischen Kontinents also exzentrisch verteilt: Spanien lag ganz im Westen, der Balkan mit Griechenland im Osten und dazwischen erstreckten sich abendländische Landstriche. Verbindendes orientalisches Element zwischen diesen europäischen Morgenländern und Sizilien war das Mittelmeer. Schließlich wurde, abgesehen von den Gestaden Italiens und Frankreichs, im 18. und 19. Jahrhundert die gesamte Küste des mittelländischen Meeres zum Orient gerechnet — von Gibraltar über Algier, Tunis und Tripolis, Alexandria, Akkon, Smyrna und Saloniki bis Montenegro. Und letztlich trug auch das Meer selbst eine morgenländische Signatur. Auf ihm kreuzten nämlich die Korsaren-Schiffe der nordafrikanischen „Barbaresken"-Staaten, wozu neben Marokko und Algerien auch die osmanischen Vasallen Tunesien und Tripolitanien (also der nord-westliche Teil des heutigen Libyen) zählten.51 Die Piraterie, die von Tanger, Algier, Tunis und Tripoli ausging, erschwerte den europäischen Mittelmeerhandel bis ins 19. Jahrhundert hinein in so hohem Maße, daß es in 47 Vgl. dazu das Nachwort von Ernst Osterkamp in seiner Anthologie Sizilien. Reisebi/der aus drei Jahrhunderten. Hrsg. v. Krnst Osterkamp. München 1986, S. 361-388, i.b. S. 364 ff. und 382 f.; ferner den Überblick in: PcterJ. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie %u einer Gattungsgeschichte. Tübingen 1990, S. 312-319. 48 Ein Jahr im Orient oder Greichenland unter Offo H., die Türkei unter Abdul-Medschid und Sicilien unter Ferdinand II. Von Alexis Vicomte de Valon. Aus dem Französischen. Zwei Theile. Stuttgart 1854. 49 Die Ergebnisse dieser Reise in den Jahren 1822-24 wurde 1827 in Frankreich publiziert: Ludwig Zahnt/ Jakob Ignaz Hittorf: Architecture antique de la Siälie. Paris 1827. 50 Vgl. dazu Koppelkamm: Der imaginäre Orient, S. 64-72. 51 Vgl. dazu die Studie von Fendri: Kulturmensch in „barbarischer" Fremde.
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dieser Sache sogar zu einer Eingabe in den Wiener Kongreß kam und sich auch der Frankfurter Bundestag bald nach seiner Gründung mit der „Barbaresken-Frage" befassen mußte.52 Neben der wirtschaftspolitischen Aktualität aber trug besonders der Sklavenhandel der maghrebinischen Korsaren dazu bei, daß das Bild des menschenraubenden barbaresken Piraten bereits im 16. Jahrhundert zu einem der produktivsten OrientTopoi der deutschen Literatur und Oper avancierte.53 Eine große Bandbreite von Memoiren-Literatur ehemaliger „Christensklaven" verhalf dieser minimal-literarischen Figuration zu Stabilität und Dauer.54 Noch Goethe schrieb in seinen Tag- und]ahres-Heßen auf das Jahr 1820: In ferne Länder ward mein Anteil hingezogen und in die schrecklichsten afrikanischen Zustände versetzt, durch Dumont in marokkanischer Sclaverei [··-].55
Nicht zuletzt aufgrund dieser engen assoziativen Verknüpfung der Barbaresken-Staaten mit Piraterie wurden die Länder des nordafrikanischen Orients lange Zeit allein als Küstenregionen wahrgenommen. Alle in Westeuropa bekannten Städte des nordafrikanischen Orients waren Küstenstädte.56 Die Architektur dieser Städte wie Tunis oder Algier hatte — wie die spanische — in deutschen Augen „maurische" Gestalt, und auch die Bewohner dieser Regionen traten in der Literatur und bildenden Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts als „Mauren" oder „Mohren"57 auf und wurden mit schwarzer Hautfarbe58 vorgestellt. Dabei verfügten der Begriff „Mohr"
52 Fendri: Kulturmensch in „barbarischer" Fremde, S. 48 ff. 53 Daß es sich dabei durchaus auch um Fremdzuschreibungen handelte, wußte schon der berühmte Orient-Reisende Garsten Niebuhr. Er ließ sich in seinen Beschreibungen der dänischen Orient-Expedition 1761-1767 über die kriegerische Praxis des Menschenhandels bei den christlichen Maltesern aus und beschloß seine Beschreibung Maltas mit den Worten: „Man kann es daher den Mohammedanern nicht verdenken, wenn sie eben das von den Maltesern denken, was wir den Marokkanern, den Algirern [sie], Tunesern und Tripolitanern Schuld geben. Die Barbaren leben doch wenigstens mit verschiedenen christlichen Nationen in Freundschaft, die Malteser Ritter aber mit keinem mohammedanischen." (Garsten Niebuhr: Reisebeschreibung nach Arabien und anderen umliegenden Ländern. Mit einem Vorwort von Stig Rasmussen und einem biographischen Porträt von Barthold Georg Niebuhr. Zürich 1992, S. 64). 54 Ernstpeter Ruhe: „Piraten. Ghristensklaven als Beute nordafrikanischer Piraten. Das Bild des Magreb im Europa des 16.-19. Jahrhunderts". In: ders. (Hrsg.): Europas islamische Nachbarn. Studien spr Literatur und Geschichte des Magreb. Würzburg 1993, S. 159-186. 55 Goethe WA I 36, S. 176. Goethe bezieht sich hier auf den von Jacques Salbigoton Quesne herausgegebenen Lebensbericht des gebürtigen Franzosen Pierre Joseph Dumont, der 34 Jahre in algerischer Sklaverei zugebracht hatte. J. S. Quesne: Histoire de l'esclavage en Afrique (pendant trente quatre ans) de Pierre Joseph Dumont. Paris 1819. 56 Das maghrebinische Binnenland dagegen blieb auch nach der französischen Okkupation von Algier im Jahre 1830 (und eben nicht von „Algerien", wie immer wieder zu lesen) für lange Zeit dem westeuropäischen Blick verschlossen. 57 Auch Heinrich Heine spricht von „Mohren" in diesem Sinne. Vgl. sein Gedicht Der Mohrenkönig. In: Heine G A 3/1, S. 44-46.
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und seine Variante „Maure" zu jener Zeit über eine immense semantische Reichweite. Denn mit „Mohren" konnten zusätzlich zu den Bewohnern Nordafrikas nicht allein die Bewohner des gesamten afrikanischen Kontinents bezeichnet werden, sondern der Begriff war auch als Synonym zu „Muhammedaner" im Gebrauch. Noch Adelung spricht 1808 in seinem Grammatisch-kritischen Wörterbuch unter dem Eintrag „Mohr" davon, man habe erst „in den neueren Zeiten angefangen, die Einwohner des ehemaligen Mauretaniens, oder die gesittetem nördlichen Afrikaner Mauren zu nennen, um sie von den Mohren [...] zu unterscheiden".59 Um die „Zweydeutigkeit" des Wortes aufzulösen, will er unter einem „Mohr" in Zukunft ausschließlich Menschen „von ganz schwarzer Gesichtsfarbe mit krausen wolligen Haaren und dicken aufgeworfenen Lippen" verstanden wissen, „desgleichen die Bewohner des südlichem Afrika am Senegal, in Neu-Guinea und Congo, die Einwohner von Monomotapa, Malabar, Malukka und einigen südlichen Inseln [...], welche auch unter dem Namen der Schwarzen oder Negern bekannt sind." Und auch der Gepflogenheit, „nicht nur alle Muhammedaner in dem südlichen Theile Asiens und auf den Küsten und Inseln des Indischen Meeres, sondern auch die braunen Äthiopier wegen dieser ihrer Gesichtsfarbe Mohren" zu nennen, tritt er sehr bestimmt entgegen und schlägt „Muhammedaner" als korrektere Bezeichnung vor.611 Wie schon der große definitorische Aufwand zeigt, den Adelung bei seinen begrifflichen Ordnungsversuchen treibt, arbeitet er hier gegen ein etabliertes und offenbar auch äußerst sinnfälliges Konzept des „Mohren" an, das für die Frage nach den diskursiven Grenzen des Orients im 19. Jahrhundert von einiger Bedeutung ist. Ein Blick auf die absolutistische Institution der „Hofmohren" und ihre ikonographische Tradition seit dem 18. Jahrhundert macht das deutlich.61 Die schwarzen Domestiken in königlichen oder adeligen Haus- und Hofhaltungen kamen nämlich als Sklaven aus dem subsaharischen Afrika nach Westeuropa, waren also — in Adelungs Terminologie — „Neger".62 Und dennoch trugen sie bei Hofe und in Gesellschaft orientalische Gewänder — Pumphosen oder balkanische Uniformen -, und der Turban war ein konstitutiver Bestandteil ihres 58 Vgl. exempl.: Friedrich de la Motte Fouque: Karl V. Angriff auf Algier. In: Joseph und seine Geige. Kaiser Karl V. Angriff auf Algier. Zwei Novellen von Baron de la Motte Fouque. Potsdam 1815 (Nachdr.: ders.: Sämtliche Romane und Novellenbücher. Hrsg. von Wolfgang Möhrig. Bd. 15. Hildesheim/ Zürich /New York 1989), S. 184 u. 266ff. 59 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Dritter Theil. Wien 1808, Sp. 261 f. 60 Ebd. 61 Vgl. hierzu die materialreiche Darstellung von Eckart Kleßmann: „Der Mohr in der Literatur der Aufklärung". In: Exotische Welten. Europäische Phantasien, S. 236-241. 62 Zum sozial- und imaginationsgeschichtlichen Hintergrund vgl: Peter Martin: Schwarte Teufel, edle Mohren. Mit einem Nachwort von Hans Werner Debrunner. Hamburg 1993.
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Abb. 1: Johann Gottfried Haid nach Johann Nepomuk Steiner: Bildnis des Angela Soliman (Mezzotinto, 44.9 χ 30.7 cm) Wien: Graphische Sammlung Albertina
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Kostüms. Noch heute läßt sich diese (im Laufe der Jahrhunderte semantisch mehrfach transformierte) Ikonographie auf den Produkten der Firma „Sarotti" nachvollziehen, die seit 1918 einen solchen Hofmohren zum Markenzeichen hat.63 Wie problemlos im deutschen Verständnis also Orientalisches mit Afrikanischem koppelbar war, zeigt der Fall des wohl berühmtesten österreichischen Hofmohren Angelo Soliman (1721-1796) besonders eindrucksvoll.64 Als Kindersklave von Ostafrika über Sizilien nach Wien gekommen, stand er lange im Haus des Fürsten Wenzel Lichtenstein in Dienst. Auch als erwachsener Mann trug der „hochfürstliche Mohr" bei Empfängen und gesellschaftlichen Anlässen orientalische Galakleider „die mit echten Knöpfen, Schnüren und Quasten geziert und mit einem goldenen beziehungweise silbernen Gürtel getragen wurden; dazu zwei rotsamtene Turbans und einen türkischen Säbel".65 Und selbst zu der Zeit, als Angelo Soliman bereits zu einer wichtigen Persönlichkeit der Wiener Gesellschaft geworden war66 — 1781 wurde er in die Freimaurerloge „Zur wahren Eintracht" aufgenommen, zu deren Mitgliedern auch Wolfgang Amadeus Mozart, Joseph Haydn und auf Vorschlag Solimans der Geologe und Mineraloge Ignaz von Born zählten67 —, ließ er sich, angetan mit einem Turban, vor einer Landschaft mit Pyramiden und Palmen porträtieren. (Abb. 1) 63 Die Wahl des „Sarotti-Mohrs" zum Markenzeichen der Schokoladenfirma war zunächst einmal pragmatisch motiviert, befand sich doch der Sitz des 1868 gegründeten Unternehmens in der Berliner Mohrenstraße. Gleichwohl ist die Stabilität des orientalistischen Topos „Hofmohr" bemerkenswert, dessen Ikonographie den Wandel vom Absolutismus über die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und den kolonialen Exotismus der Jahrhundertwende bis in unsere Tage unbeschadet überstand. Die in den späten 1960er Jahren laut werdende postkoloniale Kritik am rassistischen Impact des Sarotti-Mohrs hat allein dazu geführt, daß die Figur ihr Tablett und damit ihre Bediensteten-Signatur verlor und seither mit Sternen jongliert. Die Sinnfälligkcit der semantischen Kopplung von Afrika und Orient im Ikon des Sarotti-Mohrs jedoch ist offenbar geblieben. Vgl. Rita Gudermann/ Bernhard Wulff: Der Sarotti-Mohr. Die bewegte Geschichte einer Werbefigur. Berlin 2004. 64 Vgl. die ausführliche Beschreibung in: Wilhelm A. Bauer: Angelo Soliman, der hochftirstliche Mohr. Ein exotisches Kapitel Alt-Wien. Hrsg. u. eingel. v. Monika Firla-Forkl. Berlin 1993 (zuerst erschienen: Wien 1922). Bauer stützt sich in seiner Darstellung auf verschiedene Quellen, u. a. auch auf die Kurzbiographie Solimans - eine Auftragsarbcit der Biedermeierautorin Caroline Pichler (1769-1843) von 1807. Monika Firla-Forkl hat den Text im Anmerkungsteil zu Bauers Darstellung wieder abgedruckt. Vgl. Bauer: Angelo Sohman, S. 112-118. 65 Bauer: Angelo Soliman, S. 48. Hier findet sich auch eine Rechnung für eine solche Galaausstattung abgedruckt. 66 Zu Solimans Integration in die Wiener Gesellschaft vgl. die differenzierte und auf umfangreiches Archivmaterial gestützte Studie von Monika Firla: „Angelo Soliman in der Wiener Gesellschaft vom 18. bis 20. Jahrhundert". In: Gerhard Hopp (Hrsg.): Fremde Erfahrungen. Asiaten und Afrikaner in Deutschland, Österreich und der Schweig bis 1945. Berlin 1996,5.69-95. 67 Firla: Angelo Soliman in der Wiener Gesellschaft, S. 75-80.
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Daß ihn seine gesellschaftliche Stellung indes nicht davor bewahrte, nach seinem Tod — auf kaiserlichen Befehl und trotz Intervention seiner Tochter sowie des Erzbischöflichen Konsistoriums - ausgestopft und im k.k. Naturalienkabinett zu Wien ausgestellt zu werden,68 wird im Laufe dieses Kapitels noch Thema sein. In der hier zur Verhandlung stehenden Sache ist zunächst der Umstand entscheidend, daß der von Adelung beschriebenen semantischen Streukraft des Begriffs „Mohr" offenbar eine enge ikonographische Verbindung zwischen den Konzepten Afrika' und ,Orientc korrespondierte und es aufgrund dieser Verbindung im 18. und 19. Jahrhundert möglich war, sowohl das gesamte Afrika als orientalisch zu imaginieren, als auch den Orient als afrikanisch zu denken. In dem Gedicht Der Mohr und der Weiße, in dem Magnus Gottfried Lichtwer Mitte des 18. Jahrhunderts einen Schönheitswettstreit zwischen einem Schwarzen und einem Weißen beschreibt und den Richter schließlich den Weißen zum Schöneren erklärt, heißt es: „Als nun das Weiße Recht behielt,/ Da sprach das schwarze Kind der Mohren:/ Du siegst, ich habe hier verspielt,/ In Tunis hättest du verloren!"69 Diese Gleichsetzung Afrikas mit dem orientalischen Nordafrika wurde zudem gestützt durch die - im Bildungskanon des 18. und 19. Jahrhunderts omnipräsente — römische Geschichte, besonders die Punischen Kriege des 3. Jahrhunderts v. Chr. und die nachfolgende Einrichtung der afrikanischen Provinzen. Noch Hegel nimmt darauf Bezug, wenn er in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte von Afrika spricht als jenem „nördlichen Teil von Afrika, der vorzugsweise der des Ufergebietes genannt werden kann [...], ein herrlicher Erdstrich, auf dem einst Karthago lag, wo jetzt Marokko, Algier, Tunis und Tripolis sind."70
68 Dazu ausführlich: Gabriele Schuster: „Der ,Mohr' als Schauobjekt im k.k. Naturalienkabinett Wien". In: Hopp (Hrsg.): fremde Erfahrungen, S. 97-107. 69 Das Gedicht ist abgedruckt in Erzählungen für junge Damen und Dichter. Hrsg. v. Wilhelm Heinse. Lemgo 1775, S. 156f., hier zit. nach: Kleßmann: Der Mohr in der Literatur der Aufklärung, S. 239 f. Hervorh. v. mir. 70 Georg Wühelm Friedrich Hegel: Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ed. Ausgabe. Red. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Frankfurt a. M. 41994, S. 121. Die starke Akzentuierung der Städte jener Regionen — anstelle etwa der Landschaft — ist nicht allein Hegels geschichtsphilosophischer Perspektive geschuldet, sondern hat darüber hinaus auch interdiskursiven Rückhalt. Das Neue Rheinische Conversations-Lexicon etwa führt sogar die städtische Kultur als Distinktionsmerkmal für die „Mauren" an und schreibt: „Vorzüglich nennt man so die Bewohner der Städte, die sich nur durch ihre Ansäßigkeit von nomadisierenden Arabern unterscheiden." (Art. „Mauren". In: Neues Rheinisches Conversations-Lexicon oder enyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände. Hrsg. v. einer Gesellschaft rheinländischer Gelehrten. In zwölf Bänden. Bd. 8. Köln 31834, S. 307).
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Es bleibt also festzuhalten, daß sich im 18. und 19. Jahrhundert die Konzepte ^Afrika' und ,Orient' zum Teil überlappten, in einigen diskursiven Zusammenhängen sogar zur Deckung gebracht werden konnten.71 Die nordafrikanischen Länder und ihre „maurischen" Bewohner fungierten dabei als ebenso wichtiges semantisches, historisches und ikonographisches Bindeglied wie für die Anbindung Spaniens an das Konzept des Orients. Und noch zwei weitere, für die Konstitution des Morgenlandes der vergangenen Jahrhunderte mindestens ebenso wichtige, innerorientalische Verwandtschaftslinien verliefen durch die Regionen Nordafrikas und verbanden sie mit den Ländern zwischen Mittelmeer, Rotem Meer und Persischem Golf. So selbstverständlich wir heute diese Landstriche als Teil des Orients begreifen, so vertraut sind uns auch die verbindenden Merkmale. Denn wie schon die Konversationslexika des 19. Jahrhunderts mitzuteilen wußten, waren die Mauren nicht allein Afrikaner sondern auch „Muhammedaner" und Araber.72 Als Araber gehörten sie einem Volk an, das auf kaum einer virtuellen Karte des Morgenlands im 18. und 19. Jahrhundert fehlte. Sein Stammland war auch in der Ordnung der kulturellen Dinge jener Zeit die arabische Halbinsel — in damaliger Terminologie „Arabien"73 — mit Mekka und Medina, den heiligen Stätten des Islam und dem mythischen „Arabia felix", dem Jemen. Wie in der Gegenwart begriff man vor zweihundert Jahren zudem die Bewohner Ägyptens, Palästinas, des Libanons, Syriens und des Zweistromlandes als Muslime und als Araber, auch wenn letzteres weit weniger selbstverständlich war als es heute ist. Denn die arabo-islamische Eroberung der Regionen fand zwar bereits in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts n. Chr. statt,74 doch staatspolitisch betrachtet gehörte das, was wir heute den „Nahen und Mittleren Osten"
71 Auch Mounir Fendri hat die Austauschbarkeit der Begriffe .Afrika' und .Orient' bemerkt. Vgl. Fendri: Kulturmensch in „barbarischer" Fremde., S. 99 ff. 72 Vgl. Art. „Mauren". In: Neues Rheinisches Conversations-Lexicon oder enyc/opärlisches Handwörterbuch fürgebildete Stände, Bd. 8, S. 307. Hier werden zusätzlich zu den Arabern auch die „Berbern" als Einwohner der Länder genannt. Bereits Garsten Niebuhr hat diese Differenzierung vorgenommen, wenn er über die Bewohner Kairos schreibt: „Die größte Anzahl der Einwohner zu Kahira besteht aus Arabern, Türken und anderen Mohammedanern aus allen Provinzen des türkischen Reiches. Dazu kommen noch Maghrebiner oder Araber aus der Barbarei [...]." (Niebuhr: Reisebeschreibung nach Arabien und anderen umliegenden Ländern, S. 139). 73 Dies ist auch die Bezugsgröße Niebuhrs, wenn er seinen Reisebericht betitelt mit: Reisebeschreibung nach Arabien und anderen umliegenden Ländern. 74 Vgl. dazu den Beitrag Albrecht Noth: „Früher Islam". In: Geschichte der arabischen Welt. Begründet v. Ulrich Haarmann, hrsg. v. Hans Halm. Vierte, überarb. u. erw. Aufl. München 2001, S. 11-100, i.b. das Kapitel: „Die arabisch-islamische Expansion" (S. 58-73); ferner die ausführliche Zeittafel in Gerhard Endreß: Der Islam. Eine Einftihrungin seine Geschichte. Zweite, überarb. Aufl. München 1991, S. 190-246.
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nennen,75 vom Beginn des 16. Jahrhunderts an zum Osmanischen Reich,76 war im 18. und 19. Jahrhundert zunächst also ebenso „türkisch" wie Kleinasien oder der Balkan. Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen allerdings existierten zu jener Zeit tatsächlich zwei historische Figurationen, in denen Araber und nicht „Türken" über jene Länder zwischen Nil und Tigris herrschten. Die eine historische Figuration war über die Märchen der Tausendundeinen Nacht vermittelt, die im Laufe des 18. Jahrhunderts als „arabische Erzählungen"77 oder „arabische Mährchen"78 auch in Deutschland „[...] zum Volksbuche geworden" waren.79 Diese Erzählungen hatten nämlich in Bagdad, Basra, Damaskus und Kairo ihre prominentesten Schauplätze,80 die mit der Blütezeit der arabo-islamischen Großreiche (7. bis 9. Jahrhundert n. Chr.) und hier vor allem dem Abbasidenkalif Harun al-Raschid assoziiert wurden.81 Der zweite arabische Topos stand in enger Verbindung mit der deutschen Mittelalter-Renaissance auf der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, im Zuge derer sich Kreuzzugsszenarien in Literatur und Oper besonderer Beliebtheit erfreuten.82 Die in diesem Zusammenhang vorgestellten Araber 75 Diese Begriffe existieren im 18. und 19. Jahrhundert nicht. 76 Vgl. dazu die differenzierte Zeittafel in: Josef Matuz: Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte. Darmstadt 31996, S. 285-310. 77 Dies galt bereits für die deutschen Übersetzungen aus dem Französischen, die für ein Jahrhundert den deutschen Markt bestimmten: Die tausend und eine Nacht arabische ErZählungen ins Französische übersetzt von dem Herrn Anton Gotland, Mitglied der Akademie der schönen Wissenschaften in Paris, und Lehrer der arabischen Sprache beim königlichen Kollegium. Aus dem Französischen übersetzt von Johann Heinrich Voß. 6 Bde. Bremen 1781-1785. 78 Die Tausend und eine Nacht. Arabische Mährchen. Aechte Fortsetzung. Aus dem Arabischen ins Französische übersetzt und herausgegeben von den Herren Don Denis Chavis und Cazotte. Erster Theil. Gotha 1790. 79 So heißt es im Vorwort der Herausgeber zur ersten deutschen Übersetzung der Märchen aus dem Arabischen: Tausend und Eine Nacht. Arabische Erzählungen. Zum erstenmal aus einer Tunesischen Handschrift ergänzt und vollständig übersetzt von Max. Habicht, F. H. von der Plagen und Karl Schall. Erstes Bändchen. Breslau 1825, S. III. 80 Die Prominenz dieser Städte in der Tausendundeinen Nacht ist so groß, daß Enno Littmann davon Abstand nimmt, sie in das Namensverzeichnis seiner Übersetzung aufzunehmen. Vgl. Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten. Vollständige deutsche Ausgabe in sechs Bänden zum ersten Mal nach dem arabischen Urtext der Calcuttaer Ausgabe aus dem Jahre 1839 übertragen von Enno Littmann. Frankfurt a. M. 1988, Bd. 6, S. 739. 81 Littmann verzeichnet in seinem Index allein zwanzig Geschichten der Tausendundeinen Nacht, in denen Harun al-Raschid als Protagonist auftritt, zehn weitere, in denen sein Name zumindest genannt ist. Vgl. Littmann: Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten, Bd. 6, S. 750. 82 Wichtige Bildspender waren hier u. a. Torquato Tassos La Gerusalemme Uberta (autoris. veröffentl. 1581), darin vor allem die Geschichte von Rinaldo und Armida, die bereits seit dem frühen 18. Jahrhundert den Stoff für berühmte Opernbearbeitungen (u. a. von Georg Friedrich Händel, Jean-Baptiste Lully und Willibald Gluck) lieferte; ferner
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firmierten dabei als Gegner der westeuropäischen Kreuzritter, und zwar unter dem Begriff „Sarazenen", der im engeren Sinne die Araber im Westen der arabischen Halbinsel bezeichnete.83 So läßt etwa Friedrich de la Motte Fouque in seinem Ritterroman Der Zauberring (1812) Kreuzfahrer die deutsche Heimat mit dem folgenden Lied auf den Lippen verlassen: Sarazene, mußt nicht wetzen Dein gebognes Schwert; Sarazene, magst dich letzen Mit dem eignen Herd. Mußt nun bald von hinnen! Magst dir wohl gewinnen Tief in Asia neues Land; Vom gelobten wirst verbannt.84
Allerdings war der Begriff „Sarazene" auch als pars pro toto für alles Arabische und alles „Mohammedanische" in Gebrauch85 und fungierte somit innerhalb des Orient-Konzepts der Zeit, ganz ähnlich wie die Termini „Mauren" und "Mohren", als semantischer Multiplikator. Dank der semantischen Assoziationsbreite des „Sarazenischen" und dank besagter historischer Topoi konnten die Gebiete zwischen Mittelmeer, Rotem Meer und Persischem Golf Mitte des 18. Jahrhunderts also — trotz der bereits 250 Jahre währenden osmanischen Herrschaft — auch noch als arabische Regionen wahrgenommen werden und gehörten insofern gleich zweifach dem Orient an. Das dritte Merkmal, welches die Länder des Nahen und Mittleren Ostens zu Morgenländern machte, war die Religion — genauer: die Religioni». Denn obwohl besonders im Kontext der Kreuzzugsszenarien der Aspekt des Islamischen eine starke Akzentuierung erfuhr und sich zu jener Zeit zudem eine Reihe von deutschsprachigen Mohammed-Dichtungen verzeichnen lassen,86 spielt der Islam in der Gesamtkonstitution des ,Ori-
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die 1782-86 erschienene Sammlung: J.KA. Musäus: Volksmärchen der Deutschen. München 1961, darin i.b. die Sage: Melechsala (S. 657-744); der 1813 erschienene Roman von Friedrich de la Motte Fouque: Der Zauberring, und nicht zuletzt Sir Walter Scotts historischer Ritterroman Ivaaboevon 1819. Vgl. Art.: „Sarazene, Sarrazene". In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 8. Bearb. unter der Leitung v. Dr. Moriz Heyne. Leipzig 1893, Sp. 1197. Hier heißt es, dies sei der mittelalterliche Name „von den heidnischen bewohnern des morgenlandes, mit denen die Kreuzfahrer zu kämpfen hatten, dann aber auch von anderen heidnischen Völkern [...]." Friedrich de la Motte Fouque: Der Zauberring. Ein Ritterroman. München 1984, S. 10. Art. „Saracenen". In: Neues Rheinisches Conversations-lexicon. Bd. 10 (1835), S. 396. So z.B. das 1799 von Goethe ins Deutsche übertragene und bearbeitete Trauerspiel Voltaires Le Fanatisme OH Mahomet le Prophete oder Karoline von Günderrodcs DramenFragment Mahomed, der Prophet von Mekka (1805). Für weitere Beispiele vgl. die Zusammenschau in Bahlke: Orient und orientalische Literaturen, S. 829 f.
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entalischen' im 18. und 19. Jahrhundert insgesamt nur eine untergeordnete Rolle. Und das hatte zwei gewichtige Gründe: Zunächst war diese Religion, gemessen an den Parametern des orientalistischen Diskurses jener Zeit, viel zu jung, um für den gesamten Orient stellvertretend stehen zu können. Denn der deutsche Orient war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur ein historischer, sondern sogar ein antiker, wo nicht gar ein vorzeitlicher Raum. Das galt auch für die Regionen des Nahen Ostens. Nicht allein Herder87 sah hier den „Ursprung"88 der Menschheit, nicht allein sein Orient war von den Völkern des Alten Testaments bewohnt, von Hebräern, Phöniziern,89 Babyloniern und den Alten Ägyptern.90 Vielmehr waren die Völker dieser Frühzeit, ihre Sprachen und Religionen, die zentralen Gegenstände der frühorientalistischen Forschung in Deutschland, die sich im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der historisch-kritischen Bibelwissenschaft und der Altertumswissenschaft heraus entwickelte (s.u. Kap. 4.2).91 Selbst die sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erneut verstärkende Suche nach den Ursprüngen der Sprache sowie die Pfade der um 1800 entstehenden Mythen- und Symbolgeschichten führten in den Orient als dem Geburtsland der Zivilisation (s.u. Kap. 4.3). Und schließlich hatte auch ein überwiegender Teil der realen Reisen in den nahöstlichen Orient den Charakter einer „Antikenpilgerschaft"92 und führte letztlich weniger in ferne Länder als vielmehr in die kulturgeschichtliche Vergangenheit. So war die orientalische Urzeit ein Topos, der auch im damaligen All tags Verständnis eine große Präsenz besaß; im Rheinischen Conversations-lexicon von 1835 heißt es noch: In der Geschichte der Cultur verknüpft man mit dem Worte Orient den Begriff von einer geheimnisvollen Größe, Majestät und Ruhe, welche über dem Grabe der Urzeit schweben, aus welcher mit dem Priesterthume und der Patriarchenwürde die geistige Entwicklung des Menschen mitten unter den erhabensten und den furchtbarsten Erscheinungen des Völkerlebens hervorging.93
Gemessen am historisch kaum mehr faßbaren Alter dieses Morgenlands war die Entstehung des Islam ein Ereignis der Moderne. Und so fanden 87 Johann Gottfried Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. In: Herder SW 6 (l .-3. Teil), S. 193-530; 7 (4.Teil), S. 1-172 (1774/1776). 88 Herder SW 6, S. 287. 89 Herder SW 6, S. 424 ff. 90 Herder SW 6, S. 325 ff. 91 Vgl. dazu Dominique Bourel: „Die deutsche Orientalistik im 18. Jahrhundert. Von der Mission zur Wissenschaft". In: Henning Graf Reventlow/ Walter Span/ John Woodbridge (Hrsg.): Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung. Wiesbaden 1988, S. 113-126. 92 Vgl. dazu das kurze Kapitel „Der Nahe Osten: Antikenpilgerschaft" in Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens, S. 103-108. 93 Art. „Orient". In: Notes Rheinisches Conversations-lexicon. Bd. 19 (1835), S. 47.
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sich in frühorientalistischen Publikationsorganen wie dem Neuen Repertonum für biblische und Morgenländische Utteratur** zwar auch Beiträge zu araboislamischen Themen. Doch standen die entsprechenden Studien - wie etwa zum „Alter der arabischen Vocalpuncte und diakritischen Zeichen"95 oder der Abdruck eines arabischen Pilgerreiseberichts von Bagdad nach Mekka96 — in direkter Nachbarschaft zu althistorischen Arbeiten über die hebräische Tonkunst97 und Proben aus altsyrischen98 oder den samaritanischen99 Chroniken. Daß im 18. und 19. Jahrhundert der Islam zwar ein Teil des Konzepts jOrient* war, aber keineswegs die semantische Klammer aller orientalischen Völker und Regionen bildete, ist indes nicht allein seiner kulturgeschichtlichen Jugend geschuldet. Auch geographisch übersteigen die Weltregionen, die zu jener Zeit zum Morgenland gerechnet wurden, sowohl die zeitgenössischen als auch die historischen Verbreitungsgebiete des Islam bei weitem. Denn der ,Orient' umfaßte neben den Türken, Arabern und Persern auch Indien, die Mongolischen Reiche, China und sogar Japan. Schon Herder schreibt in seinem Journal meiner Reise, ,,[d]aß es Völker in Orient gebe, von denen man lernen müsse. Persien, Assyrien, Ägypten, China, Japan"100, Hegel unterteilt in den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte 1822/23 „Die Orientalische Welt" in „China", „Indien", „Persien" und „Ägypten",101 und in der Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste aus den Jahren 1818-89 beginnt der Artikel „Orientalische Studien, Literatur, Hülfsmittel" mit dem folgenden Umriß des Forschungsfeldes: Fragen wir zunächst nach dem Gebiete der orientalischen Literatur, durch welche notwendigerweise auch der Umfang ihrer Studien bedingt ist, so umfaßt es alle Hauptvölker Asiens und Afrika's, die schriftliche in den sogenannten orientalischen Sprachen verfaßte und uns erhaltne Denkmäler aufzuweisen haben.102
94 Neues Espertorium für biblische und Morgenländische iJtteratur. Herausgegeben von M. Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, der Philosophie und der Orientalischen Sprachen Professor zu Jena. Irrster Theil u. Zweyter Theil. Jena 1790. 95 Paulus: Neues Rtpertorium, 2. Theü, S. 247-273. 96 Paulus: Neues Repertorium, 2. Theil, S. 40-81. 97 Paulus: Neues Repertorium, 1. Theil, S. 160-192, fortges. im 2. Theil, S. 81-197. 98 Paulus: Neues Repertorium, 1. Theil, S. 1-117. 99 Paulus: Neues Repertorium, 1. Theil, S. 117-160. 100 Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. In: Herder W l, S. 330f. 101 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Berlin 1822/23. Nachschriften von Karl Gustav Julius von Griesheim, Heinrich Gustav Hotho u. Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler. Hrsg. v. Karl Heinz Ilting, Karl Brehmer und Hoo Nam Seelman. Hamburg 1996 (= ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 12), S. 121-314. 102 Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet und herausgegeben von ]. S. Ersch und J. G. Gruber. Mit Kapfern und
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Das Neue Rheinische Conversation-Lexicon schließlich setzt den Orient sogar mit Asien gleich und schreibt: „Wir Europäer verstehen im Allgemeinen unter dem Oriente die Länder Asiens."103 Auch zu den „orientalischen Sprachen" steht dort zu lesen: Im gemeinen Leben versteht man unter der Benennung orientalische Sprachen die Sprachen Asiens ohne Unterschied, persische, arabische, türkische, hebräische, chinesische, armenische, koptische etc.104
Die hier vorgenommene Überblendung von ^Asiatischem' und ,Orientalischem' macht explizit, was sich in zahllosen anderen Texten als synonymer Gebrauch der Begriffe ,Asien' und ,Orient' niederschlägt.105 Das ist nicht allein aufgrund des Umstands bemerkenswert, daß — wie schon gesehen - der Orient Regionen mit einschloß, die in Europa und Afrika lagen, sondern auch angesichts der Tatsache, daß zu jener Zeit mit Rußland ein asiatisches Reich existierte, das keine orientalische Signatur trug. Die russische Sprache fiel nicht unter die Kategorie der orientalischen Sprachen, und seit dem Aufstieg des russischen Reiches zum gobal player'vn\ frühen 18. Jahrhundert unter Peter dem Großen wurde Rußland ganz selbstverständlich zu den abendländischen Mächten gezählt.106 Abgesehen vom russischen Reichsgebiet aber deckte der Orient des 18. und 19. Jahrhunderts so weite Teile Asiens ab, daß er tatsächlich in seiner Gänze — einschließlich seiner afrikanischen und europäischen Regionen — als asiatisch vorgestellt werden konnte und vice versa. Fürst von Pückler Muskau jedenfalls verwendet die Begriffe ,orientalisch' und ,asiatisch' synonym, wenn er in einer kultur-typologisch äußerst aufschlußreichen Passage seines Ägypten-Reiseberichts die Physiognomie und Gestalt einer jungen Frau beschreibt, der er auf einem Empfang westeuropäischer Konsuln in Giseh bei Kairo begegnet. Noch auffallender ist Herrn Bonforts Cousine, Mademoiselle Maritza. Dies ist ein mehr als gewöhnlich reizendes Geschöpf, in deren lieblicher Erscheinung man schon jene uns erst bevorstehende Vereinigung des Orients mit dem Westen verkörpert zu sehen glaubt - denn asiatisch ist die Üppigkeit und das vollkommene Ebenmaß ihrer Gestalt, ihr kohlschwarzes Haar und die brennenden Augen; europäisch der feine Mund, der tief denkende Ausdruck, der fühlende, seelenvolle Blick, der Chartea. Leipzig 1818-89 (Nachdr.: Graz 1969ff). Dritte Section, Fünfter l'heil: Art. „Orientalische Studien, Literatur, Hülfsmittel", S. 194-245, hier: S. 194. 103 Art. „Orient". In: Neues Rheinisches Conversations-Lexicon. Bd. 9 (1835), S. 47. 104 Art. „Orientalische Sprachen". In: Neues Rheinisches Conversations-Lexicon. Bd. 19 (1835), S. 47. 105 Auch Jürgen Osterhammel diagnostiziert, daß zum Konzept .Asien' „auch der islamische Vordere Orient bis hinauf zum osmanisch beherrschten Balkan und westlich bis zu Ägypten oder gar Marokko" gehörte und kommt zu dem Schluß: „Wer von Asiaten sprach, meinte am Ende des 18. Jahrhunderts fast immer auch Türken, Araber und Perser." (Osterhammel: Die Entzauberung Asiens, S. 31). 106 Vgl. dazu Osterhammel: Die Entzauberung Asiens, S. 43-46.
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melodische Ton der Stimme und in Heiterkeit wie Schmerz der unverkennbare Stempel eines innigen Gemüts.107
Mit dieser Gleichsetzung der Konzepte steht Pückler-Muskau in einer direkten Traditionslinie der Erdteilallegorien des 17. und 18. Jahrhunderts. Schon hier ist die Darstellung Asiens als orientalische Figur, mit Turban und Pantoffeln bekleidet und in reiche Damast- und Seiden-Stoffe gehüllt, eher die Regel als die Ausnahme. (Abb. 2, S. 87) Wenn Herder also, wie oben zitiert, von den Spaniern als „europäischen Asiaten" spricht, dann ist diese kontinentale Grenzverschiebung kein diskursiver Fauxpas, sondern folgt der topologischen Ordnung des Sinnkonzepts ,Orientc seiner Zeit. Trotz der groben Linienführung bei diesem Versuch, das Gebiet des Orients im 18. und 19. Jahrhundert zu skizzieren, zeichnen sich doch die Umrisse dieses Meta-Kulturraumes in ihrer ganzen Großzügigkeit bereits jetzt ab: Das Morgenland begann zu dieser Zeit östlich von Wien und südwestlich von Toulouse, reichte über die west- und nordafrikanische Küste bis Ägypten und hinunter nach Äthiopien, umfaßte den Nahen und Mittleren Osten, Griechenland und den gesamten Balkan, Kleinasien, Persien, Indien, Indonesien, Japan und China. Zusätzlich war der Orient mit den Konzepten .Asien' und .Afrika' verbunden; und zwar durch diskursive Achsen, entlang derer sich Länder und ganze Kontinente so verschieben ließen, daß die Bewohner der arabischen Halbinsel als afrikanisch und die Spanier als asiatisch vorgestellt werden konnten.
2.3 Die Ordnung Ebenso bemerkenswert wie der geographische Umfang des Orients jener Zeit erscheint die Vielfalt der Kategorien und Charakteristika, über die sich dieser Raum als orientalischer Raum konstituierte und von denen die wenigsten selbst räumlicher Natur sind. Bereits der erste Rundgang durch die morgenländischen Gefilde des 18. und 19. Jahrhunderts hat sich eher als orient-topologische Wanderung gestaltet denn als Streifzug durch eine morgenländische Topographie. Sogar die Kategorie der orientalischen „Länder" knüpfte sich nicht an Landschaften, sondern an gegenwärtige wie vergangene Völker und Reiche und war somit keine allein geographisch fixierbare Größe. Die einzige tatsächlich rein topographische Figuration, die eine orientalische Konnotation trug, war die Wüste; zumindest in Kontexten, wo sie nicht - wie das Meer — als Nicht-Ort fungierte.1"8 107 Pückler-Muskau: Aus Mehemed Alis Reich, S. 205f. (Hervorh. v. mir). 108 Ausführlich dazu: Uwe Lindemann: Die Wüste — Terra incognita, Erlebnis, Symbol. Eine Genealogie der abendländischen Wüstenvorstellungen in der Uteratur von der Antike bis %ur Gegenwart. Heidelberg 2000.
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Zumal ausgestattet mit einer Palme oder kleinen Oase, konnte die Wüste als bloße Landschaft das Morgenland aufrufen. Noch Karl May arbeitet mit diesem assoziativen Potential, wenn er den ersten Band seines OrientZyklus' mit Durch die Wüste übertitelt109 und dabei offenbar darauf vertraut, daß seine Leser mit dieser Landschaft den Orient und nicht Nevada assoziieren. Doch tritt die Wüste in konkreten ikonographischen oder literarischen Zusammenhängen selten als einziger orientalischer Marker auf, sondern zumeist in Kombination mit anderen — sei es mit architektonischen Versatzstücken wie den Pyramiden im Hintergrundbild des SolimanPortraits (Abb. l, S. 76), mit biblischen Motiven oder dem Topos der stolzen und freien arabischen Beduinen, der sich von den Märchen Wilhelm Hauffs110 über die Gedichte Ferdinand Freiligraths bis hin zur OrientTrilogie Karl Mays111 verfolgen läßt. Freiligrath verbindet in seiner OrientDichtung sogar arabische und biblische Topoi zu Wüsten-Figurationen, die mühelos mehrere Jahrtausende transzendieren. So beginnt sein 1836 veröffentlichtes Gedicht War' ich im Bann von Mekkas Toren mit den Versen: War' ich im Bann von Mekkas Toren, War" ich auf Yemens glühndem Sand, War' ich am Sinai geboren, Dann fuhrt' ein Schwert wohl diese Hand; Dann zog' ich wohl mit flücht'gen Pferden Durch Jethros flammendes Gebiet! Dann hielt' ich wohl mit meinen Herden Rast bei dem Busche, der geglüht;112
Hier sind auf eine topographische Fläche zwei religionsgeschichtliche Kontexte übereinander projiziert, zwischen denen gut 2000 Jahre liegen: die Geschichte von Jethro — Schwiegervater des Moses und Priester der Midianiter, die in altorientalischer Zeit den südlichen Sinai und nördlichen Hijaz bevölkerten (Ex 2,16 ff.) — und das islamische Mekka. Textlich zusammengehalten von einer durchlaufenden Semantik des Feuers („Yemens glühendem Sand" — „Jethros flammendes Gebiet" — „dem Busche, der geglüht"), fügen sich die Teile zu einem Imago der orientalischen Wüste zusammen, deren geographische Implikationen deutlich von ihren völkerund religionsgeschichtlichen Belegungen dominiert werden. 109 Durch die Wüste. Reiseerzählung von Karl May (Karl May's Gesammelte Werke, Bd. 1). Hrsg. v. Dr. K. A. Schmid. Bamberg 1952. 110 Vgl. Kap. 7 dieser Arbeit. 111 Zu Karl Mays Orientzyklus vgl. die Beiträge in dem Band: Dieter Sudhoff/ Hartmut Vollmer (Hrsg.): Karl Mays Onentyklus. Paderborn 1991. 112 Freiligralhs Werke in sechs Theilen. Hrsg. u. mit Einl. u. Anm. versehen v. Julius Schwering. Erster Theil: Gedichte 1838 - Zwischen den Garben. Hrsg. u. m. einem Lebensbild versehen von Julius Schwering. Berlin/ Leipzig/ Wien/ Stuttgart [1909] (Nachdr.: Hildesheim/ New York 1974), S. 23f.
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Abb. 2: Bernhard Picart: Allegone der Erdteile Afrika, Asien undAmenka Kupferstich Berlin: SMPK Kupferstichkabinett
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Was in diesem Beispiel ebenfalls aufscheint, ist die kulturhistorische Mehrfachcodierung morgenländischer Regionen, die sich im 18. und 19. Jahrhundert durchgehend beobachten läßt, und die eine eindeutige Zuordnung von Landstrichen zu Völkern oder gar zu Ländern von vorne herein ausschloß. So wie Freiligraths Sinai mosaisch und gleichzeitig arabo-islamisch war, konnte auch Ägypten zugleich als Land der Pharaonen, als Heimat der Sarazenen und als osmanische Provinz vorgestellt werden,113 Konstantinopel als Hauptstadt des Byzantinischen und des Osmanischen Reiches, Persien als Gegner der Griechen in den Kriegen des 5. Jahrhundert v. Chr. und als Safawidisches Reich der Frühen Neuzeit etc. Mit diesen vergangenen oder gegenwärtigen Völkern und Reichen verbanden sich unterschiedliche Sprachen, Literaturen, Bauweisen, Religionen und kulturelle Praktiken, wurden Staats-, Herrschafts- und Repräsentationsformen assoziiert, die sich ebensowenig wie die morgenländischen Regionen eindeutig zuordnen ließen: Der Islam etwa hatte aufgrund seiner Entstehungsgeschichte, der Sprache des Koran und der geographischen Lage der Heiligen Stätten eine arabische Belegung, wurde aber gleichzeitig — und rezeptionsgeschichtlich etablierter - als Religion der „Türken" wahrgenommen,114 Pagoden mit Kuppeldächern konnten als maurische ebenso wie als indische Architektur aufgefaßt werden. Für die semiotische Konstitution des Orients nicht weniger bedeutsam waren die Materialien, Lebens- und Genußmittel, die seit dem frühen 17. Jahrhundert über die Holländische „Vereenigde Oostindische Compagnie", die „British East India Compagny" und seit Mitte des Jahrhunderts auch über die französische „Compagnie de Madagascar" aus den südlichen und östlichen Ländern nach Westeuropa importiert wurden. Aus China und Japan, der arabischen Welt, Indien und Persien wurden Luxusgüter wie Seide und Damast, Tapeten, Teppiche und Porzellan,115 Gewürze wie Pfeffer, Zimt, Safran, Nelken und nicht zuletzt Kakao, Tee und Kaffee importiert - letzteres über die namensgebende südarabische Hafenstadt Mocha („Mokka"). Und obwohl diese Güter zunächst an den Höfen, 113 Vgl. dazu die Beschreibung des Fürsten von Pückler-Muskau von Alexandria und Umgebung, die er sogar noch mit der Geschichte Alexanders des Großen anreichert: Pückler-Muskau: Aus Mehemed Alis Reich, S. 30ff. 114 Auch die meisten der im 18. Jahrhundert zur Mode gewordenen loscheebauten in deutschen Hofgärten waren an osmanischen Vorbildern — insbesondere der Hagia Sofia und der Sultan-Ahmed-Moschee in Konstantinopel - orientiert, und die Arrangements wurden entsprechend „Türkischer Garten" genannt. Vgl. das Kapitel „Die Moschee im Garten. Orientalische Phantasien des achtzehnten Jahrhunderts". In: Koppelkamm: Der imaginäre Orient, S. 28-39. 115 Vgl. dazu Rolf Bothe: „Der Einfluß Chinas auf europäische Textilien und Tapeten". In: China und Europa. Chinaverständnis und Chinamode im 17. und 18. Jahrhundert. Ausstellung vom 16. September bis 11. November 1973 im Schloß Charlottenburg, Berlin. Hrsg. v. der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten. Berlin 1973, S. 108-115.
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dann auch in bürgerlichen Kontexten rasch Verbreitung fanden — Kaffee, Tee und Schokolade revolutionierten die westeuropäische Getränkekultur grundlegend, die bis weit in die frühe Neuzeit hinein nur kalte Getränke kannte116 —, war ihre orientalische Konnotation über eine lange Zeit hinweg noch aktualisierbar. Selbst als im 19. Jahrhundert das Kaffeetrinken längst zu einer auch unter Frauen verbreiteten bürgerlichen Praxis geworden war, konnte der morgenländische Charakter des Getränks noch realisiert werden. So berichtet Heinrich Heine in seinen Reisebildern aus dem Harz, wie ihn nach kontemplativer Betrachtung des Sonnenaufgangs am Brocken die Frühstückslust packt und er sich auf den Weg macht, in der warmen Stube Kaffee zu trinken. Es tat not; in meinem Magen sah es so nüchtern aus wie in der Goslarschen Stephanskirche. Aber mit dem arabischen Trank rieselte mir auch der warme Orient durch die Glieder, östliche Rosen umdufteten mich, süße Bulbullieder erklangen, die Studenten verwandelten sich in Kamele, die Brockenhausmädchen, mit ihren Congrevischen Blicken, wurden zu Huris, die Philisternasen wurden Minaretts usw. Das Buch, das neben mir lag, war aber nicht der Koran. Unsinn enthielt es freilich genug. Es war das sogenannte Brockenbuch, worin alle Reisende, die den Berg erstiegen, ihre Namen schreiben und die meisten noch einige Gedanken und, in Ermangelung derselben, ihre Gefühle hinzunotieren.117
Bei aller ironischen Überzeichnung zeigt die Textpassage doch, wie widerstandslos noch in den 1820er Jahren eine orientalische Szenerie um den Genuß der allmorgendlichen Tasse Kaffe herum imaginierbar war. Zusätzliche Manifestation erfuhr die orientalische Konnotation des Getränks schließlich durch den Bau von Stadt- oder Gartencafes in orientalisierendem Stil, der sich in Deutschland bis ins späte 19. Jahrhundert hinein verzeichnen läßt.118 Ein Grund für die große Resistenz der morgenländische Signatur dieser Importgüter gegen die europäische Aneignung und zunehmende Normalität ihres Gebrauchs mag auch in dem Umstand zu finden sein, daß in bestimmten Gebrauchskontexten verschiedene dieser Güter stets zusammen auftraten. So trank man Kaffee, Tee und Schokolade in höfischen wie bürgerlichen Kreisen Westeuropas von Anfang an aus Porzellantassen, wäh116 Vgl. dazu den kurzen Abriß im Ausstellungskatalog von Peter Albrccht: Kaffee. Zur Soqialgeschichte eines Getränks. Hrsg. v. Braunschweigischen Landesmuseum. Braunschweig 1980, S. 36 ff. 117 Heinrich Heine: Die Har^reise. In: Heine GA 5, S. 50. Die beiläufige Verbindung des Korans mit „Unfug", die Heine hier herstellt, ist nicht als religiöses Urteil '/.u werten, sondern sie spielt eine kompositorische Eigenart dieses Textes an, die im 19. Jahrhundert bereits zum Literarischen Topos geronnenen war: seinen nicht-linearen Aufbau, das Fehlen einer narrativen Sukzession. So diagnostizert Diethelm Balkc für die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts: „Koran wird Metapher für einen nicht kongruenten Inhalt". Vgl. Diethelm Balke: Orient und Orientalische Literaturen, S. 829. 118 Vgl. dazu das Kapitel „Cafe Turc" in: Koppclkamm: Der imaginäre Orient, S. 77-84.
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Abb. 3: Johann Gottfried Büring: Chinesisches Haus (erb. 1754-57) Potsdam: Park Sanssouci
rend umgekehrt das Porzellanservice ausschließlich zum Genuß dieser Getränke benutzt wurde — eine Kombination, die sich bis heute gehalten hat.119 Die ikonographische und architektonische Inszenierung und Verarbeitung der verschiedenen orientalischen Lebensmittel und Materialien trug ihr übriges zur morgenländischen Konnotation dieser Dinge bei. Eines der beeindruckendsten multi-medialen und multi-materialen orientalistischen Syntagmen stellt in diesem Zusammenhang das „Chinesische Haus" im Park von Sanssouci dar, dessen Bau mit kleeblattförmigem Grundriß Friedrich II. 1754 in Auftrag gab, ausgeführt von Johann Gottfried Büring.120 (Abb. 3) Seinen „chinesischen" — im 18. Jahrhundert wahlweise auch „japanischen"121 — Charakter erhielt der Pavillon weniger über die Architektur 119 Albrecht: Kaffee. Zur Sozialgeschichte eines Getränks, S. 44 f. 120 Vgl. Helmut Börsch-Supan: „Die Chinamode in den brandenburgisch-preußischen Residenzen". In: China und Europa, S. 37-60, i.b. S. 43 f. 121 So lautet auch die Bildunterschrift zu J.F. Schleuens Kupferstich des Gebäudes (17651770): „Prospect des Japanischen Hauses im Königlichen Garten Sans Soucy bei Potsdam". Vgl. dazu: den Katalogeintrag von Eva Börsch-Supan: „Das Japanische Teehaus". In: China und Europa, S. 313 f.
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Abb. 4: Johann Gottlieb Heymüller/ Johann Peter Benckert: Detail des Chinesischen Hauses Potsdam: Park Sanssouci
Kaffeetrinker
selbst122 als durch die lebensgroßen, vergoldeten Figuren, die den optischen Eindruck des Außenbaus dominieren. Eine thront sitzend und sonnenschirmbeschirmt auf dem Dach, zwölf von ihnen stellen chinesische Musiker und Musikerinnen vor, die — orientalisch gewandet und mit teils exotischen Instrumenten ausgestattet — an der Fassade der drei Kabinette angebracht sind, während sich die restlichen an den drei Eingängen zum Gebäude um palmenförmige Säulen herum gruppieren. Diese sechs chinoisen Figurengruppen verlustieren sich vor allem mit dem Genuß von Melonen, Ananas, Tee und Kaffee (Abb. 4) und schlagen damit nicht nur raumorganisatorisch, sondern auch semiotisch eine Brücke zum Innenraum des Gebäudes und seiner Funktion. Denn in den Kabinetten des Pavillons nahm die höfische Gesellschaft ebenfalls Kaffe und Tee ein, so daß sie in den chinoisen Figuren gleichsam einen „goldenen Spiegel" vor sich hatte, der den preußischen Hoheiten ihr orientalisches Bild reflektierte — verstärkt durch die mit morgenländischen Getränken gefüllten
122 Allein das Kupferdach, das durch seine gewellte Form und die vergoldeten Troddeln am Rand an ein Zelt erinnert, mag Orientalisches aufgerufen haben.
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Porzellantassen in preußischen Händen. Ein ähnliches, wenn auch kleinformatigeres, semiotisches Wechselspiel zwischen Preußen und China auf der Basis orientalisch kodierter Materialien fand auch im zentralen Saal des Gebäudes statt, der mit Konsolen ausgestattet war, auf denen in Miniatur Chinesen aus Porzellan standen, die aus der Meißener Porzellanmanufaktur stammten.123 Der Doppelcharakter des Porzellans — als potentiell orientalisch konnotiertes Material einerseits und als ikonographisches Trägermedium andererseits - wirkt hier als Beschleuniger eines ohnehin schon komplexen orientalisch-okzidentalischen Verweiszusammenhangs. Insofern ist das „Chinesische Haus" im Park Sanssouci zweifellos ein Extremfall. Und dennoch läßt es das semiotische Potential erahnen, das orientalischen Exportgütern generell innewohnte, und es vermittelt einen ersten Eindruck von der aisthetischen und medialen Vielschichtigkeit orientalischer Tableaus des 18. und 19. Jahrhunderts. Diese morgenländischen Tableaus teilten sich indes nicht nur optisch mit, sondern potentiell auch klanglich. Nicht allein, daß orientalische Figuren — wie jene an den Kabinetten des Chinesischen Pavillons - als musizierend darstellbar waren, die akustische Dimension des Orientalismus erstreckte sich bereits zu jener Zeit auch auf die Musik selbst. Schon im 17. Jahrhundert fanden unter dem Namen „Janitscharenmusik" — benannt nach den osmanischen Elitetruppen — bestimmte Orchestrierungen, Rhythmen und Harmonien Eingang in die sächsische, österreichische, bayrische und preußische Marschmusik und von dort im Laufe des 18. Jahrhunderts auch in westeuropäische Instrumental- und Opernkompositionen. Diese tatsächlich aus der Praxis osmanischer Militärkapellen entlehnte Musik wurde als Stil „alia turca" bald zur Mode.124 In seinem Gedicht Am Geburtstag eines langen Immigranten nennt Matthias Claudius — wiewohl ironisch gebrochen — einige ihrer Charakteristika und schreibt:
123 Helmut Börsch-Supan betont das Übergewicht wirtschaftspolitischer im Vergleich zu den sinophilcn Interessen Friedrichs des Großen bei seiner Förderung der Berliner Porzellanmanufaktur. Vgl. II. Börsch-Supan: Die Chittamode in den brandenburgischpreußiscben Residensgn, S. 44. 124 Vgl. den Art.: „Janitscharenmusik". In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Begr. v. Friedrich Blume. 2., neubearb. Aufl. Hrsg. v. Ludwig Pinscher. Sachteil, Bd. 4. Basel/ London/ New York/ Prag/ Stuttgart/ Weimar 1996, Sp. 1316-1329, i.b. Sp. 1323-1329. Das Lexikon wird im folgenden abgekürzt als MGG2. Vgl. ferner die Artikel: „Turca, alia". In: The New Grove. Dictionary of Music and Musicians. Hrsg. v. Stanley Sadie. London 22001, Bd. 25, S. 897 f. und Janissary Music. In: The Neiv Grove. Dictionary of Music and Musicians. Hrsg. v. Stanley Sadie. 29 Bde. London 2 2001, Bd. 12, S. 801-806. Zum größeren Zusammenhang: Günther Joppig: „Alia Turca. Orientalismen in der europäischen Kunstmusik vom 17. bis zum 19. Jahrhundert". In: Europa und der Orient, S. 295-304.
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Prinz Heraklius schickt seine Musikanten Zum langen Emigranten, Ihm zu spielen diesen Tag Was der Orient vermag Mit Reigen, Nut Pfeifen, Schellentrommel, Vox humana, Triangel Und Becken- und Rutengetös.125
Durch ihre dominante Percussion und die als „türkisch" geltenden Instrumente Piccoloflöte, Triangel, Schellenkranz und Klarinette, durch ihre raschen Lautstärkewechsel und zahlreichen Unisonostellen war die Musik „alia turca" deutlich markiert und in Westeuropa ungemein gefragt. Die Begeisterung für diesen Stil ging so weit, daß man gegen Ende des 18. Jahrhunderts Hammerklaviere und Flügel mit eingebauten „türkischen" Schlaginstrumenten und Triangeln herstellte, die bequem über die Pedale des Pianoforte zu bedienen waren.126 Ihre größte Prominenz und größte orientalistische Reichweite aber hatte die „Janitscharenmusik" in Opern- und Singspielkompositionen. Denn hier wurden diese rhythmischen und melodischen Elemente — wie sich auch an Mozarts Die Entführung aus dem Serail nachvollziehen läßt127 - als dramatisches Mittel eingesetzt, indem sie den Auftritt orientalischer Figuren begleiteten oder antizipierten. Durch die enge Kopplung der „türkischen Musik" an morgenländische Charaktere in der Aufführungspraxis entstand eine klingende Ikonographie eines Orients, der die engen Grenzen des „Türkischen" überstieg. Christoph Willibald Gluck etwa hat auf „alla-turca"-Elemente auch zur musikalischen Inszenierung arabischer, ostasiatischer und sogar altiranischer Szenerien zurückgegriffen. Er komponierte die Ouvertüre zu seiner Oper l^z reconte inprevue (Die Pilgrime von Mekka, 1764) „alia turca" und unterlegte mit diesen Klängen sogar den „Tanz der Skythen" in Iphigenie aufTauris (1779). Der Umstand, daß selbst Glucks Sinfonie in Le Cinesi (1754) mit „türkischen" Elementen versetzt war, findet seine ikonographische Entsprechung in den chinoisen Musikanten im Park Sanssouci. Auch sie spielen zu großen Teilen auf „Janitschareninstrumenten" — auf Schellenkranz (Abb. 5), Tri125 Matthias Claudius: Arn Geburtstag eines langen Emigranten. (N.B. Der Marsch aus Henri /K. muß da^u gehen). In: ders.: Sämtliche Werke. Nach dem Text der Erstausgaben und den Originaldrucken samt den 10 Bildcrtafeln von Chodowiecki und den übrigen Illustrationen der Erstausgaben. Mit Nachwort u. Bibliographie von Rolf Siebke, Anmerkungen von Hansjörg Platschek und einer Zeittafel. Düsseldorf/ Zürich 81996, S. 464. 126 Vgl. die Abbildungen in: Joppig: Alia Turca, S. 302 u. 304. 127 Art.: „Janitscharenmusik". In: AiGG2, Sp. 1326.
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Abb. 5 und 6: Johann Gottlieb Heymüller/ Johann Peter Benckert: S' chellenkran^Spielerin (links) und Triangel-Spielerin (rechts) Details des Chinesischen Hauses, Potsdam: Park Sanssouci
angel (Abb. 6), Klarinette128 (Abb. 7), selbst Kastagnetten (Abb. 8) sind dabei. Schon diese wenigen Beispiele vermitteln einen Eindruck von der medialen und materialen Vielschichtigkeit sowie der topologischen Komplexität des Orients im 18. und 19. Jahrhundert, die das Konzept zusätzlich zu seiner bemerkenswerten geographischen Ausdehnung auch semantisch als grenzenlos erscheinen lassen. So verwundert es nicht, wenn bereits Ende des 18. Jahrhunderts in einzelnen wissenschaftlichen Diskursen Versuche unternommen wurden, dieses überbordenden Konzepts mit Hilfe formierter Definitionsmacht Herr zu werden. In der Vorrede zu seiner 1792 erschienenen Sammlung der merkwürdigsten Reisen in den Orient unternimmt Heinrich Eberhard Gottlob Paulus — protestantischer Theologe, Jenaer Professor für orientalische Sprachen und einer der wichtigsten orientalistischen Berater Goethes — einen solchen Definitionsversuch. Im expliziten Rückgriff auf den „Sprachgebrauch der orientalischen Philologie" zählt er zum Orient „im engeren Sinne [...] Vorderasien, Syrien, Palästina, Arabien,
128 Zur Rolle der türkischen Musik bei der Einführung der Klarinette ins klassische westeuropäische Orchester vgl. Joppig: Alia Turca, S. 302.
Abb. 7 und 8: Johann Gottlieb Heymüller/ Johann Peter Benckert: Klarinettist (links) und Kastagnetten-Spielerin (rechts) Details des Chinesischen Hauses, Potsdam: Park Sanssouci
Egypten" und will selbst Nordafrika nur „anhangweise" zum Morgenland gerechnet wissen.129 Diese spezifische Abgrenzung der orientalischen Regionen legt beredtes Zeugnis von ihrer disziplinären Herkunft ab, denn die Bezugsgröße bilden hier ganz offensichdich die Länder der Bibel oder genauer, der Bibelwissenschaft: Paulus' Orient umfaßt alle Regionen, Völker und Sprachen, die für die historisch-kritische Exegese der biblischen Texte von der Genesis bis zu den Episteln relevant sind — weshalb Nordafrika nur den Status eines Appendix erhält und Persien, Indien und China gänzlich herausfallen.
129 Heinrich Eberhard Gottlob Paulus: Sammlung der merkwürdigsten Reisen in den Orient. In Übersetzung und Auszügen mit ausgewählten Kupfern und Charten, auch mit den nöthigen Einleitungen, Anmerkungen und kollectiven Registern. 7 Theile. Jena 17921803, Theil I, S. IX. Wie diese Skizze eines Alt-Philologen - denn orientalische Philologie war um 1800 durchweg altorientalische Philologie — in Mommsens Interpretation allerdings zu einem Beleg dafür werden kann, daß der Orient für Paulus und in seiner Nachfolge auch für Goethe „vor allem das Herrschaftsgebiet des Islam bezeichnet", bleibt rätselhaft, vgl. Katharina Mommscn: „Orient". In: Goethe-Handbuch in vier Bänden. Bd. 4/2: Personen, Sachen, Begriffe L-Z. Hrsg. v. Hans-Dietrich Dahnkc und Regint· Otto. Stuttgart/ Weimar 1998, S. 813-819, hier: S. 813.
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Da ein bedeutender Teil der Orient-Wissenschaften, die sich im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts langsam formierten, personell und institutionell von der historisch-kritischen Bibelwissenschaft der protestantischen Theologie ausgegangen ist, läßt sich dieser Definitionsversuch des Jenaer Früh-Orientalisten sicher in gewisser Weise als wegweisend begreifen — zumal er seinen unmittelbaren Niederschlag in der frühorientalistischen Forschungspraxis fand.13" Der Inhalt des oben bereits zitierten Neuen Repertonums für biblische und Morgenländische Utteratur von Heinrich Eberhard Gottlob Paulus jedenfalls deckt sich völlig mit dem hier umrissenen Feld. Doch steht die Frühorientalistik protestantisch-theologischer Provenienz auf dem diskursiven Feld des Orientalismus nicht allein. Die stärker sprachwissenschaftlich ausgerichtete Orient-Forschung mit ihrem geographisch viel weiter gefaßten morgenländischen Radius und dem Schwerpunkt auf Indien, wie August Wilhelm und Friedrich Schlegel sie betrieben haben, oder auf China, wie Julius Heinrich Klaproth sie vertrat, war nicht minder einflußreich. Und ebenso bestimmten die Mythen- und Symbolgeschichten aus den Altertumswissenschaften heraus den orientalistischen Diskurs und fokussierten Indien, China und das Alte Ägypten.131 Beim analytischen Versuch, den Orient des 18. und 19. Jahrhunderts klarer zu konturieren, sind die Wissenschaften jener Zeit also keine Hilfe. Ihr Morgenland erweist sich insgesamt als ebenso heterogen wie der musikalische oder architektonische Orient.
2.4 Familienähnlichkeiten in Geographie Es sind wohl diese Unscharfe des Konzepts und das analytische Leiden an dieser Unscharfe gewesen, die viele Orientalismus-Forscher in den letzten Jahren dazu gebracht haben, einen gemeinsamen Nenner aller orientalischen Phänomene schlichtweg zu konstatieren. Edward Said hat auch in dieser Sache den Anfang gemacht, indem er die Behauptung ins Spiel brachte, der Orient habe bis ins frühe 19. Jahrhundert „only India and the Biblical lands"132 umfaßt. Entsprechend klammerte er den Fernen Osten aus seiner Analyse des Orientalismus aus und beschränkte sich auf eine Auseinandersetzung mit der europäischen „experience of the Arabs and Islam which for almost a thousand years together stood for the Orient".133 Daß die Gleichsetzung von Orient und Islam — gegen alle historischen In130 Dazu differenziert Kap. 4.2 dieser Arbeit. 131 Zur historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft und Mythenforschung s. u. Kap. 4.4. 132 Said: Orientalism, S. 4. 133 Said: Orientalism, S. 17.
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dizien — in der Orientalismus-Forschung Schule machte und auch innerhalb der Germanistik eine gewisse Prominenz besitzt,134 mag nicht zuletzt der großen Bedeutung des Islam für unser heutiges Orient-Konzept geschuldet sein. Wie aus den oben angeführten Beispielen jedoch unschwer abzulesen ist, läßt sich die (Hypo-)These, das deutsche Morgenland sei ein primär islamisches gewesen, für die Ordnung der orientalischen Dinge im 18. und 19. Jahrhundert nicht aufrecht erhalten. Schließlich gehörten China und Japan ebenso zum Orient wie die arabische Halbinsel und trugen doch genau so wenig eine islamische Signatur wie das Byzantinische Reich oder das Pharaonische Ägypten. Somit läßt sich bereits an dieser Stelle als diskursgeschichtliches Zwischenergebnis festhalten, daß die semantische Konzentration des deutschen Orientalismus auf den Islam als sinnkonstituierende Größe eine wesentlich jüngere Entwicklung ist als gemeinhin angenommen. Die heute zu verzeichnende — phobische oder affirmative — Obsession für den Islam schreibt sich jedenfalls weder aus der Frühen Neuzeit oder „der Aufklärung" noch aus dem 19. Jahrhundert her. Die Länder, Völker, Sprachen, Religionen, Literaturen, Architekturen und Lebensformen, die zu jener Zeit zum Orient gerechnet wurden, sind vielmehr so vielgestaltig und heterogen, daß die Suche nach einem gemeinsamen Nenner, der all diese Phänomene zu einem Orient verbindet, notwendig ergebnislos bleibt. Und dennoch ist es kein Euphemismus, von einer Ordnung des Morgenlandes im 18. und 19. Jahrhundert zu sprechen. Um diese Ordnung begrifflich und gedanklich greifen zu können, sei ein sprachphilosophisches Beschreibungsmodell herangezogen, das Ludwig Wittgenstein entwickelt hat — und zwar anhand eines Begriffs, der auf den ersten Blick vom Konzept ,Orient' verschiedener nicht sein könnte. In den gerichteten Monologen seiner Philosophischen Untersuchungen beschäftigt sich Wittgenstein unter anderem mit dem Begriff ,Spiel'. Er zeichnet seine Konzeption und Funktionsweise nach und skizziert dabei ein Ordnungsmuster, das sich wie eine Beschreibung der Struktur dessen liest, was an Orientalischem in den bislang diskutierten Beispielen den Eindruck reiner Erratik hinterlassen hat. Daher sei die Passage etwas ausführlicher zitiert: Betrachte z.B. einmal die Vorgänge, die wir „Spiele" nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? - Sag nicht: „Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ,Spiele"' — sondern schau, ob ihnen etwas gemeinsam ist. — Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten,
134 Die Gleichsctzung des Orients mit der Islamischen Welt - sei sie nun impli/it oder explizit unternommen — ist in der Forschung weit verbreitet. Vgl. cxcmpl.: I'uchsSumiyoshi: Orientalismus in der deutschen Liferaiur, S. 4 f.; Kappcrt: Europa und der Orient, S. 44-76, hier: S. 45; Osterhammel: Die Entzauberung Asiens, S. 55; Buddc/ Sievernich: Europa und der Orient: 800-1900. Eine Annäherung, S. 15 f.
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Orientalismus: Genese und Gestalten Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau! - Schau z.B. die Brettspiele an, mit ihren mannigfachen Verwandtschaften. Nun geh zu den Kartenspielen über: hier findest du viele Entsprechungen mit jener ersten Klasse, aber viele gemeinsame Züge verschwinden, andere treten auf. Wenn wir nun zu den Ballspielen übergehen, so bleibt manches Gemeinsame erhalten, aber vieles geht verloren. - Sind sie alle ^unterhaltend^ Vergleiche Schach mit Mühlfahren. Oder gibt es überall Gewinnen und Verlieren, oder eine Konkurrenz der Spielenden? Denk an die Patiencen. [...] Und so können wir durch die vielen vielen anderen Gruppen von Spielen gehen. Ähnlichkeiten auftauchen und verschwinden sehen. Und das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen wie im Kleinen.135
Dem einmal durch diese Überlegungen hindurch gegangenen Blick erscheinen die orientalischen Dinge bei weitem nicht mehr so chaotisch wie zuvor. Verfolgt man die Linien solcher „Ähnlichkeiten im Großen wie im Kleinen" innerhalb des Orient-Konzepts, dann erscheint eine sehr ähnliche Netz-Struktur, wie sie Wittgenstein für den Begriff des Spiels ausgemacht hat: Spanien ist mit Nordafrika über die gemeinsame maurische Architektur sowie die arabo-islamische Vergangenheit verbunden, hat aber eine christliche Gegenwart. Die Nordafrikaner wiederum teilen mit den Nubiern und Äthiopiern die Hautfarbe, aber nicht die Architektur. Dafür bilden sie mit den Ägyptern, Syrern und den Bewohnern der arabischen Halbinsel eine Gruppe arabischer und islamischer Länder, wobei nur die zweite Kategorie auch die Perser, Türken und Mongolen umfaßt. Die Mongolen schlagen historisch eine Brücke nach China, das durch Architektur, Kunsthandwerk, Schrift und Religion wiederum mit Japan Gemeinsamkeiten hat. Türkisch dagegen ist das Osmanische Reich, welches die arabischen Länder — mit Ausnahme der Barbaresken-Staaten — in eine Ähnlichkeitsbeziehung mit Bulgarien und Serbien stellt. Die Städte des Balkan wiederum ähneln durch ihre Basare und Minarette Schiraz und Isfahan, wobei die Perser religionsgeschichtlich mit den Indern in Verbindung stehen ... Und so ließe sich noch eine Unzahl weiterer Verwandtschaftslinien zwischen den einzelnen orientalischen Phänomenen aufzeigen, die — zeichnete man sie nach — eine rhizomhafte Struktur ergäben, die alles überzieht, was zum Orient gehört. „Familienähnlichkeiten" nennt Wittgenstein diese Art der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Phänomenen, die wir unter dem Dach eines Begriffes versammeln, „denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament
135 Wittgenstein PU, S. 277 f. (§ 66).
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etc. etc. — Und ich werde sagen: die ,Spiele' bilden eine Familie."136 In unserem Fall ist es der ,Orient', der eine Familie bildet, deren Mitglieder nicht über ein gemeinsames Charakteristikum verfugen, sondern durch eine Vielzahl, einander überschneidender Ähnlichkeitsbeziehungen zur orientalischen Familie verbunden sind. Begriffe, die sich über Familienähnlichkeiten konstituieren, haben allerdings — und das gilt für Begriffe wie ,Spiel' ebenso wie für den Begriff ,Orient' — unscharfe Grenzen und verschwommene Ränder, denn Familienähnlichkeitsbeziehungen tendieren stets zur Unabschließbarkeit. Wie der Definitionsversuch Heinrich Eberhard Gottlob Paulus' gezeigt hat, ist es zwar sehr wohl möglich, ,Orient' für einen bestimmten Gebrauchszusammenhang zu definieren, den Begriff also als Terminus zu verwenden und ihm klare Grenzen zu geben. Doch sind solche Akte der Definition dem erfolgreichen Gebrauch von Begriffen wie ,Orient', ,Spiel£ oder auch ,Zahl' nicht vorgängig, und ihre Existenz ist für die allgemeine Begriffsverwendung auch nicht konstitutiv: Denn ich kann so dem Begriff .Zahl' feste Grenzen geben, d. h. das Wort „Zahl" zur Bezeichnung eines fest begrenzten Begriffs gebrauchen, aber ich kann es auch so gebrauchen, daß der Umfang des Begriffs nicht durch eine Grenze abgeschlossen ist. Und so verwenden wir ja das Wort „Spiel". Wie ist denn der Begriff des Spiels abgeschlossen? Was ist noch ein Spiel und was ist keines mehr? Kannst du die Grenzen angeben? Nein. Du kannst welche Dieben; denn es sind noch keine gezogen. (Aber das hat dich noch nie gestört, wenn du das Wort „Spiel" angewendet hast.)137
Wittgensteins Theorie der Familienähnlichkeiten setzt uns also in die Lage, das auf den ersten Blick so erratische und unwahrscheinliche Konzept ,Orient' im 18. und 19. Jahrhundert als durchaus geregelt zu begreifen. Aus diesem analytischen Winkel betrachtet, wird eine Ordnung der orientalischen Dinge sichtbar, die stabil und offen zugleich ist. Die netzartige Beziehungsstruktur der orientalischen Elemente zueinander und die Vielzahl der Charakteristika und Kontexte, über welche sie miteinander verknüpft sind, garantieren die Stärke und Belastbarkeit dieses Konzepts und verleihen ihm gleichzeitig eine enorm große semantische Oberfläche mit entsprechend vielen potentiellen Kopplungspunkten. Allerdings tritt zu dieser Rhizom-Struktur des Konzepts ,Orient' (wie übrigens auch des Konzepts , ') noch ein wichtiger stabilisierender Faktor hinzu, der so sehr im Hintergrund wirkt, daß selbst Wittgenstein ihn übersieht, obwohl dieser Faktor im Gebrauch des Wortes begründet liegt. Entscheidend für die Konsistenz der orientalischen Familienähnlichkeitsbeziehungen ist nämlich der Umstand, daß sämtliche Elemente dieses 136 Wittgenstein PU, S. 278 (§ 67). 137 Wittgenstein PU, S. 278f. (§ 68).
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rhizomatischen Gebildes ,Orient' (ebenso wie alle Einzelphänomene innerhalb des Rhizoms jSpiel*) für das gesamte Konzept exemplarisch werden können: Die Janitscharenmusik, die chinesischen Schriftzeichen, der Koran, die Pyramiden, der Sari oder ein persisches Ghasel - sie alle können den gesamten Orient aufrufen und repräsentieren. Der von Wittgenstein mit dem hübschen Satz „denk nicht, sondern schau!"138 quittierte Hinweis auf die gemeinsame Bezeichnung von Phänomenen als Indiz für das Vorhandensein einer Gemeinsamkeit ist also durchaus ernst zu nehmen. Allerdings muß man die Beziehung zwischen Begriff und Gemeinsamkeit logisch umkehren: Der gemeinsame Begriff ist nicht Ausdruck einer vorgängigen Gemeinsamkeit der von ihm bezeichneten Phänomene, sondern der performative Produzent ihres gemeinsamen Nenners, der mit jedem Akt der Bezugnahme neue Evidenzen gewinnt. Es ist eben dieses pars-pro-toto-Verhältnis der Einzelelemente des Orients zum Gesamtkonzept, was jene abenteuerlich anmutenden Verschiebungen ermöglicht, deren Zeugen wir bereits geworden sind: Der „hochfürstliche Mohr" Angelo Soliman kann — ohne daß dies die Kohärenz des Bildes stört — einen Turban und einen türkischen Säbel tragen, weil Mohren, Turbane und Krummsäbel orientalisch sind. Und weil China ein orientalisches Land ist und Kaffeetrinken ebenso eine orientalische Praxis wie die Janitscharenmusik, können sich die goldenen Chinesen am Pavillon im Park Sanssouci bei Kaffee und Musik „alia turca" amüsieren, ohne daß die Sinnhaftigkeit dieses Arrangements Schaden nimmt. Da aber Formationen dieser Art generell nicht die Form von Aussagen haben, lassen sich die beobachteten Kombinationsmöglichkeiten auch nicht aus einem mangelnden Wissen heraus erklären. Denn in der Mitte des 18. Jahrhunderts wußte man ebenso gut, daß Chinesen keinen Kaffee trinken, wie wir heute wissen, daß der Religionsgründer des Islam erst rund 600 Jahre nach Christus auf die Welt kam. Und dennoch fällt es schwer, der 1999 von einer berühmten Spielwarenfirma produzierten Krippe ihre semiotische Stimmigkeit abzusprechen, obwohl die als Hintergrundbild mitgelieferte Stadtsilhouette Bethlehems ihren orientalischen Charakter durch eine Moschee und ein Minarett erhält. (Abb. 9) Es ist die innere Ordnung des Konzepts Orient, es ist das synekdochale Verhältnis seiner einzelnen Teile zum Ganzen, was Syntagmen dieser Art regelhaft generiert. Schon aus diesem Grund scheint es ratsam, die Kategorie der „Imagination" hier nicht zu bemühen, sondern statt dessen den Umstand ernst zu nehmen, daß die Grenzen des Sinns offensichtlich weiter gesteckt sind als die der Aussagenlogik und daß auch da Regeln wirken, wo Sinnzusammenhänge nicht in eine Kette wahrer Aussagen überführ138 Wittgenstein PU, S. 277 (§ 66).
Wo liegt der Orient?
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Abb. 9: playmobil ® Weihnachtskrippe und I leilige Drei Könige Art.-Nr. 3996 u. Art.-Nr.. 3997
bar sind. Schließlich unterscheidet sich der Begriff ,Orient' qualitativ d. h. hinsichtlich seiner Familienähnlichkeitsstruktur und der synekdochalen Funktionsweise — nicht von ,Spiel', ,Zahl', ,Mann' oder einem beliebigen anderen Begriff, der außerhalb engster Definitionszusammenhänge gebraucht wird. Der Begriff ,Orient£ ist nicht unschärfer, imaginärer oder „fiktiver" als andere Konzepte, literarisch allerdings von besonderer Produktivität. Es sind die Vielzahl der an seiner Konstitution beteiligten Diskurse, das breite Spektrum seiner materialen Träger mit ihrer jeweiligen Eigengesetzlichkeit sowie die Heterogenität der Gebrauchszusammenhänge, in denen das Konzept steht, die den Orient im 18. und 19. Jahrhundert zu einer so großen Sinneinheit machen.
3. Die Teile und ihr Ganzes: Vorspiel auf dem Welttheater Nun hat sich auf den bisherigen topologischen Streifzügen durch den Orient bereits gezeigt, daß das historische Konzept nicht gleichmäßig vom Netz der Familienähnlichkeiten durchzogen war. Vielmehr haben sich Verdichtungen der Verwandtschaftsbeziehungen abgezeichnet, und zwar immer da, wo einzelne orientalische ,Völker' zur Rede standen. Denn obwohl sowohl Chinesen und Ägypter, Araber und Inder jeweils als pars-prototo für den gesamten Orient stehen konnten, besaßen sie doch semantische Eigenständigkeit. Wenn es auch ein Fehlschluß wäre zu sagen, der Orient des 18. und 19. Jahrhundert habe sich aus Völkern zusammengesetzt und sei insofern als Summe seiner Teile zu betrachten, kam diesen Völkern doch eine besondere Bedeutung für die diskursive Ordnung des Konzeptes zu. Denn trotz aller Unscharfe ihrer Ränder, trotz ihrer Durchlässigkeit für quer verlaufende Ähnlichkeitsbeziehungen läßt sich im 18. und 19. Jahrhundert tatsächlich eine diskursive Binnendifferenzierung des Orients nach seinen Völkern und entlang ihrer Grenzen ausmachen. Schließlich unterschieden sich in deutschen Augen die Hebräer von den Ägyptern ebenso deutlich wie die Araber von den Persern oder die Inder von den Chinesen. Und so konnte jedes einzelne dieser Völker im frühen 19. Jahrhundert auch auf eine eigene, in Länge und Verlauf sehr spezifische, Rezeptionsgeschichte zurückblicken, die in verschiedenen Wissenschaften, Künsten und kulturellen Kontexten zum Teil sehr unterschiedlichen Niederschlag gefunden hatte. Welches ästhetische, wissenschaftliche oder politische Sujet zu jener Zeit aus dem großen orientalischen Angebot jeweils gewählt wurde — ob ein altägyptisches, ein persisches oder türkisches —, war neben vielem anderen auch von den Implikationen abhängig, die den einzelnen orientalischen Völkern aufgrund ihrer vorangegangenen diskursiven Gebrauchsgeschichte bereits anhafteten. Wenn die folgende Skizze der für den deutschen Orientalismus einflußreichsten orientalischen Länder in mehreren Fällen bereits im 17. Jahrhundert ansetzt und zudem drei Völker den Anfang machen, deren breite und teils euphorische Rezeption in Deutschland schon vor Beginn des 19. Jahrhunderts ihr Ende gefunden hatte, dann geschieht das aufgrund der Einsicht, daß semantische Implikationen anderer Kulturen nicht den Charakter emergenter
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Ereignisse haben und ebensowenig direkt aus einer — wie auch immer gearteten - „Begegnung" mit dieser Kultur resultieren, sondern aus einer kontingenten und zugleich wirklichkeitskonstitutiven Geschichte ihrer Signifikation. Um die spezifische innere Ordnung des deutschen Orients im frühen 19. Jahrhundert, die Prominenz oder Marginalisierung einzelner orientalischer Völker in Ästhetik, Wissenschaft und Alltagskultur zu verstehen, bedarf es entsprechend eines genaueren Blicks auf den vorangegangenen diskursiven Gebrauch dieser Völker und auf die semantische Mitgift, die sie in den Kontext jener Zeit mit einbrachten. Die Rezeptions- und Faszinationsgeschichte einzelner orientalischer Länder und Völker ist von der literaturwissenschaftlichen, kulturgeschichtlichen und (kunst-)historischen Forschung zum Teil sehr breit und auch äußerst differenziert aufgearbeitet worden. Im Rückgriff auf die Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Arbeiten, die sich in der Regel in abbildtheoretischen Parametern bewegen und die „Darstellungen" oder „Bilder" von Türken, Chinesen, Indern etc. in Deutschland oder Europa untersuchen, soll nun der Versuch unternommen werden, die historische Genese des deutschen Orientalismus im 19. Jahrhundert nachzuzeichnen. Das besondere Augenmerk ist dabei auf die Möglichkeitsräume eines inner- und äußer-ästhetischen Gebrauchs der einzelnen Länder und Völker gerichtet, die in ihrer Gesamtheit den oben umrissenen Orient formen. Den Auftakt meiner Darstellung bilden mit den Chinesen, den Alten Ägyptern und den Türken die drei prominentesten orientalischen Völker des 17. und 18. Jahrhunderts, deren Rezeptionsgeschichte — wie zu zeigen sein wird — zu eben jener Zeit eine nachhaltige Wende erfuhr, in der sich die orientalistische Grundfiguration des 19. Jahrhunderts konstituierte.
3.1 Die Chinesen Am Anfang der breiten China-Rezeption in Westeuropa stand der JesuitenOrden. Zwar hatten bereits Marco Polos Reisebericht Les Merveilles du Monde Ende des 13. Jahrhunderts sowie die 1480 erschienenen Travels des Bibliotheksreisenden und begnadeten Kompilators Sir John Mandeville mehr oder minder bunte China-Bilder vor dem inneren Auge ihrer — durchaus ansehnlichen — europäischen Leserschaft heraufbeschworen.1 l Vgl. dazu den Überblick samt ausführlicher Literaturangaben in: Willy Richard Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung. Köln/ Wien 1990, S. 31 ff. Ebenso Überblickshaft, wenn auch weit weniger beleggesättigt, ist die Darstellung von Dietrich Harth: „China - ,Monde imaginaire' der europäischen Literatur". In: ders. (Hrsg.): Fiktion des Fremden. Erkundung kultureller Grenzen in Literatur und Publizistik. Frankfurt a. M. 1994, S. 203-223, hier: S. 204-209.
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Doch ist es die Jesuiten-Mission des 17. Jahrhunderts, die sich im Rückblick als eigentlicher Multiplikator europäischer Denk- und Bildwelten zu China erweist. Ihre durchaus unorthodoxe, weit stärker auf kulturelle Anpassung als auf religiöse Konfrontation setzende, Missionspraxis2 ermöglichte den Jesuiten in China den Zutritt zum Kaiserhaus sowie weitreichende Einsichten in Sprache, Kultur, Kunst, Wissenschaft, Politik und Recht des chinesischen Reiches.3 Hinzu kam die weltweit hervorragend funktionierende Infrastruktur und Informationspolitik des Ordens, durch welche die Berichte der Mönche aus China innerhalb kürzester Zeit nach Europa gelangten. Dort wurden sie — mit aufwendigen Kupferstichen versehen — publiziert, und ihre Erkenntnisse bildeten gleichsam den europäisch-chinesischen Thesaurus, aus dem bis ins 19. Jahrhundert Gelehrte, Literaten und Künstler schöpften. Zu ihnen gehörte auch Athanasius Kircher (1601-1680), der am Collegium Romanum direkten Zugang zu den jesuitischen Quellen über China sowie Kontakt zu den heimkehrenden Missionaren hatte und dieses Wissen in seinem 1667 erschienenen und sowohl die wissenschaftliche als auch die ästhetische China-Rezeption nachhaltig prägenden Werk China lllustrata verarbeitete.4 Und noch die ab 1735 erscheinende Description Geographique, Histonque, Cronologique, Politique, et Physique de UEmpire de Chine et de la Tartane Chinoise, das ebenfalls reich bebilderte „Standardwerk der europäischer China-Kenntnis"5 seit der Aufklärung, hatte einen Jesuiten zum Autor — den Franzosen Jean Baptiste Du Halde.6 Doch verbindet nicht allein dieser breite publikations- und wissensgeschichtliche Weg die barocke China-Rezeption mit der des 18. Jahrhunderts. Gleichzeitig läßt sich auch eine Traditionslinie der mit China verknüpften Topoi ausmachen, die im 17. Jahrhundert beginnt und bis ins 19. Jahrhundert weist. Im Zentrum dieser Topologie stand der chinesische Staat. Seine machvolle bürokratische Organisation, sein hoher kultureller Sättigungsgrad und das friedliche Eingerichtet-Sein des zivilen Lebens hatten das Chinesische Reich schon den Jesuiten als idealen Staat erscheinen lassen.7 Und eben diese Konfiguration im Verbund mit der be2 Vgl. dazu: Liselotte Wiesinger: „Die Anfange der Jesuitenmission und die Anpassungsmethode des Matteo Ricci". In: China und Europa, S. 12-17. 3 Auch hier gibt Berger einen guten Einblick und nennt die einschlägige Literatur. Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 41-51. Auch Osterhammel kommt auf die Jesuiten zu sprechen, setzt hier aber keinen Schwerpunkt: Osterhammel: Die Entzauberung Asiens, S. 99 ff. u. 326 ff. 4 Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 45 f. 5 Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 49. 6 Zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext vgl. den ungemein kenntnisreichen Beitrag von David E. Mungello: „Aus den Anfängen der Chinakunde in Europa 1678-1770". In: Hartmut Walravens (Hrsg.): China illustrata. Das europäische China-Verständnis im Spiegeldes 16. bis 18. Jahrhundert. Weinheim 1987, S. 67-78. 7 Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 52.
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reits im 17. Jahrhundert übersetzten konfuzianischen Moral- und Staatslehre begründete — freilich mit veränderter Akzentsetzung — die überschwengliche Rezeption, die China sowohl in der philosophischen Aufklärung als auch in der absolutistischen Staatslehre und -praxis des 18. Jahrhunderts erfuhr.8 Ästhetisch flankiert wurde dieses Konzept des vernunftgeleiteten chinesischen Musterstaats und seines hoch kultivierten Gemeinwesens von einer ikonographischen Figuration, die sich durch eine aparte Mischung aus Bukolik und Bizarrerie auszeichnete. Angeregt durch das importierte chinesische Kunsthandwerk und die Kupferstiche der Publikationen über China verfestigte sich auf der Wende vom späten Barock zum Rokoko das Bild pittoresker Steingartenlandschaften, durchzogen von exotischer Flora und Fauna, in dem „Menschen mit Sonnenschirmen und in seidenen Festgewändern lustwandelten", Tee tranken und jene „müßige Feiertagsstimmung" genossen, die über dem ganzen Land zu liegen schien.9 Chinoiserien dieser Art fanden sich im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert in sämtlichen Kunstformen: Chinesen waren prominente Protagonisten auf Theater- und Opernbühnen10 ebenso wie in Staatsromanen und -satiren der Zeit.11 Chinesische Pavillons wie der des china-begeisterten Friedrich U.12 schmückten die Schloßgärten, chinoises Porzellan und Kunsthandwerk13 die Kabinette, und das chinesische Kostüm war bei absolutistischen Hofinszenierungen ebenso gefragt wie bei Maskenbällen.14 Im Zuge dieser multimedialen und multimaterialen Aufnahme 8 Zur philosophischen Rezeption von Leibniz über Voltaire bis zu den französischen Physiokraten vgl. Berger: China-EM und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 52-85. Zu Leibnitz: Margarete Kühn: „Leibniz und China". In: China und Europa, S. 30-36 9 Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 171. 10 Vgl. dazu Dietrich Gronau und Johannes Sembritzki: „Feste, Theater und Literatur im Verhältnis zu den modischen Strömungen ihrer Zeit". In: China und Europa, S. l 24; Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 171 -216. 11 Die wohl berühmtesten sind: Albrecht von Haller: Usong. Eine morgenländische Geschichte. In vier Büchern. Reutlingen 1783 und Christoph Martin Wieland: Dergoldene Spiegel oder Die Könige von Scheschian. Eine wahre Geschichte aus dem S'cheschianischen übersetzt. Krster Theil u. zwcyter Theil. Leipzig 1794 (Wieland SW 6/7 (Neudr. Bd. 2)). Vgl. zu beiden: Yanbing Zhu: „Die konfuzianischen staatsphilosophischen Ideen in den Staatsromanen von Albrecht von Malier und Christoph Martin Wieland". In: Symposium ,Oeutsche Literatur in ostasiatischer Perspektive' (26.-30. 8. 1991). Japanisch-Deutsches Zentrum Berlin. Berlin 1992, S. 382-386. 12 Seine 1760 verfaßte, chinoise Katholizismus-Kritik Bericht des Phihihu, Sendboten des Kaisers von China in Europa findet sich — gemeinsam mit anderen Schlüsseltexten der China-Rezeption vom 17. bis ins frühe 20. Jahrhundert — abgedruckt in der Anthologie: Deutsche Denker üher China. Hrsg. v. Adrian Hsia. Frankfurt a. M. 1985, S. 73-94. 13 Dazu ausführlicher: Ingrid Schuster: Vorbilder und Zerrbilder. China und Japan im Spiegel der deutschen Literatur 1773-1890. Bern/ Frankfurt a. M./ New York/ Paris 1988, S. 191-218. 14 Gronau/ Sembritzki: Feste, Theater und Literatur, Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 171-216. Ludwig XIV. erschien auf einem Ball in Versailles
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und Verarbeitung des Landes im Westeuropa des 18. Jahrhunderts wurde China Teil eines engen Verweiszusammenhangs mit absolutistischen Praktiken,15 aufklärerischen Ideen und der Rokoko-Ästhetik. Und nur vor diesem Hintergrund wird jene Wende verständlich, die das China-Verständnis am Ende des Jahrhunderts nahm. Denn der Umschwung von der „Sinophilie" in Barock und Aufklärung zur anschließenden „Sinophobie"16 und schließlich zur Marginalisierung Chinas als Gegenstand und formgebendes Prinzip von Philosophie, Kunst und Kultur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erweist sich als naheliegende, wenn nicht sogar zwangsläufige Folge einer innereuropäischen Neubewertung jener Weltanschauungen, Praktiken und Konzepte, die dem orientalischen Land durch seine philosophisch-politische Aufnahme und ästhetisch-kulturelle Verarbeitung im 17. und 18. Jahrhundert eingeschrieben wurden.17 Als Ende des 18. Jahrhunderts der Absolutismus in die Kritik geriet, konnte auch das absolutistische Musterland China nicht unbeschadet bleiben und erscheint nun als Reinform „orientalischer Despotie"18. Wo gegen eine mechanistische Gesellschaftsordnung polemisiert wurde, da traf es auch die chinesischen Mandarine, wo die Künstlichkeit des Rokoko an den Pranger gestellt wurde, da ging auch chinesisches Porzellan zu Bruch19, und wo gegen die kalte Vernunft das warme Gefühl ins Feld zog, da konnten auch die utopisch-rationalen konfuzianischen Schriften nicht überleben.20 Im Grunde wandelte sich auf der Grenze zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert die Topologie Chinas kaum, sie wechselte nur ihr Vorzeichen — und zwar in multipler Abhängigkeit von den Vorzeichenwechseln jener innereuropäischen Konzepte und Praktiken, mit denen das Land assoziiert war. Die zahlreichen China-Polemiken des späten 18. und frühen 19. Jahrhundert sind somit niemals allein und womög-
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sogar selbst in chinesischem Kostüm. Vgl. Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 173 f. Das Bild des chinesischen Kaisers als absolutem Herrscher findet sich auch in Du Haldes Description und fand durch diese Publikation auch seine weiteste Verbreitung. Vgl. dazu Osterhammel: Die Entzauberung Asiens, S. 301 f. Zusammenfassend: Osterhammel: Die Entzauberung Asiens, S. 300 ff; Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 299 f. Selbstverständlich verlief die China-Rezeption auch während des 17. und 18. Jahrhunderts nicht durchweg euphorisch, erweist sich China auch hier als Kampfplatz polemischer Verhandlung verschiedener innereuropäischer Konzepte und Modelle. Vgl. die ausführliche Diskussion der frühen China-Kritik in Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 86-134. Zum größeren Zusammenhang dieses erfolgreichen orientalistischen Topos vgl. Osterhammel: Die Entzauberung Asiens, S. 271-309. Auch Berger liest Goethes frühe China-Polemiken im Kontext des Sturm und Drang als Absetzbewegung gegen die Rokoko-Ästhetik. Vgl. Berger: China-Bild und ChinaMode im Europa der Aufklärung, S. 269 ff. Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 254 f.
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lieh nicht einmal primär als Kritik an China zu lesen, sondern immer auch oder sogar in erster Linie als Kritik am Absolutismus, am Rationalismus, an bestimmten ästhetischen Programmen. Durch die breite ästhetische, politische und philosophische Be- und Verarbeitung Chinas im 17. und 18. Jahrhundert ist das Land selbst zum Signifikanten geworden. Nur unter diesen semiotischen Bedingungen kann Goethe mit einem Gedicht des Titels Der Chinese in Rom (ersch. 1797) gegen Jean Paul polemisieren und schreiben: Einen Chinesen sah ich in Rom die gesamten Gebäude Alter und neuerer Zeit schienen ihm lästig und schwer. „Ach!" so seufzt' er, „die Armen! ich hoffe, sie sollen begreifen, Wie erst Säulchen von Holz tragen des Daches Gezelt, Daß an Latten und Pappen, Geschnitz und bunter Vergoldung Sich des gebildeten Augs feinerer Sinn nur erfreut." Siehe, da glaubt' ich im Bilde so manchen Schwärmer zu schauen, Der sein luftig Gespinst mit der soliden Natur Ewigem Teppich vergleicht, den echten reinen Gesunden Krank nennt, daß ja nur Er heiße, der Kranke, gesund.21
Auch Heines redende Allegorie der Muse Clemens Brentanos als chinesische Prinzessin, wie er sie im dritten Buch der Romantischen Schule (entst. 1832-35) entfaltet hat, greift das chinesische Tableau des Rokoko auf, formiert es neu und wirft es wieder zurück auf das semiotische Feld. Dort erscheint China nun als „das Vaterland der geflügelten Drachen und der porzelanenen Theekannen", als „Raritätenkabinett" und künstliche „Caricatur", als Land ohne „Schatten und Perspektive". Und selbst das chinesische Lächeln — ehedem Ausdruck von Sorglosigkeit und Glück — deutet der Autor ironisch um und formuliert: Mensch und Natur können dort einander nicht ohne innere Lachlust ansehen. Sie lachen aber nicht laut, weil sie beide viel zu civilisirt höflich sind; und um das Lachen zu unterdrücken schneiden sie die ernsthaft possierlichsten Gesichter. [...] Auf den buntscheckigen Häusern heben sich, über einander gestapelt, eine Menge Dächer, die wie aufgespannte Regenschirme aussehen und woran lauter metallene Glöckchen hängen, so daß sogar der Wind, wenn er vorbeystreift, durch ein närrisches Geklingel sich lächerlich machen muß.22
In einem dieser Glöckchenhäuser läßt Heine nun die chinesische Muse Brentanos sitzen, unablässig und wahnsinnig kichernd kostbare Stoffe zerreißen, bis sie „auf Anraten sämmtlicher Mandarine" in einen Turm gesperrt wird. Es ist der Turm des „Catholizismus", in den sich Brentano seit fünfzehn Jahren „eingeschlossen, ja eingemauert" habe, nachdem er alle Freundschaftsbande zerrissen und selbst „sein poetisches Talent" 21 Goethe HA I, S. 206. 22 Heinrich Heine: Die Romantische Schule. In: Heine G A 8/1, S. 199 f. (= Drittes Buch).
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mutwillig zerstört hatte.23 Heine kehrt hier die aufklärerisch-rokokohafte Apologie Chinas also exakt um und setzt sie zudem als Verstärker der Polemik gegen Brentanos mystisch-katholische Ästhetik und Lebensführung ein. Denn mit der ihm zugewiesenen chinesischen Muse erhält Brentano die Signatur eines Landes, das mit eben jenen weltanschaulich-ästhetischen Positionen des 18. Jahrhunderts assoziiert war, die der Dichter selbst zutiefst ablehnte.24 Mit Kategorien wie „Sinophobie" oder „Siniphilie" ist diese Passage aus der Romantischen Schule ebensowenig analytisch zu greifen wie Goethes Der Chinese in Rom. Vielmehr haben wir es bei den chinesischen Szenarien des späten 18. und frühen 19. Jahrhundert mit einem konventionalisierten Konnotationsgeflecht zu tun, das durch die Vorgeschichte des Konzepts im 17. und 18. Jahrhundert nachhaltig geprägt ist. Das gilt für viele orientalische Völker, die sich auf dem Feld des Orientalismus im frühen 19. Jahrhundert tummeln. Auf eine so ausgeprägte Faszinationsgeschichte wie die der Chinesen können indes allein die Ägypter und die Türken zurückblicken, denen unsere Aufmerksamkeit nun gewidmet sein soll.
3.2 Die Ägypter Anders als China, von dem man mit einigen Einschränkungen tatsächlich sagen kann, Europa habe es erst in der Frühen Neuzeit für sich entdeckt, war das Land am Nil schon immer fester Bestandteil westlicher Vorstellungswelten. Ein Grund dafür lag in der Thematisierung Ägyptens durch die biblischen Texte, vornehmlich die alttestamentarischen Geschichten von Josef und — literarisch, philosophisch und theologisch noch folgenreicher — Mose,25 sowie dem Bericht von der Flucht der heiligen Familie nach Ägypten (Mt 2,13-15). Diese Geschichten hielten Ägypten als Ort der eigenen christlich-jüdischen Vergangenheit in Westeuropa durchweg präsent. Die zweite große europäische Rezeptionslinie des Landes am Nil verlief über die griechisch-römische Antike; und zwar zum einen über 23 Ebd., S. 200. 24 1833 hatte Clemens Brentano gerade die Ix:idensgeschichte Christi nach den Visionen der stigmatisierten Nonne Katharina Emmerick anonym veröffentlicht, deren Protokolle und Niederschrift ihn fünfzehn Jahre lang beschäftigt hatten. 25 Die materialreiche und gleichzeitig systematische Studie von Wolf-Daniel Hartwich: Die Sendung Moses. Von der Aufklärung bis Thomas Mann. München 1997 gewährt einen hervorragenden Einblick in die literarische Rezeptionsgeschichte der Moses-Figur samt ihrer philosophischen und theologischen Hintergründe. Zum größeren gedächtnisgeschichtlichen Zusammenhang vgl. Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. München 1998, sowie die Einleitung Jan Assmanns zu Hartwich: Die Sendung Moses Studie, S. 11-16.
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die Berichte und Abhandlungen Herodots, Strabos, Platos und Plutarchs,26 zum anderen über die Spuren der griechisch-römischen Geschichte selbst. Schließlich war es durch die Eroberungen Alexanders des Großen (332 v. Chr.) zu einer ersten Kultursynthese zwischen Griechenland und Ägypten gekommen, die sich denkgeschichtlich und religiös ebenso niederschlug wie architektonisch.27 Und als das Nilland im Jahre 31 v. Chr. zu einem Teil des römischen Reiches wurde, gelangten eine ganze Reihe ägyptischer Kunstschätze und Monumente als Siegestrophäen nach Rom und stießen hier kurz darauf die erste europäische Ägypten-Mode an, deren bauliche Zeugnisse das Stadtbild bis heute prägen.28 Es war die in Europa einzigartige und zugleich unübersehbare Präsenz altägyptischer Kunstwerke in der Stadt, die Rom bis ins 19. Jahrhundert hinein zum wichtigsten Ausgangs- und Kulminationspunkt westlicher Agyptenrezeption und -Faszination machte. Nicht zufallig verfaßte der Polyhistor Athanasius Kircher gerade an diesem Ort neben China lllustrata auch mehrere frühägyptologische Werke — als bedeutendstes den Oedipus aegypticus (165254) —, richtete 1651 im Collegium Romanum ein Museum mit ägyptischer Sammlung ein und beeinflußte so die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Ägypten ebenso wie die ästhetische und mystisch-esoterische für über ein Jahrhundert.29 Und noch die preußische Expedition nach Ägypten in den Jahren 1842 bis 1845 wäre ohne den Besuch des Kronprinzen und späteren Königs Friedrich Wilhelm IV. in Rom (1828) und ohne die Vermittlung des dort in diplomatischen Diensten stehenden „deutschen Herolds der Ägyptologie" Christian Carl Josias Bunsen nie ins Werk gesetzt worden.30 Wenn sich mit der Renaissance der griechisch-römischen Antike seit dem 15. Jahrhundert - wiederum von Italien aus - auch ein gesteigertes Interesse an Ägypten verzeichnen läßt, dann kann das also nicht verwundern. Daß sich dieses Interesse im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts zu einer manifesten Ägypten-Begeisterung auswuchs, die ihren Nie26 Zur Wirkungsgeschichte dieser Texte in der frühen Neuzeit vgl. den Überblick in Dirk Syndram: „Das Erbe der Pharaonen. Zur Ikonographie Ägyptens in Kuropa". In: Europa und der Orient: 800-1900, S. 18-57, hier: S. 18-39. 27 Vgl. dazu die ebenso differenzierte wie materialreiche Überblicksdarstellung von James Steven Curl: EGYPTOMANIA. The Egyptian Revival: A Recurring Theme in the History of Taste. Manchester/ New York 1994, S. 12-24. 28 Dirk Syndram: Das Erbe der Pharaonen, S. 18-23; Curl: EGYPTOMANIA, S. 37-56. 29 Enrichetta I^eospo: „Athanasius Kircher und das Museo Kircheriano". In: Europa und derOrient. 800-1900, S. 58-71; Syndram: Das Erbe der Pharaonen, S. 32 f. 30 Ursula Kaplony-Heckel: „Bunsen - Der erste deutsche Herold der Ägyptologie". In: Erich Geldbach (Hrsg.): Der gelehrte Diplomat. 7.um Wirken von Christian Car! Josias Bunsens. Leiden 1980, S. 64-83. Zum Verhältnis Friedrich Wilhelms IV. zu Bunsen vgl.: Jürgen Krüger: „Friedrich Wilhelm IV. und Bunsen". In: Friedrich Wilhelm IV. Künstler und König. Zum 200. Geburtstag. Ausstellung Stiftung Preußische Schlösser und Gärten BerlinBrandenburg, Neue Orangerie im Park von Sanssouci. Frankfurt a. M. 1995, S. 121-125.
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derschlag in den Wissenschaften ebenso fand wie in der bildenden Kunst, Literatur und Architektur, ist indes durch ein dichtes Geflecht von Faktoren, Rezeptionslinien, medialen, weltanschaulichen und semantischen Eigendynamiken bedingt, das zu entwirren hier nicht einmal versucht werden soll. Im folgenden werden nur einige topologische Bestandteile des dabei entstehenden Ägypten-Bildes zusammengefaßt, die als Orientierungshilfe auf dem orientalistischen Feld des frühen 19. Jahrhunderts dienen können. Wenn Jan Assmann eine seiner sozialanthropologischen Studien über das pharaonische Ägypten mit dem Titel Siein und Zeit überschreibt,31 so läßt sich mit dieser Heidegger-Allusion auch einer der wichtigsten ÄgyptenTopoi des 17. und 18. Jahrhunderts auf den Begriff bringen. Denn so stark wie keine andere orientalische Kultur war das Alte Ägypten durch steinerne Zeugnisse in den europäischen Erfahrungs-, Denk- und Phantasiewelten der Neuzeit präsent - durch Monumente wie Pyramiden, Tempel, Obelisken, Sphingen und Statuen. Dieser Umstand prädestinierte das Land als Sujet für die bildenden Künste und die Architektur, wo Ägyptisches seine breiteste ästhetische Aufnahme und Verarbeitung fand.32 Neben ihrem unermeßlichen Alter und ihrer Dauerhaftigkeit faszinierte die altägyptische Baukunst während der Frühen Neuzeit besonders durch ihre ingenieurtechnische Meisterschaft, die klaren geometrischen Formen und durch die ungeheure Macht herrschaftlicher - im Falle des Pharao sogar gott-königlicher - Repräsentation, die sich in ihren monumentalen Bauwerken und Statuen manifestierte. Diese Architektur ließ sich mit dem staatspolitischen Konzept eines „aufgeklärt-absolutistischen Königreiches" ebenso verbinden wie mit der klassizistischen Ästhetik.33 Zugleich war der Stein der altägyptischen Bauten und Monumente aber auch Träger des zweiten wichtigen Faszinationsmoments dieser Kultur, der hieroglyphischen Schrift.34 Über die ägyptischen Hieroglyphen verlief ein nicht weniger prominenter Rezeptionsstrang des Landes am Nil, der eng mit Konzepten von Weisheit und Hermetik verbunden war. Denn trotz oder gerade wegen ihres ikonischen Charakters haftete den Hieroglyphen bereits seit ihrer Rezeption in der griechischen Antike der Charakter des Rätselhaften und Enigmatischen an, und ,,[b]is zur Entzifferung der Hieroglyphen durch Champollion im Jahre 1822", so Jan Assmann, „hielt man die Hie31 Jan Assmann: Stein und Zeit. Mensch und Geselkchaft im alten Ägypten. München 21995. 32 So auch Curl in seinem Vorwort. Vgl. Curl: EGYPTOMANIA, S. xiv-xix. 33 Dazu den Überblick mit weiterführenden Literaturangaben in Syndram: Das Erbe der Pharaonen., S. 40 f. Für die künstlerische Rezeption vom Barock bis zu den Entwürfen Giovanni Battista Piranesis vgl. Curl: EGYPTOMANIA, S. 74-97. 34 Dazu nach wie vor grundlegend: Erik Iversen: The Myth of Egypt and its Hieroglyphs in European Tradition. Copenhagen 1961, zur Rezeption vom Mittelalter bis zur Entzifferung der Hieroglyphen im frühen 19. Jahrhundert i.b. S. 57-123.
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roglyphen überhaupt für Kryptographie".35 Dieser - bereits bei Plutarch vorgezeichnete und in Renaissance und Barock äußerst prominente — gedankliche Weg von der Bildlichkeit der Schriftzeichen zur Unterstellung einer symbolischen Bedeutung und von dort zur Annahme, diese Schrift habe schon innerhalb der ägyptischen Gesellschaft die Funktion einer Rätselschrift gehabt36, ist für die Topologie Ägyptens in der Neuzeit von großer Bedeutung.37 Mit ihm kreuzte sich sowohl das Konzept eines Geheimwissens der Alten Ägypter als auch die Vorstellung politischer Macht. Der ägyptische Staat wurde nämlich nicht allein mit der absolutistisch)en Macht des Pharao assoziiert, sondern auch mit der oligarchischen WissensHerrschaft einer in die Mysterien eingeweihten Priesterschaft. Diese topologische Figuration von Wissen, Geheimnis und Macht erlebte im Laufe des 18. Jahrhunderts eine wechselvolle Geschichte. Sie verdichtete sich zu aufklärerisch-atheistischen Polemiken gegen den „Priesterbetrug",38 fand aber zugleich Eingang in Konzepte von Vernunftreligion, von Natur- und Weisheitsphilosophie, und sie spielte in der weltanschaulichen und semiotischen Ordnung von Geheimgesellschaften eine wichtige Rolle.39 Freimaurerlogen und Rosenkreuzerorden erfreuten sich im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert großer Beliebtheit: In ihnen tummelten sich Künstler, Literaten, Wissenschaftler, hohe Beamte und selbst Könige. So war etwa Friedrich Wilhelm II. von Preußen bereits als Kronprinz Ehrenmitglied einer Berliner Freimaurerloge und wurde 1781 in den Rosenkreuzer-Orden in Dresden aufgenommen — eine Geheimbundkarriere, die in der ägyptisierenden Semiotik seines Neuen Garten in Potsdam bis heute sichtbare Spuren hinterlassen hat.40 Und da der altägypti35 Jan Assmann: „Zur Ästhetik des Geheimnisses. Kryptographie als Kalligraphie im alten Ägypten". In: Aleida Assmann/ ders. (Hrsg.): Schleier und Schwelle. Geheimnis und Öffentlichkeit. München 1997, S. 313-328, hier: S. 313. 36 Astrid Keiner bringt in ihrem ungemein erhellenden Beitrag diesen Rezeptionsweg in den folgenden prägnanten Dreischritt: „1. Die Bildlichkeit der Zeichen suggeriert ein Verstehen über Anschauung. 2. Wo sich diese Anschauung dem Zugang verschließt, wird Symbolisches unterstellt. 3. Wo sich auch das Symbolische verschließt, wird ein absichtsvolles Rätsel vermutet, d.h. ein kulturelles Geheimnis." Astrid Keiner: Die Hieroglyphe, Ein Beispiel romantischen Fremdverstehens. In: Joanna Jablowska/Erwin Leibfried (Hrsg.): Fremde und Fremdes in der Literatur. Frankfurt a. M./ Bern u.a. 1996, S. 7890, hier: S. 78 f. Vgl. auch ihre Monographie Hieroglyphenro/aantik. Zur Genese und Destruktion eines BilderschrißmodelL· und %t< seiner Überforderung in Friedrich Schlegels Spätphilosophie. Würzburg 2003. 37 Iversen: The Myth of Egypt and its Hieroglyphs, S. 88-123.
38 In diesem Zusammenhang ist die philosophische, theologische und literarische Auseinandersetzung mit der Figur des Moses von großer Bedeutung. Vgl. Hartwich: Die SendungMoses, i.b. den Überblick S. 21-39. 39 Diese hermetische Tradition innerhalb der europäischen Ägypten-Rezeption beginnt bereits im 16. Jahrhundert. Zu diesen Anfängen vgl. Curl: EGYPTOMANIA, S. 68-70. 40 Eine erhellende historisch-semiotische Deutung der Gartenanlage gibt Clemens Alexander Wimmer: „Die Geheimnisse des Neuen Gartens. Friedrich Wilhelm II.: Ein
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sehen Mythologie und Ikonographie in der Lehre und der rituellen wie ästhetischen Selbstins2enierung dieser Geheimgesellschaften eine herausragende Rolle zukam, wurden sie zu semiotischen Multiplikatoren des hermetisch-weisheitlichen Ägypten-Bildes jener Jahrzehnte. Eine der wohl berühmtesten ästhetischen Umsetzungen dieser Ausprägung der Ägyptomanie ist bis heute Mozarts Zauberflöte. Schon das Libretto Emanuel Schikaneders enthält eine Reihe ägyptischer Allusionen, Isis- und Osiriskulte werden aufgerufen, ägyptische Priester, Mysterien und Pyramiden.41 Als literarische Vorlage zur Ausgestaltung dieser Elemente diente Schickaneder der zu seiner Zeit besonders unter Mitgliedern der Geheimgesellschaften viel gelesene und für die Ägyptomanie der Zeit äußerst einflußreiche Staatsroman Sethos. Histoire ou vie tiree des monumens anecdotes de /'andenne egypte des Abbe Terrassen von 1731, den Matthias Claudius — ebenfalls Logenbruder — 1777 ins Deutsche übersetzte.42 Zugleich aber liegen die Handlungsorte der Zauberßöte nicht in Ägypten, sondern in den phantastischen Reichen der Königin der Nacht und des Sarastro, und die Figur des Papageno trägt ebenfalls keine ägyptische Signatur. Wenn sich dieses Werk Mozarts und Schikaneders dennoch mit Fug und Recht in die Tradition der Ägypten-Oper stellen läßt, deren Prominenz auf den deutschen Bühnen seit dem Beginn der Kunstform Oper ungebrochen war,43 dann ist dafür nicht in erster Linie das Libretto — und noch weniger die Musik44 — verantwortlich. Denn von allen am Gesamtkunstwerk Oper beteiligten
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ungewöhnlicher Bauherr". In: Preußische Schlösser und Gärten. Bau- und Gartenkunst vom 17. bis 20. Jahrhundert. Ausstellungskatalog. Hrsg. v. d. Generaldirektion der Stiftung Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci. Potsdam 1993, S. 164-171. Vgl. Wolfgang Amadeus Mozart: Die Zauber/löte. In: ders.: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Bd. 11/5,19. Vorgelegt von Gernot Gruber und Alfred Orel. Kassel/ Basel/ Paris 1970, S. 38, 114, 127,191, 197, 245, 287, 353. Auch die Zahlen- und Lichtsymbolik, sowie die Konzeption von Mysterium und Initiation war als ägyptisches Kolorit wahrnehmbar. (Jean Terrassen:] Geschichte des egyptischen Königs Seihos. Aus dem Französischen übersetzt von Matthias Claudius. 2Theile. Breslau 1777/1778. Zur historischen und systematischen Kopplung äygptischer Sujets mit der Kunstform Oper vgl. den kursorischen Überblick in: Andrea Polaschegg: „Ägypten und die Oper". In: Dialog. Zeitschrift deutsch-ägyptischer Gesellschaften 8 (2000), S. 21-39. Orientalisches Lokalcolorit jenseits der primär szenischen ö//W#ra;-Einlagen musikalisch zu gestalten, setzt sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durch (vgl. Hellmuth Chr. Wolff: „Der Orient in der französischen Oper des 19. Jahrhunderts". In: Heinz Becker (Hrsg.): Die ,coleur locale' in der Oper des 19. Jahrhunderts. Regensburg 1972, S. 371385). Den ersten avancierten Versuch, eine Ägypten-Oper mit Rückgriff auf altägyptische Instrumente zu komponieren, unternimmt erst Giuseppe Verdi mit seiner Aida (uraufgef. 1871 in Kairo). Vgl. dazu: Hans Busch: Verdi's Aida. The History of an Opera in Letters and Documents. Minnesota 1978, S. 11-32; Alfred Marquart: „Der Mond an Nil und Euphrat". In: Exotische Welten. Europäische Phantasien. Ausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen und des Württembergischen Kunstvereins. o.O. 1987, S. 256261; Gradenwitz: Musik ^wischen Orient und Okzident, S. 294ff.
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Einzelkünsten kam dabei dem Bühnenbild die größte Bedeutung für die europäische Imagologie des pharaonischen Ägypten zu. Schließlich bot sich hier die Möglichkeit, die monumentale altägyptische Architektur frei von jeder ingenieurtechnischen Beschränkung zu realisieren, ohne dabei auf den Überwältigungs-Effekt verzichten zu müssen. So schlußfolgert auch Curl: Among the most imaginative schemes where Egyptian-Revival forms were used, stage-designs must take pride of place, especially in the German-speaking countries, and, perhaps of all inspirations where Egyptianising stage-sets were concerned, Mozart's Singspiel, Die Zauber/löte, proved to be the most potent.45
Schon die erste Ausgabe des Librettos war mit Stichen illustriert, in denen altägyptische Interieurs und Architekturen die dargestellten Innen- und Außenräume dominieren.46 Diese Tendenz zur architektonischen Agyptisierung der phantastischen Handlungsräume der Zauberoper setzt sich in der Gestaltung ihrer Bühnenbilder fort, und als Karl Friedrich Schinkel die Arbeit an seinen berühmten Entwürfen für die erste Berliner Aufführung der Zauberßöte 1815 beginnt, ist die Assoziation des Singspiels mit ägyptischer Monumentalarchitektur durch die vorangegangene Aufführungspraxis schon fest etabliert.47 Doch während in den Entwürfen seiner Vorgänger die monumentale ägyptische Architektur selbst im Zentrum steht, greift Schinkel in seinen Bühnenbildern nahezu die gesamte Bandbreite ägyptischer Topoi auf und formt sie zu eindrucksvollen Allegorien.48 Unterlegt mit einem menschheits- wie baugeschichtlichen „Pathos der Frühe",49 das seine Bühnenentwürfe zur Zauberflöte insgesamt prägt, setzt er dabei vor allem die ägyptischen Topoi ,Tod', JJrsprung' und ,Größe' in Szene. So gestaltet er etwa die Szenenanweisung zum 2. Aufzug, 28. Auftritt, die eine archaische Felsenlandschaft mit Feuer und Wasser vorsieht,50 als Entstehungs-Allegorie der ägyptischen Baukunst aus den Elementen um.51 (Abb. 10) Und der für die 7. Szene im 2. Aufzug vorgesehene „ange45 Curl: EGYPTOMANIA, S. 148. 46 Sie stammen von dem Wiener Künstler und Logenbruder Mozarts, Ignatz Alberti. Einer dieser Stiche findet sich bei Curl wiederabgedruckt (EGYPTOMANIA, S. 149). 47 In Mannheim und München hatten zuvor bereits Aufführungen mit ägyptisierenden Bühnenbildern nach den Entwürfen von Giulio Quaglio stattgefunden, und Carl Maurer lieferte eine nicht minder monumentale Bühnenarchitektur für die Inszenierung in Kismarton/Eisenstadt, geleitet von Johann Ncpumuk Hummel. Vgl. die Abbildungen und Ausführungen in Curl: EGYPTOMANIA, S. 150-156. 48 Vgl. dazu ausführlich: Ulrike Harten: Die Bühnenentu/ürfe. Überarb. u. hrsg. v. Helmut Börsch-Supan und Gottfried Riemann. (Karl Friedrich Schinkel. Lebenswerk. Begr. v. Paul Ortwin Rave, Bd. XVII). München/ Berlin 2000, S. 117-177. 49 Helmut Börsch-Supan: Karl Friedrich Schinkel Bühnenentwürfe, Stage Designs. Bd. 1: Kommentar. Berlin 1990, S. 56. 50 Mozart: Neue Ausgabe sämtlicher Werke /5/19, S. 287. 51 Börsch-Supan: Karl Friedrich Schinkel Bühnenenfwürfe, S. 90.
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Abb. 10: Karl Friedrich Schinkel: Entwurf %ur Zauberflöte, XL Dekoration (Gouache, Bleistift, 52.3 74.5 cm), Gropius 1850
Abb. 11: Karl Friedrich Schinkel: Entwurf\ur Zauberflöte, 1/77. Dekoration (Gouache, 50.8 59.9 cm), Gropius 1850
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nehme Garten"52 verwandelt sich unter der künstlerischen Hand Schinkels in ein mondbeschienenes Mausoleum, auf dem der monumentale Sphinx von Gizeh ruht. (Abb. 11) Doch ganz offensichtlich waren im ausgehenden 18. Jahrhundert Mysterienkulte, Weisheit und Initiationsriten mit dem alten Ägypten und seiner Baukunst bereits so direkt assoziierbar, daß es keines dezidiert freimaurerischen Geistes bedurfte, um das Land am Nil mit solchen Attributen auszustatten. Die Sinnfälligkeit dieser Attribuierung weit über die Opernbühne hinaus wurde neben zahlreichen Diskursen auch durch zwei ägyptische Figuren gestützt, die mit ihrer eigenen ästhetischen Rezeptionsgeschichte als allegorische Muliplikatoren des ÄgyptenBildes funktionierten. Da ist zum einen der/die Sphinx zu nennen. In dieser Figur verschmolz im Laufe der Frühen Neuzeit die semantische und ikonographische Traditionslinie der weiblichen Sphinx aus der griechischen Mythologie mit dem Bild der monumentalen männlichen Statue vor den Pyramiden von Gizeh/Memphis zu einem semantischen Kulminationspunkt von Rätsel, Tod, Erotik und Kraft. Das gender-crossing, das der männliche äygptische Sphinx — ein Symbol der Stärke mit dem kopftuchbedeckten Haupt des Pharao (arab. abü-l-haivl — „Vater des Schreckens") durch seine Kopplung an das weibliche Halbwesen der griechischen Mythologie durchlief, ließ einen ikonologischen Zwitter entstehen mit ,griechischen' Brüsten und ,ägyptischer' Kopfbedeckung: eine Hybridbildung, die der Figur bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ein enormes semiotisches Potential verlieh.53 Ebenso wie der/die Sphinx konnte die verschleierte Isis zu Sais einen festen locus im Thesaurus der bildenden Kunst seit der Frühen Neuzeit für sich beanspruchen. Und ähnlich wie das ägyptischgriechische Halbwesen verdankte auch die altägyptische Göttin ihren Rezeptionserfolg einer ikonologischen Transformation: Im Schwerefeld frühneuzeitlicher Natur-Allegorien verschmolz nämlich die ägyptische Isis mit dem spätantiken Bild der „vielbrüstigen" Ephesischen Diana (multimammiä) zu einer Figur, die bis ins 19. Jahrhundert in zahlreichen Verwendungszusammenhängen Aufnahme fand.54 So erfreute sie sich, neben der Gartenarchitektur, auch in der Ikonographie der Wissenschaften großer Prominenz und wurde insbesondere in der Gestaltung von Medaillen und Titelvignietten gern umgesetzt — mit oder ohne gelüftetem Schleier, in Begleitung einer Sphinx oder ohne sie.55 Im Bild der Isis-Diana verbanden 52 Ebd., S. 219. 53 Zahlreiche Beispiele finden sich in Syndram: Das Erbe der Pharaonen, i.b. S. 34 ff. und in Curl: EGYPTOAiANIA, i.b. S. 82, 88ff. (Piranesi), 100 (Desprcz), 125, 143ff., 150ff. (Bühnenbilder), 174,184 (Grabmale). 54 Vgl. dazu ausführlich: Andrea Goesch: Diana Ephesia. Ikonographische Studien %ur Allegorie der Natur in der Kunst vom 16. bis 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1996; Curl: EGYPTOMANIA,S. 12 ff. 55 Drei Beispiele aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - eine Medaille zur Berliner Versammlung Deutscher Naturforscher und Arzte, eine Medaille auf Alexander von
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sich Konzepte von Natur, Weisheit, Erotik, Rätsel und Tod zu einem auch literarisch weit verbreiteten Dispositiv. Friedrich Schillers Ballade Das verschleierte Bildnis %u Sais und Friedrich von Hardenbergs Die L·ehrl^nge %u Sais sind nur zwei Beispiele aus einer langen Reihe von Bearbeitungen des Motivs.56 Der Radius europäischer Rezeptionsmöglichkeiten Ägyptens in der Neuzeit war also sowohl ästhetisch als auch semantisch weit gesteckt. Und dennoch hatte er Grenzen. Zwar läßt sich unter anderem in der Gartenarchitektur des ausgehenden 18. Jahrhunderts auch ein durchaus spielerischer Umgang mit altägyptischen Formen und Motiven feststellen. So stattete etwa Carl Gotthard Langhans die von ihm ansonsten sehr licht gestaltete Orangerie im Neuen Garten Friedrich Wilhelms II. mit einem monumentalen altägyptischen Seitenportal aus, bestückt mit einer großen Sphinx und zwei schwarzen Statuen (Abb. 12). Und die 1791/92 von Andreas Ludwig Krüger am selben Ort erbaute,57 sowohl mit mehr oder minder authentisch anmutenden Hieroglyphen als auch astrologischen Zeichen rosenkreuzerischer Provenienz geschmückte Pyramide58 (Abb. 13) barg - eine kongeniale Verbindung von ägyptisierender Semantik und preußischem Pragmatismus — einen drei Meter tiefen Eiskeller. Humboldt und die Titelvignette zu A. v. Humboldts liken %ur Geographie der Pflanzen diskutiert Hartmut Böhme in seinem Beitrag: „Goethe und Alexander von Humboldt. Exoterik und Esoterik einer Beziehung". In: Wechselwirkungen. Kunst und Wissenschaft in Berän und Weimar im Zeichen Goethes. Hrsg. v. Ernst Osterkamp. Bern/ Berlin u.a. 2002, S. 167-192, i.b. Abb. 1-4. Die ägyptisierende Ikonographie und ihre Semantik lotet Böhme dabei allerdings nicht aus. Ein weiteres Beispiel - eine Gedenkmedaille für die Order Louis XVIII zur Vollendung der Descrition de rEgypte — findet sich bei Curl: EGYPTOMANIA, S. 132f. 56 Eine detailreiche ikonographiegeschichtliche Darstellung der Isis bietet der Beitrag von Elisabeth Staehelin: Alma Mater Isis. In: Aegypten-BUder. Akten des Symposiums zur Ägypten-Rzeption, Äugst bei Basel, vom 9.-11. September 1993. Hrsg. v. Elisabeth Staehelin und Bertrand Jaeger. Fribourg/Göttingen 1997, S. 103-141, eher bedeutungsgeschichtlich angelegt und ebenso erhellend ist der Aufsatz von Chr. Harrauer: ,Jch bin, was da ist...". Die Göttin %u Sais und ihre Deutung von Plutarch bis in die Goethe^eit. In: . Wiener Studien. Zeitschrift für Klassische Philologie und Patristik 106/107 (1994/95), S. 337-355; Jan Assmann: Das verschleierte Bildnis %u Sais. Schillers Ballade und ihre griechischen und ägyptischen Hintergründe. Stuttgart/Leipzig 1999. Zum größeren Zusammenhang: Jan Assmann: „Der Schleier der Isis. Ägypten in der Gedächtnisgeschichte des Abendlandes". In: Lettre International, IV. Vj. (1998), H. 43, S. 50-53. 57 Ihre Gestaltung war übrigens ebenfalls angeregt durch Terrassons Roman: Geschichte des egyptischen Königs Sethos. Vgl. Wimmer: Die Geheimnisse des Neuen Gartens, S. 167. 58 Vgl. ebd., S. 167-170. Wimmers Darstellung zufolge ist die Echtheit der Hieroglyphen noch immer nicht geklärt. Ursprünglich waren die Dreiecksflächen der Pyramide selbst mit Hieroglyphen versehen. Erst im Zuge ihrer Umgestaltung 1833 ordnete man die Reste der Zeichen als jenes Schriftband um den Bau herum an, das heute noch zu sehen ist. Vgl. Friedrich Wilhelm II. und die Künste. Preußens Weg %um Klassisysmus. Katalog. Hrsg. v. d. Gencraldirektion der Stiftung Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci. Potsdam 1997, S. 419.
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Abb. 12: Carl Gotthard Langhans: Ägyptisches Portal (erb. 1791-94) Potsdam: Neuer Garten
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Abb. 13: Andreas Ludwig Krüger: Pyramide (erb. 1791-92) Potsdam: Neuer Garten
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Im Kontext des Gesamtarrangements des Gartens betrachtet, wird jedoch die morbid-mystische Belegung der ägyptischen Bauformen sichtbar. Die Pyramide befand sich in direkter Nachbarschaft zu zwei kenotaphen Urnen59 und stand — wie auch das Portal der Orangerie - in einem direkten semiotischen Zusammenhang sowohl zu zwei ägyptischen Sphingen, die den südlichen Parkeingang bewachten, als auch zur einer Isis-Statue in Gestalt der Diana von Ephesus, die inmitten eines Kreises von zwölf Kanopen — also wiederum Urnen — aufgestellt war.60 Es war wohl nicht zuletzt die historische Funktion der ägyptischen Bauwerke als Kultstätten und Gräber, die für die starke mystisch-morbide Konnotation äygptisierender Formen verantwortlich zeichnet; sie erfreuten sich nicht zufällig in der europäischen Gräber- und Friedhofsarchitektur seit dem frühen 18. Jahrhundert zunehmender Beliebtheit.61 Dies alles hatte dem Land am Nil die Konnotate von Geheimnis, Alter, Weisheit, Königtum, Tod und Ewigkeit so irreversibel eingeschrieben, daß Konzepte von Lebendigkeit, von Entwicklung und Freiheit nur schwer mit ihm verknüpfbar waren. Und obwohl Ägypten semantisch und ikonographisch über eine höhere Zahl von Anschlußmöglichkeiten verfügte als China und seiner Faszinationsgeschichte entsprechend die verschiedenen epistemischen, weltanschaulichen und ästhetischen Paradigmenwechsel der Neuzeit weit besser überstand als die Rezeption des Reichs der Mitte, lassen sich doch für die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert Topoi ausmachen, die Ägypten mit China verbanden. Einer dieser Topoi ist eben jene Belegung mit dem Statischen und Toten. Sie erlaubte es Johann Gottfried Herder in seinen Ideen %ur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Ägypten und China nicht nur miteinander in Beziehung, sondern rhetorisch sogar in eins zu setzen und China polemisch als „eine balsamierte Mumie, mit Hieroglyphen bemalt und mit Seide umwunden" zu bezeichnen.62 Diese semiotische Verschmelzung der beiden Kulturen konnte sich zwar auf Völker-Verwandtschaftstheorien stützen, die bereits seit dem 17. Jahrhundert existierten und einen ägyptischen Ursprung der chinesischen Kultur behaupteten.63 Doch gründeten diese historischen Ordnungsver59 Der zeitgenössisch vorgesehene Rundgang durch den Garten führte von dem einen Kenotaph direkt über die Pyramide zum zweiten. Vgl. Wimmer: Die Geheimnisse des Neuen Gartens, S. 166 f. 60 Die ephesische Diana befindet sich heute im Marmorpalais des Gartens. Zu ihr und den Sphingen vgl. Friedrich Wilhelm II. und die Künste, S. 430 ff. Hier finden sich auch die entsprechenden Abbildungen. 61 Curl: EYGPTOMANIA, S. 172-187. 62 Johann Gottfried Herder. Ideen spr Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91). In: Herder SW 14, 3. Teü, S. 13. 63 Athanasius Kircher war erste Gelehrte, der die These vom ägyptischen Ursprung der chinesischen Sprache und Schrift formulierte - eine Position, zu der er nach seiner Auseinandersetzung mit den ägyptischen Hieroglyphen gelangte und die hundert Jahre
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suche letztlich auf den gleichen semantisch-ikonographischen Analogien zwischen diesen beiden Völkern wie ihre ästhetische oder philosophische Ineinssetzung. Während China allerdings auf der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert seine Faszinationskraft fast vollständig einbüßte, fand Ägypten mit seinen Konnotaten des Steinern-Statischen, Geheimnisvollen und Ursprünglichen Eingang in neue symbolische Konstellationen und lebte in ihnen weiter. Eine in Literatur und Publizistik der Zeit besonders prominente Figuration findet sich in August Klingemanns 1800 herausgegebener, erster und letzter Nummer seiner Zeitschrift mit dem für unseren Zusammenhang signifikanten Titel Memnon.M Das Frontispiz zeigt den sitzenden ägyptischen Koloß, Wächterstatue des Thebanischen Tempels, in düsterer Rahmung und bildet den direkten Auftakt zum Eingangsgedicht, das die Statue im Rekurs auf ihre Größe und materiale Schwere als metonymischen Repräsentanten des Toten, Statischen und Ewigen ausdeutet und in eine synästhetische Allegorie der Erweckung durch Licht und Klang überführt.65 Es lautet: Es sitzet starr in traurig-düsterm Harren Das dunkle Bild, und alles Leben schweigt; Rauh steigt es aus der stillen Nacht hervor, Und blickt, wie die Bedeutung, ernst und schweigend, In's tiefe Dunkel und zum fernen Morgen. Gefesselt an der rohen Masse Schwere Erstarrt die Bildung, nie ersteht die Form; Denn ach, noch schweigt der schöne inn're Ton, Der alles Leben weckt und ruhig hält — Die Nacht ist stumm, und nur am goldnen Licht Entzünden sich des Lebens Harmonien. Welch leises Wehen durch den dunklen Himmel! Die Wellen kräuseln sich im hohen Osten, Und sieh, da steigt ein ferner sanfter Schimmer, Des schönen Lichtes stiller Geist empor — Und tiefer regt sich's unten in der Nacht Und streitet ringend mit dem neuen Leben. Der kalte Sohn stützt seine starren Hände Gewaltig auf den rauhen Stein, und strebt Sich aus der dunklen Nacht hervorzuheben. Da rührt sein stummes Flehn die holde Mutter, später von Joseph de Guignes (1721-1800), dem berühmtesten Sinologen des 18. Jahrhunderts, aufgegriffen und weitergeführt wurde. Dazu ausführlich: Mungello: Aus den Anfängen der Chinakunde in Europa 1678-1770, S. 74ff.; Harth: China - Monde imaginaire der europäischen Literatur, S. 21 Of f. 64 Memnon. Eine Zeitschrift. Hrsg. v. August Klingemann. Leipzig 1800 (Neudr. Nendeln/ Liechtenstein 1971). 65 Vgl. dazu: Bettine Menke: „Memnons Bild: Stimme aus dem Dunkel". In: OVjS 68 (1994) Sonderhefts. 124-144.
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Sie blickt ihn an, und ihre treue Liebe Erwärmt sein kaltes abgestorb'nes Herz Und an dem goldnen Licht entzündet sich Der erste Ton und hallt harmonisch wieder.66
Zwar zählte der Memnon-Koloß — ebenso wie Isis und Sphinx — schon in der Frühen Neuzeit zum festen Inventar der Topik und trug in der barocken Emblematik auch bereits die Signatur des schweigenden Standbildes, das zu sprechen beginnt, wenn der Strahl der Morgensonne es berührt. Doch das barocke „Bild Memnonis", das — wie der Erzähler in Grimmeishausens Simpliässimus zu berichten weiß — „so oft es von der aufgehenden Sonne beschienen wurde, einen großen Ton oder Gebrumm von sich gegeben" habe,67 erfuhr auf der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine signifikante Umbewertung. Während Memnon in der Ikonographie des 17. Jahrhunderts nämlich als männliches Siandfoua auf einer hohen Säule dargestellt wurde und einzig durch den auf die Lippen gelegten Finger — das Insignium des griechischen Harpocrates, des zum Gott des Schweigens umgedeuteten ägyptischen Horos — als Figurenallegorie des Schweigens lesbar war,68 wird um 1800 die wuchtige Größe und Materialschwere der sitzenden ägyptischen Statue des Memnon selbst zum (metonymischen und dadurch um so sinnfälligeren) Zeichen des schweigenden Toten und Statischen. So beginnt der „neue" Memnon im Licht der Sonnenstrahlen auch nicht, wie in der Emblematik des 17. Jahrhundert noch üblich, zu sprechen, sondern zu klingen, sich zu erwärmen und zu bewegen. Dabei verliert er seine figurenallegorische Verweiskraft und gerinnt zu einer Synekdoche Ägyptens als des alten, steinernen, geheimnisvollen, monu66 Memnon. Eine Zeitschrift I, S. 3 f. Menke stellt eine direkte Beziehung her zwischen diesem Gedicht und dem Ausspruch des Novalis: „Der Geist der Poesie ist das Morgenlicht, das die Statue des Memnon tönen macht." (Menke: Memnons Bild: Stimme aus dem Dunkel^. 127). 67 Hans Jakob Christoffel von Grimmeishausen: Der abenteuerliche Simplidssimus. Frankfurt a. M. 1983, S. 157. Diese Textpassage findet sich in der Ausgabe von 1671, während sie ihm Erstdruck fehlt. Vgl. den Kommentar von Dieter Breucr in: Hans Jacob Christoffel von Grimmeishausen: Werke 1.1. Hrsg. v. Dieter Breuer. Frankfurt a. M. 1989, S. 745. 68 Das Handbuch %ur Sinnbildkunst des Xl- . und 1/7/7. Jahrhunderts führt zwei Beispiele /um Mcmnon-Koloß auf. Eines der beiden Embleme trägt die inscriptio IN STATUAM MEMNONIS IN . CONTRA ADUOCATOS, und seine subsmptio lautet: „Wanderer, bestaune nicht mehr das Bild des Memnon, welcher schweigt und das Zeichen des ägyptischen Harpocrates macht. Aber wenn die Sonne mit ihren Strahlen seinen Mund beleuchtet, wird er, der vorher schweigsam war, anfangen zu sprechen. O wie schwer ist es, dem Anwalt Antworten zu entlocken, wenn er die Bezahlung nicht greifbar vor seinen Händen sieht. Doch wenn das Gold der Geschenke ihm ins Auge sticht, dann gibt er den Angeklagten wahre Orakelsprüche, wie sie in Delphi erteilt werden." Vgl. EMBLEAIATA. Handbuch der Sinnbildkunst des Xl- . und XI/77. Jahrhunderts. Hrsg. v. Arthur Henkel und Albrecht Schöne. Taschenausgabe. Stuttgart/ Weimar 1996, Sp. 1230; hier auch die Anm. zum griechisch-ägyptischen Götterwechsel.
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mentalen Ursprungslandes, das durch den Morgenglanz der Sonne wieder zum Leben erweckt werden kann. Ihre semantische Produktivität entfaltet diese allegorische Figuration - das Bild von der Erweckung des kalten, starren und stummen steinernen Ägyptens zu Klang, Wärme und Bewegung — im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert in poetologischen Diskursen69 ebenso wie in menschheitsgeschichtlichen,70 und sie findet sogar Eingang in die politische Ikonographie. Ferdinand Freiligrath etwa nimmt in seinem Gedicht Ein Lied Memnons1* die Grundfiguration von starrer Statue und belebendem Licht auf, um sie im Verlauf der zehn Strophen zu einer Monumentalallegorie der Befreiung des mit steinernen Tempelanlagen, marmornen Sphingen und Obelisken überzogenen Ägyptens durch die strahlende Morgenröte zu erweitern. Die symbolbeladenen Verse legt er dem nicht zufällig singenden Memnon in den Mund, dessen Lied mit den programmatischen Worten beginnt: „Vergangen ist die Nacht!", um schließlich fortzufahren: Blutrot im ersten Sonnenstrahl Glühn Obeliskus und Koloß. Nach Westen weithin fallt ihr ungeschlachter Schatten; Die Sphinxe werden wach auf Marmorplatten, Und schauen trag empor an Turm und Säulenknauf Der Ibis schickt sich an, um ihre Stirn zu schweben; Sie aber recken sich, und geben Sich gähnend Rätsel auf.
Auf dieses schwere, steinerne und träge Ägypten läßt Freiligrath nun den Strahl einer Sonne fallen, in der sich symbollogisch das Licht der Revolution in Gestalt des Napoleon Bonaparte mit dem Leuchten der christusallegorischen Gnadensonne ununterscheidbar verbindet: So grüßt Ägyptenland, du Strahlender, dein Kommen! Bald übern Strom schon ist dein Spiegelbild geschwommen; 69 Vgl. Joseph von Hammer-Purgstall: Memnon's Dreiklang, nachgeklungen [...] in Dewajani einem indischen Schäferspiele, Anahid, einem persischen Singspiele, und Sophie, einem türkischen Lustspiele. Wien 1823. 70 Auch Joseph Görres greift in der Vorrede zu seiner Übersetzung des Schah Nameh von Ferdusi auf diese Symbolkonstellation zurück, wenn er die lebensspendende Kraft der „alten Bücher [...] der Vorzeit" mit den hyperbolischen Worten umreißt: „[...] so wird in jenen Büchern der Zeitsinn bewaffnet und gestärkt, daß er von Jahrhundert zu Jahrhunderts bis zur altergrauesten Vergangenheit gelangt, durch die %wei Reihen derMemnonsbilder durch die unter seiner Berührung in Erinnerungen und Sagen tönen, bis zur Pforte jenes Tempels hin, aus dem die vier Ströme in die vier Wcltgegenden sich ergießen, und wo der alte Priester in den sieben planetarischen Klängen die Geburt der Welt und den Ursprung der Dinge leise und kaum vernehmlich singt." (Das Heldenbuch von Iran aus dem Schah Nameh des Firdussi von J. Görres. In zwei Bänden. Mit zwei Kupfern und einer Charte. Erster Band. Berlin 1820, S. II, Hervorh. von mir). 71 Ferdinand Freiligrath: Ein LiedMemnons. In: ders.: Gedichte. Stuttgart 1964, S. 31-33.
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Die Wüste fährt empor, dich jubelnd zu empfahn. Und ich auch, der ich nur ein Wächter bin im Sande, Ertöne, seh ich dich am Rande Des Felsgebirgs im Osten nahn.
Ende und gleichzeitigen Höhepunkt findet das ausgefaltete Szenario in einer dezidiert eschatologischen Figuration, in welcher der Topos des steinernen und nekropolischen Ägyptens mit dem Fels vor der Tür des Grabes Jesu verschmilzt: Sie da, sie öffnen sich! Sie springen und sie schmelzen! Die Erde war ein Grab; - doch du, den Stein zu wälzen Von seiner Türe nahst! - Hin fällt er und zerbricht. Ich aber grüße dich in deiner Kraft und Schöne; Vernimm die Summe meiner Töne In einem einz'gen Worte: Licht!
Offenkundig spielt Freiligrath mit diesem Gedicht auf die Invasion französischer Truppen in Ägypten unter Führung von General Bonapartes 1798 an — ein orientpolitisches Ereignis, das auch Karoline von Günderrode in ihrem Hymnus Bonaparte in Ägypten (1799) zum Anlaß nimmt, auf eben diese symbolische Konstellation von dunklem Stein und lebendigem Lichtbringer zurück und verbindet sie — in symbollogisch durchaus konsistenter, wiewohl poetisch wenig eingängiger Weise - statt mit Memnon mit dem Topos der entschleierten Isis, die sich im Lichte revolutionärer Bildlichkeit zu einer „entfesselten Isis" wandelt. Da heißt es: Endlich fliehet die Nacht! und herrlicher Morgen Golden entsteigst du dem bläulichen Bette der Tiefe Und erleuchtest das dunkle Land wo der Vorzeit Erster Funke geglüht, wo Licht dem Dunkel entwunden Früh gelodert im Schütze mystischer Schleier Dann auf lange entfloh und ferne Zonen erleuchtet. — Ewig weicht sie doch nicht vom heimischen Lande Die Flamme, sie kehret mit hochaufloderndem Glanz hin. Alte Bande der Knechtschaft löset die Freiheit, Der Begeisterung Funke erweckt die Söhne Egyptens. — Wer bewirkt die Erscheinung? Wer ruft der Vorwelt Tage zurück? wer reiset Hüll' und Ketten vom Bilde Jener Jsis, die der Vergangenheit Räthsel Dasteht, ein Denkmal vergessener Weisheit der Urwelt? Bonaparte ist's, Jtaliens Erobrer, Frankreichs Liebling, die Säule der würdigeren Freiheit Rufet er der Vorzeit Begeisterung zurücke Zeiget dem erschlaffen Jahrhunderte römische Kraft. — [...]72 72 Karoline von Günderrode: Sämtliche Werke und ausgewählte Studien. Hrsg. v. Walter Morgcnthaler. Historisch-Kritische Ausgabe. Bd. 1: Texte. Basel/ Frankfurt a. M. 1990, S. 369 f.
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Die französische Expedition d'Egypte, die Günderrode hier besingt, mag rückblickend zwar als einschneidendes orientpolitisches Ereignis erscheinen73 und ist auch in ihrer Funktion als Beschleuniger der französischen ebenso wie der britischen Ägyptomanie zu Beginn des 19. Jahrhunderts kaum zu überschätzen.74 In der deutschen Ägypten-Rezeption markiert die knapp vierjährige und in ihrem militärischen Verlauf wenig ruhmreiche Okkupation des Landes durch die Franzosen75 jedoch keineswegs eine deutliche Zäsur. Ihre Folgen erreichen Deutschland nur mittelbar und fast ausschließlich über wissenschaftliche Kanäle: Unter den über 50 000 Teilnehmern der französischen Militäraktion in Ägypten war auch eine kleine aber erlesene Anzahl von Wissenschaftlern, Künstlern und Schriftstellern, die den Auftrag hatten, das gesamte Land zu inventarisieren, zu kartographieren und bildmedial zu erfassen. Als Ergebnis dieser Bemühungen entstand - vom französischen Kaiserreich als Prestigeprojekt mit hohen finanziellen Aufwendungen unterstützt — die Description de /'Egypte, ein zehn Folianten, zwei Bände mit 837 Kupferstichtafeln und insgesamt 3 000 Abbildungen umfassendes Monumentalwerk, das bereits 1809 zu erscheinen begann.76 Es enthielt zahllose Stiche der altägyptischen Antiken, ebenso aber zeitgenössische Gebäude-, Stadt- und Landschaftsansichten, Darstellungen des zivilen Lebens in Ägypten, von Handwerk, Kleidung, Musikinstrumenten, Münzen, technischem Gerät, und schließlich umfassende Übersichtstafeln mit Abbildungen der ägyptischen Gesteins-, Tierund Pflanzenwelt. Selbst bereits wie ein Musterkatalog für Formen und Motive aufgebaut, avancierte die Description de /'Egypte zu einem bedeutenden Vorlagewerk der bildenden Künste und Architektur auch in Deutsch73 Auch Malcolm E. Yapp spricht von einem „key event in the developement of the Eastern Question". Vgl. Malcolm E. Yapp: The Making of the Modern Near East. 17921923. London/New York 1987, S. 50. 74 Dazu Curl: EGYPTOMANIA, S. 118-147. 75 Erfolgreich waren allein die militärischen Aktionen des ersten halben Jahres der Okkupation — die Schlacht bei den Pyramiden im Sommer 1798 fand, in den Folgejahren von zahlreichen Malern gestaltet, Eingang sowohl in die Herrschaftsinszenierung des napoleonischen Kaiserreiches als auch ins kollektive Gedächtnis der Franzosen. Doch gegen die sich zu Beginn des Jahres 1799 formierende Tripelallianz aus dem Osmanischen Reich, England und Rußland waren die Franzosen machdos. Bonaparte schiffte sich schon im selben Jahr nach Frankreich ein, und nach einer Reihe herber Niederlagen mußte sich auch sein Heer nach der Schlacht bei Amiens im Mai 1802 geschlagen geben. Vgl. die prägnante Zusammenschau in Yapp: The Making of the Modern Near East, S. 50f. Ebenso komprimiert ist die Darstellung in: Arthur Goldschmidt, Jr.: Modem Egypt. The Formation of a Nation-State. Cairo 1990, S. 13-16. 76 Ein Nachdruck sämtlicher Abbildungen der Description ist unter dem Titel erschienen: Description de l'Egypte. Complete Edition - Vollständiger Nachdruck - Edition complete. Köln 1994. Das Vorwort unterrichtet davon, daß fast 20 Jahre lang rund 400 Kupferstecher mit der Erstellung des Werkes befaßt waren (ebd. S. 19). Der letzte Band wurde 1828 publiziert.
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land. Allerdings gelangten durch die französische Expedition nicht allein Abbildungen der ägyptischen Antiken nach Westeuropa, sondern auch eine ganze Reihe von Kunstschätzen selbst — und zwar nach England ebenso wie nach Frankreich.77 Unter diesen Kunstschätzen war auch der berühmte Stein von Rosetta, der 1802 in London eintraf. Zu einer wissenschaftlichen Sensation wurde dieser bei französischen Befestigungsarbeiten im westlichen Nildelta gefundene Stein durch seine mehrsprachige Inschrift: Wie sich später herausstellte, enthielt er ein Dekret aus dem 2. Jahrhundert, das dort in griechischer, demotischer und hieroglyphischer Schrift eingeritzt war, und diese Parallelität sollte schließlich 1822 zur Entzifferung der Hieroglyphen führen. Nachdem ein Vierteljahrhundert zahlreiche namhafte europäische Gelehrter bemüht waren, anhand des Steins das Rätsel der altägyptischen Schrift zu lösen78 — unter ihnen Berühmtheiten wie der Altvater der französischen Orientalistik, Sylvestre de Sacy, der Wiener Orientalist Joseph von Harnmer-Purgstall und Wilhelm von Humboldt -, gelang dem Franzosen Jean Francois Champollion 1822 der Durchbruch, und er präsentierte seine Ergebnisse vor der Pariser Akademie der Wissenschaften. Dieses Datum ist als Beginn der modernen Ägyptologie in die Wissenschaftsgeschichtsschreibung eingegangen.79 Doch trotz aller Überraschungen, welche die Entzifferung der Hieroglyphen tatsächlich bereithielt - etwa die Erkenntnis, daß es sich bei den altägyptischen Zeichen keineswegs (nur) um Ideogramme handelte, sondern um ganz profane Buchstaben und daß die hieroglyphischen Texte weit mehr politischen und historischen als mystischen Inhalts waren —, und trotz der Fülle neuen Bildmaterials, das über die Description de /'Eg)pie und nachfolgende Expeditionen aus Ägypten nach Europa strömte, läßt sich zu jener Zeit in Deutschland kein Paradigmenwechsel der ästhetischen und kulturellen Ägypten-Rezeption diagnostizieren. Zu stabil war das semiotische Dispositiv Ägyptens während der vorangegangenen zwei Jahrhunderte geworden, zu etabliert waren die Gebrauchskontexte ägyptischer Formen und Motive, zu unmittelbar die Assoziationen von Weisheit, Rätsel, Alter, Dauerhaftigkeit, Tod und Größe mit dem Land am Nil, als daß die Ausdifferenzierung der deutschen Ägyptologie als eigenständige Wissenschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts daran nachhaltig etwas hätte ändern können. „Ägypten ist das Denkmal-Land der Erde, wie die Ägypter das Denkmal-Volk der 77 Durch ihren Sieg über die französischen Streitkräfte verfügten die Briten 1802 über weit mehr Muße, finanzielle Mittel und Transportschiffe, um Antiken zu sammeln und in die Heimat zu transportieren, als die Franzosen. 78 Die spannende Geschichte der verschiedenen Entzifferungsversuche nach dem Fund des Rosetta-Stcins erzählt Iversen: The Myth of Egypt and its Hieroglyphs, S. 127-144. 79 Iversen: The Mjtb of Egypt and its Hieroglyphs, S. 146;Syndram: Das Erbe der Pharaonen^. 55.
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Erde sind"80 - so schreibt Christian Carl Josias Bunsen noch 1844. Das Zeitgenössische Ägypten, das in der deutschen Rezeption mehr noch als in den orient-kolonial engagierten Ländern wie Frankreich und England stets im Schatten der altägyptischen Bauten und ihrer Zeit stand, verdichtete sich nicht zu einer eigenständigen kulturellen Einheit innerhalb des orientalistischen Diskurses. Seine Bevölkerung fiel unter die Kategorie der Araber, der Sarazenen oder der „Muselmänner" und unterschied sich semiotisch nicht von den Bewohnern der arabischen Halbinsel, Syriens oder des Libanons. Und staatspolitisch betrachtet war Ägypten ohnehin bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Teil des Osmanischen Reiches, also „türkisch", und hat somit teil an der Rezeptiongsgeschichte der Türken, die im Verlauf der Neuzeit einen ganz anderen Verlauf genommen hat als das pharaonische Ägypten.
3.3 Die Türken Wie in unseren Ausführungen zur „alia turca"-Musik schon anklang, zählen neben den Chinesen und Ägyptern auch die Türken zu jenen orientalischen Völkern, die im frühen 19. Jahrhundert bereits auf eine gut hundertjährige Rezeptionsgeschichte zurückblicken konnten.81 Dabei beschränkte sich die europäische Aufnahme und Verarbeitung osmanischer Elemente nicht auf die Musik, sondern erfaßte so weite Bereiche der (höfischen) Gesellschaft, Kunst und Architektur, daß „man analog zu den vielen Chinoiserien des späten 17. und 18. Jahrhunderts von Turqmrie sprechen kann."82 Anders als im Falle der China- und Ägypten-Rezeption hat die im Verlauf der Frühen Neuzeit einsetzende Türkenmode jedoch eine militärischpolitische Vorgeschichte, ohne die jene Türken-Euphorie des 18. Jahrhunderts unverständlich bleibt. Schließlich waren die Türken - so die durchweg gängige Bezeichnung — mit dem Aufstieg des Osmanischen Reiches im 15. Jahrhundert zu einem unbequemen, weil zu immer weiterer Expansion tendierenden, Nachbarvolk des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation geworden.83 Und mit der Thronbesteigung Süleyman des 80 Carl Josias Bunsen: Ägyptens Stelle in der Weltgeschichte. Geschichtliche Untersuchung in fünf Bänden. Buch 1: Weg und Ziel. Hamburg 1845, S. 58, zit. nach: Kaplony-Heckel: Bunsen. Der erste deutsche Herold der Ägyptologie, S. 65. 81 Zur Vorgeschichte vgl. Monika Kopplin: „Turcica und Turquerien. Zur Entwicklung des Türkenbüdes und Rezeption osmanischer Motive vom 16. bis 18. Jahrhundert". In: Exotische Welten, S. 150-159. 82 Maria Elisabeth Pape: „Turquerie im 18. Jahrhundert und der Recuei/Ferriot". In: Europa und der Orient: 800-1900, S. 305-323. 83 1430 wird Saloniki osmanisch, 1453 Konstantinopel, 1460 die Peloponnes. Vgl. die differenzierte Zeittafel in: Matuz: Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte, S. 287-
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Prächtigen (reg. 1520-1566) - jener historischen Figur, die im 18. Jahrhundert als „Solimano" große Erfolge auf den europäischen Opernbühnen feiern sollte — erfolgte eine erneute Westexpansion des Reiches.84 Das aufgrund seiner Wendigkeit, seiner modernen Bewaffnung und effizienten Organisation ungemein schlagkräftige osmanische Heer verbreitete unter der Bevölkerung Österreichs und der deutschen Staaten vom 15. bis zum 17. Jahrhundert eben so viel Furcht wie es den Königen, Fürsten und Heerführern Respekt abnötigte.85 In dieser Zeit direkter militärisch-politischer Konfrontation mit dem Osmanischen Reich findet auch die oben schon skizzierte Gleichsetzung der Türken mit dem Islam statt.86 Das kann insofern nicht verwundern, als die Türken das erste und für lange Zeit auch das einzige muslimische Volk waren, mit dem man in den deutschen Ländern in Berührung kam, wobei die zahllosen Polemiken und Kampfschriften der Kirchen gegen die heidnischen Türken ihr übriges zur Verbindung der beiden Konzepte beitrugen,87 die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts existierte. Noch die einflußreiche Koran-Übersetzung David Friedrich Megerlins von 1772 trug den Titel Die Türkische Bibel.68 Insgesamt aber läßt sich bereits in der künstlerischen und kunsthandwerklichen Aufnahme und Bearbeitung osmanischer Motive im 16. und 17. Jahrhundert eine ambivalente, „von Furcht und Bewunderung gleichermaßen gespeiste jmago turci'" erkennen, die sich vor allem in der Darstellung osmanischer Herrscher und Militärs niederschlug.89
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310 sowie die wesentlich komprimiertere in: Suraiya Faroqhi: Geschichte des Osmanischen Reiches. München 2000, S. 115-117. 1521 nehmen die Osmanen Belgrad ein, 1522 Rhodos, 1526 beginnt die Eroberung Ungarns und 1529 folgt die erste Belagerung Wiens. Vgl. ebd. Zur Organisation des osmanischen Militärs der Zeit vgl. Maruz: Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte, S. 98-103; zur Aufnahme in der Bevölkerung vgl. Maximilian Grothaus: „Zum Türkenbild in der Adels- und Volkskultur der Habsburgermonarchie von 1650 bis 1800". In: Gernot Heiss/ Grete Klingenstein (Hrsg.): Das Osmanische Reich und Europa. Konßkt, Entspannung und Austausch. München 1983, S. 63-88, i.b. S. 63-82. Zu dieser Kopplung und ihrer beginnenden Differenzierung im 19. Jahrhundert vgl. Klaus Kreiser: „ .Haben die Türken Verstand?'. Zur europäischen Orient-Debatte im napoleonischen Zeitalter. In: Ulrich Jasper Seet^en (1767-1811): Lehen und Werk. Die arabischen Länder und die Nahostforschung im napoleonischen Zeitalter. Vorträge des Kolloquiums vom 23. und 24. September 1994 in der Staats- and Forschungsbibliothek Gotha. Gotha 1995, S. 155-173; ferner: Kopplin: Turcica und Turquerien, S. 151f., ausführlicher: W. Daniel Wilson: Humanität und Kreu^ugsideologie um 1780. Die „Türkenoper" im 18. Jahrhundert und das Rettungsmotiv in Wielands 0heron, Lessings Nathan und Goethes Iphigenie. New York/Bern 1984, S. 11-37. Dazu differenziert: Grothaus: Zum Türkenbild in derAdeL·- und Volkskultur, S, 78 ff. Die türkische Bibel. Die Uebersetzung aus der arabischen Urschrift selbst verfertiget [...] von M. David Friedrich Megerlin. Frankfurt a. M. 1772. Vgl. die Abblildungen in: Koppün: Turcica und Turquerien und in Pape: Turquene im 18. Jahrhundert.
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Wenn sich mit der vernichtenden osmanischen Niederlage bei der zweiten Belagerung Wiens (1683) das türkische Bedrohungsszenario aufzulösen beginnt und eine positive Türken-Rezeption an Raum gewinnt, dann sind viele der rezeptionsbestimmenden Topoi bereits vorgezeichnet. So bleibt auch im Verlauf des 18. Jahrhunderts — begleitet und gestützt durch die Aufnahme der bereits angesprochenen, militärisch konnotierten alia /#raz-Musik in die europäische Kunstmusik — das türkische Militär ein wichtiges Faszinationsmoment, nun allerdings als eine Facette des teils euphorisch wahr- und aufgenommenen Osmanischen Staates. Dessen zentralistische und bürokratische Organisation im Verbund mit der — für europäische Verhältnisse schier unglaublichen — geographischen Ausdehnung des Reiches war im Zeitalter der Aufklärung schon Faszinosum genug. Doch verband es sich mit einer Rezeptionslinie der osmanischen Staatsform, die schon in der Staatstheorie Machiavellis ihren Anfang nahm und sich in den Herrschaftsentwürfen und monarchischen Repräsentationspraktiken des Absolutismus zum Idealbild vom osmanischen Sultan als uneingeschränktem Herrscher verdichtete — durchaus analog zur Rezeption des chinesischen Kaisertums.90 Sie ging vor allem von der Beobachtung aus, daß sich im Osmanischen Reich keine analoge Schicht zum europäischen Adel ausmachen ließ, daß die Eliten in Militär und Verwaltung — einschließlich der Gouverneure — (ehemalige) Sklaven waren und selbst in höchsten Ämtern noch in direkter Abhängigkeit vom Sultan standen. Erblich war in diesem Reich allein das Sultanat. Alle anderen Ämter wurden nach dem Tod oder der Absetzung ihrer Inhaber vom Sultan neu besetzt.91 Die deutsche Bewertung dieser Herrschaftsform 90 Grothaus: 7.um Türkenbild in der Adels- und Volkskultur, S. 75 ff.
91 Metin I. Kunt: The Sultan's Servants. The Transformation of Ottoman Provinvial Government 1550-1650. New York 1983, S. 31 ff. Wie Kunt zu recht betont, ging dieses absolutistische Phantasma selbstverständlich an der komplexen Realität des Osmanischen Staates und seiner Eliten vorbei, doch war es keineswegs aus der Luft gegriffen: Analog zum Römischen Reich — eine Parallele, die übrigens schon Edward Gibbon im Vorwort seines einflußreichen Monumentalwerks The History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1779-1788) zieht - setzte sich auch im Osmanischen Reich allein das Herrscherhaus ethnisch-genealogisch fort, während die Rekrutierung der Eliten in Militär und Verwaltung über die sogenannte devfirme verlief. Diese im Deutschen unter dem lyrischen Begriff der „Knabenlese" bekannte Praxis bestand in der Auswahl nichtmuslimischer Jungen aus der Gruppe von Kriegsgefangenen und Sklaven, die in eigens dafür eingerichteten Palastschulen in Kriegs- und Verwaltungskunst unterrichtet und türkisch-islamisch erzogen wurden. Die wichtigsten osmanischen Ämter — vor allem die Gouverneursstellcn der Provinzen — waren nicht erblich und wurden mit Männern aus diesem Kreis besetzt, die zwar nach Abschluß der Ausbildung aus dem Sklavenstand entlassen wurden, aber dennoch in direkter Abhängigkeit zum Sultan blieben. Vgl. Colin Imber: The Ottoman Empire, 1300-1650. The Structure of Power. Istanbul 1990, S. 128-142, 148-153, 181-183; Halil Inalcik: The Ottoman Empire, The Classical Age 13001600. London 1973, S. 77-88, 104-118; Matuz: Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte, S. 98-103.
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schwankte freilich in Abhängigkeit von der politischen und gesellschaftlichen Position der Autoren und erfuhr vor allem im Verlauf der Despotismus-Diskussion der Aufklärung eine Umwertung.92 Doch im Verbund mit der etablierten Vorstellung vom großen Reichtum des Sultans und der märchenhaften Pracht seiner Hofhaltung entwickelte sich die absolute Herrschaft dieses Potentaten zu einem ungemein fruchtbaren Topos der Türken-Rezeption des 18. Jahrhunderts. Gestützt wurde er von einer Expansion osmanischen Gewerbes und Handels, die vor allem Luxusgüter wie Parfüm, Stoffe und Gewürze nach Westeuropa brachte.93 In der Bezeichnung einiger dieser Handelsgüter — wie etwa der Ottomane, dem Türkis oder der Sultanine - haben sich die türkischen Spuren bis heute sichtbar erhalten, während die Tulpe — ein osmanischer Exportschlager des 17. Jahrhunderts, der in Westeuropa eine eigene Mode auslöste94 — inzwischen die Signatur des holländischen Importlandes erhalten hat. Auch die ersten osmanischen Gesandtschaften in Paris (1721 und 1742) und Berlin (1764), die zum Teil eine regelrechte Turkophilie in der Bevölkerung auslösten, leisteten einen wichtigen Beitrag zur Entstehung der Türkenmode.95 Sie ging einher mit einer gesteigerten Wißbegier dem Osmanischen Reich gegenüber, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine Flut von Publikationen, von Reisebeschreibungen, kulturellen wie politischen Überblicksdarstellungen und Ansichten nach sich zog.96 Das Interesse der Leserschaft richtete sich dabei vornehmlich auf die osmanische Politik, die städtische und höfische Kultur und nicht zuletzt auf die geheimnisumwitterten türkischen Frauen und die Zustände im Serail.97 Schließlich war mit der Institution des Harems das Konzept der Polygamie verbunden, dessen europäische Aufnahme zwischen Faszination und einer Abscheu 92 Grothaus: Zum Türkenbild in der Adels- und Volkskultur, S. 76. 93 Faroqhi: Geschichte des Osmanischen Reiches, S. 79 ff. 94 Picter Biesboer: „ .Tulipa Turcarium'. Über die ,Tulpomania' in Kuropa". In: Europa und der Orient. 800-1900, S. 288-294. 95 Friedrich II. verhielt sich dagegen eher distanziert bis ablehnend. Über die euphorische Reaktion der Berliner spottet er in einem Brief an den Kronprinzen Heinrich: „Datteln essen gehört zum guten Tone in Berlin, die Gecken pflanzen sich einen Turban aufs Haupt." Zit. nach: Karl Pröhl: Die Bedeutung preußischer Politik in den Phasen der orientalischen Frage. Ein Beitrag %urEntwicklung deutsch-türkischer Beziehungen von 1606 bis 1871. Frankfurt a. M./ Bern/ New York 1986, S. 114, Anm. 23. Auf den Seiten 114-122 dieser Studie findet sich auch eine ausführliche Darstellung der osmanischen Gesandtschaft in Berlin und ihrer Aufnahme in Politik und Gesellschaft. 96 Vgl. Helga Fischer: „Das Osmanische Reich in Reisebeschreibungen und Berichten des 18. Jahrhunderts". In: Heiss/ Klingenstein (Hrsg.): Das Osmanische Reich und Europa, S. 113-141. Einen Eindruck vom Umfang der Türken-Literatur bieten die Rezensionen in den Göttinger Anzeigen von gelehrten Sachen. Das renommierte Rezensionsorgan hatte zu jener Zeit sogar Reisebeschreibungen in seinen Kanon zu besprechender Literatur aufgenommen. Vgl. ebd., S. 114. 97 Ebd., S. 123-128.
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oszillierte, die sowohl von einer bürgerlich-moralischen als auch einer aufklärerisch-emanzipatorischen Haltung herrührte.98 Wie große Teile der mehr oder minder gelehrten Literatur über das Osmanische Reich gelangte auch das ästhetische Breitenphänomen der Turquene über Frankreich in die deutschen Länder und fand seinen Niederschlag vor allem in den bildenden Künsten, der (Innen-)Architektur und der Oper. Angehörige auch der deutschen Höfe ließen sich nun im türkischen Gewand porträtieren" oder trugen turkisierende Kostüme auf den höfischen Maskenbällen, und es entstanden unzählige Gemälde und Stiche türkischer Szenen nach dem Vorbild des umfangreichen französischen Stichwerks Requeil des cent Estampes representant differenfes Nations du Levant... (1712/13), das vornehmlich Darstellungen osmanischer Hofangehöriger — männlicher wie weiblicher — enthielt.10° In der Gartenarchitektur des 18. Jahrhunderts erreichte die Turquerie zwar nie die Prominenz des chinesischen Stils,101 doch wurden in der Baukunst des 18. Jahrhunderts durchaus Anleihen bei den großen Moscheen Konstantinopels gemacht,102 und vereinzelt entstanden auch türkische Bäder.103 Mediengeschichtlich und in letzter Konsequenz auch gattungsgeschichtlich wesentlich bestimmender für die Turquerie des 18. Jahrhunderts waren allerdings — auch dies angeregt vom Requeil des cent Estampes — die türkischen Interieurs.104 Denn 98 Lynne Thornton: „Frauenbilder. Zur Malerei der »Orientalisten'". In: Europa und der Orient. 800-1900, S. 342-355; Kohl: „Cberche^ lafemme d'Orienf, S. 356-367. Das reiche Material an europäischer Malerei, das in dem Band von Carla Coco: Harem. Sinnbild orientalischer Erotik (Stuttgart/ Zürich 1997) zusammengestellt ist, muß von den Phantasien und Stereotypen, die seine Ikonographie geleitet und strukturiert haben, leider selbst Zeugnis ablegen, da die Autorin sich jeder Analyse entschlägt und die französischen, britischen und italienischen Gemälde mit frappierender Naivität als Abbildungen der historischen Harems-Wirklichkeit rezipiert. Ein literarisches Schlaglicht wirft Antje Harnisch: „Der Harem in den Familienblättern des 19. Jahrhunderts, koloniale Phantasien und nationale Identität". In: German Life andLeiters 51 (1998), Nr. l, S. 325-341. 99 Vgl. die Abbildungen in: Pape: Turquerie im 18. Jahrhundert, S. 310-319. 100 Der französische Botschafter in Konstantinopel, Marquis Charles de Ferriol,.hatte den Maler Jean Baptiste Vanmour damit beauftragt, eine Serie von 100 Gemälden von Angehörigen des osmanischen Hofes anzufertigen, die anschließend in Paris gestochen und zum wichtigsten Vorbild turkisierender Darstellung des 18. Jahrhunderts wurden. Die Spuren dieses Stichwerks in der turkisierenden Malerei Westeuropas verfolgt Pape: Turquerie im 18. Jahrhundert. 101 Ein türkisches Beispiel ist die im späten 18. Jahrhundert entstandene und noch heute existierende Moschee im Schloßpark von Schwetzingen. Vgl. dazu die ausführliche Darstellung „Die Moschee im Garten. Orientalische Phantasien des achtzehnten Jahrhunderts" in: Koppelkamm: Der imaginäre Orient, S. 28-39. 102 Und das nicht allein bei Palast-, sondern auch bei Kirchenbauten - wie etwa in Johann Bernhard Fischer von Erlachs Entwürfen zur Wiener Karlskirche. Koppelkamm: Der imaginäre Orient, S. 39. 103 Koppelkamm: Der imaginäre Orient, S. 124-137. 104 Pape: Turquerie im 18. Jahrhundert, S. 310.
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in wirkungsvoller Kombination mit den entsprechenden Kostümen und der im 18. Jahrhundert so ungemein populären Musik alia turca fanden sie ihre einflußreichste Realisierung im dreidimensionalen Raum der Theaterund Opernbühne — dem bedeutendsten Ereignisraum der Turquene. In der „Türkenoper" kulminierten sämtliche Rezeptionsstränge und Topoi der Osmanen. Selbst die türkisierende Literaturproduktion des 18. Jahrhundert wies, obwohl sie auch unter dem Genre-Dach der im Laufe des Jahrhunderts immer populärer werdenden „morgenländischen Erzählung" stattfand und versepische Formen annahm,105 eine deutliche Tendenz zum Dramatischen auf und setzte damit zumindest teilweise die barocke Tradition der türkischen Trauerspiele fort.106 Neben die zahlreichen TürkenDramen, die im 18. Jahrhundert geschrieben oder — wie etwa Voltaires einflußreiches Trauerspiel Zaire (1733) — aus anderen europäischen Sprachen ins Deutsche übertragen wurden, traten eine ganze Reihe epischer Texte, die eine Umarbeitung zu Libretti erfuhren,107 und natürlich die breite Produktion von Theaterdichtern und Librettisten selbst. Dabei lassen sich innerhalb der Türkenopern zwei Tendenzen ausmachen, die — bedingt durch eine zunehmende Verbürgerlichung der Kunstform Oper in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts - einander ablösen: Die Türkenoper in der Mitte des Jahrhunderts hatte zumeist einen osmanischen Sultan zum Gegenstand, den man aus einem zwar beschränkten, aber in sich dramatisch sehr reichhaltigen Inventar historischer Herrscherfiguren wählen konnte. Die prominentesten waren Süleyman der Prächtige (zeitgen. „Soliman"), Mehmet der Eroberer und Bayerzid I. (zeitgen. „Bajazet"), jener frühe osmanische Sultan, der 1402 von dem berühmt-berüchtigten Mongolenherrscher Timur Lenk ^Tamerlan) besiegt und gefangengenommen worden war;108 eine Figurenkonstellation, die sowohl in der Oper als auch in der Malerei des 18. Jahrhunderts immer wieder Aufnahme und Bearbeitung fand. Johann Adolf Hasses 1753 in Dresden uraufgeführte Oper Solimano — die erste mit auskomponierter alia /nw-Musik, detailgenauem türkischem Kostüm und Szenenbild - bildete den fulminanten Auftakt zu einer Reihe von türkischen Herrscheropern, die den Forderungen der Barock-Oper nach einem höfisch-historischen Sujet ebenso nach105 Balke: Orient und Orientalische Literaturen, S. 838 ff. 106 Balke: Orient und Orientalische Literaturen, S. 834-838. 107 W. Daniel Wilson diskutiert in seiner Arbeit ausführlich die Bezüge einzelner Dramen zur Türken-Oper, gibt dabei aber einen sehr brauchbaren Überblick über die ästhetischen und diskursiven Kontexte: Wilson: Humanität und Kreusgugsideologie um 1780. 108 Der zweite Bajazet im orientalistischen Figurenrepertoire der Zeit hatte im 1562 hingerichteten Sohn Süleymans des Prächtigen sein historisches Vorbild. Er - und nicht der gleichnamige Sultan — ist auch der Titelheld von Racines Tragödie Bajazet (1672 uraufgef.), deren ersten Akt Friedrich Schlegel in deutsche Verse brachte und 1803 in seiner Zeitschrift Europa veröffentlichte (Europa, Bd. 2, H. l, S. 117-139).
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kamen wie dem Hang zu prachtvoller Ausstattung.109 Diese Opern fußten auf vorausgesetzten Strukturanalogien zwischen den europäischen Staaten und dem Osmanischen Reich — vor allem in Bezug auf die höfische Gesellschaft und Politik — und dienten gleichzeitig als Mittel monarchischabsolutistischer Selbstinszenierung und als Möglichkeit politischer Kritik. Abgelöst wurden sie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts durch Singspiele und Opern, in deren Zentrum das Motiv der Entführung zumeist christlicher Jungfrauen in den türkischen Serail sowie ihre Befreiung aus den Händen des Sultans stand.110 Mozarts Die Entführung aus dem Serail (1782) mag die berühmteste Komposition dieser Art sein, sie steht aber in einer langen Reihe vergleichbarer Werke.111 Zwar ist der türkische Sultan auch hier noch obligatorischer Protagonist, doch zeichnet sich eine deutliche Entpolitisierung und Privatisierung der Konflikte und Thematiken ab. Nicht mehr der osmanische Staat und Hof, sondern der Serail wird zum Schauplatz, nicht mehr die west-östlichen Analogien von Politik und Gesellschaft stehen im Vordergrund, sondern die kulturellen Unterschiede. Zwar werden diese Differenzen in den seltensten Fällen zu tatsächlichen Antagonismen ausgebaut: Die entführte Frau wird von ihrem Geliebten nicht gewaltsam befreit, sondern in der Regel vom — nicht selten in sie verliebten - Sultan freigelassen,112 so daß sich hier letztlich der Antiheroimus des Rokoko ebenso Bahn bricht wie in den Chinoisenen. Und dennoch sind es die kulturellen Differenzen zwischen dem Türkischen und dem Westeuropäischen — der aparte Ort des Harems und die maurischen Topoi von Frauenraub und Sklaverei113 —, welche die Faszinationskraft des Sujets für die Oper in den 1770er Jahren ausmachen. Daß die Herausbildung einer zweiten, genrekonstitutiven türkischen Figur neben 109 Vgl. Georg Quander: „Solimano. Schlüsselwerk einer Zeitenwende?". In: Johann Adolf Hasse: Solimano. Oramma per munca. Hrsg. v. d. Staatsoper Unter den Linden. Berlin 1999,5. 111-116. 110 Wüson: Humanität und Kreu^ugsideologie um 1780, S. 11-37. 111 Den entscheidenden Anstoß dieser musiktheatralischen Motivtradition bildete die Episode „Der selbstlose Türke" aus Rameaus „Ballet heroique" Les Indes Gallantes (Libretto: Louis Fuzelier, 1735 uraufgef.). Vgl. Ulrich Schreiber: Opernführer für Fortgeschrittene. Geschichte des Mitsiktheaters. Bd. I: Von den Anfängen Ins %ur Französischen Revolution. Kassel 32002, S. 129. Zu weiteren Bearbeitungen des Sujets vgl. die Liste in Wüson: Humanität und Kreu^ugsideologie um 1780, S. 13 f. Wilson zitiert auch den Freiherrn von Knigge mit einer Bemerkung aus den 1780er Jahren, in der er vom Entführungsstoff im türkischen Gewand als von einem „längst verbrauchten, in Romanen und Schauspielen so oft durchgepeitschten Märchen" spricht, (ebd. S. 16). 112 Wilson: Humanität und Kreu^ugsideologie um /'SO, S. 14 f. u. 36. 113 Die Grenzen zwischen „türkischen" und „maurischen" Sujets zerfließen hier nicht selten. So auch in der Variation des Entführungs-Motivs in Christoph Martin Wielands Verserzählung Oberon (ersch. 1780), das 1826 in einer Opernkomposition Carl Maria von Webers in London uraufgeführt wird. Hier findet sich die Entführte nicht in Konstantinopel, sondern in Tunis wieder.
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dem Sultan, nämlich des grotesk-komischen Haremswärters — in Mozarts Die Entführung aus dem Serail übernimmt der lüsterne Osmin diese Rolle — die späte Türkenoper zudem an die Opera buffa heranrückt,114 trägt viel dazu bei, daß sich kaum etwas von den Turquerien des 18. Jahrhundert ins nachfolgende hinüber rettet. Mit der Desavouierung absolutistischer Herrschaft zerbricht auch das Idealbild des Osmanischen Staates, mit der Verbürgerlichung von Gesellschaft und höfischer Kultur schwindet der Reiz des Sultans und seiner prachtvollen Hofhaltung, und durch die RokokoTurquenen schleift sich auch die letzte Kante des vormals über seine moderne Militär- und Staatsorganisation so klar konturierten Türken-Bildes ab.
3.4 Zwischenbilanz So kontingent die Rezeptionsgeschichte der Chinesen, der Ägypter und der Türken auch gewesen ist und so stark die Eigengesetzlichkeit ihrer jeweiligen medialen und künstlerischen Formen, läßt sich in ihr doch eine gemeinsame Grundbewegung erkennen, die für die Genese des orientalistischen Gesamtarrangements im 19. Jahrhundert von großer Bedeutung ist. Denn die breite und zum Teil euphorische Aufnahme und Verarbeitung in politischen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und ästhetischen Diskursen und Praktiken, die diese drei orientalischen Völker im 17. und 18. Jahrhundert erfuhren, erweist sich bei näherer Betrachtung als entscheidende Weichenstellung für ihre weitere Rezeption — und zwar gerade nicht im Sinne einer long duree von (Vor-)Urteilen oder Bewertungen. Vielmehr entsteht im Zuge aufklärerisch-absolutistischer Rezeption der Chinesen, Ägypter und Türken während der Frühen Neuzeit eine Topologie dieser Völker, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine zum Teil sogar radikale Umbewertung erfährt, während die topologischen Figurationen selbst bemerkenswert stabil bleiben. Diese Umbewertungen sind primär durch historische Paradigmenwechsel innerhalb der europäischen Ordnung der Diskurse bedingt und stehen in direkter Abhängigkeit zur weltanschaulichen, politischen und ästhetischen Gebrauchsgeschichte der entsprechenden Topoi. So hatte sich im Falle Chinas das Bild von einer hochzivilisierten Kultur, rationalistischen Religion, absolutistischen Herrschafts- und verfeinerten Lebensform im Verlauf der Frühen Neuzeit mit dem Land nicht nur lose verbunden, sondern war zu einem strukturbildenden Teil seiner Bedeutung geworden. Dieser strukturbildende Teil determinierte die weitere Rezeption Chinas im 19. Jahrhundert zwar nicht, umriß aber den Möglich114 Wilson: Humanität und Kreusgttgsideologie um 1780, S. 28 f.
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keitsraum seiner diskursiven Weiterverarbeitung in nachaufklärerischer und nachabsolutistischer Zeit. Und wie die marginale Relevanz des Landes für den Orientalismus des frühen 19. Jahrhunderts115 sowie die genannte Prominenz chinesischer Sujets als Mittel politischer oder ästhetischer Polemik schon andeuten, ist dieser Möglichkeitsraum nicht allzu groß. Ähnliche Züge weist die Rezeptionsgeschichte der Türken auf. Ebenso wie China durch die monarchisch-repräsentative Rezeption des vorangegangenen Jahrhunderts gleichsam in Besitz genommen, überlebte auch die große Faszination für den osmanischen Staat den europäischen Niedergang absolutistischer Herrschaftskonzepte und die Hinwendung zum bürgerlich-patriarchalen Ideal des Monarchen auf der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert nicht. Selbst der ehemals so große Reiz eines Reiches, dessen multiethnischen Eliten sich nicht aus einem Blutadel zusammensetzten und dessen Amter nicht an Geburt oder Herkunft potentieller Inhaber geknüpft waren, verschwand angesichts einer im 19. Jahrhundert immer prominenter werdenden Verbindung der Konzepte von Staat, Volk und Nation. Und auch wenn Ägypten im ausgehenden 18. Jahrhundert durch seine ästhetische und politische Gebrauchsgeschichte nicht in einem so hohen Maße als Sujet desavouiert war wie China oder die Türken, zeichnen sich auch hier nachhaltige Umwertungen ab: Die einstmals bewundernd wahrgenommene Dauer der ägyptischen Statuen wandelte sich nun in verschiedenen Zusammenhängen zum Inbegriff der Starrheit, die ehedem als Insignium gott-königlicher Ewigkeit wahrgenommenen Pharaonengräber konnten ebenso zu Monumenten des Todes werden, die geheime Weisheit der altägyptischen Priesterschaft zur exemplarischen Institution elitärer Wissensmacht — sei sie nun positiv oder negativ konnotiert. Diese nachhaltige Inskription aufklärerisch-absolutistischer Muster in die topologische Struktur dieser drei Völker konnte indes nur stattfinden, weil sich die Rezeptionsgeschichte Chinas, Ägyptens und des Osmanischen Reiches im 17. und 18. Jahrhundert durch ein fast gänzliches Fehlen von Fremdheitserfahrungen auszeichnete. Sowohl die Chinoiserie und Turquerie als auch die Agyptomanie der frühen Neuzeit waren jeweils Bewegungen des Auffindens vertrauter Ordnungen in der anderen Kultur. Der Absolutismus mochte im Gewand des chinesischen Kaisers, des Pharao oder Sultan auftreten — es war und blieb die vertraute Ordnung des Absolutis115 Goethes Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten und seine Gedichte hundert schöner Frauen bilden hierbei in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme. Willy Richard Berger hat noch einmal auf die gleichermaßen historische wie methodologische Problematik gängiger literaturwissenschaftlicher Versuche hingewiesen, Goethes späte Auseinandersetzung mit China als vorbildlichen Abschluß der Tradition der Chinoiserien zu lesen. Vgl. Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 269 ff.
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mus, deren Faszinationspotential gleichzeitig eben darin lag, daß sie sich in der anderen Kultur zeigte. Auch in der Rezeption der konfuzianischen Vernunftreligion, der osmanischen Bürokratie und der ägyptischen Weisheitslehre während der Frühen Neuzeit sucht man Anzeichen hermeneutischer Bemühungen vergeblich. Sowohl in den jesuitischen Berichten aus China als auch in den frühägyptologischen Schriften Athanasius Kirchers und den Studien zur osmanischen Staatsverfassung des 18. Jahrhunderts funktioniert das Verstehen der anderen Kulturen problemlos, die ihren frühneuzeitlichen Beobachtern zwar als andere Kulturen erscheinen, aber eben nicht fremd sind. Es ist exakt diese Spannung zwischen der Altentät der anderen Kultur und ihrer vertrauten Ordnung, die jene breite Aufnahme und Verarbeitung chinesischer, ägyptischer und türkischer Elemente im 17. und 18. Jahrhundert erst ermöglicht haben — wohlgemerkt: unabhängig von einer positiven oder negativen Bewertung dieser vertrauten Strukturen und ihrer Realisierung in der anderen Kultur, und unabhängig auch vom Wissensstand der Rezipienten.
3.5 Der Orient: Das etwas andere Andere Die Möglichkeit, in einzelnen orientalischen Völkern so etwas Spezifisches wie vertraute Staatsformen, Philosopheme oder Repräsentationstechniken wiederzuerkennen, fußt aber noch auf einer anderen Voraussetzung, die mit der besonderen Alterität des Orients zu tun hat. Wie die im Verlauf dieses Kapitels angeführten Beispiele bereits deutlich gezeigt haben, bildet der Orient der Frühen Neuzeit eine Kulturlandschaft, die aus westeuropäischer Sicht durchzogen ist von Straßen, Städten und Palastanlagen und bewohnt von Völkern, die über Wissenschaften ebenso verfügten wie über Literatur, bildende Kunst und Musik, über Staatlichkeit ebenso wie über Bürokratie und Militär. Im deutlichen Unterschied zur europäischen Wahrnehmung der Völker Südamerikas oder der Südsee fiel der Orient ganz selbstverständlich in die Kategorie der Zivilisation. Mit Naturvölkern hatten die Orientalen ebensowenig gemein wie die Westeuropäer selbst, sie waren Repräsentanten einer anderen Kultur — nicht eines Anderen der Kultur. Zur China-Rezeption der Aufklärung formuliert Dietrich Harth: Es ist ein denkwürdiger Tatbestand, daß die aufklärerische Indienstnahme des Konfuzianismus eine kulturelle Antithese zu jenem Kult des edlen Wilden entwickelt hat, der mit dem Namen eines anderen Aufklärers, mit Jean-Jacques Rousseau, verknüpft ist. Der Rousseauismus hat seine irdischen Paradiese bekanntlich gerade dort gesucht, wo die eurasische Zivilisation keine Spuren hinterlassen hatte. So daß man es in der Aufklärungsliteratur eigentlich mit zwei konkurrierenden Para-
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Orientalismus: Genese und Gestalten diesvorstellungen zu tun hat: auf der einen Seite das im Orient situierte philantropische Paradies der Kultur, auf der anderen das in die Südsee und nach Südamerika verlegte Paradies der Natur.116
Auch wenn - wie schon gesehen - die Vorstellung von einem orientalischen „Paradies der Kultur" natürlich nur da diagnostizierbar ist, wo Orientalisches auch tatsächlich euphorisch rezipiert wird, berührt Harth mit seiner Grundunterscheidung zwischen ,Kultur' und ,Natur' doch einen ganz entscheidenden Punkt, der in der wissenschaftlichen Diskussion um „Das Eigene und das Fremde" oder den „Exotismus" oft aus dem Blick gerät: Er weist auf den Umstand hin, daß — obwohl der Orient und die Neue Welt außerhalb Europas liegen und als ^Anderes' erfahren wurden sich der Charakter ihrer jeweiligen Alterität ganz wesentlich voneinander unterschied. Und tatsächlich ist der von Harth heranzitierte Jean-Jacques Rousseau für diesen Unterschied ein verläßlicher Zeuge. Seine Idee vom „homme naturel" und den Wilden Amerikas, die seines Dafürhaltens mit jenem Naturmenschen zwar nicht (mehr) identisch waren, ihm aber um ein vielfaches näher standen als die Europäer117, hat bekanntlich die westeuropäische Konzeptualisierung der Neuen Welt und der Südsee im 18. und 19. Jahrhundert sowie ihr Bild vom ,guten Wilden' wie kaum eine zweite geprägt.118 Ohne Zahl sind die in seiner Nachfolge entstandenen literarischen Entwürfe eines paradiesischen Ursprungslandes am westlichen Rand der Welt, wo die menschliche Kreatur jenseits aller zersetzenden Einflüsse der Zivilisation im Einklang mit und als Teil der Natur lebt.119 Weit weniger präsent im kollektiven Gedächtnis der heutigen Wissenschaft ist jedoch der Umstand, daß Rousseau nicht allein die großen europäischen Völker als degeneriertes Negativbild zu den quasi116 Dietrich Harth: China- Monde imaginaire' der europäischen Literatur, S. 213. 117 Jean-Jacques Rousseau: Schriften zur Kulturkritik: Über Kunst und Wissenschaft (17'50). Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755). Französisch-Deutsch. Eingel., übers, u. hrsg. v. Kurt Weigand. 2., erw. u. durchges. Ausg. Hamburg 1995. 118 Zur Rousseau-Rezeption in Deutschland vgl. die Beiträge des Bandes von Herbert Jaumann (Hrsg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge %ur Erforschung seiner Rezeption. Berlin/ New York 1995, darin i.b. den kurzen einleitenden Überblick von Herbert Jaumann: Rousseau in Deutschland. Forschungsgeschichte and Perspektiven, S. l -22. 119 Ursula Link-Heer: „Facetten des Rousseauismus. Mit einer Auswahlbibliographie zu seiner Geschichte". In: dies./Helmut Kreuzer (Hrsg.): Rousseau und Rousseauismus. Zeitschrift fär Literaturwissenschaft und Linguistik 63 (1986), S. 127-156; Claus Süßenberger: Rousseau im urteil der deutschen Publizistik bis %um Ende der französischen Revolution. Ein Beitrag %?/r Rezeptionsgeschichte. Frankfurt a. M. 1974. Zur Rousseauschen Zivilisationskritik, der ihr zugrundeliegenden Anthropologie und den Folgen für das zivilisationsutopische Bild des ,Guten Wilden' vgl. exemplarisch: Karl-Heinz Kohl: Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden. Frankfurt a. M. 1986, S. 173-200; ders.: „Der gute Wilde der Intellektuellen. Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte einer ethnologischen Utopie". In: Monika Neugebauer-Wölk/ Richard Saage (Hrsg): Die Politisierung des utopischen im 18. Jahrhundert. Tübingen 1996, S. 70-86.
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natürlichen Bewohnern der südamerikanischen Wälder und Südseeinseln ins Feld führte, sondern auch den Orient. So zieht er in seiner 1751 erschienenen Schrift Über Kunst und Wissenschaft zur Preisfrage der Akademie von Dijon12'1 „Si le retablissement des sciences et des arts a contribue ä epurer les moeurs" als Beispiel für das umgekehrt proportionale Verhältnis des Zivilisationsgrades zum Sittenverfall neben dem Alten Rom auch das zeitgenössische China heran.121 Ausgehend von dem Grundaxiom des gesamten ersten Discours, daß der zivilisationsbedingte Sittenverfall eines Volkes notwendig das militärisch-politische Scheitern des entsprechenden Staates nach sich ziehe und militärische Niederlagen entsprechend als klares Indiz für vorangegangenen Sittenverfall zu werten seien, schreibt er: In Asien gibt es ein riesiges Reich, in dem die klassische Literaturbildung zu den höchsten Würden des Staates fuhrt. Würden die Wissenschaften die Sitten läutern, würden sie die Menschen lehren, ihr Blut für das Vaterland zu vergießen, würden sie den Mut beflügeln, dann würden die Völker Chinas weise, frei und unbesiegbar sein. Wenn es aber kein Laster gibt, das sie nicht beherrschte, kein Verbrechen, das ihnen nicht vertraut wäre - wenn sie weder die Aufgeklärtheit ihrer Minister noch die vorgebliche Weisheit der Gesetze noch die Menge der Einwohner dieses weiten Reiches vor dem Joch der rohen Tartaren bewahren konnte - was haben ihm dann all seine Gelehrten genützt?122
Die Chinesen sind nicht das einzige orientalische Volk dieser Art auf der finsteren Landkarte des großen Zivilisationskritikers. Als Entstehungsland der Wissenschaft erfüllt Ägypten in der Rousseauschen Argumentation eine vergleichbare Funktion.123 Und in einem knappen geschichtlichen Aufriß zu Beginn des Oiscours führt der Gelehrte den gesamten zivilisatorischen Aufstieg — resp. Fall — Europas seit dem Mittelalter ursächlich auf den Orient zurück: Die Metropole Konstantinopel, „Hauptstadt des Ostreichs, die auf Grund ihrer Lage die der ganzen Welt hätte werden sollen, [...] jene[s] Asyl der Wissenschaften und Künste, die im übrigen Europa verboten waren", gilt ihm als „reine Quelle, aus der die Aufklärung entsprang, deren unser Jahrhundert sich rühmt" und damit gleichzeitig als der Anfang vom Ende in „Ausschweifung" und „Verfall".124 Keines der drei prominenten orientalischen Völker des 18. Jahrhunderts hat also vor Rousseaus zivilisationskritischem Blick Bestand, sie alle trifft das vernichtende Urteil des Autors, und es kann sie nur deshalb treffen, weil sie wie selbstverständlich unter die Kategorie der Zivilisation fallen. 120 Gängig ist die Nennung des Jahres 1750 als Erscheinungsjahr des ersten „Discours". Zu den Gründen vgl. Jaumann: Rousseau in Deutschland, S. 2. 121 Rousseau: Schriften %ur Kjtlturkntik, S. 17 ff. Zu Rousseaus China-Kritik vgl. Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 113-118. 122 Rousseau: Schriften %ur Kulturkritik, S. 17 f. 123 Rousseau: Schriften ^ur Kulturkritik, S. 29. 124 Rousseau: Schriften %ur Kulturkritik, S. 17.
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Daß unter allen orientalischen Völkern, die im Discours diskutiert werden, allein die Skythen und Perser explizit aus der Dialektik der Aufklärung herausgenommen sind und als kulturgeschichdicher Hoffnungsträger im Rousseauschen Sinne firmieren,125 wird uns später noch interessieren. Hier können wir zunächst mit Willy Richard Berger zusammenfassen: ,,[D]er Orient als exotisches Wunsch- und Gegenbild zur europäischen Welt hat bei Rousseau ausgespielt. Kulturvölker wie das chinesische, wie die Völker des Morgenlandes konnten diese Rolle nicht mehr übernehmen".126 Spezifisch rousseauistisch ist dabei allerdings nur die Bewertung des zivilisatorischen Niveaus, auf dem er die orientalischen Kulturen gemeinsam mit Europa sieht, nicht jedoch die Annahme einer gemeinsamen ZivilisationsStufe von Orient und Okzident selbst. Sie gehört im 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den grundlegenden Ordnungsmustern der kulturellen Dinge, auf deren Basis auch diejenigen argumentieren, die Rousseaus Zivilisationskritik nicht teilen. Eine der interessantesten Publikationen in diesem Zusammenhang sind die Beyträge ^urgeheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Her%ens,ul eine breit angelegte Dekonstruktion sowohl Rousseaus als auch seiner Kritiker, die Christoph Martin Wieland 1770 veröffentlichte. Mit Wieland nahm einer der fleißigsten Verfasser orientalisierender Literatur des Rokoko128 kurz vor Erscheinen seines indo-chinesischen Staatsromans Der goldene Spiegel (1772/74)129 den Faden der philosophischen Diskussion um Rousseaus Zivilisationskritik auf — und zwar zu einer Zeit, als diese ihren Zenit längst überschritten hatte.13" Wielands Beyträge, die Walter Erhart sehr überzeugend als hermeneutische Kritik der ethnologischen Idee von einer unmittelbaren Er-
125 Rousseau: Schriften %ur Kulturknlik, S. 19. Vgl. dazu auch: Berger: China-Bild und ChinaMode im Europa der Aufklärung, S. 114 ff. 126 Berger China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 114. 127 Christoph Martin Wieland: Beylräge ^ur geheimen Geschichte der Menschheit. In: Wicland SW 14/15 (Neudr. Bd. 5). 128 Aus seiner Feder stammen neben der heute noch leidlich bekannten Sammlung Dschinnistan, erschienen in den Jahren 1786-1789 (Christoph Martin Wieland: Dschinnistan. Auserlesene Feen- und Geistermärchen. Nachwort von Willy Richard Berger. Mit 12 Kupferstichen. Zürich 1992), u.a. auch die Erzählungen Schach Lala Oder das göttliche Recht der Geivaltgeber. Eine morgenländische Erzählung (Wieland SW 10 (Neudr. Bd. 3), S. 303350), das epische Gedicht Idris und Zenide (Wieland SW 17 (Neudr. Bd. 6)) sowie Das Gesicht des Mir^a (Wieland SW Supp. 4 (Neudr. Bd. 14), S. 19-34). 129 Christoph Martin Wieland: Der goldene Spiegel oder Die Könige von Scheschian. Eine wahre Geschichte aus dem Scheschianischen übersetzt. In: Wieland SW 6/7 (Neudr. Bd. 2). 130 Vgl. dazu Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands „Agathon"-Projekt. Tübingen 1991, S. 192ff. Erhart setzt sich hier kritisch mit der verbreiteten Auffassung auseinander, Wielands Rousseau-Kritik mangle es — bedingt durch den späten Zeitpunkt ihres Entstehens — an Originalität und er wiederhole nur althergebrachte Positionen.
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kenntnis des kulturell Anderen sichtbar gemacht hat,131 sind um zwei Erzählungen herum gebaut, die durchaus argumentativen Status für sich behaupten können. Den Anfang macht Koxkox und Kikequet^el. Eine Mexikanische Geschichte. Ein Bejtrag %ur Naturgeschichte des sittlichen Menschen^2 und am Ende der Abhandlung steht die Erzählung Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika mit ihrem Nachtrag Die Bekenntnisse des Abulfauans, gewesenen Priesters der Isis in ihrem Tempel %u Memßs in Nieder-Ägypten.^3 Die Naturgeschichte des sittlichen Menschen - bzw. das Scheitern sowohl eines natursittlichen Lebens als auch der Möglichkeit, die Naturgeschichte des Menschen zu rekonstruieren und zu erzählen — zeichnet Wieland anhand des Schicksals eines mexikanischen Paares, den Titelhelden Koxkox und Kikequet^el, nach. Die Aporien eines sittlichen Kolonialismus dagegen läßt er den IsisPriester Abulfauaris erfahren, der zunächst als Reisender, später als Kulturmissionar „in ein Land im inneren Afrika" gelangt, „wo er eine kleine Völkerschaft von fingernackten Leuten unschuldig und zufrieden unter ihren Palmbäumen wohnen fand"134 und diese Gesellschaft schwarzer Naturmenschen durch seine Versittlichungsversuche in den Ruin führt. Die Verteilung von Kultur- und Naturvölkern in den beiden Erzählungen Wielands könnte eindeutiger nicht sein: Naturmenschen Rousseauscher Provenienz sind in Mexiko anzutreffen oder im „inneren Afrika", während von den orientalischen Ägyptern eben das ausgeht, was im kolonialen Frankreich die mission dvilatrice genannt wird. Sogar die aus den deutschen Kolonialphantasien des späten 19. Jahrhunderts sattsam bekannte Gender-Verteilung135 ist in Wielands Abulfauans realisiert, mit dem entscheidenden Unterschied, daß hier dem Orientalen die männliche Rolle eignet und er die andere, in diesem Falle afrikanische, Kultur in Gestalt der schönen Mazulipa in Besitz nimmt: Im Rückgriff auf die oben bereits skizzierten Topoi der rätselhaften ägyptischen Mysterien und des Priesterbetruges läßt Wieland seinen Abulfauaris die von ihm begehrte Frau da131 Walter Erhart: „ ,Was nützen schielende Wahrheiten?'. Rousseau, Wieland und die Hermeneutik des Fremden". In: Jaumann (Hrsg.): Rausseau in Deutschland, S. 47-78. Bei meinen weiteren Ausführungen zu Wielands Beiträgen folge ich in groben Zügen den Ausführungen Erharts. 132 Wieland SW 14 (Neudr. Bd. 5), S. 5-118. 133 Wieland SW 14 (Neudr. Bd. 5), S. 1-66. 134 Wieland SW 14 (Neudr. Bd. 5), S. 4. 135 Zur Gender-Ordnung des Kolonialismus und der einschlägigen Literatur zum Thema vgl. zusammenfassend das Vorwort der Herausgeberinnen in: Fremdes Begehren. Transkulturelle Begehungen in Literatur, Kunst und Medien. Hrsg. v. Eva Lezzi und Monika Ehlcrs in Zusammenarbeit mit Sandra Schramm. Köln/ Weimar/ Wien 2003, S. 1-17, i.b. S. 2 f. Daß die Autorinnen in ihrem Überblick weder national noch historisch differenzieren und „Orientalismus" ebenso unbesehen wie unsachlich mit „Kolonialismus" gleichsetzen, ist als Fortschreibung gängiger Forschungsmeinungcn und -traditionen zu werten.
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durch in seine sexuelle Gewalt bringen, daß er sich ihr während ihrer rituellen Initiation in die Mysterien der Isis in Gestalt des Gottes Anubis nähert und sie so zur körperlichen „Beute des sakrilegischen Betruges" macht.136 Wie tief diese semantische Einteilung zwischen orientalischen Kulturvölkern und amerikanisch-afrikanischen Naturvölkern in den Sinnwelten und diskursiven Ordnungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts verankert war, soll schließlich noch ein letztes Beispiel illustrieren. Dieses Beispiel ist gerade deshalb so eindrücklich, weil es das Verfahren der tatsächlich körperlichen Fixierung einer semantischen Größe zeigt, die zu jener Zeit zwischen den Konzepten ,Natur' und ,Kultur' schillert. Die Rede ist noch einmal von Angelo Soliman, dem Hofmohren und nachmalig bedeutenden Mann der Wiener Gesellschaft, dessen Leichnam 1796 auf kaiserlichen Befehl ausgestopft wurde und zehn Jahre lang im k.k. Naturalienkabinett in Wien zu besichtigen war. Orient-topologisch fiel Soliman wie gesagt in jene oszillierende Kategorie des Mauren oder Mohren, die sowohl mit den Völkern des subsaharischen Afrika assoziiert wurde, als auch mit dem Morgenland. Daß er als „hochfürstlicher Mohr" eine orientalische Signatur trug, die an seinem Kostüm ebenso ablesbar war wie an seinem Nachnamen,137 und daß er diese Signatur auch als Erwachsener nicht ablegte, sondern sie selbst fortschrieb, ist im Rahmen der bisherigen Ausführungen bereits deutlich geworden. Nun endet der Körper dieses Orientalen aber letztlich doch in einem Naturalienkabinett, umgeben von Landschafts-Dioramen mit ausgestopften exotischen Tieren.138 Und auf den ersten Blick erscheint dieser Umstand als deutliches Indiz für die Fragilität des Konzepts vom ,kultivierten Orientalen' auf der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, unterhalb dessen doch ein primitiver Rassismus schwelt, der sich bahnbricht, sobald der Orientale aus dem Leben und damit aus seiner gesellschaftlichen Stellung geschieden ist. Und tatsächlich wechselt der tote Körper Angelo Solimanos auf seinem Weg vom Leichnam zum Exponat auch seinen topologischen Raum und wandelt sich von einem Teü der Kultur zu einem der Natur. Die Bedingung der Möglichkeit dieser topologischen Transformation des schwarzen Körpers liegt aber gerade im vollständigen Verlust seiner orientalischen Signatur; auf dem Weg in 136 Wieland SW 14 (Neudr. Bd. 5), S. 64 f. 137 Seinen vor-bürgerlichen Namen Mmadi-Make legt er bereits ab, als er sich - die Quellen sprechen von einem freiwilligen Akt — noch während seines Sizilien-Aufenthaltes 1730 taufen und fortan Angelo nennen läßt. Auch der „Nachname" Soliman rührt aus dieser Zeit. Und obwohl unklar ist, wer auf gerade diesen opernhaft-orientalischen Namen verfallen ist, legt er doch Zeugnis ab von der problemlosen semiotischen Koppelbarkeit des Türkischen bzw. Arabischen mit dem Maurischen '/M jener Zeit. Vgl. Bauer: Angelo Soliman, der hocbfurstliche Mohr, S. 34. 138 Zum Ausstellungskonzept und der historischen Anordnung der Exponate vgl. Schuster: Der,Mohr"als Schauolyektim k.k. Naturalienkabineit Wien, S. 97-100.
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den Schaukasten des Naturalienkabinetts vollzieht sich ein signifikanter Kostümwechsel, im Zuge dessen Solimano vom ,Mohr' zum ,Neger' wird: Angelo Soliman war in stehender Stellung mit zurückgerücktem rechten Fuße und vorgestreckter linker Hand dargestellt, mit einem Federgürtel um die Lenden und einer Federkrone auf dem Haupte, die beide aus rothen, weißen und blauen, abwechselnd aneinandergereihten Straußenfedern zusammengesetzt waren, Arme und Beine waren mit einer Schnur weißer Glasperlen geziert und eine breite, aus gelblichweißen Münz-Porcellanschnecken (Cypraea moneta) zierlich geflochtene Halskette hing bis tief an die Brust herab.139
Dieser Wechsel der Signatur des Körpers vom Orientalischen hin zum Wilden140 ist hier nicht nur semiotisches Beiwerk oder Ergebnis nachträglicher Inszenierung, sondern konstitutive Vorbedingung der Möglichkeit, diesen toten Körper überhaupt ausstopfen und ausstellen zu können: Einen Orientalen zu präparieren — einen Chinesen, Ägypter, Türken oder eben einen Mauren - und ihn in einem musealen Glaskasten der Öffentlichkeit vorzuführen, wäre zu jener Zeit nicht allein ein Horrendum, sondern schlicht undenkbar gewesen. Und entsprechend sucht man präparierte Orientalen in den Naturalienkabinetten des 18. und 19. Jahrhunderts auch vergeblich. Ausgestopft wurden schließlich allein Tiere und — ihnen nach den Regeln der historischen Logik nahe verwandt - Repräsentanten der vor-kulturellen Naturgeschichte des Menschen. Daß der Körper des Angelo Soliman überhaupt in diese Kategorie fallen konnte, liegt in seiner schwarzen Hautfarbe begründet, der jene Naturgeschichte — wie Wielands Gesellschaft „fingernackter" Schwarzer im „inneren Afrika" zeigt - zumindest mit eingeschrieben ist. Etwas zugespitzt ließe sich das auf die folgende Formel bringen: Während ein Chinese oder Araber keineswegs aufhörte, Orientale und damit Teil der Zivilisation zu sein, wenn er seiner orientalischen Kleidung beraubt wäre, verwandelt sich ein nackter Maure dagegen in einen ,Neger' und damit in einen Teil der Natur. Gerade in der Monstrosität der Präparations- und Ausstellungsgeschichte Angelo Solimans scheint also jene semiotische Systematik auf, welche die orientalischen Kulturvölker von den afro-amerikanischen Na-
139 Leop. Jos. Fitzinger: Geschichte des Kais. Kon. Hof-Naluralien-Cabinetes %u Wien. II. Abtheilung: Periode unter Fran^ II. (Fran% I. Kaiser von Österreich) bis Ende des Jahres 1815. In: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Mathematischnaturwissenschaftliche Classe, Wien. Bd. 57 (1868), S. 1018, zit. nach: Schuster: Der ,J\Aokr" als Schauobjekt im k.k. Naturalienkabinett Wien, S. 99. Auch Bauer xitiert aus dieser Quelle (Bauer: Angelo Soliman, der hochßrstliche Mohr, S. 83 f.). 140 Dieser Aspekt entgeht Peter Martin, der sich in seiner materialreichcn Studie auch mit dem Fall Soliman auseinandergesetzt hat (Martin: Schwarte Teufel, edle Mohren, S. 232240), dabei dem Aspekt semiotischer Eigendynamiken, zumal den auch im 18. und 19. Jahrhundert beobachtbaren Kopplungen zwischen den Konzepten .Afrika' und ,Orient', keine Aufmerksamkeit schenkt.
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turvölkern kategorisch trennt. Daß beide als nicht-europäisch und somit als Anderes wahrgenommen wurden, stellt eine Gemeinsamkeit dar, die gemessen an den weitreichenden Unterschieden zwischen dem Konzept des Orients als anderer Kultur und Afro-Amerikas als Anderes der Kultur letztlich kaum ins Gewicht fällt. Entsprechend problematisch erscheint vor diesem Hintergrund der in der Forschung zum „Fremden" mit ungebrochener Hingabe verwandte Sammelbegriff des „Exotismus", der — vermittelt über die Größe ^Alterität' als tertium comparationis — gemeinhin die Rezeption aller außereuropäischer Kulturen zu einem Gesamtphänomen zusammenfaßt.141 Denn eine solche begriffliche und konzeptionelle Gleichsetzung der europäischen Auseinandersetzung mit Afro-Amerika einerseits und dem Orient andererseits droht den gerade skizzierten Unterschied zu verwischen, der für den Orientalismus des 18. und frühen 19. Jahrhunderts von so großer Bedeutung war: Wenn sich Gelehrte und Dichter jener Zeit auf die tatsächliche oder literarische Suche nach Naturmenschen oder „Wilden" machten, dann wandten sie sich in viele Richtungen, aber nicht gen Morgen. Und unabhängig davon, ob der Orient kritisch oder emphatisch, affirmativ oder distanziert wahrgenommen, die chinesische Regierung als despotisch oder aufgeklärt, der osmanische Hof als edel oder dekadent, die altägyptische Kultur als erhaben oder erstarrt rezipiert wurden, war und blieb das Morgenland mit seinen Völkern eine dem alten Europa strukturell analoge, wiewohl differente, Kultur. Eben dies umriß und strukturierte den Möglichkeitsraum ästhetischer, politischer und kultureller Auseinandersetzung mit dem Orient auf sämtlichen Ebenen, und hier liegen auch einige der wesentlichen Gründe für die enorme Produktivität orientalischer Sujets, Formen und Themen im 18. und 19. Jahrhundert.
141 Vgl. exemplarisch Anselm Maler: „Exotismus". In: Literatur-Lexikon. Begriffe, Realien, Methoden. Hrsg. v. Volker Meid. Bd. 13. Gütersloh/ München 1992, S. 280f.; Annegreth Horathschek: „Exotismus". In: Mittler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hrsg. v. Ansgar Nünning. Stuttgart/ Weimar 1998, S. 138f.; ferner die Einleitung von Alexander Honold und Klaus R. Scherpe zu dem von ihnen herausgegebenen Band: Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen. Frankfurt a. M./ Berlin/ Bern u. a. 2000, S. 7-11; Hans-Chistoph Buch: „Die Phantasie war eine Löwin, eine Tigerin geworden. Orientalismus und Amerikanismus, Dorfgeschichte und Amerikaroman". In: ders.: Die Nähe und die Feme. Bausteine %u einer Poetik des Kolonialen Blicks. Frankfurt a. M. 1991, S. 62-88. Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft ersetzt das Lemma „Orientalismus" sogar vollständig durch einen Verweis auf den Eintrag „Exotismus" und institutionalisiert damit diese - historisch wie systematisch falsche - Gleichsetzung der beiden Phänomene: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. v. Harald Fricke. Bd. 2. Berlin/ New York 2000, S. 768.
4. Der linguistic turn des deutschen Orientalismus Und doch findet auf der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ein Wandlungsprozeß innerhalb des deutschen Orientalismus statt, der die ästhetische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Morgenland auf eine neue epistemische Grundlage stellt und ihr eine andere Richtung gibt. Es sind nicht so sehr die im Laufe des 17. und 18. Jahrhundert etablierten Topoi des Orients, die sich wandeln. Große Teile des morgenländischen Bildinventars der Frühen Neuzeit bleiben im 19. Jahrhundert erhalten; der Orient ist auch fürderhin mit Konzepten von ,Pracht' und ,Despotie' assoziierbar, ,Weisheitc und ,Sinnlichkeit' werden ihm weiter zugeschrieben, und aus der reichen Vorratskammer morgenländischer Motive kommt im ausgehenden 18. Jahrhundert ebenfalls kaum etwas abhanden: Pyramiden, Kuppelbauten und Pagoden zeigen ebensowenig semantische Abnutzungserscheinungen wie Teppiche, Turbane, Pantoffeln und seidene Gewänder, und Kamele, Elefanten und Araberhengste laufen von etwaigen Paradigmenwechseln gänzlich unbeirrt weiter durch Wüsten- und Palmenlandschaften der deutschen Literatur, Oper und bildenden Kunst. Nichtsdestoweniger verändert sich die Ordnung des orientalistischen Diskurses zu jener Zeit einschneidend — und sie tut dies auf andere Weise als die Ordnung des Orientalismus in England und Frankreich. Denn es ist keine koloniale Wendung, welche die deutsche Auseinandersetzung mit dem Orient auf dem ästhetischen und wissenschaftlichen Feld des ausgehenden 18. Jahrhunderts nimmt. Am politischen und wirtschaftlichen Engagement im Nahen, Mittleren und Fernen Osten, das in Frankreich und Großbritannien zu jener Zeit neu erwacht1 und zunehmend koloniale Formen annimmt, haben die deutschen Staaten keinen Anteil. Auch das vermehrt institutionell akkumulierte Wissen über den Orient prägt sich in Deutschland in anderer Weise aus als bei seinen nord-westlichen Nachbarn.2 1 Zu den nationalen Umverteilungen auf dem Feld europäischer Orient-Politik im ausgehenden 18. Jahrhundert vgl. die griffige Zusammenfassung in Yapp: The Making of the Modern Near East, S. 47-50. 2 Bereits Edward Said hatte - trotz seiner generellen Tendenz zur Synthetisierung der verschiedenen orientalistischcn Diskurse in Westeuropa zu einem monolithischen Block „Orientalism" - auf die Besonderheiten der deutschen akademischen Auseinandersetzung mit dem Orient seit dem späten 18. Jahrhundert hingewiesen. Vgl. Said: Orientalism, S. 17.
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Der Wandel des Orientalismus, von dem hier die Rede ist und auf den nächsten Seiten weiter sein soll, ist das kontingente Ergebnis des Zusammenspiels verschiedener diskurs- und wahrnehmungsgeschichdicher Entwicklungen im ausgehenden 18. Jahrhundert, die sich mit den folgenden Schlagworten umreißen lassen: 1. das sich institutionalisierende Wissen über den Orient unter den Vorzeichen von Philologie und Hermeneutik sowie die Ausbildung einer historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft,3 2. die einsetzende generelle Historisierung sowohl der Lebenswelt als auch der „Erfahrungswissenschaften vom Menschen",4 3 Vgl. Sabine Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft". Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2004; Bourel: Die deutsche Qnentalistik im 18.Jahrhundert,}o\\zim Fück: Die arabischen Studien in Europa bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts. Leipzig 1955; Ernst Windisch: Geschichte der Sanskrit-Philologie und Indischen Altertumskunde. L, II. Teil sowie nachgelassene Kapitel des III. Teils. Um ein Namen- und Sachverzeichnis zum III. Teil erweiterter, ansonsten unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1917, 1920 und 1921. Berlin/ New York 1992; Theodor Benfey: Geschichte der Sprachwissenschaft und orientalischen Philologie in Deutschland seit dem Anfange des 19. Jahrhunderts mit einem Rückblick auf die früheren Zeiten. München 1869 (Neudr. New York 1966); Holger Preißler: „Die Anfänge der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft". In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaß 145 (1995), S. 241-327; Norbert Nebes: „Orientalistik im Aufbruch. Die Wissenschaft zum Vorderen Orient in Jena zur Goethezeit". In: Jochen Golz (Hrsg.): Goethes Morgenlandfahrten. West-östliche Begegnungen. Frankfurt a. M./ Leipzig 1999, S. 66-91; Vasudha Dalmia-Lüderitz: „Die Aneignung der vedischen Vergangenheit. Aspekte der frühen deutschen Indien-Forschung". In: Zeitschrift für Kulturaustausch 37 (1987), 3. Vj.: Utopie-Projektion-Gegenbild, S. 434-443; Sheldon Pollock: „Indology, Power and the Case of Germany". In: Orientalism. A Reader. Hrsg. v. A.L. Macfie. Edinburgh 2000, S. 302-323; ferner die - in Bezug auf die Frühzeit der Wissenschaften jedoch alles andere als vollständige - Bibliographie: Index Islamicus. A Catalogue of Articles on Islamic Subjects in Periodicals and other Collective Publications. Hrsg. v. J. D. Pearson u.a.. Cambridge 1958ff. Sinologie und Japanologie entwickeln sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu eigenständigen Disziplinen. Vgl. dazu: Herbert Franke: Sinologie an deutschen Universitäten. Mit einem Anhang über die Mandschustudien. Wiesbaden 1968. 4 Dazu nach wie vor die bestechende Darstellung von Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1994, S. 498ff. Auch sei hier nicht auf den in der Literaturwissenschaft inzwischen ritualisicrten Verweis auf die Arbeiten Reinhard Kosellecks verzichtet: Reinhard Koselleck: „Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte". In: ders. (Hrsg.): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeichen. Frankfurt a. M. 31984, S. 38-66; ders. „Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen". In: ders./ WolfDieter Stempel (Hrsg.): Geschichte. Ereignis und Erzählung. München 1973, S. 211-222.. In mehrfacher Hinsicht aufschlußreich sind ebenfalls die Beiträge in: Wolfgang Küttler/ Jörn Rüsen/ Ernst Schulin (Hrsg.): Geschichtsdiskurs. Band 3: Die Epoche der Historisierung. Frankfurt a. M. 1997. Allerdings kaprizieren sich die Aufsätze - der etablierten geschichtswissenschaftlichen Periodisierung entsprechend — auf den mit den Ideen Hegels und Rankes assoziierten Historismus seit den 1830er Jahren, wodurch die langen Jahrzehnte „zwischen Aufklärung und Historismus" zu einer „Epochenschwelle" schrumpfen. (Ernst Schulin: „Die Epochenschwelle zwischen Aufklärung und Histo-
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die (Wieder-) Entdeckung des Mythos als Gegenstand und Formprinzip von Literatur und Wissenschaft5 und schließlich 4. die Entwicklung von Theorien und Poetologien einer Performativität (vulgo: Selbstreferenzialität) der Sprache.6 Dies sind die vier entscheidenden epistemologischen Bewegungen und Momente des orientalistischen Paradigmenwechsels auf der Wende zum 19. Jahrhundert. Allerdings erweist sich der ästhetische, wissenschaftliche und kulturelle Orientalismus als mit jeder dieser Entwicklungen so eng verwoben, daß sich die Frage nach dem Primat der Veränderungen als eine nach Henne (Orient) oder Ei (Formen des Wissens und der Ästhetik) darstellt: So ist die Etablierung der his torisch-vergleichen den Sprachwissenschaft ohne eine Auseinandersetzung mit den orientalischen Sprachen oder die Entwicklung der Mythengeschichte ohne eine Auseinandersetzung mit den altorientalischen Mythen ebensowenig denkbar,7 wie das OrientKonzept des frühen 19. Jahrhundert ohne die Einflüsse der sprach- und mythengeschichtlichen Diskurse verständlich wird. Wenn ich in meinen weiteren Ausführungen die Wandlungen des Orientalismus in seinen ästhetischen und wissenschaftlichen Aspekten primär setzen werde, dann ist das also keineswegs als Versuch zu werten, die Frage nach Henne oder Ei zur Seite des Orients aufzulösen, sondern allein der Fragestellung dieser Studie geschuldet. Und wenn ich mich dabei rismus". In: Küttler/ Rüsen/ Schulin: Geschichtsdiskurs 3, S. 17-26). Auch fehlt jegliche Reflexion auf den wissenschaftlichen, ästhetischen und kulturellen Orientalismus im Deutschland des späten 18. und des 19. Jahrhunderts. 5 Dazu autorenübcrgreifend u. a.: Christoph Jamme: Einführung in die Philosophie des Mythos. Bd. 2: Neuheit und Gegenwart. Darmstadt 1991; Helmut Buchholz: Perspektiven der Neuen Mythologie. Mythos, Religion und Poesie im Schnittpunkt von Idealismus und Romantik um 1800. Frankfurt a. M. 1990; Heinz Gockel: „Zur neuen Mythologie der Romantik". In: Walter Jeschke (Hrsg.): Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795-1805). Mit Texten von Humboldt, Jacobi, Novalis, Schelling, Schlegel u. a. und Kommentar. Hamburg 1999, S. 128136; Klaus Böldl: Der Mythos der Edda. Nordische Mythologie syrischen europäischer Aufklärung und nationaler Romantik. Tübingen u.a. 2000; Walburga Lösch: Der werdende Gott. Mythenpoetische Theogonien in der romantischen Mythologie. Frankfurt a. M. 1996; Gisela Natt: Symbol und Mythos. Zwei Denkbegnffe %ur Bibelhermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts. Münster u. a. 2000. 6 Hierzu u.a. die Beiträge in: Stephan Jaeger/ Stefan Willer (Hrsg.): Das Denken der Sprache und die Performam^ des Literarischen um 1800. Würzburg 2000, darin i.b.: dies.: Einleitung. Das Denken der Sprache und die Performan^ des Literarischen um 1800 (S. 7-30); Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheone im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt a. M. 1987, i.b. S. 9-29; Jochen A. Bär: Sprachreflexion der deutschen Frühromantik. Konzepte ^wischen Universalpoesie und Grammatischem Kosmopolitismus. Mit lexikographischem Anhang. Berlin/ New York 1999, i.b. S. 170-342. 7 Daraufhat Stefan Willer in seiner erhellenden Arbeit zur Poetik der Etymologie noch einmal dezidiert hingewiesen, auf die ich in meinen folgenden Ausführungen immer wieder zurückgreifen werde: Stefan Willer: Poetik der Etymologie. Texturen sprachlichen Wissens in der Romantik. Berlin 2003, hier: S. 82 f.
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außerdem auf das Werfen von Schlaglichtern beschränke, in deren Lichtkegel primär die Resultate der genannten Entwicklungen aufscheinen, während ihre Genese weitgehend im Schatten bleibt, dann geschieht das vor allem aus Gründen darstellerischer Komplexitätsreduktion. Da aber zugleich weder die Geschichte der Ausdifferenzierung der Orientwissenschaften geschrieben ist,8 noch eine systematische Darstellung der Bedeutung des Orients für die Entstehung der neuen Wissensformationen, kulturellen Selbsterzählungen, Poetologien und Ästhetiken existiert, ist das Verfahren des Schlaglichtwurfs letztlich auch analytisch ohne Alternative. Leitlinie der folgenden Kapitel bildet die Beobachtung, daß sich bei aller Kontinuität orientalischer Motive und Topoi die Verfaßtheit des Morgenlandes ändert. Ein wenig überpointiert gesprochen, wandelt sich der Orient im ausgehenden 18. Jahrhundert nämlich von einem reinen Inhalt zu einer Form, von einem Bild in Sprache, von einem Status in einen Modus. Dieser Wandel vollzieht sich nicht einfach als Medien- oder Genrewechsel. Schließlich wurde der Orientalismus schon in der Frühen Neuzeit immer auch sprachlich vermittelt, in Reiseberichten beschrieben und in Literatur verarbeitet, und gleichzeitig hört er auch im 19. Jahrhundert nicht auf, in visueller Form präsent zu sein, verschwindet weder von der Theater- oder Opernbühne noch aus der bildenden Kunst oder Architektur. Und dennoch hat diese Entwicklung mit Sprachlichkeit sehr viel zu tun — in dem Sinne nämlich, daß der Orient in der vollen Bedeutung des Wortes ^ur Sprache kommt. Am augenfälligsten wird das Zur-Sprache-Kommen des Orients angesichts der Zahl und der neuen Form von Übersetzungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts.
4.1 Übersetzungen „Die Lust am Übersetzen im Jahrhundert Goethes" - so hatte schon 1982 das Deutsche Literaturarchiv Marbach seine Ausstellung zur „Weltliteratur"9 überschrieben und damit auf den wichtigen Umstand hingewiesen, daß in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine ebenso breite wie 8 Die bereits erwähnte Studie von Sabine Mangold (Eine „iveftbürgerliche Wissenschaft'1) tritt zwar mit dem Anspruch auf, die Geschichte der deutschen Orientalistik im 19.Jahrhundert zu schreiben. Allerdings operiert sie in ihrer Darstellung mit dezidiert anachronistischen Parametern und läßt sowohl Grundkenntnisse der deutschen Wissenschafts-, Gesellschafts- und Ideengeschichte als auch jede diskursgeschichtliche Reflexion vermissen, so daß das Buch letztlich zum Verständnis des deutschen Orientalismus im 19. Jahrhunderts kaum etwas beiträgt und auch wissenschaftsgeschichtlich mehr verdunkelt als klärt. Vgl. meine ausführliche Rezension in: Saentia Poeiica 9 (2005). 9 So lautet auch der Titel des bereits zitierten Ausstellungskatalogs: Weltliteratur. Die Lust am Übersetzen im Jahrhundert Goethes.
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euphorische Übersetzertätigkeit einsetzte, die in früheren Jahrhunderten ihresgleichen sucht.10 Übertragen wird zunächst die neu entdeckte Literatur der griechisch-römischen Antike mit Homer, Horaz, Ovid und Aristophanes, dann die Literatur der europäischen Renaissance mit Shakespeare, Petrarca, Dante und Tasso. Übersetzt werden auch — wie oben schon angedeutet — spanische Autoren wie Cervantes und Calderon und natürlich die Literatur des „deutschen" Mittelalters. Und wenn Johann Gottfried Herder schließlich 1792 rhetorisch fragt „Warum sollten auch Griechenland und Rom allein ihre Anthologien haben? Sind nicht die schönsten Blumen unsrer Gärten morgenländischer? ist unsre Rose nicht Persischer Abkunft?",11 dann findet sich diese Forderung in den folgenden Jahren mehr als erfüllt. Herders eigene B lumenlese aus morgenländischen Dichtern12 bleibt nicht die einzige orientalische Anthologie der Jahrhundertwende. Der deutsch-orientalische Übersetzungsgarten erweitert sich stetig.13 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bietet sich dem interessierten Leser bereits eine breite Palette poetisch-floraler Kostbarkeiten aus dem Orient dar: Es erscheinen Anthologien wie die Asiatische Perlenschnur oder die schönsten Blumen des Morgenlandes™ Latzß oder biographische Nachrichten von vorzüglichen türkischen Dichtern nebst einer Blumenlese aus ihren Werken^ neben den Sammlungen des großen Übersetzers Josef von Hammer-Purgstall, seinem Morgenlaendischen Kleeblatt^ und - gleichsam als Destillat des morgenländischen Rosengartens — dem Rosenöl, erstes und %weytes Fläschchen.^1 Mit nicht weniger 10 Weltliteratur. Die Lust am Oberseiten im Jahrhundert Goethes, S. 6. 11 Johann Gottfried Herder: Zerstreue Blätter, vierte Sammlung [1792J. In: Herders SW 16, S. 3. 12 Johann Gottfried Herder: Blumenlese aus morgenländischen Dichtern (Johann Gottfried von Herder's sämmtliche Werke. Theü 9: Zur schönen Literatur und Kunst). Hrsg. durch Johann von Müller. Wien 1813. 13 Einige Beispiele trägt der Marbacher Katalog im Kapitel „Fundgruben des Orients" zusammen (Weltliteratur. Die Last am Übersetzen im Jahrhundert Goethes, S. 597-638) und Ludwig Ammann hat eine beeindruckende Auswahlliste von Übersetzungen seit 1800 aufgestellt. Vgl. dazu Ammann: Östliche Spiegel, S. 6-9. Leider fehlt eine Gesamtdarstellung der Übersetzungen aus den orientalischen Sprachen bis heute ebenso wie eine entsprechende Bibliographie. 14 Asiatische Perlenschnur oder die schönsten Blumen des Morgenlandes. In einer Reihe auserlesener Erzählungen dargelegt von Anton Theodor Hartmann. 2 Bde. Berlin 1800-1801. 15 Latiß oder biographische Nachrichten von vorzüglichen türkischen Dichtern nebst einer Blumenlese aus ihren Werken. Aus dem Türkischen des Moula Abdul Latifi und des Aschik Hasan Tschelebi. Übersetzt von Thomas Schabert. Zürich 1800. 16 Morgenlaendisches Kleeblatt bestehend aus Parsischen Hymnen, Arabischen Elegien, Türkischen Eklogen. Aufgelesen durch Josef von Hammer. Mit Kupfern und Vignietten. Wien 1819. Der Übersetzer widmete die Sammlung mit Caroline Pichler jener österreichischen Autorin, welche die Kurzbiographic des Angelo Soliman verfaßt hatte. Vgl. dazu Weltliteratur. Die Lust am Übersetzen im Jahrhundert Goethes, S. 623. 17 Rosenöl Erstes und qveytes Fläschchen oder Sagen u. Kunden des Morgenlandes. Aus arabischen und persischen und türkischen Quellen gesammelt [von Josef von Hammer-Purgstall). Stuttgart/ Tübingen 1813.
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Eifer widmete man sich der Übersetzung ganzer Werke. Und wie in den Anthologien zeichnet sich auch dabei eine deutliche sprachliche Akzentsetzung ab. Josef von Hammer, dessen Übersetzung des großen Divan von Hafis18 (1812/13) nicht allein für Goethes Dichtung so folgenreich werden sollte, bringt diese Akzentsetzung in der Vorrede zu seiner viel gelesener Geschichte der schönen Redekünste Persiens von 1818 auf den Begriff: Die Nationen des Orients, deren Poesie historisch dargestellt zu werden verdient, sind die Hebräer, Inder, Perser, Araber und Türken, Mantschu und Sinesen. Ueber die beyden ersten und letzten haben wir keine Stimme; nicht über jene, weil die heilige Poesie der Hebräer von Lowth und Herder, und die der Inder von Jones und Schlegel bereits in ihrem vollen Werthe gewürdiget worden; nicht über die letzten, weil wir mit den Sprachen dieser beyden Völker ganz unbekannt, die Darstellung derselben den Gelehrten, die sich damit beschäftigen, überlassen müssen. Soviel aber bisher aus dem Mantschurischen und Sinesischen in Europa bekannt geworden, steht ihre Poesie ganz gewiß auf der letzten Stufe von allen genannten [...]."
Was die chinesische Dichtung betrifft, so ist die Wertung von Hammers durchaus repräsentativ, denn Chinesisches fehlt in den Reihen der verdeutschten Texte tatsächlich fast vollständig,20 während Hebräer, Inder, Perser, Araber und Türken das Feld unter sich teilen - allerdings auch das nicht paritätisch. Denn trotz von Hammers eifriger und gewissenhafter Patenschaft für die „türkische" Dichtung,21 genießt sie - aus Gründen, die später noch zur Sprache kommen werden — bei den Übersetzern des frühen 19. Jahrhunderts deutlich weniger Ansehen als die hebräische, persische, arabische und indische Poesie.22 18 Mohammed Schemsed-din Hafis: Der Diwan. Aus dem Persischen zum erstenmal ganz übersetzt von Josef v. Hammer, K.K. Rath und Hof-Dollmetsch, Mitglied der Akademie von Göttingen, Korrespondent des Instituts von Holland. Erster TheiJ. Zweiter Theil. Stuttgart/ Tübingen 1812-13. 19 Geschichte der schönen Redekünste Persiens, mit einer Bliihenlese aus •gvejhundert persischen Dichtern. Von Josef von Hammer, Ritter des St. Annen=Ordens zweyter Classe, wirklichem k. k. Hofrathe und Hofdollmetsche an der geheimen Hof- und Staatskanzellen, wirklichem Mitgliede der Akademien zu Göttingen und München, correspondirendem Mitgliede der Akademie der Inschriften und der schönen Wissenschaften zu Paris, und des Instituts zu Amsterdam, Ehrenmitgliede der asiatischen Gesellschaft zu Calcutta und der zu Bombay. Mit dem Porträt des Verfassers, einem Notenblatte und einem Sachregister. Wien 1818, S. VI. 20 Ammann führt für die gesamte erste Hälfte des 19. Jahrhunderts nur vier Übersetzungen aus dem Chinesischen auf. Vgl. Ammann: Östliche Spiegel, S. 6-9. 21 Neben schon genannten kleineren Stücken übertrug der Gelehrte unter anderem Baki's, des größten türkischen Lyrikers, Diwan. Zum ersten Mahle ganz verdeutscht von Josef von Hammer. Wien 1825 und Fasli: Gülu Bülbül das ist: Rase und Nachtigall. Ein romantisches Gedicht türkisch herausgegeben und deutsch übersetzt durch Josef von Hammer. Pest/ Leipzig 1834. 22 Zu einigen der Gründe für die — abgesehen von den eifrigen Übertragungen des schon genannten Josef von Hammer-Purgstalls — vergleichsweise geringe Präsenz „türkischer"
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Nicht alle morgenländischen Texte wurden indes aus den Ausgangssprachen direkt ins Deutsche übertragen, sondern einige auch auf dem Umweg über französische oder englische Übersetzungen. Das galt vornehmlich für die arabische und indische Literatur und hatte seinen Grund zum einen in der überschaubaren Zahl von Gelehrten, die im Deutschland jener Zeit dieser Sprachen überhaupt mächtig waren, und ist zum anderen auf die Quellenlage zurückzuführen. Zwar läßt sich parallel zum steigenden Interesse am Übersetzen aus den orientalischen Sprachen - und in direktem Wechselspiel damit — in Deutschland vielerorts das Bemühen fürstlicher und königlicher Bibliotheken diagnostizieren, ihre orientalischen Handschriftensammlungen durch Ankäufe zu erweitern.23 Doch verfügten England und Frankreich aufgrund ihrer damals bereits fest institutionalisierten Kolonial- und Handelsbeziehungen zum Osmanischen Reich, zu Nordafrika und Indien über ein ungleich größeres Interesse an arabischen und indischen Handschriften und über größere finanzielle wie organisatorische Möglichkeiten zu ihrem Erwerb. Einen für den deutschen literarischen Orientalismus sehr bedeutenden britischen Übersetzer hat von Hammer in seiner gerade skizzierten Vorrede bereits genannt: Sir William Jones war Initiator und Mitbegründer der seit 1784 bestehenden britischen Asiatic Society in Calcutta,24 und seine Übersetzungen des altindischen Schauspiels Sakontala von Kälidäsa (um 400 n. Chr.) sowie der vorislamisch-arabischen Gedichtsammlung der Moallakafä wurden auf der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zu Ausgangs texten für weitere Übersetzungen und eine breite Rezeption dieser Quellen in Deutschland. Bereits 1792, drei Jahre nach dem Erscheinen der Jones'schen Sakontala, übertrug der berühmte Weltreisende und Cook-Begleiter Georg Forster den englischen Text ins Deutsche,26 und diese Übersetzung wurde so erfolgreich, daß Herder sie 1803 noch einmal herausgab. Allerdings, und das ist für diese spezifische Übersetzungs-Epoche signifikant, erreichten diese englischen Übertragungen den Status eines zweiten Originals nur unter der Bedingung ihrer Treue zum Ursprungstext, die Herder in seinem hymnischen Vorwort zur zweiten deutschen Ausgabe der Sakontala noch einmal explizit macht:
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Literatur auf den deutschen Übersetzungslisten vgl. Kreiser: „Haben die Türken Verstand?"^. 164ff. Vgl. dazu exemplarisch: Karin Rührdanz: Orientalische Handschriften in der Herzogin Anna A/nalia Bibliothek. In: Golz (Hrsg.): Goethes Morgenlandfahrten, S. 97-111, i.b. ihre Hinweise auf weitere deutsche Kataloge und Sammlungen S. 107 ff. Zu Jones vgl. die Textsammlung: Satya S. Pachori: Sir William Jones: A Reader. New Delhi 1993. The Moallakat or Seven Arabian Poems, which were suspended on the Temple at Mecca. With a translation and arguments by William Jones. London 1783. Kalidas: Sakontala oder der entscheidende Ring. Ein indisches Schauspiel. Aus den Ursprachen Sanskrit und Prakrit ins Englische und aus diesem ins Deutsche übersetzt mit Erläuterungen von Georg Forster. Mainz/ Leipzig 1792.
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Orientalimus: Genese und Gestalten [...] denn auch darinn waltete über dies indische Drama ein gutes Schicksal, daß W. Jones es nicht, wie er es mit anderen Erzählungen und Poesien gemacht, anglisiren, sondern treu darstellen wollte. Wörtlich übersetzte er es zuerst in Latein, (und es wäre kein übel angewandtes Papier, wenn man diese wörtliche Uebersetzung öffentlich machen wollte) dann ins Englische treu und einfach.27
Wo immer es möglich war, übersetzte man seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert aus den arabischen, persischen oder indischen Originaltexten, und allerorten läßt sich das Bemühen feststellen, die Ausgangstexte bei der Übertragung nicht zu germanisieren'. Das aber bedeutete zu dieser Zeit bereits nicht allein, inhaltlich treu zu übersetzen, sondern es schloß das Bestreben mit ein, auch die Form der literarischen Texte zu bewahren oder sie zumindest so zu transformieren, daß ihre Eigentümlichkeit sichtbar bzw. hörbar blieb. Diese Bemühungen zeigen sich da besonders deutlich, wo Metrik und Reim der orientalischen Literatur die Übersetzer vor unlösbare Probleme stellten, sie sich notgedrungen für eine Prosaübertragung entschieden und dennoch den Anspruch der Treue nicht aufgeben wollten. In dieser Situation befand sich auch Joseph Görres bei seinem Versuch, Teile des mythischen National- und Heldenepos Schah Nameh (Königsbtich] des persischen Dichters Ferdusi (940-1020/26) ins Deutsche zu übertragen. Das Vorwort des 1820 erschienenen Werkes gibt wortreich Kunde vom Ringen um Möglichkeiten, die Charakteristika der Versdichtung in seine Prosa hinüberzuretten: In Rücksicht auf den Inhalt dieser Erzählungen wurde nun das Gesetz zur Richtschnur genommen, gar nichts in irgend eine [sie!] Weise Wesentliches zu übergehen; in Rücksicht auf die Form aber von der eigenthümlichen poetischen Schönheit der Dichtung so wenig aufzuopfern, als immer die prosaische Behandlung gestatten mogte. Die ungebundene Rede, die freilich mit ihrem Numerus, den zerstörten Rhythmus nur schwach ersetzt, macht von der ändern Seite, durch die größere Freiheit, die sie zuläßt, die Aufgabe durch Fügung, Ausdruck, Klang und Ton im Ganzen die Nachbildung mit dem Urbild in jene geheime geistige Harmonie zu setzen, die jeder einigermaßen zarte Takt leicht fühlt und vermißt, einigermaßen lösbar, da unter dem Zwang des Versmaßes und des Reimes an einem Werke von solchem Umfang leicht der stärkste Muth verzweifeln mögte. Gebrauch machend von dieser Freiheit hat der Herausgeber zunächst die Sprache so gewählt, daß sie durch Farbe und Haltung der alten epischen der guten Zeit so nahe kömmt, als unser anders gestimmtes Ohr, und die wesentlich ungebildete Wortführung irgend gestatten wollen.28
27 Sakontala oder der entscheidende Ring. Ein indisches Schauspiel von Kalidas. Aus den Ursprachen Sanskrit und Prakrit ins Englische und aus diesem ins Deutsche übersetzt mit Erläuterungen von Georg Forster. Zweite rechtmäßige, von I. G. v. Herder besorgte Ausgabe. Frankfurt a. M. 1803, S. XXIX f. 28 Görres: Das Heldenbuch von Iran, Bd. l, S. IXf. Andere Übersetzer hatten sich bereits zuvor um eine metrisierte und gereimte Übertragung des Textes bemüht. Unter ihnen war der Hannoveraner Junggelehrte Gottfried Hagemann, der 1805 in Friedrich
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Ob Görres seinem eigenen Anspruch tatsächlich gerecht geworden ist, sei dahingestellt. Für den Orientalismus des frühen 19. Jahrhundert viel entscheidender als die — nach heutigen Maßstäben gemessene — Qualität der entstehenden Übersetzungen ist der Umstand, daß die orientalische Literatur hier eben nicht mehr nur als Stoffsammlung interessiert, sondern zusätzlich als literarisch geformte Rede mit ihrem unübersehbaren Eigensinn ins Blickfeld der Übersetzer rückt. Diesen Eigensinn der literarischen Form bei der „Nachbildung" so zu erhalten, daß er auch im deutschen Text noch wahrnehmbar bleibt, entwickelt sich zu dem zentralen Anspruch der Übersetzer orientalischer Literatur. So kritisiert Friedrich Schiller in einer Rezension für die Allgemeine Literatur-Zeitung bereits 1788 die von Wilhelm Friedrich von Meyern ein Jahr zuvor publizierte Erzählung Dya-Na-Sore oder die Wanderer. Eine Geschichte aus dem Sam-skritt übersetzt2** mit den Worten: [...] Eine Geschichte aus dem Sam-skritt übersetzt [...] Oder vielmehr nicht aus dem Sam-skritt übersetzt; denn einige Namen abgeändert, läßt sich die Geschichte eben so gut nach Aegypten oder nach China als nach Indien verlegen. Wofür also diese Einkleidung, die nicht nur durch nichts unterstützt, sondern der beinahe auf jedem Blatt durch die gröbsten Versündigungen gegen die Sitten und das Costume von Indien widersprochen wird?311
Durch die Übersetzungen jener Jahrzehnte begann der Orient, der bis dahin literarisch ausschließlich als Stoff, als Pool von Figuren, Orten, Gegenständen und Szenarien präsent war, zusätzlich zu einem sprachlichliterarischen Modus zu werden. Die Orient-Bilder des 17. und 18. Jahrhunderts wurden gleichsam mit einer Tonspur unterlegt und fingen nun an, selbst zu sprechen — und zwar in orientalischen Erzählformen, orientalischer Metaphorik, orientalischem Versbau. Erst auf der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gerieten die Weisen orientalischer Poesie in den Blick deutscher Dichter und Gelehrter. Und auch wenn die Formversessenheit in seinen Übersetzungen und Nachdichtungen arabischer, persischer und indischer Dichtung sicher nicht als paradigmatisch für das gesamte frühe 19. Jahrhundert gelten kann, legen gerade Arbeiten Friedrich Rückerts (1788-1866) doch beredtes Zeugnis von der Dimension dieses orientalistischen linguistic turn ab: Rückerts Bemühungen um die Nachbildung arabischer und persischer Vers- und Strophenformen in den deutschen Schlegels Zeitschrift Europa die Übersetzung eines Auszugs aus dem Schah Nameh publizierte: „Geschichte von Bahram GUT. Aus dem Persischen des Ferdusi von Gottfried Hagemann". In: Europa. Eine Zeitschrift. Hrsg. v. Friedrich Schlegel. Frankfurt a. M. 1803-1805. Mit einem Nachwort zur Neuausgabe von Ernst Behler. Fotomechan. Nachdruck. 2 Bde. Stuttgart 1963, Bd. 2, H. 2 (1805), S. 42-62. 29 Leipzig/Wien 1787. 30 Schiller NA 22, S. 196; vgl. dazu auch den Kommentar in Weltliteratur. Die Lust am Übersetzen im Jahrhundert Goethes, S. 602 f.
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Übertragungen, seine (letztlich erfolglosen) Versuche, die persische Gedichtform des Ghasels als poetische Innovation in die deutsche Dichtung einzuführen31 und nicht zuletzt seine (unabgeschlossene) Koran-Übertragung, die bis heute als die einzig „poetische" Koranübersetzung deutscher Sprache gehandelt wird — das alles sind Ergebnisse jenes Paradigmawechsels innerhalb des deutschen Orientalismus, der Verwandlung des Orients von einem reinen Stoff in eine Form. Nur vor diesem Sinnhorizont ist es Josef von Hammer und — in polemischer Verlängerung seiner Bemerkung - auch Johann Wolfgang Goethe überhaupt möglich, dem Dichter Jean Paul eine Muse zuzurechnen, die „sich aus dem Orient nach Occident verirrt [...] zu haben scheint"32 und in seiner Dichtung eine „orientalische Weise"33 zu bemerken, obwohl sich die Literatur Jean Pauls durch die fast vollständige Absenz orientalischer Sujets auszeichnet. Die Bemerkungen von Hammers und Goethes zielen schließlich nicht auf den Stoff, sondern auf jenen orientalischen Modus, der die neuen Übersetzungen aus dem Arabischen, Persischen, Indischen und Türkischen auszeichnet und sie nicht nur quantitativ sondern auch qualitativ deutlich von älteren unterscheidet. Nirgends zeichnet sich dieser Wandel des Orients vom Stoff zur Form, vom Status zum Modus so gut sichtbar ab wie in der Übersetzungsgeschichte der literarisch einflußreichsten orientalischen Textsammlung der Neuzeit: der Erzählungen der Tausendundeinen Nacht. Ihren „Siegeslauf durch die europäischen Literaturen"34 trat die Sammlung bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts an, als der Orient-Gelehrte und -Reisende Jean Antoine Galland (1646-1715) sie in den Jahren 1704-171735 aus einer syrischen Handschrift und nach mündlichen Erzählungen eines Maroniten 31 Zu Rückert vgl. Mahmoud Alali-Huseinat: Rackert und der Orient. Untersuchungen %u Friedrich Rückerts Beschäftigung mit der arabischen und persischen Literatur. (= Islam und Abendland 7) Frankfurt a. M./Bern 1993; ferner die Beiträge in dem Katalog: Friedrich Rackert an der Universität Erlangen 1826-1841. Eine Ausstellung des Lehrstuhls für Orientalische Philologie, des Lehrstuhls für Indogermanistik und Indoiranistik und der Universitätsbibliothek. Hrsg. v. Hartmut Bobbin. Erlangen 1988; zum Ghasel-Projekt Rückerts und den Gründen seines Scheiterns: Andrea Polaschegg: „Unwesentliche Formen? Die Ghasel-Dichtungen August von Platens und Friedrich Rückerts: Orientalisierende Lyrik und hermeneutische Poetik". In: Steffen Martus/ Stefan Scherer/ Claudia Stockinger (Hrsg.): Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Bern u. a. 2005,8.271-294. 32 Hammer: Geschichte der schönen Redekünste Persiens, S. 27. 33 So zu lesen im Kapitel Vergleichung der Noten und Abhandlungen %um besseren Verständnis des West-östlichen Divan (Goethe FA 3.1, S. 202 ff). 34 Vgl. das Kapitel „Zur Entstehung und Geschichte von Tausendundeiner Nacht". In: Littmann: Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten, Bd. 6, S. 655-736, hier: S. 656. 35 Die beiden letzten der insgesamt zwölf Bände wurden 1717, zwei Jahre nach Gallands Tod, von seinem Verleger herausgebracht. Vgl. Wiebke Walter: Tausendundeine Nacht. Eine Einführung. München/ Zürich 1987, S. 30.
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ins Französische übersetzte.36 Der Erfolg der Erzählungen der Tausendundeinen Nacht war beispiellos. Nicht nur avancierten sie zu einem der meistgelesenen Bücher des 18. und 19. Jahrhunderts, sondern sie dienten der europäischen Literatur darüber hinaus von Beginn an als schier unerschöpfliche Stoffsammlung.37 Bereits kurz nach Erscheinen der französischen Übersetzung fanden Figuren, Motive, Handlungsorte und ganze Szenen der Tausendundeinen Nacht Eingang in die französischen Feenmärchen38 und wurden von ihnen fortgeschrieben. Ein Grund für die problemlose Adaptierbarkeit der Geschichten Sheherazades durch die europäische Dichtung des 18. Jahrhunderts bestand in den weitreichenden stilistischen und formalen Transformationen, die der arabische Text unter Gallands Übersetzerhänden erfuhr. Denn diese Hände bildeten ihn zu einer Sammlung höfisch-galanter Literatur um.39 Dennoch oder gerade deswegen blieb die Gallandsche Übersetzung bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts der Ausgangstext für alle Übertragungen ins Deutsche, deren erste bereits 1706 auf den Markt gebracht wurde40 und deren letzte, wiewohl erste vollständige, 1781-85 erschien. Es war der berühmte HomerÜbersetzerjohann Heinrich Voß, der 1780 vom Bremer Verleger Johann Heinrich Cramer den Auftrag erhielt und ausführte, Gallands Fassung aus dem Französischen ins Deutsche zu übertragen.41 Daß Voß, der bei seinen Übersetzungen von Texten der griechisch-römischen Antike wie kaum ein anderer auf Genauigkeit und Texttreue bedacht war, sich im Falle der Tausendundeinen Nacht für eine freie Übertragung entschied, wie man sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem von Christoph Martin 36 Zu Gallands Übersetzung und ihren Quellen vgl. Robert Irwin: Die Welt von Tausendundeiner Nacht. Frankfurt a. M. 1997, S. 25ff.; Littmann: Die Erzählungen aus den lausendundein Nächten, Bd. 6, S. 656 f.; Walter: Tausendundeine Nacht, S. 28-31. 37 Diethelm Balke: Orient und Orientalische Literaturen, S. 837; vgl. auch die Einleitung der Studie von Katharina Mommsen: Goethe und 1001 Nacht. Frankfurt a. M. 1981, S. IXXXIII. 38 Zur Geschichte der Feenmärchen vgl. Friedmar Apel: Die Zaubergärten der Phantasie. Zur Theorie und Geschichte des Kunstmärchens. Heidelberg 1978, i.b. S. 37-76. 39 Littmann: Die Erzählungen aus den lausendundein Nächten, Bd. 6, S. 656; Irwin: Die Welt von Tausendundeiner Nacht, S. 27 ff. 40 Anonym erschien 1706 eine Übertragung des ersten Bandes in Cölln, in den Jahren 1710-1735 dann in insgesamt fünfzehn Teilen und ebenfalls anonym eine umfangreichere Übersetzung. Vgl. Walter: Tausendundeine Nacht, S. 40 f. 41 Die tausend und eine Nacht arabische Erzählungen. Ins Französische übersetzt von dem Herrn Anton Galland, Mitglied der Akademie der schönen Wissenschaften zu Paris, und I^ehrcr der arabischen Sprache beim königlichen Kollegium. Aus dem Französischen übersetzt von Johann Heinrich Yoß. 6 Bde. Bremen 1781-1785. Ernst-Peter Wieckenberg hat sich jüngst als erster mit dieser Übersetzung, ihrer Entstehung und dem Umstand auseinandergesetzt, daß sie bereits zu I^cbzeiten des Johann Heinrich Voß in eine Vergessenheit geriet, aus der sie wohl erst durch die Nachwirkungen seiner brilliante Studie wieder auftauchen wird: Ernst-Peter Wieckenberg: Johann Heinrich Voß und „Tausend und eine Nacht". Würzburg 2002.
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Wieland kennt, mag dabei zunächst ebenso verwundern wie seine Rolle als Übersetzer arabischer Märchen selbst.42 Allerdings war Voß durchaus bewußt, daß es hier kein Original, sondern nur eine Übersetzung zu übersetzen galt. Gleich zu Beginn seiner Arbeit erkundigt er sich bei Heinrich Christian Boie brieflich nach Autor und Hintergrund des arabischen Textes und schreibt: „Wie heißt der Verfasser der 1001 Nacht? [...] ich muß doch etwas in der Ankündigung schwadronieren. Gieb mir Materie. Ich weiß gar nichts."43 Eine freie Übersetzung frei zu übersetzen, dürfte für Voß nicht im Widerspruch zu seinem Übersetzer-Ethos gestanden haben. Allerdings war diese Unternehmung keine, die im ausgehenden 18. Jahrhundert noch auf großen Zuspruch von Seiten der gebildeten Leser rechnen konnte. Die galanten Feenmärchen orientalisierender Provenienz hatten den Zenit ihres Erfolges bereits überschritten,44 und fast zeitgleich begaben sich die ersten Gelehrten in Frankreich, England und Deutschland auf die Suche zunächst nach den Quellen Gallands, später nach anderen arabischen Handschriften von Geschichten der Tausendundeinen Nacht. Ein Ergebnis dieser neuen Bemühungen um eine Sichtung des arabischen Materials wurde 1790 in Friedrich Justin Bertuchs Die Blaue Bibliothek aller Nationen veröffentlicht45, Josef von Hammer-Purgstall publizierte einige Jahre später Der Tausend und einen Nacht noch nicht übersetzte Mährchen, Er%ählungen und Anekdoten** und in den Jahren 1824/25 schließlich erschien die, später als „Breslauer Ausgabe" berühmt gewordene, erste deutsche 42 In seiner Diskussion einiger der möglichen Gründe gelangt Wieckenberg zu der Vermutung, Voß habe letztlich keine einheitliche Übersetzerhaltung gegenüber dem Ausgangstext eingenommen. Vgl. ebd., S. 36-47. 43 Voß an Heinrich Christian Boie v. 28. Dezember 1780. In: Briefe von Johann Heinrich Voß nebst erläuternden Beilagen herausgegeben von Abraham Voß. 3 Bde. Halberstadt o.J., Bd. III.l, S. 150, zit. nach Wieckenberg: Johann Heinrich Voß und „Tausendundeine Nacht", S. 17. Warum Wieckenberg in seiner sonst so differenzierten und reflektierten Arbeit ausgerechnet den Aspekt der doppelten Übersetzung außer Acht läßt und die Gallandsche Übersetzung kommentarlos als „zeitgenössische Erzählliteratur" kategorisiert, ist unklar. Vgl. ebd. S. 36 f. 44 Wielands 1786-89 in Folgen veröffentlichte Erzählsammlung Dschinnistan, in deren Vorwort er sich als einer der wenigen Zeitgenossen bewundernd über die Voß'sche Übersetzung äußert (vgl. ebd. S. 22), liest sich bereits wie ein abschließend-systematisierender Musterkatalog sämtlicher Typen der Feenmärchen. Vgl. dazu das Nachwort von Willy Richard Berger in: Christoph Martin Wieland: Dschinnistan oder Auserlesene Feen- und Geistermärchen. Zürich 1992, S. 510. 45 Die Tausend und eine Nacht. Arabische Mähren. Aechte Fortsetzung aus dem Arabischen ins Französische übersetzt und herausgegeben von den Herren Don Denis Chavid und Cazotte. Erster Theil. Gotha 1790. 46 Hammer-Purgstall hatte eine ägyptische Handschrift ins Französische übersetzt, die von H. E. Zinserling 1823 ins Deutsche übertragen wurde: Josef Freiherr von HammerPurgstall: Der Tausend und einen Nacht noch nicht übersetze Mährchen, Erzählungen und Anekdoten. [...} Aus dem Französischen in's Deutsche übersetzt von H.E. Zinserling. Stuttgart/ Tübingen 1823 (Nachdr. Hildeshcim 1976).
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Übersetzung der Erzählsarnmlung aus dem Arabischen.47 Von einer Programmatik freier Übersetzung ist in diesen deutschen Übertragungen nichts mehr zu spüren, sie zielten auf Vollständigkeit, auf Treue zu den Quellen. Und damit stießen sie — ganz anders als die Voß'sche Fassung — auch beim gebildeten Publikum wieder auf ein großes Interesse,48 das sich eben nicht mehr allein auf den Inhalt der Geschichten bezog, von denen schließlich — wie es in Bertuchs Vorwort zur Fortsetzung derächten Tausend und Einen Nacht heißt —„wenigstens die erste Hälfte, schon ganz Europa kennt".49 Vielmehr entstand nun ein neues Interesse an der Verfaßtheit der Texte, an ihrem Kompositionsprinzip, ihrer Erzählform, Metaphorik und der Ordnung des Imaginären, während die Schauplätze, Figuren und Sujets in den Hintergrund traten. Ein illustratives Beispiel dieser Form der Rezeption bietet eine kurze Sequenz aus dem Rahmengespräch der Serapionsbrüder E.T.A. Hoffmanns, in welchem diese neue poetologische Lesart der Tausendundeinen Nacht thematisiert wird. Der Serapionsbrüder Ottomar wettert hier gegen die literarische Tradition, „alles, was nur Märchen hieß, ins Morgenland zu verlegen und dabei die Märchen der Dschehezerade zum Muster zu nehmen", und argumentiert: „Was aber die Märchen der .Tausendundeinen Nacht' betrifft, so ist es seltsam genug, daß die mehrsten Nachahmer gerade das übersehen, was ihnen Leben und Wahrheit gibt [...]. All die Schuster, Schneider, Lastträger, Derwische, Kaufleute etc. wie sie in jenen Märchen vorkommen, sind Gestalten, wie man sie täglich auf den Straßen sah, und da nun das eigentliche Leben nicht von Zeit und Sitte abhängt, sondern in der tieferen Bedingung ewig dasselbe bleibt und bleiben muß, kommt es, daß wir glauben, jene Leute, denen sich mitten in der Alltäglichkeit der wunderbarste Zauber erschloß, wandelten noch unter uns. So groß ist die Macht der Darstellung in jenem ewigen Buch."50
Was Hoffmann seine Protagonisten in Sheherazades Geschichten entdecken läßt, ist ein literarisches Prinzip der Verschränkung von Alltäg47 Tausend und Eine Nacht. Arabische Erzählungen. Zum erstenmal aus einer Tunesischen Handschrift ergänzt und vollständig übersetzt von Max. Habicht, Fr. H. von der Hagen und Carl Schall. 15 Bände. Breslau 1825 ff. In ihrem Vorwort bemängeln die Herausgeber an der Übersetzung von Chavis und Cazotte allerdings, der Text sei „zwar der Grundlage nach meist aus einer arabischen Handschrift zu Paris entnommen", von Cazotte dann „aber willkürlich ausgesponnen worden" (Bd. l, S. 7). Hier zeigt sich sehr deutlich der grundsätzlich veränderte Anspruch an die Materialtreue der Übersetzung. 48 Vgl. dazu Irwin: Die Welt von Tausendundeiner Nacht, S. 30ff. Die Breslauer Ausgabe verkaufte sich so gut, daß bereits zwei Jahre nach ihrem Erscheinen eine zweite Auflage besorgt wurde: Tausend und Eine Nacht. Deutsch von Max. Habicht, Fr. H. von der Hagen und Carl Schall. Zweite vermehrte Ausgabe. Breslau 1827. 49 So Bettuch in seiner Vorrede zum fünften Band der Blauen Bibliothek (Chavis/ Cazotte: Die Tausend und eine Nacht, S. VII). 50 E.T.A. Hoffmann: Oie Serapionsbrüder II. Berlin 1994 (ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 5), S. U l f .
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lichem mit Wunderbarem, wie sie es sich selbst auf ihre serapiontischen Fahnen geschrieben haben. Und auch Goethe hat sich der Tausendundeinen Nacht nicht allein als Motivsammlung und Figurenarsenal bedient, sondern ebenfalls auf literarische Kompositionsverfahren der Geschichten zurückgegriffen.51 Besonders eindrücklich ist sein — in letzter Konsequenz an Schillers Pragmatismus gescheiterter - Versuch, die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten nicht allein analog zu jenem Schachtelungsprinzip von Binnen- und Rahmenerzählung zu komponieren, wie es die arabische Märchensammlung strukturierte, sondern dieses Prinzip auch auf die konkrete Publikationsform seines literarischen Beitrags anzuwenden.52 Denn die Unterhaltungen erschienen 1795 in sechs Ausgaben von Schillers Hören, und Goethe schickte sich an, die Fortsetzungen so zu gestalten, daß das Ende jedes Stückes nicht mit dem Ende einer Binnenerzählung zusammenfiel und so beim Leser eine Neugierde auf den Fortgang geweckt würde, die erst in der nächsten Nummer der Zeitschrift zu befriedigen sein sollte. Sheherazade wird dabei explizit als kompositorische Patin genannt: „überhaupt gedencke ich [...] wie die Erzählerin in der tausend und Einen Nacht zu verfahren"53 läßt Goethe im Dezember 1794 Schiller wissen. Doch der weiß diesem Experiment, das bei den Lesern auf Unverständnis stieß, redaktionell entgegen zu steuern und läßt — trotz heftiger Einrede Goethes54 — zumindest das abschließende Mährchen vollständig und ohne Unterbrechung im X. Stück der Hören erscheinen. Die genannten Beispiele lassen die aisthetische und poetische Dimension erahnen, die der Orientalismus durch die neuen Übersetzungen und die neue Art von Übersetzungen orientalischer Texte seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gewann. Denn neben einer reinen Zunahme an Kenntnissen über die persische, arabische, indische und osmanische Literatur verschob sich mit dem Übersetzungsparadigma auch der orientalistische Fokus selbst — vom Stoff auf die Form, von den Bildern des Orients auf die Verfaßtheit und Eigensinnigkeit orientalischer Literatur und Rede, die jetzt beginnt, sich selbst zu sprechen.
51 Mommsen: Goethe und 1001 Nacht, S. 57-68. 52 Für diesen Zusammenhang vgl. ebenfalls Mommsen: Goethe und 1001 Nacht, S. 57-64 53 Goethe an Schiller v. 2. Dezember 1794. In: Der Briefwechsel syrischen Schiller und Goethe. Hrsg. v. Emil Staiger. Mit Illustrationen und Bildkommcntar von Hans-Georg Dewitz. Frankfurt a. M. 31987,S. 69. 54 „Das Mährchen wünscht ich getrennt, weil eben bei so einer Produktion eine HauptAbsicht ist, die Neugierde zu erregen." (Goethe an Schiller v. 3. September 1795. In: Briefwechsel syrischen Schiller und Goethe, S. 134).
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4.2 Frühorientalistik I: Bibelwissenschaft Angesichts der steigenden Zahl von Übersetzungen orientalischer Literatur kann es zunächst nicht wunder nehmen, daß sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts unter den Dichtern und Gelehrten Deutschlands auch eine zunehmende Beschäftigung mit den orientalischen Sprachen verzeichnen läßt. Allerdings stand diese Auseinandersetzung keineswegs allein, ja nicht einmal vornehmlich, im Dienste der Übersetzung, sondern folgte anderen und sehr spezifischen diskursiven Ordnungen. Das läßt sich schon an der Auswahl der orientalischen Sprachen ablesen, die zu jener Zeit von besonderer Prominenz waren. Denn während das Persische, Arabische und Hebräische immer wieder zum Gegenstand ausführlicher Sprachreflexionen avancierten, wurde dem Osmanischen ebensowenig Behandlung zuteil wie dem Chinesischen, und zugleich erfuhr das Sanskrit ein überbordendes Maß an Beachtung. Diese Schwerpunktsetzung korrespondiert der Übersetzungspraxis keineswegs. Auch zeigt sich bei genauerem Hinsehen, daß die Auseinandersetzung deutscher Gelehrter mit den orientalischen Sprachen entlang einer disziplinären Scheidelinie verlief. Diese Linie scheint selbst noch in den Abmessungen des orientalistischen Gegenstandsbereichs auf, wie sie der österreichische Diplomat und Universalgelehrte des Orients, Josef von Hammer, vornimmt. In der oben zitierten Vorrede zu seiner Geschichte der schönen Redekünste Persiens hatte von Hammer das Hebräische und das Sanskrit aus seiner Darstellung mit dem Hinweis ausgeklammert, daß „die heilige Poesie der Hebräer von Lowth und Herder, und die der Inder von Jones und Schlegel bereits in ihrem vollen Werthe gewürdiget worden" seien.55 Für die deutsche Ordnung des orientalistischen Diskurses im frühen 19. Jahrhundert ist das ein entscheidender Fingerzeig, denn mit diesen beiden Sprachen sind zwei ganz unterschiedliche Systeme der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Orient bezeichnet, denen sich auch die übrigen Sprachen zuordnen lassen: Während nämlich die Beschäftigung mit dem Hebräischen und dem Arabischen der protestantischen Theologie entstammt und sich sowohl personell als auch in ihren wissenschaftlichen Parametern bis weit ins 19. Jahrhundert hinein an dieser Disziplin orientiert, entsteht die Auseinandersetzung mit dem Sanskrit und dem Persischen aus der Altertumskunde, bzw. konstituiert sich gemeinsam mit ihr als eigenständige wissenschaftliche Disziplin, und bewegt sich vornehmlich in den Bahnen der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft und der Mythenforschung, wie sie im ausgehenden 18. Jahrhundert ent55 von Hammer: Geschichte der schönen Redekünste Persiens, S. VI.
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stehen. Auf beide Wissensformationen sei nun ein kurzer, aber möglichst eindringlicher Blick geworfen: Die Bedeutung der protestantischen Theologie für den deutschen Orientalismus des 19. Jahrhunderts ist kaum zu überschätzen. Das Studium orientalischer Sprachen innerhalb dieser Wissenschaft ist so alt wie der Protestantismus selbst, denn durch Luthers Rückwendung von der Vulgata zur hebräisch-griechischen Fassung der Bibel wurde der Erwerb von Hebräisch-Kenntnissen zum konstitutiven Bestandteil des Studiums der protestantischen Theologie.56
Das Augenmerk der exegetischen Theologie richtete sich dabei selbstverständlich vornehmlich auf die biblischen Texte und das Hebräische als lingua sacra, doch zu ihrem Verständnis wurden auch andere orientalische Sprachen herangezogen, deren Zahl sich im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts erhöhte. Dominique Bourel führt in seinem materialreichen Beitrag Die deutsche Orientalistik im 18. Jahrhundert das Beispiel des 1702 in Halle gegründeten Collegium Orientale Theologicum an und zählt die hier für das Studium vorgeschriebenen Sprachen auf. Es sind neben dem Hebräischen auch „Aramäisch, Arabisch, Samaritanisch, Aethiopisch und ,Rabbinisch'".57 Daß das Studium dieser Sprachen in erster Linie als Hilfswissenschaft zum besseren Verständnis des Hebräischen betrieben wurde und man ihnen kein eigenständiges Erkenntnisinteresse entgegenbrachte,58 ist von der Forschung zur Entwicklung der Orientalistik immer wieder mit den Gegebenheiten in England und Frankreich kontrastiert und wortreich beklagt worden.59 In der gängigen - eher die Weltanschauung der Autoren als die wissenschaftsgeschichdichen Zusammenhänge erhellenden — Rhetorik dieser Klagen über die späte „Befreiung" der deutschen Orientforschung von der „Vormundschaft" der Bibelwissenschaften, oder gar „der Kirche",60 und den „Fesseln theologischer Spekulation"61 drohen allerdings zwei für die 56 Eben dies ist auch der Grund für das von Mangold beobachtete Fehlen einer orientkundlichen Tradition an den katholischen Universitäten der Frühen Neuzeit (Vgl. Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft", S. 29). 57 Bourel: Die deutsche Onentalistik im 18. Jahrhundert, S. 116. 58 Zur Ausdifferenzierung der Arabistik im Laufe des 19. Jahrhunderts vgl. Fück: Die arabischen Studien in Europa, S. 108 ff. 59 Am wortreichsten bislang Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft", S. 31 f., 37, 54f., 60f, 65, 67, 71 u.ö.; ferner Borurel: Die deutsche Orientalistik im 18. Jahrhundert, S. 122ff. im Anschluß an Fück, ebenso Nebes: Onentalistik im Aufbrach, S. 66ff. und Hartmut Bobzin: „Geschichte der arabischen Philologie in Europa bis zum Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts". In: Fischer (Hrsg.): Grundriß der arabischen Philologie, Bd. 3, S. 155-187, hier: S. 179. 60 Die Institution Kirche tritt in diesem Zusammenhang stets im anachronistisch-stereotypen Singular auf, vgl. Fuchs-Sumiyoshi: Orientalismus in der deutschen Literatur, S. 27. 61 Fück: Die arabischen Studien in Europa, S. 124; Nebes: Orientalistik im Auforuch, S. 66. In keinem der genannten Beiträge geht diese Rhetorik allerdings mit einer sichtbaren Kenntnisnahme der theologiegeschichtlichen Zusammenhänge einher.
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Geschichte der Orientalistik zentrale diskursgeschichtliche Aspekte unterzugehen: Zunächst versteht sich ein dezidiert wissenschaftliches Interesse am Orient in den europäischen Staaten und Gesellschaften des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts keineswegs von selbst. Zwar gehört die Mähr von „der Aufklärung" als einer gesamteuropäischen Bewegung, deren „Weltoffenheit" gleichsam automatisch ein gesteigertes und vor allem vorurteilsfreies Interesse gegenüber dem Orient generiert habe, zum festen Mytheninventar der Orientalismusforschung.62 Doch selbst Lessings Nathan der Weise als höchst sympathischer — wiewohl zumeist einziger — Evidenzstifter dieser historischen Hypothese vermag an dem Umstand nichts zu ändern, daß die Institutionalisierung eines Wissens über den Orient von anderen Faktoren abhängt als einem „Geist", und sei es dem der Aufklärung. Einer dieser Faktoren besteht in der staatlichen und gesellschaftlichen Anbindbarkeit orientalistischen Wissens. Da die deutschen Staaten aber— im Unterschied zu Großbritannien und Frankreich - nun einmal bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts weder nennenswerte wirtschaftliche oder politische Kontakte zum Orient unterhielten noch dort Kolonien besaßen,63 fehlte entsprechend auch staadiches sowie gesellschaftliches Interesse an der wissenschaftlichen Erforschung des zeitgenössischen Orients sowie ihrer Finanzierung. Die einzige wissenschaftliche Disziplin an deutschen Universitäten und Akademien, die sich systematisch für die Völker und Sprachen des Nahen und Milderen Ostens interessierte und über eine Tradition orientalistischen Wissens verfügte, war die protestantische Theologie. Schließlich stand ein orientalischer Text in ihrem Zentrum, dessen Bedeutung so groß war, daß sich alle Bemühungen um sein Verständnis tatsächlich von selbst verstanden.64 Daß die deutsche Orientwissenschaft von der protestantischen Theologie ihren Ausgang nahm, kann also weit weniger verwundern als das Fehlen einer deutschen Orientalistik ethnologisch-kolonialen Zuschnitts, wie sie sich im Westeuropa des frühen 19. Jahrhunderts in den Kolonialreichen Frankreich und Großbritannien aufweisen läßt.65 62 Vgl. exempl.: Fuchs-Sumiyoshi: Onentalismus in der deutschen Literatur, S. 28 ff; Ammann: Östliche Spielgel, S. 15 f.; Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft", S. 33 ff. 63 Das betont auch Preißler Die Anfänge der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, S. 253 ff. 64 Eine Theologiegeschichte, welche die Genese und Transformation des orientalistischen Wissens in den Blick nimmt, existiert nicht. Daher sei auf das Panorama von Gelehrten und Texten verwiesen, das Henning Graf Reventlow in seinen Epochen der Bibelauslegung. Bd. 4: Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert. München 2001 entwirft. 65 Daß selbst die ersten politischen Schritte Preußens hin zu einem direkten Engagement in der Region ab den 1840er Jahren kirchenpolitischer Natur sind, scheint vor diesem wissen(schaft)sgeschichtlichen Hintergrund nicht ohne Signifikanz zu sein. Erinnert sei an das Projekt des englisch-preußischen Bistums in Jerusalem (1841-1886) und die Einrichtung teils bis heute existierender karitativer und Bildungseinrichtungen der Kaiserswerther Diakonie in Israel, Palästina, Syrien und dem Libanon. Vgl. dazu die
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Zugleich aber kulminierten gegen Ende des 18. Jahrhunderts innerhalb der Theologie methodologische und strukturelle Entwicklungslinien und zeitigen Veränderungen, die eine Ausdifferenzierung der Orientwissenschaft als eigenständige Disziplin fördern, wo nicht überhaupt erst ermöglichten. Die Rede ist von der Etablierung der historisch-kritischen Methode hermeneutischer Provenienz für die Analyse der biblischen Texte im Rückgriff auf andere orientalische Texte66 und von der gleichzeitigen Aufspaltung der protestantischen Theologie in die bis heute bestehenden Teilbereiche, also der innerdisziplinären Trennung von Exegese und Dogmatik, von historischer und systematischer Forschung.67 Die Beschäftigung mit dem Orient und seinen Sprachen hatte im Kontext der Exegese des Alten Testaments ihren Ort und war durchweg historischer Natur, wodurch sich auch die Auswahl der orientalischen Sprachen und Völker erklärt, mit denen man sich hier in erster Linie befaßte. Wie in dem oben bereits zitierten, von dem Jenaer Theologen und Frühorientalisten Heinrich Eberhard Gottlob Paulus herausgegebenen, Neuen ^epertonum für 'biblische und Morgen ländische Utteratuf68 schon anklang, waren es zunächst die altorientalischen Völker im geographisch-kulturellen Umfeld der alttestamentlichen Texte, die zum Gegenstand der Forschung wurden — wie etwa die Assyrer, Babylonier oder Phönizier. Hinzu kamen Sprachen wie das Aramäische, Äthiopische oder Samaritanische,69 in denen man eine Verwandtschaft mit dem Hebräischen erkannte, dessen Charakter als ßngua sacra sich aufzulösen und historisch zu werden begann.70 Daß das Arabi-
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zusammenfassende Darstellung: Abdel-Raouf Sinno: Deutsche Interessen in Syrien und Palästina 1841-1898. Aktivitäten religiöser Institutionen, wirtschaftliche und politische Einflüsse. Berlin 1982. Vgl. dazu Hans-Joachim Kraus: Geschichte der Historisch-Kritischen Erforschung des Alten Testaments von der Reformation bis syr Gegenwart. 2., überarb. u. erw. Aufl. Neukirchen 1969,8.80-208. Otto Kaiser: Der Gott des Alten Testaments. Theologie des AT 1: Grundlegung. (= UTB 1747) Göttingen 1993, S. 65-68. Ein wichtiger Protagonist in diesem Zusammenhang war der Theologe und Eichhorn-Schülerjohann Philipp Gabler (1753-1826), der bereits in seinem „Altdorfer Programm" von 1787 für die Trennung von historischer Bibelexegese und Dogmatik eingetreten war. Vgl. dazu den Art. Gabler. In: RGG3, Bd. 2, Sp. 1185; zum größeren Zusammengang: Hans-Joachim Kraus: Geschichte der histonschkritischen Erforschung des Alten Testaments von der Deformation bis ^ur Gegenwart. Neunkirchen 1956. Neues Ripertorium fär Biblische und Morgenländische Utteratur. Herausgegeben von M. Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, der Philosophie und der Orientalischen Sprachen Professor zu Jena. Erster Theil u. Zweyter Theil. Jena 1790. Zu vergleichbaren Publikationen im späten 18. Jahrhundert vgl. Bourel: Die deutsche OrientaKstik im 18. Jahrhundert. Vgl. dazu auch die entsprechenden Passagen im Art.: „Orientalische Studien, Literatur, Hülfsmittel". In: Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste, Bd. 5, S. 194-245. Dazu differenziert: Daniel Weidner: „ .Menschliche, heilige Sprache'. Das Hebräische bei Michaelis und Herder". In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 95 (2003), Nr. 2, S. 171-206.
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sehe unter diesen Sprachen eine herausragende Stellung einnahm und zunehmend an Bedeutung gewann, ist vor allem dem Unistand geschuldet, daß es sich dabei — im Unterschied zum Syrischen und Samaritanischen — um eine noch immer gesprochene Sprache handelte, die aus Sicht von frühorientalistischen Theologen wie Johann David Michaelis sogar den Status des lebendigen Pendants zum biblischen Hebräisch besaß.71 Die in diesem disziplinären Zusammenhang betriebene Orient-Forschung war also dezidiert historisch-kritisch ausgerichtet. Und abgesehen von dem Autodidakten Friedrich von Diez und dem schon mehrfach genannten Österreicher Hammer-Purgstall, die als preußische bzw. österreichische Diplomaten mit den Wissenschaften institutionell nicht verbunden waren und sich im Falle von Hammers auch nicht als Orientalisten sondern als ,.Liebhaber" verstanden,72 stammten alle deutschen OrientGelehrten der Goethezeit aus diesem Teilbereich der Theologie, von Johann David Michaelis, Johann Gottfried Herder und Heinrich Eberhard Gottfried Paulus über Johann Gottfried Eichhorn und Wilhelm Lorsbach bis hin zu Johann Gottfried Ludwig Kosegarten.73 Das galt selbst für einen Frühorientalisten wie Johann Jacob Reiske (1716-1774), der eine dezidiert ablehnende Haltung gegenüber der bibelwissenschaftlich ausgerichteten Orientkunde vertrat.74 Als diese Gelehrten im ausgehenden 18. Jahrhun71 Vgl. dazu Daniel Weidner: „Politik und Ästhetik. Lektüre der Bibel bei Michaelis, Herder und de Wette". In: Christoph Schulte (Hrsg.): Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas. Hildcsheim/ Zürich/ New York 2003, S. 35-65, hier: S. 40. Zu den Entwicklungen auf dem Feld der arabischen Grammatik im ausgehenden 18. Jahrhundert vgl. Bourel: Die deutsche Orientalislik im 18. Jahrhundert, S. 124 ff. 72 Vgl. dazu Mangold: Eine „iveltbürgerliche Wissenschaft", S. 48 f. 73 Portraits dieser Gelehrten finden sich in Nebes: Qnentalistik im Aufbruch sowie in Reventlow: Epochen der Bibelauslegung IV, S. 189-200 (Herder), S. 202-209 (Paulus), S. 209226 (Eichhorn). Zu Michaelis und Herder vgl. Weidner: Politik und Ästhetik. Zu Michaelis und Eichhorn vgl. Rudolf Smend: „Johann David Michaelis und Johann Gottfried Eichhorn. Zwei Orientalisten am Rande der Theologie". In: Bernd Möller (Hrsg.): Theologie in Göttingen. Göttingen 1987, S. 71-81. Noch die Gründungsmitglieder der in den 1843-45 ins Leben gerufenen Deutschen Morgenländischen Gesellschaft hatten sämtlich ein Studium der protestantischen Theologie durchlaufen und sich im Rahmen dessen mit „orientalischen Dingen" beschäftigt. Vgl. dazu Preißler: Die Anfänge der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, i.b. S. 249 ff. Sabine Mangold scheut in ihrer Studie dagegen keine rhetorischen und darstellerischen Mühen, um - den wissenschaftsgeschichtlichen Tatsachen zum Trotz — die Geschichte der deutschen Orientalistik als eine Oppositionsgeschichte gegen die Theologie zu entwerfen. Zu den Aporien dieser Wissenschaftsgeschichtsschreibung vgl. noch einmal meine Rezension in Sdenfia Poetica 9 (2005). 74 Mit dieser Haltung konnte sich Reiske auf dem wissenschaftlichen Feld der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht durchsetzen. Seine Karriere scheiterte. Dafür avancierte er in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung der deutschen Orientalistik zum „Märtyrer der arabischen Literatur". Vgl. Gotthard Strohmeier: „Johann Jacob Reiske, der Märtyrer der arabischen Literatur". In: Das Altertum 20 (1974), S. 166-179; Fuck:
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dert begannen, die orientalischen Texte und Sprachen nicht mehr allein auf die Bibelexegese hin zu untersuchen und in diesem Sinne zu „Orientalisten" zu werden, arbeiteten sie dabei auch weiterhin auf der methodischtheoretischen Grundlage ihrer Mutterdisziplin: Die historisch-kritische Analyse, gestützt von den Grundsätzen der Hermeneutik, wurde zum zentralen wissenschaftlichen Verfahren der frühen deutschen Orientalistik. Ihr Orient war entsprechend eine durchweg textuelle und — für die spezifische Gestalt des deutschen Orientalismus noch entscheidender — eine konsequent historische Größe. Auch das einzige gleichsam zeitgenössische Segment der deutschen Frühorientalistik, die Beschäftigung mit dem Neu-Arabischen, stand ganz im Dienste der historischen (wenngleich nicht notwendig frühgeschichtlichen) Forschung. Nur vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die deutschen Universitäten im Laufe des 19. Jahrhunderts trotz der expandierenden orientalistischen Forschung erst langsam die institutionellen Möglichkeiten schufen, professionelle Kenntnisse im modernen Arabisch zu erwerben. Noch bis in die 1830er Jahre hinein befand sich die Einrichtung, in der ein überwiegender Teil der jüngeren Generation deutscher Orientalisten ihre arabischen Sprachkompetenzen erwarben, in Paris. Als Hauptstadt eines expandierenden Kolonialreiches, dessen geopolitische Ziele im Maghreb und Nahen Osten lagen, verfügte Paris im Unterschied zu den deutschen Staaten selbstverständlich über Institutionen zum Erwerb der entsprechenden Sprachen, namentlich über die Ecole speäale des langues Orientale*. Sie wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum bevorzugten Forschungsreiseziel deutscher Orientalisten, die sich von dem berühmten Orientgelehrten Antoine Isaak Silvestre de Sacy (1758-1838), dem Goethe mit der abschließenden Widmung seines West-östlichen Divan ein Denkmal setzte,75 in der arabischen Sprache unterweisen ließen — unter ihnen spätere akademische Berühmtheiten wie Johann Gottfried Ludwig Kosegarten und Heinrich Leberecht Fleischer.76 Welche Macht die historischen und philologischen Parameter der deutschen Frühorientalistik tatsächlich besaßen, zeigt sich besonders eindrücklich in der Planung und Durchführung der königlich dänischen Expedition nach Ägypten und Arabien (1761-1767), deren abschließender Bericht aus der Feder Garsten Niebuhrs (ersch. 1774 ff.)77 eine große Leserschaft fand. Die arabischen Studien in Europa, S. 108-124; im Anschluß daran Mangold: Eine „tveltbiirgerliche Wissenschaß", S. 32-34. 75 Goethe FA I3.1, S. 298. 76 Zu den deutschen Schülern Silvestre de Sacys vgl. Fück: Die arabischen Studien in Europa, S. 156f.; Mangold: Eine „mitbürgerliche Wissenschaft", S. 66f. 77 Garsten Niebuhr Räsebeschreibung nach Arabien und anderen umliegenden Ländern. Mit einem Vorwort von Stig Rasmussen und einem biographischen Porträt von Barthold Georg Niebuhr. Zürich 1992
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Wissenschaftlich konzipiert und geplant wurde diese Expedition nämlich von dem Bibelwissenschaftlerjohann David Michaelis — und zwar als eine Reise in die historischen Kontexte der Bibel, eine Expedition in die textuellen Landschaften der orientalischen Vergangenheit, die es zu lesen galt, um den biblischen Text verstehen zu können.78 Daß mit dem Geographen Garsten Niebuhr der einzige Expeditionsteilnehmer die Strapazen der Reise überlebte, der des Hebräischen unkundig und in den Logiken der historisch-kritischen Bibelwissenschaft nicht bewandert war, stellt unter Beweis, daß auch der Wissenschaftsgeschichte durchaus ein ironisches Potential innewohnt. Daß Niebuhr schließlich nach den Papieren seiner Mitreisenden den geographischen Abschlußbericht einer historisch-kritischen Expedition schrieb, macht seine Reise nach Arabien und einigen umliegenden lindern in jedem Fall zu einem außergewöhnlichen diskursgeschichtlichen Zeugnis.79 Allerdings war die historisch-kritische Methode des bibelwissenschaftlichen Zweigs der deutschen Frühorientalistik nicht ihr einziges Charakteristikum. Mit dieser methodisch-theoretischen Traditionslinie ging ein zunehmendes Interesse an poetischen Gegenständen einher. Genauer gesagt, vollzog sich innerhalb wie außerhalb der theologischen Textbetrachtung ein Aspektwechsel, der es erlaubte, die alttestamentlichen Texte als Poesie zu lesen. Die beiden Namen, die Josef von Hammer im Vorwort zur Geschichte der schönen Redekünste Persiens in diesen Zusammenhang genannt hatte, bezeichnen tatsächlich die beiden entscheidenden Persönlichkeiten für diesen poetischen Aspektwechsel: Lowth und Herder. Schon 1753 hatte der Oxforder Rhetorikprofessor und spätere Bischof von London Robert Lowth (1710-1787) in seinen Vorlesungsschriften De sacra Poesi Hebraeorumparalectiones academicae (1753)80 die Bücher des Alten Testaments auf ihre ästhetischen Formen und Kompositionsprinzipien hin untersucht und ihnen einen poetischen Charakter zugesprochen. Als zentrales Argument für diese Lesart diente Lowth der von ihm entdeckte parallelismus membrorum, das Prinzip einer Reihung analog gebauter und dabei inhaltlich
78 Vgl. dazu die differenzierte Analyse von Daniel Weidner: „Strategien des Wissens. Taktiken des Reisens. Der Raum und seine Repräsentation in Garsten Niebuhrs Orientreise". In: Hartmut Böhme (Hrsg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart/ Weimar 2005. Zur Rolle von Michaelis im Kontext der Expedition vgl. Ulrich Hübner: „Johann David Michaelis und die Arabien-Expedition 1761-1767". In: Josef Wiedehöfer/ Stephan Conermann (Hrsg.): Garsten Niebuhr (1733-1815) und seine Zeit. Stuttgart 2002, S. 363-402. 79 Zu den Kollisionen der geographischen Wahrnehmungsmodi des Autors mit den historisch-kritischen Parametern seiner Mitreisenden vgl. ebenfalls ausführlich: Weidner: Strategien des Wissens. 80 Robert Ixjwth: Lectures on the S acred Poetry of the Hebrews, translated from Latin. Bd. I-I I. London 1787 (Neudr.: London 1995).
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entweder synonymer, ähnlicher oder gegenteiliger Sätze, das er als textkonstitutives Strukturprinzip des Alten Testaments ausmachte und als Beleg für die gebundene Rede (sensu: die Poesie) der Bibel anführte.81 Lowths Werk wurde sowohl von Johann David Michaelis — in den Göttinger Gelehrte Anzeigen — als auch von Moses Mendelssohn — im ersten Band der Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste — besprochen, was für die deutsche Rezeption dieses poetologischen Zugriffs auf die biblischen Texte weitreichende Folgen hatte: Während nämlich die Rezension der Lowth'schen Vorlesungen durch Michaelis die Tür zu ihrer Aufnahme innerhalb der Fachtheologie aufschloß, machte Mendelssohn diese Poetik der Bibel einer literarischen Öffentlichkeit bekannt.82 Beide Gelehrten leisteten somit einen entscheidenden Beitrag zur poetologischen Aufwertung des Alten Testaments und seiner Wahrnehmung als Hebräische Poesie, der sich rückblickend eben auch als ein entscheidender Beitrag zum linguistic turn des deutschen Orientalismus um 1800 erweist. Im Rekurs auf Mendelssohn und Michaelis verfaßte schließlich Johann Gottfried Herder, der prominenteste und wohl auch einflußreichste Fürsprecher der Bibelpoesie in Deutschland, 1782/83 seine Abhandlung Vom Geist der Ebräischen PoeJ7>.83 Hier nahm er den Lowth'schen Ansatz auf, unterzog ihn einer historisch-kritischen Revision und führte ihn weiter. Als Leser seiner eigenen Abhandlung hatte Herder „Liebhaber \\ der ältesten, simpelsten und erhabensten Poesie überhaupt, vielleicht auch [...] alle, die dem Gang göttlicher und menschlicher Kenntnisse in unserm Geschlechte nachforschen"84 im Blick. Vor deren Augen entfaltet er nun in enger Verschränkung von Übersetzung, Nachdichtung und Auslegung die alttestamentarischen Texte noch einmal dezidiert als Hebräische Poesie. Allerdings deutet er den parallelismus membrorum dabei nicht allein als Strukturprinzip sämtlicher orientalischer Dichtung, sondern sieht in ihm zugleich die Signatur einer Ursprungspoesie schlechthin. So konnte Herder in seinen Bibellektüren über die Relaisstelle der Poesie — genauer: des Volkslieds — das Orientalische mit
81 Vgl. dazu den Artikel: „Lowth". In: RGG3, Bd. 4, Sp. 459 f. 82 Vgl. dazu den erhellenden Beitrag von Grit Schorch: „Das Erhabene und die Dichtkunst der Hebräer. Transformationen eines ästhetischen Konzepts bei Lowth, Mendelssohn und Herder". In: Christoph Schulte (Hrsg.): Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas. Hildesheim/ Zürich/ New York 2003, S. 67-92, i.b. S. 72ff. Zur Lowth-Rezeption in Deutschland vgl. weiterführend: Rudolf Smend: „Lowth in Deutschland". In: ders.: Gesammelte Studien. Bd. 3: Epochen der Bibelkntik. München 1991, S. 43-62. 83 Johann Gottfried Herder Vom Geist der Hebräischen Poesie. Erste Anleitung für die Liebhaber derselben, und der ältesten Geschichte des menschlichen Geistes [1782-1783]. In: Herders SW 11/12. 84 Johann Gottfried Herder: Entwurf des Buchs, nach seiner ersten Ankündigung in den Berichten der Buchhandlung der Gelehrten. In: Herder W 5, S. 663-665, hier: S. 663.
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Topoi des Kulturursprungs verbinden, was für die Ordnung des deutschen Orientalismus weitreichende Folgen haben sollte (s.u. Kap. 4.4).85 In jedem Fall aber fügte sich die starke Akzentuierung der poetischen Form, die Betrachtungsweise des Alten Testaments als Sammlung orientalischer Poesie und Ausdruck eines hebräischen Geistes, nahdos ein in die neue, performative Praxis der Übersetzung als direktem Zur-SpracheBringen der orientalischen Literatur. Und so erfuhren auch eine ganze Reihe alttestamentlicher Texte, aus dem Kanon der Bibel als Heiliger Schrift herausgelöst, neue Übersetzungen.86 Der prominenteste unter ihnen war zweifellos das Ueä der Ueder, das Hohelied Salomos, das wie kein anderer Text der Bibel durch seinen deutlich erotischen Einschlag bereits auf eine Jahrhunderte lange Tradition von Um- und Neudichtungen zurückblicken konnte.87 Herders kommentierende Übersetzungs-Paraphrase des Hoheliedes, die er - auch das signifikant — im 3. Kapitel seiner Ueder der LJebe. Die ältesten und schönsten aus dem Morgenlande. Nebst vierundvier^g alten Minnelieder 1778 veröffentlichte,88 regte nicht nur Goethe zu weiteren Nachdichtungen an.89 Und ebenso wie bei den späteren Ebräischen Melodien ist hier die Tendenz sichtbar, die eigensinnige poetische Form des Textes - vor allem seine Bildlichkeit und parallele Struktur - hörbar zu machen. Die historisch-kontextualisierende Betrachtung der alttestamentarischen Texte und das neue Augenmerk auf ihrer poetischen Verfaßtheit ließ sie zu einem Teil der orientalischen Lite-
85 Zu dieser Verbindung des Orients mit Konzepten menschheitsgeschichtlichcn Ursprungs bei Herder vgl. Stemmrich-Köhler: ZurFunktion der orientalischen Poesie bei Goethe, Herder, Hegel, S. 51-84, i.b. S. 69 ff. Allerdings klammert die Autorin die theologiegeschichtlichen Hintergründer Herders aus. 86 Hier sind die Einflüsse der Übersetzertätigkeit des 18. Jahrhunderts besonders /u beachten; insbesondere die Moses Mendelssohns, der sowohl die Psalmen (ersch. 1783) als auch das Hohelied (1788 posthum ersch.) übertrug. Aus seinen Vorworten wird ersichtlich, daß die Autorität der Luther-Übersetzung eine weitaus größere Hürde für neue Formen der Übertragung darstellte als die Heiligkeit des biblischen Textes. Vgl. dazu den Kommentar in: Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Schriften zum Judentum IV, Bd. 10,1. Stuttgart/ Bad Cannstatt 1885, S. LV-LXVI; Weltliteratur. Die Lust am Übersetzen im Jahrhundert Goethes, S. 127. 87 Aus der mittelalterlichen Tradition sei an das um 1160 verfaßte St. Trudperter Hohelied erinnert (Das St. Trudperter Hohelied. Eine Lehre der liebenden Gotteserkenntnis. Hrsg. v. Friedrich Ohly unter Mitarb. v. Nicola Kleine. Frankfurt a. M. 1998), aus der Barocktradition insbesondere an Salomons Des Hebreischen Königs Hohes Uedl von Martin Opitz und an Philipp von Zesens Salomons Geistliche Wollust. (Auszüge aus beiden neben anderen barocken Hohelied-Übertragungen in: Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse. Hrsg. v. Albrecht Schöne. 2., erw. u. verb. Aufl. München 1968, S. 164-171). 88 Johann Gottfried Herder: SalomosHohestied. In: Herder SW 8, S. 559-588. 89 Zu Goethes wahrscheinlich 1775 begonnener Hö^ÄVrf-Übertragung vgl. Derjunge Goethe. Neu bearb. Ausg. in 5 Bdn. Hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg. Berlin 1963-73, Bd. 5, S. 360-365.
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ratur werden90 und verwandelte die Hebräer in ein Volk des Alten Orients. Johann Gottfried Eichhorn bringt das Ergebnis dieser Entwicklung auf den Punkt, wenn er 1794 schreibt: Welch ein ganz andrer Geist wehet nicht aus unsern neuesten Schriften über die hebräischen Alterthümer, als aus denen die noch vor wenigen Decenien erschienen sind! Es ist, als wenn die Hebräer eine ganz andere Nation geworden wären, so verändert ist die Vorstellung, die man sich von ihrer Denkart, ihren Sitten und Gewohnheiten, ihren Gesetzen und Rechten macht. Das antiquarische Studium der Hebräer ist nicht mehr leere Mikrologie, nicht mehr bloße Memoriensache, nicht mehr ängstliches Haschen nach Nomenclatur: es ist nun, was es seyn muß, wenn es sich philosophischen Köpfen empfehle, und in unsere gegenwärtige Lage der Litteratur passen soll — Geschichte der Cultur der Hebräer [-].91
Somit durchläuft die hebräische Bibel im späten 18. Jahrhundert eine dreifache Transformation, eine poetische, eine historische und eine orientalische. Ohne dabei den Charakter einer Offenbarungsschrift zu verlieren, gewinnt der biblische Text im Laufe dieser Jahrzehnte die Signatur einer Poesie, aus der die orientalische (Vor-)Vergangenheit spricht. Gemessen an der diskursiven Gemengelage um 1800 hätte das Faszinationspotential einer dergestalt historisch-poetisch-orientalisch gewordenen Bibel größer kaum sein können.
4.3 Die Folgen: Bibel, Hebräer und Juden auf dem orientalistischen Spielfeld Selbstverständlich bleibt diese Historisierung und Orientalisierung des Alten Testaments und der Hebräer auch orient-topologisch nicht ohne Folgen. Zwar ist eine Ikonographiegeschichte biblischer Szenen seit dem späten 18. Jahrhundert mit Blick auf den Orientalismus bislang noch ungeschrieben. Doch die folgenden Verse Ferdinand Freüigraths legen beredtes Zeugnis davon ab, daß zu Beginn des 19. Jahrhunderts eines der einflußreichsten Medien für die Erzeugung kollektiver Bildwelten die orientalistische Wende bereits vollzogen hatte: die illustrierte Bibel. Freüigraths Gedicht Die Bi/derbihe/ beginnt mit den folgenden Strophen:
90 In Goethes Noten und Abhandlungen %um besseren Verständnis des West-östlichen Oivan heißt es im Kapitel „Hebräer": „Da wir von orientalischer Poesie sprechen, so wird nothwendig die Bibel, als der ältesten Sammlung, zu gedenken sein. Ein großer Theil des alten Testaments ist mit erhöhter Gesinnung, ist enthusiastisch geschrieben und gehört dem Felde der Dichtkunst an." (Goethe FA I 3.1, S. 140). 91 Johann Gottfried Eichhorn: Allgemeine Bibliothek der biblischen Utteratur 1794, Bd. IV, S. 528 f. Zit. n. Borureldp: Die deutsche Onentalistik im H. Jahrhundert, S. 120.
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Du Freund aus Kindertagen, Du brauner Foliant, Oft für mich aufgeschlagen Von meiner Lieben Hand; Du, dessen Bildergaben Mich Schauenden ergötzten Den spielvergeßnen Knaben Nach Morgenland versetzten: Du schobst für mich die Riegel von ferner Zone Pforten, Ein kleiner, reiner Spiegel Von dem, was funkelt dorten! Dir Dank! durch dich begrüßte Mein Äug' eine fremde Welt, Sah Palm', Kamel und Wüste, Und Hirt und Hirtenzelt. Du brachtest sie mir näher, Die Weisen und die Helden, Wovon begeisterte Seher Im Buch der Bücher melden [...].92
Hier verwandelt sich das illustrierte Buch der Bücher in einen Taschenspiegel, der das Licht aus Osten in die Kinderstube hinein reflektiert, die Buchseiten werden 2u Fenstern in der heimeligen Kammer, durch die der Knabe erstmals staunend auf die ferne Mythen-Landschaft des Orients blickt. Zugleich entwirft Freiligrath den bebilderten biblischen Text als hermeneutisches Perspektiv, das die 2eitliche und räumliche Distanz zum historisch gewordenen Bibel-Orient überbrückt und dem lesenden Kind jene „fremde Welt" „näher" bringt. In Hermann Fürst von Pückler-Muskaus orientalischer Reisebeschreibung dagegen kehrt sich der ost-westliche Lichteinfall exakt um. Der preußische Fürst trifft bei seiner Ägypten-Reise 1837-39 in der Nähe von Kairo auf den Widerschein heimatlicher Bibellektüre — auf Frauen nämlich, die ihre Krüge auf dem Kopf tragen und ihn „immer an entsprechende Darstellungen in [s]einer Bilderbibel erinnerten".93 Wo eine ägyptische Szenerie zur Reminiszenz von Bibel-Illustrationen gerinnen konnte und Bilderbibeln zu institutionalisierten Medien kindlicher Orient-Hermeneutik, da mußten - so läßt sich angesichts dieser beiden erratisch gewählten Textbeispiele vermuten — die biblischen Welten bereits zu einer orientalischen Provinz geworden sein.
92 Ferdinand Freiligrath: Die Bilderbibel. In: Freiligraths Werke in sechs Theilen I, S. 97. 93 Pückler-Muskau: Aus MehemedAlis Reich, S. 106.
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Die zunehmende Orientalisierung der Bibel und mit ihr der Hebräer im frühen 19. Jahrhundert aber schlug zudem Wege ein, die weit von der Heiligen Schrift selbst und dem antiken Volk wegführten und gleichwohl mit ihnen in diskursiver Verbindung blieben. Denn im Zuge der diskursiven Wanderungsbewegung von Bibel und Hebräern in den Orient etablierte sich in der deutschen Literatur und Publizistik die Möglichkeit, auch deutsche Juden orientalisch zu konnotieren — eine Tendenz, gegen die Ludwig Borne am 1. März 1832 aus Paris polemisiert: Und uns jüdisch deutschem Volke sagte man, wir wären aus dem Orient gekommen, hätten zur angenehmen Abwechslung die babylonische Gefangenschaft mit der deutschen vertauscht, wir wären fremd im Lande und wir betrachteten ja selbst unsere Mitbürger als Fremdlinge.94
Bemerkenswerterweise hat die umfängliche und stetig weiter wachsende Forschung zum Bild des Juden in der deutschen Literatur Fragen nach den historischen und diskursiven Bedingungen und Möglichkeiten, deutschjüdische Figuren orientalisch zu konnotieren, bislang ausgeklammert,95 so daß einer seriösen Skizze der Orientalisierung deutsch-jüdischer Figuren im Rahmen dieser Arbeit die wissenschaftlichen Grundlagen fehlen. Das ist um so bedauerlicher, als auf diesem Feld offenbar orient-topologische, motiv- und stoffgeschichtliche, wissenschaftliche und politische96 Strän94 Ludwig Borne: Briefe aus Pans. Frankfurt a. M. 1986, S. 510. Welch hohes Maß an Aktualität Bornes Einrede auch heute noch hat, stellte jüngst noch Katharina Mommsen unter Beweis, als sie zu Goethes ersten Orient-Kontakten formulierte: „Seine ersten .Morgenlandfahrten' machte er bereits als kleiner Junge bei seinen Besuchen der Frankfurter Judengasse, wo er jiddische Sprechweise erlernte. Er beherrschte das Jiddische in früher Jugend so gut, daß er als Leipziger Student eine jiddische .Predigt' verfaßte, die seine tiefe Einfühlung in ein seit Jahren unterdrücktes, phantasiebegabtes Volk zeigt, das sich nach Erlösung von seinen Bedrückern sehnt." (Katharina Mommsen: „Goethes Morgenlandfahrten". In: Goethe-Jahrbuch 116 (1999), S. 281-290, hier: S. 281). Daß Goethe — sei es als Knabe, sei es im greisen Rückblick auf seine Jugend — die jiddische Sprache oder die Frankfurter Judengasse tatsächlich als orientalisch wahrgenommen hat, ist meines Wissens nicht belegt. 95 Vgl. etwa: Horst Denkler: „ JLauter Juden'. Zum Rollenspektrum der Juden-Figuren im populären Bühnendrama der Metternichschen Restaurationsperiode (1815-48)". In: ders./ Hans Otto Horch (Hrsg.): Kondition Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert Ins ^um ersten Weltkrieg. Interdiszipliäres Symposium der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg. 2 Bde. Tübigen 1988-89, Bd. l, S. 149163; ferner die Beiträge in: Stephane Moses/ Albrecht Schöne (Hrsg.): Juden in der deutsche» Literatur. Frankfurt a. M. 1986; sowie in: Herbert A. Strauss/ Christhard. Hoffmann (Hisg.): Juden und Judentum in der Literatur. München 1995. 96 Die im Rahmen der preußisch-britischen Pläne zur Gründung eines internationalen Bistums Jerusalem von Friedrich Wilhelm IV. zusammen mit Carl Josias von Bunsen entwickelten Pläne zur Ansiedlung von Juden in Palästina umfaßten ausschließlich Proselyten, also jüdische Deutsche oder Briten, die zum Protestantismus konvertiert waren. So schlußfolgert Sinno: „Wenn also der Übertritt zum Christentum die Voraussetzung für die preußische Unterstützung der Juden bei der Rückkehr nach Palästina sein sollte, so ist bemerkenswert, daß offenbar nicht daran gedacht war, die .jüdische
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ge zusammenliefen und eine Melange bildeten, die für die semiotischdiskursive Ordnung des spezifischen Antisemitismus im 19. Jahrhundert97 sicherlich nicht ohne Einfluß gewesen ist. Ein Beispiel sei dennoch in die Lücke dieses Forschungsdesiderats gestellt, das einen Eindruck vermitteln soll von den semantischen und figurativen Kopplungsmöglichkeiten des Deutsch-Jüdischen mit dem Orientalischen unter den diskursiven Bedingungen der Erzählliteratur. Zum Auftakt seiner Novelle Jud Süß™ von 1827 entwirft Wilhelm Hauff eine Szene, die sich - wie so viele andere in diesem umstrittenen Text" — als Realisierung gängiger Stereotype und ihre Demaskierung zugleich lesen läßt: Lea, die Schwester des Ministers und Finanzdirektors Süß-Oppenheimer, und ihr Geliebter, der junge Goi Lanbek, treffen getrennt voneinander und maskiert auf dem Stuttgarter Karneval ein. Beide tragen indes ein orientalisches Kostüm, das bis hin zur „Farbe [d]es Turbans" analog gestaltet ist und ihre heimliche Verbindung andeutet.100 Als Lanbek die Maske vom Gesicht nimmt, werden die Leser wie die umstehenden Figuren Zeugen einer kulturellen Metamorphose. Unter dem Turban stahlen sich gelbe Locken hervor und umwallten kunstlos und ungepudert die Stirne. Eine kühn gebogene Nase und dunkle, tiefblaue Augen gaben seinem Gesicht einen Ausdruck von unternehmender Kraft und einen tiefen Ernst, der mit den weichen Haaren und ihrer sanften Farbe in überraschendem Widerspruch
Nationalität' in Frage zu stellen." (Sinno: Deutsche Interessen in Syrien und Palästina 18411898, S. 39).
97 Sehr überzeugend hat Shulamith Volkov in einer Reihe von Einzelstudien zur sozialen und politischen Funktion des Antisemitismus im 19. Jahrhundert, seinen Trägern sowie seinen Ausdrucksformen gezeigt, wie sich der Antisemitismus durch die Zusammenfuhrung dieser verschiedenen Elemente von seinen in der frühen Neuzeit religiös, in der Moderne biologisch-rassisch motivierten Ausgangspunkten löst und verbreitert zu einem „kulturellen Code", der für die wilhelminische Gesellschaft zu einem konstitutiven Element wird. Die wichtigsten ihrer Studien sind zusammengefaßt in ihrem Band jüdisches lieben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays, München 1990; s. i. b. die Kapitel „Antisemitismus als kultureller Code" (S. 13-36), „Zur sozialen und politischen Funktion des Antisemitismus: Handwerker im späten 19. Jahrhundert" (S. 37-53) und „Das geschriebene und gesprochene Wort. Über Kontinuität und Diskontinuität im deutschen Antisemitismus" (S. 54-75). 98 Wilhelm Hauff: Jud Süß. In: ders.: Sämtliche Werke in drei Bänden. Nach den Originaldrucken und Handschriften. Textredaktion u. Anmerkungen von Sybille von Steinsdorff. Mit einem Nachwort und einer Zeittafel von Helmut Koopmann. München 1970, Bd. 2, S. 474-538. Im folgenden zit. als: Hauff SW mit Band- und Seitenzahl. 99 Einen Überblick über die bisherige Forschung samt einer differenzierten Neulektüre der Novelle jenseits der gängigen antisemitismus-kritischen Mißtrauenshermeneutik bietet Helmuth Mojem: „Heimatdichter Hauff? Jud Süß und die Württemberger". In: Jahrbuch der deutschen Schillergeselhcbaft W> (2004), S. 143-166. 100 Hauff SW II, S. 477. 101 Hauff SW II, S. 479.
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Als jedoch wenig später die Liebenden mit Leas Amme Sara allein sind und auch Lea sich der „lästigefn] Larve" entledigt, ändert nicht die Frau, sondern das Kostüm den Charakter und verwandelt sich von einer Maskerade in den Ausdruck kultureller Eigentlichkeit. Entzückt und mit leuchtenden Blicken betrachtete der junge Mann das schöne Mädchen. Man konnte ihr Gesicht die Vollendung orientalischer Züge nennen. Dieses Ebenmaß in den feingeschnittenen Zügen, diese wundervollen dunklen Augen, beschattet von langen seidenen Wimpern, diese kühn gewölbten, glänzendschwarzen Brauen und die dunklen Locken, die in so angenehmem Kontrast um die weiße Stirne fielen, und den Vereinigungspunkt der dieser lieblichen Züge, zarte rote Lippen und die zierlichsten weißen Zähne noch mehr hervorhoben; der Turban, der sich durch ihre Locken schlang, die reichen Perlen, die den Hals umspielten, das reizende und doch so züchtige Kostüm einer türkischen Dame - sie wirkten verbunden mit diesen Zügen, eine solche Täuschung, daß der junge Mann eine jener herrlichen Erfindungen zu sehen glaubte, wie sie Tasso beschreibt, wie sie die ergriffene Phantasie der Reisenden bei ihrer Heimkehr malte. „Wahrlich", rief er, „du gleichst der Zauberin Armida, und so denke ich mir die Töchter deines Stammes, als ihr noch Kanaan bewohntet. So war Rebekka und die Tochter Jephtas." „Wie oft schon habe ich dies gesagt", bemerkte Sara, „wenn ich mein Kind, meine Lea in ihrer Pracht anblickte; die Poschen und Reifröcke, die hohen Absatzschuhe und alle Modewaren stehen ihr bei weitem nicht wie diese Tracht."102
Die Epiphanie der orientalischen Erscheinung Leas trägt zwar in den Augen des Geliebten die zerfließenden Züge einer Fata-Morgana, doch zeugt die Passage aus Hauffs Novelle ebenso beredt von der semiotischen Anschlußfähigkeit des Deutsch-Jüdischen an das Hebräisch-Orientalische wie von der Koppelbarkeit der gesamten Figuration an gängige orientalistische Topoi und Formen. Schon die einleitende Schilderung von Gesicht und Gestalt Leas gemahnt an die Struktur des orientalischen Beschreibungsliedes, wie es sich auch im Hohelied findet (Hld 4,1 ff.), mit welchem Hauff als protestantischer Theologe zweifellos vertraut war.103 Unter Verzicht auf die Bildlichkeit des biblischen Textes und in Aussparung der im Hohenlied metaphernreich gefaßten, hier aber „züchtigf]" verhüllten, Brüste (Hld 4,5), beschreibt er nacheinander Augen, Brauen, Haare, Stirn, Lippen und Hals der Frau und läßt diese Physiognomie mit dem „Kostüm einer 102 Hauff SW II, S. 485. 103 „Siehe, meine Freundin, du bist schön! Siehe, schön bist du! Deine Augen sind wie Taubenaugen hinter deinem Schleier. Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die herabsteigen vom Gebirge Gilead. Deine Zähne sind wie eine Herde geschorener Schafe, die aus der Schwemme kommen; alle haben sie Zwillinge, und keines unter ihnen ist unfruchtbar. Deine Lippen sind wie eine scharlachfarbene Schnur und dein Mund ist lieblich. Deine Schläfen sind hinter deinem Schleier wie eine Scheibe vom Granatapfel. Dein Hals ist wie der Turm Davids, mit Brustwehr gebaut, an der tausend Schilde hangen, lauter Schilde der Starken." (Hld 4,1-4; Bibeltext zitiert nach der revidierten Fassung der Lutherbibel von 1984, Stuttgart 1984).
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türkischen Dame" zu einer orientalischen Einheit verschmelzen. Orienttopologisch von besonderer Signifikanz aber sind darüber hinaus die literarischen und biblischen Frauen figuren, mit denen die auf diese Weise orientalisierte Lea von ihrem Geliebten assoziiert wird. Armida, die verführerische syrische Zauberin aus dem Vierzehnten bis Sechzehnten Gesang von Torquato Tassos La Gerusalemme Uherta,104 war eine der berühmtesten orientalischen Frauenfiguren in der deutschen Literatur, Musik und bildenden Kunst des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, deren Prominenz sich nicht zuletzt der Opernbearbeitung der Episode aus Tassos Epos durch Christoph Willibald Gluck verdankte.105 1777 in Paris uraufgeführt, wurde die Oper danach über Jahrzehnte auf deutschen Bühnen gespielt und vom Opernpublikum euphorisch aufgenommen.106 Daß Hauff den jungen Lanbek in Lea nicht allein diese Penthesilea-hafte, zwischen Liebe und Haß, Stolz und Verzweiflung schwankende Zauberin erkennen läßt, sondern unvermittelt daneben auch zwei biblische Figuren — Rebekka und „die Tochter Jephtas" - mag trotz ihres jeweils aktualisierten orientalischen Charakters seltsam anmuten.107 Schließlich fällt es nicht leicht, einen gemeinsamen Nenner auszumachen zwischen der mächtigen Damaszener Zauberin, der besonders in Erbschaftsangelegenheiten so trickreichen Mutter Jakobs (Gen 24,15-67) und der namenlosen Tochter des Ammo104 Torquato Tasso's befreites Jerusalem. Übersetzt von Karl Streckfuß. 2 Bde. I^eipzig 21835, Bd. II, S. 71-128 (vierzehnter bis sechzehnter Gesang). 105 Gluck griff dabei auf ein Textbuch zurück, das bereits ein Jahrhundert zuvor der Librettist Philippe Quinault für die Armide Jean-Baptiste Lullys (1686 in Paris uraufgeführt) geschrieben hatte. Vgl. dazu: Ulrich Schreiber: Opernführer ßir Fortgeschrittene. Die Geschichte des Musiktheaters. Von den Anfängen bis %ur Französischen Revolution. Kassel 3 2002, S. 102 ff. (zu Lully) u. 304 (zu Glucks Amide). 106 Eines der schönsten literarischen Denkmäler hat E.T.A. Hoffmann diesem Stück gesetzt, indem er zum Beschluß seiner 1809 erschienenen Erzählung Ritter Gluck den posthumen Komponisten vom leeren Notenblatt Ouvertüre und Schlußszene seiner Armida vortragen und dabei zugleich „ in höherer Potenz" neu komponieren läßt. Vgl. E.T.A. Hoffmann: Ritter Gluck. In: ders.: fantasiestücke in Collots Manier. Blätter aus dem Tagebuche eines reisenden Enthusiasten. Mit einer Vorrede von Jean Paul. Textrevision und Anmerkungen von Hans-Joachim Kruse, Redaktion Rudolf Mingau. Berlin/ Weimar 1994 (ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 1), S. 16-28, hier: S. 28. 107 Die Forschung zur Novelle hat dieses semantische Kohärenzproblem bislang nur durch selektive Lektüre lösen bzw. aus der Welt schaffen können, indem sie die Nennung Rebekkas und der Tochter Jephtas entweder ganz überlesen oder sie zu „alttestamentlichen Allusionen" verallgemeinert und sich bei der weiteren Deutung auf die Zauberei-Konnotation der Armide sowie das übergeordnete Moment des „Orientalisch-Fremden" kapriziert hat. Vgl. dazu: Florian Krobb: Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Enyhlliteratur vom 17. Jahrhundert bis %um Ersten Weltkrieg. Tübigen 1993, S. 127; Jürgen Landwehr: „Jud Süß - Hauffs Novelle als literarische Legitimation eines Justizmordes und als Symptom und (Mit-)Erfindung eines kollektiven Wahns". In: Ulrich Kittstein (Hrsg.): Wilhelm Hauff. Aufsätze %u seinem poetischen Werk. Mit einer Bibliographie der Forschungsliteratur. St. Ingbert 2002, S. 113-146, hier: S. 126 f.
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niters Jephta, die das voreilige Gelübte ihres Vaters mit dem Leben bezahlen muß, im Falle seines Sieges über die Feinde Israels dem HErrn das als Opfer darzubringen, was ihm bei der Heimkehr „aus [d]er Haustür entgegengeht" (Ri 11,30-40). Stimmig wird die semantische Synthese Armidas, Rebekkas, der Tochter Jephtas und der deutschen Jüdin tatsächlich nur auf der Grundlage der orientalistischen Topik und ihrer innerliterarischen Bezüge, derer sich Hauff hier bedient. Seiner Lea stand nämlich tatsächlich eine Rebekka Patin, allerdings nicht die Frau des Stammvaters Isaak, sondern die Tochter des englischen Juden Isaak von York aus Sir Walter Scotts 1819 erschienenem Roman Ivanhoe, die der Erfolgsautor mit einer ebenso deutlichen orientalischen Signatur ausstattete wie Hauff seine Lea Oppenheimer. Überhaupt verrät sich die Schilderung der Scottschen Rebecca aus der Figurenperspektive Prince Johns mit jedem Satz als Quelltext der Hauffschen Szene. Hier heißt es: Her form was exquisitely symmetrical, and was shown to advantage by a sort of Eastern dress, which she wore according to the fashion of the females of her nation. Her turban of yellow silk suited well with the darkness of her complexion. The brilliancy of her eyes, the superb arch of her eyebrows, her well-formed aquiline nose, her teeth as white as pearl, and the profusion of her sable tresses, which, each arranged in its own little of twisted curls, fell down upon as much of a lovely neck and bosom as a simarre of the richest Persian silk, exhibiting flowers in their natural colours embossed upon a purple ground, permitted to be visible [...]. It is true, that the golden and pearl-studded claps, which closed her vest from the throat to the waist, the tree uppermost were left unfastened on account of the heat, which something enlarged the prospect to which we allude.108
Scotts Rebecca war, zusammen mit dem gesamten Roman, zur Entstehungszeit des ]ud Süß auch in Deutschland bereits so bekannt, daß Hauff mit seiner Kombination aus der Nennung des Namens und der zwischen Plagiat und Anspielung oszillierenden Übernahme der gesamten Passage aus Ivanhoe auf einen Wiedererkennungseffekt bei seinen Lesern rechnen konnte:109 Für den zeitgenössischen Rezipienten schloß sich mit diesem intertextuellen Bezug der orientalistische Assoziationskreis um die Frauenfiguren Armida — Rebekka — Tochter Jephtas zu einem sinnhaften Zirkel. Denn im Reigen mit dieser Rebekka scheint die Gemeinsamkeit der drei in den Text hineinzitierten Frauen mit einem Mal deutlich auf und entfaltet darüber hinaus ihre antizipatorische Wirkung für das weitere Schicksal 108 Sir Walter Scott: Ivanhoe. Ed. with an Introduction by Ian Duncan. Oxford/ New York 1996,S. 93 f. 109 Auf den wichtigen Einfluß des Jvanhoe nicht allein auf Hauffs ]ud Süß sondern auf die literarische Figurine der „schönen Jüdin" im 19. Jahrhundert allgemein hat Florian Krobb bereits hingewiesen. Die wörtliche Übernahme der Romanpassage in Hauffs Novelle bemerkt er jedoch nicht, obgleich er beide zitiert. Vgl. Krobb: Die schöne Jüdin, S. 105 ff. u. 123 ff.
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Leas, die auf diese Weise schon zu Beginn der Erzählung als die eigentlich tragische Figur der Hauffschen Novelle ausgewiesen wird: Wie Armide, Rebecca und die Tochter Jephtas bleibt auch Lea letztendlich verlassen und männerlos zurück; aufs Spiel gesetzt von ihrem Bruder wie die Tochter Jephtas vom Vater, aus gesellschaftlichem Kalkül von ihrem Geliebten verlassen wie Armida und Rebecca. Auf einem der Narration gleichsam untergeschobenen orientalistischen Tableau, das sich aus kulturgeschichtlichen, biblischen und literarischen Quellen gleichermaßen speist, präfiguriert Hauff also die Konstellation seiner Protagonisten für den weiteren Verlauf der Handlung, so daß sich der vermeintlich unvermittelte Einstieg in die Novellenhandlung unter der Hand in eine bedeutungsschwere Exposition verwandelt. Allerdings weist die orientalische Signatur, die Hauff auf diese Weise seiner deutschen Jüdin einschreibt, zugleich über die Grenzen des Textes hinaus. Denn mit dem intertextuellen Verweis auf Scotts Ivanhoe stellt er Lea überdies in eine damals zwar noch junge, auf der Opern- und Theaterbühne ebenso wie in der erzählenden Literatur aber bemerkenswert schnell raumgreifende Tradition. Es ist die Figurenkonstellation einer jüdischen Tochter mit orientalischer Signatur, ihrem Vater und einem christlicheuropäischen Ritter, die als minimalnarrativer Nucleus einer meist tragischen Handlung seit Beginn des 19. Jahrhunderts Erfolge feiert. Von den Opernkompositionen Gioacchino Rossinis (Ivanhoe; Urauff. Paris 1826), Heinrich August Marschners (Der Templer und die Jüdin; Urauff. Leipzig 1829) und der berühmten La Juive von Jacques Frometal Halevy und Eugene Scribe (Urauff. Paris 1835) angefangen, über Grillparzers historisches Trauerspiel Die Jüdin von Toledo (Urauff. 1872) bis hin zum gleichnamigen historischen Roman aus der Feder Lion Feuchtwangers (ersch. 1954) ist diese Figurenkonstellation immer wieder zum Grundgerüst von Romanen, Dramen und Opern geworden — selbstverständlich unter ganz unterschiedlichen weltanschaulichen und ästhetischen Vorzeichen.110 Wie auf allen Feldern des Orientalismus schlägt sich also auch in der Orientalisierung der Hauffschen Lea und ihrer literarischen Schwestern einmal mehr die starke Eigengesetzlichkeit und Eigengeschichtlichkeit ein110 Leider klammert Florian Krobb den Aspekt des Orientalismus aus seiner Studie zur literarischen Erfolgsgeschichte der „schönen Jüdin" konsequent aus. Neben der Tradition der Antisemitismusforschung mag dafür allerdings auch die Beschränkung von Krobbs Untersuchung auf Erzählliteratur verantwortlich sein. Womöglich deutet nämlich die Prominenz des besagten orientalistischen Figuren-Dispositivs auf der Opernbühne tatsächlich auf eine spezifische Affinität dieses west-östlichen Sujets zu dramatischen oder sogar musiktheatralen Kunstformen und Ästhetiken hin. Daß Hauff für seine novellistische Eingangsszene ausgerechnet einen Karnevalsball wählt und die Dramatik der Handlung in ein Spiel mit Kostümen verlegt, wäre vor diesem Hintergrund sicher nicht ohne Bedeutung.
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zelner Motivkomplexe, Konfigurationen und Minimalnarrationen nieder, welche die Ordnung des Orients zwar in hohem Maße mitkonstituieren, sich aber nicht aus einem gemeinsamen orientalistischen Genotyp heraus entwickelt haben. Nichtsdestoweniger läßt sich an diesem Beispiel eine Symptomatik aufzeigen, die auf jene langsame, aber grundlegende Veränderung des deutschen orientalistischen Diskurses seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert hindeutet, von der zu Beginn dieses Kapitels die Rede war. Denn die Verwandlung der deutschen Jüdin in eine Orientalin funktioniert bei Hauff und in allen vergleichbaren Texten nur über den semantischen und pragmatischen Verbindungsweg der Geschichte. Es sind die alttes tarnen dichen Vorfahren Leas, die ihr die orientalische Signatur verleihen. Ohne das oben als Entwicklung innerhalb der protestantischen Theologie und Frühorientalistik skizzierte His torisch-Werden der biblischen Welten, ohne die sich im Zuge dessen zunehmend etablierende Wahrnehmung der Hebräer als Teil des Alten Orients mit Babyloniern, Ägyptern oder Assyrern in ihrer Nachbarschaft und ohne die Idee direkter genealogischer und semantischer Verbindungslinien zwischen diesem altorientalischen Volk und den zeitgenössischen deutschen Juden wäre deren morgenländische Kodierung nicht sinnfällig gewesen. Wir haben es hier also mit einer weit komplexeren Bewegung zu tun als mit einem simplen orientalistischen othenng der Hebräer und/oder der ashkenasischen Juden. Denn mit der historischen Dimension, die dieser orientalischen Topologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts inhärent ist, verknüpft sich unmittelbar ein hermeneutischer Zugang zu dem so konstituierten Orient. Der mehr oder minder garstige Graben, der die Zeitgenossen vom biblischen und dem übrigen Morgenland trennt, ist ein zeitlicher — überbrückbar mit Hilfe hermeneutischer Mühen und zugleich durch diese allererst ausgehoben. Dieser fremde Orient will zunächst einmal historisch-kritisch verstanden sein, um dem breiteren Publikum auf Grundlage dieses Verständnisses schließlich vermittelt zu werden. Und während in der Mitte des 18. Jahrhunderts der hermeneutisch-didaktischen Aufgabe noch primär, wo nicht ausschließlich, im Rahmen von Kommentaren zu Bibel-Übersetzungen nachgekommen wird, verteilt sich die Orient-Didaktik hermeneutischer Provenienz zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits auf ebenso viele Schultern wie Medien. Sie hat den engeren Bereich der Wissenschaft längst verlassen, ohne allerdings den methodischen Zugang zum Gegenstand aufzugeben. Ein letztes — wegen seiner kanonischen Randständigkeit selten angeführtes, aber deshalb nicht minder spannendes — Beispiel mag diese interdiskursive Ausweitung illustrieren. Am 25. Februar 1817 kam im Berliner Opernhaus ein Werk zur Aufführung, von dessen künstlerischen Produzenten heute nur mehr Karl Friedrich Schinkel als Gestalter der Bühnenbilder namhaft ist. Kompo-
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niert von Johann Nepomuk Freiherr von Poißl mit einem Libretto von Johann Gottfried Wohlbrück, wurde die Oper Athalia^1 mehr als zwei Jahre nach ihrer Münchner Uraufführung „ohne erkennbaren Anlaß aufwendig mit Schinkels drei neuen Dekorationen und mehreren neuen Kostümen inszeniert".112 Als literarische Vorlage diente dem Librettisten die gleichnamige Tragödie Jean Racines113 von 1691, die wiederum auf die biblische Geschichte der tyrannischen Königin Atalja, ihrem Gegenspieler und Priester am Jerusalemer Tempel Jojada, und dessen Schützling Joasch zurückging.114 Und eben hierin liegt der spannende Aspekt der Berliner Operninszenierung für die Frage nach dem Zusammenhang von Orientalismus, Hermeneutik und Geschichte. Denn die genannten drei Entwürfe Schinkels setzen - den Schauplätzen der Oper gemäß — den Tempelvorplatz mit der Burg Zion im Hintergrund (Abb. 14) den Tempelinnenraum (Abb. 15) sowie eine Terrasse mit Landschaftsausblick auf einen See mit tempelbestückten Inseln ins Bild, wobei — wie Ulrike Harten überzeugend darstellt — bereits die überwiegend positive zeitgenössische Presse der Aufführung Schinkels Quellen nennt: Neben dem biblischen Text selbst115 griff der Baukünsder bei seiner Gestaltung der ersten beiden Szenenbilder auf Aloys Hirts bibelwissenschaftlich gestützte Forschungsarbeit Der Tempel Salomon's zurück.116 Abgesehen von der Seenlandschaft, deren bildnerische Gestaltung als „symbolische Ausdeutung des Bühnengeschehens zu sehen"117 ist, orientiert sich Schinkel merklich am Anspruch historischer Treue, der sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend mit dem Medium der Bühnendekoration verband — ein Bemühen, das die Vossische Zeitung mit dem signifikanten Lob quittierte: Das Innere des Tempels war durch eine treffliche Dekoration nach der Zeichnung des Hrn. Oberbauraths Schinkel versinnbildlicht, auch sonst das Äußere und die Kostüme kritisch richtig [sie!] betrachtet.118
111 Athaüa. Eine große Oper in drei Auflägen. Frei n. Racines Trauerspiel gebildet v. Gottfried Wohlbrück. In Musik gesetzt v. Freiherrn v. Poißl. Berlin 1817. 112 Harten: Die Bübnenentivürfe, S. 227. 113 Aus unklaren Gründen datieren Ingrid Peter und Gottfried Schwarz im Kind/er LiteraturLexikon die Uraufführung der Oper auf 1828. Vgl. Art.: „Racine: Athalie". In: Kindlers neues Literatur Lexikon. Hrsg. v. Walter Jens. Studienausgabe. Bd. 13. München 1996, S. 870f., hier: S. 871. 114 2.Kön 11 und 2.Chr 22,10-23,21. 115 Insbesondere 2.Chr 3. 116 Aloys Ludwig Hirt: Der Tempel Salomon's. Berlin 1809. Schinkel hatte das Werk Hirts nicht allein gelesen, sondern auf der Berliner Akademieausstellung 1806 auch Rekonstruktionszeichnungen des Gebäudes Johann Erdmann Hummels gesehen. Vgl. Harten: Die Buhnenentwürfe, S. 227. 117 Harten: Die Bübnenenta/ürfe, S. 232. 118 Vossische Zeitungv. 27.2.1817, zit. nach Harten: DieBiihnenentivürfe, S. 232.
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Abb. 14: Karl Friedrich Schinkel: Entwurf sp Athalia, 7. Dekoration (Gouache, 35.6 χ 53.9 cm), Gropius 1850
Abb. 15: Karl Friedrich Schinkel: Entwurf %u Athalia, II. Dekoration (Gouache, 46.1 χ 54.1 cm), Gropius 1850
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Die historisch-kritische Lesart der Bibel und die damit verbundene Haltung historisierender Distanz zu den ehedem vertrauten Handlungsräumen hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts also bereits ihren Weg auf die Opernbühnen gefunden und damit eine ebenso breitenwirksame und visuell eindrückliche wie imaginationsbildende mediale Form angenommen. Daß alttestamentarische Stoffe um 1800 ihre Wanderung über die Grenzen des Oratoriums hinweg in den klingenden Bildraum der Oper hinein antraten, hatte in der Historisierung der Bibel wahrscheinlich ebenso ihre Möglichkeitsbedingung wie sie zugleich die Orientalisierung der biblischen Figuren und Schauplätze förderte.119 Unterstützt von solchen medialen Multiplikatoren, zieht die oben skizzierte epistemische und semiotische Verwandlung der biblischen Welten von Repräsentanten universaler Gegebenheiten in historisch und kulturell spezifische Völker, Räume und Zeiten jedenfalls schnell weite Kreise. Zusammen mit den Hebräern selbst rücken die anderen altorientalischen Völker — die Babylonier, Assyrer, Ägypter, Phönizier — und aufgrund der sprachlichen Verwandtschaftslinien auch die Araber aus dem Bereich des historisch und kulturell Vertrauten hinaus und werden zu fremden Völkern. Die hermeneutische Problemlosigkeit des frühneuzeitlichen Zugangs zum orientalischen Anderen, das Auffinden vertrauter Staats- und Lebensformen in China oder dem pharaonischen Ägypten, jenes unendliche Spiel mit Differenzen auf der Grundlage unmittelbaren Verstehens, löst sich auf.
4.4 Frühorientalistik II: Altertumskunde und historisch-vergleichende Sprachwissenschaft Neben dieser orientalistischen Wissenschaftstradition, die sich sowohl in den geographischen Abmessungen ihres Gegenstandsbereiches als auch in der Wahl ihrer wissenschaftlichen Methoden aus der protestantischen Theologie herschrieb, entstand auf der Wende zum 19. Jahrhundert ein zweites orientalistisches Forschungsfeld, das nach anderen wissenschaftlichen Parametern strukturiert war und dessen Grenzen andere geographische und sprachliche Gegenden einschlössen. Mit der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, der Mythenforschung und der Altertumskunde sind oben bereits drei Stichworte gefallen, die auf die spezifische Organisation dieses zweiten orientalistischen Diskurses hinweisen, in dessen Zentrum Indien steht. Er wies mit dem bibelwissenschaftlichen Zweig der 119 So weit ich sehe, ist auch diese gattungs- und stoffgeschichtliche Dimension des Orientalismus von der musik- und litcraturwissenschaftlichen Forschung bislang nicht beleuchtet worden.
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deutschen Frühorientalistik auch personell so gut wie keine Überschneidungen auf. Friedrich Rückert war einer der ganz wenigen deutschen Orient-Gelehrten, die in beiden orientalistischen Bereichen gleichermaßen zu arbeiten versuchten und sich dabei auch bemühten, den methodischen Graben zu überwinden, der diese Bereiche trennte.120 Dabei fallt zunächst eine signifikante Gemeinsamkeit des neuen orientkundlichen Wissenszweiges mit der Frühorientalistik philologisch-hermeneutischer Provenienz auf: die in beiden Fällen gegebene dezidiert historische Ausrichtung. Mit Blick auf die wissensgeschichtlichen Zustände im ausgehenden 18. Jahrhundert versteht sich diese Gemeinsamkeit bis zu einem gewissen Grad von selbst. Denn ohne die im Detail durchaus begründete Kritik ignorieren zu wollen, die in den vergangenen Jahrzehnten an Michel Foucaults epoche(n)machender Ordnung der wissensgeschichtlichen Dinge121 und dabei besonders an seinem Postulat eines bruchhaften Epistemwechsels um 1800 laut geworden ist,122 läßt sich aus seiner Arbeit die durchaus ebenso begründete denkgeschichtliche Erkenntnis ziehen, daß auf der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert für alle mit dem Humanum befaßten Wissensformationen „die Geschichte [...] zum Unumgänglichen [d]es Denkens" geworden war.123 Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Orient, die im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts feste institutionelle Formen annahm, ist diese enge Bindung der epistemischen Grundordnung jener Zeit an die Größe der Geschichte jedoch von ganz besonderer Bedeutung. Denn die Vorstellung vom Orient als kulturellem Ursprungsort des Abendlandes oder gar der Menschheit, die in Johann Gottfried Herders Konzeption der Hebräischen Poesie bereits durchschien und sich auch in seinen geschichtsphilosophischen Entwürfen findet,124 entwickelte sich um 1800 zum orientalistischen Gemeinplatz in Deutschland. Sei es, daß das Morgenland als Geburtsstätte der drei monotheistischen Religionen vorgestellt wurde, als Heimstatt der ältesten Poesie, Mythologie, Baukunst und der Wissenschaften oder als Ent120 Zu Rückerts indologischem Engagement vgl. Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft", S. 56f., die allerdings die völlig unterschiedlichen Traditionszusammenhänge, Gegenstandsbereiche und Methoden der beiden orientkundlichen Wissensbereiche nicht sieht und Rückerts Doppelengagement fälschlich als orientwissenschaftlichen Normalfall behandelt. 121 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanmssenschaften. Frankfurt a. M. 121995. 122 So etwa von Reinhart Koselleck: „Das 18. Jahrhundert als Beginn der Neuzeit". In: Reinhart Herzog/ ders. (Hrsg.): Epochenschwelle und Epochenbervußtsein. München 1987, S. 269-282. 123 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 271. 124 Auch eine Philosophie der Geschichte %ur Bildung der Menschheit. Bejtrag %u vielen Beiträgen des Jahrhunderts (1773). In: Herder W 4, S. 9-108; Ideen %ur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1782-1788). In: Herder W 6, S. 427-507.
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stehungsort der Ursprache(n) — die Signatur einer kulturellen Wiege der Menschheit125 war ihm seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in jedem Fall so tief eingeschrieben, daß die liturgisch-eschatologische Formel des ex Oriente lux eine geschichtsphilosophische Sinndimension gewann.126 So steht etwa in Friedrich Schlegels Zeitschrift Europa programmatisch über Asien zu lesen: Aber wir können es doch nicht vergessen haben, woher uns bis jetzt noch jede Religion und jede Mythologie gekommen ist, d. h. die Principien des Lebens, die Wurzeln der Begriffe, wenn gleich alles hier neu gestellt und oft bis zur Unkenntlichkeit entartet ist.127
Und der folgende Auszug aus Arnold Hermann Ludwig Heerens Ideen über die Politik, den Verkehr und den Handel der vornehmsten Völker der alten Welt läßt sich durchaus exemplarisch lesen, wenn es da heißt: Unter den drey Theilen der alten Welt ist keiner, der die Aufmerksamkeit des philosophischen Geschichtsforschers der Menschheit, der sich nicht blos auf die Betrachtung einzelner Nationen beschränkt, sondern mit seinem Blicke das Ganze unsers Geschlechts zu umfassen sucht, mehr auf sich zöge und auch befriedigte, als Asien. [...] Selbst die Geschichte der wissenschaftlichen Kenntnisse, so viele Mühe sich auch der Occident gegeben hat, sie zu bereichern und zu seinem Eigenthum umzustempeln, fuhrt uns doch endlich auf den Orient zurück, so wie wir in ihm das Vaterland nicht nur unserer eigenen, sondern auch aller übrigen Religionen finden, welche durch ihre Verbreitung sich zu herrschenden Weltreligionen erhoben haben.128
Durch eben diese enge Assoziation des Orientalischen mit dem kulturellen Ursprung multiplizierte sich einerseits die vorherrschende epistemische Dimension des Geschichdichen innerhalb der sich herausbildenden Wissenschaften vom Orient, und zugleich erfuhren orientalische Gegenstände zunehmend begierige Aufnahme in anderen wissenschaftlichen Diskursen. Diese Kopplungen auf dem immer weiter werdenden Feld des Historischen produzieren zum Teil ungemein komplexe Wissens- und Bildformationen, was sich an dem um 1800 neu entstehenden orientalistischen Forschungsfeld zwischen den Achsen Altertumskunde, Mythengeschichte und 125 Vgl. auch die Belegsammlung in Ammann: Östliche Spiegel, S. 31-37. 126 Vgl. exemplarisch die frühe Schrift des Philosophen und nachmaligem Professor für orientalische - genauer: für indische und persische - Philologie in München Othmar Frank: Das Licht vom Orient (Teil I. Nürnberg 1808), in der er Persien als Ursprungsland des Lichts und der Lichtreligion entwirft. 127 [Friedrich Schlegel:] „Reise nach Frankreich". In: Europa. Eine Zeitschrift. Hrsg. v. Friedrich Schlegel. Frankfurt a. M. 1803-1805 (Fotomechan. Nachdr.: Mit einem Nachwort zur Neuausgabe von Ernst Behler. 2 Bde. Stuttgart 1963), Bd. l, H. l, S. 540, hier:: S. 37. 128 Arnold Hermann Ludwig Heeren: Ideen über die Politik, den Verkehr und den Handel der vornehmsten Völker der alten Welt. In: ders.: Historische Werke. 15 Bde. Göttingen 18211826, Bd. 10, S. 47 f.
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his torisch-vergleichender Sprachwissenschaft besonders eindrücklich zeigt. Denn während sich die gerade skizzierte Entwicklung der Frühorientalistik aus der protestantischen Theologie gleichsam als Musterbeispiel dessen lesen läßt, was Niklas Luhmann unter dem Begriff der funktionalen Ausdifferenzierung faßt129 — evolutionär gedacht als diskontinuierliche Bildung eines Subsystems (Orientalistik) und sein Herauslösen aus einem übergeordneten System (Theologie) —, ist bei dem zweiten großen orientwissenschaftlichen Diskursstrang des frühen 19. Jahrhunderts eine vorgängige Mutterdisziplin weit schwerer auszumachen. Unter anderem läßt sich das auf den Umstand zurückführen, daß mit Indien und Persien zwei orientalische Völker im Zentrum dieses zweiten Bereichs der Orientwissenschaft standen, die als Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung in Deutschland keine Tradition besaßen. Schließlich lagen diese Länder weder im geographischen und sprachlichen Einzugsbereich der alttestamentlichen Exegese, noch besaßen die deutschen Staaten des späten 18. Jahrhunderts ausgeprägte politische oder wirtschaftliche Kontakte zu Indien und Persien, die eine professionelle Beschäftigung mit diesen Ländern hätte motivieren und institutionell wie finanziell hätte stützen können. In der Vorrede zu seiner bereits erwähnten Übertragung des altindischen Schauspiels Sakontala oder der entscheidende Ring von 1791 macht Georg Forster eben diesen Punkt explizit und schreibt: Die indische Litteratur ward in England schon vor einigen Jahren ein Gegenstand der Wissbegierde, und nichts ist begreiflicher, als die Wärme, womit man sich dort für die Kenntnisse und Vorstellungen eines Volkes interessirt, von welchem fünfzehn Millionen unter dem brittischen Zepter stehen.f...] In Deutschland verhält es sich anders. Wir haben [...] kein näheres Interesse, das den Geisteswerken der Inder eine ä u s s e r e Wichtigkeit des Augenblicks verleihen kann.130
Bekanntermaßen avancierte Indien zusammen mit Persien im Deutschland des frühen 19. Jahrhundert trotz der fehlenden ,,äussere[n] Wichtigkeit des Augenblicks" tatsächlich zu einem Land, dem wissenschaftlich wie ästhetisch breites Interesse entgegengebracht wurde. Und diese von Raymond Schwab bereits 1950 als „Renaissance Orientale"131 diagnosti129 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 41993. 130 Sakontala oder der entscheidende Ring. Ein indisches Schauspiel von Ka&das, Aus den Ursprachen Sanskrit und Prakrit ins Englische und aus diesem ins Deutsche übersetzt mit Erläuterungen von Georg Forster. Zweite rechtmäßige, von LG. v. Herder besorgte Ausgabe. Frankfurt a. M. 1803, S. XXI f. (Sperrung i.O.). Zu Bedeutung dieser Übersetzung für die deutsche Beschäftigung mit Indien vgl. die Studie von Gerhard Steiner: „Kalidasas Sakontala oder Die deutsche Entdeckung Indiens". In: Detlef Rasmusscn (Hrsg.): Der Wehumsegler und seine freunde, Georg Forster a/s gesellschafllicher Schriftsteller der Goethesyit. Tübingen 1988, S. 59-69. 131 Raymond Schwab: The Oriental Renaissance. Europe's rediscovery of India and the East 16801880. New York 1984 (Orig.: La Ranaissance orientate. Paris 1950).
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zierte Indienbegeisterung zahlreicher Intellektueller jener Jahrzehnte beschränkte sich keineswegs auf überstürzte oder nostalgische Weltfluchten an den Ganges, sondern ging einher — wenn auch nicht notwendig Hand in Hand - mit einer sich zunehmend professionalisierenden und institutionalisierenden Arbeit an indischen Dingen. Bereits ein Jahrzehnt nach Forsters vorsichtigem Vermittlungsversuch erschien der erste Band der Zeitschrift Asiatisches Maga^in^2 deren Beiträge zwar Gegenstände aus dem gesamten damaligen Orient behandelten, allerdings mit deutlichem Schwerpunkt auf Indien, China und Persien. 1808 veröffentlichte Friedrich Schlegel seine einflußreiche Schrift Ueber die Sprache und Weisheit der Indier mit dem programmatischen — von der Forschung allerdings selten zitierten - Untertitel Ein Beitrag %ur Begründung der Alterthumskündet 1816 wurde Franz Bopp (1791-1867) als Professor für orientalische Sprachen und allgemeine Sprachenkunde an die junge Berliner Universität berufen, im selben Jahr erhielt der Herausgeber des Asiatischen Magazins Julius Klaproth (1783-1835) an der neuen preußischen Universität in Bonn einen Lehrstuhl.134 Und als August Wilhelm Schlegel sich 1820 anschickte, seine Professur an derselben Universität dezidiert indologisch auszurichten, sich zu diesem Zweck von seinen Lehrverpfliehtungen beurlauben zu lassen und eine Forschungsreise zu unternehmen — ein Unterfangen, das mit nicht geringem finanziellen und organisatorischen Aufwand verbunden war —, ließ sich sein Dienstherr nicht allein zur Bewilligung des Projekts überreden, sondern kleidete seine positive Antwort überdies in eine „Rhetorik der Superlative".135 Es ist Karl August Fürst von Hardenberg, der am 25. 3. 1820 an den Antragsteller schreibt, er sei überzeugt, daß Schlegel von dieser Unternehmung „die herrlichste Bereicherung und die überraschendste Ausbeute für die Europäische Litteratur, so wie die bedeutendsten Aufschlüsse für die Bildungs-Geschichte der Menschheit im Allgemeinen aus der Wiege der Cultur mitbringen" werde.136 Daß Schlegels Reise dabei keineswegs nach Indien, sondern in die Handschriftenabtei132 Asiatisches Magazin. Verfaßt von einer Gesellschaft von Gelehrten und herausgegeben von Juüus Klaproth, Bd. 1. Weimar 1802/03. 133 In: Schlegel KFSA VIII, S. 105-190. 134 Zu Klapproth ausführlich die Beiträge in: Hartmut Walravens (Hrsg.): Julius Klaproth (1783-18)5). Leben und Werk. Wiesbaden 1999; zu seiner Stellung in der Frühzeit der Ostasienwissenschaften vgl. ders.: Zur Geschichte der Ostasienmssenschaften in Europa. Abel BJmusai (1788-1832) und das Umfeld Julius Klaproths (1783-1835). Wiesbaden 1999. 135 So faßt Anil Bhatti in seinem scharfsinnigen Beitrag die Reaktion Hardenbergs zusammen und wertet sie als weiteren Beleg für die „beeindruckende Wirkung der ,Indienbegeisterung' des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts." Vgl. Bhatti: August Wilhelm SchlegeL· Indienre^eption und der Kolonialismus, S. 185. 136 Fürst von Hardenberg an August Wilhelm Schlegel v. 23. März 1820. In: Briefe von und an August Wilhelm Schlegel. Gesammelt und erläutert durch Josef Körner. Erster Teil: Die Texte. Zürich/ Leipzig/ Wien 1930, Nr. 265, S. 378f.
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lungen der Bibliotheken von London und Paris fuhren sollte, ist für den Charakter der sich hier langsam konstituierenden neuen Orient-Wissenschaft ebenso signifikant wie der Umstand, daß es mit Bonn und Berlin zwei preußische Universitäts-Neugründungen sind, von denen der Ruf nach indienkundigen Professoren ausging. Diese Berufungen, einschließlich der von Hardenbergschen Euphorie, als wissenschaftspolitische Maßnahme zur Profilierung des neu verfaßten preußischen Staates in der europäischen Wissenschaftslandschaft zu werten, liegt also nahe. Schlegel selbst hatte in seinem ausführlichen Antrag auf Freistellung und Bewilligung der Forschungsmittel137 — überschrieben mit dem Titel Über die Mittel, das Studium der Indischen Sprache und Utteratur in Deutschland gründlich einzuführen — eben diese wissenschaftspolitische Karte gespielt und seinen Vorschlag, in Bonn eine „indische Druckerey" einzurichten,138 mit dem Ausblick geschlossen: Es würde ohne Zweifel zum Europäischen Ruhm einer Königlich Preußischen Landes-Universität gereichen, wenn daselbst zuerst in Deutschland Indisch gedruckt würde. Allein es dürfte nöthig seyn, ungesäumt Hand an das Werk zu legen, damit man nicht auswärts zuvorkomme. In Göttingen scheint noch nichts geschehen zu seyn, wiewohl es dort wegen der Verhältnisse mit England am ersten zu erwarten stände.139
Ein Blick in die von August Wilhelm Schlegel im selben Jahr gegründete Fachzeitschrift Indische Bibliothek, die bis auf einzige verstreute Beiträge anderer Autoren - unter ihnen Wilhelm von Humboldt - von Schlegel selbst verfaßt wurde,140 zeigt indes, wie eng diese Profilierungsidee mit der 137 Über die Mittel, das Studium der Indischen Sprache und Litteratur in Deutschland gründlich ein%uführen, eine ausführliche Darstellung in sieben Paragraphen, die Schlegel seinem Anschreiben an den Staatsminister Karl von Altenstein als Anlage beigefügt hatte. Vgl. A. W. Schlegel an Karl Freiherrn von Altenstein v. 6. März 1820. In: Briefe von und an August Wilhelm Schlegell, Nr. 264, S. 373-377. 138 Daß zu diesem Zeitpunkt in den deutschen Staaten tatsächlich noch keine Möglichkeit existierte, Sanskrit-Texte zu drucken - aus dem einfachen Grund, weil es keine Drucktypen gab -, zeugt von der marginalen Bedeutung, die eine professionelle Beschäftigung mit Indien bis dahin besaß. Othmar Frank (1770-1840), seit 1824 Professor für Philosophie und orientalische Philologie mit dem Schwerpunkt auf Indien und Persien an der neugegründeten Münchner Universität, mußte für seine ersten Publikationen indischer Quellen in den Jahren 1820/21 noch auf lithographische Techniken zurückgreifen. Vgl. dazu: Windisch: Geschichte der Sansknt-Philologie und Indischen Altertumskunde I,S. 63 f. 139 A.W. Schlegel an Karl Freiherrn von Altenstein v. 6. März 1820. In: Briefe von und an August Wilhelm Schlegell, Nr. 264, S. 377. Schlegels Karte sticht, die Druckerei wird eingerichtet, und damit verfügte er - nach Wilkins in London - über den zweiten Typensatz der Deva-Nägan-Schrift in Europa. Vgl. dazu: Windisch: Geschichte der Sanskrit-Philologie und Indischen Altertumskunde I, S. 78 f. 140 Indische Bibliothek. Eine Zeitschrift von August Wilhelm von Schlegel. Bonn 1820-1830. Im Vorwort zum ersten Heft des ersten Bandes umreißt Schlegel die personelle Ausstattung des Projektes mit den Worten: „Ich bin nicht bloß Herausgeber, sondern
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philologisch-sprachwissenschaftlichen Ausrichtung der werdenden Disziplin verknüpft war. In seinem Einleitungsbeitrag mit dem Titel Über den gegenwärtigen Zustand der indischen Philologie™1 den Anil Bhatti sehr überzeugend als Versuch zur performativen Konstitution einer deutschen Indologie und ihres Gegenstandes liest,142 greift Schlegel nämlich Forsters Vergleich zwischen dem deutschen und dem britischen Interesse an indischen Dingen wieder auf, wendet ihn nun aber ins Offensive: Nicht obwohl, sondern »»«/die Deutschen mit Indien keinen „politischen Zweck"14·5 verbinden, werden die •weltgeschichtlichen, philologischen und philosophischen Gesichtspunkte, die sich sogleich bey Betrachtung der Indischen Denkmale darbieten, sie um so lebendiger ansprechen. Denn die Forschungen, welche das Auge für dergleichen Aussichten in die unbekannte Vorwelt schärfen, sind in Deutschland vorzugsweise einheimisch, und auswärtige Gelehrte ahnden manche Begriffe noch nicht, womit der Deutsche schon vertraut geworden ist.144
Zu der hier unterstellten deutschen Grundkompetenz auf dem Feld der Altertumsforschung rechnet Schlegel in erster Linie die Beherrschung der philologischen Verfahren von Textkritik und Kommentar. Ihre konsequente Anwendung bei Übersetzungen und Editionen altindischer Texte bildet die Meßlatte, die der Verfasser in einer breit angelegten, kritischen Darstellung des zeitgenössischen Forschungsstandes an sämtliche bislang erschienenen britischen Ausgaben und Übertragungen anlegt — und an der er nahezu alle Publikationen scheitern läßt.145 Gegen die Ausgabe des auch Verfasser der Indischen Bibliothek; ich habe für jetzt keinen Mitarbeiter, und will versuchen, wie weit ich mit meinen eignen Kräften den billigen Erwartungen des Publikums entsprechen kann. Sollte sich in der Folge ein in gleichen Forschungen begriffener Gelehrter zur Herausgabc mit mir vereinigen, so werde ich es im voraus anzeigen; bis dahin bin ich für alles verantwortlich, was nicht als ein fremder Beytrag ausdrücklich bezeichnet wird." (Indische Bibliothek, Bd. l, H. l, S. X). Der erste Band der Zeitschrift umfaßte vier Hefte, die insgesamt nur drei Beiträge anderer Autoren enthielten: die Übersetzung Die Einsiedelei des Kandu, nach dem Brahma-Purana, einer epischen Dichtung aus dem höchsten Alterthume. Von Herrn von Chezy (Bd. l, H. 3), die zoologische Abhandlung Der Asiatische Tapir. Von Herrn d'Alton (Bd. l, H. 4) und schließlich eine Abhandlung Wilhelm von Humdoldts über suffigierende Bildung von Verbformen im Sanskrit, ebenfalls im vierten Heft, die im zweiten Band fortgeführt wurde. 141 Indische Bibliothek, Bd. l, H. l, S. 1-27. Diesen Beitrag hatte Schlegel, wie er in der Anmerkung zum Texttitel ausfuhrlich darlegt, zuvor bereits „im 2ten Heft des Jahrbuchs der Preußischen Rhein-Universität" veröffentlicht, sowie in französischer Übersetzung „in der B i b l i o t h e q u c u n i v e r s e l l e , und in der R e v u e e n c y c l o p e d i q u e "(S. 1). 142 Bhatti: August Wilhelm SchlegeL· Indienre^eption und der Kolonialismus, S. 189 ff. 143 Indische Bibliothek Bd. I, H. l, S. 3. 144 Indische Bibliothek Bd. I, H. l, S. 4. 145 Selbst das lx>b der Leistungen von Jones steht in Schlegels Darstellung unter komparativischem Vorbehalt. „Die Übersetzungen des Sir William Jones (...) durch Vergleichung mit den Originalen näher zu prüfen, habe ich noch nicht Gelegenheit gehabt.
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Ramayana von W. Carey und J. Marshman polemisiert er etwa mit der Bemerkung, es gebe hier „fast keine philologische Vernachlässigung, welche sich die Herausgeber nicht hätten zu Schulden kommen lassen".146 Konsequent formuliert Schlegel wenig später die Programmatik der neuen Indologie und schreibt: Soll das Studium der Indischen Litteratur gedeihen, so müssen durchaus die Grundsätze der classischen Philologie, und zwar mit der wissenschaftlichen Schärfe, darauf angewandt werden.147
Daß sich das hohe Niveau der deutschen Philologie und Altertumskunde auf dem Feld des Indischen noch nicht in breiter Forschungstätigkeit niedergeschlagen habe, sei der britischen Verfügungsgewalt über die Textquellen geschuldet, welche die deutsche Indologie „in einer gewissen Abhängigkeit" halte und den interessierten deutschen Forscher daran hindere, „den Stoff des Wissens und die Werkzeuge zu dessen Verarbeitung in seiner Gewalt [zu] haben".148 In effektvoller Wirtschafts-Metaphorik plädiert Schlegel daher für eine radikale Öffnung der Zugänge zu den Quellen: Sollten die Engländer etwan auf ein mit der Indischen Litteratur Anspruch machen? Das wäre zu spät. Der Zimmet und die Gewürznelken mögen ihnen bleiben; diese geistigen Schätze sind ein Gemeingut der gebildeten Welt ·149
Die prospektive Positionierung der deutschen wissenschaftlichen Beschäftigung mit Indien auf dem internationalen Forschungsfeld und die Renovation des Feldes durch die deutsche Altertumskunde und Philologie,150 Doch läßt sich voraussetzen, daß sie weit vorzüglicher sind [als die von Wilkins, A.P.], weil Sir William Jones große philologische Gewandtheit, und regen Sinn für die morgenländische urweltliche Denkart besaß, und weil ihm in seinem hohen Posten die Beste Hülfe gelehrter Brahmanen zu Gebote stand." (Indische Bibliothek, Bd. I, H. l, S. 17). 146 Indische Bibliothek, Bd. I, H. l, S. 20. 147 Indische Bibliothek, Bd. I, H. l, S. 22. 148 Indische Bibliothek, Bd. I, H. l, S. l f. 149 Indische Bibliothek, Bd. I, H. l, S. 15. Eine besonders aparte Note erhält diese philologische Polemik gegen die britische Auseinandersetzung mit Indien angesichts der Tatsache, daß der heute vergessene ältere Bruder August Wilhelm und Friedrich Schlegels, Karl August Schlegel (geb. 1761), 1782 als Ingenieur im Dienste der englischen Krone nach Indien ging, dort an Expeditionen teilnahm, das Land kartographiertc und geographische Schriften über Indien verfaßte. Friedrich Schlegel hatte dem ältesten Bruder in der Vorrede zu Über die Sprache und Weisheit der Indier noch ein kleines Denkmal gesetzt, an seine Arbeit und seinen frühen Tod „zu Madras den 9ten September 1789" (Schlegel KFSA VIII, S. 111) erinnert, während er in August Wilhelms Abhandlung signifikanter Weise keine Erwähnung mehr findet. (Vgl. die kurze Notiz zu Karl August Schlegel in Ernst Behler: Friedrich Schlegel. Reinbek M996, S. 13). 150 Letztlich tritt er damit in die rhetorischen Fußstapfen seines jüngeren Bruders. Auch Friedrich Schlegel hatte es nicht versäumt, seine Vorrede zu Über die Sprache und Weisheit der Indier mit einer lobenden Erwähnung der Arbeiten von Wilkins und Jones zu beginnen. Doch während dieses Lob bequem in einem Satz Platz findet, endet das
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die August Wilhelm Schlegel hier in das durchscheinende Gewand eines Berichtes zum Stand der Forschung hüllt, folgt also methodologischen Leitlinien. Dabei zieht der Verfasser die klassische Philologie samt ihres historisch-kritischen und hermeneutischen Instrumentariums explizit als Vorbild heran und bestimmt mit ihrer Hilfe den Gegenstand der „indischen Philologie" letztgültig als historischen und die indologische Forschung entsprechend als einen weiteren Reitrag %ur Begründung der Altertbumskunde: Dem Herausgeber Indischer Bücher bieten sich dieselben Aufgaben dar, wie dem classischen Philologen: Ausmittelung der Aechtheit oder Unächtheit ganzer Schriften und einzelner Stellen; Vergleichung der Handschriften, Wahl der Lesarten und zuweilen Conjectural-Kritik; endlich Anwendung aller Kunstgriffe der scharfsinnigsten Hermeneutik.151
Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der indischen Gegenwart, „genauere Kenntniß der Geographie und Naturgeschichte des Landes", ist entsprechend nur in dem Maße angestrebt, als sie dem „Verständniß der alten Schriften dient".152 Einen methodologischen Unterschied zwischen klassischer und indischer Philologie läßt Friedrich Schlegel allerdings gelten und benennt ihn mit der Schwierigkeit, beim verstehenden Zugriff auf die indische Vergangenheit auf eine Vermittlungsinstanz verzichten zu müssen, wie sie die lateinische Tradition für die Annäherung an die griechische Antike darstellt. Zur Lesung der Griechen war man indessen in Europa durch die nie ganz ausgestorbene Bekanntschaft mit der Lateinischen Litteratur ziemlich vorbereitet. Hier hingegen treten wir in einen völlig neuen Ideenkreis ein. Wir müssen die Denkmale Indiens zugleich als Brahmanen und als Europäische Kritiker verstehen lernen.153
„Mit Indien" - so schlußfolgert Bhatti zu Recht — betritt man zu Beginn des 19. Jahrhunderts also „völliges Neuland"; und zwar — so ist hinzuzufügen - hermeneutisches Neuland. Denn nicht allein mangelnde Kenntnisse sind es, die den Graben des Nicht-Verstehens zwischen der deutschen Gegenwart und der indischen Vergangenheit noch bodenloser erscheinen lassen, als historische Distanzen dies im Zeitalter der Geschichtlichkeit ohnehin zu tun pflegen. Sondern das gänzliche Fehlen von Brücken der Vorwort mit der ausführlichen Würdigung deutscher Indien-Forscher seit dem 17. Jahrhundert, deren Umfang — sie nimmt fast ein Fünftel des gesamten Textes ein — freilich in keinem Verhältnis zu Anzahl und Gewicht der genannten Männer steht. In diesem Kontext erwähnt Friedrich Schlegel auch besagten älteren Bruder Karl August, dessen geographische und kartographische Arbeit allerdings kurzerhand in ein „Studium des Landes, der Verfassung und des indischen Geistes" verwandelt wird. (Schlegel KFSAVIII,S. 107-111). 151 Indische Bibliothek, Bd. I, H. l, S. 22f. 152 August Wilhelm Schlegel: Vorrede. In: Indische Bibliothek, Bd. I, H. l, S. Xf. 153 Indische Bibliothek, Bd. I, H. l, S. 23.
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Tradition, der Mangel an überlieferter Vertrautheit läßt den hermeneutischen Zugang zur indischen Vergangenheit zu jenem „Abenteuer"154 werden, das August Wilhelm Schlegel gleich zu Anfang seines Beitrags beschrieben hat. Das Fehlen einer Tradition der Vertrautheit aber unterscheidet die hier prospektierte indische Philologie auch von derjenigen Frühorientalistik, die sich zur selben Zeit aus der protestantischen Theologie heraus entwikkelt. Denn auch wenn das überkommen Vor-Verstandene im Prozeß der Exegese biblischer und anderer altorientalischer Texte immer wieder auf den wissenschaftlichen Prüfstand gestellt und Vertrautes durch die hermeneutischen Bemühungen erkenntnisstrategisch verfremdet wurde, hatte die vorhandene Überlieferungstradition der Texte doch bereits Brückenpfeiler der Vertrautheit in den tiefen Graben des Nicht-Verstehens gesenkt. Eine Hermeneutik der indischen Vergangenheit mußte dagegen ohne solche Stützpfeiler auskommen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, erscheint das Land, das auf der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert so verschiedene Wissenschaftler in seinen Bann gezogen hat wie Franz Bopp, Wilhelm von Humboldt, Friedrich Creuzer, Joseph Görres, August Wilhelm und Friedrich Schlegel, und so unterschiedlichen Dichterinnen und Dichtern wie Heinrich Heine, Karoline von Günderrode, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Rückert und Jean Paul Anlaß und Gegenstand ästhetischer Produktion gewesen ist, als einer der fremdesten Zeit-Räume des damaligen Orients. Und die offenbare Faszination dieser Fremdheit, jene — in den frühindologischen Publikationen allerorten auffindbare — euphorische Betonung der „dunkle [n] Geschichte der Urwelt", über die sich „von Indien her [...] die Altertumsforscher Aufschluß" versprachen,155 wäre gänzlich unerklärlich, wenn in diesem Zweig der deutschen Frühorientalistik der hermeneutische Zugang zum Gegenstand tatsächlich der vorherrschende gewesen wäre. Doch der philologisch-hermeneutische Zugriff auf die Quellen beherrschte das Feld der orientalistischen Altertumskunde indologischer Provenienz eben nicht allein. Daneben und teils in direkter Konkurrenz zu ihm setzte sich ein methodischer Ansatz durch, der anfangs auch von August Wilhelm Schlegel selbst, später jedoch vor allem von Gelehrten wie Franz Bopp, Othmar Frank und Friedrich Schlegel propagiert und praktiziert wurde, der diesen orientalistischen Diskurs nachhaltig bestimmte und ihn zugleich eng mit den Anfängen der historischen Sprachwissenschaft und Mythenforschung verband. Die Rede ist vom Vergleichen; von jenem vergleichenden Zugriff auf die verschiedenen Sprachen, der — ausgehend 154 Indische Bibliothek, Bd. I, H. l, S. 8. 155 Schlegel KFSA VIII, S. 107.
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nicht von Ähnlichkeiten der äußeren Wortgestalt sondern „von dem innersten Bau der Sprachen und den grammatischen Elementen"156 — auf sprachliche Genealogien und Verwandtschaftslinien rückschloß. Und so wenig dieser Ansatz ein hermeneutischer Ansatz war, als so resistent erweist er sich auch gegenüber den Fährnissen eines (Nicht-)Verstehens, die August Wilhelm Schlegel mit Blick auf fehlende Traditionslinien in die indische Vergangenheit herausgestellt hatte. Der neue methodische Blick suchte nämlich unterhalb der Oberfläche sprachlicher Erscheinungen nach den „Wurzeln" der Wörter einer Sprache, fahndete nach den Bildungsgesetzen der Wörter aus diesen Wurzeln und unternahm es schließlich, anhand dieser Wurzeln und ihrer Bildungsgesetze Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Einzelsprachen aufzufinden sowie sprachliche Genealogien nachzuzeichnen. Noch 1820 bemüht sich August Wilhelm Schlegel mit großer Verve, die Spezifik dieses Vergleichsverfahrens und seiner Möglichkeiten zur Sprachverwandtschaftsdiagnose deutlich zu machen. Die oben bereits anzitierte Passage aus seiner Vorrede zum ersten Heft der Indischen Bibliothek lautet vollständig: Es ist an der Zeit, daß das unfruchtbare Staunen über einzelne herausgegriffene Ähnlichkeiten, und das etymologische Herumtappen aufhöre, und daß durch eine systematische und vollständige Vergleichung, welche von dem innersten Bau der Sprachen und den grammatischen Elementen ausgeht, jene Verwandtschaft nach ihrem wahren Wesen, und den Graden ihrer Abstufung ins Licht gesetzt werde.157
Es war Michel Foucault, der als erster auf die tiefgreifenden wissenschaftsund denkgeschichtlichen Umwälzungen hingewiesen hat, die mit diesem sprachwissenschaftlichen Neuansatz einher gingen.158 Für die hier zur Verhandlung stehende Frage ist jedoch vor allem der Umstand von Bedeutung, daß dieser Paradigmenwechsel innerhalb der Sprachwissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts weder personell noch methodologisch von der Hinwendung zu Indien zu trennen ist.159 Die Entstehung der historischvergleichenden Sprachwissenschaft wäre ohne die wissenschaftliche Neuentdeckung der indischen Vergangenheit ebenso wenig denkbar gewesen, wie die Entstehung einer Indologie ohne jene historisch-vergleichenden Verfahren, die Franz Bopp, Othmar Frank, Friedrich Schlegel, Wilhelm von Humboldt, Jakob und Wilhelm Grimm entwickelten.160 Denn trotz 156 Indische Bibliothek, Bd. I, H. l, S. XVI. Hervorhebungen von mir. 157 Ebd. 158 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 342-366. 159 Auf diesen Punkt hat die Forschung gerade in jüngerer Zeit immer wieder hingewiesen. Vgl. insbesondere Willer: Poetik der Etymologie, S. 81 f.; Bär: Sprachreflexion der deutschen Frühromantik., S. 230 ff. 160 Zur Bedeutung Bopps, A.W. und F. Schlegels, Franks und W.v. Humboldts für die deutsche Frühindologie vgl. Windisch: Geschichte der Sanskrit-Philologie und Indischen Altertumskunde l, S. 55-86.
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aller Unterschiede, die zwischen den Sprachvergleichsverfahren dieser Wissenschaftler im einzelnen bestanden,161 läßt sich doch eine gemeinsame Grundannahme ausmachen, deren Auswirkung auf die Ordnung des Orientalismus im frühen 19. Jahrhundert kaum zu überschätzen ist: Es ist die theoriekonstitutive Idee einer Pluralität des Sprachursprungs,162 also die Annahme der Existenz mehrerer Sprachfamilien, deren Verschiedenheit voneinander so grundlegend ist, „daß sich keine Möglichkeit zeigt, sie auf eine gemeinschaftliche Quelle zurückführen zu können."163 Friedrich Schlegel war der erste, der diese Idee in seiner bis heute als Gründungsschrift sowohl der deutschen Indologie als auch der his torisch-vergleichenden Sprachwissenschaft gehandelten Arbeit Über die Sprache und Weisheit der Indierwo& dem Jahr 1808 am Material durchgespielt hat.164 Diskursstrategisch äußerst effektvoll, aktualisiert Schlegel dabei zunächst die gängige Vorstellung vom Orient als Ursprungsregion, um dann jedoch quer durch diese Region Achsen der Differenz zu schlagen und „zwei Hauptgattungen der
161 So teilte etwa August Wilhelm Schlegel wichtige Grundannahmen Franz Bopps nicht (vgl. die Kritik Schlegels in Indische Bibliothek, Bd. I, H. l, S. 97ff.), dessen Ansatz sich wiederum deutlich von dem Jakob Grimms unterschied und weder der Arbeitsweise Friedrich Rückerts noch mit der Friedrich Schlegels kongruierte. Großrahmig dazu Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 349 ff., mit dem Fokus auf der Sprachursprungsdiskussion im frühen 19. Jahrhundert schließlich Klaus Grotsch: „Das Sanskrit und die Ursprache. Zur Rolle des Sanskrit in der Konstitutionsphase der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft". In: Theorien vom Ursprung der Sprache. Hrsg. v. Joachim Gessinger Wolfert von Rahden. Bd. II. Berlin/New York 1988, S. 85-121. 162 Einen sehr differenzierten Überblick über das historisch breite und denkarchitektonisch ungemein komplexe Thema der Sprachursprungstheorien geben die Beiträge in der zweibändigen Aufsatzssammlung: Theorien vom Ursprung der Sprache. Hrsg. v. Joachim Gessinger und Wolfert von Rahden. 2 Bde. Berlin/ New York 1989; darin für die hier zur Verhandlung stehende Zeit: Manfred Mengel: „Zeichen, Sprache, Symbol. Herders semiologische Gratwanderung — mit einem Seitenblick auf Rousseaus Schlafwandeln" (Bd. l, S. 375-389); Detlef Otto: „Vom Ursprung lesen. Johann Georg Hamanns Übersetzung der Herderschen Abhandlung über den Ursprung der Sprache" (Bd. l, S. 390420); Wolfert von Rahden: „Sprachursprungsentwürfe im Schatten von Kant und Herder" (Bd. l, S. 421-467); Sabrina Hausdörfer: „Die Sprache ist Delphi. Sprachursprungstheorie, Geschichtsphilosophie und Sprach-Utopie bei Novalis, Friedrich Schlegel und Friedrich Hölderlin" (Bd. l, S. 468-497); Jürgen Trabant: „Wilhelm von Humboldt. Jenseits der Gränzlinie" (Bd. l, S. 498-522); Friedmar Apel: „Sprachordnung und Weltordnung im Zusammenhang von Sprachursprungstheorien und Übersetzungskonzeptionen seit Hamann und Herder" (Bd. 2, S. 30-51); Martin Lang: „Ursprache und Sprachnation. Sprachursprungsmotive in der deutschen Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts" (Bd. 2, S. 52-85). 163 Schlegel KFSA VIII, S. 117. 164 Friedrich Schlegel: Über die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag %ur Begründung der Altertumskunde. In: Schlegel KFSA VIII, S. 105-440. Zur Spezifik der Schlegelschen Sprachtheorie vgl. die nach wie vor grundlegende Arbeit von Heinrich Nüsse: Die Sprachtheorie Friedrich SchlegeL·. Heidelberg 1962.
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Sprachen nach ihrem inneren Bau" zu unterscheiden,165 die er folgendermaßen definiert: Entweder werden die Nebenbestimmungen der Bedeutung durch innere Veränderung des Wurzellauts angezeigt, durch Flexion; oder aber jedesmal durch ein eignes hinzugefügtes Wort, was schon an und für sich Mehrheit, Vergangenheit, ein zukünftiges Sollen oder andre Verhältnisbegriffe der Art bedeutet; und diese beiden einfachsten Fälle bezeichnen auch die beiden Hauptgattungen aller Sprache, Alle übrigen Fälle sind bei näherer Ansicht nur Modifikationen und Nebenarten jener beiden Gattungen [...].166
So idealtypisch diese beiden „Hauptgattungen" auch anmuten, macht der Verfasser unter den orientalischen Sprachen dennoch zwei reale Vertreter dieser zwei Grundtypen aus: das Chinesische für den nicht-flektierenden Typ, das Sanskrit für den flektierenden. Denn im Chinesischen, so Schlegel, „sind die Partikeln, welche die Nebenbestimmung der Bedeutung bezeichnen, für sich bestehende von der Wurzel ganz unabhängige einsilbige Worte",167 was zur Folge hat, daß im Prozeß der Wortbildung „die Wurzel selbst eigentlich unverändert und unfruchtbar bleibt."168 Für das Sanskrit dagegen gelte, „daß die Struktur der Sprache durchaus organisch gebildet, durch Flexionen oder innere Veränderungen und Umbiegungen des Wurzellauts in allen seinen Bedeutungen ramifiziert"169 sei. Diese beiden Sprachtypen sind in Friedrich Schlegels Entwurf als Urformen einer je verschiedenen Sprachfamilie gedacht und zugleich als Extremfälle in einem Spektrum möglicher Bauformen von Sprache. Auf diesem Sprachenspektrum zwischen den rein „synthetischen"170 und den rein analytischen Sprachen rückt der Verfasser etwa das Baskische, das Koptische und die amerikanischen Sprachen nahe an das Chinesische, erkennt aber in ihnen bereits leichte Tendenzen zur Flexion. Das Arabische „und alle[ ] verwandten Mundarten"171 — wozu auch das Hebräische zählt — nehmen eine Zwischenstellung ein, weil sich in diesen Sprachen die organische Bildung mit dem Additionsprinzip mischt. Und im Keltischen macht Schlegel schließlich eine Dominanz des synthetischen Bildungsprinzips über einige Reste der analytischen Komposition aus und verortet diese Sprache in der Nähe des Sanskrit. In Schlegels theoretischer Geometrie ordnen sich also alle Sprachen auf derselben Achse zwischen syntheti165 So auch der Titel des entsprechenden Kapitels im ersten Buch des Werks. Schlegel KFSA VIII, S. 153-165. 166 Schlegel KFSA VIII, S. 153. 167 Schlegel KFSA VIII, S. 157. 168 Schlegel KFSA VIII, S. 149. 169 Ebd. 170 So nennt August Wilhelm Schlegel diesen Sprachtyp: Indische Bibliothek, Bd. I, II. l, S. 23. 171 Schlegel KFSA VIII, S. 157.
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schem und analytischem Pol an, auf der sie miteinander vergleichbar werden, ohne die Annahme interner Hierarchien. Denn das Postulat historisch wie systematisch unhintergehbarer Differenzen zwischen verschiedenen Sprachtypen, auf der die hier entstehende historisch-vergleichende Sprachwissenschaft fußt, löscht notwendig den analytischen Fluchtpunkt eines gemeinsamen Ursprungs aller Sprachen aus und damit eben jene theoretische Instanz, von der aus betrachtet sich das Verhältnis der Sprachen zum Ursprung und zueinander als ein hierarchisches Verhältnis darstellt.172 Eine Gemeinsamkeit haben alle Sprachen, die Schlegel auf seiner Vergleichsachse versammelt, allerdings dennoch, und das ist ihr hohes Alter. Im Wissen um die starke Tendenz von Sprachen, sich im Laufe ihrer Geschichte gegenseitig zu beeinflussen und den Forscher durch ihre Adaptionen und Übernahmen auf falsche Verwandtschafts fährten zu lenken, führt die Suchbewegung der vergleichenden Sprachwissenschaft des frühen 19. Jahrhundert zunächst so weit als möglich in die (Vor-)Vergangenheit zurück, um jene Sprachen auszumachen, aus denen sich polygenetisch die heutigen entwickelt haben. Ein Stammbaum der jeweiligen Sprachfamilie tritt hier an die systematische Stelle einer alle Sprachen umfassenden Hierarchie des einen Ursprungs. Und da diese Stammbäume nach Maßgabe des „inneren Baus" der Sprachen angelegt werden, ergeben sich Ähnlichkeits- und Verwandtschaftsbeziehungen, die — von der oberflächlichen Gestalt der Wörter aus betrachtet — durchaus als „merkwürdige Tatsache [n]"173 anmuten. Die für den deutschen Orientalismus folgenreichste dieser Genealogien entfaltet Friedrich Schlegel gleich zu Beginn seiner ausführlichen Darstellung der Sprache und Weisheit der Indier. „Das alte indische Sonskrito", so heißt es dort, hat die größte Verwandtschaft mit der römischen und griechischen so wie mit der germanischen und persischen Sprache. Die Ähnlichkeit liegt nicht bloß in einer großen Anzahl von Wurzeln, die sie mit ihnen gemein hat, sondern sie erstreckt sich bis auf die innerste Struktur und Grammatik. Die Übereinstimmung ist also keine zufällige, die sich aus Einmischung erklären ließe, sondern eine wesentliche, die auf gemeinschaftliche Abstammung deutet.174
Und so provisorisch auch viele der Überlegungen und theoretischen Ansätze waren, die Friedrich Schlegel 1808 zu Papier brachte, setzte sich die Annahme einer direkten Sprachverwandtschaft des Germanischen mit dem Indischen, Persischen, Lateinischen und Griechischen doch durch. Acht Jahre später stellte Franz Bopp sie mit seiner Arbeit Ober das Conjuga172 Eben darauf zielt Foucault ab, wenn er nach seiner Lektüre Schlegels prospektiv formuliert: „Künftig sind alle Sprachen gleich, Sie hben lediglich einen unterschiedlichen inneren Bau." (Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 348). 173 August Wilhelm Schlegel: Vorrede. In: Indische Bibliothek, Bd. I, H. l, S. XV. 174 Schlegel KFSA VIII, S. 115.
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tionssystem der Sansknttsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache™ auf eine systematische Grundlage und bereitete so den Weg für eine Institutionalisierung der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft samt ihres bis heute als Indogermanistik extistierenden Zweiges.176 Seit dem frühen 19. Jahrhundert gehört die Idee, daß sich die Sprachen der Völker verschiedenen Familien zuordnen lassen und dabei das Germanische zusammen mit dem Indischen und Persischen einer anderen Familie angehört als das Chinesische auf der einen und das AraboHebräische auf der anderen Seite, zum festen Bestand des Wissens über Sprachen — auch wenn die Entstehung und die epistemische Dimension dieser neuen Ordnung der Dinge normalerweise „am Rand unseres historischen Bewußtseins" bleiben.177 Ihre Auswirkungen auf die orientalistische Gesamtfiguration wäre indes marginal gewesen, wenn sich das Verwandtschaftspostulat auf den Phänomenbereich der Sprachen und ihrer Struktur beschränkt und nicht auch auf die kulturelle Ebene erstreckt hätte. Doch schon in der Terminologie Friedrich Schlegels scheint die Tendenz auf, den Strukturmerkmalen der verhandelten Sprachen einen kulturellen Eigensinn zuzuschreiben. Dem „Organischen" des Sanskrit, bei dem alles aus einem „lebendigefn] Keim" gebildet wird, steht das „Künstliche" des Chinesischen gegenüber, das „wie ein Haufen Atome" erscheint, „die jeder Wind des Zufalls leicht auseinandertreiben oder zusammenführen kann" und dessen „Zusammenhang eigentlich kein andrer, als ein bloß mechanischer" ist.178 Daß hier nahezu alle Topoi des in Kap. 3.1 skizzierten post-chinoisen China-Bildes wieder auftauchen und sich nahezu bruchlos in die sprachwissenschaftliche Logik einfügen, ist weder einer Eigenart Friedrich Schlegels geschuldet noch dem sinnstiftenden Potential der Metaphern.179 Denn die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den west-östlichen Sprachverwandtschaften des frühen 19. Jahrhunderts war von Anfang an mit kultur-, mythos- und völkergeschichtlichen Sphären assoziiert und schrieb sich in diese Ordnungen auf systematischer Ebene ein. 175 Frankfurt a. M. 1816. 176 Dazu differenziert: Grotsch: Das Sanskrit und die Ursprache, S. 101 ff. 177 Foucault: Die Ordnung /ifr Dinge, S. 343. 178 Schlegel KFSA VIII, S. 157ff. 179 Selbst die bei Herder aufgefundene, metaphorische Gleichsetzung von China mit dem Alten Ägypten findet sich bei Schlegel wieder — nämlich dort, wo er den kurzen Versuch unternimmt, seine Sprachverwandtschaftstheorie um die Dimension der Schrift zu erweitern: „Dies feine Gefühl [der organischen Sprache, A.P.] mußte dann mit der Sprache selbst zugleich auch Schrift hervorbringen; keine hieroglyphische nach äußern Naturgegenständen, malende oder bildernde, sondern eine solche, welche den innern Charakter der Buchstaben, wie er so deutlich gefühlt ward, nun auch in sichtlichen Umrissen hinstellte und bezeichnete." (Schlegel KFSA VIII, S. 151, Hervorh. v. mir).
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Nicht zufällig erschien im selben Jahr wie Schlegels Über die Sprache und Weisheit der Indier ein Buch, das den Titel Erste Urkunden der Geschichte oder allgemeine Mythologie trug und aus der Feder des heute fast vergessenen Gelehrten Johann Arnold Kanne (1773-1824) stammte, der 2ehn Jahre später eine Professur für orientalische Sprachen in Göttingen antreten sollte.180 Ausgestattet mit einem Vorwort von Jean Paul, bildete dieser Text den Auftakt zu einer Reihe von Publikationen, in denen die mythographische Tradition des 18. Jahrhunderts mit den sprachvergleichenden Verfahren des frühen 19. Jahrhunderts eine diskursiv ungemein produktive Melange einging.181 In direkter Folge erschien 1810 der erste Band der insgesamt über 2000 Seiten umfassenden Symbolik und Mythologie der alten Völker1*2 von Friedrich Creuzer, die zweibändige Mythengeschichte der asiatischen Welfä^1 von Joseph Görres, und Johann Arnold Kanne publizierte 1811 und 1813 zwei weitere mythographische Arbeiten, in denen orientalische Gegenstände eine prominente Stellung einnahmen.184 Wie Stefan Willer im Rekurs auf die explizite Programmatik der Autoren überzeugend dargestellt hat, liegt die Besonderheit dieser Mythographien in der Annahme der „unhintergehbaren Sprachlichkeit aller mythologischen Überlieferung".185 Die Sprache wird zum entscheidenden Konstruktionsprinzip, ja zur eigentlichen Modalität des Mythos, und daher — so die methodologische Vorgabe Johann Arnold Kannes - „werden sich mythologische und Sprachuntersuchungen nie trennen". Indem also die Ähnlichkeiten der verglichenen Mythologeme immer in Sprachen, insbesondere in mythologischen Namen aufbewahrt sind, werden die Archive der Mythographen zu Kompendien sprachlicher Ähnlichkeiten.186
180 Johann Arnold Kanne: Erste Urkunden der Geschichte oder allgemeine Mythologie. Mit einer Vorrede von Jean Paul. Bayreuth 1808. Erst jüngst hat Stefan Willer Kanne aus der Dachkammer romantischer Ästhetik- und Wissenschaftsgeschichte befreit und seine Schriften zum Gegenstand von denkgeschichtlichen Untersuchungen gemacht. Vgl. Stefan Willer: „übersetzt: ohne Ende". Zur Rhetorik der Etymologie bei Johann Arnold Kanne. In: Jäger/ Willer (Hrsg.): Das Denken der Sprache, S. 113-129; Willer: Poetik der Etymologie, S. 116-118. 181 Vgl. dazu die - allerdings stark imagologisch ausgerichtete - Darstellung in A. Leslie Willson: Mythical Image. The Ideal of India in German Romanticism. Durham N.( 1964, i.b. S. 93-110. 182 Friedrich Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen. Leipzig/ Darmstadt 1810-1812. 183 Joseph Görres: Mythengeschichte der asiatischen Welt. 2 Bde. Heidelberg 1810. 184 Pantheum derAeltesten Naturphilosophie, die Re/igion aller Volker. Tübingen 1811 und System der indischen Mythe oder Chronus and die Geschichte des Gottmenschen in der Periode des Vorruckens der Nachtgleichen. Nebst einer Uebersicht des mythischen Systems, als Beilage an den Verfasser von Adolph Wagner. Leipzig 1813. Vgl. Wilier: Poetik der Etymologie, S. 103-118. 185 Willer: Poetik der Etymologie, S. 107. 186 Wüler: Poetik der Etymologie, S. 103.
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Kanne, Creuzer und Görres wendeten in ihren mythographischen Studien und Kompendien dieselben vergleichenden Verfahren an wie die Gründungsväter der Indo-Germanistik in ihren komparativen Arbeiten, entwickelten analoge etymologische Topiken187 und arbeiteten letztlich auch an demselben Material — an den frühesten texdichen Zeugnissen der Völker. Schließlich war die Bestimmung eines locus ab etymologia für die sinnstiftende Reduktion der gesammelten Daten in der Mythographie ebenso konstitutiv wie in der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft. Wer diese loci finden wollte, der mußte sich — so die intrinsische Logik beider Diskursstränge - ins Jenseits der Zeitrechnung begeben, zu Büchern, die „auf dem historischen Urboden über dem Meeresgrund durch Menschenhände gegründet und erbaut" worden sind. Mit eben dieser Metaphorik leitet Joseph Görres seine bereits genannte Übersetzung des ersten Teils von Ferdusis persischem Helden-Epos Schah Nameh ein und schreibt weiter: Das Buch der Könige des Ferdussi, dessen alterthümlicher Theil hier in seinen großen Umrissen zum erstenmal in unserer Sprache erscheint, gehört zu dieser Gattung. Mit der Feder des Simurg geschrieben, jenes Wundervogels, der vieler Menschengeschlechter Thun gesehen, und in menschlicher Sprache die Kunde der Vergangenheit zu erzählen weiß, hat es aus seinem Munde die Geschichten der alten Zeiten weggenommen und singt nun Sagen von mehr als zwei Jahrtausenden.188
Daß sich die semantische Kohärenz dieser Passage allein der rhetorischen Multifunktionalität eines mythischen Riesenvogels verdankt, der als Speicher, orales (!) Medium und Aufschreibesystem zugleich firmiert, läßt die Schwierigkeiten erahnen, die vorhandenen - im Falle des Schah Nameh aus dem Mittelalter stammenden — Texte als Zeugen jenes „Urbodens" der Vorvergangenheit plausibel zu machen. Die Älteste Urkunde des Menschengeschlechts™ die Genesis, hatte die Alterslatte für etwaig mythische Stoffe hoch gelegt: Vorchristliche und entsprechend vorislamische Mythen als literarischer Gegenstand waren rar in den ohnehin raren arabischen, osmanischen und chinesischen Quellen. Und so kann die Euphorie nicht verwundern, mit der Literaten und Gelehrte in jenen Jahrzehnten die Übersetzungen jener indischen und persischen Texte aufnahmen, welche Kunde gaben von den Götter- und Heldengeschichten der Vorzeit. Neben Ferdusis Schah Nameh war dies vor allem die Bhagavad-Gita. Charles Wilkins hatte sie schon 1785 ins Englische übertragen,190 die erste deutsche Über187 Willer: Poetik der Etymologie, S. 118 ff. 188 Johann Joseph von Görres: Das Heldenbuch von Iran, Bd. l, S. II f. 189 Johann Gottfried Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. In: Herders SW 6 (1.-3. Teil),, S. 193-530; 7 (4. Teil), S. 1-172 (1774/1776). 190 The Eahagvad-Geeta or Dialogues ofKreeshna andArjoon. London 1785.
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Setzung fertigte Friedrich Majer an und publizierte sie 1802 in Klaproths Asiatischem Magazin, und von der kritischen Edition und lateinischen Übersetzung durch August Wilhelm Schlegel (1823) war Wilhelm von Humboldt so begeistert, daß er sie zum Anlaß für eigene Auseinandersetzungen mit der Bhagavad-Gita nahm.191 In diesen Texten fanden sich Geschichten von Göttern und Helden, von Magiern und Naturkulten; mit den Worten August Wilhelm Schlegels gesprochen: eben „die Denkmale des älteren, ich möchte sagen, des erzväterlichen Zeitraumes" und damit die „Grundpfeiler des ganzen [weltgeschichtlichen] Gebäudes",192 denen überdies eine verwandtschaftliche Beziehung zur eigenen Sprache und Kultur eingeschrieben werden konnte. Und wenn August Wilhelm Schlegel seine Vorrede zum ersten Heft der Indischen Bibliothek mit der Gewißheit beschließt: „Die Geschichte der Urwelt ist nicht durch eine unüberwindliche Kluft vor uns verschlossen: nur müssen wir durch die rechte Pforte zu ihren Weihungen eingehen",193 dann schlägt er, gestützt auf die Sprach- und Kulturverwandtschaft mit Indien und Persien, eben jene Brücke über den hermeneutischen Graben zwischen der deutschen Gegenwart und der indisch-persischen Vorvergangenheit, die auf den Säulen einer Tradition der Vertrautheit keinen Halt fand. Innerhalb der Altertumswissenschaft, die sich zeidich parallel zu den deutschen Orientwissenschaften als eigenständige Disziplin konstituierte und thematisch wie personell eng mit ihnen verbundenen war, stieß das vergleichende Verfahren indes auf harsche Kritik. Abgelehnt wurde zum einen die spekulative Methode, mit deren Hilfe vor allem auf mythen- und symbolgeschichtlicher Ebene die besagten Verwandtschaftslinien zwischen den alten Völkern gezogen wurden. Zum anderen gab es massive Einreden gegen die mit dem vergleichenden Verfahren um 1800 untrennbar verknüpfte These eines orientalischen Ursprungs der abendländischen, und damit auch der griechischen, Kultur. Hauptgegner in diesem altertumsorientwissenschaftlichen Methoden- und Ursprungsstreit - ein Meilenstein in der Geschichte der Polemik — waren Friedrich Creuzer auf Seiten der „Vergleicher" und Johann Heinrich Voß auf der Seite der historischkritisch arbeitenden Forschung.194 In der wissenschaftsgeschichtlichen 191 Wilhelm von Humboldt: Über die unter dem Namen Bhagavad-Gita bekannte Episode des Maha-bharata. Berlin 1826; [ders.:] Ober die Bhagavad-Gita. Mit Bezug auf die Beurtheilung der Schlegelschen Ausgabe im Pariser Asiatischen Journal. Aus einem Briefe des Herrn Staatsministers v. Humboldt. In: Indische BMothek, Bd. 2, H. 2, S. 218-58; H. 3, S. 328-72. 192 August Wilhelm Schlegel: Ober den gegenwärtigen Zustand der indischen Philologie. In: Indische Bibliothek^a. I, H. l, S. 24. 193 Bd. I,H. l, S. XVI. 194 Vgl. dazu nach wie vor die Dokumentation: Ernst Howald (Hrsg.): Der Kampf Hm CreuSymbolik. Eine Auswahl von Dokumenten. Tübingen 1926. Die Stationen des Streits
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Entwicklung der Altertumskunde setzte sich der Voß'sche Ansatz letztlich durch, während Creuzer später nur mehr ein Plätzchen als „Romantiker unter den Philologen"195 für sich beanspruchen konnte. Für die Ordnung der orientalischen Dinge in Deutschland allerdings war und blieb das vergleichende Auffinden von Verwandtschaften und Genealogien zwischen den Sprachen und Kulturen prägend. Denn es sind tatsächlich Verwandtschaftslinien, es sind Spuren des Eigenen, die dem deutschen Forscher am Beginn des 19. Jahrhunderts den Weg durch die „rechte Pforte" in die ganz und gar fremde mythische Vorzeit der orientalischen Völker weisen und die unüberbrückbare hermeneutische Distanz ausgleichen. Eben dieser Logik bedient sich auch Josef von HammerPurgstall, wenn er für eine günstige Aufnahme seiner Geschichte der schönen Redekünste Persiens und ihres Gegenstandes mit den Worten wirbt: Durch gründliches Sprachstudium ist die nächste Verwandtschaft der persischen und deutschen Sprache schon längst außer Zweifel gesetzt, und der bekannte Vers Seneca's bewährt, der die Perser vom Oxus und Araxes an die Elbe und an den Rhein versetzt. Wenn die Geschichte der persischen Litteratur sich in der europäischen überhaupt einen freundlichen Empfang versprechen darf, um wie günstiger muß derselbe nicht im deutschen Vaterlande ausfallen, da beyde Sprachen nicht nur gleichen Ursprungs, sondern auch in ihrer Ausbildung durch Rhetorik und Poesie eines ähnlichen Schicksals theilhaftig geworden [...].196
Im Zuge dieses zweiten, des altertumskundlichen, Strangs wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Orient rückte also der indisch-persische Teil des Morgenlandes in den Bereich dessen, was aus deutscher Perspektive auf der Achse kultureller Differenz dem Eigenen zugeschlagen werden konnte. Da sich diese Verwandtschaften aber nur über den Rückgriff auf eine sprach-, kultur- und mythengeschichuiche Vorvergangenheit Indiens und Persiens konstituieren ließen, vergrößerte sich zugleich der historische Abstand und damit auch die hermeneutische Distanz zu diesen Völkern. So steht letztlich die Abnahme an kultureller Differenz zwischen dem Deutschen und dem Indo-Persischen in umgekehrt propositionalem Verhältnis zur Steigerung der Fremdheit dieser Völker. Das wissenschaftliche Profil der heutigen Indologie und Iranistik legt beredtes Zeugnis von der historischen Wirkmächtigkeit dieses altertumswissenschaftlichen und sprachvergleichenden Konzepts einer indo-persischen Vorvergangenheit faßt zusammen: Conrad Bursian: Geschichte der classischen Philologe in Deutschland von den Anfingen bis %ur Gegenwart. Auf Veranlassung und mit Unterstützung Seiner Majestät des Königs von Bayern Maximilian II herausgegeben durch die Historische Comission bei der Königl. Akademie der Wissenschaften. München/ I^eipzig 1883, S. 569-584. Voß hat seine Polemiken gegen Creuzer noch selbst zu einer Anthologie zusammengestellt und publiziert: Johann Heinrich Voß: Antisymbolik. Stuttgart 1824. 195 Bursian: Geschichte der classischen Philologie, S. 562. 196 von Hammer: Geschichte der schönen Redekünste Persiens, S. VIII.
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ab, die noch immer den vernehmlichen, wo nicht ausschließlichen, Gegenstand dieser Fächer ausmacht. Doch um die Auswirkungen dieser Umverteilung innerhalb des Koordinatensystems vom Eigenen und Anderen, Vertrauten und Fremden auf die Ordnung des orientalistischen Diskurses zu Beginn des 19. Jahrhunderts tatsächlich zu erfassen, reicht das Verfolgen wissenschaftsgeschichdicher Traditionslinien allein nicht aus. Einen wesentlich weiter reichenden Einblick in die Dimension der topologischen Neuordnung des deutschen Orients gewährt die Rezeptionsgeschichte eines orientalischen Volkes, die ich trotz ihrer großen Bedeutung in der oben skizzierten orientalistischen Vorgeschichte zum 19. Jahrhundert unterschlagen habe.
4.5 Die Folgen: Metamorphose der Perser vom vertrauten Anderen zum fremden Eigenen Wenn sich im 17. und 18. Jahrhundert auch keine „Persophilie" feststellen läßt, die im selben Maße produktiv geworden wäre wie die Chinoiserie, die Ägyptomanie oder die Türkenmode jener Zeit, zählen die Perser doch zu den prominentesten orientalischen Völkern der frühen Neuzeit. Ähnlich wie China erschien auch Persien als Teil des Orients vergleichsweise spät am westeuropäischen Horizont, und es tat dies — wie die meisten anderen orientalischen Völker auch — in der staatspolitischen Form eines Großreichs. Als stärkster frühneuzeitlicher Gegenspieler des Osmanischen Reichs war Iran unter der schiitisch-islamischen Dynastie der Safawiden im frühen 16. Jahrhundert auf den weltpolitischen Plan getreten.197 Damit wurde es den europäischen Beobachtern zum ersten Mal seit der islamischen Eroberung des Sassaniden-Reiches im 7. Jahrhundert als „Persien" 197 Die Dürftigkeit der Forschungslage zum safawidischen Persien, seiner Geschichte, Politik, Kultur, seiner Beziehungen zu Europa, samt der europäischen Rezeption des Landes ist bedauerlich. Die einzige Monographie zur Persien-Rezeption stammt aus dem Jahre 1970 und besticht weder durch Umfang noch durch ein besonderes Reflexionsniveau: Sibylla Schuster-Waiser: Das safaividiscbe Persie» im Spiegel europäischer Reiseberichte (1502-1722). Untersuchungen %ur Wirtschaft*- und Handelspolitik. Baden-Baden 1970. Und selbst in einschlägigen Überblicksdarstellungen zur Geschichte des Islam ist das Safawidische Persien unterrepräsentiert. Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive betrachtet, erhält diese große Forschungslücke selbst jedoch eine interessante Signifikanz. Denn sie ergibt sich nahezu zwangsläufig aus der vom frühen 19. Jahrhundert herrührenden Ausrichtung der Iranistik auf die vorislamische Frühzeit Persiens einerseits und dem primär über das Element des Arabischen bestimmten Gegenstandsbereich der Islamwissenschaft andererseits, die trotz ihrer soziologischen Wende zu Beginn des 20. Jahrhunderts hierin noch deutlich in der Tradition der bibelwissenschaftlichen Orientalistik des ausgehenden 18. Jahrhunderts steht. Das islamische Persien der Safawiden liegt somit im toten Winkel beider Fächer.
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auch staatlich greifbar.198 Die Kontakte der europäischen Staaten zum safawidischen Persien der Frühen Neu2eit hatten in erster Linie die Form von Handelsbeziehungen. Denn nachdem Versuche der persischen Regierung, Bündnisse mit europäischen Staaten gegen die Osmanen einzugehen, gescheitert waren, und es seit 1639 auch keine kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Safawiden und Osmanen mehr gab,199 rückten politische Interessen im Verhältnis zwischen Iran und Europa schnell in den Hintergrund. Das Land exportierte Seide, und da der Seidenhandel Monopol des Schahs war, führte jeder europäische Weg zu Handelsverträgen über den persischen Hof, der seit dem 17. Jahrhundert in Isfahan residierte.2011 Das lukrative Geschäft des Seidenhandels brachte verschiedene europäische Fürsten und Könige im 17. Jahrhundert dazu, Gesandtschaften nach Persien zu schicken. Unter ihnen war auch der Herzog von HolsteinGottorp, dessen Gesandtschaft der Jahre 1633-39 neben einigen Kaufleuten auch den Dichter Paul Fleming und den Gelehrten Adam Olearius (1599-1671) umfaßte. Beide kehrten nach dem Abbruch der handelspolitisch gescheiterten Unternehmung heim, und 1647 veröffentlichte Adam Olearius die erste Fassung seines Berichts Oft Begehrte Beschreibung der Nennen Orientalischen Reise, die auch einige Gedichte Flemings enthielt und - mehrfach erweitert — immer neue Auflagen erfuhr.201 Zusammen mit den 1617 in Rom erschienenen und 1674 ins Deutsche übersetzten lebendigen Schilderungen des Lustreisenden Pietro della Valle202 blieb der eher sachlich gehaltene Reisebericht des Olearius bis ins 19. Jahrhundert hinein die einflußreichste Quelle für Persien-interessierte Wissenschaftler, Dichter 198 Noch als Marco Polo das Land Ende des 13. Jahrhunderts bereiste, war es Teil der Mongolenreiche. Zur Geschichte des safawidischen Persien vgl. Der Islam II. Die islamischen Reiche nach dem Fall von Konstantinopel. G.E. von Grunebaum (= Fischer Weltgeschichte, Bd. 15). Frankfurt a. M. 131999, S. 160-176. Einen guten Einblick in die Herrscherfolge und die staatliche Ordnung der Safawiden bietet auch Schuster-Waiser: Das safaividische Persien im Spiegel europäischer Reiseberichte, S. 9-48. 199 Vgl. Josef Matuz: Das osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte. Darmstadt M996,S. 167. 200 Zur europäischen Handelspolitik mit dem persischen Reich vgl. Schuster-Waiser: Das safaividische Persien im Spiegel europäischer Reiseberichte, S. 81-91. 201 Adam Olearius: Offt begehrte Beschreibung Der Neiven Orientalischen Reise, So durch Gelegenheit einer Holsteinischen Legation an den König in Persien geschehen : Worinncn Derer Orter vnd Länder, durch welche die Reise gangen, als fürnemblich Rußland, Tartarien vnd Persien, sampt jhrcr Einwohner Natur, Leben vnd Wesen fleissig beschrieben, vnd mit vielen Kupfferstücken, so nach dem Leben gestellet, gezieret. Jtem Ein Schreiben des WolEdeln c. Johan Albrecht Von Mandelslo, worinnen dessen OstJndianische Reise über den Oceanum enthalten. Zusampt eines kurtzen Berichts von jetzigem Zustand des eusserstcn Orientalischen KönigReiches Tzina / Durch M. Adamum Olearium, Ascanium Saxonem, Fürsti: Schleßwig-Holsteinischen Hoff-mathemat. Schleßwig 1647. Mandelslos Bericht über dessen Indienreise koppelte Olearius in der 1656 publizierten, überarbeiteten Fassung seiner eigenen Reisebeschreibung aus und veröffentlichte sie 1658 als eigenständigen Text.
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und Staatsmänner.203 Befördert durch diese Berichte entstand bereits im 17. Jahrhundert das - den Chinesen, Türken und Ägyptern durchaus analoge — Bild von Persien als einer höfischen Kultur. Und es war vor allem durch die rigide Zentralisierungspolitik von Abbas I., „dem Großen" (1587-1629)204 begründet, im Zuge derer in der Hauptstadt Isfahan ungemein prächtige Repräsentationsbauten entstanden, daß Persien im europäischen 17. und 18. Jahrhundert primär über seine beeindruckenden Palast- und Gartenanlagen rezipiert wurde.205 Olearius selbst entwarf nach seiner Rückkehr ein „persisches Haus" für den Park von Schloß Gottorp (1651-54)206 und in den architektonischen Studienbüchern des 18. Jahrhunderts bildeten persische Bauten neben türkischen und chinesischen eine eigene Kategorie.207 Das städtisch-höfische Persien war es auch, das — vermittelt über die Berichte französischer Reisenden in das Safawiden-Reich, vor allem Jean Chardins und Jean Baptiste Taverniers — der spätere Staatstheoretiker Montesquieu aufnahm und in seinem international einflußreichen Briefroman Leftm Persanes verarbeitete, der 1711 anonym in Amsterdam erschien.208 Indem Montesquieu zwei persische Adelige ins absolutistische Frankreich reisen und sowohl einander als auch den in Persien Daheimgebliebenen brieflich von ihren Erlebnissen in der Fremde berichten ließ, kehrte er die Rollenverteilung der vertrauten europäischen Reisebeschreibungen nach 202 Pietro della Valle: Reise-Beschreibung in Persien und Indien. Nach der ersten deutschen Ausgabe von 1674 zusammengestellt und bearbeitet von Friedhelm Kemp mit Goethes Essay über Pietro della Valle aus dem West-östlichen Divan. Berlin 1987. 203 Noch Goethe stützte sich in der Vorbereitung seines West-östlichen Divan auf den Bericht des Olearius, und zwar in einer Ausgabe von 1669, die neben dem Bericht Mandelslos auch eine Übersetzung der Erzählsammlung Golestan (Rosengarten) durch Olearius, die der später auch in Deutschland so berühmt gewordene persische Dichter Sa'di Mitte des 13. Jahrhunderts verfaßt hatte, und erwähnt sie lobend in einem dem Olearius gewidmeten Kapitel der Noten und Abhandlungen. Vgl. dazu Goethe FA I 3.1, S. 267, den Kommentar von Hendrik Birus (Goethe FA I 3.2, S. 1560). Diese Übersetzung war die erste deutsche aus dem persischen Original (die 1636 in Tübingen erschienene bestand in einer Übertragung aus dem Französischen) und trug den Titel: Persianischer Rosenthal in welchem viel lustige Historien, scharfsinnige Reden und nützliche politische Regeln und Sprüchwörter in persianischer spräche beschrieben. 204 Er war es auch, der die Wirtschaftsbeziehungen zu den europäischen Staaten intensivierte. Vgl. Grunebaum: Der'Islam II, S. 167ff. 205 Zu den Bauprojekten Abbas I. aus kunst- und architekturgeschichtlicher Perspektive vgl.: Janine Sourdes-Thomine/ Bertold Spuler: Die Kunst des Islam. Frankfurt a. M./ Berlin 1990, S. 348-363. 206 Koppelkamm: erimaginäre Orient, S. 31. 207 Dazu exemplarisch: Koppelkamm: Der imaginäre Orient, S. 39. 208 Zur Entstehungsgeschichte der Leftres Persanes, den Quellen und Einflüssen vgl. das aufschlußreiche Nachwort von Jürgen von Stackelberg in: Charles de Montesquieu: Perserbriefe. Aus dem Französischen von Jürgen von Stackelberg. Mit Anmerkungen zum Text und einem Nachwort. Frankfurt a. M. 1988, S. 325-346.
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Persien um und nutzte den so entstehenden ,anderen Blick' auf die eigene Gesellschaft als satirisches Mittel. Dieses literarische Verfahren fiktivorientalischer Perspektivierung Europas - von dessen genauer Funktionsweise im Laufe dieser Studie noch ausführlicher die Rede sein wird (vgl. Kap. 7.5.3) - war in der Literatur des 18. Jahrhunderts durchaus gängig. Und wenn die Perser als Protagonisten darin auch nie die Prominenz ihrer chinesischen Nachbarn erreichten, besaßen die ~Lettres Persanes doch Vorbildcharakter für die Entwicklung einer literarischen Form, die das Potential des Orients als differenter und dem Abendland zugleich zivilisatorisch analoger Kultur nutzte.209 Das Orient-Konzept, das diesen interkulturellen Briefromanen zugrunde lag und nach welchem in der Frühen Neuzeit die Perser ebenso prozessiert wurden wie die Chinesen oder Türken, fußte auf der oben bereits diskutierten Wahrnehmung der orientalischen Protagonisten als kulturell zwar differente, aber zugleich vertraute Zeitgenossen. Daher rührte die viel genutzte Möglichkeit, vertraute Gesellschaftsordnungen, Philosopheme oder Staats- und Regierungsformen in den morgenländischen Regionen wiederzufinden. Den bemerkenswerten Umstand, daß weder die Chinoiserie noch die Agyptomanie und Türkenmode der Frühen Neuzeit den Ausgang des 18. Jahrhundert überlebte und daß die Rezeption keines dieser orientalischen Völker während der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert ihre vormalige ästhetische und kulturelle Produktivität auch nur annähernd wieder erreichte, hatte ich am Ende des letzten Kapitels auf eben jene Projektion vertrauter absolutistischer, aufklärerischer und rokoko-ästhetischer Muster in den Raum dieses Orients zurückgeführt sowie auf die Umwertung dieser Muster am Ende der Frühen Neuzeit. Die Tatsache allerdings, daß die im 17. und 18. Jahrhundert mit nicht geringerer Euphorie rezipierten und auf diesem Wege nicht weniger absolutistisch und aufklärerisch eingefärbten Perser ihre Erfolgsgeschichte dennoch weit ins 19. Jahrhundert hinein fortschreiben konnten, deutet auf eine machtvolle diskursive Gegenbewegung hin, die eng mit den neuen orientwissenschaftlichen Topologien verbunden ist: Denn innerhalb des Systems der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft und Mythographie wurde es möglich, die Perser von den Inskriptionen ihrer ästhetischen, philosophischen und politischen Gebrauchsgeschichte zu befreien und sie — zusammen mit den neu entdeckten Indern - als Teil jener „orga209 Vgl. dazu besonders: Winfried Weißhaupt: Europa sieht sich mit fremdem Blick. Werke nach dem Schema der „Lettres persanes" in der europäischen, insbesondere der deutschen Uteratur des 18. Jahrhunderts. 3 Bde. Frankfurt a. M./ Bern/ Las Vegas 1979; ebenso das Kapitel „Besuch aus Fernost - Der Chinese als Kritiker Europas in den satirischen Reisebriefen" in: Berger: China-Bild undChina-Mode im Europa der Aufklärung,^,. 135-170.
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nischen" Sprach- und Kulturfamilie zu begreifen, der auch das Griechische, Lateinische und Germanische zugerechnet wurden. In diesem Koordinatensystem fanden sich nun die vormals als aufgeklärt-absolutistisch wahrgenommenen Perser auf einer Position wieder, die der ihrer ebenso kodierten chinesischen Brüder diametral gegenüberstand. Während sich nämlich im Falle der Kategorisierung der chinesischen Sprache — wie oben an der Terminologie Friedrich Schlegels gezeigt210 — die überkommenen Topoi des ,Rationalen' und kunstvollen' zu solchen des ,Mechanischene und ,Künstlichen' wandelten und an der Sprachstruktur des Chinesischen in neuer Weise sinnfällig wurden, fand man im Persischen mit einem Male jenen „lebendigen Keim"211 und jenes organische Bildungsprinzip, das die gesamte indogermanische Sprachfamilie vor allen anderen auszeichnete. Bedingung der Möglichkeit des persischen Vorzeichenwechsels war allerdings ein Wechsel der deutschen Perspektive auf dieses Volk, in der es seine Zeitgenossenschaft verlor und zurückgeführt wurde auf seine mythische Vorvergangenheit. Denn nur aus dieser Urzeit ließen sich jene Verwandtschaften, die organischen Büdungsprinzipien von Sprache und Mythos herleiten. Die Idee Persiens als einer gegenwärtigen Größe verschwand und mit ihr auch die Möglichkeit eines unmittelbaren, verstehenden Zugriffs.
210 Zu vergleichbaren, wenn auch weniger bunten, Bildern greift später auch Wilhelm von Humboldt, wenn er sich in seiner Schrift Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus, die der Gelehrte als Einleitung zu seinem posthum veröffentlichten Werk Ueber die Kawi-Sprache auf der Insel Java konzipiert, aber bereits zuvor separat publiziert hatte, dem Chinesischen zuwendet. Bezeichnenderweise finden sich diese Ausführungen in dem Kapitel „Der weniger vollkommene Sprachbau". „In dem entscheidensten Gegensatze", so schreibt Wilhelm von Humboldt, „befinden sich unter allen bekannten Sprachen die Chinesische und das Sanskrit, da die erstere alle grammatische Form der Sprache in die Arbeit des Geistes zurückweist, das letztere sie bis in die feinsten Schattirungen dem Laute einzuverleiben scheint." (Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Hrsg. v. Donatella Di Cesare. Paderborn/ München/ Wien/ Zürich 1998, S. 378. Zur Publikationsgeschichte vgl. ebd. S. 129ff.). 211 Schlegel KFSA VIII, S. 157.
5. Möglichkeitsräume des Orientalismus Eben diese Transformation, die Metamorphose von vormals zeitgenössischen östlichen Nachbarn in historische oder sogar vorgeschichtliche Völker, durchliefen auf der Wende zum 19. Jahrhundert sämtliche Länder des ,deutschen Orients' — bis auf eine Ausnahme, von der noch die Rede sein wird. Das frühneuzeidiche Morgenland, dessen Wahrnehmung durch klare Parameter der Alterität bestimmt war, die auf nicht minder deutlicher Vertrautheit fußten, verwandelte sich in einen historischen und sprachlichen Raum, der sich dem unmittelbaren Zugriff verschloß, zu dem man nur mehr mit Hilfe engagierter hermeneutischer Brückenbautätigkeit gelangte und zu dessen Verständnis und Erläuterung erstmalig ein institutionalisiertes Wissen geschaffen wurde. Selbst dezidiert zeitgenössische Protagonisten, wie etwa deutsche Juden und im übrigen auch die Sinti und Roma,1 konnten als direkter Widerschein der fremden orientalischen Vorvergangenheit vorgestellt werden. Dieser in historische Ferne gerückte Orient präsentierte sich nun nicht mehr allein als Stoff, als Pool von Figuren, Dingen und Ereignissen, sondern er rückte als Form ins Zentrum der deutschen Aufmerksamkeit, als orientalischer Modus der Rede. Zugleich aber löste sich innerhalb dieses historisch und sprachlich fremd gewordenen Orients l Ein anschauliches Beispiel für die diskursive Einbindung von ,Zigeunern' in orientalische Genealogien bietet Achim von Arnims deutsch-ägyptische Reichsallegorie Isabella von Ägypten. Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliehe, die Auftakterzählung zu seiner Novellensammlung von 1812 (Achim von Arnim: Isabella von Ägypten, Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliebe. In. Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Bd. 3: Sämtliche Erzählungen 1802-1817. Hrsg. v. Renate Moering, S. 622-744). Arnim entspinnt hier die Geschichte von Isabella, Tochter des unschuldig gehenkten Zigeunerheizogs Michael, die - nach einer verwirrenden Romanze mit dem jungen Kaiser Karl und allen Anfechtungen durch einen Alraun und einen Golem zum Trotz — ihr Volk schließlich aus dem deutsch-niederländischen Exil in die ägyptische Heimat zurückführt, einem Sohn Karls das Leben schenkt und mit ihm am Nil ein neues Herrschergeschlecht in direkter Nachfolge des pharaonischen Königtums gründet. Vgl. dazu Andrea Polaschegg: „Genealogische Geographie. Die orientalistische Ordnung der ersten und letzten Dinge in Achim von Arnims Isabella von Ägypten". In: Athenäum. Jahrbuch ßir Rumantik 2005. Zur Rezeption der Sinti und Roma in der deutschen Literatur um 1800 vgl. die detaillierte Studie von Claudia Breger, deren Analyseparameter allerdings im Fahrwasser der Saidschen Imperialismuskritik verbleiben und daher die diskursive Sytematik einer Orientalisierung der Zigeuner nicht sichtbar machen. (Claudia Breger: Ortlosigkeit des Fremden „Zigeunerinnen" und „Zigeuner" in der deutschsprachigen Literatur um 1800. Köln/ Weimar/ Wien 1998).
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der persisch-indische Teil aus dem Bereich des Anderen' heraus und rückte in den Einzugsbereich des ,Eigenen'. Auf dem neuen Feld des polymorphen Ursprungs von Sprachen, Völkern und Mythen schienen nun Verwandtschaftslinien auf, die von der deutschen Gegenwart zur indopersischen Vorvergangenheit führten und über diesen urzeitlichen Knotenpunkt wieder in die Gegenwart hinein weisen konnten. Die Auswirkungen dieser Verschiebungen der Achsen von DIFFERENZ (das ,Eigene'/ das ^Andere4) und DISTANZ (,das Vertraute'/ ,das Fremde*) auf die Ordnung des orientalistischen Diskurses im frühen 19. Jahrhundert sind nicht zu überschätzen. Auch bilden sie ohne Zweifel eine wichtige diskursgeschichtliche Voraussetzung für die Gestalt des deutschen Orientalismus im 20. und frühen 21. Jahrhundert — auch wenn er bis dahin noch einige weitere Paradigmenwechsel durchlaufen mußte. Zugleich aber hieße es, die Bedingungen und Verfahren von Sinnproduktion gründlich mißzuverstehen, wollte man dieser Neuordnung von DISTANZ und DIFFERENZ, von Verstehen und Identität, zuschreiben, sie habe ein neues Orientfe'/i/ generiert. Vielmehr umreißen die so gefaßten Achsen einen neuen Möglichkeitsraum orientalistischer Realisationen, ästhetischer Umsetzungen und weltanschaulicher Positionen, der durch sie zwar strukturiert, aber keinesfalls determiniert wurde. Besonders im Verbund mit der Binnendifferenzierung des deutschen Orients, mit seiner Aufteilung in verschiedene Völker mit ihren Kulturen, Kulten, Sprachen und Literaturen, die jeweils immer schon in wissenschaftlichem, weltanschaulichem und ästhetischem Gebrauch gewesen sind, schufen diese Achsen ein ungemein produktives Spielfeld. Hier ließen sich Genealogien entwerfen, Ursprünge, Identitäten und Wesenhaftigkeiten konstituieren, die sich jedoch bei aller Unterschiedlichkeit stets innerhalb desselben epistemischen Gravitationsfeldes von DISTANZ und DIFFERENZ bewegten. So hätten bekanntermaßen die weltanschaulichen Positionen Friedrich Schlegels und Heinrich Heines unterschiedlicher kaum sein können, doch auf das Spielfeld des orientalistischen Diskurses gestellt, werden mit einem Mal die gemeinsamen orientalistischen Parameter dieser Positionen unübersehbar: Während es nämlich Friedrich Schlegel unternahm, ein Christentum katholischer Provenienz qua Analogie der Bildungsgesetze aus der indischen Urzeit herzuleiten und dabei die hebräische Tradition so weiträumig zu umschiffen, daß er in seinen Studienheften sogar die Frage aufwarf „Liegt der Religion etwas daran, ob Enos oder Noah nicht Hebräer sondern Indier waren?",2 suchte Heine in seinen Geständnissen den „Charakter des jüdischen Volkes" darin festzumachen, daß es „immer sehr große 2 Friedrich Schlegel: Orientalia 1806. In: KFSA II.l: OnentaKa. Mit Einleitung und Kommentar hrsg. v. Ursula Struc-Oppenberg. Darmstadt 2002, S. 31-82, hier: S. 74 (Hervorh. i. O.).
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Wahlverwandtschaft [sie!] mit dem Charakter der germanischen und einigermaßen auch der keltischen Rasse hatte." Und weiter heißt es da: Judäa erschien mir immer wie ein Stück Okzident, das sich mitten in den Orient verloren. In der Tat, mit seinem spiritualistischen Glauben, seinen strengen, keuschen, sogar asketischen Sitten, kurz, mit seiner abstrakten Innerlichkeit, bildete dieses Land und sein Volk immer den sonderbarsten Gegensatz zu den Nachbarländern und Nachbarvölkern, die, den üppig buntesten und brünstigsten Naturkulten huldigend, im bacchantischen Sinnenjubel ihr Dasein verluderten. Israel saß fromm unter seinem Feigenbaum und sang das Lob des unsichtbaren Gottes und übte Tugend und Gerechtigkeit, während in den Tempeln von Babel, Ninive, Sidon und Tyrus jene blutigen und unzüchtigen Orgien gefeiert wurden, ob deren Beschreibung uns noch jetzt das Haar sich sträubt!3
Beide Autoren greifen für ihren Konstitutionsversuch west-östlicher Verwandtschaften auf dasselbe diskursive Regelwerk zurück, beide bewegen sich im selben Möglichkeitsraum eines historisierten Orientalismus, der ihnen ihre jeweilige weltanschauliche Positionierung erlaubt. Das Zusammenspiel der Konzepte von Verwandtschaft und Vergangenheit schaffte - ohne daß es in den literarischen oder wissenschaftlichen Texten notwendig thematisch werden mußte - somit ein Feld möglicher orientalistischer Bezüge und Positionen, deren Vielfalt sich nicht zuletzt der großen Zahl orientalischer Völker verdankte, die sämtlich als Kulturvölker hohen Alters rezipiert wurden. Auf diesem semantisch hochgradig gesättigten Feld konnten nicht nur Ursprünge und Genealogien des ,Eigenen£ entworfen, sondern auch historisch-kulturelle Stellvertreterkriege inszeniert werden, indem man einzelne orientalische Völker gegeneinander aufstellte; und das nicht nur, um sich — wie im Falle der Anti-Chinoiserien des frühen 19. Jahrhunderts — gegen überkommene ästhetische oder politische Konzepte abzusetzen. Heines Formation der Hebräer gegen die Babylonier oder Assyrer und Friedrich Schlegels Aufmarsch der Inder gegen die Hebräer lassen sich vielmehr als orientalistische Kämpfe im synchronen Raum von Weltanschauungen, kulturellen Selbsterzählungen und ästhetischen Programmen lesen. Gleiches gilt für August Wilhelm Schlegels Unternehmung, die Inder gegen die Ägypter in Stellung zu bringen: VermuthJich war die Sprache der alten Nil-Anwohner ursprünglich eine arme und rohe Africanische Mundart, nur durch priesterliche Kunst, wie das Volk selbst, gezähmt, und zum Ausdruck höherer Begriffe gleichsam magisch umgestaltet. Die indische Sprache hingegen gehört zu dem edelsten Stamme, und hat unter den ihr im Bau und Wesen verwandten Sprachen zugleich das ursprüngliche Gepräge am reinsten bewahrt, und die höchste in sich geschlossene Vollendung erreicht.4 3 Heinrich Heine: Geständnisse. In: ders.: Werke und Briefe in %ehn Bänden. Hrsg. v. Hans Kaufmann. Berlin/ Weimar 21972, Bd. 7, S. 141 f. 4 August Wilhelm Schlegel: Über den gegenwärtigen Zustand der indischen Philologie. In: Indische BMothek,Ka. l, H. l, S. 6.
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Es ist der semantische Überschuß der orientalischen Völker, der auch die Wege der wissenschaftlichen Verhandlung ihrer Sprachen oder Mythen stets mit bestimmt und die besagten Stellvertreterkriege nicht selten hinter dem Rücken ihrer orientalistischen Feldherren ausbrechen läßt. Es käme einer Überschätzung der Beherrschbarkeit solcher diskursiver Formationen durch das wissenschaftliche oder literarische Autorsubjekt gleich, wollte man jene innerorientalischen Frontenbildungen monolinear auf eine antijüdische, anti-ägyptische oder gar anti-orientalische Intention zurückführen. Gleichwohl bestand die Option, das kontrastive Potential des binnendifferenzierten orientalistischen Spielfeldes zu nutzen. Tatsächlich findet sich innerhalb des orientalistischen Diskurses im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert kaum eine zusammenhängende Äußerung, die Zuordnungen und Oppositionsbildungen dieser Art nicht realisiert, wobei die Parameter von Vergangenheit und Verwandtschaft stets die leitenden sind. Selbst Josef von Hammer-Purgstall aktualisiert entsprechende Muster, wenn er die Vorrede zu seiner Geschichte der schönen Redekünste Persiens mit einer opulenten Allegorie der persisch-islamischen Dichtung schmückt: Die rothe Rose des erotischen Liedes, und die weiße Rose der mystischen Ode flechten sich zum schönsten Blumendiademe um das Haupt persischer Dichtkunst, die in Sternen funkelndem Prachtgewande auf einer von Hippogryphen und Simurgen gezogenen Wagenmuschel, Rosen und Perlen verstreuend, von dem Paradiese der Erde zu dem ewigen Eden auffährt; Inder und Magier tragen das heilige Feuer des lebendigen Wortes Serdutscht's vor ihrem Sigesgespanne, Araber und Türken folgen demselben in diamantenen Ketten gefesselt mit den Bildern von Ländern und Städten, die, durch das Schwert persischer Wohlredenheit erobert, ihrem weltherrschenden Scepter huldigen. So zieht sie triumphierend durch Regenbogen und Milchstraßen, durch Sternenauen und Sonnengärten, umschwebt von den Genien des ältesten Mythos, in den Tempel der Unsterblichkeit ein, und die Beschreibung ihres Triumphes ist der Gegenstand gegenwärtiger Geschichte.5
Daß der gefeierte Orient-Gelehrte die disparaten Topoi von Dichtung, Mythos, Ursprung, Krieg, Rhetorik und Kultus mit Fiilfe kühnster Katachresen zu einem Text zusammenfügt, dem man dennoch seine Kohärenz nicht absprechen kann, zeugt von dem enormen sinnstiftenden Potential der zugrundeliegenden Ordnung der orientalischen Dinge. Die Konzepte von Verwandtschaft und Vor-Vergangenheit — und nur sie — lassen „Hippogryphen und Simurgen" in trauter Eintracht nebeneinander fliegen, „Inder und Magier" im selben Tempel Dienst tun und mit ihrem „heilige[n] Feuer" dem Siegeszug mittelalterlicher Dichter wie Hafis, Saadi oder Ferdussi auf dem Weg in die Unsterblichkeit leuchten. Gleichzeitig mit der Möglichkeit, Genealogien und kulturelle Verwandtschaftslinien aus dem fremd gewordenen Orient heraus ins Einzugsgebiet 5 von Hammer: Geschichte der schönen Redekünste Persiens, S. VI.
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des Eigenen hinein zu ziehen oder innerhalb des historischen Morgenlandes Völker gegeneinander in die Schlacht zu schicken, blieb indes auch während des 19. Jahrhunderts die Option bestehen, das Gesamtkonzept ,Orient' als homogene Einheit und vertraute Größe zu denken und ästhetisch zu aktualisieren. Gleichsam als Gegenbewegung zur beschriebenen Ausdifferenzierung des deutschen Orients und zum Fremd-Werden seiner Völker konnten — gestützt auf die integrierende Kraft dieses über Familienähnlichkeiten geschaffenen Meta-Konzeptes - nach wie vor einzelne Völker als pars pro toto für den gesamten Orient gesetzt, untereinander ausgetauscht und das auf diese Weise konstituierte Morgenland vollständig der Sphäre des Vertrauten zugeschlagen werden. Allerdings war diese Möglichkeit an bestimmte Medien und Gattungen geknüpft, deren Eigengesetzlichkeit der oben beschriebenen Dynamik einer historischen und sprachlichen Ver-fremdung des Orients entgegenwirkte und die Spezifik einzelner morgenländischer Völker auflöste. Wie sinnhaft ein Bezug auf die Großkategorie ,Orient' als vertrauter Größe trotz der gleichzeitigen starken wissenschaftlichen und ästhetischen Betonung der Spezifik und Fremdheit der einzelnen orientalischen Völker und Sprachen auch nach dem linguistic turn des deutschen Orientalismus noch immer sein konnte, macht die Aufführungsgeschichte von Friedrich Schillers Tragikomödie Turandot in besonderer Weise anschaulich.
5.1 Von Peking nach Schkas: Schillers Turandot Im Spätherbst 1801 hatte der rekonvaleszente Dichter in vorsichtiger Wiederannäherung an „eine ganz freie productive Thätigkeit"6 nach einem Märchendrama aus der Feder Carlo Gozzis (1720-1806) gegriffen, genauer gesagt nach dessen deutscher Prosa-Übersetzung,7 um es für die Weimarer Bühne neu zu bearbeiten. ,,[W]ir brauchen", so schreibt Schiller am 16. November an Christian Gottfried Körner, „ein neues Stück und womöglich aus einer neuen Region; dazu taugt nun dieses Gozzische Mährchen vollkommen."8
6 Schiller an Körner v. 2. November 1801 (Schüler NA 31, Nr. 78, S. 68). 7 Gozzis Turandot wurde am 22.1.1762 in Venedig uraufgeführt, allerdings fehlen Hinweise darauf, daß Schiller bei seiner Bearbeitung tatsächlich das Original konsultiert hat. Nachweislich hat er sich auf die Prosa-Übersetzung von August Clemens Werthes von 1775/77 gestützt, die Hans Heinrich Borchert zusammen mit Schillers Text abgedruckt hat. Vgl. Turandot, Prinzessin von China. Ein tragikomisches Märchen nach Gozzi von Schiller. In: Schiller NA 14 II, S. 1-146, sowie den Kommentar ebd., S. 290ff. 8 Schüler an Körner v. 16. November 1801 (Schüler NA 31, Nr. 81, S. 71).
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„Neu" ist der Schauplatz der Turandoi indes allein auf dem Weimarer Theater jener Jahre, denn mit seinem chinesischen Handlungsort steht das Stück in der großen Tradition der Theater-Chinoiserie des 18. Jahrhunderts, die von Schiller zu ihrem späten Abschluß geführt wird.9 Stoffgeschichtlich geht Turandot innerhalb Europas sogar zurück auf das frühe 18. Jahrhundert, denn das Märchen entstammt der berühmten Sammlung L·es Mille et unjour, einer freien Bearbeitung, Neudichtung und zyklischer Komposition arabischer und persischer Vorlagen, die der französische Orientalist Frangois Pen's de la Croix ab 1710 in expliziter Nachfolge von Gallands Tausendundeiner Nacht ebenso fälschlich wie erfolgreich als Übersetzung persischer Märchen auf den Markt gebracht hatte.1" Aus dieser vermeintlich authentischen Quelle bezog Gozzi das narrative Grundgerüst seiner Tragikomödie, das Schiller weitgehend unangetastet übernahm und das hier noch einmal wiedergegeben sei: Der junge Khalaf, Sohn des Mongolenherrschers Timur, gelangt nach Peking und erfährt dort von der grausamen Strategie, welche die wunderschöne Tochter des Kaisers Altoum ersonnen hat, um sich ihrer Verheiratung zu entziehen: Ihre Hand erhält nur, wer drei Rätsel zu lösen vermag, und jedes Scheitern wird mit Enthauptung geahndet. Trotz der mit abgeschlagenen Köpfen unglücklicher Freier gezierten Stadtmauer, die vom ungebrochenen Erfolg der Strategie Turandots zeugt, verliebt sich Khalaf unsterblich in ein Bild der Prinzessin und geht die Freierprobe ein. Er löst die Rätsel, doch nachdem Turandot in ihrer Verzweiflung ob der drohenden Vermählung mit Selbstmord droht, erklärt sich Khalaf bereit, ihr einen letzten Ausweg aus der ehelichen Verbindung zu ermöglichen und gibt ihr seinerseits ein Rätsel auf: Wenn sie seinen Namen und seine Herkunft errate, sei sie von allen \rerpflichtungen entbunden. Mit Hilfe ihrer Sklavin gelingt es Turandot, Khalaf sein Geheimnis zu entlocken, doch als sie seine maßlose Enttäuschung darüber mit ansehen muß, wird ihr Herz von Mitgefühl und Liebe ergriffen, und sie gibt sich ihm aus freien Stücken zur Frau.
Schiller bemühte sich bei seiner Bearbeitung, den von ihm in Gozzis Stück diagnostizierten Mangel „an einer gewissen Fülle, an poetischem Leben" und die „pedantische Steifigkeit" der Figuren mit Hilfe stärkerer Charakterzeichnung auszugleichen und dem Text überdies „durch eine poetische Nachhülfe bei der Ausführung einen höheren Werth zu geben."11 Diese Bemühungen konzentrierten sich in erster Linie auf die Gestaltung der 9 Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 219. 10 Fran£ois Petis de la Croix: l^es Mille et unjour, contespersons. Paris 1710-1712. Im folgenden zitiert aus der deutschen Ausgabe: Francois Petis de la Croix: Tausendundein Tag. Persische Märchen. Aus dem Französischen übersetzt von Marie-Henriette Müller, Nachwort von Hartmut Fähndrich. Zürich 1993. Die Geschichte von Turandot trägt hier den Titel Geschichte von Khalaf und der Prinzessin von China ( S. 152-251). 11 Schiller an Körner v. 16. November 1801 (Schiller NA 31, Nr. 81, S. 71).
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Titelfigur, die sich unter den Händen des Dramatikers tatsächlich in eine tragische Heldin verwandelte.12 Denn wo Go2zi in treuer Nachfolge des Petis de la Croix die Prinzessin allein aus Verstocktheit und grausamer Launenhaftigkeit die Köpfe ihrer Freier fordern ließ,13 leitet Schiller ihr Handeln aus edlen Motiven her. So läßt er Turandot sogar den Versuch unternehmen, den Prinzen von seiner Werbung um sie abzubringen, und sagen: Prinz! Noch ist's Zeit. Gebt das verwegene Beginnen auf! Gebt's auf! Weicht aus dem Diwan! Der Himmel weiß, daß jene Zungen lügen, Die mich der Härte zeihn und Grausamkeit. - Ich bin nicht grausam. Frei nur will ich leben. Bloß keines ändern will ich sein! Dies Recht, das auch dem allerniedrigsten der \ienschen im Leib der Mutter anerschaffen ist, will ich behaupten, eine Kaisertochter. Ich sehe durch ganz Asien das Weib erniedrigt und zum Sklavenjoch verdammt, und rächen will ich mein beleidigtes Geschlecht an diesem stolzen Männervolke, dem kein anderer Vorzug vor dem zärtern Weibe als rohe Stärke ward. Zur Waffe gab Natur mir den erfindenden Verstand, Und Scharfsinn, meine Freiheit zu beschützen.14
Zu einer „chinesische[n] Feministin"15 also formt Schiller die Turandot Gozzis um, läßt sie aus Freiheitsliebe die Unfreiheit und verletzte Würde ihrer Schwestern an den Männern rächen und zuletzt in den inneren Konflikt zwischen Freiheitsideal und ihrer beginnenden Liebe zu Khalaf geraten. Auf ungeteilte Zustimmung bei Publikum und Kritik stieß diese charakterliche Befleischung der Figuren durch Schiller keineswegs, zumal sie wie verschiedene Rezensenten bemerkten — in scharfem Kontrast zur Heiterkeit der von Gozzi übernommenen Masken stand.16 Christian Gott12 Helmut Feldmann: Die Fiabe Carlo Gosgis. Die Entstehung einer Gattung und ihre Transposition in das System der deutschen Romantik, Köln/ Wien 1971, S. 142 f. 13 Die gesamte Erzählsammlung von Tausendundein Tag ist um die Figur einer heiratsunwilligen Prinzessin herum arrangiert, deren Amme sie durch Geschichten mutiger, kluger, tapferer und treuer Männer von ihrer Androphobie zu heilen versucht. Diesem Telos sind sämtliche Binnenerzählungen, einschließlich der Geschichte von Prin^ Khalaf und der Prinzessin von China, unterworfen, so daß ihre pädagogische Wirkung zusätzlich potenziert wird. 14 Schiller NA 14 II, S. 41, V. 773-787. 15 Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 224. 16 Feldmann: Die Fiabe Carlo Go^ts, S. 148f. E.T.A. Hoffmann ist indes der einzige literarische Kritiker, der sich an einer eigenen allegorisierenden Gozzi-Adaption versucht
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fried Körner indes ist sowohl von der Wahl des orientalischen Sujets als auch von der Bearbeitung durchaus angetan und läßt Schiller wissen: Die orientalische Wildheit mit der über die gräßlichen Begebenheiten so leicht hinweggegangen wird, macht eine eigne abenteuerliche Wirkung. Man ist in eine andre Welt versetzt. Turandot hat alles erhalten, was den schauerlichen Eindruck mildern konnte, ohne der Darstellung ihre Kraft zu nehmen. Sie ist eine Art von Schylock im Kaufmann von Venedig.17
Auch mit Hilfe seiner Vermittlung wurde Turandoi 1802 nach Weimar in Berlin, Dresden, Hamburg, Leipzig und schließlich - sieben Jahre später und angereichert durch eine Bühnenmusik von Carl Maria von Weber — in Stuttgart gespielt.18 Allerdings blieb sich das Stück während seines Zuges durch die deutschen Spielstätten nicht gleich. Und es ist gerade seine Transformation auf dem Weg durch die deutsche Theaterlandschaft, die für eine Auseinandersetzung mit dem deutschen Orientalismus Signifikanz besitzt: Bereits im Vorfeld der Dresdener Aufführungen häuften sich die Änderungswünsche des kurfürstlichen Hofes in einem Maße, das Schiller im Februar 1802 zu einer Neufassung seiner Turandot bewog. Körner hatte die Notwendigkeit von Korrekturen für eine Aufführung in der sächsischen Residenzstadt bereits vorhergesehen und schon nach Erstlektüre des Textes an Schiller geschrieben: Ketzereyen sind freylich nicht darin, aber ohne Veränderungen wird es doch nicht bleiben können. Du hast keine Idee von den seltsamen Rücksichten, die man hier nimmt. Ein unglücklich vertriebener König fürchte ich, wird schon Contrebande seyn. Er erinnert an Frankreich. Ein C a n z l e r Pantalon ist nun gar ein Greuel um so mehr, da unglücklicher Weise der jetzige Canzler gerade manches Lächerliche hat. Er und Tartaglia werden wohl zu ersten Mandarinen werden. — So steh ich auch nicht für die Köpfe auf dem Thor.19
Er sollte recht behalten. Tatsächlich betrachtete der sächsische Hof die „andere Welt" der Turandot offenbar als östlichen Spiegel der eigenen und monierte die Verbindung der burlesken commedia dett'arie-F'igaten Tartaglia und Pantalon mit hohen Staatsämtern.20 Die bis in den Titel des Stücks reichenden Änderungen, die Schiller schließlich vornahm, lagen jedoch
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und darin sogar direkten Bezug zur Turandot nimmt. Seine Prinzessin Blandina bleibt allerdings unvollendet. (E.T.A. Hoffmann: Prinzessin Blandina. In: ders.: Leiste Er%ählungen, Kleine Prosa, Nachlese. Textrevision und Anmerkungen von Hans-Joachim Kruse. Redaktion Viktor Liebrenz. Berlin 1994 (ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 8), S. 564-606. Körner an Schüler v. 10. Januar 1802 (Schiller NA 39 I, Nr. 171, S. 168). Zur Aufführungsgeschichtc vgl. den Kommentar in Schiller NA 14 II, S. 316-326; Rita Unfer Lukoschik: Der erste deutsche Go^· Untersuchungen %u der Rezeption Carlo Gosgis in der deutschen Spätaufklärung. Frankfurt a. M. 1993, S. 287 ff. Körner an Schiller v. 10. Januar 1802 (Schiller NA 39 I, Nr. 171, S. 168). Vgl. Schiller NA 14 II, S. 293.
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auf einer anderen Ebene und entsprangen auch gän2Üch anderen als politischen Erwägungen. Wie bereits erwähnt, hatte Schiller sich mit der Wahl seines Schauplatzes an der Vorlage orientiert, die Handlung in den fernen Osten verlegt und Turandot auch im Titel als Prinzessin von China eingeführt. Markiert wird das chinesische Setting in erster Linie durch Regieanweisungen, die klare Vorgaben zu Schauplatz und Kostüm enthalten: Kaiser Altoum etwa ist „in chinesischem Geschmack mit einiger Übertreibung gekleidet",21 Turandot selbst tritt „in reicher chinesischer Kleidung"22 auf, Handlungsort ist „Peckin"23 und im kaiserlichen Palast dienen die für das chinoise Setting obligatorischen „Verschnittenen" als Palastwache.24 Am 30. Januar 1802 nun ergeht — wiederum durch Vermittlung Körners — an Schiller die Anfrage des Dresdener Hofmarschalls Racknitz, „ob es dir viel verschlagen würde, wenn man die Scene in ein anderes asiatisches Reich verlegte." Die Begründung für diesen nicht eben kleinen Änderungswunsch ist frappierend simpel, denn Racknitz läßt mitteilen, „es stoße sich die Aufführung an die Kosten des chinesischen Costums" - ein Argument, auf das Körner sofort eingeht: „In Deine Seele habe ich versichert das würde dir einerley sein. Unter den hiesigen Rücksichten sind die Beutel-Rücksichten noch die vernünftigsten."25 Schiller will zwar die Zwangsläufigkeit hoher Kosten für chinesische Kostüme nicht einleuchten, und er weist in seiner Antwort an Körner darauf hin, man habe sich bei der Weimarer „Representation des Stücks" schließlich auch „mit Chinesischen Mützen und dgl Kleinigkeiten geholfen", und kostspielig sei allein „der Anzug des Kaisers in einem langen schleppenden Gewand von Goldstoff' gewesen. Was aber die innerorientalische Verlegung des Schauplatzes selbst betrifft, hat der Autor keinerlei Einwände und macht sogar erste Vorschläge: „Sage doch Racknitzen oder schreib ihm von meinetwegen, daß ich ihm die Unkosten der Costume durch Verpflanzung der Geschichte auf einen ändern, türkischen oder persischen Boden, leicht ersparen könne."26 Schillers Wahl fällt auf Persien, bereits drei Wochen später ist die kulturelle Metamorphose des Stücks vollzogen, und der Autor präsentiert seinem Freund die neue Turandot als „Prinzeßin von Schiras".27 Körner hatte sich nach Kräften um Hilfestellung bei der Verlegung des Stücks von China nach Persien bemüht. Er hatte Karten und geographische Abhandlungen konsultiert, dort „nach einem Reiche für die Turandot gesucht" und „Kirman 21 22 23 24 25 26 27
Schiller NA 14 II, S. 29 (II. Aufzug, 2. Auftritt). Schüler NA 14 II, S. 39 (II. Aufzug, 4. Auftritt). Schiller NA 14 II, S. 3 (I. Aufzug, 1. Auftritt). Schüler NA 14 II, S. 56,77, 81. Körner an Schüler v. 30. Januar 1802 (Schiller NA 39 I, Nr. 193, S. 186). Schüler an Körner v. 4. Februar 1802 (Schüler NA 31, Nr. 111, S. 97). Schüler an Körner v. 26. [25.] Februar 1802 (Schüler NA 31, Nr. 126, S. 109).
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und Kandahar1' als Möglichkeiten in Anschlag gebracht.28 Daß weder er noch Schiller das berühmte Isfahan als Handlungsort in Erwägung zogen, ist wohl dem literatur-pragmatischen Umstand geschuldet, daß sich der Name der Stadt - im Unterschied zu dem vom Autor schließlich gewählten Schiras — nicht „gut ins Sylbenmaas" der Tragikomödie fügte,29 die Schiller in Blankversen verfaßt hatte. Er jedenfalls bleibt bei „Schiras" und läßt Körner wissen, er habe es ansonsten mit der Geographie nicht so genau genommen, weil diese Bearbeitung nicht für den Leser ist und der Zuschauer auf jenem asiatischen Boden schwerlich so bewandert ist, um die Entfernungen nachmessen zu können.30
Die Reaktion des Dresdner und Leipziger Regisseurs Christian Wilhelm Opitz auf Schillers Überarbeitungsvorschlag macht deutlich, wie richtig der Autor mit seiner Einschätzung der orientalistischen Kompetenz des Theaterpublikums lag. Wenige Tage später läßt ihn Körner wissen: Die Turandot habe ich erhalten und sogleich an Opitz geschickt [...]. Auf den Zeddel möchte Opitz lieber Prinzessin von Persien setzen, weil es besonders auf der Leipziger Messe wohl manchen giebt, der nichts von Schiras gehört hat.31
Nachdem Schiller auch dieser „Rücksicht" willfährt, kommt seine neue Turandot, Prinzessin von Persien zuerst auf der Frühjahrsmesse in Leipzig zur Aufführung, im November wird sie schließlich in Dresden gespielt.32 Daß der chinesisch-persische Transfer der Turandot mit vergleichsweise geringem Aufwand möglich war, liegt zweifellos auch in der Tatsache begründet, daß bereits Gozzi sein chinesisches Setting mit einer deutlichen Tendenz zur gesamtorientalischen Anbindbarkeit ausgestattet hatte, die Schiller übernahm. So lebt die chinesische Turandot etwa ganz selbstverständlich im „Serail"33, begrüßt ihren Vater mit der „Hand auf der Stirn"34, tritt „verschleiert" auf, und die Palastwachen tragen Säbel.35 Dennoch verlangt die Verlegung des Stücks von China nach Persien Änderungen im Text, die über die reine Änderung der Namen hinausgehen und einen interessanten Einblick in die orientalistische Topologie des frühen 19. Jahrhunderts gewähren:36 So verwandelt sich der „Kaiser" der Chinesen in einen persischen „Schach", aus der Gottheit „Fohi" wird „Hormus", die 28 Körner an Schiller v. 14. Februar 1802 (Schiller NA 39 I, Nr. 204, S. 194). Kursiva i.O. gesperrt. 29 Mit eben diesem Argument votiert Körner für den Schauplatz Kirman. Vgl. Körner an Schiller v. 15. Februar 1802 (Schiller NA 39 I, Nr. 205, S. 195). 30 Schiller an Körner v. 26. [25.] Februar 1802 (Schiller NA 31, Nr. 126, S. 109). 31 Körner an Schüler v. 5. März 1802 (Schiller NA 39 I, Nr. 219, S. 208). 32 Schüler NA 14 II, S. 295. 33 Schüler NA 14 II, S. 24 (II. Aufzug, 1. Auftritt). 34 Schüler NA 14 II, S. 39 (II. Aufzug, 4. Auftritt). 35 Ebd. 36 Sie finden sich - übersichtlich zusammengestellt - in Schüler NA 14 II, S. 300f.
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chinesischen „Verschnittenen" müssen schwarzen Sklaven weichen und die „Schwarzen" in der chinesischen Fassung werden in der persischen durch „Untergebene" ersetzt, steigen also in der Palasthierarchie auf.37 Das einzige, was sich gegen den Transfer von Peking nach Schiras nachhaltig sperrt, ist eines von Turandots Rätseln. Schiller hatte bis zu seinem Tod insgesamt 14 dieser beim damaligen Publikum ungemein beliebten Kurztexte38 gedichtet, um die drei im Stück vorkommenden immer wieder ersetzen zu können und so den Zuschauern bei jeder neuen Aufführung den Kitzel des echten Ratespiels zu garantieren.39 Das hier zur Verhandlung stehende Rätsel gehört zu den frühesten und lautet: Wie heißt das Ding, das wen'ge schätzen, Doch ziert's des größten Kaisers Hand, Es ist gemacht, um zu verletzen, Am nächsten ist's dem Schwert verwandt. Kein Blut vergießt's und macht doch tausend Wunden, Niemand beraubt's und macht doch reich, Es hat den Erdkreis überwunden, Es macht das Leben sanft und gleich. Die größten Reiche hat's gegründet, Die allsten Städte hat's erbaut, Doch niemals hat es Krieg entzündet, Und Heil dem Volk, das ihm vertraut.40
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnte jeder gebildete Mensch in Deutschland dieses Rätsel lösen, denn es rekurrierte auf einen festen Bestandteil des chinoisen Bildinventars, das bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts aus seinem topologischen und ästhetischen Rahmen in die Wirklichkeit höfischer Repräsentationspraxis gesprungen war. Daher errät es mit dem Prinzen Khalaf auch Schillers Theaterpublikum: Dies Ding von Eisen, das nur wen'ge schätzen, Das Chinas Kaiser selbst in seiner Hand Zu Ehren bringt am ersten Tag des Jahrs, Dies Werkzeug, das, unschuld'ger als das Schwert, Dem frommen Fleiß den Erdkreis unterworfen 37 Vgl. Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 230. Berger zufolge hat Schiller mit „Fohi" eigentlich Fo (Buddha) bezeichnen wollen, ihn aber „mit dem legendären chinesischen Kaiser Fu-hsi verwechselt." 38 Zur Prominenz von Charaden und Rätseln im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert vgl. Bernd Brunemeier: Vieldeutigkeit und Rätselhaftigkeit. Die semantische Qualität und Kommunikationsfähigkeit des Kunstwerks in der Poetik und Ästhetik der Goethe^eil. Amsterdam 1983. 39 Schiller NA 14 II, S. 139-146. Auch Goethe hatte seine Freude an dieser minimalliterarischen Form. Mit Der Schalttag stellte er sogar ein eigenes in die Turandotsche Rätselvorratskammer (Schiller NA 14 II, S. 141, Nr. 5 u. S. 326), und Schillers Rätsel „Die Farben" (1804) nahm er als Motto in seine Farbenlehre auf. 40 Schiller NA 14 II, S. 140, Nr. 3.
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Orientalismus: Genese und Gestalten Wer träte aus den öden, wüsten Steppen Der Tartarei, wo nur der Jäger schwärmt, Der Hirte weidet, in dies blühende Land Und sähe rings die Saatgefilde grünen, Und hundert volkbelebte Städte steigen, Von friedlichen Gesetzen still beglückt, Und ehrte nicht das köstliche Geräte, Das allen diesen Segen schuf - den Pflug?41
Vom chinesischen Ritual des Keng-chi, mit welchem der Kaiser alljährlich die Feldbestellung eröffnete, indem er mit einem Pflug die erste Furche zog, war man in Europa bereits seit den illustrierten Darstellungen in Du Haldes Description im Bilde.42 Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts hatte sich diese Szene so tief in das höfische China-Verständnis eingeprägt, daß nicht nur der französische Kronprinz Ludwig XVI. sondern sogar der österreichische Kaiser Joseph II. das Licht dieses Herrscherbildes auf sich zu übertragen suchten und zum Pflug griffen — Ereignisse, die wiederum in Form von Kupferstichen und Gemälden Verbreitung fanden. Und in den 1770er Jahren schließlich schuf der Berliner Rokoko-Maler Bernhard Rode seine berühmten chinoisen Gemälde, derer eines ebenfalls den Kaiser von China am Pflüg zeigt.43 Unsicherheit ob der Auflösbarkeit seines Rätsels in der ersten Fassung der Turandot hat Schiller also gewißlich nicht umgetrieben, als er sich für die Streichung entschied. Zu etabliert war die Szene des pflügenden chinesischen Kaisers zu seiner Zeit. Doch entsprechend schwierig gestaltete sich auch ihr Transport in einen persischen Kontext. Und so kommt der Autor schließlich zu dem Schluß: Das Räthsel vom Pflug verliert alle seine Beziehung, wenn die Szene nicht nach China verlegt wird; ich habe es also herausgeworfen und ein andres an die Stelle gesetzt.44
Mehr als dieser kleinen, wiewohl gezielten, Eingriffe in den Text bedurfte es also nicht, um die kulturelle Verwandlung des gesamten Stücks zu vollziehen; und das offenbar mit Erfolg. Denn unter den vielen kritischen Stimmen, die auch in Dresden und Leipzig an Schillers Turandot laut wurden, fand sich keine, die den persischen Schauplatz und seine etwaig mangelnde Authentizität moniert hätte.45
41 Ebd. 42 Vgl. die prägnante Skizze dieses Motivs und seiner Geschichte in Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 81 ff. 43 Ebd. — Vgl. auch die Abbildungen am nicht paginierten Ende von Bergers Studie (Abb. 18 und 19). 44 Schiller an Körner v. 26. [25.] Februar 1802 (Schiller NA 31, Nr. 126, S. 109). 45 Schiller NA 14 II, S. 316ff.
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Turandot war dem Theaterpublikum als persische Prinzessin offenbar ebenso kommensurabel wie als Thronerbin Chinas. Und daß die Verlegung ihres Hofes vom Ostchinesischen Meer an den Persischen Golf so bruchlos und zugleich mit so geringem textredaktionellem Aufwand funktionierte, zeugt von der synthetisierenden Kraft, die dem Meta-Konzept ,Orient' auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch innewohnte. Der implizite Rückgriff auf den gemeinsamen orientalischen Nenner Chinas und Persiens, den Schiller für den ost-östlichen Schauplatzwechsel seiner Tragikomödie unternimmt, wird dabei zusätzlich erleichtert durch den erwähnten gesamtorientalischen Charakter, den Schauplatz und Figuren bereits in der italienischen Vorlage tragen. Daß dieser Charakter allerdings auch noch vierzig Jahre nach Gozzi und damit zu einer Zeit realisiert werden konnte, in der — wie oben dargestellt — gerade die Spezifik der einzelnen orientalischen Länder, Völker und Sprachen in den Vordergrund gerückt war, läßt sich jedoch nicht allein aus der allgemeinen Ordnung des deutschen Orientalismus erklären, sondern hat zudem inner-ästhetische Gründe. Genauer gesagt sind es Gattungsspezifika, die im Falle der Turandot das Orientalisch-Allgemeine den Sieg über das Chinesisch-Besondere davontragen lassen - einen Sieg, der innerhalb anderer literarischer und künstlerischer Formen nicht zu erringen gewesen wäre: Denn Schillers Bearbeitung von Gozzis „tragikomische[m] Märchen" begreift sich dezidiert und ausschließlich als eine, die „nicht für den Leser ist",46 also allein auf der Bühne ihren Ort hat und der gestalterischen Mittel des Bühnenraumes bedarf, um als Kunstwerk zu funktionieren. August Wilhelm Iffland war sich darüber vollständig im klaren und zog für seine Berliner Inszenierung die entsprechenden Konsequenzen. Im April 1802 schreibt er an Schiller: Es war Pflicht der Ehrfurcht, dieses Schauspiel ganz mit der vorgeschriebenen Pracht zu geben. Ohne das, war nur halbe Wirkung zu versprechen. Ich habe Turandot mit jeder Sorgfalt und mit einem Aufwende von 1500 Talern gegeben. Die junge Welt liebt es Turandot zu sehen. Das gestandne Alter ist nicht dafür. Die Menge hat die Neuheit der Costume gern gesehen.47
Iffland hatte sich bei der Ausgestaltung also nicht, wie das Weimarer Theater zuvor, „mit Chinesischen Mützen und dgl Kleinigkeiten geholfen",48 und der Blick auf eines der für die Berliner Aufführung hergestellten Kostüme macht die hohen Kosten der Aufführung unmittelbar plausibel. (Abb. 16)
46 Schiller an Körner v. 26. f25.] Februar 1802 (Schiller NA 31, Nr. 126, S. 109). 47 Iffland an Schüler, v. 16. April 1802 (Schiller NA 39 I, Nr. 246, S. 237). 48 Schiller an Körner v. 4. Februar 1802 (Schüler NA 31, Nr. 111, S. 97.)
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Abb. 16: Friedrich Jügcl nach Heinrich Anton Dähling: Figurine %u Turandot von Friedrich Schiller. A.ltoum, fabelhafter Kaiser von China
(Kolorierter Kupferstich, 23.3 \ 14.5 cm), Berlin: Herr Rainer Theobald
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Bezeichnend ist hier jedoch weniger die tatsächliche „Pracht" der Inszenierung als vielmehr Ifflands starke Akzentuierung der Bühnenraumgestaltung bei seiner Einschätzung der Gesamtwirkung auf das Publikum — eine Gewichtung, die sich nicht allein mit Schillers Betonung des performativen Charakters seines Stücks in Beziehung setzen läßt, sondern sich auch mit den Motiven des Dresdener Wunsches nach einem innerorientalischen Schauplatzwechsel deckt. Schließlich waren es aufführungspraktische Erwägungen seitens der Theaterleitung, welche die Forderung nach einem alternativen Handlungsort überhaupt hatten laut werden lassen. Dies alles zusammengenommen legt die Vermutung nahe, daß tatsächlich ein bestimmter Charakter des Stückes selbst verantwortlich gewesen ist für den besonderen Status, den der Bühnenraum bei den Aufführungen und schließlich auch bei dem innerorientalischen Transfer der Turandot gewann. Und wieder ist es Körner, der diesen Charakter auf den gattungsästhetischen Punkt bringt. Er nämlich läßt seine vorsichtige Kritik an Schillers Entscheidung, die Rollen der Gozzischen Vorlage in tatsächliche — und überdies tragische — Charaktere zu verwandeln, auf die folgende Überlegung zulaufen: Ich denke mir Turandot immer als eine gesprochene Oper. Ein muthwilliges übermüthiges Spiel der Phantasie ist die Hauptsache. In diesem Spiel soll nur soviel Bedeutung seyn als es verträgt. [...] Nur so viel Leidenschaft darf gegeben werden, als man tanzend und singend darstellen kann.49
In Parametern der Oper — nicht des Dramas — also sieht und bewertet Körner die Turandot und weist auf den großen Möglichkeitsraum hin, der sich der Phantasie hier eröffnet — gerade durch die Komplexitätsreduktion der Figuren und ihres Charakters auf ein Maß, das „man tanzend und singend darstellen kann". Obgleich der freundschaftliche Kritiker hier allein ein innerdramatisches Problem zu lösen versucht und eine Vermittlung der emotiv und ästhetisch konträren Elemente von Commedia deirarte und Tragödie innerhalb des Stücks unternimmt, gibt seine systematische Assoziation der Oper doch entscheidende Hinweise für die Frage nach den Austauschmöglichkeiten des orientalischen Schauplatzes und der Funktion der Bühne bei diesem Transfer. Daß Körner bei seinem Vergleich des „tragikomischen Märchens" mit einer Oper ein konkretes Vorbild vor Augen stand — nämlich die bereits 1729, also dreißig Jahre vor Gozzis Stück, uraufgeführte Turandot-Oper La Princesa Chine von Jean-Claude Gillier und Alain-Rene Lesage —, ist weder belegt noch wahrscheinlich.511 Vielmehr 49 Körner an Schüler v. 19. November 1802 (Schiller NA 39 I, Nr. 352, S. 342). 50 Lesage hatte eng mit Petis de la Croix zusammengearbeitet und ihn auch bei der Komposition seiner Sammlung Tausendundein Tag beraten, der er den Turandot-Stoff für seine Komische Oper entnahm. Vgl. dazu die knappe Darstellung in Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 219 u. 233f.
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weist er mit jener Mischung aus Schematismus und überbordender Phantasie auf eine kompositorische Eigenheit des Stückes hin, die ihm tatsächlich opernhafte Züge verleiht und schließlich auch erklärt, warum Turandot in erster Linie auf dem Feld der Orient-Oper Geschichte schrieb - von den direkt an Schiller anschließenden, heute allerdings vergessenen, OpernBearbeitungen des Stoffs im frühen 19. Jahrhundert über Feruccio Busonis Oper (1918) bis hin zu Puccini (1926).51 Denn schon in Schillers Turandot wird die „Bedeutung" zugunsten eines Prinzips reduziert, das Carl Dahlhaus zur Definition der Oper als Kunstform heranzieht: „In der Oper", so Dahlhaus, „zählt nichts als das unmittelbar Sinnfällige, und wenn das Gezeigte genügend drastisch ist, kann das Erzählte [...] absurd und verworren sein, ohne daß das Publikum in dem Gefühl, daß der Oper Genüge getan wird, beirrt würde."52 An eben dieser Drastik mangelt es der Turandot wahrlich nicht. Schon Körner war beim ersten Lesen von der „orientalische [n] Wildheit" des Stückes fasziniert, „mit der über die gräßlichen Begebenheiten so leicht hinweggegangen wird", und versprach sich gerade davon jene „eigne abentheuerliche Wirkung".53 Die eigentliche Drastik des Stückes aber liegt — um den feinsinnigen Unterschied aufzugreifen, den Dahlhaus mit seiner Formulierung ins Spiel gebracht hat — eben nicht im „Erzählten", sondern im „Gezeigten". Wie die Wirkung des gesamten Stückes, die in Ifflands Brief zur Sprache kommt, war auch seine Drastik ein Effekt der Kulisse und des stummen Bühnengeschehens - nicht der dramatischen Sprache. Die abgeschlagenen Köpfe der gescheiterten Freier standen, auf Lanzen gesteckt und vor dem Prospekt des Stadttores aufgereiht,54 dem Publikum als Bild vor Augen^ in derselben Weise wie den Zuschauern auch der Palast des Kaisers samt seines Hofstaats vor Augen standen. Damit aber war der chinesische Schauplatz der Turandot im Wortsinne ein Schau-Platz, bestehend aus einer Serie chinesischer Szenen und bevölkert von schematisierten Figuren in chinesischem Kostüm, die im Dramen^.*/ allein durch eine endliche Zahl lokaler und kultureller Marker realisiert und verankert war. Der opernhaften Gesamtanlage der Tragikomödie entsprechend, in der das Gezeigte das Gesagte dominiert und regelt, folgte auch die Verlegung des Handlungsortes von China nach Per51 Vgl. dazu den kursorischen Überblick unter dem Lemma „Turandot" in: Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 6., verb. u. um ein Register erw. Auflage. Stuttgart 1983, S. 761 69, hier: S. 769. 52 Carl Dahlhaus: „Zeitstrukturen in der Oper". In: ders.: Vom Musikdramu %ur LJteraturoper. Aufsätze syr neueren Operngeschichte. München 1989, S. 27-40, hier: S. 33. 53 Körner an Schüler v. 10. Januar 1802 (Schiller NA 39 I, Nr. 171, S. 168). 54 Die Regieanweisungen zum ersten Aufzug lautet „Prospekt eines Stadttors. Eiserne Stäbe ragen über demselben hervor, worauf mehrere geschorne, mit türkischen [sie!] Schöpfen versehen Köpfe als Masken und so, daß sie als eine Zierat erscheinen können, symmetrisch aufgepflanzt sind." (Schüler NA 14 II, S. 3).
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sien — einschließlich der dazu notwendigen textlichen Änderungen - einer Bild-Logik. Das wiederum bedeutet für den Orientalismus der Turandot, daß auch er nach den Regeln des Visuellen und nicht nach denen der Sprache funktioniert. Denn wie in meiner Darstellung des orientalistischen linguistic turn vom 18. zum 19. Jahrhundert bereits mehrfach anklang, ist gerade die Sprache das Medium, in welchem die Länder und Völker des deutschen Orients jener Jahrzehnte ihre Spezifik gewannen und erhielten. So ist es also kein performativer Selbstwiderspruch, sondern eine fachmännische Arbeit mit den gattungsbezogenen Möglichkeiten des deutschen Orientalismus, wenn Schiller in seiner Turandot eben das ins Werk setzt, was er einige Jahre zuvor an Wilhelm Friederich von Meyerns Erzählung Dya-Na-Sore oder die Wanderer^ kritisiert hatte: eine radikal reduzierte Spezifik des Handlungsortes bis hin zur innerorientalischen Austauschbarkeit des Schauplatzes — etwa durch Abänderung der Namen.56 Für die Gestaltung des Handlungsortes einer orientalisierenden Erzählung, zumal einer, die wie Dya-Na-Sore die literarische Rahmung einer Übersetzungs-Fiktion wählt, galten auf der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert andere Gesetze als für eine märchenhafte Tragikomödie opernhafter Provenienz. Denn während sich erstere im Gravitationsfeld der Sprache und ihrer Affinität zum Orientalisch-Spezifischen bewegt, steht letztere im Einzugsbereich des „Gezeigten" und Allgemeinen.57 Indem Schiller den Regeln des Bild-Orientalismus folgt, setzt er mit seiner Turandot somit tatsächlich jene Tradition der Frühen Neuzeit ins 19. Jahrhundert hinein fort, die selbst in Prosatexten einen Orientalismus des Schau-Platzes verfolgte. Und bis zur Entwicklung einer musikalischen couleur locale in der Mitte des 19. Jahrhunderts,58 möglicherweise aber sogar darüber hinaus, teilt Schillers Tragikomödie dieses Erbe mit der OrientOper. Denn mit ihrer Tendenz zur gesamtorientalischen Ikonographie, die sich bereits an den Szenenbildern Karl Friedrich Schinkels diagnostizieren läßt, fungierte die Opern-Bühne im frühen 19. Jahrhundert nicht 55 Leipzig/Wien 1787. 56 Schiller NA 22, S. 196; vgl. dazu auch den Kommentar in WeltliteratHr. Die Lust am Übersetzen im Jahrhundert Goethes, S. 602 f. 57 Es mag dieser gattungsgeschichtlichen Seite des Orientalismus zuzuschreiben sein, daß Schiller seine — zeitlich parallel zur Turandot begonnene — Neuedition der Übersetzung des chinesischen Romans Hao-Kiöh-Tschuen aus der Feder Christoph Gottlieb von Murrs nie zu Ende führte (Christoph Gottlieb Murr: Haob Kjöh Tschiven d. i. die angenehme Geschichte des Haob Kiöh. Leipzig 1766). Schließlich stand Murrs Übertragung aus zweiter Hand - er hatte die 1761 erschienene englische Übersetzung des Romans übertragen, nicht das chinesische Original — in deutlicher Tradition der stoffbezogenen Übersetzungspraxis der Frühen Neuzeit, die um 1800 im Ruch des Unangemessenen stand. Die wenigen erhaltenen Seiten von Schillers Paraphrase des Romans sind abgedruckt in Schiller 16, S. 361-363. 58 Becker: Die ,couleur locale'in der Oper des 19. Jahrhunderts.
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nur als wichtiger orientalistischer Bildspender für andere ästhetische Formen und kollektive Bildwelten, sondern war darüber hinaus Teil einer Kunstform, die mit ihrer regelhaften Dominanz des Gezeigten über das Erzählte und Gesprochene das synthetisierende Gegengewicht zum differenzierenden Orientalismus der Sprache(n) bildete. Auf die systematischen Achsen von DIFFERENZ und DISTANZ gespiegelt aber bedeutet das: Sobald der Orient die Opernbühne betritt, tritt er auch in das Schwerefeld der Bildlogik ein - und verliert seine Fremdheit. Im Zuge des VorAugen-Stellens ihrer Gegenstände verwandelt die Oper - unbeschadet vom linguistic turn des Orientalismus — den Orient von einem Modus in einen Status, von einer Form in einen Stoff zurück, weil das Übermaß an Sichtbarkeit, das dieser Kunstform eignet, die ästhetische Inszenierung und Erfahrung von Fremdheit, die Evokation von Rätselhaftigkeit und Geheimnis, verunmöglicht. Somit ist der synchrone Raum des Orientalismus im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert also von zwei gegenläufigen Tendenzen bestimmt, die in unterschiedlichen ästhetischen Formen ihren Niederschlag finden: Wo immer Sprache nicht nur Medium ist, sondern als gesetzgebende Instanz das diskursive Feld bestimmt, rücken das Spezifische der einzelnen orientalischen Länder und Völker und ihre Fremdheit in den Vordergrund. In dem Moment aber, wo die Sprache in den ästhetischen Herrschaftsbereich des Bildes fällt, zum Vehikel für visuelle Eindrücke wird oder gar in ihnen aufgeht, verliert dieser partikuläre und verfremdende Orientalismus seine ästhetische wie aisthetische Grundlage, zeitigt gesamtorientalische Synthesen und evoziert Evidenzeffekte. Es sind diese beiden Pole, das Sprachliche und das Bildliche, das Besondere und das Allgemeine, das Fremde und das Vertraute, zwischen denen sich der deutsche Orientalismus im frühen 19. Jahrhundert bewegt, wobei die Tendenz zum einen oder anderen Pol von der literarischen Form in hohem Maße mitbestimmt wird. Mit Blick auf Schillers Turanäot läßt sich also zusammenfassend festhalten, daß der linguistic turn des deutschen Orientalismus auf der Wende zum 19. Jahrhundert zwar den Charakter eines Paradigmenwechsels hat, im Zuge dessen der deutsche Orient zu einer sprachlich verfaßten Größe wurde, die sich überdies selbst zu sprechen begann, performativ die Spezifik und Eigengesetzlichkeit ihrer Teile als fremd erfahrbar und zu einem Gegenstand hermeneutischer Bemühungen machte. Aber das bedeutete keineswegs eine Aufhebung der frühneuzeitlichen Tradition, den Orient als Vor- oder Gegen-Bild und vertrautes ^Anderes' wahrzunehmen. Vielmehr fügte sich dieses aisthetische und topologische Erbe des 17. und 18. Jahrhunderts in die neue epistemische Ordnung ein, indem es sich an solche ästhetischen Gattungen und Kunstformen koppelte, in denen — wie
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in der Oper - das Gezeigte über das Gesagte und Erzählte dominiert, während der Orient als Modus und Form vor allem in der Poesie als einer Kunstform Gestalt gewann, in welcher der sprachliche Eigensinn im Vordergrund steht. Beide orientalistischen Parameter — das der Sprache und das des Bildes, das der Form und das des Stoffs - existierten also im frühen 19. Jahrhundert parallel. Zwischen ihnen spannte sich der Möglichkeitsraum des deutschen Orientalismus auf seit dem Ende der Frühen Neuzeit auf, wobei in der ästhetischen Umsetzung die Wahl für das eine oder das andere von den Eigengesetzlichkeiten des gewählten Genres mitbestimmt wurde.
5.2 Der gegenwärtige Orient Wie oben dargestellt, erfuhr der deutsche Orientalismus im ausgehenden 18. Jahrhundert neben dem linguistic turn noch eine zweite, eine historische Wende. Doch ganz ähnlich dem linguistic turn war auch dieser Prozeß der Historisierung des Orients kein monolinearer und absoluter. Weder verschwand das Morgenland vollständig aus der gegenwärtigen Welt des frühen 19. Jahrhunderts, noch wurden sämtliche orientalischen Völker in den diskursiven Sog der Sprach-, Völker- und Kulturgeschichte hineingezogen. Es ist eine bemerkenswerte Koinzidenz, daß gerade jene orientalische Kultur in den großen sprach-, mythen- und kulturgeschichtlichen Entwürfen fast gänzlich fehlt, deren Staat aus europäischer Perspektive die Geschicke des Orients jener Zeit am nachhaltigsten bestimmte: Die Türken und mit ihnen das Osmanische Reich bewiesen eine außergewöhnliche Resistenz gegen die historisierende Tendenz des deutschen Orientalismus um 1800 — eine Resistenz, die für die orientalistische Ordnung der Dinge im 19. Jahrhundert von großem Einfluß gewesen ist und der daher nun unsere Aufmerksamkeit gewidmet sei.
5.2.1 Türkische Präsenz Bereits ein kursorischer Überblick über die Rezeption der im frühneuzeitlichen Orientalismus so prominenten Türken nach dem Paradigmawechsel um 1800 hinterläßt einen seltsam widersprüchlichen Eindruck: Einerseits wurde dieses Volk weder von der Frühorientalistik bibelwissenschaftlicher Provenienz zu ihrem Gegenstand gemacht noch von der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft. Und selbst die türkische Dichtung fand im 19. Jahrhundert — abgesehen von Josef von Hammer-Purgstall, der sich
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zumindest am Rande auch als ihr Mentor verstand59 — kaum deutsche Übersetzer, Verleger und Leser. Zugleich aber rückte das Osmanische Reich seit dem Ende des verlorenen Krieges gegen Rußland (1769-1774) und dem sich anschließenden und nicht weniger verlustreichen Frieden von Kügük Kaynarca (1774)60 zunehmend in den Fokus westeuropäischer Außenpolitik, der Berichterstattung in Zeitungen und Zeitschriften und damit einer Leserschaft, die sich auch in Deutschland stetig erweiterte.61 Leider existiert keine umfängliche Zusammenschau und Auswertung der Berichterstattung deutscher Periodika des 19. Jahrhunderts zu wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen, historischen, kulturellen und militärischen Belangen des Osmanischen Reiches. Doch bereits ein Blick in Heinrich von Kleists Berliner Abendblätter macht die Selbstverständlichkeit deutlich, mit der zu Beginn des 19. Jahrhunderts Nachrichten aus „der Türkei" an das deutsche Lesepublikum übermittelt wurden — offenbar in sicherem Wissen um dessen Interesse und ohne jeden exotistischen Anstrich. In den sechs Monaten ihres Bestehens von Oktober 1810 bis März 1811 brachte Kleists Tageszeitung über zwanzig Bulletins und Miszellen zu Ereignissen und Entwicklungen aus dem Osmanischen Reich; zu überwiegendem Teil zum schwelenden osmanisch-russischen Konflikt in den Balkanprovinzen.62 Daneben aber fanden auch Hofnachrichten Erwähnung, wie etwa die folgende: Constantinopel, den 4. Januar Wegen der Schwangerschaft einer der Sultaninnen ist die Begrüßung des Serails mit Kanonenschüssen von ankommenden und abgehenden Schiffen untersagt. Der
59 Josef von Hammer-Purgstall: Geschichte der Osmanischen Dichtkunst bis auf unsere Zeit. Mit einer Blütenlese aus nyejtausendsyeyhundert Dichtern. 4 Bde. Pest 1836-1838. 60 Wo nicht anders angegeben, stützt sich meine Darstellung der Osmanischen Geschichte hier und im Folgenden auf die Überblicksdarstellungen: Stanford J. Shaw/ Kzel Kural Shaw: History of the Ottoman Empire and Modern Turkey. 2 Bde. Cambridge 1976 f.; Donald Quataert: The Ottoman Empire. 1700-1922. Cambridge 2000; Klaus Kreiser/ Cristoph K. Neumann: Kleine Geschichte der Türkei. Stuttgart 2003, S. 282-338; Matuz: Das Osmanische Reich, S. 209-232; Faroqhi: Geschichte des Osmanischen Reiches, S. 84-94. 61 Ludwig Ammann spricht hier zu Recht von der „Entdeckung des Orients" durch die deutschen Leser. Vgl. Ammann: Östliche Spiegel, S. 3 ff. 62 Berliner Abendblätter. Herausgegeben von Heinrich von Kleist. Nachwort und Quellenregister von Helmut Sembner. Faksimile-Ausgabe. Wiesbaden 1980. Hier und im Folgenden zitiert als Berliner Abendblätter mit Band- und Seitenangabe, für das Jahr 1810 mit Angabe des entsprechenden Blattes, für 1811 mit der Nummer der Zeitung. Am 3. November 1810 etwa wurde hier über das Bombardement von Odessa berichtet (Berliner Abendblätter 30tes Blatt, I, S. 122), am 8. November über russische Truppenentsendung „nach der Türkei" (34tes Blatt, I, S. 134), am 10. November über die Ankunft serbischer Truppen an der Dirna (36tes Blatt I, S. 142), am 16. November über die russischen und Osmanischen Stellungen in Ungarn (41tes Blatt, I, S. 162), am 26. November über anstehende Friedensschlüsse zwischen Rußland, Persien und dem Osmanischen Reich (49tes Blatt, I, S. 194) und Vergleichbares mehr.
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Capitain einer Kriegs Corvette, der diesem Befehl zuwider handelte, ist arretirt worden.63
Und schließlich wurde sogar ein „türkisches Gebet, welches an jedem Freitag in allen Moscheen des Osmanischen Reiches für den Sultan gehalten wird" in Kleists Abendblättern abgedruckt: „Herr, beschütze die Osmannischen Krieger, die nur dich anbeten! Herr, erhalte die Macht unsers Sultans, schrecklich seinen Feinden, Mahmud Chan, Sohn des Sultans Abdul Hamid Chan, Sohn des Achmet Chan, Dieners der beiden erhabenen Arams (heilige Tempel) zu Mecca und Jerusalem! Herr, gieße Reichthum und Macht über sein Haupt, erhalte ihn zu allen Zeiten, auf daß sein Schwert die Ungläubigen vernichte, und er Herr des Erdkreises werde!"64
„Die Türkei", wie das Osmanische Reich zu jener Zeit gemeinhin genannt wurde, mit ihrer Politik, Gesellschaft, Religion und Kultur war dem deutschen Publikum des frühen 19. Jahrhunderts also durchaus gegenwärtig. Und in der dezidierten Gegenwärtigkeit der Türken liegt letztlich auch der Grund für ihr Fehlen in den orientwissenschaftlichen Diskursen jener Zeit — eine Gegenwärtigkeit, die zum einen durch die enorme Brisanz der politischen und militärischen Entwicklungen innerhalb des Osmanischen Reiches jener Jahrzehnte bedingt war, von welcher in diesem Kapitel noch ausführlicher die Rede sein wird, die sich aber zum anderen aus einem präsentischen Charakter ergab, welcher der Osmanischen Sprache und Kultur selbst eignete und sie mit den historischen Parametern der Frühorientalistik sowie der Sprach- und Mythenverwandtschaftsforschung inkompatibel machte. Josef von Hammer-Purgstall gibt in seiner schon mehrfach zitierten Vorrede zur Geschichte der schönen Redekünste Persiens erste Hinweise auf diese Spezifik, wenn er von der „allen Orientalisten bekannte[n] Wahrheit" spricht, „daß die türkische Literatur (nur eine Nachahmung arabischer und persischer Meisterwerke) sich aus den Schätzen beyder bereichert habe".65 Zwar ist für von Hammer das Türkische dem Persischen und Arabischen insofern gleichrangig, als es zusammen mit ihnen „die dreyfache Tiare vorderasiatischer Gelehrsamkeit bilde[t]". Sobald er jedoch eine historische Perspektive auf diese drei Sprachen und ihre Literaturen einnimmt, betont er die mangelnde Eigenständigkeit des Türkischen, das letztlich keine „auf eigenem Boden gewachsene [...] Litteratur" besitze.66 Diese Einschätzung läßt sich keineswegs auf anti-türkisches Ressentiment des gelehrten Mannes zurückführen, sondern stützt sich auf zwei tatsächliche sprach- und literaturgeschichtliche Besonderheiten des Osmani-
63 64 65 66
Berliner Abendblätter . 36, II, S. 141. Berliner Abendblätter^. 51, II, 203 f. Hammer-Purgstall: Geschichte der schönen "Redekünste Persiens, S. V. Ebd.
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sehen: seine innerhalb des deutschen Orients beispiellose Jugend und seinen Charakter des ,Gemachtenc. Um 1800 nämlich konnte nicht nur die Osmanische Literatur, sondern auch die Osmanische Sprache selbst auf eine gerade sechs Jahrhunderte währende Geschichte zurückblicken, was vor dem urzeitlichen Horizont des historischen Denkens der Zeit und im Vergleich zum Alter des Arabischen, Persischen oder gar des Hebräischen als eine denkbar kleine Zeitspanne erschien. Denn die Entstehung des Osmanischen war sowohl historisch als auch funktional unmittelbar mit der Konstitution und Expansion des Reiches seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert verknüpft. Erst im Zuge der spätmittelalterlichen Expansion des tribal organisierten anatolischen Stammesfürstentums unter Führung des namensgebenden Gründungs sultans Osman I. (reg. 1299-1326) und seiner Nachfolger wurde aus den im anatolischen Stammland vorherrschenden türkischen Dialekten eine eigene Schriftsprache geschaffen, die weite Teile ihres Wortschatzes und selbst ihrer Flexion aus dem Arabischen und Persischen entlehnte und auch die arabische Schrift übernahm.67 Diese Kunstsprache, von den Osmanen selbst „türkge" oder „türki" genannt,68 setzte sich nach und nach als Dichtungs-, Wissenschafts- und vor allem als Verwaltungssprache durch, ohne allerdings — und hierin liegt einer der wesentlichsten Gründe für die mangelnde Kompatibilität des Osmanischen mit den Sprachkonzeptionen des frühen 19. Jahrhunderts - jemals Volkssprache zu werden. Dieser Umstand korrespondierte eng mit der dezidiert nicht ethnisch fundierten Organisationsform des Reiches selbst. Denn wie im Kontext der TürkenRezeption der Frühen Neuzeit bereits dargestellt,69 konnten allein Angehörige der Dynastie des Sultans für sich in Anspruch nehmen, ,Osmanen von Geburt' zu sein, während sich die übrige Reichselite nahezu ausschließlich aus Männern zusammensetzte, die als Jugendliche im Zuge der „Knabenlese" aus den besetzten christlichen Balkanprovinzen nach Konstantinopel gebracht, in den dortigen Palastschulen ausgebildet, islamisiert, türkisiert und in der Osmanischen Sprache unterrichtet worden waren.70 So fungierte das Osmanische in dem multiethnischen und polylingualen Großreich nicht allein als lingua franca, sondern darüber hinaus als eines der konstitutiven Momente dessen, was Osmanisch war. 67 Zur Osmanischen Sprache vgl. Julius Nemeth: Turkish Grammar. Hrsg. und übers, v. Tibor Halasi-Kun. 's-Gravenhage 1962; György Hazai: Kar^e Einßihrung in das Studium der türkischen Sprache. Wiesbaden 1978, S. 39-60. 68 Klaus Kreiser: Die Osmanische Uteratttr. In: Kindlers Neues Literatur Lexikon. Hrsg. v. Walter Jens. München 1996, Bd. 20, S. 627-633. 69 Vgl. Kap. 3.3. 70 Vgl. Kunt: The Sultan's Servants, S. 31 ff.; Inalcik: The Ottoman Empire, S. 77-88 u. 104118; Matu/c: Das Osmanische Reich, S. 98-103.
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Daß diese junge und künstliche Sprache, deren dezidiert nicht-volkssprachlicher Charakter zudem die Bedingung der Möglichkeit ihrer staatsund elitenkonstitutiven Funktion darstellte, mit den Sprach-, Volks- und Geschichtsmodellen des frühen 19. Jahrhunderts in Deutschland nur schwer in Einklang zu bringen war, liegt auf der Hand: Die Suche nach etymologischen Verwandtschaftslinien mußte hier ebenso in die Irre führen wie das Fahnden nach Spuren mythischer Ursprünge oder nach der inneren Beziehung von Sprache, Kultur und Volk. So erklärt sich das Fehlen des Türkischen in den einschlägigen frühorientalistischen Schriften, mythen- und sprachvergleichenden Arbeiten und ebenso das geringe Interesse von Übersetzern, Autoren und Verlegern an diesem Volk seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Doch wie eingangs dieses Kapitels erwähnt, stand diese türkische Leerstelle auf dem Feld des deutschen Orientalismus jener Epoche in enger Wechselwirkung mit zeitgeschichtlich-politischen Entwicklungen und Ereignissen innerhalb des Osmanischen Reiches und deren Rezeption durch die deutsche Öffentlichkeit. Der Haupteffekt dieser Wechselwirkung bestand in dem Eindruck eines Übermaßes an Gegenwärtigkeit seitens des türkischen Orients. Und eben dieser Effekt begann um 1800 mit den genannten Konnotationen des Morgenlandes als vorvergangener Ursprungsregion der abendländischen Kultur, der Religionen und Sprachen in ein spannungsreiches Verhältnis zu treten, das den Möglichkeitsraum des deutschen Orientalismus nachhaltig prägte. Ihre diskursive Tragweite für das Gesamt des deutschen Orients konnten die politischen Ereignisse im Osmanischen Reich auf der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert indes nur gewinnen, weil sie nicht allein als „türkische" Begebenheiten Eingang in die deutschen Diskurse fanden. Denn die politische Problematik, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert zunehmend eng mit den Zuständen im Osmanischen Reich verknüpfte und in Westeuropa für großes Aufsehen sorgte, hat eben nicht als „Osmanische Frage", sondern als „Orientalische Frage" Diskursgeschichte geschrieben. Um diese Diskursgeschichte sowie ihren Einfluß auf die Ordnung des deutschen Orientalismus nachvollziehen zu können, bedarf es zunächst eines kurzen Blicks auf ihre politikgeschichtlichen Hintergründe. Die bislang in den Literatur- und Kulturwissenschaften rezipierten Studien zum deutschen Orientalismus — einschließlich Saids Orientalism — haben auf einen solchen Blick verzichtet. Dadurch ist in der Forschung das eigentümliche Bild eines orientalistischen Diskurses entstanden, der einerseits in einem ereignisgeschichtlichen Vakuum schwebt und dem zugleich die Teilhabe an einem gesamteuropäischen Imperialismus zugeschrieben wird. Eine kurze systematische Übersicht über die wichtigsten Ereignisse und Entwicklungen des Osmanischen Reiches seit dem späten 18. Jahrhundert und der damit eng verschränkten Orientpolitik der europäischen
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Großmächte soll einen ersten Einblick bieten in das tatsächliche politische Schwerefeld, in welchem sich auch der deutsche Orientalismus jener Zeit befand.
5.2.2 Die „Orientalische Frage" Zwar ließ und läßt sich die - durch ihre implizite Perspektive auf den Orient deudich als europäisch markierte — „Orientalische Frage" letzdich ebenso schwer klar formulieren wie beantworten,71 im analytischen Rückblick jedoch zumindest grob umreißen. M.E. Yapp gibt erste Hinweise auf die beteiligten Faktoren, wenn er schreibt: The essence of the Eastern Question during the nineteenth century was the conflict between Ottoman rulers and their Christian subjects, primarily in south-eastern Europe, the demand by those subjects for autonomy and independence, the Ottoman resistance to those demands, and the efforts of the major European powers to find a solution to the conflict which would accommodate the desires of both, Ottomans and Christians and which would not upset the balance of power in Europe.72
Flankiert wurden die beiden hier genannten Faktoren — die Autonomiebestrebungen der christlichen Bevölkerungsteile im Westen des Reiches und die innereuropäische Sorge um ein staatliches Kräftegleichgewicht — durch eine sich im ausgehenden 18. Jahrhundert immer deutlicher abzeichnende Strukturkrise des Osmanischen Staates selbst. Es sind diese drei politischen Entwicklungsstränge, die sich auf der Wende zum 19. Jahrhundert zur „Orientalischen Frage" verdichteten und das politische und gesellschaftliche Feld zumindest mit prägten, auf dem sich der deutsche Orientalismus jener Zeit bewegte. Um indes nicht vollständig auf die Suggestionskraft der genannten Schlagworte vertrauen zu müssen, seien die entsprechenden Entwicklungen nun in aller Kürze skizziert: „Balance of power" Was die innereuropäische Machtverteilung betrifft, so war es im Verlauf des 18. Jahrhundert zu einer für die Orient-Politik der nachfolgenden zwei Jahrhunderte äußerst folgenreichen Verschiebung gekommen. Denn das unter Peter dem Großen (1689-1725) zu einem mächtigen Reich herange71 Das hat bereits der große Orient-Kenner Kara Ben Nemsi beobachtet, den sein Erfinder anmerken läßt: „Ich habe mich niemals leidenschaftlich mit Politik beschäftigt, und die orientalische Frage ist mir vollends ein Greuel. Wer den Begriff erst erklären kann, der mag danach die Frage lösen." (Von Bagdad nach Stambul. Reiseerzählung von Karl May. Bambergl951,S. 391). 72 Yapp: The Making of the Modern N ear East 1792-1923, S. 59.
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wachsene Rußland betrat als neuer Akteur die orient-politische Bühne und löste schließlich unter der aggressiven Großmachtpolitik Katharinas der Großen73 (1762-1796) Österreich als traditionellen Gegenspieler des Osmanischen Reiches ab. Als nördlicher Nachbar der Osmanen gelang es Rußland seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in immer schneller aufeinander folgenden Kriegen, umfassende osmanische Gebiete zu erobern sowie die Gewässerhoheit über das Schwarze Meer zu erlangen (1783 wurde die Krim anneküert). Darüber hinaus konnte das Zarenreich seinen Einfluß auf die christlichen Minderheiten des Reiches stärken, als deren christlich-orthodoxer Schutzherr es sich zu etablieren versuchte.74 Da es sich dabei nicht allein um territoriale Zugewinne handelte, sondern auch um zunehmenden Einfluß auf innere Belange des Osmanischen Reiches und immer weiter reichende Verfügungsgewalt über wichtige orientalische Handelswege, drohte somit das Gleichgewicht der Kräfte innerhalb Europas im Laufe des 19. Jahrhunderts mehrfach zu Gunsten Rußlands umzuschlagen. Dieser Umstand bestimmte zusammen mit den starken und teils sehr unterschiedlichen Eigeninteressen der übrigen drei für die Orient-Politik jener Jahrzehnte relevanten europäischen Großmächte England, Frankreich und Österreich — das politische, militärische und ökonomische Gravitationsfeld, in dem sich die „Orientalische Frage" bewegte, die entsprechend keineswegs als eine gesamteuropäische Frage zum Osmanischen Reich verstanden werden kann. Unter den deutschen Staaten betrieb allein Preußen seit Friedrich II. eine mehr oder minder konsequente Orient-Politik,75 die sich allerdings ausschließlich auf dem Feld der Diplomatie bewegte, dabei stets um eine neutrale Position bemüht war und in den zahkeichen politischen und militärischen Konflikten zwischen 73 Zu nennen ist hier vor allem das berüchtigte ,Griechische Projekt' der Zarin, das vorsah, das Byzantinische Reich unter russischer Hoheit wieder auferstehen zu lassen, die Gebiete Kleinasiens, des Mittleren Ostens bis nach Indien ebenfalls zu russischem Reichsgebiet zu machen und die übrigen Osmanischen Territorien /wischen Österreich, Frankreich und Venedig aufzuteilen. Vgl. Matuz: Das Osmanische Reich, S. 207. 74 Zu den russischen Versuchen einer Einflußnahme auf dem Balkan durch die sich allmählich formierenden Nationalbewegungen vgl. Charles Jelavich: Tsarist Russia and Balkan Nationalism. Westport/ Connecticut 1958. 75 Bislang liegt allein eine umfassende Studie zur preußischen Orient-Politik jener Zeit vor: Karl Pröhl: Die Bedeutung preußischer Politik in den Phasen der orientalischen Frage. Ein Beitrag %ur Entwicklung deutsch-türkischer Begehungen von 1606 bis 1871. Frankfurt a. M./ Bern/ New York 1986. Allerdings gründet Pröhls Darstellung auf der wissenschaftlich unhaltbaren Vorannahme einer kontinuierlichen Verfallsgeschichte des Osmanischen Reiches von der gescheiterten Einnahme Wiens 1683 bis zum ersten Weltkrieg. Da Rekurse auf einschlägige osmanistische und islamwissenschaftliche Forschungsliteratur zum Osmanischen Reich nur spärlich sind und diskursgeschichtliche Kontextualisierungen gänzlich fehlen, ergibt sich an vielen Stellen der Arbeit ein schiefes Bild von den Orient-politischen Zusammenhängen. Dennoch erlaubt die Studie eine erste ereignisgeschichtliche Orientierung innerhalb der Orientalischen Frage.
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den Großmächten allein die Rolle des Vermittlers übernahm.76 Preußen unterhielt mit kleineren Unterbrechungen seit dem 18. Jahrhundert kontinuierlich Gesandtschaften an der Pforte - die 1784 von Friedrich II. eingesetzte stand unter der Leitung des späteren orientalistischen Goethe-Beraters General Friedrich Heinrich von Diez (1751-1817)77 —, deren politischer Spielraum allerdings sehr begrenzt war. Erst im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden die preußisch-osmanischen Kontakte auf eine neue und bis ins 20. Jahrhundert hinein stabile Grundlage gestellt, als 1835 unter der Leitung des Hauptmanns Helmuth von Moltke die erste preußische Militärmission nach Konstantinopel entsandt wurde mit dem Ziel, den Sultan bei der geplanten Heeresreform zu unterstützen.78 Krise des Osmanischen Reiches Diese Versuche einer Neuordnung des Militärs waren jedoch nur ein wenn auch wesentlicher — Bestandteil eines weitreichenden osmanischen Reformprozesses, der die Geschichte des Reiches das gesamte 19. Jahrhundert hindurch prägte. Bereits die sich häufenden verlustreichen Niederlagen gegen Rußland seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts hatten deutlich werden lassen, daß das ehedem schlagkräftigste Heer der Welt dringend reformbedürftig war. Zugleich zeigte auch die einst so vorbildliche politische, ökonomische und administrative Ordnung des osmanischen Staates Verfallserscheinungen, die das zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer noch beispiellos große und mächtige Reich im Laufe jener Jahrzehnte mehr als einmal an den Rand seiner Existenz führten. Da das Interesse der europäischen Großmächte neben dem innereuropäischen Kräftegleichgewicht vor allem auf eine Stabilität in der Region - auf dem Balkan, im Nahen und Mittleren Osten - gerichtet war und das Osmanische Reich als alternativloser Garant für diese Stabilität erschien, begannen die europäischen Staaten bereits im frühen 19. Jahrhundert, die osmanischen Reformen zu ihrer eigenen Angelegenheit zu machen. Und so wurde die osma76 Die gescheiterten Pläne Friedrichs II. für eine Tripelallianz mit Rußland und dem Osmanischen Reich blieben mit ihrem offensiven Charakter die Ausnahme. Vgl. Pröhl: Die Bedeutung preußischer Politik in den Phasen der orientalischen Frage, S. 136 ff. 77 Pröhl: Die Bedeutung preußischer Politik in den Phasen der orientalischen Frage, S. 146 ff.; zu Goethes Verhältnis zu Diez vgl. ausführlich Katharina Mommsen: Goethe und Die% Quellenuntersuchungen %u Gedichten derO'ivan-Epoche. Berlin 1961. 78 Zur Geschichte der Militärmissionen bis zum Ersten Weltkrieg vgl. Jehuda L. Wallach: Anatomie einer Militärhilfe. Die preußisch-deutschen Militärmissionen in der Türkei 1835-1919. Düsseldorf 1976, zur Moltke-Mission s. S. 15-33; ferner: Helmuth von Moltke: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. In: Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten des General-Fddmarschalls Grafen Helmuth von Moltke. Bd. 8. Berlin6! 893.
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nische Selbstverpflichtung zu administrativen und militärischen Reformen bald zu einem konstitutiven Bestandteil der russisch-osmanischen Friedensverträge, die durch westeuropäische Vermitdung zustande kamen.79 Als neuralgisch erwies sich dabei vor allem die Lage in den osmanischen Provinzen, deren innere Organisation — ursprünglich ein Muster an bürokratisch-zentralistischer Struktur — sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem real existierenden Feudalismus entwickelt hatte, der sowohl die Steuer- als auch die Agrarpolitik des Reiches unterlief und außerdem die Zugriffsmöglichkeiten der Pforte auf die Provinzen zunehmend einschränkte. Die Entwicklungen in Ägypten während der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zeigen die existenzielle Angreifbarkeit der angeschlagenen osmanischen Staatsorganisation von innen besonders eindrücklich. In den 1830er Jahren nämlich lösten die politischen und militärischen Alleingänge des osmanischen Gouverneurs in Ägypten, Mehmet Ali, eine Krise des Osmanischen Reiches aus, die als „Mehmet Ali-Krise" auch in Europa sorgenvoll wahrgenommen und letztlich nur durch Intervention der europäischen Mächte gelöst wurde.80 Mehmet Ali, gebürtiger Albaner und über die gängige osmanische Rekrutierungs-Praxis in den Staatsdienst gelangt, wurde 1805 als osmanischer Gouverneur in Ägypten eingesetzt.81 Trotz ihrer militärischen Erfolglosigkeit hatte die vorangegangene französische Okkupation des Landes die innere Organisation seiner Eliten so nachhaltig erschüttert, daß es Mehmet Ali gelang, den Widerstand der zivilen und militärischen Notablen zu brechen — letzteres allerdings nur durch ein in seiner Beispiellosigkeit auch in Europa wahrgenommenes Massaker an dreihundert Mamluken-Beys, die er im März 1811 zum Gastmahl auf seine Zitadelle geladen hatte — und mit französischer Unterstützung weitreichende Bildungs-, Wirtschafts- und Militärreformen durchzusetzen.82 Schon wenige Jahre nach seinem Amts79 Vgl. Stanford J. Shaw/ Ezel Kural Shaw: History of the Ottoman Empire and Modern Turkey. Bd. 2: Reform, Revolution and Republic: TheRrise of Modern Turkey 1808-1975. Cambridge 1977, S. 31-35 u. 49-51. 80 Vgl. dazu: Pröhl: Die Bedeutung preußischer Politik in den Phasen der orientalischen Präge, S. 176 ff. 81 Aus der umfangreichen Forschungsliteratur zu Mehmet Alis Politik vgl. die Studien Afaf Lutfi al-Sayyid Marsot: Egypt in the Reign of Muhammad Ali. Cambridge 1984; Alexander Schölch: „Der arabische Osten im neunzehnten Jahrhundert 1800-1914". In: Geschichte der arabischen Welt, S. 365-431, hier S. 369-372; Arthur Goldschmidt Jr.: Modern Egypt. The Formation of a Nation-State, Kairo 1990, S. 13-22; Yapp: The Making of the Modern Near East, S. 97-178; Khaled Fahmy: All the Pasha's Men. Mehmed Alt, His Army and the Making of Modern Egypt. Cambridge 1997. 82 Mehmet Alis Ägypten wandelte sich in diesen Jahrzehnten tatsächlich zu einem Staat im Staat, der von seiner Stadtplanung über das Schulsystem bis hin zur Organisation des Militärs wie ein Musterbeispiel jener Disziplinierungs- und Überwachungssysteme anmutet, die Michel Foucault in seiner Studie zur Geburt des Gefängnisses schildert (Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.
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antritt verfugte Mehmet Ali über ein Heer, das dem der Pforte technisch und organisatorisch überlegen war und wurde mehr als einmal von Sultan Mahmud II. an den West- und Ostrand des Reiches beordert, um Erhebungen niederzuschlagen. Eine dieser Erhebungen war der griechische Befreiungskrieg 1821-1828, von dem im Folgenden noch ausführlicher zu reden sein wird (s. Kap. 5.3). Doch das Glück der Pforte über ihren tüchtigen Gouverneur währte nicht lange, denn im November 1832 begannen ägyptische Truppen einen ersten Vorstoß nach Norden in Richtung der osmanischen Hauptstadt. Jetzt war offensichtlich geworden, daß Mehmet Ali nicht allein eine Ausweitung seines Gouvernats zum Ziel hatte, sondern sich tatsächlich anschickte, die osmanische Zentrale zu erobern — mit einem modernisierten Heer, dem die Streitkräfte der Pforte nicht gewachsen waren. Mahmud II. bemühte sich zunächst vergeblich um einen westeuropäischen Bündnispartner. Allein der westliche Nachbar Rußland fand sich zu militärischer Unterstützung bereit. Doch eben dieses Engagement ließ England aufhorchen, das eine schleichende russische Okkupation des Osmanischen Reiches befürchtete und gegen den Zugriffsversuch von Zar Nikolaus I. auf die osmanische Hauptstadt intervenierte. Erst als der ägyptisch-osmanische Konflikt 1839 erneut ausbrach, kam es zu einer konzertierten Aktion der Westmächte, die wiederum sehr unterschiedliche Interessen vertraten, insgesamt aber um den Erhalt des Osmanischen Reiches besorgt waren. 1840/1841 wurden von der Pforte und allen Westmächten — einschließlich Preußens — Verträge unterzeichnet, welche die innere Bedrohung des Osmanischen Reiches durch Mehmet Ali dauerhaft stoppen sollten. Die ägyptischen Truppen mußten sich aus den besetzten Provinzen zurückziehen, doch der Pascha erhielt als Ausgleich von der Pforte die offizielle Bestätigung seiner erblichen Regentschaft über Ägypten und Nubien. Diese aufsehenerregenden militär-politischen Aktionen Mehmet Alis machten den Pascha zu einem der in Europa am meisten diskutierten zeitgenössischen orientalischen Regenten, dessen Selbstinszenierung als charismatische und zugleich enigmatische Herrscherpersönlichkeit sämtliche europäische Gesandte und Reisende — den großen preußischen Bewunderer des Paschas, Hermann Fürst von Pückler-Muskau83 eingeschlossen - in ihren Bann zog und schon bald zu einem elementarliterarischen Topos gerann.84 Zugleich aber dient die „Mehmet-Ali-Krise" als Seismograph für 1994). Vgl. dazu in direktem Rekurs auf Foucault Timothy Mitchell: Colonising Egypt. Cambridge/ Cairo 1988, S. 63-127; außerdem Fahmy: All the Pasha's Men; Schölch: Der arabische Osten im neunzehnten Jahrhundert 1800-1914, S. 369-372. 83 Pückler-Muskau: Aus Mehemed Alis Reich, S. 120-148. 84 Die europäischen Schilderungen der Audienzen bei Mehmet Ali und der nahezu magischen Präsenz des Gouverneurs gleichen sich auf bemerkenswerte Weise und legen
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die tatsächliche Fragilität des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert und läßt die geopolitische Dringlichkeit erahnen, mit welcher sich die Orientalische Frage den europäischen Mächten im Laufe jener Jahrzehnte immer wieder stellte. Nationale Erhebungen Zwar zählten, wie gesagt, die kleindeutschen Staaten im Unterschied zu England, Frankreich, Rußland und Österreich bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht zu den relevanten Akteuren europäischer OrientPolitik, doch waren die beiden genannten Aspekte der Orientalischen Frage, das Streben nach einem europäischen Kräftegleichgewicht und die immer deutlicher werdende Strukturkrise des Osmanischen Reiches, auch in der deutschen Öffentlichkeit durchaus Thema. Ungleich größere publizistische und literarische Kreise zogen in Deutschland allerdings die im ausgehenden 18. Jahrhundert einsetzenden Autonomiebestrebungen der westlichen Provinzen des Osmanenreiches. Anders als die Politik Mehmet Alis, die eine dezidiert innerosmanische Zielsetzung verfolgte und entsprechend von den osmanischen Militäreliten und nicht von der ägyptischen Bevölkerung des Gouvernats getragen war, fußten die gewaltsamen Erhebungen in den Westprovinzen auf nationalen Bewegungen und strebten — letztlich erfolgreich — nationalstaatliche Autonomie außerhalb des Reiches an. Während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das gesamte wesdiche Drittel des Osmanischen Reiches, von Montenegro über Serbien, Rumänien (d.i. Moldavien und die Wallachei), Bulgarien, Albanien und Bosnien bis nach Griechenland von gewaltsamen Aufständen der — mit Ausnahme von Albanien — überwiegend christlichen Bevölkerung geprägt.85 Diese Revolten richteten sich zum Teil gegen die Autokratie und Willkür einzelner Gouverneure, teils gegen Privilegien und Dominanzen anderer osmanischer Provinzen, vornehmlich der griechischen86, teils gegen politische und rechtliche Diskriminierungen. Und obwohl dem religiösen Aspekt bei allen diesen Erhebungen im frühen 19. Jahrhundert eine entscheidende Bedeutung zukam, lassen sich die beredtes Zeugnis ab von der Perfektion der Selbstinszenierung dieses Mannes und seiner Politik. Vgl. dazu: Fahmy: All the Pasha's Men, S. 1-9. 85 Vgl. dazu die komprimierte Übersicht in: Yapp: The Making of the Modern Near East, S. 59-69. 86 Die Griechen hatten durch den großen Einfluß der griechisch-orthodoxen Kirche, durch breite Vertretungen griechischer Notabein in der osmanischen Oberschicht und durch ihren florierenden Seehandel, der sich zu großen Teilen auf Piraterie stützte, bereits seit dem 18. Jahrhundert eine dominante Position in der Region inne, die sich auf der Wende zum 19. Jahrhundert noch verstärkte. Vgl. Yapp: The Making of the Modem Near East, S. 60.
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serbischen, bulgarischen, montenegrinischen, rumänischen und griechischen Abspaltungsbewegungen vom Osmanischen Reich keineswegs als eine gemeinsame christliche Revolution gegen die islamische Herrschaft deuten. Vielmehr handelt es sich bei diesen Aufständen um dezidiert nationale Bewegungen, bei denen die Religion zwar als wichtiges anti-osmanisches Movens fungierte, das aber letztlich nur innerhalb des jeweiligen Nationalkonzepts im Zusammenspiel mit sprachlichen, territorialen und geschichtlichen Momenten zum Tragen kam. So stützte sich etwa die serbische Nationalbewegung, die mit ihrer initialen Revolte 1804 als eine der ersten auf dem Balkan weithin sichtbar in Erscheinung trat und bereits 1830 den autonomen Status Serbiens erreichte, auf ein territoriales Nationalkonzept, das an das Großserbische Reich des 14. Jahrhunderts und seine Abmessungen von Belgrad bis zum Golf von Korinth anschloß.87 Auch die spätere bulgarische Nationalbewegung rekurrierte auf das mittelalterliche Groß-Bulgarien, das sich Mitte des 13. Jahrhunderts von der Donau ebenfalls bis zum Golf von Korinth erstreckte.88 Und die leitende historisch-staatliche Bezugsgröße der Griechen, die nach vergeblichen Versuchen in den 1770er Jahren 1821 mit ihrer Revolution gegen die Pforte begannen und 1827 die Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich erlangten, war schließlich nicht das spätantike Hellas, sondern das Byzantinische Kaiserreich.89 Prägend für die deutsche Wahrnehmung dieser revolutionären Aufstände im westlichen Osmanischen Reich sind letztlich drei Facetten dieser komplexen Gemengelage geworden: das Moment eines christlichen Glaubenskrieges, der national-freiheitliche Aspekt und die Loslösung aus dem Osmanischen Reich. Auf staatspolitischer Ebene dominierte in Europa angesichts der Aufstände in den westosmanischen Provinzen allerdings wiederum die Sorge um die Stabilität des Reiches. Denn für die Pforte brachten diese Revolutionen zum einen die Notwendigkeit ständiger militärischer Interventionen mit sich, was vor dem Hintergrund der in jenen Jahrzehnten zugleich kontinuierlich mit Rußland geführten Kriege die osmanischen Streitkräfte aufzureiben drohte. Zum anderen verlor das Reich mit den Balkanprovinzen agrarisch äußerst ertragreiche Territorien und wichtige steuerliche Einnahmequellen, was seinen militär-politischen Spielraum zusätzlich einengte und den von den westlichen Großmächten so erwünschten Reformprozeß bereits im Ansatz torpedierte. Und schließlich fürchteten England, Frankreich, Österreich und Preußen einmal mehr den 87 Yapp: The Making of the Modem Near East, S. 61 f.; zu den Nationalbewegungen auf dem Balkan vgl. ausführlich Charles Jelavich/ Barbara Jelavich: The Establishment of the Balkan National S'totes 1804-1920. Seattle/ London 1977. 88 Ebd. S. 65. 89 Ebd. S. 63.
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zunehmenden staatspolitischen Einfluß Rußlands auf die neu entstehenden, handels- und militärstrategisch so bedeutenden Balkanstaaten. Aus Sicht sämtlicher Großmächte und ihrer Regierungen — einschließlich Rußlands — aber standen die westosmanischen Ereignisse darüber hinaus in einem direkten Funktions-Zusammenhang mit den national-liberalen Bewegungen im eigenen Land, die sich allerorten rührten und nur mühsam und mit mehr oder minder großem Erfolg unterdrückt werden konnten. Revolutionen als Erschütterungen überkommener staatlicher Ordnung und monarchischer Herrschaftsform waren im Europa des frühen 19. Jahrhundert schließlich nicht allein in Form einer traumatischen Erinnerung an die Französische Revolution und die nachfolgende „Schreckensherrschaft" präsent, sondern durch die Aufstände in Spanien, Portugal, Belgien und Polen äußerst gegenwärtige Realität. Und da das Osmanische Reich aus der Perspektive der Regierungen Frankreichs, Englands, Rußlands, Österreichs, Preußens und der übrigen deutschen Staaten zweifelsfrei als souveräner Staat und der Sultan als legitimer monarchischer Herrscher wahrgenommen wurde, fielen die national motivierten Aufstände auf dem Balkan und der griechischen Halbinsel aus europäischer Sicht zunächst selbstverständlich in die politische Kategorie illegitimer Erhebungen gegen eine legitime monarchische Regierung. Die Sorge der Westmächte angesichts der nationalen Autonomiebestrebungen in den westosmanischen Provinzen galt also nicht allein der Stabilität des Osmanischen Reiches, sondern auch der des eigenen Staates, denn man fürchtete die unmittelbare Vorbildfunktion der Aufstände für die heimischen nationalliberalen Strömungen und das revolutionäre Potential vor den Türen der eigenen Residenzen. Hier verband sich also die Orientalische Frage eng mit der - geopolitisch universellen — Frage nach dem Erhalt staatlicher Ordnung und der Legitimität von Herrschaft. Und in eben diesem Spannungsfeld entstand jene politische, gesellschaftliche, kulturelle und literarische Bewegung, die sich mit dem 1821 beginnenden Freiheitskampf der Griechen gegen die Pforte in Westeuropa formierte und die in der historischen Forschung mit dem Begriff „Philhellenismus" gefaßt wird. Besonders in den deutschen Staaten brachte diese Strömung während der Jahre 1821 bis 1827 eine Flut von Berichten, Gedichten, Melodramen und anderen publizistischen und künstlerischen Elaboraten hervor, die den griechisch-osmanischen Konflikt in Text und Szene umsetzten, so daß der Philhellenismus rückblickend wohl als bedeutendstes diskursives Ereignis des deutschen Orientalismus im frühen 19. Jahrhundert betrachtet werden kann.
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5.3 Orientalische Frage (n) an den Ursprung der Kultur: Der Philhellenismus Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den philhellenistischen Bewegungen in Deutschland,90 mit ihrer Bedingtheit durch und ihrem Einfluß auf den Bildungsprozeß bürgerlicher Organisations formen,91 ihrem publizistischen Niederschlag92 und ihrer Aufnahme und Perpetuierung durch Literatur und Theater93 erfreut sich seit geraumer Zeit innerhalb der Literaturwissenschaft großer Prominenz. An differenzierten und materialreichen Darstellungen und Einzelstudien zum Thema herrscht kein Mangel. Allerdings hat sich die Forschung zum deutschen Philhellenismus in den Bereichen, die nach Repräsentationsstrategien des Konfliktes fragen, vornehmlich — wo nicht ausschließlich — mit dem Bild der Griechen be90 Eine systematische Aufnahme des phühellenistischen Publikationsmaterials hat Regina Quack-Eustathiades geleistet: Der deutsche Philhellenismus während des griechischen Freiheitskampfes 1821-1827. München 1984. Unter den zahlreichen Überblicksdarstellungen seien hier genannt: Gunnar Hering: „Der griechische Unabhängigkeitskrieg und der Philhellenismus". In: Alfred Noe (Hrsg.): Der Philhellenismus in der westeuropäischen Literatur 1780-1830. Amsterdam/ Atlanta 1994, S. 17-72; Heinrich Scholler: „Der PhilheUcnismus und die geistesgeschichtlichen Strömungen in Europa zur Zeit des griechischen Befreiungskampfes von 1821". In: Evangelos Konstantiou/ Ursula Wiedemann (Hrsg.): Europäischer Philhellenismus. Ursachen und Wirkung. Neuried 1989, S. 151-166. Als Grundlagenwerk firmieren allerdings nach wie vor der Beitrag von Robert F. Arnold („Der deutsche Philhellenismus. Kultur- und literaturhistorische Untersuchungen". In: Euphorion 2 (1896), Ergänzungsheft, S. 71-181) sowie die Studie von Johannes Irmscher: Der Philhellenismus in Preußen als Forschungsanliegen. Berlin 1966. 91 Vgl. hierzu i.b. die differenzierte Studie von Christoph Hauser: Anfänge bürgerlicher Organisation. Philhellenismus und Frühliberalismus in Südwestdeutschland. Göttingen 1990. 92 Johannes Irmscher: „Die Berliner Presse und der Philhellenismus". In: Evangelos Konstantinou (Hrsg.): Europäischer Philhellenismus. Die europäische philhellenische Presse bis %ur 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M./ Bern/ New York/ Paris 1994, S. 7792; Ursula Wiedemann: „Der Gesellschafter als Quelle philhellenistischer Publizistik". In: Konstantinou (Hrsg.): Europäischer Philhellenismus. Die europäische philhellenische Presse, S. 255-269; Ludwig Spaenle: „Philhellenismus und Öffentlichkeit in Bayern. Die bayrische Griechenbewegung im Spiegel der Presse". In: Konstantinou (Hrsg.): Europäischer Philhellenismus. Die europäische philhellenische Presse, S. 171-222. 93 Hervorragend recherchiert und vor einem historisch, kulturell und ästhetisch wesentlich breiteren Horizont dargestellt, als der Titel dies vermuten läßt, ist der Beitrag von Walter Puchner: „Die griechische Revolution von 1821 auf dem deutschen Theater. Ein Kapitel bürgerlicher Trivialdramatik und romantisch-exotischer Melodramatik im europäischen Vormärz". In: Südost-Forschungen. Internationale Zeitschrift für Geschichte, Kultur und Landeskunde Südosteuropas 55 (1996), S. 85-127. Einen summarischen Überblick über die philhellenistische Literatur in Deutschland bietet Lambros Mygdalis: „Der Philhellenismus in Deutschland". In: Evangelos Konstantinou (Hrsg.): Europäischer Philhellenismus. Die europäische philhellenische Literatur bis %ur 1. Hä/fte des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M./ Bern/ New York/ Paris 1992, S. 63-72.
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schäftigt.94 Eine systematische Analyse der philhellenischen Darstellung der Osmanen fehlt bislang,95 und Reflexionen auf die orientalistischen Effekte des philhellenistischen Schrifttums finden sich in der Forschungsliteratur allenfalls in Nebensätzen, wo immer wieder von einer „Tradition der religiösen Gegnerschaft zu dem alten Glaubensfeind, die seit der Kreuzzugszeit besteht und noch die gesamte frühe Neuzeit als reelle Bedrohung durchzieht",96 die Rede ist. Nach den bisherigen Ausführungen zur Ordnung des Orientalismus im frühen 19. Jahrhundert können Diagnosen dieser Art nicht befriedigen. Im folgenden soll daher ein erster Streifzug durch dieses noch unbestellte Forschungsfeld unternommen werden. Ziel dieses Ausflugs in die politischen, gesellschaftlichen und diskursiven Ereignisse im Kontext des griechischen Freiheitskampfes soll es sein, die ästhetischen Grenzen und Möglichkeiten philhellenistischer Orient-Topoi im Schwerefeld politischer, gesellschaftlicher und ästhetischer Eigengesetzlichkeit auszuloten und zugleich das philhellenistische Orient-Bild als eine Spielart des deutschen Orientalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu diskutieren.
5.3.1 Historische und politische Hintergründe des griechischen Freiheitskrieges Daß es sich beim deutschen Philhellenismus, bei der emphatischen Parteinahme für den nationalen Befreiungskampf der Griechen gegen die Osmanen, um ein literarisches und politisches Phänomen handelt, das nicht 94 So etwa dezidiert Hans Eidener: „Hellenen und Philhellenen". In: Griechen und Deutsche. Bilder vom Anderen. Hrsg. v. Württembergischen Landesmuseum Stuttgart/ Hessischen Landesmuseum Darmstadt 1982, S. 63-75; Pavlos Tzermias: „Griechisch-deutsche Begegnung /wischen Illusion und Realität". In: Griechen und Deutsche, S. 10-21. Zur AntikeRezeption im Kontext des Philhellenismus vgl. Evangelos Konstantinou (Hrsg.): Die Rezeption der Antike und der europäische Philhellenismus. Frankfurt a. M. u. a. 1998, darin i.b. Johannes Irmscher: „Das Antikcbüd des deutschen Philhellenismus" (S. 121-138); Stavroula N. Patsourakou: „Aspekte der Antike-Rezeption im deutschen Geistesleben des 19. Jahrhunderts und Wurzeln des deutschen Philhellenismus (S. 209-220); sowie Friedgar Löbker: Antike Topoi in der deutschen Philhellenenliteratur. Untersuchungen %ur Antikere^eption in der Zeit des griechischen Unabhängigkeitskrieges (1821-1829). München 2000. 95 Katherine Elisabeth Fleming hat einen Versuch in dieser Richtung unternommen und eine — vor allem für den historisch-politischen Kontext — sehr erhellende Studie verfaßt The Muslim Bonaparte. Diplomacy and Orientalism in Alt Pasha's Greece. Princeton/ New Jersey 1999. Da sie sich allerdings auf britisches und französisches Material beschränkt und sich zudem theoretisch wie methodisch konsequent im Fahrwasser Edward Saids bewegt, hält die Arbeit für eine Analyse orientalistischer Effekte des deutschen Philhellenismus innerhalb dieser Arbeit keine wirklich innovativen Hinweise bereit. 96 Puchner: Die griechische Revolution von 1821 auf dem deutschen Theater, S. 94.
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erst mit dem Beginn der großen griechischen Erhebung 1821 einsetzte, ist in der germanistischen Literaturwissenschaft so bekannt wie in kaum einer anderen Disziplin. Die Verantwortung für dieses Wissen trägt vornehmlich, wenn nicht sogar ausschließlich, Friedrich Hölderlin, dessen Hyperion oder der Eremit in Griechenland (ersch. 1797/99) als einer der ersten deutschen Romane das zeitgenössische (d.i. das osmanische) Griechenland zum Schauplatz hatte und den — letztlich erfolglosen — griechischen Aufstand im Jahr 1770 zum realgeschichtlichen Anlaß für die geschilderten Revolutionsereignisse und die tiefgreifenden Gespräche seiner Protagonisten über Freiheit und Tyrannei nahm.97 Doch gerade die Rezeptionsgeschichte dieses Romans im frühen 19. Jahrhundert läßt sich als Seismograph für den radikalen Wandel betrachten, den die deutsche Wahrnehmung des zeitgenössischen Griechenlands in den folgenden zwanzig Jahren durchlief: Denn so wie Hölderlins Hyperion selbst auf der topologischen Schnittstelle zwischen Französischer Revolution und Antike angesiedelt ist, lasen auch die unmittelbaren Rezipienten und Kritiker des Romans seinen Handlungsort in erster Linie als einen allegorischen und bezogen die Revolutionsthematik kaum auf den aktuellen griechisch-osmanischen Konflikt.98 Mit dem Jahr 1821 allerdings änderte sich das. Im Frühjahr dieses Jahres ist der Hyperion vergriffen und eine Neuauflage in Vorbereitung, unter anderem befördert durch Justinius Kerner, dessen Bemühungen Karl August Varnhagen von Ense am 1. Juli 1821 in einem Brief mit den Worten begrüßt: „Es ist schön, daß diese längst wünschenswerthe Sache endlich zu Stande kommt! Der Hyperion fände keine bessere Zeit."99 Und ein halbes Jahr später bemerkt Varnhagen gegenüber Ludwig Uhland: Wenn doch die Sammlung der Hölderlin'schen Werke endlich erschiene! Diese Griechenzeit geht noch vorüber, und nachher ist die schönste Gelegenheit verloren. So geht es immer mit unsern deutschen weitläufigen Bemühungen! Welche Aufnahme war dem Hyperion in der allgemeinen Stimmung bereitet!100
97 Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Bd. 2: Hyperion, Empedokles, Aufsätze, Übersetzungen. Hrsg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt a. M. 1994, S. 9-175, i.b. S. 105ff. Vgl. zum Aspekt des Philhellenismus: Vasilos Maliardis: Friedrich Hölderlin als Vorläufer des deutschen Philhellenismus. Zur Interpretation des ,Hyperion'. In: Evangelos Konstantiou/ Ursula Wiedemann (Hrsg.): Europäischer Philhellenismus. Ursachen und Wirkung. Neuried 1989, S. 239-276. 98 Maliardis: Friedrich Hölderlin als Vorläufer des deutschen Philhellenismus, S. 260 ff. 99 Varnhagen an Kerner v. 1. Juli 1821. In: Justinius Kerner: Briefwechsel mit seinen Freunden. Hrsg. v. seinem Sohn Theobald Kerner. Durch Einleitungen und Anmerkungen erläutert von Dr. Ernst Müller. 2 Bde. Stuttgart/Leipzig 1897, Bd. I, S. 520. 100 Varnhagen an Uhland v. 28. Januar 1922. In: Uhlands Briefwechsel. Im Auftrag des Schwäbischen Schillervereins hrsg. v. Julius Hartmann. 4 Tie. Stuttgart/ Berlin 19111916 (= Veröffentlichungen des Schwäbischen Schülervereins, Bd. 4-7), Teil II: 18161833. Stuttgart/Berlin 1912, Nr. 1146, S. 200.
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Ursula Wiedenmann ist es zu danken, daß diese signifikanten Äußerungen Varnhagen von Enses ihren Weg aus der Hölderlin-Forschung in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem deutschen Philhellenismus gefunden haben.101 In kritischer Revision bestehender Forschungspositionen hat sie darüber hinaus den Charakter dieser Briefstellen klar umrissen: Unbezweifelbar ist für Varnhagen der atmosphärische Zusammenhang zwischen dem zeitgenössischen Hintergrund im ,Hyperion', nämlich dem modernen Griechenland um 1770, und dem gegenwärtigen Geschehen von 1821/22. Erst am Anfang des griechischen Befreiungskampfes sieht Varnhagen die „Bedingung der Zeit" als erfüllt an, die Voraussetzung, daß das Werk Hölderlins zeitgeschichtlich, wo nicht gar politisch rezipiert werden kann.102
Eine wesentliche Bedingung dieser neuen Lesart des Hyperion ist in einem engen Zusammenspiel zwischen der griechisch-osmanischen Ereignisgeschichte, der Innenpolitik der deutschen Staaten und der spezifischen Ordnung des religiösen, politischen, wissenschaftlichen und literarischen Diskurses in den 1820er Jahren zu suchen. Denn der marginale Niederschlag, den die griechischen Aufstände der 1770er Jahre in Literatur und Öffentlichkeit der deutschen Staaten gefunden hatten - auch Hölderlin beginnt schließlich erst zwei Jahrzehnte später und unter dem nachhaltigen Eindruck der Französischen Revolution seine Arbeit am Roman -, zeigt deutlich, daß weder das Ereignis eines griechischen Aufstands selbst, noch die frei schwebende Idee eines freien Griechenlands oder die Antikenbegeisterung allein als Ursache einer Bewegung wie der des deutschen Philhellenismus angesehen werden können. Um die diskursive und praktische Gemengelage zu verstehen, aus der heraus der deutsche Philhellenismus entstanden ist und die ihn zu einem Schlüsselereignis des deutschen Orientalismus hat werden lassen, gilt es einmal mehr, die Geschehnisse des griechischen Aufstands selbst und die Reaktion der europäischen Staaten Revue passieren zu lassen: In Rußland, genauer in Odessa, nahm der griechische Aufstand seinen Ausgang, angeführt von Alexander Ypsilanti, Generalmajor der russischen Armee, der sich in den anti-napoleonischen Freiheitskriegen auf russischer Seite militärische Ehren erworben hatte.103 Als Ypsilanti im Frühjahr 1821 von Odessa aus mit einer kleinen Schar Kämpfer die Grenze zum Osmanischen Reich in Richtung Moldau überschritt, am 24. Februar 1821 von Jassy (lasi) aus in einer Proklamation das griechische Volk zur nationalen Erhebung aufrief und in den Donaufürstentümern selbst den gewaltsamen 101 Ursula Wiedemann: „Varnhagen von Ense und der griechische Aufstand 1821-1829". In: Konstantinou (Hrsg.): Europäischer Philhellenismas. Die europäische philhellenische Literatur,^. 135-148, i.b. S. 136. 102 Ebd., S. 136 f.. 103 Irmscher: Die Berliner Presse und der Philhellenismus, S. 77.
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Aufstand gegen die osmanische Herrschaft begann, stieß dies beim Zaren allerdings keineswegs auf Zustimmung. Er verweigerte der Unternehmung jegliche militärische Unterstützung und entließ Ypsilanti unehrenhaft aus der Armee, dessen erste aktive Revolutionsversuche ohne den Beistand des Zaren zum Scheitern verurteilt waren.104 Auch den parallel dazu auf der Peloponnes, Kreta, in Westmazedonien und andernorts105 stattfindenden griechischen Kämpfen gegen das osmanische Militär blieb politische Beihilfe von Rußland oder gar den westeuropäischen Staaten versagt. Der internationalen Öffentlichkeitswirksamkeit der revolutionären Bestrebungen tat dies indes keinen Abbruch: Der Kongreß der Heiligen Allianz in Laibach — eigentlich mit den Ereignissen in Neapel und Piemont befaßt und mit Besorgnis auf diese weiteren revolutionären Umtriebe blickend — diskutierte den „Fall" umgehend, und bereits im März berichteten die Zeitungen in Wien und Berlin von den politischen und militärischen Aktivitäten Ypsilantis, der Reaktion des Zaren darauf und dem Fortgang der Ereignisse.106 Doch während in der westeuropäischen Öffentlichkeit die Begeisterung für die griechische Sache stetig zunahm, blieb die Politik der Staaten bei ihrer ablehnenden Haltung und die Freiheitskämpfer erfuhren militärische Unterstützung ausgerechnet von osmanischer Seite; namentlich von Tependeleni Ali Pascha, der 1788 als osmanischer Gouverneur in der südgriechischen Provinz Yoannina eingesetzt worden war und in Europa als 5rAli Pascha von Jannina" zu großer Berühmtheit gelangte. Dieser osmanische Gouverneur hatte nämlich in den vorangegangenen Jahren äußerst erfolgreich die Autonomie seines Gouvernats von der Pforte betrieben107 und sich nach seiner Absetzung durch den Sultan (1820) zur Zusammenarbeit mit den griechischen Aufständischen entschlossen.108 So erklärt sich sowohl der hohe Bekanntheitsgrad Ali Paschas im zeitgenössischen Europa als auch die Ambivalenz seiner ästhetischen und publizistischen Bewertung und Inszenierung nach seinem gewaltsamen Tod
104 Zu den genaueren Hintergründen vgl. Hering: Der griechische Unabhängigkeitskrieg und der Philhellenismus, S. 17-72, hier: S. 18. 105 Ebd., S. 19 f. 106 Vgl. Irmscher: Der Philhellenismus in Preußen als Forschungsanliegen, S. 13 ff. 107 Vgl. dazu den kurzen Überblick von Dennis N. Skiotis: „The Greek Revolution. Ali Pasha's last Gamble". In: Nikiforos P. Diamandouros/ John P. Anton/ John A. Petropulos/ Peter Topping (Hrsg.): Hellenism and the first Greek War of Liberation (18211830). Continuity and Change. With an Introduction by John A. Petropulos. Thcssaloniki 1976, S. 97-107; ferner Fleming: The Muslim Bonaparte, S. 36-69; Maruz: Das Osmanische Reich, S. 217. 108 Eine knappe Zusammenfassung der Ereignisse findet sich bei Douglas Dakin: The Greek Struggle for Independence 1821-1833. London 1973, S. 49-57; vgl. auch Barbara Jelavich: History of the Balkans. Bd. 1: Eighteenth and Nineteenth Centuries. Cambridge 1983.S. 216 f.
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1822.109 Noch im selben Jahr wurden etwa in London und Paris die ersten Theaterstücke zu Ali Pascha uraufgeführt, 1824 kam — um nur einige Beispiele zu nennen — in Leipzig die Oper Ali Pascha von Janina von Albert Lortzing auf die Bühne, in darauffolgenden Jahr wurde das Melodram Ali Pascha aus der Feder eines gewissen M.T. von Haupt gegeben und 1825 erschien in Wien die Biographie des Wesirs Ali-Pascha von Janina von C. Alcaini.11" Doch auch auf der realpolitischen Bühne ist die Bedeutung Ali Paschas für die Frühphase des griechischen Aufstandes kaum zu überschätzen. Dank seiner Hilfe konnten die griechischen Freiheitskämpfer bis Jahresende 1821 die Peloponnes, Mittelgriechenland und die ionischen Inseln unter ihre Kontrolle zu bringen, im Dezember 1821 die erste Nationalversammlung einberufen und bereits am 1. Januar 1822 die Unabhängigkeit proklamieren.111 Sowohl die Strafexpeditionen der Osmanen — wie etwa das berüchtigte Massaker an der christlichen Bevölkerung von Chios im April 1822,112 das bald zu einem zentralen Topos der philhellenistischen Bewegung und ihrer Literatur avancierte — als auch interne Auseinandersetzungen der Griechen113 ließen eine tatsächliche Konsolidierung der neustaatlichen Angelegenheiten allerdings nicht zu. Auch blieb eine offizielle militärische Unterstützung seitens der Großmächte noch immer aus. Und so war es für die vom Sultan zur Unterstützung aus Ägypten angeforderte Armee Mehmet Alis unter dem Kommando seines Sohnes Ibrahim Pascha ein Leichtes, 1824 zunächst Kreta zurückzuerobern und im Laufe des folgenden Jahres die gesamte griechische Halbinsel — mit Ausnahme Missolunghis — wieder unter osmanische Kontrolle zu bringen.114 Die Festung Missolunghi am Golf von Patras hielt über ein Jahr den ägyptischosmanischen Belagerern stand. Verteidigt nicht allein von griechischen Kämpfern sondern auch von zahlreichen europäischen Philhellenen, wandelte sie sich im Laufe dieser Monate zum zentralen Symbol des Befreiungskrieges und seiner europäischen Anhängerschaft, wozu die spektaku109 Zur Rezeption Ali Paschas auf den europäischen Theater- und Opernbühnen vgl. die kurze, aber materialschwangere Darstellung in Puchner: Die griechische Revolution von 1821 auf dem deutschen Theater, S. 11 Off. 1 10 Ebd. 111 Zum Verlauf der Revolten und ihren politischen und administrativen Folgen vgl. Jclavich: History of the Balkans I, S. 214-234; Karin Apostolidis-Kusserow: „Die griechische Nationalbewegung". In: Norbert Reiter (Hrsg.): Nationalbewegungen auf dem Balkan. Berlin 1983, S. 61-175, hier S. 137-142; Dakin: The Greek Struggle for Independence 18211833, S. 57-77; Hering: Der griechische Unabhängigkeitskrieg und der Philhellenismus, S. 1 9 f. 112 Apostolidis-Kusserow: Die griechische Nationalbewegung, S. 145; Jelavich: History oftheBa/113 Dakin: The Greek Struggle for Independence 1821-1833, S. 123 ff. Hering: Der griechische Unabhängigkeitskrieg und der Philhellenismus, S. 21 . 114 dazu: Dakin: The Greek Struggle for Independence 1821-1833, S. 132ff.; zu Ibrahims Feldzug gegen die Griechen vgl. auch Fahmy: All the Pasha's Men, S. 55-61 .
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läre Art und Weise ihrer letztlichen Eroberung noch zusätzlich beitrug: In der Nacht vom 10. zum 11. April 1826 unternahmen die Verteidiger Missolunghis einen von vornherein aussichtslosen Ausbruchsversuch, nach dessen Scheitern sie sich mit ihren eigenen Pulvermagazinen in die Luft sprengten.115 Seit dem Ausbruch des griechischen Aufstandes hatten die Westmächte und Rußland in mehreren Kongreßbeschlüssen unter Federführung des österreichischen Staatskanzlers Fürst von Metternich die griechischen Autonomiebestrebungen als revolutionäres Aufbegehren gegen legitime Herrschaft verurteilt. Allem voran der Vielvölkerstaat Österreich fürchtete die Vorbildfunktion der griechischen Autonomiebestrebungen für Volksgruppen im eignen Land, doch auch die anderen europäischen Regierungen — die der deutschen Staaten eingeschlossen — begegneten sowohl den Zielen des Aufstands als auch seinen militärischen Mitteln mit klarer Ablehnung. Daß sich diese Haltung Mitte der 1820er Jahre änderte und Bewegung in die europäische Haltung zur griechischen Sache kam, resultierte — wie so viele politische Entscheidungen im Rahmen der Orientalischen Frage — aus einem kontingenten Zusammenspiel der verschiedenen, innen- wie außenpolitischen, Einzelinteressen der europäischen Staaten, sowie erneut der Sorge um ein innereuropäisches Kräftegleichgewicht.116 Jedenfalls wurde nach einem britisch-russischen Vorstoß im Frühjahr 1826 am o.Juli 1827 von Rußland, England und Frankreich der Londoner Vertrag unterzeichnet. Er sah die Durchsetzung einer griechischen Teilautonomie auf diplomatischem Wege vor, zu militärischen Mitteln sollte nur im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen mit der Pforte gegriffen werden. Um die ägyptisch-osmanische Heeresleitung zum Einlenken zu bewegen, wurden britische, französische und russische Schiffe zur Peloponnes entsandt, und am 20. Oktober 1827 kam es in der Bucht von Navarino (Pilos) — aus bis heute nicht vollständig geklärten Gründen — zu einem Seegefecht der alliierten Kriegsschiffe mit der ägyptisch-osmanischen Flotte, das mit der vollständigen Vernichtung letzterer endete.117 Diese Ereignisse sowie der sich anschließende russisch-osmanische Krieg führten zunächst zur notgedrungenen Anerkennung einer griechischen Teilautonomie durch die Pforte im Frieden von Adrianopel (Edirne), der durch preußische Vermittlung zustande kam.118 Zugleich zeichnete sich jedoch die Zunahme russischen Einflusses auf die griechischen Belange und damit auch auf die des Osmanischen Reiches immer deutlicher ab, so daß die Westmächte — 115 Dakin: The Greek Struggle for Independence 1821-1833,$. 184 ff. 116 Zu den Einzelheiten vgl. ebd. S. 142-217. 117 Ebd. S. 226 ff. Ausführlich: Christopher M. Woodhouse: The Battle of Navarino. London 1965. 118 Vgl. Pröhl: Die Bedeutung preußischer Politik in den Phasen der Orientalischen Frage, S. 173.
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allem voran Österreich und England — letztlich für ein gänzlich autonomes Griechenland mit einem größeren als dem zunächst geplanten Territorium plädierten. Seine Einrichtung unter russisch-britisch-französischem Schutz wurde im Londoner Protokoll vom 3. 2. 1830 beschlossen. Und zwei Jahre später trugen die Schutzmächte — um allen Machtkämpfen untereinander vorzubeugen — die griechische Krone schließlich einem Prinzen an, von dessen Seite keinerlei Irritationen europäischer Großmachtinteressen zu befürchten war: Im Winter 1832 wurde Otto von Wittelsbach, der minderjährige zweite Sohn des bayrischen Königs Ludwigs L, von den europäischen Mächten zum griechischen König gewählt.119 Drei Dinge zeigt diese kursorische Übersicht über die Ereignisgeschichte des griechischen Freiheitskrieges sehr deudich: Zum einen kann auf politischer Ebene von einer konzertierten europäischen Aktion für die Griechen und gegen das Osmanische Reich keine Rede sein. Zum anderen zeugt die anfängliche Ablehnung des griechischen Aufstands durch die europäischen Staaten aus Angst vor seiner revolutionären Vorbildfunktion von der Wahrnehmung des Osmanischen Reiches als eines legitimen Staates, dessen Belange keineswegs out of area, sondern in direkter diskursiver Nachbarschaft lagen. Und schließlich illustriert gerade die Einrichtung eines bayrischen Königtums in Griechenland durch die europäischen Großmächte die marginale Bedeutung, die den deutschen Staaten in der internationalen Orient-Politik jener Jahrzehnte zukam - was indes nichts an dem Umstand änderte, daß die Ereignisse im Fokus der deutschen Öffendichkeit lagen und dort ihre eigene Wirklichkeit schufen. So waren die Münchner Feierlichkeiten zur Thronbesteigung Ottos, insbesondere das hier zur Aufführung gebrachte allegorische Schauspiel Vergangenheit und Zukunft aus der Feder des Freiherrn von Poißl, Ludwig Borne im Dezember 1832 Anlaß genug zu einer mehrseitigen, ebenso scharfen wie amüsanten Polemik gegen diese Krönung und ihre ästhetische Umsetzung durch den bayrischen Hofdichter. Im neunundachtzigsten seiner Briefe aus Pans zitiert Borne aus dem Poißlschen Textbuch: Das zweite Bild stellt die Gegend von Athen vor. „Mit erst düsterem Himmel, verbrannten Olivenwäldern und verdorrten Fluren. Nach und nach kleidete sich der Himmel in Bayerns Nalionalfarbe. Die Olivenwälder begannen zu grünen. Die Fluren bedecken sich mit Blumen und Blüten, aus Ruinen entstanden Paläste. Und in diesem Augenblicke erschien, von der Liebe getragen und den Glauben und die Hoffnung zur Seite, das als Segensgestirn über Hellas aufgehende Bildnis des Königs Otto, vor dem sich Griechenlands Volk in freudiger Huldigung neigte." [...] O Herr von Poißl! ich weiß nicht, ob Sie Verstand haben, aber Geschmack haben Sie nicht den geringsten. Wie freue ich mich, daß die verbrannten Olivenfelder wieder grün werden; jetzt können doch die armen Griechen wieder Salat essen. 119 Dakin: The Greek Struggle for Independence 1821-1833, S. 310ff.
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Orientalismus: Genese und Gestalten Aber die bayrische Nafionalfarbe, in welche sich der Himmel kleidete, als er Audienz beim König Otto hatte - ist das nicht himmlisch? ja, ja, so ist es. Den Himmel selbst möchten Sie gern zum Lakaien machen, und sein heiliges Blau soll die Livreefarbe eines deutschen Fürsten sein! Verdammnis!12"
Seiner ausführlichen Kritik des Stücks läßt Borne schließlich eine groteskvisionäre Skizze der kommenden bayrischen Herrschaft in Griechenland folgen, läßt „in einer Nacht alle die herrlichen Griechen aller Zeiten und aller Stände aus dem Grabe hervorsteigen" und der Ankunft Ottos in Athen beiwohnen: König Otto tritt majestätisch hervor und hält folgende Rede: „Hellenen! Schaut über euch! Der Himmel trägt die bayrische Nationalfarbe; denn Griechenland gehörte in den ältesten Zeiten zu Bayern. Die Pelasger wohnten im Odenwalde und Inachus war aus Landshut gebürtig. Ich bin gekommen, euch glücklich zu machen. Eure Demagogen, Unruhestifter und Zeitungsschreiber haben euer schönes Land ins Verderben gestürzt. Die heillose Preßfrechheit hat alles in Verwirrung gebracht. Seht, wie die Ölbäume aussehen. Ich wäre schon längst zu euch herübergekommen, ich konnte aber nicht viel früher, denn ich bin noch nicht lange auf der Welt. Jetzt seid ihr ein Glied des Deutschen Bundes. [...] Für meine Zivilliste gebt ihr mir jährlich sechs Millionen Piaster, und ich erlaube euch, meine Schulden zu zahlen."121
Das griechische Volk, so spinnt Borne die Geschichte fort, erträgt die bayrische Tyrannei nur bis zu jenem Tag, als der „Herr Oberbaurat von Klenze" auf Befehl des Königs damit beginnt, „den Tempel der Minerva, das Parthenon, das Pompejon, die Phöcüe, noch zwanzig andere Tempel und mehrere hundert Statuen" abzutragen und in Kisten zu verpacken, um die Antiken nach Bayern zu schicken. Daraufhin ergriffen die Athener „einige der schönsten antiken Steine, mit Basreliefs verziert, und warfen sie dem armen Herrn von Klenze an den Kopf, bis er tot blieb", zogen zum König, setzten ihn zuerst in eine Sänfte und dann auf ein Schiff. „Und so endigte das bayrisch-russisch-englisch-französische Reich."122 Bornes politische Prophezeiungen sollten sich erst im Jahr 1862 erfüllen, als Otto von Wittelsbach nach dreißigjähriger Regierungszeit von den Griechen abgesetzt wurde.123 Die philhellenistische Bewegung in Deutschland indes hatte bereits vor der Krönung Otto von Wittelsbachs ihren Zenit überschritten, und die meisten ihrer Protagonisten begegneten dieser Thronbesteigung als staatspolitischem Ergebnis des Befreiungskrieges mit wenig Euphorie. Doch die „Ergebnisse" des deutschen Philhellenis120 Ludwig Borne: Briefe aus Paris, 14. Dezember 1832, S. 566 (Hervorh. i.O.). 121 Ebd., S. 569. 122 Ebd., S. 570. 123 Leo von Klenze konnte noch den Bau der Regensburger Walhalla, der Neuen Eremitage in Petersburg und der Befreiungshalle in Kehlheim vollenden und starb 1864 eines natürlichen Todes.
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mus — so man Bewegungen wie diese überhaupt in Parametern der Finalität messen will - sind letztlich weder auf staatspolitischer Ebene noch auf griechischem Boden zu suchen, sondern sie manifestierten sich in einer Mobilisierung und Kulmination von Geldmitteln, zivilgesellschaftlichen Organisations formen, publizistischer und literarischer Produktivität, wie sie in den deutschen Ländern „Zwischen Revolution und Restauration" ohne Beispiel ist.
5.3.2 Die philhellenische Bewegung in Deutschland Der Beginn des deutschen Philhellenismus wird gemeinhin auf das Frühjahr 1821, den Ausbruch der griechischen Kämpfe, datiert, besitzt aber seine eigene Vorgeschichte.124 Schließlich hatten sich seit Beginn des 18. Jahrhunderts die griechisch-deutschen Beziehungen auf den Feldern des Handels und der universitären Bildung immer weiter intensiviert,125 mit Leipzig, Göttingen, Jena und Berlin als ihren Zentren.126 Auch existierten in deutschen Städten Außenstellen griechischer Gesellschaften wie etwa der 1813 in Athen gegründeten „Gesellschaft der Musenfreunde" (Philomousos Hefairiä), zu deren Mitgliedern einer der einflußreichsten Protagonisten des deutschen Philhellenismus, der Münchner Altertumswissenschaftler, Theologe, Philologe und Prinzenerzieher Friedrich Wilhelm Thiersch (1784-1860), zählte.127 Und schließlich lassen sich ästhetischtopologische Traditionslinien ausmachen, an die der Philhellenismus der 1820er Jahre anknüpfen konnte. Die wichtigsten Quellen des philhellenistischen Kunstschaffens waren Reisebeschreibungen aus den ersten Jahren des Jahrhunderts, allem voran die Berichte Jakob Salomon Bartholdys,128 124 Vgl. die komprimierte Darstellung in: Hauser: Anfänge bürgerlicher Organisation, S. 23-28. 125 Vgl. dazu die ausführliche Studie von Emanuel Turczynski: Die deutsch-griechischen Kulfurbesjehungen bis %ur Berufung König Ottos. München 1959 (Südosteuropäische Arbeiten, Bd. 48), i.b. S. 4-29 u. 89-115. 126 Zum griechischen Buch- und Zeitungswesen und der Bedeutung deutscher und österreichischer Standorte vgl. ebd., S. 116-157. 127 Zur spannungsreichen Zeit der Mitgliedschaft Thierschs in der Gesellschaft der Musenfreunde ebd., S. 26 f. Zur Bedeutung des Gelehrten für den Philhellenismus vgl. Heinrich Scholler: „Die Antikenrezeption bei dem Philhellenen Friedrich Thiersch". In: Konstantinou (Hrsg.): Die Rezeption der Antike und der europäische Philhellenismus, S. 329-348; ders.: „Griechische Informanten und Korrespondenten Friedrich von Thierschs und seine journalistische Tätigkeit in der Augsburger Allgemeinen Zeitung für Griechenland". In: Konstantinou (Hrsg.): Europäischer Philhellenismus. Die europäische Presse, S. 157-170. 128 Der Onkel Felix Mendelsohn Bartholdys hatte seinen Reisebericht 1805 unter dem Titel Bruchstücke %ur näheren Kenntnis des heutigen Griechenland, gesammelt auf einer Reise von /.LJ. Bartholdj. Im Jahre 1803-1804 veröffentlicht. Zu den Reiseberichten als Bildspender vgl. Puchner: Die griechische Revolution von 1821 auf dem deutschen Theater, S. 100.
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Francois Charles Pouquevilles129 und Charles Nicolas Sigisbert Sonnini de Manoncourts.130 Und auch auf den Bühnen der 1810er Jahre waren neugriechische Sujets durchaus zu finden; so etwa in Form des Festspiels Die Ruinen von Athen aus der Feder August von Kotzebues, das 1812 in Pest uraufgeführt wurde und heute — da ist sich die Forschung einig — allein aufgrund seiner Vertonung durch Ludwig van Beethoven noch der Erwähnung wert ist: „Wir finden den Parthenon in Trümmern liegend," so faßt Irmscher die Szene zusammen, „heulende Derwische dort, wo einst der Kult der Pallas Athene gepflegt wurde, einen Griechen, der in dem Stumpf einer dorischen Säule Reis stampft, den Pasche, der einen Marmorsarkophag herbeischaffen läßt, um ihn als Futterkrippe für sein Leibroß herzurichten."131 Welch entscheidenden Umschlagpunkt die Ereignisse des Jahres 1821 dennoch markieren, läßt sich anhand des Vergleichs zweier inhaltlich zusammenhängender Erzählungen E.T.A. Hoffmanns aus den Jahren 1820 und 1821 illustrieren, die beide sowohl die Separationsbestrebungen der Griechen als auch die hiesige philhellenistische Parteinahme für diese Bestrebungen thematisieren — allerdings aus jeweils gänzlich unterschiedlicher Perspektive. Die Rede ist von der Erzählung Die Irrungen. Fragment aus dem Lehen eines Fan fasten132 aus dem Jahre 1820 und ihrer 1821 unter dem Titel Die Geheimnisse1^ erschienenen Fortsetzung. Zentraler Protagonist der Irrungen ist Baron Theodor von S., ein reichlich überspannter, dandyhafter Jungadliger aus dem Mecklenburgischen. Unter Angabe bizarrer Gründe134 behauptet der junge Mann von sich, 129 Die deutsche Übersetzung von Francois Charles Pouquevilles einflußreicher Historic de la regeneration de la Grece (Paris 1820 f.) erschien unter dem Titel Geschichte der Wiedergeburt Griechenlands 1824f. in Heidelberg. Die Übertragung seines Reiseberichts Pouqueville's Reise durch Mona und Albanien nach Constantinopel und in mehrere andere Theile des ottomanischen Reiches in den Jahren 1798, 1799, 1800 und 1801 war in Wien bereits seit 1807 auf dem Markt. 130 Dessen Voyage en Grece et en Turquie wurde im Erscheinungsjahr 1801 ins Deutsche übertragen und als Reise nach Griechenland und die Türkei veröffentlicht (als Band 24 im Berliner Magazin von merkwürdigen Reisebeschreibungen}. 131 Irmscher: er Philhellenismus in Preußen ah Forschungsanliegen, S. 12 f. Dazu auch Puchner: Die griechische Revolution von 1821 auf dem deutschen Theater, S. 100. 132 E.T.A. Hoffmann: Die Irrungen. Fragment aus dem lieben eines Fantasien. In: ders.: Letzte Erzählungen, Kleine Prosa, Nachlese. Bearb. u. erl. v. Hans-Joachim Kruse, Rudolf Mingau u. Volker Liebrenz. Berlin/ Weimar 1994 (= Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 8), S. 59-107. 133 E.T.A. Hoffmann: Die Geheimnisse. Fortsetzung des Fragments aus dem Leben eines Fantasten: ,Die Irrungen'. In: ders.: Letzte Erzählungen, S. 108-169. 134 Zu den komischen Absurditäten seiner Lektüre des eigenen Stammbaumes gehört es u. a., die französische Gouvernante seiner Mutter zum umherspukenden Gemälde der seinerzeit kinderlos verstorbenen griechischen Ex-Gattin seines Großvaters — und entsprechend das Französisch der Erzieherin zum fehlinterpretierten Neugriechisch - zu erklären. Vgl. E.T.A. Hoffmann: Letzte Erzählungen, S. 78f.
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eigentlich griechischer Abstammung und damit dazu berufen zu sein, sich trotz seiner generellen Tendenz zur Risikovermeidung und eklatanten Unfähigkeit in allen Belangen des Militärischen an die Spitze eines bewaffneten Aufstandes zur Befreiung Griechenlands zu stellen. Jenseits der offensichdichen Unangebrachtheit von Theodors Ambitionen bleibt leserseitig unentschuldbar, ob ein derartiger Feldzug tatsächlich von griechischer Seite vorbereitet wird oder ob nicht auch dieses Projekt selbst nichts weiter darstellt als das bloße Hirngespinst einer Geisteskranken. Denn zum Kampf gegen die Osmanen aufgerufen sieht sich Hoffmanns mecklenburgischer Don Quijote durch eine mysteriöse Dame, bei der es sich angeblich um eine zauberkundige „griechische Fürstin" im Exil handelt — weitaus wahrscheinlicher jedoch um die aus Liebeskummer dem Wahnsinn verfallene Tochter eines „gelehrtefn] Judefn] aus Smyrna", dessen gegenwärtiger Aufenthalt in Berlin einzig dem Zweck dient, „sich von dem Geheimrat Diez über eine zweifelhafte Stelle im Koran belehren zu lassen".135 Vor dem Hintergrund philhellenistisch motivierter Inszenierungen des (neu-)griechischen Nationalcharakters muß dabei besonders verblüffen, daß als ein Aspekt der Schwierigkeit, den Geisteszustand jener ominösen Griechin festzustellen, die angeblich kollektive Affinität ihres Volkes zur Ausbildung verstiegener Ideen und hinterwäldlerisch vernunftwidriger Praxen angeführt wird. Baron Theodors Onkel stellt fest: Ich würde [...] die Person, die das schrieb, was du mir vorlasest, für wahnsinnig halten, wäre sie nicht offenbar eine Griechin. Hast du aber dir gehörige Notiz von Neugriechenland verschafft, so wirst du wissen, daß die Bewohner an allerlei Magie und Zaubereien steif und fest glauben und von den tollsten Einbildungen geplagt sind, [so] wie du manchmal -[...].136
Erweist sich aber das in den Irrungen gezeichnete Bild der Griechen bereits an sich als eher ambivalent, so werden Elemente hiesiger Identifikation mit der griechischen Freiheitsbewegung vollends zur politisch inhaltsleeren Modeerscheinung gestempelt. So bleiben denn auch die Unternehmungen des „Fantasten" Theodor letztlich nichts als überspannte Pose und naives Rollenspiel; genauer gesagt bleiben sie reines Kostüm, denn nicht einmal im geschützten Raum des eigenen Privatbereiches gelingt es Theodor, die Rolle des griechischen Heerführers überzeugend zu spielen: [Neugriechisch gekleidet saß der Baron mit untergeschlagenen Beinen [...] auf dem Sofa und blies [...] Rauchwolken türkischen Tabaks vor sich her, als die Tür aufging [...] Da ihm aber die Beine, der unbequemen ungewohnten Stellung halber, erstarrt [...] waren, so kugelte er dem Oheim vor die Füße, verlor den Turban und die Pfeife, die ihren glühenden Inhalt ausströmte auf den reichen türkischen Teppich.137 135 Ebd., S. 107. 136 Ebd., S. 77. 137 Ebd., S. 76
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Konsequenterweise endet daher die Griechenlandreise Theodors auch schon an der ersten Poststation, darf aber (ebenso konsequenterweise) deshalb keineswegs als gescheitert betrachtet werden, weil in dieser Perspektive auf den Philhellenismus bereits die leere Geste den wesentlichen Zweck erfüllt: Eine Kutschfahrt vor die Tore Berlins ist jedenfalls hinreichend, den jungen Baron bei den weiblichen Angehörigen mondäner Teezirkel der Residenz als modischen Sympathisanten der griechischen Sache glänzen zu lassen.138 Eben dieser Effekt ist der letztlich angestrebte, so daß das eigentliche „Ziel" der Expedition Theodors tatsächlich bereits in Zehlendorf erreicht ist.139 Insgesamt begegnet also die griechische Freiheitsbewegung und ihr philhellenistischer Niederschlag in Hoffmanns Irrungen von 1820 als Verbund zwiespältig realitätsferner Eiferer, oberflächlich sentimentaler Salondamen und politisch impotenter Poseure, ergänzt um den einen oder anderen kauzigen Altphilologen.1*1 Mit dem Frühjahr 1821 änderte sich dieses Bild jedoch schlagartig, wie Hoffmanns Folgeerzählung Die Geheimnisse deutlich zeigt. Denn während die Vorbereitung eines bewaffneten griechischen Aufstandes gegen die Osmanen noch im Jahre 1820 als Ausgeburt der Phantasie einzelner Enthusiasten gelten konnte, war die Abwegigkeit dieses Gedankens nunmehr von der Realität widerlegt worden: Entsprechend heißt es in einem — sich als autorschaftlicher Kommentar gebenden - Nachwort der 1821 erschienenen Geheimnisse: ,,[D]as, was im vorigen Jahr (1820) aus der Luft gegriffene Fabel schien, [hat] in diesem Jahr (1821) in den Ereignissen des Tages eine Basis gefunden.141 Angesichts dieser neuen „Basis" sieht Hoffmann sich 1821 offenbar genötigt, seine Verhandlung von Griechentum und Philhellenismus nicht nur tendenziell zu modifizieren, sondern auch rückwirkend tätig zu werden, und sogar die für die Irrungen konstitutive Ambivalenz des Verhältnisses von erzählter Wirklichkeit und individueller Wahrnehmung einzelner Protagonisten im Nachhinein aufzuheben. Um der Beschwörungsformeln raunenden, messerschwingenden142 Griechin zur — von der Ereignisge138 Um „der Abgott mehrerer Fräuleins" zu werden, genügt es Theodor, „daß er von der Reise nach Griechenland, die er hatte unternehmen wollen, allerliebst und sogar tiefsinnig und gelehrt zu sprechen [weiß]" (ebd., S. 93. Hervorh. i. O.). 139 Ebd., S. 85: „War das Patras, wo ich mich befand? (...) Nein! Zehlendorf war das Ziel meiner Reise — " (Hervorh. i. O.). 140 Letztere verkörpert durch die skurrile Figur eines ,,junge[n] Professor^]", „der den größten Enthusiasmus für [Theodors] Reise nach Griechenland" beweist, dem Reisenden redundante Informationen aufnötigt — nebst einem für den des Griechischen unkundigen Theodor wenig nützlichen „Taschen-Homer" - und sich dafür im Gegenzug dringend ein Paar „türkische Pantoffeln" erbittet. Vgl. ebd., S. 82f. 141 E.T.A. Hoffmann: Letzte Erzählungen, S. 169. 142 So ließ Hoffmann zum Beschluß der Irrungen Theodors Angebetete tatsächlich unvermittelt zur Waffe greifen und ihr verliebtes Gegenüber mit den Worten in die Flucht
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schichte nahegelegten — Glaubwürdigkeit zu verhelfen, werden aus „Irrungen" nunmehr „Geheimnisse", aus der bloßen Einbildung des Numinosen das Numinose selbst. Dies ist insofern von besonderer Relevanz, als Hoffmann noch vor Veröffentlichung der Irrungen (beide Erzählungen erschienen im Berlinischen Taschen-Kalender) ausdrücklich von seinen Verlegern angehalten worden war, künftig doch bitte von der Mobilisierung explizit übernatürlicher Handlungselemente abzusehen.143 Offensichtlich ist aber im Jahre 1821 auch unter verlegerischen Gesichtspunkten die Ausnahme einer befreiungsbewegten Griechin vom Wahnsinnsverdacht wichtiger als die Wahrung von Kompatibilität mit der Alltagserfahrung, denn Hoffmann legt nunmehr das Gros seiner 1820 eingeführten Protagonisten unzweideutig auf den Status magischer Naturbeherrschung fest und nimmt so der komischen Inszenierung von neugriechischer Affinität zu Aberglauben und Phantasterei in seinen Irrungen nachträglich die Spitze. Auch das direkte Engagement im Befreiungskampf überwindet in den Geheimnissen seine Verklammerung mit der Unbehilflichkeit und selbstverliebten Exzentrizität dekadenter Kreise und gewinnt statt dessen das forcierte Pathos emotional befrachteter Agitation. Auf der Inhaltsebene heraufbeschworen durch die Magie einer antiken Sibylle, auf der Formebene evoziert durch ungebrochen melodramatischem Breitwandstil, erscheint der Freiheitskämpfer nunmehr — ausgestattet mit den vom Philhellenismus immer wieder bemühten Insignien „Kreuz" und „Phönix" — als geradezu monumentale „Heldengestalt": „ ,Vernichtet ist der höllische Zauber des schwarzen Dämons - er liegt in schmachvollen Banden, du bist frei, hohe Fürstin — o du mein süßes Himmelskind! — Schau auf, schaue deinen Teodoros! - Ein blendender Glanz ging auf, in ihm stand eine hohe Heldengestalt auf mutigem Streitroß, in den Händen ein flatterndes Panier, auf dessen einer Seite ein rotes mit Strahlen umgebenes Kreuz, auf der ändern ein aus der Asche steigender Phönix abgebildet! — "144
Was im Vergleich der beiden Hoffmannschen Erzählungen auf literarischer Ebene sichtbar wird, fand in der deutschen Öffentlichkeit ihre direkte Entsprechung: Der Griechische Befreiungskampf erfuhr 1821 eine nachhaltige Umdeutung, die ihn als seriösen Gegenstand der Parteinahme etablierte und vom Ruch realitäts ferner Schwärmerei befreite. Und im Einflußbereich dieser Umdeutung konnte in der deutschen Öffentlichkeit auch das organisierte Engagement für die Sache der Griechen an Dynamik gewinnen. schlagen: „Ha! — deine Pulsadern muß ich öffnen — dein Blut sehen, dann schwindet jede dämonische Täuschung!" (ebd., S. 106 f.). 143 Vgl. Hans-Joachim Kruse: „Anmerkungen zu den Irrungen". In: E.T.A. Hoffmann: Letzte Erzählungen, S. 707-716; hier: S. 707. 144 E.T.A. Hoffmann: Letge Erzählungen, S. 165.
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Diese Dynamik zeigt sich zunächst in den publizistischen Aktivitäten deutscher Gelehrter, wie etwa des Philosophen Wilhelm Traugott Krug — innerhalb der Germanistik vor allem aus der Biographik zu Heinrich von Kleist bekannt als dessen letztlich erfolgreicher Widersacher in Liebesdingen145 und innerhalb der Philosophie als Nachfolger Kants auf dessen Königsberger Lehrstuhl.146 Am 15. April 1821, einem Palmsonntag, veröffentlichte Krug seine Schrift Griechenlands Wiedergeburt. Ein Programm %um A.uferstehungsfeste^1 die sich im Nachhinein als „,Gründungsmanifest' des Philhellenismus"148 lesen läßt: Zum einen lieferte sie das argumentative Grundgerüst für viele nachfolgende Publikationen. Zum anderen aber versah die — vom Titel gestützte — Performanz ihrer Veröffentlichung kurz vor Ostern den griechischen Aufstand mit einer diskursiv ungeheuer wirkmächtigen eschatologischen Konnotation. Der Leipziger Theologieprofessor Heinrich Gottlob Tzschirner nahm Krugs philhellenischen Faden auf, spann ihn in seinem Ende Mai 1821 anonym erschienenen Beitrag Die Sache der Griechen, die Sache Europas ins Konkret-Organisatorische weiter und propagierte finanzielle Hilfe für den griechischen Aufstand sowie dessen militärische Unterstützung durch freiwillige deutsche Kämpfer.149 In Südwestdeutschland und Bayern wurden noch eine Reihe anderer Honoratioren publizistisch aktiv — unter ihnen der bereits genannte Münchner Gelehrte Friedrich Wilhelm Thiersch, der einen Vorschlag %ur Errichtung einer Deutschen Legion in Griechenland veröffentlichte150 und den Münchner Griechenverein gründete. Zwischen Juli und September 1821 entstanden allein 19 solcher Vereine in Städten des Deutschen Bundes, sowie 25 Sammelstellen für Waffen, Munition und freiwillige Kämpfer.151 Der breite personelle und finanzielle Zulauf, den diese Vereine und Sammelstellen
145 Krug heiratete die vormalige Verlobte Kleists, Wilhelmine von Zenge. Vgl. Gurt Hohoff: Heinrich von Kleist. Mit Selbstzeugnissen und Dokumenten. 32. Auflage. Hamburg 1999, S. 70. 146 Vgl. den Eintrag in: Philosophen-Lexikon. Handwörterbuch der Philosophie nach Personen. 2 Bde. Hrsg. v. Werner Ziegenfuss. Bd l, Berlin 1949, S. 691 f.; zu den griechischen Kontakten Krugs vgl. Hauser: Anfänge bürgerlicher Organisation, S. 29 f. 147 Wilhelm Traugott Krug: Griechenlands Wiedergeburt. Ein Programm %um Auferstehungsfeste. Leipzig 1821 (Wiederabgedr. in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Abt. 11,2: Politische und juridische Schriften. Braunschweig 1834, S. 273-280). 148 Hering: D er griechische Unabhängigkeitskrieg und der Philhellenismus, S. 29. 149 Heinrich Gottlob Tzschirner: Die Sache der Griechen, die Sache Europas. Leipzig 1821. Dazu: Hauser: Anfänge bürgerlicher Organisation, S. 31. 150 München 1821. Vgl. dazu: Hering: Der griechische Unabhängigkeitskrieg und der Philhellenismus, S. 44. 151 Dazu die detailreiche Darstellung Hausers, einschließlich einer Analyse des sozialen Profils der Vereine und Freiwilligenheere (ebd., S. 32ff.), i.b. seine übersichtliche Karte (S. 35). Eine knappe Zusammenfassung der Ergebnisse Hausers bei Hering: Der griechische Unabhängigkeitskrieg und der Philhellenismus, S. 29 ff.
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bereits unmittelbar nach ihrer Einrichtung erfuhren,152 überraschte selbst die Organisatoren. Die Bevölkerung kam den Spendenaufrufen — solchen zu karitativen Zwecken ebenso wie zur Finanzierung von Waffenlieferungen und der Einrichtung deutscher Hilfstruppen153 — mit überbordendem Eifer nach und stellte damit unter Beweis, welches Maß an Popularität der ,Sache der Griechen' auch außerhalb akademisch geprägter Zirkel bereits beschieden war. Tatsächlich gewann der Philhellenismus rapide an Breitenwirkung und schrieb sich als „philhellenische Mobilisierung aller Lebensbereiche"154 in die zeitgenössische Alltags- und Populärkultur ein. „Die Ereignisse in Griechenland und die Hilfstätigkeit der Vereine" waren nicht nur „Tagesgespräch in den Städten und Dörfern, auf den Märkten und Schulhöfen, in den Wirtschaften und Privathäusern, in den Klassenzimmern und Hörsälen."155 Vielmehr drückte sich das Interesse am griechisch-osmanischen Konflikt auch in unaufgeregten, ja geradezu gemütlichen Alltagspraxen aus: Man pflegte Gesellschaftsspiele wie Der Phönix und der Halbmond oder die Sache der Griechen und Türken™ man stellte das tägliche Schlachtgeschehen mit eigens produzierten Zinnsoldaten nach,157 zeigte sich auf der Straße in einem modischen „Barett aus Krepp a la Ypsilanti",158 solidarisierte sich durch den Verzehr von Brezeln und Kuchen, verziert mit philhellenischen Aufschriften159 oder durch die Benutzung von Toilettenseife, in die Szenen aus dem Unabhängigkeitskrieg eingeprägt waren.160 Nicht nur arrivierte Literaten wie Wilhelm Müller161 und Adelbert von Chamisso,162 sondern auch wandernde Bänkelsänger und Moritatendichter besangen den „Aufstand in Griechenland" oder „Misso152 Allein in Bonn trugen sich bis zum August des Jahres 600 Personen in die Vereinslisten ein. Vgl. Hauser: Anfänge bürgerlicher Organisation, S. 34. 153 Zu Herkunft, sozialem und ökonomischen Umfeld der Teilnehmer an den insgesamt neun philhellenischen Militärexpeditionen zwischen Oktober 1821 und November 1822 vgl. Hauser: Anfänge bürgerlicher Organisation, S. 157 ff. 154 Ebd., S. 209. 155 Ebd., S. 210. 156 Eine Mischung aus Karten- und Würfelspiel; vgl. dazu Hering: Dergriechische Unabhängigkeitskrieg und der Philhellenismus, S. 52. 157 Vgl. Puchner: Die griechische Revolution von 1821 auf dem deutschen Theater, S. 96. 158 Hauser: Anfänge bürgerlicher Organisation, S. 210. 159 Hering: Der griechische Unabhängigkeitskrieg und der Philhellenismus, S. 52. 160 Ebd., S. 53. 161 Wilhelm Müller Lieder der Griechen (1821), Lieder der Griechen. Zweites Heft (1821), Neue Lieder der Griechen (1822), Neue Lieder der Griechen. Zweites Heft (1823), Neueste Lieder der Griechen (1823), Missolunghi (1826). In: Müller WTB l, S. 217-275. 162 Chamisso hat in den Jahren 1827-1829 mehrere philhellenistische Balladen verfaßt. Die bekanntesten sind in dem 1829 erschienenen Zyklus Chios zusammengefaßt: Chamisso W I, S. 267-276. Ferner zählen dazu die balladesken Dichtungen: Georgis (Chamisso W I, S. 262-262), Lord Byrons letzte Liebe (Chamisso W I, S. 264 f.) und Sophia Kondulimo und
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lunghis Fall".163 Und schließlich schickte sich die institutionalisierte Unterhaltungsbranche an, mit diversen philhellenistischen Produktionen den Zeitgeschmack zu treffen.164 Nicht weniger als 14 Dramen, daneben 11 Verssammlungen, 71 Lieder, Gedichte und Balladen sowie 22 Romane verdanken ihr Zustandekommen unmittelbar der philhellenistischen Begeisterung. Die essentielle Zeitgebundenheit dieser Produkte zeigt sich nicht zuletzt darin, daß es ihren Autoren in der Regel nicht gelang, sich mit ihrer Dichtung einen Platz im kulturellen Langzeitgedächtnis der Nation zu erobern.165 Denn der Schleier des Vergessens, der das Gros philhellenistischen Kunstschaffens heute bedeckt, erklärt sich nicht ausschließlich aus dem größtenteils künstlerisch fragwürdigen Charakter jener Literatur,166 sondern auch und gerade aus ihrem Status einer deutlich ereignisverwiesenen „Gelegenheitsdichtung",167 die sich ohne historische Detailkenntnisse kaum mehr rezipieren läßt. Hervorbringungen wie etwa Adelbert von Chamissos Gedicht Kanaris aus seinem Zyklus Chios (ersch. 1829)168 machen unmittelbar anschaulich, welch konstitutive Bedeutung dem ereignisgeschichtlichen Kontextwissen für das Primärverständnis der philhellenistischen Texte zukommt. In rückblickend-aktualisierendem Gestus inszeniert sich hier der Erzähler der Ballade als Beobachter der geschilderten Ereignisse und spricht den Widerpart des Titelhelden Kanaris - einen gewissen Ali, der auf seinem mit den Köpfen griechischer Kämpfer geschmückten Kriegsschiff „die Fasten" feiert — direkt an: Siegsmusik und Hohn dem Armen! Schwelge, schwelge noch Sekunden! Hält dich fest in Flammenarmen Doch dein Schicksal schon umwunden. „Heu dem Kreuze!" - „Feuer! Feuer!" Held Kanaris, Ungeheuer, Leitete den Brander gut. Deine Zeit ist um, die Flammen
163 Vgl. Hauser: Anfänge bürgerlicher Organisation, S. 210. 164 Wie etwa C. Friedrichs „Komischem Lustspiel und Liederspiel" Die Kirchmeihe oder die Rückkehr aus Griechenland(1826), C. D. Daniels' Zweiakter Die Insurgenten, oder eine Nacht in Griechenland (1826) oder Justus Seyfarts Operette mit Ballett Die Befreier Griechenlands (1827). Vgl. Puchner: Die griechische Revolution von 1821 auf dem deutschen Theater, S. 111 u. 115 f. 165 Hering: Der griechische Unabhängigkeitskrieg und der Philhellenismus, S. 65. 166 Mit R.F. Arnold gesprochen: aus der „halb lächerlichen, halb betrüblichen Kläglichkeit der meisten dieser Produkte". Vgl. Arnold: Der deutsche Philhellenismus, S. 167 ff.; ebenso Puchner: Die griechische Revolution von 1821 auf dem deutschen Theater, S. 121, Anm. 177. 167 Vgl. Peter Stein: Operative Literatur. In: Gert Sautermeister/ Ulrich Schmid (Hrsg.): Zwischen Restauration und Revolution: 1815-1848. München 1998, S. 485-504; hier: S. 499. 168 Chamisso W I, S. 267-276.
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Schlagen über dir zusammen, Unter dir ergrimmt die Flut. [...] Glut erfaßt nach kurzem Jammer Endlich auch die Pulverkammer Ali, du erfüllst dein Los. Schweigsam steuert - angegriffen, Wird sein Boot er selber sprengen Held Kanaris zwischen Schiffen, Die in blinder Flucht sich drängen Keines mag um ihn sich kümmern —, Steuert zwischen Schiffestrümmern, Bis er freier um sich schaut: „Heil dem Kreuz!" Vor Psaras Strande, Vor dem teuren Vaterlande Flaggt er, als der Morgen graut.169
Chamissos ursprüngliche Leserschaft des Jahres 1828 bedurfte keiner weiterer Informationen, um in dieser Szene die Beschreibung eines bekannten Manövers des griechischen Admirals Konstantin Kanaris und in „Ali" den für das Massaker von Chios (April 1822) verantwortlichen osmanischen Großadmiral Kara Ali zu erkennen: Im Juni 1822 war es dem von der Insel Psara stammenden Kanaris gelungen, das zur Zeit des muslimischen Fastenbrechens vor Chios ankernde Flaggschiff der osmanischen Flotte unter Befehl Kara Alis zur Explosion zu bringen.170 Der spektakuläre Charakter171 dieses Abschusses' ließ das gesamte Szenario binnen Kurzem zum feststehenden philhellenistischen Topos gerinnen, dessen Popularität sich auch in publikumswirksamen Inszenierungen außerhalb der Literatur niederschlug: Der Beobachter an der Spree beispielsweise kündigte bereits zu Pfingsten 1825 ein Feuerwerk im Berliner Tiergarten an, „bei welchem ein türkisches Kriegsschiff von einem griechischen Brander in die Luft gesprengt werden sollte".172 Diese Verpflichtung gegenüber einzelnen spektakulären Begebenheiten ist für die Mehrzahl philhellenistischer Texte ausschlaggebend. Der Einmarsch Ypsilantis im Jahre 1821, das Massaker von Chios (1822), der Fall Missolunghis (1826) und die Schlacht von Navarino (1827) fungierten als zentrale diskursive Ereignisse, deren jeweilige Grundfiguration relativ zeitnah in literarische Gedenkmünzen geschliffen wurde - vorwiegend in die narrative Kleinform balladesker Lyrik. Eine gewisse Sonderstellung unter den philhellenistischen lieux de memoirs kam allerdings dem Tod Lord Byrons in Missolunghi (1824) zu. Denn mit der Person des im griechi169Chamisso WI,S. 275. 170 Vgl. Douglas Dakin: The Greek Struggle for Independence 1821-1833. London 1973, S. 75. 171 Vgl. ebd. 172 Irmscher: Die Berliner Presse und der Philhellenismus, S. 88.
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sehen Freiheitskampf früh verstorbenen Poeten ließ sich die „Vorstellung vom volksverbundenen, kämpfenden Dichter"173 verbinden — und mit dieser wiederum die Perspektivierung dichterischer Parteinahme als einer Form des aktiven Kampfes respektive des unmittelbaren politischen Engagements. Diese gedankliche Figur ist um so wichtiger, als die direkte Operation im Feld des Politischen durchaus ein wichtiges Anliegen philhellenistischer Literatur darstellte (oder zumindest darstellen konnte). Denn so ostentativ harmlos der Geschmack an Unterhaltungskunst und populärkultureller Saisonware mit pro-griechischen Obertönen auch im Großen und Ganzen erscheint, generierte das Umfeld aus Bänkelsang und Kasualpoesie doch ein Klima, in dem auch dezidiert agitatorisch motivierte Philhellenen-Dichtung auf reißenden Absatz zählen konnte. Die Erstauflage des ersten Heftes von Wilhelm Müllers Lieder der Griechen (1821) beispielsweise war bereits innerhalb von sechs Wochen vergriffen.174 Diese Sammlung umfaßte auch so pointiert propagandistische Texte wie Müllers Gedicht Die Griechen an den Österreichischen Beobachter, in welchem die konservative Legitimitätsdoktrin des österreichischen Staatskanzlers Fürst von Metternich (die staatspolitische Wahrnehmung des Freiheitskrieges als Revolution einer Volksgruppe gegen die legitime osmanische Herrschaft) in scharfen Worten attackiert wurde.175 Tempo und Reichweite der philhellenistischen Mobilisierung einer bürgerlichen Öffentlichkeit, das Zusammenwirken von Presse und Publizistik mit der wachsenden Zahl von Vereinen und schließlich die nicht-staatlichen Rekrutierungen Freiwilliger zur militärischen Unterstützung eines gewaltsamen Volksaufstands — dies alles waren den deutschen Regierungen Anlässe genug, im August 1821 die ersten Verbote gegen die philhellenische Bewegung auszusprechen,176 die bald Wirkung zeigten: Die meisten 173 Stein: Operative Literatur, S. 499. 174 Vgl. Irmschcr: Der Philhellenismus in Preußen a/s Forschungsanliegen, S. 32. 175 „Du nanntest uns Empörer - So nenn uns immerfort!/ Empor! Empor!, so heißt es, der Griechen Losungswort./ Empor zu deinem Gotte, empor zu deinem Recht,/ Empor zu deinen Vätern, entwürdigtes Geschlecht!/ Empor aus Sklavenketten, aus dumpfem Kerkerduft,/ Empor mit vollen Schwingen in freie Lebensluft!/ Empor, empor, ihr Schläfer, aus tiefer Todesnacht!/ Der Auferstehungsmorgen ist rosenrot erwacht./ Du nanntest uns Empörer — So nenn uns immerfort!/ Empor, so heiß es ewig, der Griechen Losungswort!/ Dir aber töne nimmer ins Herz der hohe Klang:/ Beobacht aus dem Staube die Welt dein lebelang!" (Müller WYB I, S. 224). Der regierungstreue Österreichische Beobachter wurde konsequent „im Geiste Metternichs redigier^]" (Irmscher: Die Berliner Presse und der Philhellenismus, S. 85). Die Verdammung des Beobachters in den „Staub" machtpolitischer Opportunitäten durch Müller mußte also, indem sie das Sprachrohr Metternichs traf, auch den Staatskanzler selbst - und mittelbar sogar das Kollektiv der mit Metternichs Position übereinstimmenden europäischen Regierungen — treffen. 176 Vgl. Irmscher: Die Berliner Presse und der Philhellenismus, S. 42-49; ders.: Der Philhellenismus in Preußen als Forschungsanliegen, S. 24 ff.
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der führenden Griechen freunde distanzierten sich auf Druck der Behörden öffentlich von ihrem vorherigen Engagement oder zogen sich stillschweigend zurück, und eine teils rigide Zensur verunmöglichte schließlich selbst den verbliebenen Willigen eine große Publizität.177 Dieses Bild wandelte sich jedoch entscheidend, sobald die Außenpolitik der europäischen Staaten 1826 den genannten Richtungswechsel vollzog und den Weg für einen autonomen griechischen Nationalstaat zu bereiten begann. Mit der Veränderung des Verhältnisses von Griechenfreundschaft und Staatsräson wurde der zuvor mißliebig beäugte und staatlicherseits sanktionierte Philhellenismus nach und nach literaliter „hoffähig",178 was sich auch in einer personellen Umbesetzung des akuten Engagements niederschlug: Eine stets am Rande der Duldung lavierende, oppositionelle Bewegung „von unten her"179 verwandelte sich in einen „Philhellenismus von oben".180 Unübersehbar wurde diese Entwicklung, als im April 1826 der Leibarzt König Friedrich Wilhelms III., Staatsrat Christoph Wilhelm Hufeland, öffentlich zur finanziellen Solidarität mit den notleidenden Griechen aufrief und sich dabei der huldvollen Toleranz höchster Regierungskreise sicher sein konnte. Besonders nachdem eine anonyme Spende auf Hufelands Spendenkonto eingegangen war, die aufgrund ihrer erstaunlichen Größe allgemein dem König selbst zugeschrieben wurde,181 geriet es geradezu zur gesellschaftlichen Pflicht, Maßnahmen „zum Wohle der Griechen" zu unterstützen.182 Wie sehr diesen öffentlichen Solidaritätsbekundungen dabei der Charakter einer gesellschaftlichen Obligation innewohnte, erweist sich besonders deutlich am Beispiel Wilhelm von Humboldts. Wiewohl beileibe kein euphorischer Sympathisant der neugriechischen Freiheitsbewegung,183 entrichtete auch Humboldt umgehend 177 Hauser: Anfänge bürgerlicher Organisation, S. 96f. 178 Vgl. Barbara Czeranowski: „,Ohne die Freiheit, was wärest du, Hellas? Ohne dich, Hellas, was wäre die Welt?'. Wilhelm Müller und der Philhellenismus". In: Norbert Michaels (Hrsg.): Wilhelm Müller. Eine Lebensreise. Zum 200. Geburtstag des Dichters. Weimar 1994 (= Kataloge der Anhaltinischen Gemäldegalerie Dessau. Bd. 1), S. 77-83, hier: S. 81. 179 Irmscher: Die Berliner Presse und der Philhellenismus,?). 88. 180 Irmscher: Der Philhellenismus in Preußen a/s Forschungsanliegen, S. 43. 181 Vgl. ebd., S. 39. 182 Vgl. ebd., sowie: Johannes Irmscher: „Wilhelm von Humboldt und der deutsche Philhellenismus". In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität %u Berlin. Gesellschaftsund sprachwissenschaftliche'Reihe. 17 (1968), S. 362-366, hier: S. 365. 183 Dazu differenziert: Irmscher: Wilhelm von Humboldt und der deutsche Philhellenismus. Nichtsdestoweniger hatte Humboldt sich im diskursiven Schwerfeld der philhellenistischen Bewegung ebenfalls literarisch betätigt, ohne allerdings je eine Veröffentlichung in Erwägung zu ziehen. Das Ergebnis liegt dennoch in zwei Fassungen eines eposhaftcn Langgedichts vor, trägt den ebenso schlichten wie für seinen Inhalt in jeder Hinsicht programmatischen Titel Die Griechensklavin (Wilhelm von Humboldts Werke. Bd. IX: Gedichte. Hrsg. v. Albert Leitzmann. Berlin 1912, S. 93-151) und stellt wohl einen der für
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dem vom Hof sanktionierten Hufelandprojekt den „materiellen Tribut [...], der seinem Range und seiner Stellung entsprach"184, wofür - wie nachstehende Auszüge aus seiner Privatkorrespondenz nahelegen — offensichtlich gesellschaftliche Rücksichten den Ausschlag gaben. Am 29. April 1826 schreibt Caroline von Humboldt anläßlich des Petersburger Protokolls und der Hufelandschen Sammlung an Wilhelm, der sich gerade auf einer Reise nach Schlesien befindet: Bülow scheint sehr viel von den Beschlüssen für die Griechen zu erwarten, die das russische Kabinett nach der Dazwischenkunft des Herzogs von Wellington genommen hat. Es können sich wohl günstige Kombinationen ereignen, doch vorderhand dünkt mich auch nur das. Du wirst in den Zeitungen gelesen haben, daß Hufeland eine Kollekte für die Griechen sammelt. Gleich den Vormittag, wo die Zeitung ausgegeben wurde, sind 800 Taler hingebracht worden. Ich habe für uns 50 Taler hingeschickt, Bülow 25, Eichhorn 30 usw.185
Humboldt antwortet am 1. Mai, indem er sich gleichzeitig über seinen Schwiegersohn Heinrich von Bülow im Ministerium des Auswärtigen mokiert: Du hast also den Griechen schon 50 Taler geschickt? Gerade diese Summe dachte ich mir, daß wir geben müßten. Da aber Bülow auch gegeben hat, erklärt Preußen gewiß bald den Türken den Krieg!186
die Humboldt-Forschung neuralgischsten Texte des Sprachforschers dar. Denn er enthält eine fugenhaft komponierte sado-masochistische Phantasie, die das historische Szenario des griechischen Aufstandes zum Anlaß nimmt, um in immer neuen Schleifen die sexuellen Demütigungen der — keineswegs jugendlichen — Griechin Theodora sowohl durch den Osmanen-PaschaJussuf als auch durch die griechischen Aufständischen in einer bemerkenswerten Mischung aus pornographischer Drastik und epischer Langsamkeit zu schildern. Versuche, den Text einer anderen Lesart zu unterziehen, hat u. a. Helmut Müller-Sievers unternommen in seinen Beiträgen: „Schiller, Fichte, Humboldt und die Genealogie des Masochismus". In: Hans-Jürgen Schings (Hrsg.): Der gan^e Mensch. Anthropologe und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart/ Weimar 1994, S. 284-297; Epigenesis. Naturphilosophie im Sprachdenken Wilhelm von Humboldts. Paderborn/ München/ Wien/ Zürich 1993, S. 163-169. Nach dem Verhältnis von Philhellenismus und Orientalismus befragt, hält der Text indes nur zwei interessante Punkte bereit: Zum einen macht er anschaulich, welche Eigendynamik die im philhellenistischen Dispositiv verbundenen Stränge von Geschlecht und Gewalt erzeugen konnten. Zum anderen deckt er den topologischen Charakter auf, welcher der Figuration .griechischer Unabhängigkeitskampf generell innewohnte - einschließlich der Möglichkeiten zur Umkodierung. 184 Ebd., S. 366. 185 Caroline von Humboldt an Wilhelm v. 29. April 1826. In: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Hrsg. v. Anna von Sydow. Neudr. d. Ausg. v. 1907-1918. Bd. VII. Osnabrück 1968, Nr. 134, S. 260; zu diesen Passagen der Korrespondenz zwischen Wilhelm und Caroline von Humboldt vgl. noch einmal ausführlich Irmscher: Wilhelm von Humboldt und der deutsche Philhellenismus, S. 365. 186 Wilhelm von Humboldt an Caroline v. 1. Mai 1826. In: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen VII, Nr. 135, S. 264.
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Auch Wilhelm Müller reagierte auf Hufelands Aufruf, indem er binnen zweier Monate das drei Gedichte umfassende Heft Missolunghi zusammenstellte, dessen Verkaufserlös (bei einer angenommenen Stückzahl von immerhin 1200 abgesetzten Exemplaren) an Hufelands Stiftung überwiesen werden sollte.187 Die unmittelbarste staatliche Unterstützung erfuhr die philhellenistische Sache jedoch aus Bayern.188 Denn mit Ludwig I. hatte im Jahre 1825 ein Mann Thron bestiegen, der sich nicht allein als philhellenistischer Dichter versuchte,189 sondern den Philhellenismus sogar zum Regierungsprinzip erhob, so daß sich unter seiner Hand „Bayern in den größten Philhellenverein der internationalen Griechenbewegung" verwandelte.19*1 Indem sich das Ziel der Emanzipation Griechenlands gegenüber dem osmanischen Reich zunehmend als staatlicherseits vorangetragene außenpolitische Position etablierte, begann der Philhellenismus in Deutschland seine Funktion als Forum innenpolitischer Opposition einzubüßen, während die griechenfreundliche Kunst durch die staatliche Förderung einen neuen Aufschwung erlebte. Erst mit der Schaffung eines vom osmanischen Reich unabhängigen griechischen Staates begann die deutsche Literatur, das „Kreuz- und Phönix-Banner" wieder einzurollen — das Interesse an der griechischen Befreiungsbewegung hatte seinen Gegenstand verloren.
5.3.3 Philhellenismus und Orientalismus oder das Andere der Griechen Der Grundfiguration der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den griechischen Aufständischen und den osmanisch-ägyptischen Truppen selbst — dem Kampf einer schwächeren Partei gegen eine übermächtige andere — entsprechend, weist auch die Rhetorik und Bildlichkeit der philhellenistischen Literatur eine deutliche Tendenz zu Antonymien und Oppositionsbeziehungen auf.191 Ebenso wie die Artefakte der Populärkultur sind Wort und (Sprach-)Bild des Philhellenismus durchzogen und getragen von immer wieder neu inszenierten Kämpfen der beiden unglei187 Vgl. den Kommentar von Leistner in: Müller WITC I, S. 362. 188 Zum bayrischen Philhellenismus vgl. den umfangreichen Katalog Das neue Hellas. Griechen undBayern sytr Zeit Ludivigs L Hrsg. v. Reinhold Baumstark. München 1999. 189 Bereits in seiner Kronprinzenzeit schrieb Ludwig philhellenische Gedichte, die Wolf Seidel in seinem Beitrag („Der Teutschland half, wird Hellas retten!" Ludwig I. von Bayern als philhellenischer Dichter. In: Konstantinou (Hrsg.): Europäischer Philhellenismus. Die europäische philhellenische Literatur, S. 111-118) in Auszügen wiedergibt, dabei allerdings bedauerlicherweise auf jede Form von Quellenangaben verzichtet. 190 Spaenle: Philhellenismus und Öffentlichkeit in Bayern, S. 172. 191 Hering bemerkt diesen Umstand in seiner Studie ebenfalls, allerdings nur am Rande. Vgl. Hering: Der griechische Unabhängigkeitskrieg und der Philhellenismus, S. 69.
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chen Parteien. So wie „Phönix" und „Halbmond" auf dem Gesellschaftsspielbrett gegeneinander in die Schlacht ziehen, bilden im Roman Allegorien „hellenischen Hochsinns" und „türkischer Barbarei"192 die Fronten, kämpfen in Gedichten „Schwan" gegen „Rabe",193 „Kreuz" gegen „Halbmond",194 wobei die Parteinahme der deutschen Leser für den Hochsinn, den Schwan, das Kreuz und gegen die Barbarei, den Raben und den Halbmond sowohl über literarische Perspektivierungstechniken als auch durch die Drastik der Bildlichkeit gewährleistet wurden. Die Griechenlieder Wilhelm Müllers, das wurde von der Forschung immer wieder betont, ragen mit ihrer literarischen Qualität deutlich aus der Masse philhellenistischer Literaturproduktion heraus.195 Und da es beim nun folgenden kurzen Rekonstruktionsversuch der philhellenistischen Alterisierungsverfahren darum geht, die literarische Eigengesetzlichkeit und den ästhetischen Eigensinn dieser Strategien zu ergründen, werden Müllers Gedichte ein prominenter Gegenstand sein. Denn gerade das Oszillieren der Müllerschen Poesie zwischen kasual-diskursgeschichtlicher Einbindung in den Großkontext Philhellenismus einerseits und ihrer literarischen Überschreitung auf der anderen Seite verspricht Einblicke in die ästhetischen Regeln der Imagination auf einem Feld, das zunächst in mehrfacher Hinsicht als idealtypische Realisation des Orientalismus erscheint. Sein Gedicht Die Veste des Himmels, das erste seines Heftes Missolungi von 1826, beginnt mit den folgenden Versen: Asia hat ausgespien ihre gelbe Tigerbrut, Daß sie purpurrot sich trinke in der Griechenkinder Blut; Afrika aus ihren Wüsten stürmet über Hellas' Meer Mit des Samums Todeshauche ihre Negerhorden her. Missolunghi, Stadt der Helden, laß die Kreuzes fahne wehn! Zähle nicht die Ungezählten, die vor deinen Mauern stehn!196
Diese semantisch hoch aufgeladene Inszenierung der osmanisch-ägyptischen Belagerung Missolungis läßt den Philhellenismus als eben jenes Schlachtfeld der Alterisierung, Grenzziehung und Fremdzuschreibung erscheinen, dessen Imago so vielen Orientalismus-Studien den Weg durch 192 So der Untertitel des Romans von Adolf von Schaden: Theodora, die Leipziger Jungemagd, ein historisch-romantisches Onginalgemälde hellenischen Hochsinns und türkischer Barbarei, aus der ersten Epoche der gegenwärtigen Insurrection aufMorea. 2 Bde. Leipzig 1822 193 Wilhelm Müller: DerManottin Unterricht. In: Müller WTB I, S. 241. 194 Chamisso: Chios. In: ders.: Werke I, S. 270. 195 Czerannowski: „Ohne Freiheit, was wärest du, Hellas? Ohne dich, Hellas, was wäre die Welt?", i.b. S. 79; zu Müllers kunstvoller Semantisierung von Metrum und Strophenform vgl. Günter Härtung. „Wilhelm Müllers Griechengedichte." In: Ute Bredemeyer/ Christiane Lange (Hrsg.): Kunst kann die Zeit nicht formen. Berlin 1996, S. 86-99; Arnold: Der deutsche Philhellenismus, S. 117. 196 Wilhelm Müller: Die Feste des Himmels. In: Müller WTB I, S. 272 f.
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ihr Material gewiesen hat.197 Und in der Tat greift der Dichter hier auf einige der prominentesten Topoi des orientalischen Anderen zurück und arrangiert sie durch verschiedene metaphorische und metonymische Übertragungen zu einer effektvollen Formation radikaler Alterisierung: Asien, monströs allegorisiert zu einem bestienspeienden Monstrum, bringt mit den Osmanen jene Raubtiere hervor, die in der orientalistischen Topologie einen festen Platz haben. August von Platen greift auf die Konnotate von Grausamkeit, Willkür und Blutdurst des Tigers sowohl in frühen Gedichten über Napoleons Rückkehr von Elba198 als auch in seinen Polenliedern199 zurück, um sie in einen politischen Kontext zu stellen. Und auch Ludwig Borne arbeitet in seinen kritischen Äußerungen über die politischen Zustände in Europa mit diesen despotischen Implikationen des Raubtiers und läßt einen österreichischen Dichter sagen: „Fiele ich in Lissabon als Schlachtopfer unter tausend Schlachtopfern, nun, da sehe ich doch einen Tyrannen, der Lust hat an unserm Schmerze, einen Tiger, der unser Blut trinkt. Ich weiß warum. Aber in Österreich ist Tyrannei, und ich sehe keinen Tyrannen [...]."20° Wenn Müller in seinem Gedicht jedoch gerade die Osmanen als Tiger imaginiert, die von Asien „ausgespien" werden, dann potenziert sich die Sinnfälligkeit dieser metaphorischen Kopplung noch zusätzlich durch den tatsächlichen gemeinsamen Ursprung von Tigern und Osmanen auf dem asiatischen Kontinent. So ist letztlich diese Verschränkung von semantischer und pragmatischer Motiviertheit des Sprachbildes, von geographischen und politischen Konzepten, verantwortlich für die große Prominenz des Bildes vom bluttrinkenden Tiger in der philhellenistischen Lyrik201 — teils bis in den Wortlaut hinein analog zu Müllers Formulierungen.202 Doch dessen tropische Alterisierungsstrategie 197 Allerdings haben sich die philhellenistische und die orientalistische Forschungslinie bislang nicht gekreuzt. 198 In seinem Jugendgedicht Bei der Nachricht von Bonapartes Einzug in Paris 1815 heißt es: „Geheim entsprang der blut'ge Tiger/ Aus seinem Kerker, er allein,/ Und dieser Einp'ge zieht als Sieger/ Bei Millionen Sklaven ein! [...]/ Der König flieht, der Friedebringer,/ Wer achtete sein Silberhaar?/ So steigt zum Thron der Kapetinger/ Aufs neue Korsikas Barbar." (Platen: Werke I, S. 192). 199 In seinem Wiegenlied einer polnischen Muffer vom 7. 11. 1831 läßt Platen jene zu ihrem Säugling sprechen: „Du werdest noch der Stolz der Fraun,/ Des Landes Zier,/ Um einst die Tatzen abzuhaun/ Dem Tigertier." (Platen: Werke I, S. 159). 200 Ludwig Borne: Spayiergänge eines Wiener Poeten. In: Bornes Werke in ^wei Bänden. Ausgewählt und eingeleitet von Helmut Bock und Walter Dietze. Weimar 1959, Bd. l, S. 224. 201 Wilhelm Müller selbst greift in seinen Griechenliedern mehrfach darauf zurück - in Byron (Müller WTB I, S. 229), in Missolungs Himmelfahrt (ebd., S. 274). 202 In Chamissos Chios heißt es: „Als von Samos du uns brachtest,/ Logothetes, die Empörung,/ Unglücksel'ger, du bedachtest/ Nicht die drohende Zerstörung,/ Nicht Vehib und seine Rotte,/ Ali nicht und seine Flotte,/ Nicht der Asiaten Brut;/ Du entfleuchst, — wir sind vernichtet;/ Der gereizte Tiger richtet,/ Sättigt sich in unserm Blut." (Chamisso W I, S. 269).
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ist hier noch nicht an ihr Ende gelangt. Vielmehr setzt Müller im zweiten Verspaar noch einmal neu an und vollzieht exakt denselben rhetorischen Bogen der metaphorisch-metonymischen Kopplung auf afrikanischem Boden ein weiteres Mal: Der Wind, der die Flotte Mehmet Alis (resp. seines Sohnes) tatsächlich im Frühjahr 1825 aus Ägypten zur Unterstützung des Sultans nach Griechenland getragen hatte, wird von Müller als „Samum" ins Bild gesetzt und damit als jener arabische Wüstenwind, der als sengendes und vernichtendes Element die orientalistische Literatur von Günderrode203 über Heine204 und Droste-Hülshoff205 bis Freiligrath206 durchweht. Gestützt durch die Wüsten-Konnotation, wandert Ägypten dabei entlang der transkontinentalen Schiene des Orient-Konzepts von Asien nach Afrika, wo sich nach den Regeln orientalistischer Imagination die ägyptischen Soldaten in animalische „Negerhorden" verwandeln und nun — vom wiederum allegorisierten Kontinent mit Hilfe des Wüstenwinds an die griechische Küste befördert — die Festung Missolungi im Wortsinne bestürmen. Durch diese metaphorisch-metonymischen Verschiebungen auf der Landkarte orientalistischer Topologie errichtet Wilhelm Müller bereits in den ersten Versen seines Gedichts Missolunghi de203 Karoline von Günderrodes Gedicht Mahomeis Traum in der Wüste beginnt mit den Versen: „Bei des Mittags Brand,/ Wo der Wüste Sand/ Kein kühlend Lüftchen erlabet,/ Wo heiß, vom Samum nur geküsset,/ Ein grauer Fels die Wolken grüßet,/ Da sinket müd der Seher hin." (Karoline von Günderrode: Sämtliche Werke und ausgewählte Studien. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 1: Texte. Hrsg. v. Walter Morgenthaler. Basel/ Frankfurt a. M. 1990, S. 75). 204 In seinem dramatischen Erstling Almansor läßt Heine seinen andalusischen Titelheld die zerstörerische Macht des Wüstenwinds metaphorisch aufrufen: „Tagtäglich kamen aus Granada schlimmre/ Bothschaften her; und wie der Wandrer schnell/ Sich mit dem Antlitz auf den Boden wirft,/ Wenn ihm entgegenweht der glühn'de Samum,/ So stürzten wir oft weinend hin zur Erde,/ Daß uns der Kunden gift'ger Hauch nicht töte." (Heine GA 5, S. 16). 205 Auch Annette von Droste-Hülshoffs Ballade Ba/a^et beginnt mit einer biblisch-exotistischen Inszenierung des Wüstenwindes: „Der Löwe und der Leopard/ Die singen Wettgesänge,/ Glutsäulen heben Wettlauf an,/ Und der Samum ihr Herold./ O Sonne, birg die Strahlen!" (Annette von Droste-Hülshoff: Historisch-kritische Ausgabe. Werke, Briefwechsel. Hrsg. v. Winfried Woesler. Bd. 1.1: Gedichte zu Lebzeiten. Text. Bearb. v. Winfried Theiss. Tübingen 1998, S. 293). 206 In seinem balladesken Poem Die seidene Schnur beschwört der junge Freiligrath den Samum herauf, um den schockierenden Effekt des schnurgewordenen Todesurteils auf den Betroffenen hyperbolisch zu schildern. Hier heißt es: „Wie die Oase der Samum/ Versenkt, gleichwie das Opium/ Betäubt, wie gift'gen Hauchs die Pest/ Hinwirft und ihren Raub nicht läßt:// So treffen des Verschnittnen Worte/ Den Großwesir der hohen Pforte./ Sein Mund wird blau, sein Antlitz fahl,/ In Stücke reist er seinen Schal.//" (Frei&graths Werke in sechs Theilen I, S. 53). Und in War' ich im Bann von Mekkas Toren ist unmittelbar von der zerstörenden Kraft des Windes die Rede, hier dichtet er: „Nomaden sind ja meine Hörer,/ Zu deren Geist die Wildnis spricht;/ Die vor dem Samum, dem Zerstörer,/ Sich werfen auf das Angesicht;//" (Preiligraths Werke in sechs Theilen I, S. 23 f.).
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zidiert als europäische Festung, die sich von einer asiatisch-afrikanischen Übermacht bedroht sieht. Und die „Kreuz es fahne" schließlich, die auf ihren Zinnen weht, bringt den Orient — das semantische Bindeglied sowohl zwischen Asien und Afrika als auch zwischen Türken und Ägyptern — innerhalb dieser Bildlogik explizit als Antipode Europas und des Christentums ins Spiel. Wie an den oben zitierten Versen aus Chamissos Chios schon sichtbar geworden ist, zieht sich die Metaphorik des Glaubenskampfes als roter Faden durch die philhellenistische Rhetorik, und zwar stets inszeniert als Verteidigungskampf einer unterdrückten christlichen Minderheit gegen die islamische Herrschaft: !' ruft der Moslem, hauet Greise nieder, Kinder, Frauen. .Christus' ruft der Rajah, schauet Himmelwärts mit Hochvertrauen.207
Diese Figuration eines christlich-islamischen Glaubenskrieges wird in der philhellenistischen Lyrik verbunden mit einer Inszenierung von Gewalt, deren Signifikanz gerade darin liegt, daß sie nicht allein den kausalen oder atmosphärischen Hintergrund der geschilderten Ereignisse bildet, sondern vielmehr den gesamten Handlungsraum in gleichsam selbst despotischer Weise beherrscht. Die philhellenistische Hypertrophie der osmanischen Gewalt zu einem „entmenschten Blutgericht",208 einem „Völker- und Vernichtungskrieg!"209 gegen die Griechen findet ihren ästhetischen Niederschlag in einer teils bis ans Groteske reichenden Monumentalität der Grausamkeit, die sich im Falle Chamissos vor allem als Spektakel der großen Zahl realisiert. Das vierte Bild aus Chios, programmatisch mit „Die Leichen" überschrieben, ist angefüllt mit den Körpern ermordeter Griechen, die das Meer dem Schiff Kara Alis, ihres Schlächters, wieder zutreibt: Und aus finstrer Wolkenschichte Bricht hervor des Mondes Scheibe; Schaudernd sehn sie bei dem Lichte, Daß der Landwind Leichen treibe, Leichen in gedrängten Scharen, Rajahleichen, die da waren Alis grauses Siegesmal. Angespült wie von Gedanken, Legen sie sich um die Flanken Seines Schiffes sonder Zahl.210 207 208 209 210
Chamisso W I, S. 268. Ebd. Ebd. Chamisso W I, S. 274.
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Das in Chamissos Chios vergossene Blut, die angehäuften Leichen und abgeschlagenen Köpfe erreichen tatsächlich eine solche Quantität, daß innerhalb des Textraumes ebenso wenig Platz für eine andere Semantik bleibt wie innerhalb des erzeugten Imaginationsraumes für andere Bilder. Allein die Achsen der Alterität durchziehen das Schlachtfeld, weisen den Gewaltexzessen ihre, mit geringem topologischem Aufwand religiös und kulturell markierten, Protagonisten zu und leiten die angestaute Emotion auf diese Weise in den Graben der Alterität. Auch die Gewaltästhetik Wilhelm Müllers ist letztlich geleitet von einer Strategie der Vervielfältigung. Während Chamisso allerdings kumulativ verfährt und in einer Szene ein größtmögliches Quantum von Gewalt — und sei es in Form möglichst vieler toter Körper — komprimiert, erzeugen Müllers Lieder der Griechen ihre gewaltästhetischen Effekte mit Hilfe eines bildsequenziellen Kompositionsprinzips. Die zweite Strophe des Gedichts Die Eule, neben dem Eingangsgedicht Die Pforte das faszinierendste des zweiten Hefts seiner Lieder der Griechen (Dezember 1821), mag das illustrieren: Über Hellas flog ich hin Um Mitternacht; Am Himmel war kein Stern zu sehn, Und blutigrot in Nebelwolken Schwamm des Mondes Sichel hin. Aber von flammenden Städten, Aber von rauchenden Hütten, Aber von glühenden Scheiterhaufen War es weit und breit so hell, Hell wie der Tag, Und ich rief Wehe! Wehe! Über den Schimmer des hellen Tages. Ich hörte blutende Säuglinge winseln An gemordeter Mütter Brüsten, Sah aus den Klausen heilige Jungfraun Schleifen zur Schlachtbank rasender Lust, Sähe die Tempel des Kreuzes Niedergerissen in Trümmern liegen, Und die zerstückten Gebeine Ihrer Priester dazwischen Über die Steine gestreut. Da drückt ich die blitzenden Augen zu Und unter mir hört ich noch lange Ein Heulen, ein Jammern, ein Wimmern, Ein Jauchzen, ein Fluchen, ein Knirschen Dann ward es still.211
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211 Wilhelm Müller: Dit Eule. In: Müller WTB I, S. 272f., V. 22-47.
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Unterlegt mit einer Rhythmik, die weniger frei als durch die abrupten Wechsel von Metrum und Verslänge selbst „zerstückt" zu sein scheint, und aufgeladen durch die Fülle rhetorischer Figuren, die in ihrer Tendenz zum Parallelismus, zu parataktischen Substantivreihen, Anaphern, Epanalepsen und Polyptotoi Anklänge an die barocke Poetiktradition zeigt, läßt Müller hier vor den Augen seiner Leser eine Serie von Gewaltbildern vorbeiziehen. Durch die Zerstörung selbst, durch brennende Städte, Hütten und Scheiterhaufen illuminiert, werden kurz nacheinander einzelne Szenen ausgeleuchtet — tote Mütter mit sterbenden Säuglingen, geschändete und vergewaltigte Jungfrauen, zerstörte Kirchen mit zerstückelten Körpern von Geistlichen — und zu einem Panorama der Vernichtung zusammengefügt, das in medientechnisch gewandelter, deshalb aber nicht weniger treuer, rhetorischer Nachfolge von Gryphius' Thränen des Vaterlandes steht.212 Im Bild der Eule, die im ersten Vers des Gedichts als „Vogel der Weisheit" eingeführt wird, vormals den Dienst der Hüterin des Feuers auf „Minervens Altare" (V. 3) versah und seit dessen Zerstörung als mahnende Supervisorin der „Torheit des hellen Tages" (V. 17) durch die nächtlichen Lüfte schwebt, verschränkt Müller die antike Ikonographie mit einer biblischen Allusion, der Anspielung auf die Psalmverse: „Ich bin wie die Eule in der Einöde,/ wie das Käuzchen in den Trümmern./ Ich wache und klage/ wie ein einsamer Vogel auf dem Dache." (Ps 102,7 f.). Diese doppelt kodierte Eule teilt nun den dunklen Himmel allein mit dem islamisch konnotierten Halbmond, der „blutigrot in Nebelwolken" (V. 25) schwimmt. Auf diese durchaus subtile Weise überschreibt Müller seine Serie von Gewaltbildern mit einer wirkmächtigen symbolischen inscriptio, die den Antagonismus zwischen Griechen und Osmanen effektvoll ins Bild setzt, wobei die christlichen Implikationen der folgenden Vernich-
212 Im Zuge des seit Mitte der 1990er Jahre zunehmenden Interesses der Germanistik für den Philhellenismus hat zwar auch Wilhelm Müllers Dichtung wieder mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen, doch gerade die dichterischen Traditionslinien, die er in seinen Liedern der Griechen aufnimmt und umarbeitet, harren noch immer eingehender Untersuchung. Günter Härtung (Wilhelm Müllers Griechengedichte) hat erste Verbindungslinien aufgezeigt, ungemein überzeugend die Tendenz zur Semantisierung der Versformen bei Müller ausgemacht und Brücken geschlagen sowohl zum attischen Drama als auch zur altdeutschen Dichtung. Die Gedichte mit freier Rhythmik wie Die Eule allerdings führt er kommentarlos auf ein ,,Goethesche[s] Vorbild" zurück und liest aus ihnen - wie zuvor (und wesentlich plausibler) bereits aus Müllers Hang zum achthebigen Trochäus bei gleichzeitigem Reim — das dichterische Anliegen heraus, „Klassisches und Romantisches zu einer Einheit [zu] verschmelzen" (S. 93). Erweitert man indes den Blick von der reinen Metrik und Prosodie Müllers auf die Rhetorik seiner Griechenlieder- und die Kategorie der Rhetorik ist auch im philhellenistischen Kontext niemals eine reine Kategorie der Form -, dann mag der Rekurs auf die Barocklyrik tatsächlich eine interessante Perspektive auf das Zusammenspiel zwischen operativer Literatur und lyrischer Form eröffnen.
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tungsszenen diese Opposition einmal mehr als eine religiöse ausweisen: Die geschändeten Mädchen tragen als „heilige Jungfraun" (V. 36) eine Marien-Signatur. Und daß sie aus klösterlich konnotierten „Klausen" zu einer „Schlachtbank" gezerrt werden, die in diesem semantischen Umfeld überdies das Bild des Agnus Dei (Jes 53,7) aufscheinen läßt, steigert den Antagonismus zwischen diesen mehrfach geheiligten Mädchen und der „rasende[n] Lust" ihrer Peiniger zu einem Kulminationspunkt aus Gewalt, Perversion und Blasphemie, der sich schließlich in die morbide Ruhe der nachfolgenden sakralen Trümmerlandschaft aus Steinen und Körpern auflöst (V. 38-42). Mit seinem für die emotionale Mobilisierung der Leserschaft ungemein effektiven Rückgriff auf das Bild gemordeter und sterbender Säuglinge bedient sich Müller einer innerhalb der philhellenistischen Literatur äußerst prominenten Affekt-Strategie,213 deren Wirkungsweisen im Rahmen medialer und psychologischer Kriegs führung uns noch heute wohl vertraut sind. Allerdings dient das heraufbeschworene Imago des Kindermords in erster Linie als emotionaler Verstärker und hat in den semiotischen Arrangements und Figurationen des Philhellenismus keine eigenständige Funktion. Anders die Inszenierung der Geschlechter im Kontext dieser Gewaltästhetik, die dem dominanten religiös-kulturellen Antagonismus philhellenistischer Rede und Bildlichkeit ungemein sinnfällige Grundkonstellationen bot und die Strategie der Alterisierung zusätzlich stützte. In der Ikonographie des Philhellenismus ist Griechenland durchweg weiblich konnotiert, versehen mit den Insignien entweder der Mutter- oder der Jungfrauenschaft, während ihm männlich kodierte Osmanen gegenüberstehen. Diese Figuration korrespondierte strukturell mit der in Literatur und Publizistik immer wieder in Szene gesetzten ungleichen Kräfteverteilung der zwei Kriegsparteien und stabilisierte so den Opferstatus der Griechen — ein konstitutives Moment für die angestrebte Mobilisierung von Spenden in der deutschen Bevölkerung. Da zudem, durch das grammatikalische Genus bedingt, sowohl Hellas als auch die Freiheit allegorisch als weibliche Figuren vorgestellt wurden, boten sich reiche minimalliterarische Variationsmöglichkeiten dieser Geschlechter-Figuration in der philhellenistischen Lyrik: Wilhelm Müller läßt etwa einen jungen Phanarioten von der Befreiung seiner Schwester aus der „Schmach der Sklaverei" träumen,214 die Mainottin kämpferische Freiheitslieder auf ihre sieben Söhne singen,215 den toten Lord Byron als „Bräutigam" in die Arme der Braut 213 Vgl. dazu die knappe Zusammenfassung in Häuser: Anfänge bürgerlicher Organisation, S. 207 f., darin auch Beispiele für zeitgenössische Kritik an diesen diskursiven Gewaltexzessen. 214 DerPhanariot. In: Müller WTB I, S. 220. 215 Die Mainottin. In: Müller w"FB I, S. 222.
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Hellas fliegen.216 Da kann die Freiheit, die Brust des „abgezehrten Leib[es]" mit „Wundmalen" übersät, „in Götterjugend strahlend [...] vor Minervens Tor" stehen217 und die Sklavin in Asien kann die Klage singen: Schwestern, weint mit mir! Ich weine, weine, daß ich bin kein Mann Daß ich nicht ein Roß besteigen, keine Lanze schwingen kann, Daß ich nicht kann Eisen sprengen, schwimmen durch die wilde Flut Drüben in dem freien Lande frei verspritzen freies Blut.218
Daß Müller seine griechische Sklavin mit derart wehrtauglichem Mut und den entsprechenden Mordphantasien ausstattet, ist 2war keineswegs repräsentativ für die philhellenistische Inszenierung von Weiblichkeit, doch setzte auch seine Grundfiguration der griechischen Jungfrau in türkischer Sklaverei - auf der populären philhellenistischen Bühne immer wieder inszeniert219 — eine breite Traditionslinie orientalistischer Topologie in den Philhellenismus hinein fort. Müllers Sklavin steht als christliche Gefangene orientalischer Besitzer in direkter literarischer Erbfolge ihrer von barbaresken Piraten geraubten Schwestern, wie sie dem zeitgenössischen Publikum aus Mozarts Entführung aus dem Serail, Wielands Versepos Oberon oder Fouques Ritterroman Der Zauberring nur zu vertraut waren und nun in den ästhetischen Inszenierungen des griechischen Freiheitskrieges eine Renaissance erfahren. Der literarische Philhellenismus, so läßt sich das bisher Skizzierte zusammenfassen, ist also gekennzeichnet durch das Zusammenspiel von Gewaltästhetik, Gender-Figurationen, religiöser Symbolik und überkommenen Orient-Topoi und präsentiert sich so als ein semantischer Raum, in dem der Orient konsequent als Gegenkultur entworfen wird, als bedrohliches und dabei in seiner Alterität zugleich identitätskonstitutives Anderes. Dieses Dispositiv aus kultureller und religiöser Oppositionsbeziehung, Gewaltästhetik und Genderordnung mit seinen wirkungsvollen Identifikations- und Alterisierungeffekten hat jedoch seine Möglichkeitsbedingung in spezifischen ästhetischen Formen, die nach Regeln organisiert sind, wie sie bereits im Kontext von Schillers Turandot aufschienen. Die Rede ist nicht allein von der Tendenz des ästhetischen Philhellenismus zum Spektakulären, auch wenn das gerade für seine populärkulturelle Seite von großer Bedeutung war. Vielmehr hat die literaturwissenschafdiche Forschung auch innerhalb der literarischen Texte selbst, und hier vor allem innerhalb der in der Bewegung so prominenten Lyrik, die Tendenz zum Bildhaften ausgemacht. Als „kleine, abgerundete Genrebilder" bezeichnete schon Robert F. Arnold die Lieder der Griechen Müllers und wies dabei auf ihre 216 217 218 219
Byron. In: Müller WTB I, S. 230. Der Verbannte von Ithaka. In: Müller WTB I, S. 234f. Die Sklavin in Asien. In: Müller WTB I, S. 238. Puchner: Die griechische 'Revolution von 1821 auf dem deutschen Theater, S. 105 f.
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strukturelle und ikonographische Analogie 2ur „gleichzeitigen Bücherillustration" hin;220 eine Beobachtung, die von Härtung weitergeführt wird221 und die sich auch mit Müllers gewaltästhetischem Prinzip der Serialität deckt, das sich in seinem Gedicht Die Eule abgezeichnet hatte: Der Lichtschein brennender Städte, Häuser und Scheiterhaufen trifft hier auf einzelne Szenen der Zerstörung, die wie Momentaufnahmen aneinandergereiht werden. Ähnlich, wenn auch mit ausgeprägterer narrativer Tendenz als Müllers Lyrik, ist Chamissos Chios komponiert. Zwar sind, wie gezeigt, die Gewaltszenen des Poems nach einem kumulativen Prinzip entworfen, doch das Gesamtarrangement trägt ebenfalls bildserielle Züge. Seine je fünfstrophigen Teilstücke - Der Dichter,, Die Brüder, Die Märtyrer, Die Geretteten, Die laichen und Kanaris — sind letztlich sechs Einzelbilder, Arrangements von Zerstörung und Tod, die als Bilder im lyrischen Text auch thematisiert werden. So beginnt das vierte Teilstück Die Geretteten mit den Versen: Vor der Wiege lieget blutig, Jung und schön der Mann erschlagen, Hat die schweren Wunden mutig Vorn auf seiner Brust getragen; Auf der Wiege selber lieget, Angeklammert, angeschmieget, Regungslos das zarte Weib, Und den Säugling, welcher weinet Und der Brust bedürftig scheinet, Deckt sie starr mit ihrem Leib. Jourdain, der mit zweien Booten Kam, die Küste zu erspähen Und den letzten der Chioten Rettung bringend beizustehen, Jourdain sieht das Bild mit Schaudern, Sucht die Mutter ohne Zaudern Zu erwecken - kalt und tot!222
Vor diesem Hintergrund läßt sich der oben bereits anzitierte Untertitel des philhellenistischen Romans von Adolf von Schaden Theodora, die Leipziger ]ungemagd durchaus als aisthetische Genreangabe lesen, der vollständig lau220 Arnold: Der deutsche Philhellenismus, S. 128. 221 Härtung: Wilhelm Müllers Griechengedichte, S. 91. Auch Gerhard Schulz hat auf die Bildserialität von Müllers Liedern der Grieche» hingewiesen und angemerkt, sie folgten „dem Kampf als ein Bilderbuch". Vgl. Gerhard Schulz: Die detitsche Literatur ^irischen franspsischer Revolution und Restauration. Zweiter Teil: Das Zeitalter der napoleonischen Kriege und der Restauration 1806-1830. München 1989 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begr. v. Helmut de Boor u. Richard Newald, Bd. 7), S. 162. 222 Chamisso W I, S. 272.
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tet: „ein historisch-romantisches OriginalgftWi?/^ hellenischen Hochsinns und türkischer Barbarei, aus der ersten Epoche der gegenwärtigen Insurrection auf Morea".223 Die Inszenierung der Osmanen als das Andere nicht allein der Griechen, sondern zudem der Sittlichkeit, der Menschlichkeit und der Zivilisation scheint also auch hier seine Möglichkeitsbedingung in der Tendenz der Texte zu einem bildhaft-szenischen Arrangement zu haben, in welchem sich die für Strategien der Alterisierung und Identitätskonstitution notwendigen Oppositionsbeziehungen mitsamt der Inszenierung von Gewalt — sei sie nun kumulativ oder seriell — literarisch offenbar am effektvollsten realisieren ließen.
5.3.4 Wer sind die Griechen? Mehrfache Lesbarkeit und die Folgen Nun ist von der Forschung zum deutschen Philhellenismus immer wieder der Surrogat-Charakter224 dieser Bewegung herausgestrichen und betont worden, der griechische Freiheitskrieg zwischen 1821 und 1827 habe in den deutschen Staaten als „eine[ ] Art Projektionsbild" fungiert.225 So unmittelbar einsichtig diese Beobachtung auch sein mag, impliziert sie doch für die Frage nach den Einwirkungen des Philhellenismus auf den Orientalismus einen interessanten Befund; die Erkenntnis nämlich, daß die Griechen und mit ihnen auch ihr osmanischer Widerpart in der deutschen Rezeption nicht für sich selbst, sondernßir etwas anderes standen, also Zeichencharakter besaßen. Mit ihrer Absorption durch den deutschen Philhellenismus trat die Erhebung der Neugriechen gegen die Osmanen unmittelbar auch in einen machtvollen Semiotisierungsprozeß ein: Die hier kämpften, waren in philhellenistischen Augen nicht (allein) die Bewohner eines osmanischen Gouvernats griechischer Provenienz und ihre Gegner nicht (allein) das osmanische Militär, sondern der Kampf wurde ausgetragen zwischen Stellvertretern pro aliquo. Literaturwissenschaftlich betrachtet, hatten sowohl die Griechen als auch die Osmanen in der philhellenistischen Wahrnehmung also den Charakter von Tropen, von Formen uneigentlicher Rede. Und nur aufgrund dieses Charakters konnte der griechische Unabhängigkeitskrieg überhaupt sein ungeheures diskursives und ästhetisches Potential in Deutschland entwickeln. Bemerkenswert ist dieser Umstand vor 223 2 Bde. Leipzig 1822. Hervorh. von mir. 224 Arnold: Der deutsche Philhellenismus; S. 132; Irmscher: Der Philhellenismus in Preußen als Forschungsanliegen, S. 33; Hering: Der griechische Unabhängigkeitskrieg und der Philhellenismus, S. 54 f. 225 Puchner: Die griechische Revolution von 1821 auf dem deutschen Theater, S. 92.
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allem deshalb, weil im Deutschland der 1820er Jahre keineswegs nur eine tropische Lesart der Griechen und ihrer Gegner existierte. Erfolg und Breitenwirkung der philhellenistischen Bewegung als „single purpose movement"226 gründeten vielmehr gerade auf der Mehrfachkodierung der Griechen und ihres Freiheitskrieges, die ein zeitgenössischer Kommentator 1823 wie folgt skizzierte: Alle Parteien vereinigen sich in dem Interesse für die Griechen. Die Frommen werden von der Religion, die Gebildeten von den klassischen Erinnerungen, die Liberalen von der Hoffnung auf altgriechische Republiken als Vorläufer und Pflanzschule der künftigen allgemeinen Demokratisierung, Republikanisierung Europas [...] bewegt.227
Während also die eine Partei der Griechenfreunde den freiheitlich-demokratischen Aspekt in den Vordergrund stellte und die griechischen Aufstände als Erhebung eines Volkes gegen staatliche Willkürherrschaft und Unterdrückung rezipierte, setzte die andere das Moment der Religion primär und nahm die Ereignisse in Griechenland als Akt der Befreiung einer christlichen Minderheit von ihren islamischen Unterdrückern wahr, und für die dritte Partei schließlich stand der Bezug zur Antike im Vordergrund, und sie prozessierte die Griechen entsprechend als direkte Erben der klassischen Zeit und als wiedererstandenes Hellas.228 Das Zusammenspiel dieser drei Lesarten leistete dem Philhellenismus als sozialer Bewegung große Dienste, denn es ermöglichte eine Anbindung an heterogenste Weltanschauungen und dadurch die Mobilisierung breitester Bevölkerungsschichten. Daher fanden sich auf den Mitgliederlisten der philhellenistischen Vereine auch Namen in unmittelbarer Nachbar226 Mit Hilfe dieses Begriffs hat Dieter Kramer in seinem Beitrag Der Philhellenismus und die Entwicklung des politischen Bewußtseins in Deutschland (In: Kontakte und Grenzen. Probleme der Volks-, Kultur- und Sozialforschung. Festschrift für Gerhard Heilfurth zum 60. Geburtstag. Göttingen 1969, S. 231-247, hier: S. 236) eben dieses Spezifikum des Philhellenismus als einer politischen Bewegung zu fassen versucht, welche die verschiedensten Protagonisten mit den unterschiedlichen weltanschaulichen Hintergründen ereignisbezogen zu verbinden vermochte. Allerdings hat Czerannowski, die diesen Begriff in die neuere Forschung eingebracht hat, zu Recht darauf hingewiesen, daß die Ubertragbarkeit der Kategorie auf den Philhellenismus als einer keineswegs rein politischen Bewegung noch zu prüfen sei. Vgl. Czerannowski: „Ohne Freiheit, was wärest du, Hellas? Ohne dich, Hellas, was wäre die Welt?", S. 78. 227 Zit. nach: Arnold: Der deutsche Philhellenismus, S. 120. 228 Auch Hauser macht in der philhellenistischen Publizistik diese drei Aspekte aus, beschäftigt sich allerdings primär mit dem organisierten Philhellenismus und betrachtet — seinem sozialgeschichtlichen Ansatz entsprechend - die unterschiedlichen diskursiven Strategien allein innerhalb der dezidiert philhellenistischen Publikationsorgane. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß sowohl die religiösen als auch die klassizistischen Aspekte der publizistischen Mobilisierungversuche hier im Vergleich zu den frciheitlichdemokratischen eine deutlich untergeordnete Rolle spielten. Vgl. Hauser: Anfänge bürgerlicher Organisation, S. 198-209.
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schaft zueinander, deren Träger ideologisch Welten trennten: Der Heidelberger Griechenverein wurde von Johann Heinrich Voß ebenso frequentiert wie von Heinrich Eberhard Gottlob Paulus,229 und Barthold Georg Niebuhr war nicht weniger Philhellene als Justinius Kerner, Ludwig Uhland und Varnhagen von Ense.230 Auf dem Feld der philhellenis tischen Literatur, ihrer Figurationen und Bildwelten allerdings erwies sich diese — im politischen Kontext so ungemein fruchtbare — Mehrfachkodierung der Griechen letztlich als ein neuralgischer Punkt. Denn im literarisch geregelten Raum zumal narrativer Texte stieß diese Polysemantik der Griechen an die Grenzen der literarischen Darstellbarkeit, genauer: an die Grenzen der intrinsischen Logik der Tropen, die sich nicht beliebig im selben figuralen Syntagma miteinander koppeln ließen. Die Lesart der aufständischen Neugriechen als pars pro Mo für die Christenheit zog eine Grundkonstellation nach sich, in der die osmanischen Gegner der Griechen als Synekdoche des Islam auftraten. Die Rezeption der Neugriechen als Metonymie des antiken Griechenland dagegen evozierte historische Figurationen wie die - in der philhellenistischen Publizistik und Belletristik äußerst prominenten — Perserkriege231 oder den Trojanischen Krieg,232 in denen die Gegenseite als sassanidische Perser oder eben als Trojaner vorgestellt wurde. Zwar konnte sich die dritte Lesart, die metaphorische Rezeption des neugriechischen Aufstandes als republikanischer Freiheitskampf des Volkes gegen absolutistische Willkürherrschaft, mit beiden Interpretationen verbinden, doch untereinander ließen sie sich nur schwer harmonisieren. Schließlich fußte sowohl die Wahrnehmung Griechenlands als Stellvertreter des Christentums als auch seine Interpretation als wiedererstandenes Hellas auf einer pragmatisch motivierten Verschiebung oder — mit Roman Jakobson gesprochen — auf einer Kontiguitätsoperation:233 Die zeitgenössischen Griechen konnten von den deutschen Philhellenen als synekdochale Stellvertreter ihrer christlichen Glaubensbrüder wahrgenommen werden, weil sie tatsächlich Christen waren. Ebenso pragmatisch — in diesem Falle genealogisch - motiviert funktionierte ihre Interpretation 229 Hauser hat eine vollständige Liste der Mitglieder abgedruckt (Hauser: Anfänge bürgerlicher Organisation, S. 272f). 230 wledemann: Varnhagen von Ense und der griechische Aufstand 1821-1829. 231 Dazu ungemein detailreich Friedgar Löbker: Antike Topoi in der deutschen Philhellenenliieratur. Untersuchungen %ur Antikerespption in der Zeit des griechischen Unabhängigkeitskrieges (1821-1829). München 2000, S. 92-156. 232 Ebd., S. 70-92. 233 Roman Jakobson: „Der Doppelcharakter der Sprache und die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik". In: Anselm Haverkamp (Hrsg.): Theorie der Metapher. 2., um ein Nachw. zur Neuausg. u. einen bibliogr. Nachtr. erg. Aufl. Darmstadt 1996, S. 163-174, hier: S. 168.
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als Erben des antiken Hellas. Und so evident und stabil jede dieser beiden Verschiebungen dank ihrer pragmatischen Motiviertheit auch waren, so notwendig kollidierten ihre Tropo-Logiken im Raum des Pragmas: Die antiken Griechen waren nun einmal keine Christen, und als Christen standen die Griechen des frühen 19. Jahrhunderts in genealogischer Nachfolge des Byzantinischen Reiches, nicht des antiken Griechenland, war Konstantinopel die Hauptstadt des auferstandenen Reiches und nicht Athen.234 Bei Marathon erlangte das griechische Heer keinen Sieg über den Islam, und nach dem Fall Trojas wurde keine Kreuzesfahne auf den Mauern der Stadt gehißt. Diese tropo-logischen Widersprüche ließen sich nur in ästhetischen Medien auflösen, die den Regeln der figuralen Allegorie folgten. So findet sich etwa in der Federzeichnung Allegorie auf die Befreiung Griechenlands von Carl Barth (1826) (Abb. 17) das von einer drachenhaften Bestie umringte, über mannshohe Kruzifix in gänzlich irritationsloser Nachbarschaft mit Protagonisten in griechisch-antiker Gewandung, deren wehrhafter Vorstreiter im Kampf gegen den Drachen mit dem Kreuz gleichsam zu einer körperlichen Einheit verschmilzt. Für narrative Texte indes, die sowohl die antike als auch die christliche Belegung der Neugriechen aktualisieren und in einen konsistenten Hö»d7««gsstrang integrieren wollten, stellte ihre Verbindung eine handfeste künstlerische Herausforderung dar. Zum Abschluß dieses Kapitels soll nun ein Text zu Wort kommen, dessen Verfasser eben diese Herausforderung angenommen und mit beeindruckender gestalterischer Brillanz und deutlich wahrnehmbarem kompositorischem Aufwand literarisch bewältigt hat. Die Rede ist von der kurzen Traumdichtung Gesichte einer Griechischen Mutter. Ein Traum in den letzten Tagen des Juli-Monats, die der alternde Jean Paul kurz nach dem Ausbruch der griechischen Aufstände, am 14. August 1821 im Morgenblatt für gebildete Stände veröffendicht hatte.235 Der im Druck 234 Dieser Widerspruch führte auch auf dem Feld realer deutsch-griechischer Kontakte im Kontext des Philhellenismus und in den nachfolgenden Verhandlungen der territorialen Grenzen des neuen griechischen Staates zu manifesten Mißverständnissen: Für die griechischen Kämpfer bildete Konstantinopel den Fixpunkt eines wiedererweckten griechischen Reiches, für die europäischen Philhellenen war es Athen. Vgl. dazu Hans Eidner: Hellenen und Philhellenen. In: Griechen und Deutsche. Bilder vom Anderen. Hrsg. vom Württembergischen Landesmuseum Stuttgart/ Hessischen Landesmuseum Darmstadt. Darmstadt 1982, S. 63-75, hier: S. 65f. Zur marginalen Bedeutung des byzantinischen Reiches in den Denkwelten des deutschen Philhellenismus vgl. Johannes Irmscher: Das Antikebild des deutschen Philhellenismus. In: Evangelos Konstantinou (Hrsg.): Die Rezeption der Antike und der europäische Philhellenismus. Frankfurt a. M./ Berlin/ Bern/ New York/ Paris/ Wien 1998 (= Philhellenische Studien 7), S. 121-l 38, hier: S. 123 ff. 235 Jean Paul: Gesichte einer Griechischen Mutter. Ein Traum in den letzten Tagen des Juli-Monats. In: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Norbert Miller. Abt. II, Bd. 3: Vermischte Schriften
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Abb. 17: Carl Barth: Allegorie auf die Befreiung Griechenlands, 1826 (Federzeichnung, 11.1 15.4 cm) Tübingen: Graphische Sammlung am Kunsthistorischen Institut der Universität
der Gesamtausgabe kaum vier Seiten umfassende Text, der trotz seiner ekstatischen Bilder fülle und kompositorischen Luzidität bislang weder in der Philhellenismus- noch in der Jean-Paul-Forschung Beachtung gefunden hat,236 versammelt nahezu alle in der bisherigen Diskussion der philhellenistischen Literatur aufgezeigten Topoi und arrangiert sie zu einer fulminanten apokalyptischen Vision mit eschatologischer Wendung, in der sich selbst die tropo-logischen Widersprüche zwischen der chrisdichen und der antiken Lesart der Griechen auflösen. In Form einer rahmenden Exposition der nachfolgenden szenenhaften Dichtung kündigt der Autor/Erzähler zu Beginn die Schilderung seines titelgebenden Traumes mit den Worten an: Der Traum trägt gern den Menschen in die jugendliche Vergangenheit zurück; aber in welche muß er jetzo eher zurücktreiben als in die griechische aus einer
II. München 1978, S. 993-996; im Folgenden angegeben als Jean Paul SW II.3 mit Seitenzahl. 236 Und das, obwohl ihn Gerhard Schulz in seiner Literaturgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts mit einer vergleichsweise ausführlichen Paraphrase würdigt. Vgl. Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur ^wischen französischer Revolution und Restauration H, S. 159.
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Orientalismus: Genese und Gestalten mörderischen Gegenwart hinweg, wo Christen von Tieren den Tieren vorgeworfen werden, und die Enkel der Lehrer Europa's zu neuen tiefern Sklaven alter despotischer Sklaven niedergekrümmt; eine Zeit, wo das lichte milde Europa vor einem offenen Tiergarten losgelaßner, auf gebundene Christen losstürzender Tiger mit ohnmächtigen Tränen stehen muß und vor Städten voll Schlachtfelder ohne Schlachten. Mir träumte nun: Mein Geist war im alten Athen, als noch alle Freien und alle Tempel aufrecht standen und Philippus von Mazedonien blitzte und Demosthenes donnerte.237
Im beidhändigen Rückgriff auf jenen barocken ornatus, der bereits in Wilhelm Müllers Griechenliedern aufgefallen war, setzt Jean Paul die für den Philhellenismus so charakteristische binäre Figuration ins Bild, aufgelokkert durch drei analog komponierte Paradoxien, deren Wortwiederholungen den aufgerufenen Sinn zugleich komprimieren: Christen werden „von Tieren den Tieren vorgeworfen", die „Enkel der Lehrer Europa's zu neuen tiefem Sklaven alter despotischer Sklaven niedergekrümmt" und Europa steht „vor Städten voll Schlachtfelder ohne Schlachten". In dieses paradoxale perpetuum mobile wirft Jean Paul den philhellenistischen Topos des Tigers hinein — und zwar auf eine Weise, die eine erste tropologische Brücke schlägt zwischen Antike und Christentum. Denn mit seinem Bild von dem „offenen Tiergarten losgelaßner, auf gebundene Christen losstürzender Tiger" ruft der Verfasser einerseits die Szenerie der römischen Christenverfolgung auf. Indem er aber zugleich die topologisch an diese Stelle gehörigen Löwen durch Tiger ersetzt, schreibt er bereits innerhalb der spätantiken Figuration den Opponenten der Griechen eine asiatische Bedeutungskomponente ein, was sie mit den neuzeitlichen Osmanen assoziierbar macht. Die wiederum qua Oppositionsbeziehung gleich im ersten Satz aufgerufene Flucht von der „mörderische [n] Gegenwart" in die „jugendliche Vergangenheit" wandelt sich auf diese Weise zu einem Tigersprung aus dem Syntagma des gegenwärtigen christlich-islamischen Konflikts in einen antiken Bildraum, den der nachfolgend beschriebene Traum mit visionär-apokalyptischen Szenen füllt; allerdings nicht ohne zuvor eine weitere asiatisch-europäische Achse zu ziehen: Denn der „Geist" des träumenden Beobachters findet sich in der Stadt Athenes an eben jenem Tag ein, „da Diana's Tempel in Ephesus abbrannte und Alexander der Große geboren wurde".238 Jean Pauls Aktualisierung dieser, von Plutarch verbürgten239 Ereignisse des Jahres 336 v. Chr. — der Zerstörung des (klein)asiatischen Heiligtums der ephesischen Diana240 und der Geburt des makedonischen Feldherrn und Weltreichgründers Alexander — fungiert hier als 237 Jean Paul SW II.3, S. 993. 238 Ebd. 239 Vgl. den Kommentar von Norbert Miller in: Jean Paul SW II.4, S. 717. 240 Zur - vor allem über das Ägyptische vermittelten - orientalischen Konnotation der ephesischen Diana s. o. Kap. 3.2.
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semantisch ungemein wirkmächtige insmptio der folgenden Szenerie. Denn durch die Straßen der Stadt taumelt eine Kassandra, „eine wahnsinnige Seherin", die den glücklichen Athenern Jahrtausende währende Sklaverei prophezeit: „Sie kommen mit ihren Ketten, die Barabaren! O ihr Kinder, ihr werdet gebunden und liegt Jahrtausende an Ketten. Sie kommen jetzt aus der Nähe, nun aus der Ferne, und wieder aus der Ferne."241
Es sind die Zukunftsvisionen zweier „Siebenhügelstädte", wie es im Text weiter heißt, der Orte griechischer Knechtschaft, die vor ihrem inneren Auge aufsteigen, während sie zwischen den Gräbern der heldenhaften Sieger der Perserkriege umherirrt: Rom und Konstantinopel, bestückt mit „Kerkertürmen" und bewohnt von „Kerkermeistern des Vaterlandes".242 Von diesen Schreckensbildern getrieben, wendet sie sich schließlich zum Standbild der Athene, die Göttin um Schutz für ihre Kinder anzuflehen. Doch im Angesicht der riesenhaften Bildsäule beginnen sich die Wirklichkeitsebenen halluzinatorisch gegeneinander zu verschieben, und die apokalyptische Zerstörung dringt aus den Visionen der griechischen Mutter in die erzählte Welt selbst ein. Die Seherin betet: „Athena, Minerva, Schirmgöttin deines Athens, lasse deine Olivenwälder nicht verheeren vom Wolkenbruche der Barbaren, lasse deine flammenden Altäre nicht überdecken und wegschwemmen durch die Sündflut!" Aber während sie betete, wankte und zitterte der Koloß - die Schlangen des Medusenschildes auf \ünerva's Brust wurden lebendig und krochen wachsend um den glänzenden Leib und besudelten ihn mit Gift, und Arachne in Gestalt einer Riesenspinne überwebte die Brust - da heulte die Eule auf Athena's Helme ein Totenlied - und der Koloß stürzte darnieder.243
Die Wirkmächtigkeit dieser alptraumhaften Szene liegt nicht allein in ihrer, an Filmesequenzen David Lynchs gemahnenden, surrealen Dichte der Bilder begründet, sondern auch in dem synästhetischen Effekt, den das heulende Totenlied der Eule dem grauenhaften Arrangement verleiht, während sich das Tier — so will es scheinen — von dem einstürzenden Koloß in die Luft erhebt, um fürderhin als intertextuelles Element über den Gewaltszenarien Wilhelm Müllers zu schweben. Die ersten Verse von Müllers oben bereits anzitiertem Gedicht Die Eule lauten: Vogel der Weisheit Ward ich genannt; Ich saß auf Minervens Altare, Ihr heiliges Feuer hütend. Nun liegt er in Trümmern, 241 Jean Paul SW II.3, S. 993. 242 Jean Paul SW II.3, S. 994. 243 Ebd.
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Orientalismus: Genese und Gestalten Der Tempel der Göttin Auf Kekrop's Burg, Erloschen und verweht Von ihrem Hochaltare Die letzten Opferfunken. Da hab ich der Nacht mich ergeben, Und schlafe den langen Tag; Und wann die Menschen träumen, Dann schau ich mit blitzenden Augen Über die dunkle Erde Und schreie Wehe! Wehe! Über die Torheit des hellen Tages!244
Während Müller allerdings dem Alptraumhaften seiner Gewaltszenen eine rhythmische Fassung verleiht, reißt die Prosa Jean Pauls alle gewaltästhetischen Dämme nieder: Erzählte und geahnte Zerstörung schieben sich immer weiter ineinander und kulminieren zu Kaskaden der Vernichtung. Auch der Zeustempel, der nächste sakrale Fluchtort der Seherin, wankt und stürzt ein, und während sie weiter zur Akropolis hastet, „näherten sich der Seherin immer fürchterlicher die schwarzen Jahrhunderte ihrer Enkel".245 Oben auf dem Hügel steht sie schließlich, umgeben von Tempeltrümmern „und kein Gott und keine Göttin zum Gebet", und blickt hinab auf ihre Stadt: Sie starrte hinab nach Athen, und die Jahrhunderte verflossen vor ihr, und sie sah ihre Vaterstadt durcheinander geworfen von den Erdbeben der Zeiten [...] und ihre Enkel schlichen in dunklen Kleidern, mit gesenkten Köpfen aus niedrigen Häusern in niedrige Kirchen,' aber zwischen den alten hohen Tempelsäulen wandelten drohend ihre Herren in glänzenden Talaren; und in den Tränentropfen der Griechin brachen und krümmten sich die Griechen tiefer, und die Tyrannen vergrößerten sich riesenhaft.246 Die Griechen dürfen nur dunkle Farben tragen. Die Türen ihrer Kirchen sind (wie die ihrer Häuser) sehr niedrig, damit die Türken nicht hineinreiten.247
Durch das Übereinanderblenden der Zeitalter gelingt dem Autor vom Sehepunkt der zerstörten Akropolis aus, die als Trümmerlandschaft per definitionem die Zeiten transzendiert, der visionäre Sprung ins osmanische Griechenland. Das aufgerufene Stadtbild ist trotz der grob skizzenhaften Ausführung deutlich entlang zweier Oppositionsachsen gestaltet, die durch die kulturgeschichtliche Anmerkung des Autors noch betont werden: Neben dem Hell-Dunkel-Kontrast — die „dunklen Kleider der Griechen" stehen den „gänzenden Talaren" ihrer „Herren" gegenüber 244 Wühelm Müller. Die Eule. In: Werke I, S. 242. 245 Jean Paul SW II.3, S. 994. 246 Jean Paul SW II.3, S. 995. 247 Anm. i.O.
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etabliert Jean Paul mit beeindruckender bildästhetischer Könnerschaft (man ist erneut versucht, von ,filmästhetischer' Könnerschaft zu sprechen) eine Opposition zwischen ,oben' und ,untenc. Denn in der konvexen Oberfläche der Tränen tropfen verzerrt, füllt der ins Groteske vergrößerte räumliche und hierarchische Gegensatz zwischen niedergekrümmten Griechen und aufrecht stehenden „Tyrannen" den gesamten Bildraum und bildet zugleich die bildlogische Schleuse zur nachfolgenden blutrauschhaften Szenerie. Sie blickte über ihr Athen, und das ganze Olivenland der Friedengöttin Minerva war ein blutiger Ölgarten eines leidenden Volks, und wo ein Kopf sich aufrichtete, wurd' er abgeschlagen für den Garten voll Blutspringbrunnen; der ferne honigreiche Hymettos stand in Purpur dort, aber nicht wie sonst von der untergehenden Sonne, sondern von Blut. Sie blickte auf zum Himmel; oben stand der Halbmond Diana's, der Göttin des Todes und des Jagens, und die Mondsichel hing blutigrot vom Niedermähen ihres Volkes herab.248
Hier nimmt Jean Paul nahezu alle zuvor ausgelegten kompositorischen Fäden wieder auf und verknotet sie zu einem, gerade durch seine exzessive Drastik ungemein stimmigen, allegorischen Syntagma: Die bereits zu Beginn der Traumdichtung angespielte Opposition zwischen der ephesischen Diana und Athen ist hier zu den Figuralallegorien der beiden Göttinnen verdichtet, die einander nur dadurch diametral gegenüber stehen können, daß ihr literarischer Neuschöpfer die zivile Konnotation der Minerva zum Attribut der „Friedensgöttin" verabsolutiert und die jagende Diana zur „Göttin des Todes" macht. Doch letzdich ist es eines der Paraphernalien Dianas, die im Text mit dem „Halbmond" gleichgesetzte Mondsichel, welche jene — durch ihren Tempel in Ephesus ohnehin bereits mit einer orientalischen Signatur versehene — Göttin letztendlich zu einer Allegorie der islamischen Herrschaft umformt und zugleich den metaphorischen Anknüpfungspunkt für das blutige Szenario bietet. Denn in den Händen der Todesgöttin verwandelt sich die metaphorische Sichel des Mondes zurück in das bildspendende Erntewerkzeug, mit dem eben jene griechischen Köpfe ,niedergemäht' werden, die sich aus ihrer zuvor dargestellten „gesenkten" Haltung emporheben, um nach vollbrachter Arbeit wieder zurück an den dunklen Himmel zu wandern und dort bluttriefend zu prangen. Zugleich aber prägt die Sichel - in ihrer wörtlichen und symbolischen Bedeutung - dem aufgerufenen Garten mit seinen „Blutspringbrunnen" den Stempel einer orientalischen Kulturlandschaft auf, so daß also in den tyrannischen Schlächtern der Griechen nach dieser mehrfachen symbollogischen Metamorphose antike und islamische Belegungen miteinander verschmelzen. 248 Ebd. Hervorh. i.O.
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Allerdings endet Jean Pauls Traumdichtung nicht mit dieser Apokalypse, sondern erfahrt im letzten Absatz eine eschatologische Wende, im Zuge derer dem Dichter tatsächlich die finale Synthese von Christentum und Hellenismus gelingt. Nachdem die Seherin, die finale Vision ihrer „von den Tigerarmen der Barbaren umschlungen [en] und von grimmiger Wollust erwürgten" Töchter vor Augen, zu Boden sinkend ausruft: „So gibt es denn keinen Gott!", wendet sich das Blatt: Da ruhte plötzlich und wunderbar die sterbende Seherin vor dem Altare, welchen Athen dem unbekannten Gott gewidmet hatte, den Paulus für den Altar des ChristenGottes erkannte. [...] „Unbekannter Gott," betete die Seherin, „bist du der Gott meiner Kinder? - und stehst du ihnen bei, und die wilde Riesenschlange hat sie nur umwunden, nicht vergiftet? - Ja, ich seh' es, sie sprengen die Ketten und Kerker sie schwimmen durch das blutige Totenmeer ihrer Geliebten und versinken nicht [...] O, du gütige Gottheit, ich seh' es, ein anderer Alexander ist meinen Kindern geboren und er deckt seine Krone als Helm auf mein Vaterland" ... - Da erweckte mich die Seligkeit des Traums; aber sie überlebte ihn; Alexander zieht den Griechen zu Hülfe.249
Jean Paul zitiert das 17. Kapitel der Apostelgeschichte (Apg 17,23) in seine Dichtung hinein — einen Bezug, den der Autor wiederum durch eine Fußnote auch seinen nicht ganz bibelfesten Lesern deutlich anzeigt -, indem er jenen „dem unbekannten Gott" geweihten Altar die Zerstörungen überdauern läßt, den Paulus in Athen vorfand und den Gelehrten der Stadt als Altar des einen Schöpfergottes verkündigte, den sie bis dahin „unwissend verehrt". Letztlich nimmt sich Jean Paul den Apostel hier zum strategischen Vorbild, indem er denselben rhetorischen Trick anwendet wie Paulus selbst: Wie er greift auch der Dichter innerhalb seiner visionärhistorischen Figuration eine Leerstelle, eine Unbekannte, auf, füllt sie mit neuem Inhalt, tut dies aber im Gestus der Enthüllung von längst unbemerkt Dagewesenem. So wie Paulus der Athener Bildungselite, die „nichts anderes im Sinn [hatte], als etwas Neues zu sagen oder zu hören" (Apg 17, 21) den monotheistischen Gott als jenen predigt, dem sie ungewußt schon lange gehuldigt hatten, erzählt Jean Paul in seine hellenistische Konstellation den biblisch verbürgten Altar und damit den Monotheismus hinein. So kann die sterbende hellenische Seherin - ohne die narrative Logik zu durchbrechen - drei Jahrhunderte vor Christus zum christlichen Gott beten und auf diese Weise den Bogen zu ihren christlichen „Kindern" schlagen, die sich durch den Beistand von diesem ,,gütige[n]" Gott einst aus der Unterdrückung befreien werden.250 Die abschließende, nicht we249 Jean Paul SW II.3, S. 995 f. 250 Gerhard Schulz hat auf die Prominenz des Rekurses auf Apg 17,23 als Brückenschlag zwischen griechischer Antike und Christentum um 1800 verwiesen. Die kompositorische Meisterschaft, mit welcher Jean Paul hier vorgeht, scheint mir gerade in ihrer
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niger suggestive Parallelisierung von Alexander dem Großen mit Alexander Ypsilanti und Alexander I. von Rußland251 durch die Rede von jenem ,,andere[n] Alexander", der den Griechen „geboren" sei, „seine Krone als Helm auf [das] Vaterland" decke und dem Volk schließlich „zur Hilfe" eile, schließt den historischen Kreis der Binnenerzählung und spannt zugleich den Bogen in die Jetztzeit der erzählerischen Rahmung, wo alles in der realgeschichtüchen Vision eines nationalen Freiheitskampfes der nun tatsächlich christlichen und antiken Griechen zusammenläuft. Dreierlei läßt sich an diesem kleinen erzählerischen Kunstwerk Jean Pauls ablesen: Zunächst zeigt sich erneut die schon mehrfach aufgezeigte Tendenz literarischer Texte, kulturelle Alterität und Identität in bildhaften bzw. bildseriellen Formen zu inszenieren, und damit werden einmal mehr die (gattungs)ästhetischen Eigengesetzlichkeiten sichtbar, die bei der literarischen Verarbeitung des Orientalismus stets und nicht selten in erheblichem Maße mitwirken. Dann wird gleichzeitig bei genauerer Analyse das Maß an dichterischer Anstrengung sichtbar, dessen es bedurfte, um die beiden pragmatisch motivierten Lesarten der Neugriechen — als pars pro toto der Christenheit und als Metonymie der Antike - und der Osmanen als pars pro toto der Muslime und als Widerpart der antiken Griechen — in ein narratives Syntagma zu überführen. Zum dritten aber, und das scheint für die Einschätzung der Folgen des Philhellenismus als diskursiver und literarischer Bewegung der bedeutsamste Punkt zu sein, erweist sich die kompositorische Bemühung Jean Pauls — und mit ihm vieler anderer philhellenistischer Dichter - als eine, die auf die Konstitution des Eigenen gerichtet war, als Arbeit an der kohärenten Erzählung des eigenen Herkommens, an der Verbindung von Antike und Christentum auf dem Feld der mytho-historischen Vergangenheit Europas. Hier lag die eigentliche dichterische und rhetorische Herausforderung, und aus diesem Projekt zog die „Arbeit am Mythos" ihre Kraft.252 So erklärt sich auch der große Bogen,
strategischen Gerichtetheit jedoch eine Besonderheit darzustellen. Vgl. dazu Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur ^wischen französischer Revolution und Restauration II, S. 157. 251 Sowohl Gerhard Schulz (ebd. S. 159) als auch Gunnar Hering (Der griechische Unabhängigkeitskrieg und der Philhellenismus, S. 66) identifizieren den „anderen Alexander" allein als den Zar und lesen den Schluß der Traumdichtung als Prophezeiung einer russischen Intervention. Und tatsächlich legt die Bildlichkeit einer Krone, die als Helm über das Land gedeckt wird, die Assoziation einer Schutzmacht nahe. Allerdings ist der Name Alexander Ypsilantis im Sommer 1821 in der deutschen Öffentlichkeit derart unmittelbar mit den griechischen Ereignissen verbunden, daß er hier mit angespielt sein muß. 252 Friedrich Heyer wertet diese Art der mytho-politischen Vergangenheitsordnung anläßlich des griechischen Unabhängigkeitskrieges sogar als spezifisch deutsches Phänomen. Vgl. Friedrich Heyer: „Das philhellenische Argument: .Europa verdankt den Griechen seine Kultur, also ist jetzt Solidarität mit den Griechen Dankesschuld"'. In:
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den nicht allein Jean Paul in seiner Traumdichtung um die byzantinische Glanzzeit Griechenlands — einschließlich der orthodoxen Kirche — macht. Denn wäre es um die literarische Inszenierung eines christlich-islamischen, eines griechisch-osmanischen Konflikts gegangen, hätte der topologische Weg direkt nach Byzanz geführt. Beim Versuch aber, die eigenen kulturellen Wurzeln zu bestimmen und in diesem Zusammenhang das diskursive Ereignis des griechischen Unabhängigkeitskrieges als Auferstehung der Verbindung von Antike und Christentum zu lesen, war das byzantinische Reich ein Fremdkörper, von dem aus keine Verwandtschaftslinien ins Eigene führten. Völlig analog zu den Versuchen Friedrich Schlegels und Friedrich Creuzers, aus den sich abzeichnenden Sprachverwandtschaftslinien zwischen Indien, Griechenland und dem Germanischen auch eine religionsgeschichtliche Genese herauszulesen, aus welcher das Christentum als Grundprinzip ersichtlich wird, ist auch die philhellenistische Bewegung vom Bestreben gekennzeichnet, das historische Faktum des Christentums topologisch zu transzendieren, um es morphologisch mit der Antike zu verschmelzen. Trotz des tagespolitischen Anlasses steht also letztlich auch im Philhellenismus erneut die Ordnung der eigenen Vergangenheit zur Verhandlung, sind es Fragen an den Ursprung der Kultur und an die Wege von dort in die Gegenwart, die dem Ganzen seine Emphase verleihen. Die Folgen für den deutschen Orientalismus stellen sich dabei weitaus eher hinter dem Rücken dieser Diskurse ein, als daß sie Gegenstand einer gerichteten Konstruktion des Anderen gewesen wären. Die in der Forschung gängige Unterscheidung zwischen „realistischem" und „idealischem" Philhellenismus253 jedenfalls erscheint vor diesem Hintergrund als wenig dienlich zum Verständnis dieser in ihren Auswirkungen tatsächlich einzigartigen Bewegung des frühen 19. Jahrhunderts. Vielmehr hat der Philhellenismus durch seine vielfachen Kopplungspunkte zu inner- wie außerliterarischen Sinnkonstellationen in jenem kontingenten Gravitationsfeld, in dem sich alle historischen Prozesse stets ereignen, eine ganze Reihe von topologischen Figurationen neu geschaffen, andere festgeschrieben, dritte aufgelöst, und er hat im Zuge dessen zweifellos der heute noch immer aktuellen Frage nach dem Ursprung der europäischen Kultur einen leichten Stoß in Richtung griechischer Antike gegeben. Die Bedeutung des Philhellenismus für den deutschen Orientalismus läßt sich auf die folgenden Punkte engführen: In der deutschen Öffent-
Konstantinou (Hrsg.): Die Rezeption der Antike und der europäische Philhellenismus, S. 79-92, hier: S. 84. 253 So etwa Lambros Mygdalis: Der Philhellenismus in Deutschland, S. 70, ähnlich Puchner: Die griechische Revolution von 1821 auf dem deutschen Theater, S. 95.
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lichkeit als metonymisch-metaphorischer Stellvertreterkrieg wahrgenommen, konnte der griechische Aufstand gegen das Osmanische Reich vor allem deshalb diskursiv so fruchtbar werden, weil er als eine politische und zeitgenössische Realisation von innerdeutschen Identitäts- und Kulturursprungsentwürfen erschien. Die deutliche Parteinahme für die griechische Seite in Kunst, Literatur und Alltagsdiskurs stand dabei während der ersten Jahre des Freiheitskrieges der staatspolitischen Sicht der Dinge diametral gegenüber, was der philhellenistischen Bewegung einen oppositionell-subversiven Zug verlieh und die von den eigenen Regierungen unterstützten Osmanen zu doppelten Repräsentanten der Despotie werden ließ. Insgesamt weist die orientalistische Ordnung der Bilder in diesem Zusammenhang eine massive Tendenz zur Alterisierung und Desavouierung der Türken auf, die - gestützt durch das spezifische Wechselspiel politischer, religiöser und historistischer Semantiken — eine Ausnahmeerscheinung auf dem Feld des deutschen Orientalismus des 19. Jahrhunderts darstellt. Daß es den Türken innerhalb der philhellenistischen Diskurs figuration zugleich an Effekten von Fremdheit oder Konnotationen des Rätselhaften mangelte, sie im Gegenteil als gänzlich evidenter Anderer erschienen, ist zum einen ihrer Rezeption als radikal präsentisches Volk geschuldet - einer Wahrnehmung, die durch die diskursive Konfrontation der Osmanen mit dem vergangenheitsgesättigten Ursprungsvolk der Griechen noch verstärkt wurde. Zugleich hat sich wieder einmal die starke Tendenz orientalistischer AlterisierungsStrategien zu bildhaften ästhetischen Formen gezeigt - in diesem Fall zum Schauspiel sowie zur Ballade bildserieller Provenienz. Doch obwohl der auf diese Weise symbolisch hochgerüstete, alterisierende Orientalismus der Philhellenen zweifellos einen bedeutenden Beitrag zur diskursiven Konstitution eines griechischen Ursprungs der abendländischen Kultur leistete, ist auch deutlich geworden, in welche symbollogische Aporien alle Versuche führten, die zeitgenössischen Griechen als Erben der Antike und des Christentums zu inszenieren und damit ihr Potential zu kultureller Identitätsstiftung voll auszuschöpfen. Innerhalb dieser Ursprungserzählung Kohärenz herzustellen, war mit nicht weniger semiotischer Knochenarbeit verbunden als die analogen Bemühungen der Zeitgenossen, Indien oder Israel als Ursprungsregion des Eigenen zu entwerfen. In jedem Fall kam dem Orient in sämtlichen dieser um 1800 mit Macht betriebenen Projekte kultureller Wurzelsuche eine konstitutive Rolle zu — sei es als vorgeschichtliche Wiege des Abendlandes wie im Falle der Inder, Hebräer oder Perser, sei es als sein radikaler Antipode wie im Falle der Osmanen.
Fazit: Wie man den Orient konstruiert ohne hinzusehen Die Spur des deutschen Orientalismus durch das frühe 19. Jahrhundert hindurch zu verfolgen und seine Geschichte dabei nicht als Repräsentations-, sondern als Gebrauchsgeschichte zu begreifen, führt den Suchenden — so viel haben die Darstellungen, Analysen und Überlegungen der letzten vier großen Kapitel deutlich werden lassen — zwar durch reiche Kulturlandschaften und vorbei an bedeutsamen politischen, wissenschaftlichen und ästhetischen Zusammenhängen, dies allerdings nur selten auf forscherisch geebneten und kaum je auf graden Wegen. Dennoch lassen sich einige, über die reine Diagnose von Komplexität der orientalistischen Dinge hinausgehenden Ergebnisse dieser Spurensuche benennen und zusammenfassen. Zunächst umfaßte der Orient des frühen 19. Jahrhundert, das hat die Rekonstruktion der Begriffsgeschichte ergeben, einen geographischen, kulturellen, historischen und sprachlichen Raum, der sich vom südöstlichen Europa über den gesamten asiatischen Kontinent (abzüglich Rußlands) bis weit hinein ins südliche Afrika erstreckte. Somit waren unter dem Dach des Begriffs ,Orient' heterogenste Phänomene versammelt, die keinen gemeinsamen semantischen Nenner besaßen, sich aber gleichwohl zu einem diskursiv sinnhaften Ganzen fügten. Ein Seitenblick auf die sprachphilosophischen Überlegungen des späten Wittgenstein hatte diesen scheinbaren Widerspruch zwischen einer fehlenden Gemeinsamkeit aller unter der Kategorie ,Orient' subsumierten Dinge und der gleichzeitigen irritationslosen Gebrauchsfähigkeit des Begriffs als eine innere Ordnung sichtbar werden lassen, die weder spezifisch für das Konzept ,Orient' noch für seinen Gebrauch im 19. Jahrhundert ist: Ebenso wie alle anderen Begriffe war und ist der Begriff ,Orient' dadurch gekennzeichnet, daß seine Elemente durch eine Vielzahl einander überschneidender Ähnlichkeitsbeziehungen zu einer orientalischen „Familie" verbunden sind, deren Sinnhaftigkeit und Gebrauchsfähigkeit weder die Folge einer vorangegangenen Begriffsdefinition ist, noch in Abhängigkeit von einer solchen Bestimmung steht. Diese netzartige Struktur der Familienähnlichkeiten garantiert die Stabilität und Belastbarkeit des Begriffs ,Orient', dessen Existenz es wiederum ermöglicht, daß jedes einzelne seiner Phänomene als pars pro toto für den gesamten Orient stehen kann: Weil Phänomene wie
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das Sanskrit, Peking, die Pyramiden, die Janitscharenmusik, der Turban oder die Moschee zum Konzept Orient gehören, kann jedes einzelne von ihnen das gesamte Konzept repräsentieren, das sich somit nicht als Ausdruck einer vorrangigen Gemeinsamkeit der mit ihm bezeichneten Phänomene erweist, sondern als perfomativer Produzent ihres, rückblickend als solcher erscheinenden, gemeinsamen Nenners. Seine besondere Produktivität gewann der Begriff Orient des frühen 19. Jahrhunderts indes durch drei weitere Charakteristika. Zunächst war er Bestandteil einer ganzen Reihe verschiedener Diskurse, stand also in der Politik, der Geographie, der Theologie, der Kunst in jeweils sehr unterschiedlichen Gebrauchszusammenhängen. Desweiteren bezeichnete er einen Kulturraum, der aus hiesiger Perspektive den Charakter einer zwar differenten, der eigenen aber völlig analogen Zivilisation hatte; einer Zivilisation mit Städten, Literaturen, Herrscherhäusern, Architekturen, staatlichen Strukturen, Wissenschaften, Militär. In westeuropäischer Wahrnehmung hatte der orientalische Kulturraum mit den ,Naturvölkern' Amerikas, der Südsee oder des subsaharischen Afrika nichts gemein. Die dritte Besonderheit des Orients lag in seiner Binnendifferenzierung, in seiner Einteilbarkeit in verschiedene Völker, die zwar alle ,orientalisch', voneinander aber dennoch deutlich unterscheidbar waren. Jedes dieser Völker die Chinesen ebenso wie die Alten Ägypter, Türken, Hebräer, Inder, Araber oder Perser — besaß eine eigene Gebrauchsgeschichte in hiesigen Diskursen. Wie einflußreich die Gebrauchsgeschichte der einzelnen orientalischen Völker auf die Gesamtgestalt des orientalistischen Tableaus war, hatte sich bei dem Rekonstruktionsversuch der orientalistischen Vorgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts gezeigt. Hier besaßen mit den Chinesen, den Alten Ägyptern, den Türken und den Persern vier Völker eine große Prominenz, deren affirmative Rezeption und Verarbeitung durch Absolutismus, Aufklärung und Rokoko-Ästhetik zumindest drei von ihnen so vollständig in absolutistische, aufgeklärte oder zartfarben lasierte Völker verwandelte, daß sie auf dem orientalistischen Tableau des frühen 19. Jahrhunderts nur mehr als ästhetische oder weltanschauliche Gegenfolien Verwendung fanden und ihre Produktivität fast gänzlich einbüßten. Die vieldiagnostizierte ,Sinophobie' des beginnenden 19. Jahrhunderts, der Attraktivitätsverlust der Türken als künstlerisches Sujet oder politisches Vorbild und die Metamorphose des Alten Ägyptens von einem Reich monumentaler Dauer in eine Allegorie von Starrheit und Tod hatten sich jedoch nur zu einem Teil als Konsequenz aus ihrer inner-orientalistischen Gebrauchsgeschichte erwiesen, die stets die diskursive Möglichkeit offenhielt, orientalische Völker gegeneinander in politische, philosophische oder ästhetische Stellvertreterkriege zu schicken. Im ausgehenden 18. Jahrhundert verband sich dieses Charakateristikum des orientalistischen Sprach-
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spiels mit einem mehrfachen Paradigmawechsel, der über die Sphäre des Orientalismus weit hinaus reichte, sich hier aber besonders nachhaltig auswirkte: Im Zuge neuer Übersetzungs-Konzepte, die sich auf die Eigensinnigkeit der Ausgangssprachen konzentrierten und sie zur Sprache zu bringen versuchten, begann auch die orientalische Literatur, die zuvor als Pool von Stoffen, Bildern und Figuren rezipiert worden war, als sprachlicher und literarischer Modus in Erscheinung zu treten. Gleichzeitig — und durchaus in kausaler Verbindung damit — vollzog sich eine grundlegende Metamorphose des Orients, der sich von einem bis dahin zeitgenössischen Ort in einen historischen verwandelte und damit in einen Raum, zu dem man nur mehr unter Aufbietung hermeneutischer Anstrengungen gelangen konnte. Das methodische Handwerkszeug für einen solchen verstehenden Zugang zum Orient hielt die protestantische Theologie bereit, die als einzige Wissenschaft in Deutschland ein traditionelles Erkenntnisinteresse am Orient besaß. Befördert durch die Ausdifferenzierung von historischer und systematischer Forschung innerhalb der protestantischen Theologie, entstand hier ein Feld historisch-kritischer Orient-Wissenschaft, das sich gegen Mitte des 19. Jahrhunderts als eigenständige, aber nach wie vor historisch-kritisch arbeitende, Disziplin institutionalisierte. Durch diesen doppelten Paradigmenwechsel des Orientalismus, seinen linguistic und historical turn, begann der Orient, der bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert seinen deutschen Beobachtern als zwar differente, aber durchweg vertraute Größe erschienen war, fremd zu werden. Als Teil der Vergangenheit und als genuin sprachliches Phänomen hatte er sich zu einer Entität gewandelt, der man sich nun in mehr oder minder aufwendigen Verstehensakten nähern mußte. Und mit der beginnenden Orient-Wissenschaft bildeten sich auch jene Spezialisten heraus, die durch die Dialektik der hermeneutischen Bemühungen, die Fremdheit dieses sprachlich verfaßten und historischen Orients zugleich produzierten und in Vertrautheit überführten. Parallel zu dieser historisch-kritischen Orientwissenschaft entstand aus der Altertumsforschung heraus ein Zweig der Sprachforschung, der zwar auch historisch ausgerichtet war, dabei aber nicht hermeneutisch, sondern systematisch-vergleichend verfuhr. Diese historisch-vergleichende Sprachwissenschaft war von der sich im ausgehenden 18. Jahrhundert ebenfalls durchsetzenden Vorstellung getragen, daß sich Sprachverwandtschaften nicht (allein) auf der Ebene der sprachlichen Erscheinungen und Wortgestalten ausmachen ließen, sondern in erster Linie durch Vergleich der inneren Sprachstrukturen, der grammatikalischen und morphologischen Bildungs- und Verknüpfungsprinzipien. Der Orientalismus des frühen 19. Jahrhunderts erfuhr durch diese neue Sprachvergleichsforschung insofern eine Umgestaltung, als sich bis dahin angenommene Ähnlichkeits-
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und Differenzbeziehungen sowohl der orientalischen Sprachen untereinander als auch zwischen einzelnen orientalischen Sprachen und einzelnen europäischen Sprachen auflösten und sich vor den Augen der Forscher neue Formationen bildeten. Diese Formationen, die Sprachfamilien, wurden — unter Rücknahme der Vorstellung eines Ursprungs aller Sprachen gedacht als zwar große, aber distinkte Einheiten, die untereinander nicht im Verhältnis strukturaler Ähnlichkeit oder Verwandtschaft standen. In dieser Ordnung der Dinge fanden sich nun das Indische und das Persische mit dem Germanischen, Griechischen und Lateinischen in einer - eben der indo-germanischen — Sprachfamilie zusammen, während das Hebräische zusammen mit dem Arabischen einer anderen Familie angehörte, das Chinesische mit dem Altägyptischen einer dritten. Durch diese neue Ordnung sprachlicher Ähnlichkeiten und Differenzen erschien nun der indischpersische Teil des Orients, der bis dahin in seiner Gesamtheit als Anderes wahrgenommen wurde, als dem Eigenen zugehörig, während der hebräische Orient, der bis dahin über die christliche Tradition dem Eigenen zugerechnet wurde, als Teil des Anderen. Das im 1. Kapitel dieser Arbeit zu Zwecken systematischer Klärung ausgefaltete Koordinatensystem, bestehend aus der Achse des VERSTEHENS mit den Endpunkten des ,Vertrauten' und des ,Fremden' und der Achse der IDENTITÄT mit den Endpunkten des ,Eigenen' und des ^Anderen', hat im Kontext der diskursiven Umschichtungen innerhalb des Orientalismus um 1800 auch eine historische Aussagekraft gewonnen. Denn die Untersuchungen der Kapitel 2 bis 4 legen die Einsicht nahe, daß die Dichotomic vom ,Vertrauten' und ,Fremden' erst im ausgehenden 18. Jahrhundert in den deutschen Orientalismus Eingang fand, während sich die orientalistischen Figurationen in der Wissenschaft, Ästhetik und Politik der Frühen Neuzeit allein entlang der Achse vom ,Eigenen' und ^Anderen' gebildet hatten und daß ferner die Entstehung eines Verstehens-Paradigmas innerhalb der diskursiven Ordnung des Orients in kausaler Abhängigkeit von der Historisierung und der Versprachlichung dieses Orients auf der Wende zum 19. Jahrhundert stand. Auch ließ sich mit Hilfe dieses Koordinatensystems besagte Verschiebung auf dem Feld der Identität ausmachen, wo sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts Indien und Persien in den Bereich des ^Eigenen' fielen, dem die Hebräer, Araber, Chinesen und Alten Ägypter als Anderes' gegenüberstanden. Und obwohl die historischvergleichende Sprachwissenschaft im Unterschied zur Frühorientalistik historisch-kritischer Provenienz nicht hermeneutisch verfuhr und ihren Gegenstand entsprechend auch nicht ver-fremdete, generierten beide wissenschaftlichen Bewegungen in ihrem Zusammenspiel einen für den Orientalismus jener Zeit ungemein wirkmächtigen Topos: den des Orients als Ursprungsregion, sei es der Religionen, sei es der indogermanischen
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Sprachfamilie, sei es der Kultur. Während die tatsächlichen und phantastischen Ausflüge von Dichtern und Wissenschaftlern des 17. und 18. Jahrhundert nach China, Persien, ins Alte Ägypten oder zu den Türken die Reisenden in ferne, aber zeitgenössische Räume führten, waren die Morgenlandfahrten des frühen 19. Jahrhunderts stets (auch) Reisen in vergangene Zeiten. Und im Zuge dessen entwickelte sich der Orient auch zu einem diskursiven Raum, der prädestiniert war für die Verhandlung der eigenen Vergangenheit. Auf dem orientalistischen Tableau profitierten die Perser von dieser diskursiven Gemengelage im selben Maße, in dem die Türken an wissenschaftlicher und ästhetischer Attraktivität verloren: Die Perser, ursprünglich ebenso von der euphorischen Rezeption durch Absolutismus, Aufklärung und Rokoko absorbiert wie die Chinesen, Türken und Alten Ägypter, behielten ihre Attraktivität für den orientalistischen Diskurs dadurch, daß sie zum einen der indogermanischen Sprachfamilie also dem Eigenen — zugerechnet wurden, zum anderen aber eine mythologische Dichtung besaßen, die sie auch für Ursprungssuche auf dieser Ebene prädestinierten. Ganz im Gegensatz dazu erschienen die Türken nun als das orientalische Volk der reinen Gegenwärtigkeit: Die durchgängige Präsenz des Osmanischen Reichs auf der Bühne internationaler Politik — zumal im Kontext der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts virulenten ,Orientalischen Frage' — verhinderte die Historisierung dieses Volkes, gestützt von der - gemessen an den anderen orientalischen Sprachen - beispiellosen Jugend der osmanischen Schriftsprache und einer Literatur, die als Region für eine frühorientalistische oder literarische Suche nach den Ursprüngen der eigenen Kultur oder gar der Menschheit uninteressant war. Wie die Geschichte des Philhellenismus indes gezeigt hat, konnte das Osmanische Reich dennoch zu einem Schauplatz werden, auf dem Ursprungsfragen zur ästhetischen Verhandlung kamen. Beim Abschreiten der verschiedenen Entwicklungslinien und Schauplätze des orientalistischen Diskurses auf der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert war aber immer wieder auch die ästhetische Eigengesetzlichkeit der künstlerischen Verarbeitung des Orients deutlich geworden. Verschiedentlich hatten sich Minimalnarrationen und motivische Figurationen mit ihrer eigenen und eigensinnigen Geschichte ausmachen lassen. Und in der Frage nach den Grenzen und Möglichkeiten ästhetischer Umsetzbarkeit von Alterität oder Fremdheit des Orients hatte sich eine übergeordnete Tendenz abgezeichnet, welche den ästhetischen Orientalismus eher als Regulativ denn als Niederschlag des wissenschaftlichen oder publizistischen Orientalismus hatte erscheinen lassen. Denn an verschiedenen Stellen wurde der Hang von stark durch das Alteritätsparameter geprägten OrientDarstellungen zur bildseriellen Kunstform der Oper bzw. zu einem bildseriellen Kompositionsprinzip erzählender oder dramatischer Texte er-
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kennbar sowie die Affinität eines hermeneutischen Orientalismus zur lyrischen Form. Die Verbindung von ästhetischem und wissenschaftlichem Orientalismus war im frühen 19. Jahrhundert also keineswegs nur personell und motivisch eine sehr enge, sondern auch im Bezug auf seine gedankliche und darstellerische Form, und die Einflußnahme der OrientÄsthetik auf die Orient-Wissenschaft dabei mindestens ebenso groß wie vice versa. Daß die Regelhaftigkeit des Orientalismus nicht allein in der Werkstatt wissenschaftlicher Diskurse hergestellt wird und die Imagination nicht exklusiver Bestandteil des ästhetischen Raumes ist, erscheint nach den Beobachtungen der letzten Kapitel als nahezu selbstverständlicher Befund. Und doch gibt es eine Besonderheit des wissenschaftlichen Orientalismus, die ihn vom ästhetischen eminent unterscheidet und die zugleich ex negativo eine für die Frage nach den Regeln der Imagination ganz entscheidende Funktionsweise aller nicht-wissenschaftlichen Orientalismen sichtbar macht. Diesem Spezifikum sei zum Abschluß dieses Teils der Arbeit die analytische Aufmerksamkeit noch einen Moment gewidmet; auch weil hier der Grund dafür liegt, daß in dieser Arbeit der in der OrientalismusForschung sonst autochthone Begriff der „Konstruktion" außerhalb zitierter Rede nicht verwendet wird. Vor einigen Jahren ist im Kleist-Jahrbuch ein kurzer Beitrag erscheinen, in dem sich Sabine Doering dem „Bild vom Orient" des Dichters zugewandt und dabei eine Entdeckung gemacht hat, die im Kontext des Kleistschen Werks zwar nicht überraschen kann, für ein Gesamtverständnis des Orientalismus aber richtungsweisend ist.1 Die Autorin hat keine Mühen gescheut, die in Kleists Dramen und seiner Prosa äußerst raren und nur in einzelnen Versen auftretenden Orientalismen zusammenzutragen und auf ihre Signifikanz hin zu befragen. Fündig wird sie zunächst in Kleists „Ritterschauspiel" Das Käthchen von HeilbronrP·, aus dem der Autor bereits 1808, und damit im Erscheinungsjahr von Friedrich Schlegels Über die Sprache und Weisheit der Indier, Auszüge veröffentlicht hatte.3 Es ist die Titelheldin, die hier im Rückgriff auf orientalistische Topoi beschrieben wird. Schon in der ersten Szene des ersten Aktes läßt ihr Vater Theobald vor dem versammelten Gericht das Lob des Käthchen erklingen und formuliert:
1 Sabine Doering: Persien im Märkischen Sand. Kleists Bild vom Orient. In: Kleist-Jahrbuch 1996,5. 171-186. 2 Heinrich von Kleist: Das Kälhchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe. Ein großes historisches Ritterschauspiel (Kleist SWB I, S. 429-531). 3 Doering: Persien im Märkischen Sand, S. 171.
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Orientalismus: Genese und Gestalten Fünf Söhne wackerer Bürger, bis in den Tod von ihrem Werte gerührt, hatten nun schon um sie angehalten; die Ritter, die durch die Stadt zogen, weinten, daß sie kein Fräulein war; ach, und wäre sie eines gewesen, das Morgenland wäre aufgebrochen, und hätte Perlen und Edelgesteine, von Mohren getragen, zu ihren Füßen gelegt.4
Und in seinem langen Monolog zu Beginn des zweiten Akts faßt Graf Wetter vom Strahl seine Gefühle für die junge Frau in ein Sprachbild, in dem sich Erotik, Seelenschau und Orientalismus verschränken: Warum kann ich dich nicht mein nennen? Warum kann ich dich nicht aufheben und in das duftende Himmelbett tragen, das mir die Mutter, daheim im Prunkgemach, aufgerichtet hat? Käthchen, Käthchen, Käthchen! Du, deren junge Seele, als sie heut nackt vor mir stand, von wollüstiger Schönheit gänzlich triefte, wie die mit Ölen gesalbte Braut eines Perserkönigs, wenn sie, auf alle Teppiche niederregnend, in sein Gemach geführt wird. Käthchen, Mädchen, Käthchen! Warum kann ich es nicht? Du Schönere, als ich singen kann, ich will eine eigene Kunst erfinden, und dich weinen.5
Ganz Ähnliches findet sich in Prin% Friedrich von Homburg, als der Titelheld zur Erklärung für sein sonderbares Schlafwandeln dem Grafen von Hohenzollern gegenüber anführt: Vergib! Ich weiß nun schon. Es war, du weißt, vor Hitze, Im Bette gestern fast nicht auszuhalten. Ich schlich erschöpft in diesen Garten mich, Und weil die Nacht so lieblich mich umfing, Mit blondem Haar, von Wohlgeruch ganz triefend Ach! wie den Bräutigam eine Perserbraut, So legt ich hier in ihren Schoß mich nieder.6
Der Orient — so faßt auch Doering diese Textstellen zusammen — findet hier also über den Topos orientalischer Schönheit und Sinnlichkeit Eingang in Kleists Dramen. Er wird flankiert von zwei weiteren, nicht minder verbreiteten, orientalistischen Topoi, der orientalischen Despotie und der orientalischen Weisheit. So führt der „Dei von Algier" zusammen mit dem Assyrerkönig Sardanapal „die gesamte/ Altrömische Tyrannenreihe" an, die der Prinz von Homburg heraufbeschwört, um die Willkür des preußischen Kurfürsten hyperbolisch zu illustrieren.7 Auch der Kurfürst selbst vergleicht sich mit dem „Dei von Tunis", freilich kontrastiv, und spricht: 4 Kleist SWB I, S. 433. 5 Kleist SWB I, S. 454. Angesichts der üppigen Erotik dieser Kurzphantasic ist es verständlich, daß Doering den Umstand übersieht, daß der Graf hier nicht das Käthchen mit einer Pcrserbraut vergleicht, sondern ihre Seele. 6 Heinrich von Kleist: Prin% Friedrich von Homburg. Ein Schauspiel (Kleist SWB I, S. 629709, hier: S. 636 f.). 7 Kleist SWB 1,5.671.
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Seltsam! - Wenn ich der Die von Tunis wäre, Schlug ich bei so zweideutgem Vorfall, Lärm. Die seidne Schnur, legt ich auf meinen Tisch; Und vor das Tor, verrammt mit Palisaden, Führt ich Kanonen und Haubitzen auf. Doch weils Hans Kottwitz aus der Priegnitz ist, Der sich mir naht, willkürlich, eigenmächtig, So will ich mich auf märksche Weise fassen: Von den drei Locken, die man silberglänzig, Auf seinem Schädel sieht, faß ich eine, Und führ ihn still, mit seinen zwölf Schwadronen, Nach Arnstein, in sein Hauptquartier, zurück. Wozu die Stadt aus ihrem Schlafe wecken?8
Und als Varus in der Hermannsschlacht schließlich einsehen muß, daß auch die Weltmacht Roms endlich ist, führt er als Quelle seiner neu gewonnenen Weisheit einen „Derwisch" an, womit niemand anderer als Hermann selbst gemeint ist.9 Als bemerkenswert hält Doering dabei den Umstand fest, daß sich sämtliche dieser Orientalismen in Dramen finden, „die auf historischem deutschen Boden spielen", während man Vergleichbares in den Stücken mit orientalischem Schauplatz, in Penthesilea und Robert Guiskard, vergeblich sucht.10 So bringt die Autorin die Funktion des Orientalismus bei Kleist schließlich auf eine Formel, die angesichts der aufgeführten Textbeispiele unmittelbar einsichtig ist: Die Verweise auf das Morgenland entspringen keinem spezifischen Interesse am Fremden, sondern dienen durch die Verfahren des Vergleichs, bzw. der Kontrastierung der Erklärung der Vorgänge auf deutschem Boden. Pointiert formuliert: Die Erwähnung des Orients soll die Orientierung im Eigenen erleichtern.11
Kleist verzichtet also nicht allein darauf, ein „selbständiges Bild vom Orient"12 zu entwerfen. Vielmehr ist das Morgenland — so läßt sich Doerings Befund textanalytisch weiterführen - in den zitierten Passagen nicht einmal Gegenstand der Beschreibung. Nicht über den Orient wird hier etwas ausgesagt, sondern mit seiner Hilfe und im Rückgriff auf sein explikatives Potential über die Seele des Käthchen, die Willkür des Kurfürsten, die Weisheit Hermanns. Satzlinguistisch formuliert, ist der Orient hier nicht Thema, sondern Rhema der Äußerung, also nicht das, worüber etwas ausgesagt wird, sondern das Prädikat, welches der thematischen Größe zuge-
8 Kleist SWB I, S. 692. 9 Kleist SWB I, S. 622. Auch der berühmte Monolog des Prinzen von Homburg wird mit einer Einsicht eingeleitet, die der Sprecher einem Derwisch zuschreibt (Kleist SWB I, S. 686). 10 Doering: Persien im Märkischen Sand, S. 177. 11 Ebd., S. 181. 12 Ebd.
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schrieben wird.13 Rhema oder sogar — wie im Falle der von Doering versammelten Verse - Vergleichsfolie aber kann der Orient nur sein, weil er zum Bereich des bereits Bekannten gehört. Denn nur Bekanntes, nur vollständig Vertrautes kann als prädikativer Bildspender fungieren und „die Orientierung" in fremden oder befremdlichen Zusammenhängen „erleichtern". Wie die Dramenverse zeigen, besitzt der Orient ganz offensichtlich eben diese Qualität. Und läßt man von diesem systematischen Punkt aus die auf den letzten 150 Seiten dieses Buchs diskutierten Textbeispiele Revue passieren, dann wird deutlich, daß es sich dabei keineswegs um eine Besonderheit des Kleistsschen Morgenlandes handelt. Keiner der bislang verhandelten literarischen Texte nämlich nimmt auf den Orient in thematischer Weise Bezug. Hoffmanns Erzählungen, Fouques Ritterromane oder Wielands epische Prosa haben ebensowenig die Form von Aussagen über den Orient wie Schillers Turandot, Hauffs ]ud Süß, Müllers Griechenlieder oder Freiligraths Gedichte, sondern sie alle rufen ein bereits bekanntes Morgenland auf, um mit ihm Aussagen über etwas anderes zu machen. Das gilt für Werke mit orientalischem Schauplatz ebenso wie für solche, die in heimatlichen Gefilden spielen. Denn wenn es auch für die Plastizität des Orientalismus einen großen Unterschied macht, ob der Orient Handlungsort ist oder nur zu Vergleichszwecken aufgerufen wird, evozieren doch beide Arten der Bezugnahme Orient-Bilder, und in keinem der beiden Fälle hat diese Bezugnahme den Charakter einer Thematisierung des Morgenlandes. Es ist aber eben dieser Gebrauch des Orients als illustrierendes, verdeutlichendes oder darstellendes Moment und der damit unmittelbar verbundene Rekurs auf ein bereits etabliertes Wissen vom Morgenland, der den Orient als immer schon bekannte und somit selbst-verständliche Größe aufruft und zugleich jedesmal neu konstituiert und verändert. Denn diese nicht-thematischen Akte der Bezugnahme produzieren stets einen Überschuß an Sinn. Das kann man selbst an Kleists Minimal-Orientalismen gut beobachten: Die Schönheit und Sinnlichkeit der „Perserbraut" — wiewohl längst Bestandteil des impliziten Wissens über den Orient — gewinnt, sobald sie tatsächlich „auf alle Teppiche niederregnend" vor den Augen der Leser steht und durch metaphorische Kopplung mit der Seele Käthchens in Beziehung tritt, eine semantische Eigendynamik, die sie als eine andere 13 Aus den mehrschichtigen Theorien zur Thema-Rhema-Struktur, die mit Hilfe dieses terminologischen Instrumentariums auch Fragen nach der Wortstellung im Satz und nach Textkonstitutionsregeln behandeln, greife ich hier allein den Aspekt der prädikativen Bezugnahme heraus. Zur Thema-Rhema-Struktur vgl. ausführlich: Andreas Lötscher: Text und Thema. Studien %ur thematischen Konstituen^ von Texten. Tübingen 1983; knapp, aber verständlich zusammengefaßt in: Angelika Linke/ Markus Nussbaumer/ Paul R. Portmann: Studienbuch Linguistik. Tübingen 1991, S. 237 f.
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in den Fundus des Wissens zurückkehren läßt als sie vor ihrer Aktualisierung war. Der Ort, an dem sich der Orient als sinnhafte Einheit eigentlich konstituiert und verändert, liegt somit hinter dem Rücken der Sprecher und Schreiber. Der Orient ist immer schon als Bekanntes vorhanden, wird durch seinen Gebrauch aus dem Raum überkommenen Wissens herausgelöst, tritt auf der Ebene des Textes in neue Zusammenhänge ein, um nach dem Ereignis seiner Lektüre — stets ein wenig verwandelt — wieder den Heimweg in den Pool des Bekannten anzutreten. In dieser dezidiert nicht-thematischen Weise seines Gebrauchs, unter tätiger Mitwirkung, aber gleichwohl im Rücken seiner Autoren, entsteht der Orient als sinnhafte Größe und wird immer neu geschaffen. Und der einzige Diskurs im Gesamtensemble institutionalisierter Rede, der mit dieser Verfahrensweise der Sinnproduktion gleichsam programmatisch bricht und auf den Orient Bezug nimmt, indem er ihn im eigentlichen Sinne zum Thema macht, ist die Wissenschaft - genauer: die Orient-Wissenschaft. Sie erhebt den Orient tatsächlich in den Rang eines Gegenstandes und trifft Aussagen über ihn. Und nur, indem sie dies in dezidierter Abgrenzung gegen die gängige Praxis der Bezugnahme tut, kann sie sich als Wissenschaft vom Orient überhaupt etablieren und behaupten. Wohlgemerkt handelt es sich bei dem hier skizzierten Unterschied um eine Differenz in der Art und Weise der Bezugnahme auf den Orient, die nicht notwendig mit einer Differenz des semantischen Gehalts und der Qualität der dabei entstehenden sinnhaften Größe einher gehen muß. Die bisher diskutieren Beispielen haben schließlich immer wieder große orient-topologische Schnittmengen zwischen Literatur und Wissenschaft aufscheinen lassen. Auch in Bezug auf die Möglichkeiten zur Subversion etablierter orientalistischer Vorstellungs- und Bildwelten unterscheiden sich ästhetischer und wissenschaftlicher Gebrauch des Orients nicht; sie sind hier wie dort gegeben. Für die Frage nach den Verfahren einer Konstitution des Orients allerdings ist die beobachtete Divergenz von großer Bedeutung: Die Orient-Wissenschaft, die in ihrer Funktion als Wissenschaft per definitionem als diskursives Regulativ kollektiver Vorstellungen fungiert, verändert und gestaltet die Sinneinheit Orient, indem sie sie thematisiert und damit aus dem Bereich des Selbst-Verständlichen herauslöst. Mit zunehmender Institutionalisierung der Orientalistik im Verlauf des 19. Jahrhunderts und ihrer festen Einrichtung als spezialisierte Hüterin eines Wissens über den Orient wird somit auch die Fremdheit des Morgenlandes institutionalisiert. Die übrigen Felder orientalistischer Rede oder Darstellung, auf deren Orient-Konzeptionen die Wissenschaft kontinuierlich kritisch oder affirmativ rekurriert, schaffen und verändern den Orient dagegen, ohne ihn zum Gegenstand von Aussagen zu machen. Und gerade weil diese Art der Konstitution des Orients hinter dem Rücken der Sprecher und
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Schreiber stattfindet, entsteht hier eine geregelte und vor allem eine selbstverständliche Sinneinheit, die jene „Orientierung" in der Welt ermöglicht, von der Doering in ihren Überlegungen zu Kleist gesprochen hat. Um diese Formen der Sinnproduktion zu begreifen und terminologisch zu fassen, ist nun aber gerade der Begriff „Konstruktion" denkbar ungeeignet. Zweifellos hat der Terminus als „Kampfvokabel in den Wissenschaften"14 seit den späten 1970er Jahren wesentlich dazu beigetragen, die sowohl dem Alltags Verständnis als auch dem Selbstverständnis vieler Wissenschaften so schwer vermittelbare Erkenntnis zu verbreiten, daß wir uns in einer Wirklichkeit bewegen, deren sinnhafte Phänomene — seien es die Geschlechter, der Wahnsinn, die Kulturen oder die Quarks — nicht naturgegeben und deren Zustände nicht unvermeidlich sind, sondern kontingent und gemacht.15 Doch einmal abgesehen davon, daß sich der Begriff in seinem wissenschaftlichen Gebrauch durch ein gerüttelt Maß an Unscharfe auszeichnet, ruft er zudem eine Vorstellung von der Genese sinnhafter Einheiten auf, die den gerade skizzierten Verfahren diametral entgegengesetzt ist. Denn „Konstruktion" ist eine Metapher aus dem Bereich der Ingenieurtechnik, der Geometrie und des Bauens. Und damit impliziert der Begriff unmittelbar ein intentionales und vollständig beherrschbares Tun, das — und hier liegt der eigendiche Widerstand — von den Handelnden stets in ihrem eigenen Gesichtsfeld ausgeführt wird. Eben diese Implikationen sind es auch, welche die Konstruktions-Metaphorik — lange vor dem Aufkommen der Rede von einer „sozialen Konstruktion" - zur zentralen Bildlichkeit des logischen Positivismus haben werden lassen, „von dem gemeinhin angenommen wird, er stehe im Gegensatz zum Konstruktivismus".10 Wie weit die Verwandtschaft zwischen diesen beiden vermeindich antonymischen wissenschaftlichen Ansätzen letzdich auch reichen mag; in jedem Fall geht die von ihnen verwendete Metaphorik der Konstruktion an den gerade beschriebenen Verfahren der Sinnkonstitution des Orientalismus vorbei. Denn indem sie suggeriert, daß sich die „konstruierte" Wirklichkeit aus Aussagen über sie zusammensetzt und durch thematische Bezugnahme gestaltet wird, ist sie analytisch blind für den Normalfall der Sinnkonstitution, der gerade nicht in diesem Sinne 14 So der Untertitel der erhellenden meta-wissenschaftlichen Studie von Ian Hacking: Was heißt trfo^a/e Konstruktion"? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften. Frankfurt a. M. 1999. 15 Eine sehr eingängige Zusammenfassung der wissenschaftlichen Funktions- und Wirkungsweise der Rede von der „Konstruktion" in den USA gibt Hacking (Was heißt „so^iak Konstruktion"?, S. 7-60). Und trotz gebotener interkultureller Diskretion und Vorsicht bei der Spiegelung der diskursiven Gemengelage in den USA auf die Bundesrepublik sind viele der von Hacking diagnostizierten Symptomatiken auch für den hiesigen Verlauf der Debatte signifikant. 16 Hacking: Was heißt „soziale Konstruktion"?, S. 12.
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aussagenförmig ist und sich statt im Gesichtsfeld der Sprecher hinter ihrem Rücken ereignet. Es fehlen aber Indizien für eine begründete Annahme, daß die thematische Bezugnahme auf den Orient, wie sie sich innerhalb der Orientwissenschaften beobachten läßt, einen größeren oder machtvolleren Einfluß auf die Konstitution dieser sinnhaften Einheit und damit auf die Eröffnung von Handlungsoptionen ausübt als die übrigen Verfahren. Denn deren Gestaltungsmöglichkeiten des Orients sind getragen von der wirklichkeitskonstitutiven Macht des Selbstverständlichen, die kaum zu hoch einzuschätzen ist. In ihrem Bemühen, das sinn- und wirklichkeitsstiftende Potential des Orientalismus auszuloten, verzichtet diese Studie daher auch weiterhin programmatisch auf die Rede vom Orient als „Konstruktion" und räumt aus eben diesem Grund auch dem wissenschaftlichen Orientalismus keinen exklusiven Stellenwert unter den behandelten Gegenständen ein, sondern diskutiert ihn als eine Spielart der Gestaltung des Orients innerhalb fortlaufender Sinnprozesse.
Teü III Orientalismus von Fall zu Fall: Einzelstudien
Die folgenden drei Einzelstudien zu Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Hauff und Friedrich Wilhelm IV. von Preußen hatten in der Einleitung dieser Arbeit das Attribut des Exemplarischen erhalten. Nun stehen diese drei Autoren aber in einer Reihe, deren Formationsprinzip selbst vor dem Hintergrund des skizzierten orientalistischen Möglichkeitsraums im frühen 19. Jahrhunderts nicht unmittelbar einleuchtet. Wäre das Moment des literarisch-poetologisch Repräsentativen für die Auswahl leitend gewesen, müßte Goethe schließlich flankiert sein durch Autoren wie August von Platen, Heinrich Heine und Friedrich Rückert. Am Kriterium des politischdenkgeschichtlich Signifikanten gemessen, hätten Friedrich Wilhelm IV. wohl Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Leopold von Ranke begleiten müssen. Und wirkungsgeschichtlich hätte Wilhelm Hauff mit Friedrich de la Motte Fouque und Christoph Martin Wieland eine sinnhafte Einheit gebildet. Wenn die Folge Goethe — Hauff - Friedrich Wilhelm IV. dennoch als eine exemplarische präsentiert wird, dann hat das drei Gründe, deren erster mit der scheinbaren Erratik der Auswahl unmittelbar zusammenhängt. Denn wie in der Einleitung ebenfalls angekündigt, sollen die folgenden Kapitel an ausgewählten Beispielen konkrete Spielräume sichtbar machen, die das Feld des Orientalismus für individuelle Projekte bereithielt. Zu diesem Zweck schien es mir methodisch sinnvoll, Fälle herauszugreifen, die untereinander durch möglichst wenig direkte personelle oder konzeptionelle Beziehungen verbunden sind. Zwar kann das voneinander weit Entfernte per se letztlich ebensowenig Anspruch auf repräsentative Aussagekraft für das Ganze erheben wie das nachbarschaftlich Verbundene. Doch steigt die Wahrscheinlichkeit, die kreative Wechselwirkung von orientalistischem Sinnraum und individuellen Strategien des (ästhetischen) Handelns in diesem Raum beobachten zu können, mit der Abnahme der Bezüge zwischen den analysierten Einzelprojekten. Der zweite Grund für die Auswahl ist ein systematischer und geht auf die Differenzierung der Dichotomien vom ,Eigenen/ Anderen' und ,Vertrauten/ Fremden' zurück, die sich in den vorangegangenen Kapiteln auch für die historische Genese und Funktionsweise des deutschen Orientalismus als relevant erwiesen hat. Im heuristischen Vorgriff habe ich daher zunächst zwei ästhetische Unternehmungen ausgesucht, die deutliche Tendenzen zu je einem dieser Parameter aufweisen: Goethe findet sich hier als Vertreter eines ästhetischen Konzepts wieder, das sich vornehmlich innerhalb der
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Orientalismus von Fall zu Fall
Sphäre des Verstehens bewegt, also im Spannungsfeld zwischen Vertrautem und Fremdem. Hauff dagegen tritt als Repräsentant einer Poetologie auf, die ihre Dynamik in erster Linie aus den Wechselwirkungen der Pole des Eigenen und Anderen gewinnt und erscheint somit als Vertreter einer literarischen Umsetzung der Prinzipien von kultureller Identität bzw. Alterität. Mit Friedrich Wilhelm IV. soll schließlich eine Spielart des Orientalismus in den Fokus der Untersuchung rücken, die Orientalisches und Deutsches konsequent und programmatisch übereinander blendet. Dies geschieht im Rahmen einer breit angelegten Selbstinszenierung des preußischen Kronprinzen, wodurch eine Dimension des Orientalismus sichtbar wird, die einer rein text- und poetologiebezogenen Herangehensweise gemeinhin entgeht. Dank ihrer ungebrochenen Partizipation an ästhetischen, wissenschaftlichen und politischen Orientalismen läßt die Unternehmung Friedrich Wilhelms schließlich das orientalistische Panorama des frühen 19. Jahrhunderts noch einmal in ganzer Breite Gestalt annehmen. Der dritte und letzte Grund für die Versammlung der disparaten Fälle von Goethe, Hauff und Friedrich Wilhelm IV. aber rührt von der Idee her, daß eine Suche nach den Regeln der orientalistischen Imagination, die notwendig jedem ihrer Gegenstände mit derselben Ernsthaftigkeit begegnen muß, durch eben diese programmatische Indifferenz gegenüber dem ästhetischen Wert und intellektuellen Niveau der Gegenstände eine spezifische Form analytischer Freiheit gewinnt. Diese Freiheit besteht nicht darin, einen grobgezinkten Kamm in Händen zu halten, über den sich sämtliche Texte ohne Ansehen ihrer Spezifika scheren lassen. Vielmehr ergibt sie sich gerade aus den Besonderheiten der unterschiedlichen Projekte, die durch jenen blinden Zuspruch von Dignität die Möglichkeit erhalten, miteinander in systematische Beziehung zu treten. Ein methodisch hergestelltes Nebeneinander von Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Wilhelm IV. nötigt der Analyse des Orientalismus ein Verfahren auf, das die Poetologie des einen durch die Selbstinszenierung des anderen hindurch betrachten muß. Dies schafft performativ einen externen Beobachterstandpunkt, von dem aus es möglich wird, den einen aus dem wenig inspirierenden Raum des vermeintlich Unvergleichlichen zu befreien, den anderen aus dem ebenso inspirationslosen Raum des vermeintlich Banalen. Ob diese Idee Früchte trägt, können erst die nachfolgenden Analysen zeigen, die insofern bis zuletzt Wagnis bleiben.
6. Der Orient bin ich: Goethes Poetologie des Ostens Wie die Kapitelüberschrift bereits ankündigt, verfolgt diese Annäherung an Goethes Orientalismus die Spur seiner Poetologie. Ausgehend von den Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan sowie poetologischer Lektüren einzelner Gedichte der Sammlung wird es darum gehen, auf systematischer Ebene die Denkbewegungen und Verfahren nachzuvollziehen, mit und in denen Goethe den Orient begreift, seine „west-östliche" Lyrik konzipiert und sich selbst als Verfasser dieser Dichtung und ihres orientkundlichen sowie poetologischen Kommentars entwirft. Dies geschieht vor dem Hintergrund des in den vorangegangenen Kapiteln umrissenen orientalistischen Möglichkeitsraums, von dem her und auf den hin das Goethesche Projekt perspektiviert werden soll. Allerdings steht hier - wie auch in den folgenden beiden Einzelstudien — die Eigensinnigkeit der ästhetischen Unternehmung im Vordergrund, um von ihr aus sowohl die konkrete Gestalt als auch das ästhetische und sinngeschichtliche Potential des Orientalismus umreißen zu können. Der Prozeß der Beobachtung dieser wechselseitigen Bedingtheit von Goethes D«w»-Projekt und dem Orientalismus des frühen 19. Jahrhunderts fordert notwendig den Preis der Reduktion auf beiden Seiten; dies allerdings zugunsten der Möglichkeit, neue Perspektiven auf das eine wie das andere zu entwickeln.
6.1 Morgenlandfluchten Am Anfang des West-östlichen Oivan Goethes steht das Wort von der Reise, der Flucht. Schon das erste Poem der Gedichtsammlung ist mit dem Titel Hegine versehen, der französischen Schreibvariante des arabischen Wortes *-X?^ (hidschra „Auswanderung, Emigration"). Es zieht in unmißverständlicher Anspielung auf die „Hegire"1 des islamischen Propheten von Mekka nach Medina im Jahre 622 n. Chr. eine Fluchtlinie, die den deutschen Dichter allerdings nicht — wie ehedem Mohammed — nach Norden, son1 Zum Begriff, seiner Verwendung bei Goethe und zum Eingangsgedicht des Oivan vgl. zusammenfassend: Michael Böhler: „Hegire". In: Goethe Handwörterbuch in vier Bänden. Bd. 1: Gedichte. Hrsg. v. Regine Otto und Bernd Witte. Stuttgart/ Weimar 1996, S. 365372.
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dem in den Osten führt. Wie groß die programmatische Bedeutung ist, die dem Topos der Emigration für die gesamte Konzeption des Divan zukommt,2 macht ein Blick auf die Ankündigung der Gedichtsammlung im Morgenblatt fär gebildete Stände vom 24. Februar 1816 deutlich. Sie beginnt mit den von Goethe selbst formulierten Sätzen: WEST-OESTLICHER DIVAN/ ODER VERSAMMLUNG/ DEUTSCHER GEDICHTE/ IN STETEM BEZUG/ AUF DEN ORIENT Das erste Gedicht, Hegire überschrieben, gibt uns von Sinn und Absicht des Ganzen sogleich genügsame Kenntniß. Es beginnt: Nord und West und Süd zersplittern Throne bersten, Reiche zittern, Flüchte du! im reinen Osten Patriarchenluft zu kosten. Unter Lieben, Trinken, Singen, Soll dich Chisers Quell verjüngen.3 [...]
6.1.1 Als Kriegs fluch ding an des Paradieses Pforte Nicht allein der Beginn, sondern „Sinn und Absicht" des eigenwilligen Projektes, eine deutsche Sammlung (arab. dtwäti) orientalisierender Lyrik zu verfassen, liegen dem Bekunden des Verfassers zufolge in einer Flucht in jenes Morgenland, das als einzige Weltregion den Erschütterungen der Zeitgeschichte trotzt. Es sind die (staats)politischen Umwälzungen eines von den Spätfolgen der französischen Revolution und den Auswirkungen napoleonischen Expansionsstrebens gezeichneten Europas, welche den emphatischen Imperativ der dichterischen Selbstansprache im dritten Vers der Hegire unmittelbar evozieren und die von der Forschung immer wieder als zeitgeschichtlich-biographische Motivation für Goedies orientalistisches Projekt diskutiert worden sind.4 Gleichzeitig deutet die durch den 2 In der D«w/-Forschung hat das Moment der Flucht inzwischen den Status eines hermeneutischen Universalschlüssels zum Text gewonnen; so bereits schon Hans-J. Weit/ in seinem Kommentar seiner D«w/-Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan. Mit Essays %um Divan von Hugo von Hofmannsthal, Oskar Loerke und Karl Krolow. Hrsg. u. mit Erl. vers. v. Hans-J. Weitz. Frankfurt a. M. 1974, S. 293. Vgl. zuletzt: Inge Wild: „Goethes West-östlicher Divan als poetischer Ort psychokultureller Grenzüberschreitungen". In: Ortrud Gutjahr (Hrsg.): Westöstlicher und nordsüdlicher Divan. Goethe in interkultureller Perspektive. Paderborn/ München/ Wien/ Zürich 2000, S. 73-88, hier: S. 74. 3 Abgedruckt in: Goethe FA I 3.1, S. 549ff. 4 Vgl. die Kommentare in FA I 3.1, S. 726f.; II 1.2, S. 313f.; ebenso Manfred Eickhölter: Die Lehre vom Dichter in Goethes Divan. Hamburg 1984, S. 34 ff; Walter F. Veit:
Goethes Poetologie des Ostens
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Titel hergestellte Analogie zum islamischen Propheten das jeder Flucht innewohnende defensive Moment zu einem konstruktiven Akt um: Die Emigration Mohammeds nach Medina markiert schließlich den Beginn einer neuen Epoche, das Gründungs datum einer Religion, die ihre Zeitrechnung mit dem Jahr 622 beginnen läßt. Als das Eingangsgedicht zum West-östlichen Divan entsteht, ist es zunächst noch titellos. Goethe schreibt es am Heiligen Abend 1814 und vermerkt das Datum auch auf dem Blatt.5 Womöglich war es die Parallele zum Neubeginn der christlichen Zeitrechnung, die ihm, als er einige Monate später den Bogen erneut zur Hand nahm, den Anstoß gab, die Verse mit Hegire zu überschreiben. Buchstäblich im gleichen Zug ersetzt er die ursprüngliche Aufforderung „Eile du" am Beginn des dritten Verses durch „Flüchte du"6 und ebnet vermittels dieser Zuspitzung der Assoziation ihren Weg zur Flucht des islamischen Propheten von Mekka nach Medina und dem damit verbundenen religiösen Gründungsakt. Mit der Entscheidung, eben dieses Gedicht an den Anfang des Divan zu stellen und dessen erste Strophe in der Ankündigung der Sammlung als deren pars pro toto zu präsentieren, räumt Goethe auch auf konzeptioneller Ebene der konnotativen Verbindung von Flucht und (Neu-)Beginn eine herausragende Stellung ein. Eines allzu kräftigen äußeren Impulses hatte es dazu allerdings nicht bedurft. Denn der Topos der Flucht steht nicht allein am Anfang der Gedichtsammlung selbst. Auch im Kontext ihrer Entstehung führt die Suche nach „Vorboten zum Divan"1 immer wieder zu Selbstbeschreibungen, die auf eine entsprechende Metaphorik zurückgreifen. So schreibt Goethe am 10. November 1813 an Carl Ludwig von Knebel über seine ChinaStudien: Ich hatte mir dieses wichtige Land gleichsam aufgehoben und abgesondert, um mich im Fall der Noth, wie dies auch jetzt geschehen, dahin zu flüchten.8
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„Selbstverwirklichung, Entsagung und der Orient". In: Gutjahr (Hrsg.): Westöstlicher und nordsüdlicher Divan, S. 89-107, hier: S. 98ff.; zuletzt und zusammenfassend Marlene Lohner: Goethes Caravanen. Verkörperungen der Phantasie im Spätwerk Goethes. Frankfurt a. M./ Berlin/ Bern/ New York/ Oxford/ Wien 2001, S. 21 ff. Vgl. Goethe FA I 3.2, S. 882. In dieser Ausgabe findet sich auch eine Abbildung der eigenhändigen Reinschrift (Goethe FA I 3.1, Abb. 6-7). Vgl. ebd. Das Ausrufungszeichen hinter „Flüchte du!" der Morgenblatt-Version fehlt sowohl in den Handschriften als auch in den nachfolgenden Drucken. Hier findet sich allein ein wenig emphatisches Komma. Offenbar handelt es sich bei der Interpunktion in der Selbstanzeige also um eine genrebedingte (d.h. werbewirksame) Verstärkung, zumal das „du" der ersten Strophe — aus dem lyrischen Kontext gelöst — die Verse in eine Direktansprache der Leser verwandeln. Anke Bosse: Meine Schatzkammer füllt sich täglich ... Nachlaßstiicke ?u Goethes Westöstlichem Divan. Ookumentanon - Kommentar. 2 Bde. Göttingen 1999, Bd. I, S. 119. Goethe WA IV 24, S. 28.
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Die allgemeine Einschätzung der Forschung im Rücken, bezieht Anke Bosse diesen „Fall der Noth" unmittelbar auf die Jahre der Befreiungskriege 1813-1815.9 Und tatsächlich sind Goethes Briefe jener Zeit durchzogen von Rekursen auf die „schrecklichen und unerträglichen Zeiten", denen er angesichts eines unmöglichen realen Auswegs zumindest durch seine Beschäftigung zu „entfliehen" trachtet.10 In einem Brief an Christian Gotdob von Voigt vom Januar 1815 benennt er mit seinen orientalischen Studien unmißverständlich einen solchen Notausgang und benutzt dazu bereits den arabischen Terminus: Genau besehen sind solche Studien, in die man sich hineinwirft, eine Art Hegire, man flüchtet aus der Zeit in ferne Jahrhunderte und Gegenden, wo man sich etwas Paradiesähnliches erwartet.11
Eine Lektüre seiner späteren biographischen Selbstzeugnisse unterstützt den Eindruck, die fernen Gefilde des Orients hätten dem Dichter in Zeiten eines drohenden Zusammenbruchs des eigenen Landes virtuelles Asyl geboten. In den zu Beginn der 1820er Jahre entstandenen Tag- und JahresHeften findet sich im Anschluß an die Nennung der Völkerschlacht von Leipzig im Jahre 1813 sogar exakt diese Selbstinterpretation: Hier muß ich noch einer Eigentümlichkeit meiner Handlungsweise gedenken. Wie sich in der politischen Welt irgend ein ungeheures Bedrohliches hervortat, warf ich mich eigensinnig auf das Entfernteste. Dahin ist denn zu rechnen, daß ich von meiner Rückkehr aus Carlsbad an mich mit ernstlichem Studium dem Chinesischen Reich widmete [...].12
Nun ist es in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Westöstlichen Divan nicht weniger notwendig als bei anderen Werken Goethes, zwischen direkten Zeugnissen aus der Entstehungszeit 1814-1819 und nachträglichen Selbstdeutungen klar zu unterscheiden; und zwar gerade weil sich die Grenzen zwischen beiden stetig verwischen. Schließlich sind die D«w»-Jahre durchzogen vom Gestus einer dichterischen Rückschau 9 10 11 12
Bosse: Schatzkammer l, S. 119. Goethe an den Grafen Uwarow v. 18. Mai 1818 (Goethe WA IV 29, S. 176). Goethe an C.G. v. Voigt, Mitte Januar 1815 (Goethe WA FV 25, S. 153 ff.). Tag- und Jahreshefte auf das Jahr 1813 (Goethe WA I 36, S. 85). Unter anderem diese Stelle zitiert auch Ludwig Borne im einundfünfzigsten seiner Briefe aus Paris von 1831 im Rahmen seiner saftigen Polemik gegen den Dichter nach Lektüre von dessen Tagund Jahresheßetr. „Und solche Konsuln hat sich das deutsche Volk gewählt! Goethe, der, angstvoller als eine Maus, beim leisesten Geräusch sich in die Erde hineinwühlt und Luft, Licht, Freiheit, ja des Lebens Breite, wonach sich selbst die totgeschaffenen Steine sehnen — alles, alles hingibt, um nur in seinem Loche ungestört am gestohlenen Speckfaden knuppern zu können [...]." Zur Illustration fügt Borne Auszüge Goethes Tagebuch an; unter ihnen auch das genannte Zitat, das er - wie auch die anderen - nicht weiter kommentiert, denn: „Viele Bemerkungen hierüber waren gar nicht nötig; Goethes klarer Text macht die Noten überflüssig." Vgl. Borne: Briefe aus Paris, S. 253, Textauszug: S. 266.
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auf Leben und Werk. Goethes schriftstellerische Projekte dieser Zeit bestehen zu einem erheblichen Teil aus biographic- und werkkonstituierenden Arbeiten: Er schreibt am vierten Band von Dichtung und Wahrheit,^ bereitet die Ausgabe seiner Werke vor und ist zudem mit der Ausarbeitung der Italienischen Rjszse beschäftigt.14 Duktus und Form des reflektierenden und ordnenden Selbstzeugnisses bilden hier eher die Normalfolie als daß sie Ausnahme wären.15 Daß sich im West-östlichen Divan durchgängig „Dichtung als Gegenstand der Dichtung"16 findet und darüber hinaus — und mindestens im selben Maße — auch der Dichter als Gegenstand von Dichtung, ist vor diesem Hintergrund von besonderer Bedeutung. Wie noch genauer zu zeigen sein wird, sieht sich Goethe durch die Wahl des orientalischen Gegenstandes nämlich nicht allein genötigt, der literarischen Öffentlichkeit von seinem „Orientalismus vorläufige Rechenschaft" abzulegen,17 sondern während des Arbeitsprozesses und im Rückblick darauf offenbar auch immer wieder seine eigene Autorposition zu reflektieren und zu inszenieren.18 Anlaß und Ergebnis der Inszenierung des eigenen dichterischen Tuns sind im Kontext des West-östlichen Divan also nur mit großer Mühe voneinander zu trennen - einer Mühe allerdings, die sich gerade angesichts der Frage nach Verlauf und Funktion seiner Emigration nach Osten als durchaus lohnend erweist. 13 Goethes Arbeit an seiner Autobiographie beginnt bereits im Jahre 1809, bis zum Mai 1814 erscheinen die ersten drei Teile von Dichtung und Wahrheit, während die Beschäftigung mit dem vierten Band eines der Projekte der Dfiwj-Jahre bildet. (Vgl. das Nachwort von Erich Trunz in Goethe HA 9, S. 600-639). 14 Im Erstdruck (1816/1817) trug die Italienische Reise noch den explizit autobiographischen Titel A.US meinem lieben. Vgl. das Nachwort von Trunz in Goethe HA 11, S. 574 ff. 15 Elke Kretzer faßt in ihrer Arbeit die Ansätze, Goethes Divan als Teil seiner grundsätzlichen Tendenz zur ,,(Auto)biographisierung" der Literatur im AJterswerk zu lesen, noch einmal zusammen und führt sie - durch eine Untersuchung der Aufnahme frühorientalistischer und bibelwissenschaftlicher Positionen im Divan hindurch — weiter. Sie diskutiert die Noten und Abhandlungen selbst als autobiographisches Werk und parallelisiert sie in ihrer Struktur und Genese mit Dichtung und Wahrheit. Vgl. Elke Kretzer: Offenbarung und Säkularilät. Gotteskrise und Krise des Subjekts in den Noten und Abhandlungen %u Goethes West-östlichem Divan. Frankfurt a. M./ Berlin/ Bern 2002, S. 140150 u. 181-244. 16 Ingeborg Hillmann: Dichtung als Gegenstand der Dichtung, Untersuchungen %um Problem der Einheit des West-östlichen Divan. Bonn 1965. 17 Goethe an Cotta v. 10. Januar 1816 (Goethe WA IV 26, S. 216). 18 Wenn hier und im Folgenden von einer solchen Reflexion und Inszenierung von Autorschaft die Rede ist, dann impliziert das keineswegs jene von Kretzer u.a. ausgemachte Autobiographisierung der D/w/«-Texte. Vielmehr geht es dabei um dichterische Strategien der Konstitution einer spezifisch dichterischen Sprecherposition, die sich analytisch betrachtet nicht als Voraussetzung, sondern als Ergebnis oder genauer: als Funktion der literarischen Texte erweist.
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Denn bei näherem Hinsehen werden signifikante Abweichungen der nachträglichen Selbstinterpretationen von denen aus der Entstehungszeit des Divan selbst sichtbar. Während der oben zitierte Rückblick auf seine Beschäftigung mit China suggeriert, die geographische Ferne sei konstitutiv für die Wahl des Fluchtortes gewesen und daher der Osten — zumal der Ferne - prädestiniertes Ziel, sprechen die Zeugnisse der Jahre 1814 und 1815 eine andere Sprache. Hier erscheint weder die räumliche Distanz des Fluchtorts als entscheidendes Kriterium noch der Osten als einzige Fluchtrichtung, die Goethe in jenen Kriegsjahren einschlägt. Wenn er Freunden in dieser Zeit über seine Arbeit an der Italienischen Reise berichtet, dann weist die dabei benutzte Metaphorik deudiche Parallelen zur Thematisierung seiner Orient-Studien auf.19 So schreibt er am 30. März 1814 an Knebel: Ich habe mich, wenigstens in Gedanken, in die Lagunen geflüchtet, redigire die Tagebücher meines Venetianischen Aufenthaltes und studire, indem ich meine Kupfer und Zeichnungen in Ordnung bringe, mit großer Auferbauung die neue Kunstgeschichte.20
Und im Kapitel Zweiter Römischer Aufenthalt des Reiseberichtes selbst spricht er von seinem Aufbruch nach Italien als von „meiner Hegire nach Karlsbad".21 Die Flucht aus der unruhigen Gegenwart der Kriegsjahre führt Goethe also nicht allein in die weite Ferne - ja, strenggenommen nicht einmal in eine geographische, denn „die Lagunen" locken ihn in die eigene Erinnerung, und die tröstende Ferne Italiens erweist sich somit nicht zuletzt als eine zeitliche. An Zelter jedenfalls schreibt er am 29. Mai 1817 über seine Beschäftigung mit der Italienischen Reise die deudichen Worte: Dieses Italien ist ein so abgedroschenes Land, daß, wenn ich mich darin nicht selbst als in einem verjüngenden Spiegel sähe, so möchte ich garnichts davon wissen.22
Als Kriegsflüchding im Geiste reist Goethe 1814 also in sein Italien der 1780er Jahre. Und auch abgesehen vom Reiz des Blicks in den Spiegel der eigenen Biographie kann den Flüchtigen nur das vergangene Italien lokken. Schließlich ist das zeitgenössische von den politischen und militärischen Auseinandersetzungen nicht weniger erschüttert als Thüringen und zum dichterischen Asyl entsprechend ungeeignet. 19 Zum biographischen und strukturellen Zusammenhang von Divan und Italienischer Reise vgl. Monika Lemmel: „Wechselwirkungen zwischen Goethes West-östlichem Divan und der Italienischen Reise. Überlegungen zur späten Entstehung von Goethes Reisebericht". In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 33 (l 989), S. 281-298. 20 Goethe an Knebel v. 30. März 1814 (Goethe WA IV 24, S. 212). 21 Goethe HA 11, S. 401. 22 Goethe an Zelter v. 29. Mai 1817, in: Briefwechsel ^wischen Goethe und Zelter. Erster Band: 1799-1818. Hrsg. v. Max Hecker. Frankfurt a. M. 1987, S. 607.
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Dieser Doppelcharakter der Reise als eine in Raum und Zeit zeichnet auch die Hegire in den Orient aus. Sie führt Goethe ebenfalls in die Vergangenheit, allerdings nicht in die der eigenen Biographie, sondern in die Menschheitsgeschichte. Die folgenden Strophen des Eingangsgedichts lauten: Dort, im Reinen und im Rechten, Will ich menschlichen Geschlechten In des Ursprungs Tiefe dringen, Wo sie noch von Gott empfingen Himmelslehr' in Erdensprachen, Und sich nicht den Kopf zerbrachen. Wo sie Väter hoch verehrten, Jeden fremden Dienst verwehrten; Will mich freun der Jugendschranke: Glaube weit, eng der Gedanke, Wie das Wort so wichtig dort war, Weil es ein gesprochen Wort war. Will mich unter Hirten mischen, An Oasen mich erfrischen, Wenn mit Caravanen wandle, Schawl, Caffee und Moschus handle. Jenen Pfad will ich betreten Von der Wüste zu den Städten. Bösen Feldweg auf und nieder Trösten Hafis deine Lieder, Wenn der Führer mit Entzücken, Von des Maulthiers hohem Rücken, Singt, die Sterne zu erwecken, Und die Räuber zu erschrecken. Will in Bädern und in Schenken Heil'ger Hafis, dein gedenken, Wenn den Schleyer Liebchen lüftet, Schüttlend Ambralocken duftet. Ja, des Dichters Liebes flüstern Mache selbst die Huris lüstern. Wolltet ihr ihm dies beneiden, Oder etwa gar verleiden; Wisset nur, daß Dichterworte Um des Paradieses Pforte Immer leise klopfend schweben, Sich erbittend ew'ges Leben.23
23 Goethe FA 13.l, S. 12f..
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Gegen den bis zur „Paradieses Pforte" (V. 40) seiner Schlußverse aufsteigenden, Optativen Grundton des Gedichts - getragen durch den initialen Imperativ „flüchte" in der ersten und das anaphorische „will" in den übrigen Strophen - setzt das Präteritum der zweiten und dritten Strophe eine kontrafaktische Akkordfolge, die sich allerdings derart bruchlos in die Harmonie des Ganzen fügt, daß man den fortlaufenden Tempuswechsel innerhalb des Gedichts beinahe überliest. Der „reine[ ] Osten" der ersten Strophe wird in den beiden folgenden dreifach wieder aufgegriffen: durch das rückverweisende „Dort" (V. 7), die Wiederholung des „Reinen" (V. 7) und die Nennung der „Väter" (V. 13), die bereits in der „Patriarchenluft" des vierten Verses zu ahnen waren. Somit entwirft die zweite und dritte Strophe den zu bereisenden Osten deutlich als einen Fluchtpunkt in der Vergangenheit:24 Die in der Hegire prospektiv heraufbeschworene Orientreise führt in das Morgenrot der Menschheit, in eine abrahamitische Gesellschaft, deren vergangene Existenz in den präsentischen Grundton des Gedichts aufgehoben wird: Dorthin, in diese zeitliche Ferne, will das lyrische Ich flüchten, dort „Bäder[]" und „Schenken" besuchen (V. 31), mit „Carawanen" reisen (V. 21) und das „Liebchen" seinen „Schleyer" (V. 33) lüften sehen. Die Topographie des Orients wird im Gedicht gerahmt und getragen von der dominanten Semantik einer Zeit, deren Omnipräsenz in der Architektur der Verse ihre Entsprechung findet.25 Vom Jungbrunnen Chisers in der ersten Strophe schlägt sie den Bogen über „des Ursprungs Tiefe" in der zweiten bis zu den „Huris" in der vorletzten und dem „ew'gen Leben" in der letzten Strophe. Chiser (V. 6) ist der legendäre Greis, der dem persischen Dichter Hafis einen Becher mit Wasser aus dem Quell des Lebens reicht, um ihm neben ewiger Jugend auch unsterblichen Ruhm zu verleihen.26 Und wenn „selbst die Huris", jene schönen und vor allem jungfräulichen weiblichen Wesen, die nach koranischer Verheißung die Gläubigen in den Gärten des Paradieses erwarten, von den schmeichelnden Worten des Dichters „lüstern" werden, dann ist auch hier - in ironisch-hyperbolischer Verkehrung der Akteure - auf die Ewigkeit angespielt.27 Die Idee vom Orient als menschheitsgeschichtlichem Ur24 Schon Gerhard Kaiser hatte auf den Tempuswechsel hingewiesen und geschlußfolgert: „Die Reise geht in die Vergangenheit, die als Gegenwart behandelt wird." (Gerhard Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis Heine. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1988, Bd. 1,8.314). 25 Vgl. dazu auch Lemmel: Wechselwirkungen, S. 291 f. 26 Vgl. den Kommentar von Henrik Birus in: Goethe FA I 3.2, S. 886. 27 In der 1819 publizierten Form des West-östlichen Divan ist die Houri keine prominente Figur, selbst im Chuld Nameh — Euch des Paradieses spielt sie nur eine untergeordnete Rolle. Wie in Hegire werden die Houris hier als junge und schöne Bewohnerinnen des Paradieses in die Gedichte hineinzitiert: Im Eingangsgedicht Berechtigte Männer, das Goethe dem Propheten Muhammad in den Mund legt, wird „die Himmels-MädchenSchaar", ausgestattet mit der Attribuierung „Alle sind wie alle licht und klar", ins Para-
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sprung und in diesem Sinne als Ort der Verjüngung für den im Geiste Reisenden ist — wie in Kap. 4.4 aufgezeigt - zur Entstehungszeit des Oivan bereits ein Gemeinplatz, was allerdings nicht bedeutet, daß sich auch die geschichtsphilosophischen Ansätze glichen, die sich an diesen Topos knüpften.28 Welchen Ansatz Goethe in seinem West-östlichen Oivan verfolgt oder entwickelt, wird im Laufe dieses Kapitels zu klären sein. Hier interessiert zunächst seine Bildlichkeit, und die ist der Johann Gottfried Herders sehr ähnlich. In der Abhandlung Auch eine Philosophie der Geschichte %ur Bildung der Menschheit. Beitrag %u vielen Beiträgen des Jahrhunderts jedenfalls faßt Herder einen ersten Überblick über die ersten Anfänge der Menschheit in dem Satz zusammen: Und ewig wird, außer dem Tausendjährigen Reiche und dem Hirngespinste der Dichter, ewig wird Patriarchengegend und Patriarchenzelt das Goldene Zeitalter der kindlichen Menschheit bleiben. [...] Morgenland, du hierzu recht auserwählter Boden Gottes.29
Goethe wirft also zunächst ein solches „Hirngespinste" in die poeüschgeschichtsphilosophische Waagschale. Tragende Säule dieses universalzeitlichen Bogenschlags in tiegire ist das „Wort". Als „gesprochen Wort" dies getragen — signifikanterweise von einem „süssefnj Wind", der „von Osten" weht. (Goethe FA I 3.1, S. 128) Und in Höheres und Höchstes sind sie als „hübsche Kinder" im Paradiesesgarten präsent (FA I 3.1, S. 131-133). Ein anderes und wesentlich konkreteres Bild von der Houri bietet das Buch des Paradieses in seiner Fassung für die Ausgabe letzter Hand (1827). In allen der fünf neu hinzugekommenen Gedichten steht sie im Zentrum. Der Titel des Eingangsgedichts — Vorgeschmack — ist dabei gleich in mehrfacher Hinsicht programmatisch. Es beginnt mit den Versen „Der aechte Moslem spricht vom Paradiese/ Als wenn er selbst allda gewesen waere", um in den folgenden vier Strophen ein eher unterkomplexes (wiewohl bis heute in Medien und der Öffentlichkeit immer wieder mobilisiertes) Bild von der religiös-befeucrnden Kraft der erotischen Verheißung durchzuspielen, wie sie der Koran in seinem Entwurf des Paradieses bereithält. Die Schlußstrophe lautet: „Auf meinem Schoos, an meinem Herzen halt ich/ Das Himmels-Wesen, mag nichts weiter wissen/ Und glaube nun ans Paradies gewaltig/ Denn ewig möcht ich sie so treulich küssen." (Goethe FA I 3.1, S. 434) und bietet tatsächlich einen Vorgeschmack auf das Kommende. Denn der Ton hausbackener Erotik zieht sich auch durch die folgenden vier gedichteten Wechselreden zwischen Dichter und Houri (Goethe FA I 3.1, S. 439-443). Von interpretatorischem Interesse für die Erschließung von Hegire ist jedoch vor allem, daß die Houri hier an die Funktionsstelle des Seraphen tritt und jene „Paradieses Pforte" bewacht, an welche auch die „Dichterworte" der Hegire klopfen. Als Wächterinnen des Paradieses nämlich kennt der Koran die Houris nicht, im Offenbarungstext treten sie allein als deren Bewohnerinnen auf. Vgl. die folgenden Suren mit den entsprechenden Versen: 37,48 f.; 38,52; 44,54; 52,20; 55,70ff.; 56,22; 56,35 ff.; 78,33. Die Koranstellen sind angegeben nach der Übersetzung Der Koran. Übersetzt von RudiParel. Stuttgart/ Berlin/ Köln 51989. 28 Ammann: Östliche Spiegel,?,. 31-37. 29 Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte syr Bildung der Menschheit. Beitrag %u vielen Beiträgen des Jahrhunderts. In: Herders Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur. Berlin/ Weimar 1978, Bd. 3, S. 44f.
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(V. 18) wirkt es bereits im menschheitlichen Ursprung und findet sich schließlich als „Dichterwort[ ]" (V. 39) vor den Toren der Ewigkeit wieder. Eben dieses Bild einer ewige Jugend verheißenden Vorzeit greift Goethe vier Jahre nach der Entstehung von Hegire wieder auf, als er im Mai 1818 in einem Brief an den Grafen Uwarow im erneuten Rückblick die vorangegangenen Kriegsjahre beschreibt: In schrecklichen und unerträglichen Zeiten, denen ich persönlich nicht entfliehen konnte, floh ich in jene Gegenden, wo mein Schatz und auch mein Herz ist. Nur kosten und nippen konnte ich an Kewsers Quell, wobey denn doch eine wünschenswerte Verjüngung erreicht ward.30
Dem Orient Goethes haftet das Pathos der Frühe also ebenso an wie das Pathos der Ferne. Bereits in dem oben zitierten Brief an Voigt waren es „ferne Jahrhunderte und Gegenden" gleichermaßen, in welchen sich der Dichter verspricht, das orientalische Paradies zu entdecken. Nun wurde und wird die Forschung nicht müde zu betonen, daß es sich bei Goethes „Morgenlandfahrten"31 um imaginäre Reisen in den Osten handelt; schließlich habe der Dichter jene Gegenden nie gesehen.32 So setzt Monika Lemmel in ihrer Analyse der Bezüge zwischen der Italienischen Reise und dem Divan das ,,konkrete[] Reiseerlebnis" nicht nur biographisch, sondern auch strukturell primär und deutet „die imaginäre Orientreise" des Divan entsprechend als Abstraktion der tatsächlichen Fahrt und als ihr Surrogat.33 In ihrer Darstellung wird Goethes Wort von der Reise in den Osten „zur Metapher für Dichtung, der Reisende selbst zur Metapher für den Dichter".34 Denkt man den Orient als rein geographisches 30 Goethe an den Grafen Uwarow v. 18. Mai 1818 (Goethe WA IV, 29, S. 176). 31 Goethes Morgenlandfahrten. West-östliche Begegnungen. Hrsg. v. Jochen Golz. Frankfurt a. M./Leipzig 1999. 32 Vgl. Esin Ileri: Goethes West-östlicher Divan als imaginäre Orient-Reise, Sinn und Funktion. Frankfurt a. M./ Bern 1982; Hendrik Birus: „Begegnungsformen des Westlichen und Östlichen in Goethes West-östlichem Divan". In: Goethe-Jahrbuch 114 (1997), S. 113-131, hier: S. 122; ders.: Goethes imaginativer Orientalismus, S. 114f, Hans Schneider: „Goethes imaginäre Morgenlandfahrt. Tableau: West-östlicher Divan". In: Staat und Gesefochaß im Zeitalter Goethes. Festschrift für Hans Tümmler zu seinem 70. Geburtstag. Hrsg. v. Peter Berglar. Köln/ Wien 1977, S. 317-336; Wild: Goethes West-ösdicher Divan als poetischer Ort psychokultureller Grensyiberschreitungen, i.b. S. 74; Anne Bohnenkamp: „Goethes poetische Orientreise". In: Goethe-Jahrbuch 120 (2003), S. 144-156, i.b. S. 144. Kritisch zu den Versuchen, den Divan als „eine Art dichterischen Reisebericht auf[zu] fassen": Monika Lemmel: Poetologie in Goethes West-östlichem Divan. Heidelberg 1987, S. 123. Anke Bosse liest - ihrem eigenen Verfahren der quellenforscherischen Spurensuche gemäß - Goethes „Morgenlandfahrt" als „.Reise' durch die orientalischen und orientalistischen Lesewelten". (Anke Bosse: „ .Reisender' und .Handelsmann' in Sachen orientalischer Poesie. Zu einer Handschrift aus Goethes Nachlaß zum West-östlichen Divan". In: Golz (Hrsg.): Goethes Morgenlandfahrten, S. 112-125, hier: S. 125). 33 Lemmel: Wechselwirkungen, S. 282 ff.
34 Ebd., S. 283.
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Konzept, dann ist dieser Hinweis nur zu berechtigt Goethe hat die Rosengärten von Schiras in der Tat nicht betreten, das Wasser des Euphrat nicht beschifft und auch den vielbesungenen Wüstensand kannte er nur aus Lektüre. Stellt man jedoch gleichzeitig in Rechnung, daß der Orient für Goethe nicht allein in räumlicher, sondern auch - und womöglich sogar primär — in seitlicher Ferne lag, dann erweist sich das Beharren auf dem imaginären Charakter seiner Reise als irreführend. Schließlich führt der Weg in die Vergangenheit - zumal in die der Menschheit — niemals durch reale Landschaften, sondern verläuft stets durch die Gefilde der Imagination und ist überdies in jedem Fall medial vermittelt. Und bereits eine kursorische Übersicht über Goethes Gedichtsammlung und ihren Kommentar zeigt, daß der Orient des West-östlichen Divan in der Tat durchweg historischer Provenienz ist: Seine Dichter, Herrscher, Reiche und Texte gehören sämtlich einer Vergangenheit an, die bis in die Frühantike zurück reicht und der Gegenwart nicht näher kommt als das späte Mittelalter. So läßt sich auch der Umstand erklären, daß sich trotz Goethes kontinuierlicher Thematisierung des eigenen Orient-poetischen Tuns weder in den Dmz«-Gedichten selbst, noch in den Noten und Abhandlungen %um besseren Verständniß des West-östlichen Divans, noch in den Briefen oder Tagebucheinträgen der Entstehungsjahre 1814 bis 1819 eine Beschreibung der eigenen Hinwendung zum Orient als Akt der .Imagination' findet. Selbst nach dem Terminus ,Phantasie' und dessen Derivaten sucht man in diesem Zusammenhang vergeblich. Daß das keineswegs allein darstellerische Gründe hat, sondern dem pleonastischen Effekt der Rede von einer .imaginären Zeitreise' geschuldet ist, zeigt ein Vergleich mit der Beschreibung seiner Flucht „in die Lagunen" Venedigs im Jahre 1814. Denn hier macht Goethe den imaginären Charakter seiner Reise tatsächlich explizit und schreibt mit wehmütigem Unterton, er sei während der Kriegsjahre „wenigstens in Gedanken" dorthin „geflüchtet".35 Diese Gedankenreise hat indes eine reale Gegenfolie. Italien ist zwar ein von Vergangenheit geschwängertes Land, dabei aber ein durchaus gegenwärtiges, in das man auf geographischem Wege gelangen kann. Ist diese reale Möglichkeit verschlossen, bleiben nur Imagination und Erinnerung als Vehikel. Eine reale Reise in einen längst vergangenen Orient dagegen liegt per se außerhalb des Möglichen, weshalb sie von Goethe auch nicht einschränkend als ,nur gedanklich' qualifiziert wird. Im Divan und den Zeugnissen aus seiner Entstehungszeit erhält der Fluchtweg in den Osten keine vergleichbaren Attribute. In der Beschreibung des orientalischen Reiseziels konstituiert eine Semantik des Paradiesischen und Idealischen zwar ebenfalls einen Raum, der in klarer Abgren35 Goethe an Knebel v. 30. März 1814 (Goethe WA IV 24, S. 212).
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zung und als Gegenbild zur Gegenwart entworfen wird; eine Tendenz zur antonymischen Ordnung, die Goethe in seiner rückblickenden Selbstinterpretation der Tag- undJahres-Heffe 1815 noch verdichtet, wo er von seinem Bestreben berichtet, „aus der wirklichen Welt, die sich selbst offenbar und im Stillern bedrohte, in eine ideelle zu flüchten".36 Doch wird der Wirklichkeit hier gerade nicht die Imagination gegenübergestellt, sondern die Reise des West-östlichen Oivan zielt — wie Hendrik Birus bemerkt hat — „zwar auf eine ,ideeUe£, doch nicht minder wirkliche Welt: die alte und zugleich ,ganz neue Welt' der orientalischen Kultur".37 Goethe emigriert nicht aus der Welt in die Phantasie, sondern wechselt von einer unsicher gewordenen gegenwärtigen Welt in eine vergangene, die von sichtbaren und unsichtbaren Erschütterungen frei ist. Bereits im Eingangsgedicht war - durch die Doppelnennung zusätzlich betont — das ,,Reine[]" des Orients als eine seiner Hauptattraktionen herausgestellt worden; in enger alliterativ-zwillingsformelhafter Verbindung zum dort vorherrschenden „Rechten". Somit ist es also ein bestimmter — und im Verlauf dieses Kapitels näher zu bestimmender — Charakter des vergangenen Orients, der ihn zum Fluchtort vor der sich selbst bedrohenden Gegenwart prädestiniert und zu ihrem „höchst nöthigjen]" Komplement macht.38 Doch bevor der Frage nach dem konkreten Potential des Orients für Goethes Projekt von Emigration und Erneuerung nachgegangen werden kann, gilt es zuvor, noch ein wenig Ordnung zu bringen in die verwirrende raum-zeitliche Logik, die der Konzeption des Westöstlichen Oivan und Goethes Hinwendung zum Orient unterliegt, sowie die Sprecherposition klarer zu konturieren, die Goethe dabei einnimmt.
6.1.2 Zeit-Sprung Die oben zitierte Anfangspassage aus der Ankündigung des Oivan im Morgenblatt für gebildete Stände hatte bereits gezeigt, daß die morgenländische Fluchtbewegung keineswegs nur einer individualpsychologischen Dynamik folgt, sondern einer poetologischen Programmatik. Nun hatte Goethe seinem Verleger diesen Text einige Wochen zuvor brieflich angekündigt als einen, „worin ich von meinem Orientalismus vorläufige Rechenschaft ablege."39 Es sollte also um mehr gehen als nur um einen erläuternden Ausblick auf die anstehende Vorveröffentlichung einiger Gedichte. Die
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Tag- undJahres-Hefie auf das Jahr 1815 (Goethe WA I 36, S. 91). Birus: Goethes imaginativer Orientalismus, S. 111. Tag- undJahres-Hefte auf das Jahr 1815 (Goethe WA I 36, S. 91). Goethe an Cotta v. 10. Januar 1816 (Goethe WA IV 26, S. 216).
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Hinwendung des Dichters zum Orient selbst sollte Gegenstand sein. Und sie war es auch. Der Ankündigungstext fährt fort mit einer Charakterisierung des Autors im Kontext seines poetischen Projekts: Der Dichter betrachtet sich als einen Reisenden. Schon ist er im Orient angelangt. Er freut sich an Sitten und Gebräuchen, an Gegenständen, religiösen Gesinnungen und Meinungen, ja er lehnt den Verdacht nicht ab, daß er selbst ein Muselmann sey.40
Mußten in den Zeilen zuvor die Gedichtverse von Hegire für sich selbst und aus sich selbst heraus für das Ganze sprechen, wechselt Goethe hier gleich mehrfach die sprachliche Ebene: von der lyrischen Selbst-Verständlichkeit auf die der Erläuterung, von einer Semantik der Flucht zu einer der Reise41 und von der Dichtung zum Dichter, genauer: in den Dichter hinein. Denn der erste Satz des Zitats beschreibt nicht den Autor, sondern das autorschaftliche Selbstbild und bestimmt damit auch die Perspektive der folgenden Sätze. Ohne diese initiale Zeile hätte die nachfolgende Beschreibung auktorialen Charakter, so aber verlängern sie die Innensicht des Dichters, und zwar im aktualisierenden Präsens.42 Das Oszillieren der Perspektive zwischen Innen- und Außensicht auf der Basis eines präsentischen Grundtons schafft eine Nähe des Lesers zur fokussierten Sicht des Autors und hält ihn gleichzeitig auf Distanz.43 Vermittels dieser Erzähltechnik setzt sich Goethe in der Ankündigung seines West-östlichen Divan in Szene und nimmt den Leser perspektivisch mit in diese Szene hinein, ohne dabei seine externe Autorposition aufzugeben. Allerdings vollzieht sich der hier skizzierte Eintritt in die orientalische Szenerie ohne jede Annäherung an die östlichen Gefilde und ist sogar derart sprunghaft, daß man kaum von einem Übergang sprechen kann. Angesichts der unmißverständlichen Beteuerung des Dichters, er betrachte sich „als einen Reisenden", muß dieser Umstand befremden, denn Goethe entwirft hier das seltsame Bild einer "Reise ohne Weg. Kaum hat er sich mit 40 Goethe FA 13.l, S. 549. 41 Zur Selbstbezeichnung des Dichters als eines Reisenden sowie zur Bedeutung des Reise-Motivs für den gesamten Divan vgl. Ileri: Goethes West-östlicher Divan als imaginäre Orient-Reise, i.b. S. 135 ff.; zuvor allerdings bereits Ursula Wertheim: Von Tasso %u Haßs. Probleme von Lyrik und Prosa des West-östlichen Divan. Berlin 1965, S. 293-357 und Schneider: Goethes imaginäre Morgenlandfahrt. 42 Diese rhetorische Feinarbeit mit Erzählperspektive und Tempus ist nicht ohne Vorläufer. Goethe hatte sich ihrer bereits in den Wahlverwandtschaften bedient und damit einen durchaus vergleichbaren Effekt erzielt. Im dreizehnten Kapitel des ersten Teils heißt es: „Der abnehmende Mond steigt über den Wald hervor. Die warme Nacht lockt Eduarden ins Freie; er schweift umher, er ist der unruhigste und glücklichste unter den Sterblichen. Er wandelt durch die Gärten; sie sind ihm zu enge; er eilt auf das Feld und es wird ihm zu weit." (Goethe FA I 8, S. 359). 43 Zur Funktionsweise dieser Form von Fokalisierung vgl. Gerard Genette: Die Erzählung. München 21998, S. 136 f.
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den Attributen des Reisenden versehen, ist der Dichter - wie der den Hasen überlistende Swinigel — auch „schon" am Ziel. Ganz ohne weibliches Double befindet sich der nicht gereiste Reisende höchstselbst und mit einem Mal mitten im Orient. Dort eröffnet sich ihm nicht allein ein kulturell-sittliches Panorama, sondern er taucht so tief in dieses Land ein, daß sich sogar die kulturellen Grenzen zu verwischen beginnen. Auf seiner Reise selbst zum „Muselmann" geworden zu sein — das initiale „ja" leitet deudich eine Klimax ein -, schiebt Goethe dabei als etwaigen „Verdacht" dem Leser zu und geht mit seiner Antwort auf diese selbstproduzierte Mutmaßung nicht weiter, als sie nicht abzulehnen. Bereits ein Blick auf dieses ausgefeilte Spiel mit den Betrachtungen und Spekulationen des Lesers zeigt, daß es sich bei dieser Formulierung um nichts weniger als ein (religiöses) Bekenntnis Goethes handelt,44 sondern um einen Bestandteil seiner autorschaftlichen Selbstinszenierung. Denn die mögliche Wandlung des Dichters zum „Muselmann" steht in der von der Forschung gern zitierten Passage schließlich nicht allein, sondern markiert das Ende einer amplifikatorischen Begriffsreihe, mit der sie auf mehreren Ebenen eng verwoben ist. Zunächst bindet die rhetorische Überformung des Satzes, die auffällige Häufung von Assonanzen und Alliterationen, seine Elemente eng aneinander: Hier ist der Begriff „Sitten" durch die Konjunktion „und" an die alliterative Trias „Gebräuchen", „Gegenständen", „Gesinnungen" gebunden. Die deutiiche Assonanz zwischen „Gesinnungen" und „Meinungen" überbrückt den missing link des Anlauts, und schließlich ist — wiederum qua Alliteration — der „Muselmann" an die „Meinungen" rückgekoppelt und erweist sich bereits auf der Formebene als Element, das sich nicht zu Zwecken interkultureller Interpretation aus dem Ensemble lösen läßt. So mäandrierend ihre lautliche Linienführung anmuten mag, so gerichtet ist diese Begriffsreihe auf semantischer Ebene. Die Kulmination von Substantiven erweist sich nämlich bei näherem Hinsehen als eine Bewegung von außen nach innen, die schließlich auf die letzte Phrase als ihren Höhepunkt zuläuft: Goethe beginnt die Aufzählung mit orientalischen Kulturtechniken („Sitten", „Gebräuchen", „Gegenständen"), wandert dann weiter zur inneren Verfaßtheit des Orients („Gesinnungen" und „Meinungen"), wo die Quantität der Eindrücke — alle diese Phänomene sind Ge44 Bernd Aucrochs liest Goethes Rollenspiel als Muslim im Divan — allerdings ohne Rekurs auf die zitierte Passage aus der Ankündigung im Morgenblatt - aus Teil seiner kritischen Auseinandersetzung mit den Offenbarungsreligionen. Vgl. Bernd Auerochs: „Goethe als Muslim. Zum Spiel mit den positiven Offenbarungsreligionen im Westöstlichen Divan". In: Klaus Manger (Hrsg.): Goethe und die Weltliteratm. Heidelberg 2003, S. 279-288. Zu Goethes Verhältnis zum Islam allgemein vgl. Katharina Mommsen: Goethe und die arabische Welt. Frankfurt a. M. '2001, S. 157-476. Die Publikation von Katharina Mommsen: Goethe und der Islam. Frankfurt a. M./ Leipzig 2001 enthält die entsprechenden Kapitel aus Goethe und die arabische Welt.
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genstände der freudigen Betrachtung des Dichters und ihm entsprechend äußerlich — in eine neue Qualität umschlägt, die durch den Wechsel der Perspektive auf den Leser umgeleitet wird: Wer immer den Verdacht hegen will, sei frei zu vermuten, das stetig weitere Eindringen ins Innere des Orients habe einen kulturellen Wandel des Dichters „selbst" zur Folge gehabt, er habe die ,Muselmanen' nicht allein besucht, sondern sei zu einem von ihnen geworden. Semantisch und rhetorisch läuft die geschilderte Dynamik der Reise ohne Weg genau auf diese Klimax zu, von einer zunehmenden Annäherung des Dichters an den Orient hin zu seiner Identität mit dem Osten. Und anstatt diese Dynamik aufzuhalten, tritt Goethe einen Schritt zurück und läßt sie auf den Leser zulaufen, wo sie zu jener nur schwer zu entkräftenden Mutmaßung gerinnt, der Dichter sei selbst ein Teil des Morgenlandes geworden. Der Eindruck, Goethe setze sich hier als erfolgreich akkulturierter Ethnologe in Szene, verstärkt sich nach einem Seitenblick auf die Einleitung der Noten und Abhandlungen %um besseren Verständnis des West-östlichen Divan, die eine in Gestus und Sprachgebrauch analoge Passage enthält: Am liebsten aber wünschte der Verfasser vorstehender Gedichte als ein Reisender angesehen zu werden, dem es zum Lobe gereicht, wenn er sich der fremden Landesart mit Neigung bequemt, deren Sprachgebrauch sich anzueignen trachtet, Gesinnungen zu theilen, Sitten aufzunehmen versteht.45
Auch dieser Reisende reist nicht, sondern ist mit einem Mal im Orient, um dort seine Akkulturationsarbeit zu beginnen. Ein Rekurs auf den „Muselmann", welcher zu sein er ehedem in den Bereich des Möglichen rückte, fehlt zwar in dieser Version, doch verzichtet Goethe damit nur auf die Formulierung des Satzes, nicht auf seinen Gehalt. Der findet sich in dieser Passage differenzierter ausgeführt als in der Ankündigung des West-östlichen Divan — und gemahnt noch stärker an eine der Grundtechniken der modernen Ethnologie: an das viel praktizierte und nicht weniger diskutierte Prinzip „teilnehmender Beobachtung",46 an die Teilnahme des Ethnologen an der fremden Kultur mit dem Ziel, sie selbst von innen zu erleben und entsprechend auch von innen zu beschreiben.47 Denn „Landesart", „Sprachgebrauch", „Gesinnungen" und „Sitten" werden von dem reisen45 Goethe FA 13.l, S. 138. 46 Dieses Konzept wurde von Bronislaw Malinowski zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt (Bronislaw Malinowski: „Argonauten des westlichen Pazifik. Ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von Melanesisch-Neuguinea [1922]". In: ders.: Schriften in vier Bänden. Bd. 1. Hrsg. v. K Kramer. Frankfurt a. M. 1979). Zu dem Konzept und seiner wissenschaftsgeschichtlichen Genese vgl. Kogge: Die Grenzen fies Verstehen*, S. 132 ff. 47 Vgl. exemplarisch: Kohl, Karl-Heinz: Ethnologie - die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung. München 1993. Systematisch dazu: Kogge: Die Grenzen des Verstehens, S. 139-145.
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den Dichter schließlich nicht aus der Distanz studiert, sondern er läßt es sich darüber hinaus durch den virtuellen Leser zur Aufgabe machen, sie „aufzunehmen" und sich „anzueignen".48 Somit liefert Goethe in der Einleitung des Prosateils eine Schilderung jenes Prozesses nach, von dem in der Ankündigung des Divan allein das Ergebnis sichtbar war: Durch Aneignung und Aufnahme der orientalischen Lebensweisen und Landessitten taucht der Dichter so tief in den Orient ein, daß er von einem wirklichen Orientalen, einem „Muselmann", kaum mehr zu unterscheiden ist; genauer: kaum mehr zu unterscheiden sein soll. Denn ebenfalls deutlicher als im Ankündigungstext zeigt sich hier die konsumtive Bedeutung der Leserinstanz für die autorschaftliche Selbstinszenierung. Schließlich kann erst durch den gewünschten Blick des Lesers auf den Autor, durch seine Betrachtung des Dichters als Reisenden dessen Transformation überhaupt stattfinden. Dieses leserseitige Sehen-Ais bildet die notwendige Grundvoraussetzung für die Verwandlung des westlichen Poeten in einen Orientreisenden und dessen anschließende morgenländische Akkulturation,49 die Goethe um so plausibler zu machen versteht, als er gerade die Schwierigkeiten eines solchen Projekts benennt; Schwierigkeiten, die in seiner eigenen kulturellen Zugehörigkeit begründet liegen. Die Einleitung zu den Noten und Abhandlungen fährt fort: Man entschuldigt ihn, wenn es ihm auch nur bis auf einen gewissen Grad gelingt, wenn er immer noch an einem gewissen Accent, an einer unbezwinglichen Unbiegsamkeit seiner Landsmannschaft als Fremdling kenntlich bleibt.50
Dieser einschränkende Gestus bestärkt den Eindruck, Goethe greife bei seinem dem Leser überantworteten autorschaftlichen Selbstentwurf auf ein ethnologischen Verfahren des 20. Jahrhunderts vor. Denn durch den Verweis auf die letztliche Unmöglichkeit einer vollständigen Übernahme einer anderen Kultur aufgrund des tiefen Verhaftetseins in der eigenen markiert er das angestrebte Ziel des Unternehmens West-östlicher Divan nur
48 Schon Wolfgang Lentz hatte auf die Signifikanz dieser Textstelle hingewiesen, liest sie allerdings wie folgt: „Nehmen wir einmal an, diese Worte zielten auch auf die Noten, so würden sie bedeuten, daß mit allen Kräften des Gemüts und des Intellekts versucht wird, das Fremde nicht nur zu verstehen, sondern ihm in seinem sittlichen Grund gerecht zu werden, ja sich auch seine Formensprache zu eigen zu machen f...]." (Wolfgang Lentz: Goethes Noten und Abhandlungen %um West-östlichen Divan. Hamburg 1958, S. 143). 49 Ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte des Divan legt den Verdacht nahe, es habe eine ganze Reihe von Lesern gegeben, die dem Dichter seinen Wunsch nicht erfüllt und ihn eben nicht ah Reisenden angesehen haben. Zur Rezeptionsgeschichte des Divan vgl. Konrad Burdach: Vorspiel. Gesammelte Schriften %ur Geschichte des deutschen Geistes. Halle 1926, Bd. 2., S. 376; Edgar Lohner (Hrsg.): Studien %um ,West-östlichen Divan' Goethes. Darmstadt 1971, Lb. S. 3-14. 50 Goethe FA 13.l, S. 139.
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um so deutlicher und ebnet seinen Lesern zugleich den Weg für ihre konstitutive Sicht auf den Autor der Sammlung als west-östlich Gereistem.51 Daß Goethe sich nicht als Privatmann oder gar als Privatgelehrter in den Orient begibt, sondern als Dichter, daß seine Aneignung der orientalischen Landesart nicht im Dienste der Wissenschaft oder des reinen Vergnügens, sondern der Ästhetik steht, macht er dabei unmißverständlich deutlich. Schon im Ankündigungstext des Divan kommt die rhetorische Dynamik des Akkulturationsprozesses nicht in der potentiellen Verwandlung des Verfassers in einen „Muselmann" zum Stillstand, sondern wird durch sie hindurch auf den darauffolgenden Satz gelenkt: „In solchen allgemeinen Verhältnissen ist sein eigenes Poetisches verwebt [—]".52 Gleiches gilt für die Einleitung zu den Noten und Abhandlungen, die in der Erstausgabe mit Besserem Verständniss? beititelt sind.53 Besser zu verstehen gilt es auch hier Poetisches, worüber neben dem Titel auch das viel zitierte Mottogedicht klare Auskunft gibt, das die Metapher der Reise noch einmal in signifikanter Wendung aktualisiert: Wer das Dichten will verstehen Muß in's Land der Dichtung gehen; Wer den Dichter will verstehen Muß in Dichters Lande gehen.54
Der Aufbruch in andere Länder wird hier als notwendige Bedingung des Verstehens gesetzt und damit vom Leser verlangt, dem Autor auf seine Reise in den Osten zu folgen. Und in eben dieser Aufforderung scheint jene Aporie besonders sichtbar auf, die sich hinter der dominanten Reisemetaphorik des Divan verbirgt. Wie oben dargestellt, ist die von Goethe skizzierte autorschaftliche Reise in den Orient schließlich eine Reise ohne Weg, ein übergangsloser Sprung ins Morgenland, der den Dichter immer schon dort angekommen sein läßt. Statt einer Beschreibung der west-östlichen Passage hält der Text nur eine Leerstelle bereit — eine Leerstelle, die offenbar derart kontraintuitiv ist, daß sich einige Interpreten dazu genötigt sahen, sie eigenhändig zu füllen.55 51 Anne Bohnenkamp sieht hier dagegen zwei widersprüchliche Strategien am Werk eine aneignende und eine der Hybridität -, die sie beide als Übersetzungsstrategien begreift. Vgl. Bohnenkamp: Goethes poetische Orientreise, S. 148 ff. 52 Goethe FA I 3.1, S. 549. 53 Goethe FA I3.1, S. 137. 54 Ebd. 55 So etwa Marlenc Lohner, die in ihrer Arbeit dem Motiv der Reise in den Divan-Gedichten noch einmal genauere Aufmerksamkeit geschenkt und dabei in dem im Diva» äußerst prominenten Bild des Karawanenritts eine jener „Verkörperungen der Phantasie" ausgemacht, deren motivische Spuren sie interpretatorisch durch Goethes Spätwerk hindurch verfolgt. Dabei gelangt sie u. a. zu der Überzeugung, die Karawane sei „das Transportmittel ins ,Land der Dichtung', in den .reinen Osten'", anstatt sie -
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Aporetisch erscheint diese Reise ohne Weg indes nur vor dem Hintergrund einer Wahrnehmung des Orients als rein räumlicher Größe und der west-östlichen Reise als einer Überbrückung geographischer Distanz. Wie oben ausgeführt stellt jedoch der Orient für Goethe gerade nicht allein einen Punkt im geographischen Raum dar, sondern auch und vor allem in der Zeit. Der Orient des West-östlichen Divan liegt in der Vergangenheit, und wo immer Goethe in den Noten und Abhandlungen seine wissenschaftliche Sprecherposition nicht-metaphorisch benennt, findet sich die Bezeichnung „Geschichtsforscher"56 und eben nicht „Ethnologe". Auf die zeidiche Ferne des Orients wurde in der Dmz/?-Forschung zwar immer wieder hingewiesen, jedoch ohne daraus analytische Konsequenzen zu ziehen.57 Das mag daran liegen, daß es innerhalb unserer heutigen epistemischen Ordnung schwer fällt, den Orient anders als eine kulturräumliche Größe zu denken. Bei dem Versuch, Licht in die Metapher der Reise ohne Weg zu bringen, ist es aber gerade Goethes Konzeption des Orients als fernem Zeit-Raum, welche die entscheidenden Funken schlägt. Liest man nämlich die oben diskutierten Textstellen als Entwurf einer Reise in die Vergangenheit, dann leuchtet das Verschwinden des Reisewegs unmittelbar ein: Schließlich ist die Verbindung zwischen zwei Punkten in der Zeit grundsätzlich nicht linear und ihre Entfernung entsprechend auch nicht linear überbrückbar. Zeitliche Distanzen lassen sich rückwärts nur überspringen, nicht analog zu räumlichen sukzessiv durchlaufen. Selbst im inzwischen literarisch wie filmisch hoch ausdifferenzierten Genre der Science-fiction sucht man vergeblich nach Darstellungen eines sukzessiv beschrittenen Reise-Weges in die Vergangenheit, der kontinuierlich und stufenlos durchlaufen wird. An die Stelle des Weges treten in der künstlerischen Gestaltung verschiedene Varianten einer Schleuse, durch die hindurch der Zeitreisende von einer synchronen Ebene auf die andere stürzt. Wer in eine vergangene Zeit gelangen will, muß also offenbar notwendig auf Vollzug und Erfahrung eines Reiseweges verzichten und springen. Auch Goethe zieht es in die Vergangenheit, auch er springt, und ,,[s]chon ist er im Orient angelangt". In der Sphäre der Zeit verflüchdem Wortlaut der von ihr selbst im Verfahren des close reading interpretierten Texte entsprechend - als poetologisch konnotiertes Vehikel zu begreifen, mit dem sich das lyrische Ich allein innerhalb des Orients bewegt und keineswegs in ihn hinein. Vgl. Marlene Lohner: Goethes Caravanen, S. 25-40, i.b. S. 30. 56 Vgl. Goethe FA I 3.1, S. 148,158 u. 192. 57 Vgl. Birus: Goethes imaginativer Orientalismus, S. 111; Katharina Mommsen: „Orient". In: Goethe-Handbuch. Bd. 4/2. Hrsg. v. Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto. Stuttgart/ Weimar 1998, S. 813-819, hier: S. 815; Katharina Mommsen: „Goethes Morgenlandfahrten". In: Goethe-Jahrbuch 116 (1999), S. 282-290, hier: S. 285; Stemmrich-Köhler: Zur Funktion der orientalischen Poesie bei Goethe, Herder, Hegel, S. 86 ff, die allerdings sehr differenziert auf Goethes Geschichtskonzeption eingeht, wie sie sich in den Noten und Abhandlungen niederschlägt.
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tigt sich also der Anschein des Aporetischen einer Reise ohne Weg, ebenso wie der Rekurs auf den imaginären oder fiktiven Charakter einer solchen Zeitreise gegenstandslos wird. Nach seinem Sprung findet sich Goethe also in einer Vergangenheit wieder, die sich ihm als synchroner Kulturraum öffnet. Hier nun geht der Dichter in die kulturelle Tiefe und beginnt mit seinem west-östlichen Akkulturationsprozeß. Wie ernst es ihm letztlich mit diesem Prozeß ist, bringt er im Kapitel „Übergang von Tropen zu Gleichnissen" der Noten und Abhandlungen auf den epistemologischen und poetologischen Punkt. Hier schreibt er über die wiederum sämtlich der Vergangenheit angehörenden orientalischen Dichter: „Wollen wir an diesen Productionen der herrlichsten Geister Theil nehmen, so müssen wir uns orientalisiren, der Orient wird nicht zu uns herüber kommen."58 Der Satz lautet nicht, wie es im Kontext interkultureller Kontakte zu erwarten gewesen wäre: „... so müssen wir dorthin reisen, der Orient wird nicht zu uns herüber kommen", denn es gibt diesen Orient nicht mehr, die „Begegnung" Goethes mit dem Osten ist eine inter-temporäre und so muß das Sich-Orientalisieren die Passage ins Morgenland ersetzen.
6.2 Wie man Orientale wird Diese Ordnung von Raum, Zeit und Kultur ist also konsistenter als es auf den ersten Blick scheint. Dennoch wirft das Goethesche Projekt Fragen auf — Fragen den Bedingungen und Medien des Sprungs in die orientalische Vergangenheit, nach dem konkreten Verfahren der so pragmatisch anmutenden Akkulturation an eine vergangene und überdies ideelle Welt, nach der poetologischen Funktion des so emphatisch betonten SichOrientalisierens und schließlich die Frage, warum Goethe seine poetische Emigration gerade in den Orient führt. Wenn sich die folgenden Seiten anschicken, tatsächlich Antworten auf diese grundlegenden Fragen zu suchen, dann verfolgen sie dabei keineswegs das Ziel, die von der Forschung immer wieder und zu Recht herausgestellte Polysemantik des Oivan aufzulösen oder den Text zu vereindeutigen. Ein solcher Versuch wäre schon allein deshalb zum Scheitern verurteilt, weil das Rätselhafte, Erklärungsbedürftige und Geheimnisvolle zentrale Topoi des Textes selbst darstellen und nicht nur seinen künstlerischen Effekt.59 Doch vor dem Hintergrund
58 Goethe FA 13.l, S. 200. 59 Dazu ausführlich: Luciano Zagari: ,„Zu entschiedenerem Auffluge die Fittiche versuchen'. Hermctik und Pastiche in Goethes West-östlichem Divan". In: Wolfgang Wittkowski (Hrsg.): Goethe im Kontext. Tübingen 1984, S. 359-337; ders.: „Archetypischcs
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des deutschen Orientalismus im 19. Jahrhundert — und nur vor diesem sollen sich auf den folgenden Seiten die Konturen der Poetologie des Oivan abzeichnen — läßt sich durchaus konkreteres über Funktionsweisen und Effekte der poetischen und poetologischen Verfahren Goethes aussagen, als daß sie vieldeutig sind. Der Fokus des Orientalismus — so die heuristische Annahme — hält die Möglichkeit bereit, Strukturen und Logiken des Textes sichtbar machen, die auch über diese begren2te Frage hinaus von Bedeutung sind. Allerdings gilt es zuvor, die dichterischen Strategien noch einmal genauer in Augenschein zu nehmen, die Goethe den übergangslosen Eintritt in den Orient und schließlich seine so pragmatisch anmutende Aneignung ermöglichen.
6.2.1. An den Quellen Im Juni 1814 beginnt der Dichter, sich systematisch mit dem Orient zu beschäftigen, und zwar auf eine zunächst durchaus konventionelle Weise. Er liest Übersetzungen arabischer und persischer Dichter, vor allem den Diwan des Mohammed Schamsed-din Hö/zj·,60 dessen deutsche Übertragung durch Joseph von Hammer Goethe am 18. Mai des Jahres von Cotta erhalten hatte, sowie persische, arabische und türkische Dichtung, wie sie in Hammers Zeitschrift Fundgruben des Orients abgedruckt wurde.61 Ferner gehören Reiseberichte, historische Studien, arabisch-persische Chrestomathien und andere Lyriksammlungen in Übersetzung zu seiner Lektüre. Und nicht zuletzt pflegt der Dichter enge Kontakte zu vier deutschen Orientalisten: dem Göttinger Professor für orientalische Sprachen Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, zu dem Kirchenrat Georg Wilhelm Lorsbach, der von 1812 bis zu seinem Tod 1816 an der Universität in Jena lehrt, zu dessen Nachfolger, dem jungen Johann Gottfried Ludwig Kosegarten,62 und schließlich zu dem orientalistischen Autodidakten und ehemals preuund Parodistisches in Goethes Begegnung mit dem Orient". In: Begegnung mit dem „F«ewfa»",Bd.7,S. 145-152. 60 Der Diwan des Mohammed Schamsed-din Hafts. Aus dem Persischen %um ersten Mal gan%_ iiberset^t von Joseph von Hammer, K.K. Rath und Hof-Dollmetsch, Mitglied der Akademie von Göttingen, Korrespondent des Instituts von Holland. 2 Theile. Stuttgart/ Tübingen 1812-13. Zu den dichterischen und konzeptionellen Einflüssen der Hammerschen Übersetzung auf den Oivan vgl. ausführlich: Ingeborg H. Solbrig: Hammer-Purgstall und Goethe. „Dem Zaubermeisfer des Werkzeug". Bern/ Frankfurt a. M. 1973, S. 87-149; Lemmcl: Poetologie in Goethes west-östlichem Oivan, S. 90-108. 61 Fundgruben des Orients. Bearbeitet durch eine Gesellschaft von Liebhabern. [Hrsg. v. Josef von Hammer]. 6 Bde. Wien 1809-1818. Goethe las die Zeitschrift nachweislich ab 1814 und zog sie in der Konzeptionsphase des Oivan intensiv heran. Dazu Solbrig: Hammer-Purgstall und Goethe, S. 212ff.; Bosse: Schatzkammer l, S. 126 ff. 62 Vgl. dazu die Angaben in Kap. 4.2.
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ßischen Gesandten an der Pforte, Friedrich von Diez.63 Gestalt und Gehalt des D/z>ö«-Orients speisen sich zu einem erheblichen Teil aus den Publikationen, Briefen und direkten Hinweisen dieser Männer. In den Briefen aus der Entstehungszeit des Divan hebt Goedie mehrfach an, die Art seiner Beschäftigung mit dem Orient zu schildern. Diese Schilderungen sind stark metaphorisch, verlieren vor dem Hintergrund der oben skizzierten Konzeption aber viel von ihrer Vagheit. Der Orient, den sich Goethe unter Aufbietung einer Vielzahl von Medien und Mitteln zu erarbeiten beginnt, beeindruckt den Dichter nach eigener Aussage zunächst durch seine Komplexität und Größe. In dem Brief, den er am 11. Januar 1815, also bereits ein halbes Jahr nach dem Beginn seiner Beschäftigung mit dem Osten, an Knebel schreibt, deutet Goethe die besondere Qualität seines „Orientalismus" an: So habe ich mich die Zeit her meist im Orient aufgehalten, wo denn freylich eine reiche Erndte zu finden ist. Man unterrichtet sich im Allgemeinen und Zerstückelten wohl von so einer großen Existenz; geht man aber einmal ernstlich hinein, so ist es vollkommen als wenn man in's Meer geriethe.64
Die wahre Dimension dieses Kulturraums, so klingt es hier an, eröffnet sich keineswegs jedem Besucher, sondern nur dem, der „ernstlich hinein" geht. Den Orient als Gegenstand der Betrachtung tatsächlich zu bewältigen, kann also nur dem gelingen, der sich entweder mit kleinen Ausschnitten zufrieden gibt oder an der Oberfläche des Allgemeinen verbleibt. Wem das nicht ausreicht — und zu diesen Menschen zählt sich der Dichter —, der muß sich an die mühsame Arbeit machen „und sollte man dabey auch die Rolle eines Kindes spielen, das mit einer Muschel den Ocean in sein Grübchen schöpfen will."65 In einem kaum zwei Wochen später aufgesetzten Schreiben an Christian Heinrich Schlosser formuliert Goethe diese Unterscheidung zwischen verschiedenen Annäherungsweisen an den Orient weiter aus und läßt keinen Zweifel daran, welche davon die seine ist: Ich habe mich [...] mit aller Gewalt und allem Vermögen, nach dem Orient geworfen, dem Lande des Glaubens, der Offenbarungen, Weissagungen und Verheißungen. Bey unserer Lebens- und Studien-Weise, vernimmt man so viel von allen Seiten her, begnügt sich mit encyklopädischem Wissen und den allgemeinsten Begriffen; dringt man aber selbst in ein solches Land, um die Eigenthümlichkeiten seines Zustandes zu fassen, so gewinnt alles ein lebendigeres Ansehen.66
63 Katharina Mommsen: Goethe undOie%.Quellenuntersuchungen s>u Gedichten der Oivan-Epocbe. Zweite, ergänzte Auflage. Bern/ Berlin/ Frankfurt a. M. u. a. 1995. 64 Goethe an Knebel v. 11. Januar 1815 (Goethe WA IV 25, S. 143f.). 65 Ebd. 66 Goethe an Christian Heinrich Schlosser v. 23. Januar 1815 (Goethe WA IV 25, S. 164 f.).
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Allgemeinbildung und enzyklopädisches Wissen über den Orient fungieren hier als Gegenfolie zu Goethes eigener Herangehensweise, bei deren Charakterisierung er auf die gleiche Metapher zurückgreift wie im Brief an Knebel: Er habe den Orient betreten, sei „selbst" in ihn eingedrungen. Auch der Effekt dieser Art der Beschäftigung wird skizziert: Der Eintritt in den Orient habe ihm ein „lebendigeres Ansehen" ermöglicht, während das enzyklopädische Wissen auf der unsinnlichen und abstrakten Ebene von „Begriffen" verbleibe. Diese Opposition von Anschauung und Begriff in einer Goetheschen Textpassage über Wissensformen kann nicht überraschen, ist sie doch konstitutiver Bestandteil seiner epistemologischen Weltordnung.67 Doch im Kontext seiner Beschäftigung mit dem Orient ist die Rede von der Anschauung zunächst nicht anders denn als Metapher zu verstehen. Auch die in der Goethe-Forschung in diesem Zusammenhang gern heranzitierte aisthetische Charakterisierung des Dichters als „Augenmensch"68 kann höchstens klären, warum er zu diesem Sprachbild greift. Uneigentliche Rede aber bleibt es; und zwar eine, die zudem angesichts seiner rein textlichen Auseinandersetzung mit dem Orient nicht unmittelbar verfängt. Nimmt man diese Metaphorik ernst, stellt sich die Frage, wie Goethe seinem eigenen Selbstverständnis nach durch Lektüre einen Zutritt zum Orient und dabei zu einer „Anschauung" gelangen konnte, welche — dies die Implikation seiner Darstellung - den meisten anderen Lesern verwehrt blieb. Daß dem Dichter die Metaphorik eines Eintritts in den Orient und der sinnlichen Erfahrung dieser Welt nicht einfach unterläuft, zeigt eine Passage aus den Tag- und Jahres-Heften 1815, welche - mit der seinen Selbstdeutungen stets eigenen emphatischen Empathie - die sinnliche Bildlichkeit noch ausweitet: Nicht ganz fremd mit den Eigenthümlichkeiten des Ostens wandt' ich mich zur Sprache, in so fern es unerläßlich war jene Luft zu athmen, sogar zur Schrift mit ihren Eigenheiten und Verzierungen.69
Offenkundig stand die „Patriarchenluft" der Hegire, die „zu kosten" das lyrische Ich sich dereinst gen Osten aufgemacht hat, für diesen Versuch einer nachträglichen Stiftung von Autor-Werk-Kohärenzen Pate. Und ebenso offensichtlich handelt es sich auch beim hier beschriebenen Projekt unmittelbarer Witterungsaufnahme noch immer um uneigentliche 67 Birus: Goethes imaginativer Orientalismus, S. 114 ff. Grundlegend dazu Waltraud NaumannBeyer: „Anschauung". In: Goethe-Handbuch in vier Bänden. Bd. 4/1. Hrsg. v. Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto. Stuttgart/ Weimar 1998, S. 50-52. 68 Vgl. Werner Keller: Goethes dichterische Bildlichkeit. Eine Grundlegung. München 1972, S. 21 u. 237-280; in seiner Nachfolge Anke Bosse: „Magische Präsenz. Zur Funktion von Schrift und Ornament in Goethes West-östlichem Divan". In: Arcadia. Zeitschrift für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 33 (1998), S. 314-336, hier: S. 319. 69 Tag- und Jahreshefte auf das Jahr 1815 (Goethe HA 10, S. 514).
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Rede. Doch deuten die Sätze an, wie ernst es Goethe mit der Idee seiner eigenen sinnlichen Erfahrung des Orients war. Auch enthält der Satz einen ersten Hinweis auf das Spezifikum der Goetheschen Annäherung an den Orient, denn die patriarchalische Luft des Ostens wird verströmt von der orientalischen Sprache und Schrift und der in ihr und mittels ihrer verfaßten orientalischen Literatur. Sie bilden das Tor, durch welches Goethe den Orient betritt. In den Noten und Abhandlungen setzt er seine oben bereits zitierte programmatische Rede von der Notwendigkeit sich zu „orientalisiren" fort und gibt erste Hinweise darauf, wie eine solche Akkulturati'on vonstatten gehen kann: Und obgleich Uebersetzungen hoch löblich sind um uns anzulocken, einzuleiten, so ist doch aus allem Vorigen ersichtlich, daß in dieser Literatur die Sprache als Sprache die erste Rolle spielt. Wer möchte sich nicht mit diesen Schätzen an der Quelle bekannt machen!70
Das Projekt des Sich-Orientalisierens und damit die gesamte Hinwendung zum Orient ist also tatsächlich eine rein sprachliche - wiewohl nicht gleichzeitig eine begriffliche. Denn wo „die Sprache als Sprache" in den Vordergrund tritt — zumal unter besonderer Privilegierung des „gesprochen Wort[es]" -, da hat gerade das von aller Referentialität entbundene Sprachmaterial seinen großen Auftritt. Klang, Rhythmus, Reim, Ähnlichkeit in der Wortbildung formulieren die Regeln der Ordnung. Und diese Regeln sind sinnlicher, nicht begrifflicher Natur. Eben sie sieht Goethe also in der orientalischen Literatur am Werke. Diese Welt der Sprache als Sprache ist sein Reiseziel, in sie will er eindringen — und zwar nicht über den Umweg der Übersetzung. Wie die Ethnologen unserer Tage geht es dem Dichter um einen direkten Zugang zur Zielkultur. Allerdings leitet ihn der Weg in eine zeitliche und nicht in eine räumliche Ferne, und so öffnet er die einzig mögliche Tür, die ihn in die Vergangenheit führt: die der „Quellen". Was eben noch als ethnologisches Projekt teilnehmender Beobachtung erschien, erweist sich hier als philologische Praxis: Der Philologe ist der Zeit-Reisende par excellence. Und für ihn ist die zeitliche Ferne allein durch Texte erreichbar; aber eben nicht durch beliebige, sondern durch „Quellen"-Texte, durch die Aura des Originals. Sie ist der einzige Weg, den Graben zwischen heute und damals zu überwinden. Übersetzungen, Bearbeitungen können Anreiz sein, die Zeitreise anzutreten, aber sie führen nicht zum Ziel. Goethe bedient sich also zunächst eines philologischen Verfahrens. Über den Kontakt mit den Quellen und der Aura des Originals kommt er dem Orient näher und kann sich mit ihm „bekannt machen".
70 Goethe FA 13.l, S. 200.
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Doch - wie oben gesehen - bleibt es nicht beim Kennenlernen. stitutiv für Goethes Sprecherposition als west-östlicher Dichter ist seine Behauptung, er habe den Orient nicht nur betreten, sondern sich ihm anverwandelt, sei selbst ein Teil von ihm geworden. So wie der Orient des Divan zwischen zeitlicher und räumlicher Ferne oszilliert, verfolgt auch Goethe in den Vorarbeiten zum Divan und in der Gedichtsammlung selbst ein doppeltes Projekt: das Unternehmen einer philo-ethnologischen Akkulturation. Er durchschreitet Zeit und Raum, Text und Kontext; und zwar über das Medium des originalen, geschriebenen Wortes. Allerdings verfährt Goethe mit seinen schriftlichen „Quellen" — und darin liegt die Verbindung zum ethnologischen Teil seines Projekts — nicht nach philologischen Regeln.
6.2.2 Die unlesbare Schrift I Um welche Quellen es sich bei den Texten handelte, durch die Goethe unter Verzicht auf Übersetzungen sich mit den „Schätzen" des Orients bekannt machte, läßt sich vergleichsweise leicht nachvollziehen. Im Rückblick auf das Jahr 1814 schreibt Goethe im Januar 1815 an Christian Gottlob Voigt, er sei „zufällig genug [...] nach dem Orient hingeführt worden" und so sei es ihm nun „sehr angenehm, den Grund einer kleinen orientalischen Bibliothek hier gelegt zu sehen".71 Wie der Dichter selbst war auch Voigt zu jener Zeit Mitglied der Aufsichtskommission über die Weimarer Hofbibliothek, und mit dem hier genannten „Zufall" ist der Leipziger Kunsthändler Johann Gottlob Stimmel angespielt, der sich aufgrund seiner kriegsbedingt miserablen Finanzlage zu Beginn des Jahres 1814 entschlossen hatte, Teile seiner Bestände zu veräußern. Und so erreichte Goethe im März eine „Kamels-Last von Blättern und Bänden",72 namentlich von Kupferstichen und Drucken, die auch arabische und persische Handschriften sowie ein chinesisches Buch enthielt, zusammen mit dem Verkaufsangebot Stimmels.73 Zunächst war Goethe wenig erbaut über das vorauseilende Engagement des Kunsthändlers, welches dieser ,,[a]uf eine sehr mäßige Veranlassung" hin und noch dazu in besagtem Umfang an den Tag legte.74 Dennoch versäumte er es nicht, vom Eingang der Lieferung an über Inhalt und Verbleib der Kunstwerke, Bücher und Handschriften Buch zu führen und auch über die Orientalia Expertisen einzu-
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Geothe an G.G. Voigt v. 10. Januar 1815 (Goethe WA IV 25, S. 141). Goethe an J.H. Meyer v. 7. März 1814 (Goethe WA IV 24, S. 187). Vgl. Bosse: Schatzkammer I, S. 120. Goethe an J.H. Meyer v. 7. März 1814 (Goethe WA IV 24, S. 187).
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holen.75 So schickte er noch im März 1814 das Verzeichnis der „arabischen" Handschriften — so die Goethesche Bezeichnung —, welches der Stimmelschen Sendung beilag, umgehend an den Orientalisten Lorsbach mit der Bitte um Aufschluß über Gehalt und Alter der Schriften.76 Von ihm erfuhr er dann auch, daß es sich bei den aufgeführten Schriften nicht um arabische, sondern vornehmlich um persische Manuskripte handelte. Schließlich läßt Goethe Lorsbach die Handschriften selbst zukommen und im Dezember 1814 erreicht ihn dessen Gutachten.77 Demzufolge bestand die Stimmeische Sammlung aus einem Korpus von Texten, die sich in Umfang, Sprache und Inhalt jeweils stark voneinander unterschieden. Unter den 33 numerierten und vier nicht numerierten Schriften sind Gedichtbände - unter anderem eine Anthologie berühmter Dichter des persischen Mittelalters, die auch Gedichte des Hafis enthält -, osmanische Schriften, arabische Abhandlungen und Gebete in allen drei Sprachen. Zwei Manuskripte werden von Lorsbach aufgrund ihrer aufwendigen Gestaltung besonders hervorgehoben: eine prachtvoll kalligraphierte Abschrift des Matnam-ye Mcfnawi, einer religiös-philosophischen Dichtung des mittelalterlichen persischen Dichters und Mystikers Mawlänä Rumi, deren Wert Lorsbach mit der ansehnlichen Summe von 150 Talern Sächsisch veranschlagt, und das Werk Tohfat ahra des Persers Gämi in einer äußerst prachtvollen, aber sehr ramponierten Ausgabe, die Lorsbach dennoch auf immerhin 40 Taler schätzt. Der Orientalist votiert für einen Kauf und äußert — nach Darstellung Goethes - den Wunsch, „daß sie [...] zum Grunde einer orientalischen Manuscript-Sammlung gelegt würden".78 Zwar bemüht sich Goethe bereits wenige Tage später in einem Brief an Stimmel um den Erwerb der Handschriften, allerdings fehlen in dieser Korrespondenz jegliche Indizien für ein persönliches Engagement oder auch nur für ein besonders ausgeprägtes Interesse seitens des Dichters. Er bietet dem Kunsthändler ganze 100 Taler für sämtliche Orientalia an — Lorsbach hatte den Wert der fünf persischen Manuskripte allein bereits auf 270 Taler geschätzt, die übrigen 37 arabischen und osmanischen Schriften nicht mitgerechnet. Daß Goethe um die Unangemessenheit eines solchen Angebotes wußte, und durchaus das Risiko einer Absage Stimmeis und damit des Verlusts der Handschriften für die Wei75 Hugo Wernekke hat diese Vermerke chronologisch in einem kleinen Aufsatz zusammengestellt und kommentiert. Vgl. Hugo Wernekke: „Goethe und die orientalischen Handschriften der Weimarer Bibliothek". In: Zuwachs der Großbemyglichen Bibliothek ^u Weimar 1908-1910. Weimar 1911, S. IX - XXVII. 76 Vgl. Wernekke: Goethe und die onentalischen Handschrißen der Weimarer Bibliothek, S. XIIIXV. 77 Ebenfalls abgedruckt in Wernekke: Goethe und die orientalischen Handschriften der Weimarer Bibliothek,?,. XVff. 78 Wernekke: Goethe und die orientalischen Handschrifien der Weimarer Bibliothek, S. XIX.
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marer Bibliothek einzugehen bereit war, wird in einem Brief an Voigt vom 28. Dezember 1814 deutlich: Daß 100 [Taler] ein geringes Gebot für die Manuscripte sey, gestehe ich selbst, allein solche Curiosa will man nicht um einen hohen Preis erkaufen. Vielleicht vergönnen Sie, daß man ihm 150 [Taler] biete; kann er sie dann nicht ablassen, so sendete man sie zurück.79
Hier ist also nicht viel zu spüren von einer Euphorie angesichts der auratischen Originale, die als wenig mehr erscheinen denn als potentielle Exponate eines Raritätenkabinetts. Diese „Begegnung" des Dichters mit dem Orient scheint keinen direkten Eindruck auf ihn gemacht zu haben, und es zeigt sich einmal mehr, wie wenig dienlich das in der Forschung so anhaltend bemühte (Sprach-)Bild von der „Begegnung mit dem Fremden" für eine Analyse des Orientalismus ist: Hier gibt es einen Kulturkontakt, doch zeitigt er keine unmittelbare Reaktion. Auch im Kontext der Goetheschen Orient-Rezeption greift also offenbar die systemtheoretische Grundregel der Autopoiesis, nach der das System äußere Reize nicht eins zu eins aufnimmt und verarbeitet, sondern äußere Eingaben nach eigener Maßgabe prozessiert. Ein Aspekt der späteren philo-ethnologischen Strategie des west-östlichen Dichters läßt sich allerdings bereits in diesem Brief ausmachen — wenn auch ausgesprochen pragmatisch gewendet. Goethe führt den Fall eines Scheiterns des Ankaufs weiter aus und schreibt mit bestechendem Optimismus: „Man hätte das Ansehen umsonst gehabt, und wäre doch dadurch mit dem guten Lorsbach in ein näheres Verhältnis getreten."80 Von dem für seine weiteren Orient-Studien in der Tat sehr nützlichen näheren Kontakt zu Kirchenrat Lorsbach einmal abgesehen, ist es besonders der Rekurs auf das „Ansehen", der hier interessiert. Und zum Anschauen der Manuskripte hatte Goethe während der zehn Monate, die sie in Weimar lagen, bereits Gelegenheit. Doch auch nachdem Stimmel nach längeren Verhandlungen auf das Angebot von 150 Talern letztlich eingeht und die Weimarer Bibliothek zur tatsächlichen Besitzerin der Schriften wird, bleibt das Anschauen im Sinne der Rezeption von visueller Gestalt der primäre — und zunächst auch der einzige — Zugang Goethes zu seinen „Quellen". Denn die Rede vom „Ansehen" ist in diesem Kontext durchaus wörtlich aufzufassen und keineswegs gleichzusetzen mit Lektüre. Goethe hat die Quellentexte nicht gelesen, weil er deren Sprachen nicht beherrschte und sie auch bis zu seinem Lebensende nicht erlernte. So schreibt er am 10. Januar 1815 an Voigt über die Persica der Bibliothek:
79 An Voigt v. 28. Dezember 1814, zit. nach: Wernekke: Goethe und die orientalischen Handschriften der Weimarer Bibliothek, S. XIX. 80 Wernekke: Goethe und die orientalischen Handschriften der Weimarer Bibliothek, S. XIX f.
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[...] man muß dergleichen Handschriften wenigstens sehen, wenn man sie auch nicht lesen kann, um sich einen Begriff von der orientalischen Poesie und Literatur zu machen.81
Wo Goethe Orientalia tatsächlich las - wie etwa seit Mai 1814 die GhaselSammlung des persischen Dichters Mohammed Schamseddin Hafis -, konsultierte er eben jene Übersetzungen, denen er in seinen Noten und Abhandlungen, wie oben gesehen, allein den Status eines Anreizes für die eigentliche, originale Beschäftigung mit dem Orient zubilligte. Daß dennoch einige seiner Zeitgenossen und auch Teile der frühen Forschung der Annahme waren, Goethe sei des Arabischen und/ oder Persischen mächtig gewesen, ist indes nicht allein auf den Mythos vom Universalgenie Goethe zurückzuführen.82 Vielmehr erweist sich bei näherem Studium der späteren Selbstzeugnisse zur Entstehung des Divan der Eindruck einer orientalischen Sprachkompetenz des Dichters als Effekt einer subtilen Strategie zur Gestaltung der eigenen Autorposition. Daß die orientalischen Sprachen dabei einen wichtigen Bezugspunkt darstellen, kann schon allein deshalb nicht verwundern, weil sich der Autor des West-östlichen Oivan — wie im Kapitel 2.2 dieser Arbeit dargestellt - auf einem sich ausdifferenzierenden Feld des Wissens positionieren muß, dessen Spezialisierungswege gerade entlang von Sprachgrenzen verlaufen. Mit der Orientalistik entsteht aus dem philologischen Zweig der protestantischen Theologie eine eigene philologische Wissenschaft, und entsprechend wird die Kenntnis der orientalischen Sprachen zum obersten Kriterium orientalistischer Kompetenz eine Tradition des Fachs, die sich bis heute gehalten hat. Wenn es also zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen neuralgischen Punkt für die Konstitution einer west-östlichen Autorschaft gibt, dann liegt sie in der Sprachkompetenz. Nun findet sich in Goethes Schriften an keiner Stelle die explizite Behauptung, er sei des Arabischen, Persischen oder Osmanischen mächtig gewesen. Statt dessen verfolgt er in seinen Publikationen, und zwar vornehmlich in seinen autobiographischen, eine Strategie der Öffnung von Deutungsmöglichkeiten. Ein Beispiel aus den Tag- und Jahresheften 1815 zeigt, wie sensibel der Dichter dabei vorgeht. In seinen rückblickenden Schilderungen des Eindrucks, den der Divan des Hafis auf ihn gemacht hat, ist es allein die Reihenfolge der Satzteile, welche suggeriert, er habe jene Gedichtsammlung trotz Kenntnis der Übersetzung im Original gelesen: [...] ich mußte mich dagegen producüv verhalten, weil ich sonst vor der mächtigen Erscheinung nicht hätte bestehen können. Die Einwirkung war zu lebhaft, die deutsche Übersetzung lag vor, und ich mußte also hier Veranlassung finden zu eigener Theilnahme.83 81 Goethe an G.G. Voigt v. 10. Januar 1815 (Goethe WA IV 25, S. 141). 82 Vgl. die kritische Zusammenschau in Bosse: Schatzkammer II, S. 591 f. 83 Goethe WA 136, S. 91.
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Selbstverständlich gab es keinerlei „Einwirkung" des Hafisischen Divan auf Goethe jenseits seiner deutschen Übersetzung. Die Übersetzung durch von Hammer war nicht allein „Veranlassung", sondern Bedingung der Möglichkeit einer Auseinandersetzung des Dichters mit seinem - wie er es wahrnahm - persischen Pendant.84 Ein weiteres Beispiel mag einen Eindruck von der Systematik vermitteln, mit welcher Goethe diese sublime Strategie der Selbstinszenierung verfolgt. Der oben schon zitierte Auszug aus den Tag und Jahresheften desselben Jahres, in welchem Sprache und Schrift explizit als Zugang zum Osten genannt werden, lautet vollständig: [...] wandt' ich mich zur Sprache, in so fern es unerläßlich war jene Luft zu athmen, sogar zur Schrift mit ihren Eigenheiten und Verzierungen. Ich rief die 3 ^3 $ 85 hervor, deren ich einige gleich nach ihrer Erscheinung übersetzt hatte.
Von den Moallakat, jener berühmten, ältesten Sammlung arabischer Dichtung aus vorislamischer Zeit,86 denen Goethe auch einige Seiten seiner Noten und Abhandlungen widmet,87 hatte er in der Tat einige Verse exzerpiert und ins Deutsche übertragen;88 dies allerdings aus der englischen Übersetzung durch William Jones,89 die er bereits im November 1783 entdeckt hatte, nicht aus dem Arabischen.90 Zudem war seit 1802 die
84 Zu Goethes Verhältnis zu Hafis und seiner Dichtung vgl. die beiden ausführlichen Beiträge von Johann Christoph Bürgel: „Goethe und Hafis". In: ders.: Drei HaßsStudien: Goethe und Hafis, Verstand und Uebe bei Hafis. Zwölf Ghaselen übertragen und interpretiert. Frankfurt a. M./ Bern 1975, S. 5-41 sowie ders.: „,Wie du zu lieben und zu trinken"'. Zum Hafis-Verständnis Goethes. In: Anselm Maler (Hrsg.): Johann Wolfgang Goethe. Fünf Studien ^um Werk. Frankfurt a. M./ Bern 1983, S. 115-141. Bürgels wichtigste Beobachtungen finden sich noch einmal zusammengefaßt in: ders.: „Der östliche Zwilling. Gedanken über Goethe und Hafis". In: Spektrum Iran 2 (1989), H. 2, S. 3-19; Gisela Henckmann: Gespräch und Geselligkeit in Goethes „West-östlichem Divan". Stuttgart 1975, S. 125-140. 85 Goethe WA 136, S. 91. 86 Der Begriff „Moallakat" (arab. al-mifallaqät) steht bereits in der Pluralform und bedeutet wörtlich „die Aufgehängten", was die - lange auch unter europäischen Frühorientalisten verbreitete - Vorstellung anspielt, diese altarabischen Kassiden seien ursprünglich an der Kaaba in Mekka aufgehängt gewesen. Vgl. dazu Art. „Al-Mucallakät". In: The Encyclopedia of Islam. New Edition. Bd. 7. Leiden/ New York 1993, S. 254 f. 87 Vgl. das Kapitel Araber I 3.1, S. 141-148). 88 Vgl. dazu Katharina Mommsen: Goethe und die Moallakat. Berlin 21961 sowie dies.: Goethe und die Arabische Welt. Frankfurt a. M. 1988, S. 51-156. Goethe FA I 3.1, S. 674 f. 89 The Moallakat or Seven Arabian Poems, which were suspended on the Temple at Mecca. With a Translation and Arguments by William Jones. London 1783. 90 Vgl. zusammenfassend Bosse: Schatzkammer}, S. 64. Die erste der Moallakat hatte Goethe bereits im November 1783 aus dem Englischen übersetzt. Im Frühjahr 1815 griff er dann noch einmal zu d'Herbelots Eibliotheque orientate, faßte den Artikel „Mo'allacat" zusammen und notierte in seinen Exzerpten: „Moallakat/ Sieben Gedichte, sieben trefflicher Dichter,/ Preisgekrönte Arbeiten./ Aufgehangen nach u. nach an der Thüre der Kaaba/ Aus der ersten Zeit/ AI Giaheliatj Die Zeit der Unwissenheit." (Goethe FA I 3.1, S. 674f.; FA I 3.2, S. 1815; MA 11.I.2, S. 746f.)
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deutsche Übersetzung von Anton Theodor Hartmann unter dem Titel Die bestrahlenden Plejaden am arabischen poetischen Himmel oder die sieben am Tempel %u Mekka aufgehangenen arabischen Gedichte auf dem Markt, mit der sich Goethe nachweislich seit dem 23.2.1815 auseinandersetzte.91 Ohne jeden Zusatz und in direkter texdicher Folge auf die Nennung der orientalischen Sprache und Schrift, muß die Rede vom „Übersetzen" der Moallakat jedoch den Eindruck erwecken, Goethe habe die Gedichte aus der Originalsprache übertragen. Als ausgesprochen subtil erweist sich also auch diese Selbstbeschreibung. Wieder fehlt die explizite Behauptung orientalischer Sprachkompetenz, und erneut ist es das Syntagma des Textes — die Kollokation der Beschreibung einer Hinwendung zur (orientalischen) Sprache und der Nennung der Moallakat in Verbindung mit dem Verb ,übersetzen' —, welches gleichzeitig das Vorhandensein eben jener Kompetenz suggeriert. Allerdings läßt sich aus diesem Befund nicht ableiten, Goethes oben skizzierte Programmatik des auratischen Originals als einzigen Weg sich zu „orientalisiren" und mithin die dichterische Gesamtgeste eines Orient-Reisenden, der — abseits der Pfade des enzyklopädischen Wissens — in dieses Land tatsächlich eingedrungen ist, sei ebenfalls nichts weiter als eine (mehr oder weniger poetische) Selbstinszenierung. Denn zum einen ist diese Strategie virtueller Aufwertung der eigenen orientalistischen Kompetenz eine Besonderheit der Goetheschen Rückschau auf die Jahre 1814-1819 — und zwar allein der zu Lebzeiten veröffentlichten. In den Briefen oder Tagebüchern dieser Zeit selbst sucht man Ahnliches ebenso vergeblich wie in privat kommunizierten Rückblicken auf die D/y#»-Zeit. Hier läßt Goethe keinen Zweifel an seiner Unkenntnis der Sprachen und macht aus seinem philologischen Dilettantismus keinen Hehl.92 Auch läßt er es keineswegs an Respekt mangeln vor dem, was er nicht weiß, konsultiert er doch während der gesamten Arbeit am Divan und den Noten und Abhandlungen neben einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Schriften kontinuierlich Fachleute, von denen er zweien - von Diez und von Hammer - am Schluß der Noten sogar eigene Kapitel widmet. Zum anderen aber ist die Idee der auratischen Handschrift als Zugang zum Orient tatsächlich ein eminenter Bestandteil der Entstehung und Poetologie von Goethes West-östlichem Divan. Die Unlesbarkeit der Schrift — und das ist das Entscheidende — stellt in dieser Konzeption kein Hindernis dar, sondern erweist sich gerade als Bedingung der Möglichkeit des Zugangs. Auch Bosse konstatiert: Entscheidend ist, daß Goethe die arabische Sprache nicht erlernte, also die konventionalisierten Bedeutungen des sprachlichen Zeichens, und daß dies offensicht-
91 Vgl. Goethe FA I 3.2, S. 1413 f. 92 Vgl. Bosse: Schatzkammer II, S. 591 f.
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Orientalismus von Fall zu Fall lieh gerade die Voraussetzung dafür war, daß er so euphorisch auf die pure Materialität der arabischen Buchstaben reagieren konnte.93
Goethe unternimmt Spezifischeres mit der arabischen Schrift, als sie nicht zu lesen, und er tut dies ausgehend von einer ebenso spezifischen Vorstellung vom Wesen dieser Sprache. Beides faßt er in einem Brief an Christian Heinrich Schlosser vom 23. Januar 1815 zusammen, in welchem er seinem Freund den Verlauf seiner Orient-Studien skizziert. Diese Darstellung gipfelt in den Sätzen: Wenig fehlt, daß ich noch arabisch lerne, wenigstens soviel will ich mich in den Schreibezügen üben, daß ich die Amulette, Talismane, Abraxas und Siegel in der Urschrift nachbilden kann. - In keiner Sprache ist vielleicht Geist, Wort und Schrift so uranfänglich zusammengekörpert.94
Goethes Wunsch, die arabische Schrift „nachbilden" zu können, leitet sich also ab von einer Verbindung zwischen „Geist, Wort und Schrift", wie sie ihm in dieser Sprache auf besondere Weise gegeben zu sein scheint. Mit „Wort" meint Goethe nicht das Einzelwort (PL ..Wörter*), denn das schließt seine schriftliche Realisierung bereits mit ein oder ist zu ihr zumindest nicht sinnvoll in Opposition zu setzen. Vielmehr aktualisiert er hier die zweite Bedeutungsvariante des Begriffs im Deutschen: ,Wort' (Pl. ,Worte') als ,Redec im Sinne von gesprochener Sprache.95 In der Abfolge der drei Substantive wird von Goethe somit eine Stufung innerhalb der Sprache markiert vom Abstrakt-Transzendentalen über den Klang hin zur visuell wahrnehmbaren Materialität. Die Schrift ist dabei Ausgangs- und Fluchtpunkt. Sowohl Anke Bosse als auch Lutz Köpnick und Gerhard von Graevenitz haben Versuche unternommen, diese Schrift-Konzeption und ihre Funktion für den Divan zu bestimmen und dabei interessante Deutungsansätze formuliert. Bevor wir jedoch den Sprung in die Diskussion der Frage wagen, ob es sich bei der arabischen Schrift in Goethes Poetologie um eine Substitution oder Sublimation des dichterischen Ichs handelt,96 um die „Chiffre einer von Repräsentationszwängen befreiten, 93 Bosse: Magische Prosen^ S. 319. Hervorh. i. O. 94 Goethe an Christian Heinrich Schlosser v. 23. Januar 1815 (Goethe WA IV 25, S. 165). 95 Sieht man einmal vom Anfang des Johannes-Evangelium ab (Joh 1,1-3 und 1,14 ), wo sich die Frage nach dem .Wort' exegetisch und dogmatisch um einiges komplizierter darstellt, ist die Verwendung dieser zweiten, von Goethe gebrauchten Begriffsbelegung gerade in der Bibel gut nachzuvollziehen. Wenn etwa der Hauptmann zu Kapernaum zu Jesus den, in abgewandelter Form besonders für die katholische Liturgie so einflußreichen, Satz sagt: „HERR, ich bin nicht wert, daß du unter mein Dach gehest; sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund." (Mt 8,7), oder wenn von den Prophetenbüchern die Mahnung ausgeht: „Höret des HERRN Wort" (Jer 7,2; 17,20), dann meint das jedes Mal Rede als gesprochene Sprache und kein Einzelwort. 96 Bosse: Magische Prosen^, hier S. 333.
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nicht instrumenteilen Dichtungsweise"97 oder um die Geste eines frühen und daher von den Zeitgenossen unverstandenen Jacques Derrida, der mit seiner Gedichtsammlung „der neuen Massenschrifdichkeit die frühneuzeitlichen Grundlagen ihres Schrift-Begriffs vor Augen" hält,98 sei zunächst das Experiment unternommen, diesen letzten Goetheschen Satz beim Wort zu nehmen. Im Lichte dessen, was Goethe ganz konkret von der arabischen Sprache wußte, läßt sich nämlich die Genese seiner Idee von einer besonderen Beziehung zwischen Schrift und gesprochenem Wort ohne Rückgriff auf das Verfahren der Allegorese nachvollziehen. Zwar war er des Arabischen nicht mächtig, doch hatte er in den Jahren 1814 und 1815 mehrfach arabische Grammatiken konsultiert" und wußte überdies von der Strukturanalogie dieser Sprache zum Hebräischen. Letzteres zu lernen hatte er sich in jungen Jahren angeschickt und diesen Umstand nicht lange vor Beginn seiner Arbeit am Divan im vierten Buch des ersten Teils seiner Lebenserinnerungen noch einmal ausführlich dokumentiert.1(X) Diese lange Passage in Dichtung und Wahrheit ist in diesem Zusammenhang höchst aufschlußreich. Denn hier schildert Goethe eindrücklich sein Befremden angesichts der hebräischen Schrift. Waren ihm nach eigenem Bekunden die Buchstaben des Alphabets durchaus eingängig, so frappierte ihn die Erkenntnis, daß zum Lesen dieser Schrift „ein neues Heer von kleinen Buchstäbchen und Zeichen" notwendig war, ohne die ein Entziffern des Geschriebenen „nur von Gelehrten und den Geübtesten geleistet werden" könne, während das Volk Israel jedoch „wirklich sich mit jenen ersten Zeichen begnügt und keine andere Art zu schreiben und zu lesen gekannt habe".101 Der junge Goethe hatte hier die irritierende Entdeckung gemacht, daß es sich bei der hebräischen Schrift gar nicht um eine Alphabetschrift handelte. Im Hebräischen wurden ursprünglich ausschließlich Konsonanten geschrieben, später zusätzlich auch die langen Vokale. Die kurzen Vokale aber wurden nicht mit einem Buchstaben markiert, sondern allein durch fakultative Zusatzzeichen über den entsprechenden Konsonanten angegeben. Sie bilden das besagte „Heer von Buchstäbchen". Leser, welche die Sprache nicht bereits beherrschen, sind ohne diese Zusatzzeichen nicht in der Lage, einem geschriebenen Wort sein entsprechendes Klangbild zuzu97 Lutz Köpnick: „Goethes Ikonisierung der Poesie. Zur Schriftmagie im West-östlichen Divan". In: Deutsche Vierteljahrsschriftßir Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 66 (1992), S. 361-389, hier: S. 361. 98 Gerhart von Graevenitz: Das Ornament des Blicks, Über tue Grundlagen des neuzeitlichen Sehens, die Poetik der Arabeske und Goethes West-östlicher Divan. Stuttgart 1994, S. 4. 99 Die Tag- und Jahres-Heße auf das Jahr 1818 nennen „Michaelis Arabische Grammatik" (Goethe WA I 36, S. 136). 100 Vgl. Goethe FA I 14, S. 140ff. 101 Goethe FA I 14, S. 140.
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weisen — es also zu lesen. Johann Gottfried Herder, als protestantischer Theologe dieser Sprache selbstverständlich mächtig, hatte sich bereits in seiner Preisschrift Über den Ursprung der Sprache mit dieser Art der Notation beschäftigt und zur hebräischen Schrift angemerkt: Woher kommt die Sonderbarkeit, daß ihre Buchstaben nur Mitlauter sind und daß eben die Elemente der Worte, auf die alles ankommt, die Selbstlauter, ursprünglich gar nicht geschrieben wurden. [...] Warum? Weil sie nicht geschrieben werden konnten. Ihre Aussprache war so lebendig und feinorganisiert, ihr Hauch war so geistig und ätherisch, daß er verduftete und sich nicht in Buchstaben fassen ließ. Nur erst bei den Griechen wurden diese lebendige Aspirationen in förmliche Vokale aufgefädelt, denen doch noch Spiritus usw. zu Hülfe kommen mußten, da bei den Morgenländern die Rede gleichsam ganz Spiritus, fortgehender Hauch und Geist des Mundes war, wie sie sie auch so oft in ihren malenden Gedichten benennen. Es war Odem Gottes, wehende Luft, die das Ohr aufhaschete, und die toten Buchstaben, die sie hinmaleten, waren nur der Leichnam, der lesend mit Lebensgeist beseelet werden mußte.1112
Nach demselben Prinzip funktioniert auch die arabische Schrift. Und obwohl Goethe von dieser Sprache nicht mehr als eine vage Ahnung hatte, so wußte er doch mit Sicherheit um die Parallele. Auch die arabische Schrift ist eine Konsonantenschrift, auch hier werden kurze Vokale nicht als Buchstaben realisiert, sondern in Form jener fakultativen Vokalisationszeichen über (und unter) die Schrift gesetzt, so daß die Textoberfläche in erster Linie durch die Notation von selbst nicht klingenden Lauten bestimmt wird. Von dem Wissen um das Funktionieren der arabischen Schrift her erschließt sich, was der Dichter im Sinn hatte, als er davon sprach, im Arabischen seien Wort und Schrift in besonderer Weise „zusammengekörpert". In Goethes Logik formuliert, wohnt der vom Vokal getragene Klang des Wortes der Schrift gleichsam inne, ist unsichtbar in ihr (und daher untrennbar von ihr) geborgen anstatt auf der Textoberfläche in der linearen Abfolge der Buchstaben explizit zu werden, womit die arabische Schrift dem Wortklang noch auf gänzlich andere Weise verwiesen ist als die lateinische. Die Körpermetapher des Goetheschen Neologismus ist also durchaus motiviert. In seinem Sprachmodell blickt er nicht vom gesprochenen Wort aus auf die Schrift, um dort eine rudimentäre Notation des Klangs zu finden, sondern betrachtet von der Schrift aus das gesprochene Wort und entdeckt eine in der Materialität der Schrift verborgene Klangfülle. Es ist das Prinzip der Inkorporation anstelle der Repräsentation, das Goethe im Verhältnis von Schrift und Wort der arabischen Spra-
102 Johann Gottfried Herder: Ober den Ursprung der Sprache. In: Herders Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur. Berlin/ Weimar 1978, Bd. 2, S. 98.
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ehe zu erkennen meint. Einige Jahre später hat er in einem anderen Sachzusammenhang ein Sprachbild geschaffen, das illustriert, wie er das Prinzip der Zusammenkörperung denkt. In Über Kunst und Altertum. Dritten Bandes erstes Heft 1821 schreibt er zur Kunstform der Ballade: Hat man sich mit ihr vollkommen befreundet, wie es bei uns Deutschen wohl der Fall ist, so sind die Balladen aller Völker verständlich, weil die Geister in gewissen Zeitaltern entweder contemporan oder successiv bei gleichem Geschäft immer gleichartig verfahren. Übrigens ließe sich an einer Auswahl solcher Gedichte die ganze Poetik gar wohl vortragen, weil hier die Elemente noch nicht getrennt, sondern wie in einem lebendigen Ur-Ei zusammen sind, das nur bebrütet werden darf, um als herrlichstes Phänomen auf Goldflügeln in die Lüfte zu steigen.103
So wie Goethe alle Elemente der Poetik - gemeint sind hier die „Naturformen" Lyrik, Epik und Dramatik — in der Ballade „noch nicht getrennt" sieht, findet er im Arabischen die sinnlichen Dimensionen der Sprache, Wort und Schrift, „in einem lebendigen Ur-Ei" mit dem Geist „uranfänglich" zusammengefaßt. Was genau Goethe mit dem Begriff „Geist" meint, läßt sich im Kontext dieser Textstellen schwerlich klären. Offenbar faßt er darunter aber eine weiter reichende Größe als ,Sinn' oder ,Bedeutung' der Sprache. Das Attribut „uranfänglich" jedenfalls — und es ist ja gerade das Maß an Uranfänglichkeit, welches die Verbindung der drei sprachlichen Dimensionen im Arabischen von derjenigen anderer Sprachen unterscheidet — steht in direkter semantischer Linie mit dem bereits genannten Pathos der Frühe, das Goethes Orient durchgängig anhaftet. Das läßt vermuten, daß er in der arabischen Sprache den Geist der orientalischen Kultur selbst inkorporiert wähnt. Das Arabische als pars pro Mo für den gesamten Teil des Orients zu setzen, den Goethe sich hier wählt, verliert allen Anschein von Mutwilligkeit, wenn man wie der Dichter die Schrift als Kriterium primär setzt: Der arabischen Schrift nämlich bedienen sich auch das Persische und das Osmanische. Die verschiedensprachigen Manuskripte der Stimmeischen Sammlung sind also alle in arabischer Schrift geschrieben — und es fehlen Hinweise darauf, daß Goethe beim „Ansehen" seiner Quellen die Sprachen zu unterscheiden in der Lage war. Beim Betrachten der Handschriften entrollte sich vor seinen Augen — um im Orientbild zu bleiben — ein Schrift-Teppich, dem er Wort und orientalischen Geist gleichermaßen eingekörpert sah. Und noch etwas zeichnet diese Schrift für ihn aus. Besonders angesichts der persischen Handschriften zeigt er sich höchst beeindruckt von deren aufwendiger ornamentaler Gestaltung, die er sofort als Ausdruck eines bestimmten Sinns deutet. Am 10. Januar 1815 schreibt er an Voigt: 103 Goethe WA 141.l, S. 224.
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Orientalismus von Fall zu Fall Die unendliche Verehrung gegen ihre Dichter, Weltweisen und Gottesgelehrten, sowie die größte Geduld und Sorgfalt drücken sich in diesen Handschriften aus.104
Diese Art graphischer Aufwertung von Texten kannte Goethe bislang wohl allein aus aufwendig gestalteten Bibeln; die Möglichkeit einer solchen quasi-sakralen Verehrung von profanen Texten, gar von Dichtung — und seine Auflistung wird nicht zufallig von den Dichtern eingeleitet —, durch Schrift und Ornament faszinierte ihn nachhaltig. Und im Vorfeld der Drucklegung des Divan verwandte er viel Zeit und Mühe darauf, zumindest das Titelblatt seiner Sammlung diesen Vorlagen analog zu entwerfen.105 In der Schriftgestaltung drückt sich für Goethe die nachhaltige Verehrung der Orientalen für ihre Dichter aus, und um diese angesichts der Handschriften wahrzunehmen, ist ihm Sprachkompetenz nicht vonnöten. Das Ornament ist übersprachlich, kann — als Bild - angeschaut und muß nicht gelesen werden. So ist es wenig überraschend, daß die vergleichsweise wenigen Arbeiten zur Bedeutung der Schrift im Divan den argumentativen Weg über das Ornament nehmen und von dort aus zu der These gelangen, der ikonische Charakter der kalligraphischen Schrift sei der Schlüssel Goethes zum Orient und der unsere zum Verständnis des Oivan und seiner Poetik.106 Besonders angesichts des Ikonoklasmus im sunnitischen Islam107 und der damit verbundenen Aufwertung der Schrift als bildnerischem Gestaltungsmittel hat diese kultursemiotische Argumentation etwas Bestechendes.108 Doch in der Goetheschen Argumentation und in seiner Schrift-Praxis finden sich diese Bezüge nicht. In seiner Konzeption sind die Phänomene Schrift und Ornament kategorial voneinander geschieden, und nur in der Kollokation verbunden. Die ornamentalen, selbst nicht aus Schrift bestehenden Verzierungen der arabisch-persisch-osmanischen Handschriften haben für Goethe den Stellenwert von Schmuck und sind als solcher Ausdruck der Verehrung für das geschriebene Wort - und den Dichter. Die kategoriale Trennlinie, die Goethe im Kontext des Divan zwischen Schrift und Ornament zieht, und die systematische und ästhetische Verbindung, die er statt dessen zwischen ornamentaler Rahmung und der eigenen Position als Dichter herstellt, seien nun an einem Beispiel expliziert.
104 Goethe an G.G. v. Voigt v. 10. Januar 1815 (Goethe WA IV 25, S. 141). 105 Vgl. Bosse: Magische Prosen?., S. 324-329. 106 Vgl. Köpnick: Goethes Ikonisierung der Poesie, S. 361-364, Graevcnitz: Das Ornament des Blicks, S. 24. 107 In der Regel ist diese konfessionelle Ausprägung gemeint, wenn in der germanistischen Forschung von „dem Islam" die Rede ist. 108 Vgl. Bosse: Magische Prosen^ S. 315 ff.
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6.2.3 Die goldenen Ranken der Autorschaft Von besonderer Signifikan2 für den Zusammenhang zwischen Schrift, Ornament und Autorschaft ist die gestalterische Ausführung eines Gedichts, das Goethe am 12. Februar 1815 schrieb und dem Ehepaar Jakob und Marianne von Willemer im April desselben Jahres zusandte. In der Fassung für die Willemers titellos, im Wiesbadener Register unter dem Eintrag Alles Golden erfaßt und schließlich unter dem Titel An Geheimerath von Willemer in der Ausgabe letzter Hand erstmalig gedruckt, hatte Goethe die Verse als Antwort auf Marianne von Willemers ihrerseits in Verse gefaßte Bitte um einen Stammbucheintrag verfaßt.109 Allerdings verbleibt „das fertig liegende Gedicht" mehr als zwei Monate in Weimar, bevor Goethe es den Willemers zukommen läßt — trotz wiederholter Anspielungen und Versprechungen des Verfassers und trotz wiederholten Drängens der Adressaten.110 Grund für die Verzögerung ist Goethes Idee, das Gedicht „mit goldblumigen Verzierungen einzufassen",111 genauer gesagt: einfassen zu lassen. Denn an Johann Heinrich Meyer schreibt er in jenem Vorfrühling: Indem ich die niedlichen Blättchen übersende wollte bemercken dass im Laufe dieses Monats ein klein Folioblat mit gold Ranken, vielleicht, mit unterwobenem Silber wünsche. Worauf zu dencken bitte.112
Letztlich wird der Auftrag zur Gestaltung des Blatts dem Zeichner Lieber übertragen, dessen Arbeit eben jenes hohe Maß an Zeit in Anspruch nahm.113 Als Goethe das Schmuckblatt dann endlich in die Gerbermühle sandte, entschuldigte er die Verspätung im beiliegenden Brief mit der Bemerkung, daß das Gedicht „lange auf dem Papier stand, ehe die Einfassung, ohne die es nichts bedeutete, hinzugefügt werden konnte."114 Und in 109 Es handelt sich dabei um das Gedicht Zu den Kleinen %ähl ich mich, das Marianne von Willemer Goethe am 12.12.1814 zukommen ließ. Vgl. Marianne und Jakob Willemer: Briefwechsel mit Goethe. Dokumente, l^ebens-Chronik, Erläuterungen. Hrsg. v. Hans J. Weitz. Frankfurt a. M. 1965, S. 11 f. Zur korrekten Datierung sowie dem Entstehungskontext vgl. auch: Anke Bosse: „Drei verschollene Reinschriften zum Wiesbadener Reffs/er. Exemplarische Einblicke in Goethes Arbeit am West-östlichen Divan". In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1994, S. 44-81, i.b. S. 61 ff. Der Beitrag enthält auch die Abbildung einer eigenhändigen Reinschrift vom Februar 1815. 110 So schreibt J.J. Willemer am 10. April an Goethe: „Aber das Gedicht - und später der Dichter - Sagen Sie doch dem letztern, er soll uns des erstem wegen nicht der Gefahr aussetzen, daß wir uns zu Tode raten." (Willemer: Briefwechselmit Goethe, S. 20). 111 So Goethes eigener Kommentar zu dem Gedicht in der .Ausgabe letzter Hand'. Vgl. Goethe B A l, S. 760-761. 112 Goethe anJ.H. Meyer, Februar oder März 1815 (Goethe WA IV 25, S. 217). 113 Goethe FA l 3.2, S. 1704. 114 Willemer: Briefwechsel mit Goethe, S. 21 f.
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der Tat ist der golden ornamentale Rahmen zunächst auf literaler Ebene konstitutiv für das Verständnis der Zeilen, die in träumerisch-erinnerndem Gestus ein häuslich-idyllisches Bild der Willemers in der Gerbermühle zeichnen: Reicher Blumen goldne Rancken Sind des Liedes würdge Schrancken, Goldneres hab ich genossen Als ich Euch in's Herz geschlossen. Goldner glänzten stille Fluthen Von der Abendsonne Gluthen, Goldner blinckte Wein, zum Schalle, Glockenähnlicher Crystalle. Weisen Freundes goldne Worte Lispelten am Schatten Orte, Edler Kinder treu Bekänntniss Elterliches Einverständniss. Goldnes Netz das euch umwunden! Wer will dessen Werth erkunden? Wie dem heiigen Stein der Alten MUSS sich Golde Gold entfalten. Und so bringt vom fernen Orte Dieses Blat euch goldne Worte, Wenn die Lettern schwarz gebildet Liebevoll der Blick vergoldet.115
Die Bedeutung des ornamentalen Rahmens für die Komposition des Gedichts erschöpft sich indes nicht in seiner Funktion als realer Referenzpunkt der ersten beiden Verse, ohne den sie nicht verständlich wären. Die sinnlich erfahrbare Farbe des Ornaments ist gleichzeitig Spenderin jenes auffälligen goldenen Fadens, der die gesamte semantische Textur des Gedichts durchzieht. Alle semantischen Felder der Verse — Abend, Wein, Worte, Liebe — reihen sich auf diesen Faden, der selbst arabesk gesponnen ist aus Wechseln zwischen Polyptoton undßgura ethymologica. Doch auch wenn man hier zu Recht von einer ornamentalen Semantik des Goldes sprechen kann, ist doch unübersehbar, wie klar Goethe in der materialen Gestaltung des Gedichts Ornament und Schrift trennt: Die „goldenen Ranken" sind die „Schranken" des Gedichts, der Rahmen, und nicht die Schrift selbst.116 Allerdings weist das Gedicht an die Willemers in die115 Goethe FA I 3.1, S. 539 f. In der Fassung für die Willemers lautet die Unterschrift: „Weimar März 1815. Goethe". Vgl. Willemer: Briefwechsel mit Goethe, S. 22. 116 Im Buch Suleika finden sich zwei weitere Gedichte, die dieses Verhältnis von Ornament und Schrift in analogen Worten benennen. Im Gedicht Abglan^ etwa besingt der Dichter seine Lieder als jene „Spiegel", aus denen ihm sein „Liebchen" entgegenblickt
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sem Zusammenhang noch einen weiteren interessanten Aspekt auf. Denn Goethe gibt dem Schmuckblatt in besagtem Begleitschreiben die Anweisung mit, wie mit ihm zu verfahren sei, und schreibt: „Unter Glas und Rahmen wünschte ich das Blättchen an Ihrer Wand zu wissen, damit Sie meiner in guter Stunde eingedenk sein mögen."117 Ein weiterer Rahmen also soll den ornamentalen Rahmen des Gedichts einfassen und damit gleichzeitig das Stammbuchblatt zu einem stets präsenten und sichtbaren Erinnerungszeichen machen.118 Diese enge konzeptuelle Verschachtelung von Rahmung und Verweis auf den Verfasser prägt auch die Struktur des Gedichttextes selbst. Erste und letzte Strophe heben sich durch die Häufung von Deiktika, den präsentischen Grundton und die Metaebene des Sprechens über das Gedicht deutlich von den übrigen ab und bilden ihren kompositorischen Rahmen. Hier thematisiert der Verfasser sich selbst und seine ornamental gestalteten Verse, spricht aus der Gegenwart des „fernen Orte [s]" her, der — von goldner Ornamentik umrankt — zwischen den Referenzpunkten ,Weimar' und ,Orient' schillert, zu den Freunden auf gleicher Zeitstufe. Zweite und dritte Strophe füllen dann die durch den Komparativ zusätzlich spannungsgeladene kataphorische Phrase „Goldneres hab ich genossen/ Als ich Euch in's Herz geschlossen" (V 3f.) mit konkreten Erinnerungsbildern. Erst hier wird die häuslich-idyllische Szene von wein- und abendlichtgetränkten Gesprächen im Kreise der Kinder und in trauter, ehelicher Eintracht erinnernd entworfen. Der Sprecher bleibt dabei durchweg Beobachter, tritt selbst als Figur nicht in Erscheinung. Aus dieser Außenperspektive faßt er das erinnerte Bild dann zu Beginn der vierten Strophe noch einmal zusammen in der Metapher „Goldnes Netz das euch umwunden!" (V 13), um es in den nachfolgenden Versen der Strophe allegorisch auszudeuten. Diese angedeutet emblematische Komposition wird abgeschlossen von den Schlußversen, die den Bogen zur ersten Strophe schlagen. Wieder ist das Gedicht in seiner Gestaltung Thema. Während die erste Strophe jedoch seinen ornamentalen Rahmen thematisiert, nimmt die letzte Bezug auf die Schrift. Ihre schwarzen Buchstaben, so die Denkfigur dieser Verse, können sich unter der Vormit den abschließenden Worten: „Ihr Bild in reichen Schranken/ Verherrlichet sich nur,/ In goldnen Rosenranken/ Und Rähmchen von Lasur." (Goethe FA I 3.1, S. 99 f.). Und eines der schönsten Gedichte des Oivan, welches ebenfalls das Schreiben zum Gegenstand hat, beginnt mit den an Suleika gerichteten Versen: „Die schön geschriebenen,/ Herrlich umgüldcten,/ Belächelst du/ Die anmaßlichen Blätter" (Goethe FA 13.l, S. 82 f.). 117 Willemer: Briefwechsel mit Goethe, S. 22. 118 Zu Goethes Stammbuchversen und seiner Faszination für diese kulturtechnische Institution vgl. Hendrik Birus: „ ,Ich möcht nicht gern vergessen sein. Goethes Stammbuchverse". In: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Kolloquium Reisensburg, 4.-7. Januar 1996. In Verbindung mit Wolfgang Frühwald herausgegeben von Dietmar Peil, iMichael Schilling und Peter Strohschneider. Tübingen 1998, S. 487-515.
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aussetzung in — dem Ornament entsprechende — „goldne Worte" verwandeln, wenn der „Bück" der Leser sie „pfjiebevoll" trifft und dadurch „vergüldet". Nun ist „liebevoll" keine Kategorie ästhetischer Rezeption, wohl aber eine der zwischenmenschlichen Zuneigung, die im Kontext eines Stammbuchgedichts - zumal eines so persönlich gehaltenen wie diesem auch durchaus erwartbar ist. Durch die Worte des Stammbuchblatts hindurch soll der lesende Blick vielmehr ihren Verfasser „liebevoll" treffen und dadurch die „Lettern" des Textes vergolden. Jakob Willemer jedenfalls stellt, wenn auch leicht hyperbolisch überformt, einen direkten Zusammenhang zwischen der Vergoldung der Worte und ihrem Verfasser her, wenn er in seinem Dankbrief schreibt: Die goldenen Worte, mit goldenem Rand, gülden dadurch, daß Goethe sie eigenhändig niederschrieb, sind die schönste Gabe, die meine Frau und mich je erfreute.119
Das Stammbuchgedicht in seiner Gestaltung und seinem von Goethe intendierten Gebrauchskontext weist, so betrachtet, also eine vierfache Rahmung auf: Im Zentrum steht das erinnerte Idyll, wie eine pictura eingefaßt von der inscriptio in den Versen 3 und 4 und der subscriptio der vierten Strophe. Das Ganze wird gerahmt durch die beiden Eingangsverse und die Schlußstrophe mit ihren beschreibenden und kommentierenden Bezugnahmen auf das Gedicht selbst. Der Text wiederum wird von floraler Ornamentik umrankt und diese schließlich vom Bilderrahmen eingefaßt. Durch die Vervielfachung des Rahmens wird die Trennung zwischen Ornament und Schrift jedoch keineswegs aufgelöst. Was sich durch die Multiplikation der Rahmung potenziert, sind nicht die Bezüge zwischen ornamentalem Rahmen und Schrift, sondern zwischen Rahmen und Autor. Wie in seinem Brief an Voigt vom 10. Januar 1815 bereits angedeutet, ist Goethe vornehmlich an der „unendlichen Verehrung gegen ihre Dichter, Weltweisen und Gottesgelehrten" interessiert, die er in der graphischen Rahmung der Handschriften des Orients ausgedrückt findet und schließlich auch bei seiner Gestaltung des Titelkupfers zum Divan aufgreift.120 (Abb. 18) Die Trennung von Schrift und Rahmen ist in der Goetheschen Konzeption gerade konstitutiv für die Funktion des Ornaments in Bezug auf den Autor. Mit eben dieser Bezüglichkeit arbeitet und spielt Goethe in seinem Stammbuchgedicht. Jeder einzelne Rahmen verweist auf den Autor: Er ist die Instanz, welche die pictura deutet, er kommentiert die Gestaltung des Gedichts, ihm wird die Verehrung durch die Goldranken zuteil, und 119 Willemer: Briefwechsel mit Goethe, S. 23. 120 Zur Entstehung des Kupfers und seiner Entwürfe vgl. ausführlich: Bosse: Magische Prosen^ S. 324-329.
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Abb. 18: West-östlicher Divan von Goethe. Probeabzug d. Titelkupfers d. Erstausgabe 1819 Goethe- und Schiller.Archiv 25/ , (275x378 mm)
sein Stammbuchblatt, genuine Institution der Erinnerung an den Verfasser, soll im Büderrahmen an der Wand hängen, auf daß die Betrachter seiner „in guter Stunde eingedenk sein mögen". Das Ornament verweist durch die von ihm gerahmte Schrift auf den Verfasser. Und denkt man das Verhältnis der Instanzen zueinander mit Goethe auf diese Weise, dann lichtet sich auch der kultursemiotische Nebel über seinen Ideen zur arabischen Schrift.
6.2.4 Die unlesbare Schrift II So wenig wie seine eigene Handschrift auf dem Stammbuchblatt hat die arabische Schrift für Goethe den Charakter des Ornamentalen. Und noch weniger ist sie, wie jene floralen Rahmen des Stammbuchblatts, ikonisch. Schließlich liegt, wie oben aufgezeigt, die Besonderheit des Arabischen für Goethe gerade darin, daß hier Wort und Geist als mit der Schrift „uranfänglich zusammengekörpert" erscheinen. Das aber bedeutet, daß seiner Vorstellung nach Geist und Wort in der Schrift enthalten sind und gerade
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nicht von ihr in irgendeiner Weise abgebildet werden. Und so ist es wohl ein schrifttheoretischer Kurzschluß, dem Anke Bosse erliegt, wenn sie aus ihrer scharfsinnigen Beobachtung, daß die Unlesbarkeit der arabischen Schrift Goethe in den Stand gesetzt hat, sie „von ihren konventionalisierten repräsentierenden Funktionen endastet zu sehen", und eben diese Entlastung die Voraussetzung für Goethe war, „so euphorisch auf die pure Materialität der arabischen Buchstaben [zu] reagieren", unmittelbar folgert, daß der Reiz der arabischen Schrift für den Dichter ein ikonischer gewesen sein müsse.121 Auch der Weg einer „ikonographisch-poetologische[n] Tiefenhermeneutik", den Graevenitz vor- und einschlägt,122 führt an Goethes Konzept der arabischen Schrift und ihrem Gebrauch durch den Dichter vorbei. Denn dieser Analyseweg verläuft ebenfalls nur innerhalb des ikonologischen Denkraums und führt nach einer dekonstruktivhermeneutischen Wende sogar wieder zum Ausgangspunkt der Signifikation zurück — mit der Idee, Goedie setze hier die Selbstreferenzialität der Schrift ins Bild.123 Doch die arabische Schrift ist für Goethe nicht selbstreferentiell. Tatsächlich liegt der Reiz dieser Schrift gerade darin, daß sie für ihn überhaupt keine referenzielle Funktion hat. In Goethes Umgang mit ihr bezeichnet sie weder sich selbst noch etwas anderes, noch bildet sie etwas ab, sondern sie birgt etwas in sich. Und der Zugang, den Goethe zu diesem in der Schrift verkörperten Etwas wählt, nimmt entsprechend weder die Form des Lesens oder Dekodierens noch die des Betrachtens an. Zugleich aber ist dieser Zugang wesendich konkreter als das Verfahren, das die jüngere Forschung an exakt dieser Stelle beobachtet und mit dem schillernden Begriff „Magie" benennt.124 Vielmehr nähert sich Goethe dieser Schrift auf bestechend handgreifliche und keineswegs übersinnliche Weise, denn er unternimmt mit ihr eben das, was er im bereits zitierten Brief an Schlosser ankündigt: er übt sich „in den Schreibezügen" und lernt sie „nach[zu]bilden"; teils in Autodidaxe, teils unter orientalistischer Anleitung. Knebel berichtet er im Oktober 1815: „Bey Paulus habe ich 14 Tage arabisch geschrieben, welches zu manchen geselligen Scherzen An-
121 Bosse: Magische Präsens^ S. 319 ff.; ebenso Köpnick: Goethes Ikonisierung der Poesie, S. 364. Daß sich das Paradigma des Ikonischen in der D«w/?-Forschung gegen alle Widerstände der Texte und des Nachlaßmaterials immer wieder durchgesetzt hat, mag auch dem einflußreichen Topos vom „Augenmenschen" Goethe geschuldet sein. Schon Werner Keller hatte ihn für die Interpretation des Oivan fruchtbar gemacht. Vgl. Keller: Goethes dichterische Bildlichkeit, S. 21. 122 Graevenitz: Das Ornament des Blicks, S. 20ff. 123 Graevenitz: Das Ornament des Blicks, S. 3 u. 176. 124 Bosse: Magische Präsens^ S. 319; zuvor Köpnick: Goethes Ikonisierung der Poesie. Zur Schriftmagie (sie!) des West-östlichen Divans, S. 362; im Anschluß an ihn Gabriele Schwieder: Goethes West-östlicher Divan. Einepoetologische Lektüre. Weimar/ Wien 2001, S. 81.
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Abb. 19: Johann Wolfgang Goethe: Eigenhändige Schreibübungen in arabischer Schrift Goethe- und Schüler-Archiv 25/XI, XVI Foliobogen 342 412 mm., schwarze Tinte
laß gab."125 Der Dichter malt die arabische Schrift nach, und zwar nicht Buchstabe für Buchstabe, sondern von Anfang an in Form ganzer Wörter, Wendungen und Verse, in den seltensten Fällen mit Notation ihrer Bedeutung und oft auch ohne Transkription.126 (Abb. 19) Vom Beginn des Jahres 1815 an verfolgt er diese Strategie des Nachmalen s127 und beschäftigt sich immer wieder mit dem Schreiben arabischer, persischer und osmanischer Wörter. Wie gesagt, scheint für ihn der Unterschied zwischen diesen grundverschiedenen Sprachen (einer semitischen, einer indogermanischen und einer, wenn auch mit zahlreichen persischen, arabischen und armenischen Wörtern ausgestatteten, Turk-Sprache) unkenntlich oder zumindest irrelevant gewesen zu sein. Zwar versuchte Heinrich Eberhard Gottlob Paulus während seiner Schreib-Lektionen Goethe auch die Bedeutungsdimension des Geschriebenen nahezubringen, doch diese Bemühungen verfingen beim Dichter nicht. Im Nachahmen der von Paulus vorgeschriebenen Schriftzüge läßt Goethe die beigefügte Übersetzung konsequent
125 Goethe an C. v. Knebel v. 21. Oktober 1815 (Goethe WA IV 26, S. 106). 126 Vgl. u.a. die Abb. 10, 21 u. 22-24 in Goethe FA I 3.1 und Bosse: Schatzkammer II, S. 1096, Abb. 21. 127 Vgl. Bosse: Schatzkammer I, S. 173; ein Auflistung, kurze Beschreibung und Datierung der Blätter finden sich bereits bei Wihelm Solms: Goethes Vorarbeiten %um Divan. München 1977, S. 260-217.
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.··..*,
Abb. 20: Johann Wolfgang Goethe: Eigenhändige kalligraphische Übung Universitätsbibliothek Leipzig, Sammlung Hirzel, Nr. B 499 Kleines Quartblatt 142 208 mm., Bleistift und schwarzbraune Tinte
aus.128 Und auch bei den wenigen Vokabellisten, die er selbständig erstellte, fällt auf, daß er neben die persischen Wörter allein ihre Transkription in lateinischer Schrift notiert, keine Übersetzung.129 Zwar sind unter den zahlreichen überlieferten Blättern tatsächlich zwei Kalligraphien. Eines zeigt eine kalligraphische Abschrift der ersten vier Verse der 114. Sure von Goethes Hand130 (Abb. 20), das zweite - eine Kalligraphie der Worte CAU wall Allah („Ali, der Freund Gottes") — zierte eine womöglich zur Aufbewahrung der Divan-Gedichte gedachte Papierkapsel.131 Doch es fehlen alle Hinweise darauf, daß seine Bemühungen im Ganzen auf eine ästhetische Perfektionierung seines Schriftbildes zur Kalligraphie ausgerichtet gewesen wären.132 Ein vergleichender Blick auf die Schreibübungen und kalligraphischen Versuche Goethes macht den Unterschied unmittelbar ein128 Vgl. Bosse: Magische Präsenz,s129 Vgl. Bosse: Schatzkammer U, S. 741-747, Goethes Morgenlandfahrten, S. 244, Abb. 85. 130 Abgebildet u.a. in: Goethe FA I 3.1, Abb. 24. Zu den möglichen Quellen vgl. Bosse: Magische Prosen^, S. 322ff., wo Goethes kalligraphische Versuche eine ausführliche Behandlung erfahren. 131 Ebd. und Bosse: Schatzkammern, S. 881-883. 132 Auch Bosse gelingt nur ein kulturgeschichtlicher, kein analytischer Brückenschlag von Goethes Schreibübungen zur Kalligraphie. Vgl. Bosse: Magische Präsen^ S. 319 ff.
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sichtig: Die nachgeschriebenen arabischen Wörter auf den Übungsblättern sind offenkundig nicht — wie die Notation der Surenverse — nach optischen oder gar ästhetischen Prinzipien gestaltet, und sie lassen sich auch schwerlich als Vorübung zu einer solchen Gestaltung deuten. Ein weiteres Schmuckblatt aus den Jahren 1818/19, auf dem Goethe sein Gedicht Talismane in Kalligraphie setzt, zeigt schließlich, daß ihm zur orientalisierenden Kalligraphie deutsche Vorlagen ebenso dienlich waren wie arabische (Abb. 21), daß der besondere Reiz der unlesbaren Schrift hier also nicht zu finden ist. So fällt es tatsächlich nicht leicht, in den arabischen Schreibübungen, die Goethe während der gesamten Entstehungszeit des Divan immer wieder unternommen Abb. 21: Johann Wolfgang Goethe: hat, ein Telos auszumachen. Doch Gezeichnetes Schmuckblatt um so größer ist der Anreiz, ihm Goethe- und Schiller-Archiv 25/X, I, 5b nachzuspüren. Im Folgenden sei Foliobogen 342 417 mm,, schwarze Tinte also der Versuch unternommen, zu klären, welche Funktion das Nachahmen arabischer Schriftzüge, bei dem die Schrift offenbar weder in ihrer Bedeutung noch als Bild im Vordergrund stand, für den Dichter eigendich besaß und was genau er dabei tat (bzw. zu tun sich anschickte). Flankiert wird diese Spurensuche von der Frage nach dem Verhältnis dieses Tuns zu Goethes Vorstellung von der arabischen Sprache als locus „uranfänglich zusammengekörpertjer]" Ganzheit von Geist, Wort und Schrift. Und schließlich wird ein Blick auf die poetologischen Bezüge zwischen diesen engagiert betriebenen Schreibübungen und der Dichtung geworfen werden, in deren Entstehungsprozeß sich Goethe mit dem Nachmalen arabischer Schriftzüge so intensiv befaßte.
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6.2.5 Die Magie der Namen Der oben zitierte Auszug aus Goethes Brief an Schlosser enthält einen wertvollen Hinweis auf den Charakter der Schriftzüge, die er „in der Urschrift nachbilden" lernen wollte. Goethe nennt „Amulette, Talismane, Abraxas und Siegel", von deren großer Bedeutung im Orient er aus Joseph von Hammers Fundgruben des Orients wußte. Allerdings interessieren sie Goethe hier nicht als mehr oder weniger magische Kult(ur)gegenstände, sondern aufgrund der besonderen Beziehung zwischen „Geist, Wort und Schrift", die er in ihnen vermutete. Im zweiten Gedicht des Oivan stellt er diese Segenspfände^ zu einer nicht ganz konsistenten, aber für unsere Fragestellung hinreichend signifikanten Ordnung zusammen, die interessante Hinweise für die Deutung seines eigenen Umgangs mit der arabischen Schrift enthält: Talisman in Carneol Gläubigen bringt er Glück und Wohl, Steht er gar auf Onyx Grunde Küß ihn mit geweihtem Munde! Alles Uebel treibt er fort, Schützet dich und schützt den Ort: Wenn das eingegrabne Wort Allahs Namen rein verkündet, Dich zu Lieb' und That entzündet. Und besonders werden Frauen Sich am Talisman erbauen. Amulete sind dergleichen Auf Papier geschriebne Zeichen; Doch man ist nicht im Gedränge Wie auf edlen Steines Enge, Und vergönnt ist frommen Seelen Längre Verse hier zu wählen. Männer hängen die Papiere Gläubig um, als Scapulire. Die Inschrift aber hat nichts hinter sich, Sie ist sie selbst, und muß dir alles sagen, Was hinterdrein mit redlichem Behagen, Du gerne sagst: Ich sag' es! Ich. Doch Abraxas bring' ich selten! Hier soll meist das Fratzenhafte,
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133 Zu diesem Gedicht vgl. Lcmmel: Poetologie in Goethes West-östlichem Divan, S. 132139; Ileri: Goethes West-östlicher Divan als imaginäre Orient-Reise, S. 208-213.
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Das ein düstrer Wahnsinn schaffte, Für das allerhöchste gelten. Sag' ich euch absurde Dinge, Denkt, daß ich Abraxas bringe. Ein Siegelring ist schwer zu zeichnen, Den höchsten Sinn im engsten Raum; Doch weißt du hier ein Echtes anzueignen, Gegraben steht das Wort, du denkst es kaum.134
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Die Linie des Gedichts verläuft parabolisch über den Wendepunkt der mittleren Strophe, in der es seine Symmetrieachse findet, und steigt kontinuierlich bis zu den beiden äußeren Strophen an. Von der Inschrift über Abraxas135 und Amulette bis hin zu Talisman und Siegelring nimmt der beschriebene Raum, den die Schrift zur Verfügung hat, stetig ab, während die Fülle des Sinns zunimmt. Die Inschrift erscheint dabei als Schriftform mit der geringsten Sinntiefe. Sie ist selbstexplizit, ihr Sinn ist in und mit der Schrift vollständig sichtbar. Von allen hier entworfenen Formen kommt sie der normalen Funktion der Schrift am nächsten, die Goethe allerdings in ein verfremdendes Licht setzt: Gerade weil die Inschrift in konventionellem Sinne etwas bedeutet, erscheint ihr Sinn in dieser Ordnung der Zeichen als oberflächlich: sie hat „nichts hinter sich", also keinen verborgenen Sinn136 wie Talismane oder Amulette. Allerdings hat der Dichter dabei eine bestimmte Form der Inschrift vor Augen. Eine normale Gebäudeinschrift, die etwa auf den Erbauer oder Stifter des Bauwerks hinweist,
134 Goethe FA 13.l, S. 13f. 135 Zum graduellen, aber nicht kategorialen Unterschied der genannten „Segenspfänder" vgl. schon Momme Mommsen: StHOien spm West-östlichen Divan. Berlin 1962, S. 139152, i.b. S. 150. Die Idee von Christoph Perels, „Abraxas" hier als verschlüsseltes Zeichen für „Kreuz" zu lesen, kann nicht überzeugen, weil sie letztlich auf einem Lesefehler beruht. Perels zieht nämlich das im Wiesbadener Register unter dem Schlagwort „Abraxas" eingetragene Nachlaßgedicht Sässes Kind, die Perlenreihen... (FA I 3. l, S. 508510) als Stütze seiner Interpretation heran, in dem der ungenannte persische Sprecher die Anrede an seine Liebste mit den folgenden Worten beginnt: „Süßes Kind, die Perlenreihen/ Wie ich irgend nur vermochte,/ Wollte traulich dir verleihen,/ Als der Liebe Lampendochte./ Und nun kommst du, hast ein Zeichen/ Dran gehängt, das, unter allen/ Den Abraxas seinesgleichen,/ Mir am schlechtsten will gefallen/ Diese ganz moderne Narrheit/ Magst du mir nach Schiras bringen!/ Soll ich wohl, in seiner Starrheit,/ Hölzchen quer auf Hölzchen singen?". Das Kreuz, das die Angesprochene hier offenbar um den Hals trägt, setzt Goethe hier aber nicht, wie Perels meint, mit dem Abraxas gleich, sondern ordnet es allein der übergeordneten Gattung der Abraxas zu: „unter allen/ den Abraxas seinesgleichen" ist hier zu lesen als ,Unter allen dem Abraxas gleichenden Dingen' (so auch die Lesart von Birus in FA I 3.2, S. 1697). Vgl. Christoph Perels: „Unmut, Übermut und Geheimnis. Versuch über Goethes West-östlichen Divan". In: ders.: Goethe in seiner Epoche. Zwölf Versuche. Tübingen 1998, S. 191-218, hier: S. 196 f. 136 Diese Lesart bietet auch Birus an, vgl. Goethe FA I 3.2, S. 899.
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kann hier nicht gemeint sein, wenn man auch den nachfolgenden Versen einen Sinngehalt unterstellen will: „Sie ist sie selbst, und muß dir alles sagen/ Was hinterdrein mit redlichem Behagen/ Du gerne sagst: Ich sag' es! Ich." Die Syntax der Sätze ist eindeutig, um so rätselhafter ihr Sinn. Denn die Pronomina „was" und „es" beziehen sich unmißverständlich auf „alles", und das dreifach wiederholte Verb ,sagen* bezeichnet dreimal denselben Vorgang, allerdings mit unterschiedlichen Akteuren. Die Inschrift so die Paraphrase der Verse — sagt dir alles, was du am Ende schließlich selbst sagst. Dann folgt die direkte Redewiedergabe mit unüberhörbarer Akzentuierung der neuen Sprecherinstanz: „Ich sag' es! Ich." Goethe beschreibt hier ein sprachliches Ereignis, bei dem der Gehalt des Gesagten bestehen bleibt, aber die Sprecher wechseln, und ein Rezeptionsvorgang sich in einen Produktionsvorgang umkehrt. Im Lesen der Inschrift übernimmt der Rezipient ihren Inhalt so vollständig, daß er es schließlich selbst ist, der die Aussage macht. Die Rezeption auch einer antiken Gebäudeinschrift mag so kontemplativ sein, wie sie will, ein solcher Wechsel tritt dabei nicht ein. Goethe skizziert hier einen Typ von Inschriften, die in ihrer Wirkungsweise nicht notwendig auf einen steinernen Untergrund angewiesen sind und sich in durchaus nennenswerter papierner Fülle auch im Divan selbst finden — nämlich Gnomen, Denksprüche. Wie Birus festgestellt hat, trägt noch die Kapsel für die Druckvorlage des Buchs der Sprüche die Aufschrift „Gnomen".137 Relevant für die Deutung von Goethes „Inschrift" als Gnomon aber ist vor allem, daß seine Skizze der Wirkungsweise des Denkspruchs tatsächlich verfängt: Aufgrund ihres universalen und gleichzeitig pointierten Charakters verbleibt die Wahrheit des Denkspruchs nicht in der Inschrift, sondern wird dem Rezipienten buchstäblich zu eigen. Im Akt des Lesens eignet er sich den Gehalt des Spruchs so vollständig an, daß sich das Gnomon samt der in ihm erhaltenen Erkenntnis von seinem ursprünglichen Autor löst und der Leser zu seinem neuen Urheber wird, so daß er selbst und „hintendrein" — also nach Abschluß der Aneignung - mit voller Zufriedenheit sagen kann: „Ich sag' es! Ich." Bedingung für diese universale und gleichzeitig mobile Kraft des Sinns im Gnomon ist seine absolute Explizitheit. Es darf „nichts hinter sich" haben, denn alles - Schrift, Wort und Geist - muß den Autor wechseln können.138 Ein Blick in Goethes Euch der Sprüche legt den Gedanken nahe, 137 Goethe FA I3.2, S. 1120. 138 Das spezifische und zugleich dieser Textsorte so eigentümliche Sinngeschehen des von Goethe aufgerufenen Gnomon mit seinem Potential zur ereignishaften Verwandlung des Rezipienten in einen Produzenten des Gesagten hat auch Gabriele Schwieder in ihrer Lektüre des Gedichts gestriffen, ohne es allerdings auf den analytischen Punkt zu bringen. Statt dessen liest sie diese Verse als einen weiteren Beleg für ihren heuristischen Leitfaden durch den gesamten West-östlichen Divan, der sie stets zu Figuren der Oralität in den Gedichten führt: „Die Inschrift [...] wird vom ihren Rezipienten [...]
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der Dichter habe unter Gnomen zudem in erster Linie Sprüche mit leicht verdaulichen Weisheiten verstanden. Die Wahrheiten von Sätzen wie: „Soll ich dir die Gegend zeigen,/ Mußt du erst das Dach besteigen."139 oder „Wie etwas sey leicht/ Weiß der es erfunden und der es erreicht."1411 jedenfalls bestechen in erster Linie durch ihre Schlichtheit. Doch schließlich soll, folgt man Goethes Ausführungen in Segenspjänder, die Inschrift und ihr Gehalt auch kein Umdenken, sondern ,,redliche[s] Behagen" auslösen. Mit dem vorgestellten „aber" (V. 20) markiert Goethe die Sinntiefe als Unterscheidungskriterium zwischen der Inschrift und den übrigen „Segenspfändern". Während sie „nichts hinter sich" hat, ist bei Talisman und Siegel nichts explizit, sie haben allen Sinn hinter sich. In beide Gegenstände sind Namen „eingegraben" — der Name Gottes in den Stein des Talisman, der seines Besitzers in den Stein des Siegelrings. Diese Namen haben keinen propositionalen Gehalt, sondern wirken unmittelbar. Der Name Gottes im Talisman wirkt exoterisch, bietet dem Träger Schutz, leitet ihn zu gutem Handeln an und entfaltet seine Wirkung nicht durch Entzifferung und Verstehen einer Bedeutung, sondern direkt durch die Berührung mit der Materialität der steinernen Schrift. Auch die Schrift des Siegelrings wird nicht gelesen, ihr „höchster Sinn" — geballt und potenziert in der „Enge" des Raums - sogar „kaum" gedacht. Gerade in diesem eingegrabenen Namen aber liegt nach Goethe „ein Echtes". Um zu ergründen, was damit gemeint ist, gilt es einen kurzen systematischen Blick auf die Bedeutungsstruktur von Eigennamen zu werden: Im Unterschied zu Wörtern haben Namen nämlich keine Semantik, sie verweisen, aber sie bedeuten nicht. Es gibt keinen semantischen Gehalt von „Johann" oder „Fatima", der allen Menschen gemein wäre, die diese Namen tragen.141 Gleichzeitig gibt es keine andere Gruppe von Zeichen, die mit dem von ihnen Bezeichneten so eng verbunden wären wie Namen. Metaphorisch gesprochen komprimieren Eigennamen die konnotative Streuung der Bedeutung und leiten die ganze Kraft des Verweisens auf ih-
übernommen und sozusagen re-oralisiert. (...) Die performative Kraft der magischen Schrift spiegelt sich in dieser Zeile in der Formel einer oralen Selbstversicherung, eines Sich-selbst-Sagens." (Schwieder: Goethes West-östlicher Divan. Eine poefologische I^ektiire, S. 81 f.). 139 Goethe FA 13.l, S. 65. 140 Goethe FA 13.l, S. 62. 141 Strukturalistisch ausgedrückt denotieren Eigennamen zwar etwas, konnotieren aber nichts, weswegen sie auch nicht als Prädikatsnomen gebraucht werden können und Sätze wie „*Das ist ein Johann." oder „*Das ist eine Fatima." ungrammatisch sind. Zur langen sprachwissenschaftlichen und sprachphilosophischen Tradition der Debatte um die Bedeutungsstruktur von Eigennamen vgl. die Überblicksstudie von Barbara Brüning: Über Sinn und Bedeutung von Eigennamen. Eine semantisch-erkenntnistheoretische Untersuchung. Wien 1996.
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re denotative Beziehung zum Bezeichneten. Die Stabilität der Verbindung des Eigennamen mit seinem Träger ist so groß, daß Namen sogar Übersetzungsvorgänge weitgehend unbeschadet überstehen142 und im Normalfall auch nicht in Wörterbücher aufgenommen werden.143 Das gilt für alle Eigennamen, also für Städte-, Fluß-, Gebäude- oder Produktnamen ebenso wie für Namen von Personen.144 Bei letzteren aber — und solche finden sich auf Siegelringen — spielt noch ein weiterer Aspekt eine Rolle, den Goethe hier mit anreißt: Die Rede ist vom individuierenden Potential des Eigennamens, der Anrufbarkeit von Subjekten über ihre Namen,145 der unmittelbaren Vergegenwärtigung von Individuen durch das Sagen oder Schreiben ihrer Namen.146 Wenn es also eine Kategorie von Zeichen gibt, bei denen das eigenwillige Goethesche Kompositium von „zusammengekörpertem" Geist, Wort und Schrift Evidenz gewinnt, dann sind es Namen, in deren Bedeutungsleere ihre Kraft begründet liegt, das mit ihnen Benannte unmittelbar zu vergegenwärtigen und greifbar zu machen. Im „kaum" Gedachten, geschweige denn Verstandenen, liegt das „Echte" der Namen. Wie der göttliche Name auf dem Stein des Talisman seine Kraft in weiten Wirkungskreisen verteilt, bündelt der profan menschliche Name auf dem Siegelring seine Kraft zur unvermittelten Vergegenwärtigung seines Trägers. Somit ist es nicht die Materialität des Steins an sich, durch welche die Schrift von Talisman und Siegelring „magisch" wirkt und sie zum genauen Gegenteil der Inschrift macht - denn die Trägersubstanz ist in allen drei
142 Bei den beobachtbaren Veränderungen von Namen in ihrer Transformation von einer Sprache in eine andere handelt es sich nicht im engeren Sinne um Übersetzungen, sondern um Übertragungen der Namen in ein anderes Sprachsystcm mit seinen lautlichen Konventionen. Vgl. dazu Roland Harweg: „Eigennamen, Gemeinnamen und Übersetzung". In: ders.: Namen und Wörter. Aufsätze. Teil 2. Bochum 1998. 143 Zu den sprachsystematischen Bedingungen dafür sowie den Ausnahmen vgl. Roland Harweg: „Eigennamen als Einträge in Wörterbüchern und Ijexika". In: ders.: Studien %um Eigennamen. Aufsätze, Aachen 1999, S. 61-124. 144 Ich spreche hier also nur von dem, was man konventionell unter Eigennamen faßt. Zu den übrigen Typen von Eigennamen und ihren Besonderheiten vgl. Roland Harwcg: „Temporale FJgennamen". In: ders.: Studien %um Eigennamen, S. 1-36. 145 Zum Verhältnis von Namen, Anrufung und Identität vgl. die Einleitung zu Judith Butler: Haßspncht. ZurPolitik desPerformativen. Berün 1998, S. 9-65, i.b. S. 48-61. 146 Auch Köpnick hat die Gattung der Namen ins Spiel der D/'zw«-Interpretation gebracht als jene von konventioneller Repräsentationsbeziehung freie Wörter, mit denen „die Dinge behutsam angerufen werden, ohne ihnen die Gewalt klassifizierender Begriffe anzutun". Allerdings geht er bei seinem analytischen Transfer dieser Idee auf den Oivan über einen behutsamen Vergleich nicht hinaus („Paradiesische Worte sind [...] Namen gleich") und beläßt damit sowohl die Funktionsweise von Namen als auch das poetologische Verfahren des Oivan im Schwebezustand. (Köpnick: Goethes Ikonisierung der Poesie, S. 376). Mit dem Attribut der .Behutsamkeit' ist aber weder das Goethesche V erfahren noch die evokative Macht der Namen angemessen beschrieben.
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Fällen steinern -, sondern die besondere Verweiskraft der Namen. Sie bilden die Antithese zur Bedeutungsstruktur des Gnomon, und über sie hofft Goethe sich eben jenes „Echte" aneignen zu können, was in keiner repräsentierenden und in diesem Sinne bedeutenden Schrift zu finden ist und was sich entsprechend auch nicht verstehend aus ihr herauslesen läßt. Und so wählt er für seinen aktiven Nachvollzug der arabischen Schrift de facto auch weder Talismane und Amulette noch Abraxas und Schriftzüge von Siegelringen als Vorlage, sondern orientalische Namen, die er sich entweder von seinen orientalistischen Beratern vorschreiben läßt oder der orientkundlichen Literatur entnimmt. Die Blätter mit seinen Schreibübungen sind übersät mit Eigennamen arabischer und persischer Personen, Städte und Länder: Hatem, Suleika, Ali, Mohammed, Suleyman, Feridun, Bagdad, Hafis, Mutanabbi, Tus, Istanbul, Konya, Bahrain, Konstantinopel147 — Namen wie diese füllen die Seiten und Ihre Zahl übersteigt die der einfachen Substantive bei weitem. Auch existieren handschriftliche Listen, die ausschließlich aus Eigennamen bestehen.148 Daß er bevorzugt die Schriftzüge von Eigennamen nachahmt, hat zunächst einen pragmatischen Hintergrund, der eng mit seinem Sprachkonzept zusammenhängt. Wie aus Goethes Brief an Schlosser ersichdich, besteht die Sprache für ihn aus drei Dimensionen: der Schrift, dem gesprochenen Wort und dem „Geist". Nun kann der Dichter das Arabische aber nicht lesen, und das bedeutet bei einer Konsonantenschrift wie dieser, daß er auch nicht in der Lage ist, das Schriftbild in ein Klangbild zu übersetzen. Praktisch verwehrt die arabische Schrift dem Unkundigen also jeden Zugriff auf die akustische Dimension der Sprache, die für Goethe entsprechend nicht erfahrbar und für sein Konzept somit letztlich auch unbrauchbar wäre. Der einzige Weg, die „zusammengekörperten" Dimensionen der Sprache zu erfahren, führt über einen Klang des gesprochenen Wortes, der nicht erst aus der Schrift abgeleitet werden muß. Und das ist eben nur bei arabischen und persischen Eigennamen der Fall, die als feste Einträge im Lexikon des Deutschen bereits ein Klangbild besitzen. ,Bagdad' ist schon gesprochenes Wort, ,Mohammedc klingt Goethe bereits im Ohr, bevor er das arabische Schriftbild betrachtet und seine Züge nachahmt. In den Eigennamen vermag für Goethe eine arabische Buchstabenfolge „Wort" zu werden, die sonst ein opakes und vor allem stummes Bild bliebe. Über sie wird die arabische Sprache in ihren drei Dimensionen erlebbar. Und über sie - das ist der zweite Grund für Goethes Faszination für die arabischen und persischen Namen — führt auch der Weg in den Orient selbst. Die über die Blätter seiner Schreibübungen verstreuten Na147 Goethe FA I 3.1, Abb. 22-23, Bosse: Schatzkammern, S. 1096, Abb. 21. 148 Vgl. Goethe FA I 3.1, Bl. 130: Eigenhändige arabische Namenliste, S. 658 f.
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men rufen als Namen das, was sie benennen, unmittelbar auf und machen es präsent. Goethe entwirft hier im wahrsten Sinne des Wortes eine TopoGraphie des Orients, der über seine Orte und Figuren unmittelbar in Erscheinung tritt. Auf diese Weise wird der Orient nicht durch ein arbiträres Zeichen repräsentiert, sondern er wird aufgerufen und manifestiert sich selbst. Um diese orientalischen Orte herum gruppiert Goethe schließlich Orient-Topoi im herkömmlichen Sinne. Denn die arabischen und persischen Wörter, die er zusätzlich schreibt und- dank der hinzugefügten Transkription - zu klingenden Listen zusammenstellt, enthalten Substantive wie „Geheimnis", „Rose", „Traum", „Wein", „Divan".149 In diesen, in der orientalischen Dichtung immer wiederkehrenden, Worten erfaßt Goethe den gesamten Orient, modelliert gleichsam das Profil seiner semantischen Landschaften, die ihre Tiefe erhalten durch die sich unmittelbar verkörpernden Eigennamen. Nun besteht aber Goethes sprachmagische Technik einer Vergegenwärtigung der orientalischen Landschaften nicht in ihrer schriftlichen Darstellung, sondern in ihrem aktiven Nachvoll^ug. Die Blätter, auf denen der Dichter seine arabischen Namen schreibt, sind — bis auf sehr wenige kalligraphische Versuche - nicht ästhetisch gestaltet. Sie enthalten die Spuren seines performativen Vollzugs der vergegenwärtigenden Schrift, doch sie sind nicht deren Ziel. Goethes Interesse gilt offenbar nicht dem Geschriebenen, sondern der Schreibprozeß selbst. Durch den physischen Akt der Nachahmung will er in den Besitz jenes „echten" Sinns kommen, der sich jenseits des Gedankens, jenseits der Bedeutung, jenseits der Repräsentation unmittelbar mitteilt.150 Es geht um die Überwindung der Distanz, um ein Erreichen des vergangenen Orients, der „nicht zu uns herüber kommen" wird. Diese Distanz ist - Goethes Idee zufolge - nicht durch Wissen oder Verstehen überbrückbar, sondern allein durch ein Hineingehen, durch eine praktische Aneignung. Daß sich diese Aneignung über das Schreiben oder genauer: das Nachzeichnen von Namen vollzieht, ist eine logische Konsequenz der Goetheschen Sprachkonzeption. In der arabischen Sprache - so seine oben zitierte Annahme - sind „Geist, Wort und Schrift" schon von ihrem Ursprung an so „zusammengekörpert", daß der Weg über eines der drei Elemente direkt zum Ganzen der Sprache führt. Im nicht repräsentierenden Schrift149 Vgl. Goethes Morgenlandfahrten, S. 244 (Abb. 85), Bosse: Schatzkammer II, S. 1096, Abb. 21. 150 Im Rekurs auch Köpnick deutet auch Bosse das Verfahren des Dichters, die arabischen Schriftzüge nachzumalen, als Versuch, ihrer „magischen Präsenz" teilhaftig zu werden. Vgl. Bosse: Magische Fräsen^ S. 319, Köpnick: Goethes Ikonisierung der Poesie, S. 361. Allerdings lassen beide die Bedeutung der Eigennamen in diesem Zusammenhang außer acht.
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zug der arabischen und persischen Namen nun wird diese Zusammenkörperung erfahrbar, und darüber hinaus das von ihnen Benannte — in diesem Fall die gesamte Topographie des Orients — unmittelbar präsent. Im physischen Akt des Nachmalens jener Schriftzüge schließlich schreibt sich der Dichter den auf diese Weise vergegenwärtigten Orient ein - und zwar nicht als äußere Signatur, sondern in einem performativen Transfer des Orients selbst. Dieses Verfahren weist gewisse Ähnlichkeiten zu dem auf, das Goethe im Noten-Kapitel Blumen- und Zeichenwechsel unter dem Begriff „Divination" faßt,151 und welches Friedrich Schleiermacher später in seiner Hermeneutik als eine von zwei Methoden des Verstehens beschreibt: Die divinaiorische ist die, welche, indem man sich selbst gleichsam in den ändern verwandelt, das Individuelle unmittelbar aufzufassen sucht. Die komparative setzt erst den zu Verstehenden als ein Allgemeines und findet dann das Eigentümliche, indem es mit ändern unter demselben Allgemeinen Befaßten verglichen wird.152
In der Tat „verwandelt" sich der Dichter, um den Orient „unmittelbar aufzufassen". Allerdings wählt Goethe dabei gerade nicht den Weg des Verstehens, sondern den einer Einkörperung vermittels der arabischen Namenszüge, die er nachvollzieht. Jenseits aller Verstehensprozesse vermag sich der Dichter auf diese Weise den Orient vollständig anzueignen und sich selbst zu „orientalisiren". Es sind ,,diese[] geistig technischen Bemühungen", wie Goethe seine Schreibübungen im autobiographischen Rückblick sehr treffend nennt,153 welche ihm die philo-ethnologische Akkulturation ermöglichen. Aufgrund der Materialität der nicht lesbaren Schrift und der epiphanischen Wirkung der Namen kann das Nachmalen der arabischen Namenszüge seine performative Wirkung gleichsam körperlich entfalten. Goethe überwindet in diesem performativen Akt die historische und geographische Distanz zum Orient, geht „ernstlich hinein" und wird durch praktischen Nachvollzug selbst zum Orientalen.
6.3 Die Morphologie des Orients Wäre Goethe Ethnologe gewesen oder hätte er an einer Hermeneutik des Fremden gearbeitet, dann würde das Projekt einer solchen philo-ethnologischen Akkulturation sich selbst genügt haben. Der Verfasser des Westöstlichen Divan aber begibt sich als Dichter in den Orient. Und trotz der positiven Effekte, die Goethes Teilhabe am Osten — oder zumindest sein 151 Goethe FA 13.l, S. 210. 152 Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 169. 153 Tag- und Jabres-Heße auf das jähr 1817. In: Goethe WA I 36, S. 126.
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Reden darüber - zweifellos für seine Autorposition hat, ist der Weg dort hinein für ihn dennoch Mittel zum Zweck und nicht bereits Ziel der ästhetischen Unternehmung. Von diesem Ziel aber war bislang wenig die Rede, obgleich Goethes gezielte Hinwendung gerade zum Orient - und sei es im Bestreben, der krisenhaften Gegenwart europäischer Tagespolitik zu „entfliehen" — keineswegs selbstverständlich ist. Letzteres um so weniger, als die wahlverwandschaftliche Mahnung Ottiliens „Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen"154 zu Beginn des 19. Jahrhundert nicht allein den Naturforscher trifft, sondern auch den west-ösdichen Dichter. Denn mehr noch als eine Längen- und Breiten-Gradwanderung zwischen Orient und Okzident ist das D«w/-Projekt ein Vabanquespiel auf dem Feld des sich spezialisierenden Wissens. Eine ganze Reihe von Positionen sind hier bereits besetzt durch Orientalisten, Reisende, Theologen, Übersetzer, Sprachwissenschaftler. Kompetenz ist nicht (mehr) wohlfeil. Goethes gewissenhafte Arbeit an der eigenen Sprecherposition im Divan und in den Noten und Abhandlungen zeigt, daß ihm das Risiko seiner Unternehmung ebenso bewußt war wie die entsprechend gebotene Vorsicht. Daß Goethe in Kenntnis der Problemlage dennoch den Orient als „Fluchtort" wählt, mit beträchtlichem Aufwand die Distanz zu ihm zu überwinden sucht und es sogar unternimmt, sich zu „orientalisiren", muß also Gründe haben, die sich in der schlichten raum-zeitlichen Ferne des Ostens nicht erschöpfen. Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, Gestalt und besonderes Versprechen des Goethischen Orients - besonders in Hinblick auf den angestrebten Ertrag der orientalischen Akkulturation Goethes für seine Dichtung — noch genauer zu skizzieren.
6.3.1 Der Ariadnefaden Wie sich schon bei flüchtiger Durchsicht der verschiedenen Bücher des Divan und der Kapitel der Noten zeigt, tut man gut daran, jede Hoffnung auf klare Konturen des Orients, den Goethe historisch und geographisch durchmißt, umgehend fahren zu lassen. Hier reihen sich Araber an Hebräer, Perser an Parsen, der Prophet Mohammed pflegt traute Nachbarschaft mit dem Mongolenherrscher Timur, der persische Dichter Hafis mit dem vierhundert Jahre jüngeren Sultan Mahmud von Ghasna. Die arabische Sprache ist ebenso Gegenstand der Betrachtung wie der religiöse Kultus der Feueranbeter, der Exodus des Volkes Israel nicht weniger als die 154 Goethe HA 6, S. 416, vgl. auch: Hans-Christoph Buch: „Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen. Goethe und Humboldt". In: ders.: Die Nähe und die Ferne. Bausteine %u einer Poetik des kolonialen Blicks. Frankfurt a. iM. 1991, S. 35-50.
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mittelalterlich-persische Panegyrik. Diese heterogenen Zeiten, Räume, Völker und Phänomene sind — gemäß den Regeln des orientalistischen Diskurses — auch bei Goethe subsumierbar aufgrund ihres gemeinsamen orientalischen Charakters. Und so wechseln diejenigen Kapitel der Noten und Abhandlungen, welche besondere Personen, Zeiten und Räume zum Gegenstand haben, auch völlig bruch- und übergangslos mit solchen, die auf Allgemeinstes — und das heißt hier: auf allgemein Orientalisches — abheben, auf die orientalische Despotie, Dichtung, Sprache, Regentschaft. In diesen Abschnitten fehlt jede Differenzierung nach innerorientalischen Spezifika, hier waltet einzig das synekdochale Prinzip vor. Alle in diesem Zusammenhang angeführten Beispiele gelten pars pro ( für das Ganze des Orients. Nun ist dieses Verfahren des Oszillierens zwischen Besonderem und Allgemeinem, wie bereits mehrfach gesehen, ein zentrales Strukturprinzip des Orientalismus im 19. Jahrhundert und unbedingte Voraussetzung für die Existenz des Sinnkonzepts Orient generell. Diese basalen Diskursregeln bestimmen Goethes Orientalismus ebenso wie den aller anderen Autoren der Zeit. Die Suche nach den Spezifika des D««»-Orients muß also über die konkrete Orient-Topographie des Textes führen, über Goethes Auswahl und Ordnung der orientalischen Spezifika. Die Figur, die sich in diesem Zusammenhang als Fluchtpunkt anbietet, ist der persische Dichter Hafis. Kein anderer wird in den D/zw7-Gedichten so häufig genannt wie dieser. Goethe hat ihm ein Buch der Sammlung gewidmet, er ist Motto und Motiv zahlreicher Poeme, wird lyrisch angesprochen und besungen. Auch jede Entstehungsgeschichte des West-östlichen Oivan — sogar die vom Dichter selbst skizzierte — nimmt bei Hafis und dessen Lyrik ihren Ausgangspunkt.155 Bis ins Jahr 1815 spricht Goethe in seinen Briefen von seiner eigenen Orient-Dichtung durchweg als von den „Gedichten an Hafis",156 setzt ihn sogar in ironischer Allegorisierung mit dem Orient gleich.157 Und in der rückblickenden Selbstinterpretation der Tag- und Jahreshefte 1815 schreibt er über den Oivan des Persers den viel155 So überschreibt Anke Bosse die zweite Jahreshälfte 1814 auch schlicht mit „HafisPhasc". Vgl. Bosse: Schatzkammer l, S. 126-166. 156 Goethe an Riemer v. 29. August 1814: „Die Gedichte an Hafis sind auf 30 angewachsen und machen ein kleines Ganze, das sich wohl ausdehnen kann, wenn der Humor wieder rege wird." (Goethe WA IV, 25, S. 27 f.), vgl. auch: Goethe an Christiane von Goethe, Juli 1814: „Den 25tcn schrieb ich viele Gedichte an Hafis, die meisten gut." (Goethe WA IV, 25, S. 1), Goethe an Riemer über die Wiederaufnahme seiner Arbeit am Divan, Mitte November 1814: „Hafis hat sich auch wieder gemeldet." (Goethe WA IV 25, S. 78). 157 An Zelter vom November 1814: „Mohamed Schamsed-din hat sich auch wieder vernehmen lassen." (Goethe WA IV 25, S. 88) und vom 27. Dc/ember 1814: „Hafis hat mich fleißig besucht, und da ist denn manches entstanden, das dir in der Zukunft üebüche Melodien ablocken soll." (Goethe WA IV 25, S 118).
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zitierten Satz: „[...] ich mußte mich dagegen productiv verhalten, weil ich sonst vor der mächtigen Erscheinung nicht hätte bestehen können."158 Und so soll uns die Spur des Hafis als erster Ariadnefaden durch die labyrinthische Orient-Topographie Goethes dienen. Der schon mehrfach herangezogene Brief an Schlosser vom 23. Januar 1815, in welchem Goethe Verlauf und Ziel seiner orientalisch-poetischen Studien darlegt, wartet mit ersten Knotenpunkten auf: Ich habe mich gleich in Gesellschaft der persischen Dichter begeben [...]. Schiras, den poetischen Mittelpunct, habe ich mir zum Aufenthalte gewählt, von da ich meine Streifzüge, (nach Art jener unzähligen kleinen Dynasten nur unschuldiger wie sie) nach allen Seiten ausdehne. China und Japan hatte ich vor einem Jahre fleißig durchreist, und mich mit jenem Riesenstaat ziemlich bekannt gemacht. Nun will ich mich innerhalb der Grenzlinie der Eroberungen Timurs halten, weil ich dadurch an einem abermaligen Besuch im Jugendlieben Palästina nicht gehindert werde.159
Diese Skizze des DzV««-relevanten Orients ist die einzige ihrer Art und gerade aufgrund ihrer Metaphorik interessant. Auch dieser Ordnungsversuch des Orients setzt bei den persischen Dichtern an, wechselt dann aber auf die Ebene der Geographie und bedient sich einer aparten semantischen Mischung aus Reise und Krieg. Schiras, die Stadt des Hafis, bildet dabei den metonymischen Kopplungspunkt. Sie wird von Goethe ins Zentrum des so eröffneten orientalischen Spielfeldes gerückt, während die Eroberungszüge des Mongolenherrschers Timur Lenk — der deutschen Opernwelt seit der Frühen Neuzeit als Tamerlan bekannt160 — seine äußere Grenze bilden. Dem historischen Timur (reg. 1360-1405) gelang es bis zu seinem Tod im Jahre 1405, ein Gebiet zu besetzten, das von Nordindien über Persien und Anatolien bis nach Syrien reichte. Hafis, der 1390 stirbt, ist Zeitgenosse Timurs und sein Untertan.161 Doch Goethe ersetzt die politische Hauptstadt des Reiches — Samarkand — durch Schiras, den „poetischen Mittelpunct". Diese Figurenkonstellation zwischen persischem Dichter und mongolischem Eroberer ist für die poetische Gestalt und den Aufbau des Divan von großer Bedeutung — von der durch Goethe selbst nahegelegten Deutung dieser Figuration als Spiegel des eigenen Verhältnisses zu Napoleon ganz zu schweigen.162 In seiner orientalischen Raum158 Goethe WA 136, S. 91. 159 Goethe an Christian Heinrich Schlosser v. 23. Januar 1815 (Goethe WA IV 25, S. 165). 160 Vgl. Kap. 3.3. 161 Vgl. Gerhard Endreß: Der Islam, Eine Einführung in seine Geschichte. 2., überarbeitete Aufl. München 1991, S. 89,134f., 153 u. 158. 162 Diese Interpretation macht sich vor allem am Buch Timur fest, zu dem Goethe bereits in seiner Ankündigung des Divan im Morgenblatt für gebildete Stände geschrieben hatte: „Timur-name, Buch des Timur, fasst ungeheure Weltbegebenheiten wie in einem Spiegel
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Ordnung aktualisiert Goethe in diesem Zusammenhang jedoch andere Aspekte. Die Wahl der timuridischen Reichsgrenze als Referenzgröße, die auch die Topographie des D«w/-Gedichts Nur wenig ist's was ich verlange strukturiert,163 dient ihm hier zunächst dazu, die östlichen Gegenden Japan und China aus seinem orientalischen Radius auszuschließen;164 ebenso Nordafrika und Spanien. Das Reich Timurs lag, verglichen mit denen der vorangegangene Mongolen-Chane, nämlich tatsächlich sehr weit im Westen Asiens, reichte aber nicht weiter als bis zur Levante. Nach diesem asiatisch-westlichen Orient richtet sich also auch Goethes Blick. Innerhalb von Timurs Territorium sieht er sich nämlich in die Lage gesetzt, eine imaginäre Reiseroute von Schiras aus über Bagdad nach Palästina zu entwerfen und damit in einem synchronen Raum die drei orientalischen Völker zusammenzufassen, die im Zentrum des Divan stehen: Perser, Araber und Hebräer. Daß Goedie dafür den Preis historischer Unsauberkeit zahlt — de facto reichten Timurs Eroberungszüge nicht weiter ins Heilige Land hinein als bis Damaskus -, zeigt, wie wenig ihm an einer historischen Rekonstruktion gelegen war. Vielmehr hat das timuridische Reich die Funktion eines pragmatischen Apropos, ausgehend von dem Goethe eine mittelalterliche Landkarte des Orients entrollt, um darauf eine Fläche abzustecken, an deren Schlüsselkoordinaten er dann wiederum historische Achsen einzieht. Das „Jugendliebe[] Palästina", dem er bei einem seiner orientalischen „Streifzüge" einen „Besuch" abzustatten vorhat, existiert zur Zeit von Hafis und Timur schließlich längst nicht mehr. Es ist das frühantike Land der alten Hebräer, mit welchem Goethe sich in seiner Jugend beschäftigt auf, worin wir, zu Trost und Untrost, den Wiederschein eigner Schicksale erblicken." (Goethe FA I 3.1, S. 550). Vgl. dazu auch: Goethes Gespräch mit Sulpiz Boisseree v. 3. August 1815. In: Goethes Gespräche. Hrsg. v. W. v. Biedermann. 10 Bde. I^ipzig 1889-96, Bd. 3, S. 189. 163 Dessen dritte Strophe beginnt mit den an Suleika gerichteten Versen „Dir sollen Timurs Reiche dienen,/ Gehorchen sein gebietend Heer", woraufhin dann durch die Einstreuung verschiedener Städtenamen eine Topographie der Liebe in den Grenzen des spätmongolischen Reiches skizziert wird. Vgl. Goethe FA I 3.1, S. 81 f. 164 Seine Bemerkung, er habe Japan und China im vorangegangenen Jahr bereits „fleißig durchreist" und sei damit inzwischen „vertraut", ist eine Übertreibung. Gemessen an dem Aufwand, mit welchem er seit 1814 Studien des Nahen und Mittleren Ostens betrieb, erscheinen seine ostasiatischen Studien zu jener Zeit jedenfalls wenig tiefgreifend. Die Tagebücher verzeichnen während der hier zur Verhandlung stehenden Zeit vom 2. bis 16. Oktober 1813 eine Beschäftigung mit China, ein Brief am Knebel desgleichen für den 10. November 1813. Als entscheidende und fruchtbarste Zeit für Goethes chinesische Studien gilt in der Forschung das Jahr 1827. Vgl. dazu Monika Lemmel: „Der Orient, China und klassische Poetologie in Goethes Spätwerk". In: Begegnung mit eiern , fremden", Bd. 7, S. 136-144; Günter Debon: „Goethes Berührungen mit China". In: Goethe-Jahrbuch 117 (2000), S. 46-55, ders.: „Goethes Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten in sinologischer Sicht". In: Euphorien 76 (1982), S. 27-57.
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hatte und das er nun erneut bereisen will.165 Sein Weg von Schiras nach Palästina führt also in die fernere hebräische Vergangenheit — genauer: in die Vergangenheit der althebräischen Dichter. Hier, im „lieblichsten Bezirk von Canaan" sei, so Goethe im Anschluß an die im Kap. 4.2 dieser Arbeit skizzierte historisch-kritische Bibelwissenschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts, mit der Bibel die ,,älteste[] Sammlung [...] orientalischer Poesie" entstanden.166 Was der Dichter sich bei seinem Ausflug in jenes Palästina vor Augen führen will, ist die Umgebung dieser Ur-Dichtung. Sich „in jene Zustände hinein zu ahnden, in welchen die Dichtenden gelebt", ist Ziel der Reise.167 Und auch an Persien interessiert Goethe nicht allein die Zeit von Hafis und Timur. Auch hier zieht er historische Linien, deren Fluchtpunkt in fernster Vergangenheit, in der Zeit der „ältesten Perser", liegt.168 Nur ist es hier keine ursprüngliche Poesie, die er zu finden vermeint, sondern ein ursprünglicher religiöser Kultus. Im Sonnen- und Feuer-Kult der alten Perser erkennt Goethe Zeichen einer „ersten kindlich-frohen Verehrung" des Göttlichen in vorgeschichtlicher Zeit. Hier sieht er eine „reine Naturreligion".169
6.3.2 Von der Reinlichkeit der Perser Bereits im Eingangsgedicht zum West-östlichen Divan fiel das Wort vom „reinen Osten", die Rede vom „Reinen und [...] Rechten", ins Auge. Und der programmatische Charakter des H