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German Pages [533] Year 2018
DEN JAZZ SOWJETISCH MACHEN KULTURELLE LEITBILDER, MUSIK MARKT UND DISTINKTION ZW ISCHEN 1953 UND 1970
MICHEL ABESSER
BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE OSTEUROPAS BEGRÜNDET VON DIETRICH GEYER UND HANS ROOS HERAUSGEGEBEN VON JÖRG BABEROWSKI KLAUS GESTWA JOACHIM VON PUTTKAMER FRITHJOF BENJAMIN SCHENK BAND 52
Den Jazz sowjetisch machen KULTURELLE LEITBILDER, MUSIKMARKT UND DISTINKTION ZWISCHEN 1953 UND 1970 VON MICHEL ABEßER
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: S. Berezin, Curičenko, Bryzgunov und Leonard Orlov im Kulturhaus ‚Ėnergetikov‘ Moskau 1961, Fotograf Vladimir Sadkovkin, Privatarchiv Michail Kull‘ © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Constanze Lehmann, Berlin Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-50121-1
I N H A LT S V E R Z E I C H N I S
1. EINLEITUNG........................................................................................... 7 1.1 Themenfelder und Fragestellung ......................................................... 12 1.2 Quellen und Vorgehensweise............................................................... 28 2. JAZZ IN DER SOWJETUNION BIS 1953............................................. 35 3. DER SOWJETISCHE MUSIKMARKT................................................. 47 4. MUSIK VERWALTEN?........................................................................... 59 4.1. Zensur und Medien.............................................................................. 59 4.1.1 Akustische Zensur zwischen Revolution und Kriegsende......... 62 4.1.2 Erosion durch Zentralisierung – Akustische Zensur im Spätstalinismus..................................................................... 69 4.1.3 Die Schallplatte als Konsum- und Kulturgut............................. 85 4.1.4 Fazit........................................................................................... 99 4.2 Das sowjetische Konzertwesen zwischen 1953 und 1964..................... 102 4.2.1 Publikum, Struktur und Funktionsweise des staatlichen Konzertwesens........................................................................... 104 4.2.2 „Aktive und qualifizierte Kader“ – Von der Verwaltung von Künstlern ............................................................................ 115 4.2.3 Planbare Popularität? – Das Repertoire..................................... 131 4.2.4 Kulturelle Versorgung – Geografie als organisatorische Herausforderung........................................................................ 148 4.2.5 „Und wer zahlt dafür?“ – Unterhaltungsmusik und der Plan...................................................................................... 163 4.2.6 Fazit........................................................................................... 181 4.3 Von der politischen Metapher zum musikalischen Begriff – Jazz im Urteil der Experten......................................................................... 189 4.3.1 Jazz im Spätstalinismus............................................................. 193 4.3.2 Ohne Denkverbote? – Jazz nach 1953........................................ 197 4.3.3 Jazz nach Öffnung des Landes................................................... 212 4.3.4 Sovetskij Džaz – Quo vadis?...................................................... 219 4.3.5 Fazit........................................................................................... 231 5. MUSIK SELBST VERWALTEN?........................................................... 235 5.1 Die musikalische Schattenwirtschaft................................................... 235 5.1.1 Die Börse................................................................................... 239 5.1.2 Der Tanzabend........................................................................... 248 5.1.3 Der Patron.................................................................................. 258 5.1.4 Fazit........................................................................................... 266
6 Inhaltsverzeichnis
5.2 Jazz auf Podium und Bühne – Jazzklubs und Jugendcafés.................. 273 5.2.1 Der Komsomol nach Stalin........................................................ 276 5.2.1.1 Der Komsomol als Mobilisierungsinstrument und Sicherheitsorgan ........................................................... 277 5.2.1.2 Der Komsomol und die Entdeckung jugendlicher Freizeit...................................................... 282 5.2.1.3 Der Komsomol als kultureller Akteur und Impulsgeber für den Jazz .............................................. 293 5.2.2 Der Jazzklub.............................................................................. 304 5.2.3 Das Jugendcafé Molodežnoe in Moskau.................................... 329 5.2.4 Das Molodežnoe als Dach und Netzwerk .................................. 338 5.2.5 Fazit........................................................................................... 349 5.3 Džazydesjatniki? – Jazz, Milieu und sowjetische Mittelklasse ........... 354 5.3.1 Der Klub als geschlossene Gemeinschaft.................................. 359 5.3.2 Das kulturelle Programm........................................................... 369 5.3.3 Kak ėtot delalos’ v Leningrade – Jazz und städtische Identität...................................................................................... 380 5.3.4 Fazit........................................................................................... 388 6. FALLSTUDIE I – DAS OLEG-LUNDSTREM-ORCHESTER............ 395 6.1 Jazz aus der östlichen Peripherie......................................................... 398 6.2 Die Neugründung als kulturpolitisches Experiment............................ 401 6.3 Das Orchester als Projektionsfläche..................................................... 408 6.4 Das Orchester als soziale, musikalische und politische Synthese........ 415 6.5 Fazit..................................................................................................... 425 7. FALLSTUDIE II – DIE BENNY GOODMAN TOURNEE 1962 ......... 427 7.1 Überforderung? – Jazz und der kulturelle Austausch ......................... 432 7.2 Sieger oder Verlierer? – Die Benny Goodman Tournee als Text des Kalten Kriegs................................................................................. 441 7.3 Die Tournee als Begegnungsraum ....................................................... 458 7.4 Fazit..................................................................................................... 467 8. RESÜMEE ................................................................................................ 475 9. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS................................... 491 9.1 Quellen ................................................................................................ 491 9.2 Literatur............................................................................................... 501 PERSONENREGISTER................................................................................ 523 SACHREGISTER.......................................................................................... 525
1. E I N L E I T U N G
Die letzte Etappe seiner Russlandreise 1958 in Soči am Schwarzen Meer hielt für den deutschen Schriftsteller Wolfgang Koeppen eine musikalische Enttäuschung bereit: „Am Abend spielte die Jazzkappelle sittsam, langweilig, bürgerlich. Die Gesellschaft tanzte. Sie tanzte sittsam und bürgerlich.“ Koeppen, bereits mehrfach während seiner Rundreise mit sowjetischen Hotelorchestern konfrontiert, fragte den ihm zugewiesenen Dolmetscher Bernadus, „warum man überall in der Sowjetunion diese dumme, kleinbürgerliche Schlagermusik und nicht den echten Jazz, den schönen wilden Jazz der Neger spielte.“ Bernadus hatte ihm während der Reise mehrfach kritische Fragen in unumstößlicher Weise beantwortet und entgegnete Koeppen nun, „dass die Sympathien für die politischen Rechte der Neger nicht gleichzusetzen seien mit der Übernahme ihrer Kultur.“ Koeppen möge doch bedenken, „dass die arbeitenden Menschen Russlands sich am Abend erholen und freuen wollten und dies täten sie bei den mir so peinlich bürgerlich erscheinenden Klängen der Hotelkapellen.“1 Was Koeppen hier irritierte, war weder die Tatsache, dass fünf Jahre nach dem Tod Stalins auch abseits der politischen Zentren Jazz in der Öffentlichkeit gespielt wurde, noch dass seine westeuropäische Vorstellung von zwei Arten von Jazz – einem kommerziellen, leichten auf der einen und einem authentisch-folkloristischen auf der anderen Seite – von der sowjetischen Kultur geteilt wurden. Den deutschen Besucher befremdete vielmehr die kulturelle Toleranz und gesellschaftliche Verbreitung einer Spielart des Jazz, die nicht mit Progressivität, sondern mit Kleinbürgerlichkeit assoziiert war. Zu einer ähnlichen Gesellschaftsanalyse fühlte sich im selben Jahr Klaus Mehnert beim Hören eines Tanzorchesters in einem der Moskauer Kulturparks herausgefordert. Er vernahm beim Blick auf vierzig tanzende Paare „eine nette leichte Melodie mit ein wenig Rhythmus, ein wenig Schmalz und ein wenig Romantik, sogar ein wenig Jazz, der zunehmend populär wird. Am Lauf der Welt und an der Entwicklung der Sowjetunion kann man doch nichts ändern, also sucht man sich ein Stückchen unpolitische Lebensfreude im Park.“2 Eine ganz andere Alltagsbeobachtung machte Gert Ruge im Winter des gleichen Jahres im Moskauer Hotel National. Ruge betrat einen, für diese Jahreszeit überraschend vollen Speisesaal, in dem aber kaum eine Stimme zu hören und die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf die Bühne konzentriert war. Dort lief Musik, „die ein einschlägig gebildeter westlicher Gast als Cool Jazz identifizieren 1 2
Koeppen, Wolfgang: Nach Rußland und anderswo. Frankfurt a. M. 1973, S. 176. Mehnert, Klaus: Der Sowjetmensch. Versuch eines Portraits nach dreizehn Reisen in die Sowjetunion 19290–1959. Stuttgart/Zürich/Salzburg 1959, S. 323.
8 Einleitung
würde.“3 Den durchaus talentierten Amateurmusikern, die der Direktor des Hotels verpflichtet hatte, um die Besucherflaute der Wintermonate zu kaschieren, hörten junge Sowjetbürger zu, „wie man sie eher in Schwabing oder Saint-Germaindes-Prés erwartet hätte.“4 Einen ähnlichen Zusammenhang von Alter und Art der gehörten Musik suggerierte der deutsche Regisseur Claus Hardt, den er in einem Artikel mit dem suggestiven Titel „Der Synkopen-Virus“ im September des Vorjahres in der Wochenzeitung Die Zeit herstellte. „Für einen bestimmten Teil der Jugend würde ich sogar den Jazz an die erste Stelle der Gefahren setzen. Er animiert, er verwirrt, er unterminiert. Irgendetwas in ihm lässt auch die Russen erwachen, jedenfalls die jungen.“5 Diese stark politische Lesart des sowjetischen Musikkonsums Mitte der 1950er-Jahre pointiert er am Ende seines Textes: „Der synkopische Virus, der von außen, über den Äther trotz totaler Quarantäne in die Jugend eingedrungen ist, lässt sich weder totschweigen noch wegkommandieren. Also versucht man jene Methode der Assimilierung, die Joseph Goebbels in seinem ähnlichen und ähnlich wechselvollen Kampf gegen die ,entarteten‘ Synkopen mit Erfolg anwandte: den ‚feindlichen‘ Jazz aufzusaugen, zu entkräften und für die eigenen Zwecke abzuwandeln.“6 Der Sound der Sowjetunion hatte sich nach dem Tod des Diktators offensichtlich verändert. Jazz, zu Beginn der 1950er-Jahre noch als „Musik der geistigen Armut“7 verfemt, hatte in kurzer Zeit seinen Weg zurück auf die Bühnen der sowjetischen Städte gefunden. Es herrschte jedoch weder bei den ausländischen noch bei den sowjetischen Beobachtern ein Konsens darüber, ob jene Musik vollwertiger oder angebrachter Jazz sei. Auch war den meisten nicht klar, wie dessen rasche Ausbreitung denn eigentlich zu verstehen sei. Für Koeppen und Mehnert war die Musik, die ihnen in volksnaher Umgebung begegnete, eher ein Zeichen von sowjetischer Kleinbürgerlichkeit und Ablenkung vom vermeintlich politischen Schicksal. Beide beschrieben die Musik zudem als defizitär zum westlichen Jazz oder als schwer zu vermittelndes Hybrid. Der geneigte Leser konnte darin einen weiteren Beleg russischer Rückständigkeit erkennen. In Ruges Beobachtungen steht die Abgrenzung der Jugend im Zentrum, bei Hardt vielmehr die jugendliche Rebellion. Jazz wird bei Ruge authentisch und damit seine Anhänger als legitim beschrieben, während er bei Hardt durch die biologische Metapher des „Virus“ umso durchsetzungsfähiger erscheint. Hardt erweitert mit dem Vergleich zum 3 4 5 6 7
Ruge, Gerd: Gespräche in Moskau. Köln/Berlin 1961, S. 116. Ebd. Hardt, Claus: Der Synkopen-Virus, in: Die Zeit, 05.09.1957. Ebd. Gorodinskij, Viktor: Muzyka duchovny niščety. Moskau 1951; dt. Ausgabe: Musik der geistigen Armut. Halle 1952.
Einleitung 9
Nationalsozialismus seine Deutung durch ein totalitäres Narrativ. Eine solch politisierte Deutung des Jazz in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg prägte auch den Ton wissenschaftlicher Analysen bis 1991 und darüber hinaus. Der amerikanische Historiker Frederick Starr bezeichnete den Jazz in seiner Monografie Red and Hot als die „Lingua Franca sowjetischer jugendlicher Dissidenten.“8 Aber auch in den Lebensgeschichten der damaligen Akteure, wie dem Saxofonisten Aleksej Kozlov und dem Pianisten Jurij Vicharev, nimmt dieses Narrativ einen prominenten Platz ein.9 Für den Historiker strukturiert es komplexe Zusammenhänge, in der eigenen Biografie stiftet es retrospektiv Sinn. Für die ersten zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs scheinen kultur- und jugendpolitische Maßnahmen des sowjetischen Staates sowie seine Sprache gegenüber dem Jazz, eine solche polare Lesart zu unterstützen. Die Kampagne gegen die Jugendkultur der Stiljagi als Träger westlicher Kultur und Anhänger des Jazz sowie das Verbot zahlreicher Jazzbands und die Inhaftierung einzelner Musiker während der antiwestlichen Kampagnen des Spätstalinismus zeigen, dass in der Hochphase des Kalten Kriegs „die Assoziierung mit westlichen Lebensstilen hochgradig subversiv“10 erschien.11 Ein ganz anderes Panorama entfaltet sich eine Dekade später. Nachdem ab 1956 ein Boom an Jazzbands im Amateurbereich eingesetzt hatte, eröffnete der kommunistische Jugendverband Komsomol der wachsenden Zahl von Jazzenthusiasten aus dem studentischen Milieu die Möglichkeit, in Klubs durch Musik, Diskussionen und Vorträge gesellschaftlich nützliche Arbeit und eigene musikalische Präferenzen zu verbinden. Die ab Beginn der 1960er-Jahre entstehenden Jugendcafés boten jungen Musikern erstmals eine Möglichkeit, regelmäßig in legalem Rahmen vor Gleichgesinnten aufzutreten. Sie bestärkten damit die Amateurmusiker in ihrem Wunsch, sich zu professionalisieren und Anerkennung für Jazz als Kunstmusik zu gewinnen. Ausdruck für den Erfolg dieser Strategie wurden Jazzfestivals in allen größeren sowjetischen Städten, die der Komponistenverband organisierte und deren beste Aufnahmen die staatliche Schallplattenfirma Melodija herausbrachte. Die erfolgreichsten Musiker dieses Milieus durften das Land nicht nur bei Festivals in Warschau 1962 und Prag 1965 im sozialistischen Ausland repräsentieren, sondern wurden zu gefragten Instrumentalisten staatlicher Unterhaltungsorchester,
8 Starr, Frederick: Red and Hot. Jazz in Rußland 1917–1990. Wien 1990, S. 200. 9 Vgl. Kozlov, Aleksej: Dzhaz, rok i mednye truby. Moskva 2005; Vicharev, Jurij: Est’ čto vspomnit’ … Istorija žizni odnogo sovetkogo džazmena. St. Petersburg 2004. 10 Pilkington, Hilary: Russia’s Youth and Its Culture. A Nation’s Constructors and Constructed, London u.a. 1994, S. 67. 11 Vgl. Edele, Strange Young Men; Katzer, Nikolaus: Die belagerte Festung. Wiederaufbau, Nachkriegsgesellschaft und innerer Kalter Krieg in der Sowjetunion, 1945–1953, in: Osteuropa 50 (2000), S. 280–299. Zubkova, Elena: Obščestvo i reformy. 1945–1964. Moskva 1993.
10 Einleitung
darunter in einem der finanziell Einträglichsten, dem 1956 durch den sowjetischen Staat selbst gegründeten Oleg-Lundstrem-Jazzorchester. Diese Differenzen im gesellschaftlichen und politischen Status des Jazz zwischen 1953 und 1963 machen zweierlei deutlich. Eine historische Untersuchung dieses Phänomens und seiner politischen, sozialen und kulturellen Ursachen ist auf eine differenziertere Betrachtungsweise des Jazz angewiesen, die mehr leisten muss als eine simple Gegenüberstellung von jugendlichem Dissens und staatlicher repressiver Kulturpolitik. Auch wird klar, dass dieser Wandel nicht isoliert von der staatlichen Kulturpolitik betrachtet werden kann. Diese stand mit der Jugendkultur in engem wechselseitigem Austausch. Die unterschiedlichen Perspektiven von Koeppen und Mehnert auf der einen und Ruge und Hardt auf der anderen Seite werfen die Frage nach dem sowjetischen Staat und der kommunistischen Partei in dieser Entwicklung auf. Koeppens und Mehnerts Beobachtungen der Kleinbürgerlichkeit, die mit dem in den 1950er-Jahren erneuerten weltrevolutionären Anspruch des sowjetischen Projekts eigentlich kaum in Einklang zu bringen waren, suggerieren einen konzeptlosen, schwachen, fernen Staat. Ruges und Hardts Aufzeichnungen entwerfen hingegen ein Szenario, in dem Staat und Partei bereit sind, repressiv gegen jugendliche Tendenzen der Verwestlichung vorzugehen. Fragt man genauer nach den Akteuren, die diesen Prozess bestimmten, ergibt sich ein heterogenes Bild. Anders als die künstlerische Gattung der Literatur, die namensgebend für die Epoche des Tauwetters wurde, fügt sich die Jazzmusik nicht strikt in die gängigen kulturpolitischen Zäsuren der Chruščev- und frühen Brežnevzeit ein. Ihre Entwicklung unterlag weiterhin nicht klar der Zuständigkeit und Macht einem der Künstlerverbände, deren Plenen, Versammlungen und Beschlüsse bisher die Perspektive auf die Kulturpolitik nach 1953 bestimmen.12 Keine Resolution des Zentralkomitees bot eine klare ideologische Orientierung für den Umgang mit Unterhaltungsmusik oder Jazz. Die ZK-Resolution zur Oper Die große Freundschaft von 1948, mit der die antiwestliche Kampagne die Sphären der ernsten Musik erreichte, entbehrte jeglicher Referenzen zur leichten Musik, genau wie deren vorsichtige Korrektur im Jahre 1958.13 Das Schicksal dieser Musik entschied sich daher nicht nur in geschlossenen Gremien von Parteifunktionären oder Komponisten, sondern vor den Besuchern der Tanzplätze des Landes, in den Sendestudios des Radios, den Fabriken und Verkaufspunkten für Schallplatten und den lokalen Komitees des Komsomol, die den jungen Jazzmusikern ein Dach 12 Vgl. Lass, Karen: Vom Tauwetter zur Perestrojka. Kulturpolitik in der Sowjetunion (1953–1991). Köln/Weimar/Wien 2002. 13 Vgl. Politbüro CK VKP(b), Beschluss „Über die Oper ‚Die große Freundschaft’ V. I. Muradeli“ 1948, in: Andrej Artizov/Oleg V. Naumov (Hg.), Vlast’ i Chudožestvennaja Intelligencija. ︡ K RKP(b)--VKP(b), VChK--OGPU--NKVD o kulʹturnoĭ politike: 1917–1953 gg. Dokumenty T︠S (Rossija) Moskva 1999, S.930–934; Vlasova, E. S.: 1948 god v sovetskoi muzyke. Moskau 2010.
Einleitung 11
und eine begrenzte Öffentlichkeit gewährten. Eben in dieser Vielfalt von Akteuren liegt eine methodische Herausforderung der vorliegenden Arbeit, aber auch ihr analytisches Potential. Eine politik- und sozialgeschichtlich motivierte Gesellschaftsgeschichte des sowjetischen Jazz setzt Institutionen zueinander in Beziehung, die bisher nicht gemeinsam untersucht wurden. Sie verortet kulturellen Wandel in einer vielversprechenden Grauzone zwischen den Welten der Profis und Amateure, in der Akteure, wie der Posaunist Konstantin Bacholdin, zunächst eine Ingenieursausbildung absolvierten, bevor sie als Musiker und Komponisten im Jazzbereich erfolgreich wurden. Darüber hinaus bietet die Perspektive auf den Jazz eine alternative Periodisierung der sowjetischen 1950er- und 1960er-Jahre. Diese Geschichte des Jazz sträubt sich – stärker als der Literaturbetrieb – gegen die Tendenz in chronologischen Darstellungen, Kulturpolitik stark an den politischen „Großwetterlagen“ der Sowjetgeschichte auszurichten. Sie entzieht sich einer Deutung sowjetischer Kulturpolitik, die zwischen Liberalisierungsphasen des ersten Tauwetters zwischen 1953 und 1956 und der zweiten Entstalinisierungswelle nach dem XXII. Parteitag 1961 einerseits, und der Rückkehr zu ideologischen Dogmen durch den Manege-Skandal 1962, die Prozesse gegen die Schriftsteller Julij Daniel und Andrej Sinjavskij 1965 und den Prager Frühling 1968 andererseits pendelt. Der Blick auf einzelne, mit dem Jazz verbundene Praktiken ermöglicht eine detaillierte Einschätzung des kulturellen, sozialen und politischen Wandels, den der Jazz in den 1950er- und 1960er-Jahren repräsentierte aber auch prägte. Entsprechend der Vielzahl involvierter Akteure aus Jugend-, Kultur- und Wirtschaftspolitik, aber auch einzelnen Stimmen der post-stalinistischen Gesellschaft wurden die Fragen, was Džaz ausmacht und wer ihn zu welchem Zweck spielen durfte, unterschiedlich beantwortet. Jazz war ein gesellschaftliches Thema und Medium, über das zentrale Fragen der Übergangsphase zwischen Stalinismus und Spätsozialismus verhandelt werden konnten.14 In den verschlossenen Sitzungszimmern der Künstlerverbände und Konzertorganisationen, in öffentlichen Versammlungen von Partei und Komsomol, aber auch in der Presse, in Kulturhäusern, Klubs und Jugendcafés sprachen sowjetische Bürger über mehr als Musik, wenn sie über Jazz sprachen. Dahinter verbargen sich Fragen nach dem Grad und den Folgen der kulturellen Öffnung des Landes, nach dem Verhältnis von ernster und unterhaltender Musik, der Legitimität des Populären, aber auch die Frage gesellschaftlicher Integration durch eine gemeinsame sowjetische Musikkultur und die 14 Vgl. Bittner, Stephen V.: What’s in a Name? De-Stalinisation and the End of the Soviet Union, in: Thomas M. Bohn/Rayk Einax/Michel Abeßer (Hg.), De-Stalinisation Reconsidered. Persistence and Change in the Soviet Union. Frankfurt a. M./New York 2014, S. 31–42; Belge, Boris/Deuerlein, Martin (Hg.): Goldenes Zeitalter der Stagnation? Perspektiven auf die sowjetische Ordnung der Brežnev-Ära, Tübingen 2014.
12 Einleitung
Distinktion von Gruppen, wie jenen Besuchern des Hotels National im Winter 1958. Jazz als Medium führte somit Fragen der sowjetischen Gegenwart mit denen nach der Zukunft, aber auch der Vergangenheit zusammen. Nach Stalins Tod forcierten Teile der Parteieliten einen Anlauf zur Erneuerung des utopischen Zukunftsversprechens und änderten auf Basis einer neu formulierten Ideologie auch das Beziehungssystem zwischen Staat und Bevölkerung.15 Das Verhältnis zur Vergangenheit, die eine tief traumatisierte Gesellschaft hinterließ, blieb ambivalent und versperrte sich trotz halbherziger Entstalinisierungspolitik einer kritischen Auseinandersetzung.16 Genau aber an dieser kontingenten Vergangenheit knüpften die kulturpolitischen und gesellschaftlichen Diskussionen im Kontext des Kalten Kriegs an. Der Sovetskij Džaz, als umstrittener aber erfolgreicher Teil stalinistischer Massenkultur der 1930er-Jahre, nahm eine durch den Spätstalinismus unterbrochene Traditionslinie wieder auf, die auch offenen Gegnern des amerikanischen Jazzidioms einen positiven Anknüpfungspunkt bot.
1.1 T he me n feld e r u nd Fr a ge s t el lu ng Zwei miteinander verschränkte Prozesse stehen im Zentrum der vorliegenden Arbeit. Erstens wird die Entwicklung des Jazz von einer ideologisch und politisch marginalisierten Musikform zu einem legitimen Teil der sowjetischen Unterhaltungskultur untersucht. Im Mittelpunkt stehen die kulturpolitischen Aushandlungsprozesse, in denen der aus den 1930er-Jahren stammende Sovetskij Džaz in den 1950er- und 1960er-Jahren neu definiert und erweitert wurde. Zweitens beleuchtet die Arbeit, wie eine Gruppe junger Sowjetbürger versuchte, eine spezifische Form des Jazz, der als improvisierte Instrumentalmusik stark am amerikanischen Vorbild des Bebop und Cool Jazz orientiert war, als kulturelles Projekt in den 1950er- und 60er-Jahren zu einer legitimen Form von Kunstmusik zu etablieren. Diese Prozesse folgten weder dem Plan einer konsistenten staatlichen Kulturpolitik noch lassen sich deren Akteure in einem polaren Modell von Konformismus und Dissens gegenüber dem sowjetischen Projekt verorten. Durch die Untersuchung des Jazz können somit bisher historisch wenig thematisierte politische und gesellschaftliche Entwicklungen der 1950er- und 1960er-Jahre analysiert und 15 Vgl. Dobson, Miriam: The Post-Stalin Era. De-Stalinization, Daily Life, and Dissent, in: Kritika 12 (2011), S.905–924; Weiner, Amir: Robust Revolution to Retiring Revolution: The Life Cycle of the Soviet Revolution, 1945–1968. in: Juliane Fürst/Polly Jones/Susan Morrissey (Hg.), The Relaunch of the Soviet Project, 1945–1964, in: The Slavonic and East European Review 86 (2008), 2, S. 208–231. 16 Vgl. Jones, Polly: Myth, Memory, Trauma. Rethinking the Stalinist Part in the Soviet Union, 1953–1970. New Haven/CT 2013.
Themenfelder und Fragestellung
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ursächlich erklärt werden. Durch die gewählte Verbindung von makro- und mikrohistorischen Ansätzen rücken bisher kaum untersuchte Beziehungen zwischen kulturpolitischen Akteuren der post-stalinistischen Gesellschaft in den Fokus. Existierende Periodisierungsangebote der sowjetischen Geschichte zwischen Zweitem Weltkrieg und Spätsozialismus können so hinterfragt werden. Eine so konzipierte Untersuchung des sowjetischen Jazz nach 1953 leistet einen Beitrag zu den folgenden drei Themenfeldern.
Sowjetische Kulturpolitik nach 1953 Die vorliegende Arbeit trägt erstens zu einem besseren Verständnis poststalinistischer Kulturpolitik bei, indem ein musikalisches Genre ins Zentrum gerückt wird, für das von Seiten der Partei- und Staatsführung kein konzises Konzept kulturpolitischer Leitlinien existierte. Es ist aufschlussreich, Kooperation und Konflikte jener verschiedenen kulturellen Institutionen zu untersuchen, deren Kontrolle und Verwaltung der Jazz als Teil der sowjetischen Estrada unterworfen war. Anhand der überlappenden und nicht eindeutig definierten Zuständigkeitsbereiche kann eine solche Perspektive auf den Jazz als politisch aufgeladenem Teil der Estrada die Möglichkeiten und Grenzen von Kontrolle kultureller Produktion durch die kommunistische Partei nach 1953 aufzeigen. Am Beispiel des Jazz setzt dieser Zugang das sowjetische Zensursystem, die Medienproduktion, musikalische Experten und das System der staatlichen Konzertorganisationen zueinander in Beziehung. Bisherige Studien zur sowjetischen Kultur nach 1953 haben einen Schwerpunkt auf Literatur gesetzt, „dem primären Feld der Kultur, in dem sich die Parteiführung öffentlich wirksam mit der liberalen Intelligenzija auseinandersetzte.“17 Dem Literaturbetrieb widmete das ZK zahlreiche Beschlüsse. Es übte durch die Besetzung von Ämtern in literarischen Zeitschriften und dem Schriftstellerverband Einfluss auf den Schaffensprozess aus und griff mehrfach in dessen Konflikte aktiv ein.18 Die Literatur wurde aufgrund ihrer prominenten Rolle im sowjetischen Kulturkanon auch zum Instrument des politischen Machtkampfs, der mit Chruščevs inkonsistenten Schritten zur Entstalinisierung verbunden war.19 Die damit einhergehenden Konflikte um literarische Inhalte und künstlerische Spielräume, wie die Affäre um Boris Pasternak 1958 und die Prozesse gegen Daniel und Sinjavskij 1965, 17 Condee, Nany: Cultural Codes of the Thaw, in: William Taubmann (Hg.), Nikita Khrushchev, New Haven 2000, S. 160–176, hier, S. 161. 18 Vgl. Frankel, Edith Rogovin: Literature and Politics under Khrushchev. The Return of Tvardovsky to Novyj Mir July 1958, in: Russian Review 35 (1976), S. 155-172. 19 Vgl. Woll, Josephine: The Politics of Culture, 1945–2000, in: Ronald Grigor Suny (Hg.), The Cambridge History of Russia, Bd. 3 „The Twentieth Century“. Cambridge 2015, S. 606–635.
14 Einleitung
strukturieren das Verständnis der sowjetischen Kultur nach 1953.20 In dem damit verknüpften Narrativ ringen aufrichtige Literaten mit ihren Forderungen nach mehr Individualität, Gesellschaftskritik und Erweiterung ästhetischer Ausdrucksformen mit konservativen Parteivertretern, die mit dem Sozialistischen Realismus verbundene Werte wie Parteilichkeit, Klassenverbundenheit und Heroismus einforderten und die literarisch liberale Periode Mitte der 1960er-Jahre radikal beendeten. Im Feld der Musik, dem die Estrada und Jazz zuzuordnen sind, erwies sich das Formulieren und Durchsetzen einer Parteilinie bereits als schwieriger. Ihr „hoch interpretationsbedürftiger Charakter“21 wertete Komponisten und Musikwissenschaftler als Experten der Deutung und Normsetzung auf. Simo Mikkonen und Kiril Tomoff haben gezeigt, wie sich der sowjetische Komponistenverband seit den 1930er-Jahren konsolidieren konnte. Er erlangte in der Nachkriegszeit schließlich die Deutungshoheit über Wesen und Diskurse zur sowjetischen Musik und einen mit keinem anderen Künstlerverband vergleichbaren Grad an Autonomie.22 Gerade aber der Entwicklung der Estrada, eines Genres, das wesentlich weniger prestigeträchtig war als die Sinfonie oder die Oper, maß der Verband in seinen internen Auseinandersetzungen um die Entwicklung sowjetischer Musik und den Umgang mit ehemals verfemten und neuen ästhetischen Einflüssen aus dem Westen geringere Aufmerksamkeit bei.23 Doch wie wurde dieser Mangel an fachlicher Expertise kompensiert? An welchen Orten – außerhalb der geschlossenen Partei- und Verbandsöffentlichkeiten – konnten diese Aushandlungsprozesse ausgetragen werden?24 Die Frage nach den Kontroll- und Gestaltungsmöglichkeiten der Partei für die Entstehung und Verbreitung von Estrada- und Jazzstücken erlaubt es, die Perspektive darüber hinaus auf die akustische Zensur und die Funktion der sowjetischen Konzertorganisationen zu erweitern, die historiografisch bisher kaum Aufmerksamkeit erhalten haben.25 Durch den Beginn der Untersuchung im Spätstalinismus 20 Vgl. Finn, Peter; Couvée, Petra: The Zhivago Affair. The Kremlin, the CIA, and the Battle over a Forbidden Book. London 2014; Caute, David: Politics and the Novel during the Cold War. New Brunswick/N. J. 2010, S. 219–227. 21 Billington, James: The Icon and the Axe. An Interpretative History of Russian Culture. New York 1966, S. 578. 22 Vgl. Mikkonen, Simo: Music and Power in the Soviet 1930s. A History of Composers. Lewiston/ New York u.a. 2009; Tomoff, Kiril: Creative Union. The Professional Organization of Soviet Composers, 1939–1953. Ithaca/New York 2006. 23 Vgl. Lass, Tauwetter zur Perestrojka. 24 Vgl. Rolf, Malte: Von Schichten, Räumen und Sphären. Gibt es eine sowjetische Ordnung von Öffentlichkeit?, in: Gábor Tamás Rittersporn/Malte Rolf/Jan C. Behrends (Hg.), Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs. Zwischen partei-staatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten, Frankfurt a M. 2003, S. 389–421. 25 Vgl. Gorjaeva, Tat’jana Michajlovna: Politiceskaja cenzura v SSSR. 1917–1991. (Istorija stalinizma). 2. Aufl., Moskva 2009; Bljum, Arlen V.: Kak ėto delalos v Leningrade. Cenzura v gody ottepeli, zastoja i perestrojki, 1953–1991. St. Petersburg 2005.
Themenfelder und Fragestellung
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diskutiert die Arbeit nicht nur die Frage, inwieweit auch die Musikzensur in ihrer Umsetzung weniger vorhersagbar wurde, wie Geoffrey Hosking dies für die Zensur der Tauwetter-Literatur diagnostiziert hat.26 Diese Perspektive erlaubt es auch, die angeblich umfassende kulturelle Kontrolle im Spätstalinismus zu hinterfragen und nach den Ursachen des kulturellen Wandels vor 1953 zu suchen.27 Die Geschichte der Konzertorganisationen erweist über eine reine Organisationsgeschichte hinaus die Möglichkeit, erstmals die Transmitter zwischen den bisher untersuchten musikalischen Produktionen einzelner Komponisten und Stilrichtungen und dem sowjetischen Publikum zu diskutieren. Anhand der Konzertorganisationen und ihres Umgangs mit Unterhaltungsmusik lässt sich die Frage kritisch erörtern, wie der politische Diskurs des Tauwetters mit seiner starken Emphase auf den Bedürfnissen der Bevölkerung in die Kulturpolitik der Partei hineinwirkte. Vergleichend kann daher gefragt werden, inwieweit sich nach Ende des Spätstalinismus wieder jene Verhandlungssituation zwischen Partei, Künstler und Bevölkerung einstellte, die Matthias Stadelmann als Charakteristika für die Estrada der 1930er-Jahre ausgemacht hat.28 Anhand der Konzertorganisationen, die die Partei in den 1950er-Jahren grundlegenden Reformen unterzog, spiegelt sich der noch wenig thematisierte Dualismus aus wirksamer ideologischer Sinnstiftung durch die Partei und der Frage staatlicher Finanzierung sowjetischer Massenkultur im Spätsozialismus wider. Dieser bisher kaum untersuchte wirtschaftliche Aspekt sowjetischer Kultur und die dahinterstehende Frage, welche Relevanz finanzielle Ressourcen in der sozialistischen Kultur generell spielten, kann hier zwar nicht umfassend beantwortet, aber am Beispiel der Konzertorganisationen tiefer ausgelotet werden.29 Eine Analyse der sowjetischen Medienentwicklung, allen voran der Schallplattenproduktion, vermag es, die These vermeintlicher ideologischer Orientierungslosigkeit innerhalb des Zentralkomitees zwischen 1953 und 1955 zu überprüfen.30 Inwieweit mit der fehlenden kulturpolitischen Konzeption eine Kompetenzabgabe 26 Vgl. Hosking, Geoffrey: Beyond Socialist Realism. Soviet Fiction since Ivan Denisovich. London 1980, S. 20. 27 Vgl. Pyzhikov, Aleksandr V.: Soviet Postwar Society and the Antecedents of the Khrushchev Reforms, in: Russian Studies in History 50 (2011), 3, S. 28–43; Katzer, Belagerte Festung. 28 Vgl. Stadelmann, Matthias: Isaak Dunaevskij. Sänger des Volkes. Eine Karriere unter Stalin. Köln 2003, S. 460. 29 Vgl. Makanowsky, Barbara: Music to Serve the State, in: Russian Review 24 (1965), S. 266–277. 30 Vgl. Eimermacher, Karl: Parteiverwaltung der Kultur und Formen ihrer Selbstorganisation. Vorwort zur Serie der Dokumentensammlung, in: E. S. Afanaseva/V. Ju Afiani (Hg.), Ideologičeskie komissii CK KPSS. 1958–1964: dokumenty. (Serija Kulʹtura i vlastʹ ot Stalina do Gorbačeva) Moskva 1998, S. 5–22; Afiani, V. Ju.: Die Ideologische Kommission des ZK KPSS (1958–1964) im Mechanismus der Verwaltung der Kultur, in: E. S. Afanaseva/V. Ju Afiani (Hg.), Ideologicheskie komissii CK KPSS. 1958–1964: dokumenty. (Serija Kulʹtura i vlastʹ ot Stalina do Gorbačeva). Moskva 1998, S. 23–29.
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an Fachexperten einherging, kann diese Arbeit beispielhaft ebenso hinterfragen wie die Folgen der Medienentwicklung. Während zum sowjetischen Radio und Fernsehen eine größere Zahl neuerer Untersuchungen vorliegt, bildet die Produktion und Distribution des für die Ausbreitung des Jazz so relevanten Mediums der Schallplatte ein Desiderat, dem hier nachgegangen wird.31 Durch deren Produktionslogik und dezentrale Organisation erhielt die Frage der Steuerung von Unterhaltungsmusik eine wirtschaftspolitische Komponente, deren Herausforderungen für die Partei erstmals näher beleuchtet werden. In dieser Grauzone zwischen Kulturund Wirtschaftspolitik ist schließlich auch die musikalische Schattenwirtschaft zu verorten, die wesentlich schneller als die kulturelle Planwirtschaft auf die Nachfrage nach Unterhaltungsmusik reagierte. Deren symbiotisches Verhältnis zu den staatlichen Konzertorganisationen ist bisher nicht in das Blickfeld der Forschung geraten. Durch das Brennglas des Jazz wird damit die für die spätsowjetische Planwirtschaft verortete wechselseitige Abhängigkeit zwischen Planwirtschaft und Schattenwirtschaft im Bereich der Kultur thematisiert.32 Ein zweiter Randbereich der kulturellen Produktion, der besonders für die Gruppe jugendlicher Jazzenthusiasten zum legitimen Rahmen für das Spielen von Jazz wurde, ist die künstlerische Laientätigkeit, deren Einfluss auf die Inhalte und Praktiken sowjetischer Kultur erst langsam in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät.33
Poststalinistische Gesellschaft und Kultur Die Geschichte des Jazz ist zweitens ebenso eine Geschichte der Organisatoren und Verwalter der sowjetischen Musik wie die ihrer Hörer. Diese verschiedenen Gruppen traten in der nachstalinistischen Sowjetunion als Teil einer im Umbruch befindlichen Gesellschaft in Erscheinung. Musiker, Organisatoren, Lektoren und 31 Vgl. Roth-Ey, Kristin: Moscow Prime Time. How the Soviet Union Built the Media Empire that Lost the Cultural Cold War. Ithaca/NY u.a. 2014; Christine: Taylor/Pauline B.: Underground Soviet Broadcasting, in: Russian Review 31 (1972), 2, S. 173–174; Gorjaeva, Tat’jana M.: Radio Rossii. Političeskij kontrol radioveščanija v 1920-ch – načale 1930-ch godach, dokumentirovannaja istorija. Moskva 2009 (Istorija stalinizma). 32 Vgl. Feldbrugge, F. J. M.: Government and Shadow Economy in the Soviet Union, in: Soviet Studies 36 (1984), S. 528–543. 33 Vgl. Smith, Susannah Lockwood: From Peasants to Professionals. The Socialist-Realist Transformation of a Russian Folk Choir, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 3 (2002), S. 393–425; Hilton, Alison: Humanizing Utopia. Paradoxes of Soviet Folk Art, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 3, 2002, S. 459–471; Constanzo, Susan: Amateur Theatres and Amateur Publics in the Russian Republic, 1958–71, in: The Slavonic and East European Review 86 (2008), S. 372–394; Dies.: A Theatre of Their Own. The Cultural Spaces of Moscow and Leningrad Amateur Studios 1957–1986, in: Canadian Slavonic Papers/Revue Canadienne des Slavistes 36 (1994), S. 333–347.
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Hörer waren aber auch Individuen, die über das Thema Jazz ihre Handlungsspielräume ausloteten. Den Anspruch, eine Gesellschaftsgeschichte der 1950erund 1960er-Jahre zu sein, löst die vorliegende Arbeit über zwei Perspektiven ein. Hans Ulrich Gumbrechts Diagnose, dass „Jazz vielleicht die einzige Kulturform [ist – M. A.], die Attribute raffinierten Geschmacks mit grobschlächtiger physischer Kraft verbindet“,34 lässt sich für den vorliegenden Zugang auf die Frage nach Unterhaltung und gesellschaftlicher Integration auf der einen und Distinktion auf der anderen Seite auflösen. In diesen beiden Perspektiven eröffnet sich eine weitere politische Dimension des Jazz als Teil nachstalinistischer Kultur. Eben weil sich Populärkultur und Unterhaltungsmusik weder nach einem konzisen ideologischen Plan entwickeln konnten noch durch einem linearen Prozess steuern ließen, werden sie hier analog zu den 1930er-Jahren als Prozess permanenter Verhandlung verstanden. Somit stehen Formen und Bedeutungen, die mit Jazz verknüpft sind, in einem Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Wandel und dessen Interpretation durch verschiedene, an diesem Aushandlungsprozess beteiligte Akteure. Bereits nach 1945 begann sich die sowjetische Gesellschaft durch die demografischen Folgen des Krieges, ideologische Krisen und die langsame Aufwertung des Konsums zu verändern. Wichtiger als die Kategorie der Klasse wurde neben dem Kriegsverdienst nun Besitz und Status innerhalb der Mittelklasse, auf die sich das Regime zunehmend stützte.35 Urbanisierung und soziale Stratifizierung der Gesellschaft nahmen nach 1953 zu, wobei sich im Zuge der Entstehung des sozialistischen Wohlfahrtsstaates nun das Finanz- und Zeitbudget der Bevölkerung durch umfangreiche Gehälter- und Pensionsreformen sowie die schrittweise Reduktion der Arbeitszeit deutlich vergrößerte. 36 Jazz als poststalinistische Unterhaltungs- und Kunstmusik ist eng mit der Frage der wachsenden Freizeit des Sowjetbürgers verknüpft. Deren Nutzung zur Erholung oder zur Weiterbildung und gesellschaftlichen Aktivität war ein Streitpunkt der 1950er- und 1960er-Jahre.37 34 Gumbrecht, Hans Ulrich: 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit. Frankfurt a. M. 2003, S. 158. 35 Vgl. Dunham, Vera S.: In Stalin’s Time. Middleclass Values in Soviet Fiction. Cambridge 1976; Fürst, Juliane (Hg.): Late Stalinist Russia. Society between Reconstruction and Reinvention. London/New York 2006. Klassen werden im sowjetischen Kontext nicht relational zueinander, sondern in der jeweiligen Beziehung zum Staat definiert. Vgl. Fitzpatrick, Sheila: Ascribing Class. The Construction of Social Identity in Soviet Russia, in: The Journal of Modern History 65 (1993), S. 745–770. 36 Vgl. Mücke, Lukas: Die allgemeine Altersrentenversorgung in der UdSSR, 1956–1972. Stuttgart 2013; Smith, Mark B.: The Withering Away of the Danger Society. The Pensions Reforms of 1956 and 1964 in the Soviet Union, in: Social Science History 39 (2015), 1, S. 129–148. 37 Vgl. Bushnell, John: Urban Leisure Culture in Post-Stalin Russian. Stability as a Social Problem?, in: Terry L. Thompson/Richard Sheldon (Hg.), Soviet Society and Culture. Essays in Honor of Vera S. Dunham. Boulder/Colorado 1988, S. 58–87; Guršin, Boris (u.a.): Die freie Zeit als Problem. Soziologische Untersuchungen in Bulgarien, Polen, Ungarn und der Sowjetunion. Berlin 1970.
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Diese Arbeit kann Zusammenhänge zwischen diesen sozioökonomischen Folgen der Reformen unter Chruščev und dem Kulturkonsum der Bürger aufdecken, der zwischen eigenem Unterhaltungsbedürfnis und Forderungen nach Entwicklung des Neuen Menschen in seiner Freizeit zu manövrieren hatte. In den Formen und Themen der Estrada spiegelt sich die Verschiebung ästhetischer Werte und inhaltlicher Präferenzen wider, die bisher vor allem für die Literatur und das Kino untersucht worden sind. Die Estrada als Sammelbegriff für Unterhaltungsmusik, in der der Jazz nach 1953 einen neuen und prominenten Platz erlangte, ist als sowjetisches Integrationsinstrument kaum erforscht worden. Aus Sicht von Teilen der sowjetischen Intelligencija und Vertretern der Rock-Gegenkultur hinterließ die Estrada der 1970er-Jahre in den Worten eines ihrer Vertreter „im Gegensatz zu den 1960er-Jahren nichts Erinnerungswertes.“38 Diese Sichtweise, die jener Perspektive westlicher Kritiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die Massenkultur ähnelt, widersprechen Richard Stites und David MacFayden. Beide Historiker betonen die zentrale Rolle der Unterhaltungsmusik für die Alltagskultur und kollektive spätsowjetische Identität.39 Besonders über das Medium des Fernsehens entwickelte sich die Estrada in den 1970er-Jahren als Integrationsangebot des Sowjetischen, das über Grenzen des Nationalen und des Systemzusammenbruchs 1991 seine Wirksamkeit entfalten konnte.40 Jazzmusik bildet einen Baustein dieses musikalisch heterogenen Kanons, der nach 1953 seine Ausgestaltung erfuhr.41 Nachdem zwischen staatlicher Kultur und dem Erfahrungsraum der Bevölkerung in den letzten Jahren Stalins schon eine deutliche Diskrepanz hervorgetreten war, wurde bereits kurz nach dessen Tod im März 1953 deutlich, „that many people desired something more than kolkhoz feasts, wartime exploits, industrial melodramas, and the endless performance of the reworked folk songs on radio
38 Troitskij, Artemy: Back in the USSR. The Story of Rock in Russia. London/New York 1987. 39 Vgl. Maase, Kaspar: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur, 1850–1970. Frankfurt a. M. 1997; MacFadyen, David: Red Stars. Personality and Soviet Popular Song, 1955–1991. Montreal 2001; Stites, Richard: Russian Popular Culture. Entertainment and Society since 1900. Cambridge/New York 1992. 40 Vgl. Evans, Christine: Song of the Year and Soviet Mass Culture in the 1970s, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 12 (2011), S. 617–645; Huxtable, Simon: The Problem of Personality on Soviet Television, 1950s–1960s, in: View. Journal of European Television History & Culture 3 (2014), 5, S. 119–130; Vgl. Platt, Kevin M. F.: Russian Empire of Pop. Post-Socialist Nostalgia and Soviet Retro at the „New Wave“ Competition, in: Russian Review 72 (2013), S. 447–69. 41 Vgl. Schmelz, Peter J.: „Crucified on the Cross of Mass Culture“. Late Soviet Genre Politics in Alexander Zhurbin’s Rock Opera Orpheus and Eurydice, in: Journal of Musicological Research 28 (2009), S. 61–87.
Themenfelder und Fragestellung
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and in clubs.“42 Die Abkehr vom Pathos in der Darstellung, eine Tendenz zur Entpolitisierung und der wachsende Fokus auf das Individuum sind nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Estrada auszumachen.43 Sowjetische Jazzorchester nach 1953, die in steigendem Maße Instrumentalstücke und Soloimprovisationen verarbeiteten, griffen diese Entwicklung auf. Anders als in den 1930er-Jahren konnten noch wollten sie die gesamte sowjetische Gesellschaft erreichen. Jazzorchester von Oleg Lundstrem oder Ėddi Rosner zielten auf das urbane Publikum der wachsenden sowjetischen Mittelschicht.44 Die vorliegende Untersuchung kann diesen Zusammenhang von gesellschaftlicher Differenzierung und diversifiziertem Hörerverhalten nach 1953 kritisch überprüfen. Untersucht wird, inwieweit nicht nur der sowjetische Leser, sondern auch der Hörer durch den politischen Wandel ermächtigt wurde, sich kritischer und selbstbewusster als vor 1953 mit Kunst auseinanderzusetzen.45 Die „Verwestlichung der Estrada“46 ist dabei nicht als linearer oder homogenisierender Prozess zu verstehen, sondern als Entwicklung hin zu einer Vielfalt, in der der hier untersuchte Jazz ein wichtiger Baustein wurde. Die Studie stellt die Entstehung und Etablierung eines jugendlichen Milieus an Jazzenthusiasten in einen größeren Forschungskontext, der nach dem Zusammenhalt der sowjetischen Gesellschaft und den individuellen Handlungsspielräumen nach Stalins Tod fragt. Hier rücken das Distinktionspotential des Jazz und die mit ihm verbundenen sozialen Praktiken ins Zentrum. Jazz als kulturelles Idiom jugendlicher Vergemeinschaftungsprozesse wurde in den letzten Jahren verschiedenartig thematisiert. Die geschichtswissenschaftliche Forschung hat ihn unter kulturgeschichtlichen Fragestellungen vor allem als politisches und identitätsstiftendes
42 Vgl. Barrett, Thomas M.: „No, A Soldier Doesn’t Forget“. The Memory of the Great Fatherland War and Popular Music in the Late Stalin Period, in: Canadian-American Slavic Studies 48 (2014), S. 308–328; Stites, Russian Popular Culture, S. 124. 43 Vgl. MacFadyen, Red stars. 44 Vgl. Byrski, Zbigniew: The Communist „Middle Class“ in the USSR and Poland, in: Survey. A Journal of Soviet and East European Studies (1969), S. 80–92; Bushnell, John: The „New Soviet Man“ Turns Pessimist, in: Cohen/Rabinovitch/Sharlet, Soviet Union, S. 179–199. 45 Vgl. Kozlov, Denis: „I Have Not Read, but I Will Say“. Soviet Literary Audiences and Changing Ideas of Social Membership, 1958–66, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 7 (2006), S. 557–597; Reid, Susan E.: Who Will Beat Whom? Soviet Popular Reception of the American National Exhibition in Moscow, 1959, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 9 (2008), S. 855–904; Kozlov, Denis: Naming the Socialist Evil: The Reader of Novyi mir and Vladimir Dudintsev’s Not by Bread Alone, 1956–59 and Beyond, in: Polly Jones (Hg.), The Dilemmas of De-Stalinization. Negotiating Cultural and Social Change in the Khrushchev Era, London, New York 2006, S. 80–98. 46 Grabowsky, Ingo: Motor der Verwestlichung. Das sowjetische Estrada-Lied 1950–1975, in: Osteuropa 62 (2012), 4, S. 21–36.
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Phänomen der Nachkriegszeit beleuchtet.47 Im Kontext der Nachkriegsjahrzehnte der westeuropäischen Staaten versprach Jazz für Jugendliche der Ober- und Mittelschichten Distinktionsgewinn und größere kritische Distanz gegenüber den USA als der Halbstarken- und Teenagerkultur.48 In sozialistischen Regimen hingegen führte die Aneignung von Kultur, die mit Amerika assoziiert war, zu heftigen Konflikten.49 Kultur konnte in den sozialistischen Staaten zunächst kein politikfreier Entfaltungsraum sein. Stattdessen deuteten Machthaber, Kulturschaffende und Konsumenten Geschmack und ästhetische Präferenzen als Marker für politische Loyalität. Der amerikanische Einsatz des Jazz als soft power des Kalten Krieges verstärkte den Eindruck seiner vermeintlich politisch subversiven Kraft auf Seiten der Herrschenden und ist zwar als Teil der amerikanischen Strategie im Kalten Krieg, kaum jedoch auf seine Wirkung hin wissenschaftlich untersucht worden.50 Für die Geschichte des Jazz in der polnischen Volksrepublik und den baltischen Staaten haben Rüdiger Ritter, Christian Schmidt-Rost und Heli Reihman spannende Fallstudien vorgelegt, die sich teils kritisch mit dem Narrativ der freiheitstiftenden Wirkung des Jazz auseinandersetzen.51 Frederick Starrs umfangreiche Monografie
47 Vgl. Taubenberger, Martina: „Ich bin ein befreites Subjekt“. Von einer jungen Generation im Nachkriegsdeutschland, die die Freiheit suchte – und den Jazz fand, in: Historische Anthropologie 14 (2006), S. 268–286; Pickhan, Gertrud: Ein Fenster zur Freiheit. Jazz in der Volksrepublik Polen, in: Osteuropa 56 (2006), S. 283–296. Vgl. Poiger, Uta G.: Amerikanischer Jazz und (ost) deutsche Respektabilität, in: Alf Lüdke/Peter Becker (Hg.), Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zur Herrschaft und Alltag, Berlin 1997, S. 119–136. 48 Vgl. Maase, Kaspar: Amerikanisierung von unten. Demonstrative Vulgarität und kulturelle Hegemonie in der Bundesrepublik der 1950er Jahre, in: Alf Lüdke/Inge Marssolek/Adelheitd von Saldern (Hg.), Amerikanisierung. Traum und Albtraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1996, S. 291–313; Vgl. Erdl, Mark Fabian/Nassauer, Armin: Kippfigur. Zur Geschichte der deutschen Jazzrezeption und ihrer Mythen von Weimar bis heute, in: Georg Bollenbeck/Thomas La Presti (Hg.), Traditionsanspruch und Traditionsbruch. Kulturelle Moderne und Bildungsbürgerliche Semantik II. Wiesbaden 2002, S. 185–227. 49 Vgl. Risch, William Jay (Hg.): Youth and Rock in the Soviet bloc. Youth Cultures, Music, and the State in Russia and Eastern Europe. Lanham/Maryland 2014.; Minor, William: Unzipped Souls: A Jazz Journey through the Soviet Union. Philadelphia 1995. 50 Vgl. Hixson, Walter L.: Parting the Curtain. Propaganda, Culture and the Cold War. New York 1997; Caute, David: Dancer Defects; Eschen, Penny Marie von: Satchmo Blows up the World. Jazz Ambassadors Play the Cold War. Cambridge Mass./London 2004. 51 Reimann, Heli: Late-Stalinist Ideological Campaigns and the Rupture of Jazz: ‚Jazz-talk’ in the Soviet Estonian Cultural Newspaper Sirp ja Vasar, in: Popular Music 33 (2014), 3, S. 509–529.; Dies.: Swing Club and the Meaning of Jazz in Estonia in the late 1940s, in: Gertrud Pickhan/Rüdiger Ritter (Hg.) Meanings of Jazz in State Socialism. Frankfurt a. M. 2016, S.193–223.; Ritter, Rüdiger: Jazz-Musiker als „Gründungsväter“ für nationale Jazzszenen?. Krzysztof Komeda und der polnische Jazz, in: Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung 11 (2010), S. 29–50.; Ders.: Der Kontrollwahn und die Kunst. Die Macht, das Ganelin-Trio und der Jazz, in: Osteuropa 2010 (11), S. 223–234. Schmidt-Rost, Christian: Jazz in der DDR und Polen. Geschichte eines transatlantischen Transfers. Frankfurt a. M. 2015.
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zum sowjetischen Jazz hingegen offenbart die Gefahr dieser Mythologisierung. Der bekannte Historiker und passionierte Jazzmusiker entfaltet seine Untersuchungen einseitig vor der Folie der amerikanischen Jazzentwicklung und verklärt daher allzu leichtfertig die Musik zum Ausdruck des Dissenses. Er charakterisiert die Protagonisten zu schablonenhaft und einseitig als Kritiker und Gegner des Regimes.52 In den sowjetischen und russischen Arbeiten, die auf eine Geschichte des Jazz „von unten“ zielen, fallen hingegen häufig wissenschaftliche Analyse mit Selbstlegitimierung und Kulturaffirmation zusammen.53 Da ihre Autoren ausnahmslos selbst in den Jazzmilieus der 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahre involviert waren, lassen sie teilweise die nötige Distanz zum Thema vermissen. Mehr analytischen Gewinn bieten die Studien von Juliane Fürst und Mark Edele, die die Unvollkommenheit der „von oben“ initiierten Abschottung von allen westlichen Kultureinflüssen anhand der Stiljagi, jener zentralen jugendlichen Trägergruppe des Jazz herausgearbeitet haben.54 Die vorliegende Arbeit hinterfragt das Narrativ des Jazz als Musik des Protestes, indem sie die Gründe analysiert, die die sowjetischen Jugendlichen bewegten, sich freiwillig innerhalb der vom Staat gebotenen Strukturen zu engagieren, um aus improvisiertem Jazz eine legitime Form sowjetischer Kultur zu machen. Dadurch kann nicht nur gezeigt werden, an welchen Stellen die sowjetische Politik jungen Bürgern Handlungs- und Gestaltungsmacht eröffnete, sondern auch, welche Schnittflächen zwischen diesem kulturellen Projekt einer kleinen Gruppe und den ideologischen Parametern und Normen der sowjetischen Führung bestanden.55 Besonders der Komsomol und seine neu ausgerichtete Jugendpolitik, die die Gestaltung der Freizeit zum wichtigsten Werkzeug machte, um den Enthusiasmus der Jugend für
52 Vgl. Starr, Frederick: Red and Hot. 53 Vgl. Fejertag, Vladimir: Džaz ot Leningrada do Peterburga. St. Petersburg 1999. Sehr ergiebig für die Perspektive „von unten“ sind die Memoiren von Aleksej Kozlov, Saxofonist der Jazzband Arsenal: Kozlov, Aleksej: Džaz, Rok i mednye truby. Moskau 2005. Die erste detaillierte Jazzgeschichte der Sowjetunion: Batašev, Aleksej: Sovetskij Džaz. Moskva 1972. Die umfangreichste Studie zum sowjetischen Jazz aus der Zeit der Perestrojka haben Aleksandr Medvedev und Ol’ga Medvedeva vorgelegt: Medvedev, Aleksandr; Medvedeva, Ol’ga: Sovetskij Džaz. Problemy, sobytija, mastera. Moskau 1987. Die neueste Darstellungen zum Jazz und seiner Verbindung mit Rock und Literatur der 1970er- und 1980er-Jahre: Kan, Aleksandr: Poka ne načalsja jazz. St. Petersburg 2008. 54 Vgl. Fürst, Juliane: The Importance of Being Stylish. Youth, Culture, and Identity in Late Stalinism, in: Dies. (Hg.), Late Stalinist Russia. Society between Reconstruction and Reinvention. London/New York 2006, S. 209–230; Edele, Strange Young Men, S. 37–61. Tsipursky, Gleb: Jazz, Power, and Soviet Youth in the Early Cold War, 1948–1953, in: The Journal of Musicology 33 (2016), 3, S. 332–361. 55 Vgl. Field, Deborah A.: Private Life and Communist Morality in Khrushchev’s Russia. New York u.a. 2007.
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das sowjetische Projekt neu zu beleben, stehen im Zentrum.56 Anhand der von der Jugendorganisation betreuten Jazzklubs und Jugendcafés, die Musikern, Lektoren und Fans Raum und Ressourcen für die Beschäftigung mit dem Jazz gaben, lässt sich deren ambivalente Position zwischen Dissens und Affirmation genauer ausloten. Diese Herangehensweise erlaubt es, einige der geschichtswissenschaftlichen Interpretationen des Spätsozialismus kritisch zu hinterfragen. In dem Maße, wie die Chruščev-Periode in der Forschung der letzten 20 Jahre den Ruf einer liberalen Epoche verlor, hat sich ein differenzierteres Bild politischer und gesellschaftlicher Konflikte etabliert, das auch die Polarität von Dissens und Konformität hinter sich lässt. Das Ende des stalinistischen Terrorapparates und die Auflösung der Lager gelten als einschneidende und folgenreiche politische Maßnahmen der 1950er-Jahre, die aber mehr von einer Verlagerung politischer Kontrolle als dem Verzicht auf sie gekennzeichnet waren.57 Neue gesellschaftliche Kontrollmechanismen konnten für einzelne gesellschaftliche Gruppen zu höherem Konformitätsdruck als vor 1953 führen.58 Im Zuge der Formulierung von Ansprüchen an die Erbauer der kommenden kommunistischen Gesellschaft und die Etablierung des Konsumkommunismus gewann die Frage nach sozialistischer Moral, Ästhetik und Geschmack zentrale Bedeutung. Dies war der Kontext, in dem auch Jazzmusik, Konzertpraxis und Erscheinungsbild von Musikern intensiv diskutiert wurde.59 Dass die Gemengelage an Interessen komplexer war als eine Polarität von „Liberalen“ gegen „Konservative“ oder dem „Regime“ gegen die „Bevölkerung“, lässt sich am Jazz auf verschiedenen Ebenen erkennen.60 Die Arbeit will aufzeigen, welche gesellschaftlichen Trennlinien in den Diskussionen um den Jazz deutlich werden und wie diese sich vor den politischen Veränderungen der sowjetischen Gesellschaft der 1950er- und 1960er-Jahre erklären lassen. Sowjetische Bürger waren trotz, oder eben aufgrund verschiedener Meinungen, zunehmend darauf 56 Vgl. Tsipursky, Gleb: Pleasure, Power, and the Pursuit of Communism. Soviet Youth and State-Sponsored Popular Cultura during the Early Cold War, 1945–1968. Diss. phil., Chapel Hill 2011; Ders.: Having Fun in the Thaw. Youth Initiative Clubs in the Post-Stalin Years. Pittsburgh 2012. 57 Vgl. Dobson, Miriam: Khrushchev’s Cold Summer. Gulag Returnees, Crime, and the Fate of Reform after Stalin. Ithaca 2009. 58 Fürst, Juliane: The Arrival of Spring? Changes and Continuities in Soviet youth Culture and Policy between Stalin and Khrushchev, in: Polly Jones (Hg.), The Dilemmas of De-stalinization. London/New York 2006, S. 135–153; Kharkhordin, Oleg: The Collective and the Individual in Russia. A Study of Practices. Berkeley/Calif. 1999. 59 Vgl. Dobson, The Post-Stalin Era; Reid, Susan E.: Cold War in the Kitchen. Gender and the De-Stalinization of Consumer Taste in the Soviet Union under Khrushchev, in: Slavic Review 61 (2002), S. 211–252; Field, Private Life and Communist Morality. 60 Jones, Polly: Introduction, in: Dies. (Hg.), The Dilemmas of De-stalinization. London/New York 2006, S. 1–18.
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bedacht, eine eigene Meinung gegenüber den Deutungsangeboten von Ideologie und Staat in Leserbriefen, Beschwerden, Petitionen oder Redebeiträgen auf Versammlungen zu artikulieren.61 Das Handeln der hier zu untersuchenden Akteure, die als Jazzenthusiasten oder lokale Vertreter von Konzertorganisationen auf dem sowjetischen Musikmarkt interagierten, wird mit dem Konzept des „Eigensinns“ besser erfasst als mit der Vorstellung des Dissens.62 Historische Studien zum Spätsozialismus haben solche antagonistischen Vorstellungen auch deshalb kritisiert, weil sie eine stark westliche Sichtweise auf das Individuum in den sowjetischen Bürger rückprojizieren oder seine vermeintlich polare Positionierung zwischen öffentlichem Wertebekenntnis und privatem Denken zur alltäglichen Schizophrenie erklären.63 Das stark rezipierte Modell von Alexei Yurchak hat hier Möglichkeiten aufgezeigt, die Trennung von offizieller und vermeintlich authentischer Kultur zu überbrücken. Es verweist auf die Gestaltungsmöglichkeiten des Bürgers in offiziellen Räumen und Institutionen durch individuelle Aneignung und Auslegung vermeintlich starrer ideologischer Schemata in den 1970er-Jahren.64 Gerade für die Dekade zuvor kann die Untersuchung des Milieus der Jazzenthusiasten, das sich durch ein Nebeneinander von Affirmation und kritischer Positionierung gegenüber Staat und Partei auszeichnet, einen Beitrag leisten. Der gewählte Untersuchungszeitraum des Tauwetters und der frühen Brežnevzeit konstituiert dabei in den Worten von Benjamin Nathans und
61 Vgl. Loewenstein, Karl E.: The Re-emergence of Public Opinion, in: Europe-Asia Studies 58 (2006), 8, S. 1329–1345; Jones, Polly: From the Secret Speech to the Burial of Stalin. Real and Ideal Responses to De-stalinization, in: Dies. (Hg.), The Dilemmas of De-stalinization. London/ New York 2006, S. 41–63; Schattenberg, Susanne: „Democracy“ or „Despotism“? How the Secret Speech was Translated into Everyday Life, in: Jones, Dilemmas, S. 64–79; Hooper, Cynthia: What Can and what Cannot Be Said. Between the Stalinist Past and the New Soviet Future, in: Slavonic and East European Review 86 (2008), 2, S. 306–327; Aksjutin, Jurij: Chruščevskaja „Ottepel’“ i obšestvennye nastroenija v SSSR 1953–1964 gg. Moskva 2004; Bohn, Thomas M.: „Im allgemeinen Meer der Stimmen soll auch meine Stimme erklingen ...“ Die Wahlen zum Obersten Sowjet der UdSSR von 1958 – Loyalität und Dissens im Kommunismus, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 524–549. 62 Vgl. Lüdtke, Alf: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Hamburg 1993; Davis, Belinda J.; Lindenberger/Thomas; Wildt, Michael (Hg.): Alltag, Erfahrung, Eigensinn. Historisch-anthropologische Erkundungen. Festschrift Alf Lüdtke zum 65. Geburtstag. Frankfurt a. M. 2008; Lindenberger, Thomas: Herrschaft und EigenSinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR. Köln 1999; Bohn, Thomas M.: „Resistenz“ und „Eigensinn“ in Minsk. Widerständiges Verhalten in der Sowjetunion, in: Osteuropa 57 (2007), S. 79–96. 63 Dubin, Boris: Gesellschaft der Angepassten. Die Brežnev-Ära und ihre Aktualität, in: Osteuropa 57 (2007), 12, S. 72; Vgl. Krylova, Anna: The Tenacious Liberal Subject, in: Kritika 1 (2000), 1, S. 19–46. 64 Vgl. Yurchak, Aleksej: Everything Was Forever, until It Was no more. The Last Soviet Generation. Princeton/NJ 2006.
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Kevin Platt „a period of fluidity, when policy, practice, and discourse concerning personal autonomy were scenes of contestation over the terms of the unwritten social contract.“65 Die Fragen nach den Gründen für das freiwillige Engagement für den Jazz innerhalb der vom Regime gestellten Institutionen und gesetzten Normen, aber auch nach dessen relativem Erfolg, verweisen auf den Zusammenhang von Kulturkonsum und sozialem Status seiner Träger, der im Gegensatz zur sowjetischen Rockbewegung bisher kaum untersucht wurde.66 Inwieweit der sowjetische Staat durch die Gewährung dieser ästhetischen Freiräume für eine soziale Gruppe, die sich überwiegend aus der systemrelevanten technischen Intelligencija zusammensetzte, die Idee des „little deal“ der 1970er-Jahre vorwegnahm, kann in diesem Zusammenhang erörtert werden.67 Eben die wissenschaftlich-technische Intelligenzija ist als eine eigene, hochgebildete Gruppe beschrieben worden, deren „Einfluss auf Gesellschaft und Kulturleben weit über ihre berufliche Kompetenz hinausreichte“68 und deren Sprache und Denkmuster den kulturellen Mainstream im liberalen Dissidentenspektrum prägten.69 Zu fragen ist, inwieweit innerhalb der Beziehungen dieser Gruppe zum sowjetischen Staat nicht nur die politische Musikkultur der sogenannten Barden berücksichtigt werden muss, sondern auch der Jazz Teil des Instrumentariums war, mit dem der sowjetische Staat seit den
65 Nathans, Benjamin/Platt, Kevin M. F.: Socialist in Form, Indeterminate in Content. The Ins and Outs in Late Soviet Culture, in: Ab Imperio (2011), S. 318–319. 66 Vgl. Troitskij, The Story of Rock in Russia; Starr, S. Frederick: The Rock Inundation, in: The Wilson Quartely 7 (1983), S. 58–67; Bright, Terry: Soviet Crusade against Pop, in: Popular Music 5 (1985), S. 123–148; Picturing Russia: Explorations in Visual Culture. New Haven, Conn. u.a. 2008; Thomas Cushman, Notes from Underground. Rock Music Counterculture in Russia. Albany 1995; McMichael, Polly: Imagining Soviet Rock. Akvarium’s „Triangle“, in: Picturing Russia: Explorations in Visual Culture. New Haven, Conn. u.a. 2008, S. 239–242; Nadelson, Reggie: Comrade Rockstar. The Life and Mystery of Dean Reed, the all-American Boy who Brought Rock ’n’ roll to the Soviet Union. New York 2006; Ryback, Timothy W.: Rock around the Bloc. A History of Rock Music in Eastern Europe and the Soviet Union, New York u.a. 1990; Stogov, Ilʹja: Bronzovyj rok. Ot „Sankt-Peterburga“ do „Leningrada“. Antologija. St. Petersburg 2004; Woodhead, Leslie: How the Beatles Rocked the Kremlin. The Untold Story of a Noisy Revolution. New York 2013; Zhuk, Sergei Ivanovich: Rock and Roll in the Rocket City. The West, Identity, and Ideology in Soviet Dniepropetrovsk, 1960–1985. Washington DC/Baltimore 2010. 67 Vgl. Millar, James R.: The Little Deal. Brezhnev’s Contribution to Acquisitive Socialism, in: Slavic Review 44 (1985), S. 694–706; Zaslavsky, Victor: The Neo-Stalinist State. Class Ethnicity, and Consensus in Soviet Society. Armonk 1982. 68 Zubok, Vladislav: Zhivago’s Children. The Last Russian Intelligentsia. Cambridge Mass./London 2009, S. 131. 69 Vgl. Lipovetsky, Mark: The Poetics of ITR Discourse in the 1960s and Today, in: Ab Imperio (2013), S. 109–131.
Themenfelder und Fragestellung
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1930er-Jahren als wichtig bewertete Gruppen und Milieus an sich band.70 Damit würde die politische Dimension dieser Form des Jazz über das von Peter Niedermüller als „symbolischen Tausch“ bezeichnete Phänomen hinausreichen. „Im Verzicht auf politische Aktivität außerhalb der Partei“, so Niedermüller, „sicherte diese einen bestimmten Lebensstandard innerhalb der Alltagswelt, in welcher dann Kulturtransfer möglich gewesen war.“71 Indikator für eine parteiliche Statusgruppenpolitik durch Kulturkonsum sind die Formen von Öffentlichkeit, die Komsomol und Komponistenverband mit den Jugendcafés und Jazzklubs herstellten. Inwieweit Jazzkultur Werkzeug und Ausdruck gesellschaftlicher Segmentierung wurde, kann eine solche Perspektive offenlegen. Mit Blick auf die Unterschiede zwischen der spezifischen Jazzkultur und dem breiteren Spektrum der wissenschaftlich-technischen Intelligencija wird eine differenzierte Sicht auf die Kategorie der Generation eingenommen, mit der die als Šestidesjatniki bezeichnete Alterskohorte der zwischen 1930 und 1940 Geborenen in der Forschung klassifiziert wurde.72 Darüber hinaus drückt eine besondere Variante des Jazz nicht nur eine spezifische Position innerhalb der nachstalinistischen Gesellschaft aus, sondern kann diese auch bestimmen. Jazz und Jazzkultur werden hier nicht nur als Indikator einer sozialen Position, sondern auch als möglicher sozialer Hebel verstanden, mit dem einzelne Individuen ihre soziale Position durch eine Karriere außerhalb des sowjetischen Ausbildungssystems, im Feld der Musik, verbessern konnten.
Sowjetische Kultur im Kalten Krieg Das dritte Themenfeld der vorliegenden Studie zum sowjetischen Jazz nach 1953 ist der Kalte Krieg und seine Rückwirkungen auf die Sowjetunion.73 Jazz als genuin amerikanische Musik gewann im Zuge des Systemkonflikts eine starke politische Relevanz. Die stalinistische Kulturpolitik nach 1946 berief sich in ihrer Repression des Jazz auf diese politische Verbindung, die mit dem bekannten Propagandaslogan
70 Vgl. Neutatz, Dietmar: Identifikation und Sinnstiftung. Integrative Elemente in der Sowjetunion, in: Osteuropa 57 (2007), S. 49–63, hier S. 44. 71 Niedermüller, Peter: Kultur, Transfer und Politik im ostmitteleuropäischen Sozialismus, in: Hartmut Kaelble/Martin Kirsch/Alexander Schmidt-Gernig (Hg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M./New York, S. 159–175, hier S.165. 72 Zu Generationsmodell im sowjetischen Kontext: Zubok, Zhivago’s Children; Alekseyeva, Ludmilla; Goldberg, Paul: The Thaw Generation. Coming of Age in the Post-Stalin Era. Pittsburg 1993. 73 Vgl. zum Kalten Krieg generell: Stöver, Bernd: Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters, 1947–1991. München 2007; Leffler, Melvyn/Westad, Odd Arne (Hg.): History of the Cold War. Cambridge 2001.
26 Einleitung
„Heute spielt er Jazz und morgen verrät er das Vaterland“74 auch breiteren Bevölkerungsschichten vermittelt werden sollte. Auch in der Epoche der „friedlichen Koexistenz“ und der kulturellen Austauschabkommen zwischen der Sowjetunion und dem Westen verlor Jazzmusik nicht an politischer Relevanz, sei es durch die Instrumentalisierung der Musik durch die US-amerikanische Außenpolitik in den Radiosendungen der Voice of America oder als Teil der Tourneen ausländischer Ensembles, die nach 1955 in der Sowjetunion auftraten. Eine Untersuchung, die der Frage nachgeht, wie sich sowjetische Kulturpolitik, aber auch lokale Jazzenthusiasten zum amerikanischen Jazz positionierten und Musik und ihre zugeschriebenen Bedeutungen aneigneten und veränderten, kann einen Beitrag zur Kulturgeschichte des Kalten Krieges leisten. Nachdem viele Studien zum kulturellen Kalten Krieg noch vom konfliktinternen Freund-Feind-Schema geprägt waren, hat sich seit Ende der 1990er langsam die Vorstellung durchgesetzt, den Konflikt als Kampf zweier Ideologien zu begreifen und auch Leitbegriffe wie „Freiheit“ und „Demokratie“ einer kritischen Analyse zu unterwerfen.75 Während der politische Kontext, die Organisation und der Verlauf des kulturellen Austauschs mit dem Westen, der 1955 seinen Anfang fand, bereits detailliert untersucht worden sind, bleiben deren Folgen für die sowjetische Gesellschaft noch unterbelichtet.76 Der detaillierte Blick auf den ersten Kontakt mit westlicher Konsumkultur und -erwartungen, an deren langfristig erodierender Wirkung für das sowjetische System keine Zweifel bestehen, zeigt, dass sich Sowjetbürger nach 1953 durchaus kritisch mit den auf Ausstellungen demonstrierten materiellen Zukunftsversprechen der USA auseinandersetzten.77 Ähnliche Skepsis wurde in jüngster Zeit auch am Informationstransfer durch das Radio geäußert, dessen Kampf um die Hoheit im Äther ein zentrales Feld der Auseinandersetzung zwischen den zwei Supermächten war.78 Trotz der hohen Zahl von sowjetischen
74 „Segodnja on igraet džaz, a zavtra rodinu prodast’“. 75 Westad, Odd Arne: The New International History of the Cold War. Three (Possible) Paradigms, in: Diplomatic History 24 (2000), S. 551–565; Richmond, Yale: Cultural Exchange & the Cold War. Raising the Iron Curtain. University Park 2003; Ders.: Cultural Exchange and the Cold War: How the West Won – Whirled View, in: American Communist History 9 (2010), [http://whirledview. typepad.com/whirledview/cultural.html, letzter Zugriff: 27.04.2018]; Ders.: Cultural Exchange and the Cold War. University Park, 2003. 76 Vgl. Caute, dancer; Hixson, Parting the Curtain; Vgl. Kasack, Wolfgang: Kulturelle Außenpolitik, in: Oskar Anweiler/Karl-Heinz Ruffmann (Hg.), Kulturpolitik der Sowjetunion. Stuttgart 1973, S. 345–392; Tolvaisas, Tomas: Cold War „Bridge-Building“. U.S. Exchange Exhibits and Their Reception in the Soviet Union, 1959–1967, in: Journal of Cold War Studies 12 (2010), S. 3–31. 77 Vgl. Reid, Who Will Beat Whom. 78 Vgl. Bashkirova, Е. I.: The Foreign Radio Audience in the USSR During the Cold War: An Internal Perspective, in: R. A. Johnson/R. E. Parta: Cold War Broadcasting: Impact on the Soviet Union and Eastern Europe. New York 2010.
Themenfelder und Fragestellung
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Hörern amerikanischer Sender gelang es dem sowjetischen Staat, das Prisma, durch welches die Bürger Amerika interpretierten, unter Kontrolle zu behalten.79 Erst ein genauer Blick auf konkrete Aneignungsprozesse und die Zeiträume, in denen sie sich vollzogen, ermöglicht es, Amerikanisierung – ähnlich wie in Westeuropa – nicht als linearen und per se erfolgreichen Prozess zu verstehen. 80 Der kulturelle Austausch seit den 1960er-Jahren gab der ernsten Musik in der Sowjetunion durch die Besuche Leonard Bernsteins und Igor Strawinskys oder der Tournee von Glenn Gould zahlreiche Impulse. Sie befeuerten nicht nur die zeitgenössischen Debatten um die Erweiterung musikalischer Stilmittel, sondern übten einen nachhaltigen Einfluss auf die junge Generation sowjetischer Komponisten aus.81 Während die sowjetische Seite mit eigenen klassischen Interpreten wie David Oistrach, Mstislav Rostropovič und den Mitgliedern des Bol‘šojballetts auf Augenhöhe mit dem Westen lag und deren Tourneen durch die USA und Westeuropa auch eine steigende kommerzielle Nachfrage nach Tonaufnahmen generierten, erwies sich die Frage von Unterhaltungs- und Jazzmusik als problematischer.82 Die sowjetische Seite begegnete dem amerikanischen Jazz, dessen weltweite Verbreitung durch das US-State-Department im Rahmen seiner jazz-diplomacy forciert wurde, aufgrund seiner politischen Aufladung als „demokratische Musik“ skeptisch.83 Dieses antitotalitäre Narrativ, mit dem sich die vorliegende Arbeit kritisch auseinandersetzt, erlangte im Untersuchungszeitraum auch in Westeuropa Konjunktur.84 Mit Blick zurück auf das NS-Regime und in die Gegenwart in der DDR verdichtete es sich zum Gemeinplatz, dass Jazz und Diktaturen nicht
79 Vgl. Avramov, Konstantin V.: Soviet America. Popular Responses to the United States in PostWorld War II Soviet Union. University of Kansas Diss. Phil. 2012. 80 Vgl. Zhuk, S.: Hollywood’s Insidious Charms. The Impact of American Cinema and Television on the Soviet Union during the Cold War, in: Cold War History 14 (2014), 4, S. 593–617; Kanzler, Katja: Kansas, Oz, and the Magic Land. A Wizard’s Travels through the Iron Curtain, in: Sebastian M. Herrmann (Hg.), Ambivalent Americanizations. Popular and Consumer Culture in Central and Eastern Europe. Heidelberg 2008, S. 89–103. 81 Vgl. Belge, Boris: Klingende Sowjetmoderne. Eine Musik- und Gesellschaftsgeschichte des Spätsozialismus. Köln/Weimar/Wien 2018; Ders.: From Peace to Freedom. How Classical Music Became political in the Soviet Union 1964–1982, in: Ab Imperio (2013), S. 279–297; Carr, Graham: „No Political Significance of Any Kind“. Glenn Gould’s Tour of the Soviet Union and the Culture of the Cold War, in: Canadian Historical Review 95 (2014), S. 1–29. 82 Mikkonen/Suutari (Hg.): Music, Art and Diplomacy War; O. A., Ariola Aquires Catalog of Soviet Record Company, in: Billboard Magazine (1965), S. 26. 83 Vgl. Eschen, Jazz Ambassadors; Davenport, Lisa E.: Jazz Diplomacy. Promoting America in the Cold War Era. (American made music series). Jackson 2009; Carletta, David M.: „Those White Guys Are Working for Me. Dizzy Gillespie, Jazz, and the Cultural Politics of the Cold War during the Eisenhower Administration“, in: International Social Science Review 82 (2007), S. 115–134. 84 Vgl. Erdl/Nassauer, Kippfigur.
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zusammenpassen würden.85 Dieses Narrativ ist für die Deutungen der sowjetischen Geschichte relevant, da es, erweitert vom Jazz auf Populärmusik im Allgemeinen, häufig zu jener teleologischen Deutung verführt, nach der die Unfähigkeit, eine attraktive Alternative zu westlicher Populärkultur zu schaffen, den Zerfall der Legitimität des Staates beschleunigt habe. Eine Arbeit, die fragt, wie sich Musiker, Hörer, aber auch Funktionäre mit dem Jazz auseinandersetzten und sich diese Musikrichtung aneigneten, muss diese Narrative hinterfragen. Anhand ausgewählter Jazzkonzerte, Festivals und Tourneen, die ausländischen Jazzmusikern die Möglichkeit zum Auftritt in der Sowjetunion boten, werden die unterschiedlichen Reaktionen der kulturpolitischen Eliten auf die Musik in der konkreten Situation der Begegnung beleuchtet. Es gilt darüber hinaus aufzuzeigen, welche Folgen der (erzwungene) Umgang und die Aneignung westlicher Kultur auf die Diskussion eigener Traditionslinien des Sovetskij Džaz hatten und wie dieser in kontroversen Diskussionsprozess neu verhandelt wurde. Der zu untersuchende Einfluss des Kalten Krieges im Feld der Kultur kann nicht nur auf die Ebene politischer Symbolik und kulturpolitischer Konzepte beschränkt werden. Er wirkte ebenso auf die Ebene des Alltags, auf soziale Praktiken und individuelle Wahrnehmungen zurück. Die Untersuchung fokussiert daher auch die seltenen, direkten Begegnungen sowjetischer Jazzenthusiasten mit amerikanischen Jazzmusikern. Wie interpretierten beide Seiten den Kontakt? Welche Rolle spielten Unterlegenheits- und Rückständigkeitsdiskurse, aber auch Selbstbehauptung und Eigenständigkeit bei den Treffen? Inwieweit hat die direkte und indirekte Auseinandersetzung mit dem amerikanischen und europäischen Jazz den Entstehungsprozess eines eigenen, genuin sowjetischen Jazz beeinflusst?
1. 2 Q u el le n u nd Vor gehe n s wei s e Eine historische Untersuchung des Jazz in der Sowjetunion ist rechtfertigungspflichtig, wenn sie sich der Musik als Quelle verweigert. Die Gründe hierfür sind methodischer und interpretatorischer Natur. Eine musikwissenschaftliche Analyse einzelner Kompositionen ist geeignet, einzelne musikalische Einflüsse und Stile aus Jazzkompositionen eines Oleg-Lundstrem-Orchesters für die großen städtischen Bühnen der 1950er-Jahre herauszufiltern oder den Grad zu bestimmen, in dem sich die kleinen Jazzensembles der 1960er mit russischen folkloristischen 85 Vgl. Beyer, Wolfgang/Ladurner, Monica: Im Swing gegen den Gleichschritt: Die Jugend, der Jazz und die Nazis. St. Pölten 2011; Kater, Michael H.: Forbidden Fruit? Jazz in the Third Reich, in: The American Historical Review 94 (1989), S. 11–43; Ders.: New Democracy and Alternative Culture. Jazz in West Germany after the Second World War, in: Australian Journal of Politics and History 52 (2006), S. 173–187.
Quellen und Vorgehensweise
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Motiven auseinandersetzten. Eine solche Methode kann die Frage der Rezeption westlicher Kultur auf der konkreten Ebene des Werks herausarbeiten und eine Geschichte des Jazz schreiben, die mit dem amerikanischen Einfluss auf die sowjetische Estrada während des Zweiten Weltkriegs beginnt. Sie wäre aber insofern ahistorisch, als der Jazzbegriff und seine zeitgenössischen Deutungen auch innerhalb der Sowjetunion einem starken Wandel unterzogen waren. Eine solche Perspektive richtet die Entwicklung der Musik stark am amerikanischen Vorbild aus, dessen kanonisierte Jazzgeschichte als organische Entwicklung vom Worksong über Dixieland und Swing zu Bebop und Free Jazz als Maßstab einer „normalen Entwicklung“ fungiert.86 Wie stark diese Lesart in den sowjetischen und postsowjetischen Raum hinreicht, zeigen die Aussagen des sowjetischen Komponisten Viktor Lebedev in einem Interview aus dem Jahr 1992, der erst die Entwicklungen im Untersuchungszeitraum der Arbeit als Startpunkt der eigenen Jazzentwicklung sieht: „Jazz as a trend began to develop in the late 1950s. Before that, there existed some groups, which were called, here, jazz bands, but they were not actually jazz bands. They played all varieties of music, light music, and they used tunes by Soviet composers, and they were arranged so that they resembled jazz to some extent, but this was not real jazz.“87 Eine solche Perspektive schließt den sowjetischen Jazz der 1930er aus einem Kanon aus, der nicht über seine Vielfalt an Rezeptionsmöglichkeiten, sondern die Enge bestimmter musikalischer Elemente definiert ist. Ein musikanalytischer Zugang drängt zum andauernden Vergleich mit der amerikanischen Entwicklung und droht am Beispiel des Jazz den Rückständigkeitsmythos der Sowjetunion und Russlands zu reproduzieren. Die vorliegende Arbeit geht von der Annahme aus, dass Jazz weniger durch spezifische ästhetische Merkmale sowjetisch wurde, als durch die mit ihm assoziierten sozialen Praktiken und Zuschreibungen. So lässt sich seine Funktion als Baustein in der musikalisch schwer zu klassifizierenden Estrada der 1930er-Jahre verstehen. Musikalisch galt die Estrada als Hybrid aus europäischen Tanzorchestern, Tango, Walzer, rumänisch-moldawischen Tanzrhythmen, jüdischem Klezmer aus Odessa und ein wenig amerikanischem Jazz, „der der absoluten Mehrheit der Sowjetbürger wegen seiner betonten Rhythmik wenig verständlich, exotisch und unangenehm erschien“.88 Die soziale Praxis findet nicht zuletzt in der Sprache ihren 86 Vgl. DeVeaux, Scott: Constructing the Jazz Tradition. Jazz Historiography, in: Black American Literature Forum 25 (1991), S. 525–560. 87 Logan, Wendell: The Development of Jazz in the Former Soviet Union: An Interview with Victor Lebedev, in: Black Music Research Journal 12 (1992), 2, S. 227–232, hier S. 228. 88 Moškov, Kirill: Kogorta pervoprochodcev. Leonid Utesov, zvezda „Sovetskogo Džaza“, in: Ders./A. Filipova (Hg.), Rossijskij Džaz, 2. Bd. St. Petersburg/Moskva/Krasnodar 2013, S.11–25, hier S. 11.
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Ausdruck. Džaz beschrieb Mitte der 1930er-Jahre in erster Linie eine kleine, mobil einsetzbare Estradagruppe anstatt einen eigenen Musikstil.89 Anstelle musikalischer Merkmale untersucht die Arbeit somit das Reden über und die Inszenierung von Jazz in den 1950er- und 1960er-Jahren. Um Inszenierung, Bildsprache und die Selbstpräsentation der Akteure herausarbeiten zu können, bieten sich Fotos und Mitschnitte von Fernsehauftritten als Quellen an. Zentrale Quellengrundlage der Arbeit sind Archivbestände aus Moskau, St. Petersburg und Tallinn. Die hier gesichteten Protokolle und Korrespondenzen sowjetischer zentraler, regionaler und lokaler Kulturinstitutionen fanden hauptsächlich Eingang in den ersten Hauptteil, in dem staatliche Kontrolle und Verwaltung des sowjetischen Musikmarktes untersucht wird. Sie legten zudem die Grundlage für die Fallstudien zum Oleg-Lundstrem-Orchester und der Benny-Goodman-Tournee 1962, die die Perspektiven der beiden Hauptteile ‚Musik verwalten?‘ und ‚Musik selbst verwalten?‘ zusammenführen. Bestände des Komsomol aus dem Russischen Staatsarchiv für sozial-politische Geschichte (RGASPI) in Moskau und dem Zentralen Staatlichen Archiv für historische und politische Dokumente (CGAIPD) in St. Petersburg halfen, den institutionellen Rahmen der Jugendpolitik zu erschließen, die im zweiten Hauptteil der Arbeit für die Geschichte der Jazzenthusiasten zentral ist. Akten aus dem Estnischen Staatsarchiv Tallinn schlossen Lücken in der Quellenbasis, die sich in den russischen Archiven aufgrund unvollständiger Archivierung oder restriktiv verwendeter Personenschutzfristen ergeben haben. Ein gesonderter und wichtiger Quellenfundus sind die Privatarchive des Moskauer Jazzkritikers und Organisators Aleksej Batašev, des ehemaligen Komsomolmitarbeiters und Jazzorganisators Rostislav Vinarov sowie die persönlichen Papiere von Natan Lejtes, der während des Untersuchungszeitraums in Leningrad Jazzveranstaltungen organisierte. Die in ihnen enthaltenen Versammlungsprotokolle der Jazzklubs, Verordnungen des Komsomol, Korrespondenz mit sowjetischen Bildungs- und Erziehungsinstitutionen und Vortragsmanuskripte erlauben einen Einblick in das Binnenleben, die organisatorische Praxis und kulturelle Reichweite sowjetischer Jazzkultur in den 1960er-Jahren. Als ebenfalls wichtig für die Arbeit erwiesen sich publizierte Memoiren sowjetischer Jazzmusiker. Neben wichtigen Ergänzungen in die Arbeitsweise von Jazzklubs und Jugendcafés decken diese auf der faktischen Ebene besonders jene Bereiche ab, die in der Perspektive der verfügbaren sowjetischen Quellen kaum vorkommen. Dazu gehört beispielsweise die musikalische Schattenwirtschaft der 1950er-Jahre. Durch Memorien erschließen sich Handlungsspielräume von Musikern, Organisatoren und Lektoren im Spätstalinismus, der Tauwetterperiode und der frühen Brežnevjahre. Die zeitliche Distanz zwischen Erlebnis und Verfassen 89 Interview mit Vladimir Fejertag am 30.10.2009.
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der Memoiren nach 1991 erfordert einen kritischen Zugang. Interviews mit den Autoren konturierten die in den Memoiren geschilderten Ereignisse. Die retrospektiven und stark wertenden Einschätzungen der eigenen Lebensleistung und der historischen Kontexte eröffnen einen einzigartigen Einblick in die Vorstellungen kultureller Hierarchien und die Rolle, die das Narrativ des dissidentischen Jazz im Einzelfall spielte. Einen ebenso wichtigen Beitrag für das Verstehen des Jazzmilieus als sozialer Gruppe mit ähnlichem Wertehorizont und Vergangenheitsdeutungen lieferten lebensgeschichtliche Interviews, die der Autor zwischen 2009 und 2012 in Moskau, St. Petersburg und Tallinn mit Organisatoren und Musikern des Jazzmilieus geführt hat. Artikel aus Zeitungen und Fachzeitschriften der Epoche sind weitere zentrale Quellen, da der Status des Jazz in der Sowjetunion über Diskussionen in verschiedenen Kommunikationsräumen ausgehandelt wurde. Dazu zählen die auflagenstarke Parteizeitung Pravda, die Regierungszeitung Izvestija und die Zeitung des Jugendverbands Komsomol’skaja Pravda sowie die Sovetskaja Kul’tura als Organ des Kulturministeriums. Darüber hinaus erweitert die Leningrader Jugendzeitschrift Smena das Spektrum um eine lokale Dimension. Hinzugezogen wurden weiterhin die Fachzeitschriften des Sowjetischen Komponistenverbandes Sovetskaja Muzyka und die 1957 gegründete Muzykal’naja Žizn’. Sowjetische Presseartikel der Nachstalinzeit weisen eine Reihe von Spezifika auf, die bei der Auswertung und Kontextualisierung berücksichtigt werden müssen. Bereits die Presse der Stalinzeit lässt sich kaum in das Orwell’sche Konzept totalitärer Einbahnkommunikation pressen, durch welche die Herrscher den Beherrschten ihr politisches Weltbild aufdrängten.90 Die Bol’ševiki wollten zwar in der Presse ihre Ideale kommunizieren, Meinung formen und Unterstützung für ihre Politik organisieren. Gleichzeitig nutzten sie Zeitungen und Zeitschriften aber auch, um Diskussionen zu erzeugen, Informationen zu sammeln, öffentliche Kritik an Mängeln zu stimulieren und in einem gewissen Grade auch das Informationsbedürfnis der Leserschaft zu befriedigen.91 Diese verschiedenen Funktionen sind der Hintergrund der durch die Zensur streng kontrollierten, aber horizontal und vertikal stark spezialisierten sowjetischen Presselandschaft.92 Die dort aufbereiteten Informationen und transportierten Botschaften variierten abhängig von der implizierten Leserschaft.
90 Vgl. David L. Hoffmann, Stalinist Values. The Cultural Norms of Soviet modernity, 1917–1941. Ithaca 2003. 91 Vgl. Brooks, Jeffrey: The Press and Its Message. Images of America in the 1920s and 1930s, in: Fitzpatrick/Rabinowitch/Stites (Hg.), Era of NEP, S. 233. 92 Vgl. Gruliow, Leo: How the Soviet Newspaper Operates, in: Problems of Communism 5 (1956), S. 5–6.
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Die „sanktionierte Diversität von Meinungen“93 wurde keineswegs nur von professionellen Journalisten oder Parteifunktionären angestoßen und kontrolliert. Sie wurde auch in Form von Leserbriefen inszeniert, mit denen Arbeiter, Bauern und Funktionäre der unteren Hierarchien auf Missstände verwiesen. Dieses Format diente der Suggestion, dass sich zentrale Politik und Volkswillen im Einklang und Austausch befanden. Es galt als wirksames Kontroll- und Disziplinierungswerkzeug der Partei. Im Einzelfall wird aber deutlich, dass diese Form von Artikeln auch als Reaktion auf schriftlichen Protest von Lesern gegen politische Maßnahmen oder Deutungen entstanden. Durch die Presse wurden den sowjetischen Bürgern aber auch die politische Sprache, ihre Kernbegriffe, Argumente und Losungen vermittelt. Hier erhielten sie Deutungsangebote für innen- und außenpolitische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen, zu denen sich ein aktiver Sowjetbürger im Rahmen von Partei- und Verbandsöffentlichkeit informiert zu äußern hatte.94 Abhängig vom jeweiligen Thema und der jeweiligen Zeitung fielen diese Angebote unterschiedlich kohärent aus. Häufig wandelte sich die Parteilinie zu einer bestimmten Frage oder entstand teilweise erst im Zuge einer Diskussion in der Presse. So konnte der Sowjetbürger in den 1930er-Jahren eine mehrmonatige kontroverse Auseinandersetzung zwischen Pravda und Izvestija um den Stellenwert des Jazz für die sowjetische Kultur verfolgen.95 Dass die Presse mehr als ein Werkzeug der Partei und der sowjetischen Regierung war, wird nicht erst mit Blick auf die Konflikte um die Literaturzeitschrift Novyj Mir in den 1950er-Jahren deutlich. Besonders in kulturellen Fragen der 1950er- und 1960er-Jahre positionierten sich einzelne Zeitungen und Zeitschriften mit liberaler oder konservativer Ausrichtung, die den unterschiedlichen Lagern innerhalb der Künstlerverbände eine Stimme gaben. Auseinandersetzungen, wie die zwischen Novyj Mir und Oktjabr’ im Feld der Literatur, boten Reformern und Konservativen eine Plattform, um die Grenzen des Tauwetters in ihrem Feld zu verhandeln.96 Für die Parteiführung im ZK, durch die der Riss zwischen Erhalt und Reform ebenso lief, eröffnete sich die Möglichkeit einer kontrollierten Debatte, in die durch einzelne Artikel, ebenso wie durch personelle Intervention, jederzeit eingegriffen werden konnte. Im Feld der Musik erwies sich die Zeitschrift des Komponistenverbands Sovetskaja Muzyka und ihre Redaktion als tendenziell offener für Neuerungen, während Artikel, die neue Ansätze in der Musik mit Berufung auf die Resolution von 1948 verurteilten, häufig in der Sovetskaja Kul’tura des
93 Brooks, Press, S. 234. 94 Vgl. Rittersporn//Rolf,/Behrends, Sphären von Öffentlichkeit. 95 Vgl. Starr, Red and hot, S. 139–144. 96 Vgl. Frankel, Literature and Politics under Khrushchev.
Quellen und Vorgehensweise
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Kulturministeriums zu finden waren.97 Das Tauwetter beeinflusste aber auch die sich zunehmend professionalisierende Berufsgruppe der Journalisten selbst. Viele jüngere Journalisten unterwarfen ihr Selbstverständnis als Wegbereiter der sozialen Transformation und des gesellschaftlichen Wandels einer kritischen Revision und forderten im Zuge der politischen Reformen ein Umdenken in der journalistischen Arbeit, das schärfere Kritik an Missständen, aber auch eine weniger dogmatische Vermittlung von Ansichten mit einschloss.98 Nach einer Übersicht der Geschichte des Jazz bis 1953 und einigen konzeptionellen Überlegungen zum sowjetischen Musikmarkt widmet sich das erste Kapitel dem Thema ‚Musik verwalten?‘. Es werden vier Bereiche untersucht, mit denen der Staat die Bewertung der Musik (durch Zensur und Presse) und ihre Darstellung (durch Medien und Konzertwesen) zwischen 1949 und 1970 zu kontrollieren versuchte. Die Perspektive des Staates und seiner Agenten von oben auf den sowjetischen Musikmarkt schließt lokale Instanzen mit ein, wo sich kulturelles Planungsdenken in der Realität messen lassen musste. Das zweite Kapitel ‚Musik selbst verwalten?‘ fragt nach Handlungs- und Gestaltungsspielräumen der Jazzenthusiasten innerhalb des sowjetischen Musikmarkts. Im Mittelpunkt stehen hier deren Strategien, instrumentalen und auf Improvisation basierenden Jazz als Teil der sowjetischen Kultur zu etablieren. Das erste Unterkapitel beleuchtet die musikalische Schattenwirtschaft als Teil des Musikmarktes und fragt nach deren Funktion als Sozialisations- und Ausbildungsinstanz für die hier untersuchte Generation an Jazzmusikern. Im zweiten Unterkapitel werden die Handlungsspielräume der Jazzenthusiasten analysiert. Gefragt wird, wo die Handlungsmöglichkeiten der Musiker, Organisatoren, aber auch der Hörer durch den Komsomol und den sowjetischen Komponistenverband begrenzt und wo erweitert wurden. Das dritte Unterkapitel widmet sich der Konstituierung und Identitätsstiftung des Jazzmilieus innerhalb der sowjetischen Gesellschaft. Zwei abschließende Fallstudien zur Gründung des Oleg-Lundstrem-Jazzorchesters durch das sowjetische Kulturministerium 1956 und die Benny-Goodman-Tournee durch die Sowjetunion 1962 ziehen Querverbindungen zwischen den Sphären des Musikmarktes (Medien, Konzertwesen, Zensur und Experten) und den Perspektiven von oben und unten.
97 Vgl. Laqueur, Walter Z./Lichtheim, George (Hg.): The Cultural Scene 1956–1957. New York/ London 1958, S. 12 ff.; Frankel, Literature and Politics under Khrushchev. 98 Vgl. Huxtable, Simon: ‚Shortcomings: Soviet Journalists and the Changing Role of Press Criticism after the Twentieth Party Congress’, in: Thomas Bohn, Rayk Einax, Michel Abeßer (Hg.) De-Stalinisation Reconsidered. Persistance and Change in the Soviet Union after 1953. Frankfurt a. M./New York 2014, S. 209-221.; Ders: A Compass in the Sea of Life. Soviet Journalism, the Public, and the Limits of Reform After Stalin, 1953–1968, Diss. Phil. London 2012.
2 . JA Z Z I N D E R S OW J E T U N I O N B I S 1953
Jazz erreichte die Sowjetunion wenige Jahre nach Westeuropa zu Beginn der 1920er-Jahre, als über die Frage, welche Formen und Inhalte die zukünftige sowjetische Musik haben sollte, keine genaue Vorstellung existierte. Besonders die Estrada als Sammelbegriff für verschiedene Formen populärer Musik erwies sich gegenüber ideologischen Regulierungen oder der Nutzbarmachung als Träger empathischer politischer Botschaften als schwieriges musikalisches Genre.1 Estrada als Hybrid verschiedener musikalischer Genres und unterschiedlichster musikalischer Elemente und Traditionslinien stellte das sowjetische Projekt und die ihm eigene Vorstellung von Kultur als politischem Werkzeug regelmäßig vor Herausforderungen. Ein Erziehungs- oder Mobilisierungsgedanke ließ sich in einen Text fassen, auch musikalische und rhythmische Elemente eines sozialistischen Unterhaltungsstückes konnten von linken Musikwissenschaftlern definiert werden. Der Erfolg dieser Bemühungen blieb jedoch meist deutlich hinter den Erwartungen zurück. Die politische Notwendigkeit staatlicher Intervention in Produktion und Verbreitung von Unterhaltungsstücken ergab sich zunächst aus der Tatsache, dass kein Genre eine größere Zahl von Menschen erreichte. Zwar stieg die Zahl der städtischen Bevölkerung, die über die Fabrik oder die Gewerkschaft Zugang zu den Spielstätten klassischer Musik und der Oper erhielten. Die Frage der Alltagsmusik jedoch blieb ein ungelöstes Problem für revolutionäre Kulturstifter, die sich in verschiedenen Organisationen zusammenschlossen und um die Schaffung einer angebrachten sozialistischen Unterhaltungskultur stritten: „Music’s ability to influence the emotions and its non-representional qualities presented these groups with unique challenges.“2 Der Fokus auf vorrevolutionäre Klassik und der gleichzeitige Boom an Revolutionsliedern und Märschen, den Richard Stites aus Perspektive des Regimes als „potent marriage of the mind and the heart“3 bezeichnet hat, konnte aber kaum dem sozial differenzierten Unterhaltungsbedürfnis der
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Vgl. Stites, Richard: Russian Popular Culture; Geldern, James von/Stites, Richard: Mass Culture in Soviet Russia. Tales, Poems, Songs, Movies, Plays, and Folklore 1917–1953. Bloomington 1995; Geldern, James von/McReynolds, Louise: Entertaining Tsarist Russia. Tales, Songs, Plays, Movies, Jokes, Ads, and Images from Russian Urban Life 1779–1917. Bloomington 1998; Stadelmann, Matthias: Foxtrott, Zigeunerromanze und sowjetische Operette. Popularmusik in der NEP zwischen ideologischer Kritik und rezeptivem Anspruch, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 5 (2001), S. 197–214. Nelson, Amy: Music for the Revolution. Musicians and Power in Early Soviet Russia. University Park Penna 2004, S. 96; Vgl. Nelson, Amy: The Struggle for Proletarian Music. RAPM and the Cultural Revolution, in: Slavic Review 59 (2000), 1, S. 101–132. Vgl. Stites, Russian Popular Culture, S. 45.
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sowjetischen Bevölkerung gerecht werden. Unterhaltungsmusik in der Sowjetunion der 1920er-Jahre stand „im Spannungsfeld von ideologischer Ablehnung und rezeptiver Bejahung“4. Die materiellen und politischen Bedingungen der Neuen Ökonomischen Politik ab 1923 potenzierten die Vielfalt an Genres und ästhetischen Konzepten, da nun durch die Zulassung kleiner und mittlerer privatwirtschaftlicher Tätigkeit der Markt als Faktor im kulturellen Prozess wieder an Bedeutung gewann.5 Die Neugründung von Restaurants und die Produktion von Notenbüchern privater Verlagshäuser führten zu einem Boom an unpolitischen Liedern, mit denen die staatliche Kulturproduktion am ehesten durch Synthesen von populärer Musik mit politischen Inhalten konkurrieren konnte. Zukünftige Regeln der Mechanik stalinistischer Populärkultur zeichneten sich im Recycling traditioneller Formen und dem Füllen mit sozialistischem Inhalt bereits ab.6 Jazz war erstmals 1922 durch ein Orchester des aus der westeuropäischen Emigration zurückgekehrten Valentin Parnach in Sowjetrussland zu hören und provozierte sofort kontroverse Reaktionen. Neben vorrevolutionärer Zigeunermusik avancierte Jazz zu dem Genre, dem die größte Ambivalenz und politische Sprengkraft für den Aufbau einer sowjetischen Unterhaltungsmusik innewohnte.7 Jazz und Foxtrott boten eine breite Fläche für Assoziationen. Als populäre Musikform sprach er schon in den 1920er-Jahren besonders Jugendliche an, welche sich durch Musik und den damit assoziierten Lebensstil dem asketischen Wertekanon des Komsomol entzogen. Die Attraktivität ist als „Ablehnung selbstbeherrschter Respektabilität“8 im europäischen Kontext der 1920er-Jahre zu verstehen. Die häufig als subversiv wahrgenommene Wirkung stellte ein Hindernis für die Jugend- und Mobilisierungspolitik dar.9 Komponisten der offen eingestellten Komponistenvereinigung ASM verbanden mit dem Jazz die Hoffnung auf neue musikalische Techniken und 4 5
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Vgl. Stadelmann, Foxtrott, S. 199. Vgl. Rothstein, Robert A.: Popular Song in the NEP Era, in: Sheila Fitzpatrick/Alexander Rabinowitch/Richard Stites (Hg.), Russia in the Era of NEP. Explorations in Soviet Society and Culture. Indiana 1991. Rothstein, Robert A.: The Quiet Rehabilitation of the Brick Factory. Early Soviet Popular Music and its Critics, in: Slavic Review 39 (1980), S. 373–88. Vgl. Volkov, Konstantin: Pervoprochodec Valentin Parnach, in: Kirill Moškov/Anna Filip’eva (Hg.), Rossiskij Džaz. St. Petersburg 2013, Bd. 1, S. 8–10; Parnakh, V.: Istorija tanca. Moskau 2012. Gorsuch, Anne E.: Youth in Revolutionary Russia. Enthusiast, Bohemians, Delinquents. Bloomington 2000, S. 124. Vgl.Gorsuch, Anne E.: „Soviet Youth and the Politics of Popular Culture during NEP“, in: Social History 17 (1992), S. 189–201; Gorsuch, Anne E.: „Flappers and Foxtrotters: Soviet Youth in the ‚Roaring Twenties’“, in: The Carl Beck Papers in Russian and East European Studies 1102 (1994), S. 1–33.
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Konzepte aus dem Westen. Die 1923 gegründete linke Musikorganisation RAPM (Rossijskaja associacija proletarskich muzykantov) wiederum polemisierte beständig gegen westliche Musikformen.10 Anatolij Lunačarskijs Volkskommissariats für Aufklärung Narkompros [„Narodnyj komisariat proizveščenije“] nahm gegenüber dem Jazz, wie auch anderen Genres, dagegen eine Mittlerposition ein. Deren Leiter artikulierte gegen die ikonoklastischen Tendenzen der nachrevolutionären Kunst, dass „eine junge sozialistische Kultur den Kontakt zu den widerspruchsvollen künstlerischen Entwicklungen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nicht verlieren darf“11. Narkompros schickte 1926 den Pianisten Leopol’d Teplickij zum Studium des Jazz in die USA, aus der er nach einem Jahr mit Koffern voller Schallplatten, Jazzarrangements von Paul Whiteman und 40 Instrumenten zurückkehrte.12 Jazz hielt als Tanzmusik im Verlauf der 1920er-Jahre langsam Einzug in die städtische Kultur, ein Prozess, der durch die Gastspiele der amerikanischen Orchester von Sam Wooding und den Benny Peaton Jazz Kings 1926 in Moskau und Leningrad noch einmal beschleunigt wurde. Aber auch die neue Avantgarde-Kultur bediente sich seiner exzentrischen und als provokant angesehenen Symbolik. Der Theaterregisseur Vsevolod Mejerhol’d nutzte die Musik in seinen Inszenierungen zur Darstellung des Klassenfeindes.13 „Die Klassenherrschaft“, so Walter Benjamin in seinem „Moskauer Tagebuch“ von 1926, „hat Symbole adaptiert, die zum Charakterisieren der gegnerischen Klasse dienen. Und von jenen ist Jazz das bekannteste. Dass die Menschen in Rußland ihn hören, ist nicht erstaunlich. Aber das Tanzen ist verboten. Er wird gehalten hinter Glas wie ein bunt farbiges, giftiges Reptil und so erscheint er wie eine Attraktion im Vorübergehen, jedoch immer als ein Symbol des ‚Bourgeoisen‘.“14 Mit der Kulturrevolution von 1928 ging der Versuch einher, die linke proletarische Vision von Kultur im Bereich der Literatur und Musik mit administrativen Maßnahmen endlich durchzusetzen.15 Zwar wurden von Seiten der RAPM, die nach Auflösung konkurrierender Organisationen eine Monopolstellung innehatte, eine Reihe von Verboten gegen typische Jazzstilmittel, wie verminderte Septimen oder Synkopen erlassen. Matthias Stadelmann jedoch zeigt gerade in seiner Studie zu 10 Vgl. Edmunds, Neil: Music and Politics. The Case of the Russian Association of Proletarian Musicians, in: The Slavonic and East European Review 78 (2000), S. 66–89. 11 Lunačarskij, Anatolij: Musik und Revolution. Schriften zur Musik, Leipzig 1985, S. 67. 12 Vgl. Fejertag, Džaz ot Leningrada, S. 23. 13 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 51. 14 Benjamin, Walter: Reflections. Essays, Aphorisms, Autobiographical Writings. New York 1978, S. 116. Das von Benjamin angesprochene Tanzverbot muss skeptisch betrachtet werden. Mangels einer konsistenten Politik kann es in einzelnen Städten und Stadtteilen zu temporären Maßnahmen dieser Art gekommen sein. 15 Vgl. Fitzpatrick, Sheila (Hg.): Cultural Revolution in Russia. 1928–1931. Bloomington 1978.
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Isaak Dunaevskij die begrenzten Einflussmöglichkeiten der Kulturfunktionäre auf die praktische Arbeit, da trotz aller Bemühungen um revolutionäre Sinngebung der Musik die Publikumswirksamkeit das letztlich entscheidende Kriterium darstellte.16 Mit Gründung der „Obščestvo sovetskoj ėstrady“ 1929 versuchte der Staat institutionell und personell stärkeren Einfluss auf das ideologischen Ansprüchen gegenüber konservative Genre der Estrada auszuüben.17 Mit den in Anlehnung an die englischen „Music-Halls“ genannten Musikhallen („Musik Cholly“) sollte die Unterhaltungsmusik den staatsfernen Örtlichkeiten der NĖP-Restaurants und Cafés entzogen werden. In diesen staatlichen Einrichtungen begann die „sozialistische Rekonstruktion der Estrada“, ohne dabei faktisch jedoch dem Unterhaltungszweck eine neue politische Ausrichtung überzustülpen.18 Mit Schaffung der Künstlerverbände und Etablierung des Sozialistischen Realismus endete diese kurze und nachhaltige Episode nach nur vier Jahren. Aus zwei Gründen jedoch entfaltete sie trotzdem eine langfristige Wirkung auf den Status des Jazz. Zum einen wirkten die ideologischen Argumente gegen den Jazz weit über das Ende der Kulturrevolution hinaus.19 Unter den Texten, die den Jazz mit ästhetischen und politischen Argumenten verwarfen, sticht Maksim Gor’kijs „Die Musik der Dicken“ („Muzyka tol’stych“) von 1928 besonders hervor, in dem er in bildhaften Metaphern eine abendliche Tanzveranstaltung während seines Exils auf der Insel Capri beschreibt, ohne das Wort Jazz einmal zu benutzen.20 Noch mit Beginn der Kampagne gegen den Jazz, an der sich nun auch Anatolij Lunačarskij beteiligte, entwickelte der Text kanonische Bedeutung. Die in ihm suggerierte Gleichsetzung des Jazz mit westlicher bourgeoiser Dekadenz sollte bis in die 1960er-Jahre Verwendung finden. Erst durch die Autorität seines Verfassers, der als einer der Gründerväter des Sozialistischen Realismus galt, erhielt der Text nahezu kanonische Qualität.21 Die Politisierung des Jazz-Begriffs war eine Folge dieser kurzen Epoche der „Autokratie der proletarischen Musiker“22, deren Ende Komponisten sowie Musikern wieder mehr Raum für künstlerische Arbeit eröffnete. Ein zweites Resultat dieser restriktiven Phase war ein künstlerisches Programm, das Leonid Utesov 1929 mit seinem ersten großen Orchester Teadžaz 16 Vgl. Stadelmann, Isaak Dunaevskij. 17 Zu den Versuchen Ende der 1920er-Jahre, den ideologischen Einfluss auf die Ėstrada zu erhöhen und deren begrenzten Erfolg siehe Stadelmann: Dunaevskij, S. 52–83. 18 Stadelmann, Unterhaltungskultur, S. 79. 19 Vgl. Nelson, Struggle, S. 104. 20 Gor’kij, Maksim: Gorkii ob iskusstve, Sbornik statei i otryvkov, Leningrad, Moskau 1940. In der Fachliteratur findet sich auch die Übersetzung „Musik der Degenerierten“. 21 Vgl. Yedlin, Tova: Maxim Gorky. A Political Biography. Westport Conn. u.a. 1999, S. 177 ff. 22 Mikkonen, Simo: State Composers and the Red Courtiers. Music, Ideology, and Politics in the Soviet 1930s. Dissertation. Jyväskylä 2007, S. 107.
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schuf.23 Dessen Konzept sollte das Bild des Jazz in der Sowjetunion über Dekaden bestimmen und bereits eine positive Antwort auf die Frage nach einem möglichen sowjetischen Jazz geben, noch bevor diese in den 1930er-Jahren auch offiziell beantwortet wurde. Der sogenannte „theatralisierte Jazz“ („teatralizirovannyj džaz“) seines Orchesters, der sich als Genrebezeichnung im russischen Kontext etablieren sollte, vermischte musikalische Stücke mit Sketchen, kleinen Theaterstücken und Shownummern. Neben Musikern kamen Artisten und Schauspieler zum Einsatz, die thematisch in sich geschlossene Programme darboten, die das Publikum unterhielten, jedoch auch immer politisch eingebettet waren.24 Musik erklang hier weniger zum Selbstzweck als zur Unterstützung dessen, was auf der Bühne passierte. Dieser, inmitten der Kulturrevolution entstandene Kompromiss zwischen Unterhaltung und politischer Sinnstiftung wurde zur erfolgreichen Schablone für die Estrada des Stalinismus. Džaz wurde nun weniger als musikalisches Genre denn als Organisationsprinzip der Estrada verstanden: Ein großes Orchester schuf ein Hybrid aus Musik, Theater, Tanz und Monologen. Mit der Person Utesovs verkörperte Džaz für die sowjetischen Hörer ab den späten 20er-Jahren nicht nur urbanes modernes sozialistisches Leben, sondern auch ein Stück Individualität und Freiheit, das durch die zahllosen von ihm besungenen Gestalten aus der Unterwelt Odessas projiziert wurde.25 Der Sozialistische Realismus als künstlerische Doktrin der stalinistischen Kultur ist in der Forschung unterschiedlich bewertet worden. Einige Autoren betonen seine disziplinierende Wirkung zur Normierung und Kontrolle der Kultur, während sich für andere aus dem Kontrast zum Schaffensspielraum während der Kulturrevolution ein positiveres Bild ergibt.26 Sheila Fitzpatricks Formulierung vom „Regenschirm, groß genug eine ganze Reihe verschiedener Schulen und Trends zu überspannen“27 steht dem Befund nicht entgegen, dass Kunst der gesellschaftlichen Mobilisierung und Projektion des zukünftigen Gesellschaftsmodells dienen sollte. Utesovs Džaz, der seinen epochemachenden Ausdruck im Film „Die lustigen Jungs“ mit den Kompositionen von Isaak Dunaevskij fand, stellte sich 23 Utesov, Leonid Osipovic: Spasibo, serdce! (Moj 20 vek.). Moskva 1999; Moškov, Kogorta pervoprochodedcev. 24 Vgl. Fejertag, Vladimir: Džaz na Estrade, in: Russkaja Sovetskaja Ėstrada 1946–1977. Očerki istorij. Moskau 1981, S. 328–365, hier S. 328. 25 Vgl. MacFadyen, Red stars, S. 21–23. 26 Vgl. Vaughan, James C.: Soviet Socialist Realism: Origins and Theory. New York 1973; Dobrenko, E. A./Naiman, Eric: The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet Space. Seattle 2003; Chegodaeva, Mariia: Mass Culture and Socialist Realism, in: Russian Studies in History 42 (2003), S. 49–65. 27 Vgl. Nelson, Struggle, S. 104. 27 Fitzpatrick, Sheila: The Cultural Front. Power and Culture in Revolutionary Russia. Ithaca/ London 1992, S. 184.
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diesen Anforderungen durch die Darstellung einer idyllischen dörflichen Zukunft, die in scharfem Kontrast zur Situation der Bauern nach der Kollektivierung stand. Das durch die Massenmedien Radio und Kino transportierte Gefühl seiner Musik und hunderter Jazzorchester, die nach 1932 überall im Land entstanden, legte die akustische Untermalung unter Stalins Feststellung, dass das Leben nun besser und fröhlicher geworden sei. Ästhetisch passte Utesov seine Musik dem Sozialistischen Realismus an. Elemente der Improvisation und dissonante Melodieverläufe, die sich im amerikanischen Jazz der 1930er-Jahre bereits andeuteten, spielten im sowjetischen Kontext kaum eine Rolle. Selbige wurden dem „Formalismus“ zugerechnet, einem Konzept, dem auch die Mehrzahl der neuen Generation von Kulturfunktionären aufgrund ihrer weniger weltoffenen Sozialisation eindeutig ablehnend gegenüberstand. Auch die Instrumentierung der großen Jazzorchester korrespondierte mit dem Repertoire und der zugewiesenen kulturellen Funktion, indem mehr Streicher und Akkordeonspieler zum Einsatz kamen als in amerikanischen Swingorchestern dieser Zeit. Das vom Solisten vorgetragene und dem Orchester begleitete Lied hingegen entwickelte sich in der Interpretation dieser Orchester zu einem tragenden Element sowjetischer Estrada.28 Der große Erfolg der Filme Veselye Rebjata und Wolga, Wolga zeigt, dass ein Hauptziel der Estrada die schichtenübergreifende Integration der sowjetischen Bevölkerung in ein kulturelles Modell war. Ersterer wurde durch die Kompositionen Isaak Dunaevskijs und den Hauptdarsteller Leonid Utesov zum Sinnbild des Sovetskij Džaz und knüpfte an den, in der Leningrader Musikhalle von Utesov in den späten 1920er-Jahren entwickelten theatralisierten Jazz an.29 Džaz, der ohne das Adjektiv „sovetskij“ eher ein Organisationsprinzip der Estrada bezeichnete, verkörperte in den 1930er-Jahren eine Mischung aus Big-Band-Jazz, populär-patriotischen Liedern, Komödie und Tanz. Darin lag die Syntheseleistung des „Rechtes des Sowjetmenschen auf Unterhaltung“ mit politischer Sinnstiftung, den konservativeren Moral- und Familienbildern, des Patriotismus und Nationalismus. Er artikulierte den Anspruch des Systems auf Modernität. Džaz vermochte es, die neu entstandenen gesellschaftlichen Hierarchien zwischen Bauern, Migranten, Arbeitern, 28 Vgl. MacFadyen, David: Songs for Fat People. Affect, Emotion, and Celebrity in the Russian Popular Song 1900–1955. Montreal 2002. 29 Salys, Rimgaila: The Musical Comedy Films of Grigorii Aleksandrov. Laughing Matters. Bristol 2009, S. 23–28. Zu den Unterschieden in der Rolle der Musik für die Komödie zwischen USA und Sowjetunion der 30er-Jahre: Drubek-Majer, Nataša: Zvuki Muzyki. (Anti-) Medium v sovetskich muzykal’nych komedijach, in: Hans Günter (Hg.), Sovetskaja vlastʹ i media. Sbornik statej. Sankt-Peterburg 2006, S. 578–592; Taylor, Richard: ‚But Eastwards, too, the Land is Brighter’. Toward a Topography of Utopia in Stalinist Musical, in: E. A. Dobrenko/Eric Naiman (Hg.), The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet space. Seattle 2003, S. 201–227.
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Ingenieuren und Parteifunktionären zu überspannen und zu integrieren. Während Aleksandr Cfasmans erfolgreiches Orchester in Restaurants mit einem stärker am amerikanischen Swing orientierten Repertoire die Intelligencija und Eliten aus Partei und Staat unterhielt, erreichten Utesovs Programme auf den großen Bühnen des Landes, vor dem Radio und in Kinosälen breitere Kreise der Bevölkerung.30 Mit der sogenannten Antiformalismuskampagne, die mit Anschuldigungen gegen Šostakovič und seine Oper Ledi Makbet Mcenskogo uezda 1936 begann, erhöhte sich der Druck auf Musikschaffende, Atonalität und Dissonanzen zu meiden und sich an nationalen Melodien und den wiederentdeckten „Klassikern“ zu orientieren. Im Vergleich zu anderen Kunstgattungen genossen die Musiker jedoch eine Sonderposition, die es ihnen, sofern sie innerhalb des vagen Kanons arbeiteten, ermöglichte, ein privilegiertes Leben mit materieller und sozialer Absicherung durch die Fonds des Komponistenverbandes zu führen.31 Die bekanntesten Vertreter des sowjetischen Jazz wie Aleksandr Cfasman, Leonid Utesov und Jakov Skomorovskij überstanden die Säuberungen, während andere wie Valentin Parnach und Georgij Landsberg, der damalige Leiter des Moskauer Radiojazzensembles, ihnen zum Opfer fielen. Ausschlaggebend erwiesen sich eher bestehende Auslandskontakte als die musikalische Profession selbst. Todesurteile gegen verschiedene Jazzmusiker während der Säuberungen waren somit eher die Folgen der angeheizten Xenophobie innerhalb der Partei als dezidierte Urteile über Musik.32 Dass sich hinter scheinbar kulturideologischen Debatten häufig institutionelle oder materielle Konflikte verbargen, belegt eine zwischen den Zeitungen Pravda und Izvestija geführte Kontroverse. An dessen Abschluss nach 19 teils sehr polemischen Artikeln konstatierte die Pravda mit Berufung auf die Parteilinie: „Wir brauchen auch den Jazz und wir werden der bourgeoisen Ästhetik und ihren Advokaten nicht erlauben, ihn [den Jazz – M. A.] von der Bühne zu vertreiben.“33 Auslöser des Streites war offensichtlich die politische Einflussnahme klassischer Musiker, die ihren in der Estrada tätigen Kollegen den bis zu zehnmal höheren Verdienst neideten.34 Das 1938 bereits im Schatten der großen Säuberungen gegründete Gosdžaz-Orchester steht als symbolischer Höhepunkt der staatlichen Vereinnahmung des Jazz mit widersprüchlichen Ergebnissen. Um den Beweis zu erbringen, dass ein genuin sowjetischer Jazz ohne musikalische Anleihen aus dem Westen möglich war, wurde unter Aufwendung enormer finanzieller Mittel ein Orchester der besten 30 Starr, Red and Hot, S. 115–134. 31 Vgl. Brooke, Caroline: Soviet Musicians and the Great Terror, in: Europe-Asia Studies 54 (2002), S. 404. Mit Blick auf die Opfer fallen Verwaltungsbeamte im Musikbereich und wenig populärere Künstler mit Auslandskontakten ins Gewicht. 32 Starr, Red and Hot, S. 146. 33 o.A.: Philisterhaftes Geschwätz in den Seiten der Izvestija, Pravda vom 12.12.1936. 34 Vgl. Starr, Jazz, S. 139–143.
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sowjetischen Instrumentalisten im Estrada-Genre zusammengestellt.35 Als dessen potentiell fähigster Leiter fiel Aleksandr Cfasman mit einschlägigen Erfahrungen in Jazzkomposition und -arrangement jedoch aufgrund seiner apolitischen und proamerikanischen Haltung aus. Das Programm des dreiundvierzigköpfigen Ensembles bestand so zu großen Teilen aus umgearbeiteten klassischen Kompositionen und Unterhaltungsstücken, die aber weder dem amerikanischen noch dem sowjetischen zeitgenössischen Verständnis von Jazz gerecht wurden. „Es war zu westlich für die Nationalisten und zu engstirnig sowjetisch für die Kosmopoliten, zu ‚hot‘ für die ‚legitimen‘ Musiker und zu ‚sweet‘ für die Jazzmusiker, zu populär für die Intellektuellen und zu intellektuell für das breite Publikum.“36 Dennoch lieferte dieses gescheiterte administrative Kulturprojekt langfristig eine Blaupause für die Kulturpolitik der Sowjetrepubliken, die Ende der 1930er-Jahre in der Armenischen, Aserbaidschanischen, Georgischen und der Belarussischen Sowjetrepublik staatliche Jazzorchester gründeten, die in peripherer Lage und unter dem Deckmantel der Förderung nationaler Kulturen nach 1953 Gewicht bei der Diskussion um den Charakter der sowjetischen Unterhaltungskultur erlangen sollten.37 Einen Beleg für das Potential des Džaz in einer integrativen sowjetischen Unterhaltungskultur und zur gesellschaftlichen Mobilisierung erbrachten viele dieser Orchester bereits wenige Jahre nach ihrer Gründung im Zweiten Weltkrieg. Die sowjetische und russische Historiografie und Essayistik betonen die Rolle der Estrada im Allgemeinen und der Jazzbands im Speziellen bei der Mobilisierung von Bevölkerung im Hinterland und Unterhaltung der kämpfenden Truppe an der Front.38 „Mit dem ersten Tag des Krieges wurde die Losung „Alles für die Front, alles für den Sieg“ zum lebendigen Programm für die Jazzmusiker. Das Leben dieser Zeit bewies, dass Musik und Lieder auch Waffen sind, die an der Front benötigt wurden. Sie unterstützten den Kampfgeist der Kämpfer und erzogen in Armee und Flotte die Liebe zur Heimat und Hass gegenüber dem Feind.“39 Der Konsens einer mehrheitlich positiven bis glorifizierenden Darstellung etablierte sich bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren. Dies geschah parallel zur Neugewichtung des Krieges als zentraler gesellschaftlicher Integrationsfigur unter Brežnev, die damit auch für
35 Vgl. Jelagin, Juri: Die Zähmung der Künste, Stuttgart 1954, S. 317–324. 36 Starr, Red and hot, S. 151. 37 Vgl. ebd., S. 152. 38 Bsp. Smirnov, N.: Zapiski člena Voennogo Soveta. Moskau 1973; Uvarova, E. D. (Hg.): Russkaja sovetskaja Ėstrada 1930–1945. Očerki istorii. Moskau 1977, S. 328–329; Batašev, Aleksej: Sovetskij Džaz. Istoričeskij očerk. Moskau 1972; Beličenko, Sergej/Kotel’nikov, Valerij Petrovich: Sinkopy na Obi, ili, Očerki istorii džaza v Novosibirske, 1928–2005 gg., Novosibirsk 2005, S. 45–53. 39 Eremin, Oleg: Džaz na vojne. Zametki muzykanta. Rostov am Don 2003, S. 35.
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den sowjetischen Jazz zu einer Quelle von Legitimität wurde.40 Dieses Phänomen verweist darüber hinaus auch auf einen Effekt, den Richard Stites für die Unterhaltungskultur während des Krieges beobachtete – die zunehmende nostalgische Verklärung des Krieges durch das, im Kontrast zu den späten 1930er-Jahren und den kulturellen Repressionen des Spätstalinismus, lockere kulturelle Milieu, von dem der Jazz profitierte.41 Hauptakteur der sowjetischen Populärkultur der Kriegszeit war die Konzertfrontbrigade („koncertnaja frontovaja brigada“), die mit ihren vielfältigen Musik-, Theater- und Komödienprogrammen das Unterhaltungsangebot für die U.S.-Armee häufig überbot.42 Von den 460.000 Konzerten, die bis April 1944 vor Truppen der Roten Armee und Flotte gegeben wurden, waren 300.000 Estradakonzerte.43 Alle großen „Džazy“, Utesov, Renskij, Skomorovskij, aber auch die westlich orientierten von Cfasman und Rosner folgten dem Aufruf des Komitees der Künste zur Mobilisierung der „künstlerischen Kräfte“ und absolvierten hunderte Konzerte im Hinterland und an der Front, oftmals in direkter Nähe zum Kampfgeschehen. Utesovs ehemaliger Pianist Nikolaj Minch erhielt nach einer Verwundung im Kampfeinsatz den Auftrag, ein Jazzorchester der Baltischen Flotte zu organisieren, welches in den folgenden Jahren, wie Utesovs Orchester auch, sogar innerhalb des belagerten Leningrads auftrat.44 Die für den Jazz günstigen Bedingungen überdauerten das Kriegsende ungefähr ein weiteres Jahr und decken sich mit der in der Historiografie konstatierten „Verschnaufpause“, die Staat und Partei der Bevölkerung nach dem Krieg gewährten, um die Umstellung von Staat und Wirtschaft vom Krieg auf den Frieden zu realisieren.45 Das Konzert von Utesovs Jazzorchester zu den Feierlichkeiten des Sieges auf dem Roten Platz am 9. Mai 1945 fand Eingang in das kollektive Gedächtnis an den Zweiten Weltkrieg. Neben der Wirkung der großen Orchestern von Ėddi Rosner (Belorussisches Staatliches Jazzorchester), Aleksandr Cfasman (Orchester des Allunionsradiokomitees) oder eben Utesov führte die Demobilisierung der Armee zu einer deutlichen Zunahme 40 Vgl. Neutatz, Identifikation und Sinnstiftung. 41 Stites, Richard: Frontline Entertainment, in: Richard Stites (Hg.), Culture and Entertainment in Wartime Russia. Bloomington 1995, S. 126–140; Robinson, Harlow: Composing for the Victory, in: Richard Stites (Hg.), Culture and Entertainment in Wartime Russia. Bloomington 1995, S. 62–76. 42 Stites, Frontline Entertainment, S. 126–140; Muzyka i muzykanty na frontach Velikoj Otečestvennoj Vojny. Moskau 1978. 43 Vgl. Tomoff, Creative Union, S. 273. Tomoff bezieht diese Zahl aus einem Brief von Utesov an Stalin, mit der selbiger positiv auf die Vergabe des Stalinpreises an ihn einwirken wollte. [RGASPI, f.17, op.125, d.234, l.37]. 44 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 155. 45 Vgl. Hildermeier, Manfred: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998, S. 670 ff.
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an Gruppen, die nach 1945 den städtischen Unterhaltungsmarkt von Moskau und Leningrad mit seinen Restaurants, Hotels und Konzertsälen bedienten.46 In der, 1944 vom Deutschen Reich zurückeroberten Estnischen Sowjetrepublik entfaltete sich trotz Kollektivierung und Deportation rasch ein vielfältiges Jazzleben, das an die Zwischenkriegstraditionen anknüpfen konnte.47 Schon während des Krieges betätigten sich viele estnische Musiker sowohl auf deutscher Seite in der Tanzkapelle des Landessenders Reval als auch auf sowjetischer Seite im Staatlichen Estnischen Kunstkomitee. Bis 1948, länger als in der Russischen Sowjetrepublik, konnten deutlich westlicher geprägte große und kleine Gruppen, wie das 1944 gegründete Estnische Rundfunkjazzorchester („Eesti Raadio Džässorkester“), relativ unbehelligt von ideologischer Intervention und Reglementierung spielen.48 Mit Blick auf das Repertoire dominierten Stücke aus der Vorkriegszeit mit zwei Dritteln, nicht zuletzt deshalb, weil diese den Soldaten ein Stück Normalität vermitteln konnten.49 Sowohl für Arbeiter, als auch die Bauernschaft, aus der ein wachsender Teil der Armee rekrutiert wurde, sollten die musikalischen Programme der Džazy eine Verbindung zur Vorkriegszeit, aber auch zu den Werten des sowjetischen Systems herstellen. Massenlieder und Folklore erlebten einen nie gekannten Boom und überspannten die unterschiedliche soziale Herkunft der Rekruten. Gerade der Jazz aber symbolisierte für das Heer der Soldaten mit bäuerlichem Hintergrund die urbane sowjetische Gesellschaft, mit welcher sie durch die Kriegsteilnahme erstmals enger in Berührung kamen. Der sowjetische Krieg brachte schließlich nicht nur Millionen seiner aktiven Teilnehmer mit neuen kulturellen Genres in Kontakt, sondern expandierte die sowjetische urbane Kultur durch die Verlagerung von Industrie und gesellschaftlichen Einrichtungen in neue Räume.50 Die Kriegsallianz mit den Vereinigten Staaten brachte nicht nur materielle Ergebnisse, sondern begünstigte auch die Rezeption und Verbreitung amerikanischer Jazz- und Popstücke durch die wachsende Zahl von transkribierten Jazzstandards, die innerhalb der zahllosen Orchester kursierten.51 Um den kriegsbedingten, drastischen Einbruch in der sowjetischen Filmproduktion zu kompensieren, wurden 46 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 172–175 47 Vgl. Lauk, Tiit: Estonian Jazz before and behind the „Iron Curtain“, in: Gertrud Pickhan/Rüdiger Ritter (Hg.), Jazz behind the Iron Curtain. Frankfurt a. M. u.a., S. 153–164. Reimann, Late-Stalinist ideological campaigns; Dies.: Swing Club and the Meaning of Jazz in Estonia in the late 1940s, in: Gertrud Pickhan/Rüdiger Ritter (Hg.), Meanings of Jazz in State Socialism. Frankfurt a. M. 2016, S.193–223 48 Vgl. Ojakäär, V.: Sirp ja saksofon. Tallinn 2008, S. 103–168; Ders.: Jazz in Estland. Hoffnung und Wirklichkeit, in: Wolfram Knauer (Hg.), Jazz in Europa. Hofheim 1994, S. 95–106. 49 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 156–158. 50 Vgl. Beličenko, Sergej A.: Institucional’nye osobennosti otečestvennoj džazovoj kul’tury (1922– 2006). Ekaterinburg 2007, S. 173 ff. 51 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 153 ff.
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ab 1943 amerikanische Filme in den sowjetischen Kinos gezeigt, eine Praxis, die auf lokaler Ebene bis Ende der 1940er beibehalten wurde.52 Trotz geänderter Titel und Kürzungen erreichte amerikanischer Jazz in Filmen wie der Glenn Miller Komödie Sun Valley Serenada auch das sowjetische Hinterland und große Kreise der Zivilbevölkerung. Mit dem Krieg endete für die sowjetische Kultur eine Phase von 15 Jahren relativer Isolation. Von nun an wirkte westliche Kultur, allem voran die amerikanische, ungeachtet politischer Konstellationen bis zum Ende der Sowjetunion 1991 auf die sowjetische Kultur ein, die sich wiederum im Inneren wie nach außen im- oder explizit ihr gegenüber zu positionieren hatte. Trotz der Einbindung des Džaz in die kulturelle Mobilisierung und einer Abnahme staatlicher Regulierung zeigten sich die Brüchigkeit dieses kulturellen Burgfriedens und Tendenzen, die dann in der „kulturellen Eiszeit“ des Spätstalinismus zum Tragen kommen sollten. Auch während des Kriegs verstummten ideologische Attacken gegen den Jazz nie vollständig. Besonders die vom Schriftstellerverband und dem Komitee für Kunst herausgegebene Zeitschrift Literatura i iskusstva bildete eine öffentliche Plattform jener Kräfte, für die populäre Musik auch im Krieg keine rein unterhaltende Funktion haben durfte, sondern die der politischen und emotionalen Sinnstiftung verpflichtet war.53 Deutlichster Ausdruck für das Zusammenrücken von Regimezielen und „popular feelings“ in der Estrada waren letztlich folkloristische und patriotische Lieder, die in Repertoirelisten und Neuproduktionen die deutliche Mehrheit stellten. In ihnen drückte sich traditionelle Nostalgie, kollektives Mitgefühl für die Kämpfenden und der stärker werdende Nationalismus aus, den Stalin mit seinem Toast auf den „Sieg des russischen Volks“ im Mai 1945 zum Ausdruck brachte.54 Diese Zunahme von nationalistischen Elementen in der Selbstbeschreibung des Regimes und somit der staatlich sanktionierten Kultur erhöhte die latenten Spannungen, die zwischen dem Džaz als Symbol für das Moderne, Internationale und Exotische und der sowjetischen Kulturpolitik seit seiner Inkorporation zu Beginn der 1930er-Jahre bestanden. Mit Aufziehen des Kalten Krieges entlud sich diese Spannung durch einen von oben initiierten ideologischen Kurswechsel. Diesen trugen Teile der Bevölkerung durch den staatlichen Appell an Patriotismus und Stolz, aber auch durch das Spiel mit antisemitischen Ressentiments durchaus mit.55 Der Džaz verschwand als Begriff 52 Vgl. Kenez, Peter: Cinema and Soviet Society: From the Revolution to the Death of Stalin. New York 2001. 53 Zit, nach Starr, Red and Hot, S. 157. 54 Stites, Frontline Entertainment, S. 126–140. 55 Katzer, Belagerte Festung; Gruner, Frank: ‚Russia’s Battle against the Foreign’. The Anti-cosmopolitanism Paradigm in Russian and Soviet Ideology, in: European Revs. of Hist.: Revue europeenne d’histoire 17 (2010), S. 445–472; Azadovskii, Konstantin/Egorov, Boris: From Anti-Westernism to Anti-Semitism. Stalin and the Impact of the „Anti-Cosmopolitan“ Campaigns
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Jazz in der Sowjetunion bis 1953
aus der offiziellen Sprache, staatliche Orchester wurden aufgelöst und Musiker mit ausländischen und jüdischen Wurzeln inhaftiert, unter ihnen Ėddi Rosner als prominentester Vertreter.56
on Soviet Culture, in: Journal of Cold War Studies 4 (2002), S. 66–80. Neutatz, Dietmar: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. München 2013, S. 349–357. 56 Starr, Red and Hot, S. 177–181.
3. D E R S OW J E T I S C H E M U S I K M A R K T
Das Ziel der Arbeit ist es, nach den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren innerhalb der Sowjetunion zu fragen, die die Ausbreitung und Adaption des westlichen Jazz in der sowjetischen Kultur der 1950er und 1960er und die Neuaushandlung dessen, was Džaz in der nachstalinistischen Gesellschaft bedeuten konnte, möglich machten. Dazu wird ein in sich verschränkter thematischer Zugang gewählt, der die Frage nach Gestaltungsanspruch und -möglichkeiten von Partei und Staat auf der einen und der Vertreter des urbanen studentischen Jazzmilieus auf der anderen Seite diskutiert. Das Kapitel „Musik verwalten?“ fragt in einer Perspektive „von oben“ nach den Ursachen dafür, warum Jazz innerhalb einer Dekade nach Stalins Tod von einer ideologisch verfemten Musik zu einer legitimen Form von sowjetischer Unterhaltungsmusik wurde. Das folgende Kapitel „Musik selbst verwalten?“ ist auf das kulturellere Projekt einer kleinen gesellschaftlichen Gruppe fokussiert, deren Projekt die Aufwertung von instrumentalem und auf Improvisation basierendem Jazz zu einer legitimen Form ernster Musik zum Ziel hatte. Im Zentrum des Kapitels „Musik verwalten?“ stehen vier Bereiche, in denen der sowjetische Staat versuchte, die Unterhaltungsmusik zu verwalten, zu kontrollieren und zu formen – die Zensur, die Medienproduktion, das Konzertwesen und die Deutungsangebote seiner als legitim erachteten musikalischen Experten. Im Weiteren wird von der Grundannahme ausgegangen, dass erst durch die bestehende Missstände und die Eigendynamik der durchgeführten Reformen in diesen wenig untersuchten Feldern der Kulturpolitik eine Neuetablierung des Jazz als Teil sowjetischer Unterhaltungskultur erfolgte. Da das städtische Milieu von Jazzenthusiasten sowohl innerhalb als auch am Rand dieser Bereiche entstand, sich konsolidierte und mit deren Vertretern interagierte, wird im weiteren der Begriff des Musikmarktes verwendet. Mithilfe dieses Konzepts lassen sich sowohl die verschiedenen Stränge staatlicher Kultur- und Wirtschaftspolitik als auch die Entwicklungen und Aushandlung kongruenter und konkurrierender Vorstellungen über Inhalt und Rolle des Jazz für die nachstalinistische Kultur zueinander in Beziehung setzen und erklären. Eine solche Perspektive rückt die isoliert gedachte offizielle und inoffizielle Kultur zusammen und kann Kontingenz und Aushandlungsprozesse dort sichtbar machen, wo vorher Planbarkeit und Handlungsmacht vermutet wurden. Die Anwendung des Begriffs „Musikmarkt“ bereitet für die Sowjetunion zunächst einige Probleme. Der Begriff bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch jenen Markt, auf dem Unternehmen versuchen, Musik unterschiedlicher Künstler über verschiedene Medienformate gewinnbringend an verschiedene Zielgruppen zu verkaufen. Allgemein wird die Seite der Anbieter als Musikindustrie (bzw. „recording industry“)
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bezeichnet, auch wenn der Begriff eine zu starke Einheit und Macht suggeriert. Der Musikmarkt kann als Feld verstanden werden, auf dem kulturelle Produkte in ökonomische Gewinne transformiert werden. Grundlage für die Entwicklung eines wirtschaftlich relevanten Musikmarktes waren die Schaffung von rechtlichen Schutzmechanismen zur Sicherung von Autorenrechten und die Entwicklung der Massenmedien im 20. Jahrhundert. Nachdem der Handel mit Musik sich bis in die 1910er-Jahre hauptsächlich über den Verkauf von Noten vollzog, kamen nach dem Ersten Weltkrieg die Grammophonschallplatte und das Radio als neue Medien mit größerer Reichweite dazu. Damit änderten sich nicht nur Reichweite, sondern auch Größe des potentiellen Publikums, die Gewinnspannen und die Marktbeschaffenheit. Auch wenn die Entwicklung des Musikmarktes in Westeuropa und den USA bis in die 1930er-Jahre den Wandel von der elitären Bürgerkultur, ausgedrückt in der klassischen Musik, hin zu einer Massenkultur, versinnbildlicht durch die populäre Musik, begleitet und beschleunigt hat, kann man nicht von einem Publikum sprechen. Entgegen der Vorstellung einer kulturellen Homogenisierung gehören die Musik gesellschaftlicher oder ethnischer Randgruppen, deren Aufwertung zum Mainstream oder Hineinwirken in die Beschaffenheit populärer Musik zu einem Kontinuum der Geschichte des westlichen Musikmarktes im 20. Jahrhundert. Der Zeitraum vom Ende der 1940er- bis Ende der 1960er-Jahre gilt in der westlichen Entwicklung populärer Musik als Übergangsphase von einem national basierten massenkulturellen Phänomen hin zu einem global transferierten Kulturgut.1 Für dessen Untersuchung sind Kultur, Technik, Berufsorganisation, Politik und Wirtschaft gleichermaßen aufschlussreich. Kirill Tomoff hat für seine Untersuchung des Nexus von klassischer Musik und sowjetischer Politik nach dem Krieg überzeugend mit dem Konzept des „Soviet cultural system“ gearbeitet, das Insitutionen und diskursive Praktiken beinhaltet, die für die Entstehung und Verbreitung sowjetischer Musik im In- und Ausland zentral waren.2 Die vorliegende Untersuchung fokussiert jedoch eher die Sphäre der Unterhaltungsmusik und zielt darauf ab, lange vernachlässigte ökonomische Zusammenhänge und Funktionsweisen zu untersuchen. Für eine solche Analyse sowjetischer Kultur ist das Modell des Marktes erst in den letzten Jahren vereinzelt aufgegriffen worden. Das Interesse bezog sich zunächst auf Kunst im Sozialistischen Realismus und dessen gesellschaftliche Integrationskraft während des Stalinismus der 1930er-Jahre. Mariia Chegodaeva plädierte 2003 dafür, die westliche Massenkultur und die vermeintlich einzigartige Welt des Sozialistischen Realismus als 1 2
Vgl. Garofalo, Reebee: From Music Publishing to MP3. Music and Industry in the Twentieth Century, in: American Music 17 (1999), 3, S. 318–354, hier S. 318. Vgl. Tomoff, Kiril: A Pivotal Turn. Prague Spring 1948 and the Soviet Construction of a Cultural Sphere, in: Slavonica 10 (2004), 2, S. 157–176, hier S. 158.
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gemeinsame Phänomene des 20. Jahrhunderts zu begreifen: „Commercial Stalinist art was as much a commodity as the commercial art of the West. Demand led to supply.“3 Am Beispiel von Künstlerkollektiven im Stalinismus argumentierte Galina Yankovskaya 2006 für die Bedeutung ökonomischer Mechanismen und Zwänge. Diese schufen in ihren Worten „an exceptionally conflict-ridden environment and had no less of an impact on artists than patronage connections and political motives.“4 Ihre Überlegungen zum Kunstmarkt als „the entire complex of activities involved in the exchange of symbolic products“5 lassen sich auf die sowjetische Unterhaltungsmusik der Nachstalinzeit anwenden. Dieser sowjetische Kunstmarkt erschöpfte sich nicht allein im „Erwerb“ von Kompositionen durch staatliche Organe oder den „Verkauf“ an den sowjetischen Hörer, der Konzerteintritt oder den Preis einer Schallplatte zahlte. Er stand ebenfalls in Abhängigkeit von a) der Bewertung des Musikstückes durch Hörer, Komponisten, Fachwissenschaftler, Presse, Zensoren oder die Bürokratie und b) den verschiedenen Formen ihre Darstellung auf Bühnen, im Radio oder auf Schallplatten. Der sowjetische Musikmarkt war Ort der Verbreitung kultureller Produkte. Der Transformation des Kulturgutes Musik in ökonomischen Gewinn räumte die Partei dabei keine zentrale Rolle ein. Ebenso fehlte die Konkurrenz verschiedener Firmen als Motor für Innovation im Bereich der Technik oder Organisation. Bis zur massenhaften Durchsetzung des Fernsehens blieb die sowjetische Musikkultur stark auf Livekonzerte konzentriert. Das Konzert blieb für den sowjetischen Bürger der 1950er-Jahre die Hauptquelle für Unterhaltungsmusik, da eine wettbewerbsorientierte Musikindustrie fehlte, ein gegenüber dem Westen relativer technischer Rückstand bei Aufnahme- und Produktionstechniken von Schallplatten herrschte und die inszenierte Öffentlichkeit eines Konzerts für die Bol’ševiki von zentraler Bedeutung war. Anstelle des Schallplattenmarkts funktionierte das Kino als Katalysator für die Popularisierung von Unterhaltungsmusik, denn als technisches Massenmedium war dessen Infrastruktur in den 1950er-Jahren unionweit bereits relativ gut ausgebaut.6 Viele der populärsten Lieder der Sowjetzeit entstammten Filmen. Während der Komponistenverband bis Ende der 1940er-Jahre seine Deutungshoheit um „angemessene sowjetische Musik“ durchsetzen konnte und sich als legitime Instanz für Schaffung und Bewertung sowjetischer Musik etablierte, versuchte der Staat, die Verbreitung, Produktion, Inszenierung und Distribution 3 4
5 6
Chegodaeva, Mass Culture and Socialist Realism, S. 54. Yankovskaya, Galina/Mitchell, Rebecca: The Economic Dimensions of Art in the Stalinist Era. Artists’ Cooperatives in the Grip of Ideology and the Plan, in: Slavic Review 65 (2006), 4, S. 769–791, S. 770. ebd. Vgl. Beumers, Birgit: A History of Russian Cinema. London 2013, S. 112–145; Egorova, Tatiana: Soviet Film Music. Hoboken 2014.
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von Musik durch eine Reihe von Instrumenten zu steuern, um den sozialistischen kulturellen Kanon durchzusetzen.7 Dieser Kanon war in den anderthalb Dekaden nach Stalins Tod selbst verschiedenen Kontroversen unterworfen und alles andere als stabil. Die auf dem sowjetischen Musikmarkt vertretenen Musikstile unterlagen unterschiedlichen Bedingungen. Bestimmend für die sowjetische Musikpolitik und das Denken und Handeln ihrer Vertreter blieb die kulturelle Hierarchie, in der klassische Musik und Volksmusik („narodnaja muzyka“) über der Unterhaltungsmusik Estrada rangierten. Dies resultierte einerseits aus dem Erziehungsparadigma, demzufolge sich der sowjetische Bürger erst über die Beschäftigung mit ideologisch vollwertiger Estradamusik die nötigen Fähigkeiten zum Verständnis klassischer Musik aneignen sollte. Im Komponistenverband, der sich Ende der 1940er-Jahre als einzige legitime Quelle sowjetischer Musik etabliert hatte, dominierte die Produktion klassischer Musik und das Interesse an folkloristischer Musik als eine ihrer wichtigen Grundlagen.8 Der Verband vereinigte zwar populäre Komponisten des Estradagenres wie Isaak Dunaevskij, der als Leiter der Leningrader Abteilung des Verbands sogar eine einflussreiche Position innehatte.9 Die eigene Abteilung für Estradamusik aber steuerte nicht genügend neue Stücke für die Nachfrage bei. Kompositionen von Estradamusik galten als weniger prestigeträchtig und wurden geringer entlohnt.10 Klassische Musik wurde im Vergleich zu Estrada als „commodity“ auf dem Musikmarkt höher subventioniert. Dies geschah durch bevorzugte Mittelzuweisung für die Schaffung klassischer Orchester und Chöre, durch staatliche Investitionen in die Ausbildung von Musikern oder durch die garantierte Abnahme von Eintrittskarten für Konzerte von klassischer und Volksmusik durch staatliche Institutionen wie Gewerkschaften. Diese umfangreiche Förderung der klassischen Musik und seines Publikums wurde auch im Westen trotz Kritik an der sowjetischen Intervention in die Kultur immer wieder anerkennend festgestellt.11 Der Markt fehlte als Bezugs- und Selbstreferenzgröße der politischen Akteure. Viele Kulturfunktionäre, besonders aus den Kulturministerien oder den kulturellen Behörden des Zentralkomitees, gingen von der grundsätzlichen Planbarkeit kultureller Prozesse aus. Probleme im Bereich der (Unterhaltungs-)Musik wie etwa fehlendes Interesse oder mangelnde Akzeptanz eines Estradaprogramms erschienen daher über Defizite in der Organisation oder politische Mängel des 7 Vgl. Tomoff, Kiril: Creative Union. 8 Vgl. Schwarz: Musical Life; Tomoff: Creative Union. 9 Vgl.Stadelmann, Dunaevskij. 10 Vgl. Tomoff, Kiril: The Illegitimacy of Popularity. Soviet Composers and the Royalties Administration, 1939–1953, in: Russian History/Histoire Russe 27 (2000), S. 311–340. 11 Fisher, Wesley A./Volkov, Solomon: The Audience for Classical Music in the USSR. The Government as Mentor, in: Slavic Review 38 (1979), 2, S. 481–483, hier S. 481.
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Stückes erklärbar, kaum aber über den Faktor der Popularität und der fehlenden Attraktivität des Stücks. Weder der Begriff des „Marktes“ noch andere mit ihm in Verbindung stehende Begriffe, wie „Nachfrage“, „Angebot“ oder „Verbraucher“, finden sich in Diskussionen oder Beschlüssen zum Thema. Der beständig genannte „Hörer“ („Slušatel’“) wurde nicht explizit als Verbraucher begriffen. Er fungierte in den meisten Fällen vielmehr als abstrakte, ideologische Referenzgröße, mit deren Hilfe vermeintlich schlechte Programme kritisiert wurden oder über die eine höhere erzieherische Verantwortung der Kulturschaffenden angemahnt wurde. Die steigende Bezugnahme auf die „Bedürfnisse der Bevölkerung“ in der Chruščev-Periode findet sich jedoch auch im musikalischen Diskurs wieder. Sie steht aber, wie im politischen Feld auch, eher für den populistischen Politikstil der Epoche als für eine staatliche Neuorientierung an der konkreten Nachfrage nach einer bestimmten Form von Musik. Das Plandenken von Kultur und das Erziehungsparadigma führten dazu, dass die Nachfrage als Kategorie auf Ebene der zentralen Entscheidungsinstanzen kaum eine produktive Rolle spielte, während sie in der täglichen Arbeit der lokalen Konzertorganisationen im Verlauf der 1950er-Jahre an Bedeutung gewann, um die wirtschaftliche Planerfüllung zu gewährleisten. Die Schwierigkeiten, diesen Kontrast politisch zu kommunizieren, bestimmten die Entstehung und Umsetzung zahlloser Beschlüsse und Dekrete zur sowjetischen Estrada nachhaltig. Das Konzept des Musikmarkts bietet trotz dieser Einschränkungen für die Frage nach den Ursachen für die Reetablierung des Jazz als Unterhaltungsmusik in den 1950er- und 1960er-Jahren einen tragfähigen Zugang. Er umgeht die Reduzierung sowjetischer, beziehungsweise sozialistischer Kultur auf eine rein politische Perspektive, die sich in der Unterscheidung in Subversion und Affirmation erschöpft. Die 1950er-Jahre zeichnen sich durch eine Zunahme wirtschaftlicher Faktoren in der sowjetischen Kulturpolitik aus. Sowohl mit Blick auf die Medienproduktion als auch die Organisation des staatlichen Konzertwesens kann man die Zeit zwischen 1956 und 1964 als Scharnierphase bezeichnen. Diese Verschiebung hatte direkte Auswirkungen auf die kulturelle Produktion, namentlich den Umfang, die Vielfalt und Verbreitungswege von Unterhaltungsmusik. Raymond Patton, einer der wenigen Historiker, die diese wirtschaftliche Perspektive für sozialistische Staaten am Beispiel Polens in den 1980er-Jahren untersucht hat, spricht von der „communist cultural industry“12. Im Weiteren wird von der Annahme ausgegangen, dass sich der Jazz als Genre der Unterhaltungsmusik erst durch diesen Wandel gesellschaftlich durchsetzen konnte und damit die Folgen der repressiven Kulturpolitik der Spätstalinzeit überwand. Damit soll nicht die Bedeutung von kulturellen 12 Patton, Raymond: The Communist Culture Industry. The Music Business in 1980s Poland, in: Journal of Contemporary History 47 (2012), 2, S. 427–449.
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Impulsen von außen relativiert werden. Die Musik amerikanischer und deutscher Filme in den späten 1940er-Jahren, Musiksendungen westlicher Radiostationen oder aus Westeuropa geschmuggelte Schallplatten waren hier essentielle Impulse. Die Binnenperspektive umgeht jedoch die oft zu starke Aufladung des Jazz als subversives „Trojanisches Pferd“ der amerikanischen Kultur und als Synonym für Dissens und Widerstand. Der Markt als Modell für diese Entwicklung bietet eine ergebnisoffene Perspektive, die den Steuerungsanspruch der Partei nicht mit der Steuerungswirklichkeit gleichsetzt und die Partei als einen Akteur unter mehreren begreift. Staatliche Organe sahen sich durch Lenins Diktum von der Führungsrolle der Partei über die Kunst legitimiert. Sie nahmen sowohl auf das System der Bewertung als auch auf die Darstellung und Inszenierung von Musik ideologischen und materiellen Einfluss. Die Partei musste dabei aber nicht nur die Arbeit einer Vielzahl von parteilichen, staatlichen und wirtschaftlichen Instanzen im Feld der Unterhaltungsmusik koordinieren, sondern sah sich auch auf einer vertikalen Ebene mit Steuerungsproblemen konfrontiert. Die Umsetzung von meist abstrakten Beschlüssen der Moskauer Zentrale in handlungsleitende Anweisungen in die unteren Gremien der Partei und Kulturverwaltungen geschah häufig nicht ohne Reibungsverluste und inhaltliche Umdeutungen. Das Gleiche kann für die Spannung zwischen Zentrum und Peripherie festgestellt werden. Kulturelle Entwicklung und Kulturpolitik der 1950er- und 1960er-Jahre hatten eine starke geografische Dimension, die nicht nur aus einer Vielzahl lokal sehr unterschiedlicher Probleme erwuchs. Auch die Frage divergierender Wahrnehmung, Entscheidungswege und -zeiten spielte eine zentrale Rolle. Auf dem sowjetischen Musikmarkt sah sich die Partei nicht nur mit einer Vielzahl von Instanzen mit teils widersprüchlichen Zielen konfrontiert, sondern auch mit dem, was die Bevölkerung hörte, verweigerte, einforderte und bereit war, sich bei anderen Anbietern zu beschaffen. Eingeschränkt kann hier die Aussage von James van Geldern für die sowjetische Estrada der 1920er- und 1930er-Jahre gelten, dass sich Partei und Bevölkerung nirgends so auf Augenhöhe begegneten wie in diesem Bereich.13 Der Kontrast zwischen dem staatlichen Anspruch, Unterhaltungsmusik zu verwalten, und den verschiedenen Formen von Selbstorganisation ist ein Leitgedanke dieser Arbeit. Die für den Marktbegriff konstitutiven Elemente von „Angebot“ und „Nachfrage“ lassen sich für den sowjetischen Fall verwenden, auch wenn sie auf den ersten Blick nur in diffuser Form vorliegen. Das „Angebot“ teilt sich in einen durch den Staat stark regulierten Teil, den die Konzertorganisationen verantworteten und in einen weniger regulierten Teil der musikalischen Schattenwirtschaft. Jene semi- und illegalen Praktiken finden sich im Bereich der Konzertorganisation 13 Vgl. Geldern/Stites, Mass Culture in Soviet Russia.
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ebenso wieder wie bei der Produktion von Tonträgern. Sie standen oft nicht in Konkurrenz zum staatlich überwachten Teil des Marktes, sondern ergänzten ihn, indem sie Lücken im Angebot von Konzerten oder Schallplatten füllten, die die kulturpolitischen Imperative und Mängel des Staates hinterließen. Dieses symbiotische Verhältnis zwischen sowjetischer Schatten- und Planwirtschaft ist für den Bereich der Konsumgüter oder die Versorgung mit Rohstoffen der Industrie bereits untersucht worden.14 Konflikte um die Kontrolle des Musikmarktes, mit der die verschiedenen, administrativen Kampagnen und Reformen nach 1953 erklärt werden können, entstanden an drei Stellen: Die musikalische Schattenwirtschaft stellte eine Herausforderung für das kulturelle Organisationsmonopol, die ideologische Deutungshoheit und das wirtschaftliche Monopol des Staates dar. Die „Nachfrage“ nach Unterhaltungsmusik war für zeitgenössische Akteure lange eine unbekannte Größe und stellt Historiker vor ein Quellenproblem. Der Hörer blieb im sowjetischen Kulturmodell eine abstrakte Referenzgröße, in dessen Namen Forderungen gestellt wurden und den es zu erziehen galt. Durch permanenten Mangel können die Verkaufszahlen von Schallplatten nur eingeschränkt als Indikator für Nachfrage und Geschmack des Publikums verwendet werden. Erst mit dem Wiederentstehen der Soziologie in der Sowjetunion zu Beginn der 1960er-Jahre wurden erste Versuche unternommen, zu erfragen, welche Musik die sowjetischen Bürger eigentlich hören wollten. Grundzüge einer institutionell verankerten Musiksoziologie entstanden erst in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre. 1971 führte das Institut für Soziologie der Akademie der Wissenschaften ausführliche Befragungen durch, um in einer Studie für die staatliche Schallplattenfirma Melodija das musikalische Konsumverhalten in Stadt und Land zu erforschen und Empfehlungen für Produktions- und Werbestrategien zu geben.15 Weitere Untersuchungen in den 1970er-Jahren zum Hörverhalten der Bevölkerung zeigen ein weitgehendes Desinteresse an klassischer Musik, das durch Radioprogramme und Schallplattenproduktion noch befördert wurde, und plädierten offen für eine kritische Abkehr von Lenins Formel, dass mit dem Steigen des Bildungsniveaus ein lineares Wachstum des kulturellen Niveaus einhergehe.16
14 Vgl. Merl, Stephan: The Soviet Economy in the 1970s. Reflections on the Relationship between Socialist Modernity, Crisis and the Administrative Command Economy, in: Marie-Janine Calic/ Dietmar Neutatz/Julia Obertreis (Hg.), The Crisis of Socialist Modernity. The Soviet Union and Yugoslavia in the 1970s. Göttingen 2011, S. 28–65; Ledeneva, Alena V.: Russia’s Economy of Favours. Cambridge 1999. 15 Vgl. Fedotova, L., Institut für Sozialforschung der Akademie der Wissenschaften Sektor Erforschung der Öffentlichen Meinung, Umfrage zum Schallplattenkonsum 1972, 29.06.1972, Hoover Institution Archive, Boris Grushin Papers, Box 5, Folder 17. 16 Vgl. Cukerman, Vladimir Samoilovič: Muzyka i slušatel’. Opyt sociologičeskogo issledovanija. Moskau 1972.
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Auf Ebene der Konzertorganisation können Besucherzahlen als Indikator für Nachfrage gelesen werden. Neben der Zahl der organisierten Konzerte und der entsprechenden Einnahmen war die Besucherzahl eine relevante Kontrollziffer im Plansystem des Konzertwesens. Diese quantitative Form der Nachfragebestimmung unterschied lediglich zwischen Besuchern klassischer Konzerte und Unterhaltungsmusik. Aus den bilanzierten Besucherzahlen lassen sich nur eingeschränkte Schlüsse über musikalische Nachfrage ziehen, sei es, weil Teile der Eintrittskarten als Kontingent an gesellschaftliche Organisationen gegeben wurden oder die wenigen Konzerte wirklich populärer Gruppen grundsätzlich ausverkauft waren. Ein nicht unbedeutender Teil der Livekonzerte wiederum wurde illegal organisiert und statistisch nicht erfasst. Versuche des Kulturministeriums und des Zentralkomitees, den musikalischen Kanon stärker auf sowjetische Musik auszurichten, die Estrada stärker auf politische Anforderungen zu fokussieren oder der zunehmenden Verwestlichung der Musik entgegenzuwirken, wurden durch diese schematische Zählweise von Besuchern nicht begünstigt. Ein erfolgreicher Konzertorganisator vor Ort lancierte geschickt zwischen Apellen nach ideologischer Sinnstiftung, Förderungen von Klassik oder Folklore und der kulturellen Bedienung des Landes auf der einen und dem budgetschonenden Erreichen der planmäßigen Besucherzahlen auf der anderen Seite. Vor Ort war „Nachfrage“ eine deutlich konkretere Kategorie als in den Führungsetagen des Kulturbetriebs. An Indikatoren für eine größere Nachfrage nach Unterhaltungsmusik fehlt es indes nicht. Die Urbanisierung in der Sowjetunion erreichte in den 1950er- und 1960er-Jahren ihren Höhepunkt.17 Auf dem XX. Parteitag forderte die KPdSU eine deutliche Verbesserung der „kulturellen Bedienung der Werktätigen“; ein Appell, dem im 5-Jahresplan von 1957 mit einer großen Zahl an Neubauten von Konzertsälen, Kulturhäusern und Tanzplätzen auch Rechnung getragen wurde. Der „Musikmarkt“ in der Nachstalinzeit kann abseits der verschiedenen Institutionen auch als Ort begriffen werden, an dem professionelle und Amateurmusiker, Parteifunktionäre, Zensoren, Komponisten, Konzertorganisatoren, Schwarzmarkthändler und die Konzertbesucher aufeinandertrafen. Diese lebensweltliche Perspektive, die im zweiten Kapitel verstärkt eingenommen wird, gewinnt an Relevanz, wenn man nach den informellen Mechanismen fragt, welche die Praxis der Konzertorganisation, aber auch den musikalischen Alltag ausmachten. Damit das hochbürokratisierte und ideologisch aufgeladene Kulturleben der Sowjetunion funktionieren konnte, bedurfte es informeller und persönlicher Netzwerke, welche die Schwerfälligkeit der Institutionen teilweise kompensieren konnten. Kiril Tomoff hat die Rolle dieser Beziehungen im Bereich der klassischen Musik des 17 Vgl. Bohn, Thomas M.: Minsk – Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945. Köln/Weimar/Wien 2008.
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Spätstalinismus untersucht.18 „Patrone“ aus den höchsten Ebenen und „Makler“, die solche Verbindungen herstellten, waren nicht nur für das künstlerische und materielle Schicksal sowjetischer Musiker wichtig, sondern auch für das Funktionieren des Systems als Ganzes.19 Die Relevanz solcher Netzwerke war für den Bereich der Unterhaltungsmusik ungleich höher, sowohl aufgrund der häufig prekären materiellen Situationen von Musikern als auch der wechselseitigen Beziehungen zwischen offizieller Sphäre und musikalischer Schattenwirtschaft. Verortet man den Jazz mit Blick auf seine ideologische und gesellschaftliche Anerkennung als eine prekäre Form von Unterhaltungsmusik, dann gewinnen diese persönlichen Verbindungen an Bedeutung. In der Phase seiner zögerlichen Anerkennung als Tanzmusik in den 1950er-Jahren waren Beziehungen des einzelnen Musikers zu Mitgliedern der Konzertorganisationen, zu Kulturfunktionären oder zu Schwarzmarkthändlern elementar, wenn es um die Vermittlung eines geldbringenden Engagements oder um die Beschaffung eines raren Ersatzteils ging. Aber auch für das kulturelle Projekt der Jazzenthusiasten, den Jazz Anfang der 1960er-Jahre zu einer Kunstmusik zu erheben, bedurften die Akteure persönlicher Beziehungen zu Leitern von Kulturhäusern, Partei- und Komsomolfunktionären oder etablierten Komponisten. Das Modell des Musikmarkt als institutionelles und persönliches Beziehungsgeflecht kann damit nicht nur die Wirklichkeit des staatlichen Kontrollanspruchs offenlegen, sondern auch die Handlungs- und Gestaltungsmacht der Jazzenthusiasten, um die es im zweiten Kapitel „Musik selbst verwalten?“ gehen soll. Um der Frage nach den kulturpolitischen und gesellschaftlichen Gründen für die Ausbreitung des Jazz als Unterhaltungsmusik in den 1950er- und 1960er-Jahren nachzugehen, werden in dieser Studie thematische und chronologische Zugänge verschränkt. Diese Verknüpfung wird gewählt, da die für die Argumentation entscheidenden Entwicklungen in einzelnen Bereichen in unterschiedlichen Zeiträumen relevant werden, gleichsam aber kausal zusammenhängen. So bildet der zunehmende Kontrollverlust des Zensurapparates zwischen 1948 und 1953 die Grundlage für ungesteuerte Entwicklungen im Bereich der Schallplattenproduktion und des Konzertwesens, die erst Mitte der 1950er-Jahre an Kontur gewinnen. Legitime musikalische Experten wiederum nahmen in Massen- und Fachpresse unterschiedlich Bezug auf die Entwicklungen der Estrada und des Jazz, lieferten teils widersprüchliche Deutungsangebote und banden singuläre Ereignisse zurück an die wichtige Entwicklungen der nachstalinistischen Sowjetunion, wie die Öffnung des Landes nach Westen. 18 Vgl. Tomoff, Kiril: ‚Most Respected Comrade …’. Patrons, Clients, Brokers and Unofficial Networks in the Stalinist Music World, in: Contemporary European History 11 (2002), 1, S. 33–65. 19 Vgl. Tolz, Vera: ‚Cultural Bosses’ as Patrons and Clients. The Functioning of the Soviet Creative Unions in the Postwar Period, in: Contemporary European History 11 (2002), 1, S. 87–105.
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Die zentralen Gegensätze, die Raymond Patton in seiner Studie für die Entwicklung der polnischen Musikindustrie der 1980er-Jahre ausmacht, sind in dieser Scharnierphase der 1950er- und 1960er-Jahren in der Sowjetunion im Entstehen begriffen. Er nennt a) die theoretische Verantwortlichkeit der Akteure für die Erfüllung verschiedener zentraler Pläne gegenüber dem dezentralen Charakter, der es der Zentrale erschwert, einen Überblick über die Aktivitäten zu gewinnen, b) die Aufgabe, die Bevölkerung mit kulturellen Ressourcen zu versorgen gegenüber dem eklatanten Mangeln an Gütern, die das Erreichen dieses Ziels verhindern und c) das ideologische Ziel, Musik zu produzieren, die das kulturelle Wachstum seiner Konsumenten erhöht gegenüber dem praktischen Zwang, Gewinne zu maximieren.20 Als Besonderheit für den Musikmarkt ist zum einen auf die geografische Dimension und das Spannungsfeld zwischen Moskauer Zentrum und sowjetischer Peripherie zu verweisen. Die Entfernung zu Moskau und Leningrad bestimmte nicht nur die Verteilung der Ressourcen für den kulturellen Bereich, sondern auch das Maß an Kontrolle, das durch das ZK und die Kulturministerien der Sowjetunion und der Russischen Sowjetrepublik auf die Belange vor Ort ausgeübt werden konnte. Mit Forderungen der Zentrale zur Verbesserung der „kulturellen Bedienung der Werktätigen“ ging selten eine Erhöhung der lokalen Ressourcen einher, was örtliche Vertreter zu eigenständigen Lösungen zwang. Fehlende Ressourcen und Kontrolle in den Peripherien spielten genauso im Bereich der Zensur und Medienproduktion eine wichtige Rolle. Ein zweites Spannungsfeld bestimmt sich durch den multiethnischen Charakter der Sowjetunion. Auch wenn die politische Macht hinter der Fassade des „Sowjetischen“ vorrangig in den Händen russischer Staats- und Parteivertreter organisiert war, konnte die kulturelle Sphäre als Katalysator nationaler Identität funktionieren.21 Den Sowjetrepubliken oblag im Sinne der Pflege ihrer nationalen Kulturen ein großer Spielraum in der Ausgestaltung ihrer Kulturpolitik. Dies galt für die Musik selbst, für die die jeweiligen nationalen Ableger des Komponistenverbandes zuständig waren, aber auch für musikalische Kollektive, wie Orchester, Chöre, Folkloregruppen und Estradaorchester, die den jeweiligen Kulturministerien und Konzertorganisation unterstanden.22 Für die Entwicklung des Jazz nach 1953 spielte die Peripherie des Imperiums eine wichtige Rolle. Zum einen entstanden in den südlichen Sowjetrepubliken von Moldawien, Georgien und Azerbaidžan im Laufe der 1950er-Jahre eine Reihe staatlicher Estradaorchester, deren Programme trotz wiederholter Kritik aus Moskau früh eine Orientierung an westlichen Vorbildern 20 Vgl. Patton, The Communist Culture Industry, S. 432. 21 Martin, Terry: The Affirmative Action Empire. Ithaca/New York u.a. 2001. 22 Vgl. Frolova-Walker, Marina: „National in Form, Socialist in Content“. Musical Nation-Building in the Soviet Republics, in: Journal of the American Musicological Society 51 (1998), 2, S. 331–371.
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der Jazzmusik erkennen ließen. Im Kulturministerium der Sowjetunion wurden mehrfach die mangelhafte Umsetzung von Beschlüssen zur Estrada in den respektiven Ministerien der Republiken und die Arbeit der dortigen Konzertorganisationen kritisiert. Zum anderen gelangten nach dem Zweiten Weltkrieg auch die baltischen Republiken unter sowjetische Kontrolle, die über eine deutlich stärker auf Westeuropa bezogene musikalische Tradition verfügten. Diesen Republiken wurden nicht nur erhebliche kulturelle Freiräume eingeräumt. Diese Freiräume und Traditionen zeitigten mit Blick auf Unterhaltungsmusik im Allgemeinen und Jazz im Speziellen auch deutliche Rückwirkungen auf die Russische Sowjetrepublik.
4. M U S I K V E RWA LT E N ?
4.1. Z e n s u r u nd Me d ie n Die sowjetische Kulturpolitik beanspruchte im gesamten Entstehungs-, Herstellungs- und Verbreitungsprozess sowie bezüglich des Konsums von Kunst die Gestaltungshoheit, während die Praxis diesen Anspruch in all diesen Bereichen konterkarierte. Dem widerspricht nicht, dass bis Mitte der 1930er eine politisch und gesellschaftlich akzeptierte „sowjetische Musik“ entstand, über deren Formen und Inhalte bis zum Ende der Sowjetunion gestritten wurde. Kulturelle Steuerungsund Kontrollinstrumente für die Unterhaltungsmusik in der Sowjetunion wurden schrittweise etabliert und waren in ihrer Funktionsweise und ihren Befugnissen beständigem Wandel unterworfen. Hier reagierten Partei und Einzelakteure auf veränderte Konstellationen im Bereich von Medien, Zuschauern und politischen Rahmenbedingungen. Ziel dieses Kapitels ist es, die Rolle der akustischen Zensur und der sowjetischen Medienproduktion für die Verwestlichung der Estrada und Ausbreitung des Jazz in den 1950er-Jahren zu untersuchen. Zensur regulierte dabei die Bewertung der Musik über ein direktes System staatlich-administrativer Kontrolle, dessen vorläufiger Höhepunkt mit der Spätphase des Stalinismus assoziiert wurde.1 Da die erstaunliche musikalische Vielfalt und Präsenz westlicher und als unsowjetisch gebrandmarkter russischer Musik bereits in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre kaum alleine den Liberalisierungen des Tauwetters zugeschrieben werden können, rücken staatliche Praktiken der Kontrolle von Musik im Spätstalinismus ins Zentrum des Interesses. Inwieweit der stark antiwestliche Impetus und Kontrollanspruch mit der institutionellen Wirklichkeit musikalischer Zensur im Spätstalinismus korrespondierte, wird im Folgenden kritisch untersucht.2 Dabei steht die Frage im Zentrum, mit welchen Beschlüssen die Partei- und Staatsorgane die Zensurmechanismen an deren Vorstellung kultureller Kontrolle im Zuge des Kalten Krieges anzupassen versuchten und zu welchen Ergebnissen diese Bestimmungen im lokalen Netz verschiedener Zensurorgane führten. Weniger direkt erfolgte die Regulierung der Medienproduktion durch administrative Eingriffe in das System der Planwirtschaft, welches durch die wirtschaftlichen 1
2
Bljum, Arlen Viktorovich: Sovetskaja cenzura v epochu totalnogo terrora, 1929–1953. St. Peterburg 2000; Ders.: Kak ėto delalos· v Leningrade. Cenzura v gody ottepeli, zastoja i perestrojki, 1953–1991. St. Peterburg 2005; Gorjaeva, Politiceskaja cenzura; sowie der Quellenband: Maksimenkov, L. V. (Hg.): Bol’šaja cenzura: pisateli i žurnalisty v strane sovetov; 1917–1956. Moskau 2005. Gruner, ‚Russia’s Battle against the Foreign’; Schwarz, Boris: Music and Musical Life in Soviet Russia: 1917–1970. London 1972, S. 204–248.
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Reformen der 1950er-Jahre großen Umbrüchen unterworfen war.3 Die Verschiebung der industriellen Prioritäten von der Schwer- und Rüstungs- zur Konsumgüterindustrie beeinflusste die dezentral organisierte und, dem Westen gegenüber, technisch rückständige Schallplattenproduktion deutlich. Welche Herausforderung die Schallplattenproduktion unter den neuen wirtschaftlichen Prämissen für den Kontrollanspruch des sowjetischen Staates über den Musikmarkt darstellte, wird im zweiten Teil des Kapitels diskutiert. Diese Verschränkung eines thematischen und chronologischen Zugangs ergibt sich somit nicht nur aus den inhaltlichen Überschneidungen – dem Zensursystem oblag nicht nur die Zulassung des Estradarepertoire, sondern auch das Verbot von Schallplatten. Weder endeten die Herausforderungen akustischer Zensur mit dem Jahr 1953 noch begannen erst dann die Schwierigkeiten, die aus kulturellen Vorstellungen der Parteispitze und Produktionslogik von Schallplatten als Konsumgut herrührten. Die Ausbreitung des Jazz innerhalb der sowjetischen Unterhaltungsmusik der 1950er- und 1960er-Jahre kann nur als Prozess verstanden werden, in dem zu unterschiedlichen Zeitpunkten verschiedene Sphären des Musikmarktes und die dazugehörigen Strategien staatlicher Politik, an Relevanz gewannen. Dieser Prozess entzieht sich häufig politischen Zäsuren, die über die Epochen, wie das Tauwetter, konstruiert werden. Die Frage der Kontrolle von kulturellem Transfer im Kalten Krieg macht besonders den Zeitraum zwischen 1947/48 und 1953 untersuchenswert, möchte man die Popularisierung westlicher Musik und die Wiederkehr von Romanzen und Tangos nicht allein über die schwer zu bestimmende Wirkung der kulturellen Außenpolitik der Vereinigten Staaten erklären.4 Mit dem hier gewählten Zugang wird thematisiert, mit welchen kulturpolitischen Werkzeugen im Spätstalinismus und den ersten Jahren der Nachstalinzeit die Politik versuchte, diese Attraktivität zu filtern.5 Anhand der hier untersuchten Prozesse lassen sich beispielhaft die Grenzen parteilicher und staatlicher Intervention in populärmusikalischen Entwicklungen aufzeigen. Diese resultierten vor allem aus dem immateriellen, semantisch wenig expliziten Charakter der Musik, aus den kulturpolitischen Prioritätensetzungen der Bolševiki und der Tendenz zu institutioneller Ineffektivität und Konkurrenz, die dem zentralistischen Staatswesen mit umfassendem Kontrollanspruch innewohnte. Bisherige Arbeiten zur sowjetischen Zensur haben vornehmlich das Genre der Literatur untersucht, da zum einen das Buch auch im sowjetischen Staat jenen 3
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Hanson, Philip: The Rise and Fall of the Soviet Economy. An Economic History of the USSR from 1945. London 2003; Khanin, G. I: The 1950s. The Triumph of the Soviet Economy, in: Europe-Asia Studies 55 (2003), S. 1187–1211. Yale, Richmond: Cultural Exchange & the Cold War. Raising the Iron Curtain. University Park 2003; Caute, Dancer. Vgl. Wagnleitner, Reinhold: The Empire of the Fun, or Talkin’ Soviet Union Blues. The Sound of Freedom and U.S. Cultural Hegenomny in Europe, in: Diplomatic History 23 (1999), S. 499–524.
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prominenten Platz behielt, den es in der bibliophilen Kultur des Zarenreiches schon innegehabt hatte. Zum anderen bedient das Feld der Literatur auf den ersten Blick sehr gut die während des Kalten Krieges vorherrschende dichotomische Sicht, nach der aufrichtige Literaten gegen die Maßnahmen eines Wahrheitsministeriums im Orwell’schen Sinne kämpften.6 Neuere Arbeiten kontrastieren die Implementierung von Zensur vor Ort mit den Versuchen des sowjetischen Regimes durch die Zensur „Eindeutigkeit“ („odnoznačnost’“) herzustellen.7 Etablierte Dualismen zwischen Literat und Zensor, kultureller Produktion und Zensur und somit auch zwischen Staat und Gesellschaft verlieren folglich an Erklärungskraft. Tatjana Gorjaeva richtet sich in ihrer Studie zur institutionellen Entwicklung und politischen Einbindung der sowjetischen Zensurbehörden explizit gegen die verbreitete Vorstellung einer allumfassenden Zensur („Vsecenzura“) und betont die begrenzte Macht einzelner Behörden, deren Zusammenarbeit häufig kaum koordiniert war.8 Zur musikalischen Zensur durch die sowjetischen Zensurorgane liegt hingegen bis jetzt keine Arbeit vor, auch wenn diese in den Studien von Bljum und Gorjaeva im Rahmen einer größeren Strukturgeschichte thematisiert wird. Arbeiten zur Musikgeschichte der 1920er- und 30er-Jahre greifen das Thema auf, thematisieren aber besonders für die Nachkriegszeit kaum die Institutionengeschichte.9 Ähnliche Leerstellen in der Historiografie zeigen sich hinsichtlich der sowjetischen Medienproduktion, allen voran der Schallplatte, die bis zur massenhaften Produktion des Tonbandgerätes ab Beginn der 1960er-Jahre neben dem Radio das einzige Medium für den privaten Musikkonsum darstellte. Lediglich einige musikhistorische und -wirtschaftliche Arbeiten zur Geschichte der internationalen Musikindustrie haben die 1964 gegründete sowjetische Schallplattenfirma Melodija auf Grundlage verfügbarer Statistiken untersucht.10 Für die Zeit vor 1964 existieren selbst innerhalb der sowjetischen und russischen Historiografie kaum Untersuchungen.11 Eine Geschichte der sowjetischen Unterhaltungsmedien wird, wenn überhaupt, aus der Perspektive des 6 Vgl. Brooks, Jeffrey: When Russia Learned to Read. Literacy and Popular Literature, Princeton 1985; Loseff, Lev: On the Beneficence of Censorship. Aesopian Language in Modern Russian Literature, München 1984. 7 Vgl. Plamper, Jan: Abolishing Ambiguity. Soviet Censorship Practices in the 1930s, in: Russian Review 60 (2001) 526–544. 8 Vgl. Gorjaeva, Politiceskaja cenzura, S. 9 ff. 9 Vgl. Bspw. Nelson, Music for the Revolution. 10 Vgl. Gronow, Pekka/Saunio, Ilpo: An International History of the Recording Industry. London 1999, S. 126 ff.; Eine konzise auf Archivdokumenten aufbauende Geschichte der zeitweilig größten Plattenfirma der Welt, die Ende der 1970er-Jahre ein musikalisch diversifiziertes Programm anbietet, muss noch geschrieben werden. Glossop, Nichola: Recent Developments in Soviet Record Production, in: Popular Music 10 (1991), S. 347–349. 11 Vgl. Volkov-Lanit, L. F.: Iskusstvo Zapečatlennogo Zvuka. Očerki po istorij grammofona. Moskau 1964.
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Mangels und der Rückständigkeit aufgegriffen. Phänomene des Schwarzmarkts, wie die selbstgemachten Schallplatten aus gebrauchten Röntgenfolien, sind zum festen Bestandteil etablierter Narrative sowjetischer Gegenkultur geworden und erfreuen sich in jüngster Zeit gestiegener Aufmerksamkeit.12
4.1.1 Akustische Zensur zwischen Revolution und Kriegsende Musik galt nach Ansicht der Bolševiki nach 1917 als gleichwertiger Teil der Kultur und ein potentielles Werkzeug zur Formung des „Neuen Menschen“. Sie wurde bereits kurz nach er Literatur mit dem Theater 1923 dem Kontrollsystem des Volkskommissariats für Aufklärung Narkompros unterworfen.13 Eine genaue Vorstellung über den Grad parteilicher Intervention in die Musik und ihrer möglichen neuen Formen und Inhalte jedoch entstand erst in den 1930er-Jahren. Die 1923 gegründete Hauptverwaltung für Repertoirekontrolle Glavrepertkom [„Glavnyj komitet po kontrolju za repertuarom“] wurde der zentralen Zensurinstanz Glavlit [„Glavnoe upravlenie po delam literatury i izdatel‘stv“] unterstellt. Im Verhältnis zwischen Ideologie und Kultur sind diese Schritte nicht als Zäsur, sondern als logische machtpolitische Fortsetzung der Kulturvorstellungen der Bolševiki zu verstehen.14 Glavrepertkom oblag die Kontrolle und Genehmigung von Theater, Musik und Film sowie die Erstellung und Publikation regelmäßig erscheinender Listen für die öffentliche Aufführung erlaubter und verbotener Werke.15 Von nun an sollte „kein Werk in Musik, Theater, Kino […] zur Aufführung zugelassen werden ohne eine entsprechende Erlaubnis des Komitees für Repertoirekontrolle und seiner örtlichen Organe.“16 Neben der Kontrolle des Repertoires und der regelmäßigen Herausgabe sogenannter „Instruktionen“ mit neu hinzugekommenen verbotenen Stücken sollte Glavrepertkom alle öffentlichen Einrichtungen, in denen Musik, Kino und Theater gespielt wurde, kontrollieren. Prüfung und Sanktionen sollten in Zusammenarbeit mit dem Inlandsgeheimdienst NKVD durchgesetzt werden.17
12 Vgl. Troitsky, Artemyi: Back in the USSR. The True Story of Rock in Russia. London 1987, S. 7–8; Coates, Stephen (Hg.): X-Ray Audio. London 2015. 13 Vgl. Mally, Lann: The Proletkult Movement in Revolutionary Russia. Berkeley/Los Angeles/ Oxford 1990, S. 33 ff. 14 Vgl. Gorjaeva, Politiceskaja cenzura v SSSR, S. 150. 15 Vgl. Beschluss des Rates der Volkskommissare der UdSSR über die Organisation von Glavrepertkom vom 09.02.1923, Gosudarstvennyj archiv Rossiiskoi Federacii (GARF), f.R-130, op.7, d.134, l.180–181, publiziert in: Tanja Gorjaeva (Hg.), Istoriija sovetskoj politicheskoj cenzury. Dokumenty i kommentarii. Moskva 1997, S. 39–40. 16 ebd. 17 ebd.
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Gleichzeitig oblagen der Abteilung die Prüfung der zwei für die sowjetische Kultur wichtigsten Medien der kommenden Dekaden: das Kino und die Schallplatte, deren Potential die Bolševiki früh erkannten. Glavrepertkom war somit ein Instrument, mit dem politische und moralische Vorstellungen der neuen Machthaber in der umkämpften öffentlichen Kultur zum Höhepunkt der NEP durchgesetzt werden sollten. Als erste Aufgabe nach seiner Etablierung wurde, noch vor dem Kino und Theater, eine Säuberung der Estrada von „verschiedenen Humoresken, Častuški und Improvisationen“ durchgeführt, die aus Sicht der Zensoren „in ihrer Mehrheit konterrevolutionäre, pornografische und chauvinistische Elemente“18 enthielten. Probleme in der praktischen Kontrolle erwuchsen auch aus der spezifischen Situation der 1920er-Jahre und der Kulturpolitik der NEP. Jedoch blieb die Frage der Kompetenzdurchsetzung und -überschneidung zwischen den staatlichen und parteilichen Strukturen der sowjetischen Zensur bis zum Ende der Sowjetunion ein latentes Problem. Die Reichweite der Repertoirepolitik wurde in den 1920er-Jahren dadurch beschränkt, dass bei weitem nicht alle Spielstätten nationalisiert worden waren und für die Unzahl an Restaurants, Theatern und Kneipen, die während der NEP florierten, weder genügend ausgebildetes noch zahlenmäßig ausreichendes Personal vorhanden war.19 Entsprechend schwer gestaltete sich auch die Erfassung und Bewertung aller im Umlauf befindlichen Musikstücke. Der Mangel an ideologisch akzeptablen Formen von Unterhaltungsmusik setzte der Verbotspolitik deutliche Grenzen. Die lokale Zensurpraxis erzwang somit häufig relativ pragmatische Zugänge, umso mehr, als die Instrumentalmusik eine ideologische Bewertung ungleich erschwerte. Die Kompromisshaftigkeit gegenüber der Operette lässt sich von folgender Feststellung auch auf andere Genres übertragen: „Natürlich sind alle Operetten vulgär und stumpfsinnig. Solange jedoch in ihnen keine politisch-konterrevolutionären Momente enthalten sind und es immer noch keine neuen sowjetischen Operetten gibt, unterliegen sie keinem Verbot. Aus ihnen eine Auswahl zu treffen, ist ungemein schwierig. Daher hat das GRK bisher auf eine Operettenverbotsliste verzichtet und begnügt sich mit einer Beispielliste […], an der man sich vor Ort orientieren kann.“20 Der politische Pragmatismus gegenüber einer großen Menge apolitischer Werke spiegelt sich auch im Bewertungssystem wider, mit dem Musik- und Theaterstücke im, bis 1929, regelmäßig veröffentlichten Repertoire 18 „Aus dem Vortrag über die Tätigkeit von Glavrepertkom bei Glavlit“, Vorsitzender von Glavrepertkom Trajnin vom 05.12.1923, (GARF f.2306, op.1, d.2269, l.4–18) publiziert in: Gorjaeva, Istorija sovetskoj političeskoj cenzury, S. 264. 19 Vgl. Rothstein, Popular Song in the NEP Era. 20 „Rundschreiben an alle Gouvernements- und Bezirksabteilungen von Glavrepertkom unter Glavlit des NKP SSR vom 01.02.1926“ (Staatliches Archiv der Stadt Irbit f.р-472, op.1, d.4, l.62), publiziert in: S. A. Dianov (Hg.), „Bez vizy ne dopuskat’ …“ Političeskaja cenzura na Urale v period NĖPa. Sbornik archivnych materialov. Perm 2009, S. 56–57.
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Index eingestuft wurden. Neben der Kategorie „erlaubte Stücke“ und „verbotene Stücke“ unterschied die Kulturpolitik jene, die nicht vor großem Publikum aus Arbeitern und Bauern gespielt werden durften.21 Funktionäre berücksichtigten zu diesem Zeitpunkt sozioökonomische Folgen von Verboten und Regulierungen für den einzelnen Künstler, ohne diese auch systematisch zu diskutieren. Mit dem Ende der NEP erhöhten sich von Seiten der Partei der Druck und die Interventionsbereitschaft gegenüber den Zensurorganen, deren Arbeit von der Abteilung für Agitation und Propaganda laufend beobachtet wurde.22 Neben der Verurteilung „moderner“ zeitgenössischer Tänze wie dem Foxtrott intervenierte Glavrepertkom auch in den Bereich der klassischen Musik, etwa dann, wenn Thematiken mit religiösen oder vorrevolutionären Bezugspunkten verarbeitet wurden.23 Der Ansatzpunkt für ideologische Kontrolle und Intervention im musikalischen Bereich blieben jedoch die Texte und Titel der Werke. Instrumentalmusik gleich welchem Genre war deutlich schwerer zu beurteilen und sprachlich zu kategorisieren. Damit verfügten Komponisten über einen größeren Spielraum hinsichtlich der gewählten musikalischen Stilmittel. Sie blieben aber gleichzeitig dem Risiko willkürlicher ideologischer Verurteilungen ihrer Arbeit ausgesetzt. Die Einschätzungen der Partei über die Mängel des Systems der Repertoirekontrolle verwiesen immer wieder auf zwei Hauptprobleme, die bis in die 1960er-Jahre nicht vollständig beseitigt werden konnten. Einerseits kritisierten deren Autoren immer wieder die Schwäche der örtlichen Vertreter, die mit ungenauen oder veralteten Verbotslisten arbeiteten, mangelnde Bildung aufwiesen und kaum von den lokalen Parteiorganen unterstützt wurden. Andererseits war das Verhältnis von Glavlit und Glavrepertkom seit ihrer Gründung von Konkurrenz, überlappenden Befugnissen und Kompetenzstreitigkeiten geprägt.24 Um die Steuerung der künstlerischen Entwicklung zu bündeln und zu effektivieren, wurde 1928 Glaviskusstvo als zentrale Kunstverwaltung des Volkskommissariats für Aufklärung gegründet, dem Glavrepertkom nun unterstellt wurde.25 Zwischen diesen beiden Instanzen wurde eine Demarkationslinie gezogen, die sich besonders hinsichtlich des Theaterrepertoires als äußerst brüchig erwies und weitere korrigierende Beschlüsse von Seiten
21 Vgl. Gorjaeva, Politiceskaja cenzura, S. 192. 22 Verweis auf ZK Beschluss über die Literatur von 1926, mit dem sich der Kurswechsel abzeichnet. 23 Vgl Gorjaeva, Politiceskaja cenzura, S. 193; Amy Nelson: Music for the Revolution. Musicians and Power in Early Soviet Russia. University Park/Penna 2004. 24 Vgl. Brief Glavlits an die Stellen und Tarifkommission des Rates der Volkskommissare „Über die Klärung der Funktionen und behördlichen Unterstellung von Glavrepertkom“, in: Gorjaeva, Istorija sovetskoj političeskoj cenzury, S. 263–264. 25 Fitzpatrick, Sheila: The Emergence of Glaviskusstvo. Class War on the Cultural Front, Moscow, 1928–29, in: Soviet Studies 23 (1971), S. 236–253.
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Narkompros und der Partei erforderlich machte.26 Nach Tatjana Gorjaeva liegen die Ursachen für die Entstehung dieses verzweigten und ineffektiven Komplexes an Zensurorganen nicht nur im bürokratischen Chaos der 1920er-Jahre, sondern auch dem Drang einzelner Institutionen, ihre Effizienz und Nützlichkeit durch Berichtigungen und Denunziationen anderer Organe unter Beweis zu stellen.27 In der Phase der sogenannten „proletarischen Hegemonie“ zwischen 1928 und 1932 erreichten die linken Künstlerverbände nur wenig produktive Resultate im Sinne einer neuen proletarischen Kultur.28 Mit der Gründung von Glaviskusstvo begann die Partei, schrittweise die kulturpolitischen Aktivitäten des Staates zu übernehmen. Das „Šachtinskoe delo“ 1928 bildete einen Auftakt zu ausufernder Denunziation jeglicher Formen von Zusammenarbeit zwischen „bürgerlichen Spezialisten“ und staatlichen Organen.29 Die proletarischen Schriftsteller, Komponisten und Künstler nutzten diese Situation dazu, um Glaviskusstvo aus verschiedenen kulturellen Bereichen zu verdrängen, die zunächst von lokalen Parteikomitees, den Zensurorganen und ab 1932 schließlich den Künstlerverbänden übernommen wurden.30 Musikzensur des Repertoires vollzog sich in einer für diese neue Epoche typischen abgeschotteten und intransparenten Sphäre. Beredter Beleg für die Politisierung der Kultur jener Umbruchsphase war eine steigende Zahl geheimer Zirkulare und Informationsschreiben an die lokalen Organe, die den letztmalig 1929 veröffentlichten Repertoireindex ersetzten. Glavlit definierte in einer geheimen Anweisung an die örtlichen Zensurorgane 1930 die Rolle der Musik im „verschärften Klassenkampf“31. Zu fördern seien die Propaganda und Verbreitung von proletarischer und westlicher progressiver klassischer Musik, die den Anforderungen des sozialistischen Ausbaus genügen würden. Während die Forderung nach Säuberung [„čistka“] des Repertoires seit Beginn der 1920er-Jahre konstant gestellt wurde, nahm nun der Foxtrott eine prominentere Position ein. Als populärer Tanz mit Anleihen aus dem Jazz fand dieser auch als Kampfbegriff Eingang in die sowjetische Kultur. Das klassische Repertoire sollte einer genauen Prüfung hinsichtlich vermeintlich reaktionärer Themen unterzogen und die Noten entsprechender Stücke aus Produktion und Handel entfernt werden. Forderungen nach ideologischem Inhaltsreichtum und Volksnähe sowie die Verteufelung von „Mystizismus“ und religiösen Themen nahmen die ideologische Schablone des „Formalismus“ vorweg, die 26 Vgl. Bljum, Sovetskaja cenzura, S. 28. 27 Gorjaeva, Političeskaja cenzura, S. 200 28 Vgl. Bspw. Nelson, Music for the revolution. 29 Vgl. Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 409 ff. 30 Vgl. Fitzpatrick, Glaviskusstvo, S. 253. 31 Bljum, Sovetskaja cenzura, S. 244.
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erst 1936 mit der Kampagne gegen Šostakovičs „Lady Macbeth“ voll zum Tragen kommen sollte.32 Der Wert solcher Postulate als Handlungsanweisungen für die örtlichen Zensoren blieb indes gering. Glavlits Zensoren verwiesen erstmals auf die Grammophonplatte als Medium, mit dem „vulgäre, antikünstlerische politisch zweifelhafte und ideologisch schädliche Stücke“33 in das Alltagsleben der Arbeiter vordringen würden. Auch wenn seit 1924 bei Glavrepertkom eine gesonderte Unterabteilung regelmäßig Listen mit für die Produktion verbotenen Schallplatten herausbrachte, blieb dieser Bereich der musikalischen Zensur an der Schnittstelle zwischen Kultur- und Wirtschaftspolitik ein kontinuierliches Problem, dessen sich in den 1930er-Jahren schließlich auch die Organe der Staatssicherheit annahmen.34 Zwei Beschlüsse auf Unions- und Republiksebene regelten die Befugnisse von Glavlit neu. Im Zuge der aufziehenden Kriegsgefahr im Verlauf der 1930er-Jahre wurden seine Befugnisse auf den Schutz militärischer Geheimnisse ausgeweitet und in diesem Bereich direkt dem Rat der Volkskommissare unterstellt.35 Vertreter von Glavlit versuchten dabei verschiedenartig die Institution aus dem System von Narkompros zu lösen, was formell erst nach dem Zweiten Weltkrieg, faktisch jedoch bereits Ende der 1930er-Jahre realisiert werden konnte. Die Einrichtung wurde schließlich direkt dem Ministerrat der Union und der Abteilung für Agitation und Propaganda des ZK unterstellt. Mit der Umstrukturierung verlor Narkompros die organisatorischen Funktionen in Fragen der Literatur, Kunst und Musik vollständig an andere Organisationen. Dessen Aufgaben beschränkten sich nun auf Bildung und Aufklärung. Die Befugnisse von Glavrepertkom wurden systematisiert und im Bereich der Medien und Kontrolle von Einrichtungen sogar ausgeweitet.36 Der Behörde oblag nun die: a) Entscheidung über die Inszenierung, öffentliche Aufführung und Verbreitung dramatischer, musikalischer und choreografischer Werke, sowie Zirkus und Estradadarstellungen und Kinofilme, b) die Genehmigung von Aufnahmen, Herstellung und Vertrieb von Schallplattenaufnahmen, c) die Nachkontrolle („posledujuščij kontrol’“) für die öffentliche Aufführung von in die Kategorie „a“ und „b“ eingestuften Werken und Veröffentlichungen, d) die Entscheidung über Im- und Export von musikalischen Werken, Kinofilmen, Schallplatten und dramatischen Werken, e) die Registrierung aller neu 32 Vgl. Maksimenkov, Leonid: Sumbur vmesto muzyki: Stalinskaja kul’turnaja revoljucija 1936–1938. Moskau 1997. 33 Zit. Nach Bljum, Sovetskaja cenzura, S. 244. 34 Vgl. ebd., S. 245–246. 35 Vgl. Gorjaeva, Politiceskaja cenzura, S. 210–15. 36 „Beschluss des Rats der Volkskommissare der RSFSR über die Bestätigung der Hauptverwaltung der Kontrolle für Schauspiel und Repertoire des Kommissariats für Aufklärung der RSFSR“ vom 26.2.1934, publiziert in: Gorjaeva, Istorija sovetskoj političeskoj cenzury, S. 62.
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eröffneten stationären und beweglichen Einrichtungen des Veranstaltungswesens, die durch Staatsorgane organisiert waren, sowie die Entscheidung für die Eröffnung von Einrichtungen des Veranstaltungswesens anderer Organisationen, f) die Kontrolle der künstlerischen Radiosendungen.37
Als Reaktion auf eine weit verbreitete Strategie von Unterhaltungsmusikern und Theaterregisseuren in den 1920er-Jahren wurde nun das Verbot rechtlich fixiert, einmal von Glavrepertkom für die öffentliche Aufführung genehmigte Stücke „in Text oder Ausführung“ zu ändern. Breite und inhaltlich vage Ausschlusskriterien für Werke sicherten der Behörde einen weiten Auslegungsspielraum. Zensur kam für Werke zur Anwendung, die „a) Agitation und Propaganda gegen die Sowjetmacht und die Diktatur des Proletariats enthalten, b) Staatsgeheimnisse preisgeben, c) zu nationalistischem oder religiösem Fanatismus aufwiegeln, d) mystisch, e) pornografisch, f) ideologisch unausgereift oder g) antikünstlerisch sind.“38 Neben der Kontrolle von Musik- und Theaterstücken, öffentlichen Einrichtungen sowie der Sanktionierung gegen Betreiber und andere Verantwortliche durften die Vertreter von Glavrepertkom nun Werke gleich welchen Formats konfiszieren sowie regulierend in den Im- und Export von Noten, Schallplatten und Filmen eingreifen.39 Auch wenn die ideologische Kontrolle des Repertoires nun vollständig Glavrepertkom unterlag, versuchte Glavlit weiterhin, auch in diesem Bereich der Zensur seinen indirekten Einfluss zu wahren und auszuweiten. Staatliche und parteiliche Kontrollmechanismen standen weiter in latenter Konkurrenz. So verhinderten Glavlit-Mitarbeiter während der erste Kampagne gegen den „Formalismus“ 1936 den Druck einer Reihe von Artikeln, die sich nach deren Ansicht zu positiv über Šostakovičs Werk äußerten, und verzögerten die Herausgabe eines musikalischen Lehrbuchs, das in einem kurzen Abschnitt über den Komponisten nicht genügend auf die parteiliche Kritik an seinem jüngsten Schaffen eingegangen sei.40 Mit der Schaffung des Allunionskomitees für Kunstangelegenheiten (KDI) am 17. Januar 1936 war der Prozess der Zentralisierung der Kontrolle über die Kulturinstitutionen abgeschlossen. In dieser Institution bündelten sich Verwaltung und Aufsicht über alle Kunsteinrichtungen, Institutionen und die staatliche Prüfung des Repertoires aller künstlerischen Gattungen. Mit dem KDI verfügte der sowjetische Staat nun über ein umfangreiches Instrumentarium für die Regulierung und Zensur der kulturellen Produktion. Die Behörde vergab Ehrentitel, organisierte Wettbewerbe und Ausstellungen im In- und Ausland sowie die Tourneen sowjetischer und 37 ebd. 38 ebd. 39 ebd. S. 63. 40 Vgl. Bljum, Sovetskaja cenzura,S. 250.
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ausländischer Künstler. Darüber hinaus regulierte das KDI aber auch den Markt, indem es die Herausgebertätigkeit des Verlagswesens kontrollierte, Konzert- und Eintrittskartenpreise festlegte oder selbst als Käufer von Kunst in Erscheidung trat. Glavrepertkom wurde in das KDI eingegliedert, woraus neue potentielle Konfliktfelder entstanden. Mit der Zentralisierung einher ging eine zunehmende Bürokratisierung, Formalisierung und Planung des kulturellen Lebens. Sowohl die Ausbildung als auch die Zuweisung der Schauspieler wurde unmittelbar zentral gelenkt, Spiel- und Konzertpläne jetzt für immer größere Zeiträume im Voraus aufgestellt, während sich die anvisierte kulturelle Entwicklung des Landes immer häufiger in Planzahlen über Stücke, Lieder oder neue Infrastruktur niederschlug.41 Auch Glavlit und das KDI blieben von den großen Säuberungen von 1936/37 nicht verschont, infolge derer große Teile des Personalbestands repressiert und eine Reihe von Führungsfiguren, wie der Leiter von Glavrepertkom Litovskij, entlassen wurden. Die Parteispitze versuchte bis Ende der 1930er-Jahre, die politische Kontrolle Moskaus über die Repertoireaufsicht auszuweiten. Eine Neuordnung des Systems der Kaderrekrutierung schloss eine anderweitig zugewiesene Tätigkeit für den Zensor oder seine Entlassung ohne Rücksprache mit Moskau aus und erhöhte so den Druck Moskaus auf die örtlichen Sowjets und Parteizellen. Ab 1940 schließlich verloren örtliche Organisationen die Verfügungsgewalt über die lokalen Zensoren vollständig an Moskau, deren Reihen das Zentrum mit neuen Kadern auffrischten.42 Die Kontrolle über künstlerische Radiosendungen übertrugen die Verantwortlichen im Kontext wachsender Kriegsgefahr und der Annahme strategischer Relevanz des Radios für den zivilen und militärischen Bereich vom KDI auf Glavlit, um das Medium der Zuständigkeit einer einzigen Organisation zu unterstellen.43 Vor dem Zweiten Weltkrieg verblieb dem mächtigen KDI nicht nur die Aufsicht über Repertoire, Werbung, Gemälde, Skulpturen und Denkmäler, sondern auch die Kontrolle der Arbeit der Künstlerverbände und die „methodische Führung“ des riesigen Netzes an Künstlerischer Laientätigkeit [„chudožestvennaja samodejatel’nost’“], das die Gewerkschaften und andere Organisationen betrieben. Besonders der letztgenannte Bereich erwies sich in den folgenden Jahren als
41 Vgl. Gorjaeva, Političeskaja cenzura, S. 213–214. 42 Vgl. ebd. S. 220. 43 Vgl. „Beschluss des Rates der Volkskommissare über die Übertragung der staatliche Kontrolle künstlerischer Radioübertragungen an die Organe von Glavlit“ vom 18.12.1940, GARF, f.5446, op.1, d.175a, l.29, in: Gorjaeva, Istorija sovetskoj političeskoj cenzury, S. 84–85. Im Beschluss wurde die Änderung der Verordnung des KDI des Jahres 1939 hinsichtlich der Aufgaben von Glavrepertkom vorgenommen, dem die Kontrolle für „Schauspiele und Repertoire von Theatern, Konzertorganisationen und Estrada, Werke der bildenden Kunst sowie Schall- und Klangaufnahmen (Schallplatten und Tonfilm)“ oblag.
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schwer zu kontrollierende Sphäre, die zudem durch die Förderung des Komsomol in den 1940er- und 1950er-Jahren beständig wuchs.
4.1.2 Erosion durch Zentralisierung – Akustische Zensur im Spätstalinismus Kurz nach Kriegsende brachen die latenten Konflikte um die Kontrolle von Repertoire und Kunstwerken zwischen Glavlit und Glavrepertkom wieder offen aus. Die deutlichsten Auseinandersetzungen spielten sich in den Bereichen der Bildhauerei, Museen und Ausstellung ab, für die beide Instanzen zuständig waren. Kennzeichnend für den Parallelismus und die Kompetenzstreitigkeiten waren nicht nur die widersprüchlichen Anweisungen und Erlasse, die bei den entsprechenden künstlerischen Organisationen die produktiven Prozesse blockieren konnten, sondern auch wachsende Bürokratie und die persönlichen Vorlieben einzelner Spitzenbürokraten.44 Das ZK sah sich mehrfach gezwungen, in diese Konflikten zu intervenieren, ohne jedoch eine dauerhafte Trennung der Befugnisse beider Instanzen zu verankern, die den Entstehungsprozess von Kunst, an dem ohnehin verschiedenste Einrichtungen mitwirkten, vereinfacht hätte. Vorschläge zu einer solchen Trennung der Einrichtungen selbst – etwa der Vorschlag, dass sich das KDI mit Skulpturen, Museen und Ausstellungen beschäftigte, während Glavlit in Zukunft die Kontrolle über alle grafischen Produkte (Poster, Plakate, Reproduktionen) innehaben sollte – zeigen, dass eine Überschneidung von Zuständigkeiten für bestimmte Genres oder Medien kaum vermeidbar waren.45 Glavlit drängte unter der Leitung von Konstantin Omel’čenko zunehmend darauf, die Kontrollbefugnisse für die künstlerische Produktion zu monopolisieren. Mehrfach erfolgten direkte Interventionen beim ZK , in denen Verzögerungen im Zensurprozess durch das KDI oder widersprüchliche Verbotsentscheidungen kritisiert wurden.46 In diesem Wettstreit um die Zensurbefugnisse profitierte Glavlit von der politisch geschwächten Position des KDI. Im Zuge der Verschärfung des kulturpolitischen Kurses durch den aufziehenden Kalten Krieg ab 1946 gerieten beide Instanzen als zentrale Werkzeuge der Kulturpolitik mehrfach ins Zentrum der Kritik durch das Zentralkomitee und die Abteilung für Kunst und Literatur. Die Ballung von Kompetenzen machte das Komitee entsprechend anfällig für diese Attacken. Ein Beschluss des ZK von 1946 kritisierte das KDI für das Fehlen zeitgenössischer Theaterstücke mit sowjetischen Themen und die Inszenierung von Stücken, 44 Vgl. Gorjaeva, Političeskaja cenzura, S. 303. 45 Vgl. ebd., S. 303–304. 46 Vgl. Bljum, Sovetskaja cenzura, S. 246.
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die „Produkte minderwertiger und vulgärer ausländischer Dramaturgen sind und offen bourgeoise Ansichten und Moral propagieren.“47 Neben diesen ideologischen Angriffen auf die Politik des KDI benannten die Autoren des Beschlusses aber auch die funktionalen Hindernisse für die schnellere Entstehung und Verbreitung zeitgenössischer sowjetischer Stücke. Dazu gehörte eine „große Zahl von Instanzen und Einzelpersonen, die das Recht haben, Stücke für den Druck und für die Inszenierung im Theater zu korrigieren und zuzulassen“ und die zu große Zahl an Institutionen, die sich mit der Begutachtung neuer Stücke beschäftigten. Zu ihnen zählten „die Mitarbeiter der örtlichen Verwaltung von Kunstangelegenheiten, die republikanischen Komitees für Kunstangelegenheiten, Glavrepertkom, die Haupttheaterverwaltung des KDI, die künstlerischen Räte der Komitees, die Leiter der Theater, sowie die Mitarbeiter der Redaktionen und Verlage“48. Auch die begrenzte Reduzierung der Entscheidungsinstanzen löste das Problem einer einheitlichen Repertoirepolitik innerhalb des KDIs nicht. Es bleibt zu bezweifeln, ob eine Verbesserung der Situation unter den Bedingungen wachsender ideologischer Gängelung und dem Druck der Partei gegenüber Institutionen und Einzelpersonen im Zuge der „Ždanovščina“ überhaupt erreichbar war. Das KDI war nach einem Führungswechsel 1948 nicht nur ausführendes Organ der Partei im Kampf gegen vermeintliche Kosmopoliten und deren Unterwanderung der sowjetischen Kultur. Es brachte auch initiativ Vorschläge ein, wie den eines Ehrengerichtes gegen eine Gruppe von (überwiegend jüdischstämmigen) Musikwissenschaftlern innerhalb des sowjetischen Komponistenverbandes, dessen Kontrolle zu seinen Aufgaben zählte.49 Als Zensurorgan für musikalisches Repertoire setzte die Organisation ebenso den Beschluss des ZK „Über die Oper ‚Die Große Freundschaft‘ von V. Muradeli“ um, mit der die sowjetische klassische Musik diszipliniert werden sollte, und veröffentlichte eine Liste von Werken des
47 Beschluss des Org-Büros des ZK VKP(b) „Über das Repertoire von Dramatheatern und Maßnahmen zu seiner Verbesserung“, RGASPI, f.17, op.116, d.274, l.25–30. [http://www.alexanderyakovlev. org/fond/issues-doc/69297, letzter Zugriff: 27.04.2018]. 48 ebd. 49 1948 wurde der langjährige Leiter des KDI Chrapčenkov auf Anordnung von Suslov von Lebedev abgelöst. Beschluss des Politbüros des ZK VKP(b) „Über den Wechsel in der Führung des Komitees für Kunstangelegenheiten und dem Orgkomitee des sowjetischen Komponistenverbands“ vom 26.01.1948, RGASPI f.17, op.3, d.1069, l.3–4. [http://www.alexanderyakovlev.org/fond/issuesdoc/69372, letzter Zugriff: 27.04.2018];zum Vorschlag des Ehrengerichts siehe auch Schreiben des Vorsitzenden des Komitees für Kunstangelegenheiten P. I. Lebedev an A. A. Ždanov „Über den Vorschlag der Organisation eines ‘Ehrengerichts‘‚ über die ‚formalistischen Musiker‘“, 12.03.1948, RGASPI, f.17, op.125, d.636, l.178–179. [http://www.alexanderyakovlev.org/fond/issues-doc/69379, letzter Zugriff: 27.04.2018].
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Komponisten Šostakovič, die für die öffentliche Aufführung verboten wurden.50 Erst durch die persönliche Intervention Stalins wurden Teile des Verbots durch Glavrepertkom wieder aufgehoben, damit der Komponist seine Werke auf der bevorstehenden Amerikatournee spielen konnte.51 Das KDI avancierte als Transmitter der ZK-Forderung nach antiamerikanischer Propaganda in Estrada und Theater 1949, der auch Leonid Utesov’s Estradaorchester nachkam.52 Aber bereits 1949 geriet die Repertoirekontrolle des Theaters innerhalb des KDI erneut in die Kritik: Die Kommunisten des Kunstsektors [des ZK – M. A.] ignorieren die Tatsache, dass es in der Repertoirepolitik des KDI keine schöpferische prinzipielle Linie gibt, Verwirrung und Kontrolllosigkeit herrschen, in Folge dessen es zu Störungen und Fehlern kommt. Häufig bewegt sich sogar die Tätigkeit der großen Theater des Landes außerhalb des Sichtfelds der Kommunisten. Als Beispiel kann die ‚außerplanmäßige‘ Inszenierung von Golsuorsis ‚John Bilder‘ in der Abteilung des kleinen Theaters dienen. Glavrepertkom verbot die Inszenierung dieses Stückes. Der Vorsitzende des KDI Genosse Lebedev nahm das Verbot zurück. Nachdem das Stück vorbereitet worden war, verbot genau dieser Lebedev das Stück. Weder kannten noch sahen die Kommunisten des Sektors dieses Stück.53
Die hier skizzierte widersprüchliche Repertoirepolitik innerhalb des KDI erklärt sich zum Teil aus der Eigendynamik der „Antikosmopolitismuskampagne“, in der in kurzer Zeit in immer wieder neuen politischen Feldern eine „falsche Politik“ und „schädliche Einflüsse“ ausgemacht wurden. Der Druck auf die Ausführenden dieser von oben inszenierten Kampagne und die Angst, Fehler zu machen, lähmte das ohnehin bürokratische System zusätzlich. Glavlit intervenierte weiterhin indirekt in die Musikpolitik und bemühte sich, die Repertoirepolitik von Glavrepertkom und dem KDI gegenüber dem ZK als ineffektiv zu diskreditieren. Im April 1948 wandte sich der Leiter von Glavlit, Konstantin Omel’čenko an die Abteilung für Agitation und Propaganda des ZK, um eine Broschüre über das Werk von Dmitrij Šostakovič zu zensieren, die „in 50 Bericht des Komitees für Kunstangelegenheiten des sowjetischen Ministerrates „Über die Durchsicht des Repertoires der Konzertorganisationen“ vom 15.03.1949, RGASPI, f.82, op.2, d.950, l.113. [http://www.alexanderyakovlev.org/fond/issues-doc/69572, letzter Zugriff: 27.04.2018]. 51 Vgl. Meyer, Krzysztof: Schostakowitsch, Sein Leben, sein Werk, seine Zeit. Mainz 2008, S. 322. 52 Vermerk von P. I. Lebedev an G. M. Malenkov „Über die Durchführung von antiamerikanischer Propaganda durch die Einrichtungen des Komitees für Kunstangelegenheiten des sowjetischen Ministerrates“ vom 11.05.1949, RGASPI, f.17, op.132, d.234, l.58–62. [http://www.alexanderyakovlev. org/fond/issues-doc/69635, letzter Zugriff: 27.04.2018]. 53 Schriftlicher Bericht des Agitprop des ZK an M. A. Suslov „Über Mängel in der Arbeit der Kommunisten des Kunstsektors“ vom 08.01.1949, RGASPI, f.17, op.132, d.237, l.57–61. [http://www. alexanderyakovlev.org/fond/issues-doc/69494, letzter Zugriff: 27.04.2018].
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grober Weise jener Bewertung des Schaffens von Šostakovič widerspricht, die im Beschluss des ZK der VKP(B) über die Oper ‚Die große Freundschaft‘ von Muradeli getroffen wurde.“54 Am 30. Dezember 1950 sandte Glavlit eine Liste mit ideologischen Fehlern, die Glavrepertkom begangen hatte, und korrigierte diese.55 Mit dem Beschluss Nr. 3164 des Ministerrates der UdSSR vom 28. August 1951 wurde schließlich das KDI umstrukturiert und Glavrepertkom aufgelöst. Während die Zensur von Kunstwerken nun Glavlit zugesprochen wurde, ging die Repertoirekontrolle von Theatern, Musikgruppen, Zirkus und Konzertsolisten an das KDI und seine örtlichen Organe. Die Auflösung von Glavrepertkom stellte dabei in keinerlei Weise eine Abschwächung, sondern den Versuch der Konzentration und Stärkung der ideologischen Kontrolle dar, die mit der Isolation und maximalen Politisierung aller gesellschaftlichen Sphären verbunden war.56 Mit der Auflösung von Glavrepertkom als eigener Verwaltung mit hierarchisch organisierten Ablegern auf Republiks-, Bezirks- und Kreisebene wurde faktisch ein System der doppelten Repertoirekontrolle etabliert. Dem Beschluss nach war von nun an Glavlit für die „Zensur von Kunstwerken“ zuständig. Dafür wurden der Behörde nun auch die Stellen der örtlichen Glavrepertkom-Vertreter zugewiesen. Das KDI hatte auf der anderen Seite die „ideenhaft-künstlerische Kontrolle des Repertoires von Theater, Musikkollektiven, Zirkus und Konzertdarstellern“ sowie die „Arbeit mit Autoren zur Schaffung von Kunstwerken“ sicherzustellen.57 Innerhalb der Hauptverwaltung des KDI sollte eine Redaktions- und Repertoireabteilung entstehen, die die Kontrolle zwischen Zentrale und lokalen KDI Strukturen sowie zwischen den zentralen Verwaltungen für einzelne Genre koordinierte.58 Eine ausführliche Instruktion, die die Leitung von Glavlit vier Monate später an seine Abteilungen verschickte, illustriert, wie diese Doppelkontrolle praktisch umgesetzt werden sollte.59
54 Dienstschreiben des Leiters von Glavlit K. K. Omel’čenko an das Agitprop des ZK „Zur Frage der Beschlagnahmung der Broschüre ‚D. D. Šostakovič’ aus dem Buchhandel“ vom 29.04.1948, RGASPI, f.17, op.125, d.612, l.33. [http://www.alexanderyakovlev.org/fond/issues-doc/69452, letzter Zugriff: 27.04.2018]. 55 zit. nach Gorjaeva, Političeskaja cenzura, S. 304. 56 Vgl. ebd. S. 305. 57 Vgl. Beschluss des Ministerrates der UdSSR Nr. 3164 vom 31.08.1951 „Über die Struktur des zentralen Apparates, Stellen und Lohnsätze der Mitarbeiter des Komitees für Kunst beim Ministerrat der UdSSR“, in: Perečen rešenij Sovet ministrov SSSR 1945–1955, Bd. 27. Moskau 1957, S. 917–919. 58 Der neuen Struktur nach waren zwei der fünf geschaffenen Hauptverwaltungen im musikalischen Bereich zuständig – die Hauptverwaltung für Musiktheater und die Hauptverwaltung für musikalische Einrichtungen. 59 „Instruktion über die Ordnung der Zensurkontrolle von Kunstwerken“ vom 18.01.1952, GARF, f.R-9425, op.1, d.806, l.67–73.
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Als „Kunstwerke“, die vor jeder Form der Veröffentlichung, Vervielfältigung und Aufführung von Glavlit zu kontrollieren waren, galten „musikalische, musikalisch-vokale und gesprochene Werke, Werke für Estrada, Zirkus und künstlerische Laientätigkeit, Gemälde, Graphiken, Skulpturen, Fotoreproduktionen und Schallplattenaufnahmen.“60 Die Instruktion limitierte das Recht, Kunstwerke zu publizieren, auf eine ausgewählte Gruppe an Organisationen und Einrichtungen. Nachdem diese vom KDI „hinsichtlich seines ideologisch-künstlerischen Werts und der Möglichkeit öffentlicher Aufführung und Verbreitung begutachtet“ wurden, musste die Organisation die Einschätzungen mit einem schriftlichen Beschluss an die Zensurorgane vorlegen. Diese hatten das Werk dann nach relativ ungenauen Kriterien zu prüfen, die den einzelnen Zensor im repressiven kulturellen Klima der frühen 1950er-Jahre im Zweifelsfall zu einer konservativen Entscheidung bewogen. Bei ihren Abwägungen sollten sich die Zensoren durch „die Beschlüsse der Partei zu ideologischen Fragen sowie Anordnungen zur Zensur“ leiten lassen, die „Einhaltung aller Anforderungen zum Schutz von Staats- und Militärgeheimnissen“ sicherstellen und „nicht […] Veröffentlichung und Verbreitung politisch schädlicher, ideologisch fremder, ideenloser, stümperhafter, vulgärer, die sowjetische Realität verfremdender Stücke“ erlauben. Um den Input in das System der Doppelkontrolle zu kanalisieren, war es nur noch einer bestimmenden Gruppe von Einrichtungen und Organisationen erlaubt, Kunstwerke zur Kontrolle vorzuschlagen. Gleichzeitig schirmte man die Zensoren vor informellen Arrangements ab, indem ihnen verboten wurde, direkt von Autoren oder Darstellern Stücke anzunehmen und darüber in Verhandlung zu treten.61 So entstand ein komplexes Regelwerk von Zuständigkeiten der Repertoirekontrolle und Verfahrensabläufe innerhalb der Hierarchien von Glavlit und KDI. Während Theaterstücke und -inszenierungen mit mehreren Akten, Libretti von Opern, Operetten, Kantaten, Oratorien und Balletten in den Zuständigkeitsbereich der zentralen Organe fielen, wurden Werke in den Nationalsprachen der UdSSR den Republikorganen überlassen. Theaterstücke mit einem Akt, Lieder, sogenannte Reprisen, Sketche und Monologe, wie sie für eine Estradavorstellung typisch waren, oblagen den Hauptbezirkskreisorganen.62 Das hierarchische Kulturmodell der Musik wurde auf die strukturellen Zuständigkeiten des Zensurprozesses übertragen. 60 ebd. 61 ebd. 62 Vgl. ebd. l.68–69; Lediglich die Kontrolle von „Werken der kleinen Form mit örtlichen Themen, die speziell für die künstlerische Laientätigkeit vor Ort geschrieben wurden“ hatten die Kreisvertreter von Glavlit zu verantworten. Ausnahme für die vertikale Trennung von Zuständigkeiten waren jegliche Stücke, „in denen Werke des Marxismus-Leninismus thematisiert oder Führer von Partei und Regierung abgebildet werden“. Diese sollten durch die Zentralinstanzen auf Unionsebene begutachtet werden.
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Die Kontrolle der Mehrzahl von Estradastücken entfiel damit gerade auf die latent unterbesetzten und gering qualifizierten Ortsabteilungen. Entsprechend der Instruktion durften Glavlit- und KDI-Mitarbeiter Kritik, Änderungsforderungen oder Begründungen für die Ablehnung von Repertoire nur mit der entsprechenden Einrichtung oder Organisation kommunizieren, die das Werk zur Kontrolle gaben. Bei jedem Repertoirestück, das zur Aufführung zugelassen wurde, sollte schriftlich fixiert werden, wann welche Abteilung des KDI die Einwilligung gegeben hatte und welcher Zensor danach das Stück kontrolliert hatte. Jede Änderung, Korrektur oder Ergänzung an einem erlaubten Stück machte eine neue Zensurprüfung erforderlich. Schließlich musste jede Musik- oder Theatergruppe, die auf Tournee zu gehen beabsichtigte, den jeweiligen örtlichen Zensurorganen eine vom KDI genehmigte Gastspielgenehmigung sowie eine vollständige Repertoireliste mit allen Stücken vorlegen. Ein ähnlich kompliziertes Verfahren wurde für Plakate etabliert. Zur Bündelung der Zensur, die auf verschiedenen Ebenen und für Texte verschiedener Sprachen stattfand, sah die Instruktion vor, regelmäßig die vom KDI verbotenen Stücke in Listen zusammenzufassen und für die Ableger von Glavlit herauszugeben sowie bestehende Listen zu aktualisieren. Ein zweiter musikrelevanter Bereich der Anweisung war die Schallplattenkontrolle. Hier sah der Erlass eine ähnliche Kooperation mit dem Komitee für Radioinformation (KRI) vor, welches Glavlit mit thematischen Plänen der Schallplattenproduktion zu versorgen hatte, nach denen diese dann die Textzensur vornehmen konnten. Auf Republik- und Regionalebene sollten entsprechende thematische Pläne der Ministerien für lokale Industrien genutzt werden. Wie auch beim Repertoire wurde das KRI beauftragt, eine regelmäßig aktualisierte Liste mit verbotenen Schallplatten herauszugeben, die sowohl für Zensurorgane als auch für die Grenzbehörden zugänglich gemacht werden mussten. Künstlerische Erzeugnisse verkamen im Spiegel dieser Instruktion zum reinen Produktionsobjekt.63 Anspruch und Wirklichkeit der zentralisierten Doppelkontrolle von Kunst im Spätstalinismus standen nicht nur in deutlichem Kontrast zueinander. Vielmehr entstanden nicht trotz, sondern wegen der Zentralisierung zahlreiche Freiräume und Leerstellen im Bereich musikalischer Praxis und Medien. Während des fünfmonatigen Umstellungsprozesses des Zensursystems zwischen der Auflösung von Glavrepertkom und der Instruktion wurde faktisch keine Repertoirekontrolle ausgeübt, während das kulturelle Leben aber unvermindert weiterlief. Die Umsetzung der Instruktion vor Ort – die zusätzliche Übernahme der Kunstkontrolle zu den ohnehin komplexen Zensuraufgaben – verzögerte sich um mehrere Monate. Im Fall der lettischen Sowjetrepublik gelang es erst nach einem Jahr, die Kontrolle musikalischer Werke zu etablieren, die bis dahin lediglich vom 63 Vgl. Gorjaeva, Političeskaja cenzura, S. 304.
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Komponistenverband der Republik geprüft wurden.64 Die Anweisungen „Glavlits“ blieben in vielen Fällen abstrakt und stellten die lokalen Verantwortlichen vor enorme Probleme. Kurz nach der Herausgabe der Instruktion im Januar 1952 hatte die Zentrale gegenüber den lokalen Vertretern präzisieren müssen, welche Organisationen und Einrichtungen eigentlich als befugt galten, Kunstwerke herauszubringen. Eine nicht minder deutungsbedürftige Nachricht legte fest, dass solche Einrichtungen, die „auf Grundlage des Profils ihrer Produktionstätigkeit“ nicht geeignet waren, und jene, die „eine hohe Qualität der Produktion nicht gewährleisten können“65, abzulehnen seien. Neben der ungenauen Definition erwies sich der damit stattfindende Eingriff in die wirtschaftliche Sphäre als größere Herausforderung. Diese Sphäre umfasste nicht nur wirtschaftliche Kooperativen, die standardisierte Skulpturen und Büsten anfertigten, sondern auch lokale Betriebe und Fabriken, die Plakate und Gemälde, aber auch in zunehmendem Maße die Herstellung von Grammophonschallplatten betrieben. Ihre Produkte wurden, abhängig von der Nachfrage, direkt durch die Handelsorganisation vertrieben, ohne dass eine Kontrolle stattfand.66 Die Unterstützung des Moskauer Zentrums für die Umsetzung der Reformen vor Ort hielt sich in engen Grenzen. Für das Jahr 1952 fehlten überall Verbotslisten für das Repertoire von Estrada, Theater, aber auch Klassik, an denen sich die lokalen Zensoren hätten orientieren können.67 Die geforderten Prüfungen von Kunstwerken unterlagen zudem unterschiedlichen Prioritäten. Der Schwerpunkt der Kontrolle lag zunächst auf der darstellenden Kunst, weshalb hier die Defizite energischer angegangen wurden als bei Fragen des musikalischen Repertoires. Mit der Kontrolle der Bild- und Skulpturenproduktion wachte der lokale Zensor über die visuelle Kultur des Spätstalinismus, während er gleichzeitig regelmäßige Aktualisierungen von Verbotslisten für Bücher, technische Karten, Fachzeitschriften oder Museen zu kontrollieren hatte.68 Die für das Funktionieren einer solchen Doppelkontrolle notwendige Arbeitsteilung zwischen KDI und Glavlit-Vertretern kam in der Praxis selten zustande. Häufig arbeiteten die beiden Seiten sogar gegeneinander. Die Mitarbeiter des KDI vor Ort und in der Zentrale konnten die Erfahrung und Expertise, die mit 64 Vgl. „Jahresbericht Glavlit beim Ministerrat der Lettischen SSR für das Jahr 1952“, GARF, f.R9425, op.1, d.816, l.313. 65 Vorsitzender Bevollmächtigter des Ministerrates der UdSSR für den Schutz von Staatsgeheimnissen in der Presse K. K. Omel’čenko an die Leiter der Hauptbezirkskreisabteilungen von Glavlit vom 31.01.1952, GARF f.R-9425, op.1, d.807, l.7. 66 Vgl. „Jahresbericht Glavlit beim Ministerrat der Litauischen SSR 1952“, GARF, f.R-9425, op.1, d.805, l.121. 67 Erst Ende 1952 erhielten die regionalen Vertretungen Listen, auf denen Werke bestimmter Künstler verboten wurden. GARF f.R-9425, op.1, d.827, l.9, 21–22, 25. 68 Vgl. ebd.
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den Glavrepertkom-Mitarbeitern verschwand, nicht einfach kompensieren. Der Leiter von Glavlit, Konstantin Omel’čenko, prangerte 1952 gegenüber dem Leiter der Abteilung Kunst und Literatur des ZK der VKP(B) Suslov an, dass das KDI noch immer keine Liste mit verbotenen Stücken an Glavlit gesandt hatte.69 Das ZK intervenierte hier zu Gunsten „Glavlits“. Ende des Jahres erhielten die lokalen Zensurstellen eine vom KDI erstellte und von Glavlit überarbeitete Liste.70 In jenem Schreiben an das ZK versprach Glavlit erneut „eine solche Ordnung, in der nicht ein Stück des Repertoires öffentlich aufgeführt werden kann, wenn es nicht von den Organen des KDI zur Aufführung zugelassen und von den Zensurorganen erlaubt wurde.“71 Ein von Omel’čenko gegenüber Suslov zugesicherter Plan für die Repertoirekontrolle des weit verzweigten Netzes der künstlerischen Laientätigkeit hingegen wurde nicht realisiert. In der Praxis wurden kaum noch einzelne Stücke zensiert, sondern häufig der komplette Kanon einzelner Komponisten, unter ihnen auch der Jazzmusiker Eddi Rosner, der zu dieser Zeit im GULag saß. Glavlit intervenierte verschiedenartig in die Kontrolle des KDI und weitete bestehende Verbote aus. So gelangten in Absprache mit dem ZK der Ukrainischen Partei 18 Komponisten auf die Verbotsliste, die als politisch kompromittiert galten72. Glavlit säuberte in der armenischen Sowjetrepublik die Liste genehmigter Stücke des dortigen KDI von „Zigeuner-, Estrada- und Literaturstücke, die ihrem Inhalt nach apolitisch und inhaltslos sind und denen ideologische und künstlerische Qualitäten fehlen.“73 An der Repertoirepolitik des KDI wurde verschiedenartig aber auch fundamentale Kritik geübt. Der Leiter der georgischen Glavlit beschwerte sich 1952: Von Seiten des KDI beobachtet man eine scharfe Herabsetzung der hohen Anspruchsniveaus an den ideenhaft-künstlerischen Gehalt der Kunstwerke, besonders im Bereich des Theaters und der Estrada. Eine prinzipielle tiefgründig professionelle Redaktion von Werken fehlt im Komitee. Gleichsam fehlt die Sorge um die Reinigung der Redaktion der künstlerischen Laientätigkeit, Estrada und Philharmonie von Werken, die die sowjetische Wirklichkeit verzerren.74
69 Vgl. K. K. Omel’čenko an M. A. Suslov „Über das Verbot einiger musikalischer und Ėstradawerke“ vom 05.07.1952, GARF, f.9425, op.2, d.186, l.113. 70 Vgl. K. K. Omel’čenko an V. S. Kružkov, Leiter der Abteilung für Literatur und Kunst des ZK der VKP(B) vom 19.09.1952, GARF f.9425, op.2, d.186, l.64–65. 71 Vgl. ebd. 72 Vgl .ebd. 73 A. Petrosjan: „Jahresbericht Glavlit beim Ministerrat der Armenischen SSR 1952“, GARF, f.R9425, op.1, d.816,l.29. 74 „Jahresbericht Glavlit beim Ministerrat der Georgischen SSR 1952“, o. D., GARF, f.R-9425, op.1, d.816,l.120.
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In einigen Fällen übernahmen Abteilungen von Glavlit die Befugnisse des KDI gänzlich. KDI-Vertreter der Kasachischen Sowjetrepublik beschäftigten sich nur oberflächlich mit ihren Aufgaben und versuchten mehrfach aktiv, die ideologisch-künstlerische Kontrolle des Repertoires an die Zensurbehörde abzutreten.75 Mitarbeiter des Komitees in der ressourcenschwachen Peripherie nahmen ihren Auftrag zur Zensur deutlich vorsichtiger wahr als die Vertreter von Glavlit, da die Förderung und Entwicklung sowjetischer Kultur einen zentralen Teil ihres Aufgabenprofils ausmachte. Neben dem Radio erreichte Musik über Livekonzerte die größte Zahl an Bürgern. Die projektierte Doppelkontrolle der Gastspiele von Theater und Musikensembles durch die Organe des KDI und Glavlit erwies sich in der Praxis ebenfalls als schwierig. Das KDI war hauptsächlich an einem funktionierenden Betrieb des von ihm verantworteten Gastspielwesens in den Zentren und der Peripherie interessiert. Der primäre Indikator für den Erfolg seiner Politik, die auch in den folgenden 20 Jahren politisch immer wieder scharf kritisiert wurde, waren die Publikumszahlen, die sich mit der Zensur populärer apolitischer Stücke nicht erhöhen ließen. So warf die armenische Glavlit-Abteilung dem KDI vor, dass der Erhalt einer Tourneelizenz für alle Arten von „Stümpern“ nicht schwierig sei.76 Entsprechend flexibel gingen dessen Mitarbeiter mit den formellen bürokratischen Kontrollabläufe und -fristen um, wodurch die Zensur des Repertoires der Gastspielenden erschwert oder verhindert wurde. Die lettische Glavlit-Abteilung beklagte, dass die Registrierung der Gastspiele häufig rein formal sei und die Auftrittsgenehmigung und weitere notwendige Unterlagen erst am Tag des Konzerts oder sogar danach eintrafen.77 „Die Organe, welche die Kunst leiten“, so der Vorsitzende der belarussischen Glavlit mit Blick auf den Estradabereich, „fühlen sich nicht verantwortlich, ihre Kollektive zu kontrollieren, während den Zensurorganen die Möglichkeiten der Ausübung von Nachkontrolle fehlen.“78 Zahllose Gruppen, darunter besonders „Brigaden aus Moskau“, würden ohne eine Liste mit verbotenen und erlaubten Stücken anreisen. Aus einem großen Vorrat an Stücken zeigten sie hauptsächlich jene Werke, „die längst von Bord der Estradakunst geschmissen wurden“, mit dem Ziel „billigen Erfolg beim Publikum zu erreichen.“79 Aber auch 75 „Jahresbericht Glavlit beim Ministerrat der Kasachischen SSR 1952“, o. D., GARF, f.R-9425, op.1, d.816, l.145. 76 „Jahresbericht Glavlit beim Ministerrat der Armenischen SSR 1952 vom 22.1.1953“, GARF, f.R9425, op.1, d.816, l.53. 77 Vgl. „Jahresbericht Glavlit beim Ministerrat der Lettischen SSR 1952“, GARF, f.R-9425, op.1, d.816, l.312. 78 „Jahresbericht Glavlit beim Ministerrat der Belarussischen SSR 1952“, GARF, f.R-9425, op.1, d.816, l.120. 79 ebd.
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Glavlit selbst agierte hier eingeschränkt, da der gesetzliche Zutritt der Zensoren zu den Aufführungen in den Instruktionen zur Repertoirekontrolle nicht detailliert geregelte wurde. Die ohnehin schwierige Arbeit mit einem chronisch unterbesetzten Stab wurde so besonders in jenen Fällen, wo im Nachhinein Änderungen an Stücken vorgenommen wurden deutlich erschwert.80 Die institutionelle Vielfalt von Organisationen, in deren Einrichtungen Musik zur Aufführung gebracht wurde, machte eine arbeitsteilige Kontrolle eigentlich nicht nur mit dem KDI notwendig. Ein wichtiger Ort für Unterhaltungsmusik nach dem Zweiten Weltkrieg war das Kino, in dem in den Pausen zwischen Filmen und Vorstellungen häufig kleine Estradagruppen spielten. Diese unterstanden nicht dem KDI, sondern dem Ministerium für Kino und waren in der Instruktion nicht thematisiert worden. Es dauerte im belarussischen Fall bis zu einem Jahr, um in diesen Einrichtungen die Kontrolle zu institutionalisieren. „Die Kinos waren im ersten Jahr [1952 – M. A.] nicht unter Kontrolle. In Folge dessen wurden den Zuschauern teils stümperhafte, boulevardhafte und geringkünstlerische musikalische Fragmente dargeboten.“81 Die Erweiterung der Befugnisse von Glavlit erforderte in weiteren Bereichen die Abstimmung mit anderen Instanzen. Um das Schallplattenrepertoire kontrollieren zu können, bedurfte es unter anderem einer Abstimmung mit dem Zoll, der dem Ministerium für Staatssicherheit („Ministerstvo Gosudarstvennoj Bezopasnosti“ MGB) unterstellt war. Auf einer Liste zur Einfuhr verbotener Schallplatten aus dem Jahr 1947 finden sich Tonträger von 18 verschiedenen Interpreten, die mehrheitlich in Folge von Revolution und Bürgerkrieg emigriert waren und bei internationalen Musikfirmen wie „Columbia Records“, „Decca“ und „Victor“ unter Vertrag standen.82 Am 25. Oktober 1948 erließ der Ministerrat eine Anordnung, die den Grenztransfer von Druckerzeugnissen, Werken der bildenden Kunst und anderer Bereiche regeln sollte.83 Importierte Schallplatten und Noten waren dem Moskauer Zoll zur Kontrolle vorzulegen, der diese nach Konsultation mit dem KDI hinsichtlich des Inhalts den Besitzern auszuhändigen hatte. Mit Blick auf das musikalische Genre bezog sich die Verordnung offensichtlich gezielt auf Unterhaltungsmusik aus dem Ausland. Der Leiter der Grenztruppen stellte vier Jahre später in einem Schreiben an Glavlit fest, dass weder der Transfer 80 Vgl. „Jahresbericht Glavlit beim Ministerrat der Armenischen SSR 1952“, l.52 und 54. 81 ebd. l.175b. 82 „Liste von Schallplatten, die zur Einfuhr in die UdSSR verboten sind“ [1947], GARF, f.9425, op.1, d.498, l.166–167. 83 Beschluss der Ministerrates der UdSSR Nr. 4046-1624сс vom 25.10.1948 „Über die Bestätigung des Erlasses zur Ordnung der bestehenden Kontrolle über den Export und Import von Druckerzeugnissen, Bildender Kunst und anderen Kunstobjekten“ zit. nach Brief des Leiters der Grenztruppen des MGB Generalmajor Zyrjanov an den Leiter von Glavlit Omel’čenko vom 13.11.1952, GARF, f.R-9425, op.1, d.813, , l.79.
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von sowjetischen Schallplatten und Noten über die Grenze ins Ausland noch der Import von ausländischen Schallplatten mit Werken klassischer Komponisten geregelt worden war.84 Zyrjanov, der Leiter der Grenztruppen, bat um die Vereinfachung der Durchlassverfahren für nicht verbotene Schallplatten, um die Arbeit seiner Behörde zu entlasten und verlangte darüber hinaus eine Liste von erlaubten Werken ausländischer Klassik, mit der die Zollabfertigung beschleunigt werden könne. Omel’čenko begrüßte den Vorschlag prinzipiell, bestand jedoch darauf, dass die entsprechende Liste vom KDI, KRI und Glavlit gemeinsam zu erstellen sei.85 Die Kontrolle der Schallplattenproduktion erwies sich als einer der brisantesten Bereiche der Zensur, da dieser nicht nur die Koordination der Zensurinstanzen mit einer Unzahl wirtschaftlicher Einrichtungen erforderte, sondern hier der traditionelle Konflikt sowjetischer Kultur zwischen ideologischen Ansprüchen und Publikumsgeschmack seinen institutionellen Abdruck par excellence fand. Was sich im Bericht des ukrainischen Glavlit für das Jahr 1952 exemplarisch abzeichnet, sollte nach Stalins Tod mit der politischen Neuausrichtung der Wirtschaft auf die Konsumgüterproduktion klare kulturpolitische Sprengkraft erhalten. Glavlit hat schwerste Verletzungen in der Herausgabe von Schallplatten in der Republik festgestellt. Thematiken der Schallplatten werden von jedem Direktor einer Produktionseinrichtung nach seiner Ansicht bestimmt, die naturgemäß an den Anforderungen des Marktes und nicht denen der Partei und den Interessen des Volkes ausgerichtet ist. Sowohl das Ministerium für örtliche Industrie als auch der Ukrainische Produktionsrat, die Einrichtungen, die jedes Jahr mehr als anderthalb Millionen Schallplatten herausgeben, planen die Produktion dieser ideologischen Produkte nicht, definieren keine Thematiken und betrachten sie wie Schuhe, Socken oder Pullover. Gegenüber dem Glavlit äußerte der Vorsitzende des ukrainischen Produktionsrates während einer ZK Versammlung: ‚Ich produziere bis zu 5000 bezeichnete Waren und muss den Markt berücksichtigen, die Bedürfnisse der Handelsorganisationen und kann keine übermäßigen Warenvorräte anhäufen.‘86
Mit einem ZK-Beschluss reagierte die Parteiführung der Ukraine zugunsten „Glavlits“ auf dieses Problem und ordnete an, dass sich das „Ministerium für Örtliche Industrie“ und der „Ukrainische Produktionsrat“ mit der Planung der Schallplattenherausgabe, Thematiken und Inhalten beschäftigen sollten, „die den Aufgaben der kommunistischen Erziehung, aber nicht dem Geschmack der Mitarbeiter des 84 Vgl. ebd. 85 Vgl. Brief Omel’čenko an Zyrjanov vom 06.12.1952, GARF, f.R-9425, op.1, d.813, l.80–81. 86 „Jahresbericht Glavlit beim Ministerrat der Ukrainischen SSR 1952“, GARF, f.R-9425, op.1, d.817, l.156–195, hier, l.186.
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Handelsnetzes entspricht.“87 Die Gründung eines Hauses für Schallplattenaufnahmen („dom gramzapisi“) sollte die staatliche Kontrolle über die Aufnahmepraxis erhöhen. Diese Maßnahmen stellten die ersten Schritte eines stärkeren staatlichen Engagements in Herstellung und massenmedialer Distribution von Musik dar, die erst 1964 in der Gründung der staatlichen Schallplattenfirma Melodija münden sollte. Viele der Schwächen und blinden Flecken der doppelten Repertoirekontrolle rührten nicht nur aus den Schwierigkeiten, die Arbeit der dafür zuständigen Organisationen zu synchronisieren, sondern auch aus Glavlit als Organisation selbst. Gering gebildete, schlecht bezahlte und motivierte Mitarbeiter waren vor Ort häufig auf sich allein gestellt. Die Herausforderungen begannen hier bereits mit der Kontrolle von Druckerzeugnissen und nicht erst mit anspruchvolleren Aufgaben der inhaltlichen und ideologischen Einschätzung von musikalischen Texten. So wiesen von den 27 Mitgliedern des Glavlit der lettischen SSR nur sechs einen abgeschlossenen Hochschulabschluss auf und lediglich zwei Personen waren dauerhaft für die Kontrolle der Kunst eingeteilt.88 Entsprechend häufig beklagten Organisationen auf Republiksebene das Fehlen genereller Kompetenzen für die Kontrolle von Kunst.89 Der in der moldawischen Sowjetrepublik arbeitende Kunstzensor F. E. Fišer wurde zwar als alt und erfahren eingeschätzt, wies aber mit seinem Abschluss der 10. Klasse nicht die nötige Spezialbildung auf, infolgedessen er „ohne jegliche Vorbereitung und Gewissheit in seiner Tätigkeit […] offensichtlichen künstlerischen Ausschuss genehmigt.“90 Die Rekrutierung entsprechend qualifizierter Kräfte erwies sich auch hinsichtlich der Bezahlung vielerorts als schwierig, umso mehr, als besonders in den westlichen Republiken der Anteil politisch zuverlässiger nationaler Kader gering war. Das estnische Glavlit beschwerte sich, dass deren Gehalt deutlich niedriger sei als das einer entsprechenden Stelle in der Partei.91 Freie Stellen würden so durch Parteimitarbeiter aufgefüllt, was aber dazu führte, dass eine kontinuierliche Arbeit aufgrund häufiger Dienstreisen kaum gewährleistet werden könnte.92 Aber nicht nur hinsichtlich der Kader vor Ort war Glavlit mit der Erfüllung der selbst an sich gezogenen Aufgaben der Kunstkontrolle überfordert. Auch die Zentrale in Moskau ließ ein präzises Programm und entsprechende Richtlinien zur Repertoirekontrolle für die örtlichen Vertreter vermissen. Außer der „Instruktion“ erhielten diese trotz Bitte um Unterstützung kaum genauere Anweisungen 87 ebd. 88 Vgl. Jahresbericht Glavlit Lettische SSR. 89 Vgl. Jahresbericht Glavlit Kasachische SSR. 90 Jahresbericht Glavlit Moldawischer SSR, l.89. 91 Jahresbericht Glavlit Estnische SSR, l.148. 92 Vgl. ebd.
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oder Schulungen in Bezug auf ihre neuen Aufgaben.93 Unregelmäßige Treffen zur Weiterqualifizierung der Mitarbeiter und zum Erfahrungsaustausch zwischen den Abteilungen der einzelnen Republiken konnten dieses Manko kaum kompensieren.94 Die Verbotslisten von Glavrepertkom waren naturgemäß schnell veraltet, wurden aber selten durch neue ersetzt. Ein Nebeneffekt des hierarchisierten Verbotsverfahrens zwischen Moskau und der Peripherie war, dass ein Verbot von Stücken der alten Glavrepertkom-Listen nur von Moskau aus möglich war.95 Ohne schriftliche Dokumentation von Zensor und Begründung der Zensurentscheidungen blieb die Kontrolle der Zensurarbeit vor Ort durch die Zentrale wiederum häufig eine Illusion.96 Die Zuweisung persönlicher Verantwortlichkeit für einzelne Kontrollbereiche und die nachvollziehbare Dokumentation der Arbeit einzelner Zensoren war mehrfach von der Zentrale angemahnt worden.97 Auch wenn sich die Kontrollfunktion auf die Texte von Unterhaltungsmusik beschränkte und die Musik selbst der Einschätzung der KDIs überlassen blieb, tauchten auch innerhalb der republikanischen Glavlit Forderungen auf, nach dem Text auch die Musik einer Kontrolle zu unterziehen. Diese Forderungen muten zunächst kurios an, sind aber als eine konsequente Reaktion auf die für örtliche Vertreter frustrierende Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit durchaus plausibel. Instrumentalmusik war in diesem System generell schwieriger erfassbar. Die wenigen dokumentierten Fälle von Verboten von Musik durch Glavlit beziehen sich meist auf das Œuvre eines Künstlers und nicht auf einzelne Titel. Die Ursache für die Mehrzahl dieser Verbote resultierte aus der Tatsache, dass diese Autoren Opfer politischer Repressionen wurden und somit ihr Werk zu zensieren war, wie das Beispiel Eddi Rosner belegt, der 1946 zu Lagerhaft verurteilt wurde.98 Die lokalen Vertreter wurden angewiesen, die Aufführung der Werke dieser Komponisten zu verhindern sowie den Verkauf und die Nutzung von Noten in Bibliotheken zu unterbinden.99 Jedoch erst zu Beginn des Jahres 1953 gelang es, umfangreiche und nach Genre sortierte Verbotslisten für Theater, Musik und Schallplatten mit expliziten Anweisungen zum Gebrauch an die lokalen Ableger zu schicken, die
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Vgl. Jahresbericht Glavlit Lettische SSR. Vgl. Jahresbericht Glavlit Estnische SSR Vgl. Jahresbericht Glavlit Lettische SSR l.312. Vgl. Jahresbericht Glavlit Moldawischer SSR. Vgl. Schreiben Nr. 238 des Leiters von Glavlit Omel’čenko an die Leiter der Hauptkreisabteilungen von Glavlit vom 31.01.1952., GARF, f.R-9425, op.1, d.807, l.7–8. 98 Vgl. Zirkular Nr. 321s „Über das Verbot der öffentlichen Aufführung von Werken der Komponisten, die von Glavrepertkom aus dem Repertoire gestrichen wurden“, 10.01.1953, GARF, f.R-9425, op.1, d.827, l.9. 99 Vgl. ebd.
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jedoch auch widersprüchlichen Charakter hatten.100 Ein Schreiben vom 22. April des Jahres wies die lokalen Vertreter an, zur Aufführung verbotene Stücke nicht aus den Bibliotheken und dem Handelsnetz zu entfernen. Schallplatten jedoch, die auf der vom KRI erstellten Verbotsliste zu finden waren, durften nicht in öffentlichen Einrichtungen und Plätzen abgespielt werden und mussten aus den entsprechenden Fonds konfisziert werden.101 So stellte Glavlit 1953 auf Wunsch des Ministeriums für Staatssicherheit eine detailreichere Liste von Schallplatten des Sängers Petr Leščenko zusammen und empfahl die Vernichtung aller aufgeführten Tonträger.102 Die Parteiführung erkannte 1953, dass das zweijährige Experiment des Systems der doppelten Kontrolle von Kunst, in dem Glavlit gegenüber dem KDI die formelle Führung beanspruchte, gescheitert war. Beunruhigt resümierte die Abteilung für Wissenschaft und Kultur des ZK im Mai dieses Jahres, dass sich die politisch-ideologische und künstlerische Kontrolle der Auftrittstätigkeit und des Repertoires zahlloser Vortragskünstler, Schauspieler, Musiker, Orchester, Konzertbrigaden, sowie Bezirks- und Kreistheater deutlich verschlechtert hatte.103 Besonders die künstlerische Massenarbeit in Klubs, Kinos, Sanatorien, Restaurants Pionierlagern und Tanzplätzen sowie die Arbeit zahlloser Darsteller verschiedener Formen von Alltagsmusik – Orchester auf Tanzplätzen und Eisbahnen, Bajanspieler, Unterhalter auf Kreuzfahrten und in Sanatorien – sei faktisch außerhalb jeglicher Kontrolle. Glavlit habe die ihm von Glavrepertkom übertragenen örtlichen Stellen nicht für die Repertoirekontrolle eingesetzt, weil seine Tätigkeit auch nicht auf die direkte Kommunikation mit den Autoren und Künstlern ausgerichtet sei. Generell seien die Organe von Glavlit durch ihren Schwerpunkt auf den Schutz von militärischen und staatlichen Geheimnissen einfach ungeeignet für die Kontrolle der „ideenhaft-künstlerischen Qualität von Werken und ihrer Ausführung.“104 Das Kulturministerium (vormals KDI) habe in diesem Zeitraum keine Überwachung
100 Vgl. Schreiben Glavlits an die Kreisbezirksabteilungen von Glavlit vom 17.02.1953. GARF, f.R-9425, op.1, d.827, l.21–22. Das Schreiben regelte detailliert, wie die Listen in der Praxis zu handhaben seien, so etwa im häufig auftretenden Fall eines gleichen Titels für unterschiedliche Werke. 101 Vgl. Schreiben Glavlits an die Kreisbezirksabteilungen von Glavlit vom 22.04.1953. GARF, f.R9425, op.1, d.827, l.25. 102 Vgl. Stellvertretender Leiter der Geheimabteilung von Glavlit M. Šilov an V. I. Lapaev vom Ministerium für Staatssicherheit vom 20.02.1953. GARF, f.R-9425, op.1, d.8834, l.4–6. Zu Leščenko vgl. Leščenko, Vera: Skažite, počemu?!, Nizhnij Novgorod 2009. 103 Abteilung Wissenschaft und Kultur, „Über die Schwächung der Kontrolle für Inhalt und Qualität der Aufführung des Repertoires der Konzertaufführungseinrichtungen des Landes“. Bericht der Abteilung an den ZK-Sekretär Pospelov, vom 19.05.1953, verfasst von A. Rumjancev, P. Tarasov, B. Jarustovski, in: Z. K. Vodop’janova (Hg.), Apparat CK KPSS i kul’tura: 1953–1957. Dokumenty. Moskau 2001, S. 86–89. 104 ebd. S. 86.
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der Aufführungen in Einrichtungen anderer Ressorts gewährleistet (Sanatorien, Restaurants, Offiziershäuser u.a.), sodass sich auf der Bühne viele vormals durch Glavrepertkom verbotene Werke verbreiten konnten. Selbst die Durchsetzung des Verbotes einer begrenzten Zahl von Künstlern wie Chajt, Levšin und Leščenko, die sich auf der Liste an die lokalen Ableger befanden, überforderte die Mitarbeiter von Glavlit. Besonders die westlichen Gebiete der UdSSR zwischen L’vov und Tallinn hatten sich als Einfallschneisen westlicher Musik erwiesen, wo „aus privaten Quellen bezogene amerikanische Grammophonplatten systematisch gespielt werden.“105 Im Windschatten der ineffizienten Kulturbürokratie florierte wiederum die musikalische Schattenwirtschaft der späten 1940er-Jahre. „Halbunternehmerisch arbeitende Brigaden“ würden das Publikum „mit marktschreierischer Werbung zu billigen Spektakeln locken.“106 Dies zeigt die Persistenz von kommerziellen halblegalen Formen von Unterhaltung am Rande und außerhalb der staatlichen Konzertorganisationen. Verschiedene Strategien ermöglichten es den Akteuren vor Ort, die gelähmten Kontrollmechanismen zu unterlaufen. Die kaum umsetzbare Nachkontrolle von Repertoirelisten („posledujuščij kontrol’“) lud dazu ein, durch die Zensurorgane erlaubte Stücke nachträglich neu zu gestalten. Unter der Leitung Michail Suslovs nahm bereits Ende des Jahres 1952 eine Kommission aus Vertretern von Glavlit, des Komitees für Aufklärungseinrichtungen, des Ministerium für Kino und der Gewerkschaft ihre Arbeit auf, um „mit einigen praktischen Maßnahmen“ die Repertoirekontrolle durch weitere Konzentration der Aufgaben bei Glavlit zu verbessern. Innerhalb der politischen Führung von Glavlit jedoch hatten die Erfahrungen massiver Probleme in der Umsetzung der Aufgabe und die zunehmend kritische Diskussion der eigenen Arbeit im Zentralkomitee zu einem Umdenken geführt. Omel’čenko lehnte nicht nur eine weitere Zentralisierung der Befugnisse unter Glavlit ab, das jetzt dem Innenministerium unterstand. Er bat Suslov vielmehr, die Frage nach möglicher Reduzierung der Kontrollaufgaben zu erörtern.107 Die Abteilung für Wissenschaft und Kultur empfahl in ihrem Bericht abschließend, die Kontrollfunktion des Repertoires jetzt besser beim Kulturministerium zu bündeln, da dieses nach seiner Umstrukturierung eine Reihe von Behörden vereinigte, die ein genuines Interesse an der Kontrolle des Repertoires hätten. Mit Wegfall der Kontrolle von Glavrepertkom und deren Mitarbeitern vor Ort löste sich das ohnehin fragile Netz der lokalen Repertoirekontrolle im Verlauf des Jahres 1952 weitestgehend auf. Die chronisch überforderten Glavlit-Mitarbeiter konnten weder das grundlegende Wissen um Evaluierung von Musik und Theater 105 ebd. S. 87. 106 ebd. 107 Vgl. ebd.
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noch die akkumulierte Erfahrung in der Durchsetzung der Zensur ersetzen. Deutlich wird, dass der zweite Grund für die Kontrolldefizite die verschiedenen institutionellen Zugehörigkeiten aller öffentlichen Einrichtungen waren, die unterschiedlichen Ministerien und den Gewerkschaften unterstanden. Der Eindruck starker regionaler Unterschiede und eines Gefälles an Kontrolle vom Zentrum in die Peripherie der Sowjetunion wird durch die genannten Beispiele von L’vov und Tallinn bestärkt. Ein Zusammenhang von geografischer Lage und musikalischer Westernisierung war für die Akteure im ZK durchaus vorstellbar. Die erste politische Reaktion des höchsten Parteigremiums auf die Situation 1952 zeigt, dass man zwar die institutionelle Zersplitterung als Hindernis wahrnahm, jedoch grundsätzlich nicht von der (stalinistischen) Vorstellung einer zentralen Kontrollinstanz abkam. Die Ablehnung stärkerer Zentralisierung und sogar der Wunsch nach Reduzierung der Verpflichtungen in diesem Bereich der Zensur zeigt, dass innerhalb der Führung „Glavlits“ um Omel’čenko das Bestreben nach Monopolisierung der Einsicht gewichen war, mit dem neuen Aufgabenfeld nicht nur überfordert gewesen zu sein, sondern sich damit auch permanenter Kritik der Partei auszusetzen. Es bleibt offen, wie autonom Glavlit diese Position als Teil von Lavrentij Berijas Innenministerium vertrat. In einer Zeit der Teilung des Zentralkomitees in Anhänger und Gegner Berijas, der im Mai 1953 als klarer und gefürchteter Favorit für die Nachfolge Stalins galt, kann die vorliegende politische Analyse Suslovs auch als eine Missbilligung an der Vereinigung von Glavlit mit dem MVD, und somit als indirekte Kritik an der Politik und Person Berijas gelesen werden. Dafür spräche, dass Suslov hier ausschließlich die Arbeit von Glavlit thematisiert, ohne auf die Versäumnisse des KDI oder des Kulturministeriums einzugehen. Die Kontrolle über den öffentlichen Bühnenbetrieb und das dort gespielte Repertoire nun stärker auf das Kulturministerium zu verlagern, erschien aus mehrfacher Hinsicht die bessere Option. Unter seinem Dach befanden sich viele der kulturellen Einrichtungen, deren unkontrollierte Aufführungspraxis in die Kritik geraten war. Wie erfolgreich die geforderte Koordinierung mit anderen Ministerien und Gewerkschaften ausfallen würde, war zu diesem Zeitpunkt völlig offen. Mit dieser Verschiebung in die Domäne des Kulturministeriums rückte man die Kontrolle wieder näher an den eigentlichen Prozess der kulturellen Produktion und Distribution, auf dessen Apparat durch verschiedene administrative Mittel Einfluss genommen werden konnte. Das 1953 geschaffene Kulturministerium vereinte das ehemalige Ministerium für Höhere Bildung, für Kino, für Arbeitsreserven sowie das KDI, das Komitee für Radiosendungen und die Hauptverwaltung für Druck, Verlagswesen und Buchverkauf.108 Ihm oblag auch die Kontrolle über die Konzertorganisationen, 108 Central Intelligence Agency- Office of Current Intelligence: Death of Stalin, 16.07.1953, [http://www. foia.cia.gov/sites/default/files/document_conversions/14/caesar-02.pdf, letzter Zugriff: 27.04.2018].
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die den Bühnenbetrieb professioneller Musiker organisierten und kontrollierten. Es steht zu bezweifeln, dass sich die Repertoirekontrolle während des Verbleibs von Glavlit im MVD zwischen März und Oktober 1953 durch die institutionellen Umstellungen signifikant verbessern konnte. Dieser Aufgabenbereich verschwand aus der internen Kommunikation fast vollständig.109 1954 schließlich zog sich die Organisation, wie von Omel’čenko zwei Jahre zuvor gefordert, eindeutig aus der Verantwortlichkeit für die zu zensierenden Inhalte des Repertoires zurück. Ein Schreiben an die örtlichen Vertreter von Glavlit legte nun eine genauere Trennung der Befugnisse zwischen den staatlichen Kulturorganen und Glavlit im Bereich der Repertoirekontrolle fest, die zuvor ja verschiedenartig die Organisation überschritten hatte.110 Glavlit untersagte seinen lokalen Organen nun jedwede Mitwirkung am Erstellen der Gastspiellisten, auf denen alle vom Kulturministerium genehmigten Stücke aufgelistet werden mussten. Gastspiele von Estradaorchestern, -ensembles und -konzertbrigaden in Kinos, Parks und anderen öffentlichen Plätzen wurden nun genauer geregelt und dezentrale Verantwortlichkeiten definiert. Abhängig davon, welchem Ministerium die Einrichtung unterstand, oblag deren jeweiligen Abteilungen für Kultur und Kunst sowie den entsprechenden örtlichen Kulturverwaltungen jetzt die Kontrolle und die Pflicht, jedes neue Programm vor der Aufführung durch die Zensurorgane prüfen zu lassen.111
4.1.3 Die Schallplatte als Konsum- und Kulturgut Die Schallplattenproduktion, bei deren künstlerischer Kontrolle Glavlit sich bereits zu Beginn der 1950er-Jahre mit wachsenden Problemen konfrontiert sah, entwickelte nach Stalins Tod eine nie dagewesene Eigendynamik. Die Schallplatte berührte nicht nur die Wirtschafts- und Kulturpolitik, sondern ab der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre die Außenpolitik, aber auch die nachstalinistische Jugendpolitik, die zwischen Kontrolle, Mobilisierung und kultureller Öffnung des Landes manövrieren musste. Neben dem Radio und dem Konzert bestimmte nun zunehmend die Schallplatte die Entwicklung des sowjetischen Musikmarktes, prägte den musikalischen Geschmack der Hörer und brachte diesen als Konsumgut auch zum Ausdruck. Gerade die Konstellation verschiedener Interessen und Institutionen machte die Kontrolle über Produktion und Vertrieb von Schallplatten als wirtschaftliches 109 Vgl. Schreiben mit den Organen des MVD zu Fragen der Zensur, GARF, f.R-9425, op.1., d.835, sowie „Rechenschaftsbericht über die Arbeit der II. Hauptverwaltung des MVD und der peripheren Zensurorgane“ Vgl. GARF f.R-9425, op.1., d.834, l.96–105. 110 Vgl. „Zirkularschreiben Nr. 2791s vom 22.09.1954 an alle Leiter der Hauptkreisbezirksabteilungen von Glavlit“, GARF f.R-9425, op.1, d.857, l.89–91. 111 Vgl. ebd.
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und kulturelles Gut zu einer politischen Herausforderung und generierte immer wieder Debatten und Interventionen durch das Zentralkomitee. In einer Diskussion um „die schädliche Rolle von westlicher Lied- und Tanzmusik für die Sache der kommunistischen Erziehung“112 anderthalb Jahre nach Stalins Tod musste das ZK anerkennen, dass sich die Ausbreitung westlicher Musikkultur im Land nun nicht mehr nur auf äußere Einflüsse des kapitalistischen Westens reduzieren ließ. Es waren vielmehr die sozialistischen Medien selbst, allen voran das Radio und die Schallplatte, die ein musikalisches Tauwetter im Alltag beförderten, das besonders die konservativen Vertreter der Partei beunruhigen musste. Zwei von ihnen, die Leiter der Abteilung für Wissenschaft und Kultur der Abteilung P. Tarasov und der Musikwissenschaftler Boris Jarustovskij, warnten vor einer „neuen maßlosen Verbreitung westlicher Tanzmusik […] im Alltag“, die täglich für mehrere Stunden in verschiedenen Einrichtungen des öffentliches Raums, „an Plätzen der Erholung und des massenhaften Auflaufs von Leuten“113 zu hören sei. Jarustovskij nahm bereits bei der politisch motivierten Zerschlagung des Jazz-Orchesters von Boris Renskij in den späten 1940er-Jahren eine prominente Rolle ein.114 Nachdem der Anteil von Tanzmusik im Radio 1953/54 während der einjährigen Amtszeit des Kulturministers Ponomarenko deutlich erhöht wurde, stieg infolgedessen die Produktion von Schallplatten dieses Genres deutlich. Während zeitgenössische Tanzmusikaufnahmen im Radio meist in definierten Proportionen gesendet wurden, schienen an Orten der Massenerholung bar jeglicher Kontrollen besonders westliche Aufnahmen die dortigen Radiosendungen zu dominieren. Hier entfaltete sich den Autoren nach eine fatale Wirkung auf die Jugend und eine Eigendynamik zwischen sowjetischen und westlichen Radiosendungen: „Erneut erhielten sie enorme Verbreitung unter der Jugend, formten ihren Geschmack, führten zu ungesunder Hysterie um den Erwerb eben jener Schallplatten und zur Erhöhung des Interesses an musikalischen Sendungen ausländischer Radiostationen.“115 Die sowjetischen Handelsorganisationen reagierten auf dieses gestiegene Interesse, „aufgrund ihrer kommerziellen Interessen“ und richteten die Produktion der Schallplattenfabriken entsprechend neu aus. Das starke Wachstum der Produktion
112 Abteilung Wissenschaft und Kultur, „Über die schädliche Rolle der westlichen Lied- und Tanzmusik für die Sache der kommunistischen Erziehung“ vom 02.08.1954 (Stellvertretender Vorsitzender der Abteilung P. Tarasov, Stellvertr.Vorsitzender des Sektors B. Jarustovskijs), in: Z. K. Vodop’janova (Hg.), Apparat CK KPSS i kul’tura: 1953–1957. Dokumenty. Moskau 2001, S. 290–291. 113 Abteilung Wissenschaft und Kultur, „Über die schädliche Rolle“. 114 Vgl. Leiter der Abteilung Kunst der Verwaltung für Propaganda und Agitation des ZK VK(B) an A. A. Ždanov vom 28.11.1946, in: Džachangir G. Nadžavof (Hg.), Stalin i kosmopolitizm. Dokumenty Agitpropa CK KPSS 1945–1953. Moskau 2005, S. 96–98. 115 Vgl. ebd., S. 290.
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von 1.071.000 im ersten Quartal des Jahres 1953 auf 1.695.000 im zweiten Quartal, auf Kosten aller anderen Aufnahmen erachteten die Autoren als „noch irgendwie vertretbar.“116 Sie sorgten sich jedoch über den drastisch gestiegenen Anteil an westlicher Tanzmusik in den Produktionen des Genres „leichter Musik“, der innerhalb eines Jahres von 27.000 auf 665.000 Stück stieg und 1954 bereits mehr als die Hälfte der Produktion ausmache.117 Der Vertrieb in den Läden des Handelsnetzes schien sich auf diese westliche Musik und Neuaufnahmen alter Stücke reduziert zu haben. Die dortigen Mitarbeiter würden diesen Bereich „bis zur Vollendung studieren, während sie das restliche Sortiment kaum kennen“118, sich besonders der „ernsten Musik“ gegenüber skeptisch verhalten und diese Skepsis auch offen gegenüber ihren Kunden äußern würden. Diese Verfehlung in der Vermittlung kultureller Präferenzen führte nach Ansicht von Tarasov und Jarustovskij zu drastischen Folgen. Die so gesteigerte Nachfrage, die auch durch drastisch gestiegene Produktionszahlen nicht gesättigt werden konnte, bot zahlreichen kooperativen Radio-Artels neue Geschäftschancen. Diese veröffentlichten in „halblegaler Art und Weise“ Musik und Aufnahmen von verfemten und gleichzeitig populären Sängern wie Petr Leščenko und Aleksandr Vertinskij. Verkauft wurden diese auf Schallplatten aus dem Untergrund [„iz-pod poly“] in Plattenläden und auf Märkten in Leningrad, L’vov und anderen Städten. Besorgt um die „schädliche Rolle dieser Entwicklung für die kommunistische Erziehung der Massen und besonders der Jugend“119 schlug die Abteilung eine Reihe von Maßnahmen vor. Die entsprechenden Herausgabepläne sollten durch das Kultur- und Handelsministerium überprüft. Weiterhin wurde Glavlit unter Führung von Omel’čenko angewiesen, die Kontrolle der Kooperativen zu verstärken, die Schallplatten herausgaben. Das Kulturministerium, die Gewerkschaften und der Komsomol sollten mit Hilfe ihrer örtlichen Organe die Kontrolle über das öffentliche Abspielen von Schallplatten an Erholungsorten wie Sanatorien und Stadtparks erhöhen. Schließlich wurde empfohlen, in der Pravda und der Sovetskaja Kul’tura diese Frage in Artikeln zu thematisieren. Der Konflikt zwischen Kultur- und Wirtschaftspolitik, der im Jahresbericht der ukrainischen Glavlit von 1952 bereits deutlich wird, weitete sich nach 1953 aus. Katalysiert durch die Erhöhung des Sendeanteils von Tanzmusik im sowjetischen Radio wurde das wachsende Interesse bereitwillig von den zwei Seiten bedient, die ihre Leistungsbilanz innerhalb des sowjetischen Plansystems durch Besucher- oder Verkaufszahlen verbessern konnten. Die Kontrolle von öffentlichen 116 ebd. 117 ebd. 118 ebd. 119 ebd.
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Freizeiteinrichtungen durch die verschiedenen Ministerien und Organisationen hatte sich innerhalb eines Jahres eher verschlechtert als verbessert. Das beständige Wachsen der städtischen Bevölkerung in den folgenden Dekaden und der Ausbau der kulturellen Infrastruktur ließen wenig Aussicht auf grundlegende Änderung dieses Problems zu. Was die Vertreter der Abteilung hier skizzierten, ist ein rasch wachsender Markt für Unterhaltungsmusik, dessen Zusammenspiel von Nachfrage, Produktion und Distribution der Kontrolle der Partei entglitt. Dass der Handel und die Produktion von Schallplatten gewinnbringend war, verdeutlichten nicht nur die Verkaufspolitik in den Läden, die hier als erzieherische Kulturpolitik gegenüber den Konsumenten verstanden wurde, sondern auch die zahllosen kleinen Kooperativen, die Schallplatten in ihr flexibles Produktionsprofil aufnahmen.120 Die geschilderten Zusammenhänge und die geforderten Maßnahmen zielten jedoch auf die Symptome des Problems, nicht seine eigentlichen Ursachen – dem Mangel an zeitgenössischer und attraktiver sowjetischer Unterhaltungsmusik. Sowjetische populäre Musik sollte neben bestimmten musikalischen Merkmalen und Interpreten, die sie repräsentieren, auch immer das „Gegenwärtige“ und „Moderne“ verkörpern. Die hier beschriebene massenhafte Attraktion westlicher Musik erscheint damit weniger als ideologische Subversion, denn als Reaktion auf die Krise im leichten Genre, wie sie auch in der sowjetischen Presse der Zeit mehrfach beschrieben wurde.121 Mit der Produktion von Schallplatten mit Musik von Leščenko und Vertinskij versorgten die halblegalen Produktionsstätten den Schwarzmarkt genau mit jener Musik, auf die Glavlit nach Ende des Krieges ihr Hauptaugenmerk legte. Sie gilt als eine ideologisch weitestgehend unberührte Traditionslinie in der russischen Unterhaltungsmusik im 20. Jahrhundert.122 Erste Impulse für eine neue massenhafte Popularisierung von Tanzmusik nach der kulturellen Eiszeit des Spätstalinismus kamen dabei aus dem Staatsapparat selbst. Dies deckt sich mit den Befunden zur sowjetischen Kulturpolitik zwischen 1953 und 1956. In den ersten Jahren nach Stalins Tod hatte Kulturpolitik aus Perspektive des Zentralkomitees gegenüber Wirtschafts- oder Innenpolitik eine eher zweitrangige Bedeutung. Deutlich wird dies auch in einer Reihe institutioneller Nachjustierungen, die innerhalb des ZK, aber auch in den Staatsorganen
120 Dieser häufige Wechsel von Produktionsschwerpunkten machte diese Kooperativen und Artele zu einem Hauptproblem von Glavlit, die alle zur Produktion von Kunst berechtigten Einrichtungen registrieren und kontrollieren sollte. 121 Vgl. bpsw. Mehr Aufmerksamkeit dem musikalischen Massengenre, Sovetskaja Kul’tura vom 23.07.1953. 122 Vgl. Hufen, Uli: Das Regime und die Dandys. Russische Gaunerchansons von Lenin bis Putin. Berlin 2010.
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vorgenommen wurden und häufig temporärer Natur waren.123 Einige der 1953 unter dem Dach des Kulturministeriums vereinigten Einrichtungen wurden in den nächsten Jahren wieder ausgegliedert, darunter auch das Radiokomitee, das mitverantwortlich für die oben skizzierte Entwicklung war. Bezeichnend für die Instabilität sowjetischer Kulturpolitik war, dass in drei Jahren drei verschiedene Kulturminister einander ablösten. Der erste von ihnen, Pantelejmon Kondrat’evič Ponomarenko, war seit 1938 erster Parteisekretär der Belarussischen SSR und hatte dort auf Grundlage seiner relativ liberalen Kulturpolitik die Gründung des Ersten Belarussischen Staatsjazzorchesters unter Leitung von Ėddi Rosner arrangiert, dem er auch nach dem Krieg verbunden blieb. Kurz nach Rosner Rehabilitierung machten deren freundschaftliche Beziehungen die Neugründung von Rosners Jazzorchester 1954 möglich.124 Unter seiner Amtszeit entfaltete sich die erste Welle des Tauwetters, in der er sich auch um die besten Beziehungen zur Intelligencija bemühte.125 Auch die Sprache des Berichts bezeugt den unsicheren Charakter dieser Epoche. Wenn die Autoren von der „schädlichen Rolle für die kommunistische Erziehung“ sprechen, wird dieser Zusammenhang zu keinem Zeitpunkt tiefgehender erläutert, als die durchaus realistische Einschätzung der Prägung des Geschmacks, des Entstehens „ungesunder Aufregung“ um den Erwerb von Platten und dem Hören von westlichen Radiosendern. Im Laufe der nächsten vier Jahre verschärfte sich die Frage nach Produktion, Vertrieb und öffentlicher Nutzung von Schallplatten trotz aller geforderten Maßnahmen und regelmäßiger Thematisierung des Problems in der sowjetischen Presse.126 Sowjetische Zeitungen griffen den Schwarzhandel selbstgemachter Schallplatten auf, fragten nach Chancen auf Überwindung massiver technischer Probleme und diskutierten das Potential des Mediums für die sowjetische Kultur der Zukunft.127 Im gleichen Zeitraum wuchs die Zahl an Produktionsstätten und örtlichen Radiosendern. Parallel nahm der Binnenhandel innerhalb des sozialistischen Blocks deutlich zu. Die Notwendigkeit kulturpolitischer Interventionen in die sowjetische Wirtschaft resultierte nun nicht mehr nur aus dem Binnen-, sondern auch aus dem Außenhandel. 123 Vgl. Zezina, Marija R.: Sovetskaja chudožestvennaja intelligencija i vlast’ v 1950-e – 60-e gody. Moskau 1999, S. 104. 124 Vgl. Pickhan, Gertrud/Preisler, Maximilian: Von Hitler vertrieben, von Stalin verfolgt. Der Jazzmusiker Eddie Rosner. Berlin 2010. 125 Vgl. Zezina: intelligencija i vlast’, S. 106. 126 Vgl. bspw. Ledved, Valera/Orlov, Viktor: Händler der Vulgarität, Sovetskaja Kul’tura vom 31.03.1956. 127 Der Außenhandel mit sozialistischen Staaten stieg zwischen 1953 und 1958 von 4,8 auf 6,4 Milliarden Dollar. Vgl. Schwartz, Harry: The Soviet Economy since Stalin. Philadelphia/New York 1965, S. 191.
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Im April 1958 widmete sich die Partei dem Zusammenhang von wirtschaftlicher Verflechtung innerhalb des Ostblocks und kulturellem Wandel im Inneren. Die ZK-Führung versuchte, durch die Zentralisierung der Produktion und Verteilung von Schallplatten die ideologische Hoheit über Inhalte des Mediums wiederzuerlangen, die in den Jahren zwischen 1953 und 1958 deutlich erodiert war.128 In einem Schreiben der Abteilung Kultur, das dem Beschluss vorausging, wird deutlich, wie stark die politisch motivierte Umorientierung auf Konsumgüter mit der Kulturpolitik zusammenhing. Hier betonten die Autoren die Verbindung zwischen steigenden Lebensbedingungen der Bevölkerung und der Nachfrage nach musikalischen Aufnahmen auf Schallplatte und Tonband. Diese Medien hatten besonders im öffentlichen Raum und im Radio starke Verbreitung gefunden und erreichten täglich Millionen von Bürgern.129 Mängel monierten die Autoren besonders bei Produktion und Verbreitung. Alle Großbetriebe im Land produzierten zusammen circa 80 Millionen Stück im Jahr, unterlagen aber verschiedenen Behörden und Instanzen, was die Koordination der Produktion erschwerte.130 Neben vier Großbetrieben existierten im Land weitere 35 kleinere Einrichtungen, die der örtlichen Industrie oder Kooperativen angehörten, die weitere 40 Millionen Schallplatten pro Jahr produzierten. Darunter befanden sich auch kleine Artele und sogar Privatpersonen. Diese produzierten aus Sicht der Verfasser die Schallplatten lediglich als lukratives Nebenprodukt fern ihres eigentlichen Produktionsschwerpunktes für die „Befriedigung rückständiger Geschmäcker“. Das im selben Jahr gegründete Allunionsstudio für Schallplattenaufnahmen hatte bis dahin zu diesen Einrichtungen keinerlei Verbindungen hergestellt.131 Für die dort produzierte Musik griffen die Hersteller offensichtlich auf ein breites und populäres Arsenal an Aufnahmen aus den 1920er- und 30er-Jahren zurück. Die Sprache der Autoren gewinnt hier im Kontrast zu den Diskussionen von 1954 deutlich an ideologischer Schärfe. So gebe es „massenhafte Reproduktion vulgärer, 20 Jahre alter Makulatur vom Type billiger Pseudolyrik, allermöglicher Tanzstümpereien und Zigeunertum.“132 Besonders Alltagstänze schienen zum großen Teilen den Aufnahmen von Foxtrotts, Rumbas, Tangos und Blues 128 Ideologische Kommission ZK KPSS, ZK Beschluss „Über grobe Mängel im Repertoire der Schallplatten“, Anlage der Kommission und Beschluss vom 22.04.1958., in: E. S. Afanaseva ; V. Ju. Afiani (Hgg.): Ideologičeskie komissii CK KPSS. 1958–1964: dokumenty. Moskau 1998, S. 52–57. 129 Vgl. ebd. 130 Als Beispiele werden hier die Aprelevskij Werke, die dem Volkswirtschaftsrat des Moskauer Oblasts unterstehen, die Fabrik Plastmass in Leningrad und Einrichtungen in Kiev, Odessa und Tbilissi genannt. 131 Vgl. ebd. 132 ebd.
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entnommen zu sein und würden durch ihre weite Verbreitung „in entsprechendem Maße die Erziehung der Geschmäcker beeinflussen.“133 Die Musik lokaler Radiosender wurde anders als beim gesprochenen Text nach wie vor kaum ideologischer Kontrolle unterzogen. Verantwortliche Mitarbeiter, so die Autoren, hätten rein technische Aufgabenfelder und würden „politische und musikalische Bildung“ vermissen lassen. Gesendet würden unter anderem „pseudozigeunerische Romanzen und westeuropäische Jazzmusik“, wobei „Jazz“ hier als ideologischer Kampfbegriff diente und ebenfalls jene italienischen, französischen und deutschen Schlager bezeichnete, mit denen die „Westernisierung der Estrada“134 in den 1950ern ihren Anfang fand. Mit Blick auf den Außenhandel unterscheidet sich die hier geschilderte Situation zu jener des Jahres 1954. Im Verlauf des Jahres 1957 kauften die Außenhandelsorganisationen 1,5 Millionen Schallplatten für 2 Millionen Rubel, wobei die ČSSR und die DDR unter den sozialistischen Staaten die wichtigsten Anbieter darstellten. Mit der starken Ausweitung des Imports von kulturellen Produkten aus den Volksdemokratien zwischen 1955 und 1958 ging offenbar keine Anpassung der Kontrolle für die Inhalte dieser Produkte einher, da weder Glavlit noch das Kultur- und das Außenhandelsministerium importierte Literatur und das Schallplattenrepertoire kontrollierten. Die Handelsorganisation „Meždunarodnaja Kniga“, über die die Sowjetunion An- und Verkäufe von Büchern, Schallplatten und Tonbändern mit dem Ausland realisierte, entwickelte sich ohne eine entsprechende ideologische Kontrolle zu einer reinen Bestellplattform. Deren Vertreter überließen die Bestimmung der Aufträge zum Kauf ausländischer Schallplatten vollends den Organisationen des Handelsministeriums. In der Aufkaufkommission der dortigen Abteilung für musikalische Waren und Spielzeuge saßen fast ausschließlich Mitarbeiter der Handelsorganisationen, die sich „nur von eng verstandenen kommerziellen Überlegungen leiten ließen.“ 135 Diese Situation kontrastierten die Verfasser mit der eigentlichen Funktion, welche der Import von Schallplatten aus dem sozialistischen Ausland erfüllen sollte. Das Ziel, sowjetische Hörer mit den verschiedenen nationalen musikalischen Kulturen der Volksdemokratien bekannt zu machen, betrachteten die Mitarbeiter der Handelsorganisationen lediglich als Zwang und erwarben entsprechende Medien in extrem geringen Auflagen.136 Die Diskrepanz zwischen politisch-erzieherischem Anspruch und der Handelspraxis war frappierend. Von 100 tschechoslowakischen oder ostdeutschen 133 ebd. 134 Grabowsky, Motor der Verwestlichung. 135 ZK Beschluss „Über grobe Mängel im Repertoire der Schallplatten“, S. 55. 136 Vgl. ebd.
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Schallplatten enthielten lediglich acht Werke der Volksmusik und Klassik. Eine große Zahl der erworbenen Platten aus dem Bereich der leichten und Tanzmusik seien den Autoren nach lediglich Kopien von amerikanischer, englischer, französischer verjazzter („džazirovannoe“) Musik. Deren vermeintlich ideologische Brisanz resultiert in der Einschätzung der Abteilung daraus, dass die Musik „ihren Ideen und dem Inhalt nach den Sowjetmenschen fremd“137 sei, einen amerikanischen Heldentyp namens „Jimmy“ in allen Variationen besingen würde und Chansonlieder „uns fremde Sitten und Gebräuche, ‚freie Liebe‘ auf den ersten Blick und ein leichtes frivoles Leben lobpreisen.“138 Die Autoren kritisierten aber ebenso die häufige Verwendung von musikalischen Anleihen aus dem südamerikanischen Kontext durch Künstler der Volksdemokratien, in Folge derer sich die Tänze Rumba, Samba, ChaCha-Cha und Mambo in der Sowjetunion verbreiteten. Besonders erfolgreich im Verkauf seien Platten mit Jazzmusik, die von tschechoslowakischen, polnischen und deutschen „Jazzorchestern“ „in offensichtlicher Nachahmung amerikanisierten Jazz mit der ihm typischen groben physiologischen Art und Weise der Aufführung und krampfhafter Rhythmen“ gespielt werden. Die Autoren vermuteten darüber hinaus einen durchaus plausiblen Zusammenhang zwischen ideologischer Kritik und der Dynamik des Vertriebs von Musik in der Sowjetunion selbst. Diese „nach Genre und Klang äußerst eintönigen“ Stücke würden jedes Mal dann, wenn sie in der sowjetischen Presse und in Vorträgen kritisiert würden, durch die Handelsorganisationen propagiert. Diese würden von teils rückständigen Geschmäckern geleitet und seien bestrebt, den sowjetischen Hörern „modische ‚westliche Neuheiten‘“ zu verkaufen, wie die Schallplatten mit der Musik verschiedener amerikanischer Filme wie Serenada solnečnoj doliny [„Sunvalley Serenade“ 1941 – M. A.] und Sud’ba soldata v Amerike [„The Roaring Twenties“ 1939 – M. A.]. Tonbandaufnahmen erwiesen sich als die wichtigsten Verbreiter jener „musikalischen Makulatur“. Das Kulturministerium kontrollierte das Repertoire von Live-Konzerten der Konzertorganisationen. Musikalische Sendungen wiederum, die in Klubs, Stadions, Parks und Erholungsheimen übertragen wurden, oblagen dem freien Ermessen der Mitarbeiter der Radiostationen, die zunehmend westliche Musik aufnahmen und sendeten. Die Kommission bat abschließend das ZK, die Frage des Schallplattenrepertoires und der unkontrollierten Sendung mechanischer Aufnahmen zu lösen, welche „der Sache der künstlerischen Erziehung und des kulturellen Wachstums der Sowjetmenschen ernsthaften Schaden zufügt“.
137 ebd. 138 ebd.
Zensur und Medien Jahr Stückzahl in Mio.
1939
1940
1946
1958
68
55
45
85
1960
1964
1965
93 1966
1967
1968
1969
1970
100 132,7 140,7 163,7 189,2 196,2 193,8 172,6
Tabelle 1: Entwicklung der sowjetischen Schallplattenproduktion zwischen 1939 und 1970 (in Millionen) (Quelle: Konokotin, Ė. O./Vladimirskij, B. D.: Art. „Schallplatte“, in: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija 3. Aufl. Moskau 1969–1978, 30 Bde., Bd. 7 1972, S.243–244.; Schreiben der Direktion der Schallplattenfabrik Taškent an das ZK der KPdSU vom 13.05.1958, Rossiiskij gosudarstvennyj archiv novejšej istorij, (RGANI), f.5, op.36, d.70, l.8–19.; Vgl. Volkov-Lannit: Iskusstvo zapečatlennogo zvuka, S. 59.; Gronow; Saunio: International history of the recording industry, S. 137.
Der Vorgang zeigt, dass die massive Ausweitung der Schallplattenproduktion zwischen 1954 und 1958 das Kontrolldefizit verschärfte, dessen Ursprung aber schon in den 1940er-Jahren zu suchen ist. Das rapide Wachstum war ein Ergebnis der neuen industriellen Prioritätensetzung auf die Konsumindustrie unter der „kollektiven Führung“. Dazu zählten der Ausbau und die Modernisierung alter Fabriken und der Neubau ganzer Industriekomplexe wie dem Schallplattenwerk in Taškent. Aber auch eine Vielzahl mittlerer und kleinerer Fabriken und Kooperativen profitierte von den Änderungen der planerischen Prioritäten und Ressourcenverschiebung zugunsten der Konsumgüterindustrie. Diese hatten ihren Produktionsschwerpunkt nicht notwendigerweise im Bereich der Tonträgerproduktion, aber gerade ein rasch wachsender Binnenmarkt versprach relevante Zusatzgewinne. Die Nachfrage an moderner Unterhaltungsmusik konnte durch die sowjetische Estrada der frühen 1950er-Jahre nicht gedeckt werden, erhielt aber in steigendem Maße durch die kulturelle Öffnung des Landes Impulse von außen, die den sowjetischen Hörer stärker in die globale Populär- und Hörkultur integrierten. Ein wichtiger Taktgeber für diesen Prozess war dabei ein anderes Medium – das Kino. Neben den im Schreiben thematisierten Soundtracks zu den amerikanischen Filmen, die nach dem Zweiten Weltkrieg gerade wegen ihrer Musik große Popularität in der Sowjetunion erlangt hatten, versprach die Musik von ausländischen Filmen der 1950er-Jahre für Produktion und Handel gute Verdienste und beförderte schnelles Reagieren auf die Nachfrage. Zeitgenössische Darstellungen zum Thema der sowjetischen Schallplatte kritisierten bis in die 1960er-Jahre hinein die immer noch große Zeitspanne zwischen Aufnahme und Serienproduktion, an der Fabriken und Verkäufer gleichermaßen schuld seien.139 Für den 1956 in Moskau gezeigten indischen Film Gospodin 420 hingegen verkauften die Aprelevskij-Werke vom Tag der Premiere an Schallplatten mit Aufnahmen dieses Films. „Diese lobenswerte Flexibilität“, so ein Autor, „reiche leider nur für die Herausgabe kommerzieller Schlager.“140 139 Vgl. Volkov-Lanit, Iskusstvo zapečatlennogo zvuka, S. 45. 140 ebd., S. 46.
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Anders als 1954 konnten die Handelsorganisationen die quantitativ gestiegene und qualitativ diversifiziertere Nachfrage nicht mehr alleine decken. Ein rasch wachsender Schwarzmarkt entstand in dieser Lücke, über den besonders die Produktion kleiner Artels und Privatpersonen vertrieben wurde.141 Diese in der sowjetischen Presse als „Händler der Vulgarität“ titulierten Akteure waren nicht nur eine zentrale Quelle für verbotene und beliebte Sänger wie Petr Leščenko, sondern auch für Kopien westlicher Schallplatten.142 Der im Text erwähnte Zusammenhang von politischer Kritik an westlicher Unterhaltungskultur und dem Anstieg der Nachfrage auf dem Musikmarkt lässt die wachsenden Grenzen ideologischer Intervention des Staates in den politisierten individuellen Geschmack des Bürgers erkennen. Der Import von Schallplatten aus den musikalischen Kulturen der sogenannten Volksdemokratien erwies sich als Motor der Verwestlichung innerhalb des sozialistischen Lagers. Das Medium in der Hand eines wenig regulierten Marktes entzog sich sowohl innenals auch außenpolitisch der vielfach proklamierten Aufgabe des Verbreitens von „guter Musik“. In der Interpretation der Ideologischen Kommission erscheint es eher als gefährlicher Faktor unkontrollierbarer Verwestlichung denn als potentielles Medium sowjetischer Kulturpolitik. Mit der Gründung des Allunionsaufnahmestudios in Moskau 1957 unternahm die sowjetische Führung einen Versuch, auf Ebene der Aufnahme mehr Einfluss auf den Produktionsprozess zu gewinnen. Nicht nur die Produktion, sondern auch die Aufnahme lagen dezentralisiert in den Händen verschiedener lokaler Radiokomitees und unzähliger fabrikeigener Studios.143 Der Sowjetbürger erhielt durch die steigende Verfügbarkeit von Tonbandgeräten und Mikrofonen für den Privatgebrauch ab den 1960er-Jahren aber auch die Möglichkeit, Stücke zu Hause aufzunehmen und zu verbreiten. Bis auf einen kurzen kritischen Verweis, dass das Allunionsaufnahmestudio keinerlei Verbindungen zu den Produktionseinrichtungen unterhielt, umgehen die Autoren des ZK die wirkliche Kernfrage nach der fehlenden Durchsetzung des musikalischen Kanons durch klassische und Volksmusik. Bereits 1955 diskutierten Autoren verschiedener Fachzeitschriften diese offen und kritisch. Der ohnehin verschwindend geringe Anteil klassischer Musik hatte sich in der größten Produktionseinrichtung wie den Aprelevskij-Werken bei Moskau von 2,2 % 1953 auf 1,8 % 1954 verringert.144 Dass die Autoren das Fehlen klassischer Musik und Folklore kritisieren, obwohl der faktische Anteil des Imports an der jährlichen Binnenproduktion gering war, 141 Vgl. Kravchisnky, Maksim: The Stylus and the Sickle. A Short History of Forbidden Soviet Song, in: Coates (Hg.), X-Ray, S. 45–56. 142 Vgl. Ledved, Händler der Vulgarität. 143 Vgl. Schreiben des Kulturministeriums an die Abteilung Kultur vom 28.02.1959, RGANI f.6, op.36, d.101, l.6–11. 144 Vgl. Morov, A.: Über die Schallplatte, in: Sovetskaja Muzyka 1955, 2 , S. 105–109, hier S. 106. So hätten die Aprelevskij Werke nahe Moskau, immerhin die größte Fabrik der Sowjetunion
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zeigt, dass Auswahl und Angebot an sich den kulturellen Kanon im Alltag repräsentieren sollten. Der sprachliche Stil und die gewählten Figuren korrespondieren mit dem anti-westlichen Duktus des Schreibens. Džaz dient hier als negatives Attribut, mit dem eine sonst positiv konnotierte, nationale Musikkultur („Südamerika“) herabgesetzt wird. Der Begriff wird auch verwendet, um die Hybridisierung klarer Genregrenzen und die Minderwertigkeit der Musik durch ihren Nachahmungscharakter zu unterstreichen. Das Motiv des „ideologisch und inhaltlich Fremden“ wiederum weckt Assoziationen zur Anti-Kosmopolitismuskampagne der späten 1940er-Jahre, die ein biografisch prägendes Element für eine Mehrzahl der Mitglieder der Ideologischen Kommission war. Die Geschichte des Leningrader Artels Plastmass zwischen 1947 und 1958 erlaubt es, den abstrakten Vorwürfen im Schreiben mehr Kontur zu verleihen.145 Verschiedene Artels begannen in den 1930er-Jahren in Leningrad mit der Produktion von Schallplatten, für die sie auf Aufnahmen des Leningrader Radiokomitees und Matrizen aus den Moskauer Aprelevskij-Werken zurückgriffen. Bereits kurz nach dem Krieg begann das Artel Plastmass als das größte seiner Art in Leningrad mit der Produktion eigener Aufnahmen, die vom Radiokomitee geleitet wurden. Bis Ende der 1940er-Jahre gelang es der Leitung trotz der Kampagne gegen den Jazz, die Mehrzahl der Aufnahmen durch das regionale Jazzorchester von Nikolaj Minch zu realisieren und auf Schallplatte zu verbreiten.146 Nachdem ab 1948 Plastmass eine Reihe kleinere Artels unter seiner Leitung vereinigte und begonnen hatte, auch Aufnahmen von gastspielenden Künstlern zu machen, erlangte die Einrichtung mit der Schaffung eines eigenen Tonstudios 1950 weitestgehende Unabhängigkeit von der staatlichen Infrastruktur. Besonders durch die persönlichen Bekanntschaften und das Engagement des Leiters der Fabrik, Šlepoberskij, gelang es, vom größten Teil der Stars der sowjetischen Estrada der 1940er-Jahre Aufnahmen zu machen sowie einige der zukünftigen Stars der 1950er- und 1960er-Jahre wie Edit Pech erstmals überhaupt auf Schallplatte festzuhalten. Diese lokalen Estradaproduktionen waren entgegen der kulturpolitischen Atmophäre nach 1946 unter anderem dadurch möglich, dass Glavrepertkom in Leningrad, die jede Matrize vor Beginn zu dieser Zeit 1952 2,25 Prozent, 1953 2,01 Prozent und 1954 1,88 Prozent klassische Musik am Gesamtanteil der Produktion hergestellt. 145 Vgl. Panetljus, Roman/Fokin, Dmitrij/Kružkov, Nilokaj: Leningradskaja artel’ ‚PLASTMASS’. Kak vse načinalos’ …, [http://retrofonoteka.ru/pm/hystor.htm, letzter Zugriff: 27.04.2018]. Der hier vorliegende Text verzichtet leider auf Angabe von Quellen, verweist unter anderem aber auf Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern des Artels. Spekulationen und Mutmaßungen über illegale Geschäftspraktiken und -verbindungen erfolgen vorsichtig. Sowohl der hauptsächlich faktologische Charakter des Texts als auch die Tatsache, dass er von einem Autorenkollektiv von drei Personen verfasst wurde, lässt seine Nutzung als Informationsquelle durchaus zu. 146 Vgl. Jakučenko, I.: Nikolaj Minch, in: Aleksandr Medvedev/Ol’ga Medvedeva (Hg.), Sovetskij Džaz. Problemy, Sobytija. Mastera. Moskau 1987, S. 350–355.
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der Massenfertigung zu prüfen hatte, deutlich liberaler entschied,- als deren Moskauer Ableger. Etablierte Künstler nahmen seit den späten 1940er-Jahren bereits Lieder von verbotenen Chansonniers wie Petr Leščenko, aber auch einige westliche Titel neu auf. Nach der erneuten Produktion einer Serie von Stücken wurde das Studio 1959 nach einer Kampagne in der lokalen Presse durch die örtlichen Behörden geschlossen. Dies bot den geeigneten Rahmen, um mit dem Direktor und seinen privatwirtschaftlichen und semilegalen Geschäftspraktiken abzurechnen. Die Plastmass-Fabrik, offiziell Teil eines Invalidenartels, produzierte weiter, da deren Mitarbeiter nicht einfach entlassen werden konnten. Eine Analyse des von Liebhabern verfassten Katalogs an Tonträgern des Artels zeigt, dass die Matrizen von Plastmass an verschiedenste Artels und lokale Produktionseinrichtungen im ganzen Land verkauft wurden.147 Zwischen 1947 und 1950 erhielten ausschließlich ukrainische Artels in Kiev und Charkow neue Aufnahmen, während ab 1951 lokale Produktionsstätten im Moskauer Oblast sowie in Vilnius und Odessa dazukamen. Ab 1954 belieferte das Artel dazu die stark wachsende Untergrundproduktion von Schallplatten auf Röntgenfolien, die in Leningrad nach dem Krieg seinen Anfang nahm, wo Ruslan Bugaslovskij das illegale Label „Zolotaja sobaka“ begründete.148 Dieses Beispiel mahnt nicht nur zu einem genaueren Blick auf die gravierenden Folgen der kulturellen Kampagnen des Spätstalinismus auf die Unterhaltungskultur. Es legt auch nahe, den sowjetischen Binnenmarkt für Musik nicht einzig als Konstrukt zwischen lokalem privatwirtschaftlichem Chaos und zentralistischer Regulierung aus Moskau zu begreifen, sondern nach den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Spezifika einzelner Städte und Regionen zu fragen, für die die Produktion ja häufig bestimmt war. Das Beispiel Plastmass verstärkt den Eindruck, dass gerade der sowjetische Musikmarkt solche Symbiosen von privat- und planwirtschaftlichen Elementen begünstigte. Der Beschluss des ZK „Über gravierende Mängel im Repertoire der Schallplatten“ erkannte die Vielzahl von Organisationen und Behörden, die sich mit Produktion und Vertrieb beschäftigen, als Ursache für fehlende Repertoireplanung und Aufnahmen von häufig schlechter künstlerischer Qualität an.149 Nach einer rituell anmutenden Kritik der Handelsorganisationen, deren im Ausland gekaufte Aufnahmen von „nutzlosem künstlerischen Wert“ seien und „nichts mit 147 Vgl. Boyarintsev, Yuri: Mineral and Plastmass Artels (Leningrad) [http://www.russian-records. com/categories.php?cat_id=514, letzter Zugriff: 27.04.2018]. 148 Vgl. Coates, Stephen: A History of Bone, in: Ders.: X-Ray Audio. London 2015, S. 14–43, hier S. 22. 149 ZK Beschluss „Über grobe Mängel im Repertoire der Schallplatten“, Anlage der Kommission und Beschluss vom 22.04.1958., in: E. S. Afanaseva; V. Ju. Afiani (Hg.), Ideologičeskie komissii CK KPSS. 1958–1964: Dokumenty. Moskau 1998, S. 52–57.
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der nationalen Kultur der jeweiligen Länder gemein“ hätten, forderte das ZK in acht Punkten Maßnahmen zur Verbesserung der Situation. Den zuvor kritisierten Organisationen wurde aufgetragen, „das ideenhaft-künstlerische Niveau des heimischen Schallplattenrepertoires zu erhöhen und die Qualität der Programme mit gesendeten Tonaufnahmen zu verbessern.“ Beim Kauf ausländischer Schallplatten sollten die Bevollmächtigten von nun an streng nach ideenhaftem und künstlerischem Wert urteilen und die wichtigste Aufgabe der „breiten Bekanntmachung der Sowjetmenschen mit den besten Errungenschaften der musikalischen Kultur des Auslands“ im Blick behalten. Ähnlich allgemein gerieten die Forderungen an die für Herstellung, Ankauf im Ausland und Distribution zuständigen Behörden, die Praxis der Auswahl und Distribution kritisch zu prüfen und die Kader in den entsprechenden Auswahlgremien sowie die künstlerischen Räte in den Fabriken zu stärken. Das ZK beauftragte eine entsprechend große Zahl an Behörden mit der Verbesserung der musikalischen Radioübertragungen auf lokaler Ebene (Kulturministerium, Gewerkschaften, Ministerium für Kommunikationswege, Ministerium der Hochseeflotte, Ministerium der Schiffsflotte, Staatliches Komitee für Radiound Fernsehübertragung). Es oblag nun den Zentralkomitees der Republiken, die Herausgabe von Schallplatten durch örtliche Unternehmen zu registrieren und zu kontrollieren. Die praktischen Maßnahmen des Beschlusses zielten auf die Verbesserung der Durchsetzungsmöglichkeit des vage definierten, kulturellen musikalischen Kanons in der Plattenproduktion ab, was eine Intervention in die zerstreute Produktionsund Verteilungspraxis erforderlich machte. Dazu zählte das Erstellen einer Liste aller Organisationen, denen Aufnahme, Produktion und Vertrieb zu gestatten war, und ein einheitliches System operativer Kontrolle für Repertoire und Produktion, welches Themen und Auflagen von Schallplatten nach einem vom jeweiligen republikanischen Kulturministerium sanktionierten Plan überprüfte. Ein Künstlerrat mit Vertretern aus Ministerien, Künstlerverbänden und Zensurbehörden sollte die ideologische Kontrolle über den Import wiederherstellen. Da der kulturelle Kanon hier aber hauptsächlich dadurch definiert wurde, was er nicht zu sein hatte, blieben die Anweisungen entsprechend vage. Sie halfen in ihrer Formulierung im Einzelfall weder Zensur- noch Handelsbehörden bei der konkreten Auswahl von Stücken, signalisierten aber ihrem zukünftigen Handeln gegenüber höchste politische Aufmerksamkeit. Innerhalb von Machtstrukturen, in denen alles verboten war, bis es explizit erlaubt wurde, entfalteten Forderungen nach „Hebung des ideenhaft-künstlerischen Niveaus“ eine zumindest restriktive und disziplinierende Wirkung. Jeder vermeintliche Fehler beim Kauf oder Verkauf von Schallplatten durch die Mitarbeiter der Handelsorganisationen konnte somit als latenter Verstoß gegen einen ZK -Beschluss gedeutet werden. Für die Kontrolle der Produktion und des Vertriebs der Schallplatten war Glavlit zu diesem Zeitpunkt nicht mehr
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zuständig. Vielmehr wurde die Verantwortung auf die Parteien und Kulturministerien der einzelnen Republiken übertragen. Die Gründung eines für die Auswahl der Schallplatten zuständigen künstlerischen Rats, in dem Positionen und Expertise einzelner Behörden zusammenlaufen sollten, erscheint zunächst als erwartbar bürokratische Antwort der Partei. Sie ist aber auch Teil einer langfristigen Entwicklung der graduellen Abgabe von Befugnissen im kulturellen Bereich von der Partei an staatliche Organe und fachspezifische Organisationen. Die Erfassung von Produktionsstätten, die Glavlit nach 1951 nur bedingt umsetzte, oblag damit ebenfalls dem sowjetischen Kulturministerium, das zudem jene Einrichtungen zu bestimmen hatte, denen in Zukunft das Recht zur Produktion zugestanden wurde. Auch die Verlegung der Sanktion dieser Pläne an die republikanischen Kulturministerien folgte dieser Logik. In den 1960er-Jahren versuchte die sowjetische Kulturministerin Ekaterina Furceva mit der Schaffung von überministerialen Fachgremien, sogenannten „Kollegien“, mehr Autonomie gegen die ideologische Kontrolle durch Glavlit zu gewinnen.150 Die Akteure verstanden das Medium Schallplatte als wichtiges Objekt des Konsums, der seit Mitte der 1950er-Jahre in zunehmendem Maße die Legitimität der Partei bestimmte. Sie drängten somit darauf, das quantitative Wachstum der Produktion bis Ende der 1950er-Jahre nun auch ideologisch nutzbar zu machen. Der Schallplatte wurde ein erzieherisches Potential zugesprochen, das sie zum Garanten der erfolgreichen Vermittlung des kulturellen Kanons und der Erziehung kultivierten Geschmacks machen sollte.151 Nicht zuletzt die mangelnde technische Qualität von Tonträgern und Abspieltechnik wurde in der sowjetischen Presse der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre immer wieder als ein Hindernis genannt, das volle Potential des Mediums zu erschließen.152 Erst mit der Aufhebung der institutionellen Trennung von Aufnahme, Produktion und Vertrieb konnten die 1958 vom ZK ausgemachten Mißstände überwunden und sowohl das kulturelle als auch das wirtschaftliche Potential des Mediums nutzbar gemacht werden. Die 1964 gegründete staatliche Schallplattenfirma Melodija vereinigte die Aktivität verschiedener Tonstudios und regionalen Produktionseinrichtungen in sich und übernahm über ein Netz von Schallplattengeschäften auch den Vertrieb. Ein weiterer Faktor für diese Zentralisierung war der technische Rückstand, der im Bereich von Aufnahme, Matrizenherstellung und 150 Vgl. Schreiben der Kulturministerin der UdSSR Ekaterina Furceva an das ZK der KPdSU vom 1.12.1965, RGANI, f.5, op.26, d.151, l.242–243. 151 Vgl. o. A.: Die Schallplattenproduktion in Ordnung bringen, in: Sovetskaja Muzyka, 1958, 10, 150–151; Glazenap, K.: Über die technische Qualität der Schallplatten, in: Sovetskaja Muzyka, 5 (1955) 115–116. 152 Vgl. o. A.: Neue Arbeiten des Allunionsstudios für Schallplattenaufnahmen, in: Sovetskaja Muzyka, (1960), 141–142.
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Massenproduktion gegenüber dem westlichen Markt in den 1950er-Jahren offensichtlich wurde.153 Dieser Rückstand machte es der Sowjetunion nicht möglich, die gestiegene Nachfrage nach sowjetisch inszenierter Musik zu bedienen, die im Zuge des kulturellen Austauschs durch die Tourneen klassischer Musiker im Westen deutlich gewachsen war.154 Neben der mangelhaften Qualität der Schallplatten und ihres Designs fehlten der Sowjetunion dazu Absatzpartner, über deren Infrastruktur die Tonträger hätten verkauft werden können. Stattdessen war die sowjetische Seite lange Zeit gezwungen, Musikaufnahmen zu meist unvorteilhaften Konditionen an westliche Plattenfirmen zu verkaufen, die durch Herstellung und Vertrieb von Platten eigener Produktion wiederum hohe Gewinnmargen abschöpfen konnten. Als wichtiger Impulsgeber für eine Modernisierung der Schallplattenindustrie durch Kauf technischer Geräte aus der BRD, Schweden und Frankreich erwies sich in den Debatten im ZK das Kulturministerium, unter dessen Leitung 1964 schließlich Melodija geschaffen wurde. Zum Zeitpunkt dieser Gründung hatten sich der gesellschaftliche Status des Jazz und seine kulturpolitische Stellung jedoch bereits deutlich verändert.
4.1.4 Fazit Das ohnehin komplexe und bürokratische System der akustischen Zensur erodierte im Spätstalinismus. Die faktische Doppelzensur durch das Komitee für Kunstangelegenheiten einerseits und Glavlit andererseits reduzierte die Kontrolle der Sphäre der Estrada und über die Orte ihrer Live-Inszenierung drastisch. Die Rückwirkungen des Kalten Kriegs auf die innenpolitische Situation, politisch forcierte Angst vor kultureller Infiltration und die Unsicherheit, die die Kampagne gegen westliche Einflüsse für die Ausführenden der Kulturpolitik selbst mit sich brachte, sind hier als Ursachen offensichtlich geworden. Das Führungspersonal von Glavlit sah infolge der politischen Diskreditierung des KDI in der unsicheren Atmosphäre die Chance für institutionellen Machtgewinn. Dessen Vertretern wiederum fehlten jedoch in der praktischen Arbeit vor Ort nicht nur elementare Kenntnisse zur Bewertung von Kunst. Der Umbau verringerte die letzten pragmatisch-produktiven Elemente im Zensursystem, da anstelle der direkten Kommunikation und Aushandlung über Inhalte nun nicht mehr der Künstler selbst, sondern eine Dachorganisation betraut wurde. Damit reduzierten sich die Chancen auf die 153 Vgl. o. A.: Ariola Aquires Catalog of Soviet Record Company, in: Billboard Magazine, 25.12.1965. 154 Vgl. Anderson, Omer: Melodia Repertoire Pushing Ariola to All-Time Sales High, in: Billboard Magazine, 24.12.1966; Mikkonen, Simo/Suutari, Pekka (Hg.): Music, Art and Diplomacy. EastWest Cultural Interactions and the Cold War. London/New York 2016.
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Neuzulassungen von Kunst auf legalem Weg noch weiter. Der einzelne Zensor tendierte durch wenig präzise ideologische Kriterien in der politischen Unsicherheit des Spätstalinismus im Zweifelsfall zum Verbot. Gleichzeitig schuf die neue Verteilung von Zuständigkeitsbereichen eine geografische Hierarchie der Genres, in der Estradastücke nun den Ortabteilungen von Glavlit und dem KDI zur Kontrolle überlassen wurden, die selten über qualifizierte Mitarbeiter in ausreichender Zahl verfügten. Der Mangel an aktuellen Verbotslisten für Werke der Estrada verschärfte die Situation vor Ort zusätzlich. Weitere Lücken entstanden durch die bürokratische Schwerfälligkeit, mit der eine solche Reform umgesetzt werden konnte. Das Kulturleben stand nicht still, bis alle Zuständigkeiten der Doppelkontrolle durch die Moskauer Zentrale kommuniziert und vor Ort implementiert wurden. Auf lokaler Ebene setzte sich die fehlende Koordination zwischen Glavlit und den Vertretern des KDI als zentralen Instanzen fort. Deren Arbeit oblag jedoch gegensätzlichen Prämissen. Während Glavlit-Mitarbeiter an effektiver und ideologiekonformer Zensur interessiert waren, hatten die Vertreter des KDI vor Ort auch den Erhalt des Kulturlebens zu verantworten, das allein über Verbote nicht funktionierte. Die vom georgischen Glavlit 1952 kritisierte „scharfe Herabsetzung des hohen Anspruchsniveaus“ deutet auf den nötigen Balanceakt zwischen Kontrolle und Toleranz hin, den KDI-Mitarbeiter auch bei der Zulassung von Estradagastspielen in ihrer Region an den Tag legen mussten. Das Kapitel hat das Scheitern der Zensur auf nationaler Ebene für das Feld der Unterhaltungsmusik umrissen. Den bürokratischen Charakter des Staates machte eine geplante Abschirmung vor westlicher Kultur, wie sie der Begriff der „Belagerten Festung“155 suggeriert, nicht möglich. Ideologische Kontrolle der Kultur und die Zensur ließen sich besonders für die Hochkultur und in den Großstädten des Landes besser durchsetzen. Vor Ort hingegen, in den Regionen und an der Peripherie entstand eine unsichere Atmosphäre, die kulturellen Akteuren aber Lücken durch behördliche Kompetenzüberschneidungen, wenig qualifizierte Zensoren und interpretationsoffene Regelungen bot. Scheiterte ein Auftritt oder ein Gastspiel an der Ablehnung durch lokale Zensoren, so blieb häufig die Möglichkeit, auf der Bühne einer anderen Organisation zu spielen, für die das KDI nicht zuständig war. Diese restriktive Atmosphäre begünstigte auch die Regelung von informellen Vereinbarungen mit lokalen Kulturvertretern, die das Unterhaltungsbedürfnis der örtlichen Bevölkerung nicht ignorieren konnten. Die Abkehr von der Doppelkontrolle und die Konzentration der Zensurbefugnisse bei den Einrichtungen des Kulturministeriums nach 1953 war insofern ein pragmatischer Schritt, als nun wieder Experten für das jeweilige zu kontrollierende Genre verantwortlich sein sollten und damit
155 Katzer, Belagerte Festung.
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auch die Möglichkeit zur Zusammenarbeit zwischen Künstler und Zensor gegeben wurde. Kultur wurde im Rahmen ideologischer Parameter wieder verhandelbar. Der Umgang der Partei mit der Schallplattenproduktion zeigt, dass Wirtschaftspolitik und Kulturpolitik nach 1953 in enger Wechselwirkung standen. Die Schwächen im System der Zensur mit Blick auf die Medienkontrolle haben verdeutlicht, dass eine Transfergeschichte westlicher Kultur in die Nachkriegssowjetunion nicht nur die staatliche Auseinandersetzung mit westlichen Radiosendern im Kalten Krieg untersuchen muss. Mehr noch muss das kulturelle Monopol des Staates über die Medienproduktion und das lokale Radionetz im Inneren hinterfragt werden. Der vom ZK beobachtete Transfer westlicher Musik gewinnt in einer Phase, in der die sowjetische Radioproduktion von 746.200 Apparaten im Jahr 1949 auf 1.828.000 im Jahr 1953 gesteigert wurde, an Brisanz.156 Zwar gelang es leicht, innerhalb dieser Produktionssteigerung den Anteil der Geräte, die in der Lage waren, die von der Voice of America und Radio Liberty genutzte Kurzwellenfrequenz zu empfangen, deutlich zu reduzieren. 157 Aus Sicht der poststalinistischen Führung ging es jedoch viel deutlicher um die akustische Hoheit im Inneren des Landes. In dieser Phase einer inkonsistenten Kulturpolitik beobachteten ihre Vertreter eine unkontrollierte Verbreitung der Schallplatte als Konsumgut, die durch die Veränderung der industriellen Prioritäten durch die Kollektive Führung verschärft wurde. Anders als im Spätstalinismus speiste sich das Angebot für die im städtischen Raum gestiegene Nachfrage nun nicht mehr nur aus peripheren Regionen oder illegaler Produktion. Neben der gestiegenen sowjetischen Produktion, deren Produzenten sich an der Logik des Plans orientierten, kamen nun Importprodukte aus der ČSSR und der DDR hinzu. Dieses durch die wirtschaftlichen Interessen des sowjetischen Außenhandels motivierte Phänomen verweist auf eine größere Frage spätsozialistischer Gesellschaft, nämlich, inwieweit die Westausdehnung des sowjetischen Machtbereichs auf die Sowjetunion selbst zurückwirkte und in wieweit wichtige Impulse zur Verwestlichung nicht hinter, sondern bereits vor dem Eisernen Vorhang ihren Ursprung hatten. Erst mit der Gründung von Melodija im Jahre 1964 gelang es, Aufnahme, Herstellung und Vertrieb des Mediums unter die Kontrolle des Kulturministeriums zu bringen. Dieser Schritt ermöglichte es, die Hierarchie des kulturellen Kanons mit ernster Musik an der Spitze abzubilden, aber auch, sowjetische Aufnahmen nach längeren Bemühungen über Lizenzverträge auf den westlichen Markt zu bringen, wo eine große Nachfrage nach Aufnahmen klassischer Musik
156 Vgl. Central Intelligence Agency. Office of Research and Reports, Economic Intelligence Report. Production of Civilian Radio and Television Receivers in the Soviet Bloc, 13.12.1954, [http:// www.foia.cia.gov/sites/default/files/document_conversions/89801/DOC_0000380723.pdf, letzter Zugriff: 27.04.2018], S. 47. 157 Vgl. ebd. S. 28.
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durch sowjetische Musiker existierte. Mit Melodija erlangte der sowjetische Staat zwar die Hoheit im Bereich der Produktion des Mediums Schallplatte wieder. Mit der massenhaften Produktion von Tonbandgeräten seit Beginn der 1960er-Jahre jedoch gab er sein akustisches Produktionsmonopol gleichsam wieder auf, um dessen Wiederherstellung er sich besonders in den 1940er- und 1950er-Jahren so bemüht hatte.
4. 2 D a s s ow je t i s che Ko n z e r t we s e n z w i s che n 1953 u nd 196 4 Ein Großteil der Konzerte aller musikalischen Genres wurde durch das sowjetische Konzertwesen organisiert, ein weit verzweigtes, komplexes und bürokratisches System. Neben der Medienproduktion versuchte der sowjetische Staat, Darstellung und Inszenierung von Musik auf dem sowjetischen Musikmarkt durch dessen Organe zu regulieren. Das Konzertwesen stand damit als Mittler zwischen den Interessen der Politik, der Wirtschaft und des Publikums. Seine Vertreter lancierten innerhalb des politischen Diskurses zwischen Massenwirksamkeit und Befriedigung des Unterhaltungsbedarfs auf der einen und dem immer wieder eingeforderten „Recht auf hohe Kultur“ auf der anderen Seite. Das abgedeckte musikalische Spektrum umfasste Estrada-, Folklore- und die sogenannte ernste Musik. Zahlreiche Aufgabenfelder erforderten in den Reihen seiner Mitarbeiter bürokratische, musikalische, musikwissenschaftliche und ökonomische Kompetenzen. Die Konzertorganisationen waren Berufs- und Sozialverbände, sollten aber gleichzeitig eine schöpferische Institution sein, die neues Repertoire für die Estrada generiert. Ihre Vertreter erfüllten einen kulturellen Versorgungsauftrag, bei dem sie zwischen ideologischen und ökonomischen Gesichtspunkten lancieren mussten. Neben diesen zahlreichen sich häufig widersprechenden Aufgaben unterwarf die politische Führung der Nachstalinzeit das System nach 1953 verschiedenen Reformen, die ähnlich wie im Zensursystem der späten 1940er-Jahre, kompliziert umzusetzen waren, da zahllose bürokratische Einzelinteressen ausbalanciert werden mussten. Vor dem Hintergrund dieser Strukturen kann erörtert werden, wie spezifische Eigenschaften des Konzertwesens, die ihm zugewiesenen kulturpolitischen Aufgaben und Reformmaßnahmen eine Verwestlichung der Estrada begünstigten und die Ausbreitung des Jazz als Form von Unterhaltungsmusik in der Sowjetunion nach 1953 förderten. Als Leithypothese gilt, dass eine erfolgreiche Erfüllung des parteilichen Auftrags nach Ausweitung der kulturellen Bedienung der Bevölkerung durch die Konzertorganisationen nur um den Preis der Kommerzialisierung ihrer Funktionsweise und Handlungsabläufe möglich war. Dieser Prozess ebnete der Renaissance des Džaz als Unterhaltungsmusik den Weg.
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Eine Reihe von Fragen kann im Rahmen dieser Arbeit gar nicht, andere nicht erschöpfend behandelt werden, da kaum Untersuchungen zum sowjetischen Konzertwesen vorliegen. Als Quellen eignen sich neben einzelnen Beschlüssen des Ministerrates, der Kulturministerien und ihrer Organe hauptsächlich Protokolle der Parteiorgane der einzelnen musikalischen Einrichtungen. Eine weitestgehend offene Frage bleibt die nach der Finanzierung des Konzertwesens als Ganzem. Die häufig geäußerte Vermutung, nach der ab den 1950er-Jahren der sowjetische Staat erst mit den Gewinnen aus der ideologisch umstrittenen Unterhaltungsmusik symbolische und repräsentative Genres wie die Klassik und die Folklore finanzieren konnte, ließe sich erst nach einer umfangreichen Durchsicht der Finanzpläne einzelner Konzertorganisationen und der kulturellen Verwaltung empirisch überprüfen.158 Dennoch kann einem solchen Zusammenhang im Folgenden nachgegangen werden. Dieser Konflikt zwischen Wirtschaftlichkeit und Ideologie konnte im Aufeinandertreffen von Parteifunktionären, Administratoren, Musikern und Regisseuren in den Parteiversammlungen der Konzertorganisationen vielfältige Formen annehmen. Ein weiteres wichtiges Argument mit fehlender empirischer Grundierung ist die Frage des Verwaltungspersonals, das dem Historiker in den vorliegenden Akten nur als Namen begegnet, die in seltenen Fällen mehrfach auftauchen. Die Mitarbeiter des Kulturapparates bilden eine Teilmenge jener stalinistischen Bürokratie, über die in verschiedenen Zusammenhängen des politischen Tauwetters diskutiert wurde. Durch das häufige Fehlen einzelner biografischer Informationen lässt sich singuläres Handeln im Amt selten in den größeren Zusammenhang von generationeller Prägung stellen, wie dies in anderen Zusammenhängen bereits getan wurde.159 Dabei ist der Einfluss von zentralen ministerialen Entscheidungsträgern bis hin zu Mitarbeitern kleiner Konzertorganisationen für die Entwicklung der Kulturpolitik im Ganzen zweifelsohne enorm. Im Einzelfall aber lassen sich biografische Gemeinsamkeiten dieser Akteure ausmachen sowie Ähnlichkeiten in der Art verwendeter Argumente und Metaphern, die eine generationelle Prägung zeigen. Schließlich kann dem Faktor der Informalität im kulturpolitischen Betrieb nur ungenügend Rechnung getragen werden. Die vorliegenden Quellen verdeutlichen, dass Bittschreiben an höhere Instanzen, direkte Intervention von Einzelpersonen in Konflikte zwischen sowjetischen Instanzen, aber auch die Protektion einzelner Künstler eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Entwicklung des sowjetischen Konzertwesens nach Stalin gespielt haben. Eine umfassende Gesamtdarstellung des sowjetischen
158 Vgl. z.B. Patton, The Communist Culture Industry. 159 Vgl. Schattenberg, Susanne: Stalins Ingenieure. Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren. München 2002; Raleigh, Donald: Soviet Baby Boomers. An oral history of Russia’s Cold War generation. Oxford [u.a.] 2012; Alexejewa, Ljudmila: The Thaw Generation: Coming of Age in the Post-Stalin Era. Pittsburgh 1990.
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Konzertwesens als bisher unterschätzter Faktor kultureller Entwicklung ist noch zu schreiben.
4.2.1 Publikum, Struktur und Funktionsweise des staatlichen Konzertwesens Bis in die 1960er-Jahre dominierten Livemusik und der Film in der sowjetischen Musikkultur als zentrale Medien. Erst seit den späten 1950er-Jahren gewannen Schallplatte und Radio, ab den 1970er-Jahren dann das Fernsehen als Massenmedium an Bedeutung.160 In der Dekade nach Stalins Tod wuchs die Zahl der jährlichen Konzerte auf dem Gebiet der Sowjetunion deutlich. In der RSFSR stieg diese von 170.000 Konzerten mit 68 Millionen Besuchern 1953 auf 190.000 Konzerte mit 111 Millionen Besuchern 1957.161 1963 fanden in der Russischen Sowjetrepublik 196.000 Konzerte mit 72 Millionen Zuschauern statt.162 Für die gesamte Sowjetunion ist für 1955 die Zahl von 275.000 Konzerten mit 100 Millionen Besuchern überliefert.163 Demografische Daten untermauern den gestiegenen Unterhaltungsbedarfs in den Großstädten durch die zweite Welle massiver Urbanisierung nach dem Zweiten Weltkrieg.164 Diese erreichte ihren Höhepunkt Ende der 1950er-Jahre und veränderte das Land-Stadt-Verhältnis unumkehrbar. Während sich die Stadtbevölkerung der UdSSR von 69,4 Millionen im Jahr 1950 auf 142,5 Millionen im Jahr 1972 nahezu verdoppelte, stagnierte die Zahl der Landbevölkerung in diesem Zeitraum bei ungefähr 106 Millionen und nahm Mitte der 1960er-Jahre stetig ab.165 Das größte Wachstum verzeichneten Moskau und Leningrad. Tallinn
160 Vgl. Lovell, Stephen: Russia in the Microphone Age. A History of Soviet Radio, 1919–1970. Oxford 2015. 161 Kulturministerium der RSFSR: „Über Maßnahmen für die weitere Verbesserung der künstlerischen Bedienung der Werktätigen der RSFSR“ vom 15.1.01958. GARF, f.A-501, op.1, d.2402, l.9; Unter Einschluss der Theaterveranstaltungen wird von 1957 zu 1958 ein Anwachsen von 294.000 auf 306.000 Vorstellungen (von 111 Millionen auf 120 Millionen Zuschauer) angeben. 162 Vgl. Beschluss des Ministerrates der RSFSR Nr. 1182 vom 16.9.1964 „Über Maßnahmen zur Verbesserung der Organisation von Konzertarbeit in der RSFSR“, [https://www.lawmix.ru/sssr/13689, letzter Zugriff: 17.05.2018; Die geringere Zahl an Zuschauern im Vergleich mit dem Wert von 1957 erklärt sich entweder über die unterschiedliche Zählweise verschiedener Behörden oder aber auch durch Veränderungen in der Konzertarbeit selbst, beispielsweise durch eine stärkere Fokussierung auf ländliche Regionen, womit eine Zunahme der Konzertzahl und die Stagnation bzw. Abnahme der Besucherzahlen erklärt werden könnte. 163 Vgl. o. A.: Kunst für Millionen!, in: Pravda, 01.07.1956. 164 Vgl. Bohn, Thomas: Minsk. 165 Vgl. Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 1172.
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wuchs zwischen 1959 und 1979 von 281.714 auf 428.537 Einwohner.166 Auch die sozioökonomischen Veränderungen der 1950er- und 1960er-Jahre begünstigten die Nachfrage nach Unterhaltung, da dem durchschnittlichen Bürger durch Reduzierung der Arbeitstage und Einkommenssteigerung einzelner Branchen nun mehr Freizeit und Geld zur Verfügung stand.167 Diese Befunde korrespondieren mit einem Ausbau der kulturellen Infrastruktur. Dieser konnte jedoch nicht mit der steigenden Nachfrage mithalten, wenn man ihn im Kontext des massiven Ausbaus der städtischen Infrastruktur in den 1950er- und 1960er-Jahren betrachtet. Die sowjetische Baupolitik nach 1945 oszillierte zwischen Wiederaufbau der massiven Kriegsschäden, neuen städteplanerischen Visionen und dem chronischen Problem des Wohnungsmangels.168 Die Umsetzung einer idealtypisch gedachten sozialistischen Stadt scheiterte schließlich auch an der Zahl der involvierten Institutionen, die am Wiederaufbau und der Expansion sowjetischer Metropolen beteiligt waren. Gerade mit Blick auf die Unterhaltungsmusik erwies sich diese Tatsache als eines der größten Hindernisse für den kulturpolitischen Einfluss der Partei auf dieses Genre. Zahllose Tanzplätze, Kulturhäuser, Klubs und öffentliche Lautsprecher unterstanden Fabriken, Gewerkschaften und anderen Ministerien, nicht aber dem sowjetischen Kulturministerium. In den Großstädten Moskau und Leningrad wurde klassische Musik in den verschiedenen Spielstätten der örtlichen Philharmonien wie dem prestigeträchtigen Bol’šoj- oder Kirovtheater aufgeführt. Es existierten ebenso eine Reihe großer Bühnen für Estradamusik, wie das Moskauer Eremitažtheater oder das Leningrader Miniaturtheater. Im Rahmen von Feiertagen fanden Konzerte auch in Stadien oder auf öffentlichen Plätzen statt. Neben den großen Häusern existierten zahllose Kulturhäuser und -paläste, Konzertsäle und Klubs, in denen das Kulturministerium und die Gewerkschaften für einzelne Stadtteile den größten Teil musikalischer Kultur für die Anwohner realisierten. Hinzu kamen hunderte von öffentlichen Tanzplätzen und ungezählte Orte, an denen unregelmäßig oder einmalig Musik vor Publikum gespielt wurde, etwa im Rahmen von Schüler- oder Studentenfeiern und Hochzeiten. Reiste man in eine der Republikhauptstädte, konnte einem auf Fährschiffen oder in Bahnhöfen ebenfalls Livemusik begegnen, die dem 166 Die Bevölkerungszunahme ist bedingt durch die sowjetische Ansiedlungspolitik bei der russischen Bevölkerung proportional höher als bei der estnischen. Vgl. Eesti Statistikaamet (Hg.): Eesti rahvastik rahva – loenduste andmetel (Population of Estonia by Population Censuses). Tallinn 1995. 167 Vgl. Filtzer, Donald: Soviet Workers and De-stalinization: Consolidation of the Modern System of Soviet Production Relations; 1953–1964. Cambridge [u.a] 1992; Bushnell, Urban Leisure Culture. 168 Vgl. Bohn, Thomas: Urbanisierung; Stronski, Paul: Tashkent. Forging a Soviet City, 1930–1966. Pittsburgh 2010.
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Transportministerium unterstellt war. Dort angekommen, fanden sich überdies ein Opernhaus, Konzertsäle sowie Kulturhäuser und Klubs. Mit Verlassen des städtischen Raums sank die Dichte kultureller Einrichtungen deutlich, womit in kleineren Städten und Dörfern nur noch ein Kulturhaus oder der Klub des Kolchos blieb, die aufgrund materieller und personeller Defizite bei der „kulturellen Versorgung der Bevölkerung“ immer stärker auf das Zentrum angewiesen waren. Aber auch hier war Musik, Unterhaltung und Geselligkeit Teil der sozialen Gemeinschaft. Die Lücke in der staatlichen Versorgung der Provinz eröffnete der musikalischen Schattenwirtschaft große Möglichkeiten. Der Ausbau der kulturellen Infrastruktur gehörte zu den politischen Projekten der Chruščevzeit und fügt sich in den ideologischen Kontext der Wiederbelebung des kommunistischen Projekts und der Verbesserung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung.169 Im sechsten Fünfjahresplan (1956–1960) wurde der Ausbau der kulturellen Infrastruktur durch den verstärkten Bau von Tanzplätzen, Kulturhäusern und Klubs festgeschrieben.170 Am Beispiel der Klubs, in denen die Mehrzahl der musikalischen Konzerte stattfand, lassen sich diese Politik, aber auch die Folgen der Urbanisierung verdeutlichen. Zwischen 1950 und 1960 stieg die Zahl der Klubeinrichtungen von 125.400 auf 128.000. Die Gesamtzahl stagnierte bis 1966 und stieg dann bis 1970 auf 134.000 an. Der Anstieg fiel in den Städten jedoch höher aus, als die Zahlen suggerieren, da deren Zahl auf dem Land stagnierte und abnahm.171 Der Komponistenverband entwickelte sich in den 1930er- und 1940er-Jahren zur führenden Berufsorganisation der Komponisten und zur Autorität über die Bewertung sowjetischer Musik. Die Konzertorganisationen dienten als staatliche Regulierungsinstrumente für die Inszenierung von Musik. Damit waren sie ein wichtiges kulturpolitisches Werkzeug bei der Durchsetzung des sowjetischen Musikkanons, der seit den 1930er-Jahren zwischen Partei und Komponistenverband ausgehandelt wurde. Dieser Prozess vollzog sich weitaus weniger durch Zwang und parteipolitische Maßregelungen als durch verschiedene materielle Anreize wie Urheberrechts- und Tantiemengebühren. So versuchte der Komponistenverband über das Volkskommissariat für Aufklärung bzw. ab 1936 das Komitee für Kunstangelegenheiten auf die Repertoirepolitik der Konzertorganisationen einzuwirken.172 Regelungen, die den Anteil sowjetischer Musik am Repertoire kleiner Ensembles auf ein Drittel festlegten, begünstigten nicht nur die Ausbreitung des Kanons
169 Vgl. Fürst, Juliane/Jones, Polly/Morrissey, Susan (Hg.) The Relaunch of the Soviet Project, 1945–1964, The Slavonic and East European Review 86 (2008), 2. 170 Vgl. Geschlossenen Parteiversammlung von Gastrol’bjuro vom 04.04.1956, GARF, f.957, op.1, d.84, l.17–33, hier l.46. 171 Vgl. Narodnoe Chozjajstvo SSSR 1970. Moskau 1971, S. 670. 172 Vgl. Mikkonen, Music and power in the Soviet 1930s.
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in der Massenkultur der 1930er-Jahre, sondern sicherten den Komponisten einen Vorteil beim Erhalt von Tantiemen.173 Das Konzertwesen expandierte im Untersuchungszeitraum der 1950er- und 1960er-Jahre deutlich und unterlag mehreren grundlegenden Reformen, die Gestalt, Funktionsweise und Defizite ausprägten, die bis zum Ende der Sowjetunion Bestand haben sollten. Grundpfeiler des Konzertwesens waren die örtlichen Philharmonien. Diese existierten entsprechend der administrativen Gliederung des Landes von der Ebene einzelner Städte, Kreise und Bezirke bis zu den Republiken. Sie unterstanden in administrativer und finanzieller Hinsicht den jeweiligen Kulturministerien und ihren lokalen Ablegern, den örtlichen Kulturverwaltungen. Deren Zahl in der Union wuchs besonders in den 1960er-Jahren merklich – von 100 im Jahr 1959174 über ca. 126 im Jahr 1961175 auf 153 im Jahr 1977, während sich die Gesamtzahl bis 1980 dann wieder auf 138 verringerte.176 Philharmonien der Republikshauptstädte, größeren Städte und Regionen hatten alle Genres in ihrem musikalischen Profil abzudecken, wobei klassischer und Volksmusik entsprechend dem sowjetischen Kanon symbolisch ein höherer Stellenwert eingeräumt wurde. Auf die 100 sowjetischen Philharmonien im Jahre 1959 kamen insgesamt ungefähr 300 Ensembles, wie Sinfonieorchester, Chöre, Volksmusikinstrumentenorchester, Lied- und Tanzensemble, Estradaorchester sowie verschiedene Kammermusikgruppen und Solisten.177 In Moskau und Leningrad etablierte sich aufgrund der deutlichen Konzentration von kulturellem Angebot und Nachfrage bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren eine Arbeitsteilung zwischen den Philharmonien für klassische und Volksmusik und sogenannten Estradaverwaltungen (Mosėstrada und Lenėstrada) für den Bereich der Unterhaltungsmusik. „Estradabüros“, die in einzelnen Republiken und Regionen neben den örtlichen Philharmonien existierten, deuten auf eine ähnliche Arbeitsteilung hin. Den Austausch von Orchestern und Solisten zwischen den Städten, Regionen, Republiken und dem Ausland gestalteten Konzertorganisationen der Russischen 173 ebd. 174 Vgl. Finkenscher, W. (Hg.): Die UdSSR. Enzyklopädie der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Leipzig 1959, S. 801. 175 Vgl. Bericht „Über Zustand und Maßnahmen der Verbesserung der Konzert-Estrada Arbeit im Land“ vom April 1961, Rossiiskij gosudarstvennyj archiv literatury i iskusstva, (RGALI), f.2329, op.3, d.949, l.1–15, hier l.1. 176 Vgl. Schreiben des Komitees für Volkskontrolle der UdSSR beim ZK der KPdSU über die Ergebnisse …, in: N. G. Tomilina (Hg.), Apparat CK KPSS i Kul’tura. Dokumenty 1973–1978, 2 Bde., Moskau 2012, Bd. 2, S. 927–932, S. 930. Die Große Sowjetenzyklopädie gibt für 1976 nur 138 Konzertorganisationen an, wobei die Differenz der unterschiedlichen Zähl- und Zurechnungsweise geschuldet sein mag. Vgl. Art. „Filarmonija“, Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. 3. Aufl. Moskau 1969–1978, 30 Bde., Bd. 27, S.388. 177 Vgl. Finkenscher, UdSSR, S. 801.
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Sowjetrepublik und der Union. Seit 1938 existierte die Allunions Gastspiel- und Konzertorganisation („Vsesojuznoe gastrol’nyj-koncertnoe obedinenie“ – VGKO), die dem Volkskommissariat für Aufklärung unterstellt war. 1946 wurde innerhalb der VGKO das „Gastrol’bjuro SSSR“ als Untereinheit geschaffen, das Gastspiele großer Ensembles durch die Sowjetunion organisieren sollte. Diese Strukturen änderten sich im Zuge der Reformen der kulturellen Infrastruktur in den 1950er- und 1960er-Jahren mehrfach. Auf Beschluss des Ministerrates der UdSSR 1956 wurde eine Reihe von Kompetenzen des Kulturministeriums der Sowjetunion an das der RSFSR verschoben. Neben der Hoheit über Radio und Kino, einer großen Zahl von Ausbildungsstätten, Museen und Theatern gingen auch die Philharmonien von Moskau und Leningrad in die Kompetenz des russischen Kulturministeriums über. Die Moskauer und Leningrader Estrada formierten eine „Allrussische Gastspielund Konzertorganisation“, der nun die Organisation der Konzerttätigkeit für den Estradabereich auf dem Gebiet der RSFSR oblag.178 Ende des Jahres 1956 wurde Gastrol’bjuro aufgrund einer geringen Zahl an realisierten Konzerten durch die neue Organisation Goskoncert ersetzt. Entsprechend klar formulierten die Verantwortlichen deren wichtigste Aufgabe: „eine deutliche Ausweitung der Gastspieltätigkeit und die Organisation eines planmäßigen Austauschs von musikalischen und Theaterkollektiven sowie Einzelkünstler zwischen den Republiken“179. Eine zweite Aufgabe der neuen Organisation hing eng mit den Infrastruktur- und Mobilisierungsprojekten der Chruščevzeit zusammen: Die „kulturelle Versorgung der Großbaustellen und des Neulands“, die geografisch bedingt vorher in die Zuständigkeit verschiedener lokaler Konzertorganisationen und der kasachischen Philharmonie fiel und jetzt zentral gesteuert werden sollte. Neben der Musik wurde der neuen Organisation am 3. Mai 1957 per Erlass auch die Arbeit mit Theatern übertragen. Außer der Planung und Durchführung des Austauschs von Theatergruppen, musikalischen Kollektiven, Ensembles und Solisten „von Unionsbedeutung“ zwischen den Republiken, blieb Goskoncert auch für die Organisation von ausländischen Gastspielen von Theatern, Gruppen und Solisten in der Sowjetunion sowie sowjetischer Vertreter im Ausland verantwortlich.180 1959 wurde die Aufgabe der Organisation des zwischenrepublikanischen Austausches an die Kulturministerien der einzelnen Republiken übergeben. Die Arbeit von Goskoncert erweiterte sich auf die Organisation von Tourneen ausländischer 178 Vgl. Beschluss des Ministerrates der UdSSR Nr. 916 vom 06.07.1956, in: Perečen’ rešenij Sovet ministrov SSSR 1945–1955, 33 Bde., Bd. 27. Moskau 1957, S. 154. 179 Vgl. Schreiben der Hauptabteilung für Theater- und Musikeinrichtungen des Kulturministeriums UdSSR an den Kulturminister der Estnischen Sowjetrepublik vom 06.12.1956, Eesti Riigiarhiiv [Estnisches Staatsarchiv, im weiteren ERA], f.R-1797, op.1, d.253, l.193. 180 Rechenschaftsbericht der Parteiführung der Parteiorganisation von Goskoncert, o. D. [Herbst 1957], GARF, f.957, op.1, d.94, l.35.
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Gruppen durch die UdSSR und sowjetischer Kollektive ins Ausland, die im Zuge der kulturellen Austauschabkommen mit den westlichen Staaten deutlich expandierte.181 Zu Beginn des Jahres 1965 wurde die VGKO aufgelöst und durch Roskoncert ersetzt, das die Konzertarbeit innerhalb der russischen Sowjetrepublik übernahm.182 Die Organisation von Tourneen sowjetischer Künstler im Inland oblag ab 1965 Sojuzkoncert, während Goskoncert die Tourneen sowjetischer Künstler ins Ausland und ausländischer Künstler in die UdSSR organisierte.183 1961 existierten in der gesamten Sowjetunion 128 Konzertorganisationen unterschiedlicher Größe, personeller Ausstattung und unterschiedlichen Budgets. Neben den Philharmonien und Konzertorganisationen der Republiks- und Unionsebene unterhielten weitere sowjetische Organisationen und Einrichtungen musikalische Gruppen und veranstalteten Konzerte. Der Rundfunk und das entstehende Fernsehen etablierte unter Verwaltung des Staatlichen Komitees für Radio und Fernsehen eine Reihe von Orchestern. Die 1964 geschaffene staatliche Schallplattenfirma Melodija unterhielt ab den 1970er-Jahren ein eigenes Estradaund Sinfonieorchester.184 Aber auch der Komponistenverband oder die Rote Armee traten mit eigenen Ensembles als Organisatoren von Konzerten in Erscheinung.185 Den Konzertorganisationen oblag eine Reihe von Aufgaben, mit denen der sowjetische Staat wichtige Funktionen des Musikmarkts weitestgehend monopolisierte. Wie im Weiteren zu zeigen sein wird, gingen deren Aufgaben im Bereich der Unterhaltungsmusik über eine rein administrative Funktion hinaus in den Bereich „schöpferischer Aufgaben“. Dieses hybride Aufgabenprofil führte im Untersuchungszeitraum immer wieder zu Konflikten, die durch die chronisch knappe finanzielle und personelle Ausstattung der Konzertorganisationen weiter verschärft wurden.
181 Vgl. Kasack, Kulturelle Außenpolitik. 182 Kacaev, M. D.: Art. „Roskoncert“, Muzykal’naja Ėncyklopedija, hrsg. von Ju. V. Kaldyš, Moskau 1973–1982 [http://dic.academic.ru/dic.nsf/enc_music/6580/%D0%A0%D0%BE%D1%81%D0% BA%D0%BE%D0%BD%D1%86%D0%B5%D1%80%D1%82, letzter Zugriff: 27.04.2018]. 183 Vgl. Art. „Goskoncert“, Muzykal’naja Ėncyklopedija, hrsg. von Ju. V. Kaldyš, Moskau, 1973– 1982. [http://dic.academic.ru/dic.nsf/enc_music/2164/%D0%93%D0%BE%D1%81%D0% BA%D0%BE%D0%BD%D1%86%D0%B5%D1%80%D1%82б, letzter Zugriff: 27.04.2018]. 184 Der erste Versuch einer Einrichtung eines solchen Orchesters wurde vom ZK im Dezember 1977 mit Verweis auf fehlende Mittel abgelehnt. Vgl. Schreiben des sowjetischen Kulturministeriums an das ZK der KPdSU „Über die Schaffung eines symphonischen Orchesters der Allunionschallplattenfirma ‘Melodija’“ vom 14.04.1977, in: Apparat ZK KPSS i Kul’tura. Dokumenty 1973–1978, 2 Bde., Moskau 2012, Bd. 2, S. 87–90; sowie die Ablehnung des ZK S. 252–253. 185 Vgl. Nemirskij, Aleksandr: Voenno-muzykal’noe obrazovanie v SSSR. Kratkij istoriko-pedagogičeskij očerk, in: Pedagogika iskusstva 2010, 2 [http://www.art-education.ru/electronic-journal/ voenno-muzykalnoe-obrazovanie-v-sssr-kratkiy-istoriko-pedagogicheskiy-ocherk, letzter Zugriff: 27.04.2018].
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Eine zentrale Aufgabe der Konzertorganisationen bestand in der Versorgung des Marktes mit Musikern. Größere Orchester und Ensemble unterstanden entweder ihren eigenen Häusern oder direkt einer entsprechenden Konzertorganisation. Die entsprechende Einrichtung verfügte über einen festgelegten Stellenplan („štatny plan“), der Größe des Ensembles und Jahresbudget festlegte. Die Zahl der absolvierten Konzerte und der Besucher fungierten als Planindikatoren ihrer Tätigkeit. Die Konzertorganisationen verantworteten ein Einstufungssystem in Kategorien, das die unterschiedliche Qualifikation der Musiker abbilden sollte. Die Höhe dieser Einstufung bestimmte a) das Gehalt des Musikers, b) seine monatliche Auftrittsnorm und c) langfristig seine möglichen Karrierechancen, da prestigeträchtige Orchester bevorzugt Musiker der höchsten Kategorie einstellten. Damit oblag ihnen auch die soziale und materielle Versorgung der Musiker. Mit der Entstehung des Komponistenverbandes als Berufsorganisation, die auch für die materiellen Belange ihrer Mitglieder autonom Sorgen tragen konnte, setzte sich für die Musik eine Trennung zwischen Kopf- und Handarbeit durch, da Musiker nicht Teil des Systems wurden.186 Neben der Künstlergewerkschaft RABIS verantworteten die Konzertorganisationen die materielle Versorgung des Musikers, teilten ihn in Tarifklassen ein und bestimmten seine Karrierechancen. Keine staatliche oder öffentliche Einrichtung ohne eigene Planstellen hatte das Recht, eigenständig Musiker zu engagieren. Dieses Monopol oblag den Konzertorganisationen. Im Bereich der städtischen Unterhaltungsmusik existierten beispielsweise bei Lenėstrada und Mosėstrada einzelne Unterabteilungen, die für die Versorgung bestimmter Einrichtungen zuständig waren und implizit die kulturelle Hierarchie abbildeten. Während innerhalb Moskaus Mosėstrada für Plätze und offene Bühnen zuständig war, zeichnete das OMA („Otdel’ muzykal’nych anzemblej“) für Livemusik in Cafés, Restaurants, Kinos und auf Tanzplätzen verantwortlich. Der Inhaber eines Restaurants konnte zwar Wünsche gegenüber der Organisation artikulieren, hatte formell aber keinen Einfluss auf das gespielte Repertoire. Er bezahlte die Konzertorganisation für die Musiker, die diese wiederum entsprechend den Tarifen vergütete.187 Neben den latenten Konflikten um Angebot und Nachfrage an Orchestern gerieten hier auch immer wieder zwei unterschiedliche Referenzsysteme aneinander – das der jeweiligen Konzertorganisation, die dem Auftrag „ideologisch akzeptabler Musik“ verschrieben war, und das des Inhabers der Einrichtung, dessen Erfolg in großen Maße durch Besucherzahlen definiert wurde. Dem Anspruch einer einheitlichen Kulturpolitik im Feld der Musik konnte das Kulturministerium aufgrund anderer Institutionen, die ebenfalls Ensembles 186 Vgl. Tomoff: Creative Union, S. 33. 187 Vgl. Feiertag, Vladimir: Džaz ot Peterburga do Leningrada. St. Petersburg, S. 71 ff.
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unterhielten, kaum gerecht werden. Dazu zählten beispielsweise Orchester an Bahnhöfen oder auf Fährschiffen, die dann respektive dem Transport- oder dem Ministerium für die Binnenschiffsflotte unterstellt waren. Ähnliches lässt sich für die in Kulturhäusern und Klubs angesiedelten Gruppen sagen, die der zentralen Gewerkschaft und dem Komitee für Angelegenheiten der Kulturaufklärungseinrichtungen unterstanden.188 Diese institutionelle Heterogenität blieb trotz weitreichender Reformen Ende der 1950er-Jahre eine unumstößliche Tatsache, der auch das sowjetische Kulturministerium nichts entgegenzustellen hatte. In einem Bericht zur Estrada vom April 1961 machte das Kulturministerium darin eine zentrale Ursache für die Ausbreitung von Stümperei („Chaltura“) aus. „Diese“, so der Bericht, breite sich nicht nur auf dem Hoheitsgebiet des Kulturministeriums aus, sondern auch durch eine Reihe von Organisationen, die dem Ministerium für Kommunikationswege der UdSSR, dem Komitee für Radio und Fernsehen des Ministierrates, dem Verteidigungsministerium und der Allrussischen Blindengesellschaft unterstehen, sowie schöpferische Vereinigungen der Komponisten, Filmemacher und Schriftsteller. Diese unterhalten Künstler, Konzertgruppen und führende Kollektive („vedujuščie kollektivy“), die mit häufig geringer Qualifikation vollkommen selbstständig auf den Tanzplätzen des Landes arbeiten.189
Ausgenommen von diesem Monopol waren außerdem Musiker und Gruppen, die im Rahmen der künstlerischen Laientätigkeit auftraten – einer Kulturform, die in der Chruščevzeit eine enorme politische und materielle Aufwertung erfuhr.190 Die organisatorische Vielstimmigkeit im Konzertwesen blieb bis zum Ende der Sowjetunion bestehen. Selbst in einem der letzten politischen Beschlüsse zum sowjetischen Konzertwesen aus dem Jahr 1986 heißt es, dass „bisher immer noch keine enge Koordination der Kräfte verschiedener Einrichtungen und Organisationen stattfindet, die in der Konzert- und musikalischen Erziehungsarbeit existieren.“191
188 Vgl. Abteilung Wissenschaft und Kultur, „Über die Schwächung der Kontrolle für Inhalt und Qualität der Aufführung des Repertoires der Konzertaufführungseinrichtungen des Landes“. Bericht der Abteilung an den ZK-Sekretär Pospelov, vom 19.05.1953, verfasst von A. Rumjancev, P. Tarasov, B. Jarustovskij, in: Z. K. Vodop’janova (Hg.), Apparat CK KPSS i kul’tura: 1953–1957. Dokumenty. Moskau 2001, S. 86–89. 189 Bericht der Abteilung für musikalische Einrichtungen „Über Zustand und Maßnahmen der Verbesserung der Konzertestradaarbeit im Land“ vom April 1961, RGALI, f.2329, op.3, d.949, l.14. 190 Vgl. Constanzo, Amateur Theatres. 191 Beschluss des ZK der KPdSU und Ministerrat der UdSSR „Über Maßnahmen zur weiteren Verbesserung der Konzerttätigkeit im Land und zur Stärkung der materiellen und technischen Basis der Konzertorganisationen“ vom 10.04.1986 [publiziert in Spravočnik partijnogo rabotnika. Vypusk dvadcat’ sed’moj, Moskau 1987], in: Leonid Maksimenkov (Hg.), Muzyka vmesto
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Zum Aufgabenprofil der Konzertorganisationen zählte weiterhin die Organisation von Konzerten, Gastspielen, Festivals und der musikalischen Vortragstätigkeit im jeweiligen Hoheitsbereich. Hier referierten musikalische Fachleute zu ästhetischen oder historischen Aspekten von Komponisten in der Öffentlichkeit. Die „künstlerische Versorgung der Bevölkerung“ („Chudožestvennoe obsluživanie naselenija“) zählte zur politisch wichtigsten Aufgabe und gleichzeitig zur permanenten Herausforderung, vergegenwärtigt man sich die Topografie der sowjetischen Kultur mit ihrer starken Konzentration auf Moskau und Leningrad. Über die dauerhaft bestehenden Ensembles hinaus stellten die größeren Konzertorganisationen besonders zwischen Mai und September neue musikalische Kollektive zusammen, um diese auf Tourneen in die teils weit abgelegenen Regionen des Landes zu schicken. Mit der Neulandkampagne, die ab 1954 große Mengen an Ressourcen und Menschen in die Gebiete des südlichen Sibiriens und nach Kasachstan lenkte, wurden die politischen Anforderungen an die Organisation zur Bedienung der Peripherie deutlich verstärkt und im politischen Diskurs symbolisch aufgeladen.192 In diesen Kontext ist auch die Gründung von Goskoncert einzuordnen. Neben der „Befriedigung kultureller Bedürfnisse“, die permanent durch ZK und Kulturministerium angemahnt wurden, kann die Arbeit der Konzertorganisation auch als Beitrag zur kulturellen Integration zu einem Sowjetvolk verstanden werden. Diesem Ziel diente besonders der zwischenrepublikanische Austausch („meždurepublikanskij obmen“), der durch die sowjetischen Konzertorganisationen Gastrol’bjuro und Goskoncert zentral und durch die Koordination des Kulturministeriums auch zwischen den Konzertorganisation der einzelnen Republiken regional organisiert werden sollte. Da die Zahl der bestehenden Orchester und Ensembles selten ausreichte, um die Gastspieltätigkeit außerhalb der städtischen Zentren zu bewerkstelligen, mussten Konzertorganisationen neue Ensembles zusammenstellen. Aufgrund klimatischer Faktoren und des Zustands des Transportnetzes konzentrierte sich diese Arbeit auf die Zeit zwischen Mai und Oktober. Dies führte abhängig von der Art der Musik zu permanenten finanziellen und personellen Problemen. Die Konzertorganisationen zeichneten weiterhin auch für die inhaltliche Ausgestaltung der Konzertprogramme und damit auch für die Kontrolle des Repertoires verantwortlich. Besonders im Bereich der Estrada herrschte chronischer Mangel an neuem Material, der in der Presse der Tauwetterzeit offen kritisiert wurde. Bei der Suche nach neuer Unterhaltungsmusik blieben die Leiter der Konzertorganisationen jedoch häufig auf sich gestellt, da nur wenige Mitglieder des Sumbura. Kompository i muzykanty v strane sovetov 1917–1991. Moskau 2013, S. 735–739, hier S. 736. 192 McCauley, Martin: Khrushchev and the Development of Soviet Agriculture. The Virgin Lands Program 1953–1964. New York 1976.
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Komponistenverbands in diesem Genre arbeiteten. Die 1947 erneut angehobenen staatlichen Honorare für Kompositionen reflektierten die musikalische Hierarchie der offiziellen Kulturpolitik. Für Komponisten blieb das Komponieren eines neuen Liedes für die Estrada nicht nur wenig prestigeträchtig, sondern mit Blick auf die Vergütung der Komposition selbst auch finanziell kaum attraktiv.193 Eine ähnliche Konstellation stellte sich zwischen Estrada und legitimen Textproduzenten ein. Der Liedtext als ein semantisch expliziteres Element als die ihm zugrundeliegende Musik stand im Zentrum der Auseinandersetzungen um eine neue sozialistische Estrada und lud eine größere Zahl von Akteuren zur Diskussion ein. Der sowjetische Schriftstellerverband wurde in den Auseinandersetzungen um eine „kämpferische Estrada“ („boevyjaja ėstrada“) beständig für das fehlende Engagement beim Schreiben von Liedtexten kritisiert und zur Mitarbeit in gemeinsamen Kommissionen aufgerufen. Nationale Philharmonien erwarben über die Abteilungen für musikalische Einrichtungen der jeweiligen Kulturministerien neue Stücke und Kompositionen, waren in dieser Politik aber gleichzeitig dem sowjetischen Kulturministerium gegenüber rechenschaftspflichtig.194 Mit exemplarischem Blick auf die Jahrespläne des Estnischen Kulturministeriums wird deutlich, dass ein großer Teil der über einen Vertrag mit einzelnen Komponisten abgewickelten Bestellungen Stücke aus dem Bereich der klassischen Musik und Folklore waren.195 Nur die Hälfte der dem Genre der Estrada zugeordneten Stücke waren Lieder, der Rest Sketche und satirische Stücke. Der Anteil an Unterhaltungsmusik blieb in diesem Entstehungszusammenhang äußerst gering. Abhängig vom Finanzrahmen und Stellenplan unterhielten größere Konzertorganisationen einzelne schöpferische Abteilungen („tvorčeskij otdel“) zur Schaffung neuer Lieder und Programme. Kleineren Organisationen blieb das Warten auf die in der Praxis etablierten Stücke vom Zentrum oder die Selbsthilfe. Besonders mit Blick auf die Estrada vereinten die Konzertorganisationen in der Praxis organisatorische und schöpferische Funktionen; eine Doppelbelastung, die Versuche einer einheitlichen sowjetischen Kulturpolitik für Unterhaltungsmusik immer wieder konterkarierte
193 Vgl. Brief von R. M. Gliėr/A. I. Chačaturjan/Ju. A. Šaporin/V. I. Muradeli an K. E. Vorošilov über neue Tarife für die Bezahlung von Werken sowjetischer Komponisten vom 27.03.1947, Rossiiskij gosudarstvennyj archiv social’no-političeskoj istorij (RGASPI), f.R-5446, op.50, d.4266, l.37, gedruckt in: Leonid Maksimenkov (Hg.), Muzyka vmesto Sumbura. Kompository i muzykanty v strane sovetov 1917–1991. Moskau 2013, S. 254–255. 194 Vgl. Bericht über die „Erfüllung der Staatsbestellungen („Goszakazy“) der Hauptverwaltung für Kunstangelegenheiten des estnischen Kulturministeriums“ an die Hauptverwaltung für musikalische Einrichtungen des sowjetischen Kulturministeriums vom 18.08.1953, ERA, f.R-1797, op.1, d.6(2), l. 37–45. 195 Vgl. ebd.
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und die Verbreitung neuer, vornehmlich westlicher Musikformen in den 1950erund 1960er-Jahren begünstigte. Innerhalb der Kulturministerien unterstand die Kontrolle und Koordination über alle für die Ausführung von Musik relevanten Instanzen der Verwaltung für musikalische Einrichtungen. Erst 1957 fand die Verwaltung nach zahlreichen Reformen in den vier Jahren zuvor ihre endgültige Struktur. 196 Dem Organ für die Durchsetzung der im sowjetischen Kulturministerium getroffenen Beschlüsse oblag es, die Arbeit der verschiedenen Konzertorganisationen zu steuern und die Ausführung von Staatsaufträgen für neue Kompositionen sicherzustellen.197 Die Verwaltung kontrollierte die Verwendung staatlicher Gelder aus den Kulturbudgets der Republiken für die Bestellung von neuen Musikstücken. Diese Praxis wurde im Bezug auf die einzelnen nichtrussischen Republiken explizit als gezielte Förderung der nationalen Kulturen verstanden. Gleichzeitig bestellte die Behörde neue Kompositionen verschiedener Genres, um den Bedarf nach neuen Stücken für die Unterhaltungsmusik zu befriedigen.198 Neben dem Repertoire beschäftigten sich seine Vertreter mit der Koordination musikalischer Propaganda.199 Die Verwaltung stellte im weitesten Sinne die Kommunikation zwischen Konzertwesen und der Spitze des Kulturministeriums sicher. Dazu zählte nicht nur die regelmäßige Einforderung von statistischen Informationen, sondern auch die Verschickung von Listen mit aus dem Repertoire auszuschließenden musikalischen Werken.200 Die anvisierte idealtypische Teilung in künstlerische Zensur (durch Abteilungen der Verwaltung für Musikeinrichtungen) und politische Zensur stieß in der Praxis auf beständige Schwierigkeiten. Umgekehrt verschickten die Verwaltungen einzelner Kulturministerien Listen und Noten jener Stücke aus den Sowjet- und Volksrepubliken, die für die Aufführung empfohlen wurden.201 Darüber hinaus waren die Mitarbeiter verantwortlich für die Organisation von sowjetischen und internationalen Wettbewerben, wie den Tschaikowski Wettbewerb 1956, für die Fragen des Zustands von Musikinstrumenten, aber auch die Schallplattenproduktion. 196 Vgl. Opis Kulturministerium UdSSR RGALI. 197 Vgl. Offene Parteiversammlung der Basisparteiorganisation der Hauptverwaltung für musikalische Einrichtungen vom 30.07.1953, Central’nyj archiv obščestvenno-političeskoj istorii Moskvy (CAOPIM), f.957, op.1, d.15, l.1. 198 Vgl. Offene Parteiversammlung der Basisparteiorganisation der Hauptverwaltung für musikalische Einrichtungen vom 30.07.1953, CAOPIM, f.957, op.1, d.15, l.2. 199 Vgl. Geschlossene Parteiversammlung der Hauptverwaltung für Theater- und Musikeinrichtungen vom 11.01.1957, CAOPIM, f.957, op.1, d.96, l.2. 200 Vgl. ebd. 201 Vgl. Schreiben des Leiters der Abteilung für Musikeinrichtungen des Kulturministeriums der UdSSR Zaven Vartanjan an den Leiter der Verwaltung für Kunstangelegenheiten des Kulturministeriums der Estnischen Sowjetrepublik V. B. Markus vom 22.05.1961, ERA, f.R-1797, op.1, d.482, l.41–43.
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4.2.2 „Aktive und qualifizierte Kader“ – Von der Verwaltung von Künstlern Die Konzertorganisationen sollten eine Reihe von Funktionen erfüllen, die in der westlichen Hemisphäre dem freien Markt oblagen. Ihre Arbeitspraxis erwies sich besonders bei der Anstellung und Vermittlung von Musikern, deren musikalischer Aus- und Weiterbildung sowie in der Frage des Repertoires oftmals als ineffektiv, langsam und widersprüchlich. Dies trat umso deutlicher zu Tage, als die Nachfrage nach Unterhaltung durch die Bevölkerung wuchs, während gleichzeitig die ideologischen Ansprüche an Musik durch die Partei zwischen 1953 und Mitte der 1960er-Jahre neu formuliert wurden und die Interventionsbereitschaft der Partei stieg. Diese Defizite förderten alternative Strukturen, informelle Kontakte und werteten die Rolle von talentierten Einzelpersonen auf. Die Konzertorganisationen sahen sich bei der Rekrutierung von Musikern, deren Zuweisung zu bestimmten Gruppen und Einrichtungen dauerhaft herausgefordert. Die Klage nach Mangel an „talentierten Kadern“ zieht sich daher wie ein roter Faden durch die Beschlüsse und Sitzungsprotokolle des Untersuchungszeitraums. Über die Frage des „Talents“ hingegen stießen durchaus unterschiedliche Vorstellungen aufeinander. Abstrakte Kategorien wie der Grad schulischer und musikalischer Ausbildung, mit denen die Kulturbürokratie die Kaderlage erfasste und kritisierte, waren im konkreten Einzelfall wenig aussagekräftig über die Fähigkeit eines Estradamusikers auf der Bühne. Aus Sicht der Administratoren war die Zahl der verfügbaren Unterhaltungsmusiker bestimmend und die Bedingungen, die ihnen bei den Konzertorganisationen geboten werden konnten. Ein dominantes Thema in den Sitzungen der Parteiorganisationen zu Beginn der 1950er-Jahre war die Überalterung der Kader. Ein Vertreter der Mosėstrada äußerte in einer dieser Diskussion resigniert: „Auch der jugendliche Nachwuchs ist katastrophal zu gering, im Bereich der Satire und Humor faktisch nicht da, als einziger junger Conférencier gilt Romanov und der ist 40 Jahre.“202 Auch ohne absolute Zahlen über Abgänger von Musikschulen oder eingestellte Musiker lassen sich einige Faktoren für den vermeintlichen Nachwuchsmangel ausmachen. Der demografische Einschnitt durch die hohen Kriegsverluste schlug sich auch in den Absolventenzahlen der Universitäten und Konservatorien nieder. Die Studentenschaft für Kunst und Musik wuchs im Vergleich zu allen anderen Fachgebieten im Zeitraum von 1940/41 bis 1950/51 am geringsten von 10.000 auf 14.000, während sich die Zahlen im Bildungssektor oder Bauwesen mehr als verdoppelten.203 Während 202 Geschlossene Parteiversammlung der Mosėstrada vom 24.03.1953, CAOPIM, f.6355, op.1, d.16, l. 22. 203 Vgl. Hildemeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 1180.
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im Feld der klassischen Musik ein dicht ausgebautes Netz an Musikschulen und Konservatorien existierte, gab es zu Beginn der 1950er-Jahre weder eine dezidierte Ausbildungsstätte für die Estrada noch etwaige Studiengänge und kaum Spezialisierungsklassen. Dies ist nicht nur für spezifische musikalische Techniken relevant, die für das Spielen von Unterhaltungsmusik wichtig sind. In einem auf Ausbildung und Abschlussort orientierten kulturellen Referenzsystem trug dies auch zum sozialen Ansehen der Musiker bei. Eine Karriere in der klassischen Musik galt für die meisten Nachwuchsmusiker als prestigeträchtiger als eine in der Unterhaltungsmusik.204 Um die Musiker mit einem Abschluss entbrannte häufig ein Konkurrenzkampf zwischen verschiedenen Einrichtungen. Gennadij Gel’man, Leiter der Abteilung für musikalische Ensembles OMA in Moskau, konstatierte bei einer Versammlung im Frühjahr 1953, dass es einen erheblich Versorgungsengpass an Musikern gebe, die hauptsächlich aus Musikschulen rekrutiert würden.205 Viele dieser studentischen Musiker, so Gel’man weiter, betrachteten die Arbeit bei der Mosėstrada allerdings nur als Übergangsstation auf dem Weg zu einer besseren Einstellung. „Das [Kultur-] Ministerium“, so Gel’man, „muss uns Instrumentalisten und Vokalisten reservieren, sonst geraten wir in eine Sackgasse.“206 Teilnehmer dieser Versammlung diskutierten die Erfüllung eines Beschlusses des Moskauer Stadtparteikomitees von 1952, in dem eine Säuberung des Repertoires der Organisation und „unfähiger Musiker“ gefordert wurde. Jene periodisch wiederkehrenden Repertoire- und Künstlersäuberungen führten den Mitarbeitern das Kaderdilemma deutlich vor Augen. Ein weiterer Teilnehmer stellte fest, dass das Kulturministerium in viele Entlassungsentscheidungen der Organisation interveniert habe und eine Reihe von vermeintlich schlechten und untalentierten Künstlern eine Wiedereinstellung in anderen Organisationen erhielt oder diese an den Zirkus weitervermittelt wurden.207 Auch wenn es gelang, einen als talentiert geltenden Studenten oder Aspiranten zur Arbeit zu gewinnen, blieben dessen Einsatzmöglichkeiten zunächst auf die Stadtgrenzen beschränkt. Das Kulturministerium hatte bis Mitte der 1950er-Jahre dieser Gruppe zum Leidwesen der Konzertorganisationen einen Gastspieleinsatz verboten, um eine zu starke Belastung während der Ausbildung zu vermeiden.208 Verschiedentlich artikulierten Mitarbeiter der Mosėstrada die Sorge, bei dem Kampf um die besten Musiker ins Hintertreffen zu geraten. Ein befürchteter 204 Vgl. für die Prestigefrage in den 1930er-Jahren: Jelagin, Zähmung der Künste. 205 Geschlossene Parteiversammlung der Mosėstrada vom 24.03.1953, CAOPIM, f.6355, op.1, d.16, l.36. 206 ebd. 207 Vgl. ebd. l.22. 208 Parteiversammlung von Gastrol’bjuro vom 07.07.1954, GARF, f.957, op.1, d.41, l.3.
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Prestigeverlust der Organisation entstehe, wenn bei ihr all jene anfangen würden, die „woanders nichts finden würden“209. Diese hohe Fluktuation von Musikern musste sich auf die Stabilität von kleineren Kollektiven und Orchestern auswirken.210 Eklatante Lohndifferenzen innerhalb der Konzertorganisationen verschärften diese Entwicklung. „Die Musiker“, so der Leiter der VGKO Kadomcev 1963, „rennen dahin, wo das schnelle Geld zu machen ist.“ Die Abteilung für Kinos und Restaurants bot den Musikern mehr Geld, als die Instrumentalabteilung bieten konnte.211 Für Musiker, die aus anderen Städten und der Peripherie nach Moskau kamen, entschied nicht allein das Gehalt über die Wahl des Arbeitgebers. Schon die Chance auf Erhalt eines Propusks für das Stadtgebiet konnte entscheidend sein.212 Abgesehen vom Personalmangel erschwerte die Intervention der Abteilung für musikalische Einrichtungen und des Kulturministeriums den Administratoren eine effiziente Beschäftigungspolitik. Dieses stellte durch direkte Erlasse einzelne Musiker ein, wies sie anderen Orchestern zu oder zog Künstler von angesagten Konzerten ab, damit diese vor politischer Prominenz in der Abgeschiedenheit eines Datschenbezirks ein Regierungskonzert gaben.213 Zahlen für die VGKO des Jahres 1958 geben einen Anhaltspunkt zur Frage von Alter und Qualifikation der Künstler im Estradabereich. Von 1590 Mitgliedern der VGKO Moskau waren 390 über 50 Jahre alt. 420 von ihnen hatten höhere Bildung, während 1110 nicht einmal über mittlere Bildung verfügten.214 In Leningrad hatten von 1208 Künstlern 488 einen höheren Bildungsabschluss inne, während 720 keinerlei Spezialausbildungen vorweisen konnten. Ein beachtlicher Teil dieser Musiker entsprach also kaum den offiziellen Erwartungen des Kulturministeriums. Der Anteil von Künstlern mit musikalischer Spezialausbildung besserte sich bis in die 1960er-Jahre deutlich, entsprach jedoch mit 75 Prozent immer noch nicht den parteilichen Erwartungen an das Konzertwesen.215
209 Vgl. Parteiversammlung Mosėstrada 24.03.1953, l.35. 210 Vgl. Beschluss der Rechenschafts- und Wahlversammlung der Parteiversammlung der VGKO vom 16.01.1961, CAOPIM, f.6355, op.1, d.27, l.78. 211 Vgl. Kadomcev auf der geschlossenen Parteiversammlung zum Thema „Bilanz des Juniplenums und die Aufgaben für die Parteiorganisation der VGKO“ [o. D.] (vermutlich August 1963), CAOPIM, f.6355, op.1, d.36, l.163. 212 Vgl. Parteiversammlung Mosėstrada 24.03.1953, l.36. 213 Vgl. Gen. Gerzon, Geschlossenen Parteiversammlung vom 19.07.1956, CAOPIM, f.6355, op.1, d.22, l.21–25, hier l.22. 214 Vgl. Tarasov an den Kulturminister der RSFSR A. I. Popov „Bericht über Zustand und Maßnahmen der weiteren Entwicklung von Theater-, Musik- und bildender Kunst in der RSFSR“, GARF, f.A-501, op.1, d.2403, l.46–86, hier l.82. 215 Vgl. Beschluss des Ministerrates der RSFSR, Nr. 1182 vom 16.09.1964 „Über Maßnahmen zur Verbesserung der Organisation der Konzertarbeit in der RSFSR“.
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Welche materiellen und sozialen Bedingungen mussten die Instanzen der Konzertorganisationen einem Musiker also bieten? Gewannen diese als Regulationswerkzeug für die kulturelle Produktion an Relevanz? Die Einstellung von Musikern erfolgte über ein Tarif- und Kategoriensystem, in dem Bezahlung und Arbeitsnormen in ein Verhältnis zur vermeintlichen „Qualifikation“ des Musikers gesetzt wurden. Diese Qualifikation wurde durch eine Kommission bestimmt, die den Musiker dann in eine von vier Kategorien seines Genres und Instrumentes einteilte. Die jeweilige Kategorie entschied über das Gehalt und die Zahl der monatlichen Auftritte. Neben diesen festen Stellen („Štatnoe raspisanie“) existierte die Form von direkten Vertragsbeziehungen zwischen einem Musiker und einer kulturellen Organisation (darunter den Konzertorganisationen). Weiterhin gab es die Möglichkeit, Musiker über einen Zweitvertrag für ein bestimmtes Programm einzusetzen („Sovmestitel’“)216. Diese Form kam besonders bei der Organisation von Gastspielgruppen zur Anwendung, die sich häufig auf einen bestimmten Zeitraum im Sommer konzentrierte. Alle drei Formen von Arbeitsbeziehungen zwischen Künstler und Staat unterlagen zwischen 1953 und 1968 verschiedenen Reformen. Auf die Qualifikation der Musiker, die Ausweitung der Konzerttätigkeit, aber auch die Ökonomisierung des Konzertwesens selbst hatten sie großen Einfluss. Bereits Ende der 1930er-Jahre entstand durch eine Reihe von Ministerratsbeschlüssen die Grundlage jenes Stellensystems, das aber bis in die 1950er-Jahre nicht flächendeckend etabliert werden konnte.217 In einzelnen Gebieten der Sowjetunion existierten unterschiedliche Gehaltssätze, während zahlreiche temporäre Verfügungen des KDI die Heterogenität weiter vergrößerten. Aus Sicht der zentralen Kulturbehörden lag in dieser Heterogenität von Gehaltsregelungen die Ursache überbordender Kosten. Ein Erlass des KDI vom 5. März 1953 begründete die pauschale Kürzung der Gehälter und Vertragssummen von Musikern der Leningrader Konzertorganisationen damit, dass eine „willkürliche Auslegung dieser Erlasse und eine künstliche Erhöhung der vorgesehenen Lohnstufen“218 zu verhindern seien, da viele Konzertmusiker in keinerlei Kategorie eingestuft seien und unsystematisch auf Basis verschiedener zeitlich befristeter Sätze bezahlt würden, die teilweise schon stark veraltet waren.
216 Vgl. Teplova, N. A.: Sovetskogo pravo, učebnik dlja ėkonomičeskich special’nostej. Moskau 1987, S. 327; Šiškin, Valdimir V.: Kategorija „Sovmestiel’stvo“, ee suščnost’ i sootvetsvie obščepravovam principam pravogo regulirovanieja, [http://e-notabene.ru/lr/article_804.html, letzter Zugriff: 27.04.2018]. 217 Vgl. „Erlass des Komitees für Kunstangelegenheiten (KDI) zu den Kategorien vom 08.08.1940“; „Erlass des KDI über die Auftrittsnormen von Künstlern vom 12.12.1940“, zit. nach Erlass des KDI 752 vom 16.12.1940, ERA, f.R-1797, op.1, d.6(2), l.22. 218 Vgl. Erlass des KDI vom 05.03.1953, ERA, f.R-1797, op.1, d.6(2), l.46.ebd.
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Während das KDI in Moskau nach einer unionsweiten Vereinheitlichung und Kontrolle des Stellensystem strebte, um Lohnkosten zu deckeln, gaben diese kurzfristigen Arbeitsverhältnisse mit Künstlern außerhalb des Stellenplans den Leitern lokaler Konzertorganisationen eben jenen dringend benötigten Spielraum, um den Plananforderungen nach Auftrittsnormen gerecht zu werden. In einem Erlass des KDI vom 12. März 1953 wurden die ehemaligen Leiter der Philharmonie des Leningrader Oblasts L. I. Žukov und V. G. Grigorev kritisiert, da sie mit einer Reihe von Kinokünstlern, Komponisten und Musikern Konzerte auf Vertragsbasis organisiert hatten.219 Verträge, so das Schreiben, seien illegal zu überhöhten Sätzen oder für einen Anteil von 50 Prozent an den Konzerteinnahmen vergolten worden. Die Programme haben nicht nur „berechtigte Proteste der Öffentlichkeit und der Presse“ hervorgerufen, sondern dem Staat einen Schaden von mehr als 100.000 Rubel verursacht. Diesen hohen Ausgaben für einzelne Künstler würden jene Kosten gegenüberstehen, welche die Künstler auf festen Stellen und langen Verträgen durch ihren Arbeitsausfall verursachten.220 Dem Direktor des Konzert-Estradabüro im Pskover Oblast Sokol wurde vorgeworfen, entgegen dem Erlass des KDI vom 16. Dezember 1940 nicht einzelne Künstler, sondern ganze Brigaden vertraglich verpflichtet zu haben, deren Leiter „private Unternehmer sind“ und von einer Philharmonie zur nächsten ziehen würden.221 Dies sei nicht über das Budget von Stellenplan und Verträgen, sondern nach „haushaltsunabhängigen Bedingungen“222 geschehen. Für diese Praxis, nach der 1952 insgesamt 10 dieser wandernden Konzertbrigaden für kurze Zeiträume eingestellt wurden, erhielten die Leiter des Büros zwar eine strenge Verwarnung. Das Ausbleiben schärferer Maßnahmen kann jedoch als Anerkennung der prinzipiellen Notwendigkeit solcher Arrangements für den lokalen Kulturbetrieb gelesen werden. Im selben Jahr begann das sowjetische Kulturministerium mit einer Überarbeitung und Erweiterung der Auftritts- und Bezahlungsnormen für Künstler aus dem Jahr 1940. In diesen Prozess wurden auch die Ministerien der Republiken mit der Bitte um Kommentare und Kritik eingezogen.223 Bis zur endgültigen Umsetzung sollte es jedoch noch bis 1957 dauern. Das Ziel war es, die monatlichen Gehaltssätze 219 Vgl. Erlass des KDI beim Ministerrat der UdSSR Nr. 260 vom 11.03.1953, ERA, Ma, f.R-1797, op.1, d.6(2), l.22–25. 220 ebd. l.23. 221 Vgl. Erlass des KDI beim Ministerrat der UdSSR Nr. 284 vom 15.03.1953, ERA, f.R-1797, op.1, d.6(2), l.26–29. 222 ebd. 223 Vgl. Schreiben des stellvertretenden Leiters der Plan- und Wirtschaftskommission des KM UdSSR A. Antonenko an den Kulturminister der ESSR A. Ja. Ansberg vom 10.08.1953 mit dem „Projekt über Auftrittsnormen und Bezahlungen für Künstler, die auf Konzerten und Gastspieltourneen auftreten“, ERA, f.R-1797, op.1, d.6(5), l.25–33.
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und Auftrittsnormen der Künstler zu formalisieren sowie die einmaligen Gehaltssätze für Künstler mit Zweitvertrag („Sovmestitel‘“) festzusetzen. Vier geschaffene Kategorien bestimmten nun monatliche Bezahlung und Auftrittsnorm eines Dickichts verschiedener Künstlergruppen – „Vokalisten“, „Instrumentalisten“, „Ballettkünstler“, „Künstler des Sprechgenres“, „Künstler des originalen Genres“224, „Künstler des Sportgenres“, „Musiker von Kammerensembles“, „Leiter und Organisatoren von Konzerten“ sowie „Konzertmeister und Begleiter“. Finanziell unterschied sich die höchste Kategorie deutlich von den darunterliegenden – während sich das Gehalt um jeweils ca. 20 bis 30 Prozent pro Aufstieg in die nächste Kategorie erhöhte, stieg es zwischen „erster“ und „höchste“ Kategorie um teilweise 50 Prozent. Auch die sprachliche Unterschiedung von „erster“ und „höchster“ Kategorie untermauerte symbolisch diese Differenz. Bei der Bezahlung der „Sovmestitel‘“ räumte die Ordnung den Konzertorganisationen einen gewissen Spielraum in der Bezahlung des Künstlers in Abhängigkeit von Schwierigkeit des Konzerts, Örtlichkeit und anderer Faktoren ein. Für die Gehaltssätze in jeder Kategorie bestand ein Spielraum von bis zu 100 Rubeln.225 Die Höhe der Zahlungen eines Estradasängers (I. Kategorie: 350–450 R, II. Kategorie: 200–300 R) relativierte sich jedoch dadurch, dass alle Zeiten für Proben und Vorbereitungen der Auftritte in der Bezahlung bereits enthalten waren, sich diese Beschäftigungsform für den einzelnen Musiker also erst mit jedem weiteren Auftritt zu rentieren begann. Weiterhin schloss das Reglement ein solches befristetes Engagement für die „zweite“ und „dritte“ Kategorie aus, obwohl gerade im Estradabereich hier die Masse der Künstler eingestuft wurde. Unterhaltungsmusiker standen auch in dieser Neuregelung am unteren Ende der kulturellen Hierarchie. Als „Estradakünstler“ galten vornehmlich Vokalisten und Künstler des Sprechgenres, während ein Großteil der Kategorien von Instrumentalisten auf klassische Musik (Kantaten, Oratorien, Opern) ausgerichtet war. Die Autoren der Verordnung betonten schließlich, dass „die für die Estradakünstler vorgesehenen Gehälter (…) nur auf jene führenden Künstler angewandt [werden], die durch ihr künstlerisches Können, Repertoire und die Besonderheit ihres Genres einen zentralen Platz in der Estradavorstellung, im Estrada- und Puppentheater, im Estradaensemble und -kollektiv (darunter auch Musiker) und im gemischten Estradaprogramm einnehmen. […] Eine Bezahlung nach der vorliegenden Regelung“, so die Verordnung, sei erst möglich, 224 Eine genaue Entsprechung in der deutschen Musikkultur gibt es nicht. Zum Originalen Genre gehören Zirkusnummern, Sketche und alle Arten kleinerer Zaubernummern. Makarov nennt „bei allen unterschiedlichen Elementen der einzelnen Nummern“ das Kunststück („Trjuk“) als gemeinsames Ausdruckmittel. Vgl. Makarov, S.: Original’nyj žanr na ėstrade, in: O. A. Kuznecova (Hg.), Ėstrada segodnja i včera. O nekotorych ėstradnych žanrach XX. i XXI. Vekov. Moskau 2010, S. 128–148, hier S. 128. 225 Vgl. Antonenko, Projekt Auftrittsnormen, l.28–29.
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„wenn die Gesamtdauer des Auftritts dieser Künstler auf der Bühne während einer oder mehrerer Teile des Programms nicht weniger als 25 Minuten ausmacht.“226 Um Anreize für die Gastspieltätigkeit der Musiker zu erhöhen, räumte die Verordnung eine Erhöhung der Einzelgehälter von 25 bis 75 Prozent bei Gastspielen ein, jedoch nicht für jene Musiker, deren eigentliche Konzertorganisation für die Bedienung des jeweiligen Gebietes, in dem die Tournee stattfand, zuständig war.227 Was der Reform jedoch gänzlich fehlte, waren negative Sanktionen gegenüber Musikern, die sich dieser politisch forcierten Aufgabe verweigerten. Die Tatsache, dass Künstler zwar ihr Arbeitsgehalt nach der Zahl der Auftritte erhielten, dieses jedoch nicht weniger als ¾ des Monatslohns betragen durfte, bot wenig Anreize für Weiterqualifikation oder übermäßiges Engagement bei Gastspielen.228 Vielmehr verstetigte dies die Rolle der Organisationen als Sozialverband. Entgegen der institutionellen Vielfalt proklamierte das Kulturministerium abschließend seinen Monopolanspruch auf den Musikmarkt, indem festgelegt wurde, dass „die Einladung von Künstlern zu Auftritten bei Konzerten und Vorstellungen und ihre Bezahlung durch staatliche, kooperative und gesellschaftliche Einrichtungen, Instanzen und Organisationen ausschließlich durch Einrichtungen des Systems des sowjetischen Kulturministerium“229 durchzuführen sei. Während das Kategorien-System Künstler anhand ihres Könnens, aber auch ihrer politischen Eignung in eine Hierarchie von Einkommen und Arbeitsnormen klassifizierte, herrschte über Mechanismen zum Auf- oder Abstieg zwischen den Einstufungen bis Mitte der 1950er-Jahre vielerorts Unklarheit. Das estnische Kulturministerium erkundigte sich 1953 nach der grundlegenden Frage des Kategorienwechsels von Musikern, die zuvor bereits in die dritte Kategorie eingestuft waren, seither aber das Konservatorium abgeschlossen hatten, und solchen, die „gegenwärtig nicht mehr den Anforderungen entsprechen“230 würden. Die Hauptverwaltung für musikalische Einrichtungen GUMU aus Moskau verwies in ihrer Antwort auf die unterschiedlichen behördlichen Zuständigkeiten für die verschiedenen Kategorien. Die dritte Kategorie wurde durch Kommissionen der örtlichen Verwaltungen und Direktoren der Konzertorganisationen vergeben, die zweite Kategorie nur durch das Kulturministerium der jeweiligen Republiken, während über die Vergabe der ersten und höchsten Kategorie ausschließlich das Kulturministerium in Moskau
226 227 228 229 230
ebd. l.30. Vgl. ebd. Vgl. ebd.l.32. ebd. l.32–33. Leiter der Hauptverwaltung für Kunstangelegenheiten des Kulturministeriums der ESSR, L. Rajala an den Leiter der Hauptverwaltung für musikalische Einrichtungen der Hauptverwaltung für Kunstangelegenheiten der UdSSR, Cholodilin, vom 25.09.1953, ERA, f.R-1797, op.1, d.6(5), l.64.
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entschied.231 Dieses System sicherte nicht nur die nötige ideologische Kontrolle über sowjetische Musiker, sondern offenbarte eine relative Autonomie der Republiken gegenüber Moskau. Die Reformen der 1950er-Jahre verfestigten die Rolle des Abschlusses an einer anerkannten musikalischen Ausbildungseinrichtung für den Aufstieg innerhalb des Systems. Sie ließen aufgrund des akuten Nachwuchsproblems und des Mangels an Ausbildungseinrichtungen in der Estrada aber auch Raum für die Möglichkeit, durch die erfolgreiche Teilnahme an offiziellen Estrada-Wettbewerben Musiker hochzustufen.232 Im Rahmen einer Neu-Tarifizierung 1956, mit der alle bisherigen Einstufungen ungültig erklärt wurden, erging am 17. Juli eine Anweisung des Kulturministeriums über die Modalitäten der Neueinstellung von Schauspielern und Musikern.233 Neu angestellte Künstler in Konzertorganisationen, die eine höhere Theater-, Musikoder Choreografieschule besucht hatten, durften von nun an nicht niedriger als in die II. oder III. Kategorie eingestuft werden. Jene Musiker jedoch, die erneut bei einer Konzertorganisation arbeiten wollten, jedoch nicht tarifiziert waren oder nicht über eine musikalische Ausbildung verfügten, wurden pauschal in die III. Kategorie eingestuft.234 Während die Kulturministerien der Republiken nun vollkommene Autonomie bei der Einstufung von Schauspielern erhielten, blieb das Recht zur Einstufung von Musikern in die höchste Kategorie in Moskau.235 Die Reaktion und Intervention Moskaus in die Ergebnisse der Neutarifizierung in einigen Republiken zeigen, dass die Zentrale besonders Wert auf den Erhalt einer proportionalen Verteilung und damit des Prestiges der Kategorien selbst legte. Aber auch das Risiko steigender finanzieller Belastung der Konzertorganisationen und die Wirkung der Lohndifferenzen auf die Musiker selbst machten den Eingriff Moskaus in diese Neutarifizierung unumgänglich. Deren Ergebnisse in der Estnischen SSR wurden vom sowjetischen Kulturministerium mit der Begründung abgelehnt, dass eine „massenhafte Erhöhung der Gehälter [44 von 50 geprüften Musikern wurden in eine höhere Kategorie erhoben – M. A.] […] zu einer noch größeren Diskrepanz
231 Vgl. Schreiben des Leiters der Hauptverwaltung für musikalische Einrichtungen der UdSSR Cholodilin an Leiter der Hauptverwaltung für Kunstangelegenheiten des Kulturministeriums der ESSR, L. Rajala vom 05.11.1953, ERA, f.R-1797, op.1, d.6(5), l.63. 232 Vgl. Schreiben des stellvertretenden Leiters der Abteilung für Musikeinrichtungen des B. Vladimirskij an den Leiter der Verwaltung für Kunstangelegenheiten der ESSR Markus vom 29.04.1958, ERA, f.R-1797, op.1, 340, l.30. 233 Stellvertretender Kulturminister der UdSSR V. Pachomov an die Kulturminister der Unionsrepubliken, die Leiter der Kreis-, Bezirks- und Stadtkulturverwaltungen und die Direktoren der Theater und Konzertorganisation vom 17.07.1957, ERA, f.R-1797, op.1, d.298, l.85–86. 234 Vgl. ebd. Leiter von Theatern und Konzertorganisationen hatten innerhalb der folgenden sechs Monate alle noch ausstehenden Künstler ihrer Einrichtung zu tarifizieren. 235 Vgl. ebd. l.86.
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in den Gehältern aller Musiker […], zu einer Verteuerung der Konzerte und einem unvertretbaren Fondsverzehr der Gehälter“236 führen würde. In der täglichen Praxis des Unterhaltungsbetriebs zeigte das starre System von Kategorien erwartbare Probleme. Die Berücksichtigung der Beherrschung mehrerer meist typenähnlicher Instrumente – nicht unüblich für die Unterhaltungsmusik – erforderte von Seiten des Musikers oder Orchesterleiters nun zunächst ausgiebigen Briefverkehr mit Vertretern der Kulturbürokratie. Der Anfrage eines estnischen Musikers, der sowohl Gitarre als auch Balalaika im Konzertbetrieb spielte, gestand die Verwaltung in Moskau einen zusätzlichen Aufschlag von 15–30 Prozent „in Abhängigkeit von der künstlerischen Qualität und der Schwierigkeit des Spiels auf dem entsprechenden Instrument“237 zu. Ein Dirigent eines Estradaorchesters, der ein Trompetensolo spielte – zu denken wäre hier an Eddi Rosner –, hatte wiederum nicht das Anrecht auf zusätzliche Bezahlung.238 Ebenfalls erschwerend wirkte sich die Trennung von Solisten und „Begleitern“ aus, für die unterschiedliche Gehaltslisten existierten.239 Diese Trennung erwies sich in der musikalischen Praxis der Unterhaltungsmusik als schwierig, für die musikalische Praxis des Jazz als nahezu unmöglich. Die bereits 1940 erstmals festgelegten Auftrittsnormen für staatliche Musikkollektive konnten sowohl auf lokaler als auch auf republikanischer Ebene häufig kaum umgesetzt werden. Orchester, Ensembles und Solisten in fast allen Republiken erfüllten die festgesetzten hohen Auftrittsnormen nicht.240 Aus der monatlichen Auftrittsnorm von durchschnittlich 15 Auftritten ergaben sich bis zu 180 Auftritte im Jahr, die viele, unter ihnen auch prestigeträchtige Kollektive, um 30 bis 40 Auftritte verfehlten. Innerhalb der republikanischen Kulturverwaltung erschien die Sorge um eine „Verringerung der Einnahmen und eine Erhöhung der Zuschüsse für die Unterhaltung der Ensembles“ häufig ausprägter als die vor einer möglichen Verschlechterung der kulturellen Versorgung der Bevölkerung. Hohe Auftrittsnormen 236 Stellvertretender Kulturminister der UdSSR V. Pachomov an den Kulturminister der ESSR A. Ja. Ansberg vom 18.07.1957, ERA, f.R-1797, op.1, d.298, l.89. 237 Leiter der Plan- und Finanzabteilung der Hauptverwaltung für musikalische Einrichtungen des KM UdSSR, I. Os’kin an die Verwaltung für Kunstangelegenheiten des estnischen Kulturministeriums vom 30.06.1955, ERA, f.R-1797, op.1, d.213, l.34. 238 Vgl. Leiter der Plan- und Finanzabteilung der Hauptverwaltung für musikalische Einrichtungen des KM UdSSR, I. Os’kin an den Leiter der Verwaltung für Kunstangelegenheiten Syber vom 24.08.1957, ERA, f.R-1797, op.1, d.298, l.85–86. 239 Leiter der Hauptverwaltung für Theater und Musikeinrichtungen Kabakov und Vorsitzender des ZK der Gewerkschaft der Kulturarbeiter B. Ržanov an die Kulturministerien der Republiken und die republikanischen, Gebiets- und Bezirkskomitees der Gewerkschaft der Kunstarbeiter vom 02.11.1956., ERA, f.R-1797, op.1, d.253, l.179. 240 Stellvertretender Leiter der Hauptverwaltung für Theater und Musikeinrichtungen V. Golov an die Kulturministerien der Sowjetrepubliken vom 05.03.1956, ERA, f.R-1797, op.1, d.253, l.31.
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setzten also nicht nur Musiker unter Druck, sondern stellten einen Teil der Berechnungsgrundlage eines wirtschaftlichen Plans, der wiederum aufgrund der hohen Anforderungen häufig nicht erfüllt werden konnte. Die 1960 festgesetzten Arbeitsnormen von Musikkollektiven als Beispiel für dieses kulturelle Planungsdenken lassen die vorherrschende kulturelle Hierarchie einzelner Genres erkennen, in der Estrada- und Jazzorchester deutlich höhere Höchstsätze hatten als beispielsweise symphonische Musik. Typ des Orchesters 1. Symphonisches Orchester 2. Chorensemble/- kapelle 3. Lied- und Tanzensemble 4. Volkschor 5. Vokal-musikalisches Kollektiv/Kapelle mit Banduraspielern 6. Orchester mit Volksinstrumenten 7. Choreografische- und Tanzkollektive 8. Konzertestradaorchester und Jazzorchester 9. Blasorchester 10. Orchester, die Kinotheater, Restaurants, Cafés und Tanzplätze bedienen
Höchstzahl der Auftritte im Monat 14 14 19 18 16 17 15 19 18 Nach Zahl der Arbeitstage im Monat
Tabelle 2: Auftrittsnormen sowjetischer Ensemble verschiedener Genre 1960. (Quelle: Auftrittsnormen von Künstlern und Dirigenten und Normen von Ballettmeistern in musikalischen Kollektiven, Anlage zum Erlass Nr. 656 des Kulturministeriums der UdSSR vom 31.12.1960, RGALI, f.2948, op.1, d.14, l.25–28)
Während der geringere Teil der Musiker durch Erhalt der höchsten zwei Kategorien ein relativ hohes Einkommen erreichen konnte, unterschieden sich die Gehälter und Auftrittsnormen der Masse an Musikern (und Estradakünstlern) deutlich. Estradamusiker einer etablierten Einrichtung konnten im Einzelfall ein relativ gutes Gehalt erreichen. Die zehnköpfige Estradagruppe des Hauses der Flottenoffiziere in Tallinn wurde nach Bitte um Tarifizierung in die dritte Kategorie 1954 eingeteilt, nach der jeder Musiker pro Abend 50 Rubel erhielt.241 Bei zwei bis drei festen Auftritten pro Woche als Hausmusiker einer zentralen sowjetischen Institution ergab sich so ein Monatseinkommen von 400 bis 600 Rubel, das über dem Durchschnittslohn eines Arbeiters und dem der meisten Estradamusiker lag. Nicht selten jedoch wurden die monatlichen Gehälter gar nicht oder nur mit Verspätung 241 Vgl. Stellvertretender Leiter der Verwaltung für Kunstangelegenheiten des Kulturministeriums der ESSR V. Akinfiev an den Leiter des Tallinner Hauses der Flottenoffiziere Krasnoperov vom 12.03.1954, ERA, f.R-1797, op.1, d.161, l.21.
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ausgezahlt. Die hohen Auftrittsnormen wiederum konnten kaum spurlos an der Entwicklung junger Künstler vorbeiziehen, deren mangelnde Qualifikation beständig moniert wurde. Eine Mitarbeiterin der Mosėstrada fragte 1953 pointiert, „ob man eine schöpferische Persönlichkeit mit acht Auftritten am Tag erhalten“ 242 könne. Unter diesen Umständen nutzten viele Estradamusiker jede vom System und der Schattenwirtschaft gebotene Möglichkeit, ihr meist spärliches Einkommen zu erhöhen. Musikalische Überarbeitungen eines existierenden Stückes vergütete das sowjetische nach Anzahl der darain enthaltenden Takte. Mit der Änderung der Taktart von einem 6/8- zu einem 3/4-Takt verdoppelte der findige Musiker die resultierenden Auszahlungen.243 Ein Dauerthema in den Parteizellen der Konzertorganisationen war die missbräuchliche Auslegung bestehender Amortisierungssätze für Instrumente und Requisiten durch die Musiker, die sich daran zusätzlich bereicherten.244 Deren wichtigste zusätzliche Einnahmequelle jedoch waren illegale Konzerte. Unter Zeitgenossen herrschte allerdings kaum Konsens darüber, was diese außer dem Fehlen ideologisch-künstlerischer Kontrolle eigentlich ausmachte. Ausrichter solcher Konzerte waren nicht fest angestellte Organisatoren der Konzertorganisationen oder aber deren Leiter selbst, der damit gegen die prekäre Finanzlage ankämpfte. Illegale Konzerte waren somit mehr als ausschließlich Veranstaltungen, bei denen der Staat keinen Gewinn machte.245 In der Praxis konnte schon der Teil einer Veranstaltung, in dem nicht vorher genehmigtes Repertoire gespielt wurde, als illegales Konzert gelten. Unter den Mitarbeitern der Konzertorganisationen herrschte durchaus ein Bewusstsein über den Zusammenhang von den teils geringen Verdienstmöglichkeiten für Musiker der unteren Kategorien und der Praxis, nach dem eigentlichen Auftritt auf eigene Rechnung weiterzuspielen.246 In der Führungsebene trafen verschiedene Ansichten aufeinander. Einige Funktionäre verstanden die Musiker vornehmlich als Teil der großen Gruppe sowjetischer Künstler, deren ideologisches Wirken für die Partei materiell grundlegend ähnlich abgesichert sein sollte. Diese Strömung gewann meist dann Oberhand, wenn Beschlüsse des Zentralkomitees zu mehr ideologischer Wachsamkeit gegenüber westlichen Einflüssen oder falsch verstandenen Interpretation des Wesens der sozialistischen Gesellschaft aufriefen. 242 Offene Parteiversammlung Mosėstrada vom 8.7.1953, CAOPIM, f.6355, op.1, d.16, l.69/70. 243 Vgl. ebd., l.71. 244 Vgl. Bestimmung über die Kompensation zur Abnutzung von Instrumenten, 24.05.1955, ERA, f.R-1797, op.1, d.213, l.46–50. 245 Vgl. Kazakov, Fedor: Skandaly sovetskoj ėpochi. Zvezdy zažigali, vlast’ gasila. Moskau 2008, S. 47. 246 Vgl. Offenen Parteiversammlung der Leningrader Abteilung der VGKO vom 29.03.1957, Central’nyj gosudarstvennyj archiv istoriko-političeskich dokumentov Sankt-Peterburga (CGAIPD SPb), f.771, op.6, d.4, l.10–15, hier l.14.
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Der Funktionär Tarakanov kritisierte auf einer Parteiversammlung im Juli 1956 den zu materialistischen Geist vieler Kollektive, die sich nicht als „Kunstträger zu den Massen“ sehen, sondern geleitet seien von persönlichen Interessen und materiellem Gewinn.247 Jene egalitaristische Argumentation, die den Künstler als bescheidenen Helfer beim sozialistischen Aufbau imaginierte, konnte in verschiedenen Kontexten bedient werden. Dazu zählten Situationen, in denen hohe Gehälter und Privilegien einzelner Kollektive den Neid anderer Musiker hervorriefen oder – wie im Fall der Jazzorchester von Eddi Rosner und Oleg Lundstrem – eine massive Ablehnung der erfolgreichen Musik dahinterstand. Eine andere, pragmatischere Ansicht verfochten Funktionäre, die den Zusammenhang von Arbeitsbelastung, Gehalt und Motivation eines Musikers realistischer einschätzten und sich der Folgen für die Arbeit der Organisationen bewusst waren. Unverblümt sprach der Abteilungsleiter Lobanov auf jener Sitzung im Juli 1956 von der Stimmung unter den Musikern, nachdem das Kulturministerium die Auftrittsnormen erhöht hatte. „In dieser Situation“, so Lobanov, „würden Musiker im Ausland in einen Streik treten, aber unsere Organisation bleibt vollkommen ruhig […] Die Arbeit vieler Musiker“, so der Redner wenig später, würde „dadurch auf einfaches Handwerk reduziert“ werden.248 Die Personal- und Rekrutierungspolitik des staatlichen Konzertwesens in den 1950er-Jahren erwies sich als schwerfällig. Ein Planstellensystem für Künstler, das im Konzertwesen wie auch im Theater Verwendung fand, ist per se kein Spezifikum sozialistischer Kulturpolitik. Auch größere Konzerthäuser und Theater im westlichen Europa verfügten und verfügen über ähnliche Systeme. Während die Etablierung im Theaterbereich ihre Berechtigung aus langen Probenzeiten und einer durchschnittlich hohen Zahl an Schauspielern und Statisten zieht, führte es im Bereich der sowjetischen Konzertorganisationen zu einer Reihe von Schwierigkeiten im Bereich der Finanzierung und dem politischen Ziel der Ausweitung der Konzerttätigkeit. Sowjetische Unterhaltungsmusik war vor allem eine saisonale Kunstform, da die meisten der städtischen Bühnen und Parks nur zwischen Mai und September zu bespielen waren, hier aber auch ein Großteil der geplanten Gewinne für die Jahresbilanz einzunehmen war. Auch Gastspiele in ländlichen und peripheren Regionen waren witterungsbedingt häufig nur in den Sommermonaten möglich. Der große Bedarf nach Musikern, die in Winter- und Frühlingsmonaten zu neuen Orchestern zusammengestellt wurden, ebbte im Herbst schlagartig ab, während die Künstler weiterhin für ihre feste Stelle bezahlt wurden. Auch wenn 247 Geschlossen Parteiversammlung der Mosėstrada vom 19.07.1956, CAOPIM, f.6355, op.1, d.22, l.20b. 248 Geschlossene Parteiversammlung der Mosėstrada vom 19.07.1956, CAOPIM, f.6355, op.1, d.22, l.21.
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ein Orchester aufgrund von künstlerischem Misserfolg oder der vorherrschenden Personalfluktuation aufgelöst wurde, verblieben die Musiker meist im Stellenplan der Konzertorganisationen. Für die Mitarbeiter der künstlerischen Abteilungen bedeutete dies, dass sie bei der Zusammenstellung neuer Gruppen nicht einzig frei nach entsprechend qualifizierten Musikern suchen konnten, um die ohnehin eine starkte Konkurrenz herrschte. Aus ökonomischen Gründen galt es, bevorzugt auf jene zurückzugreifen, die bereits eine Stelle in der Organisation hatten, aber keine Arbeitszuweisung besaßen. Diese Gruppe von Musikern, sogenannte „Prostojniki“ (vom Wort „prostoj“ – Arbeitsausfall), galt als einer der größten Kostenfaktoren in den Jahresbilanzen. Gleichzeitig war diese Festanstellung ein Mittel, um auf dem expandierenden Musikmarkt talentierte Künstler zu binden und damit die vorherrschende Fluktuation einzudämmen. Der Stellvertretende Leiter der VGKO Moskau, Sokolov, kritisierte im Dezember 1959, dass für die Arbeit auf der Bühne des Grünen Theaters im Allunionsausstellungsgelände VDNCh in Moskau die Mitarbeiter für das ganze Jahr eingestellt wurden, auch wenn sich deren Arbeit auf den Sommer beschränkte.249 Zu einer Zeit, als der Druck zu wirtschaftlicherem Umgang mit zugewiesenen Mitteln durch den Staat bereits zugenommen hatte, konnte eine solche Strategie gleichsam als Verletzung der Finanzdisziplin gelten. Das sowjetische Stellenplansystem umfasste auch eine stark sozialpolitische Komponente. Aus Perspektive der Musiker sicherte eine solche Stelle nicht besonders hohes, dafür aber ein stabiles Einkommen. Entlassungen gestalteten sich nicht nur aus arbeitsrechtlicher Sicht schwierig250, sondern galten auch politisch als kaum diskutierbar. Unter dem Mantra, in der Sowjetunion könne es keine arbeitslosen Musiker geben, gestaltete sich eine wirtschaftliche Personalpolitik als schwierig. Grundlage für die soziale Absicherung der Musiker bildete die Regelung, Musikern auch ohne Auftritte 75 Prozent des Grundgehaltes auszuzahlen. Die Folgen dieser Politik, die in den neuen Gehaltsordnungen immer wieder festgeschrieben wurden, standen innerhalb der Organisationen bereits 1953 in der Kritik. Der Funktionär Kadrašenko äußerte in diesem Zusammenhang: „Meiner Meinung nach sollten nicht 77, sondern 177 [Künstler – M. A.] entlassen werden. Die guten Künstler übererfüllen den Plan und die Schlechten leben auf Kosten des Staates und erhalten 75 % dafür, dass sie nicht arbeiten. Daher rührt auch die geringe Bereitschaft, an der Peripherie zu arbeiten. Warum sollte ich das machen, wenn ich 75 % fürs
249 Beschluss der geschlossenen Parteiversammlung der VGKO vom 09.12.1956, CAOPIM, f.6355, op.1, d.25, l.38. 250 Vgl. Schreiben der Abteilung Wissenschaft und Kultur des ZK der KPdSU über die Überarbeitung des Projekts zum Beschluss des ZK „Über Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeit von Theatern und Konzertorganisationen“ vom 10.10.1956, in: CK i Kul’tura S. 441–444, hier S. 441.
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Nichtstun bekomme.“251 Aber auch er mahnte an, anstehende Entlassungen „gründlich zu durchdenken und zu organisieren“. Neben den geringen Anreizen für Gastspieltätigkeit förderte das bestehende System nur wenige Impulse für Künstler, sich musikalisch weiterzubilden. Ein Musiker hatte sich, einmal in eine Kategorie eingestuft, nach der neuen Tarifregulation von 1957 nur einmal alle fünf Jahre einer Neu-Tarifizierung zu unterziehen.252 Besonders für ältere, häufig weniger aktive Künstler, die innerhalb der Kulturbürokratie oft als „Prostojniki-starikov“ geführt wurden, bot dieses System letztlich eine finanzielle Absicherung, bis sie das Pensionsalter erreichten. Dies erschwerte aber auch die Ausbildung und Anwerbung junger Nachwuchskünstler, für die dann nicht im ausreichenden Maße Stellen verfügbar waren. Besonders an dieser Blockade von Karrierewegen knüpften die Reformen des Konzertwesens nach 1956 an. Der „prostoj“ wiederum erwies sich für die zu mehr wirtschaftlicher Effizienz angehaltenen Konzertorganisationen als Dauerproblem. Ein ausführlicher Bericht des Kulturministeriums der UdSSR über den „Zustand und Maßnahmen zur Verbesserung der Estradakonzertarbeit im Land“ aus dem Jahr 1961 kritisierte deutlich die damit verbundenen Disproportionen der Kosten in Bezug auf die Auslastung der Künstler. Ein Teil [der Künstler – M. A.] ist vollkommen überlastet, während der andere sich im Stillstand befindet. Die Zahlungen für Arbeitszeitausfälle sind in den letzten drei Jahren beständig gestiegen. 1960 haben 325 Künstler, unter ihnen sogar eine Reihe von Preisträgern verschiedener Wettbewerbe, nicht den Plan erfüllt, erhielten aber Zahlungen in Höhe von 450000 Rubel. […] Die Leerlaufzeiten werden nicht analysiert und Konsequenzen daraus gezogen.253
Im Laufe der 1950er- und frühen 1960er-Jahre nahm hingegen die Bedeutung von „Sovmestitel‘“ und Zweitverträgen als Instrumenten der Personalpolitik gegenüber den festen Stellen zu. Diese boten den Organisatoren die Möglichkeit, Musiker (und Schauspieler) flexibler und für begrenzte Zeiträume zu verpflichten, was besonders für die saisonal geprägte Gastspieltätigkeit wichtig war. Die Zahl von vertraglich verpflichteten Musikern stieg beim Moskauer VGKO bis 1964 um 251 Geschlossene Parteiversammlung der Mosėstrada vom 24.03.1953, CAOPIM, f.6355, op.1, d.15, l.19–40, hier l.36. 252 Vgl. Anweisung des KM UdSSR vom 11.01.1957 mit Zustimmung des ZK der Gewerkschaft der Kunstarbeiter „Über die Ordnung der Anwendung ‚Bestimmung über die Bezahlung der Arbeit von Mitarbeitern der Theater und Konzertorganisationen’“ Erlass des KM UdSSR vom 30.12.1956, ERA, f.R-1797, op.1, d.386, l.55. 253 Bericht der Abteilung für Musikalische Einrichtungen „Über Zustand und Maßnahmen der Verbesserung der Estradakonzertarbeit im Land“ vom April 1961, RGALI, f.2329, op.3, d.949, l.1–15, hier l.13–14.
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40 Prozent auf 2250.254 Die neue staatliche Bezahlordnung räumte die Möglichkeit ein, in Einzelfällen höhere Gehälter und Zuschläge von bis zu 20 % für Musiker zu beantragen.255 Mit dieser Flexibilisierung ging eine massive Ausweitung des Fonds für nicht fest angestellte Mitarbeiter („neštatny fond“) innerhalb der Konzertorganisationen einher. Auch langfristig verschob sich das Gewicht zu einer stärker gewinn- und leistungsorientierten Bezahlpraxis gegenüber gewinnbringenden Künstlern, vornehmlich aus dem Estradabereich, ohne jedoch das Stellenplansystem grundsätzlich zu reformieren. Ein Bericht des Komitees für Volkskontrolle über die Arbeit der zentralen Konzertorganisationen im Jahr 1976 erlaubt einen selektiven Ausblick für diese Entwicklungen, deren Ursprung in den 1950er-Jahren liegt.256 Zentrale Kritik äußerten die Verantwortlichen des Berichts an den „ungerechtfertigt hohen Gehältern“ großer Estradakünstler wie Iosif Kobzon und zahlreicher weniger bekannter Musiker.257 Diese erspielten sich durch die Einzelaufschläge für Konzerte auf Gastspielreisen ein Vielfaches ihres Grundgehaltes. Ein Viertel der circa 2000 Musiker bei Moskoncert erhielten im Jahr 1976 ein zwei- bis viermal höheres Gehalt, wobei ähnliche Prozentzahlen für Estradakünstler in den Philharmonien im Süden des Landes zu finden waren. Als Ursache für dieses Problem wurde im Bericht die Tatsache genannt, dass immer noch die oben diskutierte Bezahlordnung aus dem Jahr 1960 gültig sei, in der die Auftrittsnormen im Estradagenre nicht ausreichend definiert seien. Die Konzertorganisation zahlten verschiedenste Aufschläge und Zusatzzahlungen, um Musiker für Gastspiele außerhalb der Zentren zu bewegen. Der mögliche Lohn für Künstler, so der Bericht abschließend, sei unter diesen Umständen praktisch unbegrenzt.258 Um dem Auftrag der Partei nachzukommen, die kulturelle Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen und auszuweiten, schöpften die Leiter der Konzertorganisationen in den 1970er-Jahren alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel aus. Das Auseinanderdriften der Gehälter für Musiker widersprach dem sozialistischen Gleichheitsdenken, trieb aber auch die Kosten für musikalische Kultur insgesamt in die Höhe. Finanzielle Stimuli blieben nicht nur für die großen Stars der 254 Stenogramm des Partei-Wirtschaftsaktivs der VGKO vom 05.03.1964, CAOPIM, f.6355, op.1, d.38, l.39. 255 Vgl. ebd., l.37. 256 Schreiben des Komitees für Volkskontrolle der UdSSR an das ZK der KPdSU über die „Ergebnisse von Stichprobenkontrollen der Konzertorganisationen über die Erfüllungen der Anweisungen von Partei und Regierung zur Verbesserung der Bedienung der Bevölkerung und Herstellung von Ordnung bei der Bezahlung von Konzertdarstellern“ vom 26.08.1976, in: Apparat CK KPSS i Kul’tura 1973–1978, Bd. 1 1973–1976, Moskau 2011, S. 927–932. 257 Vgl. ebd. S. 927. 258 Vgl. ebd. S. 929.
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sowjetischen Estrada zentraler Anreiz, Konzertreihen in allen Teilen des Landes zu spielen, die den Veranstaltern ausverkaufte Häuser garantierten und den Konzertorganisationen stabile Einkommen versprachen, mit denen sie letztlich auch die große Zahl an „Prostojniki“ versorgen konnten. Die Ursache dieser Ausweitung der individuellen Einkünfte von Musikern lag aber auch in der anhaltenden Diskrepanz zwischen Norm und Praxis des staatlichen Systems von Kontrollen und Normierung individueller künstlerischer Qualität begründet. Der Bericht offenbart, dass die Arbeit der Tarifizierungskomissionen in der Praxis kaum die gewünschte Strenge in der Zuweisung von Kategorien für Musiker auswies und häufig durch Erlasse der Vertreter des Kulturministers selbst umgangen wurden.259 Die 1967 neu gegründete Kontrollkommission hatte seitdem einen Großteil ihrer ursprünglichen Mitglieder verloren und traf sich mit einem zu großen Arbeitspensum nur unregelmäßig. 1975 stufte die Kommission innerhalb von zwei Sitzungen, bei der lediglich 10 der 26 Mitglieder anwesend waren, 322 Künstler ein. Bei keinem einzigen Fall verringerten ihre Mitglieder die Kategorie oder Bezahlung eines Musikers. Die hier kritisierte Praxis für Musiker der höchsten und ersten Kategorie dürfte auf lokaler Ebene für die unteren Kategorien Ähnlichkeiten aufweisen. Sie erlaubt gleichzeitig Rückschlüsse auf die Praxis in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren, in denen dieses Kontrollsystem erst mühsam etabliert wurde. Während populäre Estradamusiker mit vielen Auftritten ihr monatliches Einkommen enorm anheben konnten und somit eine finanziell privilegierte Position einnahmen, wie sie für ihre Kollegen im Westen unter den Bedingungen eines freien Musikmarktes üblich war, versorgte das Stellensystem gleichzeitig ein großes Spektrum von Musikern anderer Genres. Dazu zählten Musiker der klassischen Musik oder der Folklore, die für die sowjetische Kulturpolitik eine hohe symbolische Relevanz besaßen, aber bei weitem nicht jene Einnahmen generierten wie die Estradamusik. Das Stellensystem garantierte damit aber auch jenen Musikern ein Auskommen, die selten oder gar nicht zum Einsatz kamen und durch den „prostoj“ die Kassen der Organisationen belasteten. Dazu zählten auch jene Musiker und Schauspieler, die künstlerisch nicht mehr aktiv waren, jedoch noch einige Jahre bis zur Pensionierung überbrücken mussten. Diese sozialpolitische Dimension ist der Grund, warum die stetig wiederkehrende ideologische Kritik an den Konzertorganisationen und daraus folgende Maßnahmen kaum den gewünschten Erfolg zeigen konnten. Bei dem vorherrschenden Mangel an qualifizierten Musikern in den 1950er-Jahren setzte eine ideologisch motivierte Entlassungskampagne Musiker lediglich dem Zugriff anderer Organisationen aus, die sie rasch neu einstellten. In einer solchen Situation versuchten Vertreter der Leitungsebene der Organisation, Säuberungen des Kaderbestands 259 Vgl. ebd.
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abzufedern oder ganz zu verhindern. Gleichzeitig entwickelten sich die Konzertorganisationen durch das Stellensystem immer weiter zu einem sozialen Versorgungsverband für Musiker, die anders als Komponisten nicht auf einen eigenen Verband mit reichen, sozialen und materiellen Netzwerken zurückgreifen konnten, sondern allenfalls über die Gewerkschaft der Kunstarbeiter organisiert waren. Die mehrheitlich unbefristeten Arbeitsverträge auf einer der Planstellen und die Regelung, auch ohne regelmäßige Auftritte 75 Prozent des Grundgehaltes zu beziehen, setzten den Parteistellen bei ihrem Streben nach effektiver Reglementierung des Konzertwesens zur Schaffung angebrachter Unterhaltungsmusik enge Grenzen.
4.2.3 Planbare Popularität? – Das Repertoire Auch im Bereich der „schöpferischen Aufgaben“ lässt sich eine klare Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei den organisatorischen Verpflichtungen der Konzertorganisationen deutlich machen. Für die Erosion eines einheitlichen musikalischen Kanons und die wachsende Vielfalt musikalischer Stile spielte diese Diskrepanz eine wichtige Rolle. Staats- und Parteifunktionäre artikulierten hier Erwartungen und Anforderungen, die Konzertorganisationen mit Blick auf die Unterhaltungsmusik kaum alleine erfüllen konnten. Bei der Schaffung des Repertoires blieben die Möglichkeiten staatlicher Regulierung der Produktion begrenzt, während alternative Strukturen und Akteure in vielen Fällen erfolgreicher arbeiteten. Diese konnten häufig die Nachfrage des Publikums ohne ideologische Filter in neue und erfolgreiche Musik umsetzen. Der Estrada wurde innerhalb der musikalischen Hierarchie nicht nur die größte Massenwirksamkeit attestiert, sondern in der Erziehung des musikalischen Geschmacks bei Jugendlichen gar eine Schlüsselrolle zugesprochen. Entsprechend geriet sie als „Motor der Verwestlichung“260 immer wieder in das Zentrum kulturpolitischer Richtungsdebatten. Der ideologische Druck auf die Konzertorganisation nahm in jenen Phasen besonders zu, die kulturpolitisch als Gegenphasen zur Liberalisierung des sogenannten Tauwetters verstanden werden. Dies lässt sich in den Monaten nach der sogenannten „Geheimrede“ Chruščevs beobachten, die eine fatale innen- und außenpolitische Dynamik erzeugte, aber auch nach der Rückkehr zu einer konservativeren Kulturpolitik im Zuge der Manege-Affaire 1962. In diesen Situationen erhöhte die sowjetische Presse den Druck auf die Repertoirepolitik der Konzertorganisationen und publizierte kritische Artikel, die auch in den Parteiversammlungen der Organisationen diskutiert werden mussten. Jene Pressekritik an der Westorientierung machte die Estrada jedoch in den Augen vieler Zuhörer noch 260 Grabowsky, Motor der Verwestlichung, S. 23.
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interessanter und verstärkte den Effekt.261 Diese Artikel machten die Konzertorganisationen für Entwicklungen verantwortlich, die kaum ihrem Einfluss unterlagen. Aus Sicht vieler Mitarbeiter stand hinter der Repertoirefrage der Spagat zwischen ideologischer Gefälligkeit und wirtschaftlichem Erfolg, da ein erfolgreiches Programm zwar hohe Zuschauerzahlen garantierte, aber nicht zwangsläufig gute Presseartikel. Im Parteikader der musikalischen Bürokratie wurde somit in Zeiten von verschärftem ideologischen Druck rasch von „unbedachter, leichtsinniger, teils politisch fahrlässiger Haltung zur Estrada als Mittel blanker Zerstreuung“ gesprochen, die „ungeeignet ist, die großen ideenhaft-künstlerischen Aufgaben zu verstehen und zu entscheiden.“262 Nach dem Abklingen einer solchen Phase gewannen moderatere Stimmen an Gewicht, die von einer gewissen Ausgeglichenheit zwischen „unterhaltsamem und ideologisch-ernsthaftem Repertoire“263 sprachen. Um neues Repertoire zu generieren, bestellten das Kulturministerium und die Konzertorganisation neue Stücke und Programme bei einzelnen Autoren und Komponisten. Auch ohne absolute Zahlen ist davon auszugehen, dass nach 1953 der Bedarf an neuem Repertoire wie auch die Gesamtzahl der Zuschauer zunahm. Viele Komponisten und Autoren der Estrada zogen sich im Zuge der „Ždanovščina“ im Spätstalinismus auf konforme politische Themen ohne Alltagsbezug zurück und verwendeten dabei Kompositionsmuster, die sich seit den 1930er-Jahren bewährt hatten.264 Dieser Zustand wurde nach 1953 sowohl in der musikalischen Fachzeitschrift Sovetskaja Muzyka als auch in Zeitungen mit größerer Leserschaft wie der Sovetskaja Kul’tura kritisiert.265 Die bereits skizzierte Situation im Zensurwesen resultierte in einer langen Dauer der Prüfungsverfahren und anhaltender Unsicherheit auf Seiten der Autoren, ob deren Stücke akzeptiert würden. Unter diesen Umständen drängte sich rasch die Frage auf, ob sich der Aufwand des Komponierens für den Einzelnen überhaupt auszahlte. Verbotsentscheidungen von Glavrepertkom wurden seit dessen Auflösung erneut überprüft, gleichzeitig aber zahllose neue Titel geprüft, überarbeitet oder verboten. Die Hauptverwaltung für Musikalische Einrichtung des Kulturministeriums begutachtete im ersten Halbjahr 1953 800 Stücke, von denen 450 erlaubt, 50 zur Überarbeitung und 300 abgelehnt 261 Vgl. ebd., S. 23. 262 Bericht der Abteilung für Musikalische Einrichtungen „Über Zustand und Maßnahmen der Verbesserung der Estrada-Konzertarbeit im Land“ vom April 1961, RGALI, f.2329, op.3, d.949, l.1–15, hier l.3. 263 Offene Parteiversammlung der Basisparteiorganisation der Hauptverwaltung für Musikalische Einrichtungen (GUMU) des Kulturministeriums der UdSSR vom 30.07.1953, GARF, f.957, op.1, d.15, l.1–9, hier l.3. 264 Vgl. Grabowsky: Motor, S. 21. 265 Vgl. o. A.: Mehr Aufmerksamkeit dem musikalischen Massengenre, Sovetskaja Kul’tura vom 23.07.1953.
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wurden.266 In Anbetracht des Mangels an Autoren stellte sich eine Situation ein, in der „mehr verboten als geschaffen“267 wurde, wie bereits Zeitgenossen feststellten. Sowohl das sowjetische Kulturministerium als auch die Kulturministerien der Unionsrepubliken verfügten über ein jährlich neu festgesetztes Budget zur Bestellung neuer Repertoires aller Genres bei verschiedenen Komponisten und Autoren. Die republikanischen Ministerien waren dabei in der Planung ihrer Bestellung (meist an nationale Komponisten) dem sowjetischen Ministerium gegenüber rechenschaftspflichtig.268 Im Sinne der propagierten Weiterentwicklung der nationalen Kulturen der Sowjetvölker fanden bevorzugt klassische Stücke und Folklore Eingang in die Listen, die aufgrund des Zeitaufwands der Komposition nicht nur deutlich mehr kosteten, sondern auch hohe symbolische Repräsentanz ausstrahlten. Auch die Konzertorganisationen verfügten über ein unterschiedlich hohes Budget zur Vergabe von Aufträgen und waren in meist eigenen schöpferischen Abteilungen zur Zusammenarbeit mit Autoren angehalten. Neben der Bestellung neuer Titel kauften Vertreter der Organisationen auch Notensammlungen aus privaten Beständen. Dieser Repertoireerwerb stellte einen relevanten Posten im Jahresplan der Konzertorganisationen. Um der Doppelaufgabe von Organisation und Schaffen neuer Repertoires gerecht zu werden, versuchten die Leiter der Konzertorganisationen daher immer wieder, zusätzlich Mittel durch das Kulturministerium zu erhalten. Barzilovič, der wirtschaftliche Leiter der Mosėstrada, erwirkte 1953 die Ausnahmegenehmigung, den überplanmäßigen Gewinn der Organisation in die Repertoireanschaffung investieren zu dürfen.269 Die Bezugspraxis für neues Repertoire war ebenso vielfältig wie die auf sie bezogene Kritik. In einer Parteiversammlung der Moskauer Estrada 1953 wurde die Anschaffungspolitik vorheriger Jahre scharf kritisiert, die dazu geführt habe, dass „die Repertoirebibliothek der MGE in einem erdrückenden Maße voll mit unnötiger Makulatur“270 sei, die kaum gespielt werde. Unter den Bedingungen eines vorsichtigen kulturpolitischen Kurswechsels erschienen viele gefällige Stücke, die in der politisch riskanten Phase des Spätstalinismus bestellt und erworben wurden, als „grau und langweilig“. Vier Monate nach Stalins Tod nahmen Teilnehmer der Versammlung hier auch auf Musiker Bezug, die in Partei- und 266 Vgl. Verchovskij: Parteiversammlung GUMU vom 30.07.1953, l.1. 267 Gen. Savjateava auf der Offenen Parteiversammlung der Basisparteiorganisation der Hauptverwaltung für Musikalische Einrichtungen (GUMU) des Kulturministeriums der UdSSR vom 30.07.1953, GARF, f.957, op.1, d.15, l.1–9, hier l.7. 268 Vgl. bspw. Listen des Kulturministeriums der Estnischen SSR für die Bestellpläne neuer Musik an das Kulturministerium der UdSSR für 1954, ERA, f.R-1797, op.1, d.213, l. 54–55. 269 Vgl. Bilanz der Arbeit des Parteibüros der Moskauer Estrada vom 25./26.09.1953, CAOPIM, f.6355, op.1, d.16, l.117. 270 Offene Parteiversammlung Mosėstrada vom 08.07.1953, CAOPIM, f.6355, op1, d.16, l.70.
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Produktionsversammlungen die „antistaatliche Haltung der Abteilungsleitung“ kritisierten und deren „verbrecherische Art und Weise, hunderttausende von Rubeln für Bestellung und Erwerb von grauer, langweiliger und nicht interessanter Werke auszugeben, die nach dem Erwerb in den Regalen verstauben und kaum genutzt werden.“271 Die folgende Missbilligung von Verantwortungslosigkeit und dem „Unterdrücken von Kritik“ durch die Abteilungsleiter zeigt, dass sich das Thema eignete, die stalinistische Bürokratie erstmals offen zu kritisieren.272 Auch informelle und persönliche Beziehungen, denen innerhalb bürokratischer Mechanismen und in politisch unsicheren Zeiten eine gewichtige Rolle zufiel, konnten zum Ausgangspunkt von Missbilligung werden. Mit dem Erwerb einer Notensammlung aus privater Hand für 13.000 Rubel, von der sich nur 30 Prozent als Estradastücke entpuppten, habe der Leiter der Moskauer Konzertorganisation Kadomcev 1953 staatliche Interessen persönlich-freundschaftlichen geopfert.273 Handelte es sich nicht um einzelne Stücke, sondern ganze Programme, die für die finanziell einträglichen Sommermonate durch bezahlte Regisseure entworfen wurden, stellte sich die Frage nach wirtschaftlicher Effizienz ähnlich deutlich, da diese durch das Planungschaos, Fluktuation von Gruppen aber auch schlechtes Wetter vollständig ausfallen konnten.274 Vernachlässigt man ideologische Einschränkungen, langwierige Zensurprozesse und politische Intervention als Erschwernisse der sowjetischen Repertoirepolitik, standen die Akteure der Konzertorganisationen bei der Auswahl ihres Repertoires vor der gleichen Unbekannten wie westliche Konzert- und Plattenfirmen der Zeit – dem Publikumsgeschmack, der letztlich darüber entscheidet, ob ein Lied populär wird oder rasch wieder verschwindet. Dieser konnte im sowjetischen Kontext jedoch nicht als gegebene Größe diskutiert werden. Er erschien im kulturpolitischen Diskurs entweder als dass, was durch die Arbeit der Kulturträger noch zu formen sei, oder als normatives Korrektiv vermeintlich fehlgeleiteter Lieder und Programme. Während erstere Lesart herangezogen wurde, um die Verantwortung der Kulturschaffenden beim Aufbau einer sozialistischen Persönlichkeit anzumahnen, diente die zweite der nachträglichen Herabsetzung ideologisch nicht opportuner Kultur. Diese Unmöglichkeit, den Geschmack als unabhängigen und für die Unterhaltungsmusik letztlich entscheidenden Faktor in die Diskussionen mit einzubeziehen, prägte eine spezifische Erwartungshaltung an die Effizienz der Investitionspolitik. Ohne die Frage nach einem „möglichen Publikum“ zu stellen, wie 271 ebd. 272 Vgl. Schattenberg, „Democracy“ or „Despotism“?, S. 64–79. 273 ebd. l.71. 274 Vgl. Geschlossene Parteiversammlung vom 22.08.1956, CAOPIM, f.6355, op.1, d.22, l.28–34, hier l. 29.
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sie in der westlichen Musikwirtschaft durch Zuhilfenahme von Marktforschungstechniken oder der Juke-Box möglich wurde, blieben erworbene Stücke, die nach wenigen Verwendungen in den Regalen der Repertoirebibliotheken verschwanden in den Augen vieler Parteifunktionäre eine falsche Wahl, für die fehlerhaft investiert wurde. Dabei deuten die wenigen Zahlen auf grundlegende Ähnlichkeiten mit der Erfolgsquote neuer Unterhaltungsmusikstücke in westeuropäischen und der US -amerikanischen Gesellschaft hin. Der Leiter der Abteilung für Sänger, Kanger, gab auf einer Sitzung des Moskauer Parteibüros der Mosėstrada zur Arbeit seiner Abteilung an, dass vier bis fünf Lieder von 40–50 erworbenen dauerhaft im Repertoire blieben. Diese Quote deckt sich durchaus mit existierenden Statistiken zur westlichen Schallplattenindustrie dieser Zeit, nach denen durchschnittlich einer von zehn musikalischen Titeln dauerhaften Erfolg beim Publikum hatte und finanziellen Gewinn für die Konzerne abwarf.275 Sowohl Kulturministerium als auch Konzertorganisationen klagten beständig über einen Mangel an Autoren. Bekannte Künstler verfügten in der Regel über einen festen Kreis an Autoren, denen durch das Entgelt der Komposition und laufende Tantiemen ein relativ stabiles Einkommen ermöglicht wurde. Bereits 1953 herrschte auch innerhalb der Kulturbürokratie ein klares Bewusstsein für die Folgen dieser Situation. Mitglieder der Abteilung für musikalische Einrichtungen kamen einhellig zu dem Ergebnis, dass das Repertoire der kleinen Künstler das Hauptproblem sei, nicht zuletzt, da die Autoren etablierter Stars für niemand anders arbeiten würden.276 Aus der Perspektive der wirtschaftlichen Leiter der Konzertorganisationen stellte sich damit die Frage nach einer effizienten Investitionspolitik in die Arbeit der wohl wenigen, ideologisch akzeptierten und populären Autoren von neuen Stücken und Programmen. Der Fokus auf bereits erfolgreiche Gruppen in der Vergabe von Repertoireaufträgen konnte jedoch immer wieder als „Vernachlässigung der mittleren Ränge und der Jugend in der Versorgung mit vollwertigem Repertoire“277 interpretiert und kritisiert werden. Besonders in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre, als der Umlauf an zensiertem Repertoire relativ hoch und die Sicherheit über akzeptierte Themen gering war, verband sich das Problem einer geringen Zahl von Autoren, die regelmäßig mit den Konzertorganisationen zusammenarbeiteten mit der Frage von wirtschaftlicher Effizienz und Nachwuchsförderung. 275 Vgl. Nathaus, Klaus: Turning Values into Revenue: The Markets and the Field of Popular Music in the US, the UK and West Germany (1940s to 1980s), in: Historical Social Research 36 (2011), 3, S. 136–163. 276 Offene Parteiversammlung der Basisparteiorganisation der Hauptverwaltung für Musikalische Einrichtungen vom 30.07.1953, RGALI, f.957, op.1, d.15, l.1–9, hier l.6. 277 Bilanz der Arbeit des Parteibüros der Moskauer Estrada vom 25.–26.09.1953, CAOPIM, f.6355, op.1, d.16, l.120.
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Ein internes und aber auch öffentlich verwendetes Erklärungsmuster für die Defizite im Repertoire war die fehlende Unterstützung der Konzertorganisationen durch den Komponisten- und Schriftstellerverband. Auch in den Beschlüssen des Ministerrates der Russischen Sowjetrepublik und deren Kulturministerium zur Situation der Estrada, die sich in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre häuften, wurde stets eine größere Unterstützung durch die Verbände angemahnt.278 Dem zugrunde lag einerseits die kulturpolitische Grundlinie, die das Schaffen neuer Musik und Texte in der Zuständigkeit der jeweiligen schöpferischen Organisationen bestimmte. Auch wenn der Komponistenverband für alle Genres der Musik verantwortlich war, dominierte klassische Musik innerhalb des Profils der Mehrheit der Komponisten. Die auch finanziell ausgesprochen erfolgreichen Estradakomponisten der 1930erund 1940er-Jahre, wie Isaak Dunaevskij, die Gebrüder Dmitrij und Daniil Pokrass oder Leonid Utesov, hatten in den 1950er-Jahren den Zenit ihres Schaffens bereits überschritten. Sie galten aber nach wie vor als wichtige Referenzen für politisch akzeptierte Estrada. Die antiwestliche Kulturpolitik der späten 1940er-Jahre wiederum führte nicht nur in den Reihen der Estradakomponisten zur Rückkehr in die vermeintlich sicheren Konzepte der 1930er-Jahre, die Anfang der 1950er-Jahre als „grau, langweilig und schablonenhaft“279 bezeichnet wurden. Das Genre der Estrada erschien Nachwuchskomponisten damit auch als politisch riskanter und beeinflusste so die Entwicklung des Nachwuchses. Das höhere Prestige klassischer Musik innerhalb der offiziellen Kulturpolitik und der Berufsgruppe der Komponisten schlug sich auch in der Bezahlung für Kompositionen durch den Staat nieder. Die 1957 erlassene Neuordnung von Kompositionshonoraren zeigt die Bezahlpraxis für neue Kompositionen, ohne aber die dahinterliegenden kulturellen Hierarchien offenzulegen.280 Einzelne Organisationen und Einrichtungen konnten einen Vertrag zur Schaffung oder Herausgabe eines neuen Stückes mit einem Autor abschließen. Ein Anhang der Verordnung regelte die Höhe der Vergütung für verschiedenste Musikgenres und Theaterstücke. Dabei gaben vier gestaffelte Beträge der jeweiligen Einrichtungen einen zusätzlichen Spielraum bei der Bezahlung, die im vorhergehenden Erlass des sowjetischen 278 In einem Beschluss zur Estrada forderte der Ministerrat der RSFSR das Kulturministerium dazu auf, zur „Schaffung eines in ideologisch-künstlerischer Sicht hochwertigen und für das Repertoire von Konzertkollektiven genreabhängig vielfältigen Repertoires führende Schriftsteller, Komponisten und talentierte Jugend heranzuziehen“ und Werke zu schaffen, die „dem heldenhaften Kampf des Sowjetvolkes für die Verwirklichung des kommunistischen Aufbaus Ausdruck verleihen“. Beschluss des Ministerrates der RSFSR Nr. 1321 vom 30.08.1960 „Über Maßnahmen der weiteren Entwicklung der Konzert-Estrada Arbeit in der RSFSR“, [http://old.lawru.info/base18/ part5/d18ru5012.htm, abgerufen am 27.04.2018] 279 Mehr Aufmerksamkeit, 23.07.1953. 280 Vgl. Erlass des Kulturministeriums der RSFSR vom 22.05.1957 „Über Autorenhonorare für dramatische und musikalische Werke“, GARF, f.A-501, op.1, d.1622, l.129–144.
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Kulturministeriums für „Werke der großen Form mit besonderem künstlerischen Wert und breiter Anerkennung der Öffentlichkeit durch das Kulturministerium der UdSSR“281 um weitere 40 Prozent erhöht werden konnte.282 Unterschieden wurden die zahlreichen musikalischen Unterkategorien in „musikalische Werke“ und „Werke für Estrada und Zirkus“, wobei in letzteren Bereich sowohl begleitende Musik als auch die Vielzahl von Sprechformen der Estrada fielen. Während eine fertige Oper dem Komponisten zwischen 30.000 und 80.000 Rubel einbringen konnte, waren Operetten und musikalische Komödien zwischen 12.000 und 40.000 Rubel, Lieder, Balladen und Romanzen zwischen 400 und 2000 Rubel angesetzt. Im Bereich von Estrada und Zirkus war der maximal zu zahlende Betrag 2000 Rubel. Im Vergleich zu den durchschnittlich längeren Stücken der ersten Kategorie spiegelt die Differenz zunächst eher den höheren erforderlichen Arbeitsaufwand zum Schaffen des Stückes wider, als eine etwaige kulturelle Hierarchie. Eher die Unterteilung zwischen „musikalischen Werken“ und „Estrada und Zirkus“ zeigt, dass Musik in der Estrada immer noch als Beiwerk zu seinen Sprech- und Theaterelementen betrachtet wurde, nicht zuletzt, weil für das klassische Unterhaltungslied keine eindeutige Kategorie bereitstand. Neben diesen einmaligen Zahlungen sah die Verordnung vor, Autoren (ähnlich wie im westlichen Europa und den USA) prozentualen und gestaffelten Anteil an der Eintrittskasse von Konzerten zuzusichern, bei denen ihre Stücke aufgeführt wurden. Dieser Teil der Bezahlordnung wiederum sanktionierte eher den dauerhaften Publikumserfolg als die Arbeit des Entstehungsprozesses, womit ihm für die Unterhaltungsmusik, die gemessen an der Publikumszahl den größten Teil der Konzertwesens darstellte, eine wichtige Bedeutung zukam. Hinterfragt man unter diesen Bedingungen die zeitgenössische Klage vom „Autorenmangel“, so wird klar, dass man eher von einem Mangel an Autoren sprechen kann, die unter starkem ideologischem Reglement und geringen finanziellen Erfolgsaussichten arbeiten wollten. Der Anreiz für Autoren, dauerhaft mit Konzertorganisationen zusammenzuarbeiten, wurde durch eine Reihe von Faktoren geschmälert. Langwierige Zensurverfahren führten zu langen Bearbeitungszeiten, sodass ein neues Lied teilweise länger als ein Jahr brauchte, bis es auf der Bühne aufgeführt wurde. Dies widersprach auch dem Prinzip aktueller Thematiken, das Teil des Erfolgs von Unterhaltungs- bzw. Popmusik ausmachte und in der sowjetischen Presse mit Verweis auf die „Sovremennost‘“ immer wieder gefordert wurde. Zahlreiche Kompositionen verschwanden ungespielt in den Regalen der Repertoirebibliotheken. Geht man davon aus, dass eher die prozentualen Anteile am Eintritt und Pauschalen für aufgeführte Lieder den Hauptteil des Einkommens eines 281 Erlass des Kulturministeriums des UdSSR vom 09.02.1957 „Über den Umfang der Bezahlung von Autoren für musikalische Werke“, ERA, f.R-1797, op.1, d.161, l.12–13. 282 Vgl. ebd. l.13.
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erfolgreichen Autors ausmachten als die einmaligen Zahlungen für Kompositionen in der Estrada, erschien die Zusammenarbeit mit den Konzertorganisationen als Nachteil. Das Schreiben von Stücken und Programmen für kleinere und mittlere Estradagruppen der Konzertorganisationen war umso mehr unrentabel, als diese aufgrund hoher Fluktuation häufig eine geringe Lebensdauer vorwiesen. Neben geringeren finanziellen Chancen sah sich der einzelne Autor auch mit ideologischem Druck konfrontiert. Die jeweilige Konzertorganistaion sollte in der Zusammenarbeit auch immer wieder „erzieherisch“ auf den einzelnen Autor einwirken. Bereits 1953 existierten parallele Strukturen zum Erwerb und Vertrieb von Repertoire, die man als Teil der musikalischen Schattenwirtschaft verstehen kann. In der Hauptverwaltung für musikalische Einrichtungen wurde im Zuge der Kritik an einer vermeintlich „finanziell unverantwortlichen Repertoirepolitik der Konzertorganisationen“ auf die Existenz einer „Schwarzen Börse“ („černaja birža“) verwiesen, die nicht kontrolliert wurde. Deren Vertreter verkauften Musikstücke erneut an andere Republiken und Organisationen, nachdem diese bereits vom sowjetischen Kulturministerium erworben worden waren.283 Im Einzelfall zogen die staatlichen Gelder für Repertoireaufträge auch geschäftstüchtige Autoren an, über deren Qualität gestritten wurde. Auf einer Parteiversammlung der Leningrader Estrada wurde 1957 beklagt, dass „zwar genug Geld für den Erwerb neuer Stücke vorhanden“ sei, „jedoch keine guten Stücke gekauft“ würden, sondern Leute engagiert, „die sich der Führung aufdrängen und teilweise bezahlt werden, bevor die Stücke überhaupt geschrieben würden.“284 Autoren, die unabhängig von staatlicher Kontrolle ihre Texte und Kompositionen an die Organisationen oder direkt an die Künstler verkauften, spielten in allen Genres der Estrada eine Rolle. Deren Existenz und die Folgen wurden mehrfach in der Presse aufgegriffen und zum Anlass genommen, die Politik des Kulturministeriums und der Konzertorganisation zu kritisieren. Am 13. August 1958 erschien in der Pravda ein Feuilleton mit dem Titel „Die Verbreiter der Vulgarität“, in dem die Vertriebsmechanismen für satirische Stücke und Estradacouplets diskutiert wurden.285 Nachdem sich Schriftsteller als Estradaautoren durch die Pressekritik der letzten Jahre zurückgezogen hätten, würden nun „windige Geschäftemacher“ ihr vulgäres und veraltetes Material an junge Künstler verkaufen, die es aus Mangel an neuen Stücken, falschem Respekt vor der Tradition und hohen Anforderungen übernehmen und aufführen würden. In 283 Vgl. Offene Parteiversammlung der Basisparteiorganisation der Hauptverwaltung für Musikalische Einrichtungen vom 30.07.1953, RGALI, f.957, op.1, d.15, l.1–9, hier l.6. 284 Vgl. Offene Parteiversammlung der Lenėstrada vom 29.3.1957, CGAIPD SPb, f.771, op.6, d.4, l.10–15, hier l.12. 285 Čaplygin, Jur.: Verbreiter der Vulgarität, in: Pravda, 23.08.1958.
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der weiteren Argumentation wird die Verbreitung satirischer, auf Alltagsthemen bezogener, unpolitischer Stücke auf diese Geschäftemacher, auf die nachlässige Politik des Kulturministeriums in Repertoirefragen und auf erfolglose junge Künstler abgewälzt. Im Gesamten rückte der Text nicht von der Vorstellung einer politisch-mobilisierenden Massenkunst ab, die eine unpolitische Form von genuiner Popularität nicht vorsah. Zwischen 1957 und 1958 verstärkte sich die Sorge innerhalb des Kulturministeriums um eben diesen Wandel hin zum Unterhaltsamen und Unpolitischen in der Estrada, der mit der musikalischen Schattenwirtschaft aufs engste verknüpft war. Im Kontext der konservativen Wende im politischen Kurs der Chruščev-Führung, die nach der Eigendynamik der Geheimrede, dem Ungarn-Aufstand 1956, aber auch der Pasternak-Affäre und dem Putschversuch der „Antiparteiengruppe“ 1957 bis Ende 1958 anhielt, bot fehlende ideologische Sinnstiftung in der Kultur eine willkommene Angriffsfläche.286 Ein Erlass des Kulturministeriums über „Ernsthafte Mängel im Repertoire der Estrada“ bescheinigte die Wirkungslosigkeit der mehrfach ausgerufenen „grundlegenden Erneuerung des Repertoires.“287 Als eine Ursache nannten die Verfasser hier eine Reihe von „wilden Konzertbrigaden und Estradagruppen, deren Mitglieder keine professionelle Ausbildung und Fähigkeiten haben“, deren „Repertoire meist belanglose, unpolitisch abgedroschene Themen des Alltags“ seien und denen „scharfe Kritik an außenpolitischen Themen und dem Arbeitsleben der Sowjetmenschen fehlen“ würde.288 Nach einer Reihe positiver Referenzen zu Liedern von Utesov, Blechman und Koralli erfahren einzelne Gruppen besonders aus dem Jazzbereich und der sogenannten „Zigeunermusik“ scharfe Kritik für das „künstlerische Niveau und den rein unterhaltsamen Charakter“289 ihrer Programme, die trotz Kritik durch die Presse auf Tournee gehen durften. Als Hauptschuldige galten die Kulturministerien und Konzertorganisationen, die jene „Vulgaritäten“ selbst verbreiten würden und über wenig eigene Autoren mit dem elementaren künstlerischen Geschmack und der nötigen Qualifikation verfügten. Schuld seien schließlich die Musiker selbst, die „getrieben von der Aussicht auf billigen Erfolg in ihr Programm billige Werke aufnehmen und dabei kein politisches Feingefühl und künstlerischen Takt beweisen.“290 Der einseitige Fokus in der Repertoirepolitik auf die großen Künstler würde die Ausbreitung minderwertiger Werke erst ermöglichen, da nun Konzertorganisationen in diesem 286 Vgl. Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion, S. 820 ff. 287 Erlass des Kulturministeriums der UdSSR „Über ernsthafte Mängel im Repertoire der Estrada vom 28.08.1958, RGALI, f.2329, op.3, d.640, l.1–7, hier l.1. 288 Vgl. ebd. 289 Vgl. ebd. l.2. 290 Vgl. ebd. l.3.
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Bereich häufig aus geschäftlichen Überlegungen verschiedene Kollektive mit unkontrollierten Programmen befristet einstellen würden.291 Im Text werden auch die geografische Dimension sowjetischer Kulturpolitik und die Folgen ihrer zentralistischen Ausrichtung auf Moskau deutlich. Das Kulturministerium der UdSSR warf den republikanischen Kulturministerien nicht nur fehlende Unterstützung der Konzertorganisationen bei der Schaffung neuen Repertoires vor, sondern machte diese zudem verantwortlich für jene „schmarotzerische Stimmung unter den Leitern der Estradaabteilungen, die auf der Vorstellung beruht, dass die Erneuerung des Repertoires nur durch jene Werke möglich ist, die in Moskau und Leningrad geschaffen wurden.“292 Ähnlich wie in anderen Erlassen zum Problem der Estrada forderten die Verfasser, die örtlichen Künstlerräte zu stärken, die zur kritischen Prüfung neuen Materials herangezogen werden sollten. Die politisch verantwortlichen Funktionäre im Konzertwesen wiederum verwiesen bei der Frage der Repertoireentwicklung immer wieder auf die Verantwortung des Estradakünstlers selbst. „Der Künstler“, so ein Vertreter der Leningrader Estrada 1957, „ist so zu erziehen, dass er versteht, dass das Wichtigste nicht der Erfolg des Künstlers durch nutzlose Effekthascherei ist, sondern der ideologische Erfolg.“293 Solche Aufrufe nach erzieherischem Einfluss auf die Musiker überstiegen häufig nicht nur die Möglichkeiten der Parteiorganisationen innerhalb des Konzertwesens. Sie gingen auch an der Lebensrealität eines durchschnittlichen Musikers vorbei, aus dessen Sicht genuine Popularität beim Publikum nicht nur über das Einkommen mitentschied, sondern sich im Erfahrungsraum der späten 1950er-Jahre auch als dauerhafter erwies als die ideologisch Leitlinien, die zu dieser Zeit häufig wechselten. Musiker und Orchesterleiter antworteten mit verschiedenen Strategien auf den Mangel an Repertoire, das im Konzertwesen als legitim galt. Mit dem Nachlassen der Nachzensurpraxis vergrößerten sich die Möglichkeiten, unterschiedliche Programme in Moskau und in der Peripherie zu spielen. So wich das Repertoire des Jazzorchester Boris Renskij auf der Tournee durch die Kaukasusrepubliken im Sommer 1958 deutlich von dem ab, das durch die VGKO in Moskau im Vorfeld zugelassen wurde.294 Eine Reihe von Erlassen sollte die eigenmächtige Änderung zugelassener Programme infolgedessen unter „strenge administrative Strafen stellen.“295 Dies verhinderte in der Praxis nicht nur der chronische Personalmangel, 291 Vgl. ebd. 292 ebd. l.4. 293 Basisparteiorganisation Lengosėstrada vom 14.01.1957, CGAIPD, SPb, f.771, op.6, d.4, l.4. 294 Vgl. Brief von A. Karpov an den Kulturminister der UdSSR Michajlov vom 12.09.1958 über die „Ergebnisse einer Delegationsreise von Spezialisten zu den Konzertorganisationen der Republiken und Provinzen“, RGALI, f.2329, op.3, d.644, l.12–14, hier l.12. 295 ebd. l.13.
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sondern auch die unterschiedlichen Interessen zwischen Konzertorganisatoren vor Ort und in Moskau. Nicht nur an der Peripherie, so beklagten Mitarbeiter der zentralen Konzertorganisation, würden die Musiker „Gott weiß was singen“ und „sich selbst irgendwelche Stücke beschaffen“296, aufgrund derer die sowjetischen Lieder vollkommen vergessen würden. Ein Blick auf die Quellen erfolgreicher Unterhaltungsmusik, derer sich die zahllosen Musiker und Kollektive bedienen konnten, zeigt, wie machtlos das Kulturministerium im Bemühen um Regulation der Repertoireproduktion war. Diese Komponisten bewegten sich durchaus innerhalb des gesetzlichen Rahmens, während ihr Einkommen durch das sowjetische Autorenrecht gesichert wurde. Der Leiter der Abteilung für musikalische Einrichtungen, Zaven Vartanjan, bilanzierte in einem Brief an Kulturminister Michajlov 1960, dass trotz verschiedener Erlasse, Kontrollen und Erneuerungen des Repertoires keine elementaren Fortschritte in der Qualität des Repertoires erreicht wurden.297 Neben umfassender Kritik an der „nachlässigen Haltung“ örtlicher Kulturverwaltungen, der Leitungen der Konzertorganisationen und der Künstlerräte, die als Instrument der Repertoirekontrolle seit 1956 verstärkt beworben wurden, beanstandete er die Arbeit von fünf im Komponistenverband organisierten Komponisten. Deren „minderwertige, vulgäre und antikünstlerischen Stücke“ erwiesen sich als so populär, dass sie ins Repertoire des Oleg-Lundstrem-Jazzorchesters ebenso Eingang fanden wie in dasjenige zahlloser Moskauer Kino- und Restaurantensembles.298 Als Hauptquelle der nach Vartanjan „banalen und amateurhaften Lieder“ erwiesen sich jedoch jene, nicht im Verband organisierten Komponisten, die hier als „Geschäftsleute“ diffamiert wurden. Diese konnten die ungebrochene Nachfrage nach jenen ideologisch unliebsamen Musikstilen wie Rumba, Foxtrott, „Zigeunertango“ und den „Blatnye Pesni“299 bedienen. Sie reisten quer durchs Land, boten ihre Stücke direkt den örtlichen Konzertorganisationen zum Verkauf oder verschickten hunderte Exemplare von annotierten Stücken mit der Post, die in Abhängigkeit von der Geschäftstüchtigkeit der jeweiligen Orchesterleitung Absatz fanden. Vartanjan verwies explizit auf die Rolle persönlicher Beziehungen zwischen Komponisten und den Leitern von musikalischen Gruppen. Diese erhielten die neuen Kompositionen häufig kostenlos unter der Bedingung, dass diese in die Programmlisten aufgenommen wurden, damit deren Komponisten die Tantiemen für die Aufführungen 296 Barzilovič: Sitzung des Parteibüros der Moskauer Estrada zur Arbeit der Abteilung „Vokalisten“ vom 06.01.1956, CAOPIM, f.6355, op.1, d.22, l.57–63, hier l.59. 297 Vgl. Schreiben von Ju. Šaporin und E. Vartanjan an den Kulturminister der UdSSR Michajlov „Zur Tatsache des Auftauchens von ideologisch-künstlerisch nicht vollwertiger Werken auf den Konzertbühnen des Landes“ vom 14.06.1960, RGALI, f.2329, op.3, d.877, l.3–7, hier l.3. 298 Vgl. ebd. 299 Vgl. Hufen, Regime und die Dandys.
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erhielten. Hauptkritik galt somit der wertneutralen Politik der Allunionsverwaltung zum Schutz von Autorenrechten VUOAP („Vsesojuznoe upravlenie po ochrane avtorskich prav“), die unabhängig von Qualität Honorare zahlte, die sich nur nach Verbreitung und Spielhäufigkeit orientierten. Vartanjan betonte, dass die Verwaltung ein „Widersacher gegen antikünstlerische Werke sein könnte“, in der Praxis aber lediglich „eine Transferinstanz zwischen Konzertorganisation und Künstler“ sei. Erfolgreiche Komponisten wie Oskar Strok, der auch öffentlich scharf angegriffen wurde, erhielten über diesen Weg 1959 bis zu 107.000 Rubel.300 Den parteilichen Themenvorgaben bei klassischer (non-vokaler) Musik konnte ein Komponist leichter Genüge tun als im Bereich der Unterhaltungsmusik, die sich in stärkerem Maße am Geschmack des Publikums, seinen alltäglichen Themen und musikalischen Vorlieben zu orientieren hatte. In diesem Sinne stehen Unterhaltungsmusik und ihre Themen in einem zeitlich enger gekoppelten Verhältnis zu Gegenwart und Alltag als die Klassik. Sieht man von den Schwierigkeiten ab, parteiliche Thematiken wie „Neuland“, „Kosmos“ oder „Weltfrieden“ textlich in eine unterhaltsame und attraktive Form zu fassen, stand hinter der Repertoirefrage auch das Problem der musikalischen Elemente. Diese mussten das Publikum ansprechen, waren durch die Werkzeuge des Kulturministeriums aber kaum zu steuern. Gerade in diesem Spannungsfeld zwischen russisch-sowjetischen und westlichen Kultureinflüssen sahen sich die Konzertorganisationen in ihrer Repertoirepolitik immer wieder politischen Eingriffen und Kritik in der Presse ausgesetzt. Ein zentraler Impulsgeber für neue nicht-russische Melodien, die das sowjetische Hören der 1950er- und 1960er-Jahre deutlich prägten und wandelten, war das Kino. Bereits in den 1930er-Jahren war der Erfolg der sowjetischen Estrada eng mit dem Kino verknüpft, ohne dass deren Massenerfolg kaum möglich gewesen wäre. Leonid Utesovs Ausspruch, dass ein Lied erst erfolgreich sei, wenn es die Leute auf der Straße pfeifen würden, bezog sich in weitesten Sinne auf jene Lieder, die mit den Filmen „Veselye Rebjata“ und „Cirk“ enorme Popularität erreicht hatten.301 Für die Masse der Stadtbevölkerung in den 1950er-Jahren wurde die langsame kulturelle Öffnung des Landes zuerst auf den Leinwänden der Kinos spürbar; noch bevor westliche Musikgruppen in größerer Zahl im Land gastierten. Mögen diese Filme mexikanischer, argentinischer, französischer oder italienischer Herkunft mit Blick auf ihren Plot politisch unproblematisch gewesen sein – die in ihnen verwendeten Melodien waren für das sowjetische Ohr neu, exotisch und interessant. Von Seiten zahlloser musikalischer Gruppen wurden diese beliebten und damit erfolgversprechenden Melodien wieder aufgegriffen und trugen zu einem deutlichen
300 Vgl. o. A.: Mambo nur für Stepan, in: Komsomol’skaja Pravda, 06.06.1960. 301 Vgl. Utesov, Spasibo, Serdce!, S. 198 ff.
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Wandel der musikalischen Kultur bei.302 Innerhalb der Konzertorganisationen, die aus offizieller Sicht die Rolle des Taktgebers für musikalische Entwicklung einnahmen, stand man diesem Problem weitestgehend machtlos gegenüber, wie der Leiter der Vokalistenabteilung der Moskauer Estrada Kanger im Januar 1956 eingestand. Er diagnostizierte, dass die ab 1955 zunehmenden „melodischen Lieder sich leicht einprägen und keinen Protest hervorriefen.“303 Offen problematisierte er auch die Folgen der antiwestlichen Kampagne der 1940er-Jahre, da man „hinsichtlich leichter Musik bis 1955 für eine bestimmte Zeit auf dem Trockenen saß.“304 Seine Kritik an der Maßlosigkeit des Einsatzes dieser Lieder bei Konzerten zeigt den intensiven Einfluss anderer Kulturinstanzen auf den musikalischen Geschmack, der die zugeschriebenen Aufgaben der eigenen Organisation konterkarierte: Aber hier verliert sich das Gefühl für das Maß, hier beginnt eine große Wende von Seiten dieser Musik, bei der man zur Kenntnis nehmen muss, dass das Allunionsradio auch aus dem großen Säulensaal anfängt, Konzerte westlicher Musik zu senden […] Leichte Tanzmusik, leichte Estradamusik und Lieder Lateinamerikas, die Orchester in Kinos, Restaurants, Tanzplätzen, Quartette, Quintette, Trios und Estradaorchester auf der Bühne auch die Neuheiten des Westens propagieren, plus Sänger und Conférenciers, die diese Melodien für ihre Feuilletons und Couplets benutzen, plus die Herausgabe von Notensammlungen durch „Muzgiz“ [der Verlag des sowjetischen Komponistenverbands – M. A.] – das alles schafft die überflüssige Wende in Richtung des Auslands und die momentane Erziehung der Geschmäcker der Zuhörer.305
Innerhalb der Moskauer Estrada ermahnte man sich gegenseitig, das Heft des Handelns wieder in die Hand zu nehmen. Ein anderer Redner dieser Versammlung machte das Kino und Radio als Hauptproblem beim Repertoireerwerb aus, denn obwohl die Organisation Geld für den Erwerb neuer Stücke habe und es in Moskau viele talentierte Autoren gebe, wartete die Abteilung tatenlos, bis ein neues Lied im Kino auftaucht.306 Jedoch diskutierten die Funktionäre nicht nur die musikalische Wirkung ausländischer Filme, sondern auch sowjetischer Produktionen, deren Publikumserfolg in den 1950er-Jahren nicht zuletzt durch die Musik 302 Vgl. Ruprecht, Tobias: Als Moskau den Mambo lernte. Lateinamerikanische Folklore, Revolutionsromantik und sowjetischer Internationalismus im Tauwetter, in: Martin Aust (Hg.), Globalisierung imperial und sozialistisch. Russland und die Sowjetunion in der Globalgeschichte 1851–1991, Frankfurt a. M. [u.a] 2013, S. 443–461. 303 Sitzung des Parteibüros der Moskauer Estrada zur Arbeit der Abteilung „Vokalisten“ vom 06.01.1956, CAOPIM, f.6355, op.1, d.22, l.57–63, hier l.57. 304 ebd. 305 ebd. 306 Vgl. ebd., l.61.
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bestimmt wurde. Der 1958 erschienene Film „Mädchen mit Gitarre“ („Devuška s gitaroj“) wurde in der Presse für die vermeintliche Belanglosigkeit seiner Handlung kritisiert, während seine Lieder zu den populärsten Stücken des Tauwetters avancierten.307 Mit „Karnevalsnacht“ („Karnevalnaja Noč“) des Regisseurs El’dar Rjazanov wurde nicht nur erstmals wieder dem Konflikt zwischen Jung und Alt humoristisch Ausdruck verliehen. Der Film trug auch moderne Jazzelemente durch die Musiker von Eddi Rosners Jazz Orchester in die Kinosäle. Ein staatliches Instrument, mit dem die Kontrolle des Repertoires und die positive ideologische Beeinflussung von Komponisten Ende der 1950er-Jahre verbessert werden sollte, waren die künstlerischen Räte („chudožestvennye sovety“). Diese seit den 1920er-Jahren existierende Instanz setzte sich aus verschiedenen Vertretern des jeweiligen Genres, der Kulturverwaltung und Partei zusammen und sollte über die nötige ideologische und künstlerische Qualität des jeweiligen Werkes entscheiden. Im Zuge des Abbaus und der Präzisierung der Kompetenzen von Glavlit kam es in den 1950er-Jahren auch im Bereich des Konzertwesens zu einer Renaissance der Künstlerräte. Jede Konzertorganisation und Philharmonie sollte über einen entsprechenden Künstlerrat verfügen, an dem neben Musikern und Komponisten Vertreter der Gesellschaft und Partei teilnahmen. Die Partei sicherte sich durch das Recht, die Mitglieder des jeweiligen Rates zu bestimmen einen entsprechenden Einfluss auf die ideologische Ausrichtung und Arbeit. Der russische Historiker Šadrin hat den Künstlerräten für die Verwaltung des Marktes eine zentrale Rolle zugesprochen und sie als Instanz bezeichnet, in der verschiedene Interessengruppen (Partei, Philharmonien, Künstler) in Verhandlung miteinander traten.308 In den Lösungsentwürfen für das Repertoireproblem der Estrada, die in den 1950er-Jahren im sowjetischen Kulturministerium diskutiert wurden, erscheint die Forderung nach einer Stärkung und Ausweitung der Künstlerräte immer wieder an prominenter Stelle. Ein Projektentwurf aus dem Jahr 1958 forderte, dass kein Stück mehr ohne die vorherige Kontrolle und Diskussion des Künstlerrates zur Aufführung freizugeben sei.309 Bereits 1956 hatte das sowjetische Kulturministerium den rechtlichen Rahmen zum Erwerb neuer Stücke für die verschiedenen Ebenen der kulturellen Hierarchie festgelegt.310 Die hier geforderten „Auswahlkommissionen“ 307 Vgl. Schreiben Vartanjan an Michajlov 1960. 308 Vgl. Šadrin, V. O.: Chudožestvennyj Sovet Filarmonii kak institut administrativnogo rynka, [https://cyberleninka.ru/article/v/hudozhestvennyy-sovet-filarmonii-kak-institut-administrati vnogo-rynka, letzter Zugriff: 17.05.2018] 309 Vgl. Projekt zur Verbesserung des Repertoires für Kino und Estrada, o. D. [1958], RGALI, f.2328, op.3, d.44, l.8–11, hier l.8. 310 Vgl. Erlass des sowjetischen Kulturministeriums vom 09.08.1956 „Über die Ordnung des Erwerbs neuer musikalischer Stücke für die Konzertaufführung“, ERA, f.R-1797, op.1, d.253, l.112–114.
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sollten eine genauere Selektion von neuen Stücken aus musikalischer und ideologischer Sicht gewährleisten. Die Regulierung zielte nicht nur auf ideologische, sondern vor allem auf finanzielle Kontrolle. Ziel war eine effizientere Verwendung der staatlichen Mittel, die jährlich für den Erwerb von Opern, Symphonien und anderen Werken durch die Hauptverwaltung für musikalische Einrichtungen der UdSSR und der republikanischen Kulturministerien investiert wurden. Die Kommission, welche das Stück vor Erwerb zu begutachten hatte, setzte sich auf Unionsebene aus Vertretern der Kulturbürokratie (Cholodilin), Dirigenten (V. V. Celikovskij), musikalischen Kritikern (S. V. Aksjuk), Musikern (D. F. Ojstrach) und prominenten Komponisten (D. D. Šostakovič, A. I. Chatčaturjan) zusammen.311 Den kulturpolitischen Fokus auf Werke der großen Form, aber auch das Argument stärkerer finanzieller Kontrolle verdeutlichen die getroffenen Ausnahmeregelungen. Der Hauptverwaltung wurde gestattet, Werke der kleinen Form („proizvedinie malych form“) wie Overtüren, Lieder, Romanzen, Märsche und Tänze ohne Begutachtung der namentlich genannten Kommission zu erwerben.312 Staatlichen Musikkollektiven und Konzertorganisationen wurden weiterhin gestattet, „im Rahmen der für dieses Ziel vorgegebenen Mittel“ eigenständig Werke der kleinen Form wie Romanzen, Lieder, Instrumentalstücke sowie „Tanz- und leichte Musik“ zu erwerben. Die entsprechenden Kommissionen, die diesen Erwerb zu kontrollieren hatten, sollten die jeweilige Kulturverwaltung der entsprechenden behördlichen Zuständigkeit gründen. Auf eine genaue Frist ihrer Bildung und Zusammensetzung verzichtete das Kulturministerium 1956 jedoch noch. Erst im Laufe der ersten Hälfte der 1960er-Jahre schien sich das Verfahren der Anhörung neuer Stücke und Programme zur Freigabe der Aufführung durch die Künstlerräte weitestgehend durchgesetzt zu haben.313 Die Künstlerräte der höheren Ebenen und ihre prominentesten Mitglieder schienen zudem ein genuines Selbstbewusstsein über die eigenen Kompetenzen und ihre alleinige Kompetenz zur Bewertung von Kunst zu entwickeln. Die Verordnung von 1956 sah den Beschluss durch eine Zweidrittelmehrheit bei offener Abstimmung vor, womit musikalischer Expertise den Vorrang gegeben wurde. Dieses Selbstverständnis wurde von der sowjetischen Kulturministerin Furceva in der Auseinandersetzung um die Rolle der Künstlerräte und Glavlit gegenüber dem Zentralkomitee unterstützt.314 Mit dem Schaffen eines solchen Forums und
311 Vgl. ebd. 312 Vgl. ebd. l.113. 313 Šadrin zitiert aus der Ordnung der Permer Philharmonie von 1964, in der dieses Verfahren rechtlich bindend festgeschrieben wurde. 314 Vgl. Schreiben der Kulturministerin der UdSSR Ekaterina Furceva an das ZK der KPdSU vom 01.12.1965, RGANI, f.5, op.26, d.151, l.242–243.
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der Bündelung musikalischer Expertise verfügte die sowjetische Kulturpolitik über ein Gremium, dessen Entscheidungen über mehr gesellschaftliche und fachliche Legitimität verfügten als jene von Glavlit. Die Gemeinschaft aus etablierten sowjetischen Musikern und Komponisten war in der Lage, musikalische Stücke inhaltlich besser beurteilen als fachfremde Mitarbeiter der Partei und der Zensurbehörden. Künstlerräte wurden aber gleichzeitig ein Bollwerk gegen jene Trends von Verwestlichung, auf welche die Partei und die Kulturbehörden mit Sorge blickten. Allein der wahrscheinliche Altersdurchschnitt eines solchen Künstlerrates mag den Ausgang des Vorspiels einer jungen Jazz- und Rockgruppe vorbestimmt haben. Vladimir Fejertag, einer der Organisatoren und Musiker der Leningrader Jazzenthusiasten, beschreibt das Personal und die Atmosphäre eines solchen lokalen Künstlerrates anschaulich: Unser Orchester musste im Juli [des Jahres 1954 – M. A.] vor der Repertoirekommission vorspielen. Wir wurden in ein Kulturhaus am Kanal Fontanka geladen. Der Raum befand sich auf der Sonnenseite, die Fenster blieben verschlossen und die Temperatur hatte sich inzwischen auf über 40 Grad erhöht. Nach den ersten drei Stücken bat ich den Leiter der 3-köpfigen Kommission, einen ehemaligen wenig talentierten und frustrierten Dirigenten, ob wir zumindest die Jacketts unserer Anzüge ausziehen dürften. Jener blickte mich mit finsterer Miene an und schnaufte mir entgegen: ‚Damals 1948, als wir die Oper Boris Godunov bei 45 Grad ohne Schatten auf dem Marktplatz von Taschkent aufführten, hat auch keiner das Jackett ausgezogen. Ihr spielt weiter oder verschwindet!‘315
Gleichzeitig darf der Unterschied zwischen Proklamationen und Praxis nicht außer Acht gelassen werden. Während die Teilnahme an den Sitzungen der Erwerbskommission des sowjetischen Kulturministeriums mit 45 Rubel pro Sitzung vergütet wurde, blieb diese auf der lokalen Ebene häufig unentgeltlich und stellte für die berufenen Teilnehmer eine zeitliche Mehrbelastung dar. In vielen Organisationen, besonders in der Peripherie, wird die Suche nach geeigneten Mitgliedern und die Integration in die bürokratisierten Arbeitsabläufe entsprechende Zeit gekostet haben, sodass von einer flächendeckenden Etablierung von Künstlerräten erst in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre auszugehen ist. Wie bei den sogenannten Tarifizierungskommissionen auch, fehlten die Rahmenbedingungen, um den Künstlerrat in der Frequenz zu versammeln, wie es die Regularien und der anhaltende Strom neuer Stücke und Programme vonnöten machten. Šadrins Analyse der Tätigkeit des Künstlerrates der Permer Philharmonie in den 1970er-Jahren zeigt, dass der dortige Künstlerrat alle zwei Monate zur Diskussion eines im Entstehen begriffenen 315 Fejertag: Ot Lenigrada, S. 74.
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Estradaprogramms tagte und die Funktionsweise als arbeitsteilig beschrieben werden kann.316 Teilnehmende Musiker übersetzten die ideologische Kritik von Parteimitgliedern in konkrete Vorschläge zur Verbesserung des Materials, während die letztliche Verantwortung bei den Leitern der Philharmonie verblieb.317 Um den Dauerkonflikt zwischen organisatorischer und schöpferischer Arbeit der Konzertorganisation zu überwinden, erfolgte 1964 eine grundlegende Reform des Konzertwesens. Die Fusionierung von Gastrol’bjuro mit den städtischen Konzertorganisationen zur VGKO hatte sich 1956 als erfolglos erwiesen, um die Aufgaben der künstlerischen Bedienung der zwei Hauptstädte und des Gebiets der russischen SSR zu gewährleisten und gleichzeitig Künstlergruppen und Repertoires zu generieren, die den Anforderungen von Staat, Partei und sowjetischem Publikum gerecht wurden. Zaven Vartanjan skizzierte im September 1960 in einem Brief an Kulturminister der RSFSR, Popov, Umrisse einer Reform, die die Konzertorganisationen von den „umfangreichen Aufgaben der Gastspielorganisation befreien“318 sollte, um mehr „Verantwortlichkeit für die künstlerische Qualität des Repertoires“ zu ermöglichen. Die neue Struktur sah eine Trennung schöpferischer und organisatorischer Arbeit vor, welche 1964 umgesetzt wurde. Einen Monat zuvor griff der Ministerrat der RSFSR mit einem Beschluss in die Konzertarbeit im Estradabereich ein, um existierende Mängel wie finanzielle Probleme zu beseitigen, aber eben auch die Folgen der Doppelbelastung abzumildern. Neben der Verpflichtung des Kulturministeriums, in einem Jahr nicht weniger als 74 Künstler und Regisseure auszubilden, wurde die Schaffung einer „schöpferischen Werkstatt“ für die Vorbereitung einzelner Nummern und Programme innerhalb der VGKO angeordnet.319 Trotz der angespannten Finanzlage der Konzertorganisationen verblieb die Finanzierung dieser Werkstatt bei der VGKO und den lokalen Konzertorganisationen. Als weiterer Schritt zur Verbesserung der Repertoiresituation sah der Beschluss die Einrichtung einer zentralen Bibliothek vor, in welcher die desperat verteilten Notenbestände von Estradatiteln zentralisiert und verfügbar gemacht werden sollten.320 Der Versuch, die organisatorische Belastung der VGKO auf der anderen Seite zu reduzieren, wird in der Forderung nach Stärkung der lokalen Organisationen deutlich, die Musiker und Gruppen hauptsächlich lokal zu rekrutieren und zum Einsatz zu bringen hatten. Um den Abzug der Musiker von der eigentlichen Konzertarbeit zu reduzieren, verbot der Ministerrat allen Einrichtungen und Organisationen der 316 Vgl. Šadrin: Chudožestvennaja Sovet, S. 41. 317 Vgl. ebd. 318 Zaven Vartanjan an den Kulturminister der RSFSR Popov vom 13.09.1960, RGALI, f.2329, op.3, d.877, l.13–14. 319 Vgl. Beschluss des Ministerrates der RSFSR Nr. 1321 vom 30.08.1960 „Über Maßnahmen der weiteren Entwicklung der Konzert-Estrada Arbeit in der RSFSR“. 320 Vgl. ebd.
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Russischen Sowjetrepublik, Konzerte mit professionellen Musikern und Gruppen auszurichten, bei denen diese bezahlt werden würden.321 Gerade diese Anweisung konterkarierte mit Blick auf die individuelle Finanzsituation vieler Musiker aber auch auf die ganzer Konzertorganisationen die Realitäten im sowjetischen Konzertwesen der frühen 1960er-Jahre.
4.2.4 Kulturelle Versorgung – Geografie als organisatorische Herausforderung Um zu erklären, wie sich die Estrada in den 1950er-Jahren westlichen Einflüssen öffnete und Jazz dabei erneut zu einem legitimen Teil sowjetischer Unterhaltungsmusik werden konnte, muss die geografische Dimension der Kulturpolitik berücksichtigt werden. Die UdSSR durchzog ein Netz von Konzertorganisationen unterschiedlicher Größe, welche Moskau, Leningrad, die Hauptstädte der Republiken, einzelne Bezirke und Kreise mit Musik und Theater versorgte. Die Fähigkeit, diese Aufgaben zu erfüllen, stand in Abhängigkeit von finanzieller Ausstattung, der Verfügbarkeit geeigneter Musiker und Organisatoren, aber auch der Frage nach geeigneten Räumlichkeiten, Instrumenten und Transportmitteln. Ausschlaggebend für den Spielraum der einzelnen Direktoren für das musikalische Programm der Konzertorganisation war neben diesen materiellen Faktoren auch der Einfluss der jeweiligen Parteiorganisation. Die Ausübung ideologischer Kontrolle in der Provinz war zu keinem Zeitpunkt der sowjetischen Geschichte so erfolgreich wie in der Hauptstadt. Für die Zeit zwischen 1953 und 1956 ist zudem der Wechsel der Hälfte aller Gebietsparteisekretäre zu verzeichnen, die Chruščev zum Ausbau seiner Machtposition innerhalb der kollektiven Führung durchsetzte.322 Geht man davon aus, dass Kulturpolitik im Allgemeinen und Musikpolitik im Speziellen nicht auf den ersten Plätzen der politischen Agenda der Partei in der Provinz rangierte, wird man Leitern der Konzertorganisation abseits der Hauptstädte einen tendenziell größeren Spielraum bei Repertoirefragen einräumen können. Dies galt umso mehr, als die Kulturpolitik der Nachstalinzeit einer Reihe radikaler Kurswechsel unterworfen war. Das grundsätzliche Interesse eines Leiters einer lokalen Konzertorganisation galt zum einen der Erfüllung des finanziellen Plans, den er vor der lokalen Kulturverwaltung zu rechtfertigen hatte, und zum anderen dem Erreichen möglichst vieler Zuhörer. Bei der Wahl der Mittel räumte dieser damit dem Element des Populären höhere Priorität ein und stand somit in einem latenten 321 Vgl. ebd. 322 Vgl. Chlevnjuk, Oleg: Regional’naja Vlast’ v SSSR v 1953-konce 1950-ch godov. Ustoičivost’ I konflikty, in: Otečestvennaja Istorija 3 (2007), S. 31–49, hier S. 32.
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Konflikt zu den ideologischen Vorgaben des Zentrums. Die Repertoirepläne der lokalen Philharmonie wurden durch die lokalen Verwaltungen für Kunstangelegenheiten bestimmt, ließen aber immer Spielraum für inhaltliche Ausgestaltung. Die Vorstellungen der gastgebenden Philharmonie vor Ort und der Konzertorganisationen in Moskau gingen auch im Bereich von Gastspielen auswärtiger Orchester und Solisten hinsichtlich Programm und Spieldauer häufig auseinander. Diese Muster lassen sich auf die anderen Sowjetrepubliken übertragen, die besonders in kulturpolitischen Fragen ein relativ großes Maß an Eigenständigkeit gegenüber Moskau behaupteten. Das sowjetische Dogma der Förderung nationaler Kulturen innerhalb des multinationalen Staates begünstigte diese Eigenständigkeit. Unter dem Deckmantel nationaler kultureller Autonomie vollzogen sich verschiedene Prozesse der Verwestlichung.323 Wie im Weiteren deutlich wird, zogen besonders die südlichen Sowjetrepubliken Moldawien, Georgien, Armenien, Aserbaidschan und Usbekistan häufiger die Kritik des sowjetischen Kulturministeriums für ihre nachsichtige Haltung gegenüber westlicher Musik auf sich. Dem gegenüber standen materielle und personelle Schwierigkeiten für die Konzertarbeit, die mit größer werdendem Abstand zu Moskau und Leningrad zunahmen. Mit einer starken Konzentration von Ausbildungs- und Spielstätten entfalteten Moskau und Leningrad eine Sogwirkung auf Musiker aller Genres, die bis heute anhält. Noch in den 1970er-Jahren versuchte die sowjetische Regierung, diesem Prozess der kulturellen Ausdünnung der Provinz mit Begünstigungen und Prämien für Musiker und Komponisten entgegenzuwirken.324 Abseits von Moskau und Leningrad stellte sich die Frage nach talentiertem musikalischem Nachwuchs also um einiges schärfer als in den Hauptstädten. Mit Blick auf ein attraktives Programm waren die lokalen Konzertorganisationen einerseits auf Entsendung von qualifizierten und bekannten Gruppen und Solisten aus den größeren Städten der Union angewiesen. Der Mangel an musikalisch qualifizierten und talentierten Musikern vor Ort zwang die Verantwortlichen andererseits dazu, an lokal verfügbare Kräfte weniger strikte Anforderungen anzulegen. Der hohen Dichte an Räumlichkeiten für Konzerte und Proben im Zentrum stand ein teils eklatanter Mangel in den Peripherien entgegen, der es für lokale Konzertorganisationen schwierig machte, die aus Moskau geforderte Ausdehnung der Konzerttätigkeit umzusetzen. Nicht zuletzt die Verkehrsinfrastruktur des Landes erschwerte den Konzertbetrieb. Tourneen waren vielerorts nur in einigen
323 Vgl. Martin, The Affirmative Action Empire; RISCH, WILLIAM J.: The Ukrainian West. Culture and the Fate of Empire. Cambridge, Mass. [u.a] 2011. 324 Schreiben des Ministerrates der RSFSR an das ZK der KPdSU „Über die Schaffung eines regionalen Bezahlungssatzes für das Autorenhonorar von Schriftstellern, Komponisten und Künstlern“ vom 22.06.1978, in: Apparat CK i kul’tura, Bd. 2, 1977–78, S. 380.
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Sommermonaten möglich, da die Erreichbarkeit vieler Regionen in den Frühlings- und Herbstmonaten auch in den 1950er-Jahren noch über die Straße kaum gewährleistet war. Die für den Transport notwendigen Busse und LKWs standen häufig nicht zur Verfügung und auch Zugreisen mussten nicht nur für die Musiker, sondern auch für den Transport der Instrumente organisiert werden. Anhand der Konzertorganisation Gastrol’bjuro, deren Aufgabe die Durchführung von Theater- und Musikgastspielen im ganzen Land war, lässt sich für die Zeit zwischen 1953 und 1956 anschaulich der Kontrast zwischen kulturellem Anspruch des Zentrums und Wirklichkeit vor Ort illustrieren, auf den der sowjetische Staat 1956 mit einer starken Zentralisierung der Konzertorganisation antwortet. Gastrol’bjuro unterstand dem Kulturministerium und funktionierte als Transmitter zwischen den Orchestern, Solisten und Theatern der zentralen Kultureinrichtungen und der Philharmonie der Provinz. Der Umfang der von Gastrol’bjuro im ganzen Land ausgerichteten Konzerte umfasste 1954 12.468, 1955 11.593 Konzerte, von denen die überwiegende Mehrheit im Bereich der klassischen Musik einzuordnen ist.325 Ein Großteil der Konzertaktivität konzentrierte sich klar auf kleinere und größere Städte, während 1954 lediglich 1485 Konzerte in ländlichen Gebieten stattfanden.326 In ihrem Auftrag als Vermittler zwischen Nachfrage aus den Philharmonien und dem Angebot hauptstädtischer Kultureinrichtungen geriet Gastrol’bjuro immer wieder an ihre Grenzen. Da die Organisation nur über ein relativ kleines Budget verfügte, waren der überwiegende Teil von Künstlern Zweitarbeiter, die von ihrem Arbeitgeber für die Tourneen freigestellt werden mussten. Aufgrund der bereits geschilderten Personalsituation in den meisten Einrichtungen von Musik und Theater weigerten sich deren Direktoren häufig, Künstler für Tourneen und vorherige Proben zur Verfügung zu stellen und ignorierten Anweisungen des Kulturministeriums.327 Um den eigenen Anforderungen gerecht zu werden, zogen hauptstädtische Konzertorganisationen sich teilweise aus dem Gastspielbereich zurück. Der Leningrader und Moskauer Estrada wurde zu Lasten gelegt, mit diesem Rückzug lediglich die Bedienung der städtischen Bevölkerung zwischen 1953 und 1956 verbessert zu haben.328 Auch die Künstler selbst hatten eher Interesse an kurzen Gastspielen in der Provinz. Viele präferierten die Gebiete am Schwarzen Meer und im nördlichen Kaukasus, die sowohl hinsichtlich des touristischen und mehrheitlich hauptstädtischen Publikums
325 Vgl. Geschlossene Parteiversammlung Gastrol’bjuro vom 04.04.1956, GARF f.957, op.1, d.84, l.17–33, hier l.23. 326 Vgl. Parteiversammlung Gastrol’bjuro vom 07.07.1954, GARF, f.957, op.1, d.41, l.13. 327 Vgl. Parteiversammlung 04.04.1956, l.24. 328 Vgl. ebd. l.6.
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als auch der touristischen Infrastruktur nach reizvollere Reiseziele darstellten.329 Zum Wandel dieser Situation hätte es stärkerer materieller Anreize für Musiker bedurft. Diese bekamen 1954 noch für Gastspiele im Umland von Moskau die gleichen Gehälter wie für Auftritte in den weiten Regionen Sibiriens.330 Um Tourneen fristgerecht zu planen, mussten die Verantwortlichen zunächst die Nachfrage der Philharmonien ermitteln. Erschwert wurde die Organisation der Tourneen durch die Ungewissheit über die Verfügbarkeit von Musikern und Kollektiven, die rechtzeitige Zusammenführung und Auswertung des Bedarfs, die fristgerechte Erstellung von Plakaten und Programmen, die immer noch die Zensurbehörden passieren mussten, und die Organisation des Transports durch ein verantwortliches Ministerium.331 Regelmäßig kritisierten Mitarbeiter von Gastrol’bjuro, dass die Philharmonien nach den wenigen populären Namen fragen würden, die hohen Gewinn und eine einfache Organisation versprachen. 1954 monierten Vertreter, dass „sich in den Forderungen der Philharmonien nicht mehr als 40 Musiker und 10 Ensembles finden“, während Gastrol’bjuro mit 400 Musikern und 80 Kollektiven plante.332 Viele dieser Philharmonien und Estradabüros orientierten sich an einem kleinen Kreis sogenannter „rentabler kassemachender Gastspieler“ und sagten häufig unbegründet die Teilnahme an Gastspielplänen ab.333 Gastrol’bjuro, deren Fokus auf klassische Musik dem offiziellen Kanon entsprach, verlor gerade im Bereich der zahllosen neugegründeten Konzertorganisationen an Einfluss, die auf lokale Kader und populäre Estradakünstler des Zentrums zurückgriffen, die ihnen die Len- oder Mosėstrada schickte.334 „Zur gegenwärtigen Zeit“, so stellte ein Mitarbeiter von Gastrol’bjuro resigniert fest, „gibt es vor Ort eine Übermacht von Estradagruppen, bei der unsere Musiker häufig stören.“335 Hier wird erneut die kulturpolitische Konzeptlosigkeit der ersten drei Jahre nach Stalins Tod erkennbar. Innerhalb der Organisation kritisierte man die fehlende Unterstützung des Kulturministeriums gegenüber den Moskauer Kulturstätten und fehlenden Willen, um gegen solch „musikalisch einseitige Politik“ und „Geschäftemacherei“ vorzugehen. Den umfangreichen Koordinationsaufgaben schien Gastrol’bjuro kaum gewachsen zu sein. Gerade in Republiken mit einer höheren Dichte an musikalischen Einrichtungen und einschlägiger Erfahrung in der Organisation des musikalischen Lebens mussten die kurzfristigen Angebote 329 Vgl. Parteiversammlung Gastrol’bjuro 07.07.1954, l.10. 330 Vgl. Geschlossen Parteiversammlung Gastrol’bjuro vom 04.04.1956, GARF f.959, op.1, d.84, l.26. 331 Vgl. ebd., l.27. 332 ebd. 333 Vgl. ebd., l.29. 334 Vgl. ebd., l.43. 335 ebd., l.44.
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aus Moskau für Konzerte und Tourneen zu Problemen führen. Der Leiter der estnischen Staatsphilharmonie V. V. Vekšin kritisierte in einem Brief an den estnischen Kulturminister Ansberg die zu kurzfristigen Vorschläge der Organisation für Konzerte, häufige ebenso kurzfristige Absagen und die Tatsache, dass nahezu alle Wünsche des estnischen Kulturministeriums nach Konzerten von Künstlern anderer Republiken unerfüllt geblieben waren. Dies stelle eine dauerhafte Störung der eigenen Arbeit dar und führe zu „ernsthaftem Schaden an der Erfüllung der beschlossenen schöpferischen Pläne.“336 Vekšin forderte abschließend, mehr auf die Pläne der örtlichen Konzertarbeit Rücksicht zu nehmen.337 Innerhalb des kulturpolitischen Machtgefüges nahm Gastrol’bjuro somit eher eine schwache Position ein. Neben der fehlenden Unterstützung des Kulturministeriums und mangelnden Durchsetzungsmöglichkeiten gegenüber den städtischen Konzertorganisationen umgingen diese Gastrol’bjuro mit der Organisation eigener Konzerte im Moskauer Umland.338 Mit der Reorganisation des Konzertwesens 1956 beabsichtigte die sowjetische Führung, klarere institutionelle Zuständigkeiten zu schaffen und den kulturpolitischen Einfluss auf die Peripherie auszuweiten. Dort expandierte das Konzertwesen durch den Bau von Kulturhäusern, Bühnen, Stadien und die Schaffung neuer Konzertorganisationen, ohne dass jedoch die Kontrolle und ideologische Einflussnahme Moskaus mitwuchs. Die Reorganisation sollte das quantitative Wachstum der Konzerttätigkeit unterstützen und unter Kontrolle halten. Die auf dem XX. Parteitag proklamierten Erneuerungsformeln bezogen sich explizit auf die sowjetische Kultur als Mobilisierungs- und Integrationsinstrument. In der Pravda forderte im Juni 1956 ein Artikel mit dem programmatischen Titel „Kunst für die Millionen“ eine massive Expansion des Konzertwesens vom Zentrum in die Peripherien und eine Abkehr vom Diktum, im Sommer nur Estradakonzerte und die klassische und Folkloremusik nur im Winter zu organisieren.339 Die Frage der kulturellen Versorgung berührte gleichsam das Versprechen verbesserter Lebensbedingungen für die Sowjetbürger, besonders jener Jugendlichen, die sich für den sozialistischen Aufbau auf den Großbaustellen und den Neulandgebieten engagierten.340 Damit rückten die Konzertorganisationen in explizite politische Verantwortung für das Zustandekommen dieses zentralen Mobilisierungsprojekts.
336 Brief des Leiters der estnischen Staatsphilharmonie V. V. Vekšin an den Kulturminister der ESSR Ansberg vom 04.07.1955, ERA, f.R-1797, op.1, d.213, l.66–68, hier l.67. 337 Vgl. ebd. l.68. 338 Vgl. Parteiversammlung Gastrol’bjuro vom 04.04.1956, GARF, f.957, op.1, d.84, l.26. 339 o. A. „Kunst für die Millionen“, in: Pravda, 01.07.1956. 340 Vgl. ebd.
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Die Bedienung dieser Gebiete mit Musik und Theater avancierte zu einer der wichtigsten Aufgaben der neuen Allunions Gastspiel- und Konzertorganisation VGKO und Goskoncert. Letztere sollte darüber hinaus den Austausch von Musikgruppen und Theatern zwischen den Republiken kontrollieren und planen sowie Tourneen sowjetischer Gruppen im Ausland und ausländischer Gruppen in der Sowjetunion organisieren.341 Der Ausweitung des Konzertwesens stand neben den materiellen Defiziten vor Ort auch der Mangel an qualifizierten Organisatoren im Weg, unter dem die Arbeit der VGKO, von Goskoncert, aber auch der lokalen Konzertorganisationen litt. Darauf reagierte der Staat 1956 mit der Zulassung von frei-angestellten Konzertorganisatoren, um die Arbeit der Organisationen vor Ort zu flexibilisieren. Das Vorhaben sollte die „ländlichen Besonderheiten der Konzertarbeit“ berücksichtigen und die „finanzielle Situation der Konzertorganisationen stärken“, da eine projektbezogene Vertragsanstellung weniger Kosten hervorrief als die Schaffung einer festen Stelle.342 Den Expansionskurs des Konzertwesens begleitete das Kulturministerium ab 1956 mit Maßnahmen zur Kontrolle der Zusammensetzung des klassisch dominierten Musikprogramms, das gemeinsam mit Folklore im Programm von Goskoncert 1957 circa vier Fünftel ausmachte und im Untersuchungszeitraum ähnlich hoch blieb.343. In Orten wie Murmansk, Vladimir, Rjazan’, Čita und Jakutsk wurden durch Mittelzuweisungen aus Moskau einzelne Konzert-Estrada-Büros zu Philharmonien aufgewertet.344 Das Kulturministerium investierte darüber hinaus in die Ausstattung mit Flügeln, Streichinstrumenten, aber auch Akkordeons, die für die Aufführung folkloristischer Musik und Kammermusik geeignet waren.345 Mit dem Schwerpunkt auf ernste Musik („serieznaja muzyka“) einher ging bei Goskoncert der erzieherische Anspruch, nach dem besonders die Jugend und Arbeiter mit Hilfe von ermäßigten Eintrittspreisen mit ernster Musik und Literatur vertraut gemacht werden sollten.346 Immer stärker förderten Staat und Gewerkschaften die künstlerische Laientätigkeit, die die Anforderungen des erzieherischen Auftrags 341 Vgl. Parteiversammlung und Sitzung der Basisparteiorganisation von Goskoncert 1957, GARF, f.957, op.1, d.94, l. 35. 342 Vgl. Schreiben des Leiters der Hauptverwaltung für musikalische und Theatereinrichtungen des Kulturministeriums der UdSSR Kabanov an die Verwaltung für Kunstangelegenheiten des Kulturministeriums der ESSR, ERA, f.R-1797, op.1, d.253, 1.27–134. 343 Vgl. Parteiversammlung und Sitzung der Basisparteiorganisation von Goskoncert 1957, GARF, f.957, op.1, d.94, l. 35. 344 Bericht des Kulturministers Tarasov über „Defizite im Estrada- und Konzertwesen“ (1958), GARF, f.A-501, op.1, d.2402, l.l.23–26, hier l.23. 345 Vgl. Bericht über „Mängel in der Arbeit der Konzertorganisationen und Schwierigkeiten, die den normalen Gastspielbetrieb stören und Vorschläge zur Verbesserung“ (1957), GARF, f.957, op1, d.94, l.45–48. 346 Vgl. ebd.
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mit der Kompensation fehlender Streich- und Kammerorchester, Chöre und Folkloregruppen vor Ort zu verbinden schien.347 Um den Einfluss auf die Tourneen und das Repertoire in der Provinz zu vergrößern, entzog das Kulturministerium den örtlichen Konzertorganisationen nun das Recht, Künstler für Auftritte außerhalb des eigenen Gebietes mit einer Gastspielerlaubnis auszustatten, ohne die lokalen Kulturverwaltungen zu konsultieren.348 Damit wurde die Kooperation auf horizontaler Ebene zwischen Philharmonien und Konzertorganisationen zu Gunsten der Moskauer Kontrolle enorm eingeschränkt. Die im Juli 1956 gegründete VGKO erließ für die Philharmonien der RSFSR nun Listen, auf denen die Möglichkeiten des wechselseitigen Austauschs von Künstlern festgelegt wurden.349 Aus Sicht der zentralen Behörden in Moskau kam den Leitern der örtlichen Konzertorganisationen die Schlüsselfunktion in der Durchsetzung kulturpolitischer Leitlinien in der Musik zu. Ihnen widmete die Abteilung für Musikeinrichtungen ab 1956 verstärkte Aufmerksamkeit. Sie bemühte sich um ein genaueres Bild dieser Gruppe mit Hilfe verschiedener Inspektionsreisen in einzelne Gebiete der RSFSR , aber auch der südlichen Republiken, um Details über die Praxis der Konzertorganisationen zu sammeln und infolgedessen lokale Repertoire- und Kaderüberprüfungen in einzelnen Philharmonien zu veranlassen. Die Abteilung forderte von den republikanischen Kulturministerien jährlich Listen über die Leiter der Konzertorganisationen, auf denen Alter, Ausbildung, Arbeitszeit im Bereich der Kunst und eine Einschätzung über ihre Tätigkeit verzeichnet waren.350 Auf Basis dieser aggregierten Daten entstand ein entsprechendes Kaderprofil, mit dem das, was das Zentrum als „elementare Missstände“ bezeichnete, erklärt wurde. Die Mehrzahl der Leiter verfügte über einen Wirtschafts- oder Verwaltungshintergrund, aber kaum über eine spezielle musikalische oder Theaterausbildung.351 Nur 23 aller 55 Leiter lokaler Konzertorganisationen innerhalb der RSFSR waren in den Genuss irgendeiner Form der künstlerischen Ausbildung gekommen, während der größte Teil über eine (nicht immer abgeschlossene) mittlere Schulbildung verfügte.352 Aus Sicht der Moskauer Zentrale erklärte die fehlende (kulturelle) Bildung 347 Vgl. ebd. 348 Vgl. Bericht über „Fragen zu Maßnahmen des Kampfes gegen illegale Konzerte und ‚wilde Brigaden’“ des Kulturministeriums der RSFSR (1958), GARF, f.A-501, op.1, d.2402, l.196–201, hier l.186. 349 Vgl. ebd. 350 Schreiben des stellvertretenden Leiters der Abteilung für Musikeinrichtungen R. Pėsečnikov an das Kulturministerium der ESSR vom 17.10.1959, ERA, f.1787, op1., d.385, l.153–156. 351 Bericht über den Zustand und Maßnahmen der Verbesserung der Estradakonzertarbeit im Land“ vom April 1961, RGALI, f.2329, op.3, d.949, l.7. 352 Vgl. ebd. l.7–8.
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nicht nur den Fokus der meisten Direktoren auf „finanzielle Effekte“, sondern auch die Entstehung eben jener Musikgruppen, denen immer wieder ein schädlicher Effekt auf die ästhetische Erziehung der Bevölkerung unterstellt wurde. Aus Sicht der Abteilung für Musikeinrichtungen lag die Schuld an dieser Situation an der verfehlten Kaderpolitik der jeweiligen republikanischen Kulturministerien, die das breite Netz an Ausbildungsmöglichkeiten nicht nutzen würden. „Wenn man dazu noch die Armee von Geschäftemachern und Verwaltern rechnet, die keine Beziehung zur Kunst hat, außer langjähriger Praxis, in der sie sich im Bereich der Erpressung, Korruption, der Fälschung von Dokumenten, der Organisation illegaler Konzerte qualifiziert hat, dann kann man von den Konzertorganisationen kaum qualifizierte Arbeit erwarten.“353 Trotz aller Kritikpunkte blieb das Recht der Besetzung der Leitungen in der Hand der lokalen Kulturverwaltungen und ging nicht an die jeweiligen Ministerien.354 Aus Sicht der republikanischen Ministerien und lokalen Behörden stand eine wirtschaftliche Herangehensweise an den Kulturbetrieb in der Estrada an erster Stelle. Parallel zu einer Prüfung des Personals gingen eine Reihe von Maßnahmen zur Normierung der Arbeitsbedingungen und repressivere Schritte gegen etwaige Verstöße. Die Einschränkungen der Befugnisse lokaler Konzertorganisationen wurden ergänzt durch das Verbot, Verträge und Geldzahlungen mit Administratoren und Bevollmächtigten einzugehen, die keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in der jeweiligen Stadt hatten.355 Neben diesem Versuch, die Mobilität der nicht fest angestellten Konzertorganisatoren zu beschränken, begrenzte das Ministerium in einem Erlass 1961 auch das maximale Gehalt und die maximale Arbeitszeit dieser Gruppe.356 Beide Maßnahmen zeigen, dass in Zeiten politisch gewünschter steigender Konzertzahlen die lokalen Betreiber öffentlicher Bühnen die Fähigkeiten von mobilen, technisch professionellen Organisatoren in Anspruch nahmen und innerhalb der rechtlichen Möglichkeiten maximal entlohnten. Häufig reisten diese freischaffenden Organisatoren mit einer einzigen Gruppe durchs Land und boten lokalen Philharmonien, Estradabüros und anderen Einrichtungen ihre Dienste an. Zum Ziel einer „effektiveren Verwaltung der Philharmonien“357 forderte das sowjetische Kulturministerium in einem Erlass vom 30. Juli 1960 die Schaffung einer Mustersatzung für alle Konzertorganisationen und eine verbindliche Ordnung, 353 ebd. l.8. 354 Vgl. o. A. Manuskript für ein Treffen im Kulturministerium mit Ministern und Beamten der Kulturverwaltung 1958, GARF, A-501, op.1, d.2402, l.70–74, hier.72. 355 Vgl. Bericht über „Fragen zu Maßnahmen im Kampf gegen illegale Konzerte und wilde Brigaden“, GARF, f.A-501, op.1, d.2402, l.197. 356 „Ergänzung zur provisorischen Verordnung der Bezahlung von nicht fest angestellten Konzertorganisatoren“, GARF, f.A-501, op.1, d.3500, l.69. 357 ERA, f.R-1797, op1., d.433, l.127.
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in der Rechte und Pflichten aller Direktoren und künstlerischer Leiter einheitlich geregelt wurden. Die stärkere Normierung des Tätigkeitsbereichs und Handlungsspielraums der Konzertorganisatoren ging einher mit einer Zunahme repressiver Maßnahmen gegen entsprechende Verstöße. Das Kulturministerium bat nun auch das Innenministerium um verstärkte „Unterstützung im Kampf gegen Organisatoren und Teilnehmer illegaler Konzerte.“358 Vereinzelt finden sich Belege für gerichtliche Verfahren, die gegen die freischaffenden Organisatoren angestrengt wurden.359 Die Möglichkeiten rechtlicher Handhabe gegen diese Gruppe waren entsprechend deren Aktivitäten relativ breit. Im Sommer 1960 stand in Moskau eine Gruppe von „Hochstaplern“ vor Gericht, die eine große Zahl gefälschter Tickets, Vertragsformulare, Vollmachten und Rechnungen produzierten und auf der sogenannten Birža – dem Treffpunkt von Musikern und Organisatoren vor dem Gebäude der Moskauer VGKO – verschiedene Brigaden rekrutiert und illegale Konzerte organisiert hatte.360 Besonders dort, wo Moskauer Instanzen vermeintliche Missstände aufdeckten, erschienen Strafverfahren gegen Organisatoren, aber auch Musiker als geeigneter Beleg, um die Entschlossenheit der lokalen Kulturbehörden zu demonstrieren. Seit 1956 häuften sich Inspektionsreisen der Vertreter des Kulturministeriums in die Republiken und Regionen, um den Kenntnisstand über diesen heterogenen und undurchsichtigen Markt zu verbessern, der sich zwischen 1953 und 1956 nahezu unkontrolliert entwickelt hatte. Einzelne Delegationen reisten im Herbst 1958 nach Taschkent, Leningrad, Kiev, Minsk und eine Reihe kleinerer Städte, wo sie Informationen für anstehende Treffen von Kultur- und Parteivertretern zur Estradafrage sammelten. Hier kontrollierten sie, inwieweit einzelne Beschlüsse umgesetzt wurden und wo sich Missstände zeigten, die in internen Beschlüssen und der sowjetischen Presse gegen Organisationen und Künstler artikuliert wurden.361 Auf Versammlungen des Kulturministeriums in Moskau wiederum erhielten lokale Vertreter die Möglichkeit, ihre Sicht der Dinge darzulegen, auf Kritik zu reagieren und Unterstützung einzufordern. Trotz höchst unterschiedlicher Bedingungen innerhalb der einzelnen Gebiete erwiesen sich die Probleme der Regulierung und Eingrenzung der musikalischen Schattenwirtschaft als ähnlich. Vjasentov, 358 Vgl. Bericht über „Fragen zu Maßnahmen im Kampf gegen illegale Konzerte und wilde Brigaden“, GARF, f.A-501, op.1, d.2402, l.197. 359 Bericht der Staatsanwaltschaft Tallinn an das estnische Kulturministerium vom 15.05.1963, ERA, f.R-1797, op.1, d.580, l.23/24. 360 Bericht der Abteilung „Über Zustand und Maßnahmen der Verbesserung der Konzert-Estrada Arbeit im Land“ vom April 1961 RGALI, f.2329, op.3, d.949, l.1–15, hier l.9. 361 Bericht von A. Karpov an den sowjetischen Kulturminister Michajlov „Über die Delegation von fünf Gruppen mit Spezialisten zu den Konzertorganisationen der Republiken und Provinzen“ vom 12.09.1958, RGALI, f.2329, op.3., d.18, l.12–14.
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der Vertreter der kasachischen Philharmonie, die bereits in den Jahren zuvor für verschiedene lokale „Jazz- und Zigeunerorchester“ kritisiert worden war, diagnostizierte lakonisch, dass eine Kontrolle der steigenden Zahl an Chaltura-Orchestern aufgrund der schieren Größe des Gebiets „physikalisch unmöglich“ sei.362 Im Oblast Stalinsk der Ukrainischen Sowjetrepublik wiederum, einem relativ großen und bevölkerungsreichen Bezirk, resultierte das Problem der sogenannten Chaltura-Orchester aus der schieren räumlichen Größe des Bezirks und der hohen Zahl an Kulturhäusern und Tanzplätzen.363 Der Vertreter der örtlichen Philharmonie, Vasjalev, verwies auf erste Erfolge, die in Zusammenarbeit mit lokalen Parteiorganisationen und Komsomolgruppen erreicht wurden. Diese führten in verschiedenen Kulturhäusern und Tanzplätzen Razzien durch, während gegen eine wachsende Zahl von auftretenden Musikern ohne Gastspielerlaubnis öffentliche Prozesse angestrengt würden. Die Verantwortlichkeit für dieses Phänomen sah er nicht in den Konzertorganisationen, sondern den Gewerkschaften. In deren Kulturhäusern wurden häufig neue Estradagruppen aus Musikern und Schauspielern zusammengestellt, die im System der Konzertorganisationen keine Chance mehr auf legale Auftritte erhielten. Vasjalev, wie auch die Mehrzahl der anderen Teilnehmer, unterstützte zwar förmlich die Forderungen nach Stärkung lokaler Künstlerräte zur verbesserten Repertoirekontrolle. Gegenüber dem Kulturministerium machte er aber deutlich, dass das Problem über Verbote allein nicht zu lösen sei. Der Vertreter der aserbaidschanischen Philharmonie, Zijadov, kritisierte offen die Folgen der peripheren Lage Aserbaidschans für das Musikwesen. Neben dem eklatanten Mangel an „modernem Repertoire“, das nur mit großer Verspätung Baku erreiche, zeigte er sich auch enttäuscht über die Tatsache, dass ein geplantes Gastspiel von Eddi Rosners Jazz Orchester abgesagt wurde, da dessen Programm in Minsk erfolgreich war und dort auf unbestimmte Zeit verlängert wurde. Zijadov kommentierte die Vernachlässigung der südlichen Republiken mit erfolgreichen Orchestern entsprechend lakonisch: „Das heißt, dass sie [die Orchester – M. A.] im Fall eines nicht erfolgreichen Programms in Baku eingeplant werden, anderenfalls bleiben sie in Minsk.“364 Besonders Vertreter der baltischen Republiken stellten sich der Idee, einzig über Verbote eine Besserung der Situation in der Estrada zu erreichen, entgegen. Der Delegierte der Litauischen Philharmonie, Karpavicius, sprach sich für eine Enttabuisierung des Jazz aus, den man als „gesetzmäßige Entwicklung der modernen 362 Vgl. Stenogramm einer Allunionsversammlung am 22.09.1960 von Mitarbeitern der Kulturministerien der Sowjetunion, der RSFSR, der Unionsrepubliken, RGALI, f.2329, op.3, d.861, l.10–83, hier l.44. 363 Vgl. ebd. l.12. 364 ebd. l.32.
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Estradakunst“365 anzuerkennen habe. Seiner Meinung nach verhinderte eine immer noch vorherrschende Trennung von ernster und nichternster Musik, dass man der Musik die notwendige Aufmerksamkeit schenkte.366 Karpavičus verwies auf die hohe Dichte von Mitgliedern der künstlerischen Laientätigkeit in der Litauischen SSR , die für die Verbreitung neuer Trends in der Estrada wichtig wären. Neben Amateurestradagruppen mit europäischer Besetzung existierten circa 700 dörfliche Blaskapellen. Deren 5200 Mitglieder waren auf akzeptables Material angewiesen, dass sie sich anderenfalls selbst organisieren würden.367 Diese Versammlung zeigt, dass das diffuse Feindbild des Chaltura-Orchesters ganz unterschiedliche Phänomene bezeichnete. Riesige Räume, wie die der Kasachischen Republik, mit einer relativ geringen Dichte an Einwohnern und Spielstätten stellten für die staatliche Kontrolle eine ähnliche Herausforderung dar wie eine hohe Dichte an Einwohnern und kultureller Infrastruktur, die den Gewerkschaften unterstanden. Diese polykratische Struktur prägte die Praxis der Kulturpolitik an der Peripherie ebenso wie im Zentrum Moskaus. Dass Chaltura im Einzelfall weder antistaatlich noch kommerziell sein musste, zeigen die zahllosen Amateurorchester, deren Versorgung mit musikalischem Material Zentrum und Peripherie vor eine Herausforderung stellten. Dörfliche Blaskapellen in den baltischen Republiken gewährleisteten in einer solchen Situation einen Grad an musikalischer Kontinuität, die langfristig auch auf die Sowjetunion zurückwirken konnte. Die kritisierte Versorgung der südlichen Republiken mit erfolgreichen und, für die Veranstalter, kommerziell einträglichen Orchestern begünstigte die Schaffung eigener nationaler Estradaorchester. Aufgrund der Probleme Moskaus, die Peripherie mit ausreichendem Repertoire zu versorgen, wurden diese Gruppen häufig zu Testfeldern, um nationale musikalische Strömungen mit westlichen Jazzelementen zu verbinden. Dass das moldawische und armenische Estradaorchester oder die georgische Gruppe „RERO “ die Mehrzahl ihres Repertoires durch die jeweiligen Orchesterleiter und nicht durch staatliche Stellen bezog, bezeichnete das sowjetische Kulturministerium 1961 als „verantwortungsloses Verhalten“ der dortigen Kulturministerien. In Anbetracht dieser Umstände war es jedoch vielmehr eine pragmatische Konsequenz. Hinzu kommt die Frage des Prestiges der einzelnen Republiken, das die Unterhaltung einer attraktiven und modernen Estradagruppe mit sich brachte. Nach Neugründung des Orchesters von Eddi Rosner 1953 verfügte die RSFSR seit 1956 mit dem Oleg-Lundstrem Jazzorchester über ein zweites entsprechendes Aushängeschild moderner und erfolgreicher Jazzmusik. Die Relevanz der staatlichen Estradaorchester von Aserbaidschan, Armenien, Georgien, 365 ebd. l.36. 366 Vgl. ebd. 367 Vgl. ebd. l.39.
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Moldawien, Belarus und Usbekistan für die Ausbreitung des Jazz erkannte das sowjetische Kulturministerium in einem Bericht über die Entwicklung des Jazz im Land bereits 1958.368 Dies galt besonders durch deren Vorbildwirkung für den Amateurbereich. Entsprechend verhalten fiel der Abschlusskommentar der Versammlung durch den Leiter der Abteilung für Musikeinrichtung Zaven Vartanjan aus. Dieser erkannte die Existenz des Phänomens Jazz an, beschwor aber einen gemeinsamen Einsatz der Beteiligten, um ihn zu einer genuin sowjetischen Musik zu machen. Jazz zu attackieren, so Vartanjan, sei dumm, ihn zu verbieten sei noch schlimmer. Man müsse „im Kollektiv zusammenarbeiten, sonst wird es pure westliche Musik.“369 Hinsichtlich der Macht der Moskauer Instanzen, diesen Prozess zu kontrollieren, blieb Vartanjan hingegen auffallend realistisch. Es sei zwar richtig, wenn die nationalen Konzertorganisationen und Kulturministerien den „großen Bruder fragen, der über reichlich Erfahrung verfügt“370. Das Problem könne aber erst gelöst werden, wenn jede Republik ihre eigenen nationalen „vielfältigen und eigenständigen“ Estradaprogramme aufstelle und den einseitigen Fokus auf Jazz zu Gunsten anderer Musikrichtungen überwinde. Begrüßenswert – und hier zeigt sich deutlich der politische Zeitgeist der späten 1950er-Jahre – seien als Maßnahmen vielmehr lokale Initiativen, wie die des Komsomol, dessen Jugendgruppen in Klubs und auf Tanzflächen Razzien durchführten.371 Die Rolle des Faktors Geografie für die sowjetische Musikpolitik zeigt sich nicht nur in den Spannungen zwischen Zentrum und Peripherie oder zwischen russischen und nicht-russischen Republiken, sondern auch innerhalb der großen Städte. Besonders dort schränkte das Nebeneinander von Konzertorganisationen und Gewerkschaftseinrichtungen die Reichweite der ersteren ein. Auf einer Parteiversammlung der Moskauer Estrada am 31. Januar 1959 strich der Leiter Sokolov gleich zu Beginn heraus, dass eine der zentralen Aufgaben die kulturelle Versorgung der 500 Klubs im Stadtgebiet sei, von denen bisher lediglich 90 erreicht würden.372 Jede noch so kleine Einrichtung des „Moskauer Neulands“ („Moskovskaja Celina“) müsse mindestens zweimal im Monat mit den eigenen Gruppen bespielt werden, um die dortigen „stümperhaften Gruppen“ („Chalturnye grupy“) zu verdrängen.373 In der kulturellen Infrastruktur der Stadt spiegelte sich der geringe Einfluss der Konzertorganisationen – von 900 Parks und Stadtgärten, die über 368 „Bericht über die Entwicklung des Jazz im Land“ (1958), RGALI, f.2329, op.3, d.640, l.30–40, hier l.31. 369 Stenogramm Allunionsversammlung 22.09.1960, RGALI, f.2329, op.3, d.861, l.10–83, hier l.54. 370 ebd. l.57. 371 Vgl. ebd. l.41–42. 372 Vgl. Geschlossene Parteiversammlung der Moskauer Abteilung der VGKO vom 31.01.1959, CAOPIM, f.6355, op.1, d.25, l.2–5, hier l.2. 373 Vgl. ebd.
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Bühnen verfügten, unterlagen lediglich 250 dem Kulturministerium, während 650 den Gewerkschaften und anderen Organisationen unterstanden.374 Nicht nur in der sowjetischen Peripherie, wo viele Konzertorganisationen gar nicht über eigenen Räumlichkeiten für Konzerte verfügten, war eine Abhängigkeit von der gewerkschaftlichen Infrastruktur eklatant. Der zunehmende Mangel an Räumlichkeiten und Plätzen für die geforderte Ausweitung der Konzertaktivitäten im Zentrum weckte auf Seiten des Kulturministeriums Begehrlichkeiten gegenüber Gewerkschaftsklubs, Kulturhäusern und Freiluftbühnen. Forderungen im Jahr 1958, die Gewerkschaften zu verpflichten, ihre Klubs und Kulturhäuser für klassische Konzerte zur Verfügung zu stellen, stießen jedoch auf Widerstand.375 Sie widersprachen dem Interesse der lokalen Leiter an einem vielfältigen und populären Programm, mit dem alle Schichten des jeweiligen Stadtbezirks angesprochen werden sollten. Die Verantwortlichen der Klubs, so monierte das Kulturministerium, seien sowieso „eher am Zeigen von Filmen interessiert als an Konzerten.“376 Vertreter der Leningrader Konzertorganisation Lenėstrada klagten über die ablehnende Haltung der Kulturhäuser, ein verbindliches Programm für die Durchführung von Tanzabenden zu erstellen.377 Innerhalb des städtischen Marktes rangen die Konzertorganisationen mit den Gewerkschaften somit auch um die Besucherzahlen, die für beide ein zentrales Kriterium für erfolgreiche Planerfüllung waren. Ihren eigenen Anspruch rechtfertigten deren Vertreter wiederum mit der scharfen Trennung von künstlerischer und wirtschaftlicher Tätigkeit: In Leningrad gibt es viele Klubs mit unterhaltendem Charakter und es gibt eine Reihe von Wirtschaftsfunktionären, die ihnen ihren Geschmack diktieren. Das ist der große Bereich, den wir uns vornehmen sollten, weil in der gegenwärtigen Etappe bei uns unvermeidlich ein Widerspruch zwischen schöpferischer Ordnung und wirtschaftlicher Tätigkeit entsteht.378
374 Vgl. Defizite im Estrada und Konzertwesen (1958), GARF, A-501, op.1, d.2402, l.23–25, hier l.24. 375 Vgl. „Über Maßnahmen für die weitere Verbesserung der künstlerischen Bedienung der Werktätigen der RSFSR“ vom 15.01.1958, GARF, f.A-501, op.1, d.2402, l.1–15, hier l.15; weiterhin Tarasov an Kulturminister RSFSR A. I. Popop vom 12.07.1958 Bericht über „Zustand und Maßnahmen der weiteren Entwicklung von Theater-, Musik- und bildender Kunst der RSFSR“, GARF, f.A501, op.1, d.2403, l.22. 376 „Defizite im Estrada und Konzertwesen“ (1958), GARF, A-501, op.1, d.2402, l.23–25, hier l.23. 377 Vgl. Allgemeine Parteiversammlung des Basisparteiorganisation der LGKO vom 14.01.1957, CGAIPD SPb, f.771, op.6, d.4, l.1–6, hier l.6. 378 Parteiversammlung der allrussischen Konzertorganisation, Leningrad 22.10.1958, CGAIPD SPb, f.771, op.6, d.7, l.61–100, hier l.65.
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Ein Zwischenfazit der geografischen Dimension sowjetischer Musikpolitik am Ende der 1950er-Jahre macht zwei Aspekte deutlich. Wenn man als Erfolgskriterium das Zurückdrängen der sogenannten „stümperhaften Gruppen“ anlegt, war der ab 1956 verschärfte Kurs Moskaus zu Zentralisierung, Kontrolle und Einschränkung der Befugnisse lokaler Konzertorganisation wenig erfolgreich. Maßnahmen wie die exemplarische strafrechtliche Verfolgung von Musikern und Organisatoren wirkten allenfalls gegen Symptome, aber nicht die Ursachen der Widerspenstigkeit des Marktes gegenüber dem kulturpolitischen Leitbild Moskaus. Die Akteure nicht sanktionierter Gastspiele konnten zwar in sozialistischen Feindbildern von „Geschäftemacherei“ gefasst werden und dem positiven Bild einer vermeintlich kultivierten Musikpolitik in der Estrada gegenübergestellt werden. „Wilde Brigaden“ oder „illegale Orchester“ jedoch waren, anders als sprachlich suggeriert, keine antistaatlichen Phänomene, sondern standen in einem symbiotischen Verhältnis mit staatlichen Einrichtungen, die sie mit wachsender Entfernung zwischen Moskau und der Provinz erst möglich machten. Auch Großstädte wie Moskau oder Leningrad waren umkämpfte Räume um kulturelle Hoheit, in denen Konzertorganisationen untereinander und mit der Infrastruktur der Gewerkschaften um die Vorherrschaft rangen. Inwieweit die Suggestionskraft von Begriffen wie „levyj“ oder „chalturnyj orkestr“ eine Reflexion der Verantwortlichen über die wirklichen Ursachen des Phänomens blockiert hat, bleibt indes Spekulation; begünstigt hat sie sie sicherlich nicht. Neben der ungenügenden Anzahl von Ensembles und Solisten, die bereit waren auf Tournee zu gehen und ein populäres Programm darbieten konnten, stellte deren Planung und Organisation eine bürokratische Herausforderung dar, die auf Unionsebene noch drastischer wurde. Um Goskoncert in dieser Tätigkeit zu entlasten, wurde die Aufgabe der Organisation des zwischenrepublikanischen Austauschs seit Beginn des Jahres 1960 an die Kulturministerien der Republiken überstellt.379 Es steht zu vermuten, dass sich auch diese Reform in den größeren politischen Kontext von Chruščevs widersprüchlich konzipierter Abgabe einzelner Unionskompetenzen an die Republiken einordnen lässt, von denen die Einrichtung der sogenannten Volkswirtschaftsräte das prominenteste Beispiel ist.380 Die parallele Koordination von Gastspielen sowjetischer Künstler im In- und Ausland sowie ausländischer Gruppen in der UdSSR überforderte Goskoncert, das sich ab 1960
379 Direktor von Goskoncert S. Šaškin an den Kulturminister der ESSR A. Ja. Ansberg vom 27.11.1959, ERA, f.R-1797, op.1, d.385, l.171. 380 Vgl. Kibita, Nataliya: De-Stalinising Economic Administration. The Alternative Version of Ukraine (1953–1956), in: Thomas Bohn/Rayk Einax/Michel Abeßer (Hg.), De-Stalinisation Reconsidered. Persistence and Change in the Soviet Union. Frankfurt a. M. 2014, S.161–173.
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nur auf die Organisation der letzten beiden konzentrieren sollte.381 Diese Reduzierung von Aufgaben entsprach dem hohen Prestige, das die sowjetische Führung dem internationalen Austausch beimaß. Dieser wurde zudem in steigendem Maße von der westlichen Presse beobachtet – ein gescheitertes Konzert im Ausland wog aus Perspektive der Initiatoren mehr als der Ausfall von drei Viertel der 400 in der Ukrainischen SSR geplanten Konzerte im Jahr 1960.382 Aufgrund einer weiteren Verschärfung der kulturellen Versorgungslage im Inneren brachen die Verantwortlichen die Reform 1963 ab und gaben die Aufgaben an Goskoncert zurück.383 Weder erhielt die Abteilung für Musikeinrichtungen des sowjetischen Kulturministeriums, die die Koordination zwischen den republikanischen Ministerien übernehmen sollte, mehr Stellen, noch besserte sich die Lage der Versorgung der Republiken mit Gruppen und Solisten aus dem Zentrum.384 Dabei wurden nicht nur Regionen im Kaukasus oder Zentralasien vernachlässigt, in denen „seit Jahren keine führenden Orchester mehr auftraten“385, sondern beispielsweise auch die baltischen Republiken. 1963 fielen dort durch kurzfristige Absagen bis zu 50 Prozent aller plakatierten Konzerte sowjetischer Künstler aus, was wiederum die Planziele der örtlichen Philharmonien gefährdete.386 Auch die VGKO schien Ende der 1950er-Jahre mit der Bedienung der Peripherie überfordert, umso mehr als mit dem lokalen Kooperationsverbot von Philharmonien und der Zentralisierung des Gastspielplans deren bürokratischer Aufwand gestiegen war. Bereits 1960 kam es zu einer schrittweisen Rücknahme dieser Zentralisierung, die von Forderungen nach einer stärker regionalen Entwicklung der Konzertorganisationen und der primären Versorgung der Bevölkerung ihres eigenen Gebietes begleitet wurden.387 Mit der Auflösung der VGKO 1964 fand diese Politik der stärkeren Fokussierung auf die Regionen einen vorläufigen Abschluss, wenn auch zum Preis der Schaffung neuer Verwaltungsstrukturen. Der Beschluss des Ministerrates sah die Einrichtung von Zonen innerhalb der Republiken vor, innerhalb derer der „Austausch von Konzertbrigaden und einzelnen Darstellern 381 Vgl. Direktor von Goskoncert S. Šaškin an den Kulturminister der ESSR A. Ja. Ansberg vom 27.11.1959, ERA, f.R-1797, op.1, d.385, l.171. 382 Vgl. „Über Zustand und Maßnahmen der Verbesserung der Konzert-Estrada Arbeit im Land“ vom April 1961, RGALI, f.2329, op.3, d.949, l.1–15, hier l.12. 383 Vgl. Erlass Nr. 27 des Kulturministeriums der UdSSR „Über die Organisation der Gastspieltätigkeit innerhalb der Union“ vom 25.01.1963, ERA f.R-1797, op.1, d.580, l.14–15. 384 Vgl. ebd. l.19. 385 ebd. 386 Leiter der Verwaltung für Kunstangelegenheiten V. Markus an den Leiter der Abteilung für musikalische Einrichtungen im Kulturministerium der UdSSR Z. Vartanjan vom 19.06.1963, ERA, f.R-1797, op.1, d.534, l.21–23. 387 Vgl. Beschluss des Ministerrates der RSFSR Nr. 1321 vom 30.08.1960 „Über Maßnahmen der weiteren Entwicklung der Konzert-Estrada Arbeit in der RSFSR“.
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zwischen den Oblasts“ zu verwirklichen sei. Die Größe einer solchen Zone konnte mehrere Oblaste umfassen und sollte in Abhängigkeit von der Größe und Effektivität bestehender oder neu zu gründender Philharmonien ermessen werden.388 Mit der Gründung von Roskoncert 1964 wurde die Versorgung der autonomen Republiken, Kreise und Gebiete der RSFSR in die Hand einer Organisation gelegt, die die Künstler von Moskoncert, Lenkoncert, der Moskauer Vereinigung künstlerischer Kollektive (MOChK), der Moskauer Abteilung für Musikensemble und der Allrussischen Schöpferischen Werkstatt für Estradakunst (VTMĖI) in sich vereinigte. Die hier vorgenommene Zentralisierung teilte die Gesamtheit von musikalischen Gruppen nun in die des offiziellen Gastspielplans, die von Roskoncert und Goskoncert verwaltet wurden, und alle übrigen, die auf regionaler Ebene von den Philharmonien eigenständig ausgetauscht werden konnten.
4.2.5 „Und wer zahlt dafür?“ – Unterhaltungsmusik und der Plan Stalin sagte, dass die Schwerindustrie nicht gleich Effekte zeigt. Aber die Leichtindustrie. So ist es bei uns. Sei es drum, dass unsere Arbeit am Anfang Verluste generiert. Irgendwelche Kosten fallen immer an. Wenn wir gute Arbeit machen, sie aber in offenen Konzerten Verluste einbringt, müssen wir sie trotzdem zeigen. So ist es auch in der Schwerindustrie, die erst nach einiger Zeit Ergebnisse bringt. Dabei werden bei uns Kader heranwachsen.389
Dieser Redebeitrag auf einer Parteiversammlung der Mosėstrada steht symptomatisch für das dominierende Selbstverständnis vieler Kulturbürokraten des sowjetischen Konzertwesens im Jahr 1953. Der Redner Peršin forderte in Analogie zur Schwer- und Leichtindustrie, die Konzertarbeit der Estrada nicht nach kurzfristigen wirtschaftlichen, sondern langfristigen ideologischen Ergebnissen zu bewerten. Innerhalb der Parteiversammlungen von Konzertorganisationen dominierten ideologische Argumente, während wirtschaftliche Kriterien von Effizienz und Planerfüllung eher sporadisch diskutiert wurden. Jedoch liegt genau in der Frage nach den Kosten sowjetischer Kulturpolitik und der Wahrnehmung ihrer Effizienz durch die Akteure ein wichtiger Schlüssel zur Erklärung des Wandels sowjetischer Unterhaltungsmusik. Bislang fehlen aussagekräftige Studien zur Finanzierung des sowjetischen Kulturapparates, seiner Kosten und Wirtschaftlichkeit weitestgehend. 388 Vgl. Beschluss des Ministerrates der RSFSR Nr. 1182 vom 16.09.1964 „Über Maßnahmen zur Verbesserung der Organisation von Konzertarbeit in der RSFSR“. 389 Geschlossene Parteiversammlung der Mosėstrada vom 24.03.1953, CAOPIM, f.6355, op.1, d.16, l.34.
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Anhand von teils fragmentierten Zahlen zu Kosten, Gewinnen und Zuschauerzahlen, aber auch des Wandels in der politischen Diskussion um Wirtschaftlichkeit kann im Folgenden jedoch exemplarisch die Hypothese einer Ökonomisierung des Konzertwesens im Laufe der 1950er- und 1960er-Jahre diskutiert werden. Es gilt zu zeigen, durch welche Faktoren Peršins Metapher der Leicht- und Schwerindustrie an Geltung verlor, das „Populäre“ in der Musik an ökonomischer Relevanz gewann und damit das Revival des Džaz als sowjetische Unterhaltungsmusik begünstigte. Im Verlauf der 1950er-Jahre vollzog sich eine grundlegende Abkehr von jenem eingangs zitierten anti-ökonomischen Verständnis der Kulturpolitik, womit die Durchsetzung des populären Idioms in der sowjetischen Musik erst möglich wurde. Im jedem Forum einer Parteigruppe der Konzertorganisation überwogen zu Beginn ideologische Fragen, während wirtschaftliche Probleme weniger zentral thematisiert wurden. Über Themen, wie die florierende musikalische Schattenwirtschaft, die sich in einem teils symbiotischen Verhältnis zu offiziellen Strukturen entwickelte, konnte nur in bestimmten Situationen diskutiert werden, besonders dann, wenn sie die Frage fehlender Kontrolle über andere Akteure des sowjetischen Musikmarktes berührten und damit zur Machtfrage für die Partei wurden. Dahinter stand nicht nur eine weltanschauliche Aversion gegen ökonomische Mechanismen, die man der westlichen Welt, aber nicht der eigenen sozialistischen zuordnete. Diese Auseinandersetzungen bewegten sich zwischen zwei polaren Konstellationen von Akteuren. Den „Ideologen“, die sich als Transmissionsriemen der Parteipolitik in die Konzertorganisationen verstanden, standen die „Bürokraten“ gegenüber, die für die praktische Organisation von Konzerten und die finanzpolitischen Aspekte der Arbeit verantwortlich waren. Diese idealtypische Trennung schloss nicht aus, dass Wirtschaftsfunktionäre oder Konzertorganisatoren, wenn nicht selbst Parteimitglieder, gegenüber den lokalen Parteiversammmlungen rechenschaftspflichtig waren. Eine Unterscheidung zwischen beiden ist eher in bestimmte Positionen zu finden, die sich in den Debatten wiederholten und die als Pole verstanden werden können, zwischen denen sich die staatliche Organisation der Unterhaltungsmusik nach 1953 entwickelte. Nicht zuletzt der Entstalinisierungsdiskurs richtete sich auch an diesen Akteursgruppen aus – ideologische Erneuerung oder Kritik am Bürokratismus waren zentrale Narrative, mit denen eine innenpolitische Neuausrichtung nach 1956 diskutiert wurde.390 In der praktischen Arbeit der Konzertorganisationen boten nicht nur die Repertoirefrage Angriffsfläche für ideologische Kritik, sondern auch Personalfragen und Organisationsmodi von Konzerten. Leiter von Philharmonien und Estradabüros verantworteten die Erfüllung von wirtschaftlichen Planziffern zunächst gegenüber den jeweiligen örtlichen und regionalen Kulturverwaltungen. Wirtschaftliche 390 Vgl. Schattenberg, „Democracy“ or „Despotism“?
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Argumente gewannen jedoch häufig auch in ideologischen Auseinandersetzungen an Brisanz, so beispielsweise bei der Disziplinierung von Musikern, der argumentativen Unterfütterung ideologischer Beschlüsse oder der Kritik an Musikgruppen, die als elitär wahrgenommen wurden. Im Zuge der aufziehenden antikosmopolitischen Kampagne im Spätstalinismus wurde das Jazzorchester von Boris Renskij per Beschluss des Agitprop des ZK im September 1946 aufgelöst.391 Neben dem Verweis auf ideologisch fremde Musik wurde der offensichtlich falsche Vorwurf der mangelnden Planerfüllung im Rahmen der VGKO angeführt. Damit ließen sich die vermeintlich fehlende Popularität des Orchesters und die staatlichen Verluste scheinbar objektiv mit Zahlen belegen.392 Auch in den 1950er-Jahren blieb der Verweis auf Kosten ein zentrales Argument, um eine ideologisch motivierte Kritik zu untermauern. Das Stadtkomitee der kommunistischen Partei der ukrainischen Stadt Kadiev empörte sich in einem Beschwerdeschreiben an das ZK-Mitglied Michail Suslov im März 1955 über einen Auftritt von Eddie Rosners Jazzorchester.393 Die relativ abstrakte Kritik an seinem Jazzprogramm als „ideenlos“, „lärmend“ und „fremd für das normale menschliche Ohr“ – man beschuldigte ihn der Verletzung der ZK-Resolution von 1948 zur Musik – wurde ergänzt und den neuen ideologischen Bedingungen angepasst. Den Autoren sei es nicht begreiflich, wie diese „Täuschung“ fast doppelt so viel kosten könne wie ein philharmonisches Konzert mit „verständlichen Melodien“ und warum ein eifriger Bergmann mit seiner Frau 50 Rubel für einen verdorbenen Abend ausgeben solle. Wirtschaftliche Argumente konkretisierten und verstärkten in beiden Beispielen den ideologischen Vorwurf fehlender Massenwirksamkeit oder zu elitärer Ausrichtung. Im der Praxis des Konzertbetriebs fanden ideologische und wirtschaftliche Anforderungen ihren Ausdruck in der Unterscheidung zwischen „offenen“ und „garantierten“ Konzerten. „Garantierte Konzerte“ waren Konzerte mit einer begrenzten Zahl an Plätzen, meist in Konzerthallen und Sälen, deren Eintrittskarten häufig subventioniert waren und in Kontingenten an verschiedene Gruppen im Voraus vergeben wurden. Die Gesamtkosten und der Gewinn waren für die Konzertorganisation vorher festgelegt und damit „garantiert“. Das Grundprinzip dieses Formates war so alt wie der sowjetische Staat, dessen Kulturpolitik seit den 1920er-Jahren darauf ausgerichtet war, die vermeintlich „bürgerliche“ Hochkultur den Massen der Werktätigen zugänglich zu machen.394 Die Gewinnspanne bei 391 Vgl. Leiter der Abteilung Kunst der Verwaltung für Propaganda und Agitation des ZK VK(B) an A. A. Ždanov vom 28.11.1946, in: Džachangir G. Nadžavof (Hg.), Stalin i kosmopolitizm, S. 96–98. 392 Vgl. ebd. 393 Vgl. Schreiben des Sekretärs des Stadtkomitees von Kadievsk V. Ševčenko an den Sekretär des ZK M. A. Suslov vom 28.03.1955, in: CK i Kul’tura , S. 386–387. 394 Vgl. Nelson, Music for the revolution.
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„offenen Konzerten“ fiel höher aus, da es seltener Platzbeschränkungen gab und deren Karten im Schnitt teurer verkauft wurden. Sie fanden vornehmlich in großen Räumlichkeiten und auf den Konzertplätzen der Städte statt. Die VGKO erwirtschaftete 1964 mit 5000 offenen Konzerten in Moskau und Leningrad 751.000 Rubel, während 32.000 garantierte Konzerte mit 181.000 Rubel Gewinn veranstaltet wurden.395 Dieser singuläre Wert von 17 Prozent der Konzerte, die 80 Prozent aller Einnahmen einbrachten, mag variiert haben, kann unter den skizzierten Rahmenbedingungen aber eine generelle Orientierung vermitteln. Die Möglichkeit, aus der offenen Tätigkeit signifikante Einnahmen zu generieren, stand somit in Abhängigkeit von attraktiven Gruppen und einer bestimmten Mindestzahl an Zuschauern. Die überplanmäßigen Verluste von zwei Millionen Rubel, die der Ministerrates der RSFSR 1960 den Konzertorganisation von Jakutien, des Altaj, Tschetscheniens und Novosibirsk bescheinigte, sind in diesem Zusammenhang zu verstehen.396 Neben den fehlenden Auftritten populärer Gruppen aus Moskau und Leningrad, führten die örtliche Infrastruktur und eine geringe Bevölkerungsdichte zu Bedingungen, die Konzerttätigkeit an der Peripherie finanziell kaum selbsttragend, geschweige denn rentabel machten. Es erklärt gleichzeitig die oft zitierte ablehnende Haltung lokaler Leiter gegenüber klassischer Musik und Folklore. Für den Leiter einer Konzertorganisation bedeutet der Dualismus zwischen Ideologie und Wirtschaftlichkeit enorme Herausforderungen, die über rein gesetzeskonformes Verhalten kaum zu lösen waren. Die Erfüllung der in den Plänen festgeschriebenen Besucher- und Konzertzahlen sowie der Einnahmen, war besonders im Konzertbetrieb, der im Sommer auf Bühnen in Parks und Plätzen angewiesen war, sehr unsicher. Aufgrund eines kalten und regnerischen Sommers verbuchte die Moskauer Abteilung der VGKO 1958 600.000 Rubel an finanziellen Ausfällen, die aus den wetterbedingt entfallenen offenen Konzerten auf den Freiluftbühnen der Stadt entstanden.397 Weitere Mehrausgaben von insgesamt 450.000 Rubel resultierten aus den Lohnfortzahlungen der „Prostojniki“, die nicht als Musiker zum Einsatz kamen. Auch die politisch forcierte Ausweitung der Konzerttätigkeit in die Peripherie belastete die städtischen Organisationen, da die dortigen Philharmonien häufig nur verzögert für die entsendeten Gruppen bezahlten.398 Außenstände der Peripherie und ihrer Philharmonien bei den zentralen Organisationen wie der
395 Vgl. Stenogramm Partei- und Wirtschaftsaktiv VGKO vom 05.03.1964 (Bilanz der finanziellen-wirtschaftlichen Tätigkeit der VGKO für 1963), CAOPIM, f.6335, op.1, d.38, l.49. 396 Vgl. Beschluss „Über Maßnahmen der weiteren Entwicklung der Konzert-Estrada Arbeit im Land“ vom 30.08.1960. 397 Vgl. Gesamtbilanz VGKO 1958, GARF, A-501, op.1, d.2412, l.20. 398 Vgl. „Über Maßnahmen für die weitere Verbesserung der künstlerischen Bedienung der Werktätigen der RSFSR“ vom 15.01.1958, GARF, f.A-501, op.1, d.2402, l.1–15, hier l.15.
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VGKO oder Goskoncert konnten deren Jahresbilanzen zusätzlich verschlechtern.399 Hinzu kamen die Folgen hoher Personalfluktuation und fehlender vertikaler Mobilität von Künstlern für die Beständigkeit von Musikgruppen. Die politisch forcierte Bedienung der Neulandgebiete generierte für die republikanischen Philharmonien zusätzliche Kosten. Dass dieser Faktor für die Gesamtbilanz an Gewicht gewann, zeigt die Abtrennung der Finanzierung von Konzerten im Neuland aus dem Gesamtbudget von Goskoncert im Jahre 1958.400 Die Finanzierung des Konzertwesens führt zur Frage nach der Wirtschaftlichkeit einzelner Musikrichtungen. Stellt man Kostenfaktoren einzelner Orchester und die Spannbreite möglicher Einnahmen in Beziehung zueinander, ergibt sich ein deutliches Bild. Estradaorchester generierten aus Perspektive der Arbeitsgeber geringere Kosten, da deren Musiker einen geringeren Tarif bezogen als klassische Musiker und mit bis zu 18 Auftritten im Monat am häufigsten zum Einsatz gebracht werden konnten. Diesem Genre als Ganzem standen mehr Musiker zur Verfügung, da sich unter ihnen viele Künstler befanden, die den Sprung in die klassische Musik aufgrund fehlender Qualifikation nicht schafften und die offiziellen Anforderungen in der Unterhaltungsmusik geringer waren als in der klassischen Musik. Große klassische Orchester wiederum bedurften zur Aufführung einer Sinfonie nicht nur deutlich mehr Musiker, die entsprechend höhere Lohnkosten verursachten. Sie verbrauchten zudem deutlich mehr Geld bei Konzerttourneen aufgrund höherer Reise- und Unterkunftskosten. Die Abteilung für Kunstangelegenheiten des ESSR listete auf Anfrage des sowjetischen Kulturministeriums 1959 die drei großen musikalischen Gruppen der Staatsphilharmonie auf, die trotz fehlender Angaben über die Zahl der absolvierten Auftritte das wirtschaftliche Verhältnis von E- und U-Musik verdeutlichen.401 Der Staatliche Akademische Männerchor der ESSR verfügte über 84 Stellen, die für sechs Monate Kosten in Höhe von 516.000 Rubel generierten. Für das ganze Halbjahr ergab sich für die Philharmonie ein Verlust von 548.000 Rubel für den Chor. Trotz einer nicht genau zu bestimmenden Zahl von Auftritten, die aufgrund von garantierten Konzerten wohl eher geringe Einnahmen generierten, stiegen demnach die Gesamtkosten des Chores für die Philharmonie durch eine Reihe von Faktoren, wie Transport, Unterkunft, aber auch die Probenzeiten für die Erarbeitung neuer Programme. Im Rahmen des in Moskau festgesetzten musikalischen Austauschplans musste das
399 Vgl. ebd. 400 Parteiversammlung der Basisparteiorganisation von Goskoncert, GARF, f.957, op.1, d.94, l.36. 401 Schreiben des Leiters der Verwaltung für Kunstangelegenheiten des estnischen Kulturministeriums V. Markus an den stellvertretenden Leiter der Abteilung für musikalische Einrichtungen des sowjetischen Kulturministeriums R. Pasečnikov vom 31.07.1959, ERA, f.R-1797, op.1, d.385, l.86–87.
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estnische Kulturministerium eine große Tournee des Chores durch die Sowjetunion mit 100.000 Rubel aus dem Republiksbudget subventionieren.402 Das Estradaorchester der ESSR wiederum erzeugte Lohnkosten von 114.000 Rubel für 21 Personen, wohingegen durch eine hohe Zahl von Auftritten bei hauptsächlich offenen Konzerten aber ein Plus von 63.900 Rubel erwirtschaftet wurde.403 Eine ähnliche Diskrepanz zwischen ideologischem Wert eines Genres und seiner finanziellen Rentabilität zeigt sich im Bereich der Folklore. Der Planentwurf für ein neu zu gründendes Orchester für Volksinstrumente kalkulierte für die zweite Hälfte des Jahres 1959 und das Jahr 1960 154 Auftritte, die insgesamt 56.000 Rubel einbringen sollten. Dem gegenüber standen für Lohn, Proberäume, Kostüme, Instrumente und Transport Ausgaben in Höhe von 364.300 Rubel, was eine Subventionssumme von 318.300 Rubel vom estnischen Kulturministerium nötig machte.404 Was sich an diesen zwei Beispielen für die Musikpolitik auf Republiksebene zeigt, ist in seiner Essenz auch in lokalen Kontexten zu finden. In ihrer Lokalstudie für die Geschichte der Konzertorganisation im Uralgebiet von 1917 bis 1970 kommt Julija Stachanova zu ähnlichen Befunden. Estradakonzerte überwogen nicht nur während des gesamten Untersuchungszeitraums gegenüber philharmonischen Konzerten, sondern halfen mit ihren Einnahmen auch, das „dauerhafte [finanzielle – M. A.] Defizit für Veranstaltungen im philharmonischen Plan“405 zu kompensieren. Auch zentrale Organisationen wie die VGKO hatten an dieser von oben gesteuerten Subventionierung mitzuwirken. Die VGKO wurde auf Erlass des Kulturministeriums 1964 verpflichtet, ihren Jahresgewinn von 300.000 Rubel für die „Bezahlung großer philharmonischer Kollektive umzuleiten“406, auch wenn dieses Geld dann in der Finanzierung der eigenen Gastspieltätigkeit fehlte. Um die Lage der jeweiligen Leiter der Konzertorganisationen beurteilen zu können, greift eine einfache Gegenüberstellung vermeintlich populärer und gewinnbringender Unterhaltungsmusik auf der einen und ideologisch legitimer und kostenintensiver Klassik und Folklore auf der anderen Seite aber zu kurz. Auch klassische Orchester und Solisten sowie Folkloregruppen konnten große Popularität und Zuschauerzahlen erreichen, die durch das System „garantierter Konzerte“ 402 Vgl. Direktor des Estnischen Philharmonie V. Vekšin an den Kulturminister der ESSR A. Ja. Ansberg vom 25.08.1959, ERA, f.R-1797, op.1, d.386, l.121–123. 403 Vgl. ebd. 404 Vgl. Projekt des Kostenplans für ein Orchester von Volksinstrumenten o. D.[erste Hälfte 1959], ERA, f.R-1797, op.1, d.386, l.32–34. 405 Stachova, Julija: Entstehung und Entwicklung der konzertphilharmonischen Organisation im Ural 1917–1970, Diss., Čeljabinsk 2005. [http://cheloveknauka.com/stanovlenie-i-razvitie-kontsertnofilarmonicheskih-organizatsiy-na-urale-v-1917-1970-e-gg, letzter Zugriff: 27.04.2018]. 406 Bilanz der wirtschaftlich-finanziellen Tätigkeit der VGKO für 1963, CAOPIM, f.6335, op.1, d.38, l.22–51, hier l.33.
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aber weniger finanzielle Mittel abwarfen. Die Erwartungshaltung an die Arbeit der Konzertorganisationen war vielfältig – nicht nur Partei und Komponistenverband artikulierten Ansprüche, auch einzelne Bevölkerungsgruppen sollten sich in einer angemessenen Genrevielfalt vertreten sehen. Dazu zählte auch Musik für Kinder („detskij žanr“), deren Organisation ebenfalls eine finanzielle Herausforderung darstellte.407 Am Beispiel des Leiters der Moskauer Estrada Nikolaj Barzilovič wird deutlich, in welchen rechtlichen Grauzonen ein erfolgreicher Konzertorganisator zu manövrieren hatte. Barzilovič, 1912 geboren, war kulturell nicht in der Estrada, sondern im Zirkus sozialisiert und verwurzelt. Nachdem er anfangs als Jongleur in Erscheinung trat, folgte bald die professionelle Ausbildung zur Inszenierung von Zirkusnummern (1933) und als Regisseur (1947).408 Zwischen 1947 und 1950 oblag ihm die Leitung der Staatlichen Schule für Zirkuskunst, der einzigen Ausbildungsstätte für Zirkuskünstler, welche bereits Ende der 1920er-Jahre eingerichtet wurde und ab Beginn der 1960er-Jahre auch für die Ausbildung von Estradakünstlern zuständig war. Zwischen 1951 und 1955 leitete er Mosėstrada und geriet in eine Reihe von Konflikten um Inhalt, Form und Finanzierung des sich im Umbruch befindlichen Genres. Barzilovič ließ sich bei der Leitung der Organisation von zwei Maximen leiten – der Vorstellung von Estrada als genuin populärer Musik und der erfolgreichen Planerfüllung, die der Organisation einen entsprechenden Handlungsspielraum und seiner Stellung eine entsprechende Stabilität garantierte. Unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit scheint seine Politik relativ erfolgreich gewesen zu sein, wobei dies einherging mit einer zurückhaltenden Einstellung gegenüber neuen Gruppen und Programmen. Der Mitarbeiter Polymoiko kritisierte am 8. Juli 1953, dass der finanzielle Plan offensichtlich übererfüllt wurde und neue Arbeiten zwar diskutiert, im Programm jedoch kaum neue Namen auftauchen würden.409 Auch innerhalb des Kulturministeriums beklagte man sich über seine Person, da er sich weigere, „große literarische Formen für die Estrada aufzubereiten.“410 Diese finanzielle Konsolidierungspolitik provozierte ideologische Kritik aus verschiedenen Richtungen, erhöhte aber längerfristig den Handlungsspielraum der Organisation. Gegenüber dem Ministerium versuchte Barzilovič, mehr Autonomie zu gewinnen, indem überplanmäßiger Gewinn für den Repertoireerwerb von Mosėstrada zur 407 Vgl. Offener Parteiversammlung der Mosėstrada vom 08.07.1953, CAOPIM, f.6355, op.1, d.16, l.67–76, hier l.69. 408 Vgl. Art. „Barzilovič“, A. Ja. Šneer/R. E. Slavskij (Hg.) Cirk. Malen’kaja Ėnciklopedija. Moskau 1978. 409 Vgl. Parteiversammlung Mosėstrada vom 24.03.1953, CAOPIM, f.6355, op.1, d.16, l.19–40, hier l.21. 410 Vgl. Offene Parteiversammlung der Basisparteiorganisation der Hauptverwaltung für Musikeinrichtungen vom 30.07.1953, GARF f.957, op.1, d.15, l.4.
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Verfügung gestellt werden sollte.411 Als Leiter der hauptstädtischen Konzertorganisation waren jedoch nicht nur diplomatisches Geschick gegenüber Vertretern des Kulturministeriums und der Partei gefragt, sondern auch gute Beziehungen zu Künstlern und Leitern von Konzerteinrichtungen. In diesem Kontext ist die weit verbreitete Praxis illegaler Konzerte zu verstehen, durch welche Barzilovič im Frühjahr 1955 seine Leitungsposition der Moskauer Estrada vorläufig verlor. Auslöser dafür war der Artikel „Das, was der Zuschauer nicht sieht …“, der am 15. Januar 1955 in der Sovetskaja Kul’tura erschien.412 Entgegen hunderten Erlassen und Anordnungen der kulturellen Behörden, so der Artikel, sei die Praxis dieser Konzerte besonders im Kreis um den Leiter der Moskauer Estrada Barzilovič weit verbreitet.413 Diese würden den teilnehmenden Künstlern keine Kopeke zahlen und die kostenlosen Konzerte nur nutzen, um „gute Beziehungen zu dieser oder jener ‚nützlichen‘ Einrichtung und Organisation zu pflegen.“414 In diffamierendem Duktus unterstellte der Autor den Initiatoren persönliche und materielle Motive und ein konspiratives Vorgehen. Ziel der Konzertorganisatoren seien Hotelzimmer im Stadtzentrum, der Bau einer Garage für das eigene Auto oder der Zugang zu einer privilegierten Klinik. Der Autor räumte ein, dass die vermeintliche Ausrede vieler Leiter von Konzertorganisationen, „von nichts zu wissen“ tatsächlich richtig sein könnte. Daraus leitete dieser aber den Vorwurf ab, Barzilovič mangele es an Autorität innerhalb der Mosėstrada, was den Eindruck einer gezielten politischen Attacke gegen seine Person bestärkt. Inwieweit seine Entlassung der politischen Dynamik von verbreiteter Bürokratiekritik im Zuge der aufziehenden Entstalinisierungswelle geschuldet war, kann nur gemutmaßt werden. In den Parteisitzungen der sowjetischen Konzertorganisation traten zahlreiche Konflikte auf, in denen „Verwalter“ und „wirtschaftliches Personal“ für ihre konservative Politik und „Verweigerung vor den neuen ideologischen Aufgaben“ angegriffen wurden. Die gängige Praxis illegaler Konzerte machte Leiter der Organisation wie Barzilovič jederzeit politisch angreifbar, obwohl sie in ihrer Funktion doch weit über die persönliche Bereicherung und Vorteilsnahme, wie im Artikel thematisiert wurde, hinausreichte. Nicht-offizielle Konzerte konnten alle Veranstaltungen sein, bei denen der Staat keinen Gewinn machte.415 Dieser wurde üblicherweise zwischen Künstler, dem Verantwortlichen der Einrichtung, wo das Konzert stattfand,
411 Vgl. Bilanz der Arbeit des Parteibüros vom 25./26.09.1953, CAOPIM, f.6355, op.1, d.16, l. 117–118, hier l.118. 412 Vgl. Krivenko, N.: „Das, was der Zuschauer nicht sieht …“, in: Sovetskaja Kul’tura, 15.1.1955. 413 Vgl.ebd. 414 ebd. 415 Vgl. Kazakov, Skandaly sovetskoj ėpochi, S. 47.
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und dem Leiter der Konzertorganisation geteilt, dem der Künstler angehörte.416 Die entgegen der Aussage des Zeitungsartikels vorgenommene Einbeziehung des Künstlers in die Gewinnteilung ist umso wahrscheinlicher, als dies ein wichtiger Stimulus für tendenziell gering bezahlte Estradamusiker war, um die zwischen verschiedenen Einrichtungen enorme Konkurrenz herrschte. Aus Sicht des Leiters einer Konzertorganisation bot sich mit solchen Konzerten somit auch die Möglichkeit, der hohen Fluktuation im Personalbestand entgegenzuwirken, da diese Musikern unter ihrem Dach attraktive Möglichkeiten des Zusatzverdienstes boten. Für die Ausrichter solcher Konzerte erschloss sich die Möglichkeit, ihre Planziele mit Blick auf die Besucherzahlen zu erreichen; ein Phänomen, das besonders in der Peripherie anzutreffen war. Zieht man die Abhängigkeit des Leiters von informellen Arrangements mit anderen Kultureinrichtungen oder Ministerien in Betracht – zu denken ist beispielsweise an die Freistellung von Künstlern für Tourneen – ergeben sich eine Reihe von Gründen für solche kostenlosen Gastspiele. Mit dem Skandal von 1955 verlor Barzilovič sein Amt als Leiter der Mosėstrada, blieb bis 1960 jedoch in einer führungsnahen Position, was mit dem vielfach artikulierten Kadermangel im Bereich der künstlerischen und finanziellen Leitung korrespondiert.417 Nach 1960 kehrte er zurück zum sowjetischen Zirkus, in dem er bis 1974 in verschiedenen Funktionen als Regisseur, Organisator und Funktionär arbeitete. Aus diesem stärker auf Popularität ausgerichteten Genre mit deutlich weniger direkter ideologischer Vereinnahmung erwuchs sein spezifischer Arbeitsstil, der seine Arbeit bei Mosėstrada prägte.418 „Im Geiste“, so die Einschätzung des emigrierten russischen Konzertorganisators Pavel Leonidov, „blieb Barzilovič ein Zirkuskünstler.“419 Die skizzierten Defizite des Konzertwesens in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre – Überalterung und Fluktuation des Personals, Schwierigkeiten der Planung von künstlerischen Gruppen und Tourneen, eine hohe Zahl an unbeschäftigten, aber fest angestellten Mitarbeitern – trafen in ähnlicher Form auch das Theaterwesen. Im Laufe des Jahres 1956 nahmen sich das ZK und die Partei der Situation im Konzert- und Theaterwesen an und setzten einen umfangreichen Reformprozess in Gang, der beide Bereiche institutionell und materiell an die Erfordernisse der neuen Zeit anpassen sollte. Erster Impuls für diesen Reformprozess war die Situation im Theaterwesen, mit der sich das Präsidium des ZK im Verlauf des Jahres 416 Vgl. ebd. 417 In einer kurzen Werbung für einen Konzertabend in der Redaktion der Literaturnaja Gazeta wird Barzilovič als leitende Person der VGKO angekündigt. Vgl. o. A. „Naš vtornik“, Literaturnaja Gazeta vom 14.02.1957. 418 Vgl. zum sowjetischen Zirkus Neirick, Miriam: When Pigs Could Fly and Bears Could Dance. A History of the Soviet Circus. Madison 2012. 419 Leonidov, Pavel: Vladimir Vysockij i drugie. New York 1982, S. 109.
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1955 mit dem Thema auseinandersetzte. Am 10. Oktober 1955 legte die Abteilung Wissenschaft und Kultur des ZK eine überarbeitete Variante des Beschlusses „Über Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeit von Theater- und Konzertorganisationen“ vor, in dem Änderungswünsche einer ersten Sitzung des Präsidiums des ZKs aufgenommen wurden.420 Bei einer erneuten Beratung im Präsidiums am 24. Dezember 1955 konstatierten die Teilnehmer, dass man die Stellen um das Zwei- bis Dreifache zu kürzen habe und in vielen Theatern ein zu starker Schwerpunkt auf Dekoration gesetzt werde.421 Eine Kommission unter Vorsitz von Molotov und Teilnahme von Suslov, Pospelov, Furceva, Kaftanov, Zverev und Popov wurde mit der Einarbeitung weiterer Maßnahmen zur Verbesserung der Lage beauftragt.422Am 10. Januar schließlich legte der Kulturminister Michajlov ein Schreiben für die praktische Ausgestaltung der Reform und ihrer zentralen Aufgaben vor.423 Im Laufe des Frühjahrs 1956 wurde der Beschluss umgesetzt. Die Dauer der Entstehung erklärt sich nicht zuletzt durch die tiefgreifenden Eingriffe in das System der Kulturadministration und die Arbeitsgesetzgebung, welche die Neugestaltung vorsah. Ausgangspunkt der Reform war eine verfehlte Personalpolitik und Arbeitsgesetzgebung in Theater- und Konzertorganisationen, die finanziell unrentabel war und negative Folgen für Auftrittsmotivation, Repertoireerneuerung und Weiterentwicklung des betreffenden Schauspielers oder Musikers hatte. Die in den Jahren zuvor entstandenen „aufgeblähten Stellen im schöpferischen Personal, dem künstlerisch-administrativen und Hilfspersonal“424 führten aus Sicht der sowjetischen Führung zu hohen Kosten und würden sich negativ auf die Qualität und Erneuerungsfähigkeit der Theater- und Konzertorganisationen auswirken. Viele Stellen waren mit unqualifizierten Künstlern besetzt, deren Entlassung zum Zweck der flexiblen Einstellung qualifizierten Personals durch die existierende Arbeitsgesetzgebung verhindert wurde.425 Der Entwurf verkannte insofern die Wirklichkeit, als er großen Theatern und Konzertkollektiven vorwarf, bei der
420 Vgl. Schreiben der Abteilung Wissenschaft und Kultur des ZK der KPdSU über die Überarbeitung des Projekts zum Beschluss „Über Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeit von Theaterund Konzertorganisationen“ vom 10.10.1955, in: CK i Kul’tura, S. 441–444 [RGANI, f.5, op.17, d.506, l.135–140]. 421 Vgl. Furzenko, A. A. (Hg.): Prezidium CK KPSS 1954–1964, Bd. 1 Černovye protokol’nye zapisi zasedanij. Stenogrammy. Moskau 2003, S. 77. [RGANI, f.3, op.8, d.389, l.25-29]. 422 Furzenko, A. A. (Hg.): Prezidium CK KPSS 1954–1964, Bd. 2 Postanovlenija 1954–1958. Moskau 2006, S. 166 [RGANI, f.3, op.10, d.209, l.7]. 423 Vgl. Schreiben des Kulturministers der UdSSR N. A. Michajlov an das Präsidium der KPdSU über das Projekt des Entwurfs „Über Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeit von Theater- und Konzertorganisationen“ vom 10.01.1956, in: CK i Kul’tura, S. 470–472. 424 Schreiben der Abteilung Wissenschaft und Kultur vom 10.10.1955, S. 441. 425 Vgl. ebd.
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Besetzung von freien Stellen keine „sorgfältige Auswahl“426 durch offene Wettbewerbe und ähnliche Methoden vorzunehmen. Dieses Argument ignorierte die Realität akuten Mangels von qualifizierten Musikern und Schauspielern und der beständigen Konkurrenz zwischen einzelnen Einrichtungen. Im Einzelnen wurde die Arbeit der Konzertorganisationen dafür kritisiert, dass zahlreiche Ensembles zu viele staatliche Mittel verbrauchten, schlecht arbeiteten und weder Auftrittsnorm erfüllen noch ihr Repertoire erneuern würden.427 Ihr einseitiges Streben zu „äußerlich-eindrucksvollen großen Formen“ („vnešne-zreliščnye krupnye formy“) würde dazu führen, dass sie den Erfolg beim Zuschauer verlieren. Neben den arbeitsrechtlichen Hindernissen bei Entlassung und Pensionierung fest angestellter Künstler kritisierten die Reformer das Bezahlsystem als veraltet, da es nicht das schöpferische Wachstum des Künstlers befördern würde. Da sowohl Schaupieler als auch Musiker entsprechend der Tarifklasse ihrer jeweiligen Einrichtung bezahlt wurden, erhielten sie gleich der Zahl absolvierter Auftritte ein annähernd ähnliches Gehalt.428 Kulturminister Michajlov verwies in seinem Kommentar des Entwurfs im Januar 1956 auf die drastischen Unterschiede in der Bezahlung zwischen großen Theatern und Konzertorganisationen in den Zentren und der Peripherie, wo Schauspieler und Musiker bis zu 300 Rubel weniger verdienten und der Mangel an Schauspielern sogar die Inszenierung von klassischen Werken verhinderte.429 Die Antwort der Parteiführung auf diese kostenintensive Stagnation kann als Versuch beschrieben werden, das Konzert- und Theatersystem ohne signifikante Erhöhung staatlicher Zuschüsse zu dynamisieren. Der Beschluss sah zunächst eine massive Kürzung des aufgeblasenen Stellenapparates vor. Dafür musste die Arbeitsgesetzgebung verändert werden.430 Um die künstlerischen Qualifikationen von Schauspielern und Musikern umfassend zu prüfen, setzten die Reformer für den Juni des Jahres 1956 eine Attestierung und Neutarifizierung der Künstler an, nach welcher diese in ein überarbeitetes System von vier Klassen eingeteilt werden sollten. Die ideologische Kommission formulierte als vage Vorgabe für den Theaterbereich, dass „die szenische Begabung des Künstlers, seine künstlerische Individualität, die Fähigkeit, den ideologisch-künstlerischen Grundgehalt des Stückes und der Rolle in Entsprechung zu den grundlegenden Prinzipien des sozialistischen Realismus zu verkörpern“431 bei der Einstufung zu berücksichtigen sei. In deutlich weniger ideologischem Duktus forderte Kulterminister Michajlov eine 426 427 428 429 430 431
ebd. S. 442. Vgl. ebd. Vgl. Schreiben des Kulturministers Michajlov vom 10.01.1955. Vgl. ebd. S. 471. Vgl. ebd., S. 470. ebd., S. 443.
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„objektive Einschätzung der Arbeit des Künstlers unter Berücksichtigung seines künstlerischen Könnens.“432 Die Parteiführung stellte neben die Anforderungen technischer Qualifikation die schöpferische Aktivität des Künstlers, um so dessen Bereitschaft zu Gastspielen zu erhöhen. Deutlich wird jedoch auch hier der Unwillen, mehr staatliche Mittel in das System zu investieren. Michajlov versicherte im Januar, dass alle Änderungen „in den Grenzen der festgesetzten Gehaltsfonds“433 umgesetzt werden. Die zentrale Attestierung, die erstmals seit 1940 wieder durchgeführt wurde, diente aber auch der Entlassung oder Pensionierung älterer, nicht mehr qualifizierter Künstler, um freie Stellen zu schaffen. Diese sollten durch nachrückende, junge Künstler gefüllt und über Wettbewerbe, Debütvorstellungen und Probeauftritte rekrutiert werden. Ein drittes Kernelement der Reform war die Erhöhung der Unabhängigkeit von Theater- und Konzertgruppen. Das ZK wies das Kulturministerium an, bei der Neuordnung von Theater- und Musikgruppen deren Leitern das Recht zu bewilligen, eigenständig Gruppen „in den Grenzen der vorgegebenen Stellenpläne und Gehaltsfonds“434 zusammenstellen zu dürfen. Neben der Besetzung fester Stellen in künstlerischen Kollektiven räumte das Reformprojekt die Möglichkeit ein, einen wechselnden Bestand von Künstlern auf Vertragsbasis einzustellen.435 Erfolgreichen Ensembles sollte so die Möglichkeit gegeben werden, auf die Restriktionen des Stellenplansystems flexibler reagieren können. Gegenüber dem Kulturministerium forderte das ZK mit Blick auf Musikgruppen, „Ausschweifungen“ bei den Stellen zu korrigieren, ihr System und Auftrittsnormen zu prüfen, die systematische Gastspieltätigkeit besonders in der Peripherie sicherzustellen und die „Rentabilität ihrer Arbeit zu erreichen.“436 1956 wurde durch die Neustrukturierung des Konzertwesens und die gleichzeitige Reform der Personalpolitik zum Schlüsseljahr für die staatliche Politik gegenüber dem Unterhaltungsmarkt. Kennzeichnend für diese Politik war eine Doppelstrategie aus partieller Ökonomisierung und verstärkter Zentralisierung. Erstere wird sichtbar in der Neudefinition der Kriterien für die Tarifizierungsmaßnahmen, in der materielle Anreize zu mehr Gastspielaktivität führen sollten, aber auch durch erweiterte Möglichkeiten für Konzertorganisationen, kurzfristig Künstler auf Vertragsbasis über den sogenannten „außerplanmäßigen Stellenfond“ („neštatny fond“) einzustellen. Mit diesen Schritten erhofften sich die Reformer, einige der negativen Auswirkungen des Planstellensystems abzumildern und die 432 Michajlov an ZK vom 10.01.1955, S. 472. 433 ebd. 434 Schreiben der Abteilung Wissenschaft und Kultur, S. 443. 435 Vgl. ebd. 436 ebd. S. 444.
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strukturellen Bedingungen für eins der zentralen Themen der frühen gesellschaftlichen Diskussionen des Tauwetters zu ermöglichen – die Erneuerung von Repertoire und künstlerischen Kadern. Die Ökonomisierung des Konzertwesens fügte sich ebenfalls in den einen zentralen Entstalinisierungsdiskurs ein. Die Forderung nach Effizienz und die Kritik an Pomp und Barock inszenierter Theaterveranstaltungen mit Hunderten von Schauspielern fand ihre Entsprechung in den zeitgenössischen Debatten um Architektur oder der Frage nach einer funktionalen und kitschfreien Inneneinrichtung.437 Die auf Unions-, Republiks- und Lokalebene durchgeführte Attestierung aller Schauspieler und Musiker kann auch als Versuch verstanden werden, die Hoheit in einem Bereich der Kultur wiederherzustellen, der seit dem Ende der 1930er-Jahre nicht mehr grundlegenden Reformen unterworfen wurde. Der poststalinistische Staat sah sich immer noch einem zentralistischen Modell kultureller Planung verpflichtet. Zur Geschichte dieser Reform gehören ebenso die Schicksale all jener Musiker und Schauspieler, die nach Attestierung und Einstufung aufgrund fehlender Qualifikation durch das Kulturministerium in Pension geschickt oder aus ihrem Lebensumfeld herausgerissen und in Einrichtungen in der Peripherie beordert wurden. Die Reform griff dabei auf Konzepte zum Sparen bei Personal und Planung zurück, die im lokalen Rahmen bereits zwischen 1953 und 1956 diskutiert wurden. Stellenkürzungen beschäftigten Mosėstrada bereits in der zweiten Jahreshälfte 1953.438 Um das vermeintliche Chaos zu ordnen und den Schwarzmarkt für Schauspielengagements, die sogenannte Birža, zu beseitigen, diskutierten Vertreter der Moskauer Organisation bereits 1954 über die Notwendigkeit einer Tarifizierung aller Schauspieler.439 Ebenso wenig neu war die Möglichkeit von direkten und zeitlich befristeten Vertragsbeziehungen zwischen Organisation und einzelnem Künstler, die aber erst durch die systematische Zuweisung staatlicher Mittel für diesen Zweck 1956 ausgebaut wurden. Die Neugründung des Eddi Rosner Jazzorchesters durch Fürsprache des sowjetischen Kulturministers Ponomarenko 1955 „absorbierte die Führung der Moskauer Estrada“440, einem kritischen Bericht aus
437 Vgl. Reid, Susan E.: Khrushchev Modern. Agency and Modernization in the Soviet Home, in: Cahiers du Monde russe 47 (2006), S. 227–268; Martiny, Albrecht: Bauen und Wohnen in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg. Bauarbeiterschaft, Architektur und Wohnverhältnisse im sozialen Wandel. Berlin 1983. 438 Vgl. Offene Parteiversammlung der Mosėstrada vom 08.07.1953, CAOPIM, f.6355, op.1, d.16, l.67–76. 439 Geschlossene Parteiversammlung der Parteiorganisation der Haupttheaterverwaltung des Komitees für Verwaltung von Kunstangelegenheiten des Kulturministeriums der UdSSR vom 20.11.1953, CAOPIM, f.957, op.1, d.14, l.54–60, hier l.56. 440 Bericht über die Entwicklung der Jazz im Land o. D.[1958], RGALI, f.2329, op.3, d.640, l.30–40, hier l.33.
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dem Jahr 1958 nach, die „trotz allgemeiner Empörung der Gesellschaft“441 zusätzlich das Recht zugesprochen bekam, die besten Musiker aus anderen Orchester für Rosners gewinnversprechendes Orchester abzuziehen. Das Jahr 1953 stellt dabei keineswegs eine Zäsur in der Ökonomisierung des Kulturbetriebes dar. Massive Kriegsschäden und die restriktive Kulturpolitik des Spätstalinismus führten bereits zur Schließung einer großen Zahl an Theatern. So halbierte sich die Zahl der Drama-, Komödien- und Musiktheater zwischen 1940 und 1960 (693 auf 363) ebenso, wie die Zahl von Musiktheatern von 1945 (27) bis 1951 (16) zurückging.442 Während zentral damit Kosten für Stellen reduziert wurden, entfiel den respektiven Organisationen eine Einnahmequelle. Ein ähnlicher Zusammenhang zwischen strukturellem Wandel des Musikmarkts und den Einkommensquellen für Konzertorganisationen zeigt sich am Beispiel der Kinoorchester, deren Zahl im Laufe der 1950er-Jahre durch Ausweitung der Klangtechnik in den Kinos abnahm. Auf Grundlage eines Erlasses aus dem Jahr 1960 konnten durch das Zeigen von Kurzfilmen im Vorprogramm Mittel gespart und propagandistisch auf den Zuschauer eingewirkt werden. Vladimir Gel’man, der Leiter der Abteilung für Musikensembles in Moskau, beobachtete diese Entwicklung jedoch sorgenvoll, da damit langsam eine wichtige Einnahmequelle und Beschäftigungsmöglichkeit für die Musiker wegfiel.443 Die 1956 in Gang gebrachte Dynamisierung des Marktes durch eine begrenzte Ökonomisierung setzte sich fort, ohne dabei das Planstellensystem als solches aufzugeben. Nicht nur bei Musikern, sondern auch im administrativen Personal wurde auf größere Flexibilität gesetzt, in dem im Juni 1956 rechtliche Rahmenbedingungen für die Einstellung nicht fest angestellter Konzertorganisatoren geschaffen444 und im Laufe der Zeit präzisiert wurden. Dieser Schritt legalisierte die Arbeit der Organisatoren, die vorher im Bereich der musikalischen Schattenwirtschaft gearbeitet hatten und in der Presse bis 1956 als „Schmarotzer“ und „Spekulanten“ diffamiert wurden. Die Neuregelungen erlaubten den lokalen Verantwortlichen nun, legal auf deren Sachkenntnis und organisatorische Fähigkeiten zurückzugreifen, setzte vertraglichen Engaments aber strikte finanzielle Grenzen.445 Um das Konzertwesen ökonomischer zu gestalten, mussten die Indikatoren zu deren Erfassung 441 ebd. 442 Narodnoe obrazovanie i kul’tura v SSSR. Statističeskij Sbornik, Moskau 1989, S. 332. 443 Vgl. Protokoll der Abrechnungs- und Wahlversammlung der PV vom 16.01.1961, CAOPIM, f.6355, op.1, d.27, l.1–79, hier l.11. 444 Vgl. Vorsitzender der Hauptverwaltung für Theater- und Musikeinrichtungen Nabanov an die Verwaltung für Kunstangelegenheiten des Kulturministeriums der ESSR vom 15.08.1956, ERA, f.R-1797, op.1, d.253, l.127–134. 445 Vgl. „Ergänzung zur provisorischen Verordnung der Bezahlung von nicht fest angestellten Konzertorganisatoren“, o. D. (1957), GARF, A-501, op.1, d.3500, l.69.
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vereinheitlicht werden. Zur finanziellen Entlastung wurden alle musikalischen Einrichtungen der Union per Erlass am 28. Januar 1956 von der Zahlung von Steuern pro Zuschauer befreit.446 Dafür war die Durchsetzung einer verbindlichen und einheitlichen Zählweise der Zuschauer in allen Einrichtungen vonnöten.447 Ein neues Format, das die Anforderungen nach wirtschaftlichem Umgang mit Mitteln und Massenwirksamkeit zu verbinden schien, waren die Stadionkonzerte und größere Feiern mit politischer Agitation und unterschiedlicher Musik, die ab der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre verstärkt zum Einsatz kamen.448 Stadionkonzerte spielten für die Kultur und Wahrnehmung des Tauwetters eine wichtige Rolle, wie die öffentlichen Lyriklesungen von Evgenij Evtušenko vor Tausenden von Zuschauern oder das zweite Leningrader Jazzfestival von 1966 im Winterstadion der Stadt deutlich machen. Innerhalb der großen Konzertorganisationen begegnete man der Forderung nach Mitteleinsparung ambivalent. Die vom Kulturminister Michajlov gegenüber dem ZK zugesicherten Stellenkürzungen und Normenerhöhungen bedrohten die Arbeitsgrundlage der Mosėstrada. Deren Mitglieder protestierten gegen den nach dem stellvertretenden Kulturminister benannten „Kaftanoverlass“ und versuchten, gegenüber dem Ministerium Veränderungen zu erwirken.449 Der Vertreter der Musiker auf der Versammlung der Parteiorganisation der Moskauer VGKO, Lobanov, meinte polemisch, dass man im westlichen Ausland angesichts einer solchen Bedrohung in den Streik treten würde.450 Auf einer Parteiversammlung der VGKO vom 20. Januar 1959 diskutierten die Teilnehmer unter ökonomischen Gesichtspunkten Lage und Verbesserungsmöglichkeiten der Organisation.451 Im Vergleich zum eingangs zitierten wirtschaftlichen Verständnis hatte sich ein gewisser Mentalitätswandel vollzogen: „Wie bekommen wir mehr Geld? Man muss berechnen, wie viele Künstler wir brauchen. Dann wird die Frage über unsere Disproportionen der Genres klar sein – wen muss man ergänzen, wen wegdelegieren. Besonders die alten, nicht aktiv arbeitenden Künstler auf festen Stellen [„Prostojnikov-starikov“] 446 Vgl. „Erlass über die Steuerbefreiungen von Gruppen aus dem System des Kulturministeriums der UdSSR“ vom 28.01.1956, ERA, f.R-1797, op.1, d.253, l.30. 447 Vgl. ebd. 448 Vgl. Bericht der Abteilung für musikalische Einrichtungen des Kulturministeriums der UdSSR „Über Zustand und Maßnahmen der Verbesserung der Konzert-Estrada-Arbeit im Land“ vom April 1961, RGALI, f.2329, op.3, d.949, l.2. 449 Der Name bezieht sich auf den ersten stellvertretenden Kulturminister Sergej V. Kaftanov, der dieses Amt von 1953 bis 1959 ausübte und danach die Leitung des Staatskomitees für Radioübertragung und Fernsehen übernahm. 450 Vgl. Z. Lobanov auf der geschlossenen Parteiversammlung vom 19.07.1956, CAOPIM, f.6355, op.1, d.22, l.21–25, hier l.21. 451 Vgl. Sitzung des Parteibüros der VGKO vom 20.01.1959, CAOPIM, f.6355, op.1, d.25, l.53–55, hier l. 52.
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müssen liquidiert werden.“452 Als zentrales Mittel für die Erfüllung der finanziellen Pläne erschienen den Teilnehmern die großen Stars der Estrada wie Šul’ženko, Mironov oder Menekar, die sich aber zunehmend weigerten, in Moskau aufzutreten. Eine stärkere Orientierung auf große Namen verschiedener Genres hatte sich hier bereits als Konsens durchgesetzt. Aus ihr resultierte auch ein zunehmend pragmatischer Umgang mit ideologisch umstrittenen Genres wie dem Jazz. Wir haben Lundstrem, Utesov, Rosner, Šurov und Novicky, Smirnov-Sokol’skij und Nabatov – das sind alles Namen, die Geld bringen. Ich liebe ihre Kunst. Aber diese Kunst ist angenehm in symphonischer Begleitung. Diese Genossen sollten durch uns geplant werden und ihnen muss gesagt werden, dass sie in Moskau auftreten, danach werden wir sie nach Kiev, Tblissi und andere Ort eschicken, damit sie Geld erarbeiten. Für sie muss man eine Basis schaffen.453
Neben sowjetischen Jazz- und Estradagruppen gewannen im Zuge dieses begrenzten Ökonomisierungsprozesses auch Gruppen an Bedeutung, die im Rahmen des kulturellen Austauschs aus dem Ausland durch die Sowjetunion tourten. Der Tournee der polnischen Gruppe Goluboj Džaz im Sommer des Jahres 1956 wurde in Moskau auf Parteiversammlungen hoher ideologischer Schaden, aber auch großer Gewinn für die lokalen Konzertorganisationen bescheinigt.454 Ähnlich ambivalent fiel das Urteil der Parteiversammlung der Leningrader Estrada 1964 über die Tournee des „Kurt Edelhagen Jazz Orchester“ aus – trotz des zweifelhaften ideologischen Einflusses auf die Jugend bescheinigte man den Konzerten einen positiven wirtschaftlichen Effekt für die Jahresbilanz der Organisation.455 Auch die estnische Philharmonie profitierte von den Gastspielen westlicher Gruppen, die zu Beginn der 1960er-Jahre die Verluste, die durch klassische Ensembles und Folkloregruppen aus den sozialistischen Bruderstaaten entstanden, mehr als ausgleichen konnten.456 Die häufigen Ausfälle angekündigter Gastspiele westlicher Gruppen veranlassten das estnische Kulturministerium daher mehrfach zu Beschwerdeschreiben.457
452 ebd. l.53. 453 ebd. l.55. 454 Vgl. Geschlossenen Parteiversammlung vom 22.08.1956, CAOPIM, f.6355, op.1, d.2, l.28–34, hier l.29. 455 Vgl. Offene Parteiversammlung der Lenėstrada vom 05.06.1964, CGAIPD SPb, f.771, op.6, d.18, l.16. 456 Vgl. Schreiben des Direktors der Staatsphilharmonie der ESSR Vekšin an die Abteilung für Außenbeziehungen des Kulturministeriums der UdSSR vom 14.07.1962, ERA, f.R-1797, op.1, d.533, l.47–49. 457 Vgl. bspw. Beschwerdeschreiben des estnischen Kulturministeriums an den stellvertretenden sowjetischen Kulturminister Kuznecov vom September 1962, ERA, f.R-1797, op.1, d.533, l.53–54.
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Zur Bilanz der Reformen des Unterhaltungsmarktes gehören eine Reihe nicht intendierter Folgen, die sich vor dem Hintergrund der Personalsituation, den Unterschieden zwischen Zentrum und Peripherie und dem Spannungsfeld zwischen musikalischen Leitbildern und finanziellem Ertrag erklären lassen. Eines der Ziele war eine inhaltliche und personelle Erneuerung, die jüngeren Künstlern ein schnelleres Nachrücken im Stellenplansystem ermöglichen sollte. Theater und Konzertorganisationen sollten so wieder die notwendige Flexibilität bei der Erarbeitung und Inszenierung neuer Programme erhalten. Mit dem Recht, eigenständig Musiker und Schauspieler einstellen zu können und einer entsprechenden Vergrößerung des außerplanmäßigen Etats gab man den Konzertorganisationen ein Werkzeug in die Hand, um Pläne besser erfüllen zu können und den Anforderungen der Kulturpolitik nach klassischer Musik, Folklore und Gastspielen in den Peripherien des Landes Genüge zu leisten. Von dieser Möglichkeit machten die Leiter der Konzertorganisationen nun exzessiv Gebrauch. Zwischen 1959 und 1963 wuchs die Zahl des künstlerischen Personals der VGKO durch die Zunahme von Vertragskünstlern um 40 Prozent auf 2250 Musiker.458 Auf Ebene der Republiken stand für 19 Konzertorganisationen ein Jahresfond für fest angestellte Mitarbeiter von 8,45 Millionen Rubel einem Fond von 6,63 Millionen Rubel für Vertragsarbeiter gegenüber.459 Von den rund 30.000 Mitarbeitern der Konzertorganisationen des sowjetischen Kulturministeriums war fünf Jahre nach der Reform bereits ein Drittel über Verträge gebunden.460 Mit Blick auf das Genre nutzten die Konzertorganisationen diese Arbeitsbeziehung hauptsächlich in dem Bereich, der die größten Gewinne versprach – „Estrada und estradaphilharmonische Konzerte.“461 Schon 1958 verwies der Kulturminister der RSFSR in einem Vortrag auf den „Missbrauch des außerplanmäßigen Stellenfonds für die Einstellung musikalisch und ästhetisch zweifelhafter Musiker“462, der als eine Ursache für die Ausbreitung des Jazz im Land kritisiert wurde. Die Chabarowsker Philharmonie hatte ohne gesetzliche Grundlage ein Ensemble namens Dal’nevostočnyj Džaz zusammengestellt, das nun in der russischen und georgischen Sowjetrepublik gastierte.463 Besonders an der Peripherie nahm diese neue Form von Der Minister beschwerte sich über den Ausfall von Gastspielen aus Mexiko, Brasilien, Argentinien sowie eines tschechoslowakischen Jazzorchesters. 458 Bilanz der wirtschaftlich-finanziellen Tätigkeit der VGKO für 1963, CAOPIM, f.6335, op.1, d.38, l.22–51, hier l.39. 459 Bericht der Abteilung „Über Zustand und Maßnahmen der Verbesserung der Konzert-Estrada Arbeit im Land“ vom April 1961 RGALI, f.2329, op.3, d.949, l.1–15, hier l.9. 460 Vgl. ebd. 461 ebd. 462 o. A. Manuskript für ein Treffen im Kulturministerium mit Ministern und Beamten der Kulturverwaltung 1958, GARF, A-501, op.1, d.2402, l.70–74, hier l.71. 463 Vgl. ebd.
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Arbeitsbeziehungen einen prominenten Platz ein. 1961 wurden in der Kasachischen SSR 80 Prozent aller Konzerte über Vertragskünstler ausgerichtet, während die aserbaidschanische Philharmonie 156 Planstellen für die klassische Musik, aber keine für den Estradabereich aufbot, der über 300 Vertragsarbeiter abgesichert wurde.464 Auch innerhalb der RSFSR veränderte das Phänomen die Grundlagen des regionalen Konzertbetriebs – drei Viertel der 4000 Konzerte der Philharmonie von Kemerova wurden Anfang der 1960er-Jahre bereits über Vertragsarbeiter bestritten. Diese Tendenz konterkarierte die ursprünglichen Absichten der Neugestaltung. Eine Möglichkeit zum Rückgriff auf diese Künstler entlastete die Direktoren lokaler Konzertorganisationen von Maßnahmen zur Aus- und Weiterbildung von Musikern, aber auch dem Austausch nationaler Kader.465 Dies wog umso mehr, als innerhalb der Moskauer Bürokratie immer noch das Bild von unprofessionellen und nicht ordentlich ausgebildeten Musikern dominierte. Da deren Einstellung nun dem jeweiligen Direktor oder frei-angestellten Konzertorganisator oblag, reduzierte sich der Moskauer Zugriff auf die Kontrolle des Repertoires. Die teils eklatant hohen Gehälter, die nun finanziell einträglichen Musikern ohne eine formelle Grenze gezahlt werden konnten, erhöhten das Risiko von finanziellem Missbrauch. Diese Entwicklung konterkarierte das spezifisch sowjetische Verständnis von Sozialpolitik, das im Stellensystem angelegt war. Kritisch fasste der Bericht aus dem April 1961 zusammen: „Die außerplanmäßigen Stellenfonds schaffen keine sozialistische, sondern eine privatunternehmerische Form der Beziehung zwischen Künstler und Administration und etablieren eine rechtlose Position vieler Konzertkünstler, die innerhalb eines organisierten Kollektivs arbeiten und in Abhängigkeit von geschäftemachenden Verwaltern fallen.“466 Der Ministerrat der RSFSR steuerte 1964 folgerichtig gegen diese Entwicklung an und forderte die Exekutivorgane und das Kulturministerium auf, „strengste Ordnung in der Verwendung des außerplanmäßigen Stellenfonds für die Bezahlung von Konzertmusiker herzustellen.“467 Kontingente dieses Fonds sollten nur noch den Organisationen zugeteilt werden, die alle Möglichkeiten zur Heranziehung qualifizierter Kader genutzt hatten und diese hauptsächlich zur Verbesserung der kulturellen Bedienung der Bevölkerung des jeweiligen Gebiets benutzten. Auch die Neu-Tarifizierung aller Musiker und Schauspieler im Sommer 1956 zeigte eine Reihe ungeplante Folgen, die die Durchsetzung eines kulturpolitischen
464 Bericht der Abteilung „Über Zustand und Maßnahmen der Verbesserung der Konzert-Estrada Arbeit im Land“ vom April 1961 RGALI, f.2329, op.3, d.949, l.1–15, hier l.10. 465 Vgl. ebd. 466 ebd. l.10. 467 Beschluss des Ministerrates der RSFSR Nr. 1182 vom 16.09.1964 „Über Maßnahmen zur Verbesserung der Organisation von Konzertarbeit in der RSFSR“.
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Leitbilds in der Musik erschwerten. Dieses Vorhaben erwies sich zunächst als enorme organisatorische Herausforderung, da es auf Lokal-, Republiks- und Unionsebene durchgeführt werden musste. Weitere Präzisierungen zum Ablauf durch die Zentrale wurden rasch notwendig. Das Kulturministerium in Moskau behielt sich auch in den neuen Regelungen zur Tarifizierung das Recht vor, über die Vergabe der höchsten Kategorie für Musiker zu entscheiden. Um die Teilnahme an Wettbewerben zu befördern, konnten Musiker nach erfolgreicher Teilnahme nun aber in eine höhere Kategorie eingestuft werden.468 Für lokale und republikanische Konzertorganisationen bot sich mit der Neueinstufung auch eine Möglichkeit, eigene Musiker besser zu versorgen. Mit einer Vielzahl von Argumenten lehnte das sowjetische Kulturministerium eine Liste von 50 estnischen Musikern ab, von denen nach erfolgreicher Einstufung 44 in die höchste Kategorien eingestuft werden sollten. Eine solch „massenhafte Erhöhung“ sei in der Verordnung nicht vorgesehen und würde zu „noch größeren Lohnunterschieden bei den Musikern führen“, eine Verteuerung der Konzerte und einen „unvertretbaren Verzehr des Gehaltfonds“469 nach sich ziehen. Besonders aber für die Frage des Repertoires zeitigt die Tarifizierung nicht intendierte Folgen. Zahllose „stümperhafte Quartette und Jazzensembles“470, die in Moskau aufgelöst wurden, fanden neue Arbeit in den peripheren Konzertorganisationen, wo sich viele Bekannte wiedertrafen und „mit der aktiven Verbreitung von Vulgaritäten“471 in Erscheinung traten. Der Transfer hauptstädtischer Jazzmusik in die Provinz beschränkte sich daher keinesfalls ausschließlich auf zahllose inoffizielle oder illegale Kanäle, sondern wurde vielmehr durch die offizielle Personalpolitik im Kulturbereich ungewollt vorangetrieben.
4.2.6 Fazit Am 7. Februar 1947 erschien in der Sovetskoe Iskusstvo der Artikel „Rund um die Estrada“, in dem der Autor Sergej Balašov kritisch mit der Estradapolitik des Komitees für Kunstangelegenheiten und den Konzertorganisationen ins Gericht
468 Vgl. Schreiben des stellvertretenden Leiters der Abteilung für Musikeinrichtungen B. Vladimirskij an den Leiter der Verwaltung für Kunstangelegenheiten der ESSR Markus vom 29.04.1958, in dem er vier erfolgreichen Teilnehmern eines Allunionswettbewerbs für Estrada und Massenlied die Erhöhung der Kategorie und Gehälter zusichert. ERA, f.R-1797, op.1, d.340, l.30. 469 Schreiben des stellvertretenden Kulturministers der UdSSR B. Pachomov an den Kulturminister der ESSR Ansberg vom 18.07.1957, ERA, f.R-1797, op.1, d.298, l.89. 470 Bericht über die Entwicklung der Jazz im Land o. D.[1958], RGALI, f.2329, op.3, d.640, l.30–40, hier l.34. 471 ebd.
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ging.472 Trotz vollmundiger Versprechen des KDI weise die Situation der Estrada in vielen Bereichen drastische Mängel auf. Zentrale Industrieregionen, wie der Kuzbass, würden kaum mit qualifizierten Estradakünstlern versorgt werden. Hauptursache für die Defizite im Feld der Estrada seien deren administrative Verwalter, die eigentlich die „Mittler zwischen den schöpferischen Kräften der Estrada und unseren dankbaren Hörern“473 sein sollen, für die Estrada aber keine Kunst, sondern einzig eine geschäftliche Angelegenheit darstelle. Zahlreiche Erzählungen aktiver Künstler über illegale Konzerte, zu denen sie von den Kulturbürokraten erpresst wurden, dienten dem Autor als Beleg für deren Gewinnsucht und fehlende Rechtschaffenheit. Ihr administrativer Zugang zur Sphäre der Estrada führe schließlich dazu, dass es kaum zu einem schöpferischen Austausch zwischen den Künstlern komme und fehlende Innovation im Repertoire hinter falschen Planzahlen verborgen werde – von den im Plan festgehaltenen 1300 Neukompositionen habe sich lediglich eine als brauchbar für die musikalische Praxis erwiesen.474 Kontinuitäten und Parallelen zwischen dem sowjetischen Musikmarkt der Spätstalinzeit und und dem Tauwetter sind offensichtlich. Diese Polemik gegen die Kulturbürokratie zeigt, dass der Anspruch an die Konzertorganisationen, den Musikmarkt zu verwalten und schöpferisch zu beeinflussen auch vor 1953 zu ähnlichen Konflikten führte. Zur Charakterisierung der Leiter dieser Organisation ist in diesem Zusammenhang zweitrangig, ob diese sich an sogenannten illegalen Konzerten persönlich bereicherten oder den Gewinn nutzten, um unter ökonomisch extrem unsicheren Bedingungen den Plan erfüllen zu können. Aus den meisten Presseartikeln zu diesem Thema wird deutlich, dass die innerhalb der sowjetischen kulturellen Eliten verbreitete grundsätzliche Aversion gegen Vermischung des Kulturellen mit dem Ökonomischen auch den öffentlichen Diskurs prägte. Für den politischen Erfolg eines lokalen Leiters waren auch in den 1940er-Jahren Planziffern langfristig ausschlaggebend, was die Schaffung von neuem Repertoire nach den Maßgaben der „Tonnenideologie“ ohne Rücksicht auf praktische Verwendbarkeit plausibel macht. Kurzfristig musste dieser aber ebenso ideologischen Anforderungen nach kulturell hochwertigen Programmen gerecht werden, umso mehr, wenn man die kulturell repressive Stimmung der späten 1940er-Jahre in Rechnung stellt. Unverändert blieben auch die Argumente, mit der die Estrada in direkte politische Verantwortung für den sozialistischen Aufbau genommen wurde, egal ob Baustellen des Stalinistischen Fünfjahresplans oder die Neulandgebiete kulturell unterversorgt wurden. In beiden Fällen enthielten Bürokraten des Konzertwesens zentralen politischen Referenzgruppen wie „Stachanowarbeitern“ 472 Vgl. Balašov, Sergej: Rund um die Estrada, in: Sovetskoe Iskusstvo, 07.02.1947. 473 ebd. 474 Vgl. ebd.
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oder der „sowjetischen Jugend“ etwas Elementares vor, worauf diese sich durch ihren Einsatz ein Recht erworben hatten. Was das Panorama dieses exemplarischen Artikels von 1947 jedoch deutlich von der Zeit nach 1953 unterscheidet, ist die Repertoirefrage, die hier nur marginal thematisiert wird und ausschließlich auf russische und sowjetische Stücke bezogen ist. Diese Differenz lässt zwei Schlüsse zu: Trotz des aufziehenden Kalten Krieges und der sowjetischen Kampagne gegen den Kosmopolitismus war auch die Gesellschaft des Spätstalinismus keineswegs frei von westlichen Einflüssen. Zu denken ist hier an die sogenannten Trophäenfilme, geschmuggelte Schallplatten aus dem Westen und die Stiljagi als marginales, aber sichtbares Phänomen sowjetischer Adaption dieser Einflüsse innerhalb der Elite. Im Kontrast mit der Situation nach 1953 jedoch war die Rolle westlicher kultureller Einflüsse auf die Estrada und die kulturpolitischen Instanzen zu diesem Zeitpunkt relativ gering. In einer Atmosphäre von allgemeiner Kriegsangst, Verhaftungen und der Auflösung fast aller staatlichen Jazzorchester war westliche Kultur meist unterhalb des Radius der offiziellen Instanzen zu finden. Erst nach 1953 mussten sich die staatlichen Kulturbehörden in stärkerem Maß mit dem Einfluss westlicher Kultur und deren sowjetischen Formen der Aneignung auseinandersetzen. Sie wurden unter den Bedingungen des Fehlens einer einheitlichen Kulturpolitik bis 1956/57 und dem einsetzenden kulturellen Austausch zunehmend zu einem wichtigen institutionellen Faktor der Verwestlichung der sowjetischen Unterhaltungsmusik. Als Mittler zwischen ideologischen Prämissen, wirtschaftlichen Zwängen und Publikumsinteressen schufen die Konzertorganisationen die Grundlagen für die gesellschaftliche Renaissance des Jazz und seine Neudefinition als populäre Unterhaltungsmusik. Vier charakteristische Merkmale der hier untersuchten Instanzen begünstigten diesen Prozess. Einen ersten Faktor stellen die Organisationsmodi der Musiker in den Konzertorganisationen und ihr Einsatz auf dem Musikmarkt dar. Die hohe Dichte an kultureller Infrastruktur in Moskau und Leningrad entfaltete eine Magnetwirkung auf Musiker der gesamten Sowjetunion. Der demografische Einschnitt des Krieges, die Kulturpolitik der Spätstalinzeit und die fehlenden Ausbildungsstätten führten besonders im Bereich der Unterhaltungsmusik zu einem eklatanten Mangel an Musikern, die den offiziellen Ansprüchen sowjetischer Kultur entsprachen. Verschiedene Institutionen standen um diese Wenigen in Konkurrenz zueinander. Der oft beklagte Kadermangel setzte einer Personalpolitik, die Entlassung als Mittel der Repertoirekontrolle nutzte, enge Grenzen. Musiker erhielten nach Verlust ihrer Stelle leicht eine neue Position unter einem anderen Dach. Die hohe Fluktuation von Musikern zwischen den Instanzen in einem saisonalen Genre wie der Estrada führte daher zu einer durchschnittlich kurzen Lebensdauer vieler kleinerer Orchester und Gruppen. Eine solche Konkurrenzsituation begünstigte zudem, dass die Leiter der Konzertorganisationen bemüht waren, Musikern zusätzliche
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Verdienstmöglichkeiten am Rand oder außerhalb gesetzlicher Regelungen zu bieten, um diese an die jeweilige Organisation zu binden. Neben den festen Planstellen und Zweitverträgen gewann die individuelle vertragliche Verpflichtung nach 1956 durch die staatliche Forderung nach Ausweitung der Gastspieltätigkeit an Bedeutung. Anhand der Planstellen wird deutlich, dass die Konzertorganisationen gleichzeitig Teil eines Sozialsystems waren, dass seine Künstler auch ohne regelmäßige Auftritte finanziell absicherte. Damit blieb aber gleichzeitig die soziale Mobilität für Nachwuchskünstler eingeschränkt. Die Zunahme von Vertragsvereinbarungen ist nicht nur als Antwort auf fehlende Mobilität und Kadermangel zu verstehen, sondern zeigt auch, dass Geld langfristig das erfolgreichste Sanktionsmittel für kulturelle Aktivität blieb. Die Dominanz einzelner Estradastars in den 1970er-Jahren und enorme individuelle Gehälter, die durch subventionierte Gastspieltätigkeit erreicht werden konnten, belegen dies. Entsprechende Verträge, die nach zeitgenössischer Einschätzung „privatwirtschaftliche Beziehungen zwischen Musiker und Administrator“ herstellten, entzogen Musiker dem Erziehungsanspruch der Konzert- und Parteiorganisationen und reduzierten deren Einfluss auf die Repertoiregestaltung. Hinsichtlich der musikalischen Qualifikation erscheinen sowjetische Unterhaltungsmusiker der 1950er- und 60er-Jahre als ausgesprochen heterogene Gruppe. Das staatliche Kategorisierungssystem konnte die Unterschiede zwischen ihnen jedoch nur begrenzt abbilden und benachteiligte Estradamusiker im Vergleich zu Vertretern der klassischen Musik. Die Privilegierung klassischer Ausbildung und Spieltechniken, tendenziell geringer Bezahlung und höhere Auftrittsnormen machten die Musiker nicht nur offen für alternative Einkünfte. Sie steigerten vielmehr auch die Attraktivität des Genres für die Konzertorganisationen, da ein Estradaorchester weniger Kosten verursachte und im offenen Konzert deutlich mehr Geld einspielen konnte. Ein zweites Merkmal der Konzertorganisationen, das die Unterhaltungsmusik zunehmend der ideologischen Kontrolle entzog und die Verbreitung des Jazz beförderte, war die ihnen zugewiesene Repertoirepolitik. Die Aufgabe der „schöpferischen Aktivität“ band innerhalb der Organisationen personelle und finanzielle Ressourcen, während die offiziellen Forderungen an die Repertoirearbeit die Realität konterkarierten. Die Arbeit mit den Autoren sollte sich in einer kollektiven und kritischen Atmosphäre und unter Hilfestellung des Komponisten- und Schriftstellerverbands vollziehen, um Unterhaltungsprogramme zu schaffen, deren Ziel immer noch die Motivation der Bevölkerung zum sozialistischen Aufbau war. Dem widersprach in der Realität nicht nur das geringere Prestige der Estrada gegenüber der Klassik, das sich in den Vergütungsordnungen für Neukompositionen widerspiegelte, sondern auch die geringe Attraktivität für Komponisten, Stücke für kleine und wenig bekannte Estradagruppen zu komponieren. Die lange Dauer bis zur Veröffentlichung eines Stückes und das ideologische Reglement, das Komponisten drohte, die sich
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der Praxis von schöpferischen Versammlungen der Mosėstrada aussetzten, machten alternative Strukturen auch aus ökonomischer Sicht interessanter. Anders als bei klassischen Kompositionen rentierte sich eine Komposition im Bereich der Unterhaltungsmusik durch die geringen Vergütungssätze erst mit jedem weiteren Einsatz auf der Bühne, durch welche sich der Komponist einen Anteil am Umsatz des Abends sicherte. Wenig attraktiv wirkten daher die häufig wechselnde Besetzung oder Auflösung von Gruppen innerhalb der Konzertorganisationen im Vergleich zu informellen Gruppen, die freischaffend mit Hilfe eines Organisators durch die Peripherie reisten. Eine Reihe der erfolgreichsten Estradakomponisten der 1950er-Jahre fokussierte ihre Produktion daher eben auf dieses Marktsegment, in dem ihnen die Allunionsorganisation zur Verwaltung von Autorenrechten hohe Einkünfte ermöglichte. Der Erwerb neuer Estradastücke, um der parteilichen Forderung nach der „Kunst für die Millionen“ gerecht zu werden, fand bis in die 1960er-Jahre hinein in einer ideologisch unsicheren Umgebung statt, in welcher noch das Klima der kulturellen Repression des Spätstalinismus nachwirkte. Auch wenn dessen Folgen für die Estrada bereits kurz nach Stalins Tod in der Presse diskutiert worden waren, konnte der vermeintliche Mangel an Autoren, die bereit waren, die etablierten Muster der 1930er-Jahre hinter sich zu lassen, nicht auf Anhieb kompensiert werden. Die Diskussionen um neues Repertoire in den Konzertorganisationen der Hauptstadt bezeugen eine Atmosphäre, in der die marktübliche Chance eines Stückes, populär zu werden, als ideologisches Versagen gelesen werden konnte. Viele Impulse für die Erneuerung sowjetischer Unterhaltungsmusik entsprangen nach 1953 Institutionen außerhalb des sowjetischen und russischen Kulturministeriums. Besonders das Kino, bereits in den 1930er-Jahren wichtiger Träger des sowjetischen Džaz, setzte mit einer steigenden Zahl ausländischer Filme den Takt für neue musikalische Einflüsse, die Ensembles ohne Zutun der Politik häufig aufgriffen. Lokale Konzertorganisationen blieben aufgrund der zentralistischen Struktur auch in Repertoirefragen von Moskau abhängig, während die geringere Kontrolle durch Parteigremien, aber auch die geringere Dichte an Zeitungen, lokalen Leitern tendenziell mehr Spielraum mit Blick auf populäre Stücke einräumte. Eine Professionalisierung des musikalischen Kulturbetriebs deutet sich mit den verstärkt als Kontrollgremium avisierten Künstlerräten an. Der dort zunehmend sachlichere Umgang mit Musik blieb nicht frei von ideologischer Intervention, machte diese aber berechenbarer. Sie verkörpern damit eine Ausdifferenzierung des kulturellen Apparats in den 1960er-Jahren, durch die eine Reihe gesellschaftlicher Vertreter aus Künstlerverbänden, Gewerkschaften oder dem Komsomol in die Beratungsstrukturen des Kulturministeriums eingebunden wurden.475 Andererseits boten diese Künstlerräte als ein legitimes Gremium 475 Vgl. Belošapka, N. V.: Gosudarstvennoe urpavlenie kul’turoj v SSSR. Mechanizm, metody, politika, in: Vestnik udmurtskogo Universiteta 87 (2009), 2, S. 87–103, hier S. 93.
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erfahrener Experten ein generationelles Bollwerk gegen kulturelle Verwestlichung, wie sie die Alterskohorte der nach 1930 geborenen mit dem Jazz verband. Ein dritter Faktor für die Neudefinition sowjetischer Unterhaltungsmusik und die Renaissance des Jazz ist der zentralistische Aufbau der sowjetischen Kultur und einer spezifischen Konstellation zwischen Zentrum und Peripherie. In dem Maße wie Moskau das kulturelle Monopol und die administrative Kontrolle über das Konzertwesen einforderte, war die Hauptstadt gezwungen, die Peripherie innerhalb der RSFSR mit Gastspieltruppen zu versorgen und den Austausch zwischen lokalen Philharmonien zu regulieren. Die Gastspieltätigkeit stellte für die Moskauer Organisationen eine der größten organisatorischen, materiellen und sozialen Herausforderungen dar, der sie nie im geforderten Maß gerecht werden konnten. Während die knappen materiellen und personellen Ressourcen mit jeder politisch geforderten Ausweitung weiter überdehnt wurden, reduzierten Planungschaos und hohe Ausfallquoten geplanter Konzerte vor Ort auch die Einkünfte örtlicher Philharmonien. An der Peripherie des sowjetischen Staates blieb ideologische Kontrolle, verschärft durch den Wandel der Kaderstrukturen und der Parteileitung zwischen 1953 und 1957, brüchig. Lokale Philharmonien waren stärker auf populäre musikalische Gruppen und Gewinn angewiesen; ein Trend, der sich in der häufigen Ablehnung des vom Zentrum verordneten klassischen Kanons und in zahllosen Berichten über das Florieren vermeintlich „stümperhafter Orchester“ vor Ort äußert.e Auf diese Situation antwortete der sowjetische Staat 1956 mit einer Reihe organisatorischer und administrativer Maßnahmen. Goskoncert konzentrierte seine Arbeit auf den Bereich von klassischer und Folkloremusik, während die VGKO als Zusammenschluss der wichtigsten Hauptstädtischen Organisationen auch die Versorgung mit Unterhaltungsmusik außerhalb Moskaus und Leningrads verbessern sollte. Damit einher ging eine drastische Beschneidung der Kompetenzen lokaler Philharmonien, deren Erfolg hinsichtlich der verbesserten Kontrolle von Gastspielen zweifelhaft erscheint, deutlich jedoch zu Planungschaos und verschärfter Abhängigkeit vom Zentrum führte. Am Beispiel der Zentrum-Peripherie-Beziehungen zeigt sich auch, dass die verschiedenen schattenwirtschaftlichen Mechanismen im Konzertwesen keine Gegenwirtschaft zum Staat darstellten, sondern mit den offiziellen Instanzen in einem symbiotischen Verhältnis standen. Die Mehrzahl der Leiter von Philharmonien waren Wirtschafts- und keine Kulturfunktionäre. Illegale Konzerte können nicht auf exklusive Phänome infrastrukturell schwach entwickelter und schlecht kontrollierter Gebiete wie Kasachstan reduziert werden. Auch in stärker urbanisierten Bezirken mit einer hohen Dichte an kulturellen Institutionen und in den Hauptstädten erwiesen sie sich unter dem Dach der Gewerkschaften als dauerhaftes Phänomen. Die begrenzte institutionelle Reichweite des sowjetischen Kulturministeriums konterkarierte die ihm zugewiesenen Aufgaben in der Lenkung und Weiterentwicklung sowjetischer Musik.
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Deutlich wird dies auch mit Blick auf die Beziehungen zu den anderen sowjetischen Republiken, deren nationale Konzertorganisationen und Kulturministerien zwar häufig zum Objekt scharfer Kritik wurden, die aber über ein höheres Maß an Autonomie verfügten. So verblieb die Benennung der Leiter von Konzertorganisationen trotz Diskussionen bei den Republiken. Das sowjetische Kulturministerium zog sich 1960 aus der Bestellung von neuem Estradarepertoire zurück. Ein pragmatischeres Verständnis von Konzertarbeit wird besonders in den südlichen Republiken am hohen Anteil von Vertragskünstlern im Estradabereich erkennbar. Vor allem in den zentralasiatischen und Kaukasusrepubliken konnten sich unter dem Moskauer Diktum, nationale Traditionen in der Estrada zu entwickeln, eine Reihe großer Estradaorchester mit zeitgenössischen westlichen Jazzeinflüssen etablieren und weiterentwickeln.476 Der vierte Faktor, der die Ausbreitung des Jazz als Unterhaltungsmusik nach 1953 begünstigte, ist in der Ökonomisierung des Konzertwesens zu suchen. Ein erfolgreicher Leiter einer Konzertorganisation musste einen permanenten Balanceakt zwischen ideologischen Anforderungen und wirtschaftlich erfolgreichem Arbeiten vollbringen. Um den finanziellen Plan zu erfüllen, erwiesen sich Estradagruppen in offenen Konzerten durch höhere Publikumszahlen, geringere Lohnkosten und höhere Arbeitsnormen als geeignetes Mittel, das jedoch eine breitere Angriffsfläche für ideologische und künstlerische Kritik bot. Das Beispiel von Barzilovič, dem Leiter der Mosėstrada, zeigt, dass dieses Ziel kaum ohne Zuhilfenahme semi-legaler oder illegaler Praktiken zu realisieren war. Die sogenannten illegalen Konzerte erfüllten in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion, die weit über das Motiv persönlicher Bereicherung und Vorteilsnahme einzelner Administratoren hinausging. Abhängig von der räumlichen Lage der Philharmonie kompensierten Verantwortliche mit illegalen Konzerten fehlende offiziell sanktionierte Möglichkeiten, die geforderte Zahl an Zuschauern und Eintrittsgeldern zu erspielen. Sie glichen aber auch strukturelle Fehler des sowjetischen Konzertwesens aus, dann etwa, wenn eigenen Musikern ein Zusatzverdienst zu den schlechten Gehaltssätzen in der Estrada geboten wurde oder die Zusage eines Konzerts im privaten Rahmen in der Versicherung des Leiters einer anderen Organisation mündete, eigene Künstler für Gastspiele in den Sommermonaten freizustellen. Die Reform des Konzertwesens 1956 führte eine Reihe von Marktmechanismen in das Konzertwesen ein. Um dieses mit weniger staatlichen Zuschüssen dynamischer zu gestalten, gewann die Estrada als wirtschaftlicher Faktor ohnehin an Bedeutung. Für die Entwicklung des Jazz in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre besonders relevant sind zwei ungewollte Nebeneffekte dieser Reform. Neben dem Transfer des hauptstädtischen Jazz an die Peripherie durch die Versetzung von Musikern 476 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 229–230.
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nach deren Neutarifizierung ist besonders die Ausweitung des außerplanmäßigen Stellenfonds wichtig. Lokale Konzertorganisationen nutzten diese Chance auf flexiblere Personalpolitik für die Estrada maximal aus, da sie aufgrund des stark saisonalen Charakters besonders in den Sommermonaten mehr Gewinn versprach. Mit dieser schon von Zeitgenossen bezeichneten „privatunternehmerischen Form von Beziehungen zwischen Administrator und Künstler“ legalisierte der sowjetische Staat eine Praxis, die zuvor als illegale Geschäftemacherei von „Wilden Brigaden“ bezeichnet worden war. Die Hinzunahme von nicht-staatlichen Organisatoren in die Praxis des Konzertwesens weist daher in eine ähnliche Richtung. Versuche des sowjetischen Kulturministeriums, das Konzertwesen im Sinne einer zentralistischen Kulturpolitik zu leiten und zu formen, litten nicht nur an der Konkurrenz durch andere sowjetische Instanzen, die eigene Orchester und Musiker unterhielten. Eine umfassende Kontrolle der örtlichen Konzertorganisation war weder aus bürokratischer Sicht realisierbar noch waren die zentralen Instanzen in Moskau in der Lage, diese mit legitimem und erfolgreichem Repertoire zu versorgen und den Austausch von Gruppen vollständig zu planen. 1976 organisierten die örtlichen Konzertorganisationen immer noch drei Viertel aller in der Sowjetunion ausgerichteten Konzerte.477 Konstant blieb das anhaltende Planungschaos bei der Bedienung der örtlichen Bevölkerung – durchschnittlich jedes dritte Gastspielkonzert fiel 1975 aus. Das Komitee für Volkskontrolle sah darin einen wichtigen Grund, warum die Verluste der Konzertorganisationen zwischen 1970 und 1975 um 346.000 Rubel auf 7,3 Millionen angestiegen waren.478 Anders als viele der kritischen Bestandsaufnahmen in den Dekaden zuvor benannte das Komitee 1976 explizit das Kardinalproblem der Erfassung und Organisation von Kultur durch das System der Planwirtschaft, welche die in den 1950er-Jahren eingeleitete Ökonomisierung weiter beschleunigt hatte. Die Gleichbehandlung der Konzertorganisationen mit sozialistischen Betrieben führte dazu, dass die Zahl der Konzerte, des Gesamtertrags und des Gewinns unverändert als Kennziffern für die Planung verwendet wurden. Infolgedessen erhöhten die Konzertorganisationen ihre jährlichen Wachstumsprognosen bei den Konzertzahlen ohne eine realistische Einschätzung „der schöpferischen Kräfte“. Die Folgen dieser Politik erwiesen sich mit Blick auf die Ausführungen dieses Kapitels seit zwei Dekaden als ähnlich: „Die Leiter der Philharmonien laden daher nicht nur für überplanmäßige Auftritte Gastspielkollektive ein, sondern öffnen auch der Estrada einen breiten Zugang für unprofessionelle Musiker.“479
477 Vgl. Schreiben des Komitees für Volkskontrolle der UdSSR, S. 931. 478 Vgl. ebd. S. 931. 479 ebd. S. 931.
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Prägend für die Entwicklung des sowjetischen Konzertwesens blieb eine Kontinuität. Ausgehend von der Maxime, Kultur als geplanten Prozess zu gestalten, unterzogen die Vertreter der Kulturbürokratie und der Partei jeden musikalischen, sozialpolitischen, organisatorischen und finanziellen Aspekt einer genauen Regelung und bemühten sich, ihre Leitvorstellungen durch zahlreiche Anweisungen, Erlasse und Ergänzungsschreiben durchzusetzen. Nach einer aufwendigen Konsultation der republikanischen Kulturministerien für die Ausgestaltung eines neuen Beschlusses musste dieser durch das sowjetische Kulturministeriums überarbeitet und schließlich umgesetzt werden, was häufig mit gravierenden Verzögerungen geschah. Jede rechtliche Grauzone, die durch diesen umfassenden Regelungswunsch entstand, bot einerseits potentielle Nischen für die Leiter der Konzertorganisationen, um ihre Pläne zu erfüllen. Andererseits löste sie hunderte Anfragen vor Ort und Korrekturbeschlüsse des Zentrums aus, in der Detailfragen, wie die Vergütung von Musikern, die zwei Instrumente spielen, geklärt oder die Tippfehler einer vorherigen Ordnung korrigiert wurden. 480 Die Intensität, mit der in der Presse, aber auch in Beschlüssen die Versuche der Konzertorganisationen nach wirtschaftlich effizienter Tätigkeit kritisiert und kriminalisiert wurden, belegt eher die Aversion gegenüber privatwirtschaftlichen Mechanismen, als dass sie rechtlich illegales Verhalten genau widerspiegelt. Die Heftigkeit, mit der dies getan wurde, rührt auch daher, dass der Ort dieser Praktiken nicht eine diffuse soziale Schattenwelt war, sondern ein elementarer Teil der sowjetischen Kulturpolitik, der jeden Tag Millionen von Menschen erreichte.
4. 3 Vo n d e r p ol it i s che n Me t a phe r z u m mu si k a l i s che n B eg r i f f – Ja z z i m Ur t ei l d e r Ex p e r t e n Neben dem Zensurapparat verantworteten musikalische Experten die Bewertung von Musik auf dem sowjetischen Markt. Ihnen oblag es nach 1953, den Jazz und seine Rolle für die sowjetische Kultur neu zu definieren. Während Zensoren hinter verschlossenen Türen versuchten, musikalische Stücke nach einem häufig widersprüchlichen System zu filtern, zielten die Einschätzungen von Experten auch auf die sozialistische Öffentlichkeit. Ihre Deutungsangebote für den Jazz präsentierten sie in der sowjetischen Presse und auf öffentlichen Versammlungen. Diese musikalischen Experten, denen durch ihr Auftreten in der Öffentlichkeit Autorität zugebilligt wurde, offerierten Vertretern der Partei mögliche Interpretationen und 480 Leiter der Hauptverwaltung für Theater und Musikeinrichtungen P. Kabanov an die Kulturministerien der Unionsrepubliken und die republikanischen Kreis- und Bezirkskomitees der Gewerkschaft der Kulturarbeiter vom 02.11.1956, ERA, f.R-1791, op.1, d.253, l.179.
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fachliche Unterfütterung ideologischer Positionen, aber auch Musikschaffenden einen Referenzrahmen, in dem sie agieren konnten. Während die Partei in anderen Kunstfeldern wie der Literatur oder der Bildenden Kunst wesentlich häufiger direkt mit Beschlüssen und Resolutionen intervenierte, verblieb als ideologische Orientierung für die Musik bis 1958 lediglich die wenig konkrete ZK -Resolution „Über die Oper ‚Die große Freundschaft‘ V. I. Muradeli“ von 1948.481 Während deren zentrale Vorwürfe von „Formalismus“ und „Kakophonie“ schon wenig konkrete Orientierung für Vertreter der klassischen Musik boten, schwiegen sie sich über die Estrada gänzlich aus.482 Der Džaz wurde im Spätstalinismus zum politischen Symbol alles Fremden, dem es im heraufziehenden Kalten Krieg entgegenzutreten galt. Viktor Gordinskijs „Musik der Geistigen Armut“ aus dem Jahr 1951 destillierte all jene negativen politischen Zuschreibungen in einem zentralen Text, der jedoch nur an wenigen Stellen über die Argumente und Metaphern von Gor’kijs „Musik der Dicken“ aus dem Jahr 1928 hinausging.483 Viele der kulturpolitischen Maßnahmen gegen den vermeintlich westlichen Einfluss auf die Estrada beraubten das Genre seiner eigentlich zentralen Stärken, der thematischen und musikalischen Vielfalt in Besetzung, Instrumentierung und Thematik. In den 1950er-Jahren entwickelte sich eine neue Diskussion um die Zukunft sowjetischer Unterhaltungsmusik. In diesen kontroversen Debatten wurde vordergründig über Jazz und Estrada gesprochen, aber damit auch die Frage der gesellschaftlichen Integration und der kulturellen Prämissen des Neustarts des sozialistischen Projekts verhandelt. Bemerkenswert ist, dass die Auseinandersetzungen weniger durch eine konsistente Position der Partei oder des Komponistenverbands geprägt wurden, sondern durch einzelne Personen, deren Legitimität auf fachlicher Kompetenz oder jahrelanger praktischer Erfahrung beruhte. Der sowjetische Komponistenverband als Expertengemeinschaft diskutierte musikalische Fragen intern und kommunizierte die gefilterten Ergebnisse nach außen. Resultate und Proklamationen der Kongresse des Künstlerverbands fanden ihren Platz an prominenter Stelle der Pravda und Izvestija und machten damit Deutungsvorgaben für die sowjetische Öffentlichkeit.484 Der Jazz wurde in diesen ideologischen Texten und einzelnen abgedruckten Redebeiträgen prominenter 481 Vgl. Vlasova, 1948. 482 Vgl. Politbüro CK VKP(b): Beschluss „Über die Oper ‚Die große Freundschaft’ V. I. Muradeli“, Moskau 1948, abgedruckt in: Andrej Artizov/Oleg V. Naumov (Hg.), Vlast’ i Chudožestvennaja ︡ K RKP(b)--VKP(b), VChK--OGPU--NKVD o kulʹturnoj politike: Intelligentsija. Dokumenty T︠S 1917–1953 gg. Moskau 2002, S. 630–634. Tomoff, Kiril: Creative union. 483 Vgl. Gorodinskij, Viktor: Musik der geistigen Armut. Berlin 1952. 484 Vgl. Beyau, Dietrich: Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917 bis 1985. Göttingen 1993, S. 122–135.
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Verbandsmitglieder bis Ende der 1950er-Jahre entweder unter dem Genre der Estrada subsumiert oder randständig in der militärischen Kulturrhetorik der Spätstalinzeit verhandelt. Hier fanden sich wenige Impulse zur Veränderung. Dieses Kapitel folgt der Annahme, dass die innen- und außenpolitischen Entwicklungen der 1950er-Jahre eine Re-Formulierung der sowjetischen Position zum Jazz nötig machten. Nicht der Komponistenverband, sondern einzelne Personen des musikalischen Lebens prägten diesen Wandlungsprozess als Experten mit eigenen Argumenten. Teile dieser Entwicklung vollzogen sich in Auseinandersetzung und Interaktion der sowjetischen Öffentlichkeit. Über die Binnendiskussionen in den Künstlerverbänden hat Karin Laß 2002 eine Studie vorgelegt, aus der sich auch der Diskurs der Estrada und des Jazz erschließen lässt.485 Die tauwetterbezogenen Konflikte um weniger stilistische oder formelle Gängelung des musikalischen Schaffens wurden in den Genres der Oper, Sinfonie und Orchesterstücken verhandelt und begünstigten die ohnehin eher stiefmütterliche Aufmerksamkeit diesem Thema gegenüber. Die Deutungsangebote musikalischer Experten und deren teils widersprüchliche Einordnungen des Phänomens „Jazz“ dienten nicht nur Vertretern von Partei und Kulturbürokratie als Orientierungshilfe, sondern appellierten an die sowjetische Gesellschaft im Ganzen. Über Artikel in verschiedenen Zeitungen und Fachzeitschriften richteten sich einzelne Vertreter an unterschiedliche gesellschaftliche Zielgruppen, beeinflussten sich mit zentralen Argumenten aber gegenseitig. Einzelne Beiträge, die in der Pravda, Izvestija und Sovetskaja Kul’tura, aber auch Fach- und zielgruppenspezifischen Zeitschriften wie der Sovetskaja Muzyka, Muzykal’naja Žizn’’ und der ab 1962 erscheinenden Jugendzeitschrift Rovesnik erschienen, ermöglichen ein genaueres Verständnis von drei erklärungsbedürftigen Problemen. Zum Ersten wurde der Begriff Džaz im Spätstalinismus im Zuge der antiwestlichen Kulturkampagne so stark ideologisch aufgeladen, dass er aus dem staatlichen Denominationskatalog der Kultur verbannt wurde.486 In der Großen Sowjetenzyklopädie von 1950, die als Kanonisierung des Sagbaren verstanden werden kann, wird dem Džaz jeglicher musikalischer Wert abgesprochen.487 22 Jahre später in der dritten Auflage der Enzyklopädie wiederum gilt Jazz als ein „vollwertiger Teil der sowjetischen Kultur“, über dessen Entwicklung ein reflektierter Artikel ohne ideologische Vereinnahmung informiert, den Leonid Pereversev verfasst hat.488 Der
485 Lass, Vom Tauwetter zur Perestrojka. 486 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 171–193. 487 Vgl. Art. „Džaz“, in: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. 2. Aufl., Moskau 1949–1960, 49 Bde., Bd. 14, 1950, S. 228. 488 Vgl. Art. „Džaz“, in: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. 3. Aufl., Moskau 1969–1978, 30 Bde., Bd. 8, 1972, S. 184–185.
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Autor verfügte über keine formelle musikwissenschaftliche Ausbildung und war einer der ersten Organisatoren der Jazzbewegung Moskaus in den 1950er-Jahren. Zum Zweiten wirft dies die Frage nach legitimen Experten auf, die an diesem von der Partei kontrollierten, aber nicht gestalteten Wandel mitwirkten. Die KPdSU regulierte zwar die Organisationsformen einzelner Kunstfelder, beschränkte sich in ihren Beschlüssen zum Inhalt der Kunst aber auf semantisch eindeutigere Felder, wie die Literatur, die zudem innerhalb der Genrehierarchie eine wichtigere Rolle einnahm. Lediglich der kanonisch erhobene Pravda-Artikel „Sumbur vmesto Muzyku“, der sich gegen Šostakovičs Oper von 1936, der ZK-Beschluss von 1948 zur Oper „Die große Freundschaft“ und dessen halbherzige Revision 1958 setzten sich als normative Parteidokumente explizit mit Fragen von musikalischen Inhalten auseinander.489 Der Komponistenverband entwickelte sich in der Nachkriegszeit zur zentralen Institution für musikalische Autorität und konnte eine Reihe von Interventionen der Partei in musikalischen und personellen Fragen abwehren beziehungsweise abdämpfen.490 Auch wenn sich innerhalb des Verbandes sowohl elitäre als auch populäre Komponisten in zwei Lagern vereinten, bedurfte es einer inhaltlichen Auseinandersetzung und Positionierung zur Frage des Jazz – allgemeiner formuliert: des Einflusses von Elementen westlicher Populärkultur auf die sowjetische, musikwissenschaftliche Expertise, an der es mangelte. Weder die 1930er-Jahre noch die Zeit des Spätstalinismus beförderten eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema. Es bedurfte für diesen Wandlungsprozess jedoch Kritiker und Musikwissenschaftler, die sich kompetent zu Fragen des Jazz äußern und musikwissenschaftliches sowie historisches Wissen in den sich nach 1953 wandelnden ideologischen Rahmen der sowjetischen Kultur einpassen konnten. Neben dieser Gruppe verfügten jene Komponisten und Orchesterleiter über legitime Autorität, sich an dieser Neuaushandlung zu beteiligen, die den sowjetischen Jazz der 1930er und 1940er definiert hatten. Im Zusammenhang mit einer sowjetischen Kulturpolitik zwischen 1953 und 1956, die wenig aktiv in die vielen Diskussionen intervenierte, ergab sich ein entsprechend heterogenes Bild an Stimmen, die den Jazz unterschiedlich definierten und seinen Platz in der sowjetischen Musik zu bestimmen suchten. Jener im ersten Punkt bezeichnete Prozess der Neuinterpretation des Jazz ist daher vor allem als Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen Positionen und Autoritäten zu verstehen. Diese standen in Abhängigkeit vom Beruf des Schreibenden, aber auch der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Generationen. Sowohl konservative Vertreter, die den Sovetskij Džaz der stalinistischen 1930er-Jahre als das Muster erfolgreicher sowjetischer 489 Vgl. Maksimenkov, Leonid Valentinovič: Muzyka vmesto symbura. Kompozitory i muzykanty v strane sovetov, 1917–1991. Moskau 2013, S. 5–26. 490 Vgl. Tomoff, Creative Union, S. 11–96.
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Unterhaltungsmusik auffassten, als auch liberal orientierte Akteure, die musikalische Einflüsse aus dem Westen als Chance begriffen, waren davon überzeugt, dass sich die sowjetische Unterhaltungskultur 1952 in einer Sackgasse befand. Zum Dritten war dieser vielstimmige Prozess der Neubestimmung des Stellenwerts von Jazz in der sowjetischen Kultur keine exklusive Diskussion von Spezialisten, sondern auch eine gesellschaftliche Auseinandersetzung, die nicht nur hinter verschlossenen Türen geführt, sondern durch die Presse in die Öffentlichkeit hineingetragen wurde. Die beachtliche Resonanz, die die Frage nach 1953 erzeugte, lässt sich nicht einzig mit einer vermeintlichen Faszination für Amerika erklären. Das Thema avancierte zum Medium verschiedener Probleme, die die nachstalinistische Gesellschaft unter den Bedingungen verschiedener Phasen kultureller Liberalisierung und der kulturellen Öffnung nach außen prägten. Entsprechend griffen die Akteure auf zentrale Leitbegriffe zurück, die die historische Forschung mit dem Tauwetter und der Entstalinisierung verbindet. Der Wandel des Jazzbegriffs und seine Ursachen bilden damit den gesellschaftlichen und politischen Wandel ab, werden aber gleichzeitig auch durch ihn bestimmt. Verhandelt wurde anhand des Džaz nicht nur die Integrationskraft des sowjetischen Leitbildes und des Erziehungsparadigmas nach 1953, sondern auch die Frage, wie die eigene sowjetische Kultur an die Herausforderungen des „friedlichen Wettbewerbs“ mit den USA angepasst werden konnte. Folgenden Fragen muss daher genauer nachgegangen werden. Welche Akteure beteiligten sich an diesem Umdeutungsprozess, an dem der Komponistenverband als legitime Institution musikalischer Experten zunächst wenig Anteil hatte? Welche Argumente verwendeten sie und welche Motivation lag ihren Texten zugrunde? Inwieweit spiegeln sich darin die gesamtgesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der Chruščev-Ära und der frühen Brežnevjahre wider und an welcher Stelle wird ein Einfluss dieser Prozesse auf die offizielle Lesart des Jazz deutlich? Wo lagen die Grenzen dieses nur scheinbaren Liberalisierungsprozesses und welchen Konjunkturen ist er mit Blick auf die unstetige Kulturpolitik des Zeitraums unterworfen? In welchem Zusammenhang stehen diese Entwicklungen zum Konzertwesen oder den Medien als Teilen des sowjetischen Musikmarkts? Schließlich gilt zu verstehen, welche Folgen ein Vakuum an Expertise im publizistischen Umfeld hat, das über den Zeitraum von elf Jahren höchst instabilen ideologischen Linien unterworfen war?
4.3.1 Jazz im Spätstalinismus Die Kulturpolitik des Spätstalinismus zielte im Kontext des Kalten Krieges auf eine nie gekannte Abschottung der sowjetischen Kultur. Zahlreiche Belege illustrieren diesen Wandel – die zweite Auflage der Großen Sowjetenzyklopädie sprach dem
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Jazz jeglichen Charakter als Kunst ab und bezeichnete ihn als Waffe des US-Imperialismus. Viktor Gorodinskij konstatierte 1951 in „Musik der Geistigen Armut“, dass Jazz keine Kunst sein könne, da „seine ästhetischen Ausdruckmittel dafür zu arm seien“491. Eine Übersetzung des Textes ins Deutsche aus dem Jahr 1952 sollte bei ähnlichen Debatten um Jazz in der DDR später als Referenzobjekt seiner Gegner fungieren.492 In der Presse, dem Medium mit der größten Reichweite, wurden diese Deutungen vertieft und mit mit tagespolitischen Fragen verbunden. In Zeitschriften wie der Sovetskoe Iskusstvo erfuhren die Leser, wie der Jazz in der „belagerten Festung“493 Sowjetunion zu verstehen sei, aber auch welche der eigenen Traditionen sowjetischer Unterhaltungskultur nun gänzlich anders bewertet wurden. Im Artikel „Über Jazz“ vom 16.2.1952 rechtfertigte der Autor M. Sokol’skij die „Verurteilung von Jazzmusik“.494 Der Leningrader Bürger Svetovidov hatte in einem Leserbrief gefragt, warum die jetzt geforderte volksnahe und verständliche Musik nicht auch durch ein Jazzorchester gespielt werden könne, dessen Interpretationen von Liedern und Tanzmusik „deutlich lebensfröhlicher und vollkommener“495 klingen würden als bei einem sinfonischen Orchester. Der Autor wiederum reduziert Svetovidovs Interesse auf die Frage, warum ein sowjetisches musikalisches Werk niemals durch ein Jazzorchester gespielt werden sollte. In einem paternalistisch-belehrenden Tonfall argumentiert er, dass schon die Grundannahme Svetovidovs falsch sei: Orchester und Musik (Form und Inhalt) seien keine voneinander unabhängigen Einheiten, da das Orchester die Musik beispielsweise durch die Klangfarbe der Instrumente deutlich beeinflusse. „Warum nur Genosse Svetovidov“, so fragt Sokol’skij, „schlagen Sie vor, unsere klare, schöne und realistische Musik in ausländische Jazzlumpen zu kleiden, die ihrem Geist und ihrer Natur vollständig fremd sind und absolut überhaupt nicht zu ihrem Inhalt oder ihrem Stil passen?“496 Eine solche Adaption sei schon wegen der Instrumente eines Jazzorchesters – hier extrem pejorativ als „an Zahnschmerzen erinnernd“ oder „betäubend und heulend“ beschrieben – per se unmöglich. Der Autor geht darüber hinaus und generalisiert, dass westliche leichte Musik als solche nicht in die sowjetische Musik passe, da diese in der bourgeoisen Musikkultur des Westens nicht mehr vom Jazz zu trennen sei. Um diesem Argument Legitimität zu verleihen, verwendet der Autor ein langes Zitat aus „Musik der Dicken“ von Maxim Gor’kij aus dem Jahr 1928. Anhand des Textauszugs, in dem Gor’kij keinerlei musikanalytische oder -historische Zugänge 491 Gordodinskij, Viktor: Musik der Geistigen Armut. Halle 1952, S. 80. 492 So später beim DDR Jazzaktivisten Rudorf, Vgl. Rudorf, Jazz in der Zone. 493 Katzer, Belagerte Festung. 494 Sokolovskij, M.: Über Jazz, in: Sovetskaja Kul’tura, 19.01.1952. 495 ebd. 496 ebd.
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verwendete, sondern eher in bildreicher Prosa einen Zusammenhang zwischen Jazz und der absterbenden bürgerlichen Kultur herzustellen suchte, verwirft Sokol’skij schließlich auch die Idee des Lesers, Jazzmusik weiterzuentwickeln und ihr einen positiven, ja sowjetischen Gehalt einzuräumen. Dies sei unmöglich, da Jazzmusik eine vollständige Negation alles Positiven der Vergangenheit sei und nicht nur eine „Verneinung der klassischen musikalischen Kultur, sondern der Verneinung von Musik als solcher.“497 Wie stark der Kalte Krieg auf das ideologische Selbstverständnis der Partei und deren Kulturpolitik zurückwirkte, wird im weiteren Verlauf des Artikels noch einmal besonders deutlich. Sokol’skij diffamiert Jazz als „typisch kosmopolitische Kunst“ und reißt damit jene argumentative Brücke ein, die eine positive Jazzrezeption im sowjetischen Staat immer wieder möglich machte und in den 1930er-Jahren in der Sowjetunion genutzt wurde. Die „Volkstümlichkeit des Jazz“ sei eine Legende „weißer Liebhaber von schwarzer Exotik“, aber durch die Kommerzialisierung keine ursprüngliche Folklore der Schwarzen mehr, eine Behauptung, die der Autor mit dem linksorientierten afroamerikanischen Sänger Paul Robeson belegt. Robeson reiste aufgrund seiner pro-sowjetischen Haltung in den 1930er- und 40er-Jahren mehrfach in die Sowjetunion, erhielt 1952 den Stalin-Preis und wurde zum Beleg des Arguments fehlender Volkstümlichkeit des Jazz auch im Artikel zum Jazz in der Großen Sowjetenzyklopädie zitiert.498 Am 12. März 1952 griff die „Sovetskoe Iskusstvo“ das Thema Jazz erneut auf.499 Nun wurde dem Leser durch eine moderierte Diskussion von Leserbriefen allgemeine Zustimmung zu den Aussagen des Artikels von Sokol’skij aus dem Vorjahr suggeriert. Vermutlich erhielt die Zeitung nach der Veröffentlichung des ersten Artikels zahlreiche Briefe mit Wunsch nach Klarstellung und Kritik, die den Impuls für den im belehrenden Ton formulierten Text gab. Jazz wurde nun konkreter auf die sowjetische Kultur selbst bezogen. Konsens, so der Artikel, bestehe bei der Mehrzahl der Leser über die Erziehungsaufgabe der Kunst für den ästhetischen Geschmack und über eine unversöhnliche Einstellung gegenüber der bourgeoisen Kultur. Die außenpolitische Konstellation machte aber auch eine Neudeutung der eigenen kulturellen Traditionen notwendig, deren Bestandteil der Sovetskij Džaz seit den 1930er-Jahren war. Für den Autor herrschte unter den Lesern „begriffliche Verwirrung“500, wenn diese danach fragten, ob denn nicht auch „sowjetischer Jazz“ 497 ebd. 498 Vgl. Art. „Džaz“, in: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. 2. Aufl., Moskau 1949–1960, 49 Bde., Bd. 14, 1950, S. 228, McConnell, Lauren: Understanding Paul Robeson’s Soviet Experience, in: Theatre History Studies 30 (2010), S. 138–153., sowie Perucci, Tony: Paul Robeson and the Cold War Performance Complex. Race, Madness, Activism. Ann Arbor, Mich. 2012. 499 Vgl. o. A.: Erneut über Jazz. Zusammenfassung von Leserbriefen, in: Sovetskoe Iskusstvo, 12.03.1952. 500 ebd.
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existieren könne, was ein Estradaorchester von einer Jazzband unterscheide und ob sich denn nicht auch die großen Estradaorchester vieler Jazzinstrumente bedienen würden. Viele Leser würden unter Sovetskij Džaz ein Estradaensemble verstehen, deren Musik für die sowjetische Kultur ja unersetzlich sei. Diese hätten jedoch nichts mit Jazz zu tun, auch wenn sie Instrumente nutzen, die im Jazz gespielt würden. Anders als im Artikel aus dem Vorjahr betont der Autor, dass es keine an sich schlechten Instrumente gebe, diese wohl aber falsch verwendet werden. Er positionierte sich deutlich gegen die „Legende“ der folkloristischen Wurzeln des Jazz: „Wem käme in den Kopf, Posaunen, Saxofone, Geigen und Trompeten ‚schwarz‘ zu nennen“501. Der musikalische Stil des Jazz wird den Lesern hier als falsche und reduzierte Verwendung eigentlich wohlklingender Instrumente beschrieben. Seine Fremdheit resultiert aus dem Bruch mit positiv normierten kollektiven Hörgewohnheiten durch seine „barbarische Entfremdung von unserem Ohr vertrauten Klängen“502. Dass man Estradaorchester nicht Jazzbands nennen könne, belegt der Autor mit den (politisch erzwungenen) Veränderungen in der Besetzung und Orchestrierung des Orchesters von Leonid Utesov nach 1946. Sowjetische leichte Musik schließe Jazzmusik, aber auch Tango und Foxtrott, nachdem andere Leser fragten, grundsätzlich aus. In Einzelfällen, in denen noch Jazzelemente zu finden seien, sucht der Autor die Schuld bei einzelnen Liedkomponisten und dem Komponistenverbands, der dieser Frage nicht genügend Interesse schenken würde. In den vom Autor formulierten politischen Erwartungen an die Estradamusik verbinden sich schließlich subjektive („schön“), politische („inhaltsreich“) und populistische („zugänglich, aber nicht banal“) Ausschlusskriterien, nach denen Unterhaltungsmusik für die Leser zu klassifizieren sei. Der Autor nennt eine Reihe erfolgreicher Komponisten (mehrheitlich aus dem Bereich der sinfonischen Musik), die jedoch nicht ausreichen würde, jene „riesigen Repertoirebedürfnisse“ der zahllosen Estradagruppen im öffentlichen Raum zu befriedigen. Erst dadurch würde eine „geringe Zahl von schablonenhaft arbeitenden Komponisten“ jene Musikstile produzieren und verbreiten, die der Artikel kritisiert. Diese bewusst dem künstlerischen Schöpfertum gegenübergestellte Form des Arbeitens steht den politischen Erwartungshaltungen an leichte Musik zu Beginn der 1950er-Jahre so diametral gegenüber. Diese solle vielmehr „den Geschmack des Hörers erziehen, ihm Freude und Erholung bringen und sowohl in der großen Kunst der Oper als auch der sinfonischen Musik die wachsenden ästhetischen Anforderungen unseres Volkes erfüllen“.503
501 ebd. 502 ebd. 503 ebd.
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4.3.2 Ohne Denkverbote? – Jazz nach 1953 Wie in anderen Genres der sowjetischen Kultur auch ist Stalins Tod im März 1953 nicht als Nullpunkt der Diskussionen um den Charakter der sowjetischen Unterhaltungsmusik zu verstehen. Noch Ende der 1940er-Jahre verlor die Kampagne gegen den Kosmopolitismus in einigen Bereichen an Energie. Dem sowjetischen Komponistenverband gelang es, die Auswirkungen der Kampagne auf seine personelle Zusammensetzung zu beschränken.504 Ein „umfassendes Parteimonopol in allen Bereichen der Weltdeutung von der künstlerischen Darstellung bis zur wissenschaftlichen Darstellung zu verankern“505, war auch vor Stalins Tod nicht umzusetzen. Erste Kritik an „Schönfärberei“ („lakirovka“) in der Literatur wurde bereits im Jahr 1952 artikuliert. In der Sovetskaja Muzyka erschien im Januar 1953 der Artikel „Gegen Schablonen und Langeweile“ der Autorin Valentina Konen. Sie kann zu Recht als eine der wenigen sowjetischen Musikwissenschaftler gelten, die sich mit der musikalischen Kultur der Vereinigten Staaten im Speziellen und westlicher Musikkultur im Allgemeinen intensiv befasst hatten und somit erstmals wieder Fachkompetenz in die Diskussionen um den Jazz nach 1953 einbringen konnten. Ihre Biografie prädestinierte sie dazu, in den Jahren nach Stalins Tod bis in die 1980er-Jahre zur kompetenten musikwissenschaftlichen Autorität und Fürsprecherin des Jazz zu werden. Konens jüdischstämmige Familie sympathisierte mit sozialistischen Ideen und musste in den politischen Wirren der 1910er-Jahre die Heimatstadt Baku in Richtung Westeuropa verlassen. 1921 zogen die Konens nach New York, wo Valentina 1925 im Alter von 16 Jahren für ein Klavierstudium an der prestigeträchtigen Juilliard-School angenommen wurde. Die linksorientierte Konen sammelte erste Erfahrungen als Musikkritikerin, thematisierte aber auch die Diskrepanz der Ausbildung von Musikern und ihren Möglichkeiten, Geld auf dem amerikanischen Markt zu verdienen.506 1931 folgte sie ihrer Familie zurück in die Sowjetunion, wo sie 1938 das Moskauer Konservatorium abschloss und dort 1946 auch promovierte. Aufgrund der jüdischen Herkunft gerieten sie und ihr Mann im Zuge der Kampagne gegen den Kosmopolitismus in Bedrängnis. Konen konnte ihre Dissertation („Essays über die Geschichte der amerikanischen Musik“) nicht veröffentlichen und musste 1949 ihre Lehrstellen am Konservatorium und am Gnesin-Institut aufgeben. Bis 1960 blieb sie persona non grata, die sich bis auf einige Vorlesungen
504 Tomoff, Creative Union, S. 152 ff. 505 Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 722. 506 Vgl. Kartashev, Zinaida: Valentina Konen’s Early Years in America: An Exzerpt from „100 Years of Musical Impressions“, in: The Musical Quartely 94 (2011), S. 211–233, hier S. 212.
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an der Universität von Sverdlovsk nur mit der eigenen Forschung beschäftigte.507 Ihr Text mag auf den ersten Blick einen Versuch darstellen, sich durch Kritik am Zustand der Unterhaltungsmusik in den Augen der Partei zu rehabilitieren. Er enthält aber ebenso indirekte Kritik an der bisherigen Kulturpolitik in diesem Bereich und der Effektivität politischer Bewertungsschemata. Konen betont zu Beginn des Artikels die Legitimität instrumentaler leichter Musik, da sie allgemeine Popularität genieße und im Alltag der Hörer omnipräsent sei.508 Die Resolution des ZK zur Oper „Die Große Freundschaft“ habe die Beziehung zum Genre geändert, jedoch nur einige „bis jetzt sehr dürftige Erfolge“ gebracht. Der allgemeine Zustand sowjetischer Instrumentalmusik bleibe unbefriedigend. Anders als Texte explizit politischer Provenienz nutzt Konen als Beispiele für negative Erscheinungen nur vorrevolutionäre Musik und Stücke aus den 1920er-Jahren, verzichtet aber auf Beispiele westlicher Musik. Die Schuld an dieser Situation sah sie, ähnlich wie die meisten Texte, in der „unverständlichen Gleichgültigkeit“, mit der die großen Komponisten der Frage der leichten Musik gegenübertreten.509 Implizit kritisiert sie in diesem Zusammenhang jedoch auch die Sinnhaftigkeit der Beurteilung von Stücken durch politische Schablonen: Bis in die jüngste Zeit hörten und diskutierten sie in der Sektion für leichte Instrumentalmusik des Komponistenverbands Werke, deren einziger Verdienst das Fehlen von ‚Kriminellem‘ (sic!) war, das heißt, in ihnen gab es keine offenen Zigeunereinflüsse [‚cyganščina‘] und Jazzkakophonie. Aber leider gibt es in ihnen auch keinerlei bemerkbare Zeichen moderner und guter leichter Musik.510
Das zentrale Anliegen ihres Beitrags ist die Kritik am „entstandenen Riss zwischen leichter Musik und Kammer- und sinfonischer Instrumentalmusik“511, den sie als einen Grund für die unbefriedigende Situation der sowjetischen Unterhaltungsmusik ausmacht. Konen argumentiert im weiteren Verlauf musikhistorisch und konstatiert, dass dieses Denken seinen Ursprung eigentlich im Westen habe und in der Phase des bürgerlichen Zerfalls um die Jahrhundertwende entstanden sei. In der sowjetischen Kunst jedoch, so Konen weiter, wo diese gesellschaftlichen Voraussetzungen für Jazz und die bourgeoise Salonmusik fehlen, sollte es eine solche geringschätzige Einstellung gegenüber leichter Instrumentalmusik nicht geben. 507 Vgl. ebd. S. 214. 508 Konen, Valentina: Gegen Schablonen und Langeweile, in: Sovetskaja Muzyka (1953), 1, S. 28–30, hier S. 28. 509 ebd. 510 ebd. 511 ebd.
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Dass dies dennoch so sei, liege daran, dass der sowjetischen Musik ein markanter Stil fehle und nur wenig ästhetisch hochwertige Werke geschaffen worden seien, die „dem künstlerischen Niveau von sowjetischen Massenliedern, kammer-sinfonischer oder Chor- und Opernmusik entsprechen würden“512. Kritisch äußert sich Konen nicht nur gegenüber der aktuellen Situation, in der „zweitklassiges Repertoire“ auf den Bühnen gespielt wird. Vielmehr bemängelt sie die Erfolglosigkeit jener ideologischen Rezepte, die die Partei nach 1948 als Allheilmittel für die musikalische Situation im Land aktiv gefordert hatte. Das Aufgreifen nationaler und folkloristischer Melodien werde in den meisten Fällen nur oberflächlich vollzogen, da einzelne Melodien lediglich wiederholt würden. „Schematismus, Eintönigkeit und Langeweile“ seien der „schlimmste Feind leichter Musik.“513 Um ihren Forderungen an die Komponisten mehr Gewicht zu verleihen, appelliert sie, ebenso wie Glinka, Čajkovskij und Schubert, die Suche nach neuen Formen und Genres zu beginnen, die „alle Bereiche unseres musikalischen Alltags beständig bereichern sollen“514. Konen plädierte mit diesem Text für die Wiederherstellung von fachlicher Autorität in Fragen der leichten Musik und kritisierte die Hierarchien der sowjetischen Musik. Implizit stellte sie sich so gegen politische Interventionen in musikalischen Fragen, deren sprachliche Mechanismen nicht effektiv und mit Blick auf die ideologischen Apelle für Sozialistischen Realismus und Folkloreadapationen wenig erfolgreich waren. Musikgeschichte wurde hier zum Hebel, um einen ineffektiven Zustand zu überwinden. In derselben Ausgabe der Sovetskaja Muzyka wurde die Kritik an der Situation des leichten Genres von anderer Seite her fortgeführt und vertieft. Nach Konens musikwissenschaftlichem Appell, der sich ideologischer, ästhetischer und historischer Argumente bediente, rückte Ė. Kolmanovskij 1953 die Frage der musikalischen Praxis und Rezeption ins Zentrum. Ein großer Teil der Stücke leichter Instrumentalmusik würden entsprechend zahllosen Hörerbriefen im Radio kaum Popularität genießen.515 Ähnlich wie Konen bezieht der Autor seine Überlegungen kaum auf Lieder, die dem Prinzip von Populärmusik am nächsten kommen, sondern ebenfalls auf Suiten, Ouvertüren, Rhapsodien und Walzer. Von diesen würde es eine Reihe künstlerischer und technischer Meisterwerke geben, die jedoch beim Radiohörer keinerlei Popularität gewinnen würden. Der Autor fordert implizit die stärkere Berücksichtigung des Faktors Geschmack, der in den Jahren zuvor höchstens als abstraktes Legitimationsmuster parteilicher Intervention in die Kunst verstanden wurde. Viele Komponisten, so Kolmanovskij, würden eben 512 513 514 515
ebd. S. 29. ebd. S. 29. ebd. S. 30. Kolmanovskij, Ė: Die schwierige Lage im Leichten Genre, Sovetskaja Muzyka (1953), 1, S. 31–34.
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die Geschmäcker und Anforderungen des Auditoriums (nicht des Volkes) kennen und damit die Gesetze des Genres vernachlässigen.516 Existierende Stücke seien zu kompliziert, langweilig und würden sowohl hinsichtlich der Genres als auch der Stimmung zwischen den Polen schweben. Neben der auch bei Konen geäußerten Kritik an schematischer Übernahme folkloristischer Motive moniert der Autor einen Fehler im Produktionsprozess von Musik, der das fachliche Monopol und die Autorität der Komponisten in Frage stellt. Viele Komponisten der Estrada würden ihre Stücke zwar selbst komponieren, das Schreiben der Partituren und die Orchestrierung jedoch vermeintlich „schematisch arbeitenden Co-Autoren“ überlassen. Durch den Schutz dieser „nichtqualifizierten, drittklassigen Autoren und Musiker mit üblem Geschmack und niedriger Kultur“ durch das KDI und den Komponistenverband finden sich auf den Bühnen, Tanzplätzen und in Kinofoyers eine wachsende Zahl „vulgären Foxtrotts“, die durch harmlose Namen neutralisiert werden. Als eine Folge dieser Camouflage-Taktik führt der Autor ein Argument an, das im Jazzdiskurs besonders nach 1956 an Bedeutung gewinnen sollte – der schädliche Einfluss auf die Erziehung des künstlerischen Geschmacks der Jugend.517 Eine für die Populärmusik zentrale Technik – die Überarbeitung bzw. Anreicherung bekannter Stücke mit neuen Rhythmen und Melodien – kritisiert Kolmanovskij mit Blick auf die Estradaensembles in Restaurants, die „neben alten Jazznummern auch sowjetische Lieder, die sie an Foxtrotts und Blues anpassen“, spielen würden.518 Entsprechend haben alle verantwortlichen Instanzen eine striktere Auswahl sicherzustellen, „gleich ob diese im Säulensaal des Gewerkschaftshauses, im Foyer des Kinos Moskau, auf dem Tanzplatz in Sokol’niki oder im häuslichen Alltag gespielt werden“519. Ein Beleg für die Vernachlässigung des Genres sieht der Autor in der Arbeit der „Sektion für Leichte Instrumental- und Theatermusik“ des Komponistenverbands. Das Gremium, so klagt Kolmanovskij, habe zu wenig aktive Mitglieder, würde kaum Einfluss auf die musikalische Praxis haben und von den großen Komponisten der Estrada kaum unterstützt werden. In der musikalischen Praxis erweise sich die Tatsache als hinderlich, dass es in Moskau nur ein großes Orchester gebe, das überhaupt regelmäßig, aber mit stark veraltetem Repertoire auftritt – das des Radiokomitees. Hier wird auch die Vergabepraxis von Kompositionsaufträgen des KDI kritisiert, das wenige der „besten Komponisten zur Arbeit heranziehe“ und keine gedruckten Ausgaben mit neuen Orchestrierungen für die zahllosen kleinen Orchester vor Ort herausgeben würde.
516 ebd. S. 31. 517 ebd. S. 32. 518 ebd. 519 ebd.
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Auch in diesem Text wurden stärker die institutionellen Mechanismen und die ideologische Einflussnahme kritisiert, auch wenn der Autor sich gegen westliche Formen von Populärmusik auf den Bühnen der Städte positionierte. Die Ursache der Ausbreitung scheint hier als Folge der fehlerhaften Arbeit staatlicher Instanzen und einer geringen Aufmerksamkeit des Komponistenverbands, der die formelle Hoheit für die Entwicklung der Musik innehatte. In der Verwendung des Geschmacks und der kulturellen Bedürfnisse nahm Kolmanovskij Argumente vorweg, die in den musikalischen Debatten der 1950er- und 1960er-Jahre eine Renaissance erfuhren. Stalins Tod am 3. März 1953 folgte keine Phase einer linearen kulturellen Liberalisierung, sondern eine kulturpolitische Konzeptlosigkeit innerhalb der Partei und der kulturellen Eliten. Auch wenn in den folgenden Jahren in verschiedenen Kunstgattungen Impulse zur Erweiterung des kulturellen Kanons zu beobachten waren – eine Phase, die später als das erste Tauwetter bekannt wurde, – erfolgten diese Impulse nur langsam und zögerlich. Die ZK-Resolution zur Oper „Die große Freundschaft“ behielt ihre Gültigkeit und wurde auch 1958 nur unwesentlich korrigiert.520 Mit dem Tod des Diktators verschwanden nicht die stalinistischen Kader und das Führungspersonal in den Künstlerverbänden. Die Rücknahmen ästhetischer Restriktionen der Spätstalinzeit in der Kunst, häufig unpassend als „Liberalisierung“ bezeichnet, geschahen häufig weder durch noch gegen sie. Vertreter der kommunistischen Partei aller Ebenen waren von internen Machtkämpfen, der Frage der Rehabilitierung, der industriellen Neujustierung von Schwer- auf Konsumgüterindustrie, aber auch der institutionellen Reorganisation absorbiert. Während die Hochkultur, an deren Veränderungen das kulturelle Tauwetter bislang diagnostiziert wurde, den Konflikten der Künstlerverbände unterworfen blieb, fristete die Populärmusik ein Schattendasein. Die Debatten im Komponistenverband konzentrierten sich mehrheitlich auf musikalischen Gestaltungsspielraum neuer Sinfonien oder Opern. Aber auch die Estrada, in deren Kontext Jazz bis in die 1960er-Jahre hinein verhandelt wurde, konnte sich der wandelnden gesellschaftlichen Stimmung und den verschobenen Grenzen des Sagbaren nicht entziehen. Im offiziellen Duktus der Partei änderte sich dem Jazz gegenüber zunächst nichts. Er galt wie seit Ende der 1940er-Jahre als akustischer Marker des Klassenfeinds, stand für billige kommerzielle Kultur und wurde sogar in der Berichterstattung über den Koreakrieg zur amerikanischen Waffe erhoben. Ein Leser der Pravda konnte 1953 erfahren, dass Jazz im amerikanischen Kriegsgefangenenlager auf der japanischen Insel Kodjedo, „einem zweiten, noch schrecklicheren Majdanek“, Tag und Nacht im Radio zu hören sei. Mehr noch wurde die Musik elementarer Teil vermeintlicher Folterstrategien der amerikanischen Lagerleitung gegenüber 520 Vgl. o. A. Postanovlenie CK KPSS ot 28. Maja 1958 „Ob ispravlenii ošibok v ocenke oper ‚Velikaja družba’, „Bogdan Chmel’nickij“ i ‚Ot vsego serdca’“. Materialy obsuždenija. Moskau 1958.
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nordkoreanischen und chinesischen Gefangenen: „Die Gefangenen werden mit siedendem Wasser übergossen. All das geschieht unter dem Lärm des Jazz und jenen herzzerreißenden Klängen, die nach Ansicht der Organisatoren der Folter an die Explosion einer Atombombe erinnern sollen.“521 Zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Musik auf sowjetischem Boden wurde die sowjetische Presse erst mit Beginn des kulturellen Austauschs mit dem Westen zwei Jahre später gezwungen. Das Kulturministerium wandte sich ab dem Sommer 1953 der Frage der Estrada und ihrer musikalischen Ausgestaltung zu. Seine Vertreter kamen nicht umhin, in den Medien des Ministeriums nun auch die negativen Folgen spätstalinistischer Kulturpolitik zu benennen, wollte man die wichtigste aller Massenkünste aus jener Krise befreien, über die man langsam öffentlich zu sprechen wagte. In mancherlei Hinsicht wurden Argumente, die bereits ein Jahr zuvor in der Sovetskaja Muzyka zirkulierten, aufgegriffen und kontextualisiert. Während in den Argumentationsmustern bereits deutlich die politische Sprache der Nachstalinzeit hervortrat, blieb Kritik an den kulturpolitischen Weichenstellungen vor 1953 tabu. In dieser Zeit, so ein Artikel der Sovetskaja Kul’tura vom Juli 1953, seien in der leichten Musik durch die politischen Instanzen „bekannte Erfolge erreicht worden“ und „das Repertoire der Estradaorchester und der Kinoensemble (…) zum großen Teil von den der sowjetischen Ideologie fremden Werken der verfallenden bourgeoisen Jazzkunst befreit“522 worden. Den schlechten Zustand leichter Musik erkenne man jedoch an seiner „Grauheit, Unpersönlichkeit, Unordentlichkeit der Verarbeitung und seinem niedrigen professionellen Niveau“523. Die letzten beiden Attribute bezogen sich auf die musikalische Praxis an der Basis, deren bessere Versorgung mit Kompositionen und Beratung durch die sowjetischen Komponisten hier mehrfach angemahnt wird, um nicht nur die musikalische Qualität, sondern auch die „spielerische Kultur“ zu steigern. Der Vorwurf nach fehlenden musikalischen Farben und einem musikalisch wie thematisch persönlicheren Zugang findet sich jedoch auch in anderen Diagnosen zum Zustand der Estrada. Auch der Musik ganzer Estradavorstellungen wurde ein „standardisierter, gewöhnlicher Charakter“524 attestiert. Als musikalische Norm bildete sich hier bereits die Rückbesinnung auf Leonid Utesov heraus – „Lieder, die mit seinen Programmen der 1930er-Jahre vergleichbar wären, sind hier [während der Estradasommersaison 1953 – M. A.]
521 Chochlov, N.: Auf Heimatboden. Schreiben aus Pan’meyn’čžonja, in: Pravda, 06.09.1953. 522 o.A.: Größere Aufmerksamkeit gegenüber dem massenmusikalischen Genre, in: Sovetskaja Kul’tura, 23.07.1953 523 ebd. 524 o. A.: Schärfen des satirischen Stachels, in: Sovetskaja Kul’tura, 13.10.1953.
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nicht zu hören“.525 Die Verantwortlichkeit für die Verbesserung überließ der Autor des oben genannten Artikels jedoch nicht allein den Komponisten, denen die Verantwortung für den „wachsenden kulturellen Bedarf des Volkes“ oblag, sondern verwies auf die Notwendigkeit einer „breiten gesellschaftlichen Diskussion“526, an der sich ein weniger dogmatischer Zugang zu erkennen gibt. Zu klären sei nicht nur, welche Muster klassischer Musik für die Verbesserung genutzt werden sollten, sondern „was aus der Salonmusik der Vergangenheit (…) fremd [ist] und was einen künstlerischen Schatz [darstellt]“527. Wer diesen Prozess und die Diskussion moderieren würde, blieb hingegen klar – nach Zentralisierung verschiedener Propagandabehörden im sowjetischen Kulturministerium waren nun „alle notwendigen Bedingungen gegeben, dass diese gereifte Frage umfangreich durch den Staat gelöst werden kann“528. Wichtige Impulse für eine Neubewertung und Erweiterung musikalischer Mittel der Estrada wiederum kamen aus der Sovetskaja Muzyka. Im August des Jahres 1953 erschien der kritische Artikel „Erneut über Estradaorchester“ des jungen Kompositionsstudenten Jurij Saul’skij, der im Verlauf der 1950er- und 1960er-Jahre einer der wichtigsten Komponisten, Arrangeure und Bandleader des sowjetischen Jazz werden sollte.529 Die musikalische und organisatorische „Breitbandigkeit“ („Širokopolosnost’“)530 Saul’skijs beruhte nicht zuletzt auf der Tatsache, dass er beide scheinbar weit voneinander entfernten Sphären der Musik in der Sowjetunion früh kennenlernte. Nach zwei Jahren Studium des Waldhorns wechselte er 1948 zu theoretischer Kompositionslehre, die er 1954 mit Auszeichnung und Aussicht auf eine Promotion abschloss. Während dieser Zeit verfasste er nicht nur Vorträge und Artikel, sondern spielte in verschiedenen Restaurantensembles in Moskau, aus deren musikalischer Schattenwirtschaft wichtige stilistische Impulse für den Jazz nach 1953 ausgingen. Saul’skij kritisiert die Tatsache, dass eine ignorante Haltung gegenüber der Estrada unter vielen etablierten Komponisten zum guten Ton gehöre und sich gegenüber dem Genre eine geschmackliche Willkürherrschaft („Vkusovščina“) herausgebildet habe, die sich in eigenmächtigen, oberflächlichen und bösartigen Bewertungen zeigen würde.531 Saul’skij argumentierte fachlich kompetent, indem er Stilelement und Klangaspekte detailliert diskutierte. Er wagte sogar ein detaillierte Kritik an Leonid Utesovs Orchester und seinem 525 ebd. 526 Größere Aufmerksamkeit. 527 ebd. 528 ebd. 529 Saulskij, Jurij: Erneut über Estradaorchester, Sovetskaja Muzyka (1953), 8, S. 68–70. 530 Petrov, Arkadij: Jurij Saul’skij, in: Aleksandr Medvedev/Olga Medvedeva (Hg.), Sovetskij Džaz. Problemy, Sobytija, Mastera. Moskau 1987, S. 371–377, hier S. 371. 531 Vgl. Saul’skij, Estradaorchester, S. 68.
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Komponisten Vadim Ljudvikovskij, achtete hier aber darauf, mit der Forderung nach „mehr Streichern“ den Opponenten mit konservativeren Vorstellungen von der Estrada entgegenzukommen, für die das Verhältnis von Blech- und Streichinstrumenten ein zentraler Indikator für Verwestlichung war. Saul’skij reduzierte den offensichtlichen Mangel an akzeptiertem Repertoire erstmals nicht einfach auf die fehlende Versorgung mit Stücken durch den Komponistenverband. Dies war ein Argument stalinistischer Provenienz, die Musikkultur als einen Kreislauf begriff, der planwirtschaftlich gesteuert werden könne. Ursache des Mangels sei seiner Ansicht nach hingegen die fehlende Interaktion der Orchesterleiter mit neuen Komponisten und das implizite Fehlen einer ganzen Generation von Musikern und Komponisten. Besonders Utesov wirft er vor, anders als in den 1930er-Jahren keinen schöpferischen Kontakt mehr zu neuen Komponisten zu suchen und hauptsächlich alte Stücke zu wiederholen.532 Eine ähnliche Stagnation beobachtet der Autor beim Estradaorchester des Allunionsradios, das „sich im schöpferischen Stilstand befinde“, nur alte Dunaevskij-Kompositionen der 1930er spiele und auf lediglich drei Komponisten der Vorkriegsgeneration zurückgreife.533 Saul’skij Abkehr vom stalinistischen Kulturdiskurs zeigt sich nicht nur in der Ablehnung des Produktionsprozesses als eines planbaren Versorgungsvorgangs von oben nach unten, sondern in einem anderen Idealbild der Orchester selbst. Mit der Kritik, dass sich Repertoiremangel und fehlende Innovation negativ auf die spielerischen Qualitäten des jeweiligen Orchesters auswirken, begreift Saul’skij dieses nicht mehr als reine Produktionsmaschine von Musik, sondern als lebenden und tendenziell komplizierten Organismus.534 In diese Richtung zielt seine Forderung nach künstlerischen Leitern in den Orchestern, die als Verbindungsglied zwischen Komponist und Musikern „die technischen Fähigkeiten der Mitglieder fördern und neues Repertoire einstudieren“535 können. Aus Mangel an offiziell anerkannten Komponisten, aber auch aufgrund seiner eigenen Erfahrungen in der Praxis der musikalischen Schattenwirtschaft plädierte Saul’skij für eine notwendige Öffnung des Personenkreises als legitim verstandener Vertreter der Estrada. „Es gibt“, so Saul’skij am Ende seines Artikels, „zahllose Musikanten, die mit Leidenschaft in der Estrada arbeiten wollen – gebt ihnen Repertoire und unterstützt deren Initiativen.“536 Um den Hörer „mit schönen, leicht zu erinnernden Melodien, mit lebendigen,
532 Vgl. ebd. 533 Vgl. ebd. 534 Vgl. ebd. 535 ebd. 536 ebd.
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lustigen Rhythmen, mit interessantem, farbigem Klang zu erfreuen“537, müsse mit den Denkverboten bei der Instrumentierung abgeschlossen werden und das Saxofon, das aktive Komponisten aus Ahnungslosigkeit oder „Jazzangst“ nicht verwenden, wieder zum Einsatz kommen. Immer wieder kommt der Autor aber auch potentiellen Kritikern seiner Forderungen entgegen. Nicht das Instrument, so Saul’skij, sei an sich schlecht, sondern „die vulgäre Musik kleiner Ensembles, die damit gespielt wird“.538 Bezeichnend für das relativ liberale Profil der Sovetskaja Muzyka ist, dass deren Redaktion einen Studenten als Autor der ersten direkten Kritik der Estradasituation nach 1953 zuließ und eine kulturelle Autorität wie Leonid Utesov, dessen Erfolge der 1930er-Jahre von der Sovetskaja Kul’tura als beinahe nostalgische Norm sowjetischer Estradamusik erhoben wurden, erst drei Monate später zu Wort kommen sollte. Im November 1955 reagierte dieser und artikulierte im Artikel „Über Lieder und leichte Musik“ eine Position zur Unterhaltungsmusik, die wesentlich mehr aus der Perspektive eines musikalischen Praktikers heraus erwuchs.539 Trotz seiner unumstrittenen Vorzeigeposition im Bereich der Estrada musste sich auch Utesov mit der repressiveren Kulturpolitik der Spätstalinzeit arrangieren. Sein Džaz-Orchester der RSFSR wurde 1947 in Estradaorchester umbenannt.540 Als populärster Dirigent stand er naturgemäß stärker im Rampenlicht und in der häufig ideologisch motivierten Kritik als etwaige Komponisten. In seinem Text griff er vor allem die musikalische Hierarchie der einzelnen Genres an und plädierte für eine Erweiterung der Stil- und Ausdruckmittel. Auch Utesov suchte hier eine Existenzberechtigung für das leichte Genre, welches, so der Autor, „übrigens gar nicht so leicht zu spielen ist“541. Er beschwor hier nahe am Ideal der 1930er-Jahre eine Musik, die das ganze Volk hören würde, deren einzige Kriterien die Qualität und die Unterhaltsamkeit seien und zu der es tanzen, singen und sich amüsieren könne.542 Scharf attackierte er musikalische Experten und Bürokraten, die allerlei künstliche Diskussionen um die Stellung der Musik führen würden: „Das Volk fordert sie und wird sich in seinen vielseitigen künstlerischen Bedürfnissen nicht von philosophisch falschen Urteilen über den Nutzen oder Unnutzen dieses oder jenes Genres abbringen lassen.“543
537 ebd. 538 ebd. 539 Vgl. Utesov, L. O.: Über Lieder und das leichte Genre, Sovetskaja Muzyka 1953, 11, S. 39–41. 540 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 179. 541 Utesov, Über Lieder und das leichte Genre. 542 Vgl. ebd. S. 39. 543 ebd.
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Utesov legte dabei einen stark antielitären Impetus an den Tag, der sich als Kritik an den Parteiideologen der Spätstalinzeit, aber auch an den Vertretern des Komponistenverbands deuten lässt, die die Estrada als zweitklassiges Genre sehen. Freude beim Zuschauer, so Utesov, wird nicht durch Ereignisse erzeugt, „die dem Volk durch die geschmackliche Willkür missmutiger Bürokraten aufoktroyiert wurden, die nie singen, nie tanzen und sich hinter der Maske der Tiefsinnigkeit verbergen.“544 Die Legitimation von Estrada ergibt sich für den Autor aus dem Bildungsvermögen für gute Musik, die dem Hörer die Fähigkeit gibt, auch große Sinfonien hören und verstehen zu können. Sie könne als „kleine Brücke“ zwischen einfacher und komplexerer Musik dienen, aber diese kleine Brücke sei zerschlagen und noch nicht wiederhergestellt worden.545 Sein populistischer Zugang hat seine Wurzeln im stalinistischen Kulturverständnis der 1930er-Jahre, passt aber durchaus auch in den politischen Diskurs der frühen Chruščevzeit, in welchem die „Bedürfnisse des Sowjetbürgers“ als politisches Argument verstärkt ins Zentrum rückten. So müsse man eben gerade die „musikalischen Bedürfnisse der einfachen Menschen verständnisvoll behandeln und sorgsam erziehen“546. In seinen konkreten Forderungen nach musikalischen Veränderungen wird einmal mehr deutlich, dass es Utesov zwar um die stilistische Normalisierung seiner Arbeitsbedingungen ging, dabei aber nicht der Eindruck einer unpolitischen Beliebigkeit entstehen sollte. „Vielfältigkeit“, „Virtuosität“, „Genauigkeit“ und „Reinheit des Klangs“ waren Attribute, die der Autor für die sowjetische Estrada der Zukunft forderte. Er monierte die Zaghaftigkeit zeitgenössischer Komponisten und rief dazu auf, sich der Vorherrschaft von Marsch und Walzer entgegenzusetzen, die nur aus Rücksichtnahme auf den Geschmack von Mitarbeitern musikalischer Einrichtungen vorherrsche: „Etwas auf die Zwei schreiben [Betonung auf die zweite Viertelnote – M. A.], sagen wir im schnellen Tempo eines Foxtrotts, oder langsam wie ein Blues oder Tango. Gleich fürchten sie sich …“547 Zwar lehnte Utesov – aus persönlicher Überzeugung und politischer Rücksichtnahme – „Musik formalistischer und atonaler Herkunft, wie die ‚Musik der Dicken‘, die in den kapitalistischen Ländern in der Krise steckt und […] schon lange seinen Charakter als Kunst verloren hat“548 ab. Gleichzeitig rief er dazu auf, durch Jazzorchester gespielte Musik nicht zu pauschalisieren, da diese, wie Gershwin und Ellington zeigen, aufgrund klarer Melodie und guter Harmonisierung beim Publikum extrem erfolgreich sein könne. Mit dem Ziel der Rückkehr zu den Arbeitsbedingungen der Vorkriegs- und 544 ebd. 545 Vgl. ebd. 546 ebd. 547 Vgl. S. 41. 548 ebd. S. 39.
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Kriegszeit verurteilte er wie Saul’skij auch die pauschale Ablehnung des Saxofones aus politischen Gründen. Der Wert von Unterhaltungsmusik ergab sich für Utesov aus ihrer Anwendbarkeit im praktischen Leben. Ähnlich wie andere Artikel zur Tanzmusik, die bis in die 1960er-Jahre erscheinen sollten, verurteilte er zwar das Verwenden alter Rhythmen und forderte, den Anforderungen der Gegenwart zu entsprechen, lehnte dabei aber ausländische Tänze als Quelle ab. Utesov positionierte sich hier als eine Art kultureller Lieferant, der aufgrund verschiedener Hindernisse nicht in der Lage war, die Bedürfnisse des einfachen Volkes zu erfüllen. Als Person, die wie keine sonst den Erfolg der stalinistischen Massenkultur der 1930er-Jahre repräsentierte, verfügte er über die nötige Autorität, Kenntnis dieser Bedürfnisse für sich zu reklamieren. Seine Forderungen nach Erweiterung musikalischer Ausdruckmöglichkeiten orientierten sich klar an dieser Dekade und schlossen Kritik an der Kulturbürokratie durchaus mit ein. Hier ging es, ähnlich wie in vielen Artikeln in der Sovetskaja Kul’tura, um die Wiederherstellung von Arbeitsbedingungen, die bis 1946 von Staat und Partei gewährleistet wurden. Die Ablehnung des amerikanischen Jazz in seiner sowjetisierten Chiffre Gor’kijs sollte aber nicht als ideologisches Zugeständnis verstanden werden, das nötig war, um einen solchen Artikel zu veröffentlichen. Diese Verweigerung gegenüber dem amerikanischen Jazz, der mehr Elemente der Improvisation enthielt, war nicht mehr das ideologische Projekt von Parteifunktionären, sondern knüpfte durchaus an die Hörgewohnheiten breiter Bevölkerungsschichten an. Der Sovetskij Džaz der 1930er, für den Utesov stand, verband als Hybrid europäische Tanzmusik, Tango, Walzer, rumänisch-moldawischen Tanzrhythmen, jüdischen Klezmer aus Odessa und nur einige wenige Elemente des amerikanischen Jazz. Dieser erschien der Mehrzahl der Sowjetbürger wenig verständlich, zu exotisch und häufig unangenehm wegen seiner betonten Rhythmik.549 Utesov, wie auch andere musikalische Vertreter seiner Generation, standen dem improvisierten und nicht-vokalen Jazz auch weiter distanziert gegenüber. Für ihn stand das Lied im Zentrum, das der Träger von Emotion, Satire und politischer Botschaft war. Dem hatte sich die Musik unterzuordnen. Durch die Popularität und Autorität Utesovs war die Sovetskaja Muzyka in der Lage, eine Debatte um Aussagen aus dem Artikel zu inszenieren. So ließ die Redaktion im Februar 1954 einen Kulturleiter aus der Provinz in einem offenen Brief zu Wort kommen, der Utesov für seine Aussagen und sein vermeintliches Schweigen zu diesen Fragen in den 1930er- und 1940er-Jahren scharf angriff. Er verurteilte dessen Konzept der Brücke zwischen Folklore und Klassik, da es nur im
549 Vgl. Moškov, Kogorta pervoprochodcev, S. 11.
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Westen Menschen gebe, die mit ernster Musik nichts anfangen könnten.550 Utesov erhielt in derselben Ausgabe die Möglichkeit einer Replik, in der er seine Position verteidigte.551 Drei weitere veröffentlichte Leserbriefe unterstützten die Argumente Utesovs wiederum. Auch wenn diese sich ebenfalls der Kritik der „Musik der Dicken“ anschlossen, zeigten sich hier erste Möglichkeiten, das Ideologem zu entkräften: „Über die Musik der Dicken, die der große Volksdichter Gor’kij beschrieben hat, geht es hier gar nicht. Das ist keine Musik, das ist reiner Lärm.“552 Mit dieser Zusammenstellung von Utesovs Artikel, einer scharfen Kritik daran, einer Replik des Autors und drei zustimmenden Leserbriefen nahm die Redaktion der Sovetskaja Muzyka letztlich eine implizite Positionierung vor und leitete eine schrittweise Abkehr von der Fundamentalopposition gegenüber dem Jazzbegriff und mit ihm assoziierter Stilmittel ein. Die Erfahrungen der 1930er-Jahre prägten Utesovs Ansichten zur Funktion von Musik in der Gesellschaft, deren Entstehungs- und Vermittlungsprozess deutlich. Aufgrund dieser generationsspezifischen Erfahrung finden sich bei Isaak Dunaevskij ähnliche Ansichten und Argumente, die der Komponist wenige Monate vor seinem Tod 1955 in der Sovetskaja Muzyka veröffentlichte.553 Deren deutlich radikalerer Ton hat seine Ursachen zweifelsohne im fortgeschrittenen Tauwetter, aber auch in der Person selbst, die zum Ende ihres Lebens als Autorität galt und kaum mehr bereit (und gezwungen) war, aus politischen Gründen ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Auch Dunaevskij beklagte einen eklatanten Mangel an „guter Alltagsmusik“, obwohl alle Hindernisse im Jahre 1955 bereits abgebaut worden seien.554 Ähnlich wie Utesov erhob er die Zugänglichkeit und die Möglichkeit der Nachahmung durch „breite Massen von Hörern“ zum zentralen Kriterium für leichte Musik. In seiner Kritik an den Ursachen der Situation wurde Dunaevskij jedoch erheblich deutlicher, als dies in Texten zuvor geschehen war. Seine Anklage gegen die Diskussionen über leichte Musik im Kreise der Komponisten konnte implizit als Missbilligung ideologischer Intervention in die Angelegenheiten des musikalischen Schaffens verstanden werden. So bemängelte er nicht nur, dass „Diskussionen regelmäßig nicht zu Ende geführt“555 würden, sondern auch deren dogmatischen Charakter: „Jede nicht-bäuerliche Liedintonation gilt als häretisch und kosmopolitisch“556. 550 Vgl. Egin, S.: Über leichte Musik und Lieder. Offener Brief an L. Utesov, Sovetskaja Muzyka 1954, 2, S. 105–106. 551 Vgl. Utesov, Leonid: Antwort auf den Genossen Egin, Sovetskaja Muzyka 1954, 2, S. 106–107. 552 o. A.: Leserbrief, Sovetskaja Muzyka 1954, 2, S. 108. 553 Vgl. Dunaevskij, Isaak: Gereifte Fragen der leichten Musik, Sovetskaja Muzyka 1955, 3, S. 19–25. 554 Vgl. ebd. S. 19. 555 ebd. 556 ebd. S. 20.
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Ähnlich wie Utesov versuchte Dunaevskij die Diskussion auf praktische musikalische Fragen zu lenken und Ansatzmöglichkeiten theoretisch-ideologischer Kritik zurückzudrängen. Besonders die zahllosen und ungenauen ideologischen Debatten um Volkstümlichkeit – jenes zentrale Ideologem, mit dem vor 1953 gegen westliche Einflüsse aller Art wirksam polemisiert wurde – würden das Liedschöpfertum dogmatisieren und die Entwicklung „schöpferischer Individualität des einzelnen Komponisten“557 verhindern. Als zweiten Grund für die Lage des leichten Genres machte Dunaevskij die vernachlässigte Ausbildung geeigneter Komponisten und deren fehlende technische und kompositorische Fähigkeiten aus. Deutlich wie niemand zuvor attestierte der Autor dem Genre eine bereits lang anhaltende Stagnation: „Nach ihren technischen und formellen Eigenschaften befinden sich unsere Massenlieder ungefähr dort, wo sie vor 20 Jahren schon waren“558. Für Dunaevskij lag die Auflösung dieses Stillstands in der deutlichen Verbesserung der Ausbildung und einer kontrollierten Öffnung musikalischer Kultur gegenüber westlichen Einflüssen. Hindernisse dieser Öffnung sah der Autor im Dogmatismus und geschmacklicher Willkürherrschaft („Vkusovščina“) der Funktionäre.559 Besonders die Jazzfrage müsse nach intensiven Debatten in den 1930er-Jahren nicht noch einmal diskutiert werden. Mit dem Verbot von Saxofon und Akkordeon schien es, als „ob der Jazz für immer aus unserer Musik verbannt worden sei“560, jedoch habe sich gezeigt, dass man mit solcherlei Verboten „nicht die Liebe von zahllosen Leuten zu guter Jazzmusik und -tanz vernichten kann.“ Dunaevskij warnt hier vielmehr erstmals öffentlich vor den kulturellen und erzieherischen Folgen einer solchen Verbotspolitik. So würde Raum gemacht für ausländischen „Jazzunrat“ vom Typ „Leščenkos und aller möglichen „Boogie-Woogies“, die über die Stiljagi ihren Einfluss auf breitere Kreise der Jugend entwickeln würden. Dunaevskij ging es um die Rehabilitierung einer bestimmten Form des Jazz – das Jazzorchester. Dabei könne in einem guten westlichen Jazzorchester, zu deren positiver Entwicklung die sowjetische Musik den Anschluss zu verlieren drohte, durchaus Raum sein für „Solo- und Chorgesang mit schwieriger polyphoner Struktur“. Jazzbands zum Tanz erteilte Dunaevskij eine scharfe, möglicherweise hier aber auch strategisch motivierte, Absage. Bei diesen Gruppen sei nur noch die rhythmische Bedeutung des Jazz verblieben, während „die Musik aus harmonischem und polyphonem Geschrei“ bestehe, dass „jeglichen Sinn verloren habe“561.
557 ebd. 558 ebd. 559 Vgl. ebd. S. 22. 560 ebd. 561 ebd. S. 23.
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Nach einigen ideologieaffirmativen Sätzen verwirft Dunaevskij den Diskussionsbedarf in diesen Bereichen und wendet sich erneut dem Kern seines Anliegens zu: „Ich aber kann nicht verstehen, welchen Schaden der sowjetische Hörer vom Hören guter, schöner, meisterhaft gemachter Jazzmusik nehmen kann.“562 Erneut greift der Autor auf das Argument drohender kultureller Rückständigkeit zurück, wenn er darauf verweist, dass Jazzrhythmik und -timbre die gesamte moderne Musik beeinflussten. Partielle Besserung in der leichten Musik sieht er auf Seiten des Komponistenverbands, der jene „missverständliche Haltung gegenüber dem Jazz“ zu erkennen beginnt – Tichon Chrennikov habe auf einer Moskauer Versammlung des Komponistenverbands dem Saxofon und anderen „nicht schweren Jazzverbrechen“ eine Amnestie erteilt.563 Nicht die Frage, ob Foxtrott und Rumba in das Repertoire der leichten Musik gehören, sei entscheidend für das Aufholen des Rückstands zur „allgemeinen Kultur sowjetischer Musik“ und den positiv geschilderten Entwicklungen westlicher leichter Musik, sondern die nach der „Kultur des leichten Genres“ selbst. Indem Dunaevskij seine Kritik auf eine scheinbar allgemeingültige Ebene erhebt, umgeht er Auseinandersetzungen mit ideologisch aufgeladenen Teilaspekten der Jazzfrage, die die Diskussion im Spätstalinismus dominierten. Er nimmt so neben den Komponisten besonders die Kulturbürokratie in die Verantwortung, deren Unverständnis des Charakters leichter Musik und deren Kampf gegen „Unterhaltsamkeit und Leichtigkeit“ zu den Gründen für die stagnierende Lage („zastojnoe položenie“) zählen würden. Ein Indikator der Diskrepanz zwischen musikalischen Bedürfnissen der Bevölkerung und Versagen der Bürokratie, auf das auch Saul’skij schon hingewiesen hatte, war die Existenz von lediglich zwei staatlichen Estradaorchestern – dem des Allunionsradio und dem von Leonid Utesov.564 Nicht allein die Korrektur der Ausbildung von Musikern würde hier zu einer quantitativen und qualitativen Verbesserung der Lage von kleinen und mittleren Orchestern führen. Erst die breitere Einbeziehung der künstlerischen Laientätigkeit könne neue Stücke schaffen, anstatt nur alte zu reproduzieren. Auch diese Forderung nahm Entwicklungen vorweg, die ab 1957 durch eine verstärkte Hinwendung des Komsomol zur Kulturpolitik eine nachhaltige Änderung des Estradabetriebs und damit auch des Jazz bewirken sollte. Der erste Artikel zum Jazz, der auch den Kriterien musikwissenschaftlicher und historischer Analyse gerecht wurde, erschien im September 1955 aus der Feder von Valentina Konen. In ihm entwickelt die Autorin eine durchaus differenzierte und geschickte Argumentationsstruktur. Der scheinbar apologetisch-affirmative Charakter des Textes „Legenden und Wahrheit über den Jazz“ erwächst aus seinem 562 ebd. 563 ebd. 564 ebd. S. 24.
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jazzkritischen Erscheinungsbild, das Konen durch Aufbau, Grundaussagen und geschickte Verwendung standartisierter Ideologeme zu erzeugen weiß.565 Beinahe beiläufig fließt eine Reihe von positiven Attribuierungen in den Text ein, die 1955 durchaus gewagt erscheinen. Konen formuliert auf Grundlage der „sozialen und ideologisch-künstlerischen Widersprüchlichkeit des Jazz“ einige einleitende Fragen nach Verortung der folkloristischen Elemente im Jazz, die für den sowjetischen Kunstdiskurs zentral waren, nach den Ursachen der starken emotionalen Wirkungen auf den Hörer und nach der Verwendung seiner Elemente in der gegenwärtigen Musik.566 Die Schwierigkeit, diese Fragen zu beantworten, ergibt sich nach Konen aus der diffusen Gemengelage von kulturellen Einflüssen, die den Jazz geprägt haben. Die Autorin beanstandet die in Kultur und Wissenschaft des Westens vorherrschende Simplifizierung, nach der die Wurzeln des Jazz in der Kultur der afrikanischen Bevölkerung zu suchen seien. Diese Frage neu zu stellen, gebieten nach Konen die Ergebnisse folkloristischer Forschung der letzten Dekaden: „Weder der kommerzielle Estradajazz noch die alltägliche Improvisationsmusik des Jazz haben viel mit der Musik der afrikanischen Neger zu tun“567. Die nahezu beiläufige Einführung dieser Unterscheidung gehört zu den zentralen Neuerungen des Artikels für die sowjetische Diskussion. Konen eröffnet auf den folgenden Seiten für den sowjetischen Leser erstmals eine differenzierte Frühgeschichte des Jazz und seiner verschiedenen kulturellen Quellen, die die Autorin anhand von Notenbeispielen diskutiert und einordnet. Sie wiederlegt mit der Ablehnung einer linearen Verbindung des Jazz mit afrikanischer Kultur implizit den zentralen Vorwurf der „Primitivität“ des Jazz. Dieses Anliegen verfolgt die Autorin mit Verweisen auf den Einfluss seiner Stilmittel auf klassische Komponisten, aber auch auf dessen kultureigenes Potential, das Konen in Gerschwins Oper „Porgy und Bess“ verwirklicht sieht. Konen hält an Eigenschaften des „kommerziellen Jazz des Broadways“ fest, wie sie sogar bei Viktor Gorodinskij zu finden sind – dieser beute die Volkskunst aus. Jedoch kritisiert sie hier deutlich die kulturelle Isolation des eigenen Landes, da dies „die einzige Art amerikanischen Jazz sei, die man bei uns in der UdSSR kennt.“568 Am Ende des Textes stellt Konen dieser Form der Musik den improvisierten Jazz gegenüber, dessen „reiche Ausdrucksmöglichkeiten“ ihn als eine „höchstoriginelle Kunstform“569 erscheinen lassen. Die Hauptursache, warum diese Musik seit den 1930er-Jahren nicht jene ihr gebührende Entfaltung 565 566 567 568 569
Konen, Valentina: Legende und Wahrheit über den Jazz, Sovetskaja Muzyka 1955, 9, S. 22–31. Vgl. S. 22. ebd. S. 23. ebd. S. 29. ebd. S. 30.
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erfahren habe, sieht die Autorin im kapitalistisch strukturierten Musikmarkt der USA . Der Rückgriff auf die Theorie der zwei grundverschiedenen Arten von Jazz diente hier, genau wie in den 1930er-Jahren, als Hilfsmittel, musikalische Elemente in die Neubestimmung sowjetischer Unterhaltungsmusik nach 1953 zu integrieren, ohne die politisch-polare Haltung gegenüber dem Land und zukünftigen Wettbewerbspartnern im kulturellen Kalten Krieg aufzugeben, dem der Jazz historisch und assoziativ zugeordnet wurde.
4.3.3 Jazz nach Öffnung des Landes Ein deutliches Signal hin zu Entspannung und kultureller Öffnung des Landes setzten die sowjetischen Behörden mit der Einladung der U.S.-amerikanischen Theatergruppe Everyman Opera 1955. Der Schriftsteller Truman Capote, der die Gruppe begleitete, beschreibt in einem Reisebericht eindringlich sowohl das ungebremste Interesse der Bevölkerung als auch Verwirrungen, welche die Vorstellung von „Porgy and Bess“ bei vielen Zuschauern auslöste.570 Capote verweist auf viele Stellen im Stück, welche anstatt mit dem üblichen Applaus mit Schweigen bedacht wurden und das Flüstern der Zuschauer, welches er als Ratlosigkeit der Bedeutung vieler Passagen gegenüber deutete. Die ambivalente Rezeption ergab sich aus der für sowjetische Verhältnisse extrem erotischen Darstellung der Charaktere und der Betonung des Gottesglaubens auf der einen und der Darstellung der afroamerikanischen Bevölkerung als der durch weiße Südstaatler ausgebeuteten Rasse auf der anderen Seite.571 Ein Artikel in der Sovetskaja Kul’tura wies zunächst auf die Schwierigkeiten hin, die Oper anhand konventioneller Methoden sowjetischer Musikkritik zu diskutieren. „Gewöhnlich, wenn man ein musikalisches Werk rezensiert, bestimmt man zunächst genau das Genre und bewertet dann, ausgehend von dessen Spezifika, die Leistungen und Fehler dem Werk entsprechend. Doch jetzt, nach den Eindrücken von ‚Porgy und Bess‘, bin ich gezwungen davon abzusehen.“572 Weder „musikalisches Drama“ noch „Oper“ würden hier zutreffen. „Manche“, so der Kritiker weiter, „sagen, dass es eine Volksoper („Narodnaja opera“) ist. Weder weiß ich, ob das stimmt, noch was eine Volksoper in der amerikanischen Musik bedeutet.“573 Denoch befand der Autor das Werk als 570 Vgl. Uy, Michael Sy: Performing Catfish Row in the Soviet Union: The Everyman Opera Company and Porgy and Bess, 1955–56, in: Journal of the Society for American Music 11 (2017), 4, S. 470–501.; Capote, Truman: The Muses Are Heard. An Account of the Porgy and Bess Visit to Leningrad. Melbourne 1957. 571 Vgl. Caute, Dancer, S. 454. 572 o. A.:„Porgi i Bess“, Sovetskaja Kul’tura vom 14.01.1956. 573 ebd.
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interessant. Nach Verweis auf die große und historisch gewachsene Verbreitung der Stücke Gershwins in der Sowjetunion werden Theater und Musik diskutiert. Trotz der Schwierigkeiten, Gershwins Werk nach verwendeten musikalischen Formen zu kategorisieren, kann in der Kritik eine vorsichtig positive Bewertung der Jazzelemente gelesen werden. „Ich weiß nicht, ob Gershwin wirklich folkloristische Melodien zitiert. Aber in jeder seiner Melodien, in ihren klaren scharfen Rhythmen ist der folkloristische Negercharakter [„narodnyj negritanskij charakter“] zu spüren und das ergreift und erregt einen.“574 Zum Ende gelangt der Autor zu einem Urteil, welches auch implizit die Möglichkeit von Anregungen für die sowjetische Musik artikuliert. „Das Stück Porgy und Bess ist für mich und unsere Zuhörer in einigen Szenen ungewöhnlich. Wie bereits gesagt, gefiel mir nicht alles in gleichem Maße. Aber das ganze Stück der Everyman Opera ruft viele Gedanken hervor und dient dem ernsthaften schöpferischen Gespräch.“575 Auch in einer weniger politischen Kritik des Stückes, wie in der Sovjetskaja Kul’tura war ein Rückgriff auf die Unterscheidung positiver und negativer Elemente des Jazz notwendig, wenn diese im Stück als folkloristische Elemente der Afroamerikaner diskutiert wurden. Die Zeitung Večernyj Leningrad hingegen rückte eine politische Aussage ins Zentrum ihrer Kritik: „Wir, die sowjetischen Zuschauer, realisieren den zerfressenden Effekt des kapitalistischen Systems auf das Bewusstsein, die Mentalität und die moralischen Auffassungen der Menschen, die durch Armut unterdrückt werden.“576 Selbst die im sowjetischen Kontext scharf kritisierte Erotik des Stückes wurde hier durch den Einfluss der „Kommerzialisierung durch den Broadway“ und nicht als Teil der Kultur der Schwarzen erklärt.577 Unter den Bedingungen der kulturellen Öffnung des Landes, die auch der breiten Bevölkerung positiv vermittelt werden sollten, stieg die Notwendigkeit, differenzierter auf den Jazz zu blicken. Der Einfluss der VI. Weltjugendfestspiele in Moskau im Sommer 1957 auf die Wahrnehmung des Westens durch die sowjetische Bevölkerung ist kaum zu gering anzusetzen. Obwohl bereits kurz nach 1953 die Zahl der Ausländer in den Straßen sowjetischer Großstädte wieder zugenommen hatte, führten erst die zwei Wochen des Festivals mit seinen 100.000 ausländischen Gästen, die frei durch die Moskauer Straßen zogen, zu intensivem Kontakt zwischen sowjetischen Bürgern und Besuchern, dem man sich kaum entziehen konnte.578 Dem erhofften symbolischen 574 ebd. 575 ebd. 576 Večernyj Leningrad vom 27.12.1955, Zit. nach Caute, Dancer, S. 456. 577 So U. Kovalyev in der Zeitung Smena (Zit. nach ebd.). 578 Roth-Ex, K.J.: ‚Loose Girls’ on the Losse? Sex, Propaganda and the 1957 Youth Festival, in: M. Ilič/Susann Reid/L. Attwood (Hg.), Women in the Khrushchev Era. Basingstoke 2004, S. 75–95.; Peacock, M.: The Perils of Building Cold War Consensus at the 1957 Moscow World
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politischen Gewinn für die Sowjetunion stand die massive Sorge der Verantwortlichen in Partei und Komsomol gegenüber, die Kontrolle über den Ablauf und die Begegnungen der eigenen Bürger mit den Gästen zu verlieren. Das Festival wurde zum Einfallstor westlicher Kultur, sollte aber ebenso Bühne sowjetischer Errungenschaften sein. Zahlreiche Wettbewerbe von Tanz- und Musikensembles begleiteten das Programm, in denen die Gastgeber versuchten, neben der Friedensbotschaft auch die eigene kulturelle Überlegenheit zu demonstrieren. In einem mehrstufigen Wettbewerbsverfahren im Vorfeld des Festivals wurden die besten Jugendensemble aus Genres wie Chor, Ballett, Satire, klassische Musik, Folklore und Estrada bestimmt, die dann im Sommer 1957 gegen Vertreter der eingeladenen Staaten antraten.579 Besonders die Vorbereitung der Wettbewerbe von Estradagruppen hatte der sowjetischen Führung, allen voran dem Komsomol vor Augen geführt, dass Jazzmusik nicht mehr auf ein Randphänomen der scheinbar marginalen Randgruppe der Stiljagi reduziert werden konnte. Sie zog vielmehr auch diejenigen Jugendlichen an, die sich persönlich und aktiv am sozialistischen Projekt beteiligten. Umso wichtiger erschien es den Organisatoren, dass ein talentiertes und kultiviert auftretendes Orchester die Sowjetunion in dem internationalen Wettbewerb einer Musikform vertrat, von der besonders die westliche Öffentlichkeit annahm, sie sei die Achillesferse sowjetischer Kultur. Im Zentralen Haus der Kunstarbeiter in Moskau CDRI („Centralnyj dom rabotnikov isskustva“) gründete Jurij Saul’skij ein Orchester aus jungen, mit westlichen Jazzstilen und Spieltechniken vertrauten Musikern, die dort in privilegiertem Umfeld, mit guter technischer Ausstattung sowie Betreuung und Kritik durch Leonid Utesov auf den Wettbewerb vorbereitet wurden.580 Kern des Orchesters waren die Musiker der Gruppe „Vos’merka“, die sich ab 1956 in der musikalischen Schattenwirtschaft Moskaus den Ruf als professionelles Jazzorchester mit westlichem Repertoire erarbeitet hatte und mit ihren Auftritten regelmäßig gutes Geld verdiente.581 Das Orchester des CDRI unter der Leitung von Jurij Saul’skij erreichte mit einer Silbermedaille582 den zweiten Platz im Estradawettbewerb der Weltjugendfestspiele, an dem sich mehrere sowjetische und ausländische Estradaorchester Festival of Youth and Students, in: Cold War History 12 (2012), 3, S. 515–535.; Koivunen, Pia: The Moscow 1957 Youth Festival: Propagating a New Peaceful Image of the Soviet Union. In: Melanie Ilic/Jeremy Smith (Ed.), Soviet State and Society under Nikita Khrushchev. London: Routledge, 2009, S. 46–65. 579 Tsipursky, Pleasure, S. 290. 580 Vgl. Protokoll der Leitung des CDRI vom 10.04.1957, RGALI, f.2933, op.1, d.277, l.11–13. 581 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 203–205. 582 Ehrenurkunde für das Estradaorchester des CDRI für den zweiten Platz beim internationalen Estradawettbewerb der VI. Weltjugendfestspiele in Moskau, RGALI, f.2932, op.1, d.1009, l.1.
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aus Georgien, England, der DDR, Frankreich und Polen beteiligten.583 Noch vor Ende des Festivals erschien in der Sovetskaja Kul’tura der Artikel „Musikalische Stiljagi“, in dem der Auftritt von Saul’skijs Orchester scharf kritisiert wurde.584 Zunächst verweist die Autorin Marina Ignat’eva auf die Bedeutung der repräsentativen Funktion des Festivals. Es gehe nicht nur darum, Gäste aus aller Welt zu empfangen und deren „Talente und Erfolge offenherzig zu würdigen“, sondern in der Reihe von Wettstreiten die sowjetische Kultur angebracht zu vertreten, damit „unseren Gästen vollständig und eindrucksvoll vom Leben der Sowjetmenschen, ihren ästhetischen Einstellungen, Geschmäckern und Kriterien erzählt wird (Kunst – das ist immer Weltbild, Ideologie!).“ Dem Orchester wird Imitation in Bezug auf Musik und Darbietung vorgeworfen. „Das Repertoire“, so Ignat’eva enthalte „nichts Wertvolles“ und bestehe lediglich aus billigen Kopien „um ein vieles schlechter als das Original.“585 Mit Verweis auf Künstler wie Isaak Dunaevskij und Aleksandr Cfasman betont sie die Pflicht eines jeden sowjetischen Musikers, einen Beitrag zu leisten „zur fortgeschrittenen sowjetischen Kunst und nicht zu versuchen, auf derselben Ebene, wie diese antimusikalischen Jazze („džazi“) zu bleiben.“586 Es folgen ganze Passagen aus Gor’kijs „Musik der Dicken“, um die Musik zu beschreiben. Auch der offensichtliche Spaß, den die Gruppe beim Spielen und der Interaktion mit dem Publikum hatte, erregte Widerspruch. „Wie langweilig sind ihre leeren, stiljagiartigen Grimassen, mit denen sie auf der Bühne auftreten, wie unangenehm ist ihr ewiges Sitzen und Springen! Oder der Dirigent mit seinem affektierten Verhalten und seinem Spiel mit dem Publikum!“587 Zum Ende schließt die Autorin, dass der Begriff des „Stiljaga“ nicht nur auf das Erscheinungsbild einer Person anwendbar sei, sondern auch auf die Musiker dieses Orchesters. „Ja, die echten musikalischen Stiljagi verbreiten ihre minderwertige Kunst unter der Marke CDRI.“588 Dieser konservative Ansatz folgte dem späteren Diktum Chruščevs, dass in der Sphäre der Ideologie friedliche Koexistenz unmöglich sei. Der Rückgriff auf die polemischen Passagen von einer der höchsten Autoritäten des Sozialistischen Realismus zur Beschreibung der Musik – Gor’kijs „Musik der Dicken“ – und der Verweis auf Kunst, welche mit Weltbild und Ideologie gleichgesetzt wird, 583 Das CDRI spielte bereits während des Zweiten Weltkrieges eine wichtige Rolle bei der Organisation der Frontbrigaden der Ėstrada. Vgl. Taločkin, Leonid Prochovič/Alpatova, Irina Georgievna (Hg.): Drugoe iskusstvo. Moskva 1956–76 k chronike chudožestvennoj žisni, 2. Bde., Moskau 1991, hier Bd. 1, S. 25. 584 Vgl. Ignat’eva, M.: „Musikalische Stiljagi“, in: Sovetskaja Kul’tura, 15.08.1957. 585 ebd. 586 ebd. 587 ebd. 588 ebd.
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verdeutlichen dies. Dabei geht es der Autorin in Anbetracht der scharfen Kritik am Auftreten der Gruppe und dem positiven Verweis auf sowjetische Estradamusiker weniger um die Musik als solche, sondern um die verfehlte Repräsentation einer vermeintlich authentischen sowjetischen Kultur, deren Überlegenheit durch die Adaption westlicher Stilmittel des Jazz geschmäht werde. Infolge dieses Artikels wurde das Orchester kurze Zeit nach dem Festival aufgelöst. Dass diese Positionen in Anbetracht vieler individueller Erfahrungen und Eindrücke des Weltjugendfestivals durch Jugendliche nicht unwidersprochen blieb, zeigt der Artikel „Noch einmal über den Jazz“ vom August 1958, in dem eine Reihe von Leserbriefen dialektisch gegenübergestellt werden und der in normativem Stil eine differenziertere Sichtweise auf den Jazz eröffnet. 589 Zu Beginn betont auch dieser Autor das sozialistische Erziehungsprimat der Kunst und macht den unterschiedlichen politischen Stellenwert von Kunst in der Sowjetunion gegenüber dem Westen deutlich. „Unsere Arbeiter und Bauern, welche die Revolution machten und sie verteidigten, verdienen etwas Größeres als Shows. Sie verdienen sich das Recht auf echte große Kunst.“590 Dennoch gibt es Diskussionsbedarf im Gebiet der leichten Estradamusik, da es „die Jugend mag, Spaß zu haben, zu tanzen und zu singen und sich besonders für dieses Genre interessiert.“591 Zu klären gälte es, was den ästhetischen Geschmack der Jugend zu erziehen helfe und was nicht, umso mehr, als „die Hörer über sie [die leichte Musik – M. A.] an hohe musikalische Kultur herangeführt werden.“592 Die Meinung eines Lesers, Jazz sei als Kennzeichen des Fortschritts und der musikalischen Weiterentwicklung zu sehen, wird mit Verweis auf die Argumente der Befürworter moderner Kunst verworfen. „Sie [die Argumente – M. A.] erinnern uns ein wenig an die Beweise der Verteidiger dodekaphonischer ‚konkreter‘ Musik oder abstrakter Malerei, als ob sie am Puls der Zeit wären.“593 Dennoch, so im Artikel weiter, sei Jazz aufgrund seiner Heterogenität – der Mischung von volkstümlichen und volksfeindlichen Elementen („narodnye i antinarodnye elementy“) – nicht mit Vulgarität gleichzusetzen. Im Widerspruch zur vorherigen Aussage, leichte Musik führe den Hörer an hohe musikalische Kultur, verneint der Artikel mit Verweis auf einen Leserbrief aus Leningrad eine Hierarchie von Genres. Das einzig wichtige Kriterium sei, dass „die Musik melodisch und talentiert ist und jedes Genre seinen Platz im musikalischen Schatz des Volkes eingenommen hat.“594 589 o. A.: Erneut über den Jazz. Rundschau auf Leserbriefe, in: Sovetskaja Kul’tura, 28.08.1957. 590 ebd. 591 ebd. 592 ebd. 593 ebd. 594 ebd.
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Polemisch und deutlicher als in den bereits erwähnten Artikeln diskutiert der Autor Soloimprovisation und verschiedene Spieltechniken der Bläser als typische Stilmittel des Jazz. Solcherlei Techniken würden schablonenartig auf jedes Lied übertragen und auch dem Repertoire guter Estradaorchester enormen Schaden zufügen. Auch die Bearbeitung nationaler Lieder und Melodien mit diesen Stilmitteln könne schnell zur Entstellung führen. „Manchmal verdirbt die Estrada ein schönes georgisches Volkslied bis zur Unkenntlichkeit, verändert es in ein halbzigeunerisches, halbneapolitanisches Liedchen ...“595 Versuche, das Repertoire auf amerikanischen Bearbeitungen und Stücken aufzubauen, würden zwangsläufig zu katastrophalen Resultaten führen, wie die Estradakollektive beim Weltjugendfestival bewiesen hätten. Die wenigen Liebhaber solcher Jazzmusik seien „eine winzige Minderheit“ unter der Jugend und könnten „Gutes nicht von Schlechtem, Niedriges nicht von Edlem, echt Meisterhaftes nicht von Durchschnittlich-Handwerklichem unterscheiden.“596 Exemplarisch wird ein Leserbrief, der Ignat’evas Artikel „reaktionär“ nannte, als Versuch gewertet, „jeden kritischen Artikel über Fehler und Unglücke dieser oder jener Estradakollektive als Waffen gegen den Jazz als Genre zu erklären und unter dieser Flagge sowjetische Komponisten und Ausführende auf westlich-bourgeoisen Jazz auszurichten.“597 Um den kritisierten Tendenzen vorzubeugen, wird eine früher beginnende Musikausbildung in der Schule diskutiert und abschließend unter Verweis auf die zahlreichen zustimmenden Leserbriefe noch einmal zusammengefasst. „Gegen Flachheit, Geschmacklosigkeit, Stümperei, gegen die Einreihung von Fremdem protestierend, verneinen sie [die Leser – M. A.] auf keinen Fall leichte Musik, aber unterstreichen, dass sie ideell vollwertig, hochkünstlerisch sein, ästhetische Gefühle entwickeln und den künstlerischen Geschmack der sowjetischen Menschen erziehen soll.“598 Die Bedeutung des Artikels erwächst aus dem Entstehungszusammenhang. Nach einer offensichtlich großen Zahl von kritischen Leserbriefen, von denen hier die wenigsten zu Wort kamen, sahen sich die Redakteure der Zeitschrift gezwungen, unter Wiederaufgreifen der Theorie von zwei unterschiedlichen Arten des Jazz zwischen positiven und negativen Elementen zu unterscheiden. Dabei sticht der nicht aufzulösende Widerspruch ins Auge, warum diese Art normativer Erklärungen notwendig ist, wenn wirklich einerseits die leichte Estradamusik – der Jazz also – in breiten Schichten der Jugend so populär sei und gleichzeitig aber der Jazz amerikanischer Prägung nur eine winzige Minderheit interessiere. Auch scheint die Verneinung einer Hierarchie von Genres obsolet, wenn darauf verwiesen wird, 595 ebd. 596 ebd. 597 ebd. 598 ebd.
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dass Hörer über Estradamusik an die hohe musikalische Kultur herangeführt werden. Diese Hierarchie, der Verweis auf die erzieherische Bedeutung und die darin implizierte Formbarkeit des Geschmacks sowie das Negieren von konkreter Musik und abstrakter Malerei als Produkte einer Entwicklung der europäischen Moderne zeigen die Beständigkeit vom Sozialistischen Realismus geprägter Denkfiguren in der als Tauwetter titulierten Epoche. Aber nicht nur die Verfasser von Leserbriefen stellten sich gegen den Versuch von Ignat’eva, Deutungsmuster der Zeit vor 1953 wieder zu etablieren. Die Kulturverwaltung des CDRI, die der Artikel auch angegriff, erließ in einer internen Versammlung am 13. September 1957 einen Beschluss, der das Orchester verteidigte.599 Hier warf man der Autorin vor, dass ihre Aussagen einem früheren Artikel aus demselben Jahr, in dem sie die Arbeit der Jugendestradaorchester lobte, diametral entgegenstanden.600 Weiterhin habe Ignat’eva das Urteil musikalischer Experten, sowohl sowjetischer Komponisten als auch der internationalen Jury unter Leitung von Leonid Utesov, ignoriert.601 Auszeichnungen durch das sowjetische Kulturministerium würden diese Fehleinschätzung ebenfalls belegen. Diese „Bemerkungen Ignat’evas, die in grober schon fast beleidigender Form geschrieben sind, führten zum Ende der Arbeit des Orchesters, dessen Besetzung aus mehreren Gruppen von Studenten Moskauer Hochschulen bestand. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer objektiven und durchdachten Beziehung der Kritik zur künstlerischen Laientätigkeit.“602 Appelle an objektive Kritik gegenüber der Kunst gewannen durch diesen Skandal eine Begründung. Dessen wirklicher Auslöser, so suggeriert es die Diskrepanz zu dem positiven Artikel Ignat’evas einige Wochen zuvor, ist in anderen Sphären der Partei und Kulturbürokratie zu suchen. Nach Entmachtung der „Antiparteiengruppe“ gewannen konservative Vertreter innerhalb des Komponistenverbands an Einfluss, die zahlreiche als liberal gebrandmarkte Entwicklungen auf den neben Molotov und Malenkov entmachteten Funktionär Šepilov abwälzten, der für die Partei auf dem II. Komponistenkongress im Frühjahr 1957 eine Pattsituation zwischen konservativen und liberalen Kräften durchgesetzt hatte. Allen voran polemisierte der Musikwissenschaftler Apostolov gegen Šepilov und machte ihn für modernistische Tendenzen verantwortlich. In seiner Kritik fehlte auch nicht der Jazz als Symptom einer solch „prinzipienlosen Politik.“603 Der Artikel „Verbessern der musikalischen Propaganda“ vom 15. August 1957, der gegen die Ausbreitung des 599 Vgl. Protokoll und Beschluss der Leitung des CDRI vom 13.09.1957, RGALI, f.2933, op.1, d.277, l.33. 600 Vgl. Ignat’eva, M: Es gewinnt guter Geschmack und Können, in: Sovetskaja Kul’tura, 20.07.1957. 601 Vgl. Protokoll CDRI 13.09.1957. 602 ebd. 603 Vgl. Apostolov, P.: Für die Reinheit des Realismus in der sowjetischen Musik, in: Sovetskaja Kul’tura, 16.07.1957.
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Jazz im Land polemisierte und ohne Autor die Wiedergabe einer offiziellen Position signalisieren sollte, erschien in diesem Kontext zeitgleich mit Ignat’evas Artikel.604 Saul’skijs Jazzprogramm war für sowjetische Verhältnisse zweifelsfrei gewagt. In der Diskussion der Jury des nationalen Estradawettbewerbs, der die Teilnehmer für den internationalen Wettbewerb der Weltjugendfestspiele bestimmte, äußerte sich Aleksandr Cfasman ambivalent gegenüber der Gruppe. Cfasman zeigte sich entsetzt über Saul’skijs moderne Interpretation einer Fantasie von Dunaevskij, mit der es, „wenn Dunaevskij noch leben würde, zu einem großen Skandal käme […], es jetzt Beleidigung seines Andenkens“605 sei. „Das Orchester jedoch“, so der Komponist und Orchesterleiter, „sei erstklassig. Eine solche Saxofongruppe hat keines unserer professionellen Orchester.“606 Die Entideologisierung des sowjetischen Diskurses um den Jazz verstetigte sich durch dieses Ereignis jedoch. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit und Funktion der Kritik von Estrada und Jazz beschäftigte ein Jahr später das Zentralkomitee selbst. Die Abteilung Kultur verwies in scharfem Ton auf eine weitere Pressekritik Ignat’evas an Leonid Utesovs neuem Programm „Das Lied – unser Sputnik“ („Pesna – naš sputnik“), dem die Autorin „Propaganda von Vulgarität und Geschmacklosigkeit“607 unterstellt hatte.608 Zwar bedürfe ein Orchester der Diskussion und „hilfreicher Ratschläge hinsichtlich des Inhalts und der Tendenz seiner Arbeit“, jedoch würde dieser Zweck hier nicht erfüllt werden.609 „Der Zeitung Sovetskaja Kul’tura“, so der Bericht abschließend, „unterlaufen nicht zum erstem Mal solche Fehler“, erinnere man sich nur an Rezensionen zur Sängerin Nečaeva und zum Orchester von Saul’skij.610 Der Skandal wurde hier zum Referenzpunkt der höchsten Autorität der Partei in Kulturfragen für die Forderung nach objektiver Einschätzung von Orchestern mit kontroversem Inhalt.
4.3.4 Sovetskij Džaz – Quo vadis? Leonid Utesov, langjährige Autorität im Bereich der Unterhaltungsmusik und „Künstler des Volkes“, widmet sich am 25. Ferbuar 1961 erneut dem Thema mit dem Artikel „Gedanken zum Jazz“. Wie aus dem Anfang des Artikels hervorgeht, 604 Vgl. o. A.: Verbessern der musikalischen Propaganda, in: Sovetskaja Kul’tura, 15.08.1957. 605 Stenogramm der Jurysitzung zum Wettbewerb für Estradaensembles vom 17.07.1957, RGALI, f.2329, op.3, d.575, l.2. 606 ebd. 607 Ignat’eva, M./Krivenko, N.: Ärgerlicher Misserfolg eines talentierten Kollektivs, in: Sovetskaja Kul’tura, 07.07.1958. 608 Vgl. Abteilung Kultur an das ZK der KPdSU vom 26.06.1958, RGANI, f.5, op.36, d.69, l.60. 609 Vgl. ebd. 610 Vgl. ebd.
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wurde er gebeten, sich zum Thema zu äußern und hielt dies selber aufgrund der großen Zahl von Liebhabern und vorherrschenden Missverständnissen für nötig. „Ich fühle,“ so Utesov, „dass es notwendig ist zu schreiben.“611 Zunächst verwirft er die Vorstellung des Jazz als Instrument des Imperialismus und die Richtigkeit von Gor’kijs viel zitiertem Traktat „Musik der Dicken“.612 Die Improvisation als Stilmittel sei älter als das Notensystem selbst und spiele in allen Epochen der musikalischen Entwicklung als „schöpferische Praxis“ eine bedeutende Rolle. Theoretisches Wissen für die musikalische Praxis jedoch allein genügt nicht aus. „Ein untalentierter Mensch kann nicht improvisieren, wie gut auch immer er die Gesetze der Harmonie studiert hat.“613 Weiterhin versucht Utesov, musikalische Stilmittel des Jazz von der Kultur der Vereinigten Staaten zu entkoppeln, wenn er auf improvisatorische Spielpraktiken der Musiker in Odessa in den 1920er- und 1930er-Jahren verweist. Dass sich ein kommerzieller Jazz in einem kapitalistischen System entwickelt habe, sei keine unnachvollziehbare Entwicklung. Relevant bei Beurteilung von Musik sei einzig ihre Qualität, wobei Utesov hier auch gegen die Kategorisierung von Musik anhand fester Genres argumentiert. „Ich kann Leute nicht verstehen, die ihre Auffassung von Kunst und Musik im Speziellen auf ein Genre eingrenzen.“614 Seiner Argumentation für den Jazz legt er eine einfache Formel zugrunde. „Kunst kann nur gut sein. Schlechte Kunst existiert nicht. Ein Paradox? Nein! Wenn es schlecht ist, ist es keine Kunst. Gibt es guten Jazz? Es gibt ihn und damit ist er Kunst. Aus dem Jazz eine ‚verbotene Frucht‘ zu machen, ist gefährlich und steht der Erziehung des musikalischen Geschmacks der Jugend im Weg.“615 Utesov plädiert schließlich für die Verbesserung des typisch sowjetischen Jazzstils, der sich nicht durch amerikanische Einflüsse definiert: „Ein solcher Stil ist nicht byp, nicht Bop, nicht Hopp“ („Stil’ ėtot ne byp, ne bop, ne chop.“)616 In erstaunlich offener Kritik richtet er sich sowohl gegen die großen Komponisten, welche den leichten Stücken der russischen Klassiker zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hätten, als auch gegen die Musikwissenschaftler: „Es ist schlecht, wenn über den Jazz Leute schreiben, die infolge der Beschränktheit ihres musikalischen Horizontes alles hassen, was die Grenze ihrer gewöhnlichen Wahrnehmung überschreitet.“617 Nach erneutem Betonen des Potentials der leichten Musik für die Erziehung des
611 Vgl. Utesov, Leonid: Gedanken über Jazz, in: Sovetskaja Kul’tura vom 25.02.1961. 612 Vgl. ebd. 613 ebd. 614 ebd. 615 ebd. 616 ebd. 617 ebd.
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Geschmackes der Jugend fordert Utesov „für eine neue Zeit einen neuen Stil, neue Lieder und eine neue Musik“ für deren Schaffung alle Kräfte und Möglichkeiten vorhanden seien. Utesovs Bemerkungen besitzen allein aufgrund seiner Person, die für die Mehrzahl der Bevölkerung den Sovetskij Džaz der 1930er-Jahre verkörperte, enormes Gewicht. Im Hinblick auf die Entideologisierung des Jazzbegriffes sind seine klare Absage an den Wert von Gor’kijs Traktat und das Argumentieren für die Qualität der Musik an sich, und nicht im Kontext politischer Kategorien und Genres, besonders wichtig. Auch verweist Utesov indirekt auf die Gefahr der Entfremdung der Jugend von der offiziellen Kultur, wenn Verbote gegen den Jazz aufrechterhalten werden. Der Verweis auf Talent, welches musikalische Ausbildung nicht ersetzen kann, kann auch als Argument gegen das starre Ausbildungskonzept für sozialistische Musikschaffende gelesen werden. In Bezug auf den sowjetischen Jazz plädiert er für Authentizität, die sich aus den eigenen, teils ignorierten musikalischen Möglichkeiten speisen soll, ohne jedoch hermetisch abgeschlossen ausländische Leistungen zu ignorieren. Auch wenn Utesov selbst nie Gefallen und Verständnis an Formen der Jazzinterpretation, wie sie ab den 1950er-Jahren praktiziert wurden, entwickeln konnte, entkoppelt er hier den exklusiven Zusammenhang der musikalischen Technik mit dem politischen Konkurrenten. Zwar wurde seine eigenwillige Deutung der Herkunft von Improvisation als jüdischem Stilelement später kaum aufgegriffen, nicht zuletzt wohl aufgrund der latent antisemitischen Tendenzen in der sowjetischen Politik der 1960er-Jahre. Seine eigentlich patriotisch motivierte Interpretation machte den Begriff und das Konzept für sowjetischen Jazz verfügbar und nahm ihm durch ein weiteres Attribut den Nimbus der Rückständigkeit gegenüber dem amerikanischen Jazz. Mit Blick auf die nun akzeptierten Stilmittel deutet sich eine größere Toleranz an. So liest man in einem Konzertbericht verschiedener Estradagruppen 1962 „Unter Beibehaltung aller Besonderheiten des Jazz – der rhythmischen Schärfe, intonierter Originalität, Synkopierung und Methoden der Soloimprovisation – bemühen sich unsere Orchester, sich nicht von ihren volkstümlichen musikalischen Traditionen zu lösen.“618 Anders als bei Utesov wird der amerikanische Jazz hier als klare Negativfolie verwendet. „Das Kopieren der schlechten Beispiele amerikanischer Jazzbands mit ihren erstaunlich eintönigen Formen und Methoden der Komposition, der vulgären Art und Weise der Aufführung, dem Kult des seelenlosen Rhythmus – das ist eine Etappe, die in der Entwicklung der sowjetischen Jazzkunst so gut wie überwunden ist.“619 Die Attribuierung lässt wiederum die Frage aufkommen, ob hier von genuinem Jazz oder eher vom nun populärer werdenden Rock ’n’ Roll 618 o. A.: Metamorphosen, in: Sovetskaja Kul’tura, 30.07.1962. 619 ebd.
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und der Beatmusik die Rede war – die jetzt akzeptierten Besonderheiten des Jazz ließen sich mit musikalischer Interpretation nun weit auslegen. Von der liberaleren kulturpolitischen Stimmung nach dem XXII. Parteitag der KP dSU profitierte die Jazzentwicklung in der Sowjetunion nicht nur auf lokaler Ebene, wo der Moskauer Komponistenverband gemeinsam mit dem Komsomol im neuen Jugendcafé Molodežnoe das erste sowjetische Jazzfestival durchführte, sondern auch auf Ebene der musikalischen Experten des ganzen Landes. Das vierte Plenum des sowjetischen Komponistenverbands im Herbst 1962 widmete sich über vier Tage nach offiziellem Titel der Frage von Estrada- und Liedkultur, wobei die Teilnehmer tatsächlich fast ausschließlich über die Rolle des Jazz in der sowjetischen Musikkultur diskutierten. Eine ausgewogene Einschätzung der Veranstaltung hat zwischen Binnenperspektive und in die sowjetische Öffentlichkeit getragenen Deutungsangeboten zu unterscheiden, die hier von Interesse sind und durch die kulturpolitische Wende nach der Manege-Affäre 1962 noch einmal prominent instrumentalisiert wurden. Aber auch auf symbolpolitischer Ebene stellte das Plenum ein ungewöhnliches Ereignis dar, das der kulturinteressierten Öffentlichkeit im Allgemeinen und den Jazzenthusiasten im Speziellen einen Einschnitt in der Behandlung des Themas suggerierte. Anders als viele Kongresse des Komponistenverbands zuvor wurden zur Diskussion des Themas zahlreiche musikalische Ensembles und Orchester eingeladen, die den hier diskutierten Genres zuzuordnen waren. Deren Auftritte, darunter die des Leningrader Vajnštejn-Orchesters und einer Gruppe junger Laienmusiker mit modernem Jazzprogramm, wurden anschließend äußerst kontrovers diskutiert.620 Die politische Erwartungshaltung an den Kongress griffen Redaktionen der Künstlerverbände in Fachzeitschriften meist vorher auf, indem sie Fragen der interessierten Bevölkerung zu vermeintlich drängenden Themen publizierten. Die Sovetskaja Muzyka publizierte unter 24 verschiedenen Fragen eine der Mitglieder des Moskauer Jugendklubs, die fragten, wie die Verwaltung des Moskauer Verbands die Entscheidung zur Unterstützung des Moskauer Klubs umzusetzen gedenke, die im Vorfeld getätigt wurde.621 Damit war ein Teil der Agenda, die boomende und sich im Komsomol zunehmend organisierende Jazzkultur, gesetzt. Bereits im September hatte der Komsomol zudem einen Artikel des als liberal geltenden Jugendschriftsteller Vasilij Aksenov drucken lassen, der den „Genossen Jazz“ der kleinen Laienensembles als geeignete Musik für die Organisation kultivierter Freizeit der sowjetischen Jugend begrüßte.622
620 Vgl. Viertes Plenum des Sowjetischen Komponistenverbands, 13.–28.11.1962, RGALI, f.2490, op.2, d.28, l.1–230, 621 o. A.: 22 Fragen, in: Sovetskaja Muzyka 1962, 3, S. 16–19. 622 Aksenov, Vasilij: Herzlich Willkommen, Genosse Jazz! ..., in: Komsomol’skaja Pravda, 09.09.1962.
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Der Verband als Instanz legitimer Experten stand unter Druck, zu diesem Thema und den raschen gesellschaftlichen Entwicklungen die Deutungshoheit zurückzugewinnen. Auch durch die fachliche Aufmerksamkeit – der Verband hatte sich seit Jahren in keiner seiner Veranstaltungen mit dem Thema Estrada beschäftigt – erfuhr die Frage nach Unterhaltungsmusik und dem Platz des Jazz in der sowjetischen Kultur eine öffentliche Aufwertung. In seinem Eröffnungsreferat betonte Dmitrij Šostakovič, dass „wir nicht ohne Aufmerksamkeit und Handlung neben den zahlreichen improvisierenden Jazzbands stehen können, die in den letzten Jahren entstanden sind.“623 Diese haben „ein breites jugendliches Auditorium“ und „tragen in den musikalischen Alltag spezifische musikalische Grundlagen hinein, aber arbeiten offensichtlich vollkommen selbstständig ohne jegliche Kritik und Unterstützung.“624 Šostakovič mahnte zu einem paternalistischen, aber durchaus moderaten Zugang. „Die Tätigkeit dieser Jazzband bedarf allseitiger Diskussion, denn in dieser gibt es allerlei Unklares und Widersprüchliches. Gleichzeitig reagieren sie auf real existierende Bedürfnisse […]. Hier ist Scholastik, aber auch voreingenommener, falsch verstandener Akademismus gefährlich.“625 Neben etablierten klassischen Komponisten, die gemeinhin dem konservativen Lager (Chrennikov, Kabalevskij) und dem liberaleren Lager (Muradeli, Šostakovič) in den Auseinandersetzungen im Feld der „ernsten Musik“ zugeordnet werden, nahmen etablierte Estradamusiker wie Utesov, Cfasman, Minch, Rosner, aber auch Oleg und Igor Lundstrem und die jungen Komponisten Andrej Ešpaj und Jurij Saul’skij teil, die weitaus weniger Berührungsängste mit modernem Jazz hatten. Hinzu kamen zahlreiche Vertreter aus den einzelnen Sowjetrepubliken. Jedoch erst durch die Teilnahme einiger Nachwuchsmusiker aus dem Jazz- und Estradabereich wurde erkennbar, das tatsächlich eine Diskussion von den Organisatoren angedacht war, die den Namen verdiente. Konstantin Bacholdin, ausgebildeter Ingenieur und Posaunenspieler des Oleg-Lundstrem-Orchesters, war mit Redebeiträgen vertreten. Diskutiert wurden im Laufe der Veranstaltungen nicht nur die Frage der Kontrolle und Lenkung der eingangs geschilderten Entwicklung. Auch die immer noch unsicheren ideologischen Rahmenbedingungen für die erfolgreiche Arbeit in der Estrada, zu der im Verständnis vieler Teilnehmer auch der Jazz gehörte, standen hier zur Disputation. Weitaus kontroverser und nicht im ideologischen Gleichklang einer Verbandstagung im Spätstalinismus stritten die Teilnehmer um Jazzformen, deren zentrales Merkmal die Improvisation war. In der Forderung nach einem genuin sowjetischen Jazz trafen sich Interessen des konservativen Lagers mit denen der moderateren 623 Eröffnungsreferat von Dmitrij Šostakovič auf dem Vierten Plenum des Sowjetischen Komponistenverbands, 13.–28.11.1962, RGALI, f.2490, op.2, d.28, l.1–23, hier l.6. 624 ebd. 625 ebd.
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Gruppe. Deren Wunsch nach künstlerischer Anerkennung stand der Vorwurf der Nachahmung des amerikanischen Jazz entgegen. Hier entlud sich der Gesprächsbedarf in einem legitimen Forum über gesellschaftliche Entwicklungen, die den Komponistenverband überholt hatten und in die er auf lokaler Ebene sogar selbst involviert war: Vertreter der Moskauer Abteilung des Verbands pflegten zu diesem Zeitpunkt bereits seit zwei Jahren informelle Kontakte zum Milieu der Jazzenthusiasten. Die kulturpolitische Wende des Dezembers 1962, die mit dem Besuch Chruščevs in der Manegeausstellung seinen Anfang nahm, führte jedoch zu einer deutlich konservativeren Interpretation des Kongresses und der daraus erwachsenden Deutungsangebote an die sowjetische Öffentlichkeit. Drei Monate später widmete die Sovetskaja Muzyka der Veranstaltung einen umfassenden Artikel, der die Ergebnisse des Kongresses selektiv rekapitulierte. Der Autor Sergeev verwendete hier einzelne Redebeiträge als Kollage, um eine kulturpolitische Botschaft zu transportieren, die die Partei bei den drei disziplinierenden Treffen mit der künstlerischen Intelligencija zu demonstrieren suchte. Sergeev verwandelte die Meinungsvielfalt des Kongresses in eine deutliche Botschaft konservativer Positionen, die sich nach dem Manege-Skandal großer Konjunktur erfreuten. Allein der Aufbau des Artikels spiegelt eine bevorzugte kulturelle Hierarchie wieder. Anders als beim Kongress widmet sich die erste Hälfte des acht Seiten langen Beitrags dem sowjetischen Lied und erst danach der Estrada und dem Jazz. „Einstimmig“, so der Autor des Artikels, würden alle Teilnehmer des Kongresses die gleichen Anforderungen an die Estrada nach Inhaltsreichtum, tiefem Gefühl und erzieherischer Wirkung stellen wie an die ernste Musik.626 Aber auch im Rahmen dieser Politisierung des leichten Genres blieb Raum für eine sprachliche Aufwertung des Jazz, für den die gleichen Anforderungen gelten sollten. „Wenn Jazz Kunst ist“, so Aleksandr Cfasman, „dann lasst uns an ihn auch die höchsten Anforderungen stellen.“627 Die von Šostakovič auch während des Kongresses in einem Zeitungsartikel positiv beschriebenen Jazzliebhaber, auf deren Stimme man zu hören habe628, wurden hier als „stürmische steuerlose Jazzwelle ohne Zweck und Ziel“629 subsumiert. Gegenüber den Laienjazzmusikern, die selbst zahlreich auf der Veranstaltung vertreten waren, verfolgt der Autor eine Marginalisierungsstrategie. Sergeev spricht ihnen theoretisch-ideologische Kompetenz ab und gibt deren Vorstellung einseitig und falsch wieder. Er spricht von der „theoretischen Naivität einige Auftretender […], die ernsthaft versuchen zu argumentieren, dass 626 Sergeev, M: Streiten und Handeln. Anstelle eines Berichts, Sovetskaja Muzyka 1963, 2, S. 17–24, hier S. 17. 627 Cfasman, Aleksandr, zit. Nach Sergeev, Streiten, S. 17. 628 o. A.: Ernsthafte Probleme des leichten Genres, in: Sovetskaja Kul’tura, 15.11.1962. 629 Vgl. Sergeev, Streiten, S. 22.
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es nur einen modernen Jazz gibt, der improvisiert ist, und dass alles andere Imitationen sei, dass es zwischen einem Jazzorchester und einem Estradaorchester eine steinerne Mauer gäbe.“630 Ähnlich argumentierte der konservative Komponist Kabalevskij, der trotz scheinbar positiver Referenzen gegenüber der Initiative dieser Gruppe vorwirft, „im ganzen Land ausschließlich Jazz propagieren zu wollen.“631 In Anknüpfung an die bereits 1961 von Utesov vorgenommene Distanzierung vom amerikanischen Vorbild betonte der Artikel durch vereinzelte Zitate einiger Teilnehmer den internationalen Charakter der Jazzkultur und die Notwendigkeit einer nationalen Grundlage, „außerhalb derer“, so der Autor, „es keine Kunst gibt, sondern nur nutzlose, blinde Nachahmung, äußere Taschenspielerei und formalistische Klanglichkeit“.632 Afroamerikanische Volkskultur, über die man entsprechend der Theorie von zwei Arten von Jazz Improvisation als legitimes Stil- und Gestaltungsmerkmal hätte herleiten können, verschwand unter diesen politischen Umständen wieder vollständig aus dem Pantheon nationaler Kultureinflüsse auf den Jazz. Auch die Deutungsangebote zur Improvisation stehen klar unter dem Eindruck der kulturpolitischen Wende, konnten aber die gesellschaftlichen und musikalischen Realitäten der frühen 1960er-Jahre nicht gänzlich ignorieren. Über das Thema, so der Autor in sarkastischem Ton, sei nicht „mit Snobs, Kritikern und Sinfonisten“633, sondern mit Meistern und Liebhabern des Jazz diskutiert worden. Während konservativere Stimmen mit Bezug auf die Live-Konzerte des Kongresses vor Inhaltslosigkeit warnten und Improvisation auf eine rein „sportliche Begeisterung von Technik“ reduzierten, formulierten moderatere Vertreter der Debatte, wie Oleg Lundstrem und Jurij Saul’skij, über Ausschlusskriterien gleichzeitig akzeptierte Bedingungen für Improvisation. Saul’skij forderte moderater als seine Vorredner, dass man sehr talentierte Leute brauche und den nationalen Charakter beibehalten müsse, um die Idee der Improvisation nicht zu kompromittieren.634 Andere betonten technisches Können und fachliche Unterstützung durch Mitglieder des Komponistenverbands, während Gegner des Konzepts fehlendes Talent und Begabung zu unabänderbaren Ausschlusskriterien definierten. Trotz klarer kulturpolitischer Intention konnte sich der Artikel nicht vollends den musikalischen Realitäten verweigern. Das Vadim-Sakun-Quintett, eines vom Komsomol zum Warschauer Festival Jazz-Jamboree delegierten Ensembles aus sechs Nachwuchsmusikern, hatte im Sommer 1962 den ersten Preis gewonnen und viel internationale Anerkennung für die Komposition des armenischen 630 ebd. S. 21. 631 Kabalevskij, zit.nach Sergeev, Streiten, S. 22. 632 Sergeev, Streiten, S. 23. 633 ebd. 634 Saul’skij, zit. nach Sergeev, Streiten, S. 23.
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Jazztrompeters Andrej Tovmjasan Gospodin Velikij Novgorod erhalten. Die Improvisation des Stückes, so der Autor, entwickelt sich am Anfang durchaus interessant und sei eben deshalb erfolgreich, weil es auf Grundlagen nationaler Musik beruhe.635 Zwar attestierte Sergeev dieser Gruppe der Moskauer Jazzsektion „ein hervorragendes Gefühl als Ensemble“ und gestand ein, solche Künstler unterstützen zu müssen. Der in der Sovetskaja Muzyka vor dem Kongress artikulierten Bitte der Moskauer Jazzsektion nach Unterstützung erteilte er jedoch eine klare Absage, da die „einseitige Ausrichtung und geringe Qualifikation“ kaum „die große gesellschaftliche Unterstützung rechtfertigt, die die Klubs einfordern.“636 Als politisches und kulturelles Korrektiv dieser Fehlentwicklung bemühte Sergeev nun wieder die Gesellschaft: „Die Laienmusiker sagen: Vertraut uns und wir erschaffen einen originellen Jazzstil. Die Gesellschaft antwortet: Wenn ihr irgendetwas Modernes schafft, werden wir euch vertrauen. Und eine solche Antwort ist richtig: Vertrauen erbittet man nicht, sondern man erkämpft es sich …“637 Die Kritik an den Orchestern, die während des Kongresses spielten, diente im Artikel dazu, Jazzmusik mit dem latenten Vorwurf des Formalismus, einem wichtigen Ideologem, zu bedrohen, ohne ihn explizit zu nennen. Das erfolgreiche und stark am amerikanischen Swing orientierte Vajnštejn-Orchester aus Leningrad wurde als Beispiel für billige Nachahmung bezeichnet, für dessen Diskreditierung Zitate des Jazzdirigenten Nikolaj Minch am Wirksamsten erschienen.638 Anders als im Spätstalinismus zielten die Vorwürfe des Formalismus gegenüber dem Jazz – der Fokus auf abstrakte Technik und das Fehlen von Inhalt und nationalen Wurzeln – nicht auf die Verweigerung gegenüber der Musik als solcher, sondern auf das Herabsetzen in der kulturellen Hierarchie. „Je gleichgültiger“, so Sergeev, „die Elemente der Form zum Inhalt sind, je ‚universeller‘ sie sind, desto deutlicher zeigt sich der dekorativ-angewandte Charakter der Kunst.“639 Sergeev zitiert Aleksandr Cfasman mit der korrespondierenden Aussage, dass „sich das Interesse des Publikums an ernster Musik erhöhen wird, aber Jazz in Restaurants gespielt werden sollte.“640 Der Platz auf der Bühne blieb Gruppen vorbehalten, die mit den in der sowjetischen Massenkultur der 1930er-Jahre assoziierten Eigenschaften der Estrada korrespondierten. Gruppen, wie die erfolgreich auf Liedern basierte Gruppe Drušba, zählten dazu genauso wie Estrada-Jazz-Kollektive, die ähnlich wie Utesov
635 Vgl. ebd. 636 ebd. 637 ebd. 638 Zu Minch siehe auch Jakuščenko, Igor’: Nikolaj Minch, in: Aleksandr Medvedev/Olga Medvedeva (Hg.), Sovetskij Džaz. Problemy, Sobytija, Mastera. Moskau 1987, S. 350–355. 639 Sergeev, Streiten, S. 24. 640 Cfasman, zit. nach ebd.
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Musik, Satire, Lyrik und Humor verbinden konnten. Nur wirkliche Meister der Improvisation, „nicht die Enthusiastenjungs, die niemals ernsthaft gelernt haben“, würden „große Künstler, die ihren nationalen Improvisationsstil der Estrada (oder Jazz meinetwegen) schaffen.“641 Am Vorwurf der Uniformität vieler Jazzgruppen und deren Eintönigkeit setzt auch die Forderung nach talentierten professionellen Leitern an.642 Das große Orchester mit einem künstlerischen Leiter und Dirigenten an der Spitze erweist sich hier als organisatorische Form von Musik, die dem kulturpolitischen Kontrollbedürfnis näher kommt als ein kleines Jazzensemble, dessen Mitglieder in flacher Hierarchie miteinander spielen. Bei den abschließend diskutierten Forderungen nach stärkerer Kontrolle bilden sich in den angeführten Zitaten aber erneut die beiden Lager ab, deren Forderungen entweder auf stärkere politische Kontrolle durch das Kulturministerium643 oder fachlich-kompetente Kontrolle durch geeignete Experten in den existierenden politischen Organen des Kulturministeriums und der Konzertorganisationen abzielen.644 Nicht nur fehlende technische Qualität, sondern auch mangelnde Ambitionen, sich einem Kunstwerk auf nationaler Grundlage zu verschreiben und Improvisation als Gestaltungsmittel für die Ausarbeitung eines Inhaltes zu verwenden, wurden zum Ausschlusskriterium gegenüber den Jazzenthusiasten skizziert, auf deren rasche Ausbreitung seit der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre der Komponistenverband nun reagierte. Im Umkehrschluss wurde damit aber auch ein Bezugsrahmen geschaffen, an dem sich Vertreter des Jazzmilieus orientieren konnten, die seit zwei Jahren mit einzelnen Komponisten und städtischen Verbänden in Beziehung standen und deren kulturelles Projekt darin bestand, aus dem improvisierten Jazz eine legitime Form von Kunstmusik zu machen. Mit einem geringeren Schwerpunkt auf Begabung und der stärkeren Betonung von technischem Können ließ sich so jener Erziehungs- und Verantwortlichkeitsdiskurs befeuern, unter dem die Vertreter des Moskauer Komponistenverbands ihre Unterstützung der Musiker und Lektoren dieses Milieus in den 1960er-Jahren rechtfertigten. Die antiwestliche Stoßrichtung der Kampagne ist durch den latenten Vorwurf des Formalismus und die Ablehnung von „Nachahmertum“ deutlich geworden. Besonders letzteres aber besaß keine rein politisch-ideologische Dimension, sondern konnte dort, wo Musiker und Komponisten der Estrada und des Jazz nach Originalität strebten, eine praktischere Relevanz für den einzelnen entwickeln. Aus der Kampagne folgte aber keine langanhaltende Blockade von jazzverwandten Themen, die musikwissenschaftliche und öffentliche Interessen generierten. 641 ebd. 642 Vgl. ebd. S. 25. 643 So bspw. der Komponist E. Rodygin, Sergeev, Streiten, S. 25. 644 Vgl. Lundstrem, Oleg, zit. nach Sergeev, Streiten, S. 25.
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Bereits im August 1963 konnte einer der Lektoren der Moskauer Jazzsektion einen Artikel zu Worksongs der afroamerikanischen Bevölkerung der USA in der Sovetskaja Muzyka veröffentlichen, der mit der richtigen ideologischen Rahmung – „die Entwicklung des kommerziellen Jazz führte zu einer vollkommenen Entstellung der afroamerikanischen Instrumentalmusik“ – den Leser mit umfangreichen Texten und Notenbeispielen versorgte.645 Auch das drängende Thema der wachsenden Zahl an Laienorchestern tauchte bereits im Oktober des Jahres wieder in der Sovetskaja Muzyka auf. Hier wurde sehr kritisch, aber in detaillierter Beschreibung die Konzertpraxis der jugendlichen Laienorchester in den Klubs des Landes besprochen und mehr Engagement und Unterstützung durch die „musikalische Öffentlichkeit“ angemahnt, damit das lebhafte Interesse an Musik ohne Expertise nicht zu einem „Schaden des künstlerischen Geschmacks der Jugend“646 führe. Mit dem Abklingen der Kampagne und dem Machtwechsel zu Brežnev 1964 hatte sich das Anfang der 1960er-Jahre etablierte Verständnis von Jazz und seiner gesellschaftlichen Funktion stabilisiert. Schon im Winter 1962/63 stellten weder Fachexperten noch Vertreter der Partei dessen Existenz als Form der textbasierten Unterhaltungsmusik grundsätzlich mehr in Frage. Selbst Leonid Il’ičev begann seine polemischen Angriffe gegen die als zu westlich und unqualifiziert wahrgenommenen Jazzenthusiasten mit den Worten, dass „es nicht gegen die Jazzmusik als solche gehe“647. Chruščevs emotionale Auslassungen über den Jazz ließen eine gewisse Sympathie für Dunaevskijs Kompositionen und Utesovs Orchester erkennen, die ihm als Teil der im Stalinismus sozialisierten Generation näher lagen als die gegenwärtigen Entwicklungen in Richtung Instrumentalmusik und Improvisation. In der für seine Generation typischen militärischen Sprache kritisierte er in einer Rede an die künstlerische Intelligencija das, was er auf Einladung von Šostakovič am Ende des Plenums bei einem Konzert sehen musste.648 „Aber danach [dem Auftritt eines für gut befundenen Estradaorchesters – M. A.] traten aus irgendeinem Grund zunächst eine, dann eine weitere und schließlich eine dritte Jazzband auf und dann noch alle drei gleichzeitig. Selbst bei guten Jazzbands, wenn es viele von ihnen wären, ist das schwer, aber eine solche Salve von Jazzmusik zu ertragen war unmöglich.“649 Da im Diskurs die amerikanische Herkunft der Musik kaum mehr negiert wurde, dagegen aber besonders die multikulturellen Einflüsse auf die Musik und 645 Pereversev, Leonid: Arbeiterlieder des afroamerikanischen Volkes, in: Sovetskaja Muzyka 1964, S. 125–128. 646 Birizin, V.: In unserm Klub erklingt Jazz, in: Sovetskaja Muzyka 1963, 10, S. 97–99. 647 Il’ičev, Leonid: Schaffen für das Volk im Namen des Kommunismus. Rede des CK Sekretärs der KPdSU L. F. Il’ičev auf dem Treffen der Führer von Partei und Regierung mit Vertretern von Literatur und Kunst vom 17.12.1962, in: Pravda, 22.12.1962. 648 Vgl. Condee, Cultural Codes. 649 Rede des Genossen N. S. Chruščev, in: Pravda, 10.03.1963.
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deren Anpassungsfähigkeit in die jeweiligen nationalen Kulturen betont wurden, konnte nun das Narrativ einer genuin eigenen sowjetischen Jazzgeschichte konstruiert werden. Als Ausgangspunkt dieser Geschichte galt bis Ende der 1960er-Jahre der Beginn der Kollaboration zwischen dem Orchesterleiter und Sänger Leonid Utesov und dem Komponisten Isaak Dunaevskij in den 1930er-Jahren. Deren Schaffen diente als mustergültiger Beleg für Volksnähe und politische Relevanz und wurde immer wieder als disziplinierendes Argument in der Bewertung sowjetischer Nachkriegsorchester, aber auch Nachwuchsmusiker verwendet. Parteivertreter inszenierten sich hier als Moderatoren zwischen zwei vermeintlich extremen Positionen – der des Jazzverbots und der einer einseitigen Fokussierung auf das amerikanische Vorbild. In diesem Rahmen war dem Jazz mit einer wachsenden Zahl professioneller Orchester ein legitimer Platz in der Sphäre der Estrada sicher, relativ sichere Arbeitsbedingungen aus Sicht von Utesov, Rosner oder Lundstrem so also gegeben. Die drastische Kritik am musikalischen Können, Werkzeugen und Ethos der Jazzenthusiasten stellt aus Perspektive der Betroffenen eine Zäsur dar, auch deswegen, weil der kulturpolitische Umschwung lokale Unterstützung für Jazzklubs riskanter machte oder deren Gegnern in die Hände spielte. Die Moskauer Sektion für Jazzliebhaber des Jugendklubs im Kulturhaus Ėnergetikov wurde im Dezember 1962 geschlossen. In aller Kritik lagen jedoch auch die sprachlichen Möglichkeiten zur Verbesserung der Situation. Den Schritt von der viel kritisierten Nachahmung, einer logischen Folge kulturellen Transfers und des Mangels an sowjetischen Ausbildungswegen, hin zu Aneignung und Adaption nationaler Musikkultur hatten einige Gruppen und Musiker wie das Vadim Sakun Sextett bereits getan. Ihn auf eine ideologische Forderung zu reduzieren, verkennt die Bemühungen sowjetischer Musiker, sich selbst von ihren amerikanischen Vorbildern zu emanzipieren, ein Thema, das die westeuropäische Jazzkultur ab den 1960er-Jahren nicht minder beschäftigte.650 Unter oben skizzierten Bedingungen erhielt auch die Improvisation ihre Berechtigung, die, wenn von technisch geschulten Musikern verwendet, ein Mittel zur Bereicherung der Musik darstellte. Hierin lag auch die Legitimation dessen, was sich in lokaler und teils informeller Zusammenarbeit zwischen Moskauer Jazzenthusiasten und Komponistenverband schon in der Praxis zu etablieren begann. Auch wenn sich am Fokus auf ernste Musik und der konservativen Ausrichtung des gesamten Verbands auch nach 1962 nichts änderte, erhielten Patronage- und Klientelbeziehungen zwischen einzelnen Vertretern und dem Jazzmilieu damit eine Grundlage. Insofern überwand hier fachliche Kompetenz die politische, ein Zustand, den Kiril Tomoff für den Komponistenverband nach dem Krieg bereits 650 Vgl. Jost, Ekkehard: Über das Europäische im europäischen Jazz, in: Wolfgang Knauer (Hg.) Jazz in Europa. Hofheim 1993, S. 233–248.
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im Zusammenhang mit klassischer Musik untersucht hat.651 Bedingung für diese Entwicklung war aber auch, dass nicht mehr der Jazz, sondern Tanzmusik, Rock ’n’ Roll und die sogenannten Barden zu den gesellschaftlich relevanten musikalischen und jugendpolitischen Herausforderungen der 1960er-Jahre wurden, auf die sich die Partei und die Kulturpresse nun konzentrierten.652 Die „vulgäre Musik mit geringem Niveau, [die] im Radio und Fernsehen, in Klubs und Kulturhäusern, in Erholungsheimen und Sanatorien, in Pionierlagern in Zügen und auf Dampfschiffen gespielt“653 wurde, von der der Komponistenverband in seiner Resolution 1966 sprach, war kein Jazz mehr. Ausdruck dieser Verschiebung kulturpolitischer Aufmerksamkeit und der Akzeptanz des Jazz war die Ausweitung jenes Personenkreises, der befugt war, als musikalische Experten Deutungsangebote und Informationen durch die sowjetische Presse an die Öffentlichkeit zu tragen. Der eklatante Mangel an Fachwissen über Musik und ihren gesellschaftlichen Kontext, den Mitte der 1950er-Jahre nur wenige Experten wie Valentina Konen kompensieren konnten, wurde von Seiten der Kritik immer wieder als eine der Ursachen für jugendliche Fehlinformation und politische Subversion der Musik gesehen. 1962 warnte die Sovetskaja Kul’tura bereits vor diesem Zusammenhang. „Und darauf öffnen junge Leute die Zeitung Ogonek, Junost’ oder Smena und finden in ihnen weder etwas über die Geschichte des Jazz noch über seine gegenwärtige Entwicklung. Damit kommen Informationen an die Oberfläche, die den grellen Hüllen westlicher Jazzschallplatten oder dem Journal ‚Amerika‘ entnommen wurden [...] und im Resultat gewinnt Jazz für jede Art von Faulenzer enorme Anziehungskraft.“654 Diese Lücke begannen ab 1964 immer mehr die Jazzenthusiasten selbst zu füllen, die bereits seit Ende der 1950er-Jahre in zahlreichen Vorträgen versuchten, der Bevölkerung Informationen über den Jazz zugänglich zu machen und damit ihre kulturellen Vorstellungen durchzusetzen. Im steigenden Maße durften diese, teils in Co-Autorschaft mit Komponisten, Artikel zur Entwicklung der sowjetischen Jazzkultur in der Presse veröffentlichen. Aufhänger solcher Artikel waren in den meisten Fällen Ereignisse, wie die Teilnahme sowjetischer Musik am Prager Jazzfestival 1965 oder den Festivals von Moskau, die als kulturpolitischer Erfolg gedeutet werden konnten. In diesen Kontexten bot sich Raum, Jazz stärker in den Bereich der ersthaften Musik hineinzudeuten oder ihn wie Aleksandr Cfasman 1966 wenigstens als „einen ernsthaften Bereich des künstlerischen Schaffens“655 zu 651 Vgl. Tomoff, Composers Unions. 652 Vgl. Bol’šov, D. G.: Die Waffe der Idole, in: Sovetskaja Kul’tura, 14.01.1965. 653 Beschluss des Fünften Plenums der Verwaltung des Sowjetischen Komponistenverbands vom 12.04.1966, in: CK i Kul’tura 1965–71, S. 207–211. 654 o. A.: Musik um uns herum, in: Sovetskaja Kul’tura, 27.12.1962. 655 o. A.: Jazz und Jazzmanie. Interview mit Aleksandr Csfasman, in: Sovetskaja Kul’tura 19.02.1966.
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bezeichnen. Vormalige Außenseiter, wie der Radiomoderator Arkadij Petrov, der Physiker Aleksej Batašev und der Ingenieur und Kunsthistoriker Leonid Pereversev, konnten ab 1964 in steigendem Maße Deutungsangebote in der sowjetischen Presse und in umfangreicher Vortragsarbeit vor Ort platzieren und sich als musikalische Experten etablieren.656 Ihrer Expertise, ihrem Selbstverständnis und ihrem kulturellen Programm räumt das Buch im zweiten Hauptteil den gebührenden Raum ein.
4.3.5 Fazit Während Džaz zu Beginn der 1950er-Jahre auf eine politische Metapher reduziert worden war, stand der Begriff zu Beginn der 1960er-Jahre wieder für eine nicht klar definierte besondere Form der Estrada. Im Zeitraum von 1961 bis 1963 wurden eine Reihe von Alleinstellungsmerkmalen definiert, die ihn in eine Position rückten, in der er sowjetisch zu vereinnahmen und zu historisieren war, ohne seine amerikanischen Wurzeln zu leugnen. Dass der Begriff dennoch eine akustische Chiffre zur Definition der eigenen und der fremden Welt sein konnte, steht diesem Befund nicht entgegen. Jazz konnte helfen, die Erfolge des sowjetischen Raumfahrtprogramms für den Bürger räumlich lokalisierbar zu machen. Vor allem hörte ich die Stimme des Ansagers Leviatan, der die Nachricht der TASS weitergab, dass sich im Kosmos ein Raumschiff befindet und dieses vom sowjetischen Bürger Titov gesteuert wird. […] Ich hatte die Gelegenheit, die Radiosender verschiedener Länder der Erde zu hören. Mit Vergnügen hörte ich den hervorragenden Walzer von Strauss. Im Äther erklangen für uns heimische und fremde Klänge. Ich war froh, als sich durch das Trommelsieb des ausländischen Jazz hindurch ein herzliches russisches Lied zwängte und danach der erfrischende Marsch der Enthusiasten erklang.657
Auch als diffuser Kampfbegriff blieb Džaz bis zum Ende der 1960er-Jahre ein Medium zur negativen Darstellung westlicher Kultur. Für den Journalisten Ratušnjak war der harte Arbeitsdruck des westlichen Musikmarkts auf die „Pop-Džaz“-Gruppen die Ursache für eine eskalierende Drogenwelle.658 Seine Assoziationen mit politisch nonkonformem Verhalten waren es schließlich, die den Film „My iz džaza“ 656 Vgl. Petrov, Arkadij: Jazz – eine ernsthafte Sache, in: Sovetskaja Kul’tura, 19.06.1965; Muradeli, Vano/Batašev, Aleskej/Vinarov, Rostislav: Jazz. Das Jahr 1966, in: Komsomol’skaja Pravda 08.10.1966; Ders./Batašev, Aleksej: Jazz heute und morgen, in: Sovetskaja Kul’tura, 14.7.1966; Dies.: In der internationalen Arena des Jazz, in: Sovetskaja Kul’tura, 15.12.1966. 657 Borzenko, S./Kuzmenko, S./Orlov, V.: Fünfundzwanzig Stunden im Kosmos. Die Erzählung des Kosmonauten German Titov, in: Pravda, 09.08.1961. 658 Ratušnjak, J.: Ophelia und Drogen, in: Sovetskaja Kul’tura, 19.80.1969.
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1984 zu einem Erfolg machten. Bis zum Ende der Ära Chruščev jedoch hatte Džaz seinen Status als legitime und bevorzugt vokale Form der Unterhaltungsmusik zurückerhalten und ein breites Reservoir an erlaubten Stilmitteln zugesprochen bekommen. In dem Maße, in dem technisches Können und nationale melodische Grundlagen zum Kriterium umstrittener Praktiken wie der Improvisation gemacht wurden und Elemente wie „Begabung“ und „blinde Nachahmung“ an sprachlichem Gewicht verloren, wurde die Rolle des Komponistenverbands und jener Vertreter, die die Jazzenthusiasten bereits seit Ende der 1950er-Jahr kuratierten, aufgewertet. Trotz teilweise scharfer Angriffe auf improvisierende kleine Ensembles während des IV. Plenums 1962 waren es genau diese sprachlichen Verschiebungen, die den Einfluss von ideologischer Bevormundung zugunsten fachlicher Expertise zurückdrängten. Dieser Prozess ermöglichte nicht nur die von oben erwünschte „Förderung und Unterstützung“ der Jazzlaienorchester, sondern auch das öffentliche Engagement einiger ihrer Vertreter in der Presse und auf Vorträgen. Auffällig ist, dass wichtige Akteure, denen die Redaktionen der sowjetischen Presse nach 1953 zu diesem Thema Platz in ihren Zeitschriften einräumten, in der kulturpolitischen Situation vor Stalins Tod randständige Personen waren. Valentina Konen war aufgrund ihrer jüdischen Herkunft im Spätstalinismus diskriminiert worden, konnte aber nach Stalins Tod mit musikwissenschaftlicher Argumentation schrittweise und vorsichtig für eine Reduzierung der politischen oder wie bei Kolmanovskij der staatlichen Einflussnahme auf die Estrada drängen. Wie groß das Vakuum an musikwissenschaftlicher Expertise war, zeigt sich nicht nur am informellen Engagement Konens für die Moskauer Jazzbewegung, sondern auch daran, dass der Titel ihres Aufsatzes „Legende und Wahrheit über den Jazz“ in vielen Kulturuniversitäten in den 1960er-Jahren zum Teil des musikalischen Curriculums erhoben wurde.659 Jurij Saul’skij befand sich noch am Beginn seiner musikalischen und akademischen Karriere und plädierte, nicht zuletzt vor seinem Erfahrungshorizont aus der Praxis großer Estradaorchester, für rationale Bewertungskriterien, um die geschmackliche Willkürherrschaft von Bürokraten des Kulturapparates zurückzudrängen. Sowohl Konen als auch Saul’skij griffen auf ein Argument zurück, das in den ersten Jahren der Nachstalinzeit politische Konjunktur erlebte – die Bedürfnisse des Volkes. Doch erst Leonid Utesov konnte durch seine Biografie diese Rechtfertigung ganz ausspielen. Er war insofern randständig, als er als Orchesterleiter eine hybride Position zwischen verantwortlichem Komponist und repertoireabhängigem Musiker innehatte und mit seinem Engagement in der Diskussion die Wiederherstellung von Arbeitsbedingungen erreichen wollte, die wohl während der Kriegszeit am besten gewesen waren. Mit seiner gesellschaftlichen Position konnte er die kulturpolitischen Interventionen 659 Vgl. o. A.: Aus der Erfahrung der Leningrader, in: Sovetskaja Muzyka 1964, 7, S. 98–99.
Von der politischen Metapher zum musikalischen Begriff
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von Staat und Partei gegen das Volk, dessen Wünsche er genau zu kennen vorgab, ausspielen. Diese Mittlerposition nahm er auch während des IV . Plenums 1962 ein: „Ich bin der Mittler zwischen euch und jenen Massen von Leuten, für die ihr eure hervorragende Kunst schafft. Ich bin zur Versammlung dieser schöpferischen Organisation als Verkäufer gekommen, der im Laden steht und eure Produkte verkauft.“660 Utesov wie Dunaevskij nach ihm sahen im internationalen Charakter des Jazz einen Hebel, um die Adaption und Auseinandersetzung mit ausländischer Jazzund Unterhaltungsmusik als Teil produktiver Arbeit wieder akzeptabel zu machen. Es waren die Reaktionen einzelner Zeitschriften, wie der besonders in den 1950er-Jahren als liberal erachteten Sovetskaja Muzyka, die diesen musikalischen Experten eine Plattform für ihre Deutungsangebote einräumte. Die Phase von 1953 bis 1956 bot den kulturpolitischen Akteuren wenig Sicherheit, nicht zuletzt, weil die Partei nach Orientierung suchte.661 Im Zuge der kulturellen Öffnung des Landes und einer breiteren Rezeption des Jazz durch die sowjetische Jugend wurde 1957 deutlich, dass stalinistische Deutungsmuster nicht mehr ohne weiteres akzeptiert wurden. In der Dynamik des Skandals um das CDRI -Orchester zeigt sich eine selbstbewusstere junge Bevölkerung, eine Presseredaktion, die zur Interaktion gedrängt wurde, und eine Partei, die gezwungen war, die Standards musikalischer Kritik zu versachlichen. Der zu Beginn der 1960er-Jahre umrissene Sovetskij Džaz fügte sich in die Idee einer immer politisch verstandenen sowjetischen Kultur ein. Besonders die Anforderung an den Unterhaltungswert für die Bevölkerung verortete den Jazz als Teil der Estrada. Dass das Oleg-Lundstrem-Orchester in dieses Konzept gehörte, zeigt, dass Teile der politischen Elite erkannten, dass sich die nachstalinistische diversifizierte Gesellschaft von der der stalinistischen 1930er-Jahre deutlich unterschied. Andersherum verdeutlicht die überhöhte Rolle und Autorität, die Leonid Utesov in diesem Prozess zugeschrieben wurde, dass konservativere Vertreter hier mit Nostalgie auf eben jene Periode der sowjetischen Geschichte blickten, in der ein konsistentes gesellschaftliches Leitbild noch zu existieren schien.662 Vor dem Eindruck der kulturellen Öffnung gegenüber dem Ausland, aber auch dem Wettbewerb mit den Vereinigten Staaten, der mit Blick auf den Jazz in der Tournee Benny Goodmans durch die Sowjetunion im Frühling 1962 seinen Höhepunkt fand, wurde eine Reihe von generischen Merkmalen des Sovetskij Džaz neu definiert. Die Hoheit über deren Kontrolle verschob sich nun aber vom Politischen ins Fachbezogene, 660 Redebeitrag Leonid Utesov, Vierten Plenum des Sowjetischen Komponistenverbands, 13.– 28.11.1962, RGALI, f.2490, op.2, d.28, l.11–18, hier l.13. 661 Vgl. Hosking, Beyond Socialist Realism, S. 20; Eimermacher, Parteiverwaltung der Kultur. 662 Als Beispiel einer verklärenden, fast ausschließlich auf Utesov bezogenen Interpretation der sowjetischen Jazzgeschichte der 1950er- und 1960er-Jahre: Dmitriev, Ju.: Iskusstvo sovetskoj ėstrady. Moskau 1962.
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womit dem Komponistenverband und seinen individuellen Vertretern Autorität für Kritik und Zusammenarbeit mit den Jazzenthusiasten zukam, die im Laufe der 1960er-Jahre das Vakuum an qualifizierten Musikern und musikalischen Experten füllen sollten. Die Reden der Vertreter des Plenums wurden in den ersten Monaten nach der Manege-Affaire als Material für eine konservative und disziplinierende Botschaft genutzt. Dass die Exegese fachlicher Expertise nun auch andersherum möglich war, zeigte Aleksej Batašev in einem Artikel in der Sovetskaja Kul’tura von 1966, in dem er auf Šostakovičs Eingangszitat zur Pflicht der Unterstützung der Jazzbewegung hinwies, um seine Anliegen zu „Organisatorischen Problemen des Jazz“ zu rechtfertigen.663
663 Batašev, Aleksej: „Organizacionnye problemy žanra“, in: Sovetskaja Kul’tura vom 09.10.1966.
5. M U S I K S E L B S T V E RWA LT E N ?
5.1 D ie mu si k a l i s che S ch a t t e nw i r t s ch a f t Die erste Entwicklungsetappe des sowjetischen Jazz nach den kulturellen Repressionen des Spätstalinismus vollzog sich nicht im Untergrund. Auch wenn die hohe Suggestionskraft des Begriffs „Untergrund“ („podpole“, „andergraund“) den Jazz und seine Akteure in eine politische Opposition zum sowjetischen Regime stellt und retrospektive Analogien zur Dissidentenbewegung der 1970er-Jahre schafft, hält sie einer kritischen Prüfung kaum stand. In der Zeit zwischen 1953 und 1961 begannen zahlreiche Jazzmusiker der ersten Nachkriegsgeneration ihre musikalischen Karrieren. Mangels staatlicher Ausbildungswege, geforderter Qualifikationsnachweise oder entsprechender Arbeitsmöglichkeiten begann der musikalische Weg für viele jedoch nicht in Konservatorien, Musikschulen und den großen Estradaorchestern der 1950er-Jahre, sondern in kleinen Tanzmusikensembles. Diese hatten teilweise kaum länger Bestand als die sowjetische Presse benötigte, einen diffamierenden Artikel über ihr letztes Konzert auf einem der zahllosen kleinen Tanzplätze der sowjetischen Großstädte zu schreiben. Für viele dieser Musiker brachten diese ersten Jahre auch nicht die sonst weithin garantierten sozialen Sicherheiten, die beispielsweise mit einer festen Stelle in einer der Konzertorganisationen verknüpft waren. Ein kennzeichnendes Narrativ in vielen Musikerbiografien der 1950er-Jahre ist die Unsicherheit, wie sie beispielsweise in der konkurrenzgeladenen Atmosphäre der Birža (Börse) erfahrbar war, jener wöchentlichen Straßeninstanz, bei der zahllose Musiker um eines der wenigen Engagements durch Restaurant- und Klubbesitzer wetteiferten. Hier begann für zahlreiche sowjetische Jazzmusiker die erste Etappe ihrer musikalischen Karriere außerhalb oder am Rande der offiziellen Organisationen. Gleichzeitig standen sie auf den zahlreichen Tanzplätzen, Klubhäusern, Fabriken und Instituten der Masse der städtischen Bevölkerung gegenüber und erreichten damit ein größeres Publikum von verschiedenen Altersschichten. Der Zusammenhang zwischen Tanzabenden, jugendlicher Devianz und Jazz war dabei nicht nur ein Thema für konservative Vertreter des Kultur- und Erziehungswesens. Diese Verbindung entwickelte sich vielmehr zu einem populären Narrativ des Tauwetters, das im erfolgreichsten Film des Jahres 1956, Karneval’naja Noč seinen Ausdruck fand.1 Ein Konzept, mit dem sich diese Sphäre zwischen inoffiziellen Engagements, Tanzabenden und Klientelverhältnissen besser fassen lässt als mit dem suggestiven Begriff des „Untergrunds“, ist die musikalische Schattenwirtschaft. Während 1
„Karneval’naja Noč“, Mosfilm, Reg. Eldar Rjyazanov 1956.
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Schattenwirtschaft im westlichen Verständnis alle privatwirtschaftlichen Aktivitäten umfasst, bei der die Involvierten keine Steuern an den Staat abführen, hat der Begriff in der sowjetischen Planwirtschaft eine weniger klare Bedeutung. Spezifisch ist die bereits in der historischen und wirtschaftsgeschichtlichen Forschung herausgearbeitete Wechselseitigkeit zwischen Plan- und Schattenwirtschaft, die die strukturellen Defizite der Planwirtschaft, etwa im Bereich der Konsumgüterversorgung, kompensieren konnte.2 Aufgrund dieser wechselseitigen Abhängigkeit ist das zentrale Merkmal der sowjetischen Schattenwirtschaft nicht die Legalität der jeweiligen Aktivität, sondern die Kontrolle durch den Staat.3 Während der Begriff Schattenwirtschaft in der Forschung für ökonomische Zusammenhänge der sowjetischen Plan- und Privatwirtschaft umfangreich verwendet wird, ist er für kulturelle Prozesse im Allgemeinen und für den Musikmarkt im Speziellen bisher nicht systematisch genutzt worden. Die in diesem Kapitel untersuchte Sphäre weist einige für die Schattenwirtschaft typische Eigenschaften auf. Eine Trennung der Aktivitäten ihrer Teilnehmer in legal und illegal erweist sich als wenig sinnvoll: So war der Kauf und Verkauf gebrauchter Instrumente durch Privatpersonen nicht illegal, solange daraus kein Gewinn generiert wurde. Der Auftritt von Amateurgruppen bei Tanzabenden war grundsätzlich legal und wurde im Rahmen der „Künstlerischen Laientätigkeit“ sogar gefördert, stieß aber bei der Frage nach Honoraren in rechtliche Grauzonen vor. Das weit verbreitete Spielen von Stücken, die von den vorher festgelegten Repertoirelisten eines Restaurantensembles abwichen, war wiederum per se illegal. Aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten jedoch konnte der staatliche Leiter eines Restaurants auf solche Praktiken kaum verzichten. Damit verbunden blieb die Klassifizierung in „Amateur“ und „Professionell“ ein Monopol des Staates, dessen Vertreter sich dabei aber nicht ausschließlich von technischen Fähigkeiten und musikalischer Qualität, sondern letztlich von einem starren System von Attestierungen und Einstufungen leiten ließen. Persönliche Beziehungen zwischen Musikern und Kommissionsmitgliedern wiederum waren für diese Praxis häufig entscheidend. Auch bei der Frage nach Ressourcen überlappten sich beide Sphären. Die rar gesäten, qualitativ hochwertigen Instrumente im Staatsbesitz, mit denen 2
3
Vgl. Feldbrugge F. J. M.: Government and Shadow Economy in the Soviet Union, in: Soviet Studies 36 (1984), 4, S. 528–543; Merl, Stephan: Gibt es eine spezifisch russische Wirtschaftskultur? Reflexionen über die administrative Kommandowirtschaft und ihre Nachwirkungen bis heute, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (2012), S. 85–112; Ders.: The Soviet Economy in the 1970s – Reflections on the Relationship between Socialist Modernity, Crisis and the Administrative Command Economy, in: Marie-Janine Calic/Julia Obertreis/Dietmar Neutatz (Hg.) The Crisis of Socialist Modernity. The Soviet Union and Yugoslavia in the 1970s. Göttingen [u.a.] 2012, S. 28–65. Vgl. Feldbrugge, Shadow Economy, S. 529.
Die musikalische Schattenwirtschaft
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Mitglieder eines staatlichen Estradaorchesters später am Abend eigene Konzerte in Restaurants oder geschlossenen Veranstaltungen spielten, generierten somit illegales Privateinkommen. Die grundlegenden Ursachen für die Abhängigkeit der offiziellen Sphäre von der musikalischen Schattenwirtschaft wurden bereits diskutiert – das Verhältnis zwischen beiden insgesamt kann als „kooperative“, nicht „parasitäre Symbiose“4 verstanden werden. Im Folgenden werden anhand von drei Insitutionen der musikalischen Schattenwirtschaft deren Funktion und Einfluss auf die Entwicklung der sowjetischen Jazzkultur der 1950er- und 1960er-Jahre diskutiert. Verschiedene Generationen von Estradamusikern trafen sich in den 1950er-Jahren wöchentlich auf der sogenannten Birža, einem städtischen, informellen, aber öffentlichen Ort, meist auf dem Gehweg vor dem Gebäude der jeweiligen staatlichen Konzertorganisation. Die Birža diente als Institution, an der kurzfristige Engagements für Auftritte in Klubs, Restaurants, bei Tanzabenden und geschlossenen Gesellschaften vereinbart wurden, die örtliche Konzertorganisationen aufgrund ideologischer und bürokratischer Hindernisse nicht organisieren konnten. Der Tanzabend als Institution brachte Musiker unterschiedlicher Qualifikation mit der unterhaltungsbedürftigen städtischen Öffentlichkeit zusammen. Die dort vorherrschende Maxime des genuin Populären, aber auch sittliche, moralische und ideologische Erwägungen erzeugten permanente Skepsis und Kritik von Kulturbehörden, Partei und Komsomol. Vertreter dieses musikalischen Milieus wiederum adaptierten den in der Presse rasch lancierten pejorativen Sammelbegriff der Stümperei („chaltura“) für diese Formen von Musik und deuteten ihn positiv um. Er diente im Weiteren als semantischer Baustein für einen eigenen Slang, mit dem Abgrenzung nach außen und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppenidentität generiert wurden. Mit der quantitativen Zunahme kleiner Orchester, die sich das amerikanische Idiom des Jazz in Laufe der 1950er-Jahre aneigneten, stieg auch deren Wert als möglicher Aktivposten lokaler Vertreter der Konzertorganisationen. Aufgrund der immer noch ambivalenten Kulturpolitik gegenüber dem Jazz bedurfte es für Musiker und Ensembles dieses Genres eines Patrons, der innerhalb des Musikmarkts das nötige institutionelle Dach und damit materielle Sicherheit gewährleistete, aber auch für die weitere Professionalisierung wichtig werden konnte. Anhand der Birža, der Chaltura und des Patrons werden der Aufbau und die Funktionsweise der musikalischen Schattenwirtschaft diskutiert und dabei nach Symbiosen zwischen Konzertorganisationen und Schattenwirtschaft gefragt. Aus historischer Perspektive erscheint die Birža als ein frühes Phänomen nachstalinistischer Formen von Öffentlichkeit, anhand derer sich der Wandel von Kulturund Gesellschaftspolitik nach 1953 aufzeigen lässt. Im Zentrum der Überlegungen 4
ebd., S. 531.
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stehen die Struktur und Funktion der musikalischen Schattenwirtschaft, ebenso wie die Frage der Handlungsmöglichkeiten von Jazzmusikern und -organisatoren. Welche Bedeutung hatte die Schattenwirtschaft für die spielerische Entwicklung der Musiker, die in dieser Phase begannen, sich über Transkriptionen von Schallplatten und Radiosendungen das amerikanische Jazzidiom anzueignen, aber über wenig spielerische Qualifikation auf ihrem Instrument verfügten? Auf der Birža trafen sie auf Musiker mit unterschiedlichen Graden von Professionalität, die für das Lernen des Instruments wichtige Impulse geben konnten. Welche Rolle spielte die Schattenwirtschaft für die materiellen Belange der Musiker, die nicht durch das soziale Netz der Konzertorganisationen abgefangen wurden? Die materielle Situation beschränkt sich dabei nicht nur auf die Versorgung mit knappen Gütern wie Instrumenten und Ersatzteilen, deren Wert sich erst durch stundenlange Arbeiten und Verbesserungen definierte.5 Dazu zählen ebenso Verdienstmöglichkeiten, die kurzfristige Engagements für Tanzabende, geschlossene Veranstaltungen oder Hochzeitsfeiern gewährten. Diese Frage entschied auch darüber, ob Musiker, die mehrheitlich aus dem Amateurbereich zur Musik kamen und in den 1950er-Jahren ein Hochschulstudium begannen, den Schritt in Richtung einer professionellen Musikkarriere gingen. Um das entstehende Milieu von Jazzenthusiasten in seiner weiteren Entwicklung als distinkte Gruppe zu verstehen, ist es schließlich notwendig, nach der Prägekraft der musikalischen Schattenwirtschaft für deren individuelle und kollektive Identität zu fragen. Die Aneignung zahlloser ungeschriebener Regeln des Unterhaltungsbetriebs, das Bestehen der ersten Auftritte und die Auseinandersetzung mit dem Druck von Parteivertretern, Tanzplatzleitern oder dem eigenen Elternhaus förderten als geteilte sinnstiftende Erfahrungen ein spezifisches Zugehörigkeitsgefühl. Diese Gruppe von Musikern mehrerer Generationen vereinte die Erfahrung der kulturellen Randständigkeit und politischen Marginalisierung. Konflikte, Konkurrenz und Misstrauen gingen einher mit Solidarität, praktischer Hilfe, einem spezifischen Humor und Slang, der Elemente der Sprache der russischen kriminellen Unterwelt, des „blatnoj žargon“, vorrevolutionärer Sprache und Neologismen der Nachkriegszeit in sich vereinte. Viele dieser nach außen abgrenzenden Elemente wurden Teil der Jazzkultur, deren Träger in diesen Jahren auch eine eigene Vorstellung kultureller Hierarchien entwickelten. Die durchaus skeptische Haltung des sowjetischen Tanzpublikums gegenüber dem amerikanischen Idiom des Jazz, das wiederkehrende Spielen sowjetischer Schlager, betrunkenes und teils gewalttätiges Publikum bestärkten einige Vertreter in einem elitäreren Verständnis von Jazz im Speziellen und sowjetischer Musik im Allgemeinen. Umgekehrt war die Praxis dieser Tanzabende der Ort, an dem sich 5
Vgl.: Gerasimova, Ekaterina/Chuikina, Sof’ia: The Repair Society, in: Russian Studies in History 48 (2009), S. 58–74.
Die musikalische Schattenwirtschaft
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breite Schichten der Bevölkerung ein Urteil über Džaz machten, es revidierten oder aus deren Sicht die ideologischen Attacken von Parteivertretern bestätigt wurden. Durch den Fokus auf die Entwicklungsetappe einer spezifischen Alterskohorte reicht die Untersuchung bis zum Beginn der 1960er-Jahre. Damit endet keinesfalls die musikalische Schattenwirtschaft als Ganzes, die im Verlauf der 1960er-Jahre dann als dynamischer Katalysator für die aufkommende jugendliche Rockkultur funktionierte. Wie rasch diese Musikform den Jazz als identitätsstiftende Jugendmusik ablöste, spiegelt sich deutlich in den lokalen Kontexten wieder. Der Komsomol zählte im Jahr 1969 im Leningrader Stadtgebiet bereits eine Zahl von 1000 sogenannten „Gitarrenensembles“.6
5.1.1 Die Börse Die Birža als informelle Institution diente der Vermittlung von Musikerengagements für die zahllosen Unterhaltungs- und Tanzabende, dem Austausch und Handel von Repertoire, aber auch von Instrumenten und Ersatzteilen. Partei und staatliche Organe beobachteten sie kritisch, da hier Prozesse abliefen, für die eigentlich die Konzert- und Theaterorganisationen und der sowjetische Handel zuständig waren. Die Birža zog zudem ab Ende der 1950er-Jahre in steigendem Maße Jugendliche an und wurde als unkontrollierter Teil des urbanen Raums wahrgenommen, der jugendliche Devianz zu fördern schien. Ähnliche Formen nicht-staatlicher Arbeits- und Musikervermittlung hatten seit der NEP nie aufgehört zu existieren, da die Birža zahlreiche Funktionen übernahm, welche die staatlichen Konzertorganisationen nicht in der Lage waren zu erfüllen. Die von Frederick Starr vorgenommene Einordnung in die 1920er-Jahre scheint durch ihre kompensatorische Funktion durchaus plausibel. Vor dem Hintergrund der erörterten Reformen des Konzertwesens expandierte die Birža ab Mitte der 1950er-Jahre räumlich und mit Blick auf ihre Teilnehmerzahlen.7 In der Hauptverwaltung für musikalische Einrichtungen wurde 1953 wenige Monate nach Stalins Tod im Zuge der Kritik an einer vermeintlich „finanziell unverantwortlichen Repertoirepolitik der Konzertorganisationen“ auf die Existenz einer „Schwarzen Börse“ („černaja birža“) verwiesen, die nicht kontrolliert würde. Deren Vertreter verkauften Musikstücke erneut an andere Republiken und Organisationen, nachdem diese
6
7
Vgl. Pylin, V. V.: Eröffnungsrede zum Plenum des Leningrader Stadtkomitees des Komsomol „Über die Verbesserung der Arbeit der Komsomolorganisationen zur ästhetischen Erziehung der Jugend“ 1968, CGAIPD SPb, f.k-881, op.17, d.33, l.1–59, hier l.15. Vgl. Kozlov, Džaz, S. 117.
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bereits vom sowjetischen Kulturministerium erworben worden waren.8 Ihre Funktion als alternativer Mechanismus für die Vergabe von Engagements beschränkte sich dabei nicht auf Musik. 1954 machten Vertreter des Kulturministeriums in der Birža einen Ort aus, an dem auch Schauspieler für Gastspiele an kleineren Theatern oder für kurzfristige Einsätze rekrutiert wurden, ohne staatlichen Kontrollinstrumenten wie dem Einstufungsverfahren einzelner Künstler in Gehaltsklassen, der Tarifizierung, unterworfen zu sein.9 Der Jazzpianist Michail Kull’ verortet die Birža als Organisationspunkt für Tanzorchester bereits für das Jahr 1954.10 Ab Mitte der 1950er-Jahre gewann das Phänomen als Transmitter zwischen Angebot und Nachfrage des Musikmarkts auch quantitativ an Relevanz. Auch wenn die Birža in jeder größeren sowjetischen Stadt stattfand, war sie im eigentlichen Sinne ein Nicht-Ort. Am frühen Abend versammelten sich meist vor dem Gebäude der städtischen Konzertorganisation Musiker, Händler, Organisatoren und die sogenannten „Zakazčiki“, welche im Auftrag von Restaurants, Cafés, Tanzplätzen, aber auch Betrieben und Instituten auf der Suche nach Musikern und Gruppen waren, die kurzfristig für ein Engagement verpflichtet werden konnten. In Moskau befand sich die Birža zuerst an der Ecke Neglinnaja- und Pušečnaja-Straße und zog nach einem halbherzigen Versuch des Staates, die Instanz aufzulösen Ende der 1950er-Jahre weiter zum Serov-Durchgang, einem kleinem Platz zwischen den Arkaden, die den Marxprospekt mit der Straße des 25. Oktober verbindet.11 Aufgrund ihrer Vermittlungsfunktion war die Birža keine geheime Instanz, sondern öffentlich präsent, was auch nahelegt, dass die Behörden der jeweiligen Stadt auch gegen die Widerstände aus dem Kulturministerium eine gewisse Toleranz zeigten, solange die Konzertorganisationen nicht in der Lage waren, den Bedarf an Musikern für die städtische Öffentlichkeit adäquat zu decken. Die Straße bildete hier faktisch eine Verlängerung der Dienstzimmer von Konzertorganisationen, in der ein Musiker in der Hoffnung auf zusätzliche Auftrittsmöglichkeiten enttäuscht wurde oder ein Restaurantbesitzer mit dem Verweis auf ungenügende Vorlaufzeit für die Repertoirekontrolle kein Ensemble zugewiesen bekam. Die Orte der jeweiligen lokalen Birža standen im Zusammenhang mit ihren Funktionen. In Novosibirsk kam es zur informellen Vermittlung von musikalischen Engagements in der Kantine der örtlichen Musikschule, wo sich Musiker 8 Vgl. Offene Parteiversammlung der Basisparteiorganisation der Hauptverwaltung für Musikalische Einrichtungen vom 30.07.1953, RGALI, f.957, op.1, d.15, l.1–9, hier l.6. 9 Geschlossene Parteiversammlung der Parteiorganisation der Haupttheaterverwaltung des Komitees für Verwaltung von Kunstangelegenheiten des Kulturministeriums der UdSSR vom 20.11.1953, TSAOPIM, f.957, op.1, d.14, l.54–60, hier l.56. 10 Kull’, Michail: Stupeni Voschošdennija. Moskau 2009, S. 51. 11 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 117; Starr, Red and Hot, S. 270 ff.
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verschiedener Altersklassen und Professionalisierungsgrade auch sozial austauschten.12 Dies konnte dort aber ebenso auf dem lokalen Schwarzmarkt geschehen, wo neben Engagements auch Schellackplatten, Tonbänder und Ersatzteile den Besitzer wechselten und die letzten Neuigkeiten aus der Welt des westlichen Jazz ausgetauscht wurden.13 Ihrer räumlichen Fluidität entsprach ihre zeitliche Begrenztheit. Ein- bis zweimal pro Woche versammelten sich in Moskau zwischen fünf und acht Uhr abends bis zu 300 Musiker und Organisatoren auf dem Bürgersteig vor dem Gebäude der Konzertorganisation, um in „konkurrenzgeladener aber freundschaftlicher Atmosphäre“14 ein Engagement zu erhalten. Die Regeln des planwirtschaftlichen Kulturbetriebs und der Estradakultur bestimmten darüber hinaus die Arbeitszeiten der Birža. Stoßzeiten für deren Teilnehmer waren am Monatsende zu beobachten, wenn nicht ausgegebene Gelder der staatlichen Einrichtungen für Kultur- und Massenarbeit verbraucht werden mussten und vornehmlich in Kulturabende investiert wurden.15 Neben der wetterabhängig hohen Zahl von Konzerten in der Sommersaison erwiesen sich daher der Zeitraum um die Revolutionsfeierlichkeiten am 7. November und das Jahresende kurz vor der Neujahrspause als Zeiten, in deren Vorfeld die Birža fast täglich zusammentraf.16 Als mögliche Auftraggeber traten Restaurants, Cafés, Fabriken, Betriebe, aber auch Universitäten oder einzelne Forschungsinstitute in Erscheinung.17 Welche Musiker versammelten sich regelmäßig in dieser hybriden Instanz? Mit den Massenentlassungen aus dem GULagsystem strömten zahlreiche repressierte Musiker zurück in die Großstädte, die dort aufgrund des Malus der Lagerhaft oder fehlender Rehabilitierung zunächst geringe Chancen auf eine Stelle innerhalb der Konzertorganisation hatten und auf alternative Vermittlungsinstanzen angewiesen waren.18 Ein zweites Anwachsen der Gruppe von Birža-Musikern war nach Beginn der Reform des Konzertwesens von 1956 zu verzeichnen, zu deren politischen Instrumenten nicht nur eine Neu-Tarifizierung aller Musiker, sondern auch die (Zwangs-)Pensionierung zahlreicher älterer Musiker zählte. Insgesamt suchten jene Musiker die Birža auf, die entweder keine prestigeträchtige Arbeit bekommen konnten, von den Auftritten innerhalb des Stellenplansystems der
12 Vgl. Beličenko/Kotel’nikov, Sinkopy na Obi, S. 72. 13 Vgl. ebd., S. 62. 14 Kozlov, Džaz, S. 128–129. 15 Vgl. Stepurko, Oleg: Džazovye zarisovki, in: Rossijskij brass-vestnik 3–4, 1993, [http://www. jazz.ru/books/stories/9.htm, letzter Zugriff: 27.04.2018]. 16 Vgl. ebd. 17 Kull’, Stupeni, S. 67. 18 Vgl. Hufen, Das Regime und die Dandys; Beličenko, Sinkopy, S. 73.
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Konzertorganisationen nicht leben konnten, aber auch jene, die diese Form von Arbeitsverhältnis gar nicht anstrebten.19 Die Birža bildete damit eine Hierarchie sozio-ökonomischer Positionen und technischen Spielfähigkeiten der einzelnen Musiker ab, die in den 1950er- und 1960er-Jahren auf dem sowjetischen Musikmarkt tätig waren. Gleichzeitig zählten aber auch jene dazu, die nicht auf Musik als Einkommensquelle angewiesen waren und aus nicht-ökonomischen Motiven die Birža besuchten. In Moskau arbeiteten Unterhaltungsmusiker, die offiziell von den Konzertorganisationen erfasst und kontrolliert wurden, in der Mosėstrada oder der MOMA („Moskovskoe otdelenie muzykal’nych ensemblach“). Mosėstrada bediente die großen Bühnen der Stadt und vereinte in den Worten Aleksej Kozlovs die „notenlesende professionelle Elite der sowjetischen Estrada.“20 Da letztlich aber die Einstufung in eine hohe Kategorie und die damit verbundene Zahl von Auftritten das monatliche Gehalt bestimmten, war ein Teil dieser Musiker auf einen über die Birža vermittelten Zusatzverdienst angewiesen. Das gleiche Phänomen traf für Musiker der MOMA aufgrund noch geringerer Gehaltssätze häufiger zu. Diese spielten in Restaurants, Cafés und den Foyers von Kinos, womit sich zwar andere Möglichkeiten des illegalen Zusatzverdienstes ergaben als auf den großen Konzertbühnen. Die geringeren Gehälter jedoch machten in fast allen Fällen einen Zusatzverdienst unabdingbar. Das Spielen in Kinofoyers galt unter Musikern als vergleichsweise ruhiges und prestigeträchtiges Arbeiten, bei dem es nicht zu demütigenden Situation wie im Restaurantbetrieb kam, wo man dem zahlenden Kunden für den Erhalt des illegalen Geldes jeden Wunsch zu erfüllen hatte.21 Dafür erhielt der Musiker im Kino deutlich weniger Geld und kaum Anerkennung vom Publikum, die dem ritualisierten Spielen vor und zwischen der Vorstellung meist kaum mehr als gleichgültiges Wohlwollen zollten.22 Der Eintritt in die jeweilige Organisation erfolgte über ein standardisiertes Aufnahmeverfahren, in dem Notenlesen einen zentralen Platz einnahm und das damit einen großen Teil von Laienmusikern und Anfängern, die sich beispielsweise auf das Spielen von Jazz spezialisierten, ausschloss. Neben den zwei Ablegern des Konzertwesens existierten weitere, für Musiker attraktive Orchester in der Stadt, wie das Estradaorchester bei „Mosfilm“ oder das „Estradaorchester beim Radio und Fernsehen“. Deren Anforderungen an technisches Können, Erfahrung im Konzertbetrieb und einen bestimmten Verhaltenskodex blieben jedoch für viele Besucher der Birža lange unerreichbar. Diejenigen Musiker, die über die Birža 19 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 131. 20 ebd. S. 129. 21 ebd. S. 121–123. 22 Vgl. ebd. S. 130–131.
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zusätzliches Geld verdienen wollten, standen in latentem Konflikt mit dem sowjetischen Arbeitsrecht. Ein offizieller Nebenverdienst („Sovmestitel’stvo“) bedurfte in jedem Fall einer Genehmigung und durfte die Hälfte des Gehaltes aus der ersten Beschäftigung nicht überschreiten23 Zwar bestand eine durchaus symbiotische Beziehung zwischen musikalischer Schattenwirtschaft und den Konzertorganisationen, jedoch wurde in unregelmäßigen Abständen gegen die Organisation von illegalen Konzerten vorgegangen. Während viele Organisatoren tatsächlich für mehrere Jahre ins Gefängnis kamen, gingen die Behörden mit den Musikern meist etwas gnädiger um. Eine bekannte Ausnahme bildet hier der Trompeter Andrej Tovmjasan, der nach mehrfacher Verwarnung wegen Spekulation und für nicht sanktionierte Auftritte in Restaurants zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt wurde.24 Ungeachtet der Risiken erwiesen sich illegale Auftritte in Restaurants und Cafés als sehr einträgliches Geschäft für deren Leiter, aber auch die Vermittler der Musiker. Sowohl die geringen Grundlöhne der steigenden Zahl von Musikern als auch eine Gruppe zahlungskräftiger Unternehmer, die in der Schattenwirtschaft große Summen erwirtschafteten, diese aber kaum in legales Eigentum überführen konnten und somit umso mehr in Unterhaltung investierten, garantierten vielversprechende Gewinne, an denen sogar die Repertoireinspektoren der Kulturbehörden mitverdienten und die ohnehin fragile Repertoirekontrolle konterkarierten.25 Neben jenen, für die die Netzwerke der Birža die notwendige zusätzliche, oder einzige Quelle waren, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, trafen sich hier Amateurmusiker, Musiker, die sich das respektive Instrument selbst beibrachten und einfache Zuhörer.26 Viele von ihnen betrieben Musik nicht als Beruf, sondern als Hobby, für das sie ihren Beruf oder ihr Studium nicht aufgeben wollten. Aber auch Profimusiker trafen in dieser Gruppe auf alte Freunde, mit denen sie zum Vergnügen spielen wollten. Aus spielerischer Sicht mag in diesem Zusammenhang das Urteil des Jazzpianisten Michail Kull’ sogar zutreffend sein, wenn er sagt, dass es in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre „in ganz Moskau nicht mehr als einige Dutzend, darüber hinaus hunderte schlechte unmotivierte Musiker“27 gegeben habe. Innerhalb dieser heterogenen Gruppe fanden sich erste Jazzmusiker, die sich am amerikanischen Idiom orientierten und aus dem passiven Rezipieren des amerikanischen Jazz in eine aktive Aneignung übergingen. Kozlov, dessen Memoiren die detaillierteste Beschreibung der Birža bieten, fasst diese Gruppe tendenziös 23 Vgl. Teplova, Sovetskoe pravo, S. 327; Šiškin, Kategorija „Sovmestitel’stvo“; Fejertag, Vladimir: Dialog s svingom. David Gološčekin o džaze i o sebe. St. Petersburg 2006, S. 66. 24 Vgl. Stepurko, Zarisovki/Tovmjasan, Andrej: Vospominanija [http://www.jazz.ru/mag/tovmasian/ tovmasian5.htm, letzter Zugriff: 27.04.2018]. 25 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 129–130. 26 Vgl. ebd, S. 131 ff. 27 Kull’, Stupeni S. 51.
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als jene zusammen, „die sich nicht anpassen wollten und [dem Untergrund gegenüber – M. A.] loyal blieben“28. Für diese Musiker gewann der Besuch der Birža eine gänzlich andere Bedeutung. Hier eröffnete sich Einblick in und Anschluss an einen Kommunikationsraum, in dem mehrere Generationen von Estradamusikern aufeinandertrafen, Erfahrungen in der musikalischen Praxis und der Auseinandersetzung mit der Kulturbürokratie austauschten und Neuigkeiten kommunizierten, für die es keine schriftlichen Medien gab. Dieses Milieu, das für viele Jazzmusiker den Beginn einer musikalischen Karriere verkörperte, prägte die Jazzkultur auch durch einen eigenen Slang, der Ausdruck einer entstehenden Gruppenidentität war. Drei Generationen von Estradamusikern mit spezifischer musikalischer Sozialisation und Erfahrung trafen auf der Birža aufeinander: Die ältesten Musiker entstammten der Vorkriegszeit, in der sie bereits in Estrada- und Jazzensembles spielten und Schallplattenaufnahmen gemacht machten, in den 1950er-Jahren noch gelegentlich Live-Konzerte spielten, aus gesundheitlichen und Altersgründen ihr Geld aber häufig über Reparaturarbeiten und den Handel mit Ersatzteilen verdienten.29 Die zweite Gruppe von Musikern, die direkt nach dem Krieg mit dem Spielen begann und durch die Swingmusik der Trophäenfilme sozialisiert wurde, ordnet Kozlov der Sphäre der Stiljagi zu („Labuchi-stiljagi“). Seine eigene Alterskohorte, geboren nach 1930 und musikalisch geprägt durch die Jazzsendungen der Voice of America konstituieren die dritte Generation, deren modische und musikalische Orientierung in Kozlovs Bezeichnung „štatniki-boperami“ (USA- und Bebop-Anhänger) zum Ausdruck kommt. Für junge Musiker, wie den 21-jährigen Kozlov, galt Kommunikation und das gemeinsame Spiel bei Tanzabenden mit erfahrenen Musikern als elementare Ressource, um erste Schritte zur Beherrschung des jeweiligen Instruments zu machen. Er erlernte hier von verschiedenen älteren Musikern erste Griffmöglichkeiten für das Saxofon, dass auch Jahre nach Stalins Tod noch als verruchtes Instrument galt und für das Unterricht oder Lehrmaterial zu erhalten nahezu unmöglich war. Die Reihe derer, die zu Beginn ihrer musikalischen Karriere als Jazzmusiker und Komponisten eine Zwischenstation an der Birža einlegten, ist lang und umfasst ebenso Amateure wie Komponisten mit professioneller Ausbildung, die im Komponistenverband organisiert waren. Neben dem Saxofonisten Aleksej Kozlov zählten zu den Besuchern der Trompeter Andrej Tovmjasan und der jüngere, 1946 in Moskau geborene, Oleg Stepurko, der die Birža in den 1960er-Jahren zum Ausgangspunkt seiner musikalischen Entwicklung machte. Zu den jazzorientierten Komponisten mit Erfahrungen an der Birža, an der ja auch Kompositionen gehandelt wurden, gehören der Geiger, Pianist und Komponist Jan Frenkel, der 28 Kozlov, Džaz, S. 131. 29 Vgl. ebd., S. 132.
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in den Orchestern von Eddi Rosner und Leonid Utesov stilprägende Komponist Vadim Ljudvikovskij, aber auch der bereits diskutierte Jurij Saul’skij, der 1962 schließlich in den Komponistenverband aufgenommen wurde.30 In den 1960er-Jahren wurde die Birža auch zum Ort der Gruppenbildung innerhalb des Jazzmilieus und entsprechenden Auseinandersetzung. Die Moskauer Jazzwelt teilte sich nach Einschätzung Oleg Stepurkos zu Beginn der 1960er-Jahre in zwei Lager – jene Anhänger des amerikanischen Jazz, der zu diesem Zeitpunkt schon als „traditionell“ verstanden wurde und durch den Trompeter Tovmjasan verkörpert wurde, und den Anhängern von Innovation und Experimenten mit dem nationalen Jazz, als dessen Idol der Trompeter German Lukjanov galt. An der Birža kam es zwischen beiden Fraktionen teilweise zu heftigen Auseinandersetzungen, die nach Bekunden von Oleg Stepurko in Schlägereien ausarten konnten.31 Die Birža bot dem einzelnen Musiker eine Chance, den landesweit chronischen Mangel an qualitativen Musikinstrumenten und Ersatzteilen zu kompensieren, der selbst die prestigeträchtigen Genres betraf und die Sowjetführung regelmäßig zum Kauf größerer Kontingente im sozialistischen und westlichen Ausland zwang. Gehandelt wurden auf der Birža Instrumente von stark variierender Qualität aus der Vorkriegszeit aber auch aus dem Ausland. Neben Stücken aus Frankreich oder den USA, die im Zuge der Kooperation während des Zweiten Weltkriegs in die UdSSR gelangten, stellten besonders Instrumente der Deutschen Wehrmacht eine begehrte und teure Ware dar, auf denen nicht selten noch Gravuren von Hakenkreuzen oder SS-Runen zu erkennen waren.32 Neben Saxofonen waren besonders Akkordeons aus deutscher Produktion gefragt, da sowjetische Pendants auch in den 1950er-Jahren noch Mangelware blieben. Alte und erfahrene Musiker, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr auftreten konnten, boten darüber hinaus Reparaturdienste an, die in der materiellen Kultur der sowjetischen „repair society“ von zentraler Bedeutung waren.33 Von Vertretern dieser Generation lernten Neuankömmlinge technische Grundlagen des jeweiligen Instruments oder die Grundregeln des sowjetischen Musikmarkts. Indes war die Birža mehr als ein kollektiver Selbsthilfemechanismus zur Vermittlung von Arbeit, Erfahrung und technischen Gütern. Mit ihr entstand ein soziales Milieu, das sich über spezifische Binnenhierarchien und einen generischen Jargon definierte. Die Autorität, die ältere Musiker durch ihre Erfahrung ausstrahlten, zeigt sich in deren Bezeichnung als „Labuch“. Ein 30 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 123 sowie Petrov, Arkadij: Černyj Kot. Jurij Saul’skij – Žizn’ i tvorčestvo, unveröff. Manuskript. 2008. 31 Vgl. Stepurko, Zarisovki. 32 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 132. 33 Vgl. ebd. 133.
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„Labuch“ verkörperte aus Sicht Kozlovs eine „hochrespektierte Person“, die eine beliebige Musik spielte und für „die risikofreudigen Menschen des Untergrund“34 stand. Gemeinhin bezeichnet der Begriff einen Musiker, der Geld durch das Spiel von moderner oder „minderwertiger Musik erwirtschaftete“.35 Das Wort selbst ist eine Substantivierung des aus der Sprache der Roma ins Russische übernommene Wortes „labat’“, das von den Akteuren der musikalischen Schattenwirtschaft anstelle von „igrat’“ verwendet wurde, um das Spielen von Musik in Restaurants und auf Beerdigungen zu bezeichnen. Eine Reihe weiterer Wörter, deren Ursprünge in der NEP-Zeit oder der sogenannten Gaunersprache („blatnoj žargon“) zu verorten sind, speisten ein spezifisches Vokabular, das besonders über die Nachkriegsgeneration von Jazzmusikern den Eingang in die Sprache der Stiljagi und damit auch in die des jazzaffinen Milieus fand.36 Worte wie „bašli“ (Geld), „kirjat’“ (trinken, saufen) und das, auch in der heutigen Jugendsprache, weit verbreitete „čuvak“ (femininum „čuvicha“) (Typ) generierten eine kollektive Abgrenzung nach außen gegen all jene nichteingeweihten Normalbürger und stifteten dadurch eine spezifische Identität. Die Konnotation einiger Wörter dieses Jargons parodierte die in der offiziellen Sprache und Ideologie manifestierten ideologischen und sozialen Anforderungen an die Musik und deren Interpreten, wie anhand des Subtexts von „labat’“, dem Erhalten von schnellem Geld für bestellte Unterhaltungsmusik, deutlich wird. Auch die Adaption und Umdeutung des von staatlicher Seite pejorativ genutzten Wortes Chaltura, das im Allgemeinen schlecht gemachte, billige Arbeit bezeichnete, im konkreten Fall für nicht-professionell inszenierte Unterhaltungsmusik geringer Qualität stand, ermöglichte deren Trägern eine ironische Distanzierung vom sowjetischen Kulturdiskurs, ohne aber dabei in offene Opposition zu ihm zu treten. Chaltura verwandelte sich in der Hand der Jazzenthusiasten schließlich in ein Synonym für „jam session“, dem der Neologismus „chalturit’“ als Verb für die gemeinsame Improvisation (engl. „to jam“) zur Seite gestellt wurde. Mit dem Anwachsen der Zahl von Musikern aus Kozlovs Generation auf der Birža, deren wachsendem Erfahrungsschatz und der stärkeren Auseinandersetzung mit dem Jazz in der Presse änderten sich die Binnenhierarchien in diesem Milieu. Die Besucher der Birža verband eine gemeinsame musikalische Praxis, trennte aber in zunehmendem Maß unterschiedliche ästhetische Präferenzen. Dem für diese Generation wichtigen Konzept der Improvisation, die positiv-ironisch umgedeutet auch als Chaltura bezeichnet werden konnte, standen ältere Musiker kritisch bis 34 ebd. S. 120. 35 Šapoval, V. V.: Otkuda prišlo slovo labuch?, in: Russkoe slovo. Materialy i doklady mežvuzovskoj konferencij, posvjaščennnoj 60-letiju Orechovo-Zuevskogo gospedinstituta, Orecho-Zuevo 2001, S. 28–32. [http://liloro.ru//romanes/shapoval14.htm, letzter Zugriff: 27.04.2018]. 36 Vgl. Zemcov, Il’ja: Enyclopedia of Soviet Life. New Brunswick 1991, S. 323.
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ablehnend gegenüber. Dies zeigt sich beispielhaft an der abwertenden Bezeichnung „igrat’ iz-pod volosy“ (wörtlich: „Unter den Haaren hervorspielen“) für diese Form des Musizierens.37 Kozlov beobachtet schon zum Ende der 1950er-Jahre eine Lagerbildung zwischen älteren und jungen Musikern, die auf den raffinierteren und nicht-tanzbaren Bebop fokussiert waren. Während deren „modernistisches Spiel“ nun zunehmend in den Fokus der ideologischen Auseinandersetzung rückte, wurde die Musik der Labuchi gewöhnlich und für „die ideologischen Ordnungshüter ausreichend unschuldig“38. Das Wort „Labuch“ signifizierte nun nur noch einen zweitklassigen Unterhaltungsmusiker. Die Attraktivität dieses Slangs auf die Jugendkultur wurde ab den 1960er-Jahren auch Thema literarischer Beobachtungen. Der Erzähler in Ilya Kazakovs Kurzgeschichte „Verfluchter Norden“ reflektiert über die Metamorphose klassisch ausgebildeter, aber wenig erfolgreicher Musiker, die schließlich in einer der zahllosen Leningrader Restaurantkapellen ihr Auskommen fanden: „Und so verwandeln sie sich allmählich in Labuchi, eignen sich mit Leichtigkeit jenen musikalischen Jargon an, der sich jetzt so weit unter den Snobs ausbreitet.“39 Genau in ihrer Funktion als unregulierter Sozialisationsraum für Jugendliche provozierte die Birža massive Skepsis des Staates. Die trotz der Konkurrenz um abendliche Engagements freundschaftliche Atmosphäre, die ironische Grundhaltung und der Humor ihrer alteingesessenen Besucher, zahlreiche Anekdoten und Geschichten um die unsowjetischen Lebensläufe der Labuchi, aber auch die Möglichkeiten des Zugangs zum sowjetischen Schwarzmarkt übten auf einige städtische Jugendliche mit höherer Ausbildung eine Anziehungskraft aus, die Partei, Komsomol und Geheimdienst mit wachsender Skepsis beobachteten. Ein Dossier des KGB an das Zentralkomitee der KPdSU zeigt nicht nur die Rolle der Birža als Transmitter zwischen Jugend und musikalischer Schattenwirtschaft, sondern auch eine auffällige Hilflosigkeit, das Phänomen mit der den Beamten verfügbaren politischen Sprache zu erfassen. Im Dossier werden die jugendlichen Musiker als Stiljagi-Musikanten („Stiljagi-Muzykanty“) bezeichnet, die zur modernen Kunst keinerlei Verbindung hätten und die manchmal über keinerlei musikalisches Gehör verfügen würden.40 Als deren Hauptmotiv gibt der Bericht materielle und hedonistische Motive an, die dem proklamierten Bild des neuen sowjetischen Menschen konträr entgegenstanden: „Meist gehen sie in die Musik auf der Jagd nach leicht verdientem Geld. Einige Musikstunden und ein Mensch, auch wenn er 37 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 131. 38 ebd. S. 121. 39 Kazakov, Jurij: Izbrannyj rasskazy, severnyj dnevnik. Moskau 1984. 40 „Heute trinkt der Bursche Vodka und morgen ...“, Bericht des Moskauer KGB über die Stiljagi für das ZK der KPdSU, in: Rodina 1992, 11–12, S. 64.
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kein musikalisches Gehör hat, fängt an, auf dem Schlagzeug rumzuhämmern.“41 Auch thematisiert das Dossier die der Birža eigenen Lehrer-Schüler-Beziehungen: „Solche Stiljagi organisieren ‚Kapellen‘, Gruppen von vier bis fünf Menschen, die einen guten Musikanten heranziehen, der dann den Ton in der Kapelle angibt, während die verbliebenen als lärmhafte Begleitung dienen.“42 Die quantitativen Einschätzungen der Birža, wo sich „gegen fünf Uhr hunderte Stiljagi dieser ‚Kapellen‘ treffen“ mag auf eine Zunahme von jungen Musikern Ende der 1950er-Jahre hindeuten, zeigt aber in jedem Fall, wie unkonkret das Feindbild der Stiljagi für eine genaue Beschreibung der urbanen Wirklichkeit geworden war.43 Mit Sorge beobachtet der KGB das soziale Milieu, welches den selten hauptberuflichen Musikern zu Tanzabenden „in mittleren Schulen, Universitäten und anderen Einrichtungen folgt“. Diese für die Autoren so problematische enge soziale Verbindung zwischen Musikern und Publikum, hier als „grob geschminkte, bemalte Stiljagimädchen und Kinder“44 bezeichnet, machte den Tanzabend als Ereignis nicht nur für die Ausbreitung des Jazz zu einer ästhetischen Herausforderung, sondern auch zur latenten Frage politischer Kontrolle.
5.1.2 Der Tanzabend In einem handschriftlich verfassten Bericht vom 23. Mai 1958 an das Kulturministerium vergleicht der Geiger N. Kroglov zwei Tanzorchester miteinander. Er resümiert, dass letztlich allein die Kultiviertheit des musikalischen Leiters der Orchester die fehlende Überwachung der Ensembles auf den städtischen Tanzplätzen kompensieren könne45. Dem ersten Orchester, einer 14-köpfigen Gruppe unter Leitung des Genossen Kalužskij attestiert Kroglov eine „erfolgreiche Vereinigung von westlichen Tänzen und Balltänzen“ und „wohlklingende und gut orchestrierte“46 Überarbeitung von Werken für sein Orchester. Eine solche Beurteilung muss im Untersuchungszeitraum freilich relativ betrachtet werden, konnten doch demselben Repertoire ebenso „Vulgarität“ oder „Taktlosigkeit“ in anderen Zusammenhängen attestiert werden. Es bleibt offen, aber durchaus möglich, dass persönliche Beziehungen zwischen dem Geiger Kroglov und dem Orchesterleiter
41 ebd. 42 ebd. 43 Vgl. Fürst, Arrival of Spring, S. 135–153. 44 ebd. 45 Vgl. Bericht über die Arbeit der Tanzorchester in den Parks der Stadt Moskau, RGALI, f.2329, op.3, d.640, l.40–41. 46 ebd.
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Kalužskij oder die Tatsache der Parteimitgliedschaft des Genossen Orchesterleiters den Tenor des Berichts mitbestimmten. Kroglov kontrastiert das Orchester mit einer vierköpfigen Gruppe, welche am 1. September 1958 auf dem Tanzplatz im Izmajlovskij Park gespielt hatte. Dieses vom Autor durch Anführungszeichen ironisierte „Ensemble“ erscheint als prototypisch für eine an der Birža zusammengestellte Gruppe mit Nachwuchsmusikern in kleiner jazznaher Besetzung (Schlagzeug, Akkordeon, Trompete und Klarinette). Kroglov scheint besonders die Diskrepanz zwischen ihren musikalischen Fähigkeiten und deren selbstwusste Art aufzustoßen, wenn er beobachtet, dass die Musiker entschieden, „mit Mikrofon zu spielen“ und sie „nacheinander auf die Bühne kamen und die unglaublichste ‚Improvisation‘ vollführten“47. Die detaillierte Beschreibung des Spiels lässt offen, inwieweit den Musikern grundlegende musikalische Begabung oder Ausbildung fehlte, die sie mit Enthusiasmus kompensierten oder ob deren Spielweise tatsächlich an den Konzepten des Bebops orientiert war und für den Geiger Kroglov, immerhin vom Kulturministerium für einen Bericht kompetent befunden, eine nicht überbrückbare Herausforderung seiner Hörgewohnheiten darstellten. „Die Klarinette heult außertonal („vnetonal’nyj“), die Trompete wechselt sich in wilder Fahrt mit dem disharmonischen Gekreische des Akkordeons ab.“48 Auch der Beschreibung des Schlagzeugers ist nicht zu entnehmen, ob Kroglov einem Dilettanten oder Innovator gegenübersaß: „Auch dieser erweist sich ‚auf der Höhe‘: Nach seinem Rhythmus kann man zunächst nicht entscheiden, ob das Ensemble einen Foxtrott oder einen Walzer spielt.“49 Was Kroglov zum Abschluss kritisiert, ist nicht die Tatsache, dass das Repertoire des Abends ein „prinzipiell westliches“ gewesen sei, sondern dass man dies „nur an einzelnen Bruchstücken der Melodie erkennen konnte“50. Für einen als musikalischen Experten konsultierten Akteur wie Kroglov war 1958 weniger die Herkunft der alltäglich zu hörenden Musik, wohl aber Zugänglichkeit und Werkstreue zentrales Kriterium, wenn es um die Beurteilung einer unkontrollierten abendlichen Tanzveranstaltung ging. Die Stärke des Begriffs Chaltura ergab sich aus seiner Mehrdeutigkeit. Aus Sicht von Kroglov qualifizierte sich die vierköpfige Gruppe durch ihre Spielweise als Chaltura. Der von ihm gelobte Auftritt des 14-köpfigen Orchesters konnte aus Sicht eines seiner Mitglieder durchaus als Chaltura verstanden werden, wenn der Auftritt, kurzfristig vermittelt, auch noch eine Bezahlung abwarf. Die staatlichen Akteure der Kulturpolitik wiederum beobachteten diesen Teil der musikalischen Schattenwirtschaft unterschiedlich und abhängig von ihrem Platz in den vertikalen 47 ebd., l. 41. 48 ebd. 49 ebd. 50 ebd.
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Hierarchien von Partei und Staat. Für die Tanzlehrerin und Mitglied des künstlerischen Rates des Moskauer Hauses des Volksschaffens, welche im selben Jahr einen Bericht über die Tanzveranda im Baumannpark verfasste, lag die Gefahr dieser Tanzabende eben nicht nur in der Ausführung der Musik, sondern auch in ihrem Inhalt, jenen westlichen Tänzen, die die „Tanzenden zu konvulsiven Bewegungen anreizen“51 würden. Aus ihrer Sicht fehlte an verschiedenen Stellen die staatliche Kontrolle, um die Jugend vor den unkontrollierten Folgen jener Chaltura zu schützen. Der Begriff diente in seiner pejorativen Funktion zur Kennzeichnung der schlechten Ausführung von Musik, aber auch ihrer inhaltlichen Gestaltung. Das ZK warnte bereits 1953 im Zuge des Zusammenbruchs der akustischen Zensur durch Glavlit, der zu einem Boom der Praxis unkontrollierter Tanzabende geführt habe, vor „stümperhaften nicht vom KDI genehmigten Werken („chalturnye proizvedenija“), die von rückständigen Komponisten an das breite Netz von Orchestern in Kinos, Klubs und anderen Organisationen verkauft werden.“52 Dem weitläufigen und von den Besuchern der Birža schließlich positiv adaptierten Verständnis nach warnte die Abteilung Kultur aber eben auch vor der „lasterhaften Tätigkeit von stümperhaften, privatunternehmerischen Brigaden“ („poročnaja dejatel’nost’ chalturnych častopredprinimatel’skich brigad“) und deren „aus ideologischer Sicht schädlichen ‚Estrada‘ Produktion“53. Wie in der Diskussion um die Amateurorchester in den Peripherien des Landes bereits deutlich wurde, musste ein Konzert darüber hinaus weder kommerziell noch antistaatlich sein, um als Chaltura bezeichnet zu werden. Der Mangel an offiziell sanktioniertem Repertoire genügte. Folgt man den Einschätzungen des ZK , dann nahm der Wegfall von Glavrepertkom als musikalischer Zensurinstanz 1952 die dem Tauwetter zugeschriebene Liberalisierung im Bereich der Unterhaltungsmusik und ihres Repertoires schon vorweg. Versteht man Chaltura als nicht-sanktionierten musikalischen Auftritt eines Solisten oder einer Gruppe, so ist diese Praxis so alt wie das Ringen um staatliche Hoheit über die sowjetische Bühne. Die meisten der großen Estradaorchester verfügten auch vor 1953 über eine kleinere Besetzung, die nach oder zwischen den regulären Auftritten bei Tanzveranstaltungen spielte, um einen
51 Tupycina, B. N.: Bericht über die Arbeit der Tanzorchester in den Parks der Stadt Moskau an die Leiterin der choreografischen Abteilung des Moskauer Hauses für Volksschaffen vom 03.07.1958, RGALI, f.2329, op.3, d.640, l.35–36, hier l.36. 52 Abteilung Wissenschaft und Kultur des ZK der KPdSU: Bericht der Abteilung an den ZK-Sekretär Pospelov, verfasst von A. Rumjancev, P. Tarasov, B. Jarustovski , „Über die Schwächung der Kontrolle für Inhalt und Qualität der Aufführung des Repertoires der Konzertaufführungseinrichtungen des Landes“, in: Z. K. Vodop’janova (Hg.), Apparat CK KPSS i kul’tura: 1953–1957, Dokumenty. Moskau 2001, S. 86–89, hier S. 87. 53 ebd.
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Zusatzverdienst zu erwirtschaften.54 Seit dem Spätstalinismus entschieden der Grad der öffentlichen Zugänglichkeit und das anvisierte Publikum darüber, ob solche Formen von Auftritten möglich waren und was gespielt werden konnte. Der Pianist des Estradaorchesters von Leonid Utesov, Michail Volovac, unterhielt parallel mit anderen Mitspielern ein Jazzsextett, dass nach den Auftritten Utesovs 1949 in Novosibirsk noch am selben Abend im Haus der Roten Armee auf Tanzveranstaltungen spielte.55 Und auch hinter der Fassade des von den kulturellen Säuberungen des Spätstalinismus getroffenen Moskauer Nachtlebens spielten in Restaurants, Clubs und Cafés kleine Estradagruppen vor geschlossenen Gesellschaften.56 Die Integration von Saxofonen in deren Besetzungen legt den Schluss nahe, dass diese nicht von den städtischen Konzertorganisationen beauftragt waren, welche ab 1948 begannen, das Instrument aus dem öffentlichen Leben zu verbannen und von ihren Musikern zu konfiszieren.57 Weniger kulturpolitische Lockerungen als die Konzeptlosigkeit der Jahre 1953 bis 1956 verhalfen der musikalischen Schattenwirtschaft zu einer Expansion. Eine wachsende Zahl an Tanzplätzen und Klubs, aber auch Schulen, Universitäten und Institute, an denen gemeinsame Tanzabende ausgerichtet wurden, boten den Musikern der Birža steigende Möglichkeiten für Engagements. Die anhaltende quantitative Lücke des staatlichen Konzertwesens zeigt sich beispielhaft an der Tatsache, dass 1963 in Leningrad bereits 80 Tanzplätze existierten, die am Wochenende von circa 30.000 Jugendlichen aufgesucht wurden.58 Dem gegenüber standen 20 Orchester der lokalen Abteilung für Musikensembles sowie neun registrierte Amateurorchester. Gemeinsam auf einer Chaltura zu spielen, bezog sich nicht nur auf geschlossene Veranstaltungen wie Betriebsfeiern und offene Veranstaltungen in den Kulturhäusern der Gewerkschaft, die besonders im großstädtischen Raum von den Konzertorganisationen als Konkurrent wahrgenommen wurden. Eine Chaltura fand stattdessen oft in jenen Randgebieten der Stadt statt, in die „der Arm der MOMA nicht reichte“59 und wo weder finanzielle noch organisatorische Ressourcen einer Familien ausreichten, um ein kleines Orchester für eine Hochzeit über den offiziellen Weg zu engagieren. Die Netzwerke der Birža waren ein Weg, sich als Anfänger über kleine Engagements Erfahrungen und eine Reputation zu erarbeiten. Sergej Beličenko berichtet von den Musikschulen in Novosibirsk, wo 54 Vgl. Stepurko, Zarisovki. 55 Beličenko, Sinkopy, S. 63. 56 Vgl. Edele, Strange young men, S. 47–48.; Tsipursky, Jazz. 57 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 177 ff. 58 Vgl. Stenogramm des zweiten Plenums des Stadtkomitees des Komsomol „Über die weitere Entwicklung der gesellschaftlichen Grundlagen in der Organisation der jugendlichen Freizeit“ vom 18.05.1963, CGAIPD SPb, f.k-881. op.15, d.15, l.1–112, hier l.101. 59 Vgl. Stepurko, Zarisovki.
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Lehrer und fortgeschrittene Schüler abends nach dem Unterricht gemeinsam gegen Geld auf Tanzabenden spielten.60 Auch der Trompeter Valerij Ponomarev verdiente sich zu Beginn seines Studiums an einer Bezirksmusikschule auf Chalturas etwas dazu, die ihm über seine Lehrer vermittelt wurden.61 Der in gewisser Weise typische Weg, den Aleksej Kozlov in den 1950ern und Oleg Stepurko in den 1960er-Jahren gingen, führte über die langsame Ausweitung des Kreises an Bekannten auf der Birža und anfängliche Patronage durch einen der Labuchi zu ersten eigenen Aufträgen und selbst zusammengestellten Besetzungen.62 Der Ablauf eines Vergnügungsabends an allgemeinen sowjetischen Feiertagen oder einem betriebsinternen Anlass folgte einem ritualisierten Schema: Nach einem offiziellen Teil mit Begrüßung durch den Direktor oder Leiter der Einrichtung und einer Grußadresse der örtlichen Parteileitung folgte ein Bankett, nach welchem der Tanzteil des Abends begann.63 Ein vier- bis fünfköpfiges Amateurorchester spielte dann im Foyer der Einrichtung beliebte Stücke der 1930er-, 1940er- und 1950er-Jahre und nahm auch Wünsche aus dem Publikum entgegen. Ein solcher Abend endete meist kurz nach Mitternacht mit der Utesov-Komposition „Dorogie Moskviči“. Hier zeigte sich eine Stärke der Labuchi – sie konnten in den Worten von Aleksej Kozlov „alles spielen, was auch normale Leute hören wollten“64. Für die Nachwuchsmusiker bestand darin einer der wichtigsten Lerneffekte. Die wertvollste Fähigkeit in der Arbeit dieser Orchester war es, „aus dem Stand und meist ohne Probe etwas populäres und modisches“65 spielen zu können. Das einfache Kombinieren von zwei oder drei Stimmen durch Bläser oder Streicher mit einem einfachen Rhythmusfundament aus Schlagzeug und Klavier ermöglichte es in der Einschätzung des Pianisten Michail Kull’, „fast alles zu spielen, was man will“66. Dieser sah genau darin die „Grundlage erster Improvisationsversuche“. In der halböffentlichen Welt der Restaurants konnte eine Chaltura, abhängig von der Reputation der Musiker, gewinnbringender sein. Der Saxofonist und Klarinettist Leonid Geller, einer der von Kozlov verehrten Labuchi, erarbeitete sich bereits nach dem Krieg die Reputation eines talentierten Musikers und Organisators. Die Kundschaft seiner sehr gefragten Restaurantengagements in den 1950er-Jahren beschreibt Kozlov als reiche Leute aus der Schicht jener Händler, die in der aufblühenden Schattenwirtschaft ihr Geld verdienten und von der „Abteilung für
60 Vgl. Beličenko, Sinkopy, S. 74. 61 Ponomarev, Valerij: Na obratnom storone svuka. Moskau 2003, S. 32. 62 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 125. 63 Vgl. ebd. 64 ebd. 65 Kull’, Stupeni, S. 41. 66 ebd. S. 42.
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den Kampf gegen Diebstahl sozialistischen Eigentums und Spekulation“ OBChSS („Otdel po bor’be s chiščenijami socialističeskoj sobstvennosti i spekuljacijami“) verfolgt wurden. Da deren Geldbesitz und etwaige Anschaffung immer einen Verdachtsmoment in der sozialistischen Gesellschaft implizierten, gaben diese umso leichtfertiger Geld für Unterhaltung, wie beispielsweise Gellers Orchester, aus. Entgegen der Regelung, das Repertoire vorher prüfen zu lassen, nahm Geller bei einer solchen Chaltura gegen Geld Bestellungen für Wunschlieder entgegen. Zur besseren Diskretion platzierte Geller einen Wandschirm am Bühnenrand, hinter dem die Umschläge mit Geld und Zetteln auf die Bühne gelangten.67 In den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren griff dabei offensichtlich die staatliche Verwaltung selbst auf Jazz-Orchester zurück, die aufgrund ihres Könnens im Rahmen der Birža mehr Geld verdienen und weniger reguliert agieren konnten. So vermittelte die „Verwaltung zur Versorgung des diplomatischen Korps“ UPDK („Upravlenije po obsluživaniju Diplomatičeskogo Korpusa“) der US-amerikanischen, iranischen und norwegischen Botschaft zu nationalen Feiertagen geeignete junge Jazzbands, die den Musikern Gagen weit über dem Durchschnittlichen bezahlten.68 Unterschiedliche Motive bewogen die Neueinsteiger, sich einem erfahrenen Musiker anzuschließen oder schließlich selbst ein Ensemble für ein Engagement zusammenzustellen. Neben dem reflektierten Erlernen des Instruments boten Geld und die Möglichkeit, junge Frauen mit amerikanischer Musik zu gewinnen, die nötigen Anreize.69 Allen Teilnehmern eröffnete der Chaltura-Betrieb einen Einblick in die sehr unsichere und riskante Praxis der musikalischen Schattenwirtschaft. Ohne den administrativen Schutz einer offiziellen Einrichtung gab es keine Garantie, die vereinbarte Gage auch zu erhalten. Der soziale Charakter des Publikums variierte stark und damit auch die Vorstellung über Qualität des Spiels und über die Art des Repertoires. Eben weil die Birža ein Tummelplatz für musikalische Amateure war, aber auch die Gegebenheiten vor Ort selten optimal waren, kam es zu zahllosen Konflikten. Um ein Solo nicht auf „toten Tasten“ zu spielen, kamen Pianisten häufig früher, um sich über die meist schlechte Qualität der Klaviere in Kulturhäusern und auf Tanzplätzen zu informieren.70 Schon ein Musiker, der deutlich hinter das Niveau der anderen zurückfiel, konnte ein Engagement ruinieren und zu dem machen, was Zeitgenossen als „blutige Chaltura“ („krovovaja chaltura“) bezeichneten. Nicht anders als in den Konzertorganisationen auch wies die Birža eine hohe Fluktuation von Musikern auf, sodass häufig kurz vor Konzertbeginn 67 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 122. 68 Markin, Jurij: Zigzagi Džaza. („Istorija bolezni“ sovetskogo-rossijskogo džaza, rasskazannaja odnim iz „bol’nych“) [http://samlib.ru/a/zonadzhaza/zigzag_jazz.shtml, letzter Zugriff: 27.04.2018]. 69 Vgl. Ponomarenko, Na obratnom storone, S. 31. 70 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 126.
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ein Ersatzmusiker erschien, dem entweder die Qualifikation fehlte oder der die vereinbarten Stücke nicht kannte. Hintergrund war das ökonomische Verhalten etablierter Birža-Musiker, wie das des Schlagzeugers Volodja Žuravskij, der prophylaktisch mehrere Auftritte an einem Abend vereinbarte, sich selbst den finanziell ergiebigsten aussuchte und zu den verbliebenen Engagements Kollegen oder eben seine eigenen Schüler schickte, deren Niveau oder Vorbereitungsgrad selten ausreichten, die Erwartungen der Mitspieler und des Publikums zu befriedigen.71 Abhängig von Ort und Publikum der Chaltura konnten die Zuhörer und Tänzer selbst, besonders mit steigendem Alkoholpegel, im Verlauf des Abends zu einer Herausforderung werden. Dies betraf Betriebsfeiern ebenso wie Tanzabende, wurde aber besonders da virulent, wo viele Jugendliche aufeinandertrafen; eine Entwicklung, die von Seiten der Kulturbehörden und des Komsomol mit besonderer Sorge beobachtet wurde. Der bereits zitierte Bericht der Tanzlehrerin über die Tanzveranda im Baumannpark spiegelt diese Besorgnis wider sowie die Irritation, die adoleszentes Verhalten der mehrheitlich 18- bis 20-jährigen Besucher auslöste.72 Er gibt einen atmosphärischen Einblick in das Setting, mit dem die Musiker konfrontiert wurden. Nur 30 % der Besucher der stark überfüllten Veranda hätten die erwünschten Walzertänze getanzt, während fast alle bei Foxtrotts und Tangos auf die viel zu enge Tanzfläche strömten.73 Ein Großteil der Jungen verhalte sich Frauen gegenüber extrem respektlos und grob, da viele von ihnen, aber auch eine beachtliche Zahl der Mädchen betrunken seien. Niemand hielte sich ans Rauchverbot und nach Ende der Veranstaltung um 23 Uhr trauten sich einige Mädchen nicht zu gehen, da in der Nähe der Veranda immer noch eine Gruppe betrunkener Jungen stand, die, nachdem die Miliz die Veranda verließ, die heimgehenden Mädchen bedrohte. Auch der Bericht einer Komsomolpatrouille, die 1962 die Leningrader Tanzplätze kontrollierte, verweist auf eklatante Sicherheitsmängel und exzessiven Alkoholkonsum, der sich nicht nur auf die jugendlichen Besucher beschränkte, sondern auch bei den družiniki des Komsomol zu beobachten war, die diese Veranstaltungen eigentlich kontrollieren sollten.74 Das häufige Fehlen von Sicherheitskräften, aber auch die Tatsache, dass Musiker und Publikum selten durch eine separate Bühne getrennt wurden, machte den Kontakt unmittelbar. Kozlov berichtet von häufig betrunkenen Gästen, die nicht 71 Vgl. ebd. S. 126. 72 Tupycina, B. N: Bericht über die Arbeit der Tanzorchester in den Parks der Stadt Moskau an die Leiterin der choreografischen Abteilung des Moskauer Hauses für Volksschaffen vom 03.07.1958, RGALI, f.2329, op.3, d.640, l.35–36, hier l.36. 73 Vgl.ebd. 74 Bericht des Stadtkomitees des VLKSM über die Durchführung von Razzien „Kulturpatrouille zur Überprüfung der Arbeit von Tanzplätzen der Stadt Leningrad“, August–September 1962, CGAIPD SPb, f.k-881, op.15, d.9, l.1–9.
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nur ständig neue Musikwünsche an die Orchester trugen, sondern selbst „einmal spielen wollten“ und diesem Wunsch teils auch mit Gewalt Nachdruck verliehen.75 Die dadurch verursachte Zerstörung von Instrumenten wog aus Sicht der Musiker umso schweren, als der Erhalt einer lang ersehnten Trompete oder eines funktionierenden Satzes Becken mit dutzenden Telefonaten, hunderten Stunden Arbeit oder auch dem nicht vorhersagbaren Zufall verbunden waren. Mit dem Alkoholproblem waren die Musiker jedoch nicht nur in Gestalt betrunkener Besucher konfrontiert, sondern auch als Teil der sozialen Interaktion innerhalb der Schattenwirtschaft. Trinken, im Slang der Birža „kirjat’“, diente nicht nur der symbolischen Besiegelung eines Deals mit einem Auftraggeber. Es war Teil der allabendlichen sozialen Rituale eines Orchesters, das teilweise bis in die Morgenstunden zu spielen hatte.76 Geller wusste um die schädlichen Folgen für Musiker und Orchester im Gesamten und verbot seinen Mitspielern das Trinken während der Engagements. Waren dies alles Probleme der musikalischen Praxis, die alle Generationen von Birža-Musikern betrafen, ergaben sich für die Nachwuchsmusiker, die nach 1930 Geborenen, im Bereich des Repertoires spezifische Herausforderungen. Die musikalische Schattenwirtschaft bediente durch die Form der Chaltura den sowjetischen Musikmarkt mit Populärkultur in Reinform. Tanzabende in Betrieben, Parks oder Restaurants waren somit wesentlich stärker nach der Maxime des genuin Populären, des Tanzbaren und des Aktuellen ausgerichtet. Hier wurden Utesovund Dunaevskijstücke gespielt, waren die ideologisch verpönten Romanzen und Tangos von Oskar Strok und Petr Levščenko oder die letzten Hits aus Kinofilmen zu hören, aber auch Swing-Nummern und die zahllosen südamerikanischen Lieder und Tänze, die nach 1956 an Popularität gewannen.77 Eine Chaltura bot dem sowjetischen Besucher live, was er in Hinterhöfen und auf Flohmärkten der Vorstädte auf den selbstgemachten Schallplatten auf Röntgenfolien, den „Muzyka na kostjach“, kaufen konnte.78 Dem Repertoire des Konzertwesens war diese akustische Welt überlegen. Durch den langwierigen und widersprüchlichen Zulassungsprozess konnte es bis zu einem Jahr dauern, bis ein Lied für die Live-Aufführung zugelassen war, was dem zentralen Prinzip der Aktualität von populärer Musik entgegenstand.79 Den Anhängern des amerikanischen Jazzidioms bot eine Chaltura auch Gelegenheit, die in mühsamer Arbeit transkribierten und angeeigneten amerikanischen Stücke der Swing- und Bebop-Ära erstmals vor Publikum zu 75 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 127. 76 Vgl. ebd., S. 122. 77 Vgl. Rupprecht, Tobias: Soviet Internationalism After Stalin: Interaction and Exchange Between the USSR and Latin America During the Cold War. Cambridge 2015. 78 Vgl. Coates, Stephen (Hg.): X-Ray Audio. London 2015. 79 Stenogramm des zweiten Plenums des Stadtkomitees des VLKSM „Über die weitere Entwicklung der gesellschaftlichen Grundlagen in der Organisation der jugendlichen Freizeit“ 18.05.1963, l.134.
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spielen, das jedoch sehr unterschiedlich auf diese Form von Musik reagierte. Bei den Auftritten von Alexej Kozlovs ersten kleinen Orchestern bei Betriebsfeiern versuchten die Besucher häufig, zunächst zum Jazz zu tanzen, kamen nach kurzer Zeit aber häufig zu den Musikern mit der Bitte, etwas „normales“ zu spielen. Je nach Besetzung und deren Fähigkeiten, auch populäre Titel zu spielen, wechselten die Musiker entweder zu „irgendwelchen Tangos“ oder spielten weiter, was dazu führte, dass diese nicht wieder eingeladen wurden.80 Das Spielen von Wunschtiteln war der große Vorteil eines Chaltura-Orchesters gegenüber einem, welches die städtischen Konzertorganisationen delegierten, da denen eine Abweichung von der vorher festgelegten Repertoireliste eigentlich nicht gestattet war. Oleg Stepurkos Versuche, Anfang der 1960er-Jahre bei einer Hochzeitsfeier in den Moskauer Vorstädten ein Jazzprogramm zu spielen, endete mit der panischen Flucht der Musiker, die den Schlägen der aufgebrachten und betrunkenen Gäste entkommen mussten.81 Entscheidend für den langfristigen Erfolg und eine mögliche Legalisierung des eigenen Orchesters waren nicht nur die technischen Fähigkeiten der Musiker, sondern auch die richtige Mischung des Repertoires. Vladimir Feiertag, der Leningrader Organisator und Jazzkritiker, gelang es in den 1950er-Jahren mit einer Mischung aus Foxtrott, Tangos, Bossa-Novas und einigen Swing-Arrangements von der OMA übernommen zu werden und erfolgreich auf den Tanzplätzen der Stadt aufzutreten.82 Mit der partiellen Öffnung des Landes 1956/57 war erstmals auch eine größere Auswahl von Noten polnischer oder tschechoslowakischer Tanz- und Unterhaltungsstücke in den Läden verfügbar.83 Solange also die der Musik zugedachte Funktion – Unterhaltung und Tanz – erfüllt wurde, war das Spielen von Jazzstücken unter bestimmten Umständen durchaus möglich. Das von zeitgenössischen Akteuren, wie dem Trompeter Valerij Ponomarev, beschriebene Maskieren amerikanischer Jazzstücke mit sowjetischen Titeln mag im Einzelfall funktioniert haben, etwa dann, wenn eine Repertoireliste im Vorfeld durch den Veranstalter kontrolliert wurde.84 Im Ganzen aber unterschätzt dieses, auch in anderen sozialistischen Staaten oder dem Deutschen Reich zwischen 1933 und 1945 immer wieder anzutreffende Narrativ die Kompetenz und den Instinkt der lokalen Kulturfunktionäre. Überzeugender ist es vielmehr, diese Praxis der Umbenennung von westlichen Stücken nicht als subversiven Akt, sondern als nicht-kodifizierte Sprachregelung und Unterwerfungsgeste zu interpretieren, „die den Musikern eine (allerdings jederzeit widerrufbare) Möglichkeit gab, die vom 80 Vgl. Kozlov, S. 125. 81 Vgl Stepurko, Zarisovki. 82 Vgl. Fejertag, Ot Leningrada, S. 73–74. 83 Vgl. Beličenko, Sinkopy, S. 74. 84 Vgl. Ponomarev, Na obratnom storone, S. 33.
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Publikum gewünschte Unterhaltungsmusik zu spielen, ohne dass die Staatsorgane gezwungen waren, einzugreifen.“85 Der ab 1956 einsetzende Boom an studentischen Jazzorchestern veränderte den Musikmarkt nachhaltig.86 Auch wenn viele dieser Gruppen nicht lange existierten, entwickelten sie besonders für jugendliches Publikum enorme Attraktivität. Ohne merkenswerten Einfluss der Konzertorganisation befriedigten sie eine steigende Nachfrage, die es in Einzelfällen erlaubte, den Status des Amateurorchesters hinter sich zu lassen. Trotzdem führten sie mit Blick auf die Altersstruktur der Musiker auch in den Konzertorganisationen zu einer allgemeinen Verjüngung, die auf den Bühnen sicht- und hörbar wurde. 1963 stellte der Leningrader Komsomol fest, dass sich „in unserer Stadt einige hundert Jazzgruppen“ befanden, die „nur fürs Geld auf Tanzabenden und Komsomolveranstaltungen (spielen würden). Der Durchschnittspreis für eine Amateurjazzband beträgt 50 Rubel.“87 Jazzstücke, die über die Filmmusik von Glenn Miller in „Sun Valley Serenade“ hinausgingen, den viele Sowjetbürger aus der Nachkriegszeit kannten, erzeugten jedoch nicht nur Ablehnung und Widerstand bei den Besuchern von Betriebsfeiern und Tanzplätzen. Auch die Kulturbehörden zeigten sich den Interpretationen von Jazzstücken der Nachswing-Ära gegenüber irritiert und skeptisch. „Orchester spielen manchmal nichttanzbare Musik (Vajnštejn, Fejertag)“ urteilte der Leningrader Komsomol 1962, von denen „Teile eigentlich Konzertprogramme“88 sind. Deren Fans, so die Autoren des Berichts, „stehen in Haufen vor der Bühne, feuern die Musiker an und vergessen jene, die sich eine Karte zum Tanzen gekauft haben“89. Das Konzept der musikalischen Improvisation widersprach den sowjetischen Vorstellungen eines geordneten Ablaufs von Konzert und Abend: „Ein Repertoireprogramm wird häufig nicht ausgehändigt“ und die Musiker spielen, „was ihnen in den Kopf kommt“.90 Der übliche Ort für eine Chaltura, der Tanzabend, erwies sich aus Sicht des Publikums und der Behörden als ungeeigneter Platz für Jazz, der in Ästhetik und Performance immer mehr der Kunstmusik ähnelte. Die einzigen Orte in Moskau und anderen Großstädten, an denen dies keinen Widerspruch erzeugte, boten die Abende an Universitätsinstituten und Forschungseinrichtungen. Nach Kozlov waren es in Moskau die Moskauer Staatsuniversität, das Institut für 85 Erdl/Nassauer, Kippfigur, S. 198–199. 86 Vgl. Beličenko, Sinkopy, S. 75–85; Starr, Red and Hot, S. 235 ff. 87 Stenogramm des zweiten Plenums des Stadtkomitees des VLKSM „Über die weitere Entwicklung der gesellschaftlichen Grundlagen in der Organisation der Jugendlichen Freizeit“ 18.05.1963, l.147. 88 Bericht des Stadtkomitees des VLKSM „Über die Durchführung von Razzien der Kulturpatrouille zur Überprüfung der Arbeit von Tanzplätzen in Leningrad“, CGAIPD SPb, f.k-881, op.15, d.9, l.1–9. hier l.4. 89 ebd. l.3. 90 ebd.
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zwischenstaatliche Beziehungen MIMO , das Architekturinstitut, das Moskauer Bau- und Ingenieurinstitut Kuybišev MISI, das Plechanovinstitut und die medizinische Fakultät, wo man „modernen Jazz spielen konnte und musste“91. Hier tanzten Studenten auch nicht mehr, sondern saßen auf dem Boden und hörten zu. Aus Perspektive jener Musiker, die sich an der Birža und bei zahlreichen Chalturas musikalische Grundlagen angeeignet hatten und diese dann auf mühsam transkribierte westeuropäische und amerikanische Jazzkompositionen anwendeten, boten diese Veranstaltungen ein kritisches und dankbares Publikum, gleichzeitig jedoch eine zu geringe Bezahlung, um als Musiker ein Auskommen zu finden. Für den Schritt in eine vollberufliche Musikerkarriere reichten solche Abende kaum aus, zumal sie unregelmäßig stattfanden. Viele Jazzmusiker der Nachkriegsgeneration blieben also entweder Studenten oder vereinten das Spielen populärer Musik mit gelegentlichem Spiel von „modernem Jazz“ vor studentischem Publikum. Eine der wenigen Möglichkeiten für diese Musiker am Ende der 1950er-Jahre, die unsicheren Bedingungen der Birža und der Tanzabende zu kompensieren oder den Weg in die Sphäre legaler Musikproduktion zu gehen, war ein Patron.
5.1.3 Der Patron Das stark formalisierte politische System der Sowjetunion und seine starren, kaum über legale Mittel erfüllbaren Produktions- und Kulturpläne begünstigten Klientelbeziehungen, ja machten diese zu einem elementaren Bestandteil seines Funktionierens.92 Kulturschaffende im Allgemeinen, Musiker und Komponisten im Besonderen, stellten hier keine Ausnahme dar. Auch sie waren abhängig von politischen Unterstützern, die diese durch ihre persönlichen Netzwerke förderten, ihnen Stellen und Ressourcen verschafften und Zugang zu begehrten Musik- und Kunstpreisen eröffneten. Besonders die Nachkriegszeit, gemeinhin assoziiert mit dem Spätstalinismus, wurde für die „cultural bosses“ der Künstlerverbände zur Blütezeit, in der sie, wie nie zuvor, finanzielle und berufliche Macht konzentrieren konnten.93 Kiril Tomoff hat in seiner Studie zum sowjetischen Komponistenverband der Patronage und den Klientelbeziehungen aufgrund ihrer Funktionalität für die Musikproduktion viel Platz eingeräumt, da die offizielle Bürokratie und Institutionen, die Ressourcen verteilten, ihre Aufgaben nur ungenügend erfüllten94. Der 91 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 126. 92 Vgl. Lededeva, Alena: Russia’s Economy of Favours. Blat, Networking and Informal Exchange. Cambridge 1999. 93 Vgl. Tolz, ‚Cultural Bosses’ as Patrons and Clients. 94 Tomoff, Creative Union.
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sogenannte Barzilovič-Fall hat die Vorteile einer solch symbiotischen Beziehung für die Arbeit der Konzertorganisationen deutlich gemacht. Die „nicht-offiziellen Konzerte“ des Leiters der Mosėstrada schufen ein finanzielles Gewinnverhältnis zwischen Künstler, Organisator und Veranstalter, das den Staat als Begünstigten ausschloss. Funktion und Umfang eines solchen Patronageverhältnisses im Feld der Unterhaltungsmusik beschränkten sich für die Involvierten jedoch nicht nur auf rein finanzielle Aspekte. Für die Nachkriegsgeneration der sowjetischen Jazzmusiker spielten auch die nicht-monetären Vorteile von Patronagebeziehungen sowohl in der chancenreichen und unsicheren Zeit der Birža als auch für Wege in die Legalität eine wichtige Rolle. Neben dem Kulturministerium unterhielten zahlreiche andere kleinere staatliche Behörden Unterhaltungsorchester. Um eine legale Rechnungsführung zu gewährleisten, musste jeder Veranstalter, der ein Orchester engagierte, das Geld an eine entsprechende Dachorganisation zahlen, der das Orchester zugeordnet war. Vladimir Fejertags Orchester fand sich Mitte der 1950er in Leningrad mehrfach in der Lage, die vereinbarte Gage für einen inoffiziellen Auftritt nicht ausgezahlt zu bekommen. Der Direktor eines Klubs in der Novgorodskaja Ulica verweigerte nach einem Monat Bitten um Aufschub die Zahlung der Gage mit der Begründung, dass doch kaum Leute dagewesen wären und sich damit der Auftritt für den Veranstalter nicht gerechnet hätte.95 Fejertag hatte bereits im Herbst 1953 angefangen, musikalische Bekanntschaften im Leningrader Klub der Wasserversorgung zu knüpfen und ein eigenes Orchester zusammenzustellen, das auf Chalturas am Wochenende die „offensichtlich ausreichend großen Nachfrage für unsere naive Musik“96 bediente. Ein nötiges „Dach“ bot in Fejertags Fall die „Freiwillige Gesellschaft zur Unterstützung von Armee, Luftwaffe und Flotte“ DOSAAF („Dobrovol’noe obščestvo sodejstvija armii, aviacii i flotu“), deren Vertreterin Esfira Gubanova ihm versprach, dass sein Orchester „mit ihr nicht verlorengehen“97 werde. Ein nun zwischengeschalteter Mittelsmann („Zakazčik“) handelte alle Verträge zwischen Veranstaltern und Orchester aus und einer der Musiker holte am Ende der Woche das Geld in bar bei Frau Gobunova zu Hause ab. Ermittlungen der OBChSS beendeten nach wenigen Monaten diese Zusammenarbeit, in deren Folge auch die Leningrader Presse von illegaler Geschäftemacherei einzelner Mitglieder der DOSAAF berichtete.98 Administrative Maßnahmen, die auf Verstößen gegen sowjetisches Arbeitsrecht fußten, bekämpften jedoch nur zeitweilige Symptome, aber reduzierten langfristig nicht die Attraktivität solcher Alternativen. Ende der 95 Vgl. Fejertag, Ot Leningrada, S. 71. 96 Fejertag, Ot Leningrada, S. 69. 97 ebd. S. 72. 98 Vgl. ebd. S. 73.
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1950er-Jahre war die DOSAAF als Dach von Leningrader Orchestern wieder präsent.99 Fejertags Orchester wurde der Leningrader Abteilung für Musikensembles OMA zugewiesen, die für Musiker und Orchester durch die strengen Repertoirekontrollen und die niedrigen Löhne wenig attraktiv war, hier aber vom Vorgehen der Miliz gegen ihre inoffiziellen Marktkonkurrenten profitierte. Patronage- und Klientelbeziehungen spielten aber auch in den Konzertorganisationen eine wichtige Rolle und verwischten durch ihre verschiedenen Funktionen die Grenzen zwischen staatlichem Musikmarkt und musikalischer Schattenwirtschaft. Am Beispiel der sogenannten Alušta-Angelegenheit („Delo Alušta“) von 1959 lassen sich diese Verflechtungen, ihre Profiteure, aber auch die Relevanz der kulturpolitischen Rahmenbedingungen verdeutlichen, unter denen Patronage für das Spielen von Jazzmusik funktionierte und wo deren Grenzen lagen. Die im Laufe der administrativen Aufarbeitung des Skandals getätigten Untersuchungen erlauben einen Einblick in das Nebeneinander formalisierter und personalisierter Abhängigkeitsverhältnisse in der Abteilung für Musikensembles (OMA) der VGKO Leningrad. Die Dynamik, welche ein kleiner Konzertverriss des „Jungen Leningrader Estradaensembles“ in einer Lokalzeitung der Krim entfaltete, macht ebenfalls deutlich, welch ambivalenten Status Jazz als Musik innerhalb des offiziellen Konzertwesens Ende der 1950er-Jahre noch hatte. Am 24. Juli 1959 erschien in der Tageszeitung Leninskij Put des kleinen Kurorts Alušta im Süden der Krim ein Artikel zu dem für zwei Wochen dort gastierenden Leningrader Jazzorchester. „Ich kenne das Programm noch nicht“ schreibt der Autor, „habe aber Respekt vor dem Wort ‚Leningrad‘. Wir sind stolz auf Leningrad, die schöne Stadt, Stadt der hohen Kultur, der hohen Qualität ihrer Produktion, der so korrekt gesprochenen Sprache ihrer Einwohner. An all das denke ich mit Trauer und Entrüstung, als ich den Kursaal betrete“100 Der Autor kritisiert, dass die Besucher zum Hören des Konzertes und nicht zum Tanzen gekommen wären. Einige unter ihnen – junge, schlecht gekleidete Touristen – wurden von einer Komsomolpatrouille abgeführt. Deutlicher als das Spielen des Ensembles wird dessen Performance angegriffen: „Der Leningrader Jazz muss lernen, sich auf der Bühne zu benehmen. Ein nicht enden wollendes Strampeln der Beine des Bassisten oder das Herausstrecken der Zunge während irgendeines wilden Lächelns des Schlagzeugers zeichnen wohl kaum ein wahres Orchester aus. Die Unverschämtheit der Musiker spürt das Tanzpublikum genau.“101 In Folge des Artikels ordnete die lokale Kulturverwaltung auf Basis von Aussagen teilnehmender Musiker und 99 Vgl. Stenografischer Bericht der XIII. Leningrader Stadtkonferenz des VLKSM vom 11./12.01.1958, CGAIPD SPb, f.881, op.11, d.67, l.1–240, hier l.41. 100 Tarasok, M.: Über das Jazzorchester im Kursaal, in: Leninskij Put’, 24.07.1959. 101 ebd.
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anderer Mitarbeiter eine Untersuchung der Konzerte an, die im Februar des darauffolgenden Jahres ihren Bericht vorlegte. Die zentralen Figuren der Geschehnisse waren der Leiter der OMA Leningrad A. Bičul’ und der Orchesterleiter Grigorij Nisman. Als gesichert gilt, dass das Leningrader Kulturhaus „Erster Fünfjahresplan“ während der Sommermonate 1959 aufgrund von Umbauarbeiten geschlossen wurde und damit Nismans Orchester ohne Beschäftigung dastand. Dessen Leiter wandte sich an Bičul’ mit der Bitte „um eine Anstellung in den Kurorten des Südens“102. Da zwischen OMA Leningrad und der Kurverwaltung der Krim keine formalisierten Verwaltungsbeziehungen bestanden, war die erste Anfrage Bičul’s nicht erfolgreich. Alternativ bot Nisman an, selbst ein Orchester aus Musikern seines eigenen Ensembles und des erfolgreichen Estradaensembles von Iosif Vajnštejn zusammenzustellen und fragte dafür in einem persönlichen Telegramm bei der Kulturverwaltung von Alušta an. Bičul’ erteilte dafür die Genehmigung und Nisman reiste, ohne vorher ein Programm fertiggestellt zu haben oder durch eine Kommission prüfen zu lassen, nach Alušta, wo das Orchester unter dem Namen „Junges Leningrader Estradaorchester“ eine Reihe von Konzerten gab, bis der oben erwähnte Zeitungsartikel erschien. Als Gegenleistung für die Genehmigung, eigenständig ein Orchester zusammenzustellen, organisierte Nisman für die Frau und die zwei Töchter Bičul’s begehrte Ferienplätze in Alušta. In Folge des Artikels richtete die örtliche Kulturverwaltung eine Untersuchungskommission ein. Die OBChSS ermittelte darüber hinaus, ob die Beziehungen zwischen Nisman und Bičul’ als „korruptes Verhalten“ qualifiziert werden könnten.103 Im Oktober begann die Parteiorganisation der Leningrader Abteilung der VGKO, die beteiligten Musiker zu befragen.104 Im Februar 1960 tagte eine vom Parteibüro der OMA eingesetzte Untersuchungskommission, die versuchte, die Vorgänge zu rekonstruieren und zu bewerten, wofür erneut Erklärungen der beteiligten Musiker eingeholt wurden. Im März schließlich erhielt Bičul’ auf der Versammlung der Parteibüros der OMA nach langer Diskussion einen Verweis mit Eintrag in die Personalakte, ohne jedoch seinen Posten als Leiter der OMA zu verlieren.105 Aus den verschiedenen Erklärungen der Musiker zum Fall und den Diskussionen der Kommission wird deutlich, dass Bičul’ als Patron für Estradaund Jazzmusiker attraktiv war. Diese Wechselbeziehungen jedoch erzeugten bei 102 Untersuchungsbericht der Kommission der Basisparteiorganisation, o. D., CGAIPD SPb, f.771, op.6, d.14, l.89–92, hier l.89. 103 Vgl. Erklärung der beschuldigten Musiker vom 06.02.1960, CGAIPD SPb, f.771, op.6, d.14, l.93–94, hier l.93. 104 Vgl. Schreiben der Studentin des Konservatoriums L. A. Boldyreva vom 07.02.1960, CGAIPD SPb, f.771, op.6, d.14, l.95. 105 Vgl. Protokoll des Parteibüros der Leningrader Abteilung der VGKO vom 11.03.1960, CGAIPD SPb, f.771, op.6, d.14, l.79–85, hier l.84.
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von ihm abhängigen Musikern ohne diese Patronage Neid und Widerstand. Unter dem Druck der Parteiöffentlichkeit nutzten eine Reihe von jungen Musikern und Orchesterleitern ihre Erklärungen und die Bühne der Versammlungen für einen Versuch der Demontage Bičul’s, der als Leiter der OMA Berufswege von Absolventen des Konservatoriums genauso bestimmen konnte, wie er den langfristigen Erfolg von Orchesterleitern beeinflusste. Die südlichen Ferienorte waren für sowjetische Unterhaltungsmusiker ein attraktives Reiseziel, an dem sich die Chance auf Erholung, Exotik und die Möglichkeit zu hohen Gagen zu verbinden schienen. Der Jazzpianist Michail Kull’ tourte als Amateurmusiker im Sommer 1957 an der Schwarzmeerküste und auf der Krim und berichtet von großzügiger Bezahlung und laxen Kontrollen der Musik in den Restaurants.106 Der Zeitungsartikel verweist, wenn auch in überspitzer Form, auf ein scheinbar offensichtliches Jazzrepertoire, das ein Teil der Besucher sogar als Konzert- und nicht als Tanzmusik rezipierte. Neben typischen populären Estradastücken, die den Touristen in den Restaurants und Konzerthallen der Erholungsorte geboten wurden, konnte die unter Nismans Leitung aus zwei Orchestern zusammengewürfelte Truppe ein Programm ohne vorherige Kontrolle durch die Leningrader Organisation erarbeiten und dort spielen. Attraktiv für die jungen Musiker war außerdem die Barauszahlung des Gehalts direkt aus der Hand von Nisman. Aus den Berichten der Kommission und des Parteibüros wird deutlich, dass Nisman Musiker nicht nur häufig bar bezahlte und dabei Gelder zweckentfremdete, sondern auch kurzfristig Musiker einstellte, ohne diese den vorherigen Kontrollen der OMA zu unterwerfen.107 Diese, durch die schützende Hand des Leiters der OMA, Bičul, ermöglichten Arbeitsbedingungen im Orchester von Nisman machten es auch möglich, für beginnende Musiker mit Zweitvertrag („Sovmestitel’stvo“) relativ hohe Gehälter zu erwirtschaften. Ein Erklärungsschreiben des Dirigenten Bykov verweist auf ein mitgehörtes Gespräch, nach dem Nismans Musiker 200 Rubel im Monat verdienen würden.108 Die Positionen der Orchestermusiker stehen zu diesen Erfahrungen oder dem musikalischen Programm dabei nicht im Widerspruch. Die sieben vor die Kommission zitierten und durch eigene Erklärung präsenten Musiker waren Mitglieder der OMA, auf die, so legt die Chiffre der „besseren erzieherischen Arbeit unter jungen Musikern“ nahe, seit dem Ende des Sommers großer Druck ausgeübt wurde. Bereits in der Sitzung des Parteibüros vom 20.1.1960 wurde darauf hingewiesen, besser auf Aussehen und Erscheinungsbild junger Künstler achtzugeben, „welche 106 Vgl. Kull’, Stupeni, S. 44. 107 Vgl. Erklärung der beschuldigten Musiker vom 06.02.1960. 108 Vgl. Erklärungsschrieben des Dirigenten N. A. Bykov an den Leiter der OMA, Genossen A. A. Bičul’ vom 07.02.1960, CGAIPD SPb, f.771, op.6, d.14, l.98.
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die elementaren Gesetze der Bühne nicht kennen und sehr schlampig in ihren Bühnenkostümen, Schuhen und Frisuren erscheinen. Nicht selten sündigen so unsere über einen Zweitvertrag Angestellten, die mit ihrer Arbeit auf der Estrada verbunden sind, wie zur Chaltura für Geld.“109 Die betroffenen Musiker wiederum versuchten in den Erklärungsschreiben, die Schuld auf Bičul’ und Nisman abzuwälzen und betonten die eigene „Ahnungslosigkeit“ bei der Teilnahme an der Aluštareise.110 Hinter den einzelnen Vorwürfen, die durch die Musiker erhoben wurden, steht aber auch der Frust über Bičul’s Macht über den Zugang zum Arbeitsmarkt. Eine Studentin des Leningrader Konservatoriums schrieb, schon von ihren Freunden und Bekannten gehört zu haben, dass Bičul’ „eine Art Zar und Gott“111 sei, mit dem man sich gut zu stellen habe und ohne den niemand Arbeit bekäme. Während der kurzen Zeit, die sie mit ihm gemeinsam im Leningrader Haus der Offiziere gearbeitet habe, erschien er ihr als vulgärer und ständig betrunkener Mensch, der offen seine Macht ausspielte. Mit eben jener wurde Boldyreva jäh konfrontiert, als Bičul’ von ihrer ersten schriftlichen Aussage über die Alušta-Angelegenheit im Oktober erfuhr und sie am nächsten Tag entgegen den Bitten des Orchesterleiters entließ.112 Am Ende ihrer Erklärung fordert Boldyreva eine Verbesserung der Situation auch im Namen anderer Studenten des Konservatoriums, die zukünftig zur Arbeit in die OMA kommen. Bičul’ diffamiert sie hier als ungebildeten und rückständigen Menschen, der in „der Zeit des Aufbaus des Kommunismus“ in der Partei nichts mehr zu suchen hätte.113 In diesem Licht gesehen lässt sich der Konflikt um Bičul’ auch als Frage nach Ausbildung und musikalischer Herkunft junger Musiker lesen. Boldyreva ergriff hier Partei für die Gruppe der Konservatoriumsabgänger und berichtete über die demütigende Behandlung durch Bičul’, der sie vor der ersten Probe aufforderte, „ihre Zähne zu zeigen“114. Diese mögliche Abneigung Bičul’s gegenüber klassisch ausgebildeten Musikern ergänzt sich durch seine teils willkürliche Tarifizierungspraxis gegenüber Neueinsteigern aus der Laientätigkeit und die Art und Weise, wie er deren Einstellung auch gegen die Kritik innerhalb des Parteibüros verteidigte: „Junge Orchester, die aus der künstlerischen Laientätigkeit zu uns gekommen sind (Vajsbuch, Markov und Speranskij) sind doch gewachsen“115. Bičul’ bevorzugte bei der Rekrutierung von Nachwuchsmusikern im Estrada- und Jazzbereich erfahrene Musiker ohne klassische Ausbildung gegenüber Abgängern 109 Vgl. Protokoll des Parteibüros der Leningrader Abteilung der VGKO vom 20.01.1960, CGAIPD SPb, f.771, op.6, d.14, l.55. 110 Vgl. Schreiben L. A. Boldyreva, l.95. 111 ebd. 112 Vgl. ebd. 113 Vgl. ebd. l.96–97. 114 ebd. l.95. 115 Protokoll des Parteibüros der Leningrader Abteilung der VGKO vom 11.03.1960, l.81.
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des Konservatoriums, die zwar technisch und theoretisch besser ausgebildet waren, jedoch keine Erfahrung mit dem Genre der Estrada hatten. Der Konflikt um Bičul’ lässt aber auch erkennen, dass nicht nur die Macht über Posten und Bezahlung, sondern auch ästhetische Fragen in den Patronagebeziehungen und ihrer Gegnerschaft eine wichtige Rolle spielten. In seiner Verteidigung im Parteibüro sieht Bičul’ hinter den meisten Vorwürfen der Musiker Rache als Ursache: „Die Wurzel des Zerwürfnisses liegt in der Tatsache meiner Ablehnung der Unterstützung der Vorbereitung eines Programms mit amerikanischer Musik durch Vajnštejn.“116 Iosif Vajnštejn, geboren 1918 in der Ukraine, war mit seiner Familie während der Hungersnot 1932 zuerst nach Moskau, dann nach Leningrad migriert, wo er 1941 die Muzorskij-Musikschule als Trompeter abschloss. Nach dem Krieg, den er als Kapellmeister eines Militärorchesters auf der Marinebasis Kronstadt verbrachte, arbeitete er als Leiter verschiedener Restaurantorchester in Leningrad und schloss 1952 die Fakultät für Militärdirigenten des Konservatoriums ab. Zwischen 1952 und 1954 saß Vajnštejn wegen „falscher Anschuldigungen“117 im Lager und gründete 1955 nach seiner Rückkehr nach Leningrad ein neues Estradaorchester im Rahmen der Lenėstrada. Er begann 1958, sein Orchester grundlegend umzustellen und engagierte in den nächsten zwei Jahren viele der jungen Jazzmusiker, die den Leningrader und sowjetischen Jazz in den nächsten Jahrzehnten prägen sollten, wie den Saxofonist Gennadij Gol’štejn, den Multiinstrumentalist David Gološčekin und den Trompeter Konstantin Nosov. Mit der großzügigen Ausstellung von Genehmigungsschreiben für eine Nebentätigkeit bot er diesen die Möglichkeit, erstmals ein reguläres Einkommen durch Jazz zu erwirtschaften.118 Mit deren durchaus riskanter Einstellung eröffnete er ihnen den Schritt in eine legale musikalische Tätigkeit und überließ Gol’štejn und Nosov sogar nach kurzer Zeit die künstlerische Leitung. Bereits 1959 gelang es, erste Schallplattenaufnahmen seines Orchesters umzusetzen, das sich im weiteren Verlauf der 1960er- und 70er-Jahre die Reputation einer Jazz Big Band erwarb. Vajnštejns Stärken lagen weniger im musikalischen Talent als im Erkennen desselben und dem Schutz talentierter Personen.119 Gennadij Gol’štejn beschrieb Vajnštejn mit Bezug auf sein Organisationstalent und den geschickten Umgang mit der Partei als „Mischung aus Machiavelli und Aleksandr Matrosov“120, der klug mit der Nomenklatura umzugehen wusste und den Musikern im Orchester alle Freiräume 116 ebd. 117 Vgl. Sidel’nikova, Natalja: Iosif Vajnštejn – bliskie radosti, in: Jazz Kvadrat, 26.03.1998, [http:// jazzquad.ru/index.pl?act=PRODUCT&id=296, letzter Zugriff: 27.04.2018]. 118 Fejertag, Dialog, S. 66–67. 119 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 213. 120 Sacharov, Gennadij: Gennadij Gol’štejn: ‚Bog razberetsja’, in: Kirill Moškov/Anna, Filip’eva (Hg.), Rossijskij Džaz, 2 Bde., St. Petersburg 2013, Bd. 1, S. 417–431, hier S. 420.
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ließ. Seine Begabung, Musiker anzuwerben und mit alternativen Stellen zu versorgen, hatte er bereits unter Beweis gestellt, als er die verbleibenden Musiker eines Mitte der 1950er-Jahre aufgelösten Jazzorchesters übernahm.121 Vajnštejn fungierte somit selbst als Patron. Auch die Alušta-Angelegenheit fügt sich in diese Strategie ein – Vajnštejn gelang es offensichtlich, einige seiner Musiker in Nismans zusammengestelltem Orchester zu platzieren und ihnen so ein Sommerengagement zu verschaffen. Einige der Musiker der oben zitierten Erklärung, wie Gennadij Gol’štejn, Jaroslav Jansa und Žorž Fridman, lassen sich dessen Orchester zuordnen.122 Vajnštejn wurde auch selbst aktiv, als er in Anhörungen des Parteibüros Vorwürfe gegen Tudorovskij, den künstlerischen Leiter der OMA erhob, der im „betrunkenen Zustand zur Arbeit erschien“123 und Bičul’s Verhalten als „respektlos“ bezeichnete. Darüber hinaus regte er Untersuchungen über Bičul’s Gehalt, seine Ausübung mehrerer Ämter, die Tarifizierung von eingeladenen Zweitarbeitern an und forderte, die Einstellung nicht geeigneter Personen in sein eigenes Orchester zu prüfen.124 Bičul’ hatte gegen Vajnštejns Willen mehrere Musiker dessen Orchester zugeteilt. Inwieweit dies ein Versuch der Einflussnahme auf die starke Jazzausrichtung des Orchesters war, oder ob Bičul’ hier selbst Musiker mit Stellen versorgte, kann nicht abschließend geklärt werden. Für eine Lesart des Konflikts, die der durch Bičul’ bedrohten personellen und künstlerischen Autonomie von Vajnštejns Orchester Gewicht einräumt, spricht auch ein Erlass des Leiters der OMA vom 10. Januar 1960.125 Der handschriftlich an Vajštejn addressierte Erlass regelt sehr detailliert Modalitäten zur Änderung von Repertoires der Orchester und stellt eine Reihe von Verhaltensregeln für die Orchester während des Auftritts auf. Es wird festgeschrieben, das Änderungen und neue Programme einen Monat vor Aufführung einer Kommission vorgelegt werden müssen, der der Direktor der OMA (in diesem Fall Bičul’), ein Mitglied des Künstlerrates, ein anderer Orchesterleiter und der Leiter für Balltänze angehören.126 Der zweite Teil des Erlasses zielt auf eine stärkere Regulierung des Bühnenverhaltens der Orchester, dessen Lieder nach Tempo und Länge bereits vorher festgelegt werden und dessen Musiker nicht miteinander oder mit dem Publikum sprechen dürfen.127 Geht man davon aus, das Bičul’ als Leiter der OMA diesen Erlass initiiert hat, so werden auch strategische Motive wahrscheinlich. Durch
121 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 213. 122 Vgl. Sidel’nikova, Vajnštejn. 123 Protokoll 10.03.1960, l.80. 124 Vgl. ebd. 125 Vgl. Erlass Nr. 4 der OMA Leningrad vom 10.01.1960, CGAIPD SPb, f.771, op.6, d.14, l. 102–103. 126 Vgl. ebd. 127 Vgl. ebd., l.103.
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das Demonstrieren von Entschlossenheit gegenüber Repertoire- und Performanceverstößen erhoffte sich dieser möglichweise einen positiven Einfluss auf das gegen ihn gerichtete Untersuchungsverfahren. Vajštejns Orchester konnte mit der Schallplattenproduktion 1959 und meist ausverkauften Häusern finanzielle Erfolge nachweisen, aber nicht die ideologischen Zweifel zerstreuen, wie nach dessen Auftritt auf dem IV. Plenum des Komponistenverbandes im November 1962 deutlich wurde. Auch die Mitglieder der Kommission und des Parteibüros gingen in ihrer Einschätzung dieser Gegnerschaft auseinander. Zumindest ein Teil deutete die Anschuldigungen gegen Bičul’ als Komplott von Vajnštejn. Das Mitglied Lozovskij bezeichnete den Brief der Studentin Boldyreva als „fabriziert durch eine Gruppe von Personen unter der Leitung von Vajnštejn“128. Für den Genossen Rubanenko ergab sich aus der Aufarbeitung der Kommission, „dass dies alles von Vajnštejn inszeniert wurde“. Obwohl Vajnštejn und sein Orchester auch in den 1960er-Jahren noch mehrfach in die Kritik der städtischen und landesweiten Presse geriet, stabilisierte sich sein Status im kulturellen Gefüge Leningrads. Ihm blieb die wachsende indirekte Unterstützung der Leningrader Parteieliten, für die Vajnštejns Orchester ein Aushängeschild der Leningrader Kultur gegenüber der dominanten Moskauer Kultur geworden war.129
5.1.4 Fazit Am Beispiel der Birža konnte gezeigt werden, in welch komplementärem Verhältnis die musikalische Schattenwirtschaft zum sowjetischen Konzertwesen stand. Beide zusammen formten den sowjetischen Musikmarkt nach Stalin. Solche inoffiziellen Mechanismen zur Vermittlung von Künstlern existierten auch in anderen Sphären der Kunst wie dem Theater, in welchem der sowjetische Staat den Anspruch erhob, Evaluation, Bezahlung und Vermittlung von Künstlern an kulturelle Einrichtungen zu monopolisieren. Die Birža, die seit den 1920er-Jahren in unterschiedlichen Formen existierte, entlastete das Konzertwesen in organisatorischer und materieller Hinsicht, erzeugte aber auch Konkurrenz. Sie funktionierte zunächst als ergänzendes Netzwerk zur materiellen Absicherung von Musikern, die entweder aufgrund einer geringen Tarifizierung nicht genug Geld verdienen konnten oder aber überhaupt keine Einstufung erhielten. Diese soziale Pufferfunktion gewann besonders im Zuge der Reform des Konzertwesens von 1956 an Relevanz. Hier wurde eine große Zahl von Musikern entlassen oder niedriger eingestuft.
128 Vgl. Protokoll 11.03.1960, l.82. 129 Vgl. Fejertag, Dialog, S. 92.
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Gleichzeitig stellte die Birža eine attraktive Alternative dar, die für Musiker der dritten und vierten Kategorie, aber auch Außenstehende, mehr Geld und weniger Reglementierung des Repertoires versprach. Die vor dem Büro der jeweiligen städtischen Konzertorganisation stattfindende „Börse“ war aber auch ein Rekrutierungspool für neue Musiker, die dort bereits Spielpraxis vermittelt bekommen hatten und mehr Erfahrung aufwiesen als Absolventen der staatlichen Konservatorien, in deren Curriculum Unterhaltungsmusik als zweitrangige Musikform kein Platz eingeräumt wurde. Die Tatsache, dass nicht nur die Mehrzahl der sowjetischen Jazzmusiker der 1960er- und 1970er-Jahre die Birža als erste Etappe ihrer Karriere durchliefen, sondern auch zahlreiche, später in der Unterhaltungsmusik erfolgreiche Komponisten wie Jurij Saul’skij oder Jan Frenkel zeigt, dass der sowjetische Musikmarkt im Bereich der „Darstellung“ und der „Bewertung“ von Musik von der musikalischen Schattenwirtschaft profitierte. Die Biografie von Leonid Geller zeigt exemplarisch, wie eng offizielle und inoffizielle Musikwirtschaft miteinander verwoben waren. Gellers Nachkriegsorchester im Restaurant des Hotels National beschäftigte den talentierten und damals noch vollkommen unbekannten Jurij Saul’skij.130 Gellers Talent erleichterte ihm den Weg in die offizielle Sphäre. Ab den 1960er-Jahren galt er als Musiker der MOMA in zahlreichen Luxusrestaurants besonders bei ausländischen Besuchern als musikalischer Geheimtipp.131 Die Birža entlastete darüber hinaus die Konzertorganisationen bei der Gestaltung einer breitflächigen „Befriedigung der kulturellen Bedürfnisse“, wie sie von Partei und Kulturministerium immer wieder eingefordert wurde. Birža-Musiker traten dort auf, wohin Konzertorganisationen Orchester und Solisten nicht in ausreichender Zahl oder schnell genug senden konnten oder wo schlichtweg das Geld fehlte. Auch wenn die Konzertorganisation und das Kulturministerium immer wieder versuchte, gegen die Organisation illegaler Konzerte und die Arbeit „wilder Brigaden“ vorzugehen, blieb dieses Vorgehen inkonsistent und schien eher von der unregelmäßigen Skandalisierung solcher Fälle durch die Presse und Partei bestimmt gewesen zu sein als durch ein systematisches Konzept. Mit der Ausweitung des „außerplanmäßigen Budgets“ der Konzertorganisationen im Zuge der Reformen des Konzertwesens eröffnete das Kulturministerium die Möglichkeit, schneller und flexibler zu planen und Orchester auf Basis von „Zweitverträgen“ operativer zusammenstellen und einsetzen zu können. Von dieser Möglichkeit, Gelder flexibler einsetzen zu können, profitierten vor allem Musiker der Birža. In stetiger Regelmäßigkeit kritisierte das Kulturministerium die laxe Einstellungspolitik, die musikalisches Können und guten Geschmack der Musiker ignoriere. 130 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 172. 131 Vgl. Maročkin, Vladimir: Povsedhenvnaja žizn’ rossijskogo rokera – Restorannyj rok-n-roll, [http://marochkin.livejournal.com/130990.html, letzter Zugriff: 27.04.2018].
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Als das Ministerium 1962 schließlich gegen die ausufernden Summen des Budgets einschritt, entzog es den Konzertorganisationen damit gleichzeitig die Möglichkeit, einen Teil der florierenden musikalischen Schattenwirtschaft in das offizielle System zu integrieren.132 Die Kürzungen des außerplanmäßigen Budgets führten zu einem Scheitern der Bemühungen, die zahlreichen studentischen Orchester zu übernehmen, die zu diesem Zeitpunkt häufig nicht mehr umsonst auftraten und mit ihrer Musik Geld verdienen wollten und konnten. Die wechselseitige Abhängigkeit von offiziellem Musikmarkt und Schattenwirtschaft erkannten Beobachter auch daran, dass sich die Birža in den 1950er- und 1960er-Jahren zu einer zeitlich begrenzten Form von Öffentlichkeit entwickeln konnte. Hinter der augenscheinlichen staatlichen Tolerierung einer wöchentlichen und öffentlichen Versammlung von mehreren hundert Menschen auf einer Straße vor dem jeweiligen Gebäude der städtischen Konzertorganisation verbarg sich nicht nur die Möglichkeit eines besseren Überblicks des Milieus durch den Geheimdienst. Es war gleichzeitig ein Zugeständnis an Restaurant- und Klubleiter, denen über offizielle Kanäle kein Orchester vermittelt werden konnte. Die Birža fügt sich nicht eindeutig in die von Malte Rolf und Gabor Rittersporn entwickelte Typologie von der sowjetischen Ordnung von Öffentlichkeiten.133 Zu keinem Zeitpunkt funktionierte sie als Gegenöffentlichkeit, da deren Mitglieder sich nicht dezidiert gegenüber Staat und Partei positionierten, sondern vielmehr an kultureller Tätigkeit innerhalb der offiziellen staatlichen Ordnung interessiert waren. Eher greift hier das Konzept der Verbandsöffentlichkeit, da sich auf der Birža die Vertreter der Berufsgruppe Musiker trafen und spezifische Probleme verhandelten, dies jedoch weder unter Moderation der Partei, noch unter Ausschluss der städtischen Öffentlichkeit taten. Zur Birža gehörte auch ein berufsspezifisches Segment des Schwarzmarktes, das Musiker mit Instrumenten, Ersatzteilen, Noten und Schallplatten versorgte. Besonders auf Jugendliche übte diese Institution durch spezifische Verhaltensmuster, Codes und Sprache eine starke Attraktivität aus. In diesem Sinne nahm die Birža eine Entwicklung der 1970er-Jahre vorweg, die Elena Zdravomyslova als „informal public spheres“ am Beispiel des Leningrader Cafés „Saigon“ beschrieben hat.134 Zahlreiche Besucher, die Musik hier nicht aus Motiven des kulturellen Sendungsbewusstseins oder Gelderwerbs betrieben, sondern als Hobby und soziale Aktivität mit Freunden, nahmen damit eine distanzierte Haltung zum Paradigma der „gesellschaftlich nützlichen Arbeit“ ein, die für diese Sphäre typisch war. 132 Vgl. o. A.: Der Sputnik hat es nicht in den Orbit geschafft, in: Smena, 29.03.1962. 133 Vgl. Behrends/Rittersporn/Rolf, Von Schichten, Räumen und Sphären. 134 Vgl. Zdravomyslova, Elena: Leningrad’s Saigon. A Space of Negative Freedom, in: Russian Studies in History 50 (2011), S. 19–43.
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Für die Jazzmusiker der 1930er-Generation bedeuteten die Birža und die mit ihr verbundenen Tanzabende einen Einstieg in die Sphäre der Unterhaltungsmusik, der über offizielle Ausbildungswege nicht möglich gewesen wäre. Im Kontakt und Austausch mit Estradamusikern älterer Generationen erarbeiteten sich Musiker wie Aleksej Kozlov und Valerij Ponomarev die spielerischen Grundlagen für Saxofon, Trompete oder Kontrabass, die im Netz der sowjetischen Musikschulen nur wenig vermittelt wurden. Für den Aneignungsprozess des amerikanischen Jazzidioms war dies die Grundlage, da sich erst mit diesen Fähigkeiten mühsam transkribierte amerikanische Jazzstücke spielen ließen. Der Austausch mit Vorkriegsmusikern und das gemeinsame Bestreiten von Tanzabenden förderte bei den 18- bis 25-jährigen Nachwuchsmusikern zudem die Fähigkeit des Zusammenspiels in kleinen Besetzungen, dem das jazzspezifische Konzept der Improvisation als Zwang schon innewohnte. Diese Form von Improvisation leitete sich hier weniger aus einem ästhetisch formulierten kunstmusikalischen Anspruch her. Sie entstand eher aus einer defizitären musikalischen Situation, in der Musiker mit wenigen oder keinen Fähigkeiten zum Notenlesen aufeinandertrafen und vor einem unterhaltungsorientierten Publikum trotz unterschiedlichen musikalischen Könnens eine Reihe von populären Standards beliebig oft reproduzieren mussten. Neben den kleinen Zusatzverdiensten ermöglichte ein Auftritt bei einer Chaltura für den einzelnen Musiker eine Form des reflektierten Lernens.135 Dieser musikalische und soziale Mikrokosmos prägte das Milieu der Jazzmusiker aber auch über die Musik hinaus. Neben einer gemeinschaftlichen Identität, die besonders auf sowjetische und vorsowjetische Sprache, Humor und Anekdoten rekurrierte, gewannen die Protagonisten hier gemeinsame Vorstellungen über kulturelle Hierarchien, die aus ihrer Erfahrung mit der Unterhaltung der „einfachen Leute“ herrührten. Dem idealisierten amerikanischen Jazzidiom mit dem starken Schwerpunkt auf gemeinsamer Improvisation standen nicht nur im Stalinismus sozialisierte Vertreter der Partei negativ gegenüber, sondern auch breite Teile der Bevölkerung, die an einem Tanzabend unterhalten werden und eben tanzen wollten. Die häufig ablehnende Reaktion des Publikums auf Jazzstücke westlicher Couleur, die Abhängigkeit der Restaurantensembles von zahlungskräftigen Kunden, aber auch alkoholisierte Gäste, Schlägereien und Gewalt wurden zu Erfahrungen, die der Idee einer künstlerisch wertvollen Musik, wie sie die Jazzenthusiasten zu konstruieren begannen, entgegenstand. Auch wenn die Chaltura in ironischer Absicht sprachlich angeeignet und umgedeutet wurde, boten Birža und Tanzabende ab dem Ende der 1950er-Jahre für viele Vertreter nicht mehr das geeignete Umfeld. Einen Konsens zwischen Partei und Bevölkerung in der Ablehnung von instrumentalem Jazz herzustellen, gelang weniger über den abstrakten Vorwurf, politische Musik 135 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 125.
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des Klassenfeindes zu sein, als über seine Degradierung zur schlechten Musik, die von mittelmäßigen Musikern für einfach verdientes Geld gespielt wurde. Mit wachsendem Anspruch der Musiker und ihres Selbstverständnisses führte der Weg aus der Chaltura über das Betonen von Professionalismus und eine Form von Zukunftsorientierung, für die der Jazz gegenüber der populären, aber nostalgischen russischen Romanze stand. Wie stark die in diesem Zeitraum entstandenen hierarchischen Kulturvorstellungen reichen, zeigt sich in der Historisierung dieser Phase durch die Zeitgenossen selbst: Es war die Zeit zahlloser weiterer Tanzorchester mit sehr buntem Repertoire und unbeständiger Besetzung – Ensembles entstanden spontan und zerfielen schnell wieder. Es lohnt kaum über irgendwelche stilistischen Unterschiede von ähnlichen Ensembles zu sprechen. Die Mehrheit von ihnen hatte an sich keinerlei künstlerische Ansprüche gestellt. Das war entweder eine Form von Zusatzverdienst oder der Mode geschuldet (…). Einige wirklich begabte Leute jedoch versanken über der gespielten Musik in Gedanken, empfanden tiefe Inspiration durch das gemeinsame Schaffen. Sie mussten fühlen, wie ihre Emotionen zu den Leuten übertragen wurden, sie entzündeten, sie zum Zuhören und nicht nur zum Tanzen zwangen. Dieses Gefühl gebar den Gedanken, dass Jazz ernste Musik ist, die große Inhalte in sich trägt.136
Sergej Beličenko überhöht in dieser Passage seiner Monografie zum Jazz in Novosibirsk das Wirken der Jazzenthusiasten in der Zeit der Birža zu einem genuin kreativen Akt. Dabei konstruiert er eine Polarität zwischen inhaltsreicher, emotional authentischer Musik auf der einen und oberflächlicher und anspruchsloser Musik auf der anderen Seite. Diese Polarität erscheint als ein typisches Narrativ, mit dem seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts verschiedenste Skeptiker und Gegner der Massenkultur die Unterschiede zur Hoch- oder Volkskultur charakterisierten. Es findet sich in ähnlicher Form auch in den offiziellen sowjetischen Deutungsempfehlungen zur westlichen Massenkultur.137 Dies zeigt, dass Vertreter der später als Šestidesjatniki bezeichneten Generation trotz ostentativer Distanz zum sowjetischen System verschiedenartig in dessen Sprache („große Inhalte in sich tragen“) und zentralen Deutungskategorien sozialer Realität verhaftet blieben.138 Nicht zuletzt die soziale Herkunft und der Bildungsgrad spielten bei der langsamen Separierung dieser Gruppe von Musikern aus dem Milieu der Birža eine 136 Beličenko, Sinkopy, S. 75. 137 Vgl. dazu Art. „Massenkultur“, Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. 3. Aufl., Moskau 1969–1978, 30 Bde. 138 Vgl. Rolf, Malte: Kanon und Gegenkanon: Offizielle Kultur und ihre Inversion in der UdSSR, in: Osteuropa 60 (2010), S. 173–189.
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wichtige Rolle. Die Loslösung von den als Labuchi bezeichneten freien Musikern der älteren Generation ging einher mit einem wachsenden elitären Bewusstsein, dass besonders auf bestimmte klangliche Attribute und das Konzept der Improvisation projiziert wurde, dem die Mehrzahl der älteren Musiker wie auch breite Teile der Bevölkerung ablehnend gegenüberstanden. Kozlov suchte im Umfeld der Birža ständig die wenigen Musiker, die den typisch amerikanischen Sound spielen konnten, den er als „firmennyj“ bezeichnet. Während ein Großteil der Musiker über einen einfachen oder mittleren Schulabschluss verfügte, nahm die Mehrzahl der Jazzenthusiasten in den 1950er-Jahren ein meist technisch-naturwissenschaftliches Studium auf. Ein Publikum, das ihre Musik und die damit assoziierte Leistung zu würdigen wusste, fanden die Musiker selten auf allgemeinen Tanzabenden, sondern zunehmend in universitären Instituten und Forschungseinrichtungen. Durch diese Abende verstetigte sich die Ansicht, sowjetischer Jazz sei Musik, die von progressiven und kultivierten Schichten entwickelt worden sei. Nur durch diese Positionierung zwischen parteilicher Reglementierung und vermeintlicher Ignoranz der breiten Masse war es möglich, dass Sergej Beličenko einerseits dem Jazz „demokratische Assoziationen“139 zuspricht, während Kozlov schon 1962 zu dem Ergebnis kam, dass die Idee, „Kultur zu den Massen zu tragen“, eine „Illusion“140 sei. Das höchst unsichere Umfeld der musikalischen Schattenwirtschaft wertete die Rolle personalisierter Beziehungen auf. Innerhalb eines Marktes, der für die Akteure hohe Gewinne abwerfen konnte, dessen Zugang und Inhalte jedoch durch das staatliche Konzertsystem und die Zensur stark reguliert wurden, stellten Patronagebeziehungen auch für Unterhaltungsmusiker eine wichtige Ressource dar. Die Reform des Konzertwesens und die Neutarifizierung aller Künstler bis Ende der 1950er-Jahre erzeugte eine massive Fluktuation von Personal und Unsicherheit im Erwartungshorizont der Akteure. Die staatlich geförderte Ausweitung der künstlerischen Laientätigkeit in den 1950er-Jahren vergrößerte das Heer von für die Konzertorganisationen potentiell interessanten Musikern. Diese erhielten durch die Ausweitung der Mittel des „außerplanmäßigen Budgets“ größere Chance für eine temporäre Anstellung. Das an einem Tag in der Presse positiv rezensierte Programm eines kleinen Estradaorchesters wiederum, in dem Jazzelemente mit nationalen Melodien verbunden wurden, konnte abhängig von der politischen Großwetterlage am nächsten Tag als „vulgäre Entstellung“ diffamiert werden. Verschiedene Akteure konnten für die jungen Jazzmusiker als Patron fungieren. Die Vertreterin der DOSAAF Leningrad garantierte für das Jazzorchester von Vladimir Fejertag das institutionelle Dach und ein Minimum an Rechtssicherheit, um vereinbarte Gagen zu erhalten. Im weitesten Sinne erscheinen auch Orchesterleiter 139 Vgl. Beličenko, Sinkopy, S. 176. 140 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 167.
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aus dem Bereich der Birža, wie Geller, als Patrone, über welche illegale aber gut dotierte Engagements in Restaurants möglich wurden. Der Fall Bičul’ verdeutlicht wiederum, dass Patronagebeziehungen auch Wege aus der Schattenwirtschaft weisen konnten. Als Leiter der Leningrader Konzertorganisation schöpfte Bičul’ seine Kompetenzen weit aus, um für den Estradamarkt geeignete Musiker zu rekrutieren. Dass hier häufig nicht klassisch geschulten, aber wohl musikalisch geeigneten Kandidaten aus der Welt der Birža und künstlerischen Selbsttätigkeit der Vorzug gegeben wurde, erzeugte Proteste von Seiten der Absolventen des Konservatoriums, die aufgrund des einseitigen Ausbildungssystems im Nachteil waren. Von Bičul’s Vermittlung attraktiver Engagements am Schwarzen Meer profitierten nicht nur die jungen jazzaffinen Musiker der Orchester von Nisman und Vajnštejn, sondern letztlich ja auch die Konzertorganisationen selbst, für die die Musiker keine Kosten als „Prostojniki“141 generierten. Der langfristig berufliche Erfolg eines Funktionärs im Konzertwesen hing stärker von gelungener wirtschaftlicher Arbeit ab als von wechselnden ideologischen Vorgaben der Partei und des Kulturministeriums. Als Patron regulierte Bičul’ den Arbeitsmarkt und bot Musikern mit Talent, die sich ihm gegenüber ergeben verhielten, die Möglichkeit, in den offiziellen Sektor des Musikmarktes zu wechseln. Dies erzeugte aber auch Neid bei denen, die außerhalb seines Netzwerks standen, seinem scheinbar willkürlichen Handeln aber ausgesetzt waren. Für Vajnštejn und seine Jazzmusiker bot sich mit der Alušta-Angelegenheit eine Chance, Bičul’ und seine Arbeit im Verlaufe der Untersuchungen zu diskreditieren. Die Hintergründe dieser Gegnerschaft erschöpfen sich dabei nicht in scheinbarer administrativer Willkür Bičul’s, sondern liegen auch in einem Konflikt um die ästhetische Ausrichtung von Vajnštejns Orchester begründet, das seit Ende der 1950er-Jahre neben dem Oleg-Lundstrem-Orchester die deutlichste Orientierung an westlichen Jazzstücken zu erkennen gab. Nach David Gološčekin bestanden 80 Prozent der Stücke des Orchesters zu Beginn der 1960er-Jahre aus Swing-Arrangements, die von Schallplatten oder dem Radio transkribiert wurden.142 Vajnštejn wiederum eröffnete einer Gruppe Leningrader Nachwuchsmusiker nicht nur eine ökonomische Basis, sondern garantierte durch den offiziellen Status eines Orchesters einen gewissen politischen Schutz zu einer Zeit, als der offene Terror des Staates zwar vorbei zu sein schien, keiner der Zeitgenossen jedoch abschätzen konnte, ob eine Rückkehr zu radikaleren Disziplinierungsinstrumenten der Zeit vor 1953 nicht doch möglich war. Vor der Umgestaltung von Vajnštejns Orchester wurde der Saxofonist Gennadij Gol’štejn nach einem Konzert im Haus 141 Bezeichnung für bei einer Konzertorganisation fest angestellte Musiker, die durch Pausen im Kulturbetrieb oder die ineffiziente Organisation von Gastspielen ohne aufzutreten weiter laufende Kosten verursachen. 142 Gološčekin, zit. nach Fejertag, Dialog, S. 72.
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der Journalisten in Leningrad zum Sekretär des dortigen Komsomol zitiert, der ihm an den Kopf warf: „Wenn Du in der Zeit von Pavel Morozov leben würdest, könnten wir dich erschießen lassen.“143
5. 2 Ja z z a u f Po d iu m u nd Bü h ne – Ja z z k lu b s u nd Ju ge nd c a fé s „Als Mitglied unserer Sektion darfst du erst recht kein schlechtes Vorbild für die Menschen sein. Wir sollten auf die kategorischste Art und Weise für Schönheit und Wahrheit in der Musik, für die Reinheit der Sprache und die Kultur des Verhaltens kämpfen“144. Diese Forderung des Schlagzeugers Leonid Orlov richtete sich explizit an die anderen Mitglieder der noch jungen Sektion Jazz des Jugendklubs im Moskauer Kirovskij Rayon und wurde im sektionseigenen Bulletin „Musik für alle“ an der Wandzeitung des Kulturhauses veröffentlicht. In seinem Plädoyer vom Herbst 1960, das nicht wie sonst üblich musikalische Fragen, sondern ein ethisches Problem thematisiert, erschien die Birža in einem gänzlich anderen Licht als in Memoiren und Erinnerungen zuvor. Orlovs Forderung stand am Ende einer Erzählung über einen Besuch auf der Birža. Dort begegneten einem fiktiven Passanten, der sich „friedfertig und mit schüchternem Befremden“ einen Weg durch die Masse wartender Musiker sucht, „grelle Schals, lange nicht rasierte Visagen und […] ungewöhnliche Kleidung“. Der Besucher bahnt sich am Ende schließlich „wütend einen Weg durch die Umherstehenden“ und „prügelt sich seinen Weg durch die Menge, schaut sich zuletzt um und droht mit der Faust: ‚Stümper, verfluchte Faulenzer‘“. Orlovs rhetorische Frage, ob dies Musiker und „Träger der besten Teile menschlicher Natur“ seien, muss damit verneint werden, denn „alle sprechen unvertretbares mat’ [russische nicht-normative Fluchsprache – M. A.], schmeißen Zigarettenstummel um sich, verbreiten zynische Witze und spucken saftig vor die eigenen Füße […] ohne Rücksicht auf andere.“ Die Birža ist in dieser Erzählung nun nicht mehr der Ort für musikalischen Austausch, Humor und gemeinschaftliche Sozialisierung einer Subkultur, sondern eine Antipode zum moralischen Kodex des Kommunismus. Orlov nutzt sie als Kontrastfolie um die Vorbildwirkung seiner Mitstreiter für „Disziplin, Bewusstsein, Musik und Kultur“ einzufordern, ohne die es nach Orlov eine erfolgreiche Arbeit der Jazz-Sektion nicht geben kann. Es ist zunächst zweitrangig, ob Orlovs Appell eine öffentliche Demonstration von ideologisch konformem Verhalten gegenüber der Komsomolorganisation des Rayons oder ein tatsächlich ernst gemeinter Aufruf zu vorbildhaften Verhalten der 143 Sacharov, Gol’štejn, S. 421. 144 Orlov, Leonid: [Wandzeitungsbeitrag für „Musik für Alle“], November 1962, Privatarchiv Aleksej Batašev.
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43 Moskauer Musiker, Organisatoren und Lektoren in dieser Sektion darstellte. Er war, wie später noch deutlich wird, beides. Orlovs Text verweist eigentlich aber auf die veränderten organisatorischen und ideologischen Umstände, unter denen sich die Gruppen von Jazzenthusiasten und ihr Projekt vom sowjetischen Jazz ab Ende der 1950er-Jahre entwickelten. Teile von ihnen waren nun als Jazz-Sektion einem städtischen Jugendklub untergeordnet, deren Mitglieder Gebühren zahlten und nach einer festgelegten Satzung Versammlungen und Wahlen abhielten. Der deutliche Wandel in der Jugendpolitik des Komsomol nach 1953 revidierte Formen und Inhalte der täglichen Arbeit mit Jugendlichen. Er begünstigte die Ausbreitung des Jazz nicht weniger als es dysfunktionale Zensur oder widersprüchliche Kultur- und Medienpolitik in dieser Epoche taten. Ohne klare Vorstellungen über die detaillierte politische Umsetzung und Implikationen begannen die Eliten in Partei und Komsomol nach 1953 damit, die Massenorganisation attraktiver für Jugendliche zu machen. Ziel war es, die junge Generation von passiven Konsumenten politischer Apelle und Vorträge im Spätstalinismus in enthusiastische Vorreiter ihrer Generation zu verwandeln, die in einer Initiative von unten dem „Neustart des sozialistischen Projekts“ den nötigen Schub verleihen sollten.145 Die mit diesem Entwurf verbundene größere, aber immer wieder schwankende Toleranz gegenüber westlicher Kultur ermöglichte Jugendlichen unter dem Dach lokaler Komsomolund Gewerkschaftseinrichtungen bereits in der ersten Phase des Tauwetters bis 1956 die Gründung zahlreicher Estradagruppen, die sich als künstlerische Laiengruppen organisiert am amerikanischen Jazz orientierten. Diese „Boom-Phase studentischer Orchester“146 erreichte in der Vorbereitung der VI. Weltjugendfestspiele ihren Höhepunkt, in der der Komsomol weitere Gründungen durch Wettbewerbe stimulierte, an deren Ende die besten Gruppen des Landes im Sommer an internationalen Wettbewerben teilnehmen sollten. Die unkontrollierbare politische Dynamik der Geheimrede Chruščevs 1956 hatte konservativere Kräfte innerhalb des Kremls zunächst wieder gestärkt. Das stalinistische Narrativ des Zusammenhangs von westlicher Kultur und politischer Subversion erlebte eine Renaissance und führte bis Ende des Jahres 1959 zu einer konservativeren Jugendpolitik. Das makropolitische Umfeld des Kalten Krieges machte seit 1946 nach Hillary Pilkington, „die Assoziierung devianter Jugendstile mit westlicher Subversion höchst wahrscheinlich“147. Der erste Jazzklub der Sowjetunion in Leningrad, „D-58“, wurde in diesem Klima 1959 ein halbes Jahr nach seiner Gründung wieder geschlossen. Ab Ende 1959 gewann die liberale und zukunftsoptimistische Variante poststalinistischer Jugendpolitik wieder 145 Zu diesem Prozess: Tsipursky, Pleasure. 146 Beličenko, Sergej: Institucional’nye osobennosti otečestvennoj džazovoj kul’tury (1922–2007). Ekaterinburg 2007, S. 175. 147 Pilkington, Russias Youth, S. 67
Jazz auf Podium und Bühne – Jazzklubs und Jugendcafés
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Einfluss und blieb trotz einzelner Schwankungen bis zum Ende der 1960er-Jahre dominant. Erst im Zuge des Prager Frühlings löste, ähnlich wie bereits Ende der 1920er-Jahre, „Disziplin“ die bis dahin gestärkte „Initiative“ als wichtiges ideologisches Schlagwort ab. 1960 wurde in Moskau die eingangs zitierte Jazzsektion gegründet, deren Aktivisten eine rege Vortragstätigkeit im städtischen Raum entfalteten. Auch in Leningrad und anderen größeren sowjetischen Städten entstanden Jazzklubs unter Ägide des Komsomol oder der Gewerkschaften. Ab 1961 bot man in den neugeschaffenen Jugendcafés, dem wohl deutlichsten Zeichen eines Neubeginns der Jugendpolitik, auch einem breiteren jugendlichen Publikum Zugang zu improvisiertem Jazz. Dessen Musiker erhielten ab 1962 die Möglichkeit, an Jazzfestivals teilzunehmen und sich dem Urteil von Vertretern des Komponistenverbands zu unterziehen. Der damit verbundene Schub an kultureller Legitimität machte diese Form des Jazz symbolisch und institutionell zu einem Teil der Hochkultur. Einrichtungen wie das Musikcafé Melodija i Ritm in Moskau, die aus dieser Kooperation erwuchsen, überdauerten auch den kulturellen Einschnitt nach 1968. Diese Jazzklubs und Jugendcafés erlauben es, nach Bedingungen zu fragen, die die Symbiose aus Jazz und sowjetischer Jugendpolitik nach Stalins Tod möglich machten. Der Blick auf die konträre Kulturpolitik gegenüber dem Jazz eine Dekade zuvor macht sie erklärungsbedürftig. Die Inkorporation in die Strukturen von Komsomol und Gewerkschaft bot jungen Musikern in Moskau, Leningrad und anderen sowjetischen Städten erstmals Zugang zu Räumlichkeiten, in denen Proben organisiert und Konzerte und Vorträge stattfinden konnten. Erst diese Regelmäßigkeit ermöglichte es Musikern, die musikalische Sprache des Jazz zu verinnerlichen, eigene, „sowjetische“ Kompositionen zu schaffen und sich somit als professionelle Musiker zu entwickeln, die im sowjetischen Kulturbetrieb Arbeit finden konnten. Diese Regelmäßigkeit erlaubte es Organisatoren und Vortragenden, die Geschichte und Ästhetik des Jazz zu studieren und aus ihr ein kulturelles Programm zu entwerfen, das Funktionäre und die sowjetische Öffentlichkeit von der Existenz und Notwendigkeit eines genuin sowjetischen Jazz überzeugen sollte. Erst das institutionelle Dach des Komsomol machte es möglich, die Unterstützung von Vertretern des Komponistenverbandes, den legitimen musikalischen Experten also, zu nutzen und Kooperationen zu verstetigen. In diesen Klubs und Cafés entstand darüber hinaus eine neue Form von Öffentlichkeit, in der ein interessiertes und aus Sicht der Macher dankbares Publikum zusammenkam. Im Vergleich zu den unkalkulierbaren Bedingungen der Chaltura wird somit klar, dass die Forderung der Moskauer Jazzsektion 1961 nach einer „Vereinigung ernsthafter [Hervorhebung M. A.] Liebhaber der Jazzmusik“148 mehr sein muss als ideologische Camouflage. 148 Bericht über die Arbeit der Jazzsektion des Jugendmusikklubs des Kirovskij Rayon vom August 1962, Privatarchiv Batašev.
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Um die Symbiose zwischen Jugendpolitik und Jazzmilieu zu verstehen, muss aufgeschlüsselt werden, in welchem Verhältnis Vorgaben des Komsomol und der Gewerkschaften von oben und die Handlungsmöglichkeiten der Enthusiasten vor Ort standen. Nicht nur der Konflikt zwischen Stalinisten und Liberalen prägte diese Aushandlungsprozesse, sondern ebenso institutionelle Konkurrenz und der Generationenkonflikt. Im Weiteren wird argumentiert, dass der Komsomol als Dachinstitution mit Jazzklubs und Jugendcafés neue Möglichkeiten bot, den Jazz und sein Milieu aber auch langfristig prägte. Damit rückt die Frage in den Mittelpunkt, welchen Einfluss die Inkorporation sowjetischer Rituale und Verfahren auf die Gruppe der Jazzenthusiasten hatte und welche Herausforderungen damit verbunden waren. Dieser sowjetische Fingerabdruck im Repertoire sozialer Praktiken zeigt, dass es sich bei den hier zu untersuchenden Prozessen keineswegs nur um ein geschicktes Übernehmen politisch erwünschter Verhaltensweisen handelte. Eine Untersuchung der Klubs und Cafés leistet mehr, als nur die Entwicklungsbedingungen des sowjetischen Jazz nach 1953 zu erklären. Deren hybrider Charakter zwischen jugendlicher Freizeitorganisation und aktivem kulturellem Akteur macht die Analyse anschlussfähig für allgemeinere Fragen nach dem Charakter der nachstalinistischen Gesellschaft und dem staatlichen Monopols für Kultur generell. Der erste Teil dieses Kapitels entfaltet ein Panorama der wichtigsten Veränderungen in der sowjetischen Jugendpolitik nach 1953.149 In einem zweiten Teil wird die Relevanz des Komsomol als kultureller Akteur diskutiert und nach dem Einfluss der von ihm massiv geförderten künstlerischen Laientätigkeit auf die Ausbreitung und Institutionalisierung des Jazz nach 1953 gefragt. Vor diesem Hintergrund können anschließend die Jazzklubs als semiöffentliche Formen von Jazzkultur und die Jugendcafés als öffentliche Räume verglichen werden. Konflikte zwischen Komsomol- und Gewerkschaftsvertretern und den Enthusiasten, aber auch innerhalb der Gruppen erlauben es, die nicht gradlinigen Entstehungsprozesse dieser sowjetischen Jazzkultur zu erörtern. Als empirisches Fallbeispiel dient Café Molodežnoe in Moskau dazu zu zeigen, wie diese Einrichtungen auf lokaler Ebene zu Keimzellen für Netzwerke zwischen Komsomol, legitimen musikalischen Experten und Jazzenthusiasten wurden und Musikern zu einem legitimen Status verhelfen konnten.
5.2.1 Der Komsomol nach Stalin In der Politik des kommunistischen Jugendverbands nach 1953 spiegelt sich die ganze Widersprüchlichkeit der Chruščevzeit wider. Beschränkten sich dessen Tätigkeitsfelder 149 Vgl. Tsipursky, Gleb: Having Fun in the Thaw. Youth Initiative Clubs in the Post-Stalin Years, in: The Carl Beck Papers in Russian and East European Studies 2201 (2012).
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bis zum Tod Stalins auf die Mobilisierung der Jugend für Wiederaufbau, Landesverteidigung und ideologische Erziehung unter dem Eindruck des Kalten Krieges, erweiterte seine Führung die Aktivitäten nach 1953 deutlich. Zu den Aufgaben der sowjetischen Jugendorganisation zählte bald auch die Organisation jugendlicher Freizeit und eine umfangreiche Kampagne zur Propagierung von Wissen, Moral und kulturellen Werten, die dem neuen sowjetischen Menschen als Idealtypus entsprechen sollten. Gleichzeitig ließ die Mobilisierungsfunktion des Komsomol nach, verlor angesichts der Chruščev’schen Großprojekte im asiatischen Teil des Landes keineswegs seine Bedeutung. Das ambivalente Urteil wird verstärkt durch die Rolle, die die Parteiführung dem Komsomol im neuen Gesellschafts- und Zukunftsdesign am Ende der Dekade zuwies. Vormals staatliche Funktionen sollten in zunehmendem Maße an die Gesellschaft übertragen werden. In einer Gesellschaft, die nicht nur mit einer zeitweiligen Zunahme von Gewalt im öffentlichen Raum konfrontiert war, sondern deren junge Mitglieder den Spitzen von Partei und Komsomol als besonders anfällig für Gewalt und westliche Kultur galten, sollte die Organisation nicht nur wichtige erzieherische Aufgaben erfüllen. Der Komsomol avancierte zum aktiven Helfer, um die als bedroht eingestufte öffentliche Ordnung gemeinsam mit der Miliz wiederherzustellen. Verkompliziert wird das Gesamtbild durch einen Wandel der internen Arbeit der Organisation, die in steigendem Maße vom zentralistischen Prinzip der gestaffelten Befehlsempfänger aus der Stalinzeit abrückte und begann, die jugendliche Initiative von unten zu fördern, um die eigene Existenzberechtigung gegenüber der eigentlichen Zielgruppe Jugend zu erneuern.150 Die Konflikte, die sich aus der freigesetzte Eigendynamik dieser Veränderungen entwickelten, zeigen, dass sich auch dieser Teilaspekt einer Geschichte der Chruščev- und frühen Brežnevzeit nicht in dem von Stephen Cohen vorgeschlagenen Modell von Reformern und Konservativen erschöpft. Vielmehr spielten generationelle und institutionelle Konflikte eine ebenso große Rolle wie das situative Reagieren und Positionieren der Zeitgenossen zwischen Zustimmung von Wandel und Beharren auf konservativen Positionen, das Forschungsarbeiten in den letzten Jahren vermehrt ins Zentrum rücken.151
5.2.1.1 Der Komsomol als Mobilisierungsinstrument und Sicherheitsorgan Auch für die poststalinistische Führung stellte der Komsomol eine einsatzfähige Arbeitsreserve dar, auf die für verschiedene wirtschaftliche Projekte zurückgegriffen 150 Vgl. Tsipursky, Pleasure, 175 ff. 151 Vgl. Cohen, Stephen: The Friends and the Foes of Change. Reformism and Conservatism in the Soviet Union, in: Alexander Dallin/Gail W. Lapidus (Hgg.): The Soviet System. From Crisis to Collapse. Boulder/San Francisco/Oxford 2005, S. 11–32; Dobson, Khrushchev’s Cold Summer.
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wurde. Alleine für die Großbaustellen im asiatischen Teil der Sowjetunion und die Neulandkampagne delegierte der Komsomol beinahe 350.000 Jugendliche, von denen die meisten nach einigen Monaten zurückkehrten, viele aber für immer in Sibirien oder den ländlichen Regionen des nördlichen Kasachstans blieben.152 120.000 Komsomolzen arbeiteten auf den Baustellen des sechsten Fünfjahresplans (1950–1955), seinen zahllosen neuen Fabriken in den nördlichen und östlichen Landesteilen, oder bei der Errichtung des damals größten Wasserkraftwerks der Welt in Bratsk.153 Ihr Einsatz erfuhr durch neue Orden wie „Den jungen Stoßarbeitern der Baustellen des sechsten Fünfjahresplans“ oder „Für die Eroberung des Neulands“154 sowie durch zahlreiche Plakate und Zeitungsartikel eine massive symbolische Aufwertung.155 Die Unterstützung der ehrgeizigen wirtschaftlichen Ziele der Partei durch Mobilisierung des Komsomol dominierte als wichtiges Thema die politische Arbeit der Organisation und ihrer Kongresse und Plenen der 1950er-Jahre. Auch als Instrument von Kontrolle und Sicherheit erfuhr die Jugendorganisation nach 1953 eine nie dagewesene Aufwertung. Während relativ rasch nach Stalins Tod das System des umfangreichen staatlichen Terrors abgebaut wurde, stieg die Zahl verschiedener Straftaten sprunghaft an und konnte erst nach einem institutionellen Umbau der sowjetischen Exekutive und juristischen Reformen bis Mitte der 1960er-Jahre wieder reduziert werden. Dem drastischen Einbruch der Zahlen von Verurteilten nach Paragraf 58-10 „Antisowjetische Tätigkeit und Propaganda“ nach 1953 stand der massive Anstieg von Verurteilungen wegen Hooliganismus von 74.696 im Jahr 1950 auf 120.024 im Jahre 1956 gegenüber.156 Ein allgemeines Unsicherheitsgefühl der Bevölkerung und das Empfinden latenter politischer Destabilisierung der Eliten resultierten dabei weniger aus ohnehin kaum zugänglichen Statistiken, sondern aus verschiedenen Pressekampagnen und der Neudefinition gesellschaftlicher Feindbilder, die anders als im Stalinismus zunehmend unkonkreter wurden.157 Der nachweisbare Anstieg bestimmter Straftaten stand in Zusammenhang mit der Entlassung und nur teilweise erfolgreichen Reintegrationen von Millionen von Lagerinsassen, der Rückkehr von Völkern 152 153 154 155 156
Vgl. Spravočnik Sekretarja pervičnoj komsomolskoj Organizacii. Moskau 1958, S. 109. ebd. S. 109. Vgl. ebd., S. 200. ebd. S. 108. Zahlen nach Gorlizki, Yoram: Policing Post-Stalin Society. The Militsia and Public Order under Krushchev, in Cahiers du monde russe 44 (2003), S. 465–480. Hornsby, Robert: A ‚Merciless Struggle’. De-Stalinisation and the 1957 Clampdown on Dissent, in: Thomas Bohn/Rayk Einax/ Michel Abeßer (Hg.), De-Stalinisation Reconsidered. Persistence and Change in the Soviet Union. Frankfurt a. M. 2014, S. 93–112. 157 Vgl. Fürst, The Arrival of Spring; sowie Zubkova, Elena: Na ‚kraju’ sovetskogo obščestva. Marginal’nye gruppy naselenija i gosudarstvennaja politika 1940–160-e gody, in: Rossijskaja Istorija (2009), 5, S. 101–118.
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wie den Tschetschenen, die unter Stalin deportiert wurden, aber auch der Schwächung und Diskreditierung der Miliz als Organ des Innenministeriums in Folge der Entstalinisierung.158 Mit der Kampagne gegen „Hooliganismus“, einem äußerst flexibel definierten Straftatbestand, welcher Fluchen und Trunkenheit genauso abdeckte wie Gewalttaten mit Todesfolge, versuchte die nachstalinistische Elite nicht nur eine vermeintlich unkultivierte Arbeiterschaft zu zivilisieren, sondern die aus ihrer Sicht negativen Folgen westlichen Einflusses auf die Bevölkerung zu reglementieren.159 Das ZK des Komsomol forcierte seit 1954 die aktive Auseinandersetzung der Jugendorganisation mit dem Phänomen durch eine starke Präsenz seiner Vertreter an den alltäglichen Orten jugendlicher Sozialisation.160 Eine statistische Zunahme von Vergehen, die als Hooliganismus qualifiziert werden konnten, ist in den 1950er-Jahren generell nicht zu beobachten – der „Chuligan“ wurde nicht durch vermehrte Gewalt, sondern aufgrund neuer ideologischer Parameter zum Problem gemacht.161 Zum epochenspezifischen Teil dieser Kampagne wurde die politisch forcierte Einbeziehung der Gesellschaft („Obščestvennost’“) in die Kontrolle der öffentlichen Ordnung. Als Teil des von Chruščev forcierten Zukunftsentwurfs entstanden im Verlauf der 1950er-Jahre eine Reihe von Instanzen, die sich an der dem sozialistischen Projekt innewohnenden Vorstellung orientierten, dass der Staat langsam absterbe und dessen Funktionen schrittweise von der Gesellschaft übernommen werden sollten. So genannte Volksgerichte aus Mitarbeitern oder Anwohnern entlasteten die Justiz bei der Handhabung von Vergehen und kleinen Verbrechen, die ein Bürger im Rechtsbereich der Fabrik, des Wohnhauses oder des Stadtbezirkes beging.162 Eine weitere Institution, die der Vorstellung steigender gesellschaftlicher Selbstverwaltung entsprang, waren die Družiniki („Freiwilligen Volksmilizen“), die die Arbeit der Miliz unterstützen und im öffentlichen Raum gegen Kleinkriminalität, verschiedene Arten von Gewalt und Formen devianten Verhaltens vorgehen
158 Vgl. Gorlizki, Policing Post-Stalin Society. Dobson, Khrushchev’s cold summer. 159 Vgl. dazu LaPierre, Brian: Hooligans in Khrushchev’s Russia. Defining, Policing and Producing Deviance during the Thaw. Madison 2012. 160 Vgl. Beschluss des ZK des VLKSM vom 25.06.1954 „Über den Kampf der Komsomolorganisationen mit Erscheinungen von Hooliganismus innerhalb der Jugend“, in: Spravočnik Sekretarja pervičnoj komsomolskoj Organizacii. Moskau 1958, S. 189–192. 161 Vgl. Tsipursky, Gleb: Worker Youth and Everyday Violence in the Post-Stalin Soviet Union, in: European History Quarterly 45 (2015), S. 236–254. 162 Vgl. Gorlizki, Yoram: Delegalization in Russia: Soviet Comrades’ Courts in Retrospect, in: The American Journal of Comparative Law 46 (1998), S. 403–425. Gorlizki relativiert die Bedeutung des neuen utopischen Entwurfes, der lediglich ein plausibles Umfeld darstellte. Hauptkräfte der Etablierung der Volksgerichtsbarkeit waren Juristen und Mitglieder der Justizministerien, welche die städtischen Gerichte entlasten wollten.
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sollten.163 Neben Konflikten um rechtliche Befugnisse der Komsomol-Patrouillen entfaltete sich eine Gewaltdynamik, die sich auch von Seiten der parteilichen Stellen nicht immer eindämmen ließ, vielfach zu gewaltsamen Straßenkämpfen und willkürlichem Vorgehen gegen die häufig kaum definierten neuen und alten Feindbilder führte. Die latente Spannung zwischen „den utopischen Ansprüchen gesellschaftlicher Selbstverwaltung und der Wirklichkeit von staatsgelenkter öffentlicher Ordnung“164 wurde bereits ab Mitte der 1960er-Jahre zu Gunsten letzterer aufgelöst. Mit der langfristigen Etablierung der Miliz als Schnittstelle zwischen Staat und Gesellschaft und der Neuausrichtung des KGB etablierte die Politik zu Beginn der 1960er-Jahre schließlich die Grundpfeiler der sowjetischen Ordnung im Inneren, die bis 1991 bestehen blieben und den nachstalinistischen Gesellschaftsvertrag – „begrenzte sozio-ökonomische Garantien im Tausch für öffentlichen Gehorsam gegenüber den Normen des Regimes“165 – absicherten. In den Fokus der Komsomol-Patrouillen gerieten nicht nur gewalttätige Jugendliche, die aus der Schicht der Arbeiter oder der zahllosen Binnenmigranten kamen, sondern auch jene städtischen Jugendlichen, die sich westlicher Kultur zuwandten. Nach 1953 hatte sich die Zahl derer, die sich über westliche Musik und Kleidung gegenüber den Massen der Bevölkerung abzuheben versuchten, deutlich vergrößert. Während die sogenannten Stiljagi im Spätstalinismus eher ein Phänomen der politischen Eliten waren, erweiterte sich nach 1953 die soziale Basis dieser Gruppe und ihre Anhängerschaft. Die politische Führung nutzte die Komsomol-Patrouillen als ein Werkzeug, um gegen die Präsenz westlich gekleideter Jugendlicher im öffentlichen Raum mit Gewalt vorzugehen. Als ein Paradox der Epoche zeigt sich hier, dass für diese Jugendlichen, die sich übrigens kaum selbst als Stiljagi verstanden, der Konformitätsdruck in der Zeit nach 1953 größer sein konnte als vor Stalins Tod.166 Der Begriff der Stiljagi verstärkte durch seinen uneindeutigen Charakter
163 Vgl. o. A.: Voluntary Militia and Courts, in: Soviet Studies 11 (1959), S. 214–217. Bereits im März 1954 wurde auf Grundlage eines ZK-Beschlusses die Direktive „O rabote sredi neselenija“ erlassen, in dem die 1932 erstmals geschaffenen Brigaden zur Unterstützung der Miliz reanimiert wurden („Brigadmil“). Die Idee, die Gesellschaft („Obščestvennost’“) am Kampf gegen das Verbrechen zu beteiligen, gewann mit der Festigung von Chruščevs Machtposition dann zunehmend an Bedeutung. Die „Brigadmils“ unter der Kontrolle des Innenministeriums wurden im März 1959 durch einen ZK- Beschluss „Über die Beteiligung der Werktätigen an der öffentlichen Ordnung des Landes“ aufgelöst und in lokal verankerte Družiny überführt. Siehe dazu: „Über die Beteiligung der Werktätigen bei der Sicherung der Öffentlichen Ordnung“, Beschluss des ZK der KPdSU und des sowjetischen Ministerrates vom 02.03.1959, in: KPSS o Komsomole i Molodeži. Sbornik rezoljucij, rešenij s’ezdov. konferencij partij, postanovlenij ZK KPSS i drugich partijnych dokumentov (1917–1961gg.), 3. erweit. Auflage, Moskau 1962, S. 327–329. 164 Vgl. Gorlizki, Policing Post-Stalin Society, S. 480. 165 ebd. 166 Vgl. Fürst, Arrival of Spring.
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die Eigendynamik der Kampagne, durch die Jugendliche, die vornehmlich aus dem Bereich der „white collar“ Schichten kamen, zunehmend kollektiver Gewalt ausgesetzt wurden. 1955 bedurfte es daher sogar der Klarstellung des Feindbilds in der Jugendpresse, um die Eigendynamik der Kampagne wieder einzufangen.167 Auch wenn die Komsomol-Patrouillen im Laufe der 1960er-Jahre verschwanden, bildeten sie für den KGB eine attraktive Rekrutierungsplattform, über die zahlreiche jugendliche Teilnehmer ihren Weg in die Sicherheitsbehörden fanden. Der vormalige Erste Sekretär des Komsomol Aleksander Šelepin erneuerte den KGB nach 1958 auch personell und griff bereits in den 1950er-Jahren auf zahlreiche Komsomolfunktionäre zurück, um als Stalinisten diskreditierte Offiziere abzulösen und der Organisation in der Öffentlichkeit ein besseres Image zu geben. Der Komsomol und seine lokalen Institutionen bedienten sich aber auch gewaltfreier sozialer Disziplinierungstechniken, die für die Nachstalinzeit charakteristisch waren. Zur Aufrechterhaltung sozialer Ordnung und dem Erreichen neuer politischer Ziele orientierte sich der sowjetische Staat im steigenden Maße auf das Kollektiv als Werkzeug politischer Organisation und Kontrolle.168 Diese erstmals von Oleg Khakhordin systematisch ausgearbeitete Entwicklung konterkarierte die Idee einer liberalen Epoche nach Stalin deutlich. In Komsomolgruppen in Universitäten, Schulen oder Fabriken wurden Hooligans, vermeintliche Stiljagi oder Faulenzer, das dritte konstitutive Feindbild der Epoche, zur Rede gestellt und öffentlich angeprangert. Aktivisten veröffentlichten Fotos und Namen vermeintlicher Devianten an örtlichen Wandzeitungen und in der Presse. Komsomolkollektive wiederum sollten private Probleme und Versäumnisse des Einzelnen auf Versammlungen vor Ort offenlegen und diskutieren. Die Kongressresolutionen der 1950er-Jahre beschworen, „mit glühenden Eisen Hooliganismus, Fluchen und Egoismus auszubrennen“ und eine „Atmosphäre gesellschaftlicher Verachtung“169 zu schaffen, um andere Abweichungen wie Alkoholismus auszumerzen. Neben sozialer Disziplinierung devianter Jugendlicher oblag dem ideologisch aufgewerteten Kollektiv, dafür Sorge zu tragen, dass seine Mitglieder den kommunistischen Moralkodex als Beitrag für das erneuerte Zukunftsversprechen verinnerlichten.170 Die Architekten dieses Erziehungsprogramms formulierten dabei keinen vollständig neuen Moralkodex, sondern werteten Moral als Kategorie im politischen Diskurs auf und wiesen ihr eine größere Bedeutung für das Funktionieren des Menschen in der Gesellschaft 167 Vgl. Bspw. Wer von ihnen ist ein Stiljagi?, in: Komsomolskaja Pravda, 11.08.1956. 168 Khakhordin, Oleg: The Collective and the Individual in Russia. A Study of Practices. Berkeley [u.a.] 1999. 169 Resolution des 23. Kongresses des VLKSM über den Rechenschaftsbericht des ZK des VLKSM, in: Spravočnik Sekretarja pervičnoj komsomolsoj Organizacija. Moskau 1958, S. 81–112, hier S. 98. 170 Vgl. Dobson, The Post-Stalin Era, S. 913.
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zu.171 Familiäre Streitigkeiten, ungebändigte Leidenschaften und egoistische Eigeninteressen bedrohten aus dieser Perspektive ein stabiles Privatleben, das als die Grundbedingung für das Funktionieren des Einzelnen im sozialistischen Aufbauprojekt betrachtet wurde.172 Neben der Familie und den Vorstellungen über einen angebrachten Verhaltenskodex lag die Erziehungsaufgabe der Komsomolkollektive besonders darin, einen spezifisch sozialistischen, moderaten und reflektierten Konsum zu sanktionieren. Damit wurden ästhetische Erziehung und Geschmack zu einem essentiellen Teil der Jugendpolitik, die in diesen Bereichen des Alltagslebens propagandistisch Einfluss zu nehmen suchte.173
5.2.1.2 Der Komsomol und die Entdeckung jugendlicher Freizeit Es wäre indes zu kurz gegriffen, reduzierte man den Komsomol nach 1953 auf die Rolle eines Mobilisierungs- und Kontrollinstrumentes der Partei. Allen Kassoffs Studie zur sowjetischen Jugendpolitik aus den 1950er-Jahren kam auf Basis der verfügbaren Quellen und des Prismas des Kalten Krieges eben zu einem solchen Urteil: „Indeed, the entire history of the youth program can be viewed as a series of attempts to deprive new generations of self-expression, while creating the appearance of enthusiastic support.“174 Diese Sichtweise verkennt, dass sich aus der politischen Erfahrung sowjetischer Spitzenfunktionäre die Aufgabe des Komsomol nicht nur auf die Mobilisierung und Politisierung der Überzeugten einerseits und die Disziplinierung der Devianten andererseits beschränken konnte. Welche Folgen ein rein instrumenteller Zugang zur Frage der Jugendorganisation hatte, zeigte die Entwicklung der Mitgliederzahlen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Zahl von 15 Millionen Mitgliedern, die den gelockerten Aufnahmebedingungen und der patriotischen Stimmung des Großen Vaterländischen Krieges geschuldet war, reduzierte sich durch die Verschärfung des innenpolitischen Klimas im Spätstalinismus und seine Folgen für die Jugendpolitik auf 9 Millionen im Jahre 1949.175 Die in dieser Phase dominante Jugendarbeit des Komsomol äußerte sich auf Ebene der Basisorganisationen in politischen Vorträgen und stark ritualisierten Versammlungen. Sie konnte zudem nicht das vereinzelte Entstehen antistalinistischer Jugendgruppen verhindern, deren Antrieb und Referenzgröße eben jene kanonisierten Texte waren, die der Masse an Komsomolmitgliedern in wenig attraktiver 171 Vgl. Field, Private life and communist morality. 172 ebd. S. 600. 173 Vgl. Reid, Cold War in the Kitchen. 174 Kassof, Alan: The Soviet Youth Programm. Cambridge, Mass., 1965, S. 19. 175 Zahlen nach Kassof, S. 17.
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Form wöchentlich vorgetragen wurden.176 Aus Sicht vieler seiner Mitglieder war die Komsomolarbeit trist und allenfalls als Karriereschritt relevant, während die anfänglich nur den Elitekindern vorbehaltene Faszination westlicher Kultur ab Beginn der 1950er-Jahre als Zeichen der Verbürgerlichung der sowjetischen Mittelklasse immer breitere Schichten von Jugendlichen erreichte.177 Ein differenzierteres Bild auf die Herausforderungen des Komsomol zwischen 1945 und 1960 ergibt sich aus einem vergleichenden Blick auf die frühe Sowjetzeit.178 Der Dualismus von jugendlicher Interessenvertretung und Initiative von unten gegenüber rigider Kontrolle von oben und Exekution von Parteianweisungen prägte die Komsomolpolitik der 1920er-Jahre und verschwand keineswegs mit dem Stalinismus.179 Dieser besonders in der Phase der NEP virulente Konflikt erlebte nun eine Renaissance. Dabei ging es nicht um das Abrücken von zentralen Zielen der Organisation. Die Vermittlung von Vaterlandsliebe, politischer Loyalität, aber besonders einer aktiven Lern- und Arbeitsethik blieben zentrale Aufgaben. Über deren falsche und einseitige Vermittlung im Spätstalinismus entwickelte sich jedoch ein zunehmender Konsens im ZK des Komsomol. Deren Vertreter begannen, die Berichte der lokalen Organisationen von langweiligen Politvorträgen und schwindender Attraktivität der Organisation ernstzunehmen. Die Aufwertung der Jugend zum wichtigen Akteur für das neue utopische Modell konnte sich nicht darin erschöpfen, diese zu kontrollieren, zu erziehen und vor wachsenden westlichen Einflüssen abzuschotten. Der avisierte neue Menschentyp wäre ohne freiwilliges Engagement in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft und seiner selbst angestrebten Entwicklung von Bildung, technischem und künstlerischem Können unvollständig geblieben. Auch innerhalb der Komsomolbürokratie artikulierten lokale Vertreter ab den späten 1940er-Jahren immer wieder Kritik am geringen Spielraum für eigene Aktivitäten in den Basisgruppen, die starke Regulierung und den Fokus auf Disziplin durch die Führungsspitzen in Moskau.180 Bereits in den ersten Jahren des Tauwetters änderten sich ideologische, personelle und materielle Bedingungen der Jugendpolitik. Ende des Jahres 1953 zeigte sich in den Beschlüssen und der politischen Sprache des Komsomol eine Hinwendung zu Fragen der Unterhaltung und ansprechenden Jugendarbeit vor Ort. Der XII. Kongress des Komsomol 1954 forderte mehr Aufmerksamkeit gegenüber der jugendlichen Erholung und künstlerischen Amateurtätigkeit, des Sports 176 Vgl. Fürst, Prisoners of the Soviet Self. 177 Vgl. Edele, Strange Young Man. 178 Vgl. Tsipursky, Having Fun, S. 1–68. 179 Vgl. Kuhr-Korolew, Corinna: „Gezähmte Helden“ – Die Formierung der Sowjetjugend 1917– 1932. Essen 2005 sowie Kuhr, Corinna/Plaggenborg, Stefan/Wellmann, Monica (Hg.): Sowjetjugend 1917–1941. Generation zwischen Revolution und Resignation. Essen 2001. 180 Tsipursky, Having Fun, S. 9.
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und des Tourismus.181 Auch Chruščev, dessen Besuch dieses Kongresses für eine symbolische Aufwertung der Jugendfrage steht, forderte hier verbesserte kulturelle Möglichkeiten für die Jugend. Diese vom Kreml sanktionierte Hinwendung zu jugendlichen Bedürfnissen steht dabei im deutlichen Zusammenhang mit den Bemühungen, die KPdSU zu erneuern und ihr in den Augen der Bevölkerung wieder Attraktivität und Legitimität zu verleihen. Eine Reihe von Beschlüssen unterstützte diesen Kurswechsel auch materiell. Neben dem Ausbau der städtischen kulturellen Infrastruktur, beispielsweise durch die Schaffung von Konzertsälen, regelten eine Reihe von Erlassen auch einen besseren Zugang der lokalen Komsomolgruppen zur Infrastruktur der Gewerkschaften und des Kulturministeriums, die über den größten Teil städtischer Klubs und Kulturhäuser verfügten. Große Teile des Komsomolbudgets, das ein Jahr nach Stalins Tod bereits um 10 Prozent gestiegen war, flossen in den Neubau von Klubeinrichtungen.182 Dieser Trend beschleunigte sich nach 1956 noch einmal deutlich: Jugendinitiativen schufen in Kooperation mit den Gewerkschaften und Kulturorganen 10.000 neue Klubs und Kinos und renovierten 40.000 veraltete Klubeinrichtungen.183 Das eigentliche Novum dieses Politikwechsels jedoch zeigt sich weniger in diesen Investitionen oder der größeren Aufmerksamkeit gegenüber jugendlichen Interessen, sondern in der neuen ideologischen Ausrichtung und einer korrespondieren Personalpolitik. Da die Formalisierung und Bürokratisierung der Jugendarbeit nun als eines der größten Hindernisse für jugendliche Initiative von unten galt, ersetzte die Organisation zahlreiche Stellen von hauptberuflichen Komsomolsekretären vor Ort durch freiwillige Aktivisten.184 Damit fiel dem freiwilligen Engagement vor Ort auch bei den zukünftigen Karrierechancen innerhalb der Organisation größeres Gewicht zu. Mit gesteigerter Attraktivität der Programme, zu denen nun in stärkerem Umfang auch Diskussionsrunden zählten, wuchs so die Verantwortlichkeit der Jugendlichen für die Belange ihres Klubs. Gestaltungsspielraum, Eigenverantwortung und Engagement im öffentlichen Raum verbanden sich in neuer Form. Dieser politische Kurswechsel, der vor Ort tatsächlich zu größerem Interesse und Engagement führte, war mehr als ein zweiter „Big Deal“ zwischen der Partei und der durch den Stalinismus entfremdeten Jugend.185 Teile der Eliten von Partei, Komsomol und Sicherheitsorganen sahen in diesem Kurswechsel ein Werkzeug gegen deviantes und non-konformes Verhalten, indem Jugendliche nun in stärkerem Maße aus unkontrollierten Hinterhöfen und Privatwohnungen in den 181 Vgl. Tsipursky, Pleasure, S. 172. 182 Vgl. Tsipursky, Pleasure, S. 191–192. 183 Vgl. Resolution des 23. Kongresses, S. 98. 184 Vgl. Tsipursky, Having Fun, S. 11–12 185 Vgl. Tsiprusky, Pleasure, S. 178.
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öffentlichen Raum traten und so besser kontrollierbar wurden. Ein Beschluss des VII. Plenums des Komsomol von 1957 forderte als Mittel gegen jugendliche Gewalt eine explizite Ausweitung der gesellschaftlichen Initiative und Selbsttätigkeit („samodejatel’nost“) der Jugend.186 Das Zentralkomitee des VLKSM räumte der Organisation attraktiver Freizeit nun auch in einer veränderten Satzung seiner Organisation offiziellen Raum ein und erreichte beim ZK der Partei die Unterstützung für eine Reihe von organisatorischen und finanziellen Maßnahmen.187 Erstmals erhielten Basisorganisationen das Recht, in begrenztem Maße eigenständig finanziell zu wirtschaften und durch den Erlös aus Konzerten von Laienorchestern weitere kulturelle Veranstaltungen selbst zu finanzieren.188 Die Möglichkeit, von Fabriken oder Forschungseinrichtungen nicht nur Räumlichkeiten, sondern auch finanzielle Mittel erhalten zu dürfen, erweiterte die Reichweite und Attraktivität des Jugendinitiativklubs erheblich.189 Die politische Führung wies der geförderten Initiative von unten und der selbstorganisierten Freizeit darüber hinaus aber auch eine wichtige Rolle für das Zukunftsziel des Kommunismus zu, das unter Chruščev eine starke Renaissance erfuhr. Auch wenn die politisch proklamierte Verantwortung der Jugend als Aufbauhelfer der zukünftigen Gesellschaft so alt wie die Sowjetunion selbst war, unterschied sich das utopische Design und Menschenbild des Tauwetters deutlich von allen vorangegangenen. Anders als im Stalinismus appellierte die Partei nicht mehr an disziplinierte Parteisoldaten, sondern an den „ermächtigten Bürger“190, der durch Eigeninitiative, Selbstbildung und Verantwortungsbewusstsein am Erbauen des Kommunismus mitwirkte. Dass Geschmack und eine angemessene Form von sozialistischem Konsum zentrale Elemente des damit verbundenen Erziehungsdiskurses waren, hat Susan Reid eindrücklich herausgearbeitet.191 Deutlich wird der Konnex von Freizeitorganisation und ideologischen Eckpfeilern des erneuerten sozialistischen Projekts in einer Phase konservativer Re-Orientierung, die die sowjetische Partei- und Jugendpolitik nach dem XX. Parteitag 1956 bis in den Sommer 1958 hinein bestimmte. Die unkalkulierbare Eigendynamik der Geheimrede Chruščevs hatte nicht nur die Partei im Inneren der Sowjetunion 186 Vgl. ebd. S. 300. 187 Vgl. Beschluss des XIII. Kongresses des Komsomol „Über partielle Änderungen der Satzung des VLKSM“, in: Spravočnik Sekretarja pervičnoj komsomol’skoj organizacii. Moskau 1958, S. 114–116. 188 Vgl. Beschluss des ZK des VLKSM vom 06.09.1956 „Über Geldmittel im VLKSM für die Durchführung von Kultur- und Massenarbeit und Sport unter der Jugend“, in: Spravočnik, S. 223–224. 189 Vgl. Tsipursky, Pleasure, S. 18. 190 Vgl. Tsipursky, Having Fun, S. 12. 191 Vgl. Reid, Cold War in the Kitchen sowie Dies.: Destalinization and Taste 1953–1963, in: Journal of Design History 10 (1997), S. 177–201.
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ergriffen.192 Diese ideologischen Erschütterungen erreichten die sozialistischen Bruderstaaten mit dem Ungarnaufstand als drastischster Folge, aber auch die kommunistischen Parteien in der westlichen Welt.193 Innerhalb der Sowjetunion nahm unter kritischen Jugendlichen die Anwendung des Paragrafen 58-10 für einige Monate wieder zu.194 Inmitten dieser politisch fragilen Phase fanden im Sommer 1957 die VI. Weltjugendfestspiele in Moskau statt, durch die konservative Parteiund Jugendfunktionäre auch unter moderateren Kollegen die Furcht vor einem zu starken Einfluss des Westens auf die sowjetische Jugend schüren konnten.195 Politische Instabilität und Furcht vor ideologischer Diversion führte jedoch nicht zum Abbruch der Kampagne, sondern vielmehr zu einer Nachjustierung. Deutlich stärker als vorher wurden nun „kulturelle Aufklärung“ und „ästhetische Erziehung“ betont, um die Bevölkerung im Allgemeinen und die Jugend im Besonderen besser vor westlichen Einflüssen zu schützen. Anders als im Spätstalinismus plädierten Partei- und Komsomolvertreter nicht für eine Abschirmung des Landes und Zwang, sondern für Überzeugungsarbeit und Wissensvermittlung als „Werkzeuge zum Erkennen von vermeintlich Geschmackvollem und Schönen“196. Das ZK der KP dSU forderte 1957 die Gewerkschaften auf, die „erzieherische und kulturaufklärerische Arbeit zu verbessern“197 und die „Erziehung der Massen im Geiste des sowjetischen Patriotismus“ zu fördern. Gleichzeitig erneuerte das ZK die Forderung nach Verbesserung der Jugendarbeit und Unterstützung des Komsomol. Die Gewerkschaften sollten „mehr Aufmerksamkeit der Arbeit, Freizeit und dem Alltag der Jugend sowie der kultur-aufklärerischen Arbeit widmen“198. Auch wenn so Reglementierung und erzieherische Interventionsbereitschaft zunahmen, kam es zu keiner Abkehr vom Fokus auf inhaltsreiche Freizeit, die vom Enthusiasmus der Jugendlichen vor Ort getragen werden sollte. Noch 1960, als die Vertreter des Konzepts der jugendlichen Initiative bereits wieder in der Offensive waren, forderte die Partei eine klare ideologische Erziehung der Jugend, die jedoch „interessant
192 Vgl. Kulavig, Erik: Evidence of Public Dissent in the Khrushchev Years, in: Mette Bryld/Erik Kulavig (Hg.), Soviet Civilization between Past and Present. Odense 1998, S. 77–93. 193 Vgl. dazu Kroll, Thomas: Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa: Frankreich, Österreich, Italien und Großbritannien im Vergleich (1945–1956). Köln/Weimar/Wien 2007. 194 Vgl. Hornsby, A ‚Merciless Struggle’. 195 Vgl. Tsipursky, Pleasure, S. 280. 196 ebd., S. 280. 197 „Über die Arbeit der Gewerkschaften der UdSSR“ (Auszug aus einem Beschluss des Plenums des ZK der KPdSU vom 17.12.1957), in: KPSS o Komsomole i Molodeži. Sbornik rezoljucij, rešenij s’ezdov, konferencij partij, postanovlenij ZK KPSS i drugich partijniych dokumentov (1917–1961gg.). 3. erweit. Aufl. Moskau 1962, S. 272–273, hier S. 273. 198 ebd.
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und vielfältig in ihren Formen und Methoden sein […] und einen lebendigen, gebildeten und populären Charakter tragen“199 sollte. Eine institutionelle Antwort auf die Sorge um mangelndes politisches Bewusstsein und eine höhere Anfälligkeit gegenüber westlichen Einflüssen fand der Komsomol ab 1957 in den Kulturuniversitäten. In örtlichen Klubs boten freiwillige Kulturarbeiter des Komsomol, der Gewerkschaften und des Ministeriums Kurse zu verschiedenen Themen für einfache Sowjetbürger an. Damit erhöhte sich der Bedarf an qualifizierten Kulturarbeitern für diese neue Form der Basisarbeit des Komsomol. Ab 1957 griffen Kulturministerium und Komsomol die vorher lokalen Initiativen auf und unterstützten diese materiell und personell. Es ist in der Tat zu kurz gegriffen, die Initiative auf politische Indoktrinierung zu reduzieren, suggeriert die Vielfalt der Themen doch, dass es hier um den inhaltlich breiten kulturellen Kanon für den neuen Sowjetmenschen ging.200 Neben der thematischen Vielfalt, die von ästhetischer Theorie über Musik, Literatur, aber auch technische Fragen reichte, machten besonders die Veranstaltungsformen wie Seminare, Vorlesungen, Streitgespräche, Vortragskonzerte, Künstlertreffen und gemeinsame Besuche von Ausstellungen die Kulturuniversitäten zu einem populären und durchaus erfolgreichen Format – ihre Zahl stieg unionsweit von 2200 im Jahr 1959 auf 8000 im Jahr 1961.201 Auch die Zusammenarbeit von Kulturministerium, Gewerkschaften, Komsomol und der Gesellschaft „Znanie“ in gemeinsamen Kommissionen, die lokal die Programme der Universitäten zusammenstellten und Mitglieder der künstlerischen Intelligencija für Vorträge und Seminare mobilisierten, fügte sich in die Chruščev’sche Idee von der Verlagerung von Staatsaufgaben auf die Gesellschaft. Zu Beginn der 1960er-Jahre endete diese konservative Zwischenphase. Der Komsomol förderte nun die Initiative von unten stärker als zuvor und unterstützte auch offen westliche Kulturformen wie den Jazz. Getragen wurde dieser Kurswechsel von Befürchtungen um die negativen Effekte der Kampagne auf die Jugendlichen selbst, besonders jene, die sich bereits an westlicher Populärkultur orientierten und mit dem Programm der Kulturuniversitäten kaum mehr etwas anfangen konnten.202 Zwar zählten die Kulturuniversitäten allein in der Russischen Sowjetrepublik mehrere Millionen Besucher, jedoch blieben beispielsweise einfache Arbeiter außerhalb der Reichweite dieser erzieherisch-aufklärerischen Politik. Auch wenn bis 1958 der Organisationsgrad der Jugend im Komsomol auf beinahe 199 „Über die Aufgaben der Parteipropaganda unter den gegenwärtigen Bedingungen“, in: KPSS o Komsomole i Molodeži. Sbornik rezoljucij, rešenij s’ezdov, konferencij partij, postanovlenij ZK KPSS i drugich partijniych dokumentov (1917–1961gg.), 3. erweit. Aufl. Moskau 1962, S. 348–350, hier S. 350. 200 Vgl. Tsipursky, Pleasure, S. 315. 201 Vgl. ebd. S. 322. 202 Vgl. ebd. S. 344.
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50 Prozent angehoben werden konnte, machten die Reduzierung des Arbeitstags auf sieben Stunden und die schrittweise Vergrößerung der freien Zeit aus Sicht der Verantwortlichen eine erneute Förderung aller Formen jugendlicher Initiative und die „vernünftige Organisation jugendlicher Freizeit“203 zu einer unumgänglichen Priorität. Um auch Jugendliche zu erreichen, denen die bisherigen Angebote des Komsomol nicht entsprachen und die sich im Laufe der 1950er-Jahre eigene Räume geschaffen hatten, erweiterte sich das Spektrum von Inhalten und Formen der Freizeitangebote deutlich.204 Nicht zuletzt über den wahrgenommenen Anstieg von Jugendkriminalität und den ideologisch motivierten Kampf um die öffentliche Ordnung ließ sich dieser Zugang auch gegenüber konservativen Stimmen rechtfertigen. Öffentliche Sicherheit und Freizeitorganisation rückten so in einen engeren Zusammenhang. Das Format des Freiwilligenklubs („Klub na obščestvennych načalach“) verbreitete sich zu Beginn der 1960er-Jahre rasch in Gewerkschaftshäusern und -klubs. Anders als Mitte der 1950er-Jahre gestaltete sich diese Kooperation zwischen Gewerkschaften und Komsomol wesentlich leichter, da die von Jugendlichen selbstverwalteten Einrichtungen nur eine Räumlichkeit benötigten und deutlich geringere Kosten verursachten. Eine tolerantere Haltung des Komsomol gegenüber Jazz und Tanzveranstaltungen nach 1960 bei gleichzeitiger strikter Ablehnung von Rockmusik machte wiederum die Jugendkultur für die Klubeinrichtungen auch finanziell attraktiv.205 In den Konflikten zwischen konservativen und liberalen lokalen Vertretern der Jugendorganisation in den letzten Jahren der Amtszeit Chruščevs blieb die Frage höchst umstritten, inwieweit sowjetische Jugendarbeit überhaupt noch klassische Agitation und Propaganda enthalten solle oder das Zusammenkommen und die Unterhaltung („Obščenie“) zwischen Jugendlichen der beste Weg für erfolgreiche Politik des Komsomol sei.206 Es ist somit kaum übertrieben, den Zeitraum zwischen 1961 und 1964 in Bezug auf Themenvielfalt, Toleranz gegenüber westlicher Popkultur, Möglichkeiten eigener Initiativen und dem geringen Grad direkter politischer Einflussnahme als die liberalste Phase sowjetischer Jugendpolitik zwischen den 1920er-Jahren und der Perestroika zu bezeichnen. Die Innovation, die die Merkmale dieser kurzen Phase am deutlichsten verkörpern, sind die Jugendcafés („Molodežnoe Kafe“), die ab 203 „Über die Aufgaben des Komsomol in der Organisation der jugendlichen Freizeit“, Aus dem Beschluss des Plenums des ZK des VLKSM vom August 1960, in: Tovarišč Komsomol, Bd. II, S. 241–259, hier S. 243. 1958 sind 50 % der sowjetischen Jugendlichen (14–28-Jährigen) im Komsomol organisiert (1949 20 %). 204 Vgl. Fürst, Friends in Private. 205 Vgl. Tsipursky, Pleasure, S. 370–373. 206 Vgl. Stenogramm des Jugendforums in Leningrad vom 23./24.05.1962 „Der Jugendklub und seine Probleme“, RGASPI, f.M-1, op.32, d.1096.
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1961 rasche Verbreitung in der ganzen Union fanden. Drei Dekaden später, in der krisenhaften Situation der späten Perestroika, die auch die Jugendpolitik erfasst hatte, entsann man sich der vermeintlichen Stärken dieses Modells, auf die sich lokale Komsomolleiter besinnen sollten, um die Organisation für Jugendliche wieder attraktiv zu machen.207 Jugendcafés in den 1960er-Jahren, so eine pointierte Einschätzung der späten 1980er-Jahre, hätten drei der in der Perestroika wieder virulenten Probleme gelöst: „die städtische Einsamkeit des Menschen, seine nicht verwirklichte kreative Aktivität und die Jugendkriminalität“208. Bereits im August 1960 benannte das ZK des Komsomol Cafés als Orte, an denen die innovative Jugendarbeit ausgeweitet werden sollte.209 Nachdem das Thema in der sowjetischen Presse mit Diskussionen vorbereitet wurde, gründeten sich 1961 die ersten Cafés, die, abhängig von der lokalen Unterstützung des Komsomol und der Gewerkschaften, durchaus erfolgreich arbeiteten. Über deren Erfolg entschied maßgeblich ein Sowjet von Freiwilligen, die den umfangreichen organisatorischen Aufwand selbst trugen und verantworteten. Hierin zeigt sich die ideologische Nähe zum 1961 verabschiedeten Parteiprogramm, das als wichtigen Schritt zum Erreichen des Kommunismus die Abgabe staatlicher Verwaltungsaufgaben an die Gesellschaft vorsah.210 Die Cafés unterstanden tagsüber der Wirtschaftsverwaltung eines umliegenden Restaurants und boten der städtischen Laufkundschaft eine Auswahl an Getränken und kleinen Snacks. Abends jedoch organisierten die Jugendlichen selbst, in der enthusiastischen Anfangsphase von der Presse demonstrativ als „Herren ihres Cafés“211 bezeichnet, ein vielfältiges Programm, dass Jazzkonzerte, Filmvorführungen, Lesungen und Diskussionsrunden einschloss, in dessen Zentrum aber die Unterhaltung zwischen den Besuchern stehen sollte. Gerade diese kommunikative Funktion der Cafés fand in liberalen Teilen der städtischen Gesellschaft viel Unterstützung. Der Schriftsteller Leonid Lichodeev bezeichnete die Cafés bei einer Diskussionsveranstaltung des Komsomol als genuinen Ausdruck der menschlichen Natur.212 Deren Erfolg und die Unterstützung der Partei- und 207 Vgl. Polonskaja, L.: Echo des Café-Blues, in: Gorodskoe Chozjajstvo Moskvy (1989), 8, S. 35–36; Zum Komsomol in der Perestroika siehe auch: Riordan, James (Hg.): Soviet Youth Culture. Bloomington [u.a] 1989. 208 ebd. S. 35. 209 „Über die Aufgaben des Komsomol bei der Organisation jugendlicher Freizeit“, Beschluss des Plenums des ZK des VLKSM vom August 1960, in: Tovarišč, Komsomol, S. 241–259, hier S. 245. 210 Vgl. Program of the Communist Party of the Soviet Union. New York 1963, S. 104–114. 211 Vgl. „Komsomolze! Der Klub ist dein Haus, Du bist der Herr in diesem Haus [„Komsomolec! Klub – tvoj dom, ty – chozjain v dome tom!“]. ‚KIV’ zeigt Fahne. Reportage aus der Gegenwart und der nahen Zukunft, in: Komsomol’skaja Pravda, 30.01.1960. 212 Vgl. Stenogramm des Jugendforums in Leningrad vom 23./24.05.1962 „Der Jugendklub und seine Probleme“, RGASPI, f.M-1, op.32, d.1096, l.27.
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Komsomolführung führten zu einer raschen Ausbreitung in allen größeren Städten – 1965 existierten 123 Cafés in der Sowjetunion. Nachdem 1964 durch einen Ministerratsbeschluss die vorher häufig zu Konflikten führenden Zuständigkeiten zwischen Lebensmittelverwaltung und Komsomol geklärt wurden213, empfahlen beide Organisationen im Juli 1964 die massive Ausweitung der Cafés im ländlichen Gebiet zum Ziel der „Verbesserung der Massen- und Erziehungsarbeit“214. Aufgrund ihres hybriden Charakters zwischen gastronomischer Einrichtung, Jugendklub und Kulturzentrum entstanden eine Reihe von Problemen bei deren Versorgung, den institutionellen Zuständigkeiten, aber auch der politischen Einordnung. Besonders in der Anfangsphase klagten viele lokale Leiter über die Diskrepanz zwischen jugendlichem Enthusiasmus und fehlender Unterstützung bei der Ausstattung mit Möbeln, Instrumenten, Büchern, aber auch geeigneten Vortragenden, die ja unentgeltlich arbeiten sollten.215 Während die Übernahme eines Cafés in die Verwaltung der Lebensmittelgenossenschaften zwar die anfangs beklagte Armut der Speisekarte löste, erhöhte sich nun der Druck, durch den Verkauf von warmen Speisen und Alkohol ein Mindestmaß an Rentabilität zu gewährleisten.216 Sowohl hohe Preise als auch der Ausschank von Alkohol standen dem jugendpolitischen Zugang diametral entgegen. Viele der Jugendcafés verwandelten sich daher im Fall der Auflösung des Jugendsowjets ab Mitte der 1960er-Jahre häufig zu einfachen Kneipen.217 In der Geschichte der Jugendcafés spiegelt sich die soziale Stratifizierung der sowjetischen Gesellschaft der 1960er- und 70er-Jahre wider. Das ZK des Komsomol unterstützte die lokalen Initiativen für die ersten Cafés gerade wegen ihrer Attraktivität für alle Schichten der Jugend, die so aus ihren Rückzugsräumen in Privatwohnungen und Hinterhöfen in die sowjetische Öffentlichkeit gelockt werden sollten. Das kulturelle Programm der Cafés, so stark es im Einzelfall auch variierte, zielte auf Bildung und begünstigte so ein Auditorium mit höheren Schulabschlüssen. Der akute Raummangel in den Stadtzentren erschwerte die Schaffung neuer Cafés, von denen wiederum nur eine geringe Zahl spezifisch für die Jugend aus dem Arbeitermilieu intendiert war.218 Lange Schlangen, die sich vor den erfolgreichsten der Cafés in Moskau und Leningrad bildeten, aber auch die 213 Vgl. „Verordnung über das System der Organisation und Arbeit der Jugendcafés“, Staatskomitee für Handel des Ministerrates der SSSR vom 07.04.1964. 214 „Über die Organisation von Jugendcafés“, Russischer Verband der Konsumgenossenschaften (Rospotrebsojuz) und Komsomol vom 20.07.1964, RGASPI, f.M-1, op.31, d.122, l.109. 215 Vgl. Stenogramm Jugendforum 1962. 216 Vgl. Sekretariat des ZK des VLKSM „Beschluss über grobe Mängel in der Organisation und Arbeit der Jugendcafés“ vom 02.06.1964, RGASPI, f.M-1, op.3, d.12, l.106–108. 217 Vgl. ebd. l.107. 218 Vgl. Tsipursky, Pleasure, S. 387.
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soziale Zusammensetzung der Sowjets, die das Programm zusammenstellten, leisteten Vorwürfen Vorschub, der Komsomol würde einseitig elitäre Tendenzen unterstützen. Gegner dieses liberalen Zugangs zur Jugendpolitik erhielten zusätzliche Argumente durch die Tatsache, dass sich besonders die Jugendcafés in Leningrad, Moskau und den Hafenstädten von Riga, Tallinn und Vladivostok zum Treffpunkt der westlichen Diaspora entwickelten.219 Aus Sicht der Partei- und Komsomolführung erfüllten die Jugendcafés eine durchaus repräsentative Funktion gegenüber dem Westen. Ihre Befürworter verstanden diese schließlich auch als ein ursprünglich westliches, aber für das Projekt der sowjetischen Moderne weiterentwickeltes Format. Die Eröffnung des ersten Jugendcafés in Moskau im Oktober 1961 fiel nicht zufällig auf den XXII. Parteitag, dessen ausländische Delegationen während der Veranstaltung das Café besuchen konnten.220 Die sowjetische Presse inszenierte Cafés im Kontext solcher Delegationsbesuche dann als Orte des Austauschs: Es sei, so ein Artikel im Jugendmagazin Rovesnik anlässlich des Besuchs einer britischen Delegation im Molodežnoe 1963, „besser, sich in Jugendcafés als auf den Schlachtfeldern zu begegnen.“221 Jeder Kontakt von westlichen Ausländern und sowjetischen Jugendlichen, der sich der Inzenierung und Kontrolle verweigerte, rief jedoch Skepsis und Ablehnung hervor. Das ZK des Komsomol warnte bereits 1964 vor „offener Propaganda bourgeoiser Ideologie, antisowjetischen Äußerungen und dem Loben des sogenannten ‚freien Lebensstils‘ im Ausland“ und „schmutzigen Geschäften zum Kauf und Verkauf ausländischer Waren“, mit denen westliche Vertreter „irgendwie auf unsere Jugend Einfluss nehmen wollen.“222 Zahlreiche Vorsitzende der Cafésowjets verloren zwischen 1963 und 1964 aufgrund solcher vermeintlichen Missstände ihre Positionen. Deren Erfolg war somit nicht nur davon abhängig, genügend institutionelle und personelle Unterstützung bei Gewerkschaften, Künstlerorganisationen und Stadtkomitees zu gewinnen und breit zugängliche Jugendkultur mit Rentabilitätsforderungen zu versöhnen. Sie mussten vielmehr immer wieder enthusiastische und unbezahlte Jugendliche finden, diese anhalten, sich neben Beruf und Studium zu engagieren und die wöchentliche Praxis in den Cafés gegen Vorwürfe sozialer Exklusivität und politischer Zweifel zu verteidigen. Der Machtwechsel von Chruščev zu Brežnev 1964 konstituierte im Feld der Jugendpolitik keine einschneidende Zäsur. Während die offizielle Kulturpolitik in den anderthalb Jahren nach dem Skandal um die Manege-Ausstellung bereits deutlich konservativer wurde, diese zwar für einige Monate nach dem Machtwechsel 219 Vgl. „Beschluss über grobe Mängel“, l.107. 220 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 158. 221 Kaširin, M.: Treffen im „Molodožnoe“, Rovesnik (1963) 1, S. 24. 222 „Beschluss über grobe Mängel“, l.107.
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noch einmal liberalere Züge annahm, war mit dem Prozess gegen die Literaten Daniel und Sinjavskij 1965 eine deutliche Kehrtwende hinsichtlich parteilicher Reglementierung der literarischen Kultur vollzogen. Der Komsomol förderte die Jugendcafés bis zum Ende der 1960er-Jahre als „sozialistische Version einer modernen Konsumgesellschaft […], die deren Glamour ohne die sozialen Probleme die mit Individualismus und Klassenkampf assoziiert waren, verkörperte.“223 Der Einfluss der Komsomolbürokratie gegenüber der Basis weitete sich ab Mitte der 1960er-Jahre schrittweise aus. Seit Beginn der Initiative in den 1950er-Jahren existierte bereits ein genuines Bedürfnis konservativerer Teile der Bürokratie nach besserer Übersicht, wissenschaftlicher Erfassung und Kontrolle. 1963 konstatierten Leningrader Vertreter dieses Flügels: „Keine Einrichtung der Stadt weiß, wie viele Klubs und freiwillige Interessenvereinigungen es insgesamt gibt – das ist dringend notwendig, um einen gesamtstädtischen methodischen Sowjet für die Klubs zu schaffen.“224 Die Renaissance und Neuentdeckung der Soziologie nahm daher nicht zufällig ihren Anfang beim, in der Redaktion der Komsomol’skaja Pravda angesiedelten, Institut für das Studium der Öffentlichen Meinung und führte zu einer teilweisen Verwissenschaftlichung der Jugendfrage, aus der politisch relevante Fragen auf die Gesamtgesellschaft übertragen werden konnten.225 Das anhaltende Wachstum von Klubs und Laienkollektiven bis Mitte der 1960er-Jahre stützt den Befund von liberaler Kontinuität von der Chruščev- in die ersten Jahre der Brežnevzeit hinein. Mit der ab Mitte der 1960er-Jahre zunehmenden Bürokratisierung der Komsomolstrukturen und einer neuen Konjunktur politischer Schlagwörter wie „Disziplin“ begann das jugendliche Engagement in den Einrichtungen vor Ort deutlich abzunehmen.226 Zwar konnten sich die Teilnehmer städtischer Komsomolkonferenzen der Vorstellung hingeben, auf Basis soziologisch gestützter und schichtenspezifischer Untersuchungen eine Jugendpolitik auf empirischer Grundlage zu gestalten. Das freiwillige Engagement in der künstlerischen Laientätigkeit und in den Basisstrukturen des Komsomol jedoch hatte sich in Leningrad Ende der 1960er-Jahre innerhalb der Arbeiterjugend auf
223 Tsipursky, Pleasure, S. 405. 224 Stenogramm des zweiten Plenums des Leningrader Stadtkomitees des Komsomol „Über die weitere Entwicklung der gesellschaftlichen Grundlagen der Organisation jugendlicher Freizeit. Sektion für Klubs und Interessenvereinigungen“, 18.05.1963 CGAIPD SPb, f.k-881, op15, d.16, l.23. 225 Vgl. Huxtable, Simon: In Search of the Soviet Reader. The Kosygin reforms, Sociology, and Changing Concepts of Soviet society, 1964–1970, in: Cahiers du monde russe 54 (2013), 3, S. 623– 642.; Grušin, Boris: Zum Freizeitproblem in der UdSSR. Moskau 1966; Ders.: Die freie Zeit als Problem. Soziologische Untersuchungen in Bulgarien, Polen, Ungarn und der Sowjetunion, hrsg. von Arnold Harttung. Berlin 1970. 226 Tsipursky, Pleasure, S. 408.
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drei, innerhalb der Intelligencija auf zwei Prozent reduziert.227 So gewann die sowjetische Jugendpolitik durch Re-Zentralisierung der Jugendpolitik und die sinkende Bedeutung von Initiative in politischer Sprache und Praxis schon vor der Zäsur des Prager Frühlings jene Gestalt, die bis zur Perestroika Bestand haben sollten. Eine Mitgliedschaft in der Organisation blieb für den jungen Sowjetbürger mit beruflichen Ambitionen unumgänglich. Ihre ideologischen Appelle, deren Bekenntnis allenfalls noch kanonisches Wissen, aber keine Überzeugungen mehr erforderte, reduzierten sich aus Sicht vieler Sowjetbürger auf leere Phrasen und Folklore.228 Nicht nur emigrierte Sowjetbürger bestätigten den Eindruck sinkender Überzeugung und Engagements in die proklamierten Ideale und politischen Rituale des Komsomol.229 Der Bau der Baikal-Amur-Magistrale zeigt, dass der Komsomol als Massenorganisation und Mobilisierungsinstrument der Partei auch in den 1970ern relevant blieb.230 Anders als im Stalinismus jedoch bot sich hinter den Kulissen für seine Mitglieder nun wachsender Raum für schattenwirtschaftliche Aktivitäten und Netzwerke, die erst in der Perestrojka und der post-sowjetischen Welt vollends zum Tragen kommen sollten.231
5.2.1.3 Der Komsomol als kultureller Akteur und Impulsgeber für den Jazz Der Komsomol trat durch die Förderung der künstlerischen Laientätigkeit nach Ende der Antikosmopolitismuskampagne stärker als kultureller Akteur in Erscheinung. Für jazzaffine Jugendliche bot das Format des Laienorchesters erstmals die Möglichkeit, in einem legitimen Rahmen unter definierten Bedingungen Jazz und jazznahe Musik zu spielen, ohne den gleichen Repertoirekontrollen wie auf den offiziellen Bühnen ausgesetzt zu sein. Die Jugendorganisation und die Gewerkschaften boten ihnen zudem Instrumente, Räumlichkeiten zum Proben und Auftrittsmöglichkeiten. Diese materielle und ideelle Unterstützung galt dabei keineswegs dezidiert dem Jazz, der immer noch jederzeit zum Politikum werden konnte. Dem Laienorchester 227 Vgl. Stenografischer Bericht des Plenums des Leningrader Stadtkomitees des Komsomol „Über die Rolle des Kirovskij-Rayon für die Führung der Arbeit der Komsomolkomitees zur Organisation der jugendlichen Freizeit“ vom 25.02.1969, CGAIPD SPb, f.k-881, op.17, d.2, l.6–122, hier l.38. 228 Vgl. Yurchak, The Last Soviet Generation. 229 Vgl. Unger, Aryeh L.: Political Participation in the USSR: YCL and CPSU, in: Soviet Studies 33 (1981), 1, S. 107–124. 230 Vgl. Ward, Christopher John: Brezhnev’s Folly: The Building of BAM and Late Soviet Socialism. Pittsburgh 2009; Grützmacher, Johannes: Die Baikal-Amur-Magistrale: vom stalinistischen Lager zum Mobilisierungsprojekt unter Brežnev. München 2012. 231 Vgl. Zhuk, Rock and Roll in the Rocket City; Solnick, Steven L.: Stealing the State. Control and Collapse in Soviet Institutions. Cambridge (Mass.) u.a. 1998.
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kam im sowjetischen Referenzsystem selbst seit jeher eine große Bedeutung zu. Das massenhafte Engagement in musikalischen Laienorchestern und -gruppen ließ optimistische Deutungen zu: Es schien zu zeigen, wie enthusiastisch Jugendliche sich mit musikalischer Kultur auseinandersetzten, durch diese Beschäftigung politisch und kulturell reiften und so nach außen einen spezifisch sozialistischen, dem Westen überlegenen Kulturkonsum verkörperten. Die Vielfalt der musikalischen Genres, wie klassische und Unterhaltungsmusik, Folklore, Instrumental- und Vokalmusik, aber auch Chöre, sowie die hohe Zahl an Teilnehmern gebieten Vorsicht gegenüber Argumenten, die künstlerische Laientätigkeit als Kultur zweiter Klasse zu verstehen.232 In Einzelfällen erwuchsen aus erfolgreichen Laienensembles professionelle Gruppen mit langanhaltendem Erfolg, wie der Pjatnickij-Chor, der erste staatliche Folklorechor der Sowjetunion, zeigt.233 In den 1930er-Jahren setzten die kulturellen Eliten der Partei mit dem Sozialistischen Realismus als kulturellem Kanon eine Reihe professioneller Standards wie Notenlesen und Musikgeschichte in den Laiengruppen durch. Mit dem damit einhergehenden Verlust an kreativer Autonomie, wie dem freien Schreiben eigener Stücke, verlor der Begriff „samodejatel’nyj“ seine semantische Bedeutung von „selbstständig“234. Das Heer von hunderttausenden Bürgern, die in der künstlerischen Laientätigkeit in Musik oder Theater involviert waren, stellte für Kulturinstitutionen, die Konzert- und Theaterorganisation sowie die Konservatorien und Theaterschulen jedoch auch einen Pool potentieller Nachwuchskünstler. Nach 1953 eröffnete die sowjetische Laienkunst ihren Akteuren neue Möglichkeiten. Die britische Historikerin Susan Constanzo hat überzeugend gezeigt, dass sich die im Laientheater engagierte, junge Intelligencija in den 1960er-Jahren eine Reihe von Freiräumen erarbeiten konnte, die im professionellen Theater nicht möglich waren, und diese durch die geschickte Verwendung politischer Schlüsselbegriffe der Epoche wie Graždanstvennost’ gegenüber Kritikern verteidigen konnte.235 Erst die Rückwirkungen des Prager Frühling 1968 auf die sowjetische Innenpolitik schlossen auch diese Art von Freiräumen abrupt. Für die Anhänger des politisch stark aufgeladenen Jazz nach 1953 bot die künstlerische Laientätigkeit des Komsomol ein institutionelles Engagement innerhalb der Kultur, in dem die Musik angeeignet, gespielt und weiterentwickelt werden konnte. Mit Beginn der 1960er-Jahre erodierte schließlich die Grenze zwischen Amateur- und
232 Vgl. Solnceva, L. P/Junisov, M. V. (Hgg.): Samodejatel’noe chudožestvennoe tvorčestvo v SSSR. Očerki istorij konec 1950-ch – načalo 1990-ch godov. St. Petersburg 1999. 233 Vgl. Smith, From Peasants to Professionals. 234 Vgl. ebd. S. 416. 235 Vgl. Constanzo, Amateur Theatres.
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professioneller musikalischer Tätigkeit, sodass einigen von ihnen der Wechsel zum Beruf des Musikers oder Komponisten gelang. 1946 nahm der Komsomol die während des Krieges vernachlässigte Förderung der künstlerischen Laientätigkeit rasch wieder auf. Die Statistik suggeriert einen relativ raschen Erfolg dieser Bemühungen, wuchs doch die Zahl der Teilnehmer in Laienensembles von zwei Millionen im Jahr 1945 auf über dreieinhalb Millionen im Jahr 1947. Einen Monat vor Stalins Tod 1953 erreichten die Teilnehmerzahlen die Marke von 4,8 Millionen.236 Entsprechend dem Fokus der Jugendpolitik auf Mobilisierung und Kampf gegen westliche Einflüsse ab 1948 lag der Schwerpunkt der geförderten Laientätigkeit jedoch auf Chören, Tanzensembles mit nationaler Thematik und politischen Theaterdramen. In Moskau führte die Anti-Kosmopolitismuskampagne zu einem spürbaren Rückgang von Estradalaienorchestern. Deren Kontrolle vor Ort oblag dem Haus für Volksschaffen, das seinen Einfluss auf die hauptstädtische Kultur im Zuge der Kampagne deutlich ausweiten konnte.237 Die geografische Varianz der Zensur setzte jedoch jedem Säuberungsversuch auf dieser untersten Ebene der kulturellen Hierarchie enge Grenzen. Mangels klarer Richtlinien und konkreter Feindbilder verblieb die letztliche Entscheidung häufig bei örtlichen Kontrollorganen, womit Repertoiresäuberungen in diesem Segment regional sehr unterschiedlich ausfielen und im Einzelfall verhandelbar wurden. Auch blieb die Planorientierung vieler Kulturhäuser unter Gewerkschaftskontrolle ein ernsthaftes Hindernis für die Beseitigung von jugendlichen Orchestern, die Jazz, Rumba oder Tango im Programm hatten. Die hybriden Grenzen zwischen diesen Stilen verschafften einem pragmatisch denkenden Komsomolfunktionär bei der Ausgestaltung eines Jugendabends zudem etwas Spielraum, um zwischen ideologischen Anforderungen von oben und der nötigen Motivation seiner Mitglieder zu navigieren. Mit der steigenden Zahl „gesäuberter“ Klubs und Kulturhäuser stieg zudem implizit die Nachfrage nach Orten, an denen man zu einer gewissen musikalischen Vielfalt tanzen konnte. Bemerkenswert bleibt der Befund, dass trotz antiwestlicher und antisemitischer Ausrichtung der Kampagne keine radikalen Maßnahmen gegen die Jugendlichen ins Werk gesetzt wurden, die westliche Musik mit großem Interesse verfolgten, sich aber weder ebenso auffällig wie die Stiljagi kleideten noch sich illoyal gegenüber dem Staat verhielten.238 Die Folgen der Kampagne für die Jugendpolitik werden erst retrospektiv durch das starke Anwachsen der Teilnehmerzahlen in Laiengruppen nach 1953 deutlich. Von vier Millionen Teilnehmern in 20.0000 Amateurzirkeln 1950 wuchs deren
236 Zahlen nach Tsipursky, Pleasure, S. 85. 237 Vgl. ebd., S. 127–128. 238 Vgl. ebd., S. 134.
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Zahl auf 9 Millionen Mitglieder in 60.0000 Kollektiven im Jahr 1962.239 Zudem wurden zwischen 1955 und 1958 25.000 Leiter von Amateurkollektiven ausgebildet240. Nach 1953 setzte ein Boom von unbeständigen Laienestradagruppen mit buntem Programm ein, die der sibirische Jazzhistoriker Sergej Beličenko als „jazznahe Bewegung“ charakterisiert, „die im Bereich des Jazz nicht in Professionalismus oder Stil, sondern im Bereich der Verbreitung und Propaganda der Werte der Massenkultur dieser Periode wetteiferten.“241 Diese Gruppen deckten ein musikalisch ähnlich breites Spektrum ab, wie die in der musikalischen Schattenwirtschaft aktiven Orchester. Beide bedienten Tanzabende, wobei in der Praxis die Bezeichnung „Laienorchester“ häufig lediglich bedeutete, dass diese Gruppen ohne Bezahlung auftraten. Mit steigender musikalischer Qualität und entsprechendem Selbstbewusstsein verschwamm jedoch auch diese Grenze, da talentierte und bekannte Gruppen für die Leiter von Kulturhäusern dann auch zur lohnenden Investition werden konnten. Die Neuausrichtung der Komsomolpolitik ließ aber auch eine umgekehrte Entwicklung zu. In der Schattenwirtschaft erfolgreiche Jazzgruppen, wie die Gruppe „Die Acht“ („Vos’merka“), in der Georgij Garanjan und Konstantin Bacholdin spielten, wurden unter das Dach des Komsomol geholt. Das „Zentrale Haus der Kunstarbeiter“ CDRI in Moskau integrierte die Musiker 1955 unter Leitung des jungen Komponisten Jurij Saul’skij als Jugendorchester, welches 1957 schließlich einen erfolgreichen, aber skandalisierten Auftritt bei den Weltjugendfestspielen bestreiten sollte.242 Das CDRI beheimatete ab Mitte der 1950er-Jahre eine Reihe jazznaher und musikalisch talentierter Gruppen und wurde für Enthusiasten aller Art zu einem Mekka des Hörens von und Austauschs über Musik.243 Von dessen Sogwirkung auf talentierte Künstler aus der künstlerischen Laientätigkeit zeugt eine Beschwerde der Gewerkschaften vom März 1957, die die Abwerbung von Musikern aus ihren Klubs im Zuge der Vorbereitungen der Weltjugendfestspiele monierten.244 Als Treffpunkt der künstlerischen Intelligencija nutzte der Komsomol umgekehrt die Bekanntheit des CDRI und seine kulturelle Relevanz für die Stadt Moskau, um Diskussionsveranstaltungen zu strittigen Themen wie dem Jazz unter Einbeziehung
239 Vgl. Tsipursky, Having Fun, l.15. 240 Vgl. Resolution des 23. Kongresses des VLKSM über den Rechenschaftsbericht des ZK des VLKSM, in: Spravočnik Sekretarja pervičnoj komsomolskoj Organizacii. Moskau 1958, S. 81–112, hier S. 98. 241 Beličenko, Institucional’nye osobennosti, S. 175. 242 Vgl. Ignat’eva, Musikalische Stiljagi. 243 Vgl. Kull’, Stupeni, S. 38–39. 244 Vgl. Stenogramm der Sitzung der Präsidiumsverwaltung des CDRI vom 10.04.1958, RGALI, f.2932, op.1, d.278, l.1–6, hier l.4.
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kultureller Autoritäten wie Leonid Utesov auszurichten.245 Das CDRI und seine tendenziell höher gebildete jugendliche Besucherschaft verdeutlichen, dass sich bis 1957 innerhalb der Komsomolbürokratie zwei unterschiedliche Positionen gegenüber dem Jazz herauskristallisiert hatten. Deren liberalere Vertreter begannen, Jazz mit seiner wachsenden Anhängerschaft, die sich eben hauptsächlich in studentischen Laienorchestern musikalisch auszudrücken begann, als schichtenspezifische Musik zu verstehen, die unter bestimmten Bedingungen durchaus in das ideologische Design der Chruščev-Epoche zu integrieren war. Konservative Komsomolvertreter wiederum, die auch die gleichzeitig stattfindende Kampagne gegen die Stiljagi forcierten, lehnten die Integration westlicher Populärkultur in die Jugendpolitik ab und fanden in den örtlichen Häusern für Volksschaffen geeignete Verbündete in der Disziplinierung von Laienorchestern. Das VI. Weltjugendfestival im Sommer 1957 leitete in Verbindung mit der politischen Destabilisierung nach der Geheimrede Chruščevs eine Wende in der Jugendpolitik ein. In zweifacher Hinsicht wirkte die politisch hochbrisante Veranstaltung für den Jazz als Katalysator. Viele seiner sowjetischen Protagonisten wurden durch die reale Begegnung mit westlichen Jugendlichen in diesen Monaten nachhaltig geprägt. Konfrontiert mit Mode und Verhalten zwang das Treffen mit westlichen Altersgenossen besonders die dem Milieu der Stiljagi nahestehenden Akteure zu einer radikalen Neubewertung. Der Saxofonist Aleksej Kozlov beschrieb dieses Zusammentreffen als „Schock“, da sich die virtuellen Vorstellungen vom typisch amerikanischen Stil innerhalb seines Milieus von der Wirklichkeit radikal unterschieden.246 Gleichzeitig eröffnete das Festival die Möglichkeit, ausländische Jazzgruppen wie die polnische Band von Krzystof Komeda oder das britische Quintett von Jeff Ellison live spielen zu sehen. Gruppen wie diese hatten in stilistischer Hinsicht begonnen, Swing-Elemente im Jazz deutlich zu reduzieren und die ab den 1960er-Jahren diskutierte Frage nach einem europäischen Jazz zu stellen.247 Bei einer auf Interaktion basierenden Form von Musik ist die Bedeutung des Besuchs von Live-Konzerten kaum zu überschätzen – für alle sowjetischen Nachwuchsmusiker ergaben sich aus diesen Begegnungen, wie später mit den Musikern des Goodman-Orchesters auch, wichtige Impulse und Motivationen zur eigenen Weiterentwicklung.248 Der Pianist Michail Okun’ beschrieb die Wirkung des Festivals für die Popularität des Jazz als einen „Schuss Heroin in den sowjetischen Körper“249. 245 Vgl. Stenogramm eines Abends zum schöpferischen Streitgespräch „Über musikalische Geschmäcker der Jugend“ am 22.3.1957, RGALI, f.2932, op.1, d.1057, l.1–62. 246 Kozlov, Džaz, S. 102. 247 Vgl. Ritter, Jazz-Musiker als „Gründungsväter. 248 Interview mit Aleksej Kuznecov vom 06.07.2009. 249 Interview mit Michail Okun’ vom 08.07.2009.
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Zur Ambivalenz dieser seltenen direkten Zusammenkünfte gehört auch, dass sie bei sowjetischen Nachwuchsmusikern eine Erkenntnis forcieren konnten, die durchaus mit den politischen Zielen des Festivals und des Komsomol in Einklang zu bringen war. Als es Aleksej Kozlov gelang, sich nach einem Konzert des Jeff Ellis Quintetts hinter die Bühne zu den Musikern zu schleichen, stellte er zufrieden fest, mit welchem Erstaunen sich die Gesichter der englischen Musiker füllten, als dieser ganze Sololinien des Saxofonisten Jerry Mulligan vorsingen konnte.250 „In diesem Moment“, so Kozlov, „fühlte ich das erste Mal Stolz darüber, dass ich als persönliches Beispiel irgendwie den Eindruck unseres Landes auf die Ausländer verbessern konnte und zeigte, dass wir kein Land von Wilden sind. […] Ich empfand mich erstmals als Patriot.“251 Der in der spätstalinistischen Propaganda forcierte Vorwurf der „Speichelleckerei („podchalimstvo“) gegenüber dem Westen“ war in solch konkreter Situation obsolet. Die Schnittflächen zwischen Jazzenthusiasten und dem Komsomol, dessen Ziel es war, die sowjetische Jugend während der Festspiele als gebildet und kultiviert zu repräsentieren, müssen bei einer Geschichte der kulturellen Öffnung des Landes nach 1953 mitbedacht werden, wenn man der westlichen Kultur keine einseitig-subversive Wirkung unterstellen will. Quantitativ bedeutsam für die Verbreitung des Jazz durch jugendliche Musiker im Umfeld des Festivals waren die Vorbereitungswettbewerbe des Komsomol. Deren Ablauf und Reglement legte das ZK des Komsomol im Januar 1956 fest und richtete diese ab Herbst 1956 im ganzen Land für Laienorchester aus.252 Die Sieger der Wettbewerbe sollten die sowjetische Seite in den internationalen Wettbewerben während des Festivals würdig vertreten. Allein in Moskau entstanden im Vorfeld 470 neue Laiengruppengruppen mit 12.000 Teilnehmern, darunter 130 neue Estradakollektive.253 Die hohe Zahl von kleinen Jazzensembles in der Vorbereitungsphase setzte die Spitze des Komsomol politisch unter Druck. Bereits während des Siebten Plenums des Komsomol im Februar 1957 forderte der Erste Sekretär Šepilov, „entschieden gegen Versuche des Einschmuggelns von jeglicher Form von Stümperei und Geschmacklosigkeit einzutreten“254. Neben Mängeln im Bereich von Marschstücken und Liedern warnte er, dass „außerdem viele
250 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 110. 251 ebd. 252 Vgl. B. Rjurikov und B. Jarustovskij, Abteilung für Kultur des ZK der KPdSU an das ZK vom 22.05.1957, RGANI, f.5, op.36, d.46, l.54–57, hier l.54. 253 Griščenko, A.: 100.000 auf der Bühne. Zu den Ergebnissen des Wettbewerbs der Laienkunst, in: Komsomol’skaja Pravda, 09.06.1957. 254 Protokoll und Stenogramm des Siebten Plenums des ZK VLKSM vom 26./27.02.1957, RGASPI, f.M-1, op.2, d.356, l.1–240, hier l. 94.
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Jazzgruppen entstehen, die dort geschaffen werden, wo sie keiner braucht, häufig mit leichtem, dünngeistigem Programm“255. Zwei Monate später musste sich die Jugendorganisation schließlich gegen einen Angriff des Ersten Sekretärs des Komponistenverbands Chrennikov erwehren, der auf einer Rede vor dem Verband vermutlich auf Initiative konservativer ZK-Mitglieder den Komsomol für die Verbreitung des Jazz im Land verantwortlich machte.256 Šelepin bemühte sich in einem Schreiben an das ZK, die Vorwürfe als falsch darzustellen und machte im Gegenzug den Komponistenverband wegen des Fehlens neuer Estradastücke mitverantwortlich für die Situation.257 Die Abteilung Kultur wiederum attestierte zwar, dass Chrennikov den falschen Ton getroffen habe. Die Missstände der „Džazomanie“ im Land, die Entstehung und einseitige Förderung von Jazzgruppen, in denen nur noch „Blech- und Schlaginstrumente zum Einsatz kommen“ und die zuungunsten von Folklore und Blasmusikgruppen „bessere Instrumente und Transportbedingungen erhalten haben“258, bestätigte die Abteilung in ihrem Antwortschreiben jedoch. Über Ereignisse dieser Art wurde der konservative Umschwung in der Partei- und Jugendpolitik nach 1956 innerhalb der Eliten und nach unten kommuniziert. Auch in der Bilanz der Vorbereitungswettbewerbe erhielten die Estradalaienorchester massive Kritik für die Aufführung „pseudonationaler ausländischer Lieder“ sowie ihre „Aufführungsarten in den bei weitem nicht besten Formen“.259 Die Jury der Vorwettbewerbe, die von Vertretern des Moskauer Hauses für Volksschaffen dominiert wurde, vergab daher in dieser Kategorie keinen ersten Preis und ließ vielmehr 33 der 36 Gruppen, die westliche Musik spielten, im letzten Wettbewerb durchfallen.260 Der Abschlussbericht des Moskauer Stadtkomitees des Komsomol zu den Wettbewerben sprach von einer allgemeinen Steigerung des künstlerischen Niveaus der Laientätigkeit, schloss die Estradaorchester aus, „die in ihrer Mehrheit den Weg der Nachahmung des Stils der westlichen Jazzbands gehen“ und „in ihrem Repertoire hauptsächlich pseudonationale und ausländische Stücke haben“261. Die Mehrzahl dieser Orchester verortete man an Universitäten und Forschungseinrichtungen und empfahl neben der größeren Einflussnahme der lokalen Komsomolvertreter auf das Programm 255 ebd. 256 Vgl. Abteilung für Kultur des ZK der KPdSU 22.05.1957, l.55. 257 Schreiben des ersten Sekretärs des VLKSM Šelepin an das ZK der KPdSU vom 12.04.1957, RGANI, f.5, op.36, d.46, l.51–53. 258 Vgl. B. Rjurikov und B. Jarustovskij, Abteilung für Kultur des ZK der KPdSU an das ZK vom 22.5.1957, RGANI, f.5, op.36, d.46, l.54–57, hier l.54. 259 Griščenko, 100.000 auf der Bühne. 260 ebd., Tsipursky, Pleasure, S. 291. 261 Über die Bilanz der Wettbewerbe zur künstlerischen Laientätigkeit auf dem Jugendfestival der Stadt Moskau 18.06.1957, CGAM, f.429, op.1, d.548, l.100–102a, hier l.100.
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eine bessere Auswahl der Leiter von Laienkollektiven, eine Aufgabe, die 1958 dem Haus für Volksschaffen übertragen wurde.262 Diese Schlussfolgerung und Maßnahmen, aber auch der Skandal um das erfolgreiche Orchester von Jurij Saul’skij während des Festivals stehen für die zeitweilige konservative Neuorientierung der Jugendpolitik, die mit Blick auf den Jazz durch ihre stärker antiwestlichen Töne wirksam wurde. Dennoch zwang die Tatsache der Popularität des Jazz unter der sowjetischen Jugend das Komsomol zumindest intern zu einem langfristigen Arrangement. Das Festival habe gezeigt, so die Autoren in einem internen Abschlussbericht des Festivals, dass das Interesse der Jugend an Jazz gewachsen ist.263 Über den grundsätzlichen Umgang gegenüber dem Jazz schien in der Führung des Komsomol zu diesem Zeitpunkt noch keine Entscheidung gefallen zu sein. Skeptiker dürften sich durch die politische Brisanz, die aus den Vorbereitungswettbewerben erwuchs, bestätigt gesehen haben. Es gebe nun zwei gegensätzliche Ansichten zum Jazz: „Die eine besagt, dass man Jazzmusik beinahe vollständig liquidieren sollte. Die andere Seite meint, mit allen Mitteln die Entwicklung des Jazz voranzutreiben nach der Art, wie es auch in kapitalistischen Staaten passiert.“264 Das Plädoyer der Autoren deckt sich mit dem mobilisierenden und erzieherischen Impetus, der sich in der Jugendpolitik bis zum Beginn der 1960er-Jahre herausbilden sollte. „Nach unserer Meinung sollten wir nicht, ja, darin besteht keinerlei Notwendigkeit, die sowjetische Jugend von Jazzmusik isolieren.“265 Um der Jugend zu helfen, „sich zurechtzufinden damit, wo guter und wo schlechter Jazz ist“, schlugen die Autoren vor, geeignete Orchester mit Vorbildwirkung zu schaffen und entsprechende Wettbewerbe für Estradagruppen und Jazzbands auszurichten. Die Trendwende in der Jugendpolitik ab dem Beginn der 1960er-Jahre begünstigte die Entwicklung des Jazz und seiner Gruppen durch die Gründung von Jazzklubs und Jugendcafés, aber auch durch die Thematisierung in den verbandseigenen Medien. Das zentrale Presseorgan des Komsomol, die Komsomol’skaja Pravda aber auch seine regionalen Ableger wie die Leningrader Smena oder der Moskovskij Komsomolec berichteten mit Beginn der Dekade häufiger über den Jazz und transportierten in den Texten die neuen positiven Attribute, die mit der Musik als akzeptierter Form jugendlichen Musikgeschmacks verknüpft wurden. Vereinzelt gab die Jugendpresse musikalischen Experten auch schon Ende der 1950er-Jahre Raum für Neubewertungen des Jazz. Der Dirigent der Moskauer Konzertorganisation 262 ebd. l. 101, Tsipursky, Pleasure, S. 294. 263 Vgl. Abschlussbericht zur Bilanz der Weltjugendfestspiele, (o. D.), RGASPI, f.M-1, op.3, d.947, l.16–42, hier l.40. 264 ebd. 265 ebd.
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Kadomcev mahnte 1958 im Artikel „Nicht jeder Jazz ist schlecht“ ein Ende der Fundamentalopposition gegen die Musik an, die nicht zuletzt durch die Revision des ZK Beschlusses zur Oper „Die große Freundschaft“ 1957 möglich wurde.266 Erst ab den 1960er-Jahren aber nahm die Zahl affirmativer Artikel deutlich zu. Das konnte in der Form von Wiedergaben der vielerorts veranstalteten Streitgespräche und Dispute geschehen, in denen unter Losungen wie „Über Geschmack muss man streiten“ ein pluralistischeres Spektrum von Musik diskutiert und legitimiert wurde. Hier trat der Jazz aus seiner vorherigen Stigmatisierung heraus und erlangte, so er denn technisch und performativ gut gespielt wurde, einen gleichberechtigten Platz im Pantheon legitimer jugendlicher Musikkultur.267 In dem Maße, wie Jazz im Jugenddiskurs mit Bildung, Kultiviertheit und Zukunftsoptimismus verknüpft wurde, bot er sich an, über das „Sowjetische“ hinaus eine sozialistische Kulturerscheinung zu sein, die auch im nahen Ausland beobachtet werden konnte. Die Leningrader Leser der Smena erfuhren so auch aus offizieller Hand, welche Atmosphäre im Warschauer Studentenjazzklub „Hybrid“ vorherrschte, der bis Anfang der 1960er-Jahre eher als mythischer Ort unter Kennern galt und die langfristige Vorbildwirkung der polnischen Jazzszene für die sowjetischen Musiker und Organisatoren begründete.268 „Sie sitzen, hören, unterhalten sich sehr leise, rauchen, übrigens sehr viel, auch die Mädchen, irgendjemand stampft ganz leise mit seinem Bein mit. Und das war’s. Sie tanzen nicht, zucken nicht und machen keinen Lärm. Hier kommt man nur hin, um Jazz zu hören.“269 Als unausgesprochenes Gegennarrativ zu dieser Szenerie erscheint hier westliche Tanzmusik, gegen deren populärste Formen Twist und Rock ’n’ Roll die sowjetische Presse im selben Zeitraum umfassende Artikel publizierte.270 Die Jugendpresse bildete in dieser Zeit auch den generellen Deutungsumschwung durch die musikalischen Experten ab. Im August des Jahres 1962 publizierte Smena einen Artikel Utesovs zum Jazz, in dem er das genuin „Sowjetische“ am Jazz gegenüber den unlängst abgereisten amerikanischen Gästen unter Benny Goodman diskutierte. Am deutlichsten machte die Redaktion der Komsomol’skaja Pravda den Wandel in der Beurteilung der Musik durch den Artikel eines der prominentesten Jugendliteraten der Zeit Vasilij Aksenov.271 Im programmatischen Artikel „Herzlich Willkommen, Genosse Jazz“ beschreibt der Autor den Besuch
266 Vgl. Kadomcev, K.: Nicht jeder Jazz ist schlecht, in: Moskovskij Komsomolec, 03.12.1958. 267 Vgl. Ljuter, A.: Wir streiten über musikalischen Geschmack. Disput im Gačivskij Kulturhaus, in: Smena, 04.01.1961. 268 Julina, Ė.: Studentklub Hybrid. Eindrücke aus dem Ausland, in: Smena, 07.04.1962. 269 ebd. 270 Vgl. bspw. o. A.: Die abgesetzte Krone, in: Sovetskaja Kul’tura, 04.08.1960. 271 Aksenov, Genosse Jazz.
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eines Jazzkonzerts, das in positiver Referenz zur Jugendpolitik nun in den zahlreichen Jugendcafés besucht werden könne. Der Laiencharakter der meisten Gruppen wird hier zur symbolischen Stärke herausgestellt – die Mitglieder der vom Autor beobachteten Gruppe sind Techniker, Ingenieure und Studenten der Mathematik und verbinden so technische Qualifikationen und den vom Komsomol propagierten Enthusiasmus nahezu idealtypisch. Auch die Verbreitung des Jazz wird hier in ein für den Komsomol positiv deutbaren Zusammenhang gestellt. Zu hören sei dieser inzwischen in „Leningrad, L’vov, Odessa und Novosibirsk auf Studentenabenden und in Jugendcafés“272. Der Komsomol öffnete mit solchen Artikeln seine Medien für neue musikalische Experten, die in der idealtypischen sowjetischen Aufgabenteilung nicht vorgesehen waren. Aksenov bemüht hier wieder das Narrativ vom Jazz als alter, internationaler Musik mit jeweils nationalem Kolorit, über das er auch die Vielfalt und Divergenz von Jazzstilen innerhalb der Sowjetunion als multinationalem Staat erklärt. „Das“, so Aksenov, „was wir hören, erlaubt uns ausreichend genau, ein Psychogram des modernen sowjetischen jungen Menschen zu erstellen. Jazz ist in unserem Land einer der Ausdrücke unseres ästhetischen Reichtums geworden.“273 Mit der Gründung der Jugendcafés ab 1960 eröffnete der Komsomol einen kulturpolitischen Freiraum für die wachsende Zahl von Jazzanhängern, griff aber darüber hinaus auch aktiv als kulturpolitischer Akteur in die Entwicklung der Musik ein. Die Förderung korrespondierte nicht nur mit den innenpolitischen Zielen des Komsomol, sondern es bestand auch die Chance einer Verbesserung der außenpolitischen Wahrnehmung. Unter der Maßgabe, keine überregionalen Konflikte zu verursachen, gewährte das Zentralkomitee den städtischen Ablegern des Komsomol durchaus Handlungsspielraum gegenüber der Jazzbewegung. Das Moskauer Stadtkomitee des Komsomol unterstützte Jugendcafés in den Konflikten mit anderen Organisationen, rief aber darüber hinaus 1962 gemeinsam mit dem städtischen Komponistenverband das erste Moskauer Jazzfestival ins Leben. Dieses wurde im Oktober 1962 trotz kleiner Räumlichkeiten im Jugendcafé Molodežnoe unter Leitung des städtischen Komsomolfunktionärs Pavel Plastinin organisiert und entsprang der Idee „jazznaher Komsomolaktivisten und -funktionäre“, die wachsende Szene in einem musikalischen Ereignis zusammenzubringen.274 Um möglichen Widerstand der städtischen Parteileitung zu minimieren, wählten die Organisatoren zum einen diese Räumlichkeit, in der außer den Musikern eigentlich nur noch die Aktivisten des Cafés, die Komponisten und Komsomolfunktionäre aus
272 ebd. 273 ebd. 274 Vgl. Interview mit Rostislav Vinarov vom 07.07.2009; Kozlov, Džaz, S. 171.
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der Jury und einige Freunde und Bekannte Platz fanden.275 Neben der fehlenden Öffentlichkeit der ersten Veranstaltung unterschied sich dieses erste sowjetische Festival von seinen westlichen Counterparts durch die Schaffung einer Jury, die die Gruppen kritisieren und bewerten sollte. Dieses Element blieb für alle in den folgenden Jahren entstehenden Festivals konstitutiv und rückte die Veranstaltungen näher in Richtung eines Wettbewerbs, der ein legitimes Instrument sowjetischer Musikpolitik war. Kurze Zeit nach diesem Festival beschloss das ZK des Komsomol, ein Ensemble teilnehmender Nachwuchsmusiker zusammenzustellen und zum Jazz-Jamboree Festival nach Warschau zu schicken, das dort seit 1958 stattfand, seit 1961 in den Räumlichkeiten der Warschauer Nationalphilharmonie abgehalten wurde und zu einer der größten Jazz-Veranstaltungen Europas avancierte.276 Unter Verantwortung der Mitarbeiterin der Kulturabteilung des ZK des Komsomol Roza Mustafina wurden nach langwierigen bürokratischen Verfahren den sechs ausgewählten Musikern, dem Trompeter Andrej Tovmjasan, dem Gitarristen Nikolaj Gromin, dem Saxofonisten Aleksej Kozlov, dem Bassisten Andrej Egorov, dem Schlagzeuger Valerij Bulanov und dem Pianisten Vadim Sakun, die nötigen Bescheinigungen von Partei und Geheimdienst ausgestellt. Erst durch das Delegieren weiterer Komsomolfunktionäre und einiger Bekannter Musikwissenschaftler und Komponisten erlangte die Gruppe den offiziellen Status einer Delegation, um nach Polen reisen zu dürfen.277 Der dortige Auftritt vor polnischem und internationalem Publikum verlief besonders durch Andrej Tovmjasans Komposition „Gospodin Velikij Novgorod“ sehr erfolgreich und machte den neuen sowjetischen Jazz erstmals international sichtbar.278 Dieser für die sowjetische Außenrepräsentation positive Effekt bestärkte Komsomol und Komponistenverband auch, 1965 eine Delegation zum Jazzfestival nach Prag zu entsenden, in der nun aber lediglich vier Musiker einer Gruppe von 15 Komponisten und Funktionären aus Partei und Komsomol gegenüberstanden. Bereits im Vorfeld hatte der stellvertretende Kulturministier Kuznecov der Abteilung für Kultur des ZK der KPdSU vorgeschlagen, die von tschechoslowakischer Seite eingegangene Einladung von Musikern anzunehmen, da besonders die sowjetische Botschaft in Prag vor einem negativen Eindruck der Sowjetunion bei einer Absage warnte.279 Dieser Zusammenhang von Kulturpolitik gegenüber einer im Kalten Krieg symbolisch aufgeladenen Musikform, die in den 1960er-Jahren massiv vom Komsomol 275 Vgl. Kozlov, Džaz, ebd. 276 Vgl. Schmidt-Rost, Jazz in der DDR und Polen. 277 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 173. 278 Vgl. Feather, Leonard: Inside Soviet Jazz, in: Down Beat, 16.08. 1962. 279 Vgl. Schreiben des stellvertretenden Kulturministers Kuznecov vom 18.08.1965 an die Abteilung für Kultur des ZK der KPdSU, RGANI, f.5, op.36, d.151, l.186.
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hofiert wurde, und dem außenpolitischen Prestige konnte sich auch umkehren. Am Ende dieser relativ prosperierenden Entwicklungsphase der Musik stand der Einschnitt des Jazzfestivals von Tallinn 1967. Die Einladung und der Auftritt des amerikanischen Charles Lloyd Quartetts bei dieser Veranstaltung führte zu einem politischen Skandal, in dessen Folge der verantwortliche estnische Organisator Heinrich Schultz entlassen und die Festivaltradition auf Druck Moskaus und entgegen den Petitionen des Parteikomitees von Tallinn beendet wurde.280 Ein Jahr darauf versetzte die nicht angemeldete Organisation eines „Allunionsfestival – Fest des Amateurliedes“ im Klub „Pod integralom“ des Akademgorodok in Novosibirsk Geheimdienst und Partei in Alarmbereitschaft, die sich nun mit der Bardenbewegung einer politisch kritischen Kulturform gegenübersahen, die eine ganz ähnliche soziale Trägerschicht aufwies wie der Jazz. Der erste Sekretär des VLKSM Sergej Pavlov schloss seinen kritischen Bericht der Geschehnisse an das ZK der Partei mit der Feststellung, dass „die Tendenzen dieser Entwicklung […] die Aufmerksamkeit der entsprechenden Staats- und Gesellschaftsorgane verdienen“281. 1969 existierten zwar ungefähr 2000 Jazzklubs in der ganzen Sowjetunion, jedoch hatte unter den Eindrücken der politischen Kurswende der späten 1960er-Jahre und des massiven Anstiegs der Rockbegeisterung der sowjetischen Jugend die Unterstützung des Komsomol für seine öffentlichen Formen und den Austausch stark nachgelassen.282
5.2.2 Der Jazzklub Unter dem Dach der neuen sowjetischen Jugendpolitik erhielten Jazzenthusiasten die Möglichkeit, ein musikalisches Programm zu definieren, umzusetzen und in die Öffentlichkeit zu tragen. Diese Jugendpolitik beförderte die Initiative von unten und integrierte auch kontroverse westliche Kulturformen, so sich denn ihr erzieherisches Potential nutzbar machen ließ. Der Status der musikalischen Laientätigkeit, den viele der kleinen Jazzorchester und -formationen zwischen 1957 und 1962 genossen, stellte diese an den Rand des staatlichen Zensursystems. Das dichter werdende Netz von Klubs, Jugendcafés und schließlich Jazzfestivals stimulierte 280 Vgl. Interview mit Heinrich Schultz vom 26.07.2010, Interview mit Walter Ojakäär vom 30.07.2010, Schreiben des Vorsitzenden des Tallinner Exekutivkomitees I. Undusk, an den Vorsitzenden des Staatskomitees des Ministerrates der UdSSR für kulturelle Verbindungen mit ausländischen Staaten Sergej Romosnovskij vom 07.05.1967, ERA, f.1, op.4, d.3515, l.17–22. 281 Schreiben des ZK VLKSM an das ZK der KPdSU über das Allunionsfestival – Fest des Amateurliedes vom 29.03.1968, RGANO, f.5, op.60, d.63, l.97–101, publiziert in : Tavanec, S. D. [u.a] (Hg.), Apparat CK KPSS i Kul’tura. 1965–1972. Moskau 2009, S. 470–474., hier S. 474. 282 Interview mit Aleskej Batašev vom 09.06.2009.
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einen Austausch von Musikern und Gruppen zwischen Städten und Republiken, der außerhalb der Kontrolle der Konzertorganisationen lag. Die geförderte Vortragstätigkeit der Jazzlektoren machte diese in gewisser Weise zu musikalischen Experten, die ihr eigenes Interpretationsangebot zu dem, was sowjetischen Jazz ausmache, in Teile der sowjetischen Gesellschaft hineintragen konnten. Bereits der erste sowjetische Jazzklub der Nachstalinzeit verdeutlicht, dass diese Entwicklung keine lineare Erfolgsgeschichte war, sondern vielmehr mit zahlreichen Widerständen, Rückschlägen und internen Konflikten verbunden war. Im September 1958 entstand auf Initiative einer Gruppe von Jazzenthusiasten in Leningrad um Vladimir Fejertag, Valerij Mysovskij und Georgij Vasjutočkin der Klub „D58“. Seine relativ kurze Existenz – er wurde Ende Mai 1959 bereits wieder geschlossen – fällt in eine Phase konservativer Umorientierung der Jugendpolitik und zeigt am Verhalten offizieller, lokaler Kulturvertreter, wie brisant die erstmalige Institutionalisierung des Jazz in dieser Phase des Tauwetters noch war. Vladimir Fejertag berichtet von einem Anruf aus seinem Freundeskreis, dass sich Ende September „alle, die sich für Jazz interessieren“, beim Leiter des Gorki-Kulturhauses treffen wollten, um einen Jazzklub zu gründen. In dessen Büro versuchten die 30 Erschienenen, den Vorsitzenden davon zu überzeugen, dass „Jazz eine eigenständige Kunstrichtung und neue Form“ sei. Dieser begrüßte die Initiative grundsätzlich, sah den engen Fokus auf Jazz jedoch kritisch. „Warum“, so der Leiter, „schafft man nicht einen musikalischen Klub oder Liedklub?“ Mit Unterstützung des Leningrader Stadtkomitees, das von der Nützlichkeit eines solchen Klubs überzeugt werden konnte, gelang es schließlich, einen durch Satzung, Vorstand und Vorsitzenden regulierten Klub einzurichten, dessen Vertreter Jugendliche über diese Musik informieren und mit Hilfe eines streng kontrollierten Repertoires auch live in Kontakt bringen sollten. Der zum Eröffnungsvortrag angereiste Moskauer Jazzenthusiast Alexej Batašev berichtete für das polnische Jazzmagazin Jazz in einem kleinen Artikel über die sowjetische Neuerung.283 Die Räumlichkeiten des Klubs und sein rechtlicher Status zeigen den unsicheren und temporären Charakter der Vereinigung. Der erste Vortrag zur Geschichte des Jazz fand im kleinen Zimmer der örtlichen Schachsektion statt.284 Während lokale Jugendfunktionäre die Initiative unterstützten, zeigte die Politik des städtischen Komsomoleine gewisse Skepsis. Im Dezember des Jahres zog der Klub in das Kirov-Kulturhaus auf der Vasili’evskij-Insel um. Dort wurden die Enthusiasten als „Sektion der Liebhaber von Jazzmusik“ dem seit den Weltjugendfestspielen bestehenden „Klub der Freunde“ untergeordnet, um – in den Worten von Fejertag 283 Batašev, Aleksej: „Komsomol“ und Jazz, in: Jazz (1958), 11, S. 23. 284 Valerij Mysovskij, zitiert nach: Vasjutočkin, Georgij: Džazovyj Peterburg – XX vek. St. Petersburg 2001, S. 55.
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– „die Jazzbrüder besser kontrollieren zu können“285. Dieses institutionelle Arrangement befriedigte zeitweilig wohl nicht nur das Sicherheitsbedürfnis des städtischen Komsomol, sondern begünstigte den „Klub der Freunde“, der von der wachsenden Popularität der Vorträge und anschließenden Jamsessions innerhalb Leningrads profitierte. Im Jahresbericht des Klubs verwies dieser auch auf die ersten Programme der Jazzsektion und „weitere sehr interessante schöpferische Arbeit“286. Unbezahlte Konzerte der Musiker für Veranstaltungen des Klubs gehörten ebenso dazu wie erste Vorlesungen über die Geschichte des sowjetischen Jazz, die nach Aussagen der Lektoren zwar schlechter besucht waren als jene zu ausländischen Themen, jedoch vom Klub als patriotische Maßnahme verbucht werden konnten.287 Mit 70 eigenen Mitgliedern vergrößerte die Sektion die Gesamtzahl der im Klub organisierten Jugendlichen auf 450 Teilnehmer deutlich.288 Rechenschaftspflichtig war die Führung 1959 nicht nur gegenüber dem Komsomol, sondern auch der städtischen Kulturverwaltung. Deren Vertreter Brinov forderte von Fejertag und dem Leiter des Klubs Naum Každan im März 1959 in wohlwollendem, aber bestimmten Ton einen genauen Bericht über das Tätigkeitsspektrum der Sektion: „Verstehen Sie, ich habe die Kultur dieser Stadt zu verantworten und weiß überhaupt nicht, womit sich die Sektion der Jazzliebhaber eigentlich beschäftigt.“289 Die Umstände des Endes der Sektion zeigen die anhaltende politische Brisanz dieses lokalen Experiments und die unterschiedlichen Positionen der involvierten Instanzen. Zum jährlichen Saisonende des „Klubs der Freunde“ am 22. Mai 1959 spielten im Theatersaal des Konzerthauses vier Leningrader Jazzbands, deren Konzerte vom örtlichen Rundfunk aufgenommen wurden. Zudem interviewten Presse und Rundfunk die Mitglieder der Bands. Trotz der offensichtlichen Unterstützung durch Teile des lokalen Komsomol erschienen eine Woche nach dem Konzert mehrere kritische Berichte über das Konzert, die besonders an der Tatsache Anstoß nahmen, dass durch die hohe Zahl jugendlicher Besucher beim Gedränge um Einlass eine der Haupteingangstüren des Kulturhauses zerstört wurde.290 Das Stadtkomitee des VLKSM distanzierte sich, nachdem auch das Radio mit der Sendung „Musikpatrouille“ negative Berichte mit Musikausschnitten des Konzerts gesendet hatte. 291 Das Gedränge am Einlass des überfüllten Kulturhauses bot hier Gegnern 285 Fejertag, Ot Leningrad, S. 80. 286 Jahresbericht der Klubarbeit für das Jahr 1958, Central’nyj gosudarstvennyj archiv istoriko-političeskich dokumentov Sankt-Peterburga (CGALI SPb), f.274, op.2, d.138, l.50. 287 Vgl. Fejertag, Ot Leningrad, S. 81. 288 Vgl. Berichte, Nachrichten und Vortragschreiben über die Arbeit des Kulturpalastes für 1958, CGALI, f.274, op.2, d.138, l.51–52. 289 Zit. nach ebd. 290 Interview mit Gregorij Vasjutočkin vom 27.11.2009. 291 Vgl. Feiertag, Ot Leningrad, S. 83.
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dieses ersten lokalen Experiments einen geeigneten Vorwand, gegen die Jazzsektion vorzugehen und durch die Erzeugung medialen Drucks möglicherweise auch jene Akteure in der Stadtverwaltung des Komsomol zum Handeln zu zwingen, die der Sektion positiv oder neutral gegenüberstanden. Die Dynamik eines Skandals hätte ihre politische Position in Gefahr bringen können und sie folglich zum Handeln gezwungen. Die nächste, von den Protagonisten als Jazzklub bezeichnete Einrichtung entstand 1960 in Moskau und erlaubt es, die Handlungsmöglichkeiten der Jazzenthusiasten auszuleuchten und nach Anpassungsleistungen an Strukturen und Ideologeme der Jugendorganisation zu fragen. Zwischen August 1960 und Herbst 1962 entwickelte die „Sektion der Jazzliebhaber Moskau“ im Jugendklub des Kulturhauses Dom Ėnergetikov eine rege Organisations- und Vortragstätigkeit, richtete Konzerte aus und publizierte eigene Texte an der Wandzeitung des Kulturhauses. Seine 40 Mitglieder setzten sich mit Aleksej Batašev an der Spitze aus einem Großteil der damals in Moskau aktiven Jazzmusiker, Lektoren, aber auch angehenden Ingenieure, Physiker und Chemiker zusammen, die alle der Alterskohorte der zwischen 1930 und 1940 Geborenen zuzurechnen sind. Ähnlich wie der Leningrader Vorläufer „D58“ erhielt die Einrichtung den Status einer Sektion, womit dieser geringere finanzielle Autonomie und administrative Unabhängigkeit hatte als einer der Jugendklubs und „Klubs nach Interessen“, die ab 1960 entstanden. Für die Komsomolleitung des Stadtbezirks reduzierte sich damit das politische Risiko, indem die Verantwortung auf die Leitung des Jugendklubs übertragen wurde. Alexej Batašev, der Leiter der Sektion, ging nach eigener Aussage im Frühjahr des Jahres 1960 direkt zur Leitung des Stadtkomitees des VLKSM in Moskau und sprach dort „mit den richtigen Leuten“292, woraufhin die Gründung erfolgte. Für diese schwer nachzuprüfende Erklärung spricht zum einen, dass Batašev innerhalb der städtischen Spitzen von Partei, Komsomol und KGB bekannt war und durch einzelne Personen Protektion genoss. Darauf deuten sein generell großer Bewegungsfreiraum und die Aussagen von Zeitgenossen hin. Ohne eine solche Protektion wäre es ihm kaum möglich gewesen ohne strafrechtliche Konsequenzen bei der Ankunft des Benny-Goodman-Orchesters auf dem Rollfeld des Moskauer Flughafens die ankommenden Musiker zu begrüßen. Er durfte 1965 mit einer sowjetischen Delegation zum Jazzfestival nach Prag 1965 reisen, ohne den Status eines Musikers oder Mitglieds des Komponistenverbands innezuhaben. Ob die Gründung in diesem Szenario letztlich von oben angeordnet wurde oder Mitglieder der ideologischen Abteilung des Stadtkomitees möglicherweise nur einen Ort vermittelten und so den örtlichen Komsomolvertretern signalisierten, mit der Unterbringung eines solchen Klubs keine ungeschriebenen Gesetze zu brechen, kann nicht geklärt werden. Bei einem 292 Interview mit Alexej Batašev vom 09.06.2009.
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Vortrag vor dem Komponistenverband im Frühjahr 1962 bedankte sich Kozlov explizit für die „große Hilfestellung [bei der Organisation der Massenarbeit – M. A.] durch den Sekretär der ideologischen Abteilung des Moskauer Komsomol Ju. F. Charlamov.293 Aus Sicht des Saxofonisten Alexej Kozlov war die Gründung das erste Resultat einer neuen Strategie, den Jazz in der Sowjetunion mit der Kooperation mit „dem jüngeren und demokratischeren Teil der sowjetischen Bürokratie, den Komsomolfunktionären auf Rayon-Ebene“294, aufzuwerten und aus der Sphäre von Chaltura-Konzerten herauszuheben. Im August 1960 wurde mit Unterstützung der Komsomolleitung des Oktjabr’skij-Rayon im Kulturhaus Ėnergetikov die Sektion gegründet, deren Rechte und Pflichten zwar in einer Satzung festgehalten wurden, deren tägliche Praxis und Kooperation bar jeglichen Vorbilds sich jedoch erst einspielen mussten. Für die privilegierte Position der Sektion spricht die Organisation eines Jazzkonzerts eines Quartetts afroamerikanischer Musiker im Kulturhaus wenige Wochen nach Gründung der Sektion. Die Musiker standen unter der Leitung des 1923 geborenen Trompeters Idrees Suleiman, der nach dem Krieg als Bebop-Spieler in verschiedenen amerikanischen Ensembles mitgespielt hatte und zu Beginn der 1960er-Jahre seinen Lebensmittelpunkt für mehrere Jahre nach Europa verlegte. Er und sein Quartett befanden sich offiziell als Touristen in Moskau, sympathisierten nach Aussage Bataševs aber grundsätzlich mit der Sowjetunion und stellten zumindest zeitweilig Überlegungen an, dauerhaft dort zu leben.295 Das Konzert und die anschließende Jam-Session im Konzertsaal des Kulturhauses im September 1960 fanden dezidiert als geschlossene Veranstaltung für die Mitglieder des Jugendklubs und der Sektion statt und verdeutlichen, dass die Aktivitäten der Moskauer Jazzbewegung zunächst nur in einer isolierten Teilöffentlichkeit toleriert wurden. Die Tatsache eines Gastspiels amerikanischer Musiker auch vor geschlossenem Auditorium macht das Engagement höherer politischer Stellen zudem wahrscheinlich. Aus dem offiziellen Status der Sektion erwuchs den Organisatoren die Möglichkeit, weitere Gäste wie den Leiter des Warschauer Jazzklubs Hybrid Jan Vorkosvkij oder einen Redakteur der polnischen Zeitschrift Jazz zu empfangen und dauerhafte Verbindungen mit den Jazzszenen anderer Städte und dem sozialistischen Ausland zu schaffen.296 Besuche und Diskussionsveranstaltungen mit Vertretern des Komponistenverbands sowie sowjetischen und ausländischen Schriftstellern
293 Vgl. Bericht über die Jazzsektion des Jugendklubs im Kulturhaus Ėnergetikov (Sommer 1962), Privatarchiv Batašev. 294 Kozlov, Džaz, S. 154. 295 Interview mit Alexej Batašev vom 09.06.2009. 296 Vgl. Batašev, Aleksej: Leitartikel der Wandzeitung „Musik für alle“, o. D. [Oktober 1960], Privatarchiv Batašev.
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wurden zu einem Teil der Kulturarbeit, ohne dass über deren Inhalt und Umsetzung zwischen Enthusiasten und Komsomolvertretern zunächst ein Konsens existierte. Dabei beschränkten sich die Möglichkeiten seiner Mitglieder nicht darauf, im geschlossenen Kreis interessante Gäste einzuladen und durch Proben, Jam-Sessions und kleine Konzerte die musikalische Entwicklung ihrer Mitglieder voranzutreiben. Über die Wandzeitung der Sektion Musik für alle („Muzyka dlja vsech“) konnten Batašev, Pereversev, Arkadij Petrov und andere Mitglieder erstmals in legaler Form theoretische Position zum Jazz artikulieren und einer eingeschränkten Öffentlichkeit zugänglich machen. Der programmatische Titel suggeriert eine Synthese zwischen den Anforderungen des Komsomol zur gesellschaftlichen Aufgabe der Sektion und dem Sendungsbewusstsein seiner Mitglieder, „Jazz von einer gesellschaftlich wahrgenommenen Musik der Kneipen zu einer Form von Kunstmusik“297 zu machen. Die Sektionsmitglieder bemühten sich, durch Aufgreifen zentraler ideologischer Narrative diese Synthese zu untermauern. In einem Text der Sektionswandzeitung, der eine Bilanz über die ersten drei Monate der Sektionsarbeit zog, schrieb der Vorsitzende Batašev, dass die „Klubs für Interessen […] die auf dem IV. Plenum des VLKSM als eine der effizientesten Formen der Erziehung der Jugend in diesem Siebenjahresplan benannt wurden […] im ganzen Land heiß unterstützt“ würden. Er rekurrierte im Weiteren sowohl auf das ideologische Projekt der KP dSU als auch des Komsomol. Mit dem Ziel, „bessere Möglichkeiten für die ganzheitliche Vervollkommnung des Menschen“ zu schaffen, werde „die Organisation einer inhaltsreichen und nützlichen Freizeit zu einer Sache ausschließlicher Wichtigkeit.“ Batašev entfaltete dann aus der Beschäftigung mit dem Jazz ein ganzes Kaleidoskop nützlicher Effekte für die Jugendpolitik. Neben der „Erhöhung des kulturellen Niveaus der Jugend“ und der „Entwicklung einer kritischen Einstellung zu verschiedenen Formen der Musik“ suggerierte er eine mobilisierende Wirkung, denn das letztliche Ziel sei „die Heranziehung der Liebhaber von Jazzmusik zum jugendlichen Marsch für die Kultur“. Den im Raum stehenden Vorwürfen einer elitären Musik ohne gesamtgesellschaftliche Relevanz begegnete er im letzten Satz seines Textes: „Wer sind wir? […] Einfache sowjetische Leute, so wie ihr, unsere Leser“. Für die praktischen Tätigkeiten verspricht Batašev dem Komsomol und gesellschaftlichen Organisationen der Einrichtungen und Institute des Rayons, Hilfe bei der ästhetischen Erziehung der Jugendlichen zu leisten. Dies sei eben nur deshalb möglich, weil der Jazz mit Fragen der europäischen, klassischen, modernen Musik, sowie der Volksmusik und einer Reihe von ästhetischen Fragen verknüpft sei. Fixiert wurden diese Aufgaben auch in der Satzung der Sektion, die explizit festlegte, dass jegliche Arbeit der Sektion „unter Leitung des Jugendklubs“ und 297 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 154.
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„in Kontakt mit den Basisorganisationen des Komsomol, der Einrichtungen und Institute des Rayon“298 durchzuführen sei. Für die Etablierung der Sektion genügten die formell fixierten Absichtserklärungen nicht, die eine Reihe gemeinsamer Interessen zwischen den Enthusiasten und dem Kulturprogramm des Komsomol erahnen ließen. Darüber hinaus gründeten deren Mitglieder, wie in einer jeden offiziellen sowjetischen Organisation vorgesehen, entsprechende Strukturen zur Selbstverwaltung der Sektion. Die Versammlung aus Mitgliedern wählte zu diesem Zweck ein „Büro“, das die Arbeitspläne aufstellte und über die Aufnahme und Ausschluss von Mitgliedern befand.299 Nach vier Monaten Aktivität stand durch eine Reihe von Konflikten in der praktischen Arbeit die Existenz der Sektion als solche zur Disposition. An der Kritik des Leiters des Jugendklubs Duboiskij wird deutlich, dass zahlreiche Mitglieder zunächst nicht die nötige Disziplin und Ernsthaftigkeit gegenüber der Sektionsarbeit zeigten. Viele würden „nicht einmal pünktlich zu vereinbarten Versammlungen und Sitzungen“300 erscheinen und hätten noch immer keinen gültigen Mitgliedsausweis. Die Erwartungshaltung der lokalen Komsomolfunktionäre an Auftritte von Jazzensembles deckte sich auch nicht mit dem informelleren Stil, den die Musiker bei Proben und jam sessions in geschlossenen Veranstaltungen internalisiert hatten. Duboiskij mahnte hier zu mehr Disziplin und forderte die Musiker auf, während der Konzerte nicht von der Bühne zu gehen.301 Diese Internalisierung sowjetischer Normen und Rituale beschäftigte die Sektionsmitglieder bis zum Jahresende weiter. Kommunikation von vermeintlichen Fehlern in der parteilichen Öffentlichkeit wurde als „Selbstkritik“ innerhalb der Sektion zu einem Teil dieser sowjetischen Rituale. Im Frühjahr 1962 erklärte Batašev vor Mitgliedern des Komsomol und des Komponistenverbands, dass sich die begangenen Fehler in der Sektionsarbeit durch folgende Umstände erklären lassen: Zum einen die erste Einrichtung dieser Art in Moskau zu sein und zum anderen, dass „einzelne Mitglieder zu ihren Aufgaben eine formelle und verantwortungslose Beziehung“302 entwickelt haben. Während Fehler zu ersterem Problem kaum zu vermeiden seien, gelobte der Redner bei letzterem „weiter beständig daran zu arbeiten“303. Neben der Frage von Disziplin erschwerte auch die Umsetzung der geforderten Aufklärungsarbeit unter der Jugend des Bezirks die Arbeit der Anfangsmonate. 298 Vgl. Verordnung der Sektion der Liebhaber von Jazzmusik des Jugendklubs in Kirovskij-Rayon, Privatarchiv Batašev. 299 Vgl. ebd. 300 Vgl. Protokoll der allgemeinen Versammlung der Sektion vom 30.10.1960, Privatarchiv Batašev. 301 Vgl. ebd. 302 Vgl. Redemanuskript Batašev für ein Konzert beim Moskauer Komponistenverband vom 18.04.1962, Privatarchiv Batašev. 303 ebd.
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Zwischen den Akteuren existierte keine Klarheit hinsichtlich der Befugnisse der Sektion. Die Leitung des Jugendklubs und die Rayon-Organisation des Komsomol warfen der Sektion vor, einen offenen Wettbewerb für Jazzmusiker, die Interesse am Eintritt in die Sektion hatten, ohne die Zustimmung der übergeordneten Organe des Klub und des Rayon organisiert zu haben.304 Auch in Bezug auf die eigentliche Zielgruppe der geforderten Propagandatätigkeit bestanden unterschiedliche Vorstellungen. Für Komsomolvertreter bestand hier ein Zwiespalt zwischen schichtenübergreifender Reichweite und Sorge um unerwünschte „negative“ Erscheinung. Als jetzt legitimer Treffpunkt für Moskauer Nachwuchsmusiker versammelten sich naturgemäß deren Bekannten- und Freundeskreise bei den Veranstaltungen, in denen Vorträge und Life-Performance dargeboten wurden. „Die Aktivitäten“, so der Leiter des Klubs, „sollten auf alle Schichten ausgeweitet werden“, zumal es im Bezirk zahlreiche Arbeiter und Miglieder der Intelligencija gebe, die noch nichts von der Sektion wüssten. Die Besucher der letzten Veranstaltung würden die Musiker alle schon kennen, welche aufhören sollten, „im eigenen Saft zu schmoren“. Wie wichtig der antielitäre Gestus in der Kommunikation gegenüber dem Komsomol war, zeigt die Tatsache, dass sich Batašev noch zwei Jahre später genötigt sah zu betonen, dass „wir […] unsere Sektion nicht in einen Wallfahrtsort verwandelt“ haben und „entschieden, zur Jugend selbst zu gehen“.305 Der Auslöser für die kritische Versammlung im Herbst war das Verhalten einiger unbekannter Besucher, die nicht mit der Absicht kultureller Weiterbildung zur Veranstaltung der Sektion gekommen waren. Vertreter des Bezirkskomitees des VLKSM drohten offen, den Widerstand gegen die Schließung der Sektion, die vom Bezirksparteikomitee gefordert wurde, aufzugeben. Neben dem Vorwurf fehlenden Engagements in der Propagandatätigkeit beriefen sie sich auf einen Zwischenfall während des Konzertes, als Jugendliche im Raucherraum des Kulturhauses mit selbstgemachten Schallplatten gehandelt haben sollen.306 „Umso mehr wenn von Propaganda des Jazz die Rede ist“, forderte Duboiskij, „muss man vorsichtig gegenüber dem Publikum sein und hohe Anforderung stellen.“307 Flankiert wurde diese Argumentationsrichtung mit Forderungen nach einer Saalwache, die die Sektion für zukünftige Veranstaltungen über einen Dienstplan auch organisierte. Der geforderte Beitrag zur Aufklärungsarbeit musste zwangsläufig auch innerhalb der Gruppe zu Konflikten führen. Die Sektion bot Musikern Raum zum Spielen, gewann eine wachsende Zahl von musikalischen Experten zur produktiven Kritik, verlangte aber im Gegenzug organisatorische Unterstützung und die 304 Vgl. ebd. 305 Vgl. Bericht über die Jazzsektion des Jugendklubs im Kulturhaus Ėnergetikov (Sommer 1962). 306 Vgl. ebd. 307 ebd.
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Mitarbeit der Musiker bei Vortragskonzerten, zu denen diese die musikalischen Beispiele lieferten. Der Musiker German Lukjanov, ein talentierter Trompeter mit Ausbildung am Konservatorium entzog sich mit einer Reihe anderer Musiker diesen Anforderungen von Anfang an und wurde durch die Sektion, die hier zum ersten Mal als sowjetisches politisches Kollektiv in Erscheinung trat, ausgeschlossen.308 Gegenüber der Parteiöffentlichkeit bot dieser Ausschluss die Chance, die eigene politische Reife und Prinzipienhaftigkeit zu belegen, da in der Entscheidung das politische Engagement höher als die musikalischen Fähigkeiten gewichtet wurde: Der desorganisierende und zersetzende Egozentrismus von Lukjanov wurde von der Mehrzahl der Sektionsmitglieder streng diskutiert und das Büro erließ einen Erlass zum Ausschluss von Lukjanovs Gruppe aus der Sektion. Unser Kollektiv spürte seine Stärke, die Sektionsmitglieder haben sich die Prinzipienhaftigkeit und Ernsthaftigkeit der moralischen und ästhetischen Anforderungen, die für jeden unabhängig seiner Befähigung als Musiker gelten, tief angeeignet.309
Hinter dieser politischen Fassade standen aber auch ästhetische Differenzen zwischen den beteiligten Musikern. Lukjanov, wenige Jahre zuvor aus St. Petersburg zum Studium der Komposition nach Moskau gezogen, galt als musikalisch innovativ, aber positionierte sich auch konfrontativ gegen die in Moskau etablierten Musiker. Sein Verhältnis zu Aleksej Batašev galt als gespannt und sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, wohl auch bedingt durch die Tatsache, dass er bei Aram Chačaturjan studierte, konnte leicht mit Arroganz verwechselt werden.310 Inwieweit seine Ablehnung der propagandistischen Arbeit der Tatsache geschuldet war, dass er in der arbeitsintensiven Abschlussphase seines Studiums stand, oder ob diese seinem Selbstbild als Musiker widerstrebte, muss offen bleiben. Gleichwohl war den lokalen Komsomolvertretern das Potential der Sektion für deren eigene erfolgreiche Arbeit durchaus bewusst. Nach umfassender Kritik und Drohungen betonte Duboiskij bei der Versammlung vom 30. Oktober 1960 abschließend, dass die Sektion für die „Jugend des Rayon“ existiere und stellte die Vereinigung mit einer Musikschule und die Ausweitung der Aktivitäten auf die ganze Stadt in Aussicht, wenn Einsicht und Korrektur der begangenen Fehler erfolgen würden. Nach einem Probekonzert mit Vorträgen zu Themen der Jazzgeschichte vor Vertretern des örtlichen Komsomol am 16. November 1960 begann die Vortragstätigkeit der Sektion im ganzen Stadtgebiet.311 Der städtische Komsomol 308 Vgl. Protokoll Versammlung der Sektion der Jazzsektion, Privatarchiv Batašev. 309 Vgl. Batašev, Musik für alle. 310 Vgl. Interview mit German Lukjanov vom 11.07.2009. 311 Vgl. Erweiterte Sitzung des Klubbüros 29.01.1961, Privatarchiv Batašev.
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förderte diese Aktivitäten und empfahl sie interessierten Einrichtungen weiter. Vertreter des staatlichen Instituts der Union für Stadtplanung schrieben in einer Anfrage an die Sektion am 21. Januar 1961, dass es im Institut viele Jazzinteressierte, aber wenig Information gebe und ihnen „gesagt wurde, dass sie in Einrichtungen und Organisation der Stadt Moskau Vorträge über die Geschichte des Jazz und darüber, wie man diesen richtig verstehen muss (sic!), organisieren“312 sollten. Dabei erreichten die Lektoren Batašev, Petrov und Pereversev eine wachsende Zahl von jungen Moskauern, die mehrheitlich der Intelligencija angehörten. Bis Februar hatten ungefähr 2700 Besucher Veranstaltungen der Sektion besucht, von denen nach internen Erhebungen 18 Prozent Arbeiter, 31 Prozent Ingenieure und 45 Prozent Studenten waren.313 Zwei Monate später war diese Zahl auf 10.000 Besucher angewachsen.314 Bis zur Auflösung der Sektion im Herbst 1962 organisierten die Mitglieder der Sektion neben den zahlreichen Vortragskonzerten für einzelne Einrichtungen insgesamt 40 Vortragskonzerte für die Allgemeinheit, einige Seminare zu Fragen der Theorie und Kreativität sowie zwei Diskussionen zu einem populärwissenschaftlichen Buch über Musik und die „Klassenmäßigkeit des Jazz“.315 Die überwiegende Zahl der Anfragen nach Vorträgen erreichte die Sektionsmitglieder aus Forschungseinrichtungen, wie der Staatlichen Akademie für Bauwesen und Architektur, dem Moskauer Institut für Physikalische Probleme oder dem Institut für Ingenieure der Geodäsie, Luftbildaufnahmen und Kartografie. Mit der Einladung eines Lektors und eines Jazz-Ensembles der Sektion bot die Komsomolgruppe oder der Direktor einer solchen Einrichtung den Mitarbeitern ein Kulturprogramm mit Live-Musik, wie es besonders in den Kreisen der technischen Intelligencija attraktiv war und somit auch als Gratifikation oder Ansporn für gute Arbeit verstanden werden konnte. Darüber hinaus eröffneten die Vorträge eine ideologisch legitime Interpretation, im Rahmen derer der Genuss improvisierter Musik nun möglich war. Das vom Direktor, der Partei- und Komsomolleitung unterzeichnete Schreiben des Instituts für Physikalische Probleme der Akademie der Wissenschaften verdeutlicht den Zusammenhang eines eklatanten Informationsdefizits und der akzeptierten politischen Interpretation des Jazz: Wir wenden uns an Sie in großer Dankbarkeit für das Konzert mit Jazzmusik am Institut für Physische Probleme der Akademie der Wissenschaften. Für viele von uns war es die erste Begegnung mit wahrhaftiger Jazzmusik, da es uns vorher nur gelang, entweder
312 Anfrage des staatlichen Instituts der Union für Stadtplanung an die Sektion vom 21.01.1961, Privatarchiv Batašev. 313 Vgl. Erweiterte Sitzung des Klubbüros 29.01.1961. 314 Vgl. Tätigkeitsbericht der Sektion vom März 1961, Privatarchiv Batašev. 315 Bericht über die Jazzsektion des Jugendklubs im Kulturhaus Ėnergetikov (Sommer 1962).
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vulgäre Estradaübungen zu hören oder die üble zweitklassische Musik des amerikanischen kommerziellen Jazz. Die Sektion der Jazzliebhaber unternimmt eine notwendige und wichtige Aufgabe authentischen Jazz zu propagieren, als dessen Wurzeln die afroamerikanische Folklore dient.316
Die Veranstaltungen der Sektion waren darüber hinaus aber auch als Element des neuen Bildungsprogramms des Komsomol gefragt, das sich an breitere Schichten der städtischen Jugend richtete. Im März 1961 veranstaltete der örtliche Komsomol der Siedlung „Vagonremont“ eine Diskussionsveranstaltung im örtlichen Kulturhaus mit dem Titel „Wir streiten über Geschmack“, bei dem Aleksej Batašev mit einem Vortrag zum Thema „Was ist wirklicher Jazz?“ auftrat.317 „Die Erziehung zu gutem Geschmack“, so die Einladung zur Veranstaltung, „ist sehr wichtig für den weiteren Aufschwung der Kultur der sowjetischen Gesellschaft, für das Arbeits- und geistige Leben der Sowjetmenschen.“ Bataševs Vortrag und die anschließende Präsentation „eleganter Jugendmode“ dienten hier dem Zweck, den ideologischen Eingangsvortrag eines Philosophen zur Erziehung des sozialistischen Geschmacks als Teil des sowjetischen Projekts, das Thema enger mit der Alltagsrealität der Jugendlichen zu verbinden und die Veranstaltung attraktiver zu machen. Die Modenschau, eine Ausstellung und ein als Estradakonzert aufgeführter Auftritt belegen diesen Zusammenhang. Ähnliche Veranstaltungen mit breiterer sozialer Reichweite wurden auch andernorts, wie etwa in der Moskauer Fabrik für Kleinwagen durchgeführt. Dass sich das Thema Jazz bei geschlossenen und öffentlichen Veranstaltungen offensichtlich hoher Nachfrage erfreute, lag neben den Anknüpfungsmöglichkeiten für das erzieherische Programm des Komsomol und der Attraktivität der Musik in höheren Bildungsschichten letztlich auch an einem generellen Informationsdefizit zu diesem Thema. Während Konzertorganisationen im Rahmen ihrer Vortragstätigkeit kaum Deutungsangebote, Wissen und Klangbeispiele zum Jazz anboten, griff die sowjetische Presse das Thema erst zögerlich auf. Gesellschaftliche Legitimität und der kulturelle Handlungsspielraum der Jazzenthusiasten vergrößerten sich neben der Vortragstätigkeit besonders durch den Aufbau von persönlichen Kontakten zur Moskauer Abteilung des Komponistenverbands. Aus dem Vergleich der beiden Satzungen der Sektion von 1960 und 1962 wird erkennbar, dass sich die Tätigkeitsfelder erweiterten und durch die Satzung von 1962 eine Professionalisierung der Arbeit nach außen getragen werden sollte.318 Das im Vergleich zur ersten Satzung deutlich umfangreichere Dokument 316 Dankschreiben des Moskauer Instituts für Physikalische Probleme für Konzertreihe vom 31.05.1961. 317 Vgl. Einladungskarte zur Diskussionsveranstaltung „Wie streiten über Geschmäcker“, Privatarchiv Batašev. 318 Vgl. Satzung der Sektion vom August 1962.
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listet, neben einer größeren Zahl an unterstützenden Dachorganisationen, wesentlich präziser die kulturpolitischen Ziele der Sektion auf, in die die Erfahrungen der bisherigen öffentlichen Auftritte einflossen und die auch von einem gestiegenen Selbstbewusstsein der Akteure zeugen. Die Propagandaarbeit richtete sich nun dezidiert gegen „vulgäre westliche Pseudojazzmusik“ und diente der „Unterstützung von allem Demokratischen, Lebensbejahenden und Progressiven im Jazz.“319 Neu und für die Verbindung mit dem Komponistenverband zentral war ein klar definiertes Aufgabenfeld der „Unterstützung der Ausbildung einer sowjetischen Jazzschule und -stils.“320 Zum neuen Organ dafür avancierte ein künstlerischer Rat, der gemeinsam mit Mitgliedern des Komponistenverbands die „ästhetische Linie der Sektion bestimmt“321, während das Büro der Sektion über die Zusammensetzung der Ensemble mitbestimmte, deren Zugehörigkeit nun durch ein formalisiertes Auswahlverfahren genauer definiert wurde. Nachdem in den Worten des Büros die „schöpferische Arbeit“ zu Beginn nur langsam in Fahrt gekommen war, konnte sie im Frühjahr 1962 bereits auf 22 Kompositionen durch Amateurkomponisten verweisen.322 Die Jazzensembles der Sektion entwickelten sich zunehmend zu Markenzeichen erfolgreicher kultureller Arbeit. Das Publikum der Jugendcafés Molodežnoe und Aelita galt als erste Zielgruppe, vor der „unsere Ensemble von Kozlov und Gevorjan“ regelmäßig auftraten.323 Die in der Satzung festgelegte Integration von musikalischen Experten in die Belange der Sektion zielte auf eine höhere Legitimität der Aktivitäten, die die Mitglieder der Gründung 1960 durch die Vernetzung mit einzelnen musikalischen Experten verfolgten. Sowohl zur Konferenz einer Buchbesprechung im September 1960 als auch zu einer Diskussion „nationaler Besonderheiten in den Formen sowjetischer Jazzmusik“ wurden Komponisten und Musikwissenschaftler, wie der Redakteur der Muzykalnaja Žizn’ Medvedev, eingeladen.324 Die Musikwissenschaftlerin Valentina Konen, deren Artikel in der Sovetskaja Muzyka eine Trendwende im ideologischen Umgang mit dem Jazz einleitete, wurde zu verschiedenen öffentlichen Veranstaltungen der Sektion begrüßt.325 Im April und Mai des Jahres 1962 spielten Jazzensembles der Sektion vor dem Moskauer Komponistenverband. Nach außen zielten die Verstärkung der schöpferischen Aktivität und die Verbindung mit dem Komponistenverband darauf, die 319 ebd. 320 ebd. 321 Satzung 1962. 322 Vgl. Bericht über die Jazzsektion (Sommer 1962). 323 ebd. 324 Vgl. ebd. 325 Vgl. Einladungskarte an Valentina Konen zu einem Vortrag aus dem Zyklus über die Geschichte des Jazz am 22.02.1961, Privatarchiv Batašev.
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Legitimität der Sektion zu erhöhen und ihre Existenzberechtigung langfristig zu sichern. Im Bericht über die zweijährige Tätigkeit des Klubs betonte das Büro der Sektion die „freundschaftlichen Verbindungen zur Moskauer Sektion des Komponistenverbands, seines Vorsitzenden Muradeli und den Mitgliedern Chačaturjan, Ešpaj, Pochmutova, Šneerson, Konen, Medvedev und Jakunčenko“326. Die Kooperation und konkrete Arbeit am Repertoire des Ensembles bot Jazzmusikern, besonders wenn sie aus dem Amateurbereich kamen, zahlreiche Möglichkeiten, ihre spielerischen und kompositorischen Fähigkeiten zu verbessern und oftmals die erste wirkliche Fachkritik frei von ideologischer Bevormundung zu bekommen. Mit der symbolischen Unterstellung unter die Komponisten untermauerten die Jazzenthusiasten aber auch ihren Anspruch darauf, als Teil der Hochkultur wahrgenommen und behandelt zu werden: „Deren Kritik und Rat war für unsere Musiker und Komponisten das Wichtigste und Hilfreichste wegen ihrer Hinweise auf eine Reihe von Mängeln in Komposition und Ausführung. […] Alle Komponisten erkannten mit verschiedenen Worten und unterschiedlichem Temperament das hohe professionelle Niveau unserer Musiker und Komponisten an.“327 Diese Unterstützung ermöglichte es auch den Komponisten, auf die von Partei und Kulturministerium geforderte „stärkere Aufmerksamkeit gegenüber der Estrada“ zu reagieren. Inwieweit die Reputationssteigerung einzelner Ensembles und Musiker durch diese Zusammenarbeit auch die Auswahl der Komsomoldelegation für das Warschauer Jazz-Jamboree 1962 beeinflusste, ist nicht dokumentiert. Angesichts des Bedarfs an musikalischer Expertise für eine solche kulturpolitische Entscheidung und der Tatsache, dass alle sechs Musiker in der Sektion engagiert waren, scheint der Zusammenhang jedoch wahrscheinlich. Die Zusammenarbeit zwischen Komponistenverband und Jazzmusikern überdauerte die Existenz der Sektion, die im Dezember 1962 im Zuge der Manege-Affäre durch den städtischen Komsomol wieder aufgelöste wurde. Die Jury des ersten Jazzfestivals im gleichen Jahr rekrutierte sich aus Mitgliedern des städtischen Komponistenverbandes, der in der anstehenden kulturpolitischen Auseinandersetzung der Jugendcafés mit der städtischen Kulturbürokratie als Mediator und Parteigänger aktiv wurde. Aus Sicht der sonst dem Jazz gegenüber positiv eingestellten städtischen Jugendpolitik erschienen die Organisationsstrukturen der Jugendcafés Molodežnoe, Aelita und Sinjaja Ptica als geeignet, Aufgaben der Sektion in einem öffentlichen Rahmen fortzuführen, über den der Komsomol auch einen stärkeren direkten Einfluss ausübte als auf die Sektion im Kulturhaus. Auch die Widerstände der städtischen Konzertorganisation, die sich durch die zunehmend professionellere künstlerische Laientätigkeit der Jazzenthusiasten herausgefordert fühlte, spielten 326 Vgl. Bericht über die Jazzsektion des Jugendklubs im Kulturhaus Ėnergetikov (Sommer 1962). 327 ebd.
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langfristig eine Rolle. Während in Moskau im Laufe der 1960er-Jahre zwar zahlreiche kleine Jazzklubs in verschiedenen Institutionen entstanden, entwickelte sich aber vor allem der Sowjet des Jugendcafés Molodežnoe zum Gravitationszentrum für Jazzorganisatoren, die über verschiedene Komsomol-Instruktoren den Zugang und die Unterstützung der Jugendorganisation zu gewinnen suchten. Im Gegensatz dazu entstanden im Umfeld der Leningrader Staatsuniversität ab Beginn der 1960er-Jahre erneut Jazzsektionen, die unter der kulturpolitischen Lockerung nach dem Rücktritt Chruščevs 1965 vom Komsomol den offiziellen Status des Städtischen Leningrader Jazzklubs zugewiesen bekamen.328 Für die Konstituierung der städtischen Jazzszene und die Professionalisierung seiner Musiker, Lektoren und Organisatoren spielte der Klub, der unter dem Namen Kvadrat bis zum Zerfall der Sowjetunion weiterbestehen sollte, eine Schlüsselrolle. Der Professionalisierung und der kulturpolitischen Anspruchshaltung, die die Akteure daraus ableiteten, standen eine Reihe von Hindernissen entgegen, die aus der ambivalenten Politik des städtischen Komsomol, des Komponistenverbands und der unterschiedlichen Kulturhäuser resultierten, die den Klub beheimateten. Diese lokalen Auseinandersetzungen und Lernprozesse fügen sich exemplarisch in die ambivalente Kultur- und Gesellschaftspolitik der 1960er-Jahre, die in der Retrospektive als Übergangsphase zwischen dem Enthusiasmus der Nachstalinzeit und der vermeintlichen Stagnation der 1970er-Jahre erscheint.329 Ende April 1961 gründete eine Gruppe von Enthusiasten unter Führung von Jurij Vicharev, Georgij Vasjutočkin und dem Ozeanografen Aleksandr Zaiсev an der Leningrader Staatsuniversität einen neuen Klub, der durch Unterstützung des Komsomolaktivs der Universität als Sektion der Jazzliebhaber bis zum Frühling 1963 existierte. Während die Gründungszeit mit der oben diskutierten Phase des Höhepunkts liberaler Jugendpolitik korrespondiert, fällt die Wahl des Zeitpunkts der Initiative gleichsam mit dem erfolgreichen Flug Jurij Gagarins am 12. April zusammen, dessen euphorische Wirkung auf die sowjetische Gesellschaft und Politik die Initiatoren nutzen wollten.330 Die Initiativgruppe von Jurij Vicharev wendete sich an den Leiter des VLKSM der Universität, „einen Komsomolboss ohne Ahnung vom Jazz“331, der auf ihr Anliegen, „zwischen den Lehrveranstaltungen über Erscheinungsformen der Kultur zu diskutieren“, begeistert reagierte. Für diesen, so Vicharev, stellte die Sektion eine erfolgversprechende weitere außerplanmäßige Spalte im Haushaltsplan dar.332 Hinter der Gründung von Seiten des 328 Vgl. Fejertag, Džaz, S. 91 ff. 329 Vgl. zu einer kritischen Diskussion der Epoche siehe Belge, Demmerlein, Goldene Stagnation? 330 Interview mit Georgij Vasjutočkin vom 27.11.2009. 331 Vicharev, Est’ čto, S. 107. 332 Vgl. ebd.
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Komsomol und der Universitätsleitung verbarg sich auch eine stark symbolische Wirkung – die Mehrzahl der Besucher entstammte einer der universitären Einrichtungen der Stadt. Der offizielle Status des Klubs erlaubte es lediglich, Vorträge zu organisieren und im Abstand von zwei Wochen Konzerte und Jam-Sessions in den Räumlichkeiten der Universität durchzuführen. Der Klub erhielt dafür jedoch keinerlei finanzielle Mittel, was erneut den Enthusiasmus der Mitglieder zur zentralen Währung machte.333 Mit der Vergabe von Schlüsseln für einen kleinen Saal mit 40 Plätzen für Vorträge und der großen Aula im Hauptgebäude der Universität behielt sich die Verwaltung in der Anfangszeit auch die Kontrolle über informelle Treffen, die in den Privatwohnungen und Kommunalkazimmern der Organisatoren stattfanden. Es gelang der Initiativgruppe jedoch, den Komsomoldirektor zu überzeugen, den Flügel der Universität, der in der Kantine ein „tristes Dasein als Möbel“334 fristete, zur Verfügung zu stellen. Das Vortragsprogramm des Klubs ähnelte in seiner Ausrichtung auf Geschichte und zeitgenössische Entwicklungen des Jazz dem der Moskauer Jazz-Sektion. Aus Sicht seiner Akteure verkörperte er darüber hinaus für einige Zeit „das gesamte Jazzleben Leningrads und der Union“, da hier nun erstmals der Austausch von Musikern und Gruppen zwischen den Städten möglich wurde. Bei einem Gedenkkonzert an den US -amerikanischen Saxofonisten Charlie Parker im März 1962 nahm als Vortragender auch Aleksej Batašev aus Moskau teil, während ein größeres Konzert in der Aula der Universität im April des Jahres mit Ensembles aus Leningrad und Moskau von den Jazz-Enthusiasten rückwirkend als „wirklich erstes Allunionsjazzfestival“335 bezeichnet wurde. Der Komsomol der Universität griff in der Vorbereitung auf den Moskauer Jazzklub als akzeptierte Vermittlungsinstanz zurück und lud eine Delegation von 25 Teilnehmern zum Dritten Kunstfestival der Leningrader Universität ein.336 Im Mai desselben Jahres organisierte Jurij Vicharev hier die nächtliche Jam-Session mit den Musikern des in Leningrad gastierenden Goodman-Orchesters. Die Milde der befürchteten Bestrafung durch das Parteikomitee der Universität kann als relative Toleranz gegenüber der Sektion von Seiten der Universitätsleitung interpretiert werden. Möglich wurde dies aber nur dadurch, dass höhere Stellen in Partei und Geheimdienst bemüht waren, keinen Skandal zu provozieren, der von der internationalen Presse mit der Tournee in Verbindung gebracht werden konnte.
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Vasjutočkin, Džazovyj Peterburg, S. 58. Vicharev, Est’ čto, S. 107. ebd., S. 104. Einladungsschreiben des Komsomol der Leningrader Staatlichen Universität und des Klubs für Amateurtätigkeit vom März 1962, Privatarchiv Batašev.
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Nicht nur der städtische Komsomol beobachtet die tägliche Arbeit der Sektion. Vicharev verweist auf die regelmäßige Anwesenheit von Besuchern bei den Vorträgen, die eindeutig nicht der Altersgruppe der Studenten entsprachen, „sich still Mitschriften in ihre Notizbücher machten“337 und nach Ende des Vortrags schnell verschwanden. Wechsel in der kulturpolitischen Atmosphäre dieses Jahres lassen erkennen, dass hinter der Fassade liberaler Lokalpolitik gegenüber der Studentenschaft entschiedene Gegner warteten. Zwar erschien zu den Vorträgen der Jazzlektoren im Laufe des Jahres 1962 mehrfach der Rektor der Universität Aleksandrov als Zuhörer. Gleichsam drohten Mitglieder der Universitätsparteileitung in einer Parteiversammlung zur Rechtfertigung des Klubs nach dem Manege-Skandal im Dezember 1962, dass „unser Kampf mit euerm Ellington […] nicht zu Ende [ist – M. A.] und bis zum Schluss geführt wird“338. Im Frühjahr des Jahres 1963 fielen der Klub der Universität und der Klub des Leningrader Elektrotechnischen Instituts (LETI), in dem eine Gruppe von 45 Studenten und Aspiranten 1962 ebenfalls begann, Vorträge und Konzerte zu organisieren, dem kulturpolitischen Kurswechsel der letzten Chruščevjahre zum Opfer. 339 Im Laufe der Existenz verschiedener Leningrader Jazzklubs gewannen die Mitglieder organisatorische Erfahrungen und konnten persönliche Beziehungen zu Vertretern des Komsomol, der Kulturverwaltung der Stadt und den Kulturhäusern aufbauen, die halfen, auch in der Zeit ohne institutionelles Dach im Sommer 1963 ein zweitägiges Konzert in den Räumlichkeiten der Seefahrtsschule „Admiral Makarov“ und dem Konzertsaal der Fabrik „Kanat“ zu organisieren. Während die Leitung der Schule in dem Konzert eine willkommene und kostenfreie Bereicherung des Kulturprogramms sah, begnügte sich der Leiter des Konzertsaals mit der Zahlung der Miete für den Saal, nachdem man dort „alles spielen konnte“340. Der halblegale Charakter der Veranstaltung zwang einige Musiker wie Gennadij Gol’štejn und Konstantin Nosov aufgrund der Sorge um ihre offizielle Position im Vajnštejn-Orchester, von einem Auftritt abzusehen. Dem Mitorganisator Georgij Vasjutočkin wurde wenige Tage zuvor in einem Telefonat von Mitarbeitern des städtischen KGB freundlich geraten, „über die Ausrichtung des Konzertes noch einmal nachzudenken“341. Dennoch fand die Veranstaltung statt, da der Kreis sowjetischer Jugendlicher, der sich hier organisierte, zwischen 1961 und 1963 einzelnen Funktionären von Partei und Komsomol der Stadt Leningrad bewiesen hatte, sich 337 Vicharev, Est’ čto, S. 109. 338 Vicharev, S. 109, Interview mit Vasjutočkin vom 27.11.2009. 339 В. Šepšelevič: Istorija džaz-kluba „Kvadrat“ [http://jazzclubkvadrat.narod.ru/shepshelevichhistori.html, letzter Zugriff: 30.04.2018]. 340 Interview mit Georgij Vasjutočkin vom 27.11.2009. 341 Interview mit Georgij Vasjutočkin vom 27.11.2009.
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den Ritualen der sowjetischen Lokalpolitik formell und inhaltlich unterwerfen zu können. Jazz wurde von ihnen als kulturaufklärerisches Projekt realisiert, das die mit Skepsis betrachtete studentische Jugend der Stadt in den öffentlichen Raum zusammenbrachte und beschäftigte. Eben jenes Potential war ausschlaggebend dafür, dass kurz nach Ablösung Chruščevs und der teilweisen Rücknahme kulturpolitischer Maßregelungen gegen Abstraktionismus und westliche Kultur die lokalen Vertreter der Gewerkschaften und des Komsomol die Wiederherstellung eines offiziellen Jazzklubs in Leningrad begrüßten. Entsprechend einer Komsomolstudie der Jahre 1963 und 1964 wurden 70 % aller Verbrechen von Jugendlichen zu Hause und abseits der Kontrolle von Schule, Eltern und Jugendorganisation begangen.342 Die Stimmung im städtischen Komsomol, die diese Ergebnisse auslöste, erleichterte es den Leningrader Enthusiasten, im Dezember ein neues Dach im Jugendklub des Kulturhauses „Lensovet“ zu finden, wo eine neue „Sektion der Jazzliebhaber“ gegründet und ab Beginn des Jahres 1965 die Vortragstätigkeit wieder aufgenommen wurde. Im Frühling des Jahres 1965 organisierte der städtische Komsomol gemeinsam mit der Sektion und einzelnen Vertretern des Komponistenverbands das Erste Leningrader Festival für Jazzmusik, nach dessen Erfolg der Sektion der offizielle Status als „städtischer Jazzklub“ erteilt wurde. Deutlichster Ausdruck dieser Aufwertung war die Erlaubnis, eigenständig eine Jazzzeitschrift mit dem Namen Kvadrat in kleiner Auflage zu publizieren, die sich zunächst als Bulletin in einer Auflage von 80 Exemplaren an die Teilnehmer des Festivals und der Klubmitglieder richtete.343 Damit erreichten die Jazz-Enthusiasten erstmals eine größere Öffentlichkeit als über die bisherigen Wandzeitungen. Im Verlauf der nächsten Jahre avancierte Kvadrat mit seinen unregelmäßigen Ausgaben zu einem Forum für die kritische Auseinandersetzung mit internationalen und sowjetischen Entwicklungstendenzen im Jazz. Das zweite Jazzfestival im Frühling 1966 dauerte insgesamt zehn Tage und erreichte auf kleineren Bühnen in Instituten und Fabriken sowie bei fünf großen Konzerten im Theater des Kulturhauses Lensovet mit 2200 Sitzen einen großen Teil der städtischen Gesellschaft.344 Beim Abschlusskonzert im Winterstadion fanden sich schließlich 5000 Besucher ein.345 17 Laienorchestern standen elf professionelle Gruppen gegenüber. Der Altersdurchschnitt der 198 Musiker betrug 26 Jahre und lediglich 40 Prozent aller Teilnehmer hatten eine musikalische Ausbildung genossen.346 Durch diese Zusammensetzung der Teilnehmer und 342 Vgl. Vicharev, Est’ čto, S. 111. 343 Interview mit Natan Lejtes vom 01.12.2009. 344 Vgl. Fejertag, Vladimir: Es erklingt Jazz, in: Smena, 15.05.1966. 345 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 232. 346 Vgl. Zahlen zum Festival, in: Kvadrat 2 (1966) S. 1–2., hier S. 1.
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die künstlerischen Resultate konnte das Festival von beiden Seiten, Enthusiasten und Komsomolfunktionären, als Erfolg gedeutet werden. Diese aus Sicht der Enthusiasten erfolgreichen zwei Jahre prägte ein Kontrast zwischen Professionalisierung der Arbeit des Klubs und einem entsprechend gewachsenen Selbst- und Gestaltungsbewusstsein der involvierten Akteure einerseits und den Grenzen des kulturpolitischen Engagements andererseits, die dem Klub durch den Komsomol, die Stadtverwaltung und die Partei letztlich gesetzt wurden. Die Satzung der Klubs zeigt, wie eng der Professionalisierungsprozess der Klubarbeit mit den politischen Bedürfnissen des städtischen Komsomol verflochten war. Das Dokument erlangte über den Leningrader Kontext hinaus Modellwirkung, da zahlreiche Jazzklubs in anderen sowjetischen Städten, die in den 1960er-Jahren gegründet wurden, auf den Text als Muster zurückgriffen und den Klub um Rat bei den lokalen organisatorischen Arrangements fragten. Das Leningrader Modell erhöhte somit auch das Prestige der Leningrader Organisation.347 Der Anspruch als kulturschaffende Organisation, die zwischen professioneller- und Amateursphäre verortet war und sich damit dem erzieherischen Ziel der Verbesserung individueller Fähigkeiten verschrieben hatte, zeigt sich in der anvisierten Zielgruppe, „professionellen Musikern, Teilnehmern der künstlerischen Laientätigkeit, Studenten der musikalischen Bildungseinrichtungen und anderen Kategorien von Liebhabern, die Interesse am Studium […] verschiedener Typen und Formen der Jazzkunst haben.“348 Die Beschäftigung mit dem Jazz diente nun nicht mehr dem Selbstzweck, sondern „dem schöpferischen Wachstum der Musiker und der Erhöhung der musikalischen Gelehrsamkeit der Liebhaber“ und mit Blick auf die jugendliche Zielgruppe des Komsomol „der ästhetischen Erziehung des Hörer und der Vermittlung musikalischen Geschmacks.“349 Eine klare Zweiteilung der Tätigkeiten nach innen und der Massenarbeit nach außen strukturierte die einzelnen Aktivitäten des artikulierten Bildungs- und Aufklärungsauftrags. Es gelang sogar, in der Klubsatzung die Existenz der Jazzzeitschrift Kvadrat als Informationsbulletin „zur Beleuchtung der Klubaktivitäten und dem Bekanntmachen mit den schöpferischen Errungenschaften seiner Mitglieder“350 zu fixieren. Auch die innere Organisation zeigt, dass sich im Laufe der 1960er-Jahre nicht nur die Musiker, sondern auch die Lektoren und Organisatoren professionalisiert und Aufgabenfelder ausdifferenziert hatten. Während Mitglieder der „schöpferischen Sektion“ aus qualifizierten Musikern bestehen sollten, die Konzertprogramme vorbereiteten und im Kollektiv an der 347 Interview mit Natan Lejtes vom 01.12.2009. 348 Satzung des Leningrader Städtischen Jazzklubs des Leningrader Stadtkomitees des VLKSM, Privatarchiv Natan Lejtes. 349 ebd. 350 ebd.
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Verbesserung der musikalischen Fähigkeiten arbeiteten, wurde für Mitglieder der „Sektion für Geschichte des Jazz und Jazzjournalistik“ das Beherrschen mindestens einer Fremdsprache festgeschrieben, die nötig sei, um „die täglichen Ereignisse des Jazzlebens kompetent kommentieren zu können.“351 Die Aufnahmemodalitäten suggerierten nun keine Beliebigkeit bei der Auswahl neuer Mitglieder mehr: Neben einem Aufnahmeantrag hatte ein Interessierter die Beurteilung einer gesellschaftlichen Organisation vorzulegen und eine halbjährliche Probezeit zu absolvieren.352 Mit der anschließenden Aushändigung des Mitgliedsausweises erhielt die Person bevorzugten Einlass zu Veranstaltungen des Klubs und unterwarf sich der Verpflichtung, regelmäßig Mitgliedsgebühren zu entrichten, welche zugleich die einzige reguläre Einnahmequelle des Klubs darstellten.353 Die Satzung wurde bis Mai 1967 von insgesamt 30 Jazzklubs in der Sowjetunion übernommen.354 Mitglieder wie Fejertag und der Vorsitzende Natan Lejtes reisten regelmäßig in die Regionen des Landes, um die dortigen Arrangements mit dem Komsomol, den Gewerkschaften und der Kulturverwaltung und die inhaltliche Arbeit der Klubs zu unterstützen.355 Verschiedenartig baten regionale Funktionäre schriftlich um Hilfestellung und Rat für die lokalen Jazzenthusiasten und Komsomolmitglieder.356 Neben der organisatorischen Entwicklung, die auf positive lokale politische Resonanz stieß, schien die eigentliche kulturelle Arbeit das gestiegene Selbstbewusstsein der Aktivisten gegenüber dem städtischen Komsomol und der Kulturverwaltung zu bestätigen. Die Vortragstätigkeit wurde durch die Einführung von Abonnements und halbjährlich angelegten Vortragsreihen, die auch auf Plakaten beworben wurden, verstetigt. Inhaltlich konnten mit einer ideologisch willkommenen Fokussierung auf die sowjetische Jazzszene Vorträge und Konzerte verbunden und einer größeren städtischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. In der Veranstaltungsreihe „Geografie des sowjetischen Jazz“ boten die Lektoren Fejertag, Vicharev und Muzovskij neben geschichtlichen Perspektiven auf die Estrada der 1930er-Jahre oder die Jazzbands während des Krieges lokale und nationale Schwerpunkte, zu denen Ensembles und Solisten aus verschiedenen Regionen (Sibirien, Baltikum, Südrussland) eingeladen wurden.357 In einem Artikel in der 351 ebd. 352 Vgl. ebd. l.2. 353 Vgl. ebd. l.3. 354 Vgl. Rechenschaftsbericht des Jazzklubs Kvadrat für den Zeitraum 01.10.1966–01.07.1967, Privatarchiv Natan Lejtes. 355 Vgl. Interview mit Natan Lejtes, Rechenschaftsbericht des Jazzklubs Kvadrat für den Zeitraum 01.10.1966–10.07.1967, Privatarchiv Natan Lejtes. 356 Vgl. Brief der Komsomolgruppe von Mončegorsk vom 29.12.1967, Brief der Komsomolgruppe von Kuybišev o. D. (1967), Privatarchiv Natan Lejtes. 357 Vgl. Interview mit Vladimir Fejertag, Interview mit Natan Lejtes vom 01.12.2009.
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städtischen Jugendpresse betonte Fejertag den positiven Effekt des Zusammenbringens verschiedener sowjetischer Ensembles im Rahmen des zweiten Jazzfestivals 1966, der implizit als Leistung des Klubs verstanden werden konnte. „Der Maßstab der Leningrader Konzerte und das Niveau des Könnens der hier aufgetretenen Ensembles steht im Übrigen keinem anderen internationalen Festival nach.“358 Das Selbstbewusstsein und der Gestaltungsanspruch der Aktivisten zeigten sich aber auch innerhalb des kulturellen Gefüges der Stadt, in dem der Klub Kvadrat der größte, aber nicht einzige Jazzklub dieser Zeit war. Gegenüber anderen kleineren, meist in Forschungsinstituten angesiedelten Klubs, wurden zwar „freundschaftliche Beziehungen“359 unterhalten. Gegenüber dem Komsomol und der Stadtverwaltung forderten die Jazz-Enthusiasten jedoch eine klare Monopolstellung ein. Im Jahresbericht für 1966/67 formulierte der Klubrat gegenüber anderen Klubs, dass „wir […] in steigendem Maße beunruhigt über Inhalt und künstlerischen Wert der Vorträge und Konzerte [sind], die von diesen Einrichtungen ausgerichtet werden“360. Deutlich werden hier Bemühungen, das Deutungsmonopol über eine ideologisch akzeptierte und erfolgreiche Lesart des Jazz zu behalten. Während der Jazzklub des Leningrader Instituts für Flugzeuggerätebau „assimiliert“ wurde und sich der Satzung des städtischen Klubs unterstellte, forderten die Enthusiasten die Stadtverwaltung auf, die Bemühungen zur Zentralisierung aller Klubs unter ihre Hoheit zu unterstützen.361 Eine über den städtischen Rahmen hinausreichende Forderung, die Jazzorganisatoren aller sowjetischen Städte bis Ende der 1960er-Jahre beschäftigte, war die Gründung einer Allunionsjazzföderation nach polnischem Vorbild, um die musikalische und kulturelle Isolation zwischen den Städten aufzubrechen und gemeinsame kulturpolitische Impulse zu koordinieren.362 Unterstrichen wurde die Forderung mit dem Verweis, dass Leningrad „die Wiege des sowjetischen Jazz“ sei und der Klub Kvadrat über die meiste Erfahrung verfüge. Den musikalischen und organisatorischen Erfolgen des Klubs in diesen zwei Jahren und den daraus abgeleiteten Ansprüchen standen jedoch deutliche organisatorische und finanzielle Grenzen entgegen. Enthusiasmus und Initiative, die der Komsomol seit Mitte der 1950er-Jahre stimuliert hatte, gerieten Ende der 1960er-Jahre da an ihre Grenzen, wo Autonomie das wachsende Kontrollbedürfnis der Jugendorganisation herausforderte oder Veränderungen im institutionellen Aufbau der städtischen Kulturpolitik einforderte. Die finanzielle Situation des 358 Fejertag, Es klingt Jazz. 359 Interview mit Georgij Vasjutočkin vom 27.11.2009. 360 Rechenschaftsbericht des Jazzklubs Kvadrat für den Zeitraum 01.10.1966–01.07.1967, Privatarchiv Natan Lejtes. 361 Vgl.ebd. 362 Vgl. bspw. Versammlung von Jazzklubvertretern beim Jazzfestival Tallinn 1967, Privatarchiv Vinarov.
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Klubs muss als unstetig bis prekär bezeichnet werden. Ein Großteil der offiziell in Sektionen organisierten Arbeit musste vom Enthusiasmus der Mitglieder selbst getragen werden. Vertreter der technischen Sektion, die die Bibliothek des Klubs und die Tonaufnahmen verantworteten, klagten über fehlende und beschädigte Aufnahmetechnik und den Mangel an Tonbändern, die die Mitglieder letztlich selbst kaufen mussten.363 Die häufig schlechte Ausstattung von Laienorchester mit Instrumenten war vom Komsomol und den Gewerkschaften immer wieder thematisiert worden und traf insbesondere die Klubmusiker der beiden Kulturhäuser Lensovet und Kirov, die zu den größten des ganzen Landes gehörten.364 Pianisten konnten nur dann auf die Flügel in den Kulturhäusern zurückgreifen, wenn sie gerade verfügbar waren. Alle anderen Musiker waren auf eigene Instrumente angewiesen, deren Verfügbarkeit und Qualitätsprobleme bereits thematisiert wurden. Die Hauptursache der finanziellen Probleme lag in den Beziehungen zu den Kulturhäusern und der dahinterstehenden städtischen Gewerkschaft, deren Unterstützung der Komsomolklubs mehrfach Thema von Konferenzen auf Allunionsund Stadtebene wurde. Entgegen den auf einer Stadtkonferenz vom Oktober 1966 gemachten Zusagen verbesserte sich die Situation des Klubs kaum.365 Der Komsomol unterstützte den Klub öffentlich zunächst sogar gegenüber den Gewerkschaften. Der Organisator Natan Lejtes konnte in der Smena kritisieren, dass Gelder für den Erwerb von Schallplatten und die Bezahlung von Musikern und Vortragenden fehlen würden, die kompensiert werden könnten, „wenn uns die Bezirksgewerkschaftsleitung erlauben würde, einige Konzerte mit Eintritt zu organisieren.“366 Aber auch im darauffolgenden Jahr schien sich das Kirow-Kulturhaus, in das der Klub zu Jahresbeginn umgezogen war, nicht an die vereinbarte Zuwendung von 80 Prozent der Einnahmen aus Eintritten von Klubveranstaltungen gehalten zu haben.367 Für die Verwaltung des Kulturhauses waren einzig der gewonnene Eintritt und die Besucherzahlen relevant und dies umso mehr, als der Klub seit Jahresbeginn nicht mehr dem Komsomol unterstand, über den die Enthusiasten in dieser Frage vorher Druck ausüben konnten. Gleichzeitig sicherten die konstanten Besucherzahlen der Veranstaltungen im Kirov-Kulturhaus nach 1967 den Bestand des Klubs, da jugendliches Engagement in künstlerische Laientätigkeit, aber auch die Besuche der Klubs für Interessen ab der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre deutlich nachließen. Statistische Umfragen des Stadtkomsomol unter Jugendlichen sorgten schon 363 Vgl. Sitzungsprotokoll Klub Kvadrat [Zweite Jahreshälfte 1967], Privatarchiv Lejtes. 364 Vgl. Bericht und Vortragsschreiben der Abteilung zur „Durchführung eines Tags der Jugend, über die Arbeit der Klubs, Vorschläge zur Verbesserung der Bibliotheksdienste und andere Materialien zur kultur-aufklärerischen Arbeit für die Jugend“, (1959) CGALI SPb, f.1, op.32, d.974. 365 Vgl. Rechenschaftsbericht 01.10.1966–01.07.1967. 366 o. A. Abends nach Sieben, in: Smena, 09.10.1966. 367 Vgl. Protokoll der Klubversammlung vom 18.10.1967.
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1965 für Ratlosigkeit – 65 Prozent der städtischen Jugend bescheinigten darin den Klubs für Interessen sinnvolle Arbeitsweise, aber 80 Prozent der Jugendlichen besuchten diese gar nicht mehr.368 Zwei Jahre später fielen die Befunde für die Klubbesuche noch eindeutiger aus. Nur noch 30 Prozent der befragten Leningrader Jugendlichen gaben an, einige Male in der Woche in einen Klub zu kommen, während 70 Prozent dies nur noch einige Male im Jahr taten.369 Ein exemplarischer Blick auf die Veranstaltungen im Kirov-Kulturhaus zeigt, dass die Veranstaltungen des Klubs eine kleine, aber sehr konstante Besucherzahl für den Konzertsaal des Kulturhauses mobilisieren konnten. Die bis zu zweimal wöchentlich stattfindenden Vorträge zu Themen wie „Von New Orleans bis heute“, „Blues“, aber auch „Sowjetischer Jazz“ oder „Kopieren oder das Eigene schaffen? – Europäischer Jazz“ zogen durchschnittlich 90 bis 100 Besucher an.370 Zu Konzerten, bei denen Leningrader, Moskauer, aber auch polnische Jazzensembles auftraten, kamen regelmäßig zwischen 250 und 300 Besucher.371 Entscheidend ist, dass diese Besucherzahlen dauerhaft über denen aller anderen Musik- und Interessenklubs lagen, womit nur große Estrada- und Tanzveranstaltungen mehr Einnahmen für das Kulturhaus generierten. Eine aus dieser Situation finanzieller Benachteiligung heraus logische Forderung, den Klub als eine wirtschaftlich eigenständige Einheit zu organisieren, formulierten seine Mitglieder ab 1966 offensiv nach außen. Im Jahresbericht für 1966/67 argumentieren die Verfechter einer solchen Kompetenzerweiterung, dass der zentrale ästhetische Erziehungsauftrag des Klubs nur durch einen solchen Schritt erfüllt werden könne, der zudem „den gegenwärtig diskutierten wirtschaftlichen Reformen und dem Geist des demokratischen Sozialismus“372 diene. Die Frage berührte darüber hinaus das Grunddilemma der sowjetischen Jugendpolitik dieser Epoche, die sich in der Mehrdeutigkeit des Wortes „Samodejatel’nost’“ verbirgt. Dieses, so die Autoren, sei ein „schönes Wort mit abgedroschenem Sinn“, wenn dem Klub nicht mehr finanzielle Autonomie und kulturelle Handlungsfreiheit gegeben werde. Genau dieses Verständnis von „Samodejatel’nost’“ als Selbstständigkeit
368 „Liebhabervereinigungen und Interessenklubs“, Stenografischer Bericht der methodischen Konferenz der Klubarbeiter am 23.11.1965 „Klub und Heranwachsende“ f.422, op.1, d.65, l.80. 369 Vgl. Stenogramm des Plenums „Über die Verstärkung der Rolle der Komsomolorganisationen im Kampf für die Stadt der hohen Kultur und öffentlichen Ordnung, 16.05.1967, CGAIPD SPb, f.k-881, op.16, d.20, l.4–30, hier l.21. 370 Vgl. Bericht über die Arbeit des Kulturpalastes vom Januar bis Mai 1967, CGALI SPb, f.274, op.2, d.335, l.31, 39, 54. 371 Vgl. ebd. und Bericht über die Arbeit des Kulturpalastes vom September 1967 CGALI SPb, f.274, op.2, d.340, l.77; Bericht über die Arbeit des Kulturpalastes vom Oktober 1967 CGALI SPb f.274, op.2, d.341, l.1–13. 372 Rechenschaftsbericht 01.10.1966–01.07.1967.
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stand dem der Gewerkschaften und des Komsomol von „Laientätigkeit“ diametral entgegen. Dabei nutzten die Aktivisten auch den Appell an die Öffentlichkeit, um ihre Forderung zu artikulieren. In einem Interview des sowjetischen Komponisten A. A. Vladimircov, das Fejertag nach dem zweiten Jazzfestival mit dem Jurymitglied geführt hatte, bestätigt dieser, dass „der Klub seine vielfältigen Aufgaben am besten erfüllen könne, wenn er eine selbstständige rechnungsführende Organisation ist“373, die mit dem Komponistenverband und dem Haus für künstlerische Laientätigkeit zusammenarbeiten sollte. „Der geistige Vater und ältere Kamerad“, so Vladimircov, „sollte der Komsomol sein.“374 Neben der finanziellen Selbstständigkeit blieb auch die organisatorische Autonomie eine ungelöste Frage. Ensemble und Musiker, die im Rahmen von Konzerten als Laienorchester auftraten, konnten wegen fehlender Mittel selten bezahlt werden; eine Situation, die auch nach 1967 im Kirov-Kulturhaus problematisch blieb und eher ad-hoc in Verhandlungen um einzelne Konzerte gelöst werden konnte.375 Für die Organisation des avisierten Kulturprogramms hätte es die Befugnisse der Konzertorganisation gebraucht, die der Klub jedoch nie erhielt. So mussten gastspielende Ensembles Kosten für die Anreise in den meisten Fällen selbst tragen und deren Organisation und Einladung über den Umweg übergeordneter Komsomolgruppen abgewickelt werden.376 Auch diese Frage band Fejertag in einen Zeitungsartikel ein, der über die sowjetischen Erfolge beim Prager Jazzfestival 1965 berichtete, am Ende aber Rückschlüsse auf die Leningrader Situation zog: „Das Festival lässt uns viel zum Nachdenken übrig – Wir können hier kaum die großartige Musik der Gewinner hören. Genauso ist es den Moskauern oder Kiewern unmöglich, zu erfahren, wer Roman Kunsman, die Dixilandgruppe ‚Neva‘ oder der Virtuose Konstantin Bacholdin ist.“377 Verhandlungen um Gastspiele so erfolgreicher Gruppen „könnten aber schneller gehen und häufiger passieren, wenn sich damit nicht nur gesellschaftliche Organisationen, sondern auch die Konzertorganisationen beschäftigen würden.“378 Anders als im Moskauer Fall entwickelte sich zwischen den Jazzenthusiasten und dem Leningrader Komponistenverband eine ambivalente Beziehung, die dazu beitrug, dass sich der Komsomol aus der Unterstützung des Klubs zurückzog. Ein für das Frühjahr geplantes drittes Jazzfestival wurde trotz bereits fortgeschrittener
373 Interview mit dem verdienten Künstler der RSFSR A. A. Vladimircov über die perspektivische Entwicklung des Jazzklubs, in: Kvadrat II, S. 29–30, hier S. 29. 374 ebd. 375 Vgl. Protokoll des Klubrates vom 18.10.1967. 376 Vgl. Interview mit Natan Lejtes vom 01.12.2009. 377 Fejertag, Vladimir: Der Jazz kehrt vom Festival zurück, in: Smena, 14.11.1965. 378 ebd.
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Planung ohne Angabe konkreter Gründe abgesagt. Einige Organisatoren deuteten die Absage retrospektiv als Vorboten der Ereignisse in Prag 1968, als sie schrieben, dass der Komsomol in Erfahrung gebracht habe, dass die Jazzklubs in der ČSSR mehr Jugendliche anziehen würden als die tschechoslowakische kommunistische Jugendorganisation selbst.379 Dies kann aufgrund der Aktenlage weder bestätigt noch ausgeschlossen werden. Jedoch spielen für das Zustandekommen dieser Festivals die Beziehungen zwischen städtischen Jazzenthusiasten, Komsomol und dem Komponistenverband eine entscheidende Rolle. Hier unterschieden sich Leningrad und Moskau deutlich. In der Hauptstadt hatten sich erste semiformelle Kontakte zwischen einzelnen Vertretern des Verbands und den Enthusiasten im Jazzklub zu einem relativ stabilen Netzwerk entwickelt. Einzelne Komponisten wie Vano Muradeli und Andrej Ešpaj unterstützen Jazzmusiker und -organisatoren und beteiligten sich in allen Jurys der Moskauer Jazz-Festivals der 1960er-Jahre. Deren gemeinsame Kooperation überdauerte auch das Jahr 1968 in Form gemeinsamer Institutionen wie dem Café Pečora und RITM, das vom Komsomol, der Schallplattenfirma Melodija und dem städtischen Komponistenverband organisiert wurde. In Leningrad beteiligten sich an den ersten beiden Festivals lediglich die Komponisten Vladimircov, Chromušin und Kolker.380 Für das dritte Festival verweigerte der Verband jedwede Unterstützung, wohl auch, wie die Enthusiasten mutmaßten, weil die „Ursachen auch tiefer in einigen abweichenden Meinungen über die Frage der sowjetischen Jazzschule und ihrer Entwicklung“381 lagen. Die defensive Sprache der Enthusiasten, „es wäre nur wünschenswert, wenn sich dieser Prozess [der Schaffung des neuen sowjetischen Jazz – M. A.] ohne gewaltsamen Einfluss von Seiten des Komponistenverbands und anderer Organisationen vollziehen würde“, suggeriert, dass in Leningrad Formen der künstlerischen Kooperation und Hilfestellung seltener waren als in Moskau. Hierfür fehlten auch junge Komponisten wie Jurij Saul’skij, Jan Frenkel oder Andrej Ešpaj, die im Bereich der Estrada tätig waren und einer ähnlichen Altersgruppe wie die Musiker selbst angehörten. Darüber hinaus greift die Annahme einer persönlichen Note des Konflikts nicht vollkommen ins Leere. Mitglieder der Klubs mutmaßten, die Vertreter des Komponistenverbands seien „vielleicht gekränkt, weil bei den Festivals keiner der im Komponistenverband ausgebildeten Musikanten einen Preis gewonnen hat“. Auffallend direkt hatte Vladimir Fejertag zwei Ensembles aus Musikern des Konservatoriums öffentlich in einem Artikel in der Smena kritisiert. Das Quartett von Krugljanov „erwies sich ungeachtet des schlechten Rhythmus als jazzhaft dank 379 So bei Fejertag, Ot Leningrada; Vicharev, Est’ čto. 380 Vgl. Ergebnisse des zweiten Jazzfestivals, Juryprotokoll, Privatarchiv Lejtes. 381 Rechenschaftsbericht für den Zeitraum 01.10.1966–01.07.1967.
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Variationen des Geigers Jurij Krugljanov“382. Fejertag fasste zusammen, dass „Hilflosigkeit, schlechter Geschmack und Schablonen entstehen“, wenn man Melodien einfach nur nach Jazzprinzipien überarbeitet. Um ein Plädoyer für eine systematische Jazzausbildung zu machen, ging Fejertag in seiner Argumentation sehr weit: „Der Auftritt der Musiker des Konservatoriums zeigt erneut: schon lange ist die Notwendigkeit erwachsen, hinter den Mauern dieser Bildungseinrichtung einen Kurs für die Geschichte und Theorie der Jazzmusik zu etablieren.“383 Mit dieser symbolischen Herabwürdigung der Vertreter der Hochkultur und ihrer Einrichtung hatte der Autor möglicherweise zu viel Porzellan zerschlagen, das für die hier entscheidende personelle Unterstützung des Jazzprojektes nötig war. Ende der 1960er-Jahre existierten nach Angaben von Aleksej Batašev ungefähr 2000 Jazzklubs auf dem Territorium der Sowjetunion.384 Hierzu gehörten etablierte Klubs wie der Leningrader Kvadrat, der 1967 in Doneck gegründete Jazzklub und das Jazzstudio des Moskauer Physikalisch-Technischen Instituts ebenso mit ein wie zahllose kleine Sektionen von Jazzliebhabern, deren Mitgliederzahl und kulturelle Handlungsmöglichkeiten deutlich geringer waren. Beim Jazzfestival in Tallinn 1967 tauschten sich auf einer Versammlung Jazzklubvertreter aus Tallinn, Riga, Sverdlovsk, Kujbyšev, Leningrad, Moskau und Tbilisi über Aktivitäten, Arbeitsformen und die jeweilige Finanzlage aus, die immer abhängig von der institutionelle Einbindung und der Breite der organisierten Tätigkeiten war und in fast allen Fällen als prekär bezeichnet wurde.385 Die finanzielle Situation des 1962 in Kujbyšev gegründeten Klubs mit nahezu 400 beitragszahlenden Mitgliedern erwies sich als günstig, da die Einrichtungen der Stadt, in denen eines der 12 Orchester des Klubs Konzerte gaben, die Gewinne an den Komsomol überwiesen, der das Geld wiederum dem Klub zur Verfügung stellte.386 Seine gesellschaftliche Nützlichkeit bewiesen dessen Vertreter durch die Durchführung von Tanzunterricht für die Jugend, deren Lehrer der Klub selbst bezahlte. Der Jazzklub der Kleinstadt Ivano-Franko am örtlichen Institut verfügte über gar keine Mittel und genoss in den Worten des Vertreters Šeffer „bei den Stadtbürgern keine große Popularität“387. Zur Verbesserung der finanziellen Situation und damit des kulturellen Handlungsspielraums forderten verschiedene Vertreter die Schaffung einer unionsweiten Jazzföderation, die die einzelnen Klubs verbinden und gegenüber Kulturministerium, Gewerkschaften und Komsomol eigenständig vertreten 382 Fejertag, Es klingt Jazz. 383 ebd. 384 Interview mit Aleksej Batašev vom 09.06.2009. 385 Vgl. Versammlung der Vorsitzenden der Jazzklubs vom 14.05.1967, Privatarchiv Vinarov. 386 Vgl. ebd. 387 ebd.
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sollte. Ein solcher Zusammenschluss blieb, anders als in der Polnischen Volksrepublik, bis zum Ende der Sowjetunion jedoch aus.388 Die Klubs blieben auf die lokale Unterstützung durch Gewerkschaften, Komsomol und Komponistenverband angewiesen und wurden keine eigenständigen Akteure im kulturellen Gefüge der Sowjetunion, wie dies Mitte der 1960er-Jahre noch von einigen Vertretern imaginiert wurde. Die Beziehungen zwischen den Klubs und der Austausch zwischen den Städten außerhalb der verschiedenen Festivals fußten weiterhin hauptsächlich auf dem Enthusiasmus der Mitglieder und der Informalität der Verbindungen, die auch 1967 noch nicht vollständig etabliert waren. Emblematisch für diese Situation blieb den Vertretern am Ende der Tallinner Versammlung letztlich nur, die Adressen aller Klubs zusammenzutragen und auszutauschen.389
5.2.3 Das Jugendcafé Molodežnoe in Moskau Während die Bezeichnung „Jazzklub“, gleich ob als eigenständiger „Klub der Interessen“ oder als „Sektion von Jazzliebhaber“, eher auf den organisatorischen Status innerhalb der lokalen kulturellen Infrastruktur abzielte, unterschied er sich in seiner Arbeitsweise und Reichweite von den Jugendcafés. „Jazzklubs“ entsprachen als Einrichtungen mit beschränkten kulturellen Organisationsmöglichkeiten am ehesten einer Teilöffentlichkeit. Diese bekommt retrospektiv aus Sicht ihrer Akteure für deren kulturelles Projekt des Jazz eine fast subversive Bedeutung zugeschrieben. Anders als die Cafés verfügten Klubs und Sektionen nicht immer über den nötigen Raum und waren somit von der Unterstützung von Universitäten, Kulturhäusern oder Komsomolgruppen abhängig. Sowohl Jazzklubs als auch Jugendcafés boten den Jazzenthusiasten die Möglichkeit, vormals persönliche Beziehungen zu Unterstützern aus Partei, Komsomol oder Komponistenverband zu verstetigen und zu institutionalisieren. Beiden Einrichtungen oblag die Aufgabe, interessante Veranstaltungen zu organisieren, die den ideologischen Vorgaben sowjetischer Jugendpolitik entsprachen und Unterhaltung, Vermittlung von Wissen und ästhetisch-moralischen Werten sowie politisch-gesellschaftliches Engagement vereinigen sollten. Die thematische Breite dieses Angebots war abhängig von Finanzkraft und Unterstützung anderer Institutionen in den Jugendcafés ungleich höher als in den Klubs und über die Sowjets und „Aktive“ der Cafés auf mehr Leute mit unterschiedlichen Interessen verteilt. Die Enthusiasten der Klubs versuchten, Jazz durch Verknüpfung mit Bildungsfragen anschlussfähig und aufführbar zu machen, zu Beginn meist in Form von Hörbeispielen für die Musik einzelner 388 Vgl. Schmidt-Rost, Jazz in der DDR und Polen, S.140–146. 389 Vgl. ebd.
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Epochen. Die Jugendcafés boten neben Vorträgen auch ein abendliches Konzertprogramm, zu dem Jazz ebenso gehörte wie Tanzmusik, klassische Musik und die ersten Barden, die als Genrevertreter des „Amateurlieds“ („Samodejatel’naja pesn’“) hier erstmals eine Bühne fanden.390 Dieses Angebot zielte somit auf ein breiteres Publikum, das die Cafés allabendlich aufsuchen konnte, während sich die Aktivitäten der Klubs auf ein bis zwei Veranstaltungen in der Woche beschränkten. Das Novum der Jugendcafés Anfang der 1960er-Jahre war der auch im Komsomol nicht unstrittige ideale Zweck ihres Besuchs, die Möglichkeit zur freien Kommunikation („obščenie“). Mit der Chance, einen Ort ohne konkrete Bildungsabsicht oder Abendplanung gemeinsam mit Freunden zu besuchen und dort neue Menschen außerhalb politischer Rituale kennenzulernen, bot sich Raum für die semiöffentlichen Freundeskreise („kompanija“), die zu den sozialen Erscheinungen des sogenannten Tauwetters gehören.391 Nimmt man als westlichen Vergleichspunkt die 52. Straße im New York der 1940er- und 1950er-Jahre, deren Jazzklubs wie das „Birdland“ zu Erinnerungsorten der Jazzbewegung wurden und auf die sich auch die sowjetischen Akteure selbst immer wieder beziehen, so ähneln diese vielmehr den sowjetischen Jugendcafés als den Jazzklubs..392 Auf diese Analogie griffen auch zeitgenössische, westliche Beobachter zurück, als sie ihrer Leserschaft das Moskauer Café Molodežnoe erklärten. Ein typisches Beispiel für die westliche Perspektive findet sich im Philadelphia Inquirer von 1965. „It could be Bourbon Street instead of Gorky Street, a bistro in New Orleans rather than a cave in Moscow.“ Mit der Betonung des vermeintlichen Bruchs zur sowjetischen Politik vor 1953 – „A mile away Stalin, I’m certain, was rolling and rantling in his grave“ – reproduziert Jerry Hulse hier gleichzeitig das antisowjetische Narrativ des Jazz. Dem Jazz im Café weist er mit der Aussage „The kids talk jazz instead of politics“393 dennoch eine unpolitische Funktion zu, die jedoch kritisch hinterfragt werden muss. Die privilegierte Position des Jugendcafés Molodežnoe machte es in den 1960er-Jahren zum Knotenpunkt verschiedener Beziehungsnetze, die die Legitimation des Jazz in der sowjetischen Kultur von unten durchsetzen konnten. Jazz im Molodežnoe war damit nicht das Antonym zu „Politik“, sondern ihr Vehikel. Stärker als die Jugendcafés Aelita und Sinjaja Ptica, in denen auch Jazz gespielt wurde, galt das Molodežnoe als ein prestigeträchtiges Vorzeigeobjekt der Moskauer Komsomolorganisation. Die Inneneinrichtung und das Design orientierten
390 Vgl. Smith, Gerald Stanton: Songs to Seven Strings. Russian Guitar Poetry and Soviet ‚Mass Song’. Bloomington 1984; Daughtry, J.Martin: Sonic Samizdat. Situating Unofficial Recording in the Post-Stalin Soviet Union, in: Poetics Today 30 (2009), S. 28–65. 391 Vgl. Vgl. Fürst, Friends in Private. 392 Vgl. DeVeaux, Constructing the Jazz Tradition. 393 Hulse, Jerry: Hot „Jazz“ in Moscow, in: The Philadelphia Inquirer, 10.07.1965.
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sich stark an der neuen sparsamen Ästhetik der Nachstalinzeit, die mit Effizienz und Praktikabilität assoziiert war.394 Erst die Tatsache jedoch, dass dies nicht von etablierten Architekten eines staatlichen Planungsbüros, sondern von Nachwuchsarchitekten und -designern unter Leitung von Volodja Kul’p im Rahmen freiwilliger gesellschaftlicher Tätigkeit realisiert wurde, erlaubte es, die Entstehung in ein zukunftsweisendes Narrativ einzubauen.395 Der Zeitschrift Architektura Moskvy schrieb, dass sich das neue Café als „Beispiel eines schöpferischen Zugangs zur Rekonstruktion eines alten Gebäudes und der sachkundigen Anpassung an die neuen Bedürfnisse mit der Verwendung moderner architektonischer Formen“396 zeige. Auch in einer Fernsehreportage über die Gor’kijstraße aus dem Jahr 1965 besucht der Zuschauer das Café als eine der repräsentativen und zukunftsweisenden Einrichtungen einer der wichtigsten Straßen Moskaus.397 Deren Bauten, so Monika Rüthers, „dienten nicht dem Gebrauch, sondern der Selbstbeschreibung und der Herrschaft.“398 Auch die Zusammensetzung des Café-Sowjets, der alle nicht-wirtschaftlichen Fragen zu verantworten hatte, galt als nahezu prototypisch für den jugendlichen Geist, den der Komsomol mit Blick auf das kommunistische Zukunftsversprechen fördern sollte. Auch Zeitgenossen teilten den Eindruck von Engagement und Enthusiasmus. Kozlov spricht von „romantisch eingestellten freiwilligen Komsomolzen, die prinzipientreu, ehrlich und risikofreudig“399 waren und ab Beginn der 1960er neben die hauptberuflichen Komsomolmitarbeiter „aus der Schicht der vorsichtigen Karrieristen“ heraustraten. Rostislav Vinarov, selbst freiberuflicher Instruktor des Moskauer Stadtkomitees des VLKSM, charakterisierte diese Gruppe als Leute mit meist gerade abgeschlossenem Hochschulstudium, die „alle bereit waren, jede Sekunde ihrer Freizeit für die Arbeit zu opfern.“400 Die Übergänge zwischen diesen Akteuren und der Komsomolbürokratie in Moskau schienen auch aufgrund der Verjüngung ihrer Mitglieder fließend zu sein. Im Kultursektor der Abteilung für Agitation und Propaganda des Stadtkomitee des VLKSM, die die Arbeit des Molodežnoe verantworteten, saß neben Marina Savina und Genrieta Kuznecova der Funktionär Vladimir Amatuni, der 1965 mit dem Trio von Viktor Misailov als 394 Vgl. Reid, Khrushchev Modern. 395 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 151. 396 o. A. „Molodežnoe“. Cafe in der Gor’kijstraße, in: Stroitel’stva i architektura Moskva (1962) 5, S. 25. 397 Dokumentation „Moskva, ulica Gorkogo“ Mosfilm 1966, (ab Min. 35:00). [http://rutube.ru/video/ df172f9f82be508007a51a89858d8124/, letzter Zugriff: 30.04.2018]. 398 Rüthers, Monika: Moskau bauen von Lenin bis Chruščev. Öffentliche Räume zwischen Utopie, Terror und Alltag. Wien/Köln/Weimar 2007, S. 97. 399 Kozlov, Džaz, S. 150. 400 Interview mit Rostislav Vinarov vom 07.07.2009.
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Schlagzeuger am zweiten Moskauer Jazzfestivals teilnahm.401 Der Moskauer Stadtkomsomol bewarb das Molodežnoe auch innerhalb der Organisationen als Muster für weitere Cafés, die, von oben befördert, im ganzen Land entstehen sollten. Im Namen des Stabs für die Organisation der Freizeit beim Moskauer Stadtkomitee des VLKSM schrieb Rostislav Vinarov 1963 eine Kurzbeschreibung an alle interessierten Komsomolkomitees.402 Hier schilderte er den Aufbau des Cafés, seine Arbeitsweise und die Probleme des ersten Jahres, besonders das der rentablen Arbeitsweise. Zudem gab er Hinweise, an welchen Stellen (Design, Aufbau, Einrichtung, Abendplanung, Musik) die Möglichkeit besteht, durch das freiwillige Engagement Kosten zu sparen und die erzieherischen Ziele zu erreichen. Um alle weiteren Fragen zu besprechen, bot er am Ende des Briefs allen Interessierten an, sich vor Ort über die Arbeit des Cafés und das „höchst effektive Projekt“ selbst zu informieren.403 Um das Café für repräsentative Zwecke zu nutzen, waren in der regelmäßigen Arbeit drei geschlossenen Abende pro Woche fest eingeplant, während denen sich Mitarbeiter von Betrieben, Instituten aber auch politischen Instanzen in geschlossener Gesellschaft treffen und amüsieren konnten. Bereits kurz nach der Gründung im Oktober 1961 empfing das Molodežnoe die kubanische Delegation des 21. Parteitags mit Raúl Castro an der Spitze. Für die in der Gestaltung dieses letztlich erfolgreichen Abends involvierten Musiker, die ein Programm aus Jazz, Samba und Rumba zur Zufriedenheit der kubanischen und sowjetischen Funktionäre aufführten, hatte das Café damit seine erste politische Bewährungsprobe bestanden.404 Mit der repräsentativen Funktion als „westliche Kolonie im Herzen der Antipode zur kapitalistischen Welt“ eröffnete das Molodežnoe in den nächsten Jahren für Musiker und Besucher Zugang zu sonst schwer zugänglichen materiellen und nicht-materiellen Ressourcen. Das Café Molodežnoe richtete sich an die ganze Moskauer Jugend, kann aber aufgrund seiner räumlichen Lage auch als Angebot an deren politisch unzufriedenen Teil gelesen werden. Seit 1958 hatte sich der Platz vor dem Majakovskij-Denkmal durch die öffentlichen Lesungen von Gedichten in einen Versammlungsort der kritischen Moskauer Jugend verwandelt. Nachdem der Komsomol die Lesungen zunächst unterstützt hatte, wurde die Veranstaltung 1960 mit wachsender Kritik der Partei schließlich aufgelöst und verboten. Juliane Fürst sieht genau in diesen 401 Vgl. Kull’, Michail: Poslevoennoe pokolenie. Kafe našej džazovoj junosti, in: K. Moškov/A. Filipova (Hg.), Rossijskij Džaz, 2. Bd. St. Petersburg/Moskva/Krasnodar 2013, S. 140–170, hier S. 158, sowie LP „Džaz-65“ (Vtoroj Moskovskij festival molodežnych džazovych ensemblach), Melodija, D-017009-10 402 Vgl. Brief Rostislav Vinarov an städtische Komsomolorganisationen der Sowjetunion, o. D. [Mitte 1963], Privatarchiv Vinarov. 403 Vgl. ebd. 404 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 158–159.
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Lesungen individueller Poesie eine Form der Aneignung des öffentlichen Raums für private Ziele – der Konstituierung und Reproduktion des Freundeskreises, der „kompanija“, die in den 1950er- und 1960er-Jahren als alternative Sozialisationsinstanz eine wichtige Rolle spielte.405 Die örtlichen Komsomolorganisationen schufen nun einen Klub für Poesie für diese jungen Dichter mit dem Ziel, die Kritik aus dem öffentlichen Raum in geschlossene Sphären zu lenken, ohne dabei die „kompanija“ als solche in Frage zu stellen.406 Die zeitliche und räumliche Nähe des Molodežnoe zum Majakovskij-Denkmal und der Auflösung der Dichtertreffen suggeriert einen ähnlichen Zusammenhang, der sich somit nicht auf die Formulierung eines „Ortes zum Dampfablassen“407 reduzieren lässt. Sowohl die Arbeitsweise als auch das Programm begünstigten, dass sich das Molodežnoe, aber auch die Cafés Aelita und Sinjaja Ptica zu Anlaufpunkten für die Jugend aus dem Bereich der kulturellen und technischen Intelligencija entwickelten. Neben dem Direktor, der vom städtischen Komsomolkomitee eingesetzt wurde, verantwortete ein Sowjet aus circa 15 Personen die täglichen Aufgaben und das Programm.408 Jedem der Mitglieder unterstand ein „Aktiv“ aus drei bis vier Personen, die für die Planung von zwei bis drei Abenden in der Woche zuständig waren. Bis Mitte der 1960er-Jahre war der Anteil an Komsomolmitgliedern innerhalb der Mitglieder gering. Der beruflich heterogenen Gruppe von angehenden Architekten, Ingenieuren, Wissenschaftlern und Musikern bot sich die eingeschränkte Möglichkeit der eigenen Organisation von Freizeit in einem bis dahin unbekannten Ausmaß. Neben Konzerten mit klassischer, Jazz- und Tanzmusik konnten die Gäste Lesungen besuchen, die, folgt man einer komsomolinternen Kritik von 1963, auch politisch umstrittene Inhalte zu Diskussion stellten, so beispielsweise in Gedichten, die den populären Jungschriftsteller Jevgenij Jevtušenko verteidigten, der selbst zu den regelmäßigen Besuchern des Cafés zählte.409 Zum Abendprogramm gehörten ebenso „Abende der russischen Romanze“, Wissenschaftsthemen, Theaterauftritte und Treffen mit bekannten Piloten, Regisseuren, Sportlern und dem Kosmonauten Jurij Gagarin kurz nach dessen Flug ins All.410 In den Jugendcafés traten aber auch die sogenannten Barden, darunter Bulat Okudžava, erstmals vor Publikum auf.411 Obwohl das Novum der Cafés in der agitationsfreien Interaktion zwischen den 405 Vgl. Fürst, Friends in Private. 406 Vgl. Tsipursky, Having Fun, S. 25. 407 Kozlov, Džaz, S. 150. 408 Vgl. Vinarov, Rostislav: Brief an städtische Komsomolorganisationen der Sowjetunion, o. D. [Mitte 1963], Privatarchiv Vinarov. 409 Vgl. Bericht über die anstehende Arbeit mit der schöpferischen Jugend o. D. 1961, RGASPI, f.M-1, op.32, d.1055, l.126–140. 410 Interview mit Rostislav Vinarov vom 07.07.2009, Kozlov, Džaz, S. 160 ff. 411 Vgl. Kull’, Stupeni, S. 115.
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Besuchern und weniger auf dem Fokus auf die Bühne lag, stellten besonders bis Mitte der 1960er-Jahre die Diskussion zwischen Vortragenden und Schriftstellern mit dem Publikum, die räumlich kaum getrennt voneinander saßen, das eigentlich Einzigartige dar.412 Dieses thematisch breite Angebot wurde meist von Jazzmusik der jeweiligen Café-Orchester gerahmt, das nach der jeweiligen Veranstaltung für circa 30 Minuten spielte, bevor das Café nicht zuletzt wegen drohender Konflikte mit den Anwohnern gegen 23 Uhr schloss.413 Damit entfaltete die Jazzmusik in dieser Umgebung nicht mehr nur eine Sogwirkung auf eine kleine Gruppe fanatischer Musikliebhaber, sondern wurde zum akustischen Begleiter und Code für das Bildungs- und Kulturprogramm des Komsomol. Die soziale Zusammensetzung des Publikums und die Informalität seiner Interaktion erweckten nach außen aber auch einen elitären Eindruck und boten Angriffsfläche für scharfe Kritik. In dem Maße, wie gerade in diesem Vorzeigeprojekt der sowjetischen Hauptstadt eben jene Jugendlichen zusammenkamen, auf die die Kampagne des Komsomol in ihrer Außendarstellung gar nicht abzielte, konnte die Integration westlicher Kultur in das Erziehungsprogramm vor einer kleinen Gruppe von Besuchern kritisiert werden. In einer Versammlung von Komsomolsekretären lokaler Komitees im September 1962, die sich mit Methoden gegen abweichendes Verhalten von Kindern und Jugendlichen wie Trunkenheit und Gewalt beschäftigte, wurden mehr Klubs und Jugendcafés als effektives Mittel von den meisten Diskussionsteilnehmern befürwortet. Borodin, der Sekretär des Komitees der technischen Schule Nr. 30 betonte aber, dass man solche Cafés wie das Molodežnoe nicht brauche, wo sich ab 16:30 Uhr eine Schlange von Interessierten bildete um genau um 20 Uhr eingelassen zu werden, dies den meisten aber gar nicht gelingen würde, da die Hälfte der Plätze bereits an Bekannte der Mitarbeiter des Sowjets und seiner Aktive vergeben wären.414 Befürworter der Cafés und deren Leiter argumentierten hingegen, dass es eben viel mehr Cafés bedürfe, um die drei Millionen Jugendlichen der Sechs-Millionen-Einwohner-Metropole mit attraktiven Freizeitangeboten zu versorgen. Suslov, der Vorsitzende des Café Aelita forderte daher 500 Cafés für Moskau anstatt der 20, die der Komsomol seit Beginn des Jahres 1962 zu eröffnen versuchte.415 Und tatsächlich erwuchs der Eindruck des Elitären auch durch die faktische Größe der Cafés, die zu Anlaufpunkten für Jazzfans wurden. Während das Molodežnoe über 100 Sitzplätze verfügte, fanden im Sinjaja Ptica lediglich 50 Personen 412 Tsipursky, Pleasure, S. 377. 413 Interview mit Rostislav Vinarov vom 07.07.2009. 414 Vgl. Stenogramm der Versammlung von Sekretären der Komsomolkomitees über die Arbeit der operativen Abteilungen vom 25.09.1962, RGASPI, f.M-1., op.5., d.841, l.1–25, hier l.3. 415 Vgl. ebd. l.9.
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Platz.416 Für die Gegner einer liberaleren Kultur- und Jugendpolitik, die besonders nach Dezember 1962 mehr Raum auf der politischen Bühne erhielten, standen die politische Einstellung und soziale Zusammensetzung der Cafébesucher in eindeutigem Zusammenhang. Auf einer Konferenz zu Erziehungsfragen der sowjetischen Jugend im Februar 1964 attestierte ein Teilnehmer, dass sich bei den dort organisierten Abenden „alles sowjetische verflüchtigen“417 würde. Als Beleg dafür zitiert er den 16 Jahre alten Malaga, der von den Sicherheitsorganen festgenommen wurde: „Wir lieben es, in dieses Café zu gehen, weil man dort Kinofilme sehen kann, die es sonst nirgendwo gibt, man dort leichte Mädchen [„devuški s legkim povedeniem“] kennenlernen kann und für sich nützliche Dinge kaufen kann, die Ausländer mitgebracht haben“418. Malaga, so der Redner, sei keiner der Arbeitertypen, die man nicht mal in die Nähe des Cafés kommen lässt. Solch ehrenwerte Menschen würden üblicherweise nicht in die Nähe einer solchen Boheme geraten.419 Der Redner nutzte hier eine abstrahierte Figur des idealtypischen sowjetischen Arbeiters, um die Abgeschiedenheit einer eigentlich öffentlichen Jugendeinrichtung zu kritisieren und die moralischen und politischen Verwerfungen der dortigen Akteure zu kontrastieren. Der Nimbus des Elitären, den Veranstaltungen und Zusammensetzung der Besucher in den Augen der Kritiker gewannen, resultierte neben den begrenzten räumlichen Kapazitäten und der sozialen Zusammensetzung der Besucher auch aus dem geschlossenen Charakter von Teilen des Programms. Drei von sieben Abenden die Woche arbeitete das Café für geschlossene Gesellschaften einzelner Betriebe, Institute und Komsomolgruppen.420 Gute Beziehungen zwischen Komsomolmitgliedern der jeweiligen Einrichtungen und dem Sowjet eines Jugendcafés konnten das Zustandekommen eines solchen geschlossenen Abends erleichtern, für den die Warteliste besonders im Molodežnoe lang war.421 Auch die Anmeldefrist von drei bis vier Wochen vor der eigentlichen Veranstaltung erschwerte das Zustandekommen und wertete alternative Lösungsmechanismen auf.422 Dass innerhalb dieser geschlossenen Abende die Grenzen der etablierten Unterhaltungsformen weiter überschritten wurden, als dies ohnehin im Kulturprogramm der Cafés mit abstrakter Kunst, Jazz und Bardenmusik getan wurde, zeigt ein Abend für junge Mitarbeiter 416 Kull’, Poslevoennoe pokolenie, S. 140–170. 417 Stenogramm einer Versammlung zu Fragen der Erziehung der sowjetischen Jugend im Geiste einer unversöhnlichen und offensiven Beziehung zur bourgeoisen Ideologie vom 20.02.1964, RGASPI, f.M-1, op.5, d.974, l.81–82. 418 ebd. 419 Vgl. ebd. l.82. 420 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 155. 421 Interview mit Rostislav Vinarov vom 07.07.2009. 422 Vgl. Verordnung über das Klub-Café Aelita, Privatarchiv Rostislav Vinarov.
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der Moskauer Architekturbehörde „Mosprojekt“ im November 1962. Die Gegner des Modells „Jugendcafé“ erboste besonders die Tatsache, dass lediglich 80 Karten an die Mitarbeiter verkauft wurden, während die verbleibenden 50 Karten an Freunde und Mitglieder des Cafésowjets kostenlos vergeben wurden.423 Neben Jazzmusik wurden während des Abends zahlreiche jüdische Tänze und Lieder gespielt, zu denen das Publikum die Musiker mit Rufen wie „Wir brauchen sechs vollwertige Juden“ und „Ein einfacher sowjetischer jüdischer Friseur zeigt nationale jüdische Tänze“ immer wieder anfeuerte.424 Jugendcafés wie das Molodežnoe wurden damit zu Orten von tabuisierten Themen wie der jüdischen Kultur und ihrer politischen Bedeutung. Ein Mitglied des Sowjets des Cafés Aelita thematisierte an einem Abend mit Lesungen junger Literaten den Antisemitismus in der Sowjetunion und die Rolle des Staates, der diese Geisteshaltung instrumentalisiere.425 Aber auch der Komsomol selbst, dessen örtliche Vertreter in Moskau und anderswo eng mit den Sowjets der Jugendcafés und den Jazzenthusiasten selbst verbunden waren, nutzte die Infrastrukturen für Privatfeiern, zu denen auch Jazzmusik gehörte. Eine gewisse Janusköpfigkeit der Organisation wird zu Beginn der 1960er-Jahre erkennbar. Jurij Vicharev schildert in seinen Memoiren eingängig eine Einladung zu einer geschlossenen Versammlung von Komsomolleitern in Moskau 1963, für die er und sein Quartett als musikalisches Abendprogramm engagiert waren.426 Die Affinität zur westlichen Kultur in der Führungsebene des ZK des VLKSM , das die Veranstaltung organisierte, wird in der Abendgestaltung nach dem Konzert deutlich. Auf der Datscha eines der ZK-Sekretäre zeigte der Komsomol später im internen Kreis den James Bond Film „From Russia with Love“427. In diesen Einrichtungen, die von Enthusiasten und freiwilligen Komsomolmitarbeitern getragen wurden, nahm eine Entwicklung ihren Anfang, die Sergei Zhuk für die 1970er-Jahre untersucht hat und die man mit „Privatisierung des Komsomol“ beschreiben könnte.428 In dem Maße, wie die Arbeit im Komsomol zu einem Beruf wurde und die Bindekraft der sozialistischen Ideologie abnahm, nutzten dessen Vertreter Ressourcen und Institutionen für private Interessen, wie Unterhaltung aber auch die Akkumulation von Besitz. Für die Jazzmusiker der Stadt Moskau boten die Cafés erstmals die Möglichkeit, mit ihrem Repertoire und den angeeigneten Spieltechniken auf offiziellen Konzerten aufzutreten, ohne dabei lediglich für einen Vortrag die Klangbeispiele zu 423 Vgl. Bericht über die anstehende Arbeit mit der schöpferischen Jugend, l.134. 424 Vgl. ebd. 425 Vgl. ebd. 426 Vgl. Vicharev, Est’ čto, S. 140–156. 427 Vgl. Ebd, S. 151; Interview mit Rostislav Vinarov vom 25.04.2009. 428 Vgl. Zhuk, Rock and Roll in the Rocket City.
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liefern. Nachwuchsmusiker, die fünf Jahre zuvor ausschließlich im Rahmen einer Chaltura hätten auftreten können, konnten nun ohne finanzielle und ideologische Einschränkungen arbeiten. Aufgrund der modernen Inneneinrichtung und der attraktiven Zuhörerschaft hatten Cafés somit weniger Rekrutierungsprobleme bei Jazzmusikern als Klubs und Kulturuniversitäten. 429 Jazzmusiker wie Aleksej Kozlov, Konstantin Bacholdin oder Aleksej Zubov kamen zum Spielen und zum Hören anderer Musiker, womit sich die Zahl der ohnehin raren Plätze in dem Maße verringerte, wie sich die Moskauer Jazzszene in den drei Cafés etablierte. Etablierte Musiker und ihre Freundeskreise erhielten trotz langer Schlangen meistens freien Eintritt, nicht zuletzt in der Erwartung der Organisatoren, dass diese bei einer spontanen Jamsession zur Verfügung stehen würden.430 Parallel zu dieser Institutionalisierung der Moskauer Jazzszene in den drei Cafés vollzog sich eine Binnendifferenzierung zwischen Molodežnoe, Sinjaja Ptica und Aelita. Die unterschiedlichen örtlichen Bedingungen führten zu einer Hierarchie, an deren Spitze das Molodežnoe stand. Dessen Prestige, die prominentere Lage auf einer der Hauptachsen des Moskauer Stadtzentrums, die Nähe zum Restaurant Pekin und die eigene Küche machten das Café zum Anlaufpunkt für „Künstler, Architekten und andere Vertreter der jazznahen Boheme“431. Auch deren družiniki, die Michail Kull’ als „strenger als der/ein Wächter im modischen Restaurant, den man wenigstens bestechen konnte“ beschrieb, trugen zu diesem Gesamtbild bei. Er bilanziert, dass das Aelita, welches eher von Dichtern, Schriftstellern und Fotografen besucht wurde, „demokratischer war als das Café Molodožnoe“.432 Die privilegierte Besucherschaft des Molodežnoe, zu der sich nach 1963 zunehmend Schauspieler und Sportler gesellten, eröffnete einigen Musikern Anschluss an exklusivere Sphären der sowjetischen Gesellschaft. Kozlov wurde mehrfach von einer Gruppe von Schauspielern nach Schließung des Cafés in das prestigeträchtige Restaurant der Allunionstheatergesellschaft mitgenommen, in welches man nur über Einladungskarten Einlass erhielt.433 Aber auch in materieller Hinsicht profitierten die Musiker von der exzeptionellen Stellung des Cafés im nachstalinistischen Moskau. Kritiker des liberalen Kurses der Jugendorganisation warnten seit Ende 1962 mehrfach, dass sich die Jugendcafés in Treffpunkte für „Schmuggler, Hehler, Faulenzer und Prostituierte“434 verwandeln würden. Haupterklärung für diese Entwicklung war aus Sicht der Kritiker die Tatsache, dass besonders die Jugendcafés in Moskau, 429 Vgl. Tsipursky, Pleasure, S. 394. 430 Kozlov, Džaz, S. 157. 431 Kull’, Stupeni, S. 127. 432 ebd. 433 Kozlov, Džaz, S. 163–164. 434 „Bericht über die anstehende Arbeit mit der schöpferischen Jugend“, l.136.
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Leningrad, Riga und Vladivostok zu beliebten Anlaufpunkten für ausländische Besucher, Handelsvertreter und Mitarbeiter ausländischer Botschaften avancierten.435 Während aus Sicht westlicher Besucher die Cafés eine willkommene Abwechslung zur sowjetischen Realität boten und am ehesten an die Abendunterhaltung der Heimatkultur erinnerten, witterten die Kritiker in den überwachten, aber relativ freien Zusammenkommen von Ausländern mit sowjetischen Jugendlichen „offene Propaganda bourgeoiser Ideologie“436. Für einzelne Musiker boten die Jugendcafés, besonders das Molodežnoe, somit eine Plattform, um an Ersatzteile oder ganze Instrumente zu gelangen. Um die Schlange vor dem Café abzukürzen, stellte Kozlov dem finnischen Studenten Seppo Sipari einen Durchgangsschein als Aktivisten des Cafés aus, wofür dieser ihm ein amerikanisches Alt-Saxofon der Marke Kohn aus einem finnischen Kommissiongeschäft organisierte.437 Doch nicht nur für den Erwerb von musikalischem Equipment bot das Molodežnoe eine geeignete Plattform. Das Café wurde vielmehr zu einem Mikroschauplatz des kulturellen Kalten Krieges. Der Vorwurf der Propagierung der „bourgeoisen Ideologie“ scheint insofern nicht jeder Grundlage entbehrt zu haben, als Vertreter der amerikanischen Botschaft nicht nur zum Erholen das Café aufsuchten, sondern die Jazzmusiker gezielt unterstützten. Neben regelmäßigen Einladungen zu kulturellen Veranstaltungen in die amerikanische Botschaft im Spassky House ließen deren Vertreter im Café mehrfach Listen mit neuen amerikanischen Jazzplatten kursieren, auf denen die Musiker gewünschte Exemplare anzukreuzen hatten. Diese wurden dann in der Botschaft an die Interessenten verteilt.438
5.2.4 Das Molodežnoe als Dach und Netzwerk Mit der Einrichtung der Cafés und der Möglichkeit von Jazzmusikern, dort in vornehmlich kleinen Gruppen zu spielen, stellte sich die Frage der kulturellen Hoheit über die Musikkultur der Stadt. Solange Musiker im Rahmen der künstlerischen Laientätigkeit auftraten, unterlagen sie faktisch wesentlich weniger scharfen Kontrollen des Repertoires als Musiker der staatlichen Konzertorganisationen. Allerdings durften Laienmusiker für die Musik, sieht man von Spesen oder kleinen 435 Vgl. Sekretariat des ZK des VLKSM „Beschluss über grobe Mängel in der Organisation und Arbeit der Jugendcafés“ vom 02.06.1964, RGASPI, f.M-1, op.3, d.12, l.106–108, hier l.107. 436 ebd. l.107. 437 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 164. 438 Vgl. o. A.(Liste mit amerikanischen Jazz-LPs) (1963), Privatarchiv Vinarov. Mit Durchsicht der Akten der amerikanischen Botschaft im Bestand des amerikanischen State-Departments der National Archives in Washington würde sich hier eine aufschlussreiche Mikrostudie über Kulturpolitik im Kalten Krieg anfertigen lassen.
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Preisgeldern bei Wettbewerben ab, kein Geld verdienen. Aus Sicht der Musiker galt der Sprung von „Chaltura“-Abenden zu Auftritten vor Besuchern der Jugendcafés als ein entscheidender Schritt hin zur beruflichen Professionalisierung im Spielen einer politisch immer noch umstrittenen Musikform. Trotz der Möglichkeit, drei- bis viermal pro Woche vor Publikum zu spielen, blieb die Frage einer angemessenen Bezahlung, die den Arbeits- und Zeiteinsatz adäquat widerspiegelte, offen. Beachtet man das Durchschnittsalter dieser Musikergeneration, so entschied sich für viele in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre, in der sie ihr 30. Lebensjahr erreichten, ob man eine Familie als Ingenieur, Lehrer und Orchestermusiker, oder als hauptberuflicher Jazzmusiker ernähren konnte. Dabei fügte sich das Konzept des Laienmusikers zunächst positiv in das ideologische Design der Jugendcafés ein: Zwei Worte über diese Jazzband. Sie ist nicht professionell, sondern ein unbezahltes studentisches Laienorchester. Fünf sympathische Kerle (übrigens sind sie alle zukünftige Ingenieure und Physiker), spielen in sehr angenehmer Art und Weise, mit gutem musikalischen Geschmack. Die Stammgäste des ‚Junost‘ beweisen, dass man jede beliebige Erholung ohne das Ausgeben einer Kopeke organisieren kann. […] Wir haben gelernt zu arbeiten, wir haben gelernt zu bauen, wir haben gelernt zu studieren, aber uns zu erholen – interessant und angenehm – das können wir immer noch nicht.439
In diesem Artikel aus der Sovetskaja Kul’tura aus der Anfangszeit der Jugendcafés erscheint die Laientätigkeit als Argument gegen die Vorstellung, nur mit ausreichenden finanziellen Mitteln interessante Freizeit für die sowjetische Jugend gestalten zu können. Die Vertreter dieser Jazzgruppe symbolisieren hier durch ihre höhere Ausbildung nicht nur den neuen Sowjetmenschen, der Wissen und Geschmack miteinander vereint, sondern sie schaffen mit ihrer Musik einen kultivierten Gegenpol zum Rock ’n’ Roll, ohne dass dieser mit Verweis auf „sehr angenehme Art“ und „guten musikalischen Geschmack“ hier erwähnt werden muss. Eine negative und weitaus pragmatischere Sicht auf das Problem unbezahlter Musiker tauchte immer dann auf, wenn Vertreter kleiner Cafés und Jugendklubs zur Sprache kamen, die abseits der prominenten Einrichtungen die eigentlich geforderten Massen an Jugendlichen in den zahllosen Stadtbezirken der sowjetischen Großstädte versorgen sollten. Der Vertreter des Leningrader Jugendcafés „Buratino“ bezeichnete 1962 die Unfähigkeit, Musiker zu bezahlen, als „Schande für das Café und schlecht für die Gruppe von Musikern“440, die zwei- bis dreimal 439 Makarov, A.: Kafe-Klub, in: Sovetskaja Kul’tura, 21.09.1960. 440 Stenogramm des zweiten Plenums des Leningrader Stadtkomitee des Komsomol „Über die weitere Entwicklung der gesellschaftlichen Grundlagen der Organisation jugendlicher Freizeit. Sektion für Klubs und Interessenvereinigungen“, 18.05.1963 CGAIPD SPb, f.k-881, op.15, d.16, l.40.
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die Woche dort spielten. Neben den Finanzproblemen – es gelang den Vertretern des Cafés nur manchmal, das Orchester zu bezahlen – wurde deren Einsatz durch die Konzertorganisationen erschwert, die aufgrund der Häufigkeit der Auftritte zuallererst eine offizielle Registrierung forderten.441 Auch wenn der Enthusiasmus bei den Jazzmusikern die wichtigste Währung blieb, mussten gerade für den Austausch von Gruppen zwischen den sowjetischen Städten, der in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre begann, Alternativen gefunden werden, um wenigstens die Transportkosten zu decken. Der Sowjet des Cafés Aelita organisierte für die Finanzierung der Anreise der Neva-Jazzband aus Leningrad 1962 eine „Verkostung von Spezialitäten der armenischen Küche“ für einen erhöhten Eintritt, die dann zu den Klängen der Leningrader Dixilandgruppe verspeist wurden.442 Die zahllosen Einzellösungen machten es langfristig unumgänglich, dass Problem der Bezahlung auf städtischem Niveau zu lösen. Um eine reguläre Bezahlung, egal ob als hauptberufliche Tätigkeit oder Nebenberuf („Sovmestitel’stvo“) zu erhalten, war ein Arrangement mit der Moskauer Abteilung für Musikensemble OMA, des städtischen Ablegers der VGKO, unumgänglich. Auf Initiative des städtischen Komsomol wurde 1963 der „Musikalische Rat für Jugendcafés“ gegründet, der gegenüber der OMA Empfehlungen für die Aufnahme von Orchestern und Musikern in das staatliche Konzertsystem aussprechen konnte. Bei der Auswahl der Mitglieder des Sowjets konnten die Vertreter des Moskauer Komsomol an bereits in der Zeit der Jazzsektion entstandene persönliche Beziehungen zu einzelnen Vertretern des Komponistenverbands anknüpfen, die dem kulturellen Programm der Jazzenthusiasten positiv gegenüberstanden. Diese hatten Vorträge besucht und die Lektoren Petrov, Pereversev und Batašev 1962 zu Diskussionsrunden in den Komponistenverband eingeladen. Einige von ihnen, wie der Komponist Jurij Saul’skij, hatten sich mit Beiträgen in Fachzeitschriften aktiv in die Auseinandersetzung um den gesellschaftlichen und kulturellen Stellenwert des Jazz eingemischt. Andere hatten mit der Teilnahme an der Jury des ersten Moskauer Jazzfestivals im Molodežnoe 1962 ihre Bereitschaft offizieller Unterstützung signalisiert. In der Liste der Teilnehmer des Rates, der sich aus Vertretern des Komsomol und des Komponistenverbands zusammensetzte, wird das Profil der Unterstützer der Jazzenthusiasten erkennbar, die im Kontrast zu der immer noch ambivalenten Position des Dachverbands standen. Dessen führende Vertreter wie Tichon Chrennikov und Dmitrij Kabalevskij polemisierten nach der „Manege-Affäre“ im Dezember 1962 im Gleichklang mit der parteipolitischen Wende erneut gegen den Jazz.
441 Vgl. ebd. 442 Vgl. Kull’, Stupeni, S. 113.
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Der Geiger und Komponist Jan Frenkel, 1920 geboren, erlangte Popularität als Komponist zahlreicher Filmmusiken und Lieder, von denen das von Mark Bernes 1968 aufgenommen „Žuravli“ zu den Erfolgreichsten gehört. Andrej Ėšpaj, Jahrgang 1925, Abschluss des Kompositionsstudiums 1953 in Moskau, galt als Komponist klassischer und populärer Musik sowie von Filmmusik. Er promovierte 1956 bei Chačaturjan und wurde 1960 Sekretär des Komponistenverbands der Russischen Sowjetrepublik. Sein bekanntestes Lied ist „Moskviči“ („Serežka s Maloj Bronnoj“), das in der Ausführung von Mark Bernes im Film „Chaču verit’“ große Popularität erlangte. Aleksandr Fljarkovskij, geboren 1931, komponierte Lieder, Chorstücke und Filmmusik. Er schloss 1955 das Studium am Moskauer Konservatorium ab und arbeitete neben Chor- und Liedkomposition an der Aufzeichnung und Transkription von folkloristischer Musik nationaler Minderheiten. Nach Rostislav Vinarov, der als Mitorganisator des Molodežnoe an der Gründung des Rates und der Auswahl seiner Mitglieder Anteil hatte, galt es, möglichst weit respektierte Personen verschiedener musikalischer Genre auszuwählen, die nach außen auch die erwünschte Respektabilität des Jazz symbolisieren würden.443 Die biografischen Daten geben zu erkennen, dass die hier Genannten im Durchschnitt zehn Jahre älter als die Vertreter der Jazzenthusiasten waren und erfolgreich hybride Themenfelder zwischen Hoch- und Massenkultur, zwischen sinfonischer Musik und sowjetischem Lied besetzten. Ihre akademische Qualifikation erhielten sie häufig schon in der Zeit nach Stalins Tod, während sie vor 1953 musikalische Erfahrungen machten und wie im Falle von Vano Muradeli oder dem Jazzkomponisten Vadim Ljudvikovskij auch von der repressiven Kulturpolitik der Nachkriegszeit selbst betroffen waren. Muradeli, Vorsitzender des Moskauer Verbands der Komponisten, war prominentes Opfer der Resolution von 1948 über die Oper „Die Große Freundschaft“, übernahm aber ab 1962 die Leitung der Jury der Moskauer Jazzfestivals. Vadim Ljudvikovskij, Jahrgang 1925, arbeitete als musikalischer Leiter, Dirigent und Komponist bei Eddi Rosner, bis zu dessen Verhaftung 1946, und fand danach schließlich im letzten verbliebenen staatlichen Estradaorchester Leonid Utesovs Anstellung, dessen Programme er bis Ende der 1950er-Jahre musikalisch prägte und modernisierte.444 Die 19 Mitglieder des Rates für Jugendcafés, die sich aus Komsomol, Komponistenverband und staatlicher Konzertorganisation VGKO rekrutierten, bildeten einen Künstlerrat. Dieser Künstlerrat empfahl einer Unterabteilung der OMA die Aufnahme von Ensembles in das staatliche Konzertsystem. In den jeweiligen Sitzungen wurden Ensembles zum Vorspiel von ausgewählten Stücken einer vorher eingereichten Repertoireliste eingeladen und anschließend über deren 443 Vgl. Interview mit Rostislav Vinarov vom 25.04.2010. 444 Vgl. Terpeckij, Vladimir: Vadim Ljudvikovskij, in: Sovetskij Džaz, S. 360–364.
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Aufnahmeempfehlung beraten. Formell sollten dabei „ideologische Ausrichtung, Qualität der Inszenierung des Stückes, Originalität der Auslegung des Themas, Zusammenspiel des Ensembles, Beherrschung der Instrumente, [und – M. A.] schöpferische Begabung der Musikanten“445 eine Rolle spielen. In den Diskussionen, die unter Abwesenheit der Musiker geführt wurden, trafen aber nicht nur unterschiedliche Biografien und kulturelle Vorstellungen aufeinander, sondern mit Komponisten und Kulturbürokraten auch Vertreter unterschiedlicher Machtbereiche, die hier anhand des Medium Jazzmusik um Einfluss und Deutungshoheit stritten. In keiner anderen Situation zeigt sich die Bedeutung von Patronage durch die Komponisten für die Jazzenthusiasten in dieser Phase ihrer beruflichen Entwicklung deutlicher. Am 17. November 1963 spielten drei Ensembles, ein Quintett unter Leitung von Alexej Kozlov, ein Quintett unter Leitung von Igor Voronov und das Quartett des Pianisten Volodja Kull’, vor einer zwölfköpfigen Kommission des Künstlerrates und präsentierten jeweils acht Titel aus einem vorbereiteten Fundus von 30 bis 40 Stücken.446 Erkennbar wird eine deutliche Spaltung der Positionen zwischen wohlwollenden und moderaten Einstellungen auf der einen Seite und einer äußerst ablehnenden Haltung von Vladimir Gel’man, dem Leiter der OMA, auf der anderen Seite. Das Beispiel zeigt, dass die Patronage für die Nachwuchsmusiker zu keiner einfachen und ungerechtfertigten Beförderung ihrer Ensembles in die staatliche Konzertorganisation führte – nur die Ensembles von Kull’ und Kozlov wurden zur Arbeit in der OMA vorgeschlagen, während das Quintett von Voronov wegen „mangelnder instrumentaler Fähigkeiten und Unzugänglichkeit des musikalischen Materials“ abgelehnt wurden.447 Was diese Institution hier aber ermöglichte, war eine fachliche Debatte um musikalische Fragen des instrumentalen Jazz, in der die Wertigkeit ideologischer Argumente durch die Teilnehmer weitestgehend neutralisiert wurde. Während die Komponisten Ėšpaj, Frenkel’ und Fljarkovskij sich überwiegend positiv gegenüber Kozlovs Ensemble äußerten, das in einer ähnlichen Zusammensetzung ein Jahr zuvor am Warschauer Jazz-Jamboree teilgenommen hatte, formulierte der Leiter der OMA Gel’man eine klar ablehnende Position. Er habe Kozlov jetzt zum zweiten Mal gehört und schon früher habe sich seine Besetzung von einer sehr schlechten Seite gezeigt. Bei einer ersten Anhörung des Orchesters im Mai 1963, bei der neben Jan Frenkel auch die Komponisten Babadžan, Ljudvikovskij, 445 Protokoll Nr. 3 der Sitzung des künstlerischen Rates des Sowjets des Sektors für Ensemble der Jugendklubs und Cafés vom 17.11.1963, Privatarchiv Vinarov. 446 Vgl. ebd. 447 Entscheidung Nr. 2 des künstlerischen Rates des Sektors für Ensembles von Jugendklubs- und Cafés vom 17.11.1963, Privatarchiv Vinarov.
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Kuprevič und einige Leiter von OMA-Orchestern anwesend waren, hatte Gel’man die Ablehnung mit „allgemeinen Phrasen über die Unprofessionalität einzelner Musiker […] und ihre ‚unsowjetischen Tendenzen‘“448 begründet. Zwar sei das Niveau jetzt ein bisschen besser, „aber die Orientierung gehe klar nach Westen, dabei müsse man als Grundlage ausschließlich sowjetische Werke nehmen, um nicht zum Propagandisten von Schlechtem zu werden.“449 Zwar gestand er der Gruppe „ein gewisses Potential“ zu, forderte aber mit Verweis darauf, dass er den Sektor für Jugendcafés verantworte, ausschließlich realistische und sowjetische Musik, die Kozlovs Repertoire nicht zu bieten habe.450 Die anwesenden Komponisten wiederum versuchten, Gel’man und seine Positionen zu diskreditieren und die eigene Rolle im musikalischen Entstehungsprozess aufzuwerten. Andrej Ėšpaj entgegnete provozierend, dass man beim Reden über Repertoire „niemals so pauschal herangehen darf wie Gel’man“. Eben an den positiven Elementen müsse man weiterarbeiten, womit er und die anderen Komponisten sich ja professionell beschäftigen würden.451 Jurij Saul’skij versuchte, Gel’mans ideologische Argumente zunächst zu entkräften: „Sozialistischer Realismus ist nicht dieser oder jener Akkord, sondern der allgemeine Geist, die Tendenz.“452 In einem nächsten Schritt suggerierte er, dass der Leiter der OMA eine rein subjektive Position vertrete: „Nur weil irgendjemand, der die eine Musikrichtung mag, die andere nicht mag, kann das nicht heißen, dass man den musikalischen Geschmack anderer Musikanten zurückweisen kann.“453 Saul’skij führte musikgeschichtliche Argumente über die Adaption westlicher Gestaltungsmittel und russischer Inhalte bei Glinka an, um für den Jazz zu verdeutlichen, dass man „am Besten in der westlichen Musik“ nicht vorbeigehen könne. Aber auch der zweite Vertreter der VGKO, der Estradadirigent Kadomcev ironisierte die Aussagen Gel’mans, indem er zunächst rhetorisch fragte, ob es denn eine „östliche Art und Weise“ zu musizieren gäbe, die der von Gel’man kritisierten westlichen „Art und Weise“ entsprechen würde. Abschließend forderte er, „die Meinungen der ehrenwerten hier anwesenden Komponisten zu berücksichtigen.“454 Beim Umgang mit Vertretern wie Gel’man im Künstlerrat, die sich noch der Narrative der 1940er- und 1950er-Jahre gegen den Jazz bedienten, spielten die anwesenden Komponisten ihre musikalische Expertise aus, um Argumente zu 448 Savina, Marina/Vinarov, Rostislav: Bericht über die Tätigkeit der OMA in den Jugendcafés 1963 bis April 1964, o. D.[nach Mai 1964], Privatarchiv Vinarov. 449 Protokoll Nr. 3. 450 Vgl. ebd. 451 Vgl. ebd. 452 ebd. 453 ebd. 454 ebd.
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widerlegen und ihn als Vertreter der Kulturbürokratie zusätzlich zu demütigen. Dies deckt sich mit Beobachtungen des anwesenden Komsomolfunktionärs Rostislav Vinarov, die Komponisten hätten viele Möglichkeiten genutzt, um die Vertreter der städtischen Konzertorganisationen in diesem Plenum bloßzustellen und ihren fehlenden Respekt zu signalisieren.455 Auch wenn dies im konkreten Fall durch die Personenkonstellation einfach war, attackierte man hier immerhin den Leiter jener Abteilung der VGKO, die die Ensembles dann aufzunehmen hatte. Die Unterstützung der Orchester war dabei keineswegs bedingungslos, sondern an die Erhöhung des Anteils von sowjetischem Repertoire geknüpft, eine Bedingung, welcher die zu begutachtenden Musiker mit symbolischen Gesten schon im Voraus begegnen konnten. Das vorletzte Stück aus dem Repertoire von Kozlov war eine Interpretation des Liedes „Sneg idet“ von Andrej Ėšpaj, der selbst Mitglied des Künstlerrates war. Die Begründung der „professionellen Unterstützung“ der Komponisten war paternalistisch: „Die jungen Musiker“, so der künstlerische Leiter der Moskauer Abteilung der VGKO und Vorsitzende des Künstlerrates, „sind unser Kinder. Man muss mit ihnen arbeiten, sie hauptsächlich so organisieren, dass sich ein sowjetisches Liedrepertoire entwickelt.“456 Allein die Verpflichtung, die empfohlenen Ensembles für die Arbeit in der OMA zuzulassen, und ihren Musikern somit zumindest das Recht auf einen Zweitberuf und ein reduziertes Gehalt zu gewährleisten, genügte jedoch nicht aus, um das Problem zu lösen. Trotz fehlender archivarischer Belege aus den Beständen der Konzertorganisationen ist davon auszugehen, dass die Vereinbarung zur Aufnahme der Caféorchester zwischen dem städtischen Komsomol und der VGKO getroffen wurde und die OMA als untergeordnete Organisation lediglich weisungspflichtig war. Wie aus dem Beispielfall deutlich wird, agierten aber auch die Vertreter des VGKO und der OMA nicht einheitlich. Ein Bericht über die Arbeit zwischen den Jugendcafés und der OMA für diesen Zeitraum suggeriert, dass der scheinbar ästhetische Konflikt zu einem institutionellen Konflikt um die kulturelle Hoheit der Stadt Moskau und der kulturellen Autonomie des städtischen Komsomol eskalierte. Da die OMA das Reglement nicht rückgängig machen konnte, blockierte sie stattdessen seine Umsetzung und versuchte, über die Jugendcafés die Kulturhoheit zu gewinnen. Trotz der Aufnahme von Kozlovs Orchester in das OMA-System wurden seine Musiker bei einer Parteiversammlung der OMA im Februar 1964 erneut als „Modernisten, Improvisatoren und Unprofessionelle“ bezeichnet.457 Erkennbar wird der Druck der Parteizelle auf die Dirigenten und Orchesterleiter, denn der Hauptdirigent der OMA, Vasilev, hatte die Gruppe wenige Tage vor den erneuten Anschuldigungen 455 Interview mit Vinarov vom 25.04.2010. 456 Protokoll Nr. 3. 457 Vgl. Bericht über Tätigkeit der OMA.
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noch gut bewertet.458 Kozlovs Gruppe wurde infolgedessen in die niedrigste Bezahlkategorie von 90 Rubel im Monat eingestuft. Von Seiten der Komsomolvertreter im Sowjet zeigte sich dahinter ein klares Muster der Diskriminierung. Die OMA habe viele Orchester zunächst des Modernismus beschuldigt, und dann, wenn dies sich in Anbetracht der anwesenden Komponisten nicht aufrechterhalten ließ, der Unprofessionalität.459 Wichtigstes Werkzeug der OMA in diesem Konflikt war die Bezahlpolitik. Die Rechtsabteilungen des Kulturministeriums und der VGKO hatten dem Moskauer Komsomol bestätigt, dass Musiker mit Zweitverträgen, die dreimal die Woche auftraten, ein Anrecht auf 50 Prozent des minimalen Gehalts (44 Rubel im Monat) hatten. Trotzdem boykottierte die OMA diese Entscheidung und zahlte den über den Künstlerrat aufgenommenen Musikern bis ins Frühjahr hinein lediglich 25 Prozent des Gehalts.460 Die Erlaubnis für das Orchester von Michail Kull’, das bei der Sitzung im November zur Aufnahme empfohlen wurde, zog die OMA zwei Wochen nach Beginn der vorgesehenen Tätigkeit im Café Rovesnik ohne Begründung wieder zurück. Dieser passive Widerstand gegen die Aufnahme von durch den Künstlerrat und die dahinterstehenden Akteure empfohlenen Ensembles bedeutet nicht, dass sich die OMA kategorisch gegen die Aufnahme von Nachwuchsmusikern aus dem Jazzbereich sträubte. Es war Gel’man selbst, der bereits 1953 beklagt hatte, dass es am Nachwuchsmusikern mangelte und die OMA für viele Absolventen der Musikhochschulen nur eine Durchgangsstation sei. 461 Eine Reihe von Jazzmusikern der Jugendcaféorchester wurde in die Konzertorganisation aufgenommen, wenn diese eine Verbindung zum Sowjet des Jugendcafés leugneten und sich als Solisten bewarben.462 Der Trompeter German Lukjanov und der Saxofonist Vysockij kamen über diesen Weg im Laufe des Jahres 1963 in das System der staatlichen Konzertorganisationen. Die OMA blockierte so das Recht der Aufnahme und Einstufung von Jazzmusikern durch das System der Jugendcafés und dessen Unterstützung durch Moskauer Komponisten. Deren Vertreter sahen in den Jugendcafés und Klubs gleichzeitig ihr legitimes kulturelles Hoheitsgebiet. Konflikte mit der Idee der kulturellen Selbstgestaltung durch die von überwiegend freiwilligen Jugendlichen getragenen Sowjets konnten somit kaum ausbleiben. Ein zentraler Vorwurf des lokalen Komsomol war, dass die OMA die „Aufgaben und Arbeitsformen der Jugendcafés“463 nicht
458 459 460 461
Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Geschlossene Parteiversammlung der Mosėstrada vom 24.03.1953, TSAOPIM, f.6355, op.1, d.16, l.36. 462 Vgl. Bericht über Tätigkeit der OMA. 463 ebd.
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verstehen würde. Die OMA delegierte mehrfach ohne Rücksprache mit den Sowjets der Jugendcafés eigenwillig verschiedene Orchester in kurzen Zeiträumen hin und her, die teilweise von den örtlichen Sowjets bereits abgelehnt worden waren.464 Dort stationiert, verweigerten sich die Orchester häufig den Anweisungen der Sowjetvertreter für die Gestaltung des Abendprogramms und beriefen sich auf Repertoirelisten der OMA und vertraglich festgelegte Spielzeiten.465 Mehr noch schien die OMA dieses neu erschlossene Segment des sowjetischen Musikmarkts auch dafür zu nutzen, wenig talentierte Musiker und Orchester nicht ausschließlich aus sozialen Gesichtspunkten heraus zu versorgen. Dem Orchester Grochiovskij, das 1963 ins Molodežnoe versetzt wurde, warfen Savina und Vinarov vor, „sehr schwach“ zu sein und „am Rande des Komas zu fiedeln“. Es könne weder „Solisten begleiten, die moderne sowjetische Kompositionen spielen wollten, die nicht vorher im Repertoire aufgeführt sind“466, noch die Tonlage eines Stückes ändern. Die Komsomolvertreter vermuteten hier einen Fall von Vetternwirtschaft, denn „drei der Musiker des Orchesters sind Söhne von altgedienten OMA-Mitarbeitern“467. Die Intervention der OMA in die kulturelle Gestaltung der Jugendcafés konterkarierte damit aber nicht nur das Grundprinzip der Cafés, nach dem die Jugend ihr eigener Herr sein sollte. Sie widersprach auch inhaltlich dem, was Komsomol und Vertreter des Komponistenverbands für angebrachte Musik hielten. Aus deren Sicht mussten die Musiker in der Lage sein, technisch versiert verschiedene musikalische Genres bedienen zu können. Improvisierter Jazz war dabei lediglich ein legitimer, aber gar nicht exklusiver musikalischer Stil. German Lukjanov und dem Orchester von Igor Brill, das in die OMA aufgenommen wurde, attestierte man herausragende musikalische Qualitäten, stellte aber besorgt fest, dass Lukjanov als „leidenschaftlicher Modernist“ nicht beabsichtige, „fürs Publikum zu arbeiten“.468 Das Orchester spielte entgegen den Bitten des Sowjets des Molodežnoe „keine ausreichend große Zahl an Tanzstücken“, welche „nicht allen verständlich sind und, den ganzen Abend gehört, wie Suff für die Ohren sind“469. Die musikalische Breite in den Anforderungen zeigte sich auch in den veränderten Modalitäten des Anhörungsverfahrens durch den Künstlerrat. Ab Januar 1964 wählte der Rat sechs der acht vorbereiteten Stücke aus und forderte die Orchester danach auf, mehrere nicht vorbereitete, aber populärere Jugendlieder sowjetischer Komponisten aus dem
464 Vgl. ebd. 465 Vgl. ebd. 466 ebd. 467 ebd. 468 ebd. 469 ebd.
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Stehgreif zu inszenieren.470 Um die Besetzung der Cafés mit aus Sicht der Kommission kompetenten Orchestern umzusetzen, übernahmen einzelne Komponisten und Musikwissenschaftler Patenschaften, um die in den Gruppen diagnostizierten Defizite zu beseitigen. Im Januar 1964 wurden der Jazzkomponist Ljudvikovskij als Pate des neu aufgenommenen Orchester Prudovskij und der Musikwissenschaftler Medvedev für das Quartett des Pianisten Michail Kull’ eingesetzt, um ein „ideologisch gereiftes Repertoire“471 vorzubereiten und zu präsentieren. Trotz des Drängens nach musikalischer Professionalität in der Instrumentenbeherrschung, des Zusammenspiels und der Komposition schienen die Mitglieder des Künstlerrats Enthusiasmus und Energie beim Spielen als zentral für die Arbeit in den Jugendcafés zu erachten. Das Orchester Burgonov, „auch wenn es aus professionell vorbereiteten Leuten besteht, passt nicht mit den Jugendcafés zusammen“472, urteilte der Vorsitzende Uzing im Januar 1964, denn „das Spiel des Orchesters ist blutarm, ohne Liebe zur Sache.“473 Durch dieses um das Café Molodežnoe geknüpfte Netzwerk zwischen Jazzenthusiasten, städtischem Komsomol und Vertretern des Komponistenverbands gelang es einer Reihe von Amateurmusikern, trotz anhaltender Widerstände der städtischen Konzertorganisationen, den Weg in die offizielle musikalische Arbeit zu finden. Ihre Konzerttätigkeit in den Jugendcafés wurde nun zumindest geringfügig entgolten. Die jährlichen Jazzfestivals in Moskau zwischen 1965 und 1968, in deren Jurys sich viele der Komponisten und Komsomolfunktionäre wiederfanden, beförderten ebenfalls eine Professionalisierung und den beruflichen Weg vormaliger Amateurmusiker. Am Festival von 1965 nahmen insgesamt 16 Gruppen teil, die bei den vom städtischen Komsomol und Komponistenverband organisierten Veranstaltungen im Hotel Junost’ in Moskau nun erstmals eine breitere Öffentlichkeit erreichten.474 Zahlreiche, bei den Festivals in Leningrad, Moskau, Novosibirsk, Voronež, Doneck, Riga und Char’kov teilnehmende Musiker erhielten Eintritt in die örtlichen Konzertorganisationen, wie der Leningrader Pianist Jurij Vicharev. 475 Für die öffentliche Wahrnehmung des Jazz und seine staatliche und gesellschaftliche Anerkennung gewann die erstmalige Herstellung von Schallplatten mit Aufnahmen der Ensembles der Festivals in Moskau an Bedeutung. Die Anfrage zur Genehmigung der Produktion beim Staatskomitee des Ministerrats der UdSSR 470 Vgl. Protokoll Nr. 4 der Sitzung des Künstlerrates des Sektors für Ensembles der Jugendklubs vom 08.01.1964, Privatarchiv Vinarov. 471 Entscheidung Nr. 3 des Künstlerrates des Sektors für Ensembles der Jugendklubs vom 08.01.1964, Privatarchiv Vinarov. 472 Protokoll Nr. 4. 473 ebd. 474 Vgl. Tsipursky, Pleasure, S. 403. 475 Vasjutočkin, Džazovyj Peterburg, S. 42.
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für Fernsehen und Radioübertragung wurde offiziell von Vano Muradeli, dem Vorsitzenden des Moskauer Komponistenverbands gestellt, der die Kollaboration zwischen Komsomol und Jazzenthusiasten bereits verschiedenartig unterstützt hatte.476 Sein Name hatte das nötige Gewicht, um einen großen Artikel zum „Jazz im Jahre 1966“ auf der zweiten Seite der Komsomol’skaja Pravda zu platzieren, in dem dieser gemeinsam mit Rostislav Vinarov und dem Lektor Aleksej Batašev neben den „Errungenschaften der letzten Jahre“ auch offensiv auf das fehlende Ausbildungssystem und die mediale Marginalisierung des Jazz verwiesen.477 Die nachhaltige Wirkung und Stärke dieses Netzwerkes zeigte sich erneut Ende der 1960er-Jahre, als sich das kulturpolitische Klima durch den Prozess gegen Ginsburg, Galanskov, Dobrovol’skij und Laškova im Januar 1968 zunehmend verschlechterte und der jugendpolitische Fokus auf „Initiative von Unten“ bereits weitestgehend vom stärkeren Betonen von „Disziplin“ abgelöst war. Im März 1968, dem selben Monat, in dem das „Allunionsfestival des politischen Lieds“ in Novosibirsk zu einem Skandal und schließlich zur Auflösung des Klubs Pod integralom führte, gründete das Moskauer Stadtkomitee des VLKSM das Moskauer Schallplattenhaus der Firma Melodija; der Moskauer Komponistenverband und das Haus für Propaganda sowjetische Musik des Muzfond den Musikklub MIR. Hinter der geschickt gewählten Abkürzung MIR („Melodija i Ritm“) verbarg sich ein immer noch auf dem Enthusiasmus seiner Mitglieder basierender Jugendklub, der allerdings wesentlich professioneller organisiert war als die Jugendcafés vom Anfang der Dekade. Finanzielle Aufgaben und Befugnisse waren durch einen fest angestellten Buchhalter, ein eigenes Bankkonto und eine Rechnungsführung, die einen Gewinnüberschuss vorschrieb, klar geregelt.478 Die Aktivitäten des Klubs im eigenen Café RITM und dem Konzertsaal Melodija erstreckten sich von Vortragskonzerten, Konzerten und dem Zeigen von Kinofilmen bis hin zu Diskussionsrunden. Die Satzung des Klubs sah nun explizit die Vorbereitung von Festivals in Moskau, aber auch die Organisation von Teilnahmen Moskauer Nachwuchsmusiker an Wettbewerben in anderen Städten und im Ausland vor. Zudem sollte es zu einer Zusammenarbeit mit Melodija in der Herstellung neuer Schallplatten kommen.479 Gleichzeitig erfüllte der Klub die Lenkungsfunktion für die Jugendcafés und Klubs, besonders ihrer musikalischen Abteilungen.480 Die Finanzpläne belegen 476 Interview mit Rostislav Vinarov vom 25.04.2010. 477 Muradeli/Batašev/Vinarov: Jazz. Das Jahr 1966. 478 Vgl. Satzung des Musikklubs Melodija i Ritm beim Moskauer Stadtkomitee des VLKSM, dem Moskauer Haus für Schallplatten der Allunionsfirma Melodija, dem Moskauer Komponistenverband und dem Haus für Propaganda sowjetische Musik des Muzfond des sowjetischen Komponistenverbands vom 04.10.1968, Privatarchiv Vinarov. 479 Vgl. ebd. 480 ebd.
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die Aussage von Rostislav Vinarov, mit dem Klub eine Versorgungsmöglichkeit für angehende Musiker etabliert zu haben.481 Mitwirkenden an den Konzerten wurden monatlich 700 Rubel bezahlt.482 Der Klub zahlte zudem 660 Rubel im Monat an die städtische Konzertorganisation für das Ensemble im Café, dass dort fünfmal in der Woche spielte und an dem ebenfalls eine Reihe von Moskauer Jazzmusikern beteiligt war.483 Mit einem solchen finanziellen Potential und dem privilegierten Zugang zu Audiotechnik und Büchern ausgestattet, unterschied sich der Klub deutlich von anderen in der Sowjetunion, deren finanzielle Lage in den meisten Fällen prekär war.484 Unter den 121 Mitgliedern des Jahres 1969, denen Vano Muradeli als Vorsitzender und Rostislav Vinarov als Stellvertreter vorstand, finden sich nahezu alle Moskauer Jazzmusiker der späten 1960er Jahre sowie die wichtigsten Lektoren.485 Der Klub im Ganzen stand für Professionalisierung ebenso wie Segregation. Hier Mitglied zu sein, bedeutete Zugang zu ausländischen Musikfilmen wie The Big Satchmo zu haben, die im offiziellen Rahmen von Seminaren zum Thema „Musik und Gegenwart“ nur für die Mitglieder des Klubs zu sehen waren.486
5.2.5 Fazit Die Neuformulierung der sowjetischen Jugendpolitik nach 1953 ermöglichte den Jazzenthusiasten, im Rahmen der künstlerischen Laientätigkeit Orchester zu gründen, sich in Sektionen von Musikliebhabern innerhalb von Jugendklubs mit dem Jazz, seiner Kultur und Geschichte zu beschäftigen und in Jugendcafés schließlich erstmals mit improvisiertem Jazz vor städtischem Publikum aufzutreten. Der Politikwechsel hin zu einer wenig konsistenten Idee, „Initiative von unten“ stärker zu fördern, führte besonders in den 1950er-Jahren zu einem massiven Anwachsen von Laienorchestern, die sich der Musik, die sie für Jazz hielten, verpflichtet fühlten. In einer Situation, in der lokale Leiter von Komsomolgruppen mit dieser Musik mehr neue Mitglieder (und Gebühren) gewinnen konnten und die Frage nach dem Umgang mit westlicher Populärkultur von Seiten des ZK des VLKSM nicht klar 481 Interview mit Rostislav Vinarov vom 25.04.2010. 482 Auflistung von Einnahmen und Ausgaben des Musikklubs Melodija i Ritm für das vierte Quartal 1968, Privatarchiv Vinarov. 483 Vgl. ebd. 484 Vgl. Versammlung der Leiter der Jazzklubs während des Jazzfestivals in Tallinn vom 14.05.1967, Privatarchiv Vinarov. 485 O. A. Liste von Mitgliedern des Klubs Melodija i ritm, Privatarchiv Vinarov. 486 O. A. Schreiben des Klubs Melodija i Ritm an den Stellvertretenden Vorsitzenden des Komitees für Kinematografie des Ministerrates der UdSSR, V. E. Baskakov, o. D. [nicht später als 1969], Privatarchiv Vinarov.
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beantwortet wurde, gründeten sich zahlreiche Orchester, die zunächst auf den Tanzabenden als Chaltura um die Gunst des Publikums wetteiferten. Erst die kultur- und jugendpolitische Wende nach 1956 machte diese bis dato weitgehend unkontrollierte Entwicklung von unten zu einem Politikum. Der Fall um das Jugendorchester des Zentralen Hauses der Kunstarbeiter CDRI während der Weltjugendfestspiele 1957 belegt, dass dieser Prozess aber irreversibel war. Da ein generelles Verbot sowohl die Entwicklungen im Bereich der sowjetischen Unterhaltungsmusik in diesem Zeitraum als auch die Intentionen des Komsomol zur Stimulation von Initiative und Enthusiasmus konterkariert hätte, blieb die Einbindung und Domestizierung eine nie stringent geplante, aber letztlich realistische Möglichkeit. Verfechtern dieser Strategie kam zugute, dass Jazzmusik und dessen Laienorchester in steigendem Maße mit dem sozialen Spektrum der gebildeten Jugend synchron liefen. Die meisten der großen Lehr- und Forschungsinstitute verfügten Ende der 1950er-Jahre bereits über ein großes Laienorchester, das für viele Nachwuchsmusiker wie die Brüder Volodja und Michail Kull’ die nötigen Impulse für einen weiteren Professionalisierungswunsch gaben, eine Entwicklung, die der Komsomol und der Komponistenverband in den 1960er-Jahren teilweise unterstützten.487 Mit den Klubs für Interessen und den Jugendcafés bot sich den städtischen Komsomolgruppen das geeignete Format, Jugendlichen mit höherer Bildung das Hören von, aber auch die Beschäftigung mit dem Jazz zu erlauben, sie damit an öffentlichen Orten zusammenzubringen und sowjetischen Praktiken zu unterwerfen. Hier kam der Wunsch der Jazzenthusiasten, sich im legitimen Rahmen gemeinsam mit dem Jazz zu beschäftigen mit dem des Komsomol nach mehr jugendlicher Initiative zusammen. Das freiwillige Engagement erscheint aus dieser Perspektive nicht mehr nur als notwendiges Übel, um eine eigene Nische im gesellschaftlichen System zu erhalten. Nimmt man „den Willen der Sowjetbürger, in die Öffentlichkeit zu gehen, öffentliches Engagement zu zeigen und öffentliche Funktionen zu übernehmen“488 ernst, so kann man die Gründung von Sektionen von Jazzliebhabern, abendfüllende Diskussionen um den Dienstplan eines Jugendcafés oder den Dienst als Türsteher vor einem Jazzkonzert durchaus als Zustimmung zur Idee der Neubelebung des sowjetischen Projekts verstehen. Die Mitgliedschaft im Komsomol bei der Hälfte der Besucher des Moskauer Jazzklubs im Kulturhaus Ėnergetikov zwischen 1960 und 1961 kann als Beleg für das politische Kontrollbedürfnis des Komsomol ebenso gedeutet werden wie für eine kurze Periode des Einklangs zwischen kommunistischer Organisation und den nachwachsenden Eliten der Gesellschaft. Besonders die Jazzenthusiasten als Vertreter mit höherem Bildungshintergrund erscheinen hier als der „energischere, innovativere und 487 Vgl. Kull’, Stupeni. 488 Fürst, Friends in Private, S. 231.
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initiativfreudigere Teil der Jugend mit sozialen Ressourcen, um inoffizielle Cliquen und Netzwerke in das System offizieller Kollektive zu überführen“489. Das Besondere dieser Gruppen für die Komsomolvertreter vor Ort zeigt sich letztlich auch im zentralen Paradox, dass diese nach den offiziellen Maßstäben gar nicht mehr jugendlich waren. Es waren Männer um die 30 Jahre, die zu Beginn der 1960er-Jahre Vorträge organisierten und auf den Bühnen von Jugendcafés und Kulturhäusern positive Kulturarbeit des Komsomol repräsentierten. Für die Enthusiasten bot der Komsomol zwei Formen von Öffentlichkeit. Innerhalb der Klubs konnten diese in abgeschlossener Öffentlichkeit Musik hören, diskutieren und den Fortschritt in der musikalischen Entwicklung ihrer Mitglieder besprechen. Dabei unterwarfen sie sich bei aller kritischen Berücksichtigung von Informalität, die aus den überlieferten Protokollen nur bedingt sichtbar wird, auch den sowjetischen Praktiken und Verhaltensregeln, die von Mitliedern eines Klubs erwartet wurden. Dazu gehörten Wahlen, Diskussionen, Kritik und Entlassung von Mitgliedern nach Abstimmung ebenso wie Pünktlichkeit, Wissen um die aktuellen ideologischen Entwicklungen und ein bestimmtes äußeres Erscheinungsbild. Nach außen adressierten die Enthusiasten mit Vorträgen und Musik die städtische Öffentlichkeit, ausländische Besucher der Sowjetunion und schließlich sogar ausländisches Publikum. In dem Maße, in dem die Kooperation mit dem Komponistenverband intensiviert wurde, mit Beginn der 1960er-Jahre mehr Musiker Platz im regulären Konzertwesen fanden und die Musik in der Radiosendung „Metronom“ und auf Schallplattenaufnahmen der Jazzfestivals zu hören war, stieg die kulturelle Legitimität des Jazz als Unterhaltungs- und Kunstmusik. Unter dem Dach des Komsomol und des Komponistenverbands in Moskau erlangten das Jazzmilieu und seine Vertreter kulturelle Legitimität und konnten den Jazz und seine Praktiken mit geringerer Intervention von außen weiterentwickeln. Diese Weiterentwicklung geschah mit Blick auf die Kooperation mit Vertretern des Komponistenverbandes keinesfalls autonom, sondern unter dem Deckmantel der „Professionalität“ nun weitestgehend frei von ideologischer Bevormundung und Maßregelung. Die intensive und zunehmend professionelle Beschäftigung mit Kultur in der Freizeit durch eine Gruppe gebildeter und spezialisierter junger Bürger konnte aus Sicht des Komsomol in den 1960er-Jahren als prototypisch für den neuen Sowjetmenschen erscheinen. Diese positive Deutungsmöglichkeit bleibt besonders mit Blick auf die gesamte, später als „Šestidesjatniki“ bezeichnete Generation virulent, die sich zwischen den kritischen Diskussionen der Geheimrede in Studentenkreisen 1956 über die Prozesse gegen Schriftsteller Mitte der 1960er-Jahre bis hin zur breiten Rezeption der Bardenmusik und dem Festival in Novosibirsk 1968 beständig auf dem ideologischen Prüfstand befand. 489 Tsipursky, Having Fun, S. 30.
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Die meist in der Retrospektive als Jazzklubs bezeichneten Institutionen und die ab 1960 eingerichteten Jugendcafés waren jene Orte, an denen Jazzmilieu und die Vertreter von Komsomol, Komponistenverband, Gewerkschaften und städtischen Konzertorganisationen zusammentrafen und Konflikte aushandelten. Sie wurden zu Knotenpunkten kultureller Netzwerke, die offizielle mit inoffiziellen Sphären verbanden. Wesentliche Resultate dieser Netzwerke waren die sowjetischen Jazzfestivals, aber auch die Verfestigung der Beziehungen zwischen legitimen musikalischen Experten und Nachwuchsmusikern und -organisatoren. Jazzklubs waren häufig nicht mehr als wechselnde, unregelmäßig zugängliche Räumlichkeiten, die mit wenig finanziellen Mitteln ausgestattet waren, um die vom Komsomol gestellten oder selbst formulierten Aufgaben zu lösen. Gleichzeitig konnten die Klubs für die jeweiligen Komsomolorganisationen durchaus mit Prestige verbunden sein, worauf sich Jazzenthusiasten auch bezogen. Die Mitglieder des Leningrader Jazzklubs Kvadrat artikulierten nicht nur ein Hoheitsdenken innerhalb der städtischen Kultur, sondern verwiesen mehrfach darauf, dass die gemeinsam ausgearbeitete Satzung des Klubs als Musterbeispiel für zahlreiche andere Klubs im Land diente. Mitte der 1960er-Jahre war Kvadrat für den städtischen Komsomol ein kulturpolitisches Pilot- und Prestigeprojekt geworden. Nicht selten stellten die Klubs für die Gewerkschaften eine willkommene Möglichkeit, Besucher anzuziehen oder boten eine zusätzliche Einnahmequelle dar, an der die Klubs selbst jedoch nur ungenügend beteiligt wurden. Das viel gepriesene „freiwillige Engagement“ und die Initiative verwandelten sich in diesem Kontext in Selbstausbeutung, von der die Existenz des jeweiligen Klubs abhing. Gepaart mit der zunehmenden Reglementierung von oben – in Leningrad endete die Kooperation zwischen Komsomol und Jazzklub 1967 – erscheint dieser Mangel an finanziellen Mitteln bei gleichzeitig ambitionierten Programmen als typisches Phänomen des Wandels der Jugendpolitik zum Ausgang der 1960er-Jahre, der die Zugehörigkeit zur Jugendorganisation endgültig zu einer karrierenotwendigen Formalität machte. Anders als die Jugendcafés funktionierten die Klubs als segmentierte Öffentlichkeiten, die die Sphäre des Privaten aber keinesfalls ersetzten. Die jeweilige Kompanija war in beiden Bereichen zu Hause. Georgij Vasjutočkin beschrieb die Wohnung des Pianisten und Jazzorganisators Vicharev als „besten aller Jazzklubs, der je in Leningrad entstand. Morgens, tagsüber und am Abend saß bei ihm irgendjemand, häufig kamen und übernachteten bei ihm befreundete Jazzer aus dem Baltikum, Sverdlovsk, Severopalatinsk oder Moskau.“490 Jugendcafés boten Musikern zudem legitime Auftrittsmöglichkeiten vor einem jugendlichen Publikum, dem dort erstmals das Recht zu zweck- und politikfreier Kommunikation zugesprochen wurde. Improvisierter Jazz wurde Teil des modernen 490 Vgl. Džazovyj Putevoditel, S. 44.
Jazz auf Podium und Bühne – Jazzklubs und Jugendcafés
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Arrangements, das die Cafés besonders in Moskau auch gegenüber ausländischen Gästen attraktiv machte. Der hohe Ausländeranteil war Ansatzpunkt für Kritik an der Einrichtung und eröffnete den Musikern, die häufig auch in der Selbstverwaltung des Cafés involviert waren, Zugang zu knappen materiellen Ressourcen. Das sich dort konstituierende Milieu aus Musikern, Fans und Organisatoren stand besonders im Molodežnoe unter Beobachtung des KGB, für den die dort gastierenden Botschaftsmitarbeiter ebenso interessant waren wie das Jazzmilieu, dem sich nach Aussage Rostislav Vinarovs eine eigene Unterabteilung des Geheimdienstes für Musikfragen in Moskau widmete.491 Die drei Moskauer Jugendcafés Molodežnoe, Aelita und Sinjaja Ptica wurden aufgrund einer engen Interessenkongruenz von Jazzenthusiasten und Komsomolaktivisten zu Orten, an denen sich eine musikalische Szene mit Anhängerschaften verschiedener Musiker gemeinsam konstituieren und gleichzeitig voneinander abgrenzen konnte. Für die Professionalisierung der Musiker, die wenige Jahre zuvor noch vor Moskauer Tanzpublikum spielten, war nicht nur die Unterstützung der Moskauer Komponisten relevant, sondern eben jenes wachsende Publikum, das hier Standards entwickelte, die als Maßgabe der weiteren Entwicklung wichtig waren. „Musikalische Auftritte“, so Frederick Starr über die Hörerkultur in den Jugendcafés der 1960er-Jahre, „wurden nach recht rigorosen Standards bewertet. Die mindeste Anforderung war perfektes technisches Können.“492 Neben dem Publikum spielten in diesem Professionalisierungsprozess weitere Faktoren eine Rolle: die Forderungen des Komponistenverbands, die individuellen Vorstellungen von Komponisten und Komsomolvertretern im Rat der Jugendcafés und dem Künstlerrat des Sektors für Jugendensembles, aber auch der Ehrgeiz der Jazzenthusiasten und deren Vorstellung von Professionalität. Auch in diesem Prozess zeigt sich die eingangs thematisierte Wechselseitigkeit der Symbiose zwischen Komsomol und Jazz. Die Arbeit des Moskauer Künstlerrates befreite die Musiker zunehmend von ideologischer Intervention und Gängelung und knüpfte dabei an die bereits im Jazzklub im Kulturhaus Ėnergetikov begonnenen Hospitationen von Jazzensembles durch einzelne Komponisten an, die den Musikern erstmals eine fachliche Rückmeldung über ihre Leistung gaben. Bedingung für die Aufnahme und bezahlte Arbeit im System der Jugendcafés blieb aber neben der Beherrschung des Instruments die Fähigkeit, auch Tanzmusikstücke für das musikalische Abendprogramm zu spielen und ein Mindestmaß an sowjetischen Kompositionen den Stilmitteln des Jazz zu unterwerfen. Die Kooperation zwischen Komsomol, den Moskauer Komponisten und den Jazzmusikern und -organisatoren überdauerte als produktive Form auch die Abkehr von jener Jugendpolitik, aus der 491 Interview mit Rostislav Vinarov vom 25.04.2010. 492 Starr, Red and Hot, S. 228.
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sie eigentlich hervorgegangen war. Der Klub MIR erscheint im Vergleich mit dem Jazzklub im Kulturhaus Ėnergetikov und den Jugendcafés als professionellerer Zusammenschluss wichtiger Akteure des Moskauer Musiklebens, wobei nun mit dem Haus für Schallplattenaufnahmen auch die sowjetischen Medien vertreten waren, mit deren Schallplattenfirma Melodija bereits gemeinsame Produktionen erfolgt waren. Der segregierte Charakter seiner Arbeit – viele Veranstaltungen waren dezidiert nur Klubmitgliedern zugänglich – steht damit exemplarisch für die Ende der 1960er-Jahre entstehende segregierte sowjetische Gesellschaft der beginnenden „Zastoj“-Periode. Im Klub trafen nun Jazzmusiker mit Komponisten und Vertretern der sowjetischen Medienproduktion im Rahmen einer informellen Verbandsöffentlichkeit zusammen. Zeitlich gesehen kann man die Jugendcafés als Übergangserscheinungen zwischen dem Impetus politischer Liberalisierung der 1950er-Jahre und der Epoche der 1970er- und frühen 1980er-Jahre sehen, da sich bereits hier Elemente der späteren Gegenkultur konstituierten. Neben den ersten Auftritten von Bulat Okudžava im Molodežnoe stellten im Sinnaja Ptica auch Vertreter der abstrakten Kunst, wie Il’ja Kabakov, erstmals ihre Gemälde aus.493 Inwieweit man Analogien zwischen dem nachlassenden Enthusiasmus und der Privatisierung des Klublebens am Ende der 1920er-Jahre ziehen kann, die Gabriele Gorzka in ihrer Untersuchung zur Arbeiterkultur zwischen Revolution und Stalinismus analysiert hat, bedarf weitergehender Untersuchung.494 Die Jugendcafés entwickelten sich in der späten Sowjetunion zu einem Symbol einer partizipativen Jugendpolitik im politischen Diskurs. Besonders in der Perestrojka war der Rekurs auf den Leninismus und die mit ihm assoziierte politische Praxis, ähnlich den jugendpolitischen Debatten der 1950er- und 1960er-Jahre, mehr als eine ideologische Pflichtübung. Der eingangs zitierte Artikel von Vinarov aus der Zeit der Perestrojka verwies nostalgisch auf deren positive soziale und politische Wirkung auf die Jugend der 1960er-Jahre und sah in ihnen einen Ausweg aus der Situation wachsender jugendlicher Desorientierung und Apathie.
5. 3 D ž a z y d e sja t n i k i? – Ja z z , M i l ie u u nd s ow je t i s che M it t el k l a s s e „Hier kommt mir die Analogie zu irgendeiner religiösen Sekte in den Kopf“, schrieb der Übersetzer und Jazzkritiker Jurij Vermenič aus Voronež mit Blick auf die Mitte der 1960er-Jahre. „Wenn ich in einer unbekannten Stadt ankam, in der ich 493 Vgl. Kabakov, Il’ja: 60–70e … Zapiski o neoficial’noj žizni v Moskve. Moskau 2008. 494 Vgl. Gorzka, Gabriele: Arbeiterkultur in der Sowjetunion. Industriearbeiter-Klubs 1917–1929. Ein Beitrag zur sowjetischen Kulturgeschichte. Berlin 1990.
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nie zuvor gewesen war, in der es aber einen Jazzclub gab, ging ich direkt in dieses Gebetshaus des Jazz mit der absoluten Sicherheit, dort Brüder im Geiste zu finden, die mir die Tür öffneten und mir Achtung und Gastfreundschaft erwiesen.“495 Vermeničs Assoziation verweist auf eine enge und gleichzeitig abstrakte Bindung, die zwischen Sowjetbürgern bestand, die sich nicht zwangsläufig persönlich kennen mussten. Vermittelt wurde diese Bindung durch den Jazz. Gleichzeitig jedoch ist der Ort der Begegnung keine Küche einer Kommunalwohnung oder das Atelier eines Künstlers, sondern ein Kulturhaus, das als Stützpunkt sozialistischer Kultur fest im staatlichen System der Gewerkschaften verankert war. Anhand der Wechselbeziehungen zwischen Jazzenthusiasten und dem Komsomol als kulturpolitischem Akteur lässt sich das Potential des Jazz zur sozialen Vergemeinschaftung genauer auszuloten. Damit kann jene Gruppe von jungen sowjetischen Bürgern, die entgegen politischen und gesellschaftlichen Widerständen ihre Zeit und Ressourcen in den Jazz investierten, genauer charakterisiert werden. Es liegt nahe, den sowjetischen Jazz als generationelles Projekt jener Alterskohorte zu begreifen, die retrospektiv als die šestidesjatniki bezeichnet wurden.496 Die Mehrzahl der hier vorgestellten Jazzenthusiasten verfügte über einen ähnlichen Erfahrungshorizont wie die später besonders in der Perestroika politisch aktiven Vertreter.497 Sie waren in ihrer Mehrzahl Absolventen des in den 1950er-Jahren stark expandierenden sowjetischen Hochschulsystems und teilten manchmal – wie besonders an den Aktivisten der Sowjets von Jugendcafés zu Beginn der 1960er-Jahre deutlich wurde – den politischen Enthusiasmus der Nachstalinzeit, der einige sogar zum aktiven Engagement in Partei und Komsomol bewog.498 Die Grenzen der Zuordnung zu dieser Gruppe sind jedoch nicht minder offensichtlich. Anders als die Literatur, das Medium, um das die kritische Intelligencija mit der sowjetischen Kulturpolitik stritt und das in Form des Samizdat und Tamizdat zum Vehikel der Dissidenten wurde, entzog sich der Jazz in seiner improvisierten Form einem direkt kritischen Potential. Viel eher eignete sich dazu die sogenannte Barden-Musik, die ebenfalls ohne die Komsomolförderung der künstlerischen Laientätigkeit nicht zu verstehen ist. Sie besaß das Potential, kritische Botschaften zu
495 Vermenič, Jurij: Moi druzja – džazfėny, [http://www.jazz.ru/books/vermenich/1.htm, letzter Zugriff: 30.04.2018]. 496 Vgl. Beissinger, Mark: In Search of Generations in Soviet Politics, in: World Politics 38 (1986), S. 288–314; Peunova, Marina: From Dissidents to Collaborators. The resurgence and demise of the Russian critical intelligentsia since 1985, in: Studies in East European Thought 60 (2008), S. 231–250. 497 Vgl. dazu Alekseyeva/Goldberg, The Thaw Generation. 498 Tromly, Benjamin: Making the Soviet intelligentsia. Universities and intellectual life under Stalin and Khrushchev. Cambridge [u.a] 2014; Silina, L. V.: Nastroenija sovetskogo studentčestva, 1945–1964. Moskau 2004.
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transportieren und in ironischer Art und Weise Missstände der spätsowjetischen Gesellschaft zu thematisieren, die nicht nur die kleine Gruppe von Dissidenten, sondern weite Teile der städtischen Bevölkerung erreichte.499 Dass das Publikum beider Musikformen – wie die Moskauer Jugendcafés zeigen – das gleiche sein konnte, ändert am grundlegenden Unterschied nichts. Die Beziehung der Jazzenthusiasten zum Staat und seinem Kulturapparat war in einigen Bereichen affirmativer, nicht zuletzt durch die Abhängigkeit von Finanzmitteln und Raum zum Proben und Spielen. Sie waren auf ihn als Garant einer Öffentlichkeit angewiesen, während staatliche Organe in den Musikern qualifizierten Nachwuchs für das Konzertwesen entdeckten. Die Jazzenthusiasten litten, wie andere Vertreter der Intelligencija auch, unter dem staatlichen Antisemitismus, in dessen Konsequenz nach 1971 mehr als 60 etablierte Jazzmusiker nach Westeuropa, in die USA und Israel emigrierten.500 Keiner seiner Vertreter jedoch hatte sich in politischen Prozessen dem Vorwurf der Verleumdung der Sowjetmacht oder illegalen Publikationen im Ausland zu verantworten. Und doch signalisierte der Jazz und der mit ihm verbundene Lebensstil die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu, wie das Eingangszitat von Jurij Vermenič suggeriert. In der Sowjetunion, wo materielles Kapital kaum als Indikator sozialer Unterschiede funktionierte und der Staat die Gesellschaft durch Privilegien und symbolische Politik in Statusgruppen unterteilte, oblag dem Kulturkonsum das Potential, Distinktion herzustellen. Ein Zusammenhang zwischen der Aufwertung der technischen Intelligencija als Helden der Epoche durch den sowjetischen Technikkult und der Entwicklung der Jazzbewegung, die in den 1960er-Jahren ihren Höhepunkt erreichte, wird hier erkennbar. Der Komsomol als Kurator dieser Entwicklung stützte das Wachstum seiner Mitgliederzahlen bis Mitte der 1960er-Jahre besonders auf sowjetische Studenten, deren Anteil von 19,6 Prozent im Jahr 1937 auf 40 Prozent im Jahr 1957 anstieg.501 Jeder vierte Moskauer Komsomolze war Student.502 Die Dominanz der Mittelklasse in der Zusammensetzung der Studentenschaft zeigt sich bis Anfang der 1970er-Jahre deutlich. Bei einem Bevölkerungsanteil von 25 Prozent stellten im Jahr 1970 Kinder von Angestellten 53 Prozent der sowjetischen Studentenschaft.503 Die Teilnahme an einem Estradalaienorchester der Universitäten und Forschungsinstitute in den 1950er- und 1960er-Jahren brachte 499 Vgl. Smith, Songs to seven strings. 500 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 236–237. 501 Vgl. Davydov, Sekretär des Moskauer Stadtkomitees des VLKSM, Protokoll und Stenogramm des 7. Plenums des CK des VLKSM, 26.–27.02.1957, RGASPI, f.M-1, op.2, d.356, l.231. 502 Vgl. ebd. l.233. 503 Vgl. Narodnoe chozjajstvo SSSR v I970 godu. Moskau 1971, S. 22, zit. Nach Matthews, Mervyn: Soviet Students. Some Sociological Perspectives, in: Soviet Studies 27 (1975), 1, S. 86–108, hier S. 89.
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dem Studenten der Physik, Chemie oder Ingenieurwissenschaften nicht nur eine Freistellung vom Unterricht, die Möglichkeit zu Reisen und gesellschaftlicher Arbeit, sondern auch ein höheres Prestige in den Augen seiner Kommilitonen.504 Wie im Kapitel zur Schattenwirtschaft deutlich wurde, fand sich in diesen Kreisen auch jenes „dankbare Publikum“, das das Bestreben der Musiker nach Schaffung „authentischen Jazz“ zu würdigen wusste. In den Jazzklubs und Cafés bot sich dieser Gruppe die Möglichkeit, „unter sich“ zu sein, eine aus ihrer Sicht und der des Komsomol sinnvolle kulturelle Arbeit zu verrichten und durch Auftreten auf der Bühne oder Besuch eines Konzertes Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zu signalisieren. Der Jazz als sozialer Marker überspannte die Sphären des Öffentlichen und Privaten der 1960er-Jahre. Er schloss das Livekonzert als dominante Form des Musikkonsums als öffentliche soziale Praxis ebenso mit ein, wie die Jam-Session, die auf nach bestimmten Regeln organisierter musikalischer Interaktion zwischen Individuen beruhte, aber von einem weiteren Kreis eingeweihter und interessierter Hörer konsumiert wurde. Mit dem Radio, der Schallplatte und dem Tonband schließlich bot der Jazz als private Praxis eine Möglichkeit des individuellen Gefühlsmanagments.505 Auch wenn eine Gleichsetzung der Beschäftigung mit dem Jazz nach 1953 mit politischem Dissens im Einzelfall kaum der empirischen Prüfung standhält, wäre es falsch, ihn in dieser Epoche als apolitisch zu charakterisieren. Nicht nur die Stärke des Narrativs in den Erinnerungen der Zeitgenossen, das Jazz mit politischem Widerstand verbindet, zwingt zu einem differenzierten Blick auf die Frage des Politischen. Der Saxofonist Aleksej Kozlov entfaltet seine Lebensgeschichte um den Jazz mit einem Erlebnis im Alter von 16 Jahren, als er nach Erhalt des handgeschriebenen Gedichts „Osel’ i Solovej“, das Amerika und den Jazz thematisierte, in der Schule „bereits für die innere Emigration heranwuchs.“506 Auch in der sozialen Praxis und dem Stil der Jazzenthusiasten, die sich in den Klubs und Cafés konstituierten, lassen sich politische Bezüge und Nuancen ausfindig machen. In einer Sammlung von jazzbezogenen Witzen, die maschinengeschrieben innerhalb des Café „Molodežnoe“ zirkulierten, findet sich eine solche Referenz: „Antijazz – das ist die Musik der Dünnen“507. Diese ironisierte Bezugnahme auf Gor’kijs Mantra des Jazz als Musik der Dicken („Muzyka tolstych“) stellt im übertragenen Sinn ein Lächerlichmachen der konservativen Kulturvertreter dar, deren Angriffe auf den Jazz sich bis in den 1960er-Jahre hinein häufig dieser Referenz 504 Vgl. Interview mit Vladimir Fejertag vom 30.10.2009. 505 Vgl. Maase, Grenzenloses Vergnügen, S. 117. 506 Kozlov, Džaz, S. 74. 507 O. A.: „Die Seite mit Humor für Musikanten“, Presse-Bulletin des Klub-Cafés Molodežnoe, Privatarchiv Vinarov.
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bedienten. Dessen Einfluss erwuchs einzig aus der Autorität seines Urhebers als Gründungspaten des Sozialistischen Realismus, nicht jedoch aus musikalischer oder ideologischer Stärke. Die mögliche politische Dimension ist ebenfalls in der Praxis der Jazzenthusiasten zu finden, die unter dem Dach von Komsomol und Komponistenverband ihr kulturelles Projekt der gesellschaftlichen und politischen Anerkennung des improvisierten Jazz verfolgten und Musiker, Organisatoren und Lektoren vereinten. Hier ist der nachhaltigste Einfluss auf die sowjetische Kultur zu verorten, die eben kein politikfreier Raum war. In diesem Kapitel wird erörtert, wie sich sowjetische Jazzenthusiasten, jene Musiker, Organisatoren, Lektoren und Fans nach 1953 als eigene Gruppe zwischen subkultureller Praxis nach innen und affirmativem Agieren nach außen konstituierte. Zunächst werden Motive diskutiert, sich mit einer gesellschaftlich und politisch umkämpften Form von Musik zu beschäftigen und ihr Zeit und Ressourcen zu widmen. Für sowjetische Jazzenthusiasten, die sich im Spätstalinismus anders als die Stiljagi aus der wachsenden sowjetischen Mittelklasse rekrutierten, verbesserte das Tauwetter die Zugänglichkeit zu Jazz und ihre Möglichkeiten, diese Musik außerhalb des privaten Raums und ohne Rückgriff auf illegale Methoden zu konsumieren.508 Ihre Bereitschaft, sich aktiv an den neuen Klubaktivitäten des Komsomol zu beteiligen, ist als Beleg für den Erfolg dieser Politik bewertet worden. Man kann daher die Jazzfans als einen der Hauptgewinner des neuen sozialen Konsumvertrags umschreiben.509 Eine Binnenperspektive in die Jugendklubs und Cafés erlaubt danach zu fragen, inwieweit Jazz und seine Kultur als Distinktionsmerkmal einer kleinen Gruppe stilisiert und inszeniert wurden, um sich innerhalb dieser wachsenden Mittelklasse abzugrenzen. Denn auch wenn Musiker, Organisatoren und Fans sich meist vom provokant westlichen Aussehen der Stiljagi distanzierten, lag in der intensiven Beschäftigung mit musikästhetischen Fragen mehr als nur ein Hobby. Die Chance auf Distinktion von Gleichaltrigen anderer sozialer Hintergründe und die einmaligen Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, die der Komsomol bot, liefen im kulturellen Projekt der Jazzenthusiasten zusammen, den wahren Jazz zu propagieren und legitim zu machen. Im Weiteren gilt es, jene Strategien zu diskutieren, mit denen Organisatoren, Lektoren und Musiker dieses Projekt verfolgten und „ihren Jazz“ in den sowjetischen Kulturkanon integrieren wollten. Die Konstituierung dieses Milieus war jedoch weder ein linearer Prozess noch stand an dessen Ende ein homogener Werte- und Verhaltenskanon. Am Beispiel Leningrads wird deutlich, wie Jazz auch als Ausdruck von Alterität zwischen verschiedenen städtischen Milieus verwendet werden konnte.
508 Vgl. Tsipursky, Pleasure, S. 159. 509 Vgl. ebd. S. 220.
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5.3.1 Der Klub als geschlossene Gemeinschaft Die Sektion für Jazzliebhaber des Jugendklubs im Kulturhaus Ėnergetikov in Moskau erlaubt eine exemplarische Annäherung an die soziale Komposition, Alterszusammensetzung und politisch-berufliche Orientierung der sowjetischen Jazzenthusiasten.510 Von den im Frühjahr 1961 registrierten 55 Mitgliedern des Klubs waren 21 Mitglied des Komsomol, darunter der Leiter der Sektion Aleksej Batašev und Pavel Plastinin. Letzterer betreute im Stab für jugendliche Freizeit des Moskauer Stadtkomitees die Jugendcafés mit. Die Mehrzahl der Teilnehmer ohne Mitgliedschaft im Komsomol signalisierte nach außen eben jenen Enthusiasmus, den die Jugendorganisation mit ihrem Projekt, die gesamte sowjetische Jugend zu erreichen, generieren wollte. Für den Leiter des Jugendklubs im Kulturhaus waren diese Zahlen umso wichtiger, als die Sektion der Jazzliebhaber nach Aussagen des Lektors Arkadij Petrov die einzige des Klubs war, die ein aktives Engagement zeigte, während die Sektion für klassische Musik oder jene für Schach nur auf dem Papier existierten.511 Beruflich war in der Sektion ein breites Spektrum vertreten, das aber typische Tendenzen zu erkennen gibt. Von den 17 Studenten des Klubs waren nur drei in den Geisteswissenschaften eingeschrieben, während 14 naturwissenschaftlich-technische Studiengänge belegten.512 Weitere zwölf Mitglieder arbeiteten als Architekten, Ingenieure oder wissenschaftliche Mitarbeiter in technischen Forschungsinstituten. Hinzu kamen drei technische Angestellte und zwei Journalisten. Dagegen verortete sich nur ein Mitglied in der Arbeiterschaft. Die lediglich drei Studierenden von Musikschulen oder dem Moskauer Konservatorium können als Beleg für die Dominanz des Amateurhintergrunds ebenso wie für die Distanz zwischen klassischer Musik(-ausbildung) und der Sphäre der Unterhaltungsmusik gedeutet werden. Sieben Mitglieder gaben „Musiker“ als Beruf an, von denen drei in der städtischen Konzertorganisation arbeiteten. Mit Georgij Garanjan, Aleksej Zubov und Konstantin Bacholdin fanden sich schließlich drei junge Mitglieder des prestigeträchtigen Oleg-Lundstrem-Orchesters in diesen Reihen wieder. Die Alterszusammensetzung der Gruppe weist ebenfalls einige Besonderheiten auf: Erwartungsgemäß ließe sich die große Mehrzahl der Mitglieder als Kinder der 1930er-Jahre unter dem späteren Label der Šestidesjatniki subsumieren. Jedoch erblickten lediglich zehn der Mitglieder zwischen 1929 und 1935 das Licht der Welt, 510 Vgl. o. A. (Batašev), (handschriftliche Mitgliederliste des Klubs mit Name, Geburtsdatum, Parteizugehörigkeit, Beruf und Adresse), o. D. (1961), Privatarchiv Batašev. 511 Vgl. Petrov, Arkadij: Erinnerungen an den Klub am Raušskoj Ufer oder darüber wie ein Ingenieur am Anfang ein Saxofon in die Hand nahm, aber dann doch Kritiker wurde, in: Klub i chudožestvennaja samodejatelnost 1 (1988), S. 15–17, hier S. 16. 512 Vgl. Batašev, Mitgliederliste des Klubs.
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während 31 von ihnen zwischen 1935 und 1945 geboren wurden.513 Berücksichtigt man das Alter der im Klub und seinen Aktivitäten zentralen Figuren – Aleksej Batašev (1934), Leonid Pereversev (1930), Pavel Plastinin (1934) Arkadij Petrov (1936) –, so wird deutlich, dass sich die Binnenhierarchie des Klubs auch über die Autorität des höheren Alters strukturierte. Die Hälfte der Mitglieder war mindestens vier Jahre jünger als der Leiter der Sektion Batašev und zwischen 16 und 23 Jahre alt. Aber auch hinsichtlich der generationell tradierten Erfahrung entsteht so ein differenziertes Bild. Während die ältere Hälfte der Mitglieder den Erfahrungsraum der unmittelbaren Nachkriegszeit mit dem anfangs offenem Zugang zu westlicher Kultur und den symbolischen Auseinandersetzung mit der Kultur der frontovniki noch kannte, fehlte dem jüngeren Teil die jugendliche Sozialisationserfahrung im Stalinismus. Diese älteren Mitglieder hatten die repressive Kulturpolitik gegen den Jazz selbst erlebt, aber auch die Diskrepanz zur täglichen Praxis in den zahllosen Klubs und Kulturhäusern, die dem Jazz immer wieder Nischen eröffneten. Die daraus folgende Erfahrung, dass alles unter den richtigen Umständen verhandelbar ist, prädestinierte diese Gruppe für die Rolle der Wortführer und Leiter des Klubs. Das Milieu der Jazzenthusiasten konstituierte sich in und durch seine sozialen Praktiken, die ihren Jazz gleichsam „sowjetisch“ machten. Auch internen kleinen Festivals der Sektion der Jazzliebhaber des Jugendklubs im Kulturhaus Ėnergetikov in Moskau stand eine selbst gewählte Jury vor, die Ensembles bewertete und kommentierte.
Abb. 1: Fotografie „Festival DK Ėnergetikov“ (Foto Vladimir Sadkovkin, Privatarchiv Michail Kull‘). 513 Vgl. ebd. Zu elf Mitgliedern liegen keine Altersangaben vor.
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Die photografische Dokumentation der eigenen Ensembles und die gleichzeitige Präsentation vorangegangener Konzerte dienten nicht nur dem Bezeugen der Errungenschaften gegenüber lokalen politisch Verantwortlichen, sondern der Schaffung eines visuellen Gedächtnisses der Gruppe, aus der sich eine eigene Tradition ableiten ließe. Neben Fotografien diente der visuellen Repräsentation ein Plakat der eigenen Sektion und vergangener Jazzfestivals im estnischen Tartu, an dem Mitglieder der Sektion teilgenommen hatten. Mit Hilfe dieser Plakate nahm die Sektion bei Konzerten und Jamsessions die Räume des sowjetischen Kulturhauses für einen begrenzten Zeitraum auch symbolisch in Besitz, auch wenn der sowjetische Charakter der Räumlichkeiten letztlich immer präsent blieb.
Abb. 2: Fotografie „Jamsession DK Ėnergetikov“ (Foto Vladimir Sadkovkin, Privatarchiv Michail Kull‘).
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Musik selbst verwalten? Abb. 3: Fotografie „Jamsession DK Ėnergetikov II“ (Foto Vladimir Sadkovkin, Privatarchiv Michail Kull‘).
Eine ähnliche räumliche Enge und erzwungene Intimität, die eine klare Grenze zwischen Musikern und Publikum zu ziehen unmöglich machte, boten Orte wie das Molodežnoe.
Abb. 4: Fotografie „Cafe KM Bühne“ (Foto Vladimir Sadkovkin, Privatarchiv Michail Kull‘).
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Anders als im Kulturhaus Ėnergetikov bot der über vier Meter breite und circa 80 Meter lange Raum mit seinen 100 Sitzplätzen, einer hellen Beleuchtung und der als mustergültig erachteten Inneneinrichtung einen dauerhaften ästhetischer Ausweis von sowjetischer Modernität.
Abb. 5: Fotografie „Cafe KM Publikum“ (Foto Michail Kull‘).
Auch der Kleidungsstil der Jazzenthusiasten wies Anfang der 1960er-Jahre eine gewisse Homogenität auf und symbolisierte als Dresscode die Zugehörigkeit zur Gruppe. „Mode, Benehmen und Habitus“, so argumentiert Monica Rüthers in ihrer Studie zum städtischen Raum Moskaus für die 1950er- und 1960er-Jahre, „wurden […] Teil der urbanen Grammatik des öffentlichen Raums“514. Hinter der Frage der Bekleidung verbarg sich seit dem Aufkommen der Stiljagi in der Nachkriegszeit ein deutliches politisches Konfliktpotential. Das Bedürfnis nach sozialer Distinktion durch Adaption westlicher Kleidungsstile, das sich von den Kindern der Elite auf die der Mittelklasse ausweitete, steht repräsentativ für die Verbürgerlichung der Eliten und das Wachstum der sowjetischen Mittelklasse, die für den Wiederaufbau des Landes von der Politik kulturelle Zugeständnisse erhielt.515 Modisch unterschied sich dieser Stil deutlich von der stereotyp überzeichneten, extravaganten und bunten Kleidung der Stiljagi, die bereits am Ende der 1940er-Jahre eine 514 Rüthers, Monika: Moskau bauen, S. 112. 515 Vgl. Edele, Strange Young Man; Vgl. Dunham, In Stalin’s Time.
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Reihe von Nachahmern aus Schichten unterhalb der politischen Elite zur Imitation anregte.516 Die sowjetische Presse belegte diesen Kleidungsstil aus Schuhen mit Kreppsohle, bunten Hemden, Krawatten und Anzügen mit zahlreichen negativen Assoziationen.517 Träger einer solchen Kleidung entzogen sich nicht nur der vermeintlichen Arbeitsbereitschaft, sondern führten ein unsozialistisches Doppelleben, womit die Arbeitskleidung des Tages implizit zur Maskerade wurde, hinter der unsozialistische Exzesse in bunter Abendkleidung verschleiert wurden.518 Zielte die symbolische Botschaft der Stiljagi Mode noch auf das „unsowjetische“, politikfreie und einen Distinktionsgewinn in einer Gesellschaft, in der der Soldat mit Weltkriegserfahrung, der sogeannte frontovnik das höchste Prestige genoss, erweiterte sich das Repertoire an Botschaften der Kleidung zu Beginn der 1950er-Jahre. In dem Maße, wie der Kleidungsstil durch größere Schichten der sowjetischen Jugend in den Städten adaptiert wurde und damit Distinktionspotential verlor, griff eine Kerngruppe von jazzinteressierten Jugendlichen, die Frederick Starr überzogen als „Pioniere der Rebellion“519 bezeichnet, auf neue Elemente zurück. Dieser neue Kleidungsstil, der das Milieu der Jazzenthusiasten der 1960er prägte, betonte das Dezente, Distanzierte und Ernsthafte. Schwarze Anzüge, die deutlich enger geschnitten waren, als die der durchschnittlichen politischen Aparatčiks, einfarbige, meist weiße Hemden, einfach gemusterte Strickpullover und schmale Krawatten konnten als Anleihen an die Kleidung der US -amerikanischen Bebop-Musiker gedeutet werden.520 Die Selbstbezeichnung der Gruppe als Štatniki verweist auf diese kulturelle Orientierung, diente aber ebenso der Abgrenzung von der Kultur der Stiljagi, die mit der Ausbreitung in die Jugend der sowjetischen Mittelklasse jeden progressiven Impetus verloren hatte. Diesen Wandel einzig über die Amerikaorientierung der Akteure zu erklären, setzt jedoch eine Vorstellung westlicher Entscheidungsfreiheit bei der Kleiderwahl voraus. Nicht minder wichtig erwies sich der gestiegene Druck zu konformem Aussehen, den die Straßenpatrouillen des Komsomol seit Mitte der 1950er-Jahre ausübten. Relativiert wird der Disktinktionsgewinn des Stils auch dadurch, dass in Folge des Weltjugendfestivals 1957 die formlosen, weiten Hosen und Anzüge der Stalinmode endgültig von engen Hosen und körperbetonten Anzüge abgelöst wurden.521 Im Binnenleben der Klubs erzeugte dieser Kleidungsstil nach außen eine gewisse Respektabilität und Ernsthaftigkeit, 516 Vgl. Fürst, Being Stylish. 517 Vgl. Dimitrieva, Marina: Jazz and Dress. Stiljagi in Soviet Russia and Beyond, in: Gertrud Pickhan/Rüdiger Ritter (Hg.), Jazz behind the Iron Curtain. Frankfurt a. M. 2010, S. 239–256. 518 Vgl. Narinjani, S.: Ein Mensch ohne feste Arbeit, in: Komsomol’skaja Pravda, 22.02.1952, zitiert nach Ost-Probleme 4 (1952), 29, S. 950–952. 519 Starr, Red and Hot, S. 202. 520 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 202. 521 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 115.
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die gegenüber den lokalen Komsomolfunktionären, aber auch dem Publikum der Vortragskonzerte notwendig war. Nach innen stand dieser Dresscode für die Zugehörigkeit einer imaginierten Gemeinschaft an Jazzmusikern, von deren Vorbildern in den Vereinigten Staaten man das Tragen eben jener Kleidung annahm. Ein weiteres Instrument, um die geschlossene Gemeinschaft der Jazzenthusiasten zu konstruieren und den Neulingen in diesen Klubs einen normativen und ästhetischen Kanon zu vermitteln, waren Fragebögen, die Neumitglieder der Moskauer und Leningrader Klubs auszufüllen hatten. Die soziologische Umfrage und der Fragebogen erhielten als Instrumente der Meinungsforschung zu Beginn der 1960er-Jahre eine deutliche Aufwertung.522 Mit Beginn der Umfrage in der Komsomol’skaja Pravda durch Boris Grušin begann der „Neustart der sowjetischen Soziologie“, die vormals als bürgerlich gebrandmarkt im Pantheon stalinistischer Wissenschaften keinen Platz fand.523 Die Befragung des Bürgers, sowohl auf Ebene der Akademieforschung als auch der Auswertung der Effizienz des Kulturprogramms eines Klubhauses, zwang vorher dogmatisch gesetzte Entwicklungswege zu hinterfragen und erlaubte einen kritischeren Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen, wie etwa in Studien zum sowjetischen Freizeitverhalten ab Ende der 1960er-Jahre.524 Auch die Moskauer Jazzsektion nutzte Umfragebögen zum Erfassen des Besucherprofils und zur Einschätzung thematischer Abende, die von den Zuhörern zur Bestätigung, aber auch für Kritik „zur weiteren Verbesserung der Sektionsarbeit“525 genutzt wurden. Die Fragen umfassten, seit welchem Jahr sich die betreffende Person für Kunst interessiere und welcher Held, Komponist, Schriftsteller, Poet, Musiker oder Künstler ihr wichtigster sei.526 An die Mitglieder eines Klubs gerichtet, konnten solche Umfragen nicht nur statistische Ergebnisse generieren. Allein durch die Fragen, über die der Logik einer Umfrage nach ja kollektiv nachgedacht wurde, konnte so Gemeinschaft gestiftet werden. Sie vermittelten darüber hinaus den Befragten auch die normativen und ästhetischen Leitlinien der Gemeinschaft. Dies geschah durch Inhalt der Fragen, deren Suggestionskraft und deren Reihenfolge.
522 Pankhurst, Jerry: Factors in the Post-Stalin Emergence of Soviet Sociology, in: Social Inquiry 52 (1982), S. 165–183. 523 Weinberg, Elizabeth A.: The Development of Sociology in the Soviet Union. London [u.a.] 1974. 524 Bspw. Gruschin, Boris: Die freie Zeit als Problem. Soziologische Untersuchungen in Bulgarien, Polen, Ungarn und der Sowjetunion, hrsg. von Arnold Harttung. Berlin 1970. 525 Fragebogen „Beurteilung des thematischen Abends“ des Jugendklub KMK im Kulturhaus Ėnergetikov, Privatarchiv Bataševs. 526 Vgl.ebd.
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Eine 1966 im Leningrader Klub Kvadrat durchgeführte Umfrage unter Musikern und Mitgliedern lässt einen solchen Sinnstiftungsprozess erkennen.527 Die Umfrage erschloss die Jazz-Biografie der einzelnen Person, indem nach dem persönlichen Einstieg in die Musik, erinnerungswürdigen Erlebnissen und Lieblingsfilmen, -büchern, -musik und Jazzsolisten und -ensembles gefragt wurde.528 Jazz erscheint hier als Überzeugungssache und Bekenntnisfrage, wenn nach einem Moment gefragt wurde, „in dem Du mit dem Jazz brechen wolltest“529, zu beantworten war, wie viel Prozent der Wochenzeit man sich mit dem Jazz beschäftige oder der Befragte offenlegen sollte, wie er sich zu Leuten verhalte, die Jazz nicht mögen.530 Dabei wurde diese suggerierte Bedingungslosigkeit immer wieder ironisch gebrochen, wenn der Befragte beispielsweise zu beantworten hatte, was sein „zweites Hobby“ sei. Besonders der zweite Teil des Fragebogens mit musikerspezifischen Fragen lotete das seit der Chaltura der 1950er-Jahre bestehende Spannungsverhältnis zwischen eigenem Anspruch und Publikumsgeschmack aus. Es bleiben dabei keine Zweifel, dass es sich bei dem durch den Klub propagierten Jazz um Kunst handelte. Der Musiker wurde hier nicht nur nach seiner Einschätzung professioneller Ausbildung gefragt, sondern auch danach, ob es wichtiger sei, „den Jazz für das Publikum oder das Publikum für den Jazz vorzubereiten“531. In suggestiver Reihung, die implizit die Bildungsbemühungen der Klubmitglieder rechtfertigen, fragte der Text weiterhin, „was und wie […] man für ein nicht-vorbereitetes Publikum spielen“532 solle. Der Fragebogen zeigt mit Blick auf das sowjetische Jazzleben wiederum eine stark städtische Perspektive. Lediglich eine Frage – „In welcher der vielfältigen Formen des Jazz machen unsere Landsleute die meisten Fortschritte?“533 – zielte auf Jazz in der gesamten Sowjetunion, während sechs Fragen auf die Geschichte und Gegenwart des Leningrader Jazz und seiner spezifischen Dixieland-Ausprägung fokussierten. Der Musiker stand hier im Zentrum der Absicht, neben quantifizierbaren Informationen und Stimmungsbildern die gemeinschaftliche Identität des Klubs zu stärken. Diese Identität wurde in unterschiedlichen Situationen neu verhandelt. Sie ist damit das Ergebnis gemeinsamer kulturpolitischer Arbeit, politischer Rituale, eines ähnlichen Kleidungsstils oder spezifischer Verhaltensweisen, wie sie Leonid Orlov 1960 besonders gegenüber ehemaligen Besuchern der Birža eingeforderte
527 O. A.: Fragebogen für die Mitglieder des Klubs Kvadrat, o. D. (1967), Privatarchiv Lejtes. 528 Vgl. ebd. 529 ebd. 530 Vgl. ebd. 531 ebd. 532 ebd. 533 ebd.
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hatte. Diesen homogenisierenden Elementen standen zentrifugale Tendenzen gegenüber, denn der Klub als Gemeinschaft konstituierte ein Kollektiv von Individuen. Individualismus wurde nicht nur verschiedenartig als Signatur der Tauwetterepoche bezeichnet, sondern gewann durch den Jazz als musikalisches Vehikel eine zusätzliche Relevanz, der dem einzelnen Musiker per se eine gewichtige Rolle in der Umsetzung der Musik zusprach.534 Ernst Joachim Berendts positives Diktum vom Jazz als „einziger heute existierender Kunstform, in der es die Freiheit des Individuums ohne den Verlust des Zusammengehörigkeitsgefühls gibt,“535 hatte, übertragen von der Spielpraxis auf die soziale Interaktion der Protagonisten, spannungsgeladene Folgen für die Gemeinschaft der Enthusiasten. Dies zeigt sich insbesondere zu Beginn der 1960er-Jahre, als die Professionalisierung von Arbeitsund Spielweise eine Neuverhandlung des Verhältnisses von Musiker und Kollektiv nötig machte. Phänomene wie Starallüren und eine polarisierte Anhängerschaft einzelner Musiker waren seit der Birža der späten 1950er-Jahre bekannt. Im Cafè Molodežnoe führte das Verhalten einiger Musiker untereinander und gegenüber Fans und Organisatoren dazu, dass sich das Mitglied des Sowjets Alekseev 1963 zum Schreiben eines Artikels für die caféinterne Öffentlichkeit im sogenannten Presse-Bulletin genötigt sah, der unter den Mitgliedern und Stammgästen des Cafés zirkulierte.536 In persönlichem Ton und einer vorsichtigen Wortwahl nahm Alekseev eine Reihe von Ereignissen aus dem Alltag des Molodežnoe zum Anlass, um auf generelle Missstände im zwischenmenschlichen Umgang hinzuweisen. Als erstes Beispiel kritisierte er drei Jazzmusiker, die den Organisatoren Dimitrenko und Vinarov Anweisungen erteilten, mit dem Bühnenaufbau am wöchentlichen Jazzfreitag zu beginnen, anstatt selbst mit Hand anzulegen, was sie an „dem Tag, an dem sich Musiker wirklich wie Jazzmusiker fühlen können“537, eigentlich hätten tun sollen. Die hier skizzierten Starallüren der Musiker kontrastiert Alekseev ironisch mit deren Aussehen. Die „Gruppe gemäldegleicher Musiker“ sei „ausreichend geschmückt für eine beliebige Theaterszene mit Beteiligung von Anarchisten. Hier sind unrasierte und düstere Gesichter, nicht mehr ganz frische Cowboys mit ledernen Flicken auf den Ärmeln zu sehen.“538 Alekseev plädiert im Sinne eines kultivierten Erscheinungsbilds für den bereits skizzierten Dresscode des Milieus, etwa „mit weißem Hemd und Krawatte“ um die Absicht des Abends auch mit dem 534 Vgl. Stites, Russian Popular Culture, S. 127 ff.; Hosking, Beyond Socialist Realism, S. 185. 535 Berendt, Hans-Joachim: Das Jazzbuch. Von New Orleans bis in die achtziger Jahre. Überarbeitet und erweitert von Günther Huesmann. Frankfurt a. M. 2000, S. 214. 536 Vgl. Alekseev, S.: Einiges über Ethik, Pressinformation Café Molodožnoe, Privatarchiv Vinarov. 537 ebd. 538 ebd.
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Aussehen zu unterstützen. Um das Ziel zu erreichen, „dass ins Café Leute kommen, die Jazz lieben und versuchen ihn zu hören“ und „das Jazz-Thema des Abends für sie als Weg dient, die letzten Neuigkeiten bei Wurst und Erbsen auszutauschen“539, muss sich am Verhalten der Musiker selbst etwas ändern. Die von ihm beanstandeten Verhaltensmuster von Musikern, während der Auftritte von Kollegen, Kommentatoren oder dem Leiter des Abends laut zu reden, wild zu gestikulieren oder vor der Bühne herumzuspazieren, deuten auf Probleme hin, zwischenmenschliche Interaktion und ein gewisses Überlegenheitsgefühl den Gegebenheiten einer neuen Öffentlichkeit unterzuordnen. In Jugendcafés ging es aus Sicht der Enthusiasten anders als in der Sektion der Jazzliebhaber deutlicher um die Repräsentation des neuen Jazz nach außen, bei dem persönliche Befindlichkeiten hinter einen Kodex aus kultiviertem Verhalten zurücktreten sollten. Dieses Anliegen illustrierte Alekseev an einem anschaulichen Beispiel, bei dem fünf Jazzmusiker in der Öffentlichkeit einen sechsten Mitspieler demonstrativ ausgrenzten und bloßstellten. Bei einer öffentlichen Jam-Session im Molodežnoe am 4. Januar 1964 nahmen der Trompeter Andrej Tovmjasan, der Saxofonist Georgij Garanjan, der Pianist Boris Ryčkov, der Schlagzeuger Aleksandr Goretkin, der Bassist Andrej Egorov und Anatolij Gerasimov teil. Der Saxofonist, mit 19 Jahren deutlich jünger als die anderen Teilnehmer, wurde von den fünf Musikern, die sich teilweise aus dem Jazzorchester der CDRI kannten und wie Tovmjasan bereits über internationale Erfahrung und Reputation verfügten, beim Spielen ignoriert und über alle möglichen Wege ausgeschlossen. Nachdem die „Gesichter der ‚großartigen Fünf’ nicht begeistert“ erschienen und sie Gerasimov anfänglich ignorierten, sagte der Pianist Ryčkov schließlich provokativ einen „Auftritt eines armenischen Quintetts“540 an. Im weiteren Verlauf versuchten die Musiker sogar, Gerasimov „von der Bühne zu drängen und buchstäblich durch ihn hindurch zu laufen“541. Für die etablierten und lange miteinander bekannten Musiker war der junge Gerasimov auf der Bühne ein störendes Hindernis, sich gemeinsam beim spontanen Zusammenspiel öffentlich zu inszenieren. Die Jam-Session, idealtypisch als „kollektive Form des schöpferischen Suchens“ bezeichnet, kehrte sich hier symbolisch in ihr Gegenteil. Hier erschien Sie nun als Beleg fehlender Einheit unter den Musikern, von denen Alekseev „mehr Geduld und gegenseitige Rücksichtnahme“542 forderte.
539 ebd. 540 ebd. 541 ebd. 542 ebd.
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5.3.2 Das kulturelle Programm Die Zusammenarbeit mit dem Komsomol ermöglichte der anfänglich heterogenen Gruppe von Jazzenthusiasten nicht nur, sich in Klubs und Jugendcafés zu organisieren und gemeinsame normative, kulturelle und ästhetische Positionen zu entwickeln.543 Die vom Komsomol geförderten Aktivitäten richteten sich explizit auch nach außen an die städtische Gesellschaft. Diese Aktivitäten waren ein zentraler Grund, sich unter das Dach der Jugendorganisation zu begeben. Neben semiöffentlichen Plätzen jugendlicher Sozialisation bot der Komsomol durch neue legale kulturelle Praktiken eine deutliche Erweiterung der individuellen Handlungs- und Gestaltungsmacht. Das kulturelle Programm der Jazzenthusiasten ist Ausdruck dieser erweiterten Handlungsspielräume und gleichzeitig Spiegel ihrer kulturellen Leitbilder, die sie als imaginierte Gemeinschaft verbanden und die über den Jazz kanalisiert wurden. Anhand von drei Strategien, der Verbindung von Jazz und Bildung, der Transformation des Jazz von einer Tanz- zu einer Kunstmusik und der Professionalisierung seiner Praktiken, versuchte eine Gruppe von Lektoren, dieses Programm zu propagieren und eine Revision des gesellschaftlichen und politischen Bilds des Jazz zu bewirken. Viele der Konflikte um Musik nach 1953 wurden befeuert durch die Sorge von Komponisten, Lehrern und Kulturarbeitern, dass die Jugend das Interesse an sowjetischer Musik und dem progressiven klassischen Erbe verlieren würde.544 Das sowjetische hierarchische Musikmodell, mit Opern, Sinfonien und Orchesterwerken sowjetischer, russischer und europäischer Komponisten an der Spitze und der Estrada am unteren Ende, ähnelte dem musikalischen Kanon des westeuropäischen Bürgertums im 19. Jahrhundert.545 Beide teilten die Grundannahme, dass der Hörer sich Musik erst aktiv erarbeiteten müsse, um in der Lage zu sein, ihre volle Bedeutung zu verstehen. Diese Vorstellung von Bildung als notwendiger Vorbedingung für angemessenen Musikkonsum findet sich in zahllosen Konflikten um die akustische Kultur der Nachstalinzeit wieder – sei es die Reform des Musiklehrplans in Schulen oder die Parteidiskussionen darum, wie der steigende Einfluss des Westens in der Musik abzuwehren oder zumindest zu kanalisieren sei. Die Rolle von Musik als solcher und ihre gesellschaftliche Funktion rückten immer wieder ins Zentrum von Auseinandersetzungen. Die 1950er- und 1960er-Jahre waren 543 Teile des vorliegenden Unterkapitels sind publiziert worden. Abesser, Michel: Staging a Cultured Community. Soviet Jazz after 1953, in: Thomas Bohn/Rayk Einax/Ders. (Hg.), De-Stalinisation Reconsidered. Persistence and Change in the Soviet Union. Frankfurt a. M./New York 2014, S. 223–238. 544 Vgl. bspw. Chrennikov, Musikalisch-ästhetische Erziehung. 545 Vgl. Hentschel, Frank: Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776–1871. Frankfurt a. M. 2006.
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hier eine Übergangsphase. Einerseits existierten nur wenige kanonische ideologische Dokumente zur Musik. Die Langlebigkeit des Gor’kij’schen Diktums vom Jazz als „Musik der Dicken“ belegt dieses Vakuum. Andererseits begann sich die sowjetische Soziologie erst zu Beginn der 1970er-Jahre auch mit dem Thema des Musikkonsums zu beschäftigen.546 Eine Zeitungsdebatte um das Musikprogramm sowjetischer Radiosender konnte schnell zur Frage führen, ob und wann Musik überhaupt zum Amüsement oder zur Zerstreuung zu hören sei, und wann sie aktiv und bewusst konsumiert werden konnte.547 Eine Praxis, die dieses aktive und gebildete Hören fördern sollte, waren die sogenannten Vortragskonzerte. Diese wurden verstärkt seit Mitte der 1950er-Jahre durch den Komponistenverband und das kulturelle Netz der Gewerkschaften organisiert, um Wissen über Folklore und klassische Musik zu verbreiten und ihre sozialen und ästhetischen Kontexte zu vermitteln. Die ersten öffentlichen Konzerte mit improvisiertem Jazz in einem Leningrader Kulturhaus 1958 wurden als eine Vortragsreihe über die „wahre Geschichte des Jazz“ angekündigt.548 Jede dieser Veranstaltungen war um den Vortrag von einem der Enthusiasten strukturiert. Dieser nutzte Tonbandaufnahmen und Live-Performances junger Amateurgruppen zur Unterstützung, deren Spiellänge häufig von der Zahl der anwesenden Partei- oder Kulturfunktionäre abhängig war. Was zunächst als notwendige Konzession gegenüber der Leitung eines Kulturhauses erscheint, entwickelte sich bald zu einer häufig genutzten Form, mit der lokale Jazzklubs „echten Jazz“ gegenüber der Bevölkerung propagierten. Diese kulturelle Praxis in Leningrad hat in St. Petersburg bis heute überlebt. Jazzkonzerte, die dort häufig auch in Refugien der Hochkultur wie dem Kleinen Saal der Petersburger Philharmonie stattfinden, werden immer noch von einem Conférencier moderiert, der kleine Einführungen und Vorträge vor und zwischen einzelnen Stücken gibt, um so das Publikum mit spezifischen Merkmalen des Künstlers oder der Komposition bekanntzumachen. Aus Sicht der sowjetischen Behörden galt diese Moderationstätigkeit aber gleichsam als Kontrollinstrument, um den fest strukturierten Ablauf der politisch brisant erachteten Jazzkonzerte sicherzustellen. Für Vladimir Fejertag bot sich ab 1966 die Möglichkeit, bei der Leningrader Konzertorganisation als nebenberuflicher Conférencier zu 546 Vgl. L. Fedotova, Institut für Sozialforschung der Akademie der Wissenschaften Sektor Erforschung der Öffentlichen Meinung, Umfrage zum Schallplattenkonsum. im Auftrag von Melodija, 29.06.1972, Februar–März 1971 Hoover Institution Archive Boris Grushin Papers, Box 5, Folder 17. 547 Vgl. Schreiben des Chefredaktuer E. Grošev an die Abteilung für Kultur des ZK der KPdSU vom 24.03.1964 zu einer Debatte über das Musikprogramm des Radiosenders Majak, RGANI, f.5, op.55, d.129, l.63–69. 548 Vgl. Fejertag, Vladimir: Džaz ot Leningrada do Peterburga. St. Petersburg 1999, S. 78; Bericht über die Kulturarbeit im Kulturhaus Kirov, 1959, CGALI SPb, f.274, op.2, d.343.
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arbeiten. Die Richtlinien für seine Moderationstätigkeit waren eng gesteckt. Häufig wurde er angehalten, direkt nach dem Stück mit der Moderation weiterzumachen, um „antisowjetische Äußerungen in der Pause zu verhindern“549. Fejertag sieht diese Reaktionen Ende der 1960er-Jahre als Sorgen einer kleinen Minderheit.550 Während beim Konzertverlauf weitgehend staatliche Normen durchgesetzt worden seien, hätten sich für die Enthusiasten durch die Wissensvermittlung während der Moderation Freiräume eröffnet und mit der Benennung von Stücken bei Konzerten und auf Schallplattencovern die Möglichkeit ergeben, „mit der Partei zu spielen“551. Zu Beginn der 1960er war auch der erste Moskauer Jazzklub im Kulturhaus Ėnergetikov aktiv in diese Verknüpfung von Musik und Kontext involviert. In einem privaten Nachlass von einem der Klubleiter finden sich knapp 40 Dankschreiben verschiedener Organisationen für diese Vorträge. Zeitzeugen betonen, dass die städtische Moskauer Gesellschaft neugierig und bestrebt war, mehr Informationen zu einem politisch kontroversen Thema zu bekommen, als die Zeitungen anboten. Die Wirksamkeit der Lektoren resultierte auch aus dem Fehlen von Experten zu diesem Thema, das sich verschiedene Organisationen, darunter auch Vertreter des Komsomol, eingestehen mussten. „An der Moskauer Universität“, so ein Vertreter des ZK des VLKSM während einer Diskussion 1960 „wurde eine fünfstündige Debatte über Jazzmusik durchgeführt. Wenn vorher zumindest irgendjemand verstand, was den Jazz auszeichnete, so brachte diese Diskussion bei ihm alles durcheinander, weil das Ergebnis der Debatte eine Verwirrung, keine Klärung der Frage war. Wir sagten ihnen: fangt keine Diskussion an, solange ihr keinen talentierten Kunstwissenschaftler gefunden habt, der auch mit dem Auditorium sprechen kann.“552 Auch in Leningrad herrschte zu Beginn der 1960er-Jahre ein Mangel an Fachleuten westlicher Kultur. Der Komsomolvertreter des Frunzenskij-Rayon merkte bei einer Debatte zu Jugend- und Interessenklubs 1962 resigniert an, dass nicht mal der Komponistenverband über einen Experten verfügt, der mit den Teilen der Jugend diskutieren könne, die sich für Jazzmusik interessieren.553 Die Abteilung für Musikensembles (OMA), die solche Informationen gemeinsam mit dem Komponistenverband verbreiten sollte, schien weder in der Lage noch willig, diese bereitzustellen. Zaven Vartanjan, Bürokrat für „leichte Musik“ im Kulturministerium 549 Interview mit Vladimir Fejertag vom 30.10.2009. 550 Vgl. ebd. 551 ebd. 552 Stenogramm und Materialien einer Versammlung beim ZK des VLKSM und dem Ministerium für Verkehrswesen zur Diskussion über die ideologisch-politische Erziehung der Schüler höherer Klassen vom 08.04.1960, RGASPI-M, f.1, op.5, d.731, l.128. 553 Stenogramm des Jugendforums der Stadt Leningrad „Der Jugendklub und seine Probleme“, 23.–24.05.1962, RGASPI-M, f.1, op.32, d.1096, l.11.
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und selbsterklärter Gegner des Jazz, warnte 1962 in einem Artikel die musikalische Öffentlichkeit, dass sich unsere Kritik und wissenschaftliche Ästhetik ernsthaft mit der Überarbeitung des Problems der Jazzmusik beschäftigen sollte. Die Tatsache, dass wir keine klare theoretische Position in dieser Frage besitzen, führt zu abenteuerlichen Bedingungen für die Entstehung aller Arten halblegaler Jazzklubs, von denen einige sogar über „hausgemachte“ Theoretiker verfügen.554
Da diese Vorträge sich nicht nur auf Jazzthemen beschränkten, sondern mit „afrikanischer Geschichte“ oder neuen Entwicklungen in der Radio- und Tonbandelektronik eine Breite an anderen Themen abdeckten, füllten diese Bildungsaktivitäten eine große Lücke für die interessierte städtische Öffentlichkeit, die Staats- und Parteiorgane hinterließen. Nicht ohne Grund wurden viele dieser Vortragenden später Mitglieder der Gesellschaft „Znanie“, welche die sowjetische Erwachsenenbildung vertiefen sollte. Aleksej Batašev und Arkadij Petrov hielten zwischen 1965 und 1967 regelmäßige Vortragsreihen im Moskauer Polytechnischen Museum. Leonid Pereversev galt ab Ende der 1960er-Jahre über die Grenzen des Jazzmilieus hinaus als Fachmann für musikalische und ästhetische Fragen. Das Œuvre des zunächst als Ingenieur, später als Fachmann für Ästhetik und Kunstgeschichte arbeitenden Moskauers umfasst zahlreiche Publikationen aus dem Bereich des Bergbaus, der Erdbebenprognose, der Kybernetik und des Designs.555 Seine zahlreichen Arbeiten zu afrikanischer Musik und Jazz, die er in der Sovetskaja Muzyka und Muzykal’naja Žizn’ publizieren konnte, machten ihn zu einem der wichtigsten Spezialisten für Fragen der westlicher Musik des 20. Jahrhunderts.556 Ihm oblag es schließlich, den Beitrag zum Jazz für die dritte Auflage der Großen Sowjetenzyklopädie 1972 zu schreiben.557 554 Vartanjan, Zaven: Seinen eigenen Stil entwickeln, in: Sovetskaja Muzyka (1962), 8, S. 20. 555 Vgl. hierzu ausführlich die Gedächtnisseite des Instituts für neue Technologien in der Bildung für Pereversev, an dem er 20 Jahre tätig war (http://www.int-edu.ru/lbp/, letzter Zugriff 30.04.2018). 556 Pereversev, Leonid: Antologie afrikanischer Musik, in: Sovetskaja Muzyka (1959), 11, S. 149–150; Ders.: Afroamerikanische Küstler in der UdSSR, in: Sovetskaja Muzyka (1959), 9, S. 135–136; Ders.: Musik Westafrikas, in: Sovetskaja Muzyka (1960), 6, S. 182–187; Ders.: Benny Goodman und sein Orchester, in: Muzykal’naja Žizn’ (1962), 12, S. 18–19; Ders.: Gäste aus Japan, in: Muzykal’naja Žizn’ (1962), 19, S. 17; Ders.: Auftritt des jugoslawischen Jazz, in: Muzykal’naja Žizn’ (1962), 18, S. 15; Ders.: Arbeiterlieder des afroamerikanischen Volkes, in: Sovetskaja Muzyka, (1963), 8, S. 125–128; Ders.: Tänze der Insel Bali, in: Sovetskaja Muzyka (1963), 9, S. 87–88; Ders.: Afrikanische Sinfonie, in: Sovetskaja Muzyka (1964), 4, S. 121–130; Ders., Subbotin, Leonid M.: Über die Genauigkeit der Klangwiedergabe, in: Sovetskaja Muzyka (1960), 4, S. 152–154. 557 Art. „Džaz“, in: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija, 3. Aufl., Moskau 1969–1978, 30 Bde., Bd. 8 (1972), S. 184–185.
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Arkadij Petrov verfasste zahlreiche Artikel über die Entwicklung von Jazz, Rock und Popmusik und leitete zwischen 1965 und 1969 die einzige Jazzsendung des Moskauer Radios „Metronom“.558 Vladimir Fejertag veröffentlichte gemeinsam mit dem Schlagzeuger Myzovskij 1960 die erste kleine Publikation, die sowjetische Leser mit der Geschichte des Jazz in den USA und der Sowjetunion bekannt machte.559 Jurij Vermenič organisierte ab Mitte der 1960er-Jahre in Vornonež ein umfangreiches Samizdatprojekt mit mehreren Teilnehmern unter dem Namen GID (Gruppa issledovately džaza), das bis Mitte der 1970er-Jahre 35 ausländische Publikationen zum Jazz übersetzte und im Samizdat verbreitete.560 Die Vorträge zu Konzerten und Moderationen während der Konzerte etablierten sich als kulturelle Praxis, nicht ohne auch auf Kritik wegen ihres zunehmend ritualisierten Charakters zu stoßen. Das Publikum dieser Konzerte brachte ab Mitte der sechziger Jahre häufig das nötige Wissen bereits mit. Der Trompeter und Komponist German Lukjanov kritisierte in einem Interview 1990 diese anhaltende Praxis: „Was Herr Batašev nicht versteht ist, dass Leute, die diese Konzerte besuchen, bereits Experten für Jazz sind und keine Erklärungen von ihm benötigen.“561 Diese paternalistische Grundhaltung gegenüber dem Publikum verweist auch auf eine zentrale Gemeinsamkeit zwischen Jazzenthusiasten und sowjetischer Ideologie. Die Bemühungen der Jazzenthusiasten zur Aufklärung blieben grundsätzlich im sowjetischen ideologischen Rahmen von Wahrheit und Nichtwahrheit verhaftet.562 Die propagandistischen Bemühungen des Regimes, den Jazz zu marginalisieren, betrachteten diese als „falsche Propaganda“, der sie mit „Gegenpropaganda“ entgegenwirken mussten, um die „wahre Natur des Jazz“ der breiten Bevölkerung zu enthüllen. Neben dem Bildungsaspekt spielte die Frage der Performance in diesen Strategien eine zentrale Rolle. Jazz, wie er von zahllosen Amateurgruppen in den 1950er-Jahren gespielt wurde, orientierte sich klar am amerikanischen Swing der 1930er- und 40er-Jahre. Radiosendungen der Voice of America übertrugen diese Musik durch den eisernen Vorhang. Sogenannte Trophäenfilme aus dem Deutschen Reich und amerikanische Filme der ehemaligen Alliierten wie der Glenn-MillerFilm „Sun Valley Serenade“ machten Jazz in sowjetischen Kinosälen bis Ende der 1940er-Jahre hörbar. Im privaten Raum konnte die Musik im Spätstalinismus auf von Kriegsheimkehren eingeschmuggelten westeuropäischen Schallplatten 558 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 226. 559 Vgl. Myzovskij, V./Fejertag, V.: Džaz. Kratkij očerk, Muzgiz. Leningrad 1960. 560 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 227–228. 561 Zitiert nach Minor, William: German Lukianov, of Moscow, in: The Massachusetts Review, 32 (1991), 3, S. 359–378, hier S. 371. 562 Vgl. dazu Rolf, Kanon und Gegenkanon.
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gehört werden. Zum Ärger der kommunistischen Partei erreichten bis Ende der 1950er-Jahre auch polnische, tschechoslowakische und ostdeutsche Schallplatten den sowjetischen Markt, die die sowjetischen Handelsorganisationen als Garant der eigenen Planerfüllung freizügig importierten. Amateurensembles spielten häufig als Tanzgruppen bei Studentenabenden und auf lokalen Tanzplätzen, bessere unter ihnen auch vor Ausländern und einer im Privaten ganz und gar nicht vergnügungsfeindlichen Parteibürokratie in Hotels und geschlossenen Restaurants. Sie boten vielerorts einen attraktiven Ersatz für die sowjetische Estrada, die sich immer noch von den ästhetischen und finanziellen Restriktionen der letzten Stalinjahre erholte. Die Wahrnehmung des Jazz als einer subversiven oder vulgären Tätigkeit durch Partei und große Bevölkerungsteile speiste sich hauptsächlich aus der vorwiegenden Tanzpraxis. Hinzu kam, dass sich erst im Laufe der 1960er-Jahre ein ideologisch weniger belastetes und damit analytisches Verständnis des Jazz etablierte, mit dem zuvor pauschal Jazz, Twist und Rock ’n’ Roll, besonders von seinen Gegnern, subsumiert wurde. Aleksandr Šelepin, der erste Sekretär des Komsomol, warnte 1957 explizit davor, dass „Teile unserer Jugend sich unnötig für westliche Tänze, leichte Jazzmusik begeistern und aus dem Untergrund Schallplatten kaufen.“563 Diesem Zusammenhang von Tanz, Musik und Illegalität stellte er danach die klassische Musik gegenüber. „Es ist schade“, so Šelepin, „dass große Teile der Jugend zunehmend weniger Interesse an klassischer Musik vaterländischer und ausländischer Komponisten zeigen.“564 Dem sowjetischen Kulturbetrieb gelang es in der Tat nie, eine attraktive sozialistische Alternative zu den verschieden populären westlichen Tänzen dieser Zeit zu schaffen. Der positive Verweis auf den Lipsi als einen vom Staat geschaffenen „erfolgreichen Jugendtanz“ durch Dmitrij Šostakovič in der Eröffnungsrede des vierten Plenums des sowjetischen Komponistenverbands im November 1962 verweist auf ein anhaltendes Problem sozialistischer Jugendpolitik im Ganzen.565 Neben dem von der Partei beschworen politischen Bedrohungsszenario aufgrund ihrer westlichen Herkunft wurde diese Form von Tänzen auch als unkultiviert wahrgenommen. Sie schienen keinerlei erzieherische, kognitive oder intellektuelle Bemühungen zu erfordern. Einer der Vorträge, die der Leiter des ersten Moskauer Jazzklubs Alexej Batašev bei zahllosen Versammlungen des Komsomol, der Gewerkschaften und des Komponistenverbandes hielt, gab Ratschläge für die Organisation eines kultivierten
563 Rede Šelepins auf dem VII. Plenum des CK des VLKSM am 26. und 27.02.1957, RGASPI-M, f.1, op.2, d.356, l.100. 564 ebd. 565 Eröffnungsreferat von Dmitrij Šostakovič auf dem vierten Plenum der Verwaltung des Sowjetischen Komponistenverbands zu sowjetischer Lied- und Estradamusik, 13.–28.11.1962, RGALI, f.2490, op.2, d.28, l. 11.
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Abends für die sowjetische Jugend.566 Bei der Erfüllung der kulturell-erzieherischen Aufgaben, so Batašev, komme der Musik als „Werkzeug für das ästhetische Programm“567 eine Schlüsselrolle zu. Ein solcher Abend muss demnach inhaltsreich und interessant gestaltet werden, da die Jugend nicht kommt, um einfach nur einen „ziellosen Abend zu verbringen“568. Anders als Ensembles auf Tanzplätzen, deren Aufgabe „leider in der Einhaltung des engen Rahmens inhaltsleerer Unterhaltsamkeit oder in der mechanischen Wiedergabe von Tanzmusik“ bleibe, haben Ensembles von Jugendcafés ein seinem Inhalt nach vielfältiges Programm zu bieten, dessen „erhöhte Anforderungen von den kulturellen Bedürfnissen der modernen sowjetischen Jugend diktiert werden“569. In dieser Konzeption schließt Batašev das Tanzen im Jugendcafé nicht grundsätzlich aus, sondern beschreibt es als einen elementaren Teil interessanter Abendgestaltung durch Sowjet und Ensemble, das „lebensbejahend und froh“ sein soll und helfen kann, „gegen jedwede Form von Tanzperversionen („tanceval’nye izvraščenija“) zu kämpfen“. Wichtiger sei jedoch Musik zum Hören und nicht zum Tanzen, worunter klassische Kammermusikstücke ebenso wie „Konzertwerke der Jazzmusik“ fallen können. Um den besten Effekt für den Zuschauer zu erzielen, sei eine Teilung in 30 Minuten Tanzmusik und 20 Minuten ernste Musik zu empfehlen, wobei in den Pausen keine Musik gespielt werden solle, damit die Konzentration des Zuschauers nicht überfordert werde. In diesem skizzierten Rahmen sieht Batašev ausreichend Raum für den Auftritt von Laienjazz- und Estradaensembles. Diese sollten sich aber klar definiert entweder einem Konzertprogramm mit Jazz, der nicht zum Tanzen geeignet ist, der Tanzmusik oder der Begleitung eines Liedsängers widmen.570 In diesem Vortrag integriert Batašev die offiziell formulierten Anforderungen an die Arbeit der Jugendcafés. Tanzmusik hat aus erzieherischen Gründen seinen Platz im Programm, auch wenn die Inneneinrichtung des Sinjaja Ptica, des Aelita, Molodežnoe und später des Café RITM gar nicht über eine genügend große Tanzfläche verfügte. Die strikte Trennung der musikalischen Genres, die dort gespielt werden sollen, ist somit mehr als nur ein ideologisches Zugeständnis an das Auditorium des Komponistenverbands. Jazz als Musik zum Hören und nicht zum Tanzen, die von kurzen Vorträgen zum Künstler, seinem musikalischen Stil und historischen Aspekten ergänzt wird, würde „das tiefe Verständnis der musikalischen Werte und der inneren Unterschiede zwischen ernster und leichter Musik beim Hörer begünstigen“571. Jazz wurde hier zum 566 Batašev, Musik in Jugendcafés. 567 ebd. 568 ebd. 569 ebd. 570 Vgl. ebd. 571 ebd.
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Medium der erzieherischen Botschaft stilisiert, die einem sitzenden, interessierten und konzentrierten Publikum vermittelt werden sollte. Diese auf den ersten Blick eher taktischen Argumente ergeben kontrastiert mit dem Binnenleben der Klubs ein differenzierteres Bild. Der erste Moskauer Jazzklub im Kulturhaus Ėnergetikov geriet mehrfach in die Kritik von Partei und Komsomol. Diese warfen den Betreibern vor, ihrer Aufgabe der Propagierung von Musik unter der Jugend des ganzen Stadtbezirks nicht nachzukommen. In dieser angespannten Situation brachte ein einzelner Vorfall während eines der Konzerte den Klub an den Rand der Schließung. Die Organisatoren wurden mit dem Vorwurf konfrontiert, dass im Raucherraum des Klubs mit selbstgemachten Rock-‘n’-Roll-Schallplatten gehandelt wurde, jener auf benutzten Röntgenfolien maschinell kopierten Musik, die als „Rock auf den Knochen“ („Rok na kostjach“) ikonische Qualität erlangte.572 In einer eilig anberaumten Krisensitzung des Klubrates führte der Saxofonist Alexej Kozlov dieses Ereignis indirekt auf die Forderungen des Komsomol nach Propagierung von Musik für alle Schichten der Bevölkerung zurück: „Wir, die Musiker, sind nicht daran interessiert, für die zu spielen, die von überall her kommen und – so scheint es mir – den Jazz nicht verstehen, sondern für den Teil der Jugend, dem unsere Arbeit eigentlich gewidmet ist.“573 Zwei Jahre später war Kozlov in einer deutlich besseren Position, sein Publikum auszuwählen und dessen Verhalten zu regulieren. 1963 spielte er regelmäßig im populären Jugendcafé Molodežnoe und war gleichzeitig Mitglied des dortigen Sowjets, dem der Komsomol die Organisation des Cafés anvertraute. In seinen Memoiren schreibt Kozlov: „Ich wurde vollkommen überrascht, als während unserer Konzerte, und manchmal sogar in der Pause Leute versuchten zu tanzen, selbst wenn wir ruhige klassische Musik auf die Anlage legten. Gott sei Dank verfügte ich diesmal über Mittel, die Situation zu kontrollieren – ich nutzte ein einfaches Mittel, das häufig in solchen Situationen verwendet wurde – die freiwillige Schutztruppe des Komsomol.“574 Die Družiniki, von Historikern bisher hauptsächlich als Vollstrecker des wachsenden Konformitätsdrucks auf Jugendliche untersucht, wurden dankbar eingesetzt, um jene, „die Ärger suchen“, von den Konzerten fernzuhalten und unter den Hörern angemessenes Verhalten durchzusetzen. „Schrittweise“, so Kozlov, „gelang es uns, die Besucher der ‚Molodežnoe‘ daran zu gewöhnen, sich adäquat zu verhalten.“575 572 Vgl. Protokoll der allgemeinen Versammlung der Sektion der Jazzliebhaber vom 30.10.1960, Privatarchiv Batašev. Zum Status der selbstgemachten Schallplatten: Troitzky, Back in the USSR, S. 7–8; Zum wiedererwachten Interesse des Westens an diesem Phänomen siehe auch: Coates, Stephen (Hg.): X-Ray Audio. The strange story of Soviet Music „On the Bone“. London 2015. 573 Protokoll allgemeine Versammlung 30.10.1960. 574 Kozlov, Džaz, S. 166. 575 ebd., S. 167.
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Indem Jazz in eine Konzertmusik verwandelt wurde, sicherten sich die jungen Musiker die Unterstützung sowjetischer Organisationen und einzelner Komponisten, wie Dmitrij Šostakovič und Vano Muradeli. Sie etablierten gleichzeitig eine Umgebung, in der sie sich und ihr Streben nach authentischer und moderner Musik in das Zentrum der Aufmerksamkeit eines gebildeten Publikums rücken konnten. Basierend auf den Erfahrungen der Zeit an der Birža und den dort gewonnenen Vorstellungen von kulturellen Hierarchien boten Klubs und Cafés nun die Räume, in denen die Trennung von Jazz und Tanzen gerechtfertigt werden konnte. Die Fans von Twist und Rock ’n’ Roll, mit häufig anderem Bildungshintergrund, wurden zunehmend als störend und bedrohlich wahrgenommen, nicht zuletzt, weil sich zwischen Enthusiasten und Parteifunktionären ungewollt ein wachsender Konsens über die Stereotype von „billiger, kommerzieller“ und „seelenloser, unkultivierter“ Musik einstellte. Auch die Altersdifferenz zwischen den ersten Jazzenthusiasten und der steigenden Zahl an Fans von Rock-Musik, der der Komsomol ab den 1960er-Jahren steigende Aufmerksamkeit schenkte, spielte hier eine Rolle. Persönlichen Geschmack als politisches Argument zu verwenden, verlor im Laufe der 1960er-Jahre für die Jazzenthusiasten nicht an Attraktivität. In einem Begründungsschreiben für die Notwendigkeit eines Jazzfestivals im folgenden Jahr schrieb Vladimir Fejertag 1966, dass „das Festival […] einen fühlbaren Schlag gegen die hyperbolisierte Erhöhung westlicher Popmusik“576 führe. „Für einen großen Teil der Jugend“, so Fejertag weiter, „die gefesselt ist von den primitiven rhythmischen Formeln der Popschlager oder betäubt von der unglaublichen Verstärkung der Gitarren-Schreihals-Ensembles, kann Jazz ein Tor in die Welt der wirklichen Kunst sein.“577 Die dritte Strategie der Jazzenthusiasten bezog sich auf Qualifikation und Professionalismus. Improvisation war das musikalische Merkmal, das aus Sicht der Protagonisten jenen neuen Jazz vom sowjetischen Traditionsbestand unterscheiden sollte. Diese musikalische Technik musste neu bestimmt und angepasst werden, wollte man päjorative Bedeutung überwinden, die die sowjetische Propaganda durch Begriffe wie Stümperei („chaltura“) generierte. Eine Reaktion auf diese Marginalisierung der Improvisation in der offiziellen Kultur war die ironische Adaption dieses Begriffs durch die Enthusiasten. „Chaltura“ bezeichnet hier nun jede Form des spontanen Zusammentreffens von Jazzmusikern zum gemeinsamen Spiel, während die Verbform („chalturit’“) das Improvisieren selbst bezeichnete. Als Konzept zur Organisation von Musik löst Improvisation die funktionale Trennung zwischen Komponist, Musiker und Publikum auf, eine Trennung, die ein 576 O. A. „Über die unbedingte Durchführung eines Festivals für Jazzmusik“ o. D.[1967], Privatarchiv Natan Lejtes. 577 ebd.
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tragendes Element des Sozialistischen Realismus in der Musik war.578 In der zweiten Auflage der Großen Sowjetenzyklopädie, in der dem Jazz jeglicher Charakter als Musik abgesprochen wurde, wurde Improvisation als historisches Konzept der Musik von Urvölkern und der musikalischen Kultur bis zum 18. Jahrhundert beschrieben, dem „in der modernen professionellen musikalischen Praxis keine nennenswerte Bedeutung zukam.“579 Darüber hinaus warnte der Artikel vor den Folgen der Praxis für die Entstehung eines vollwertigen musikalischen Werkes. „Die einseitige Begeisterung für die Improvisation, die zum Schaden der konstruktiven Ganzheit der Idee führt, verursacht nicht selten Chaos und Zerstreutheit des musikalischen Denkens.“580 Hinter diesen eher theoretischen Überlegungen, deren Resonanz sich auf eine kleine Gruppe beschränkte, findet sich eine breitere Erklärung für die Ablehnung der Improvisation. Diese Ablehnung, die viele Kulturarbeiter und breite Teile der Stadtbevölkerung teilten, erwuchs daraus, dass Improvisation für sie eine „unwürdige Abkürzung eines jahrzehntelangen Prozesses von intensivem Lernen darstellte“581. Die politisierten Debatten zu diesem Thema nach 1953 können somit nicht nur als Ideologiegefechte, sondern auch als Konflikte um die Interpretationsstrategien von Kunst betrachtet werden, die während der Stalinzeit vermittelt wurden.582 In öffentlichen Debatten und Zeitungsartikeln bestand für die Verfechter des Jazz also die Aufgabe, das Element der Spontanität herunterzuspielen und die musikalische Qualifikation des Spielers und seine Beherrschung des Instruments zu betonen. Neben dem Modernen und Zeitgenössischen des Jazz wurden in diesen Auseinandersetzungen um Improvisation und deren möglichen Wert für die sowjetische Kultur nun das Authentische sowie die notwendige Qualifikation und der Professionalismus der Musiker hervorgehoben. Ein Teil des Professionalisierungsprozesses der Jazzmusiker, den der Komponistenverband im Umfeld der Jugendcafés institutionell und über persönliche Patronage unterstützte, war zunächst die Beherrschung des Instruments und die Fähigkeit, Noten lesen zu können. Gerade innerhalb des Milieus der Musiker wurde das Erlernen dieser Fähigkeiten immer wieder gefordert. Der Appell des Schlagzeugers Bulanov an die Musiker des
578 Vgl. Frolova-Walker, Marina: The Glib, the Bland, and the Corny. An Aesthetic of Socialist Realism, in: Roberto Illiano/Massimiliano Sale (Hg.), Music and Dictatorship in Europe and Latin America. Brepols 1993, S. 403–423. 579 Art. „Improvizacija“, Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija, 2. Aufl. Moskau 1949–1960, 49 Bde. Moskau 1949–1960. 580 ebd. 581 Interview mit Rostislav Vinarov vom 07.07.2009, Interview mit Aleksej Batašev vom 09.06.2009. 582 Vgl. dazu Reid, In the Name of the People.
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Molodežnoe, „sechs Stunden am Tag zu üben, bis man sich den Jazz angeeignet hat“583 zielte auf diese Selbstdisziplinierung. „Dem“ so Bulanov, „der keine Noten lesen kann, wird im Jazz wie in jeder anderen Musik nichts gelingen.“584 Ein Schlüsselereignis für diese Normsetzung unter den Jazzmusikern und in der öffentlichen Kommunikation war das IV . Plenum des Komponistenverbandes der Sowjetunion im November 1962, das sich Fragen der „Folklore“ und der „leichten Musik“ widmen sollte.585 Während der zweitägigen Veranstaltung spielten erstmals mehrere junge Jazzbands aus dem Amateur- und Profibereich, deren Musik anschließend direkt von den Teilnehmern kontrovers diskutiert wurde. Der junge Ingenieur und Jazzmusiker Konstantin Bacholdin war einer der ersten Redner. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich nach zehn Jahren intensiver Tätigkeit in der musikalischen Schattenwirtschaft Moskaus das Posaunespiel so gut angeeignet, dass Oleg Lundstrem ihn für sein prestigeträchtiges Jazz Orchesters rekrutierte. In seinem Redebeitrag stellte er zunächst fest, dass „der sowjetischen Estrada jede wissenschaftliche Grundlage fehlte“586 Weder das System der Ausbildung von Komponisten und Musikern noch die Kategorien, die für die Evaluation der Qualität von Musik nötig sind, würden auf soliden Definitionen und Konzepten basieren. Dies sei vollkommen wider dem Trend der wachsenden Bedeutung von rationalen und wissenschaftlichen Methoden bei der Lösung von Problemen. Felder wie Genetik und Kybernetik, die früher als bourgeoise Abweichungen diffamiert wurden, sind jetzt breit anerkannte Fachgebiete. Man beachte nur unsere Raketen im All oder den Flug um den Mond. Dasselbe gilt für die Musik und ihre Rolle in der Gesellschaft. Wir sollten unsere Errungenschaften der Musikwissenschaft nutzen, um weitere Möglichkeiten zu erhalten, auf den Hörer einzuwirken.587
Weitere Redner, auch Gegner moderner Jazzmusik, bezogen sich im weiteren Verlauf auf Bacholdins Aussagen, dann etwa, wenn die fundamentale Verbesserung der Musikausbildung für die Estrada verlangt wurde, oder die Bedeutung rationaler Kategorien bei der Bewertung der Qualität einer Jazzkomposition eingefordert wurde.588 Improvisation, so der Tenor vieler Teilnehmer, könne eine
583 Bulanov, V.: Ein Schlagzeuger über die Probleme im Jazz, Pressebulletin „Molodožnoe“, Privatarchiv Vinarov. 584 ebd. 585 Viertes Plenum 13.–18.11.1962. 586 ebd. l.24–28. 587 ebd. l.27. 588 So bspw. Der Korrespondent der Zeitung A. Mitrofanov, Viertes Plenum , l.28.
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wertvolle Bereicherung sowjetischer Musik darstellen, wenn sie denn von rational ausgebildeten und qualifizierten Musikern gespielt würde. Diese Argumente für Effizienz und rationelle Zugänge zu künstlerischen Problemen prägten auch die internen Diskussionen innerhalb der Jazzklubs. Deren Verwendung korrespondiert mit dem generellen Glauben der Zeit, dass alle Probleme der sowjetischen Gesellschaft mit den Möglichkeiten der Wissenschaft zu lösen sein.589 Die junge technische Intelligencija, die sich im Jazz engagierte, wurde zu einem Transmitter, der diese rationalen Paradigmen in die kultureller Sphäre und deren Freiräume übertrug. Ausschlaggebend für die Akzeptanz der Improvisation war die Frage der Qualifikation und Intention des Künstlers. 1962 konnte die Existenz eines eigenen sowjetischen Jazz nicht länger geleugnet werden. Da nun über den sowjetischen Charakter des Jazz diskutiert und dessen Entwicklungsmöglichkeiten durch die staatliche Kulturpolitik erörtert wurden, schien die Improvisation jetzt zu den akzeptierten Merkmalen des Jazz zu gehören. Auf der Basis nationaler Melodien konnte so ein eigenständiger Jazz entwickelt werden. Dazu zählten „rhythmische Schärfe, Eigenart der Intonation, Synkopierung und Verfahren der Soloimprovisation.“590 Jedoch erst ein Künstler, der sich durch Selbstdisziplin musikalische Fähigkeiten aneignete und das eigene Spiel anhand rationaler Kriterien kritisch beurteilte, demonstrierte das nötige Bewusstsein, das die sowjetische Gesellschaft idealtypisch von einem mustergültigen Bürger und Künstler erwartete. Erst mit der Rahmung der bewussten, auf akzeptierten Fähigkeiten basierenden Entscheidung konnte der Künstler ein auf Spontanität basierendes Stilmittel wie die Improvisation verwenden. Dieses Ideal wurde auch nach innen kommuniziert und im Laufe der 1960er-Jahre zum Zugehörigkeitscode der Jazzenthusiasten. In diesen Prozessen kultureller Anerkennung findet sich somit ein Narrativ der Bewusstwerdung wieder, das Katarina Clark als zentrales Element für die sowjetische Novelle der Stalinzeit herausgearbeitet hat.591
5.3.3 Kak ėtot delalos’ v Leningrade – Jazz und städtische Identität Ein Katalysator für den bereits skizzierten Alušta-Skandal war die negative Referenz auf den Mythos des kultivierten Leningrads. Der Autor des kritischen Zeitungsartikels sah diesen durch das Jazzorchester von Georgij Nisman beschmutzt.592 589 590 591 592
Vajl, Petr L./Genis, Aleksandr A.: 60-e. Mir sovetskogo čeloveka. Moskau 1996, S. 100–106. Dolinskij, M./Čertok, S.: Metamorphosen des Jazz, in: Sovetskaja Kul’tura, 30.07.1962. Clark, Katerina: The Soviet Novel. History as a Ritual. Chicago [u.a.] 1985. Der vorliegende Absatz ist in leicht veränderter Form bereits publiziert worden. Abesser, Michel: Das New Orleans an der Newa. Leningrad und die Sowjetisierung des Jazz in den fünfziger und
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Während also an der Schwelle zu den 1960er-Jahren der Jazz in seiner Inszenierung durch junge Nachwuchsmusiker mit der Wesenszuschreibung einer sozialistischen Stadt noch unvereinbar schienen und politische Sprengkraft barg, hatte sich bis 1966 etwas Grundlegendes geändert. In der offiziellen Leningrader Tageszeitung des Komsomol Smena zog Vladimir Fejertag, einer der Leningrader Organisatoren der Jazzszene, Bilanz über das zweite städtische Jazzfestival: „Unser Jazz“, so Fejertag, „ist in den letzten Jahren unermesslich gewachsen. Der Maßstab der Leningrader Konzerte und das Niveau des Könnens der aufgetretenen Gruppen stehen wohl kaum dem anderer internationaler Festivals nach.“593 Der kritische Lokaljournalist aus Alušta bezog sich explizit, Vladimir Fejertag implizit, auf die Frage nach offiziellen Zuschreibungen von Stadtidentitäten in der Sowjetunion. Leningrad stellte insofern einen besonderen Fall dar, als diese Stadt über dreihundert Jahre in einem dichotomen Verhältnis zu Moskau stand und bis heute steht. Die Konkurrenz zwischen beiden „russischen Hauptstädten“ ist eine Grundkonstante neuerer russischer Geschichte, auf die immer wieder elementare Fragen über politische Orientierung oder religiöse Ausrichtung des Landes projiziert wurden. Mit der Gründung von St. Petersburg 1703 durch Zar Peter den Großen als neue Hauptstadt des russischen Reiches war die alte Zarenhauptstadt Moskau marginalisiert worden, während gleichzeitig Russland zum aktiven Spieler der europäischen Politik und Kultur aufstieg. Mit der russischen Revolution erfuhr das Verhältnis hinsichtlich politischer Macht eine Kehrtwende, als die Bolševiki die Hauptstadt 1918 von Petrograd nach Moskau verlegten. Erstere wurde 1924 in „Leningrad“ umbenannt und damit zum Symbol der Unterwerfung der kosmopolitischen Stadt unter die sowjetischen Herrschaftsbedingungen.594 Die regelmäßige Rotation politischer Kader zwischen dem Zentrum und der Peripherie, aber auch politische Säuberungen im Stalinismus gegen vermeintliche und echte regionale Netzwerke schwächten städtische Eliten in Leningrad und anderen städtischen Zentren der Sowjetunion. 595 Der stark zentralisierte Staat bündelte die politische Entscheidungsgewalt in Moskau. Darüber hinaus entfaltete diese Zentralisierung wichtiger wirtschaftlicher, militärischer und kultureller Einrichtungen eine sechziger Jahren, in: Zeitgeschichte in Hamburg 2012, hrsg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte. Hamburg 2013, S. 29–46. 593 Fejertag, Es erklingt Jazz. 594 Vgl. Listing, Cirstin: Die Rivalinnen. 300 Jahre Streit zwischen Moskau und St. Petersburg um die kulturelle und politische Vorherrschaft, in: Berliner Osteuropa Info 20 (2003), S. 31–37, hier S. 33; Zur Rolle St. Petersburgs/Leningrads für das sowjetische Projekt bis Ende der 1920er-Jahre siehe auch: Clark, Katerina: St. Petersburg. Crucible of Cultural Revolution. Cambridge, Mass. [u.a.] 1995. 595 Ruble, Blair A.: The Leningrad Affair and the Provincialization of Leningrad, in: Russian Review 42 (1983), S. 301–320; Tromly, Benjamin: The Leningrad Affair and Soviet Patronage Politics, 1949–1950, in: Europe-Asia Studies 56 (2004), S. 707–729.
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Sogwirkung auf die technischen, wissenschaftlichen und kulturellen Eliten der Regionen. In vielerlei Hinsicht waren sowjetische Stadtidentitäten stark reguliert und auf ein ausgewähltes Set an historischen Ereignissen und kulturell vermeintlich spezifischen Eigenschaften reduziert. Die Etablierung des Titels der „Heldenstadt“ nach dem Zweiten Weltkrieg gilt als der größte Eingriff des Staates in die Topografie sowjetischer Stadtidentitäten. Mit anhaltender Skepsis blickte der Kreml auf das zweite Zentrum des Landes, das als politisch unzuverlässig galt und zu kosmopolitisch dachte.596 Leningrad wurde nicht nur politisch marginalisiert, sondern mit Blick auf seine Rolle als europäische Kulturmetropole provinzialisiert. Die sowjetischen Eliten codierten wiederum Moskau zum Hort des Fortschritts und der Befreiung.597 In den durch das Zentrum formulierten offiziellen Identitätszuschreibungen galt Leningrad als „Wiege der Revolution“, „die Stadt Lenins“ und eine „Heldenstadt“, die der 900 Tage währenden deutschen Belagerung unter hohen Opfern widerstanden hatte.598 Im Kontext der politischen und wirtschaftlichen Asymmetrie zwischen beiden Städten verblieb Leningrad nur das Feld der Kultur als Kompensation, auf dem Selbstbehauptung und Konkurrenz gegenüber Moskau möglich waren. Dies zeigt sich in der inoffiziellen Sphäre, wo der Leningrader Untergrund („Andergraund“) ab den 1960er-Jahren seine Kultur aus „Samizdat“, Küchenkonzerten kritischer Liedermacher und Ausstellungen abstrakter Kunst als Alternative zum autoritären Moskauer Modell inszenierte.599 Die Dynamik des eingangs erwähnten Skandals macht deutlich, dass aber auch die lokale Parteiführung höchst sensibel mit dem offiziellen Bild des kultivierten Leningrads umging. In Leningrad wie in anderen sowjetischen Städten auch konnte die Integration des Jazz in die offizielle Kultur darüber hinaus eine Erneuerung und Erweiterung der städtischen Identität bewirken. Als solche kann man „schichtenunspezifische Selbst- und Fremdwahrnehmung, die sich auf die Geschichte, Struktur, natürliche und architektonische Formen und politische Haltungen beziehen kann“600, verstehen. 596 Vgl. Listing: Rivalinnen, S. 33. 597 Vgl. Clark, Katerina: Moscow, the Fourth Rome. Stalinism, Cosmopolitism, and the Evolution of Soviet Culture, 1931–1941. Cambridge 2011. 598 Vgl. Ganzenmüller, Jörg: Das belagerte Leningrad 1941–1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern. Paderborn [u.a] 2005. 599 Vgl. Zdravomyslova, Leningrad’s Saigon; V. Dolinin/Severiuchin, I. A.: Samizdat Leningrada, 1950-e-1980-e. Literaturnaja Ėncyklopedija. Moskva 2003. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der mystifizierten „zweiten Kultur“: Savickij, Stanislav: Andergraund. Istorija i mify Leningradskoi neoficial’noj literatury. Moskau 2002; Komaromi, Ann: The Unofficial Field of Late Soviet Culture, in: Slavic Review 66 (2007), S. 605–629. 600 Obertreis, Julia: Die Leningrader Kultiviertheit (Kul’turnost’) im 20. Jahrhundert, in: Thomas Bohn (Hg.), Von der „europäischen Stadt“ zur „sozialistischen Stadt“ und zurück? Urbane Transformationen im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts. München 2009, S. 311–334, hier S. 312.
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Die materielle Ausgestaltung der sowjetischen Stadt vollzog sich durch den Zentralstaat geplant idealiter anhand des zentral Musters der „sozialistischen Stadt“ und nicht wie in Westeuropa kommunikatives Handeln zwischen Stadtoberen und Bürgern. In jeder sozialistischen Stadt existierten neben der Familie eine Reihe von Institutionen, deren Form und Funktionsweise zwar zentral hierarchisiert und auf soziale Kontrolle und Mobilisierung ausgerichtet waren, die aber auch als Orte der Kommunikation über städtische Kultur verstanden werden können.601 Gerade in Bezug auf kulturelle Selbstwahrnehmung in Leningrad sollten daher Kulturhäuser und -paläste, Klubs und Jugendcafés des Komsomol oder Cafés wie das „Saigon“ nicht nur als Orte sowjetischer Machtentfaltung untersucht werden. In ihnen wurden auch die Topoi städtischer Kultur verhandelt, erneuert und vermittelt.602 Die Erneuerung und Erweiterung der Leningrader Stadtidentität durch den Jazz ist hier zu verorten. Sie vollzog sich durch eine Reihe kultureller Praktiken, durch stilistische Abgrenzungen im Bereich der Musik und die Neuerfindung einer eigenen progressiven Jazztradition gegenüber Moskau. Ein Teil der Petersburger Stadtidentität war die „Kul’turnost’“, die Julia Obertreis als „Verhaltenskodex und Wissensimperativ zur Integration“603 der ständig nachströmenden bäuerlichen Bevölkerung in die Stadt beschrieben hat. „Kul’turnost’“ umfasst ein breites Set an Regeln und Vorstellungen zu Hygiene, Verhalten, Kleidung, Kulturkonsum, Wohnungseinrichtung, Wortwahl und Literatur. Der Begriff hat seinen Ursprung in der bürgerlichen Petersburger Kultur der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und nahm in der Folge maßgeblichen Einfluss auf die Zivilisierungskampagne der stalinistischen 1930er-Jahre. Trotz des nach 1917 marginalisierten Bürgertums überdauerten so bestimmte Formen bürgerlicher Wertevorstellungen und Freizeitformen die gravierenden politischen und sozialen Verwerfungen der ersten Jahrhunderthälfte. Diese vorrevolutionären Traditionsbestände und Vorstellungen sind jedoch keinesfalls als statisches Reservoir zu verstehen, das die Sowjetzeit unverändert überstand, sondern waren, wie am Beispiel der Frage des traditionellen architektonischen Erbes deutlich wird, Thema zahlloser Konflikte.604 Teil der Vorstellung von „Kul’turnost’“ war eine aktive Form von Selbstbildung und der Weitervermittlung von kulturellem Wissen und Techniken des legitimen Kulturkonsums. Auf die Musik übertragen, zeigen sich 601 Vgl. Christman, Gabriela: Städtische Identität als kommunikative Konstruktion. Theoretische Überlegungen und empirische Analysen am Beispiel von Dresden, in: Institut für Höhere Studien (IHS), Wien, Reihe Soziologie, 57 (2003), S. 1–22, hier S. 12. 602 Zdravomyslova, Leningrad’s Saigon. 603 Obertreis: Kultiviertheit, S. 311. 604 Catriona, Kelly: ‚A Dissonant Note on the Neva’: Historical Memory and City Identity in Russia’s Second Capital during the post-Stalin Era, in: Journal of Eurasian Studies (2010), 1, S. 72–83.
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hier Schnittflächen zur bereits diskutierten Strategie, Jazz und Bildung miteinander zu verknüpfen. Mit zunehmender Institutionalisierung des Jazzmilieus in Moskau, Leningrad und anderen großen Städten der Union intensivierten sich zu Beginn der 1960er-Jahre die bestehenden informellen Kontakte zwischen den Klubs und ihren Vertretern, aber auch die musikalischen Begegnungen auf den Jazzfestivals, die seit den 1950er-Jahren in Tartu und Tallinn und ab 1962 in der Russischen Sowjetrepublik stattfanden. Seit Ende der 1950er-Jahre diskutierten musikalische Experten und Jazzenthusiasten darüber, was das „Besondere“ des sowjetischen im Gegensatz zum amerikanischen Jazz sei. Die Zusammenkünfte von Jazzmusikern verschiedener Städte ließen gleichzeitig die Frage nach den Alleinstellungsmerkmalen des Leningrader Jazz und seiner Organisationskultur aufkommen. Eine musikalische Richtung, die das Panorama der städtischen Leningrader Jazzkultur prägte, war der Dixieland-Stil. Zwischen 1958 und 1965 entstanden dutzende Amateurensembles dieser Spielart, von denen einige den Schritt in die professionelle Sphäre schafften, an sowjetischen Festivals teilnahmen und schließlich Aufnahme in die städtische Konzertorganisation fanden. Gruppen wie die Neva Džazband oder Gammadžaz durften als erste Leningrader Gruppen an Festivals in anderen Ländern des sowjetischen Blocks teilnehmen und wurden ab Ende der 1960er-Jahre auf finanziell einträgliche Tourneen in die DDR und die Polnische Volksrepublik geschickt.605 Das Leningrader Jazzmilieu teilte sich nach musikalischen Präferenzen zunehmend in Traditionalisten und Progressive, sodass der Dixieland vor dem Hintergrund der Frage, was das musikalische Image der Stadt ausmache, durchaus umstritten war. In einem Interview mit der Jazz-Zeitschrift Kvadrat sprach Efim Barban, der Herausgeber der Zeitschrift und bekannt für seine „progressivere Orientierung“606 von der „rätselhaften Dixielandepidemie in Leningrad“607 und bezeichnete die Neva Džazband als „geschmacklos, fade und eintönig“, deren „Mythos der künstlerischen Bedeutung“ und als „eine der besten Dixieland-Gruppen Europas“ beim Leningrader Jazzfestival dieses Jahres zerstreut worden wäre. Als Gegengewicht zum Bild vom Jazz als progressiver, aus Sicht vieler Kulturfunktionäre entrückten Kunstmusik, versprach diese Facette des Leningrader Jazz Zugänglichkeit für größere Schichten der Bevölkerung mit dem vermeintlich „Authentischen“ des Jazz zu verbinden. Gleichzeitig aber unterwarf sich dieses Narrativ dem ideologischen Grundkonsens, der die Integration des Jazz in die sowjetische Kultur erst möglich machte – die scharfe Trennung zwischen dem 605 „Bericht über die Reise des Amateurorchester ‚Gammdžaz’ der Leningrader Fabrik Vibrator’ nach Ungarn 1967“, Privatarchiv Lejtes; Vgl. auch [http://gamma-jazz.narod.ru/, letzter Zugriff: 30.04.2018]. 606 Interview mit Grigorij Vasjutočkin vom27.11.2009. 607 Barban, Efim: Parallelen des Festivals, Kvadrat, 2 (1966), S. 13–20, hier S. 15.
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folkloristischen und „authentischen“ Jazz der unterdrückten schwarzen Bevölkerung auf der einen Seite und kommerziellem, dekadentem Jazz auf der anderen. „Besondere Popularität“, so eine Analyse des zweiten städtischen Jazzfestivals 1966, „genießt der traditionelle Jazz in unserer Stadt […] weil dieser Stil, der zu Beginn der Entwicklung der Jazzmusik ausreifte, mit einfachem musikalischem Material operiert, das in sehr zugänglicher, für den Zuhörer leicht erkennbarer Form vorliegt.“608 Zwar gebe der Dixieland „weniger Möglichkeiten für schöpferische Offenbarungen als moderner Jazz“, dafür aber sei es leicht, mit Kraft der künstlerischen Vollkommenheit, mit der Dixieland gespielt wird, die Treue für seine stilistischen Besonderheiten zu bekunden und die Reinheit der Tradition zu bewahren. Die grundlegenden Merkmale seines Stils sind die kollektive Improvisation und das ‚Feuer‘ seiner Interpretation, die ununterbrochen mit dem persönlichen Enthusiasmus der Musiker verbunden ist.609
Ein detaillierter Sammelband zum Sovetskij Džaz, der Mitte der 1980er-Jahre erschien, unterstrich die Kanonisierung dieser Eigenheit als Alleinstellungsmerkmal Leningrads innerhalb der sowjetischen und nach 1991 russischen Kultur – „Leningrad“, so urteilte Efim Barban 20 Jahre später, „war immer die Zitadelle des traditionellen Jazz“610 Parallel zur Kultivierung jener traditionellen Elemente, die darauf zielten, die Eigenständigkeit der Leningrader Kultur zu betonen, wurden progressive Elemente in das Narrativ der städtischen Kultur integriert, mit denen Ebenbürtigkeit oder auch eine Vorreiterrolle gegenüber der numerisch deutlich größeren Moskauer Jazzkultur belegt werden sollten. Die dichtere kulturelle Infrastruktur in Moskau und die damit verbundenen besseren Beschäftigungsmöglichkeiten für Musiker in den 1960er-Jahren entfaltete auch im Jazz eine Sogwirkung auf Leningrad. So zogen Ende 1967 der Trompeter Konstantin Nosov und der Saxofonist Gennadij Gol’štejn nach Moskau, um im Orchester von Eddi Rosner zu arbeiten. Im selben Zeitraum vollzog sich hier ein Prozess, den man mit „Neuerfindung einer progressiven Jazzgeschichte der Stadt“ beschreiben kann. „Leningrad“, so der bereits erwähnte Sammelband aus den 1980er-Jahren, „ist eine Stadt mit einer weit zurückreichenden und ruhmreichen Jazztradition. Hier wurde die professionelle Kunst des sowjetischen Jazz geboren [und – M. A.] entstanden die ersten Jazzorchester.“611 Mit Stolz wurde darauf 608 Fejertag, Es erklingt Jazz. 609 Vgl. ebd. 610 Barban, Efim: Leningrad, in: Aleksandr Medvedev/Ol’ga Medvedeva (Hg.), Sovetskij Džaz. Problemy, Sobytija, Mastera. Moskau 1987, S. 453–462, hier S. 455. 611 ebd. S. 453.
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verwiesen, dass sowohl der Sänger und Orchesterleiter Leonid Utesov als auch der wichtigste Komponist für sowjetische Unterhaltungsmusik, Isaak Dunaevskij, ihre Karrieren in Leningrad begonnen hatten, bevor sie in den 1930er-Jahren die stalinistische Unterhaltungskultur definierten.612 Aus der quantitativen Ungleichheit der beiden Jazzszenen leiteten die Leningrader Vertreter auch eine intensivere Qualität sozialer Beziehungen ihrer Gruppe ab, die Georgij Vasjutočkin aber auch Vladimir Fejertag als „Jazzmafia“ („Džazovaja mafija“) bezeichnete.613 Jurij Vicharev sah die „Leningrader Jazzszene trotz stilistischer Unterschiede menschlich vereint“, während in Moskau, ähnlich zu den dort ansässigen zahlreichen Ministerien, „alle Feinde sind, jeder seine eigenen Dinge verfolgt und versucht, ähnlich wie die Ministerien auch, seinen Platz zu halten.“614 Diese innerhalb des Milieus, aber auch in sowjetischen Zeitschriften artikulierte Vorreiterrolle gegenüber Moskau ließ durchaus politische Untertöne zu – etwa dann, wenn den durch die repressive Moskauer Politik verursachten Brüchen in der Stadtgeschichte die kulturelle Kontinuität einer kontroversen Musikform entgegengestellt wurde. „Praktisch hörte der Jazz nie auf, in Leningrad zu klingen.“615 Dieser Anspruch auf eine Vorreiterrolle beschränkte sich nicht auf die innersowjetische Entwicklung der Musik. Schon im Zuge der Benny Goodman Tournee 1962 hatte Mitglieder des Jazzklub der Universität eine nächtliche illegale Jamsession organisiert, bei der sich die Leningrader „Džazisty“, so ein Neologismus der 1950er-Jahre, bei einer Jamsession mit den Musikern Goodmans maßen. Die in den Erinnerungen der russischen, aber auch amerikanischen Zeitzeugen stark mystifizierte Session wird bis in die Gegenwart als Beleg für den, im Vergleich zu Moskau, kulturell offeneren Charakter der Stadt hinzugezogen.616 Auch der Besuch einer Jamsession durch die Musiker des 1971 in der Sowjetunion gastierenden Duke-Ellington-Orchesters im Jugendcafé Belye Noči und der offizielle Empfang Ellingtons im Haus für Freundschaft und Frieden blieb in dieser Narration „für die Leningrader Jazzer über Jahre eine Quelle der Inspiration“617.
612 Zu Dunaevskij und seiner Rolle in der Massenkultur der 30er-Jahre: Stadelmann, Isaak Dunaevskij. 613 Vgl. Vasjutočkin: Putevoditel, S. 54, Interview mit Vladimir Fejertag vom 30.10.2009. 614 Vicharev, Est čto, S. 154. 615 Vgl. Barban, Leningrad, S. 453. 616 So etwa in den Memoiren des Bassisten des Benny-Goodman-Orchesters Bill Crow „To Russia without Love“ [http://www.billcrowbass.com/billcrowbass.com/To_Russia_Without_Love.html, letzter Zugriff: 30.04.2018]; Vicharev, Est’ čto, S. 125–132. 617 Barban, Leningrad, S. 454; Zur Tournee Ellingtons im Kontext des Kalten Krieges: Cohen, Harvey G.: Visions of Freedom. Duke Ellington in the Soviet Union, in: Popular Music 30 (2011), S. 297–313.
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Eine Vorreiterrolle ließ sich nicht nur über musikalische, sondern auch organisatorische Leistungen herleiten. Natan Lejtes, einer der Gründer des städtischen Jazzklubs Kvadrat, der ab 1958 als erster seiner Art Erfahrungen im unsicheren Feld der Kulturpolitik von unten gesammelt hatte, bilanzierte im Jahresbericht von 1967 an den Komsomol nicht ohne Stolz, dass die offizielle Satzung des Klubs inzwischen als Muster für vierzig weitere Klubs in Städten der Sowjetunion verwendet wurde.618 Zahllose Anfragen und Dankschreiben aus verschiedenen Städten der Union belegen, dass nicht nur lokale Enthusiasten die Leningrader Jazzvertreter um Rat bei organisatorischen und fachlichen Fragen baten. Deren Kooperation mit lokalen Instanzen erschien auch Partei- und Komsomolfunktionären anderer Städte als mustergültig.619 Aus Sicht des städtischen Komsomol und der Gewerkschaften gewährleisteten die Jazzklubs und ihre Aktivitäten in den 1960er- und 1970er-Jahren, dass zumindest ein Teil der Leningrader Jugend ihre Freizeit nicht zu Hause oder in den städtischen Hinterhöfen, sondern in staatlichen Einrichtungen auf „kultivierte“ Art und Weise verbrachte. Bis 1968 galt auch innerhalb der Führungsstrukturen des Komsomol die Suche nach neuen, innovativen Formen der Freizeitgestaltung als erstrebenswert. 1967 wurde in Absprache mit dem Stadtkomitee schließlich eine Instanz geschaffen, durch die sich das traditionalistische Bild des Leningrader Jazz mit dem Bild der Vorreiterrolle gegenüber Moskau verbinden ließ. Für jeweils zwei Wochen im Sommer stellte der Komsomol nun den Musikern und Organisatoren ein Dampfschiff zur Verfügung, auf dem Jamsessions abgehalten wurden, während sie über die Neva und das weit verzweigte Kanalnetz der Stadt fuhren.620 Die Organisatoren und Lektoren Vladimir Fejertag und Nathan Lejtes sowie eine Gruppe städtischer Komsomolvertreter exportierten das Modell der Jazzdampfschifffahrten („džazovy parochody“) zu Beginn der 1970er-Jahre nach Riga, Archangelsk und später nach auch Moskau. Diese, im öffentlichen Raum der Stadt präsente Form der Inszenierung überdauert als Baustein städtischer Identität des modernen St. Petersburg bis heute. Im Jahre 2008 widmete der staatliche Fernsehkanal Kul’tura dem ersten sowjetischen Jazzklub D-58 in Leningrad eine Sendung zum 50-jährigen Bestehen. „St. Petersburg“, so der Erzähler im Fazit der dreißigminütigen Reportage, „hat schon immer westliche kulturelle Traditionen aufgenommen, in Architektur,
618 Vgl. Bericht über die Arbeit des städtischen Jazzklubs des Leningrader Stadtkomitees des Komsomol für die Periode vom 01.10.1966 bis zum 01.07.1967, Privatarchiv Natan Lejtes. 619 Bspw. Anfrage des Leiters des Stadtkomitees des Komsomol der Stadt Mončegorsk (Murmansk) an Natan Lejtes vom 03.07.1967, Privatarchiv Natan Lejtes; Im „Jahresbericht des Klubs von 1967“ wird auf Unterstützung der Klubs in Char’kov, Sverdlovsk und Baku hingewiesen. 620 Interview mit Natan Lejtes vom 01.12.2009.
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Literatur, Kunst und eben auch in der Musik.“621 Dieser offene Charakter habe „die kommunistische Diktatur überdauert“, was sich nirgends deutlicher zeige als in der Jazzgeschichte der Stadt, dem „New Orleans an der Neva“. Anders als diese postulierte Kontinuität lässt sich bei genauerem Beobachten feststellen, wie die Aneignung und Transformation des Jazz in Leningrad nach 1953 den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen des sowjetischen Staates unterlag und durch den Filter eines spezifischen urbanen Selbstverständnisses – den der „Kul’turnost’“ beeinflusst war. Dem entsprach die Konzentration auf Bildung, Aufklärung und kultivierten Konsum von Jazz. Gleichzeitig ermöglichte der Fokus auf traditionelle Stile wie den Dixieland, aber auch hör- und sichtbare Veranstaltungen, wie Festivals oder die Jazzdampfschifffahrten, eine städtische Resonanz, wie sie in Moskau schwerer erreicht werden konnte. Es war diese Inszenierung als schichtenübergreifende Musik, die den Jazz als Teil der Stadtidentität auch unter den sozialistischen Rahmenbedingungen attraktiv machte und mehr Menschen erreichte als beispielsweise der Mythos der autonomen Untergrundkultur. Ansatzpunkt für die Verknüpfung des Jazz mit dem Mythos von St. Petersburg als kultureller Hauptstadt Russlands boten auch institutionelle Kontinuitäten der sowjetischen Zeit, wie die 1989 geschaffene Jazzphilharmonie, die, inzwischen mit einem kleinen Museum zur städtischen Jazzgeschichte ausgestattet, bis heute zentraler Ort der lokalen Jazzkultur und ihrer Inszenierung ist. Diese Inszenierung als sowjetisches New Orleans durch Dixieland und Dampfschifffahrten war und ist nicht zuletzt ein Spiel mit dem Mythos einer kosmopolitischen Hafenstadt, die Leningrad seit spätestens Ende der 1920er nicht mehr war. Durch den Jazz wurde Kultur als verbliebenes Feld der Konkurrenz zur Emanzipation von Moskau in den 1960er-Jahren inhaltlich erweitert. Die Beschäftigung mit dem Jazz erschloss einer neuen Generation an Leningradern eine auf Moskau bezogene, aber dennoch alternative städtische Identität, die bis in die postsowjetische Gegenwart relevant bleibt, in der sich zwar das politische System, nicht aber die politische Dominanz Moskaus geändert hat.
5.3.4 Fazit Das Milieu aus Jazzenthusiasten, seine Fans, Musiker, Organisatoren und Lektoren müssen als eigene gesellschaftliche Gruppe der Nachstalinzeit mit spezifischen sozialen Merkmalen, kulturellen Vorstellungen, Normen und Lebensstil verstanden werden. Diese Gruppe, die zwischen Subkultur und staatlicher Affirmation zu verorten ist, weist dabei eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit Mitgliedern ihrer 621 Sendung „Leningradskij Diksilend“, Kanal 5 vom 27.12.2008 [http://www.5-tv.ru/programs/ broadcast/503007/, letzter Zugriff: 30.04.2018].
Džazydesjatniki? – Jazz, Milieu und sowjetische Mittelklasse
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Alterskohorte auf, die als die russischen Sechziger verstanden werden. Ähnlich wie bei den Šestidesjatniki wird der Generationenbegriff besonders in der retrospektiven Selbstbeschreibung verwendet.622 „Unserer Generation von Nachkriegsjazzmusikern“ so Aleksej Kozlov, „oblag es, diese Tendenz [Jazz als billige Tanzmusik zu betrachten – M. A.] zu überwinden und zu beweisen, dass Jazz eine ernsthafte und inhaltsreiche Kunst ist, und dass ihr Platz die Konzertbühne und nicht die Kneipe ist.“623 Hier den Generationsbegriff als analytische Kategorie zu verwenden, ist in Teilen gerechtfertigt. Die Jazzenthusiasten können insofern als Teil der Šestidesjatniki verstanden werden, als sie ähnliche soziale Hintergründe aufwiesen, aus den politischen Entwicklungen der 1950er-Jahre ein optimistisches Zukunftsbild ableiteten, das sie zu Engagement innerhalb des sowjetischen Komsomol- und Parteiapparates motivierte. Auch ihre Sprache und Kleidung entbehrte jener militärischen Referenzen, die Nancy Condee als einen zentralen kulturellen Code des Tauwetters ausgemacht hat.624 Ähnliches lässt sich für die Sprache diagnostizieren, in der sich gleichsam Distanz und Nähe zum sowjetischen System widerspiegeln. Die ironische Adaption pejorativer Begriffe der ideologischen Sprache wie Chaltura“ und der reichhaltige Fundus des „blatnoj žargon“ konservierten den kulturellen Außenseiterstatus der frühen 1950er-Jahre als Identitätsmerkmal und machten die Zugehörigkeit zu einer Sache für Eingeweihte. Nach innen und außen verwendete Begriffe wie „Propaganda“, „Aufklärung“ und „Popularisierung“ deuten wiederum auf eine gewisse Wesensgleichheit zwischen den Grundannahmen staatlicher Kultur und der der Jazzenthusiasten hin. Auch die von Vladislav Zubov untersuchte liberale Intelligencija war durch ein Pflichtgefühl, „Aufklärung“ zu verbreiten, geeint.625 Der Charakter eines Generationsprojekts zeigt sich vielleicht am deutlichsten daran, dass eine Erweiterung der Mitglieder und Erneuerung des Programms in den 1970er-Jahren scheiterte. Alexander Kan, Jazzmusiker ohne Berührungsängste mit der sowjetischen Rockmusik, begann seinen musikalischen Weg im Leningrad der 1970er-Jahre im Klub Kvadrat. Er erinnerte sich an Sitzungen dort „mit Herren im Alter zwischen 25 und 55 Jahren, die in zigarettengeschwängerter Luft Treffen abhielten, die weniger an ein romantisches Verhältnis zu Musik als an eine gewöhnliche sowjetische Betriebsversammlung erinnerten“626. Den Gemeinsamkeiten zwischen Jazzmilieu und Šestidesjatniki steht eine Reihe von Unterschieden entgegen. Der differenziertere Blick auf die Binnenstrukturen 622 Vgl. dazu Jureit, Ulrike: Generation, Generationalität, Generationenforschung, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.02.2010, [http://docupedia.de/zg/Generation, letzter Zugriff: 30.04.2018]. 623 Kozlov: Džaz, S. 152. 624 Vgl. Condee, Cultural Codes. 625 Vgl. Zubok, Zhivago’s Children, S. 356 ff. 626 Kan, Poka Jazz ne načalsja, S. 51.
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des Klubs hat gezeigt, dass es sehr wohl einen Unterschied machte, in der ersten oder der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre geboren worden zu sein. Die Jazzsektion im Moskauer Kulturhaus Ėnergetikov, aber auch die Klubs an der Leningrader Staatsuniversität zogen mehrheitlich Jugendliche an, die nicht mehr im Spätstalinismus sozialisiert worden waren und deren Erfahrungshorizont sich von den älteren Jahrgängen, die die Klubs auch meist leiteten, deutlich unterschied. Ein weiterer Unterschied ergibt sich aus der Beschäftigung mit dem Jazz, der, anders als in der Literatur und Kunst, keine positiven historischen Anknüpfungspunkte aus der Zeit vor der Revolution bot, wie sie in der Literatur für die Kinder Živagos so wichtig waren.627 Bezugspunkt des Jazz war damit nicht die vorsowjetische Vergangenheit, sondern die Vereinigten Staaten des 20. Jahrhunderts, die durch die Radiojazzsendungen Willis Connovers oder die Begegnungen bei Jam-Sessions mit den Musikern des Benny-Goodman-Orchesters das Milieu prägten. Amerika blieb Referenz: Das Jazzfestival von Tallinn als „sowjetisches Newport-Festival“628, Leningrad als „New Orleans an der Neva“, aber auch schon die Denomination der jeweiligen Hauptstraße einer sowjetischen Großstadt als „Broadway“ während der späten 1940er-Jahre durch die Stiljagi standen für diese Nähe, die aus der Außenperspektive manchmal irritieren konnte. „Die Russen“, so der DDR-Saxofonist Ernst Ludwig Petrovski in der Retrospektive, „sahen den Jazz immer schon sehr fanatisch und hatten eine extreme Fixierung auf Amerika.“629 Komplementär dazu zwang diese Fixierung auf das US-amerikanische Vorbild immer wieder die Frage nach dem sowjetischen Jazz auf. Dies war nur zum Teil kulturpolitische Bedingung, die die musikalischen Experten ab Beginn der 1960er-Jahre stellten, um die Jazzinitiativen von unten zu unterstützen. Deutlicher noch ergab sich diese Frage während der zunehmenden Zahl an Möglichkeiten, ausländischen und westlichen Musikern auf Festivals in Warschau, Tartu, Tallinn und Prag zu begegnen. Kultureller Patriotismus und ein Unterlegenheits- und Rückständigkeitskomplex konnten sich hier gegenseitig verstärken. Das kulturelle Programm der Jazzenthusiasten basierte auf der Idee einer ästhetischen Erziehung der Massen und der harmonischen Entwicklung des Individuums. Diese Vorstellung passte sich zwar in die Jugend- und Kulturpolitik der Nachstalinzeit ein, war aber kein ideologischer Deckmantel subversiver Aktivität. Sie äußerte sich in sozialen Praktiken, die das Selbstverständnis ihrer Akteure definierte und ausdrückte. Die Idee, durch diese Aktivitäten alle sowjetischen Bürger erreichen und bilden zu können, wich, auch unter den Jazzenthusiasten, recht schnell dem Pragmatismus. „Es kostet mich“, so Aleksej Kozlov, „kein Jahrzehnt, um diesen 627 Vgl. Zubok: Zhivago’s Children. 628 Menches, Arkadij: 10 Jahre D58, in: Jazz 14 (1969), S. 12–13, hier S. 13. 629 Interview mit Ernst-Ludwig Petrovsky vom 04.07.2011.
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groben sowjetischen Irrtum [Kultur den Massen zu bringen – M. A.] zu erkennen.“ Was der Jazz in diesem kulturellen Programm verkörperte und für die Enthusiasten attraktiv machte, war die Möglichkeit, über eine ästhetische Position eine Reihe von Werten, wie Professionalismus, Kultiviertheit, Wissen und Technik, zu artikulieren, die eine soziale Position beeinflussten und verbesserten. Ähnlich wie im Prozess der gesellschaftlichen Umformung im Stalinismus wurde Kunst nicht nur ein Raum zum Ausdruck von Ideen, sondern „ein Marker der Zugehörigkeit zu einer sozial erfolgreichen Gruppe.“630 Für Angehörige der Alterskohorte der nach 1936 geborenen, von denen im Rahmen der Komsomolkampagne breiteres Wissen und gesellschaftliches Engagement erwartet wurde, bot der Jazz und das damit verknüpfte kulturelle Programm der Enthusiasten offiziellen Zugang zu einem politisch kontroversen Thema der Kultur, Anknüpfungspunkte für Wissen zu Musik, Geschichte und westlicher Kultur sowie die Möglichkeit, sich aktiv gesellschaftlich zu engagieren. Die geschlossenen sozialen Gruppen, die sich in Klubs und Cafés konstituierten, bildeten einen alternativen Sozialisationsraum und boten eine zwischenmenschliche Atmosphäre, derer man sich, besonders in Zeiten des gesellschaftlichen Desintegrationsprozesses am Ende der Perestroika, nostalgisch erinnerte. „Nur eins reicht heute nicht“, schrieb Arkadij Petrov beim Vergleich der Bedingungen des Moskauer Jazz zwischen 1988 und den 1960er-Jahren: „Das, was vor 30 Jahren im Überfluss vorhanden war. Atmosphäre, ,Klubnosti‘ und Kommunikation. Heute mangelt es in Moskau an Orten, wo sich Musiker treffen können, Neuigkeiten austauschen, gemeinsam spielen und unter nicht-offiziellen Umständen Freunde werden.“631 Die Geschlossenheit dieser Gruppen lässt sich nicht auf formelle politische Merkmale, wie die Mitgliedschaft im Komsomol, reduzieren. Zu den Merkmalen gehörte ein spezifischer Kleidungsstil und Habitus, aber auch ein menschlicher Verhaltenskodex, der besonders mit Blick auf die Musiker, als nach außen sichtbare Repräsentanten dieser Gruppen, diskutiert wurde. Professionalismus wurde indes nicht nur von außen eingefordert und durch die Vertreter des Komponistenverbands kontrolliert, sondern auch nach innen bewusst zum Wertmaßstab für das Spielen von Jazz, das Organisieren einer Veranstaltung oder das Halten eines Vortrags gemacht. Hier wurde deutlich, dass der Weg vom spontanen zum bewussten kulturellen Akteur nach außen einem Hauptnarrativ des Sozialistischen Realismus folgte, das auch nach 1953 seine Gültigkeit bewahrte. In der Entwicklung dieser Gruppen seit Beginn der 1960er-Jahre wirkten neben homogenisierenden Faktoren auch zentrifugale Kräfte. Eine Folge von Professionalisierung und öffentlichem Erfolg war ein Star-Bewusstsein, dass sich bei 630 Yankovskaya/Mitchell: The Economic Dimensions of Art, S. 770. 631 Vgl. Petrov, Klub am Raušskoj Ufer, S. 16.
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renommierten Vertretern mit Auftritten im Ausland oder Anstellung in großen Orchestern entwickeln konnte. Sowohl der Rauswurf des Trompeters German Lukjanov aus der Jazzsektion in Moskau als auch der respektlose Umgang mit Nachwuchsmusikern im Molodežnoe zeigen, dass dem Jazz auch als sowjetischer sozialer Praxis eine Spannung von Individuum und Kollektiv innewohnte. Auch der Umgang zwischen Musikern und Organisatoren war nicht konflitkfrei. Mit Referenz auf die unterschiedlichen Erzählungen der Jazzgeschichte in Memoiren der Musiker und Berichten der Organisatoren erklärte Rostislav Vinarov lakonisch, dass „die Musiker keine Ahnung von den Details hatten und sich immer ins gemachte Nest setzten.“632 Am Beispiel Leningrads konnte gezeigt werden, dass sich die Musik als Ausdruck einer Stadtidentität entwickelte, die die Stadt nicht als ideologisch konforme „Wiege der Revolution“, sondern als das „New Orleans an der Neva“ in den alten Konflikt zwischen den beiden Hauptstädten verortete. Negative Zuschreibungen und Gemeinplätze der Leningrader Stadtgesellschaft gegenüber Moskau hinterließen ihre Spuren auch im Jazzmilieu der 1960er-Jahre, das sich durch Festivals und informelle Kontakte stärker vernetzt hatte. Eine Beurteilung des politischen Charakters dieses Milieus muss ebenfalls differenziert ausfallen. Die konstruierte Differenz zwischen kommerzieller und billiger Tanzmusik auf der einen, und Jazz als Kunstmusik auf der anderen Seite diente als Abgrenzung gegenüber der politisch brisanteren, weil weitreichenderen Rock-Bewegung und erhielt so deutlich affirmative Züge. In den 1970er-Jahren wiederum konnte diese Konstellation zum Ausdruck politischer Distanz werden und eine Frustrationserfahrung widerspiegeln, die genau auf der Entkoppelung des Jazz von Tanz und Kommerz beruhte. Um als professioneller Musiker seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, war man auf eine Anstellung in einem der weniger großen Jazzorchester oder der zahlreichen Pop-Gruppen, den VIA („Vokal’nye-instrumental’nye anzamble“) angewiesen, die sowohl für Konzertorganisationen als auch die Schallplattenfirma Melodija die nötigen Einkünfte generierten, um die sogenannte „ernste Musik“, zu der sich der Jazz ja zählte, zu finanzieren. Enttäuscht über die mangelnde materielle Unterstützung des Jazz durch die staatlichen Kulturbehörden, schrieb Fejertag 1983 im Jazzjournal Kvadrat, dass es symptomatisch für den Status des Jazz sei, dass „Alla Pugačeva einen schwarzen Wolga geschenkt bekommt, während Kozlov in einem Bus der Marke „Uralec“ zwischen dem Gepäck seines Ensembles reisen muss.“633 Auch in den 1960er-Jahren war die Polarität zwischen Kunst und Kommerz mit Blick auf individuelle Berufsperspektive und Lebensplanung eine elementare Frage. Viele 632 Interview mit Rostislav Vinarov vom 25.04.2010. 633 Fejertag, Vladimir: Sovetskij Džaz. Sozialer Kontext, in: Kvadrat 17 (1983), S. 28–42, hier S. 32.
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Musiker hatten Furcht oder mindestens Respekt vor der Entscheidung, sich aus Angst vor mangelnden Perspektiven 100 Prozent dem Jazz zu widmen, während die, die den Schritt in den staatlichen Betrieb gingen, sich sorgten, den Kontakt zum wirklichen Jazz zu verlieren.634 Die meisten Jazzenthusiasten finden in ihrer Biografie Elemente, die sie als Vertreter des Jazz als Künstler und als Opfer des sowjetischen Systems erscheinen lassen. Darunter fallen jedoch repressive Maßnahmen genauso wie retrospektiv als legitim erachtete Karriereschritte, die das System verweigert oder verzögert habe. Das „System“ konnten in diesem Kontext die Zensurbehörden, ein Parteivertreter oder die Konzertorganisationen sein. Die Kritik an der sowjetischen Massenkultur der 1970er-Jahre, deren Grundlagen, wie die Kommerzialisierung der Konzertorganisationen, eben in den 1950erund 1960er-Jahren gelegt wurden, zeigen diese Vertreter der Jazzenthusiasten als genuin sowjetisch denkende Individuen. Aus der Gegenüberstellung von Kunst und Kommerz wird das Chiffre der Präferenz harter Arbeit gegenüber finanzieller Entlohnung, das Donald Raleigh bei vielen von ihm interviewten Vertretern der „Sputnik-Generation“635 ausgemacht hat. Und auch wenn sich die Musik selbst, anders als die Lieder der Barden, zunächst nicht als Medium politischer Botschaften eignete, liegt möglicherweise gerade in ihrer Textfreiheit die willkommene Distanzierung von der patriotischen und russifizierten Sowjetkultur der späten 1940er- und der beginnenden Re-Patriotisierung ab Mitte der 1960er-Jahre. Jazz, ähnlich wie die Poesie des Tauwetters, konnte und wollte keine einfachen oder dogmatischen Antworten auf die Fragen und Traumata der sowjetischen Gesellschaft nach 1953 bieten.636
634 Interview mit Vladimir Fejertag Interview 30.10.2009. 635 Vgl. Raleigh, Donald: Russia’s Sputnik Generation. Soviet Baby Boomers Talk about Their Lives. Bloomington [u.a] 2006. 636 Vgl. Woll, The Politics of Culture, S. 615.
6. FA L L S T U D I E I – DA S O L E G - L U N D S T R E M - O R C H E S T E R
Die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen nach 1953 erreichten unterschiedlich schnell und deutlich die Lebenswelt des einfachen Sowjetbürgers. Während politische Prozesse wie die Neuformulierung ideologischer Prinzipien oder der Wechsel von Parteikadern erst langsam und zögerlich ihre Wirkung entfalteten, wurde der Zäsurcharakter für die sowjetische Kultur gerade auf der Ebene des Alltags rasch sicht- und hörbar. Die hohe Zahl an wieder- oder neugegründeten Estradaorchestern in den ersten fünf Jahren nach Stalins Tod korrespondierten mit dem gestiegenen Unterhaltungsbedürfnis der wachsenden Zahl sowjetischer Städter. Mit ihnen gewann die sowjetische Estrada einerseits wieder jenen Charakter, der sie seit den 1930er-Jahren bis zur unmittelbaren Nachtkriegszeit auszeichnete. Einige der Gruppen dieses Orchestersbooms entwickelten andererseits auch die musikalischen Grundlagen, die die Musikkultur der 1960er- und 1970er-Jahre prägen sollten. Ihre öffentlichen Auftritte und Schallplattenaufnahmen, aber eben auch die Diskussion ihrer Programme und die Kritik ihre musikalischen Innovationen verkörpern somit auch einen kulturpolitischen und gesellschaftlichen Wandel. Eine aus diesem zweiten Zusammenhang zu nennende Gruppe ist das Oleg-Lundstrem-Orchester, das die Wandlungsprozesse des sowjetischen Unterhaltungsmarktes so deutlich abbildete und gleichzeitig prägte wie kein anderes der erfolgreichen Orchester. Das „Big Band Revival“ der 1950er-Jahre hatte viele Gesichter.1 Neben Leonid Utesov, der nun wieder häufiger auf Tournee ging, wurde eine Reihe von Orchesterleitern der 1940er-Jahre rehabilitiert, die der antiwestlichen Kampagne zum Opfer gefallen waren. Das Boris-Renskij-Orchester tourte bereits seit 1953 wieder durch die Russische Sowjetrepublik, während es Eddi Rosner nach Entlassung aus dem Gulag gelang, durch Unterstützung des Kulturministers Pantelejmon Ponomarenko 1954 unter Obhut der VGKO ein neues Jazzorchester zu gründen. Beide kannten sich noch aus den 1940er-Jahren, in denen Rosner das belarussische Jazzorchester geleitet und Ponomarenko als erster Parteisekretär der BSSR dessen musikalischen Aufstieg protegiert hatte.2 Sowohl Rosner als auch Utesov und Lundstrem galten als die schillernden Gestalten der sowjetischen Estrada, deren Biografien durchaus kosmopolitische Züge aufwiesen: Alle drei waren nicht-russischer Herkunft, an der Peripherie oder im Ausland aufgewachsen und dort musikalisch sozialisiert worden. Jedes dieser drei großen Orchester konnte auf Traditionsbestände vor 1953 rekurrieren. Utesov avancierte bereits in den 1930er-Jahren zur Personifikation von erfolgreicher und 1 2
Starr, Red and Hot, S. 211. Vgl. Pickhan/Preisler: Von Hitler vertrieben, von Stalin verfolgt.
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Fallstudie I – Das Oleg-Lundstrem-Orchester
moderner sowjetischer Unterhaltungsmusik. Er prägte mit Isaak Dunaevskijs Kompositionen maßgeblich das Verständnis des Wortes Džaz selbst. Lundstrem verfügte über Spielerfahrungen aus Harbin und dem international geprägten Shanghai der 1930er-Jahre. Eddi Rosners Reputation, die er sich in den 1940er-Jahren während des Kriegs bei Auftritten an der Front und später im Gulag erspielte, kann nur durch seine musikalische Prägung des Berlins und Warschaus der Zwischenkriegszeit verstanden werden. Alle drei Orchester funktionierten als musikalische Laboratorien und „Kaderschmieden“ für Instrumentalisten, Komponisten und Sänger, die nach ihrer Zeit im jeweiligen Orchester die sowjetische Unterhaltungslandschaft nachhaltig prägten. Vadim Ljudvikovskij begann 1946 als 21-jähriger Pianist bei Rosner, avancierte 1948 zum musikalischen Leiter des Utesov Orchesters und leitete zwischen 1966 und 1972 das Konzert- und Estradaorchester bei Gosteleradio.3 Aber auch der junge Komponist Jurij Saul’skij sammelte erste Erfahrung in Komposition und Arrangement von Populärmusik in den Orchestern von Dmitrij Pokrass (1954/55) und Eddie Rosner (1955–1957), bevor er mit einer Reihe eigenständiger Gruppierungen wie dem Jazzprojekt VIO-66 den sowjetischen Jazz in den 1950erund 1960er-Jahren maßgeblich veränderte. Zahlreiche Instrumentalisten wie der Leningrader Saxofonist David Gološčekin und der Trompeter Gennadij Gol’štejn, die beide in Rosners Orchester spielten vervollständigen das Bild. Während Utesov zwar als uneingeschränkte Autorität in Estradafragen galt, hatte die musikalische Aktivität seines Orchesters ihren Zenit in den 1950er- und 1960er-Jahren bereits überschritten. Rosner wiederum blieb nur bis Ende der 1960er-Jahre auf der Bühne präsent, bevor er 1972 nach Westberlin emigrieren durfte, wo er 1976 verarmt und unbekannt verstarb. Anders als Lundstrems Orchester wurden weder seine Jazzmusik noch sein Orchester aufgrund seiner Herkunft zu einer Projektionsfläche für eine „sowjetische“ oder „russische“ Antwort auf die Jazzfrage. Dies verdeutlicht auch die relativ geringere Anzahl von Presseartikeln, in denen über ihn geschrieben wurde oder in denen er selbst zu Wort kam. Über neue Programme und Tourneen des Lundstrem-Orchesters wurde hingegen regelmäßig berichtet. Lundstrem selbst wurde respektierter Wortführer bei einer Zahl von öffentlichen Diskussionen zur Estrada. Rosners musikalische Biografie ist durch seine Zeit im Gulag zudem wesentlich stärker politisch aufgeladen. Entsprechend sind Narrative in der populären Erinnerung wie der „Jazzmann aus dem Gulag“, aber auch journalistische und wissenschaftliche Zugänge stärker innerhalb der Polarität zwischen Sowjetmacht und Jazz zu finden.4 3 4
Vgl. Nikitin, Aleksandr: Ėddi Rozner. Džazmen iz Gulaga, in: Kirill Moškov/A. Filipova (Hg.), Rossijskij džaz, 2. Bd., St. Petersburg 2013, S. 69–77, hier S. 74. Vgl. Preisler, Eddie Rosner.; Dragilev, Dmitrij: Ėddi Rozner. šmalja︡em džaz, cholera ja︡sna! : dokumentalʹny̆ roman. Nižnij Novgorod, 2011.
Fallstudie I – Das Oleg-Lundstrem-Orchester
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Das Oleg-Lundstrem-Orchester wurde zum Aushängeschild einer modernen Form von Unterhaltungsmusik der nach 1953 nach außen geöffneten Sowjetunion. Das Orchester weist eine einmalige Kontinuität auf: seine Geschichte erstreckt sich von der Mitte der 1930er-Jahre bis in die Gegenwart. 1994 wurde das Oleg-Lundstrem-Orchester als „am längsten zusammenspielendes Jazzkollektiv“ ins Guinnessbuch der Rekorde aufgenommen.5 Nach dem Tod von Lundstrem im Jahre 2004 übernahm sein ehemaliger Saxofonist Georgij Garanjan die musikalische Leitung, die er bis zu seinem Tod 2010 innehatte. Gerade in der Langlebigkeit des Orchesters, die über den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 hinausreicht, zeigt sich das spezifisch Sowjetische an dieser Jazzband. Ein musikalisches Format – eine Bigband von klassisch ausgebildeten Musikern mit einem Dirigenten an der Spitze –, das seinen Zenit in den USA in den 1930er-Jahren überschritten hatte, galt in der Sowjetunion als das Symbol für den gesellschaftlich getragenen Jazz des Spätsozialismus. Darüber hinaus wurde dieses stabile musikalische Kollektiv und Netzwerk das Sprungbrett für eine Reihe von Stars der späten Sowjetunion – Alla Pugačeva absolvierte im Orchester Anfang der 1970er-Jahre einige ihrer ersten Auftritte. Die exzeptionelle Rolle des Ensembles zeigt sich beispielhaft an der Tatsache, dass es als erstes sowjetisches Estradaorchester überhaupt in den 1960er-Jahren im Ausland auftreten durfte. Oleg Lundstrem selbst wurde 1973 mit dem Titel „Verdienter Künstler des RSFSR“, 1985 „Volkskünstler der RSFSR“ und 1998 mit der „Staatlichen Prämie der Russischen Föderation“ ausgezeichnet. Wichtig für die weiteren Überlegungen ist das Timing der Orchestergründung zu einer Zeit, als sich die sowjetische Kulturpolitik in einer Umbruchsphase befand, in der weder politische Instanzen noch kulturelle Leitlinien eine konsistente Orientierung vorgaben. Oleg Lundstrems Jazzorchester erlaubt, die vier bereits diskutierten, den sowjetischen Markt gestaltenden Elemente (Zensur, Medien, Experten, und Konzertwesen) in einer Fallstudie zu verknüpfen und zwei Aspekte genauer auszuloten. Die Geschichte des Orchesters zeigt zum einen, was legitimen Jazz nach Stalins Tod ausmachte. Das Finden einer Antwort auf diese Frage vollzog sich als Aushandlungsprozess verschiedener Personen und Institutionen, die an der Neugründung des Orchesters 1956 beteiligt waren und dieses kontrollierten, bezahlten und kritisierten. Anders als Rosners Orchester war diese Neugründung nicht Protegé-Beziehungen zu einer einzelnen Person zu verdanken, sondern erwuchs aus einem Geflecht von Netzwerken und institutionellen Interessen.
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Vgl. May, Michael: Swingin’ under Stalin. Russian Jazz during the Cold War and Beyond, in: Reonhold Wagnleitner/Elaine Tyler May, (Hg.), „Here, There and Everywhere“. The Foreign Politics of American Popular Culture. Hanover NH/London 2011, S. 179–191, hier S. 179.
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Fallstudie I – Das Oleg-Lundstrem-Orchester
Das Orchester ermöglicht es zum anderen aber auch, stärker die Perspektive der musikalischen Akteure selbst auszuleuchten. Seine Geschichte erlaubt zu fragen, wie Jazzmusiker seit den 1930er-Jahren zwischen dem Exil, dem Leben in der Peripherie und dem Erfolg im Moskauer Zentrum agierten. Deutlich wird, welche materiellen und symbolischen Vorteile, aber auch Herausforderungen das sowjetische Konzertwesen der 1950er- und 1960er-Jahre für den Einzelnen hatte und welche Strategien die Lundstremcy gegenüber Partei, Presse und Kulturbürokratie nutzten, um eine ideologisch prekäre Musikform im Nachstalinismus wieder zu etablieren und inhaltlich neu auszurichten.
6.1 Ja z z a u s d e r ö s t l iche n Pe r iphe r ie Die Wurzeln der kosmopolitischen Biografie Oleg Lundstrems liegen in der Peripherie des russischen Imperiums. Er wurde am 19. April 1916 in Čita als Sohn des schwedischstämmigen Gymnasiallehrers Leonid Frankevič Lundstrem und der Russin Galina Petrovna geboren. 1921 zog die Familie nach Harbin. Lundstrems Vater war in der Duma der im Zuge der Revolutionswirren entstandenen kurzlebigen prosowjetischen Fernöstlichen Republik („Dal’nevostočnaja Respublika“) für Kulturfragen verantwortlich. Harbin entwickelte sich nach Ende des russischen Bürgerkriegs zu einem Sammelbecken für Soldaten, Offiziere, zahllose Emigranten und eine Vielzahl qualifizierter Arbeitskräfte.6 Leonid Lundstrem unterrichtete dort zunächst Mitarbeiter der chinesischen Eisenbahn, die in den 1920er-Jahren tausende von russischen Vertragsarbeitern beschäftigte. Später arbeitete er als Physiklehrer der Mittelschule und als Lektor am Harbiner Polytechnischen Institut. Sein Sohn Oleg schloss 1932 eine Ausbildung am örtlichen Handelstechnikum und 1935 schließlich eine Geigenausbildung am Harbiner Musikalischen Technikum ab. Diese Zweigleisigkeit der Ausbildung, die er auch in der Nachkriegszeit in der Sowjetunion zunächst fortsetzte, sollte sich gegenüber sowjetischen Behörden bezahlt machen, die im Einzelfall dem Hochschulabschluss als Volkswirt oder Architekt mehr Wert beimaßen als dem eines Musikers. Im Freundeskreis seiner Eltern kam Lundstrem Anfang der 1930er-Jahre erstmals in direkten Kontakt mit Foxtrott und Jazz, der nun auch im fernen Osten immer breitere Gesellschaftsschichten erreichte. Duke Ellingtons Dear Old Southland hinterließ nach eigenem Bekunden einen prägenden Eindruck auf Lundstrem, für den
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Zu Harbin zwischen Russischem Reich und Sowjetunion auch: Urbansky, Sören: Ausradiert und Aufpoliert. Das architektonische Erbe des russischen Harbins, in: Osteuropa 58 (2008), 3, S. 65–83.
Jazz aus der östlichen Peripherie
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die Musik „nicht nur was für die Beine, sondern irgendetwas Größeres“7 darstellte. Louis Armstrong avancierte zum „Götzenbild“ seines Freundeskreises.8 Nachdem weitere Platten gefunden, Mitmusikanten gewonnen und erste Stücke nach Gehör arrangiert werden konnten, gründete Lundstrem 1934 sein Jazzorchester. Die neun Musiker, darunter Olegs Bruder Igor am Tenorsaxofon, erlangten in den europäischen Kreisen Harbins auf Bällen und Tanzveranstaltungen, aber auch im lokalen Radio rasch Popularität.9 Die geopolitischen Veränderungen der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre führten zu einem ersten Einschnitt in der Geschichte des Orchesters. Mit der japanischen Besatzung und Etablierung des Marionettenstaats Mandschukuo ging eine schrittweise Vertreibung der russischen Bevölkerung Harbins einher. Nach dem Ende der Konzession der Chinesisch-Östlichen Eisenbahn KVŽD kehrten viele Mitarbeiter in die Sowjetunion zurück, darunter auch Lundstrems Vater. Dieser arbeitete zunächst als Physiklehrer in Rostov am Don, wo er 1937 aufgrund „Zugehörigkeit zum japanischen Geheimdienst und Spionageverbindungen mit Trotzkisten“ verhaftet wurde und 1944 in einem Lager im Ural verstarb. Oleg Lundstrem, sein Bruder Igor und seine Mutter wiederum siedelten nach Shanghai über, dessen große europäisch-amerikanische Gemeinschaft der Stadt eine stark westliche Prägung verlieh und einen ständigen Bedarf an attraktiver Unterhaltungsmusik generierte. In diesem Umfeld begann das Orchester in den Restaurants der Hotel Jancy und des Majestic-Ballrooms seine professionelle Tätigkeit, zu der erste Adaptionen sowjetischer Stücke wie das „Lied des Kapitäns“ von Isaak Dunaevskij gehörten. Der zunehmende musikalische und ökonomische Erfolg der Lundstremcy stellte sie vor Kriegsbeginn auf die gleiche Stufe wie etablierte amerikanische Orchester in der Stadt. Die russischsprachige Presse Shanghais für die 25.000 russischstämmigen unter den ingesamt 35.000 Ausländern rief ihn zum „König des Jazz im Fernen Osten“10 aus. Lundstrem selbst spielte nicht mehr Geige, sondern fokussierte sich auf Arrangements neuer Stücke und das Dirigieren des Orchesters, das inzwischen auf 14 Musiker angewachsen war. Der Aufenthalt in Shanghai war ursprünglich nicht für die zehnjährige Dauer geplant. Lundstrem wandte sich bereits 1937 mit der Bitte an den sowjetischen Konsul, ihm und seinem Orchester die Heimreise zu gestatten. Die zeitweilige Einstellung der Visavergabe aufgrund der „Aktivitäten irgendwelcher Trotzkisten“ – so der Konsul – rettete in Lundstrems retrospektiver Einschätzung den Musikern
7 Volk, Konstantin: „Šanchajskij period“ russkogo džaza. Oleg Lundstrem i drugie, in: Kirill Moškov/A. Filipova (Hg.), Rossijskij džaz, 2. Bd., St. Petersburg 2013, S. 79–109, hier S. 81. 8 Vgl. Lundstrem, Oleg: Tak my načali …, in: Aleksandr Medvedev/Ol’ga Medvedeva (Hg.), Sovetskij Džaz. Problemy, sobytija, mastera. Moskau 1987 , S. 307–314, hier S. 310. 9 Vgl. Volk, „Šanchajskij period“, S. 81. 10 Volk, „Šanchajskij period“, S. 83.
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Fallstudie I – Das Oleg-Lundstrem-Orchester
im Jahr des Großen Terrors möglicherweise das Leben. Trotz der Eskalation des sowjetisch-japanischen Konflikts und der Besetzung Shanghais durch chinesische Truppen konnten die Musiker bis zur Auflösung der internationalen Siedlungen und der Internierung großer Teile der westlichen Bevölkerung 1943 relativ ungestört auftreten. Nur die fehlende sowjetische Staatsbürgerschaft verhinderte indes die Internierung der Musiker durch die japanische Besatzungsmacht.11 In den zwei Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs absolvierte Lundstrem bar jeder Auftrittsmöglichkeiten ein Studium der Architektur und des Ingenieurwesens an einem französischen Technikum. Zwar lief der Unterhaltungsbetrieb in der Stadt nach 1945 langsam wieder an, die Zahl der Ausländer jedoch hatte sich drastisch verkleinert. Bis zur Machtübernahme der chinesischen Kommunisten 1949 hatte sich die ausländische Diaspora weitestgehend aufgelöst. Andere Jazzorchester, wie das von Sergej Ermolov, das sich aus zahllosen Emigranten des russischen Bürgerkriegs zusammensetzte, verließen Shanghai Richtung Australien und Vereinigte Staaten. Zum Anziehungspunkt für jene in Shanghai verbliebenen Russen entwickelte sich der Sowjetische Klub, wo sich jene sammelten, die im Zuge der Eskalation des chinesischen Bürgerkriegs zurück in die Sowjetunion wollten.12 Lundstrems Orchester avancierte zur Hausband des Klubs und spielte dort weitere Jazzadaptionen russischer Musik, wie das Stück Interlude, das auf einer Komposition Rachmaninovs basiert, und Miraž, in dem Lundstrem sibirische und chinesische Melodien in eine Jazzkomposition integrierte. Aber auch patriotische Motive der Orchestermitglieder dürften bei dem Bestreben nach Rückkehr in die UdSSR eine Rolle gespielt haben. In einem Interview aus den 1980er-Jahren berichtete Lundstrem von der zu Kriegsbeginn geäußerten Bitte an die sowjetische Botschaft, die Band als Orchester an die sowjetische Front zu schicken.13 Das Orchester spendete Teile der Eintrittsgelder für die Herausgabe der prosowjetischen Lokalzeitung Rodina und widmete die Komposition „Miraž“ dem Sieg über Hitlerdeutschland. Solche Details lassen sich empirisch zwar schwer belegen, wurden jedoch für die Reputation des Orchesters in der Sowjetunion in den folgenden Jahrzehnten immer wieder wichtig. Ein Bericht des Ministeriums für Staatssicherheit MGB attestierte ihm mit Blick auf die Shanghaier Zeit und das dortige soziale und politische Engagement eine „prosowjetische Einstellung“14.
11 Vgl. ebd; Yeh, Wen-Hsin: Shanghai Splendor: Economic Sentiments and the Making of Modern China, 1843–1949. Berkeley 2010. 12 Volk, „Šanchajskij period“, S. 83. 13 Lundstrem, Tak my načali, S. 311. 14 Attest der Abteilung des Ministeriums für Staatssicherheit der Tatarischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik über Lundstrem, Oleg Leonidovič vom 24.12.1952, Zentrales Staatsarchiv für historische und politische Dokumente der Republik Tatarstan (CGAIPD RT, f.8233. d.33206.
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Als belegt gilt Lundstrems Engagement in der Musikergewerkschaft von Shanghai, die sich in Zeiten sinkender Besucherzahlen nach dem Krieg für eine gerechtere Bezahlungspolitik der lokalen Veranstalter einsetzte.15 Bei einem Solidaritätskonzert 1946 traten 200 Musiker zu Gunsten ihrer arbeitslosen Kollegen auf, wobei die lokale russische Zeitung Lundstrems Orchester „hervorragende Ausführungen amerikanischer Jazzmusik“16 bescheinigte. Ein Erlass aus dem Jahr 1947 ermöglichte allen sowjetischen Staatsangehörigen die Rückkehr in die Sowjetunion. Lundstrem, seine Musiker und deren Familien nutzten die lang erwartete Gelegenheit zur Repatriierung trotz der Warnung des sowjetischen Konsuls, der „nicht garantieren könne, dass sie dort diese Musik machen können“17.
6. 2 D ie Ne u g r ü nd u ng a l s k u lt u r p ol it i s che s Ex p e r i me nt Mit dem Wunsch, „so weit westlich und nah an Moskau wie möglich zu kommen“18, gelangten die Musiker mit ihren Familien nach ihrer Rückkehr zunächst nach Kazan’. Verschiedene Versuche, ein neues Jazzorchester unter dem Dach der lokalen Kulturbehörden zu gründen, scheiterten aufgrund der kulturpolitischen Situation im Spätstalinismus. „Das Sowjetvolk braucht keinen bourgeoisen Jazz“ – nach dieser vernichtenden Einschätzung einer Kommission des örtlichen Kulturpalastes Rodina zur Arbeitseinstufung waren die Musiker gezwungen, sich in Kinoensembles, an der Kazaner Oper und verschiedenen Konzerthäusern Stellen zu suchen, die das materielle Überleben sichern konnten. „Mit dem Jazz“, so der Leiter des Komittees für Kunstangelegenheiten der ASSR etwas konzilianter zu Lundstrem, „müsse man erstmal abwarten“19. Eine Einschätzung des sowjetischen Geheimdienstes zur politischen Zuverlässigkeit des Reemigranten Lundstrem fiel hingegen positiv aus.20 Auch wenn Kazan’ für die regelmäßige Spielpraxis des etablierten Orchesters einen scharfen Einschnitt bedeutete, ermöglichten einzelne lokale musikalische Autoritäten gelegentlich inoffizielle Engagements, die ein Minimum an Kontinuität im Spielen sicherten. Der nun 31 Jahre alte Oleg Lundstrem verdingte sich als Geiger am Kazaner Operetten- und Balletttheater und
15 16 17 18 19 20
l.23-24. [http://www.archive.gov.tatarstan.ru/magazine/go/anonymous/main/?path=mg:/numbers/1996_3_4/06/7/, letzter Zugriff: 30.04.2018]. Lundstrem, Oleg: Tak my načali, S. 311. o. A.: Ein nie dagewesenes Konzert im Lojseum. 200 Musiker der besten Orchester treten an einem Abend auf, in: Novaja Žizn’, 11.12.1946. Volk, „Šanchajskij period“, S. 84. ebd., S. 83. Zit. Nach Lundstrem, Oleg: Tak my načali, S. 311. Vgl. Attest Staatssicherheit Tatarstan.
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begann am örtlichen Konservatorium mit dem Studium der Komposition und des sinfonischen Dirigierens, das er 1953 abschloss. Aleksandr Ključarev, der künstlerische Leiter des Konservatoriums, organisierte nicht nur unregelmäßige Auftritte für das verstreut arbeitende Orchester. Er war nach Stalins Tod außerdem die entscheidende Triebkraft für Versuche, das Ensemble im lokalen Kontext der Tatarischen ASSR als legitimes Jazzorchester zu etablieren. 1955 scheiterten zunächst dessen Bemühungen, das Jazzensemble gemeinsam mit einem Streichquartett zur Woche der tatarischen Kunst als sinfonisches Jazzorchester nach Moskau zu entsenden. Es gelang Ključarev jedoch gemeinsam mit dem Leiter der Kazaner Konzertorganisation Bogoljubov, eine Reihe von tatarischen Jazzstücken aufzunehmen, an denen Lundstrem seit 1948 gearbeitet hatte. 21 In Verbindung mit einer kleinen Konzertreihe des Orchesters im Kazaner Dramatischen Theater zog Lundstrem so erstmals die Aufmerksamkeit der Moskauer Kulturbehörden auf sich. Im Juni 1955 reiste eine Delegation des Allunionshauses für Klangaufnahmen („Vsesojuznyj dom zvukozapisi“) nach Kazan’, um eine Reihe traditioneller tatarischer Folklorestücke aufzunehmen. Ključarev überzeugte deren Leiter Igor’ Georgievič Dudkevič, illegal in der Nacht zusätzlich einige sowjetische Stücke von Lundstrem aufzunehmen. Nach Rückkehr der Delegation nach Moskau lösten die Aufnahmen im Haus der Klangaufnahmen eine so positive Reaktion aus, dass man entschied, diese weiter an die Redaktion der „Sovetskaja Muzyka“ zu schicken. Wie bereits dargelegt, bemühte sich die Redaktion dieser Zeitschrift nach 1953 um das Finden einer moderateren Position gegenüber dem Jazz und organisierte im Laufe der 1950er- und 1960er-Jahre immer wieder Versammlungen zum Thema der leichten Musik, zu der neben Komponisten auch Musiker und Mitarbeiter der Konzertorganisationen herangezogen wurden.22 Im Rahmen dieses Netzwerkes fielen die Jazzbearbeitungen tatarischer Folklore und klassischer Kompositionen tatarischer Komponisten auf fruchtbaren Boden. Sie schienen der Beleg für eine mögliche Verbindung von Jazz, nationalen musikalischen Wurzeln und technischem Können zu sein, das Lundstrem und seine Musiker durch ihre Abschlüsse am Konservatorium auch formell nachweisen konnten. Dem Urteil Dudkevičs, dass „momentan kein Orchester im Land in der Lage ist, mit den Kazanern zu konkurrieren“23, schloss man sich implizit an und organisierte im Frühjahr 1956 eine Versammlung „Über Wege des weiteren Wachstums und der Entwicklung der Leichten Musik“, an der neben Dmitrij Šostakovič und Aram Chačaturjan auch Vertreter von Gastrol’bjuro 21 Vgl. Memoiren von Vladimir Serebrjakov, zit. nach Volk, S. 87. 22 Vgl. o. A. Was denken sie über Jazz und leichte Musik. Gespräch in der Redaktion, in: Sovetskaja Muzyka (1956), 11, S. 98–108. 23 Zit. Nach Volk, S. 87.
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sowie Ključarev und Lundstrem selbst teilnahmen.24 Šostakovič urteilte, dass „das der Weg ist, auf dem sich unsere leichte Musik entwickeln muss. Man muss kühn sowjetische Melodien nehmen und sie in Art des Jazz überarbeiten“25. Diese nach den Worten Lundstrems „kontroverse, ernsthafte und nützliche Versammlung“26 diente der Koordination von Interessen der reformorientierten Komponistenelite mit denen des Konzertwesens. Während erstere nach einem Beispiel moderner sowjetischer Jazzmusik suchte, wusste zweitere um die Popularität des Genres und den zunehmenden Druck zu ökonomischer Arbeitsweise, aber auch die großen ideologischen Vorbehalte. Lundstrem begann auf Anraten Ključarevs, zwölf weitere Kompositionen zu arrangieren und einzustudieren, die eine neue Delegation aus Moskau im April 1956 aufzeichnete und die auch im lokalen Radio gesendet wurden. Mitarbeiter von Gastrol’bjuro besuchten mehrfach die Aufführung eines neu erarbeiteten Konzertprogramms und begannen im Frühling 1956 mit konkreten Verhandlungen über die Neugründung des Orchesters. An diesen Verhandlungen, an denen neben Gastrol’bjuro das sowjetische und tatarische Kulturministerium beteiligt waren, wird deutlich, wie ausgeprägt die Konkurrenz um fähige Musiker innerhalb der sowjetischen Kulturadministration war. Deren Verlauf zeigt aber auch, welchen Verhandlungsspielraum Musiker mit der nötigen institutionellen Rückendeckung dabei gewinnen konnten. Gastrol’bjuro bat das sowjetische Kulturministerium am 6. Juni um Unterstützung für die Schaffung eines staatlichen Jazzorchesters. Dafür bediente sich der künstlerische Leiter von Gastrol’bjuro Vladimirov einer doppelten Argumentationsstrategie: Er hob zum einen jene Qualitäten des Orchesters hervor, die im sowjetischen Musikdiskurs zentral waren und nicht zwangsläufig jazzspezifisch. Er betonte den „hohen künstlerischen Wert“ des Orchesters, der sich für ihn aus dem guten Zusammenspiel, dem ausgezeichneten Klang, einer hohen musikalischen Kultur und der Tatsache, dass jeder der Musiker mehrere Instrumente beherrsche, ergab.27 Die spielerische Qualität der Musiker gebe es „in keinem anderen Estradaorchester, weder bei Utesov noch bei Rosner“28. Im Erklärungsschreiben des Orchesters, das dem Antrag an das Ministerium beigelegt war, wurde die politisch richtige Orientierung der Musiker betont – in 24 Vgl. Erklärung des Oleg-Lundstrem-Orchesters an die Hauptverwaltung der Theater und Musikeinrichtungen des das Kulturministerium der SSSR vom 06.06.1956, RGALI, f.2948, op.1, d.1a, l.4–8, hier l.5. 25 Was denken sie, S. 103. 26 Lundstrem, Oleg: Tak my načali, S. 311. 27 Vgl. Erklärungsschreiben des künstlerischen Leiters von Gastrol’bjuro G. G. Vladimirov an den Leiter der Hauptverwaltung für Theater und Musikeinrichtungen A. A. Cholodilin vom 06.06.1956, RGALI, f.2948, op.1, d.1a, l.1–3. 28 ebd. l.1.
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der Shanghaier Zeit habe man „begeistert und tiefgründig marxistische Ideologie studiert“29, die erste sowjetische Zeitung Rodina mitbegründet und an der ideologischen Erziehung der sowjetischen Jugend in der Emigration mitgewirkt. Neben musikalischer Qualität und ideologischer Verlässlichkeit der Gruppe spielte Vladimirov auf den drohenden Zerfall des künstlerischen Kollektivs an, den nur Gastrol’bjuro verhindern könne. Die Schuld an der „widernatürlichen Untätigkeit dieser wertvollen schöpferischen Gruppe“30 wälzte er auf die tatarischen Kultur- und Parteibehörden ab. Die eigentlichen Folgen der ideologischen Restriktionen des Spätstalinismus und der Unsicherheit zwischen 1953 und 1956 konnten politisch nicht thematisiert werden. Auch die Musiker kritisierten in einem beigefügten Schreiben die Untätigkeit und fehlende Unterstützung der tatarischen Behörden gegenüber dem Orchester. Da das Interesse der Moskauer Behörden am Orchester bereits zu Jahresbeginn offensichtlich wurde, traten die Behörden der tatarischen ASSR nun in Konkurrenz zu Gastrol’bjuro. Sie versuchten, Lundstrems Musiker durch Versprechen von Wohnungen und freien Stellen am Konservatorium in Kazan’ zu halten.31 Der sich hier abzeichnende Kurswandel gegenüber dem Jazz wertete die Musiker für die lokalen Behörden zu attraktiven Akteuren auf. Lundstrem jedoch plädierte in seinem Schreiben auf Basis der Erfahrungen der letzten acht Jahre für eine Unterstellung unter die Moskauer Behörde. Die Kazaner Philharmonie charakterisierte er als eine „kraftlose Organisation“32, die weder in „schöpferischer noch in materieller oder organisatorischer Hinsicht“ hilfreich sei und in welche das Orchester „kein Vertrauen“33 mehr habe. Die verbesserten Angebote von Kazaner Seite lehnte er mit dem Verweis ab, dass alle Musiker momentan noch über eine solide Arbeit an anderen Orten verfügen würden, die sie mit Perspektive auf die Tätigkeit in der Philharmonie nicht aufzugeben bereit wären. Erst in einem Orchester von Gastrol’bjuro erhielten die Musiker die Möglichkeit einer festen Anstellung. Nur so könne man endlich „in enger Verbindung mit schöpferischer Praxis auf die richtige Lösung der scharfen wie aktuellen Frage der sowjetischen Estradamusik in enger Zusammenarbeit mit unseren sowjetischen Komponisten hinarbeiten.“34 Die Vertreter von Gastrol’bjuro ließen einen deutlichen Optimismus in das musikalische und wirtschaftliche Potential des Orchesters erkennen. Vladimirovs Vorstellung umfasste die Schaffung des Orchesters als eigenständige wirtschaftliche 29 Erklärung des Oleg-Lundstrem-Orchesters, l.4. 30 Erklärungsschreiben des künstlerischen Leiters von Gastrol’bjuro G. G. Vladimiorv l.2. 31 Vgl. ebd. 32 Erklärung des Oleg-Lundstrem-Orchesters, l.7. 33 ebd. 34 ebd. l.8.
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Einheit mit Buchführung, neuen musikalischen Materialien, Conférenciers und Regisseuren für das Bühnenprogramm. Wichtiger noch sollten die Musiker in die höchste Gehaltskategorie eingestuft werden, die bis dahin nur in Ausnahmefällen an Estradamusiker vergeben wurde.35 Ende Juni versicherte sich das Kulturministerium der RSFSR der Unterstützung des Zentralkomitees und bat mit Verweis auf die Unterstützung des Komponistenverbands um Genehmigung zur Gründung des Orchesters unter Leitung von Gastrol’bjuro.36 Das Kulturministerium der tatarischen ASSR verzögerte die Freistellung der verstreut arbeitenden Musiker zunächst noch, sodass der Gründungserlasses des Lundstremorchesters vom 1.10.1956 nicht gleich umgesetzt werden konnte.37 Im Kontext des latenten Mangels an Musikern in der Peripherie und der bürokratischen Hindernisse einer flexiblen Neubesetzung erscheint diese Taktik des tatarischen Kulturministeriums plausibel, da dieses durch den Erlass sechs gut ausgebildete Musiker ihres staatlichen Operntheaters verlor.38 Lundstrem gelang es, mit Hilfe einzelner Komponisten aus Kazan’ die nötige Aufmerksamkeit musikalischer Experten in Moskau für sein Orchester zu erlangen, die sich seit der zweiten Hälfte 1955 um eine praktische Antwort auf die Frage nach legitimer sowjetischer Unterhaltungsmusik bemühten. Die Verbindung von volkstümlichen tatarischen Melodien mit den Ausdrucksmitteln des Jazz versprach ein Zusammenkommen von ideologischen Anforderungen und Popularität beim breiteren Publikum, dem sich auch die Konzertorganisationen nicht entzogen. Neben der hohen technischen Qualifikation der Musiker nutzte Lundstrem in der Korrespondenz mit Ministerien und Funktionären immer wieder das Narrativ einer lange eingespielten Gruppe von Musikern, die in ihrer gemeinsamen Biografie als politisch zuverlässiges und sozialistisch engagiertes Kollektiv erschienen. Dem Vorwurf des „wurzellosen Kosmopolitismus“ konnte so entgegengetreten und das Orchester unter ein neues, materiell wie organisatorisch starkes „Dach“ gestellt werden. Anders als in Eddi Rosners Fall geschah dies nicht einzig durch Patronage einer einzelnen Person, sondern als institutionelles Projekt, an dem verschiedene Gruppen und Instanzen beteiligt waren. Lundstrems Orchester kann somit auch als Experiment zur Klärung der vormals theoretischen Frage verstanden werden, wie sowjetischer Jazz in einer modernen Form funktionieren könnte. Der gänzliche Verzicht auf Streicher in der 35 Vgl. Erklärungsschreiben des künstlerischen Leiters von Gastrol’bjuro G. G. Vladimirov, l.2–3. 36 Vgl. Schreiben des Kulturministeriums der RSFSR an B. M. Jarustovskij in der Abteilung für Kultur des ZK der KPdSU, ohne Datum (vor 26.06.1956), RGALI, f.2948, op.1, d.2, l.2–3. 37 Vgl. Schreiben Oleg Lundstrems an die Kulturministerin der RSFSR T. M. Zueva vom 04.10.1956, RGALI, f.2948, op.1, d.2, l.4. 38 Schreiben des Kulturministeriums an den stellvertretenden Kulturminister der RSFSR N. K. Semenov vom 26.10.1956, RGALI f.2948, op.1, d.2, l.5.
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Instrumentierung markierte einen klaren Unterschied zu den bisherigen Orchestern und machte den Sound der Lundstremcy „amerikanischer“ und somit in der Wahrnehmung vieler Zeitgenossen moderner. Die nächsten Jahre sollten den relativen Erfolg dieses Projekts bestätigen – Lundstrems Orchester wurde zur festen musikalischen Referenzgröße im Streit um die sowjetische Estrada. Der Leiter einer Parteiversammlung der Leningrader VGKO stellte bereits 1958 resigniert fest: „Aber ein wirkliches Estradaorchester zu schaffen, wird erst möglich sein, wenn ein wirklicher künstlerischer Leiter vom Typ eines Utesovs, Rosners oder Lundstrem auftaucht“39. Auch wenn sich Lundstrem innerhalb kürzester Zeit eine solche Reputation für Qualität in der Estrada erarbeitete, blieb sein Jazzorchester bis Mitte der 1960er-Jahre nicht unumstritten. Der Džaz war stark den kulturpolitischen Schwankungen der Chruščevzeit unterworfen, die durch die Dynamik der Geheimrede, des Ungarnaufstands oder der Veröffentlichung von Pasternaks „Doktor Schiwago“ bestimmt wurden. Weiteres Konfliktpotential steckte in den Auseinandersetzungen um Ressourcenverteilung im kulturellen Feld, die mit Hilfe ideologischer Argumente verschleiert und ausgetragen wurden. Aus finanzieller Sicht profitierten sowohl Konzertorganisationen als auch die Musiker deutlich von der Neugründung des Orchesters durch den Staat. Unter dem Dach der VGKO erhielten die nun in die erste Kategorie eingestuften Musiker ab 1960 zwischen 700 und 900 Rubel monatliches Gehalt sowie zwischen 55 und 65 Rubel für jedes gespielte Konzert.40 Durch Eintritt in das staatliche Konzertwesen konnten die Lundstremcy sowohl ihre eigenen Kompositionen als auch die ideologisch gewünschten Überarbeitungen von Musikstücken der klassischen Musik und Folklore abrechnen. Der Vergütungssatz für Kompositionen von 5 Rubel pro Takt ermunterte Musiker und Komponisten zu kreativer Taktsetzung und erlaubte es dem jungen Orchester, zwischen November 1956 und Januar 1957 circa 15.000 Rubel an Honoraren für eigene Kompositionen einzufordern.41 Überarbeitungen von bekannten Stücken vergütete man mit immerhin 400 Rubel. Für die im Sommer 1957 anlaufende Tourneetätigkeit wurden maßgeschneiderte rote Seidenanzüge für das gesamte Orchester angefertigt. Aber auch für die VGKO erwies sich das Orchester als lohnende Investition. Im Jahr 1957 überstiegen die Ausgaben des Orchesters aufgrund von Probetätigkeit für ein neues Programm, Bekleidung und Organisation noch die Einkünfte.42
39 Parteiversammlung der Leningrader VGKO vom 17.04.1958, CGAIPD, SPb, f.771, op.6, d.10, l.34. 40 Vgl. „Verordnung und Tabelle für Künstler und Konzertmusiker für die Teilnahme an gemischten und selbstständigen Solokonzerten“, RGALI, f.2948, op.1, d.15, l.5–17. 41 Vgl. Schreiben von Oleg Lundstrem an die Direktion der VGKO, o. D. [Januar 1957], RGALI, f.2948, op.1, d.51, l.12. 42 Vgl. Bilanz und Stellenplan des Orchesters für 1957, RGALI, f.2948, op.1, d.52, l.1–6.
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Ein genauerer Blick zeigt aber, dass Lundstrems Ensemble bereits ab dem zweiten Quartal einen deutlichen Gewinn mit durchschnittlich 15 Auftritten pro Monat erwirtschaftete.43 Ein Jahr darauf hatte sich das Orchester bereits als Haupteinnahmequelle der VGKO fest etabliert. 250 Konzerte im Jahr und 3,9 Millionen Rubel standen etwa 117 Auftritten und 1,6 Millionen Rubel des Orchesters von Leonid Utesov gegenüber. 44 Das rein ökonomische Kalkül der VGKO war damit aufgegangen. Die Differenz zwischen beiden Ensembles erklärt sich aus dem fortgeschrittenen Alter Utesovs, der in den 1950er- und 1960er-Jahren weniger Tourneen bestritt als noch in den 1930er-Jahren. Gleichzeitig spiegelt der Unterschied einen Wandel im Geschmack des sowjetischen Massenpublikums wider. Die gestiegene Popularität von Jazzformen mit stärker westlich orientierter Instrumentierung gegenüber dem Sovetskij Džaz der 1930er-Jahre wird in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre auch an den Konzertzahlen der Orchester von Eddi Rosner und Boris Renskij deutlich, die mit 203 bzw. 202 Auftritten ebenso als Publikumsmagneten und Geldquellen des sowjetischen Konzertwesens in Erscheinung traten. Eine ähnliche Tendenz zeigt die Bilanz des Jahres 1959 – die Lundstremcy spielten insgesamt 250 Konzerte anstatt der 176 im Plan vorgesehenen und erwirtschafteten 750.000 Rubel überplanmäßigen Gewinn.45 Zwar fehlt bislang eine umfassende Finanzgeschichte der Konzertorganisationen und der staatlichen Subventionen im sowjetischen Kulturbetrieb. Diese Summe aber konnte relational beispielsweise die Verluste des Komödientheaters oder die Lohnkosten aller nicht zum Einsatz kommenden Musiker der VGKO kompensieren.46 Wie eng im lokalen Kontext die enormen Anstrengungen des Orchesters um kulturpolitische Anerkennung und finanziellen Gewinn verbunden sein konnten, zeigt sich im Sommer 1958 in Kujbyšev, wo das Orchester in 28 Tagen insgesamt 39 Auftritte vor ausverkauftem Saal spielte.47 Mit der hohen Zahl von Auftritten in diesen Jahren steigerte das Orchester nicht nur seine landesweite Popularität, sondern sicherte sich auch die anhaltende Unterstützung der VGKO für dieses kulturpolitische Experiment, das besonders in den ersten Jahren als umstritten galt. Neben dem Gewinn, einem Argument mit nur eingeschränkter Wirkungskraft gegenüber ideologischen Maßstäben, stand die beständige Erneuerung des Repertoires im Zentrum der Diskussionen. Gegenüber der Dachorganisation machte der Direktor des Orchesters in seinem Jahresbericht für 1959 deutlich, dass die 43 Vgl. ebd. 44 Vgl. Berichte über die Erfüllung des Produktionsfinanzplans und die schöpferische Arbeit der VGKO 1958, GARF, A-501, op.1, d.2412, l.12–19. 45 Vgl. Finanzplan VGKO und ihre Abteilungen für 1959, GARF, A-501, op.1, d.2853, l.5. 46 Vgl. ebd. 47 Vgl. Vermenič, Jurij: …i ves’ etot džaz. St. Petersburg 2004, S. 212.
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Erarbeitung eines neuen Programms für die Sommersaison während anhaltender Tourneetätigkeit die wichtigste Aufgabe des Orchesters gewesen sei.48 Dessen Erfolg, so der Direktor Cyn weiter, belegen die positiven Besprechungen von Konzerten in verschiedenen Zeitschriften und die Anwesenheit des Kulturminister Michajlov (UdSSR) und Popov (RSFSR) bei der Premiere.49 Auch das zweite „selbst gesteckte Ziel“ eines jährlichen Gewinns von einer Million Rubel sei vorzeitig am 22.12.1959 „kurz vor Beginn des Plenums des ZK der KPdSU“50 erreicht worden. Ähnliche Rechtfertigungs- und Legitimierungsstrategien finden sich in den Jahresberichten für 1957 und 1958. In ihnen versuchten Direktor und Buchhalter neben der Aufschlüsselung und Erklärung von Einnahmen und Ausgaben das Bild eines begabten und engagierten Kollektivs zu zeichnen, das nicht nur den finanziellen Erwartungen der VGKO entsprach, sondern auch eine produktive Antwort auf die Frage nach akzeptabler Estradamusik zu finden vermochte. So konnte aus Sicht des Orchesters die vermeintliche Spaltung von U- und E-Musik überwunden werden. „In der Ausführung durch unser Ensemble kann die sogenannte ‚leichte Musik‘ ernsthaft werden“51.
6. 3 D a s O r che s t e r a l s P r oje k t io n sf l ä che Seit seiner Gründung war das Orchester als kulturpolitisches Experiment fragil. In einem Schreiben der Abteilung für Wissenschaft, Schule und Kultur an das Büro des Zentralkomitees der KP der RSFSR wurde im Juli 1957 das erste Programm des Orchesters zum Anlass genommen, das Orchester und seine Dachorganisation VGKO fundamental zu kritisieren.52 Die verantwortlichen Autoren Debrinov, stellvertretender Leiter der Abteilung, und der Instruktor Pavel Apostolov, sind jener stalinistischen Generation an Funktionären zuzuordnen, deren konservative Positionen in Kulturfragen viele Konflikte des Tauwetters mitbestimmten. Deren biografische Prägungen und berufliche Schwerpunkte bestimmen die im Schreiben artikulierten Vorwürfe. Debrinov, 1905 geboren und seit 1926 Mitglied der 48 Vgl. Erklärungsschreiben zur Bilanz des Estradaorchester der VGKO O. Lundstrem vom 01.01.1960 für das Jahr 1959, GARF, A-501, op.1, d.2853, l.378. 49 Vgl. ebd. 50 ebd. 51 Erklärungssschreiben zur Bilanz des VGKO Orchester Oleg Lundstrem für das Jahr 1957 vom 01.01.1958, GARF, A-501, op.1, d.2078, l.246–250, hier l.246. 52 Schreiben der Abteilung für Wissenschaft, Schule und Kultur des ZK der KPdSU der RSFSR „Über die Unzweckmäßigkeit der Veröffentlichung des Estradaprogramms, das durch das Orchester O. Lundstrem vorbereitet wurde“ vom 11.07.1957, in: Vodop’janova, Apparat CK KPSS i kul’tura, S. 685–687.
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Partei, hatte seine politische Karriere im Vologodsker Bezirk als Verantwortlicher für Volksbildung und Parteipropaganda begonnen. Über das Bezirkskomitee der Partei übernahm er 1952 die Leitung der Abteilung Schule des ZK der KPdSU.53 Pavel Apostolov, ebenfalls 1905 geboren, beendete in den 1920er-Jahren eine Ausbildung zum Dirigent für Militärorchester, trat während des Krieges in die KPdSU ein und setzte seine musikwissenschaftliche Ausbildung nach 1945 fort.54 Neben der Arbeit und Lehre am Moskauer Konservatorium diente er als Inspektor für Orchester des Moskauer Militärkreises und arbeitete in der politischen Verwaltung der Roten Armee, bevor er 1949 in den Apparat des ZK aufrückte. Die Begutachtung des ersten Programms des Orchesters am 9.7.1957 ergab nach Debrinov und Apostolov, dass die Gruppe nach dem Vorbild „moderner ausländischer amerikanisierter Jazzgruppen“ gebildet wurde und bereits mehrfach Proteste unter den Moskauer Hörern hervorgerufen habe, die über guten Geschmack und progressive Ansichten über Kunst verfügten.55 Erstaunlicherweise stellen die Autoren hier die polnische Jazzgruppe Goluboj Džaz und die ungarische Gruppe Budapeštskie Kartinki als positive Gegenbeispiele dar, die noch im Jahr zuvor in der Parteiversammlung der Leningrader Konzertorganisation selbst scharf kritisiert wurden. In der musikalischen Kritik des Programms unterstellen die Autoren dem Orchester die Nachahmung von primitiven amerikanischen Musikstilen, die auf „krankhaften Rhythmen und zerfetzten Melodien vom Typ Boogie-Woogie“56 aufgebaut seien. Die andernorts positiv rezipierten Bearbeitungen sowjetischer Kompositionen werden hier als „vulgär“ bezeichnet. Die Autoren kritisieren besonders die Performance und das Erscheinungsbild des Orchesters. Eben in dieses Äußere hatte die VGKO zu Beginn des Jahres größere Summen investiert, um Modernität und innovativen Charakter des Orchesters auch nach außen Ausdruck zu verleihen. Das Schreiben vermittelt darüber hinaus einen Eindruck über die polarisierte Atmosphäre, in der Jazz nach 1956 immer noch diskutierte wurde. Apostolov und Debrinov kritisieren eine Reihe von Zuhörern während der öffentlichen Begutachtung, die „demonstrativ applaudierten, Bravo schrien und Sätze brüllten wie ‚Man müsste alle ersäufen, die einen solchen Jazz verbieten wollen‘“57 Im Zentrum ihrer Kritik stehen jedoch die kulturpolitischen Akteure und politischen Umstände, die zu jener Situation geführt haben. Die Autoren werfen der VGKO rein kommerzielle Motivationen vor, da diese „noch vor Bekanntwerden der 53 Vgl. Spravočnik po istorii kommunističeskoj partii i Sovetskogo Sojuza 1898–1991, [http://www. knowbysight.info/DDD/08363.asp, letzer Zugriff: 30.04.2018]. 54 Vgl. Art. Apostolov, P. I., in: Muzykal’naja Ėncyklopedija, hrsg. von Ju. V. Keldyš. Moskau 1972–1982. 55 Vgl. Schreiben Unzweckmäßigkeit, S. 685. 56 Schreiben Unzweckmäßigkeit, S. 685. 57 Schreiben, S. 685.
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Ergebnisse der Begutachtung“ bereits „auf der Jagd nach Gewinn eine zweimonatige Tournee des Orchesters beschlossen“ habe und verschiedene Medien und die Leitung des Orchesters durch einseitige Werbung einen „ungesunden Rummel“58 erzeugt hätten. Apostolov und Debrinov monieren damit die aus ihrer Sicht negativen ideologischen Folgen der unkoordinierten sowjetischen Kulturpolitik nach 1953. Nicht „irgendwelche prinzipiellen Erwägungen des Kulturministeriums im Bereich der leichten Musik“, sondern einzig der „Druck der Musikanten“59 habe dazu geführt, dass das Orchester geschaffen wurde. Die Kulturministerien hätten die gegenwärtige Situation, in der es bereits zahlreiche Jazzorchester gebe und zahllose weitere Amateurorchester mit niedrigem Niveau im Zuge der Vorbereitung des Weltjugendfestivals entstanden seien, ausgenutzt und ein weiteres Orchester gegründet, in das auf zweifelhaftem Wege enorme Summen investiert worden seien.60 Es wird erkennbar, dass sich hinter der scheinbar ideologischen Kritik am Orchester auch ein Konflikt um Ressourcen für die verschiedenen musikalischen Sparten verbarg, der ein Jahr nach Beginn der Reformen des Konzertwesens und den umfangreichen Sparmaßnahmen deutlich zu Tage trat. Die Ministerien, so die Autoren, hätten Kreise, Bezirke und Republiken in der Organisation sinfonischer Orchester, Kapellen, Chöre und Ensemble alleingelassen, infolgedessen sich Protest gegen diese Politik artikuliere.61 Als Folge der Mittelkürzung und Auflösung erstklassiger Orchester befinde sich die musikalische Kultur der Peripherie, aber auch in Moskau und Leningrad in einem „krisenhaften Zustand“62, da Musiker mit zu geringen Löhnen bezahlt würden. Demgegenüber stehen riesige „unwirtschaftliche Ausgaben“ für die Orchester, deren Musiker nach überhöhten Normen bezahlt würden und deren Ausarbeitung des besagten Programms aufgrund überhöhter Vergütungen 220.000 Rubel in Anspruch genommen habe. Um ihrer Beschwerde über die Ressourcenverteilung zwischen U- und E-Musik mehr Gewicht zu verleihen, verweisen die Autoren auf den Schaden an der ästhetischen Erziehung der Bevölkerung, besonders der Jugend, durch eine „falsche ideologisch-künstlerische Position der Ministerien“63. Das Bedrohungspotential des Orchesters und seiner Musik ist aus deren Sicht nicht geringer einzuschätzen als die bis dahin prominentesten Konflikte des kulturellen Tauwetters in Literatur, Kino, Theater und
58 ebd. 59 ebd., S. 686. 60 Vgl. ebd. 61 Vgl. ebd. 62 ebd. 63 ebd. S. 387.
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Malerei. Alle fußen auf einer „anhaltenden Politik ideologischer Zugeständnisse an den Einfluss der bourgeoisen Kunst“64. Weder fand in Folge die von Debrinov und Apostolov geforderte „grundlegende Reorganisation oder Auflösung“ des Orchesters statt noch hatte das Beschwerdeschreiben direkte Konsequenzen für die musikalische Arbeit des Orchesters. Vielmehr stiegen die Besucherzahlen ab der zweiten Jahreshälfte 1957 massiv an. Wer innerhalb der Parteispitze schließlich für das Weiterführen des Experiments Lundstrem eintrat und es bei einer Konsultation des sowjetischen Kulturminister Michajlov zum Thema beließ, ist nicht eindeutig zu bestimmen. 65 Der Versuch von Debrinov, einem stalinistischen Bildungsfunktionär, und Apostolov, einem Militärmusiker und Musikwissenschaftler der „Vydvižency“-Generation, die Konzertgründung auf die gleiche Ebene wie die ideologischen Konflikte um literarische Ausdrucksfreiheit zu heben, scheiterte somit, da der Konflikt um das Orchester letztlich eben nicht auf dieser Ebene zu verorten ist. Das staatliche Ziel, die Finanzierung des Kulturwesens grundsätzlich zu reformieren, ermöglichte den involvierten Komponisten, Konzertorganisatoren und Musikern genügend Rückhalt in Partei und Staatsapparat, um das Lundstrem-Projekt weiter zu unterstützen. Auch die Patronage des Jazz und seiner Musiker durch einzelne politische und gesellschaftliche Schlüsselfiguren wie Andrej Gromyko, Aleksej Adžubej, den Schwager Chruščevs, Chefredakteure der Izvestija und den Schriftsteller Sergej Michalkov machten eine einheitliche Front gegen den Jazz unwahrscheinlich.66 Diese Fürsprache in höheren Kreisen der Partei wurde durch die Aussicht begünstigt, eine genuin sowjetische und populäre Antwort auf die seit Beginn des Zweiten Weltkriegs latente Jazzfrage gefunden zu haben. Auch wenn damit die harsche, aber eben durch sehr unterschiedliche Interessen motivierte Kritik am Orchester nicht endete, war Anfang der 1960er-Jahre klar, dass dessen grundsätzliche Existenz nicht mehr bedroht war. Die Lundstremcy generierten für die Sowjetunion nun nicht nur hohe finanzielle, sondern auch symbolische Gewinne. Der Rechtfertigungsbedarf der VGKO für dieses Projekt war besonders in der Anfangsphase hoch. Auch 1960 noch gebot die potentielle Kritik an Musik und Inszenierung in der Werbung für das Orchester darauf hinzuweisen, dass „diese Musik nichts gemein hat mit der dekadenten, formalistischen Jazzmusik des gegenwärtigen Westens, wo Inhaltsreichtum und Melodie ersetzt werden durch psychopathisches krampfhaftes Kreischen und das Chaos vor Wut schäumender
64 ebd. 65 Vgl. Schreiben, S. 687. 66 Vgl. Tomoff, Kiril: ‚Most Respected Comrade …’: Patrons, Clients, Brokers and Unofficial Networks in the Stalinist Music World, in: Contemporary European History 11, 2002, 33–65.
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Klänge“67. Die für den Beginn der 1960er-Jahre auffällig schematische Sprachwahl erinnert an die ästhetischen Kampfbegriffe von Gor’kijs „Musik der Dicken“ oder Gorodinskijs „Musik der geistigen Armut“. Den Verfassern ging es hier um eine präventive Abwehr stalinistisch geprägter Kritik am Jazz, die sich besonders vor Ort artikulieren konnte und der in der landesweiten Presse immer wieder Raum gegeben wurde. Eine weitere Interpretationshilfe beschreibt dann die von den Verfechtern des Experiments favorisierte Lesart von Musik und Performance des Orchesters. Bei der „spannenden Aufgabe der Popularisierung sowjetischer leichter Jazzmusik“ gehe das Orchester „seinen besonderen Weg“, bei dem das „Kollektiv bemüht ist, originelles Repertoire zu schaffen, das gesättigt ist mit hochkünstlerischer, selbstständiger und fröhlicher Musik, die unsere Gegenwart abbildet“68. Die Inszenierung auf der Bühne wiederum sei getragen von „professionellem Können, hoher musikalischer Kultur und strengem Geschmack“69. Genau diese Interpretationshilfen nahm eine Gruppe von Militär-, Partei- und Komsomolvertretern der Stadt Ussurijsk (ehem. Vorošilov) im Fernen Osten zum Anlass, einen an die VGKO adressierten Beschwerdebrief zu verfassen, der in der Komsomol’skaja Pravda veröffentlicht wurde. Das Beispiel zeigt, dass sich Kritik am Orchester nicht nur aus Unzufriedenheit über Ressourcenverteilung und etwaigen negativen ideologischen Folgen speisen konnte. Viel allgemeiner geriet sie hier zum Vehikel kultureller Überfremdungsangst, die durch die internationale Öffnung der sowjetischen Kultur gespeist wurde. Die Autoren griffen dabei auf die dem Spätstalinismus innewohnende Polarität zwischen dem Eigenen, Sowjetischen und dem Fremden zurück. Viele Nummern sowjetischer leichter Musik hätten sich „buchstäblich aufgelöst zwischen arabischen, griechischen, mexikanischen, amerikanischen, kubanischen, italienischen, indonesischen und anderen Jazzmelodien“70. „Wie könnten“, so fragen die Autoren weiter, griechischer Rumba, Jazzkompositionen des amerikanischen Komponisten Duke Ellington, das arabische Lied ‚Egiptjanka‘ (übrigens in griechischer Sprache aufgeführt), vulgärer Rumba und Tango […], billige mexikanische, griechische, kubanische, italienische und andere Liedchen unsere Gegenwart ausdrücken, wie das Programm das beansprucht, wenn sie nicht einmal die nationalen Eigenarten des Volkes ausdrücken, dem sie zukommen, sondern für billiges frivoles Repertoire geschrieben wurden?
67 Zit nach: Leserbrief an die Komsomol’skaja Pravda vom 13.07.1960. 68 ebd. 69 ebd. 70 ebd.
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Ebenso scharf weisen sie die Jazzadaptionen russischer Melodien durch Lundstrem zurück, welche „vulgarisiert und im Stil von krampfhaftem Foxtrott“ präsentiert worden seien. Der sowjetpatriotisch-nationalistische Tenor der Kritik bündelt sich am Ende des Briefes in einem Appell an die politisch Verantwortlichen. Das Kulturministerium habe Sorge dafür zu tragen, dass „keine minderwertigen ausländischen Melodien ins Haus unseres großen Landes gebracht werden und die musikalischen Geschmäcker des sowjetischen Volkes zersetzen, sondern Musik, die unserem Sowjetmenschen würdig ist und ihn für die große Sache zum Ruhm der Heimat begeistert.“71 Jazz in einer staatlich geförderten Form wie dem Orchester stieß somit nicht nur dort auf Widerstand, wo ideologische Diversion im Ost-West-Konflikt des Kalten Krieges vermutet und die Ressourcenverteilung zuungunsten klassischer Musik befürchtet wurde. Häufig provozierte diese staatliche Unterstützung auch eine genuin (sowjet-)nationalistische Interpretation der kulturellen Veränderungen vom Spätstalinismus hin zur relativen Offenheit der 1950er- und 1960er-Jahre. Ihre Verfechter lehnten die musikalische Verkörperung des neu aufkommenden Internationalismus des sowjetischen Projekts nach 1956 ab. In der Abgrenzung zu Melodien, die dem sowjetischen Ohr „fremd seien“, beriefen sie sich dabei nicht auf sowjetische nationale Kulturen, sondern eben auf russische Melodien. Bei Generalisierungen der Reaktionen auf das Lundstrem-Orchester ist Vorsicht geboten – eine Interpretation des Orchesters als Ensemble für die gebildeten Teile der sowjetischen Gesellschaft ist zu kurz gegriffen, da die Lundstremcy so retrospektiv für die sowjetische Intelligencija vereinnahmt werden. Ebenso zu berücksichtigen sind generationelle Zugehörigkeit der Wortführer, in der sich persönliche Geschmacksurteile und Prägungen – gesellschaftlich vermittelte Interpretationsstrategien von Kunst – mit dem jeweiligen ideologischen Vokabular der Epoche verbanden. Nicht zuletzt die Unterschiede von Stadt und Land, von Zentrum und Peripherien konnten entscheidend für unterschiedlichen Reaktionen auf das Orchester sein – die geografische Lage bestimmte nicht nur die kulturelle Anbindung durch die Konzertorganisation, welche den Publikumsgeschmack und die Dynamik musikalischer Innovationen prägten, sondern auch die Erreichbarkeit sowjetischer und ausländischer Rundfunksender. Die Mehrzahl der Presserezensionen in Fachzeitschriften und Massenpresse bis 1965 kritisierten einzelne Kompositionen und Musiker der wachsenden Gruppe teilweise scharf, wiesen aber einen meist positiven und wohlwollenden Grundton auf. Sie zeigen das Panorama unterschiedlicher Ansprüche, die an das Orchester artikuliert wurden. Der erste Artikel zur Besprechung eines Konzertprogramms von Lundstrem in der Sovetskaja Muzyka vom Oktober 1958 formulierte zu Beginn 71 ebd.
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die Erwartungshaltung gegenüber der Jazzmusik. Sie verfüge „in den besten ihrer Formen [über] melodische Prägnanz, Frische, Schärfe in der harmonischen Sprache und eine unerschöpflichen Vielfalt an Rhythmen. In guter Jazzmusik gibt es Verbindungen zu nationalen Quellen.“72 Der Maßstab der Beurteilung des Orchesters ist jedoch nicht die Frage eigener musikalisch-kompositorischer Innovation, sondern inwieweit es gelingt, Stücke sowjetischer Komponisten in einer angemessenen Weise als Jazzorchester zu interpretieren. Die Autorin betont die enormen, notwendigen Anstrengungen durch dessen Leitung bei der richtigen Auswahl von Werken, in denen eine „klare ausgedrückte schöpferische Individualität“73 zum Ausdruck kommt. Wie auch dieser Text verdeutlicht, stellten die Fähigkeiten der Lundstremcy, meist mehrere Instrumente spielen zu können, einen positiven Wert im kulturellen Referenzsystem der sowjetischen Musik dar, den die Autorin mehrfach hervorhebt. Eine Reihe von Stücken des Programms wird hinsichtlich ihrer Ausführungen positiv besprochen, darunter ein Stück von Kara Karaeva, das mit Verwendung von Texten des Amerikaners Lengston Louis die Rassentrennung in den USA thematisiert, eine Komposition des afroamerikanischen Komponisten Earl Henning und die Duke Ellington Nummer Improvization. Kritischer bespricht die Autorin die Kompositionen von Lundstrem selbst, denen sie ein Ungleichgewicht zwischen Stil und künstlerischem Inhalt der Stücke attestiert. Hier wird deutlich, dass der angelegte, der klassischen Musik entlehnte, Maßstab an Lundstrems Stücke in Konflikt mit den Jazzelementen gerät. „Jedoch verwandelt sich eine Reihe von Ausdrücken der Virtuosität der Musiker zum Selbstzweck, und dann verringert sich schlagartig der künstlerische Wert der Musik.“74 Einzelne musikalische Elemente wie das für den Jazz konstitutive Solo müssen demnach organisch in ein Gesamtkunstwerk eingebunden sein, das die Autorin hier in Gefahr sieht: „Durch die Verletzung der Entwicklungslogik musikalischer Gedanken entsteht ein Durcheinander von Stilen und Unausgeglichenheit in der Form.“75 Diese der klassischen Musik entlehnte Entwicklungslogik sieht Michajlovskaja besonders dort verletzt, wo Elemente integriert werden, die mit den negativen Eigenschaften des westlichen Jazz als „Unterhaltungsmusik“ assoziiert werden. Der zweite Teil der Komposition Miraž beispielsweise würde „vom Orchester mit brillantem Ensemble als gewöhnlicher Foxtrott gespielt“76. Ein weiterer Beleg für den Bruch dieser Entwicklungslogik sieht die Autorin in 72 Michajlovskaja, N.: Das Estradaorchester O. Lundstrem, Sovetskaja Muzyka (1958), 10, S. 107– 109, hier S. 107. 73 ebd. 74 ebd. S. 108. 75 ebd. 76 ebd.
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der falschen oder unvollständigen Bearbeitung und Weiterentwicklung von tragenden Melodien, denen dadurch ihr „lyrischer Charakter abhanden“ komme und der eingangs formulierten Erwartung, nationale Wurzeln zu integrieren, nicht gerecht werden. Die Kritik einer modernen Jazzkomposition von Jurij Saul’skij suggeriert, dass von Seiten der musikalischer Experten ein Grundmaß an Ernsthaftigkeit eingefordert wurde, das die Sprache des Jazz latent herausforderte. Den Titel des „gering entwickelten Stücks“ von Saul’skij „Der Kontrabass entschied sich zu äußern“ („Kontrobas rešil vyskazat’sja“) bezeichnet Michajlovskaja daher als „ziemlich anmaßend“77. Die positive Gesamteinschätzung des Orchesters am Ende des Artikels ist auch im zeitlichen Kontext der verstärkten Diskussion um die „Repertoirefrage des Estrada“ in dieser Zeit zu verstehen. Lundstrems Orchester sei „seiner Sache ergeben“ und ein Kollektiv „auf der Suche“78. In die Pflicht nimmt die Autorin für die weitere Entwicklung des Orchesters die Komponisten selbst, die „dieses talentierte Kollektiv sowie andere begabte Kollektive in ihrer Suche nach Wegen der Entwicklung prägnanter, hinreißender, eigenständiger und hochkünstlerischer Musik unterstützen sollen“79. Das Narrativ eines begabten Orchesters auf der Suche nach einem eigenen sowjetischen Weg zum Jazz durchzog die Berichterstattung der ersten Jahre nach Gründung des Orchesters. Dessen hohe Auftrittsfrequenz kann nicht nur als Zeichen steigender Popularität und steigenden ökonomischen Potentials für die Konzertorganisationen verstanden werden.
6.4 D a s O r che s t e r a l s s oz ia le, mu si k a l i s che u nd p ol it i s che Sy nt he s e Für Teile der Partei- und Kulturbürokratie blieb Massenwirksamkeit, ausgedrückt in quantitativen Angaben zu Konzertkartenverkäufen, das wichtigste Kriterium in der Beurteilung des Erfolgs einer immer noch der Estrada zugeordneten Musikrichtung. Das Lundstrem-Orchester sollte darüber hinaus aber auch als Integrationsangebot einer spezifischen sozialen Gruppe gelesen werden – der sowjetischen Mittelklasse der 1960er-Jahre. Am Beispiel eines Fernsehkonzerts in der Sendung Goluboe Ogonek aus dem Jahr 1964 lässt sich dies verdeutlichen.80 Der Konzertausschnitt ist Teil eines Neujahrskonzerts, bei dem zur Performance des Orchesters 77 ebd. 78 ebd. S. 109. 79 ebd. S. 109. 80 „Nikolai Kapustin Performing with Oleg Lundstrem“, [https://www.youtube.com/watch?v=HEDI9_ oNlCA, letzter Zugriff: 30.04.2018].
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eine Reihe von zunächst an Tischen sitzenden Gästen mittleren Alters zu tanzen beginnt.81 Das Orchester sitzt in einheitlichen Anzügen hinter den charakteristischen Pulten vor dem stehenden Lundstrem auf der Bühne. An der Wand prangert das Logo der Band, die übereinander gelegten Initialen „O“ und „Л“. Anlehnungen an die Bühnenästhetik der amerikanischen Swing-Bands der 1930er-Jahre, wie das Glenn-Miller-Orchestra (dort die Initialen „GM“ auf den einzelnen Podesten der Musiker), sind deutlich erkennbar. Mit Beginn des Stückes zeigt die erste Kameraeinstellung die Bühne und die davor stehenden Tische, von denen sich augenblicklich einzelne Besucher zum Tanz erheben. Der mit einem Taktstock dirigierende Lundstrem leitet die Band durch das auf einem Blues Schema basierende Stück. Über verschiedene Nahaufnahmen auf den Dirigenten und aus der Perspektive des Schlagzeugs auf Bass und Dirigenten vermittelt die Sendung das Bild einer gut gekleideten Gruppe von Musikern, deren Bühnenperformance ohne jene Mimik und Gestik auskommt, die in der sowjetischen Presse Jazz- und aufkommenden Rockgruppen immer wieder vorgeworfen wurde. Und doch zeigt die Inszenierung eine gewisse Eigenständigkeit, die sich nicht vollständig mit dem offiziellen Erwartungsbild deckt. Im ersten Drittel der Kompositionen rufen Musiker aus dem Bläsersatz gleich einer Parodie zu Beginn jedes zweiten Taktes „Tol’ko igraem!“ („Wir spielen nur!“) in den Raum. Nach einem Klaviersolo des Pianisten Nikolaj Kapustin, einem jungen Absolventen des Moskauer Konservatoriums, kehrt die Band wieder zum gemeinsamen Grundmotiv zurück. Das zweite Solo spielt ein Trompeter zunächst von seinem Platz in der dritten Reihe auf der Bühne, bevor er dann die Choreografie aufbricht und ins Zentrum der Bühne neben Lundstrem läuft. Dort spielt er sein Solo weiter in die Kamera gerichtet, wobei durch die Einstellung eine Zweiteilung des Bildes entsteht – in der linken vorderen Hälfte dominiert die glänzende Öffnung der Trompete, während in der rechten hinteren Hälfte der Spieler zu sehen ist. Hier sind Anleihen aus dem Film „Sun Valley Serenade“ zu erkennen, der in der Nachkriegszeit in vielen sowjetischen Kinos gezeigt wurde und für den sowjetischen Jazz dadurch enorme symbolische Bedeutung erlangte. Nach Ende des Solos folgt nach einem Schnitt die letzte Sequenz des Beitrags, die als Ergebnis der erfolgreichen musikalischen Bemühungen des Orchesters im Raum 14 tanzende Paare mittleren Alters zeigt, die sich gut amüsiert zu den letzten Takten des Stückes bewegen und nach seinem Ende gemeinsam Beifall klatschen. Hier erscheinen Jazzimprovisation und Abendunterhaltung der sowjetischen Mittelklasse als harmonisches Ganzes. Der institutionelle Rückhalt von Konzertorganisationen und Komponistenverband weitete sich aus und verstetigte sich zu Beginn der 1960er-Jahre. Bereits 81 Der Weihnachtsbaum auf der linken Seite der Bühne deutet an, dass es ein Konzert zum Jahreswechsel sein muss. Genauere zeitliche Angaben lassen sich nicht eruieren.
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1958 wurde in internen Diskussionen des Kulturministeriums um die Frage der relativ unkontrollierten Ausbreitung kleinerer Jazzensembles auf „die professionellen Bearbeitungen“ in den Lundstrem-Arrangements in dieser Frage verwiesen und die Vorbildwirkung betont, die dieses Orchester ausstrahle.82 Lundstrem selbst verstetigte und manifestierte diese Rolle des Orchesters in der sowjetischen Öffentlichkeit. Ab Beginn der 1960er-Jahre nahm er an einer Reihe öffentlicher Debatten des Komponistenverbands zur leichten Musik teil und avancierte damit zu einer Autorität in Estradafragen, die über kompositorische und praktische Erfahrungen verfügte. Unter den immer noch lockeren kulturpolitischen Bedingungen der frühen Brežnevzeit wurde Lundstrem und seinen Musikern schließlich gestattet, als sowjetisches Estradaorchester im Ausland vor Publikum zu spielen. Eine Tournee durch die Volksrepublik Polen 1965 zeigt, dass die sowjetische Führung Lundstrems Musik als geeignet erachtete, ein modernes Bild sowjetischer Kultur im sozialistischen Ausland und vor dem jazzaffinenen Publikum der Volksrepublik zu vertreten. Dass sowjetische Musiker wiederum einen Vergleich mit polnischen Kollegen nicht scheuen mussten, hatte das Vadim Sakun Sextett bereits 1962 beim Warschauer Jazz Jamboree bewiesen, wohin die Gruppe durch den Komsomol und den Komponistenverband delegiert wurde.83 Einige der damaligen Musiker waren nun in den Reihen des Lundstrem-Orchesters wiederzufinden. Die Reputation der Lundstremcy im Inneren speiste sich ab der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre auch daraus, scheinbar jenen Konflikt überwunden zu haben, der die Jazzmusik in der Sowjetunion nach 1953 strukturiert hatte und seine sozialen und politischen Implikation mitbestimmte, die Trennung von Big Band auf der einen und kleiner Formationen wie Trio oder Quartett auf der anderen Seite. Diese beiden Organisationsprinzipien von Jazzmusik verkörperten in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre noch die Frage um Kontrolle musikalischer Inhalte und die Frage des Zugangs zum legitimen Musikgeschäft. Mit der wachsenden Akzeptanz gegenüber moderneren musikalischen Einflüssen des Jazz und der Integration vieler Musiker aus kleinen Ensembles in den offiziellen Musikmarkt stand nunmehr die Frage von Tradition und Innovation im Vordergrund, wenn über Formen musikalischer Organisation gesprochen wurde. „Noch vor kurzer Zeit“, so der Autor eines Konzertbericht aus dem Jahr 1966, „konnte man regelmäßig einen scharfen Streit zwischen Anhängern und Gegnern des Jazz beobachten“ 84, der sich nicht in der Frage um das künstlerische Niveau der Musik erschöpfte, sondern die Frage der Kunst generell betraf. Der Autor Vartanov beschreibt die Fronten in diesem Konflikt durchaus explizit als 82 Bericht über die Entwicklung des Jazz im Land (1958), RGALI, f.2329, op.3, d.640, 1.30–40. 83 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 171–186. 84 Vartanov, A. N.: Nach einem Konzert von Oleg Lundstrem, in: Sovetskaja Ėstrada i Cirk 6, 1966.
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Auseinandersetzung einer Generation mit dem stalinistischen Kulturetablissement: „Heiße junge Köpfe waren ohne Maß dazu geneigt, jede musikalische Bastelei zum Schatz der Jazzkunst zu erklären, während vorsichtige Administratoren ohne Maß ein Gleichheitszeichen zwischen Jazzklassiker und dekadente Erscheinungen der modernen westlichen Kultur setzten.“85 Jazzquartetten und Sextetten attestiert der Autor im Weiteren die wichtigsten Impulse für musikalische Innovation in den letzten Jahren, während die Situation in großen Orchestern stagniere. Der Hang, in Konzerten und Medien oberflächliche Neuerungen („džazucha“) zu verbreiten, zeuge vielmehr von inhaltsloser Musik, die die „äußere Formen des Jazz imitiert“86 und sowohl für den Hörer als auch den Jazz als solchen eine Gefahr darstelle. Das Lundstrem-Orchester selbst jedoch habe sich in diesen Auseinandersetzungen der Vergangenheit trotz des eklatanten Mangels an sowjetischen Jazzkompositionen seine Führungsrolle erhalten. Die Musiker des Ensembles können nach Vartanov als „Barometer für die musikalische Entwicklung des Jazz“ gelten, während Lundstrem selbst die Rolle eines „Führers in der unterhaltsamen und eigenständigen Welt des Jazz“ attestiert wird. Die positive Referenz des Autors zur „Ergebenheit Lundstrems für den Jazz“ und dem beharrlichen Arbeiten als reine Jazzband, die die Musik nicht in Richtung sinfonischen Jazz oder Estrada-Tanz-Ensemble geführt habe, zeigt, dass sich die Anforderungen an Jazzmusik und deren Funktion seit 1953 deutlich verschoben haben und dessen Eigenständigkeit nun nicht mehr über Merkmale der U-, sondern der E-Musik definiert werden konnten. Lundstrems Orchester konnte als Garant für eine kultivierte und sittsame Form von Jazzmusik interpretiert werden, da er eben nicht jene Teile des Publikums bediente, die für die anfangs kritisierte „äußere Effekthascherei“ in Form von ausgedehnten Instrumental- und Schlagzeugsolos empfänglich sind und dadurch „stürmische Emotionen“87 hervorrufen würden. Während die musikalische Leistung des Orchesters bei den Instrumentalisten hervorgehoben wird, verwendet der Autor ausführlichen Raum zur Kritik an Gesangs- und Tanzeinlagen des Konzertes. Das Programm des erfolgreichen Orchesters wurde scheinbar mit weiteren Gesangs- und Tanznummern überfrachtet, an denen zu viele Tänzer, Sänger und Choreografen mitwirkten.88 Anhand der aus Sicht des Autors „symbolischen Abwesenheit“ Lundstrems am Dirigentenpult zeigt sich, dass im sowjetischen Verständnis des Orchesterformats der Dirigent nicht nur als musikalischer Taktgeber, sondern auch kulturpolitisch Verantwortlicher von zentraler Bedeutung war. Das Überlassen der Dirigententätigkeit bei vielen Liedern des Konzerts verstehe 85 ebd. 86 ebd. 87 ebd. 88 Vgl. ebd.
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der Autor zwar durchaus als „Unlust eines Musikers, alles zu unterschreiben, was bei einem solchen Konzert geschieht“89. Jedoch habe Lundstrem eben nicht nur die musikalische, sondern auch die künstlerische Verantwortung des Orchesters, umso mehr als sein Programm für viele Orchester Objekt der Nachahmung sei.90 Auch wenn Vartanov damit Verständnis für die Ablehnung der Überfrachtung des Programms mit Tanz- und Gesangsnummern artikuliert, bleibt auch für ihn der Dirigent des Orchesters als Leiter nicht nur für die technische Qualität eines musikalischen Organismus verantwortlich. Lundstrem als „Vermittler“ („provodnik“) obliegt auch die künstlerische Gesamtausrichtung gegenüber einer musikalischen Öffentlichkeit und die Verantwortlichkeit für die Entwicklung des ganzen Genres aufgrund der Vorbildwirkung seines Orchesters. Was jedoch galt Mitte der 1960er-Jahre noch als Alleinstellungsmerkmal des sowjetischen Jazz, der aus Sicht vieler Zeitgenossen durch dieses Orchester verkörpert wurde? Wie bereits bei Vartanov deutlich wurde, beschränkte sich die stets geforderte Abgrenzung von westlicher Kultur bei musikimmanenten Kriterien auf das Aufgreifen und Weiterentwickeln folkloristischer bzw. nationaler Elemente. Jazzspezifische Techniken wie die Improvisation wurden ab 1962 zunehmend als Ausdruck von spielerischer Virtuosität und nicht mehr fehlenden Könnens gedeutet. Mit Stücken wie Miraž und dem Tatarskaja Samba hatte Lundstrem bereits Mitte der 1950er-Jahre eine Reihe von umstrittenen, aber aus Sicht reformorientierter Komponisten wie Šostakovič „progressiven“ Folkloreadaptionen für den Jazz geschaffen. Auch die Synthese von Organisationsprinzipien klassischer Musik mit Jazz hatte Lundstrem mit steigendem Engagement des Komponistenverbands weiterentwickelt – so spielte das Orchester eine dreisätzige Jazzsuite des estnischen Komponisten und Jazzmusikers Uno Naissoo. Die Integration neuer Kompositionen von Aram Chačaturjan, dem Estradakomponisten Vasilij Solov’ev-Sedoj, Arno Babadžanjan, Jurij Miljutin und Igor Jakušenko zeigt, dass das Orchester zur ersten Adresse für neue Estradastücke namenhafter Komponisten avancierte. Dessen Konstanz und Auftrittsfrequenzen boten einen klaren finanziellen Anreiz dafür. Darüber hinaus suggerierte diese Namensliste, dass neben einer Reihe musikalischer und organisatorischer Innovationen der Anspruch auf schöpferische Kontinuität und Tradition stand. Erfolgreiche Estradakomponisten wie Solov’ev-Sedoj, Babadžanjan und Miljutin prägten bereits die Estrada der 1930er- und 1940er-Jahre und sprachen damit auch den Geschmack einer älteren Hörergenerationen an. Zum Anlass des zehnjährigen Bühnenjubiläums verfasste Dmitrij Uchov, einer der ersten Musikjournalisten der Sowjetunion, einen Artikel für die Zeitschrift Muzykal’naja Žizn’, in dem deutlich wird, was das Lundstrem-Orchester aus 89 ebd. 90 Vgl. ebd.
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sowjetischer Sicht auszeichnete.91 Uchovs Artikel spiegelt zwar keine offizielle Position der sowjetischen Kulturpolitik gegenüber dem Jazz wieder. Er fällt jedoch in einen Zeitraum, in dem ausführlichen Artikeln zum Thema Džaz in den kulturellen Leitmedien der Epoche (Sovetskaja Kul’tura, Muzykal’naja Žizn’, Sovetskaja Muzyka, Ėstrada i Cirk, Radiostation Majak) mehr Raum gegeben wurde als noch in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre. Einen großen Teil dieser Beiträge verfassten nicht etablierte Journalisten, sondern Akteure, die dem Kreis der „Jazz-Propagandisten“ zuzuordnen sind. Die Inhalte ihrer Artikel spiegeln somit auch gemeinsame Überzeugungen und Ansichten vom nunmehr etablierten Jazzmilieu und sowjetischer Kulturpolitik wieder. Uchov hebt gleich zu Beginn die Tatsache hervor, dass Lundstrems Orchester als erstes sowjetisches Estradaorchester im Ausland aufgetreten war, sich in der Volksrepublik Polen und der ČSSR darüber hinaus gegenüber einer starken nationalen Jazzkultur behauptet und positive Einschätzungen von Jazzkennern erworben habe.92 Diese nutzt der Autor als externe Referenz zur symbolischen Aufwertung des Orchesters. Dieses besteche nicht nur durch hohen Professionalismus, gutes Zusammenspiel und das Können der Soloinstrumentalisten, sondern dadurch, dass „sowjetische Musiker sowjetischen Jazz mitbringen und ihre Musik spielen“93. In der Besprechung des Jubiläumskonzerts, das aus einem auf Estradagesang fokussierten ersten Teil und einer zweiten „der Propaganda des sowjetischen Jazz“ gewidmeten Hälfte bestand, wird deutlich, dass das Orchester sowohl dem massenkulturell orientierten Erwartungsbild an die Estrada gerecht werden musste als auch dem an den Jazz. Dieser hatte durch die Symbiose mit dem Komponistenverband eine hochkulturelle Note bekommen, sprach einzelne soziale Schichten an und konnte von diesen vereinnahmt werden. Im vielfältigen Gesangsrepertoire der ersten Konzerthälfte sieht Uchov eine Erklärung dafür, dass eine Stelle als Vokalist im Orchester für zahlreiche Estradakünstler aus verschiedenen Städten und Republiken der Beginn ihrer Karriere wurde.94 Diese Funktion als Rekrutierungspool für Nachwuchsmusiker zeigt sich am eindrücklichsten an der Biografie von Alla Pugačeva, die 1973 ihre Gesangskarriere als 23-jährige Sängerin im Orchester begann.95 Positiv diskutiert Uchov den zweiten auf Jazzstücken basierenden Teil des Konzerts, der besonders von der Integration einer Reihe junger Solisten profitiert, die erst in den letzten Jahren in das Ensemble aufgenommen wurden. Der Artikel insgesamt zeichnet sich durch 91 Uchov, Dmitrij: Das Oleg-Lundstrem-Orchester ist zehn Jahre alt, in: Muzykal’naja Žizn’ 13, 1967. 92 Vgl. ebd. 93 ebd. 94 Vgl. 95 Vgl. Volk, „Šanchajskij period“, S. 89.
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eine, für die 1960er-Jahre untypisch detaillierte Diskussion von Spieltechniken und Stilmitteln des Jazz aus und steht exemplarisch für die schrittweise Entstehung eines sowjetischen Musikjournalismus. Der Artikel schließt mit einer verallgemeinernden Einordnung des Jazz in der Sowjetunion 1967, der nur auf den ersten Blick wie ein Zugeständnis des Journalisten an redaktionelle und kulturpolitische konforme Anforderungen erscheint. „Im Unterschied zu den meisten westlichen Orchestern“, so Uchov, „spielen unsere nur Konzerte“96. „Sogar im „jazzigen“ Amerika“, so Uchov weiter, „sind die besten Kollektive in der Art von Count Basie und Duke Ellington gezwungen, vorzugsweise in musikalischen Bars und auf Tanzplätzen zu spielen.“97 Nach dieser Lesart war der sowjetische Jazz der kapitalistischen Produktionslogik entzogen und konnte sich so frei entwickeln. Diese politisch konforme Alleinstellung des sowjetischen Jazz durch die Einordnung in das jeweilige Wirtschaftssystem bezog sich aber auch auf die Differenz von U- und E-Musik, die im kulturellen Gefüge der Sowjetunion stark hierarchisiert war. Erst mit Beginn der 1960er-Jahre gelang es den Gruppen von Jazzenthusiasten und Amateurmusikern langsam, diese Differenz zu überwinden und den Status des Jazz zu einer legitimen Kunstform zu erhöhen. Uchov akklamierte diesen Erfolg auf der Folie des Lundstrem-Orchesters, ohne zwangsläufig die polare Trennung von sozialistischer und kapitalistischer Kultur inhaltlich zu teilen. Die Perspektive des Autors unterschied sich von der eines Musikers. Das sowjetische Konzertwesen mag hinsichtlich materieller und sozialer Sicherheit dem amerikanischen freien Markt überlegen gewesen sein. Aber auch ein Vollzeitmusiker im Jazz in den sowjetischen 1960er-Jahren war auf den Unterhalt als Lehrkraft oder meistens das Spielen in Estrada- bzw. Jazzorchestern angewiesen, deren hohe Auftrittsnormen bereits diskutiert wurden. Lundstrems Orchester bot nach zehn Jahren seiner Existenz eine Projektionsfläche sowohl für eine vermeintlich erfolgreiche und eigenständige sowjetische Kulturpolitik als auch für eine spezifische Alterskohorte aus dem Milieu der technischen Intelligencija, deren Bemühungen um die Aufwertung einer auf Improvisation basierenden Form des Jazz gleichsam ein Projekt zur gesellschaftlichen Anerkennung darstellten. Dieser scheinbare Widerspruch ist ohne einen Blick auf die musikalische Entwicklung und die dahinterstehenden Besetzungswechsel nicht vollends verständlich. Mit wachsender kulturpolitischer Akzeptanz und ökonomischem Erfolg Ende der 1950er-Jahre erhöhten sich der musikalische Spielraum des Orchesters und die Autonomie hinsichtlich musikalischer Innovationen. Bereits zu seiner Neugründung stach das Orchester ob seiner musikalischen Prägung im internationalen Shanghai der 1930er- und 1940er-Jahre deutlich unter den existierenden Gruppen hervor. 96 Uchov, Oleg Lundstrem. 97 ebd.
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Während zumindest bei Eddi Rosner das Konzept der Improvisation bei seinen Trompetensoli deutlich zum Tragen kam, waren Lundstrems Musiker nicht nur in dieser Technik erfahren. Musikalisches Alleinstellungsmerkmal der Lundstremcy war der vollständige Verzicht auf Streicher und Akkordeon, die dem Sovetskij Džaz der 1930er-Jahre seine distinkte Note gaben.98 Die meisten Mitglieder der Originalbesetzung beherrschten zudem mehrere Instrumente. Das Orchester vereinte in seinem Programm Elemente von U- und E-Musik, wie es sich beispielsweise in der Teilung in einen Gesangs- und Tanzteil einerseits und Jazzstücke andererseits niederschlug. Damit war es in der Lage, gleichzeitig die Anforderungen der Partei nach Massenwirksamkeit und Popularität an die Estrada, nach finanziellem Erfolg der Konzertorganisationen und technischem Können und ästhetischen Standards des Komponistenverbands zu erfüllen. Gelang es, all diese Ansprüche zu erfüllen, waren der Erweiterung musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten und der Adaption westlicher Entwicklungen der Jazzmusik wenig Grenzen gesetzt. Die Hinzunahme von Hörnern in den Bläsersatz in den 1960er-Jahren ließen einen Einfluss der amerikanischen Jazzmusik erkennen, wo sich das Instrument im Zusammenhang mit dem modalen Jazz seit den 1950er-Jahren etabliert hatte. Eine Reihe von Kompositionen der späten 1960er-Jahre ließen für sowjetische und ausländische Beobachter einen deutlichen Einfluss des von Gunter Schuller 1957 proklamierten Konzepts des „Third Stream“ sichtbar werden, das eine Auflösung der Polarität von E- und U-Musik durch die Synthese von neuer Musik und modernem Jazz anstrebte. Die 12-minütige Komposition Luč T’my des talentierten Leningrader Nachwuchssaxofonisten Roman Kunsman, der Ende der 1960er-Jahre die Saxofonsektion des Orchesters leitete, zeichnet sich durch ein komplexes Arrangement der Bläsersätze sowie eine Vielfalt von Skalen aus, auf denen die Solisten improvisieren.99 Mit ihr trat das Orchester beim vom Komponistenverband und Komsomol organisierten Moskauer Jazzfestival 1967 an. Das Lundstrem-Orchester musste so auch nicht den direkten Vergleich mit den zahlreichen kleineren und moderneren Jazzgruppen fürchten, die vor einer Jury des Komponistenverbands auf den Moskauer Jazzfestivals in den 1960er-Jahren antraten. Vielmehr definierten ab der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre einige der großen Gruppen, wie die Lundstremcy, das von Jurij Saul’skij neugegründete Jazzorchester VIO-66 oder traditionell orientierte Bands wie die „Leningradskij Diksiland“, einen neu ausgehandelten, musikalisch breiten Rahmen des Sovetskij Džaz. Nach 1981 schließlich verzichtete Lundstrem
98 Art. Lundstrem, Ėstrada Rossii. 99 Vgl. LP „Džaz 67. IV Moskovskij festival’ molodežnych ansamblej“, mono, Melodija D 020983-4.
Das Orchester als soziale, musikalische und politische Synthese
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auf jegliche Formen von Estradastücken und spielte nur noch ein reines Jazzprogramm. 100 Grundlage für die besonders bis Ende der 1960er-Jahre deutliche Anpassungsleistung und Veränderungsbereitschaft war die Personalpolitik des Orchesters, nach der geeignete Musiker gleich ihrem institutionellen Hintergrund rekrutiert wurden. Lundstrems Erfolg erwuchs gerade aus der Integration junger Spieler, die sich das neue Jazzidiom in jahrelanger Praxis in der musikalischen Schattenwirtschaft angeeignet hatten. Aus Perspektive des Marktes für Unterhaltungsmusik gelang den Akteuren des Orchesters das Schaffen eines ersten dauerhaft bestehenden musikalischen Organismus, über den Musiker aus nicht-sanktionierten Ausbildungswegen in den Konzertbetrieb integriert werden konnten. Kulturpolitische Maßnahmen gegen die inoffiziellen Marktmechanismen der Birža wurden in Anbetracht des eklatanten Mangels an geeigneten Estradamusikern flankiert mit einer Vereinfachung der Aufnahme qualifizierter Musiker, die aus dem Amateurbereich kamen oder eine klassische Ausbildung bestritten hatten. Prominenteste Beispiele dafür sind die Saxofonisten Georgij Garanjan und Aleksej Zubov sowie der Posaunist Konstantin Bacholdin. Alle drei hatten ab 1952 das illegale Jazzensemble Vos’merka zu kommerziellem Erfolg und einer legendenumwobenen Bekanntschaft auf dem illegalen Musikmarkt von Moskau geführt.101 1957 wurden die drei Musiker schließlich Mitglieder des von Jurij Saul’skij geleiteten Jazzorchesters des CDRI, das die Sowjetunion beim Estradagruppenwettbewerb der Weltjugendfestspiele vertreten sollte und unerwartetet den zweiten Platz im internationalen Wettbewerb erreichte. Trotz des inszenierten Skandals und der Auflösung der Gruppe hatten sich Garanjan, Zubov und Bacholdin nun eine Reputation erarbeitet, die sie für Lundstrem als neue Musiker attraktiv machte.102 Auch andere Karrieren lassen das Orchester als „Kaderschmiede“ für den sowjetischen Musikbetrieb erscheinen. Das bezieht sich nicht nur auf die bereits erwähnte Alla Pugačeva. Auch das Beispiel Garanjans zeigt, wie das Orchester auf junge kompetente Musiker zurückgriff und diese im Laufe ihres Engagements im Orchester zusätzliche Fertigkeiten erwarben, die ihre weitere Karriere entscheidend prägten. Garanjan, geboren 1934, erlernte das Saxofonspiel im Selbststudium, während er am Werkzeuginstrumenten Institut in Moskau 1957 ein Studium als Ingenieur abschloss. Während seiner Tätigkeit in Lundstrems Orchester zwischen 1958 und 1965 spielte er nicht nur als Solist, sondern verantwortete als Konzertmeister der Saxofonsektion auch die Arbeit der anderen Bläser und 100 Art. „Lundstrem, Oleg Leonidovič“ (Arkadij Petrov), in: E. D. Udarova (Hg.), Ėstrada Rossii dvadcatyj vek leksikon. Moskau 2000, S. 325–327. 101 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 203–205. 102 Vgl. Ignat’eva, Marina: Musikalische Stiljagi, in: Sovetskaja Kul’tura 1957.
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trat schließlich auch als Arrangeur neuer Stücke in Erscheinung.103 Im Rahmen kleinerer Ensembles, mit denen er parallel zusammenarbeitete, gelangen eine Reihe erfolgreicher Auftritte bei Festivals in der UdSSR (Tallinn, Moskau) und im Ausland (Prag, Warschau). Zwischen 1966 und 1968 folgte ein Engagement als Konzertmeister und Solist des Estradaorchesters von Gosteleradio, das von Vadim Ljudvikovskij geleitet wurde. Dessen Karriere wiederum begann Ende der 1940er-Jahre als Arrangeur in Utesovs Estradaorchester.104 Auch dieses Orchester griff ab den 1960er-Jahren auf eine wachsende Zahl professioneller Musiker mit Amateurhintergrund zurück, viele Musiker durchliefen beide Orchester. Garanjan intensivierte seine ersten Erfahrungen in der Leitung anderer Musiker und der Komposition mit einem Abschluss für Dirigieren am Moskauer Konservatorium im Jahr 1969.105 Das Orchester von Gosteleradio, dessen Leitung er zwischen 1972 und 1973 innehatte, wurde auf politischen Druck hin aufgelöst.106 Die Mehrzahl seiner Musiker fand im Instrumentalensemble der staatlichen Schallplattenfirma Melodija ein neues Orchester, das Garanjan als künstlerischer Leiter, Dirigent und Solomusiker bis 1983 entscheidend mitprägte. Seine Biografie zeigt, dass der Einfluss jener im Lundstrem-Orchester sozialisierten Künstler sich nicht auf den Jazz beschränkte. Zahlreiche Veröffentlichungen des Melodija-Ensembles mit bekannten Stimmen der Estrada, die Tätigkeit als Dirigent von Filmmusik für „Die zwölf Stühle“(1971), „Die Abenteuer von Buratino“ (1975) und „Ironie des Schicksals oder Mit leichtem Dampf“ (1976) machen deutlich, welch langfristiger Einfluss auf die sowjetische Massenkultur der späten Sowjetunion von ihnen ausging. Bei der Rekrutierung von Musikern griff Lundstrem aber auch auf geeigneten Nachwuchs aus den Konservatorien zurück, die jedoch erst Ende der 1960er-Jahre begannen, Jazzmusik und -orchestrierung in ihr Curriculum aufzunehmen. Für den Pianisten Nikolaj Kapustin bildete die siebenjährige Tätigkeit bei Lundstrem die Grundlage für eine wechselvolle Karriere, die sich kaum in der Polarität von E- und U-Musik auflösen lässt. Die beständige Integration neuer Nachwuchsmusiker hat sich in den letzten Dekaden zu einem zentralen Narrativ der Bandgeschichte des Orchesters entwickelt. Die von Aleksej Zubov Anfang der 2010er-Jahre bezeichnete „voll einsatzbereite Maschine, in der
103 Vgl. dazu Petrov, Arkadij: Art. Garanjan, Georgij Aramovič, in: E. D. Uvarova (Hg.), Ėstrada v Rossii. XX vek. Leksikon. Moskau 2000, S. 126. 104 Vgl. Fejertag, V.: Ljudvikovskij, Vadim Nikoleavič, in: E. D. Uvarova (Hg.), Ėstrada v Rossii. XX vek. Leksikon. Moskau 2000, S. 328; Terleckij, V.: Vadim Ljudvikovskij, in: Mededev, Sovetskij Džaz, S. 360–364. 105 Petrov, Garanjan. 106 Vgl. Trofimof, Michail: Verzeihen Sie, Maestro … Letztes Interview mit Georgij Garanjan [http://www.noev-kovcheg.ru/mag/2010-02/1937.html, letzter Zugriff: 30.04.2018].
Fazit
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vier Generationen wie eine spielen“107, spiegelt das Narrativ eines musikalischen Organismus wider, der über alle politischen Zäsuren hinweg musikalische Entwicklung vorangebracht und Musiker verschiedenen Alters für ein höheres Ziel zusammengeführt habe.
6. 5 Fa z it Wie konnte sich das Orchester nun zu einer akzeptablen Antwort auf die sowjetische Jazzfrage entwickeln, die seit Mitte der 1950er-Jahre mit neuer Vehemenz gestellt wurde? Die Sozialisation Lundstrems und seiner Musiker an der sowjetischen multinationalen Peripherie und die Spielerfahrungen im kosmopolitischen Vorkriegs-Shanghai machten sie routiniert im Umgang mit verschiedenen Kulturen und erfahren in Spiel und Adaption internationaler Jazzstandards. Deren Beherrschung und rasche Adaption war im Musikgeschäft des kosmopolitischen Shanghais unumgänglich. Die Erfahrung dieses internationalen und kommerziellen Umfelds unterschied sie deutlich von sowjetischen Jazzmusikern ihrer Generation, die in den 1930er- und 1940er-Jahren abgeschirmter von der internationalen Entwicklung des Jazz lebten und arbeiteten. Eine Kerngruppe von acht Musikern spielte bereits zwei Dekaden effizient und abgestimmt aufeinander. Die Lundstremcy waren somit in der Lage, neue Stücke in vertrauter Besetzung rasch umzusetzen und flexibel mit stilistischen Neuerungen auf kulturpolitische Umbrüche zu reagieren. Ihre hohe durchschnittliche Qualifikation – die meisten Musiker beherrschten zwei Instrumente – ermöglichte ihnen in der spätstalinistischen Peripherie Kazan’s ein Auskommen bei Anstellungen im Bereich der ernsten Musik. Der offensichtliche Mangel an talentierten Musikern und Lehrern in der sowjetischen Peripherie begünstigte ihre Situation in dieser Phase. Die von Lundstrem arrangierten tatarischen Stücke stießen in Moskau 1956 deswegen auf großes Interesse, da im Kreis der musikalischen Experten die Frage nach einem geeigneten Orchester diskutiert wurde, das die ideologischen Anforderungen nach nationalen melodischen Grundlagen mit dem Auftreten und den spielerischen Techniken eines modernen Jazzorchesters zu verbinden wusste. Ein solches Orchester entsprach dem Zeitgeist eher als jenes Leonid Utesovs, dessen Popularität zwar ungebrochen blieb, seinen Zenit aber altersbedingt überschritten hatte. Er stand für Unterhaltung und gesellschaftliche Integration in den stalinistischen 1930er-Jahren, über die zwar nach 1953 nicht offen gesprochen wurde, denen
107 Zit. Interview Arkadij Petrov mit Oleg Lundstrem, ohne Datum (zwischen 2000 und 2004), unpubliziertes Manusskript, Privatarchiv Arkadij Petrov.
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Fallstudie I – Das Oleg-Lundstrem-Orchester
die liberal orientierte Gruppe von Komponisten und die Redaktion der Sovetskaja Muzyka aber einen kulturellen Kontrapunkt in der Estrada entgegensetzten. Der Erfolg der Kollaboration zwischen musikalischen Experten und Konzertorganisationen erklärt sich daher nicht allein mit den finanziellen Gewinnen, die im Rahmen der VGKO erwirtschaftet wurden, sondern erst mit dem symbolischen Gewinn für die staatliche Kulturpolitik, die das Orchester als Repräsentation einer modernen Sowjetunion mit internationalem Anspruch generierte. Die Lundstremcy profitierten materiell enorm von der Aufnahme in das staatliche Konzertwesen, investierten aber besonders in den ersten Jahren ihrer Existenz enorme Energie und Zeit in die Konzerttätigkeit, um den von verschiedenen Akteuren des Musikmarktes in sie gesetzten Erwartungen gerecht zu werden und die Existenz des Orchesters damit auch gegenüber ideologischen Einwänden zu rechtfertigen. Das Orchester und der sowjetische Staat gingen damit eine finanzielle und ideologische Symbiose ein. Die spielerischen Qualitäten des Orchesters, aber eben auch seine geschickte ideologische Anpassung sicherten die Unterstützung des Kulturministeriums 1956 und schützten es als loyales Orchester vor ideologischen Anfeindungen durch konservative Vertreter von Staat und Partei. Häufig standen hinter solchen Angriffen Konflikte um die Umschichtung von Ressourcen zuungunsten der klassischen Musik, die langfristig aber von eben jener Estrada finanziert wurde. Fernsehinszenierungen und Auslandsauftritte zeigen das von der sowjetischen Kulturpolitik in den 1960er-Jahren erkannte Potential, sowohl die städtische Mittelklasse als auch das Ausland anzusprechen und ein modernes Bild der Sowjetunion zu vermitteln. Nicht zuletzt mit der auffällig pragmatischen Rekrutierungspolitik neuer Musiker – der am Konservatorium ausgebildete Pianist Kapustin genauso wie der Saxofonist Garanjan – aus dem Bereich der Jazzenthusiasten ohne staatliche Ausbildung ermöglichten eine beständige Verjüngung des Orchesters. Eben dadurch gelang es, nicht nur eine Brücke zwischen den polar codierten Sphären von Konzert- und Estradawelt oder dem Internationalen und Nationalen des Jazz zu schlagen, sondern auch jazzdistanzierte professionelle Musiker mit jazzaffinen Laienspielern zusammenzubringen.
7. FA L L S T U D I E I I – D I E B E N N Y G O O D M A N T O U R N E E 1962
Die Tournee des Jazzorchesters von Benny Goodman durch die Sowjetunion im Frühling 1962 galt als kulturpolitische Sensation inmitten des Kalten Krieges. Zwischen dem 28. Mai und dem 9. Juli gab das vom US -amerikanischen State Department organisierte Orchester 30 Konzerte in Moskau, Soči, Taškent, Leningrad und Kiev, die von mehreren 10.000 sowjetischen Bürgern besucht wurden und über die ebenso einige Dutzend westliche Journalisten fortwährend berichteten. Auf den ersten Blick vollzog sich dieses Medienereignis vor dem Hintergrund internationaler Spannungen zwischen dem Bau der Berliner Mauer 1961 und der Kuba-Krise im Sommer 1962. Gleichzeitig machte sich während dieser Monate in der Sowjetunion eine Phase kulturpolitischer Entspannung bemerkbar. Die sowjetische Führung um Chruščev initiierte ab 1961 eine zweite Welle von Kritik am Stalinismus. Mit diesem politischen Werkzeug unternahm der Erste Sekretär auf dem XXII. Parteitag einen erneuten Angriff auf die Reformgegner, die sich gegen die waghalsigen Reformen und den politischen Stil Chruščevs langsam organisierten. Im Zuge jenes zweiten Tauwetters wurde der vormals entlassene Tvardovskij wieder als Chefredakteur der Zeitschrift Novyj Mir eingesetzt. Jetzt erschien eines der kritischsten Stücke des Tauwetters, Aleksandr Solšenicyns „Ein Tag im Leben des Ivan Denisovič“. Anfang der 1960er-Jahre deutete sich eine moderatere Position der Kulturpolitik gegenüber dem Jazz an. Das Stadtkomitee des Moskauer Komsomol eröffnete Ende 1961 eine Reihe von Jugendcafés mit dem expliziten Zweck, der jungen jazzaffinen Amateurbewegung eine kontrollierbare Bühne für kultivierte Freizeit zu geben. Leonid Utesov postulierte in einem Artikel in der Sovetskaja Kul’tura im Februar 1961, das die Existenz des Jazz in der Sowjetunion kaum mehr zu bestreiten sei und auf eine eigene genuine Geschichte zurückblicke.1 Wie fragil diese innenpolitische Entspannung aber gleichzeitig war, zeigt sich bereits innerhalb des sechswöchigen Zeitraums der Tournee. Während Goodmans Orchester seine ersten Konzerte in Moskau gab, zu denen Chruščev persönlich erschien, schlugen sowjetische Truppen des Militärs und Geheimdienstes den Aufstand von Novočerkassk mit Waffengewalt nieder, bei dem sich der Protest gegen die drastische Erhöhung von Lebensmittelpreisen infolge von Missernten zu einem lokalen Aufruhr gegen die Vertreter der sowjetischen Organe gewandelt hatte.2 Wenige Monate später sollte der von konservativen Kräften organisierte 1 2
Vgl. Utesov, Gedanken über Jazz. Vgl. dazu Baron, Samuel H.: Bloody Saturday in the Soviet Union: Novocherkassk, 1962. Stanford 2004; Andy, Joshua: The Soviet Military at Novocherkassk. The Apex of Military Professionalism
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Skandal beim Besuch Chruščevs einer Ausstellung moderner Künstler in der Moskauer Manege zum abrupten Ende des „zweiten Tauwetters“ führen.3 Bereits wenige Tage nachdem Goodmans Musiker des Orchesters im Juli Moskau Richtung Westeuropa und die USA verlassen hatten, machte sich ein erster Konvoi der sowjetischen Handelsflotte beladen mit militärischer Ausrüstung im Rahmen der Operation Anadyr auf den Weg Richtung Kuba. Die Bedeutung der Tournee für die Entwicklung des Jazz in der Sowjetunion ergibt sich somit aus mehreren Aspekten. Auf der internationalen Ebene des Kalten Kriegs verdeutlicht Benny Goodmans Tour, wie stark politisiert der Jazz als Teil der kulturellen Auseinandersetzung der Systeme war und wie die sowjetische und US -amerikanische Seite versuchten, mit dieser Spannung unter den Augen der Weltöffentlichkeit umzugehen. Goodmans Gastspielreise war dabei nicht die erste eines westlichen Orchesters mit Unterhaltungsmusik nach Stalins Tod. Bereits 1955/56 gastierte die Everyman-Opera mit Gershwins Porgy und Bess in Leningrad und Moskau, dessen deutliche musikalische Anleihen aus der afroamerikanischen Musikkultur innerhalb der sowjetischen Presse zu widersprüchlichen Einschätzungen führten, aber auch Raum für erste musikwissenschaftliche Auseinandersetzungen boten.4 Im selben Jahr unternahm das westdeutsche Jazzorchester von Max Greger eine Tournee durch verschiedene Städte der Sowjetunion. 1957 tourte das französische Orchester von Michel LeGrand mit einem Repertoire mehrheitlich moderner Jazzinterpretationen durch das Land. Die afroamerikanischen Musiker des Yale Russian Chorus Willi Ruff und Dwike Mitchel gaben 1959 einige Jazzkonzerte in Moskau vor kleinem Publikum, die sogar in der Sovetskaja Muzyka besprochen wurden.5 1968 gastierte Earl Hines in der Sowjetunion, dessen in Moskau und Leningrad geplante Konzerte nach seinen ersten Auftritten in Kiev als „kulturell gefährlich“6 eingestuft und abgesagt wurden. 1971 schließlich bereiste Duke Ellington im Klima außenpolitischer Entspannung nach Richard Nixons Moskaubesuch die Sowjetunion.7 Was die Tournee von Goodmans Orchester auf internationaler Ebene jedoch einzigartig machte, ist, dass sie einen der Höhepunkte der amerikanischen Jazz Diplomacy darstellte, mit der das State Department seit
3 4 5 6 7
in the Krushchev Era?, in: Melanie Ilic (Hg.), Soviet State and Society under Nikita Krushchev. London [u.a.] 2011, S. 181–196. Vgl. Reid, In the Name of the People. Vgl. Konen, Valentina: Porgy und Bess. Theaterstücke der amerikanischen Theatergruppe „Everyman Opera“, in: Sovetskaja Muzyka 3, (1956), S. 118–122. Vgl. Pereversev, Leonid: Schwarze Künstler in der UdSSR, Sovetskaja Muzyka 9 (1959), S. 135– 136. o. A.: Reds change Hines Tour, in: Washington Post, 26.07.1966. Vgl. Cohen, Visions of Freedom.
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1955 versuchte, das Bild der USA im Ausland positiv zu beeinflussen.8 Diese von Dwight D. Eisenhower explizit beförderte Strategie der kulturellen Außenpolitik zielte zum einen darauf, das asymmetrische Bild des „kulturlosen amerikanischen Imperiums“ gegenüber Europa als Ort der Hochkultur zu korrigieren, indem Jazz zu einem genuin amerikanischen Kulturgut erhoben wurde.9 Das zweite Ziel gewann in der ideologischen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion und dem Werben um blockfreie Staaten direkte politische Relevanz. Staatliche gesponserte Tourneen afroamerikanischer Musiker wie Dizzy Gillespie und Duke Ellington sollten ein Amerika frei von rassistischer Diskriminierung und Ungleichheit nach außen verkörpern, das es zu diesem Zeitpunkt erst noch werden musste.10 In der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion erwiesen sich die Rassentrennung und politische Diskriminierung innerhalb der USA als Achillesferse, welche die sowjetische Presse regelmäßig thematisierte und die auch in der diplomatischen Praxis ein beständiges Hindernis waren. Nachrichten über die rassistisch motivierten Überfälle auf die „Freedom Fighters“ in den amerikanischen Südstaaten brüskierten Kennedy während seines gemeinsamen Treffens mit Chruščev in Wien. Jazz war nicht mehr nur Indikator unterschiedlicher kultureller Leitbilder im Kalten Krieg, er war seit den 1950er-Jahren auch zu einem Medium aktiver Auseinandersetzung geworden. Aus amerikanischer Sicht bot die inkonsistente ablehnende bis zögerliche Haltung der Sowjetunion und die allgemeine Popularität, die der Jazz selbst im Spätstalinismus in gesamten Ostblock genoss, eine geeignete Möglichkeit, die sowjetische Seite bloßzustellen. Mit der Einrichtung der Radiosendung „Jazz USA“ beim Sender Voice of America 1953 hatte man bereits auf die Attraktivität unter Jugendlichen reagiert.11 Die Hörerschaft der Jazzsendungen wuchs nach Schätzungen von 30 auf 100 Millionen Hörer zwischen 1955 und 1965.12 In den alle zwei Jahre neu ausgehandelten kulturellen Austauschabkommen zwischen den USA und der Sowjetunion war es der amerikanischen Seite bis dahin kaum gelungen, die Dominanz sowjetischer Chöre, Orchester und Solisten im Feld der klassischen Musik zu brechen, deren Musik im Westen eine größere Resonanz erzeugte als moderne Komponisten wie Paul Hindemith oder Karl Heinz Stockhausen.13 Die Tournee von Goodman bot der amerikanischen Seite erstmals 8 Vgl. Eschen, Jazz Ambassadors, S. 4. 9 Vgl. Cull, Nicholas John: The Cold War and the United States Information Agency. American Propaganda and Public Diplomacy, 1945–1989. Cambridge 2008, S. 161–170. 10 Vgl. Eschen, Jazz Ambassadors, S. 16–17. 11 Vgl. Ritter, Rüdiger: The Radio – A Jazz Instrument of Its Own, in: Ders./Gertrud Pickhan (Hg.), Jazz Behind the Iron Curtain. Frankfurt a. M. [u.a.], S. 35–55. 12 Vgl. Eschen, Jazz Ambassadors, S. 14. 13 Vgl. Caute, Dancer, S. 377–414.; Mikkonen, Simo/Suutari, Pekka (Hg.): Music, Art and Diplomacy. East-West Cultural Interactions and the Cold War. London/New York 2016.
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eine Chance, die scheinbare Unterlegenheit im Feld der klassischen Musik durch ihre Stärke im Bereich der Unterhaltungsmusik zu kompensieren. Während die sowjetische Seite nach langwierigen Verhandlungen schließlich bemüht war, das Gastspiel des Orchesters professionell und ohne politisierbare Zwischenfälle durch Goskoncert zu organisieren, versuchten einige Vertreter des State Departments und der westlichen Presse, die das Orchester begleiteten, jeden kleinen Konflikt oder organisatorischen Fehler der Reise zum Politikum zu machen. Aus ihrer Sicht bot die Tournee eine Chance, die der Musikwissenschaftler Cohen auch für das Gastspiel Duke Ellingtons 1971 bilanzierte: „The tour exposed the limits of what the closed society of the Soviet government could shield from their own people.“14 Innerhalb des kulturellen Wettstreits der Systeme kam dem Besuch von Goodmans Jazzorchester enorme symbolische Bedeutung zu. Als historisches Ereignis verband er ideologische Auseinandersetzung mit der Chance auf symbolische und reale Annäherung, die der Wechselseitigkeit des Austauschs von Orchestern, Solisten, Ausstellungen, wissenschaftlichen Delegationen und Studenten ja latent innewohnte. Präsident Kennedy schrieb am Tag nach dem Eröffnungskonzert in Moskau an Chruščev: „In closing, let me say that I noticed with appreciation your friendly gesture in attending the concert offered by Benny Goodman in Moscow last week. I myself look forward to attending a performance of the Bolshoi Ballet when it comes to us in the fall.“15 Nicht nur auf der Makroebene des Kalten Krieges, sondern auch auf der Mikroebene öffnete das sechswöchige Gastspiel ein kurzes Zeitfenster, in dem direkte Begegnungen, Kontakte und Verständnis ebenso wie Konflikte und Mißverständnisse möglich wurden. Aus ihnen erst entstand das für den Systemkonflikt so entscheidende Bild des „Anderen“. Sie ermöglichten es den Akteuren gleichsam, bestende Vorstellungen in Frage zu stellen. Während des Gastspiels trafen nicht nur staatliche Vertreter der Sowjetunion und der USA aufeinander. Westliche Journalisten kamen in direkten Kontakt mit einer im Wandel begriffenen Gesellschaft. Amerikanische Musiker trafen auf ein durchaus kritisches Publikum und ambitionierte junge sowjetische Jazzmusiker. Diese hatten sich in den vorangegangen zehn Jahren hauptsächlich am amerikanischen Vorbild orientiert. Durch die Öffnung des Landes gegenüber europäischer und amerikanischer Kultur wurden auch diese Musiker zunehmend auf die Frage zurückgeworfen, was innerhalb einer internationalen Musikkultur einen genuin „sowjetischen Jazz“ ausmachte. Die von den lokalen Sicherheitsorganen kritisch beäugten Zusammenkünfte zwischen sowjetischen und amerikanischen Musikern fanden in den Lobbys von Hotels, 14 Cohen, Visions of Freedom, S. 297. 15 Brief von Präsident Kennedy an den Vorsitzenden Chruščev vom 05.06.1962, [https://history.state. gov/historicaldocuments/frus1961-63v06/d45, letzter Zugriff: 30.04.2018].
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hinter Konzertbühnen, in Restaurants, während offizieller Führungen oder auf den Straßen von Moskau, Leningrad und Tbilisi statt. Sie gaben den amerikanischen Gästen die Möglichkeit, sich aus erster Hand mit den Lebensrealitäten des Sowjetbürgers vertraut zu machen, Vorurteile zu revidieren oder zu bestätigen. Russische Zuhörer, aber auch Jazzmusiker traten amerikanischen Gästen mit Neugier und Faszination, aber auch kritischen Standpunkten und Vorurteilen gegenüber. Für viele Vertreter der Jazzenthusiasten aus Moskau und Leningrad war es nicht die erste Begegnung mit westlichen Musikern, denen man anders als noch zu den Weltjugendfestspielen 1957 zunehmend selbstbewusster gegenübertrat. Eine wichtige Folge dieser informellen Zusammentreffen war, dass die westliche Öffentlichkeit mit der Herausgabe des Albums Soviet Jazz Themes Anfang 1963 erstmals die Möglichkeit bekam, sich mit Kompositionen der jüngeren Generation sowjetischer Jazzmusiker bekannt zu machen.16 Der Vibraphonist des Goodman-Orchesters Victor Feldman hatte eine Reihe von Kompositionen des Leningrader Saxofonisten Gennadij Gol’štejn und des Moskauer Trompeters Andrej Tovmjasan mit amerikanischen Musikern eingespielt. Aus Binnenperspektive der Sowjetunion ist die Tournee schließlich ein aufschlussreiches Beispiel für die institutionelle Entwicklung und organisatorische Praxis des kulturellen Austauschs innerhalb des sowjetischen Markts für Unterhaltungsmusik. An der Umsetzung der Tournee waren neben der 1956 gegründeten Konzertorganisation Goskoncert verschiedene Instanzen der Republiks-, Bezirksund Kreisebene beteiligt, deren Koordination eine Herausforderung darstellte. Die mediale Aufmerksamkeit der westlichen Pressevertreter machte deren Arbeit auch außenpolitisch relevant. Hier konnten die politische Führung und die kulturellen Administratoren auf Erfahrungen aufbauen, die bei der Organisation von Konzerten italienischer, polnischer, rumänischer oder norwegischer Estradagruppen zwischen 1955 und 1962 gemacht wurden. Die Wirkung der Tournee Goodmans zeigt sich jedoch weniger in der organisatorischen als in der inhaltlichen Ausrichtung der sowjetischen Kulturpolitik gegenüber dem Jazz. Mit der grundlegenden Bereitschaft, amerikanischen Jazz auf sowjetischem Boden spielen zu lassen, waren das Kulturministerium und musikalische Experten unter Ägide der Partei gezwungen, explizit darüber zu urteilen, was den Sovetskij Džaz in seiner Essenz als Gegenbild zum amerikanischen Jazz ausmache. Die grundlegend unterschiedlichen Produktionsverhältnisse in den USA und der Sowjetunion mussten einer traditionellen marxistischen Lesart nach zu unterschiedlichen Formen künstlerischer Produktion führen. Der Frage nach den musikalischen und sozio-ökonomischen Spezifika des sowjetischen Jazz ging eine grundsätzliche Anerkennung seiner Existenz und Eigenart voraus. Darüber diskutierten Experten und Öffentlichkeit bereits seit 16 Vgl. LP Victor Feldman Allstars „Soviet Jazz Themes“, mono, 1963, (MGM-C 954).
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1960 intensiver. Goodmans Gastspiel 1962 wirkte hier als Katalysator. Wieweit die Emanzipation vom amerikanischen Vorbild in diesen Definitionsversuchen reichte, hatte Leonid Utesov bereits 1960 bewiesen, als er die Eigenständigkeit des sowjetischen Jazz schon am Beginn seiner historischen Entwicklung ausmachte: „Die für den Jazz so wichtige Technik der Improvisation ist nicht in New Orleans, sondern bereits im Odessa der Jahrhundertwende entstanden.“17 Erklärungsbedürftig ist, unter welchen Bedingungen die Tournee einer vormals verfemten Musikform aus sowjetischer Sicht möglich und akzeptabel wurde. Wie ordnen sich die Organisation des Ablaufs und das Zusammenspiel der Behörden in die Geschichte des kulturellen Austauschs zwischen 1955 und 1970 ein? Während die amerikanische Perspektive auf die Tournee in Penny von Eschens Studie zu den „Jazz Ambassadors“ bereits untersucht wurde, zielt dieses Kapitel auf die sowjetische Deutung dieser sechs Wochen. Deutungsangebote der sowjetischen Presse erlauben es, nach den Langzeitfolgen von Goodmans Tournee für die ideologischen Auseinandersetzungen durch offizielle Stellen um den sowjetischen Jazz zu fragen. Auf der Mikroebene wiederum kann erörtert werden, welche Begegnungen zwischen Individuen verschiedener politischer Systeme ermöglicht wurden, wie diese ihre Erfahrungen interpretierten und in den Kontext des Jazz stellten. Die Wahl Goodmans als erster amerikanischer Jazzmusiker in der Sowjetunion nach dem Krieg war nicht nur in den USA Thema scharfer Kontroversen. Sein BigBand Jazz der 1930er und 40er-Jahre schien weder ein modernes Amerika noch das Versprechen von Rassengleichheit zu verkörpern, das für die Jazzcommunity der 1950er- und 1960er-Jahre eindeutig mit dem emanzipatorischen Gestus des auf Improvisation basierenden Bebop verknüpft war. Die Konflikte um den Grad von improvisatorischem Spiel, um Sololängen und Titelauswahl spalteten nicht nur Goodmans Orchester, das in seiner Mehrzahl aus Musikern der neuen Generation bestand, sondern führten auch zu ambivalenten Reaktionen im sowjetischen Publikum. „For all the three of these interested parties [die sowjetische Führung, das State Department und die Jazzfans – M. A.] what got played, and how it was played, mattered deeply.“18
7.1 Ü b e r for d e r u ng? – Ja z z u nd d e r k u lt u r el le Au s t a u s ch Die vorsichtige Öffnung des Landes gegenüber ausländischer Kultur gilt als eine der nachhaltigsten Veränderungen der Nachstalinzeit, die für die sowjetischen Bürger direkt wahrnehmbar wurde. Nach Erreichen einer ungefähren militärischen und 17 Utesov, Gedanken über Jazz. 18 Vgl. Eschen, Jazz Ambassadors, S. 93.
Überforderung? Jazz und der kulturelle Austausch
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geostrategischen Parität mit den USA eröffnete die Idee der friedlichen Koexistenz Raum für eine Neuausrichtung der sowjetischen Politik, in welcher der friedliche Wettbewerb der Systeme an Gewicht gewann.19 Der Vergleich und Wettstreit besonders mit den USA basierte jedoch nicht nur auf einem von den politischen Eliten verstandenen Konflikt mit friedlichen Mitteln, der seinen Ausdruck in quantitativen Produktionsdaten fand und den die Sowjetunion durch einen Überholprozess gewinnen würde. Nicht weniger wichtig für die beständige Orientierung auf die USA war eine genuine Faszination für die technischen Errungenschaften des Massenproduktionszeitalters, wissenschaftliche Leistungen und die gesellschaftliche Organisation der USA, wie sie in Chruščevs Amerikareise 1959, aber auch der amerikanischen Ausstellung in Moskau zum Ausdruck kam.20 Die grundsätzliche Neuausrichtung sowjetischer Außenpolitik nach Stalins Tod signalisierte bereits der Eintritt in die UNESCO 1954. Die ersten außenpolitischen Kulturaktivitäten richteten sich zunächst auf Staaten des sozialistischen Lagers und die Entwicklungsländer im mittleren Osten, Asien, Afrika und Südamerika.21 Nach ersten Verhandlungen auf der Außenministerkonferenz von Genua 1955 gelang es 1957 mit Norwegen, Belgien, Frankreich, dem Vereinigten Königreich sowie 1958 schließlich mit den USA, Austauschabkommen auf dem Gebiet der Kultur, Technik und Bildung zu schließen. Die offizielle Zuständigkeit für die Abkommen und deren Ergebnisse oblag zunächst der „Allunionsgesellschaft für kulturelle Verbindnungen mit dem Ausland“ VOKS („Vsesojuznoe obščestvo kul’turnoj svjazi s zagranicej“), die seit den 1930er-Jahren Auslandsverbindungen und den Tourismus verwaltete. Die Verhandlungen über die bis 1957 stattfindenden Konzerte sowjetischer Künstler im Ausland und ausländischer Künstler in der UdSSR führte bereits ab 1955 das Außenministerium, ab 1956 dann das Kulturministerium. Da diesem aber nicht alle Bereiche unterstanden, die einzelne und ab 1957 bilaterale Verträge im Bereich von Bildung, Sport und Kultur abdeckten, wurde am 21. Mai 1957 ein „Staatskomitee beim Ministerrat der UdSSR für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland“ geschaffen, das die Vorbereitung und Durchführung der entsprechenden Abkommen kontrollieren sollte.22 Anders als
19 Vgl. Magnúsdóttir, Rósa: „Be careful in America, Premier Khrushchev!“ Soviet Perceptions of Peaceful Coexistence with the United States in 1959, in: Cahiers du Monde Russe 41 (2006), S. 109–130. 20 Vgl. dazu Greiner, Bernd/Müller, Tim B./Weber, Claudia (Hg.): Macht und Geist im Kalten Krieg. Hamburg 2011; Stolberg, Eva-Maria: The Soviet Union and the United States. Rivals of the Twentieth Century. Coexistence and Competition. Frankfurt a. M. [u.a] 2013; Reid, Who Will Beat Whom. 21 Vgl. Anweiler, Oskar/Ruffman, Karl-Heinz (Hg.): Kulturpolitik der Sowjetunion. Stuttgart 1973, S. 371–372. 22 Vgl. ebd.
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bei Kulturabkommen zwischen westlichen Staaten wurden die einzelnen Elemente des jeweiligen Vertrags detailliert geregelt. Ziel war es, die Zahl von Gaststudenten und -wissenschaftlern, Umfang und Ausgestaltung von Ausstellungen sowie ein möglichst genaues Programm von Orchestern oder Theatergruppen festzulegen. Ursache dieser Akribie waren die letztlich latent konkurrierenden Interessen, die beide Seiten mit den Abkommen verbanden und die seit Beginn der kulturellen Annäherung 1955 immer wieder zu Konflikten in der Ausgestaltung und Verzögerungen in der Ratifizierung der Verträge sorgten. Leitgedanken für die Verträge zwischen USA und UdSSR waren Gleichheit, Wechselseitigkeit und gegenseitiger Gewinn.23 Die westliche Seite machte in den Verhandlungen den freien Austausch und Zugang zu Informationen durch Zeitungen oder die Radiostationen stark. Demgegenüber bemühte sich die sowjetische Seite, diese Forderung, der man zum Beispiel mit dem Abbau von Störsendern genüge getan hätte, abzulehnen und ihre eigene Überlegenheit in entsprechenden Feldern des technischen Fortschritts wie der Raumfahrt oder in der Kultur bei klassischer Musik und Oper auszuspielen.24 Das Potential der Austauschprogramme für die sowjetische Führung lag in der Möglichkeit, durch technische und kulturelle Errungenschaften die Gleichwertigkeit oder Überlegenheit gegenüber dem Westen zu demonstrieren, besseren Zugang zu westlicher Technologie zu erhalten und durch die Tournee ausländischer Künstler nicht unerhebliche Geldeinnahmen zu generieren.25 Die Chance auf außenpolitisches Prestige und Vergrößerung des ideologischen Einflusses stand dem innenpolitischen Risiko entgegen, das jahrzehntelang gepflegte Bild einer dekadenten, westlichen und absterbenden Kultur durch deren Vertreter zu kontrastieren und so die Glaubwürdigkeit der ideologischen Deutungsangebote zu unterminieren. Die prominente These des amerikanischen Historikers Yale Richmond, der Kulturaustausch habe die Grundlagen für den Zusammenbruch der Sowjetunion gelegt, hält kaum der empirischen Prüfung stand und vernachlässigt vollkommen die verschiedenen Anpassungsprozesse sowjetischer Kultur. Seiner Einschätzung jedoch, der Kontakt sowjetischer Bürger mit der amerikanischen Gesellschaft oder einzelner ihrer Vertreter habe deren Vorstellungen von „Normalität“ herausgefordert, ist zweifelsfrei zuzustimmen.26 Der Direktor des nach ihm benannten Ensembles Moiseev stellte während einer Tournee durch die Vereinigten Staaten mit Erstaunen fest, dass „eure Arbeiter dick
23 Vgl. Richmond, Yale: Cultural Exchange and the Cold War. How the West Won, in: American Communist History 9 (2010), S. 61–75, hier S. 63. Umfangreich zum kulturellen Austausch Ders.: Cultural Exchange and the Cold War: Raising the Iron Curtain. Pennsylvania 2003. 24 Vgl. Hixson, Parting the Curtain. 25 Vgl. Caute, Dancer S. 29–32. 26 Vgl. Richmond, Cultural Exchange, S. 62.
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und eure Millionäre dünn sind.“27 Auch das Zusammentreffen sowjetischer Bürger mit westlicher Kultur in der eigenen Heimat konnte nach zehn Jahren vollständiger Isolation eine starke Wirkung entfalten. Dabei lassen sich die Reaktionen auf das Zusammentreffen von imaginiertem Westen28, propagiertem Westen und wirklichem Westen nicht auf ein Schockerlebnis und blanke Begeisterung für die Errungenschaften des anderen Systems reduzieren. Wie Susan Reid am Beispiel der Zuschauerkommentare zur amerikanischen Ausstellung in Moskau 1959 gezeigt hat, setzten sich die Sowjetbürger durchaus selbstbewusst und kritisch durch ein Set an Interpretationsschemata mit der unbekannten westlichen Kultur auseinander und formulierten ohne ideologische Hilfestellung von außen autonome und kritische Standpunkte gegenüber der amerikanischen Konsumkultur.29 Einher mit der Überzeugung der sowjetischen Führung an die Überlegenheit im Bereich der klassischen Musik ging eine tiefsitzende Skepsis gegenüber westlichem Jazz, besonders jenem amerikanischen Ursprungs, was die Umsetzung einer Tournee amerikanischer Musiker bis 1962 verzögerte. Durch seine weltweite Verbreitung und die Tatsache, dass eine Trennlinie zwischen Jazz und Unterhaltungsmusik weder aus musikwissenschaftlicher Perspektive noch im sowjetischen Verständnis der Zeit strikt zu ziehen war, musste sich die Kommunistische Partei und der Kulturapparat bereits ab 1955 mit dem unfreiwilligen Import von Jazz auseinandersetzen, der durch Orchester westlicher und sozialistischer Staaten in das Land strömte. Diese Gastspiele machten der sowjetischen Seite nicht nur eine Reihe organisatorischer Defizite bei der Organisation des kulturellen Austauschs bewusst, sondern erzwangen das Hinterfragen der starren Einteilung in Genre und Stilarten. Mit der Tournee der Everyman Opera 1955 und der in Leningrad und Moskau inszenierten Oper von George Gershwin Porgy und Bess signalisierte die sowjetische Führung weit vor Abschluss offizieller Abkommen ein singuläres Zeichen der Entspannung. Das Zustandekommen der Tournee stärkt diese Lesart – dem Direktor der Everyman Opera Robert Breen gelang es im Vorfeld nicht, die Unterstützung des US-amerikanischen State Departments für das Vorhaben zu gewinnen. Daher wandte er sich an den sowjetischen Vizepremierminister Bulganin, der die Übernahme der Kosten durch die sowjetische Seite garantierte. Die symbolische Dimension der Einladung wird auch durch zeitgenössische Beobachtungen im Vorfeld der Tournee im Dezember 1955 gestärkt. Bereits im Frühling und Sommer des Jahres bemerkten westliche Hörer von Radio Moskau voller Erstaunen einige Sendungen mit Jazz im Auslandsprogramm sowie eine achtstündige Reportage über 27 Zitiert nach ebd., S. 69. 28 Vgl. Dazu Péteri, György (Hg.): Imagining the West in Eastern Europe and the Soviet Union. Pittsburgh 2010. 29 Vgl. Reid, Who Will Beat Whom.
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amerikanische Musik im Oktober des Jahres, in der Teile der Oper gespielt wurden.30 Truman Capote berichtet in seiner autobiografischen Erzählung der Tour von großem Interesse der städtischen Bevölkerung an dem Stück, aber auch den gravierenden Verständnisschwierigkeiten bei der Handlung.31 Die ambivalente Rezeption der Oper durch Publikum und kulturelle Eliten resultierte aus der nach sozialistischer Lesart „progressiven Thematik“. Das Libretto basierte auf dem sozialkritischen Roman von DuBois Heyward und thematisierte die prekäre soziale und politische Lage der afroamerikanischen Bevölkerung. Andererseits irritierte sowjetische Beobachter die Relevanz des Gottesglaubens der Protagonisten und die freizügige Darstellung von Sexualität in der Vorführung. Die gegensätzlichen Urteile der sowjetischen Presse wurden im Kapitel zum Urteil der Experten bereits besprochen. In den darauffolgenden fünf Jahren tourten verschiedene Orchester aus sozialistischen und westeuropäischen Staaten durch die Sowjetunion, deren musikalisches Unterhaltungsprogramm für hitzige Debatten innerhalb von Partei- und Kulturapparat sorgte. Hinter dem nicht eindeutigen Begriff der „Estradagruppe“ verbargen sich verschiedene Orchester, deren Jazzelemente in der Instrumentierung oder zahlreiche Jazzstücke im Repertoire die Kulturbehörden und Vertreter der Partei herausforderten. Die polnische Gruppe Goluboj Džaz tourte 1956 mit einem Programm, in dem eine Reihe amerikanischer Jazzstandards vorkamen, erste Versuche der Adaption polnischer Folklore in den Jazz erkennbar wurden und gleichzeitig ausschließlich Englisch und Französisch gesungen wurde.32 Den Leitern der Abteilung Kultur, Schule und Wissenschaft des Zentralkomitee, N. Kazmin und P. Apostolov, fehlte es gänzlich an „folkloristisch-nationaler und moderner polnischer Musik“ im Repertoire von Goluboj Džaz.33 Darüber hinaus kritisierten sie das „unstattliche Benehmen“34 des Leiters der zentralen Estradaverwaltung des polnischen Ministeriums für Kunst und Kultur Michail Duda und des künstlerischen Leiters der Gruppe R. Damroš. Vertreter der Konzertorganisationen vor Ort urteilten hier anders. Die Auftritte, so der Leiter der Leningrader VGKO, haben „viel ideologischen Schaden, aber auch viel Gewinn gebracht“35. An Unterhaltungsmusiker aus dem Ausland stellten die sowjetischen Behörden anfangs die gleichen normativen Anforderungen wie an sowjetische Gruppen. Einer norwegischen Estradagruppe attestierte die Abteilung Kultur des ZK 30 Vgl. Caute, Dancer, S. 457. 31 Vgl. Capote, The Muses Are Heard. 32 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 205 ff. 33 Vgl. Abteilung für Wissenschaft, Schulen und Kultur an ZK der KPdSU vom 27.07.1956, RGANI, f.5, op.37, d.10, l.53–54, hier l.53. 34 Vgl. ebd., l.54. 35 Vgl. Geschlossene Parteiversammlung der VGKO Leningrad vom 22.08.1956, CAOPIM, f.6355, op.1, d.2, l.28–34, hier l.29.
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„gravierende Mängel im Programm und den spielerischen Fähigkeiten“36, womit „nicht genügend Material und fähige Musiker vorhanden seien, um zwei vollwertige Spielzeiten“ zu organisieren. „Arbeiter, Angestellte und Jugendliche in Moskau und Leningrad müssen sich mit minderwertiger Estradakunst des gegenwärtigen bourgeoisen Westens zufriedengeben.“37 Die Schuld für solcherlei Vorkommnisse gab die ZK-Abteilung dem Kulturministerium, das mehrfach dafür verantwortlich gemacht wurde, vor dem Verkauf von Karten nicht die künstlerische Qualität des jeweiligen Ensembles überprüft zu haben. Deutlich wird, dass das für die Planung von solchen Gastspielen notwendige institutionelle Zusammenspiel 1956 und 1957 noch nicht ausreichend etabliert war. Im Mai 1957 befasste sich das ZK mit dem Gastspiel der italienischen Estradagruppe Italjanskaja Melodija.38 Deren Musik, so urteilten die Vertreter der ZK-Abteilung für Kultur, sei eigentlich „amerikanisiertes Repertoire […] im heißen Stil“39, das polarisierend wirke und zu auffälligem Publikumsverhalten führe. Der befürchtete „Schaden für die jugendliche Erziehung“ potenzierte sich aus Sicht der Abteilung durch die zahlreichen neu gegründeten Amateurjazzbands, die das Repertoire der Gruppe adaptieren und besonders in der Studentenschaft Einfluss haben würden. Als Schuldige benannten die Autoren auch hier das Kulturministerium, welches durch fehlende Kontrolle und verbindliche Auswahlkriterien die Folgen zu verantworten habe. Ausgangspunkt der Tournee war eine nicht geprüfte Empfehlung der sowjetischen Botschaft in Rom.40 Aber auch den sowjetischen Medien wurde explizit Verantwortung zugewiesen. Sowohl „landesweite Übertragungen der ersten Konzerte“ als auch „anfänglich positive Presserezensionen“ legen nahe, dass Printmedien und Radio dem gestiegenen Interesse der sowjetischen Gesellschaft an ausländischer Kultur in einer Phase ideologischer Orientierungslosigkeit größere Priorität einräumen konnten. Dass diese Unterhaltungsorchester nicht nur die sowjetische Organisation des kulturellen Austauschs herausforderten, sondern auch grundsätzliche kulturelle Hierarchien im musikalischen Betrieb in Frage stellten, wird an einer internen Bewertung des rumänischen Orchesters „Malagamba“ deutlich, das 1957 in der Sowjetunion tourte. Eine kritische Einschätzung der ZK -Abteilung für Kultur berichtet von einem „Zwischenfall während eines Konzertes in Odessa“41 mit Musik von „eher unterhaltsamen Charakter“. Da nun aber
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Kulturministerium an ZK vom 08.08.1956, RGANI, f.5, op.37, d.10, l.57–58, hier l.57. ebd. l.58. Rjurikov und Jarustovskij an ZK vom 31.05.1957, RGANI, f.5, op.36, d.46, l.70–72. ebd., l.70. Vgl. ebd. l.71 Schreiben der Abteilung Kultur an das Zentralkomitee der KPdSU, o. D. [1957], RGANI, f.5, op.36, d.46, l.78.
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bereits 40.000 Karten für die Konzerte in Moskau verkauft worden seien, könne man die dortigen Veranstaltungen nicht mehr absagen, sollte sich jedoch wenigstens darum bemühen, diese aufgrund des Repertoires nicht in einem Konzertsaal, sondern auf einem großen Tanzplatz stattfinden zu lassen.42 Auch Mitarbeiter der 1956 gegründeten Organisation Goskoncert beklagten, dass sich Italjanskaja Melodija als „reines Estradaorchester entpuppt“43 habe, für das aber vorher „die besten Konzertsäle des Landes“ reserviert wurden. Trotz aller Bemühungen, durch verbesserte Organisation der beteiligten Instanzen die Kontrolle und Planbarkeit ausländischer Gastspiele zu erhöhen, blieb eine Einladung und Tournee mit Risiken und Unwegbarkeiten verbunden. Nachdem während der Weltjugendfestspiele 1957 für einen Zeitraum von zwei Wochen mehr als 30 ausländische Tanz- und Jazzbands in Moskau auftraten, sahen Vereinbarungen des kulturellen Austauschs vor, dass einige von ihnen im Anschluss eine Tournee durch die Sowjetunion absolvieren würden. Eines dieser Ensembles, das Orchester des französischen Komponisten und Orchesterleiter Michel LeGrand, präsentierte dem sowjetischen Publikum weitestgehend unverstellte Jazzmusik. Die Parteiversammlung von Goskoncert machte die Ursachen selbstkritisch „in der schlechten Informiertheit von Goskoncert und der der Abteilungen für Auslandsverbindungen über die ideologische und künstlerische Ausrichtung, Niveau und Spielqualität von Gruppen und Solisten“44 aus. Das Beispiel von LeGrands Ensemble zeigt, dass sich westlichen Orchestern gerade im Bereich der Jazzmusik Möglichkeiten zur Camouflage des Repertoires boten. LeGrands Orchester bescheinigte die Parteiversammlung hochqualifizierte Musiker. Während der Vertragsverhandlung mit den sowjetischen Vertretern hatte die französische Seite „eine Werbeschallplatte mit Symphojazz und Interpretationen von Strauss und hochqualitativer französischer Musik in höchster Aufführungsqualität gespielt.“45 Das Repertoire vor Ort entpuppte sich nun jedoch als „hauptsächlich unverständliche, den sowjetischen Zuhörern fremde, vollständig modernistische Musik formalistischer Ausrichtung“46. Die Frage der besseren Koordination einzelner Instanzen und des Auswahlprozesses westlicher Künstler wurde nicht mehr nur als ein genuin sowjetisches Problem, sondern eines des gesamten Ostblocks verstanden, das die Direktoren der nationalen Konzertorganisationen bei einem
42 Vgl. ebd. 43 Bilanz der Arbeit von Goskoncert für acht Monate und der Plan für das vierte (Jubiläums-)Quartal 1957, GARF, f.957, op.1, d.94, l.35–45, hier l.41–42. 44 ebd. 45 ebd. 46 ebd.
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Koordinationstreffen in Prag 1958 und weiteren Zusammenkünften diskutierten.47 Sechs Jahre später ging das Kulturministerium deutlich vorsichtiger vor – eine weitere Tournee Michel LeGrands wurde 1963 mit dem Verweis abgelehnt, dass die zuständigen Stellen keine Möglichkeit bekamen, sich mit dem zu spielenden Repertoire vertraut zu machen.48 Westeuropäische Orchester und Gruppen aus den Satellitenstaaten boten aus Sicht des ZK so keine Garantie für eine jazzfreie und streng auf der jeweiligen nationalen Musikkultur basierende Unterhaltungsmusik. Die sowjetische Haltung gegenüber jeglichen amerikanischen Versuchen, Jazzmusik in die Sowjetunion zu bringen, blieb bis Ende der 1950er-Jahre unnachgiebig. Im Gegenzug weigerte sich die amerikanische Seite beständig, den Chor oder das Ensemble der Roten Armee in den USA auftreten zu lassen.49 Die Versuche der Inszenierung von Jazz als erfolgreiches Produkt amerikanischer Kultur für die sowjetische Öffentlichkeit unterlagen darüber hinaus auch technischen und geografischen Grenzen. Das Wettrüsten im Äther zwischen beiden Blöcken, das ab Ende der 1940er-Jahre in einem Wettlauf um Kurzwellensender auf der einen und Störsender auf der anderen Seite ausgetragen wurde, band kontinuierlich mehr Ressourcen auf sowjetischer Seite. Ab 1957 versuchten sowjetische Vertreter, dem Problem mit gezieltem Stören von Nachrichtensendungen zu begegnen, während Musik- und Kulturprogramme zwar durch den KGB analysiert, aber nicht mehr umfassend gestört wurden.50 Nachrichten und Sendungen mit offen politischem Charakter der BBC und Voice of America wurden weiter gestört. Weniger politische Programme wie die von Willis Connover moderierte Jazz Hour USA, aber auch zahlreiche Jazzsendungen nationaler Radios aus Skandinavien, Westeuropa oder dem Iran konnten in den peripheren Regionen der UdSSR relativ störungsfrei empfangen werden.51 Die osteuropäischen Satellitenstaaten wiederum agierten im Feld des kulturellen Austauschs mit dem Westen relativ unabhängig von sowjetischer Kontrolle. Bereits 1958 tourte Dave Brubeck durch die Volksrepublik Polen, deren allgemeine Kulturpolitik gegenüber dem Jazz auch aufgrund der starken Vorkriegstradition seit
47 Vgl. ebd. sowie Schreiben der Abteilung Kultur des ZK an das ZK vom 22.02.1964, RGANI, f.5, op.55, d.107, l.7. 48 Vgl. Schreiben der Abteilung Kultur an das ZK der KPdSU vom 27.05.1963, RGANI, f.5, op.55, d.48, l.63. 49 Vgl. Eschen, Jazz Ambassadors, S. 94. 50 Infolge des Kulturabkommens mit den USA wurden die Programme der westlichen Radiostationen erneut überprüft. Ein KGB Bericht des Jahres 1958 verzeichnet eine „Änderung im Charakter der Sendungen“ und suggeriert die „Rücknahme der Störungen von Sendungen mit allgemeinem Charakter“, Vgl. Beschlussvorlage des KGB an das ZK der KPdSU über das Unterdrücken ausländischer Radiostationen, o. D. [1958], RGANI, f.5, op.33, d.75, l.163–167. 51 Vgl. Starr, Red and Hot, S. 189.
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1955 mit regelmäßigen Jazzsendungen im staatlichen Radio als liberal bezeichnet werden kann.52 1965 spielte Louis Armstrong Konzerte in verschiedenen Städten der DDR.53 Eine Reihe von informell organisierten Jazzkonzerten amerikanischer Musiker bildete die Regel bestätigende Ausnahme für den sowjetischen Fall. Im Rahmen des Tschaikowski Wettbewerbs in Moskau gastierten zwei Mitglieder des Yale Russian Choir, Dwike Mitchel und Willie Ruff, im Sommer des Jahres 1959 an einer Reihe von Konservatorien und gaben mehrere spontane Konzerte vor einem ausgewählten Publikum. Die zunehmende Aufmerksamkeit des Westens gegenüber der nach 1953 wachsenden Gruppe sowjetischer Jugendlicher, die sich durch ihre Orientierung auf westliche Populärkultur den sowjetischen Normen von Arbeit, Lebensstil und Verhalten zu entziehen schienen, rückten Musikformen wie den Jazz und den aufkommenden Rock ’n’ Roll ins Zentrum der Auseinandersetzung zwischen USA und UdSSR. Auch die westliche Politikwissenschaft und Soziologie widmete sich dem Zusammenhang von westlicher Kultur und sowjetischer Jugendpolitik.54 In dieser Atmosphäre journalistischer und wissenschaftlicher Fokussierung auf den Einfluss westlicher Kultur auf die Sowjetunion und sowjetischer Kampagnen gegen die Verbreitung dieser Musik und ihrer Tänze schien eine Einigung auf dem Feld der Unterhaltungsmusik im Rahmen des kulturellen Austauschs wenig wahrscheinlich. Für die amerikanische Ausstellung in Moskau 1959 – von David Caute pointiert als eine der beiden „gladiatorial exhibitions“55 beschrieben – verweigerte das Zentralkomitee entgegen den Bemühungen des State Departments das Spielen von Live-Jazz. Trotz der Einladung sowjetischer Vertreter nach New York zu einem Konzert von Duke Ellington blieb die sowjetische Seite bei ihrer ablehnenden Haltung, die das ZK in einem internen Memorandum mit der Sorge „vor ungesunder Agitation und moralischer Korruption bestimmter Elemente“56 begründete. In einer Atmosphäre massiver Konkurrenz – Chruščevs Ankündigung, die USA im Wettlauf der Systeme begraben zu wollen, lag noch nicht lange zurück – erachtete die sowjetische Führung jede Chance auf affirmatives Verhalten der sowjetischen Besucher gegenüber amerikanischer Kultur als großes Risiko.
52 Vgl. dazu Schmidt-Rost: Jazz in der DDR und Polen. 53 Vgl. Schulz, Stephan: What a Wonderful World. Als Louis Armstrong durch den Osten tourte. Berlin 2010. 54 Vgl. dazu exemplarisch: Novak-Deker, N. (Hg.): Soviet Youth: Twelve Komsomol Histories. München 1959. Sowohl Ostprobleme als auch der seit 1949 herausgegebene Current Digest of the Soviet Press thematisierten diese Frage und übersetzten zahlreiche Artikel aus der sowjetischen Presse zum Thema. 55 Vgl. Caute, Dancer, S. 33–51. 56 zitiert nach Caute, Dancer, S. 460.
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7. 2 Siege r o d e r Ve rl ie r e r? – D ie B e n ny G o o d m a n Tou r ne e a l s Tex t d e s K a lt e n K r ieg s Unter diesen Umständen verliefen die Verhandlungen im Vorfeld der Tournee zwischen sowjetischen Vertretern, dem State Department und Benny Goodman selbst langwierig und kompliziert. Der Verhandlungsprozess macht deutlich, unter welchen Bedingungen die sowjetische Seite bereit war, ein amerikanisches Orchester, das eine so politisierte Musikform vertrat, im eigenen Land spielen zu lassen. Goodman selbst versuchte seit Mitte der 1950er-Jahre, die sowjetische Seite von einer Reihe von Konzerten zu überzeugen. Aufgrund seiner jüdisch-ukrainischen Wurzeln bestand für ihn ein persönliches Interesse, das Land seiner Vorfahren zu bereisen und als einer der bekanntesten amerikanischen Musiker auch Konzerte zu geben.57 Um sein bald obsessiv verfolgtes Ziel zu erreichen, sandte er seit 1955 in regelmäßigen Abständen seine Alben und Bittbriefe an verschiedene sowjetische Behörden und versuchte auch über persönliche Treffen mit Vertretern des sowjetischen Kulturapparats ohne Erfolg für seine Sache zu werben.58 Als ähnlich prominente Alternativen für eine amerikanische Tournee galten aus westlicher Sicht der afroamerikanische Trompeter Louis Armstrong und der Komponist und Bandleader Duke Ellington, die als Jazz-Ambassadors für das State Department bereits im Nahen Osten und Asien gespielt hatten. Die Einzelheiten über die Hintergründe der sowjetischen Entscheidungen lassen sich bisher nicht vollständig nachzeichnen und gaben der Presse bereits damals Anlass zu vielfältiger Spekulation. So kursierte 1961 das unwahrscheinliche Gerücht, Armstrong habe ein sowjetisches Angebot für eine Tournee wegen zu geringer Bezahlung abgelehnt.59 Wahrscheinlicher und im Kontext des Kalten Krieges plausibler kann Penny von Eschens Befund gelten, die sowjetische Seite habe sich nach dem Angebot des State Departments von Goodman und Armstrong für ersteren entschieden.60 Ausschlaggebend dafür war zum einen Goodmans weiße Hautfarbe, mit der die sowjetische Seite sicherstellte, das eine Jazztournee nicht zur symbolischen Darstellung von Rassengleichheit genutzt werden konnte, wie es die Strategie der Jazz Diplomacy ja vorsah. Besonders im globalen Wettstreit um politischen Einfluss auf die jungen Staaten Asiens und Afrikas galt das Argument systematischer rassischer Diskriminierung in den USA als wichtiger Trumpf der Sowjetunion. Ein wichtigeres Argument
57 Vgl. Eschen, Jazz Ambassadors, S. 112. 58 Vgl. Caute, Dancer, S. 460. 59 Vgl. o. A. Russians Want Satchmo for 30-city Autumn Tour, in: Melody Maker, 20.05.1961, sowie Cross, Bill: Benny Goodman. On the First Step, in: Down Beat vom 24.05.1962, beides zitiert nach Eschen, Jazz Ambassadors. 60 Vgl. Eschen, Jazz Ambassadors, S. 102–103.
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für die sowjetische Entscheidung aber, das in den informellen Verhandlungen im Vorfeld der Tournee zum Tragen kam, war Goodmans Qualifikation als klassisch ausgebildeter Musiker und die Nähe seiner Musik zur sowjetisch eher tolerierten Variante des symphonischen Jazz. In einem Gespräch zwischen ihm und dem Vertreter der sowjetischen Botschaft in Washington Jurij Vol’skij am 19. April 1962 wird die politische Relevanz von musikalischen Fragen für die sowjetische Seite klar, auf die Goodman in seiner Gesprächsstrategie geschickt Bezug nahm.61 So erklärte er zunächst, dass er sich trotz aller Freude über die in Aussicht stehende Tour Sorgen mache, da „das sowjetische Publikum ein anerkannter Musikkenner sei.“62 Wissend um die sowjetischen Kulturhierarchien spielte er den Anteil an subversiv zu verstehender Musik herunter, indem er versicherte, „dass sich das Repertoire hauptsächlich aus amerikanischer lyrischer und Volksmusik zusammensetzen werde, dass er weiter beabsichtige, einige musikalische Werke aus der Zahl sowjetischer Lieder zu integrieren und einige Stücke gegenwärtiger Jazzmusik.“63. Schließlich formulierte er ein zusätzliches Angebot, das in der asymetrischen Situation des kulturellen Wettstreits der sowjetischen Seite einen attraktiven Ausgleich bot. Goodman „artikulierte den Wunsch, als Solist mit einem der symphonischen Orchester Werke von Mozart, Brahms und Beethoven aufzuführen.“64 Gleichzeitig blieb er auf Nachfragen zum konkreten Programm unverbindlich und wies auf weiteren Koordinationsbedarf mit dem State Department hin. Trotz scheinbar entspannter Atmosphäre des Gesprächs warnte der sowjetische Vertreter Goodman abschließend „in vorsichtiger und persönlicher Form, sich nicht zu „Swings“, „Rock ’n’ Rolls“ und „Twists“ in der Vorbereitung des Repertoires hinreißen zu lassen, da solche Musik keinen Erfolg bei den sowjetischen Hörern einbringt“. Im Fokus sollten doch besser „die Aufführung amerikanischer lyrischer und Volksmusik“ stehen, „die von den Sowjetmenschen hochgeschätzt und geliebt wird.“65 Die Debatte um das Repertoire wurde nicht nur diskret hinter verschlossenen Türen, sondern lautstark in der amerikanischen Öffentlichkeit geführt und provozierte in der Sowjetunion selbst konträre Standpunkte. Die Repertoirefrage spaltete nicht zuletzt Goodmans Band selbst während der gesamten sechs Wochen Tourneedauer. Die hinter der Stilproblematik – Swing der 1930er oder Bebop, East- und West Coast Jazz der 1950er – stehende Rassenfrage verkomplizierte das 61 Protokoll des Gesprächs zwischen Benny Goodman und Jurij Vol’skij Vertreter der sowjetischen Botschaft in den USA vom 19.04.1962, RGALI, f.2329, op.8, d.2318, l.1–3. 62 ebd. l.1. 63 ebd. 64 ebd. l.2. 65 ebd. l.3.
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Problem, da sich die Zustimmung zu einem der beiden Stile nicht in „schwarz“ und „weiß“ auflöste. Da letztlich nur vier afroamerikanische Musiker in Goodmans Band spielten, bestimmte auch generationelle Zugehörigkeit den Stilkonflikt.66 Die starken Assoziationen von Befreiung, die mit dem Bebop verbunden waren, speisten sich eben genau aus dessen rebellischem Impetus gegenüber dem von „Weißen“ angeeigneten und kommerzialisierten Swing, der auf weniger Improvisation und Erfindungsreichtum der Solisten basierte.67 Die intendierte Wirkung der Jazz Diplomacy auf die sowjetische Gesellschaft zielte auf eben jene Verknüpfung von Improvisation und Rebellion. Ein Mitarbeiter des State Departments fasste den letztlich notwendigen Kompromiss mit den sowjetischen Widerständen lakonisch zusammen: „I know he [Benny Goodman – M. A.] is just a pale reflection of Jazz but we have to get our foot in the door first“68. An der amerikanischen öffentlichen Debatte im Vorfeld der Tournee beteiligten sich nicht nur Musiker wie Miles Davis und Dizzy Gillespie. Auch die sowjetische Zielgruppe kam dabei zu Wort. Jet, die erste Illustrierte, die sich genuin an die afro-amerikanische Bevölkerung als Zielgruppe richtete, zitierte den Brief eines Leningrader Jazz Enthusiasten an den afroamerikanischen Jazzmusiker Willy Ruff, der drei Jahre zuvor in der Sowjetunion einige Jazzkonzerte gegeben hatte, in dem dieser sein Unverständnis über die Entscheidung zugunsten Goodmans äußerte.69 Kritik an der Besetzung durch sowjetische Stimmen konnte gleichsam kuriose Züge annehmen. In derselben Ausgabe der Zeitschrift erschien ein kurzer Bericht des New York Times Korrespondenten Theodore Shabad. Dieser berief sich in seinem Plädoyer für Duke Ellington als bessere Besetzung für das junge sowjetische Publikum auf die Wandzeitung des Moskauer Jazzklubs, in der zwischen „gutem, weil improvisiertem Jazz“ und „schlechtem, weil kommerziellem Jazz“ unterschieden wurde.70 Shabad reproduziert mit diesem Verweis eher eine Konstruktion der offiziellen sowjetischen Kulturpolitik als einen genuin geschmacklichen Standpunkt der sich konsolidierenden städtischen Jazzszene. Die Funktion dieser Wandzeitungen war nicht weniger eine Demonstration kulturideologischer Konformität in einem institutionell noch sehr fragilen Umfeld als ein Ausdruck eigener musikalischer Präferenzen. Für den Leningrader Musiker und Organisator Jurij Vicharev sandte die Wahl Goodmans ein falsches Signal an breite Kreise der Bevölkerung, deren Bild Jazz Enthusiasten wie er seit drei Jahren versuchten zu 66 Vgl. Eschen, Jazz Ambassadors, S. 93. 67 Mackey, Nathaniel: Other: From Noun to Verb, in: Krin Gabbard (Hg.), Jazz among the Discourses. Durham, 1995, S. 76–99, Zitiert nach Eschen, ebd. 68 Still, Larry: Why U.S. Ignored Jazz Founders for Soviet Tour. Selection of Goodman Fires, in: Jet, 12.04.1962. 69 Vgl. o. A.: Says Soviet Jazz Buffs Criticize Goodman Choice, in: Jet, 10.05.1962. 70 Vgl. o. A.: N.Y. Times Finds Soviets Want Ellington like Jazz, in: Jet, 10.05.1962.
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verändern. „Einige unserer Bürger betrachten Jazz als eine Art leichte Tanzmusik und ich befürchte, dass sie ihre Meinung bestätigt fühlen, wenn sie eine weiße Swing-Band gehört haben.“71 Aber auch die direkten Eindrücke sowjetischer Jazzfans und -musiker bestätigen die Diskrepanz zwischen amerikanischem ideologischem Anspruch und klanglicher Wirklichkeit. Der Organisator und Lektor Alexej Batašev urteilte gegenüber dem Bassisten Bill Crow: „Die Musik war ein bisschen altmodisch, aber sehr unterhaltsam. Wir applaudierten Goodman von Herzen, aber wir erwarteten mehr. Das Programm war zusammengestellt wie für ein ignorantes und unvorbereitetes Publikum.“72 In einem anderen Zusammenhang formulierte er mit deutlichem Stolz auf das spielerische Niveau der sowjetischen Jazzmusiker Anfang der 1960er-Jahre, dass „sie Goodman sechs Jahre früher hätten schicken sollen. Da hätte er unseren Leuten noch etwas beibringen können.“73 Einschätzungen wie die von Batašev verdeutlichen, dass die Reaktionen der sowjetischen Zuschauer nach Jahren passiver und aktiver Auseinandersetzung mit westlicher Kultur äußerst heterogen ausfallen konnten. Die unterschiedlichen Deutungen des Programms relativieren nicht den Zäsurcharakter der Tournee, deren 30 Konzerte mehr als 165.000 sowjetische Bürger unterschiedlicher Nationalität erreichten.74 Sie suggerieren vielmehr, dass es weder für die sowjetische noch die amerikanische Seite möglich war, Zustimmung und Ablehnung zur Tournee und Musik pauschal für ihre jeweilige politische Position zu vereinnahmen. Mit verschiedenen Mitteln versuchten sowjetische Behörden, die Zusammensetzung und das Verhalten des Publikums zu steuern. Nicht alle Konzerte waren ausverkauft. Die Frage nach „Gewinnern“ und „Verlierern“ der Tour, welche die Formulierung des „kulturellen Wettstreits“ ja besonders für politische Akteure beider Seiten suggeriert, erwies sich auf beiden Seiten als hochgradig interpretativ und legt nahe, den Ablauf der Ereignisse zwischen Ende Mai und Mitte Juli als Text zu verstehen, den beide Seiten unterschiedlich lesen und deuten konnten. Die sowjetische Interpretation der Tournee als durchweg politisches Ereignis kann aus dem Abschlussbericht des Leiters der staatlichen Konzertagentur S. P. Konstantinov erschlossen werden, der zwei Wochen nach Abreise des Orchesters dem Kulturministerium und dem Zentralkomitee eine politische Deutung des Gastspiels aus Sicht seiner Organisatoren vermittelt. Neben der Diskussion des 71 o. A: Soviets Disappointed because 1st Jazz Band Isn’t Negro, in: Jet, 28.06.1962. 72 Zitiert nach Crow, Bill: To Russia without Love, unveröffentlichtes Manusskript [http://www. billcrowbass.com/billcrowbass.com/To_Russia_Without_Love.html, letzter Zugriff: 30.04.2018]. 73 Interview mit Aleksej Batatašev vom 09.06.2009. 74 Zahlen nach Konstantinov, S. P., Direktor von Goskoncert, Bericht über die Tournee des Estrada-Jazzorchester Benny Goodman Orchesters vom 17.07.1962, RGALI, f.2329, op.8, d.2318, l.21–37, hier l.36.
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Gastspielverlaufs charakterisiert Konstantinov die Zusammensetzung des Orchesters, sowie dessen soziale Dynamik während der Tournee und bilanziert abschließend Leistungen und Fehler der sowjetischen Seite. Neben einer Einschätzung der wichtigen musikalischen und organisatorischen Akteure des Orchesters verfasste Konstantinov den Bericht in chronologischer Form, die er jedoch mit thematischen Überschriften strukturiert, die eine lineare politische Auseinandersetzung suggerieren sollen. Ein Absatz über die ersten Konzerte wird mit „Scheitern des grundlegenden Vorhabens des State Departments“ betitelt, dem sich „Gegenmaßnahmen der amerikanischen Seite“ anschließen. Auch die Sprache des Autors stützt den Eindruck einer politischen Lesart. So spricht Konstantinov von „der geplanten Eroberung des sowjetischen Zuschauers“75. Die (kultur-)politischen Ziele des State Departments schätzte die sowjetische Seite durchaus realistisch ein: In dem von der Regierung zusammengestellten Orchester spielten „vier Mulatten“, „was das Fehlen von Diskriminierung belegen soll“76. Goodmans „nahe an der Klassik“ orientiertes Programm ziele auf die Widerlegung des in der sowjetischen Presse stilisierten Bildes der amerikanischen Musik, die hier als „frei und vielfältig“ inszeniert werden solle.77 Das dritte vom Direktor ausgemachte Ziel, der „Rummel [„ažiotaž“] um den Jazz [...], der den sowjetischen Zuhörer erobern soll“78, stand in den sechs Wochen im Zentrum der Auseinandersetzungen zwischen amerikanischen und sowjetischen Vertretern. Aus sowjetischer Sicht umfasste dieser „Rummel“ nicht nur die unkalkulierbare Situation während der Konzerte, sondern auch im gesamten Umfeld der Reise. Mit entsprechend umfangreichen Bemühungen versuchten die sowjetischen Vertreter für einen in ihrem Sinne geordneten Verlauf der Tournee zu sorgen. Der Balanceakt bestand darin, den westlichen Pressevertretern mit entsprechenden Maßnahmen keine Argumente zu liefern, mit denen der vermeintlich repressive Charakter des Staates oder ein Unwillen zu wirklichem Austausch zwischen den Nationen belegt werden konnte. Entsprechend viel Aufmerksamkeit schenkt Konstantinov in seinem Dossier dem Fernsehteam des amerikanischen Senders NBC und den von der amerikanischen Botschaft delegierten Journalisten von Newsweek, Life, Times und Associated Press, welche für ihn den „propagandistischen Charakter der Tournee“79 unterstreichen. Über deren journalistische Tätigkeit hinaus, die er als „skrupellose Arbeit der Sensationssuche“80 bezeichnet, unterstellt er ihnen, die Musiker des 75 Bericht Goskoncert, l.21. 76 ebd. 77 ebd. 78 ebd. 79 Bericht Goskoncert, l.22. 80 ebd.
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Orchester negativ zu beeinflussen und gegen die sowjetische Seite aufzubringen. Die politische Schlüsselrolle für deren Arbeit, aber auch die des Orchesters, wird dem Kulturattaché der amerikanischen Botschaft in Moskau Terrence Catherman zugeschrieben, der die Tournee im Namen des State Departments begleitete. Terrence Catherman gilt als einer der wichtigsten Vertreter der United States Information Agency für Osteuropa.81 Nach Kulturarbeit für das High Command for Germany zu Beginn der 1950er-Jahre in Bonn und Heidelberg war er ab 1956 in Wien für das Sammeln und Auswerten der Presse und des Radios im Ostblock und der Sowjetunion zuständig. Im Sommer 1959 arbeitete er für drei Monate als Teil des Stabs der amerikanischen Ausstellung in Moskau und wurde nach Teilnahme am Gipfel zwischen Kennedy und Chruščev in Wien bis 1964 an die amerikanische Botschaft nach Moskau versetzt, wo er für Verhandlungen und praktische Organisationsfragen des beginnenden sowjetisch-amerikanischen Austauschs zuständig war. Von 1964 bis 1967 schließlich leitete er in Washington die Sektion für russische und osteuropäische Sprachen der Voice of America. Nach eigenen Angaben begleitete er die Intensivierung des sowjetisch-amerikanischen Austauschs nach der Ausstellung 1959 und betreute unter anderem eine Wanderausstellung über die amerikanische Gesellschaft, die 1961 in verschiedenen Großstädten der UdSSR gezeigt wurde.82 Neben Benny Goodman begleitete er im selben Jahr das New York City Ballet und kehrte 1965 erneut für einige Wochen als Begleiter des Cleveland Orchestra in die Sowjetunion zurück. Im Bericht erscheint Catherman als zentraler politischer Akteur, der „äußerlich reizend und positiv zur Sowjetunion eingestellt, innerlich äußerst feindselig“ sei und sowohl in Goodman als auch den Musikern „eine feindliche Einstellung anheizt“83. Während der Gastspielreise dienten er und sein Mitarbeiter als einzige landes- und sprachkundliche amerikanische Vertreter, die die Band und ihre Mitglieder nicht nur für die politischen Gegebenheiten sensibilisierten, sondern auch als Übersetzer fungierten und durch die Hilfe bei alltäglichen Problemen zu Beginn der Reise den Kulturschock kompensierten. Er intervenierte im Einzelfall aber auch bei Moskauer Autoritäten, als beispielsweise ein sowjetischer Fan nach Kontakt mit den Musikern in Soči verhaftet wurde.84 Bill Crow, der Catherman als „handsome, blond all-American boy“ bezeichnet, erwähnt reguläre Sitzungen, in denen Catherman die Musiker für Situationen sensibilisierte, die genutzt werden
81 Vgl. Schmidt, G.: Interview mit Terrence Catherman vom 25.02.1991 (The Association for Diplomatic Studies and Training Foreign Affairs Oral History Project Information Series [https://www. adst.org/OH%20TOCs/Catherman,%20Terrence.toc.pdf, letzter Zugriff: 17.05.2018]. 82 Vgl. ebd. 83 Bericht Goskoncert, l.25. 84 Vgl. Crow, Russia without Love.
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könnten, um die USA zu blamieren oder künstliche Skandale für Propagandazwecke zu generieren.85 In der polarisierten Sichtweise Konstantinovs erscheint dessen Rolle als „Sabotage von Ereignissen, die dazu gedacht waren, die Musiker mit der modernen sowjetischen Realität vertraut zu machen (Kolchosbesuche, Pionierlager, Fabriken, Besuch von Sanatorien)“86. Dies zeigt die Bemühungen des State Departments, Situationen zu minimieren, in denen die amerikanischen Gäste als Motive vor sowjetischen Errungenschaften medial inszeniert werden konnten. Die Einschätzung verkennt gleichzeitig aber das geringe Freizeitbudget der Musiker und die Rolle des Orchesterleiters Benny Goodman, der mehrfach scheinbar willkürlich Proben an freien Tagen anberaumte und für die Absagen von einer Reihe symbolischer Treffen mit Kulturvertretern der einzelnen Städte verantwortlich war. Die in den Vorgesprächen mit sowjetischer Seite festgelegte und für das Ende des Gastspiels geplante Aufführung eines klassischen Stücks mit Goodman als Solist und der Moskauer Philharmonie scheiterte. Goodman wirkte während der sechs Wochen eher uninteressiert und wechselte so oft die vorgeschlagene Komposition, dass es den Musikern unmöglich war, sich genügend vorzubereiten und die Leitung der Philharmonie schließlich entnervt absagte.87 Verantwortlich für die Kommunikation zwischen Goodman und der Philharmonie jedoch war Terrence Catherman. Die politisierte Interpretation der Tournee durch den Direktor von Goskoncert entlastet Goodman von der Verantwortung für zahlreiche vorher vereinbarte und dann gescheiterte Zusammentreffen mit Orchestern, Komponisten und Musikern. Für Konstatinov stand dahinter eine scheinbar durchdachte Sabotagestrategie des State Departments, das durch die Person Catherman verkörpert wurde. Die sowjetische Einschätzung von Goodman hingegen war äußerst ambivalent. Zum einen erscheint seine Band im Bericht als stereotypes Amerika im Kleinen. Goodman und seine Sekretärin Miriell Zuckermann werden durch die permanenten Konflikte um die Bezahlung der Musiker als kapitalistische Ausbeuter dargestellt. Seine Musiker mit „knechtenden Verträgen“ waren so massivem Druck ausgesetzt. Ein daraus resultierender Streik vor den letzten Konzerten in Moskau konnte nach Konstantinov nur durch politischen Druck Cathermans und das Ausnutzen des Verantwortungsgefühls der Musiker, nicht die russischen Hörer zu bestrafen, abgewendet werden.88 Als gut informiert erweist sich Goskoncert über die ungerechte Geschäftspraxis der Arbeitsverträge, nach denen Goodman jedem Musiker 200 Dollar pro Woche zahlte, von denen er 100 für Unterkunft und Verpflegung
85 Vgl. Crow, Russia without Love. 86 Bericht Goskoncert, l.25. 87 Vgl. Crow, Russia without Love. 88 Vgl. Bericht Goskoncert, l.29.
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wieder abzog, obwohl diese eigentlich von Goskoncert getragen wurden.89 Auch in anderen Zusammenhängen zeigte sich Goodman gegenüber den sowjetischen Behörden als ausgesprochen gewinnorientiert. So bat er nach Abschluss der Tournee das sowjetische Kulturministerium in einem Telegramm, die Kopie sowjetischer Filmaufnahmen der Tournee, für die er 5000 Dollar zu zahlen bereit war, nicht mit der Post zu schicken, sondern sie ihm über die sowjetische Botschaft in Washington zukommen zu lassen, damit er die Zollgebühren sparen könne.90 In der Personalcharakteristik am Anfang des Berichts wird er als „Unternehmer und Geschäftsmann“ charakterisiert, der durch die Ehe mit der Tochter des Millionärs Vanderbilt nicht nur über ein großes Vermögen, sondern auch über Kontakte in höchste Regierungskreise verfüge.91 Konstantinov attestiert Goodman jedoch nicht nur, in die Sowjetunion gefahren zu sein, „um Geschäfte zu machen“, sondern „mit seinen eigenen Augen die sowjetische Realität zu sehen, von der er verstand, dass die amerikanische Presse weit von der Wahrheit entfernt ist“92. Gegenüber dem Kulturministerium zeichnet der Autor das Bild eines typischen Vertreters des kapitalistischen Amerikas, der politisch jedoch nicht dem anti-kommunistischen Lager zuzuordnen und gegenüber der Sowjetunion aufgeschlossen ist. So gelingt es Konstantinov, seine eigenen agitatorischen Leistungen herauszustellen. Goodman sei überzeugt worden „von der Perversität der Propaganda über die SSSR und darüber, dass nach Art ihres Charakters die Sowjetmenschen viel näher den amerikanischen sind“93. Seine „Unbeständigkeit in den Entscheidungen“ erklärt Konstantinov erneut über den politischen Druck Cathermans auf das Orchester, „was Goodman nicht gefiel und aus dessen Wirkung er sich zu lösen versuchte“.94 Dabei zeigen sich nicht nur erstaunlich detaillierte Beobachtungen und Einschätzungen der Auseinandersetzungen im Orchester, sondern ein Bewusstsein für die Symbolik der musikalisch ausgetragenen Konflikte. Konstantinov verwies auf die beim sowjetischen Publikum erfolgreichen Vokalstücke der Sängerin Joya Sherrill, welche Goodman aufgrund von Eifersucht um die Aufmerksamkeit nach wenigen Konzerten aus dem Programm verbannte.95 Mehr noch berichtet er von einem Konzert in Leningrad, bei dem der Trompeter Jim Maxwell bei der Eröffnungsnummer 89 ebd. l.25; Vgl. dazu auch Vertrag zwischen der Regierung der Vereinigten Staaten und der Staatlichen Konzertorganisation der UdSSR Goskoncert über das Gastspiel des Benny Goodman Orchesters vom 17.04.1962, RGALI, f.2329, op.1, d.312, l.7–9, hier l.8. 90 Vgl. Telegramm von Benny Goodman an die Kulturministerin der Sowjetunion Ekatarina Furceva vom 19.09.1962, RGALI, f.2329, op.1, d.312, l.32. 91 Vgl. Bericht Goskoncert, l.22. 92 ebd. l.23. 93 ebd. 94 ebd. 95 ebd. l.24.
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der Band Meet the orchestra bei der ihm zugewiesenen Improvisation die Melodie „der alten amerikanischen Hymne ‚Amerika svobodnaja, Amerika spravedlivaja‘ spielte, um die Diskrepanz zur Wirklichkeit zu unterstreichen.“96. Goodmans egozentrische Art konnte mit den politischen Zielen der Tournee durchaus in Konflikt geraten. Catherman, der „immer besorgt um den positiven Symbolismus“97 der Tournee war, ermutigte Goodman, ein Triostück des afroamerikanischen Trompeters Teddy Wilson im Programm zu lassen, über deren Applaus Goodman wiederum unglücklich wirkte. Die Führung von Goskoncert verstand die Tournee nicht nur als ein politisches Ringen um den Einfluss auf das sowjetische Publikum. Konstantinov wägt im Fazit ab zwischen dem „Scheitern des Empfangs der tourenden amerikanischen Jazzband bei den Zuhörern“ als allgemeinem politischen Ziel einerseits und dem positiven Eindruck andererseits, den das Leningrader Publikum bei den zur Sowjetunion positiv eingestellten, „dankbaren Musikern“ ausgelöst habe. „Dies“, so Konstantinov, „zwingt uns zu überdenken, was denn besser sei“98. Der Leiter von Goskoncert ist bemüht, gegenüber seinen politischen Vorgesetzten den Erfolg des Goodman-Orchesters beim sowjetischen Publikum zu marginalisieren. Die ersten Konzerte in Moskau, denen die westliche Presse besonders viel Aufmerksamkeit schenkte, werden entsprechend widersprüchlich gedeutet. Kritisch gesteht Konstantinov ein, dass die politische Strategie, „keinen Reklamelärm“ um das Orchester zu machen, das Gegenteil bewirkte und „zu einem Rummel um die Tickets führte“ 99. Dies, so relativiert er jedoch, sei „normal für eine Millionenstadt wie Moskau“100. Im Vertrag zwischen sowjetischer und amerikanischer Seite über das Gastspiel sicherte Goskoncert die Organisation der Werbung in jeder Stadt ohne Spezifikation des Umfangs zu.101 Auch in Soči, der nächsten Station der Tournee, führte das Ausbleiben von jeglicher Werbung zu einem erhöhten Interesse am Orchester, sodass die Mitarbeiter von Goskoncert vor dem ersten Konzert „auf der Suche nach Tickets belagert“102 wurden. Konstantinovs negative Einschätzungen der Publikumsreaktion beim ersten Moskauer Konzert decken sich mit der kritischen Einstellung von Teilen der sowjetischen Jazzfans zu Goodman Repertoire. „Nach dem ersten Konzert“, so der Autor, „war die Jugend, die den gegenwärtigen lauten Jazz erwartete, enttäuscht.“103 Gleichzeitig negiert Konstantinov positive
96 ebd. l.29. 97 Crow, Russia without Love. 98 ebd. l.30. 99 ebd. l.26. 100 ebd. 101 Vgl. Vertrag, l.8. 102 Bericht Goskoncert, l.26. 103 ebd.
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Reaktionen von Seiten des durchschnittlichen sowjetischen Publikums, dessen hochkulturelle Ansprüche das Orchester ebenfalls nicht zu befriedigen in der Lage gewesen sei: „Ernsthafte Hörer waren sogar noch mehr enttäuscht, da es schwer ist, zwei Spielzeiten eines Kammerjazzorchesters mit nur einem Solisten ja sogar ohne hohe vokale Fähigkeiten durchzusitzen.“104 Auch westliche Beobachter bemerkten die ambivalenten Reaktionen des hauptstädtischen Publikums. Klaus Arnsperger beschreibt die polarisierten Publikumsreaktionen beim Eröffnungskonzert eindrücklich: „Teils hingerissen auf den Sitzen hin- und her wippend, teils wie gebannt zur Bühne starrend und teils fassungslos den Kopf schüttelnd, erleben die Moskauer zum ersten Mal einen amerikanischen Klasse Schlagzeuger in voller Solo-Aktion.“105 Diese unterschiedlichen Reaktionen zu gewichten, ist indes schwierig, griffen doch die sowjetischen Organisatoren durch die Kartenvergabe regulierend in Zusammensetzung und antizipiertes Reaktionsbild des Publikums ein. Dabei erfolgte die Vergabe von Tickets als Gratifikation für verschiedene lokale politische Eliten aus Staat und Partei, bei denen ein genuines Interesse an dem Orchester existierte. Gleichzeitig aber begriffen die Organisatoren dies auch als Werkzeug zur Regulierung der Publikumsreaktion und der aktiven Störung. Bereits bei den Konzerten von Italijanskaja Melodija kam es zu „empörten Zwischenrufen“ wie „Daloj“ und „Prekratit’“, die in der Auswertung des Zentralkomitees als Beleg für die negativen Reaktionen des sowjetischen Publikums gedeutet werden, vielmehr aber als linientreue Aktivisten erscheinen.106 Wichtiger als die aktive Störung von westlichen Konzerten war das Verhindern einer zu euphorischen Atmosphäre. Infolge der hohen Nachfrage nach Tickets für das Goodman-Orchester in Soči beschloss die lokale Verwaltung, zusätzlich Karten im Umfang von 800 Rubel aus dem Verkauf zu nehmen.107 Hohe Nachfrage und privilegierte Vergabe konnten aber auch zu Gerüchten und Konflikten führen, die von amerikanischer Seite genutzt wurden. Den „Rummel um die Tickets“ in Taškent fand Konstantinov „erstaunlich“ und stellte fest, dass dieser „dadurch aufgeheizt [wurde – M. A.], dass die Tickets nicht über die Theaterkassen verkauft wurden, sondern hauptsächlich über die verantwortlichen Arbeiter verteilt wurden, was der Bevölkerung durch die Amerikaner bekannt gemacht wurde.“108 Besonders beim politisch wichtigen Eröffnungskonzert in Moskau wurde ein großer Teil der Tickets über Betriebe und gesellschaftliche Organisationen verteilt, 104 ebd. 105 Arnsperger, Klaus: Benny Goodman spielt für Chruchtschow auf, in: Süddeutsche Zeitung, 01.06.1962. 106 Vgl. Rjurikov und Jarustovskij an ZK vom 31.05.1957, RGANI, f.5, op.36, d.46, l.70–72. 107 Vgl. Bericht Goskoncert, l.26. 108 ebd., l.30.
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womit in den Worten von Arnsperger „dafür gesorgt ist, dass auch genügend musikalisch gefestigte Genossen im Saale sind und der Beifall nicht in demonstrative Ovationen ausartet.“109 Die Kürze der Analyse zum Moskauer Konzert vom 30. Mai 1962 in Konstantinovs Bericht wird umso verständlicher, als das erste Konzert für die amerikanische Seite den wahrscheinlich größten Erfolg darstellte. Der unerwartete Besuch Chruščevs galt ursprünglich als freundliche Geste gegenüber dem sowjetisch-amerikanischen Kulturaustausch. Er wurde aber sowohl in diplomatischen Kreisen wie auch der westlichen Presse vor dem Hintergrund der ambivalenten sowjetischen Kulturpolitik als offizielle Anerkennung des Jazz interpretiert, die wiederum auf den Besuch Goodmans zurückgeführt werden konnte. Erst auf Nachfrage der sowjetischen Kulturministerin Furceva beschloss der amerikanische Botschafter Thompson überhaupt, Chruščev einzuladen, da er zunächst davon ausging, dass Chruščev die aus dem Besuch resultierende öffentliche Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit Jazz vermeiden wolle.110 Sein Besuch blieb bis zuletzt offen und die Tatsache, dass er gemeinsam mit Kozlov, Kosygin und Mikojan sowie deren Frauen das Konzert besuchte und dabei nicht in einer abgeschirmten Kabine, sondern auf den normalen Rängen Platz nahm, bestärkte westliche Beobachter in ihrem Eindruck einer offiziellen Sanktionierung der Musik als solcher. Botschafter Thompson bestätigte gegenüber dem State Department, dass Chruščevs Besuch nach fünf Jahren des Wandels der staatlichen Position gegenüber dem Jazz „zweifellos eine große Wohltat für die örtlichen Jazzliebhaber sei“111. Darüber hinaus, so der Botschafter, verweist die Tatsache des Besuchs von Spitzenpolitikern trotz „ihres eigenen fehlenden Verständnisses oder sogar Ablehnung des Jazz“, dass sich die Führung dem öffentlichen Druck, besonders der sowjetischen Jugend beugt und „öffentliche Meinung anfängt, eine gewisse Rolle in den sowjetischen Angelegenheiten zu spielen“112. Für die amerikanische und westeuropäische Presse galt der Besuch des ersten Sekretärs als Zeichen der Anerkennung und als Indikator des Wandels der politischen Kultur. Die westliche Presse instrumentalisierte Chruščevs Ablehnung und Unverständnis gegenüber dem Jazz aber auch, um den Parteichef in einer belächelnden bis pejorativen Art und Weise darzustellen. Im Leitartikel des Life Magazine vom 6. Juli 1962 finden sich die Zwischenüberschrift „Bewitched, bothered and
109 Arnsperger, Goodman. 110 Vgl. Telegramm der Botschaft in der Sowjetunion an das State Department vom 31.12.1962, Department of State, Central Files, 761.13/5-3162. [online unter https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1961-63v05/d199#fn1, letzter Zugriff: 30.04.2018]. 111 ebd. 112 ebd.
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bewildered – anyway, Nikita was“113. Auch Arnsperger erweckt in seinem Bericht nach der Betonung von Chruščevs Besuch als „Überraschung des Abends“ und „historische Stunde“ eine ähnliche Assoziation von Chruščev als wohlwollendem, aber letztlich rückständigem Politiker. Nach seiner Ankunft bat Chruščev den amerikanischen Botschafter Thompson an seine Seite. „Für das, was nun kommt“, so Arnsperger, „kann er [Chruščev – M. A.] etwas sachkundige Hilfe gebrauchen. Benny Goodman wird nicht auf der Balalaika zupfen.“114 Chruščevs Anwesenheit beim ersten Konzert, dem nur ein geringer Anteil junger Zuschauer beiwohnte, bestimmte dessen Dynamik deutlich. Nach dem jeweiligen Ende der ersten Nummern des Orchesters scheinen sich die Mehrzahl der Zuschauer zunächst nach Chruščev umgedreht zu haben, um an dessen Reaktionen die eigenen abzuleiten.115 Die Anwesenheit westlicher Journalisten wiederum schränkte die Organisatoren in ihrer Handlungsfreiheit ein. In der Pause zwischen den beiden Konzertteilen spielten jugendliche Zuhörer ihre auf in den Konzertsaal hineingeschmuggelten Tonbandgeräten gemachten Aufnahmen im Konzertsaal ab, ohne dass Ordner oder Miliz intervenierten.116 Bei späteren Konzerten in Kiev wurde jugendlichen Zuschauern bei solchen Versuchen das Gerät weggenommen und noch vor Ort zerstört, während deren Besitzer abgeführt wurden.117 Auch wenn Chruščev nach der ersten Hälfte verschwand, vorher jedoch der afroamerikanischen Sängerin Joya Sherrill seine Komplimente ausrichten ließ, änderte sich die Publikumsreaktion erst mit den nächsten Konzerten aufgrund der weniger selektierten Zusammensetzung spürbar. Der Jazzkritiker Leonard Feather beschreibt die „relativ kühle Reaktion beim ersten Konzert, die ab dem zweiten Abend aber schon von halbstündigen stehenden Ovationen abgelöst wurde.118 Die allgemein positive Einschätzung Leonard Feathers vom anhaltenden Erfolg des Orchesters kontrastiert der Bericht Konstantinovs, der detailliert eine Reihe von Auseinandersetzungen zwischen der amerikanischen und sowjetischen Seite im Verlauf der Tournee thematisiert. Klar wird, dass Goodmans Orchester bei weitem nicht überall vor ausverkauftem Haus spielte. Während die sowjetische Seite dies mit fehlendem Interesse der Zuhörer an dieser spezifischen Form von Musik belegte und damit das Scheitern des amerikanischen Vorhabens erklärte, deuteten Catherman und die Verantwortlichen des
113 Wayman, Stan: Stompin’ it up at Savoy-Marx. Goodman Plays and the Reds Sing, Sing, Sing, in: Life Magazine, 06.07.1962. 114 Arnsperger, Goodman. 115 Vgl. Crow, Russia without love; Arnsperger, Goodman. 116 Vgl. ebd. 117 Vgl. Crow, Russia without Love. 118 Feather, Leonard: With Music loving Russians, in: Jet, 21.06.1962.
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State Departments leere Ränge eher als Resultat der Regulierungspolitik oder, wie im Fall von Taškent, der „Rückständigkeit“119. Der Systemkonflikt pausierte während des kulturellen Austauschs kaum, sondern strukturierte diesen bis ins Detail. Nach dem Versuch sowjetischer Organisatoren, die hohe Erwartungshaltung vor den Konzerten in Soči durch den zusätzlich Entzug von 200 der insgesamt 1700 Tickets aus dem Verkauf zu regulieren, nahm die Zahl der Besucher nach dem ersten Konzert ab.120 Eine Reihe von organisatorischen Fragen eskalierte durch die schlechte Koordination von zentraler und lokaler Verwaltung zu offenen Konflikten. Musik- und Filmaufnahmen, die vor der Tournee vertraglich festgelegt wurden, verbot die lokale Verwaltung trotz eines Erlasses der Kulturministerin Ekatarina Furceva. Catherman, der der Szene beiwohnte, bei der ein sowjetischer Funktionär mit Pistole unter dem Mantel die Tontechniker anwies, die Aufnahmen einzustellen, benötigte zwei Tage, um aus Moskau die entsprechende Anweisung durchzusetzen.121 Hätten diese Fragen an sich noch ohne größere Probleme gelöst werden können, verband sich mit der Kommunikation zwischen den Gästen und Sowjets ein für die amerikanische Seite relevanteres Thema. Catherman wurde die Übersetzung von Goodmans Moderationen zwischen den einzelnen Stücken ins Russische verboten – die russische Übersetzerin vor Ort übersetzte lediglich die Namen der Stücke ohne den gesamten Wortlaut und filterte so die Kommunikation massiv.122 Die hohe Präsenz von Miliz und Družiniki, deren repressives Verhalten gegen die sowjetische Jugend und deren verschiedene Versuche direkter Kontaktaufnahme empörten Catherman und boten Anlass für die westliche Presse zu berichten. Nach Einschätzung Bill Crowes waren die lokalen Behörden extrem nervös, am Eingang zur Bühne mit Sicherheitskräften stark präsent und gingen schnell repressiv gegen junge Konzertbesucher vor, die Kontakt zur Gruppe suchten oder Tonbandaufnahmen machen wollten.123 Nach einem persönlichen Treffen des Trompeters Joe Newmann mit einem sowjetischen Fan namens Valentino wurde dieser von zwei motorisierten Polizisten beim Verlassen des Hotels verhaftet und ein Buch und eine signierte Schallplatte konfisziert.124 Erst nach Intervention Cathermans, der lange mit den Moskauer Behörden telefonierte, kam jener Valentino wieder frei, vermied am nächsten Tag aber jeglichen weiteren Kontakt mit den Musikern. Diesen wiederum wurde von lokalen Behörden verboten, Anstecker mit dem Benny Goodman 119 Bericht Goskoncert, l.30. 120 Vgl. Bericht Goskoncert, l.27. 121 Crow, Russia without love. 122 Vgl. ebd. 123 Vgl. ebd. 124 Vgl. ebd.
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Logo zu verteilen, die selbst Konstantinov als „harmlos“125 einschätzte. Dieser beurteilte das Verhalten der lokalen Autoritäten in Soči kritisch und forderte, dass eine bessere Koordination zwischen zentralen und lokalen Behörden für zukünftige ausländische Gastspiele nötig sei.126 Aus der politisierten Sicht Konstantinovs nutzten Catherman und seine Mitarbeiter „unsere Fehler aus und begünstigten so eine feindliche Stimmung unter den Musikern.“127 Die Abriegelung der Seiteneingänge von Konzerthallen und Bühnen durch Vertreter der Miliz oder Družiniki sollte die unkontrollierten Kontakte zwischen Zuhörern und Musikern verhindern. Sie stellte aber gleichzeitig ein Risiko für die sowjetische Seite dar, als repressiver Staat entblößt zu werden, für den der öffentlich beschworene kulturelle Austausch und direkte Kontakt nur Lippenbekenntnisse waren. Konstantinov sorgte sich hier auch um die politische Einstellung der amerikanischen Gäste gegenüber der Sowjetunion. Als Warnung vor der Relevanz „scheinbar kleiner Fehler“128 zitiert er den anfangs gegenüber der Sowjetunion positiv eingestellten Schlagzeuger Mel Lewis mit den Worten: „Die russischen Menschen sind gut, aber Gesetze und Regierung sind schrecklich. Sie lasten auf dem armen Volk und das Volk darf nichts sagen.“129 Die Vertreter der sowjetischen Seite stellten darüber hinaus aber auch fest, dass eine solche Abschreckungstaktik von Seiten des jugendlichen Publikums durchaus als Provokation verstanden werden konnte. Besonders in Leningrad und später in Kiev kam es zu massiven Ausschreitungen vor der Bühne, nachdem die Verantwortlichen beim zweiten Konzert anstelle einer Reihe von Družiniki eine Mauer aus Stühlen errichteten, die die Zuschauer zwei Meter von der Bühne entfernt halten sollte.130 Von solchen Formen symbolischer Abschreckung, die vor den Augen der westlichen Gäste in reale Gewalt umschlagen konnte, sahen die Organisatoren im Weiteren ab, sodass es „zu weiteren Exzessen weder in Kiev noch in Moskau kam“131. Bill Crowes Beobachtung in der ukrainischen Hauptstadt verdeutlichen, dass trotz dieses Lerneffekts im Umgang mit dem jugendlichen Publikum der Einsatz massiver Abschreckung und selektive Bestrafung Einzelner weiter vollzogen wurde. Neben der Verhaftung von Fans und der Zerstörung von Tonbandgeräten verhinderte eine Reihe von „very forbidden looking officers“132 jede Form von zu offen zur Schau getragener Begeisterung.
125 Bericht Goskoncert, l.27. 126 Vgl. ebd. l.34–35. 127 ebd. l.28. 128 ebd. l.32. 129 ebd. 130 Vgl. ebd. 131 ebd. l.33. 132 Crow, Russia without love.
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Während sich die meisten der Konflikte um Fragen der Organisation, des Ablaufs oder zwischen einzelnen Akteuren entfalteten, wurde in einigen Situationen auch das Repertoire selbst zum Kern von Konflikten. Zu den Stücken, die das Orchester speziell für das sowjetische Publikum spielte, gehörte eine Jazzinterpretation des russischen Liedes Katjuša. Mit Ausnahme des Eröffnungskonzerts blieb das Stück beständig im Programm und wurde von der afroamerikanischen Sängerin Joa Sherril auf Russisch gesungen. Während das sowjetische Publikum Katjuša in Moskau, Soči, Leningrad und Kiev begeistert aufnahm, wurde Sherril in Tbilisi nach wenigen Takten durch Trampeln, Pfiffe und Buhrufe unterbrochen. Die in der Georgischen Sowjetrepublik nach 1956 anwachsende nationalistische Stimmung führte immer wieder zu antirussischen Manifestationen.133 Dem mehrheitlich jungen, sehr nationalbewussten georgischen Publikum erschien dieses russische Volkslied als Provokation, während die Begeisterung für das Orchester und die Sängerin aber ungetrübt blieben. Beim darauffolgenden Stück, so der Bassist Bill Crow, „aßen die Georgier ihr wieder aus der Hand.“134 Es verwundert wenig, dass sich der Bericht von Konstantinov über diesen situativen nationalen Protest ausschweigt. Er konstatiert lediglich, dass das erste Konzert zwar ausverkauft war, aber nicht den von Catherman „prophezeiten stürmischen Applaus gebracht“ habe und sich die Ovation der letzten beiden, nur zu 60 % ausverkauften Konzerte auf eine kleine Gruppe jugendlicher Enthusiasten beschränkt habe.135 Die amerikanische Geste dieses Liedes an das sowjetische Publikum konnte von Gegnern der Tournee, des kulturellen Austauschs und der kulturellen Öffnung als ästhetische Provokation verstanden werden. Die Beschreibungen Bill Crows suggerieren, dass die Effektivität dieser Liedinterpretation gegenüber den anderen Jazzstücken von sowjetischer Seite höher eingeschätzt wurde. Auch in Leningrad, Kiev und zum Abschluss in Moskau waren neben positiven Reaktionen vereinzelt Pfiffe und Buhrufen zu hören. Ein anonymer sowjetischer Fan bezeichnete deren Verursacher auf dem Zettel eines Blumenbouquets für die Sängerin Joa Sherrill als „angeheuerte Gorillas“.136 Aber auch in der Presse geriet die Interpretation ins Kreuzfeuer ideologischer Kritik. Nach dem Konzert in Kiev erschien in der örtlichen Zeitung Večernyj Kiev der Artikel „Taktlosigkeit auf der Bühne“, in dem ein Autorenkollektiv, das die Breite der gebildeten städtischen Gesellschaft abbilden sollte („Ingenieur, Arzt, Bauarbeiter, Offizier u.a.“) gegen die Inszenierung von Sherril protestierte. Das Lied, welches zwar „in gewisser Weise international 133 Vgl. Blauvelt, Timothy: Status Shift and Ethic Mobilisation in the March 1956 Events in Georgia, in: Europe-Asia Studies 61 (2009), S. 651–668. 134 Bericht Goskoncert, l.33. 135 ebd., l.27. 136 Vgl. Crow, Russia without love.
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geworden [ist – M A.], habe aber seinen nationalen sowjetischen Klang („nacional’noe sovetskoe svučanije“) nicht verloren.“137 Die Autoren kritisieren einen „weichen Klang“, der nicht angenehm ist und das Lied klingen lasse „wie eine grobe Fälschung“. „Ein Lied über die Reinheit der Liebe zur Jugend und zur Heimat“ werde nun in „Kneipenmanier dargeboten.“138 Auch wenn im weiteren Verlauf Mitleid für die vermeintlich unangenehme Situation der Sänger Sherrill suggeriert wird, endet der Text mit einer klaren Schuldzuweisung an die amerikanische Seite, in der der Vorwurf der Oberflächlichkeit ebenso mitschwingt, wie derjenige der Respektlosigkeit gegenüber der sowjetischen Kultur. „Wenn man in ein anderes Land kommt, muss man sich doch zu mindestens elementar mit seiner nationalen Kultur, Tradition und Musik des Volkes bekannt machen, diese Tradition und Kultur respektieren, und sich nicht an die zweifelhaften Ratschläge jener Leute halten, die weit vom Verständnis all dessen entfernt sind.“139 Für die Mitarbeiter des Konzertwesens sollte der Vorfall in Tbilisi einige Monate später noch einmal an Relevanz gewinnen. Im Zuge der konservativen Wende nach der Manegeaffaire im Dezember 1962 widmete das Kulturministerium der RSFSR den negativen Einflüssen der ausländischen Gastspiele auf die sowjetische Bevölkerung eine ganze Sitzung.140 In einer Atmosphäre von oben initiierter, selbstkritischer Auseinandersetzung mit der Tourneeorganisation wurden die nationalistisch motivierten Reaktionen des georgischen Publikums auf Goodman nun gänzlich umgedeutet. Die Pfiffe gegen die Jazzversion von Katjuša sollten nun belegen, dass höchste Eile gegen die schleichende Verwestlichung der Kultur geboten war. „Goodman“, so der Kulturminister Kusnecov, „wurde ausgepfiffen, weil er nicht modernistisch genug war.“141 Nicht nur die sowjetische Presse zeigte sich während der Tournee als politisches Instrument. Der Berichterstattung durch die amerikanischen Medien kann ebenfalls kaum Neutralität attestiert werden. Konstantinovs Formulierung der „skrupellosen Arbeit der Sensationssuche“ mag seinem genuin politischen Verständnis der Tournee geschuldet sein, verweist aber auch auf einen grundlegenden Funktionsunterschied zwischen sowjetischer und westlicher Presse, deren einzelne Zeitungen im Kampf um Auflagenstärke in latenter Konkurrenz um die beste „Story“ standen. 137 o. A.:Taklosigkeit auf der Bühne, Večernaja Kiev vom 29.06.1962. 138 ebd. 139 ebd. 140 Vgl. Geschlossene Parteiversammlung des Parteiorganisation der Abteilungen Theater, Musikeinrichtungen, darstellende Kunst und Denkmalschutz, Bildungseinrichtungen, Kulturaufklärung, Goskoncert und Abteilung innere Verbindungen vom 13.09.1962 zum Thema „Verstärkung der kommunistischen Erziehung der Werktätigen und Kampf gegen den Einfluss der bourgeoisen Ideologie“, GARF, f.957, op.1, d.161, l.15–20. 141 ebd. l.16.
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Eine solche „Story“ basierte auch auf Erwartungshaltungen von Leser und Journalist über die antizipierten Folgen der Tournee in der Sowjetunion, womit vermeintlichen Hindernissen von sowjetischer Seite oder eben politischer Prominenz wie Chruščev entsprechender Raum gegeben wurde. Verkürzte Zitatwiedergaben, fehlende Kontexte und vereinfachte Interpretationen bestätigten damit nicht nur die sowjetische Seite in ihrer Skepsis gegenüber der westlichen Presse, sondern irritierten auch mitreisende Musiker. Für ein besseres Narrativ geschah dies sogar zu Ungunsten der amerikanischen Seite. Das Life Magazine kürzte die Antwort des Trompeter Joe Wilders auf die Frage eines sowjetischen Journalisten, ob die Rassentrennung in den USA existiere. Aus seiner Aussage „There’s no denying we have a problem, but we’re working on it.“ wurde „There’s no denying we have a problem“142, da es besser zu dem in diesem Absatz thematisierten Erstaunen der sowjetischen Bevölkerung gegenüber den afroamerikanischen Musikern passte. In einer Reihe von begleitenden Artikeln des Time Magazine wurde immer wieder ein Zusammenhang zwischen Chruščevs persönlicher Abneigung gegenüber dem Jazz und den bereits diskutierten Problemen des Orchesters um Filmrechte, Goodman-Anstecker und Polizeipräsenz hergestellt. „All that jazz was getting on Nikita’s nerves, so Soviet officials started bugging Benny Goodman and his touring boys.“143 Diese Deutung der Hindernisse orientierte sich immer noch an einem durch den Stalinismus geprägten Bild der Sowjetunion, deren Machtstrukturen auf eine Person, dessen Entscheidungen und Befindlichkeiten zugeschnitten waren, und verkannte damit das für die Chruščevzeit parallele Nebeneinander von Konservativen und Reformern. Sechs Jahre nach Ende der McCarthy-Ära mochte es für Mitarbeiter des State Departments und Journalisten naheliegen, Verspätungen, Verbote und Regulierungen auf einen zentral gesteuerten Plan in einen totalitären, kommunistischen Staat zurückzuführen. Bill Crow reagierte auf solche Zusammenhänge mit Unverständnis, da den Musikern zu keinem Zeitpunkt der Eindruck erwuchs, dass Jazz Chruščev „nerven würde“ und dieser dem Orchester immerhin zweimal, beim Eröffnungskonzert und dem Empfang zum Unabhängigkeitstag in der amerikanischen Botschaft in Moskau eine respektvolle Aufwartung machte.144 Auch in der Berichterstattung über die Zusammentreffen Chruščevs mit Goodmans Orchester lässt sich diese Tendenz von scheinbar unbedeutenden Auslassungen und Vereinfachungen beobachten. Der Effekt der Gesten Chruščevs, persönlich zu erscheinen und sich vor amerikanischen Reportern über Jazz zu unterhalten, wurde so nivelliert, während er als brüsk agierender und rückständiger Politiker erschien. 142 Zitiert nach Crow, Russia without Love. 143 Zitiert nach ebd. 144 Vgl. ebd.
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Während Newsweek den ersten Sekretär nach dem Eröffnungskonzert mit dem Zitat „I enjoyed it, but I don’t dance very well, so I don’t understand it“145 wiedergab, nutzten Reporter von Time Magazine und Life Magazine nur Teile davon („I don’t understand it“, „I don’t dance“)146, womit er wesentlich brüsker und abweisender klang als wohl ursprünglich intendiert. Für sowjetische Zeitungen ergab sich aus dieser einseitigen Form der Berichterstattung wiederum die Möglichkeit, die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Presse generell zu kritisieren und anhand eines Interviews mit Goodman die organisatorischen Leistungen und die positive Rezeption durch die sowjetischen Zuhörer hervorzuheben. Im Redaktionsartikel „Wer braucht diese Lüge?“, der acht Tage nach der Abreise des Orchesters in der Sovetskaja Kul’tura erschien, warf man der New York Times und dem New York Herald Tribune vor, „die Sache des kulturellen Austausch für antisowjetische Propaganda zu nutzen.“147 Auch dieser Teil der Tournee wurde durch Systemkonflikte strukturiert und erzeugte solch heftige Reaktionen eben weil es um die unterschiedliche Deutung von Ereignissen gegenüber der amerikanischen, sowjetischen und weltweiten Öffentlichkeit ging und die Grundlage dafür legte, wer sich als Sieger dieser Wettbewerbsetappe erklären konnte.
7. 3 D ie Tou r ne e a l s B egeg nu ng s r a u m Beide Seiten maßen Begegnungen zwischen amerikanischen und sowjetischen Bürgern während der Tournee enorme Wichtigkeit bei. Jedoch unterschieden sich die Möglichkeiten, diese Begegnungen in politisches Kapital umzumünzen. Während die amerikanische Seite an nicht orchestrierten Begegnungen interessiert war und dem direkten Aufeinandertreffen von Musikern und Publikum viel Raum geben wollte, gewichteten die sowjetischen Behörden die organisierte Begegnung höher, die im Rahmen von „Treffen mit der schöpferischen Intelligencija“ oder von begleiteten Führungen in Kolchosen, Fabriken und Kultureinrichtungen organisiert wurde. Informelle Kontakte thematisierte die sowjetische Presse kaum. Im Bericht von Goskoncert wurden diese in pejorativem Ton diskutiert. Die amerikanische Seite wiederum öffnete diesem Aspekt sowohl im Text als auch in der Bildsprache großen Raum, schien dieser doch den impliziten politischen Auftrag des Jazz als demokratische und menschen-zusammenführende Kunstform amerikanischen Ursprungs zu bestätigen.
145 Vgl. ebd. 146 Vgl. ebd. 147 o. A.: Wer braucht ein solche Lüge?, in: Sovetskaja Kul’tura, 16.07.1962.
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Das State Department und der Kulturattaché Catherman bemühten sich, die Zahl offizieller Führungen zu minimieren. Sowjetische Fehler in der Organisation solcher Programmpunkte vor Ort und verspätete Transportmittel unterstützten dieses Vorhaben sicherlich. Konstantinov beklagte so auch, dass zu den „grundlegenden Fehlern“ der Tournee die Unfähigkeit lokaler Führungen gehörte, „ein vollwertiges Programm [...], das eine anschauliche Propaganda der sowjetischen Wirklichkeit geboten hätte“148, zusammenzustellen. Eine Reihe von verabredeten Zusammenkünften und musikalischen Kooperationen wurden von Goodman selbst abgesagt, da sie ihm zu zeitaufwendig erschienen oder nicht die gewünschten Pressebilder versprachen. Die sowjetische Seite aber sah hinter diesen Absagen, welche die sowjetischen Kulturvertreter und Musiker teilweise brüskierten, Catherman und eben nicht Goodman als treibende Kraft. Im Gegenzug versuchten die sowjetischen Verantwortlichen, den unkontrollierten Kontakt zwischen Musikern und sowjetischen Bürgern durch räumliche Separation, Einschüchterung und direkte repressive Maßnahmen zu verhindern, waren dabei aber den Beschränkungen der Präsenz amerikanischer Pressekorrespondenten und den Möglichkeiten der unterschiedlichen Behörden vor Ort unterworfen. Unmöglich blieb es letztlich von Beginn der Tournee an, jeden Kontakt administrativ zu regulieren – dem Leiter des damaligen Moskauer Jazzklubs Aleksej Batašev gelang es, die Band noch auf dem Rollfeld im Namen der Moskauer Jazzmusiker willkommen zu heißen und damit die sowjetische Seite zu brüskieren.149 Erschwerend für den direkten Kontakt erwiesen sich für die amerikanischen Gäste zudem auch die hohe Sprachbarriere – keiner der Orchestermusiker sprach Russisch –, ein knappes individuelles Zeitbudget, kulturelle Unterschiede und eine elementare Fremdheitserfahrung vor Ort. Die amerikanischen Erwartungshaltungen gegenüber der Sowjetunion und ihren Bürgern waren wenige Jahre nach Ende der McCarthy-Ära äußerst ambivalent. Bill Crow bemerkte, dass er selbst zwar nicht die generelle Angst vor der Roten Gefahr („Red Menace“) geteilt habe, jedoch trotzdem überrascht war, dass die Bäume am Flugfeld in Moskau genauso aussahen wie in seiner Heimatstadt.150 Der Besuch zwang die Gäste, die Sowjetunion zu de-abstrahieren: „I had been so conscious of Russia as a political entity that I had forgotten it was also a place of trees and grass and birds. And, of course, the people looked just like people.“151 Grundlegende Ängste vor dem Sicherheitsapparat bestanden weiterhin, wie Crow am Beispiel des Musikers Gene Allen verdeutlicht, der bis zum Ende der Tournee fest davon
148 Bericht Goskoncert, l.34. 149 Interview mit Aleksej Batašev vom 09.06.2009. 150 Crow, Russia without Love. 151 ebd.
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überzeugt gewesen sei, dass jeder Raum verwanzt war.152 Im Verlauf der Tournee stellte sich bei den Gästen häufig ein zwiespältiges Bild ein. Während anhaltende Beobachtungen den Eindruck eines repressiven politischen Klimas verstärkten, erzeugten die Kontakte auf der persönlichen Ebene einen wachsenden Kontrast zu bestehenden Vorstellungen über sowjetische Menschen. Crow bilanziert sogar, auf der menschlichen Ebene eine viel direktere Empathie zu den Menschen entwickeln zu können als zu jenen, die er in Westeuropa traf.153 Als Katalysator für die Treffen mit sowjetischen Musikern und Jazzfans wirkte nicht nur die politische Linie des State Departments, nach der die amerikanische Seite das politische Potential des Jazz und seine freiheitliche Assoziationskraft am besten in einem ungebundenen Zusammentreffen mit Teilen der Bevölkerung ausspielen konnte. Der Wunsch der amerikanischen Musiker, mit sowjetischen Jugendlichen über Jazz zu sprechen und gemeinsam zu spielen, war besonders bei jenen ausgeprägt, die in der Reise mehr als nur einen bezahlten Job sahen und mit Goodman und seiner Repertoirepolitik immer wieder in Konflikt gerieten. Diese durchaus emotionalen Begegnungen im Rahmen von Gesprächen hinter der Bühne oder jam sessions ließen beim geneigten Leser das Urteil zu, Jazz transzendiere jede politische und sprachliche Barriere. Diese positive Spannung aus elementarer Neugier auf Seiten sowjetischer Fans und Erstaunen über deren Detailwissen und Risikobereitschaft auf amerikanischer Seite entwickelte sich zu einem Leitnarrativ, das die amerikanische Presse bewusst in Szene setzte. Life Magazine zitierte den afroamerikanischen Trompeter Joe Wilder nach einer jam session mit georgischen Musikern in Tbilisi: „I can’t get over it, it’s amazing; all this taste in common, this common knowledge, I just can’t get over it.“154 Wichtiger als geteilter Geschmack und gemeinsames Wissen erwies sich für die Gäste und sowjetischen Jazzfans das gemeinsame Spiel als Medium der Kommunikation. Eine gemeinsame jam session stellte idealerweise einen symbolischen und funktionalen Ersatz für fehlende Sprachkenntnisse dar. Für sowjetische Musiker waren die wenigen Zusammentreffen mit Goodmans Musikern die unmittelbarste Form, über ein auf Interaktion basierendes Spielmodell etwas Neues zu lernen. Mehr noch ergab sich so die Möglichkeit und der Zwang einer eigenen Leistungsbewertung durch den Kontrast der eigenen Fähigkeiten zu denen der professionellen Musiker jenes Landes, das zu Beginn der 1960er-Jahre noch mehrheitlich zum Ort jeder musikalischen Innovation ikonisiert wurde. Diese unterschiedlichen Erwartungshaltungen beider Seiten trafen bei einer informellen jam session im Jazzklub der Leningrader Universität aufeinander. Die im Vorfeld der Tournee artikulierten 152 Vgl. ebd. 153 ebd. 154 Wayman, Stompin’ it up at Savoy-Marx.
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couragierten Statements zum geringen Lernpotential von Goodmans Musik für die sowjetischen Musiker wichen in der konkreten musikalischen Begegnung einer Art Schockerlebnis. Trotz aller Euphorie über das einmalige Zusammentreffen erkannten die teilnehmenden sowjetischen Jazzenthusiasten ihre gravierenden spielerischen und konzeptionellen Defizite gegenüber den amerikanischen Vorbildern. Während die Weltjugendfestspiele von 1957 für das Äußere der Jazzkultur, ihre Mode und Tänze als Zäsur beschrieben wurden, wirkte das nächste direkte Zusammentreffen mit amerikanischer Jazzmusik als Einschnitt für ihr Inneres.155 Für die amerikanischen Gäste geriet Leningrad zum Höhepunkt der Tournee. Nicht nur bot die Stadt einen architektonischen und atmosphärischen Kontrast zu Moskau und den anderen Reiseetappen. Leningrads Straßen, Gassen und Kanäle erschienen zum Höhepunkt der Weißen Nächte Mitte Juni umso eindrucksvoller. Selbst die sowjetische Seite erachtete die Kulisse von Leningrad am geeignetsten, um Goodman und seine Band als kulturbeflissene Besucher der Sowjetunion in einer kurzen Fernsehdokumentation aus dem Jahr 1963 zu inszenieren.156 Nach einer Fahrt Goodmans in einer offenen Limousine an den Attraktionen Leningrads vorbei zeigt die Dokumentation einen Eremitage-Besuch sowie das Zusammenspiel mit einem Sinfonieorchester. Erst abschließend werden Auszüge aus den Konzerten im Winterstadion gezeigt, das mit dem sitzenden Publikum und seiner traditionellen Innenarchitektur als perfekte Verkörperung eines kultivierten Konzerts erscheint. Mehr noch als das Ambiente der europäischen Hauptstadt unterschieden sich die Reaktionen der 6000 Leningrader Zuschauer, die sich im Winterstadion versammelten, deutlich von denen anderer Städte. Nach jedem der drei Konzerte forderte das Publikum mit stehenden Ovationen mehr Musik, selbst nachdem mehrere Zugaben gespielt wurden.157 Nicht zuletzt aufgrund des wenig regulierten Kontakts zwischen Fans, sowjetischen und amerikanischen Musikern erschien den amerikanischen Gästen nach Ende der drei Tage Leningrad ein größeres Potential für die weitere Entwicklung des Jazz zu haben als Moskau. „Leningrad“, so Bill Crow, „seemed to be the best place in Russia for a jazz player to develop. It was a hipper city in general. The university was a musical center.“158 In den meisten Städten gelang es Goodmans Musikern, in einer Jamsession mit örtlichen Musikern zu spielen. Häufig wurden diese von den mitreisenden Pressevertretern vorher vereinbart, wohl auch in der Hoffnung auf gute Bilder, die in den
155 Vgl. Kozlov, Džaz, S. 100–115. 156 Vgl. „Benni Gudman i ego orkestr“, Dokumentation von 1963 [https://ok.ru/video/304418523688, letzter Zugriff: 17.05.2018]. 157 Vgl. Crow, Memoirs. 158 ebd.
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entsprechenden amerikanischen Zeitschriften gedruckt werden konnten.159 Während des Aufenthalts in Leningrad kamen die Musiker mit sowjetischen Kollegen mehrfach im Restaurant des Hotels Astorija zusammen. Für den Abend nach dem zweiten Konzert war nach einer solchen Session noch der inoffizielle Besuch im Jazzklub der Leningrader Universität auf der Vasil’evskij-Insel geplant. Der Leiter des Klubs Jurij Vicharev entwirft in seinen Memoiren von 2004 ein detailliertes, aber auch stark glorifizierendes Bild dieses Zusammentreffens, in das er Teile eines Interviews mit dem Leningrader Saxofonisten Gennadij Gol’štejn integrierte.160 Deutlich macht Vicharev das wahrgenommene Risiko eines solchen nicht-sanktionierten Zusammentreffens für die Existenz des Klubs und seine Mitglieder, welches diese aber in Kauf nahmen für die „Möglichkeit, lebendige amerikanische Jazzer zu sehen, sie zu berühren, mit ihnen zu sprechen, sie zu hören und – wer weiß was noch kommen wird – mit ihnen zu spielen“161. Er sei bereit gewesen, „dafür aufs Schafott zu steigen“162. Entsprechend besetzten die Klubmitglieder den Raum in der Universität unter dem Vorwand einer Reihe von Vorträgen bereits am Nachmittag, da später kein Schlüssel mehr ausgegeben wurde. Erst um 23 Uhr erreichte die erste Gruppe von amerikanischen und sowjetischen Musikern den Klub, nachdem diese bereits im Restaurant des Hotels Astorija für eine Stunde gemeinsam gejammt hatten. Diese Tatsache versetzte besonders den beteiligten Saxofonisten Gennadij Gol’štejn in Erstaunen, da das Absolvieren eines dreistündigen Konzerts mit anschließenden Jamsessions im Hotel und im Klub der Universität von der „schieren Energie“ zeugte, mit der die amerikanischen Gäste den Jazz betrieben.163 Sie lässt erahnen, wie wichtig das Treffen zum freien Spiel mit sowjetischen Kollegen für die amerikanischen Musiker am Ende der Tournee war, während der sie Goodmans Willkühr und seinem aus ihrer Sicht antiquiertem Repertoire ausgesetzt waren. Bill Crows Erlebnisse der konspirativen Autofahrt vom Hotel zum Klub der Universität und dem dortigen Ambiente passten sich in dessen Gesamtbild der Sowjetunion ein. Nachdem der Fahrer des Wagens nicht in der Lage war, die angegebene Adresse zu finden, kam ein Milizionär auf das mehrfach um den Block gefahrene Auto zu.164 Die drei amerikanischen Gäste auf dem Rücksitz wurden von ihren sowjetischen Kollegen um Stillschweigen gebeten, um nicht das Misstrauen der Miliz zu erwecken. Deren Kontroll- und Absicherungsdrang hätte einen Besuch des Treffens letztlich verhindert. 159 Vgl. besonders Wayman, Stompin’ it up at Savoy-Marx. 160 Vgl. Vicharev, Est’ čto. 161 ebd. S. 126. 162 ebd. S. 128. 163 Vgl. ebd. S. 127. 164 Vgl. Crow, Russia without Love.
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Die Euphorie der sowjetischen Gastgeber nach dem Ankommen der Musiker Woods, Zims, Dodges und Crow, die sofort in die laufende Session einstiegen, wich einer zunehmenden Verunsicherung, dass „irgendwie alles nicht so recht funktionierte“165. Trotz aller Bemühungen der sowjetischen Pianisten und Bassspieler wurde Gol’štejn bewusst, dass „wir grundsätzlich überhaupt nicht mit Rhythmus spielten“, weswegen „in keinerlei Weise von irgendeinem Swing die Rede sein konnte“166. Aus Sicht Vicharevs übertraf die reale Diskrepanz der musikalischen Fähigkeiten die von allen sowieso angenommene Unterlegenheit gegenüber den Amerikanern, über die man sich „keinerlei Illusionen“167 machte. Erst durch den gestiegenen Wodkakonsum und das Hinzukommen weiterer Musiker aus Goodmans Orchester belebte sich die Session schließlich, an der aber nur noch die besten sowjetischen Musiker („našy assy“) Gol’štejn, Jansa, Levenštejn und Kannunikov teilnahmen, während die anderen „irgendwie zusammenklappten, verlegen wurden und es vorzogen, diese göttlichen Klänge in ihr Inneres aufzusaugen“168. Vicharev zeichnet in seinen Erinnerungen ein plastisches Bild der Defizite im sowjetischen Jazzspiel, das er mit verschiedenen Vergleichen der amerikanischen mit der sowjetischen Jazzkultur noch überhöht. Den sowjetischen Pianisten diagnostiziert er das Fehlen elementarer Kenntnisse von Jazzthemen und Jazzklassikern. Jeder sei es nur gewöhnt, „seine Kompositionen“ zu spielen und die Jazzstandards ebenfalls nur in einer ihm gelegenen Tonart, ohne diese flexibel für das gemeinsame Spiel transponieren zu können.169 Als sich der Saxofonist Phil Woods kurz an das Piano setzte, wurde Vicharev klar, dass sogar dieser besser Klavier spielte als sowjetische Pianisten, da dessen Beherrschung für erfolgreiche Instrumentalisten in den USA vorausgesetzt wird. Hier zitiert Vicharev den Essay des sowjetischen Pianisten Nikolaj Levinoskij, der in den USA an Jam-Sessions teilnahm: Die Ernsthaftigkeit und Mobilisierung aller Kräfte durch den einzelnen bei einer solchen Session erklärt sich der Autor nicht nur durch den Wunsch auf Vorspielen, sondern die Hoffnung auf eine Chance, in einem der prestigeträchtigen Orchester einen Job zu bekommen. Demgegenüber kontrastiert Levinovskij die typische sowjetische Jamsession: „Ich erinnerte mich an unsere schlampigen Jams („raschlebannye džemy“), wo sich Besetzungen anhand von Freundschaften und Bekanntschaften formierten, wo jeder ohne Bemühungen und innere Verantwortlichkeit spielte, nach alten Mustern und Schablonen.“170 165 („A čto-to vse že ne ladilos’’“) Vicharev, Est’ čto, S. 127. 166 („My-to igraem ėlementarno ne s ritmom“) ebd. 167 ebd., S. 128. 168 ebd. 169 Vgl. ebd.
170 ebd. S. 129.
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Neben den fehlenden Fähigkeiten des Transponierens offenbarte die Session ein weiteres Defizit im Spiel der sowjetischen Musiker – die Dynamik. Der Vibraphon- und Klavierspieler Viktor Feldman erstaunte die Musiker beim Spiel, da sie diesen anfänglich kaum hörten und so gezwungen waren, leiser zu spielen. Dieser spielte mit geringem Schlag „unglaublich leise [...], aber mit idealem Anschlag und Phrasierung“171, während Vicharev den sowjetischen Musikern attestiert, dass sie „prügelten, wie es nur geht und am Ende Brei erhielten“172. Trotz aller Selbstkritik, die Vicharev aus der Begegnung von amerikanischen Berufsmusikern mit sowjetischen Amateuren ableitet, bleibt in seinem Narrativ die Suche nach Anerkennung und Stolz zentral. „Die Aufgabe war eindeutig. Den Amerikanern gefallen. Alle Mittel waren gut und wir gaben alles …“173 Dabei dämpft er bereits in der Beschreibung der Session mehrfach die grundlegenden Erwartungen an die sowjetischen Musiker und erklärt deren Rückständigkeit zum Leitmotiv des sowjetischen Jazz. Dadurch relativiert sich der regelmäßig erhobene Vorwurf von „Nachahmung, Imitation und Epigonentum“, den die Partei gegen die Jazzmusiker erhob. Eben durch das Fehlen einer Schule erklärt sich für ihn ein quasi uneinholbarer Rückstand zu den USA und Westeuropa. Beleg dafür ist nach Vicharev die Tatsache, dass es nicht einen sowjetischen Jazzmusiker gebe, der internationale Anerkennung erfahren habe, nachdem er das Land verließ.174 Diese kurze und intensive Form informeller Interaktion wurde rasch in den politischen Kontext der Tournee zurückgeholt, als nach Mitternacht eine Gruppe amerikanischer Journalisten die Session aufsuchte und zu fotografieren begann. Auch wenn das Zusammentreffen eine nicht im Rahmen des Kulturprogramms sanktionierte Veranstaltung war, blieben die Teilnehmer zu keinem Zeitpunkt unbeobachtet. Mindestens ein Dolmetscher von Goskoncert begleitete die amerikanischen Gäste.175 Lokale Leningrader Behörden zeigten sich den Geschehnissen gegenüber ambivalent. Die von den Mitgliedern des Klubs gefürchtete Reaktion der Parteileitung der Universität am nächsten Tag fiel auffallend sanft aus: „Sie schimpften, aber irgendwie nur ein bisschen“176 Der größte Vorwurf auf der eigens dafür eingerichteten Parteiversammlung gegen die Organisatoren war, Wodka ausgeschenkt zu haben. Vicharev erklärt sich diese Milde durch den vermeintlichen Präzedenzfall eines solchen Ereignisses, für das die lokale Parteileitung auf keine eigenen Erfahrungen oder Anweisungen von oben zurückgreifen konnte. 171 ebd. 172 ebd. S. 130. 173 ebd. S. 129. 174 ebd. S. 128. 175 Vgl. S. 131. 176 ebd. S. 132.
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Dies deckt sich mit den im Bericht von Goskoncert problematisierten generellen organisatorischen Problemen der lokalen Führung.177 Die im Bericht von Goskoncert pejorativ bezeichneten „Treffen auf Kneipenniveau“ trugen ungeachtet der Asymmetrie spielerischer Fähigkeiten und Erfahrungen zu einer stärkeren internationalen Bekanntschaft des neuen sowjetischen Jazz und seiner Musiker bei. Gennadij Gol’štejn erhielt Ende des Jahres 1962 eine Einladung zu einer bezahlten Tournee durch die USA , die seine Frau aus Angst, er könne unter Spionageverdacht verhaftet werden, jedoch verbrannte.178 Schon während der Tournee, die vom Jazzkritiker und Autor Leonard Feather und Produzent und Organisator George Avakian begleitet wurde, erhielten amerikanische Veranstalter Hinweise auf potentiell interessante Künstler. Am 8. Juni 1962 stellte die Musikergewerkschaft von Las Vegas eine Anfrage an den sowjetischen Komponistenverband, ob der Gitarrist Nikolaj Gromin oder der Trompeter Andrej Tovmjasan, die Feather zuvor in einer Empfehlung als „großartig“ bezeichnet hatte, am dortigen Festival teilnehmen könnten,.179 Trotz des strategischen Verweises auf den Wert der Künste für das bessere Verständnis zwischen den Menschen und des Verweises, dass die Veranstaltung nicht von einem Privatunternehmer, sondern der Musikergewerkschaft organisiert wurde, kam es nicht zu den gewünschten Auftritten in den Vereinigten Staaten. Dennoch dürften gerade Anfragen wie diese die Führung von Partei und Jugendorganisationen vom politischen Potential dieser westlichen Anerkennung sowjetischer Musiker überzeugt haben. Die Teilnahme an Jazz-Festivals innerhalb des Ostblocks barg die Chance, der Sowjetunion ein liberaleres Gesicht zu verschaffen. Gromin und Tovmjasan durften mit dem Vadim Sakun Quartett im Rahmen einer Komsomoldelegation im Oktober des Jahres am Warschauer Jazz Jamboree teilnehmen und gewannen dort den ersten Preis. Die inoffiziellen Begegnungen während der Tournee trugen aber auch dazu bei, dass der westliche Hörer sich erstmals selbst mit neuen sowjetischen Jazz-Kompositionen vertraut machen konnte. Goodmans Vibraphonist Victor Feldman veröffentlichte Anfang 1963 das Album Soviet Jazz Themes, auf dem sechs Komposition der sowjetischen Jazzmusiker Gol’štejn, Tovmjasan und Gachechiladze gespielt wurden.180 Feldman und Leonrad Feather hatten die Kompositionen während der Goodman Tournee gesammelt und im Herbst 1962 in zwei Sessions mit prominenten amerikanischen Jazzmusikern wie Net Adderley, Herb Ellis und dem
177 Vgl. S. 133. 178 Vgl. Dokumentarfilm „To Russia with Jazz“, Reg. Konstanze Burkhard 2011. 179 Vgl. Schreiben von Jack Eglash, Assistent des Präsidenten der Musikergewerkschaft Musicians Protective Union, an Tichon Chrennikov, Leiter des Sowjetischen Komponistenverbands vom 05.06.1962, RGALI, f.207, op.1, d.2103, l.134–135. 180 LP Victor Feldman Allstars „Soviet Jazz Themes“, mono, 1963, (MGM-C 954).
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österreichischen Keyboarder und Pianisten Joe Zawinul aufgenommen. Der Begleittext der LP stellt das musikalische Projekt in den Kontext der Tournee und des Kalten Krieges und zeigt, wie die amerikanischen Vertreter die sowjetische Jazzmusik einschätzten. Anfangs betont Feather die Einzigartigkeit des Albums: „There has never been an album quite like this before in the annals of recorded jazz.“181 Feather bleibt einem konsequent amerikanischen Verständnis von Jazz verbunden, dem er bestimmte implizit politische Qualitäten zugespricht und zu dem im Westen bekannte Formen des Sovetskij Džaz aus den 1930er-Jahren nicht gehören. So negiert der Autor mit der Bemerkung „the very existence of Soviet jazz, of artists who could play or write it, was virtually unknown outside the USSR until 1959“ die Existenz einer sowjetischen Jazztradition vor den 1950er-Jahren. Erst durch das amerikanische Mitchel and Ruff Duo habe eine Gruppe junger Musiker erste Aufmerksamkeit erlangt, „deren Interesse an der amerikanischen Jazzwelt [...] so tiefgreifend und intensiv war wie ihr Gefühl für die Musik“. Feather wirft Goodman daher vor, entgegen verschiedenen Ankündigungen nie mit diesen jungen sowjetischen Jazzmusikern zusammengekommen zu sein und auch in seinem Repertoire bis auf einige sowjetische Popsongs keinerlei Anerkennung für das Phänomen des sowjetischen Jazz gemacht zu haben. Er sieht die Funktion des Albums darin, die Fehler Goodmans und implizit des State Departments zu korrigieren und eine universalistische Botschaft zu transportieren. Es solle „erstens diesen Missstand kompensieren, zweitens ein Programm modernen Jazz von überlegenen Solisten bieten und drittens auf Gemeinsamkeiten und weniger die Unterschiede von Jazz Kompositionen verweisen, wie sie einerseits in Moskau, Tbilisi oder Leningrad und andererseits in New York, Chicago oder Los Angeles verstanden werden.“ Damit stilisiert Feather den Jazz hier als etwas über der Politik Stehendes und verallgemeinert sehr fragmentierte Eindrücke, die vor Ort über Sprach- und Kulturbarrieren hinweg gewonnen worden. „All jene von uns, die die Gastfreundschaft dieser hingebungsvollen Jazzer und Studenten genießen durften, waren berührt von deren Ernsthaftigkeit, deren Mangel an politischen Animositäten (viele schienen total unpolitisch zu sein) und deren offensichtlichem Verlangen, gemeinsame Dinge und keine Unterschiede zu diskutieren.“ Feather betont den unpolitischen Charakter des Jazz auch aus Sorge um dessen Glaubwürdigkeit. Die erwünschte Signalwirkung der Musik sieht er durch die Logik der Jazz Diplomacy gefährdet: „For listeners in this country it is to be hoped that they will help reinforce a concept not of the jazz-as-propaganda-weapon cliche, but the unifying image of this music gathering strength and growing stature as part of a single world.“182 Damit distanziert er den Kontext seines Albums nicht nur stilistisch von Goodman, sondern implizit 181 Feather, Leonard: Begleittext zur LP „Soviet Jazz Themes“. 182 ebd.
Fazit
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auch vom organisatorischen Rahmen des State Departments. Auch im Betonen vermeintlicher Gemeinsamkeiten zwischen sowjetischer und amerikanischer Jazzmusik bleibt für Feather der amerikanische Jazz der letztliche Bewertungsmaßstab der zukünftigen Entwicklungen. So attestiert er Gol’štejns Kompositionen, dass sie neben einer ungeheuren Vielfalt „eine intelligente Absorbierung der richtigen Einflüsse“183 erkennen lassen. Am Ende deutet Feather schließlich eine determinierte Entwicklungslinie an, die er über einen historischen Vergleich untermauert. „Für Jahrzehnte“, so der Autor, „war amerikanischer Jazz ein ungehörter Prophet im eigenen Land, während die Europäer ihm erstmals eine grundlegende kritische Aufmerksamkeit bescherten. Jetzt, in einer merkwürdigen Umkehrung, sind die Amerikaner die Ersten, welche die Aufmerksamkeit auf ein Set an swingenden, unprätentiösen sowjetischen Jazzstücken richten, die immer noch darauf warten, auf ihrem Heimatboden aufgenommen zu werden.“184
7.4 Fa z it Die Frage nach Siegern und Verlierern war impliziter Teil des Konzepts vom kulturellen Wettstreit. Ohne einen vereinbarten Regelkanon und aufgrund des hybriden Wirkens von Ausstellungen, Konzerten und Theaterstücken ließ sie sich jedoch kaum eindeutig beantworten. Die Deutungshoheit über diese Frage lag somit auf beiden Seiten, die zu unterschiedlichen Einschätzungen kamen. Der Leiter von Goskoncert Konstantinov kam untersetzt mit rituellen Elementen der Selbstkritik bei organisatorischen Fragen in seinem Bericht zu einem positiven Gesamtergebnis. Er benannte als Hauptschuldige die lokalen Führungen, die „den Einfluss des Orchesters überschätzten“ und „sich durch den Rummel“ einschüchtern und so zu repressiven Maßnahmen hinreißen ließen. Der Vorwurf des Fehlens „vollwertiger Kulturprogramme“ kaschierte dabei auch das geringe Interesse der amerikanischen Gäste aufgrund des anstrengenden Tagesablaufs und der Sorge vor politischer Instrumentalisierung. Mit dem Vorwurf „nicht durchdachter schöpferischer Treffen“, die dann auf „Kneipenniveau“ herabsanken, wies Konstantinov jegliche Verantwortung für die Jamsessions als nicht-sanktionierte, aber sicherlich schillerndste Ereignisse der Tournee von sich. Auch in seiner Selbstkritik wird die 1962 noch wenig definierte politische Dimension der Verwaltungsinstanz Goskoncert deutlich. Die alltägliche Arbeit und relative Routine von ausländischen Gastspielen habe zur „Vernachlässigung des politischen Bewusstseins in der Begleitarbeit“ geführt und müsse beim nächsten Ereignis durch das Hinzuziehen 183 ebd. 184 ebd.
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politisch erfahrener Akteure verbessert werden. Viele dieser Fehler seien aber unvermeidlich gewesen. Sein abschließendes Urteil deckt sich mit Narration und Aufbau des Berichts im Ganzen: Für die amerikanische Seite sei die Tournee kein politischer Erfolg gewesen, während die sowjetische Seite sehr hohe Einkünfte von insgesamt 660.000 Rubel erwirtschaftet habe. Aus Sicht der Historikerin Penny von Eschen kam das State Department auf der anderen Seite zu der Einschätzung, mit der Tournee einen politischen Erfolg erreicht zu haben: „The tour had boosted the respectablity of jazz in the Soviet Union and has been an important success.“185 In der Berichterstattung amerikanischer und westeuropäischer Medien wurde die Sowjetunion in einzelnen Situationen während der Tournee als repressiver und kulturell konservativer Staat bloßgestellt, wobei häufig eine klare Voreingenommenheit von Seiten der westlichen Journalisten ausschlaggebend war. Die vom Kalten Krieg geprägten Erwartungshaltungen der heimischen Leserschaft, die über den Wert der „Story“ mitbestimmten, prägten nicht nur den Grundton einiger Texte und die Bildsprache der Fotos. Auch das eigenständige Organisieren von jam sessions in verschiedenen Städten ist in diesem Kontext zu verstehen. Die Akteure von Goskoncert waren sich der politischen und medialen Brisanz jener „Fehler der örtlichen Organisationen“ bewusst, die die zentrale Parteiführung mit großer politischer Aufmerksamkeit verfolgten. Seit Gründung der Organisation hatten die Akteure im Umgang mit dem kulturellen Austausch einen Lernprozess durchlaufen. Der Umgang der sowjetischen Seite mit dem Goodman-Orchester zeigt, dass die Frage der Hautfarbe des Orchesterleiters ein möglicher, aber sicherlich nicht der entscheidende Faktor für das Zustandekommen der Tour gewesen ist. Trotz aller Probleme und Kompromisse erlaubte die Wahl Goodmans der sowjetischen Seite, an die eigenen kulturellen Leistungen anzuknüpfen und somit auch ihr Gesicht zu wahren. Obwohl Benny Goodman viele der geplanten Kooperationen mit klassischen Orchestern und Solisten absagte und die sowjetische Seite damit brüskierte, boten jene Zusammenspiele mit ihm als Solist und einem sowjetischen Orchester Symbiosen, die von sowjetischer Seite vereinnahmt werden konnten. In der 1963 produzierten sowjetischen Reportage über die Tournee bezeichnet der Sprecher Goodmans virtuoses Klarinettenspiel mit einem Kiever Sinfonieorchester als Brücke zwischen Jazz und Klassik, die man auch als „Brücke zwischen West und Ost“ 186 verstehen könne. Während die lokale sowjetische Presse ähnlich wie die Verwaltungen vor Ort dem Orchester und seinem Repertoire kritisch begegnete, wurde dem Besuch in zentralen Zeitungen ein positives Potential für die kulturelle Annäherung zugesprochen, 185 Eschen, Jazz Ambassadors, S. 118. 186 „Benni Gudman i ego orkestr“.
Fazit
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ohne jedoch auf den Anspruch auf Gleichwertigkeit zu verzichten. Die Sovetskaja Kul’tura schrieb sogar davon, dass „ein sowjetisches Jazzorchester in den USA in der Zukunft hoffentlich genauso willkommen ist wie Goodman hier.“187 Mit der Berichterstattung wurden gleichzeitig ästhetische Normen und Erwartungshaltungen an den sowjetischen Jazz formuliert. Die technischen Qualitäten Goodmans standen hier in starker Abhängigkeit von seiner klassischen Ausbildung am Konservatorium, während sein Verhalten auf der Bühne mustergültig erschien. „Diese Vereinigung also von erstaunlicher Virtuosität und Vergeistigung macht Goodman zu einem gegenwärtigen Künstler des Jazz. Und man muss hinzufügen, dass er in bester künstlerischer Manier durch das Publikum führt, seine Ansagen sind einfach und elegant. Und schließlich versteht es Goodman nicht nur, sich im Rhythmus der Musik zu bewegen, sondern bewegungslos zu bleiben. Eine wichtige Eigenschaft für einen Jazzdirigenten!“188 Diesen positiven Referenzen gegenüber stand die massive Regulierung und Kontrolle der Kontakte und ungeplanter, spontaner Ereignisse, in denen das State Department seine Stärke sah. Der in der Presse beständig erklärten hohen symbolischen Bedeutung des Austauschs stand das Schweigen über öffentliche Ausdrücke ehrlicher Zustimmung und Begeisterung für das Orchester gegenüber. Weder in Zeitungen noch in internen Dokumenten findet sich eine Referenz zu den frenetischen Reaktionenen des Publikums in Leningrad, das nach Ende von Konzert und Zugaben noch lange in Sprechchören „Freundschaft“ rief.189 Die stilistische Diskrepanz zwischen Goodmans Swing-Musik der 1930er-Jahre und der intendierten politischen Botschaft, besonders gegenüber der sowjetischen Jugend, prägte Verlauf und Wirkung der Tournee auf verschiedenen Ebenen – was gespielt wurde, spielte tatsächlich eine erhebliche Rolle. Terence Catherman kam nach Abschluss der Tournee gegenüber dem State Department zu dem Ergebnis, dass „wir modernere Jazzmusik schicken sollten, wenn der sowjetische Jazzfan (im Gegensatz zur sowjetischen Regierung und der breiten Gesellschaft) in Zukunft erreicht werden soll“190. Louis Armstrong, Duke Ellington oder Dizzy Gillespy wären aus Sicht des State Department sicher geeigneter gewesen, der „potenten sowjetischen politischen Waffe“ (Penny von Eschen), dem Bloßstellen des US-amerikanischen Rassismus, entgegenzutreten. Aber auch die vier afroamerikanischen Bandmitglieder, darunter die Sängerin Joya Sherrill, erzeugten den Eindruck eines toleranten Amerikas, was sowohl die Vertreter von Goskoncert, aber auch das sowjetische Publikum so lesen konnten und taten. Nicht zuletzt Goodmans Biografie 187 o. A.: Benny Goodman und sein Orchester, in: Sovetskaja Kul’tura, 02.07.1962. 188 ebd. 189 Feather, Leonard: The Jazz Years. Earwitness to an Era. London [u.a.] 1986, S. 221. 190 Zit. Eschen, Jazz Ambassadors, S. 130.
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Fallstudie II – Die Benny Goodman Tournee 1962
– er war der erste Leiter einer Big-Band in den 1930er-Jahren, die auch afroamerikanische Musiker integrierte – bot einige Anknüpfungspunkte jener positiven Lesart, die die sowjetische Presse auch aufgegriff.191 Der Kontrast zwischen amerikanischem Swing der 1930er-Jahre und den symbolisch stark aufgeladenen Spielarten von Bebop, Cool Jazz und Hardbop beschäftigte aber nicht nur die sowjetische Gemeinschaft aus Jazzinteressierten, auf deren Meinung sich wiederum in der amerikanischen Auseinandersetzung im Vorfeld der Tournee berufen wurde. Leonid Pereversev, einer der ersten Lektoren aus dem Jazzmilieu von Moskau, der auch Fachartikel in der Presse veröffentlichte, thematisierte die ambivalenten Reaktionen im Jazzmilieu auf Goodman im Vorfeld der Tournee und artikulierte implizit Kritik an der amerikanischen Position.192 Ironisch kommentierte er hier die amerikanische Hoffnung, das Orchester bringe dem sowjetischen Hörer irgendeine Art „von Offenbarung“, dabei sei dieser Stil „bei uns schon seit Ende der 1930er-Jahre bekannt.“ Deutlich wird, dass es zwischen musikalischer Enttäuschung und dem scheinbaren Stolz vieler sowjetischer Jazzmusiker und -kritiker einerseits und dem Streben der Behörden, offensive Begeisterung und „Rummel“ zu vermeiden andererseits, durchaus Schnittflächen gab. Das Politische der Tournee lag somit weniger in der Systemfrage selbst begründet, als in der Frage von kultureller Identität einer neuen Einflüssen ausgesetzten Gesellschaft. Fragt man nach dem langfristigen Einfluss, den die Tournee auf die kulturellen Debatten in der Sowjetunion gehabt hat, muss nach der Art des Jazz gefragt werden, der nach Penny von Eschen eine höhere Respektabilität gewann. Jurij Vicharevs, gegenüber der amerikanischen Presse geäußerten Sorge, das Orchester würde eine „falschen Eindruck“ beim sowjetischen Publikum hinterlassen, wenn es nur Tanzmusik spiele, ist daher durchaus Beachtung zu schenken. Zu einer Zeit, in der Jazzenthusiasten mit institutioneller Unterstützung des Komsomol und von Fürsprechern im Komponistenverband jenen symbolisch aufgeladenen Jazz zu einer legitimen Form von Kunstmusik transformieren wollten, spielte dies eine wichtige Rolle. Schon Goodmans musikalisches Programm konnte in einer konservativen Perspektive als Gegenbild zu diesem neuen musikalischen Jazzstil verwendet werden. Die Sovetskaja Kul’tura verwies darauf, dass es „einen Teil der ‚Jazzmen‘, wie sie sich selber nennen [gibt], die aus ihrem musikalischen Analphabetentum heraus denken, dass eine Jazzaufführung auf das gleiche hinausläuft wie extravagante Kakophonie und Klang, der die Nerven erregt, unglaubwürdig und enttäuschend ist.“193 191 Vgl. Pereversev, Leonid: Benny Goodman und sein Orchester, in: Muzykal’naja Žizn’ 1962, 12, S. 18–19. 192 Vgl. ebd. 193 o.A.: Benny Goodman und sein Orchester, in: Sovetskaja Kul’tura 02.07.1962.
Fazit
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Die Tournee und Goodmans dominanter Swing-Stil erzwangen von den sowjetischen Vertretern darüber hinaus eine Verortung des eigenen Jazz und boten besonders konservativen Wortführern Möglichkeiten. Leonid Utesov, der sich nach 1953 durchaus für die Rücknahme der kulturpolitischen Restriktionen der Stalinzeit in der Estrada stark gemacht hatte, stand dem auf Improvisation fokussierten und stark auf das amerikanische Vorbild ausgerichtet Jazz wiederum skeptisch bis ablehnend gegenüber194. In einem Interview in der Zeitschrift Smena nutzte dieser die Tournee zur Standortbestimmung des sowjetischen Jazz und Goodmans Orchester als Kontrastfolie.195 Einige der sowjetischen Jazzliebhaber würden mit ihrem ständigen Wunsch nach neuen Stilen und Moden das grundlegende Prinzip von Kunst – deren Ewigkeitsgeltung – nicht verstehen. Deren einseitige Fokussierung auf die USA kommentiert er mit einem ironisierenden Vergleich: „Zu sagen, dass der amerikanische Jazz die einzige Form von Jazz ist, gleicht der Behauptung, das russische Lied sei die einzige Form der Gesangskunst“196. Utesov mahnte hier eine stärkere Orientierung auf nationale musikalische Traditionen an, ohne die „jeder Versuch der Adaption [des amerikanischen Jazz – M. A.] letztlich eine Kopie bleibt.“197 Sein Bild des amerikanischen Jazz ähnelt in vielem immer noch der Vorstellung einer kommerziellen und standardisierten Form von Unterhaltungsmusik, wie sie für die offizielle sowjetische Kulturpolemik von den 1930ern bis in die 1950er-Jahre gültig war. Utesov nutzt hier die stilistische Diskrepanz des Orchesters für eine konservative Kritik: Goodmans Stil sei „nicht [...] das letzte Wort in der Entwicklung des amerikanischen Jazz“198, der besonders durch den hohen Anteil afroamerikanischer Musiker geprägt worden sei. Der sowjetische Jazz ist im Verständnis Utesovs dagegen reflektierter und emotionaler (und somit authentischer) als der Jazz von Goodmans Orchester. Während in den USA hauptsächlich in Restaurants und Tanzsälen gespielt werde, zwinge der Auftritt sowjetischer Jazzbands auf öffentlichen Plätzen vor Publikum, „mehr nachzudenken über Inhalt und Sinn unserer Programme“199. Dieses habe während der Konzerte gezeigt, „dass es leichter ist, Tanzmusik als Liedmusik zu spielen. Während das Orchester bei Tanzmusik auf der absoluten Höhe spielte, verlor ihr Spiel bei Versuchen, sowjetische Lieder zu spielen an Schönheit und Aussagekraft.“200 Utesovs konzilianter Ton am Ende
194 Vgl. Utesov, Leonid: Spasibo Serdce. 195 Vgl. Utesov, Leonid: Zur Frage des sowjetischen Jazz, in: Smena, 28.08.1962. 196 ebd. 197 ebd. 198 ebd. 199 ebd. 200 ebd.
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Fallstudie II – Die Benny Goodman Tournee 1962
eines Artikels, der den improvisierten Jazz eigentlich vollständig marginalisiert, kann nicht über sein implizites Werturteil hinwegtäuschen: „Aber welcher Jazz ist nun besser von beiden – Tanz- oder Liedjazz? Beide haben ein Existenzrecht, nur ihre Pfade sind unterschiedlich. Einer geht durch die Ohren in die Beine, der andere durch die Ohren ins Herz.“201 Schon während der Tournee entspann sich ein ähnliches Argument um die Einordnung der Interpretation von Katjuša durch das Orchester, wobei die Einschätzung dieser Geste an das sowjetische Publikum in der Presse im Kontrast zu den mehrheitlich positiven Publikumsreaktionen stand. In der offiziellen Auseinandersetzung, besonders nach dem kulturpolitischen Richtungswechsel in Folge der Manež-Affaire, bot Goodmans musikalisches Programm eine Negativfolie zur Definition der eigenen Spezifika. Der Leiter der Parteiorganisation der VGKO Poznanskij appellierte im September 1962 an den Stolz der sowjetischen Orchesterleiter über den bereits 1962 erreichten Stil, welcher sich „vom amerikanischen, verkörpert durch Goodman und andere“202, deutlich unterscheide. Damit war einerseits endgültig klar, dass Džaz sprachlich wieder akzeptierter und eigenständiger Teil des kulturellen Kanons geworden war – der Wettbewerb und Vergleich erzwang somit die Anerkennung gleicher Parameter. Andererseits blieb in diesem Kontrast wenig Platz für den improvisierten Jazz, dem sich jene Musiker verschrieben hatten, die in den Jamsessions während der Tournee zusammenkamen. Der erneuerte Verweis auf das Lied als charakteristisches Element des Sovetskij Džaz auf der einen und Tanzfunktion des amerikanischen Jazz auf der anderen Seite durch Utesov verdeutlicht die Neuauflage eines Vergleichs aus den Kulturdebatten des Stalinismus. Trotz vermeintlicher emotionaler und rationaler Überlegenheit des Ersten bezogen beide Stile ihre Legitimation aus Publikumsreichweite und Unterhaltungsfunktion. Innerhalb dieses Paradigmas blieb für improvisierten Jazz kein Platz; weder in den Reihen des Orchesters während der Tour noch für die sowjetischen Enthusiasten in Moskau, Leningrad, Tallinn und zahllosen Provinzstädten. Auf Ebene der persönlichen Begegnungen entwickelte die Tournee eine andere Wirkung. Während sowjetische Jazzmusiker und -fans zunächst Befremden über die Wahl Goodmans und seines Programms äußerten und durchaus selbstbewusste Kommentare zum Status der sowjetischen Jazzentwicklung artikulierten, erwies sich das direkte Aufeinandertreffen in gemeinsamen Jamsessions häufig als Schock mit Blick auf die eigenen Fähigkeiten. Am Beispiel der Nachtsession im Leningrader Universitätsklub wird verständlich, wie eng Neugier, Euphorie und starke 201 ebd. 202 Vgl. Stenogramm der Parteiversammlung der VGKO „Über die Verstärkung der kommunistischen Erziehung der Werktätigen und dem Kampf gegen die Einflüsse der bourgeoisen Ideologie“ vom 22.09.1962, CAOPIM, f.6355, op.1, d.32, l.16–100, hier l.54.
Fazit
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Ernüchterung zusammenlagen. Nach Jahren indirekter Adaption durch das Hören, Nachspielen und Transkribieren aktueller Jazzstücke von Schallplatte, Tonband oder den Radiosendungen der Voice of America, zeigte das direkte Zusammenspiel vielen sowjetischen Musikern, wie groß der Abstand in Spieltechnik und Harmoniebildung zu den amerikanischen Kollegen noch zu sein schien. Nicht jeder der Teilnehmer ging in der Retrospektive so weit wie Jurij Vicharev, der diese Diskrepanz als dauerhaftes Element sowjetischer Rückständigkeit einordnete. Die sechswöchige Tournee zwang amerikanische Musiker, ihre der McCarthyÄra entstammenden Stereotype der Sowjetunion zu hinterfragen. Gleichzeitig aber mussten individuelle Beobachtungen von Gastfreundschaft, Neugier und euphorischen Reaktion im Publikum einerseits, Beschattung, Gewalt gegen Zuschauer und mangelnde materielle Versorgung andererseits interpretiert und eingeordnet werden. Ihre Einstellung zur Sowjetunion selbst variierte stark und wurde von sowjetischer Seite aufmerksam beobachtet, wenn auch nicht immer richtig gedeutet. In den biografischen Zeugnissen und Interviews legen die Teilnehmer eine eher distanzierte Position zum politischen Auftrag des Orchesters hin. Auch Leonard Feather verweist im Begleittext zur LP mit sowjetischen Kompositionen auf die Risiken der politischen Instrumentalisierung. Dennoch bestärkten der Umgang lokaler Sicherheitskräfte vor Ort mit Fans und nicht zuletzt die zahllosen Querelen zwischen den Musikern und Goodman die Solisten in ihrer Überzeugung der Wichtigkeit informeller Treffen mit sowjetischen Kollegen und dem gemeinsamen Spiel. Abhängig vom Begriff des Politischen hatten diese eine enorme Relevanz. Jazz funktionierte auf der Ebene zwischenmenschlicher Begegnung nicht zuletzt aufgrund fehlender Sprachkenntnisse tatsächlich als alternative Kommunikationsform, die von beiden Seiten verstanden, aber nicht mit gleichen Fähigkeiten zum Einsatz gebracht werden konnte. Gerade im Kontext der enormen symbolischen Aufladung der Tournee als politisches Ereignis durch das State Department, die amerikanische Öffentlichkeit und die sowjetische Presse erschienen die direkten Zusammentreffen von Musikern als scheinbar apolitisch. Hier trafen gastfreundliche, neugierige und wissbegierige sowjetische Jazzmusiker auf ihre amerikanischen Vorbilder und hatten weder Interesse noch Zeit, über politische Systemdifferenzen zu diskutieren. Das Fehlen von Politik als Gesprächsthema machte die Begegnungen aber nicht unpolitisch, denn die Musik wurde von beiden trotz ihres Grenzen transzendierenden Potentials als genuin amerikanisch verstanden. Leonard Feather als einer der wirkungsmächtigsten Jazzkritiker kam in seinen Memoiren zu dem Schluss, dass seit dieser Tour „Jazz ultimativ als lingua franca“203 etabliert wurde, „die Mauern zu bröseln
203 Feather, Jazz Years, S. 222.
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Fallstudie II – Die Benny Goodman Tournee 1962
begannen und wir nur noch von Politikern getrennt wurden“204. Die Kommentare der ersten LP mit sowjetischen Kompositionen zeigen aber gleichzeitig, dass bei allem Bekenntnis zur nationalen Entwicklung und Eigenheit der jeweiligen Jazzkultur (die die sowjetischen Kultureliten auch stetig einforderten), die amerikanische Entwicklung als Maßstab für die Bewertung galt. Diese Spannung zwischen internationalen und nationalen Charakteristika des Jazz sollte die nächste Dekade nicht nur in der sowjetischen Presse- und Verbandsöffentlichkeit, sondern auch die internen Diskussionen des Jazzmilieus stark prägen. Ihr Ursprung lag im Jahr 1962, in dem die Isolation der sowjetischen Jazzkultur an verschiedenen Stellen – die Tournee Goodmans, der Auftritt des Vadim Sakun Sextetts auf dem Warschauer Jazz Jamboree und die Veröffentlichung der Soviet Jazz Allstars – aufgebrochen wurde und das für seine Akteure mit Herausforderungen und Erfolgen ebenso wie mit Ernüchterungen verbunden war.
204 ebd.
Resümee
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8. R E S Ü M E E
Sowohl Wolfgang Koeppen als auch Gerd Ruge machten fern ihrer Heimat eine seltsam vertraute Erfahrung, als sie das abendliche „langweilige“ Jazzspiel eines Orchesters auf der Krim beobachteten und junge sowjetische Bohemiens im Moskauer Hotel National beim Hören von Cool Jazz studierten. Der Jazz, den Koeppen am Ufer des Schwarzen Meeres zu hören bekam, erinnerte ihn vermutlich an zahllose biedere Tanzabende im Nachkriegsdeutschland der 1940er- und 1950er-Jahre, dessen Provinzialität er auf Reisen nach Spanien und Italien zu entkommen suchte. Ruge wiederum machte in den Jugendlichen des Hotels National starke Ähnlichkeiten zu Bohemiens westlicher Großstadtszenen wie dem Münchner Schwabing aus, dessen Bòheme-Charakter man in den 1950er-Jahren nur noch nostalgisch gedachte. Entgegen diesen wahrgenommen Ähnlichkeiten zwischen sowjetischer und westeuropäischer Gesellschaft der 1950er-Jahre konnte die Musik für die Beobachteten etwas anderes bedeuten. Vor dem Kontrast der sowjetischen Vergangenheit, dem Krieg, der fehlenden Verschnaufpause, die die stalinistische Mobilisierungsdiktatur nicht zu geben bereit war, stand das aus Koeppens Perspektive „sittsame, langweilige und bürgerliche“ Wesen des Jazz für eine neue Zeit. Diese „dumme, kleinbürgerliche Schlagermusik“ bedeutete für die Tanzenden Erholung. Sie konnte das Getöse von Terror und Krieg übertönen und stimulierte eine verklärende Sicht auf die frühen 1930er-Jahre, als Familien noch vollständig waren und Stalin verkündet hatte, dass das Leben besser und fröhlicher geworden sei. Vor dem Kontrast der sowjetischen Zukunft, dem scheinbar rasenden technischen Fortschritt, den Aufstiegschancen angehender Ingenieure und Wissenschaftler und den vielversprechenden Lockerungen der Kultur stand der Jazz im Hotel National auch für etwas Sowjetisches. Seine Anhänger kleideten sich nicht wie ihre westlichen Altersgenossen in dem Bewusstsein, nur eine Randposition in der Gesellschaft innezuhaben. Stattdessen verstanden sie sich als die Zukunft des jungen Landes. Die von der Politik und Gesellschaft aufgeworfene Frage, was sowjetischer Jazz nach Stalin sei, verband daher den Blick auf die Vergangenheit und die Gegenwart mit Zukunftsvorstellungen. Dieser Frage widmete sich das vorliegende Buch.
Sowjetische Kulturpolitik nach 1953 Die Musikrichtung Jazz veränderte sich innerhalb von zwei Dekaden gravierend. Diese Veränderungen gingen mit einer ‚Verwestlichung‘ der Estrada einher. Gerade der Fokus auf eine Musikrichtung, die im sowjetischen Alltag stark präsent war
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und sich zugleich der ideologischen Sinngebung entzog, erlaubt es, die Funktionsmechanismen sowjetischer Kulturpolitik im Zusammenspiel verschiedener Akteure und Medien nachzuzeichnen. Es wird erkennbar, wie Zensur, Konzertwesen, Medienproduktion und musikalische Experten zur Aufwertung des Jazz beigetragen haben. Am Ausgangspunkt der Arbeit stand die Überlegung, dass die Erfüllung der an die Estrada gerichteten Aufgaben – die Versorgung der Bevölkerung mit einer ideologisch akzeptierten Musik – nicht ohne das Zusammenspiel mit illegalen Mechanismen und nicht legitimen Akteuren möglich war. Versteht man dieses Arrangement als Prozess eines sowjetischen Musikmarkts, so können alle Akteure gemäß ihren Funktionen, und nicht allein nach ihrem legalen Status, in Beziehung gesetzt werden. Wirtschaftliche Prämissen spielten, wie die Analyse der Medien und Konzertorganisation gezeigt hat, auch in der sowjetischen Kultur eine zentrale Rolle. Die parteiliche Kontrolle über die sowjetische Schallplattenproduktion in den 1950er-Jahren verdeutlicht, dass das Medium innerhalb des sowjetischen Staates lange als einfaches Handelsgut zirkulierte, bevor die Partei versuchte, die Kontrolle über seine Funktion als Kulturgut zu erlangen. Die Perspektive auf Marktmechanismen erklärt die Wirkung der Schallplatte als Katalysator der Verwestlichung in verschiedenen Phasen, ohne daraus einen direkten Kausalzusammenhang abzuleiten. Dezentrale, weitgehend unkontrollierte Herstellung seit dem Spätstalinismus, der massive Ausbau der Produktionskapazitäten und die Belebung des Handels im Ostblock nach 1953 erweiterten die ohnehin knappe Auswahl an Musik für den sowjetischen Bürger deutlich. Dieser orientierte sich in seiner Kaufentscheidung zunehmend an westlicher Unterhaltungsmusik und Jazz. Die Ursachen für dieses schwer zu quantifizierende Interesse sind folgerichtig in den Weichenstellungen des staatlichen Zensursystems vor 1953 zu finden. Der Hauptgrund für das Scheitern der Abschirmung der spätstalinistischen Sowjetunion vor westlichen Einflüssen in der Unterhaltungskultur war der bürokratische Charakter des Zensursystems. Dessen Funktionalität kam durch institutionelle Konkurrenz zwischen Glavlit und dem Staatskomitee für Kunstangelegenheiten Anfang der 1950er-Jahre faktisch zum Erliegen. In der Reorganisation der akustischen Zensur nach 1953 ist ein Umdenken in den Führungsspitzen des ZK der Partei zu erkennen, das in den kulturpolitischen Weichenstellungen der nächsten Dekade verschiedenartig sichtbar wurde. Mit dem Ende des Stalinismus setzte sich neben einer Reduzierung des ideologischen Kontrollanspruchs auf ein realistischeres Maß vor allem die Überzeugung durch, dass ein Mindestmaß an ideologischer Kontrolle nur durch entsprechend qualifizierte Fachleute gewährleistet werden kann. Es waren die Konzertorganisationen, die zwischen ideologischen und wirtschaftlichen Anliegen sowie den Interessen des Publikums vermittelten. Sowohl das Konzertwesen als auch die durch dessen Reform in Gang gesetzte Dynamik ebneten
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seit Beginn der 1950er-Jahre der Renaissance des Džaz als Unterhaltungsmusik den Weg und wiesen dabei auch immer wieder die parteilichen Kontrollansprüche in ihre Grenzen. Zu keinem Zeitpunkt übten die dem Kulturministerium untergeordneten Konzertorganisationen ein Monopol über den Musikmarkt aus, den diese sich mit verschiedenen Ministerien und der breiten kulturellen Infrastruktur der sowjetischen Gewerkschaften teilen mussten. Permanente Ressourcenknappheit begünstigte eine Personalpolitik, die alle Ansprüche der Regulierung von Qualität durch die Kaderpolitik konterkarieren musste. Die schlechte materielle Situation eines Großteils der Estradamusiker führte zu Symbiosen mit der musikalischen Schattenwirtschaft. Die praktische Arbeit vor Ort zwang Akteure, wie den Moskauer Organisator Barzilovič, den Leningrader Bičul’ oder den Orchesterleiter Vajnštejn, den sowjetischen Musikmarkt als das zu begreifen, was er in den Augen der Kulturbürokratie nicht sein durfte – ein Nebeneinander von legalen und illegalen Sphären. Die Politik katalysierte viele dieser Entwicklungen. Die 1956 angestoßenen Reformen zeigten rasch, dass eine erfolgreiche Erfüllung des parteilichen Auftrags nach Ausweitung des kulturellen Angebots nur um den Preis der Kommerzialisierung ihrer Funktionsweise möglich war. Teile der Reformen führten zu gegenteiligen Ergebnissen. Mit dem Ziel, illegalen Ensembles die Handlungsgrundlage zu entziehen, führte die Zentralisierung der Kontrolle in Moskau zu einer verschärften Situation in der Provinz und bei den ohnehin überlasteten städtischen Organisationen. Langfristig folgenreich war der 1956 angestoßene Diskurs zur Ökonomisierung des Konzertwesens. Die Reduktion von staatlichen Zuschüssen, die Ausweitung der Fonds für freischaffende Musiker sowie die Regulierung der Beschäftigung von nicht fest angestellten Organisatoren legalisierte faktisch Teile der musikalischen Schattenwirtschaft und erhöhte die Flexibilität der örtlichen Funktionäre des Konzertwesens. Die Neubewertung des Jazz durch die musikalischen Experten als Entideologisierung zu deuten, ergibt allenfalls aus der Perspektive des Spätstalinismus Sinn. Auf die Ausbreitung dieser Musik auf lokaler Ebene, besonders im Rahmen der vom Komsomol geförderten künstlerischen Laientätigkeit, musste eine integrative, aber gleichzeitig vom amerikanischen Modell abgrenzende Deutung etabliert werden. Ein konsistentes Interpretationsangebot an die Bevölkerung war nicht zuletzt durch den kulturellen Austausch notwendig geworden. Dieser brachte den Jazz ab 1956 zunächst nicht durch US-amerikanische, sondern polnische, rumänische, ungarische oder französische Ensembles in die Sowjetunion. Das neue Deutungsmuster des sowjetischen Jazz, das zwischen dem IV. Plenum des Komponistenverbands 1962 und dem Abklingen der konservativen Wende infolge der Manege-Affäre 1962/1963 entstand, erlaubte es deutlicher als zuvor, sich auf den amerikanischen Jazz zu beziehen und zugleich von ihm abzugrenzen. Es kreierte
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ferner aber auch einen sprachlichen Rahmen, den Jazzenthusiasten nutzten, um ihren instrumentalen Jazz gesellschaftlich aufzuwerten. Spielerischer Professionalismus und die Schaffung eines eigenen sowjetischen Jazzstils waren Forderungen, über deren Erfüllung nun die Komponisten und nicht mehr die Funktionäre urteilten. Zunehmend gelang es den Jazzenthusiasten so, ihren Blick auf die Musik in die Debatte einzubringen. In steigendem Maße boten der Komponistenverband und die Redaktionen der sowjetischen Presse mehreren Vertretern aus diesem Milieu die Möglichkeit, selbst als Experten in der Öffentlichkeit aufzutreten. Dieses Einbeziehen der Jazzenthusiasten kompensierte den Mangel an fachlicher Expertise in der postsowjetischen Presse, sodass sich eine öffentliche und zunehmend fachliche Auseinandersetzung mit dem Thema entwickeln konnte. Dieser Prozess war nicht auf eine geschlossene, von der Partei beobachtete Fachöffentlichkeit reduziert. Eben weil der sozialistische Realismus als System „to establish and police the boundaries of appropriate musical creativity“1 für die Estrada im Allgemeinen und den Jazz im Speziellen ungleich schwerer anzuwenden war, gewannen diese Diskussionen und Deutungsangebote an Relevanz. Die prominente Rolle, die Leonid Utesov in dieser Diskussion zwischen 1953 und 1962, aber auch in der späteren sowjetischen Historiografie zum Thema spielte, macht die Ambivalenz der politischen Kultur in den 1950er-Jahren erkennbar. Deren mehrheitlich konservative Partei- und Kulturvertreter sollten mit Utesovs Angebot der Wiederherstellung von Schaffensbedingungen der stalinistischen 1930er-Jahre überzeugt werden. Für diesen Teil von Gesellschaft und politischer Elite wies die stalinistische Vergangenheit wenige Mängel, aber viele Erfolge auf, die Utesov in der Unterhaltung repräsentierte. Die Prominenz, die ihm die Eliten als Symbolfigur der fröhlichen Seite des Stalinismus einräumten, suggeriert darüber hinaus auch eine gewisse Nostalgie einer Epoche gegenüber, in der eine vermeintlich integrative Kultur die sowjetische Gesellschaft noch einen konnte, die in den 1950er-Jahren eine gänzlich andere geworden war. Jede Perspektive auf nachstalinistische Kulturpolitik erfordert eine Antwort auf die Frage nach der Agency. Der Partei, deren kulturpolitische Handlungsfähigkeit nach Stalins Tod geschwächt war, gelang es nicht, Prozesse im Bereich der Kultur allein zu steuern. Ihre Schwäche erzeugte eine Dynamik, die mit der Entstalinisierung auch Bedürfnisse nach mehr Schaffensfreiheit im Feld der Literatur, bildenden Kunst und klassischen Musik weckte.2 Die Neubewertung des Jazz ging mit seiner rapiden Ausbreitung nach 1953 einher. Während die Partei diese Entwicklung immer wieder einzudämmen versuchte, trugen die kulturellen Eliten sie auch mit und gestalteten sie. Dabei ging es – wie der Blick auf die Führungsebenen gezeigt 1 2
Tomoff, Kiril: A Pivotal Turn, S. 158. Zezina, Sovetskaja chudožestvennaja intelligencija.
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hat – nicht ausschließlich um ideologische Kontrolle, sondern um Repräsentation nach außen und Integration nach innen. Zudem manövrierten Zensoren, Konzertorganisatoren, Komponisten und Kulturbürokraten innerhalb einer Pendelbewegung zwischen starker Politisierung, die der Jazz im Spätstalinismus erhalten hatte, und dem Anspruch auf Unterhaltung der gesamten Bevölkerung. Die Kooperation dieser verschiedenen Akteure machte die Gründung des Oleg-Lundstrem-Orchesters möglich. Dessen Jazzinterpretation tatarischer Folklore und sein konsequent westliches Instrumentarium zeigten ein neues musikalisches Modell in der Praxis. Sieben Jahre später definierte der Komponistenverband genau diese Elemente als Rahmen für die Existenz eines genuin sowjetischen Jazz. Informelle Beziehungen und persönliche Netzwerke spielten, wie im ideologisch unsicheren Terrain der sowjetischen Musik generell, auch hier auf allen Ebenen eine wichtige Rolle. Ähnlich wie im Fall der Patronage jugendlicher Nachwuchsjazzmusik in den Jugendcafés des Komsomol konnte eine Gruppe reformorientierter Komponisten im Umfeld der Redaktion der Sovetskaja Muzyka Kontakte zwischen lokalen und zentralen Konzertorganisationen etablieren. Dank ihrer Reputation gelang es ihnen, auf das Kulturministerium der RSFSR einzuwirken und die Gründung des Orchesters zu beeinflussen. Die weitere Karriere des Orchesters zeigt, wie eng die beiden Perspektiven dieses Buches auf den sowjetischen Musikmarkt zusammenhingen. Für die finanziell einträglichen Konzerte rekrutierte Lundstrem beständig neue Musiker aus dem Kreis begabter Laienmusiker, deren Erfahrungen auf der Birža und der Chaltura für ihn kein ideologisches Manko, sondern eine Qualifikation darstellten. Inwieweit die hier diskutierte Kulturpolitik schließlich als Erfolg einzuschätzen ist, hängt von der gewählten Perspektive ab. Entgegen der These von Richard Stites, die russische Populärkultur habe in den 1930er-Jahren jene Form bekommen, die sie für die nächsten 50 Jahre nicht ablegen sollte, fallen eine Reihe von kulturpolitischen Umbrüchen ins Auge. Sie bereiteten den Boden für die erfolgreiche sowjetische Unterhaltungskultur der 1970er-Jahre, dem „goldenen Zeitalter der Estrada“.3 Dazu zählt die langsame Aufwertung fachlicher Expertise in der Kontrolle und Bewertung westlicher Kultur. Aber auch die staatliche Beobachtung und Expansion des Mediensystems, für das die Gründung der staatlichen Firma Melodija 1964 einen Meilenstein darstellt, spielten neben der Kommerzialisierung des Konzertwesens eine wichtige Rolle. Der Rückgriff auf kompetentes Personal aus der Sphäre der Laientätigkeit und berufliche Quereinsteiger wie Leonid Pereversev relativierte nicht den Hoheitsanspruch des Staates auf die kulturelle Produktion, sondern trug vielmehr zu dessen Erweiterung bei. Unter dem Dach des Komsomol und des Komponistenverbands in Moskau erlangten das Jazzmilieu 3
Vgl., Stites, Russian Popular Culture, S. 64.
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und seine Vertreter kulturelle Legitimität und konnte den Jazz und seine Praktiken mit geringerer Intervention von außen weiterentwickeln. Diese Instanzen förderten gleichzeitig Netzwerke, die Berufs- und Amateursphäre verbanden und talentierten Musikern über die Teilnahme an Jazzfestivals oder über die künstlerischen Räte der Jugendcafés den Eingang in die professionelle Arbeitswelt ohne eine sonst dafür nötige formelle Ausbildung ermöglichten. Die intellektuelle und kulturelle Produktion verblieb damit in staatlich finanzierten Einrichtungen, welche aber größere kulturelle Freiräume bieten konnten.4 Das sowjetische Kultursystem profitierte von Akteuren aus diesem Milieu, indem es die Barriere zwischen Amateur- und beruflicher Kulturaktivität durchlässiger machte. Jurij Saul’skij, erfolgreicher Orchesterleiter und Komponist von Filmund Popmusik, und der Saxofonist Georgij Garanjan, der in den 1970er-Jahren die Big Band der Schallplattenfirma Melodija leitete, stehen exemplarisch für diese Entwicklung. Mit ehemaligen Jazzenthusiasten und Lektoren, wie Dmitrij Uchov, entstanden in den 1970er-Jahren die Grundlagen des sowjetischen Musikjournalismus.5 Ende der 1960er-Jahre wurden lokale Initiativen zur Etablierung eines Ausbildungssystems für Jazz aufgegriffen und als zusätzliche Kurse an allen Konservatorien etabliert.6 1974 schließlich existierten landesweit Estrada- und Jazzabteilungen an 21 Musikschulen, wo Enthusiasten wie Aleksej Batašev und Jurij Vermenič, aber auch zahlreiche Jazzmusiker der 1950er- und 1960er-Jahre nun Estradamusiker ausbildeten.
Sowjetische Gesellschaft – Integration und Distinktion Eine sowjetische Gesellschaftsgeschichte, die den Jazz als Sonde nutzt, erschließt sich nicht durch eine musikwissenschaftliche Analyse von Werkseigenschaften. Sie muss stattdessen soziale Praktiken, zeitgenössische Diskurse und Deutungsmuster sowie die Symbolwirkung von Musik in den Mittelpunkt ihrer Analyse stellen. Die dem Jazz zugeschriebene Bedeutung ist nicht minder wichtig als dessen tatsächlicher Klang. Der gruppenkonstituierende Effekt dieser Musikrichtung ergab sich aus dem Gefühl, Jazz zu spielen. Er entstand auf eine ähnliche Weise wie die Empörung konservativer Parteifunktionäre und sowjetischer Bürger der Erwachsengeneration,
4 5 6
Zubok, Vladislav: How the Late Socialist Intelligentsia Swapped Ideology, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 15 (2014), S. 335–342, hier S. 336. Interview mit Kyrill Moškov vom 09.06.2009. Vgl. Kozyrev, Ju.: Džaz i muzykal’naja pedagogika (Iz opyta raboty Moskovskoj studii iskusstva muzykal’noj improvizacij), in: Aleksandr Medvedev/Ol’ga Medvedeva (Hg.), Sovetskij Džaz. Problemy, sobytija, mastera. Moskau 1987, S. 194–207.
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die die Jazzkollektive („džazy“) zwar verunglimpften, aber trotzdem als Jazzbands betrachteten, über die kulturelle Autorität hergestellt werden sollte. Die Musik, die Parteivertreter und kulturelle Eliten nach Stalins Tod schließlich als legitimen Jazz ansahen, lässt sich als Integrationsangebot an verschiedene gesellschaftliche Gruppen verstehen. Leonid Utesovs prominenter Platz in diesem Kanon richtete sich an die älteren Generationen und konservative Gruppen, für die Džaz vornehmlich ein musikalisches Organisationsprinzip darstellte. In einem solchen Orchester mit Streichern und Bläsern unter Leitung eines Dirigenten stand das gesungene Lied im Mittelpunkt, über das Emotion, aber auch politische Sinnstiftung transportiert werden konnte. Einzelne Lieder bildeten Teil eines zusammenhängenden Programms, in dem der Jazz als Stil nur eines von verschiedenen musikalischen Gestaltungsmitteln war. Diese Form der Unterhaltungsmusik und die dahinterstehende kulturelle Bedeutung in den 1950er-Jahren hatte aus Sicht der kulturellen Eliten eben nicht mehr die gesellschaftliche Reichweite wie noch in den 1930er-Jahren. Bezeichnend für dieses Vakuum ist, dass ausgerechnet jene Musiker, auf die der spätstalinistische Kampfbegriff „kosmopolitisch“ am ehesten zutraf, eine wichtige Rolle in der Neuausrichtung der Unterhaltungsmusik nach 1953 einnehmen konnten. Das genuin städtische Publikum des Oleg-Lundstrem-Jazzorchesters setzte sich aus jenen Eliten und Mittelklassevertretern in Verwaltung, Wissenschaft und Wirtschaft zusammen, auf die sich die Partei in ihren sozialen, politischen und wirtschaftlichen Großprojekten der Nachstalinzeit stützte. Entsprechend gut vertrugen sich Musik und Inszenierung des Orchesters im neuen Medium des sowjetischen Fernsehens, dessen wachsende Zahl von Zuschauern zuerst in eben diesem Segment der Gesellschaft zu finden war. Utesov und Lundstrem decken als Musiker damit zwei Perioden sowjetischer Unterhaltungskultur ab, die sich im Untersuchungszeitraum ablösten. Je nach Perspektive fallen im Vergleich zwischen beiden Musikern Differenzen ins Auge. Sie unterschieden sich in der Bezugnahme auf den Westen, in der Wahl der musikalischen Stilmittel und der Bedeutung, die sie der Improvisation einräumten. Man kann aber auch, wie es Jurij Saul’skij 1993 in einem Interview tat, die Gemeinsamkeiten und Abhängigkeiten beider Musiker und ihrer Orchester betonen: „Wenn Utesov, Cfasman, Varlamov und Terpilovskij das Publikum nicht zur Wahrnehmung des Jazz vorbereitet hätten, wäre es uns nicht möglich gewesen, in den 1950er- und 60er-Jahren erfolgreiche Konzerte zu geben.“7 Für die sowjetische Gesellschaft nach 1953 gab es keine simple Polarität von kontrollierend-repressivem Regime einerseits und unterhaltungsfreudiger Gesellschaft andererseits. Der Jazz offenbart die innergesellschaftlichen Konflikte zwischen Stadt und Land, zwischen unterschiedlichen sozialen Milieus, Berufs- und 7
Interview mit Jurij Saul’skij, in: Sovetskaja Kul’tura, 31.07.1993.
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Altersklassen. Klar gezeigt werden konnte dies insbesondere an der Konvergenz von ideologischen Argumenten gegen den Jazz und einer breiten Ablehnung durch die Elterngeneration. Bei Parteikadern und Vertretern der lokalen Kulturadministratoren als Mittler des Musikmarktes wiederum zeigte sich die langfristige Prägung durch das stalinistische Kunstverständnis. Die Bildungs- und Aufklärungsarbeit der Jazzenthusiasten musste gegen diese Wahrnehmung der Musik ankämpfen, wollte man Improvisation als Stilmittel und nicht als Abkürzung eines jahrelangen Lernprozesses verstehen. Auch die Funktionsweise und gesellschaftliche Wahrnehmung der Birža passt in diesen Zusammenhang. Die ideologische Diffamierung der Aktivitäten von Musikern in der musikalischen Schattenwirtschaft war in weiten Teilen der Gesellschaft durchaus konsensfähig. Chaltura suggerierte hier das Bild eines untalentierten zweitklassigen Musikers, der aus hierarchisch niederen Motiven Musik für Geld spielte und sich so dem überhöhten Konzept der sozialistischen Kunst entzog. Die politisch negativ aufgeladene Verknüpfung des Jazz mit unmoralischem Kapitalismus war demnach nicht nur eine abstrakte Assoziation, die über die Partei vermittelt wurde. Sie war für den Sowjetmenschen der 1950er-Jahre deswegen verständlich und zugänglich, weil sie in dessen Lebenswelt präsent war. Der Drang der Jazzenthusiasten, ein institutionelles Dach zu finden, ihre Aktivitäten in den Kontext gesellschaftlicher Nützlichkeit zu stellen und ihr Spielen zu professionalisieren, ist nicht nur Ausdruck einer pragmatischen Strategie gegenüber ideologischem Druck. Aus dieser Perspektive erscheinen die Bemühungen auch als Streben nach generationeller Anerkennung. Der Zusammenhang zwischen Jazz und dem sowjetischen Generationenkonflikt lag ebenfalls im grundsätzlichen Interesse der sowjetischen Jugend an westlicher Kultur seit der Nachkriegszeit begründet, was aus Sicht der älteren Generation als Verrat an deren Opfern und Leiden im Krieg gedeutet werden konnte und wurde.8 Entsprechend prominent platzierten Jazzenthusiasten – und retrospektiv – auch die sowjetische und postsowjetische Historiografie den Beitrag von Jazzbands zum sogenannten Großen Vaterländischen Krieg. Die sozialen Interaktionen der Birža demonstrieren, dass sich die Beziehungen zur älteren Generation nicht nur in Konflikten äußerten. Der durch Estradamusiker der Vorkriegsgeneration vermittelte Fundus an Wissen und Erfahrung war für die dort spielenden Nachwuchsmusiker genauso wichtig für ihre musikalische Praxis wie die westlichen Sendungen der Voice of America. Warum sich eine bestimmte Gruppe sowjetischer Jugendlicher freiwillig innerhalb der vom Staat gebotenen Strukturen und außerhalb von Arbeits- und Studienzeit engagierte, um aus improvisiertem Jazz eine legitime Form sowjetischer Kultur zu machen, wird anhand der Jazzklubs und Jugendcafés ersichtlich. Die zugespitzten 8
Vgl. Caute, Dancers, S. 458–460.
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Beschreibungen dieser Träger der Jazzkultur als „moralisch verdorben und Tumor im sozialen Organismus“9 genossen in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre immer noch eine Konjunktur. Die Synergien zwischen sowjetischer Jugendpolitik und der Agenda der Jazzenthusiasten in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre legen ein gegenteiliges Bild offen. Das Wirken der Jazzenthusiasten innerhalb des Komsomol, in den Jazzklubs und Jugendcafés, ist von der bisherigen Forschung zu einseitig als subversiver Protest beschrieben worden. Eine solche Lesart reaktiviert nicht nur das Narrativ des politisch widerständischen Jazz, sondern ignoriert die vielen Übereinstimmungen zwischen ihren kulturellen, ästhetischen und politischen Überzeugungen mit der Programmatik des Komsomol. Dazu zählen die drei kulturpolitischen Strategien der Jazzenthusiasten, die Vorstellung des Jazz als Kunst- und nicht Tanzmusik, das um die Musik entwickelte Bildungsprogramm und der wachsende Fokus auf Professionalismus. Aber auch die Rückwirkung dieser Symbiose auf die Praktiken des Milieus selbst verdeutlicht, dass Jazzklubs und Jugendcafés Resultat eines politischen Tauschs waren. Um die Räumlichkeiten als halböffentliche Orte nutzen und von Reputation und Infrastruktur der Jugendorganisation profitieren zu können, musste eine Jazzsektion Versammlungen abhalten, Vertreter wählen, Probleme diskutieren und abstimmen. Mitglieder sowjetischer Jazzklubs nahmen diese politischen Rituale durchaus ernst und nutzten sie zur Gestaltung ihres kulturellen Projekts eigensinnig. Im Gegenzug entsprach ihr umfangreiches Programm aus Vorträgen, Konzerten und Diskussionsrunden nahezu mustergültig den Erwartungen der Komsomolbürokratie, besonders im lokalen Vergleich zu den häufig nur auf dem Papier existierenden anderen Interessenvereinigungen für die Jugend. Dass die Vorbilder für jugendlichen Enthusiasmus zunehmend selbst dem Altersprofil des Komsomol Anfang der 1960er-Jahre entwachsen waren, passt in diesen Zusammenhang ebenso wie der partielle Rückzug des Komsomol aus dieser Unterstützung Ende der 1960er-Jahre. Politische Erfolge konnten für die Vertreter der Jugendorganisation von da an nur noch als Kuratoren der wachsenden Rockbewegung errungen werden. Kann nun dieses symbiotische Verhältnis zwischen Jazzenthusiasten und Komsomol als Element einer größeren Politik gegenüber einer Statusgruppe verstanden werden? Dahinter steht die Frage, inwieweit ungeschriebene Abkommen zwischen sowjetischem Staat und Teilen seiner Mittelklasse, die James Millar mit Blick auf materielle Belange für den Anfang der 1970er-Jahre als „little deal“ bezeichnet hat, auch schon in der Übergangszeit der 1960er-Jahre im Bereich der Kultur zu finden sind.10 Der soziale Status der Akteure, ihre berufliche Qualifikation im Bereich 9 Troitsky, Back in the USSR, S. 5. 10 Millar, The Little Deal; Varga-Harris, Christine: „Forging Citizenship on the Home Front. Reviving the Socialist Contract and Constructing Soviet Identity during the Thaw“, in: Polly Jones
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naturwissenschaftlicher Technik und Forschung sowie der hohe gesellschaftliche Status, den die technische Intelligencija in den 1960er-Jahren genoss, lassen einen Zusammenhang von Kultur- und Gesellschaftspolitik vermuten. Schon die Komsomolpolitik nach 1957 offenbart, dass die Frage, welcher Teil der Jugend Jazz spielt, politisch relevant werden konnte. Die zahlreichen, skeptisch beäugten Laienorchester, die vor dem Weltjugendfestival 1957 entstanden, wurden zwar als Jugendproblem verstanden, ohne jedoch deren genauere soziale Zusammensetzung zu diskutieren. Allerdings lieferten besonders die professionelleren Laienorchester an Universitäten und Forschungsinstituten mit ihrer mehrheitlich studentischen Besetzung den Befürwortern der Integration wichtige Argumente für die Durchsetzung ihrer Strategie. Studenten galten im Komsomol der Großstädte als statistisch überrepräsentiert und gehörten zudem zu jenen Mitgliedern, die von den wachsenden Angeboten der Jugendorganisation zur eigenen Gestaltung interessanter Freizeit am häufigsten Gebrauch machten. Jazzenthusiasten verfügten über zahlreiche Werkzeuge, um sich innerhalb staatlicher Strukturen gegenüber Außenseitern abzugrenzen und eine lokale Klubidentität zu generieren. Das Konzert und die jam session verkörperten diese Doppelbedeutung. Ein Konzert, eingeleitet durch einen Vortrag zur Jazzgeschichte oder -ästhetik galt als sozial nützliche Tätigkeit, die eine sinnvoll verbrachte Freizeit suggerierte und aufstiegswilligen Jugendlichen ein Element der poststalinistischen Kulturnost’ vermittelte.11 In der informellen Öffentlichkeit eines Jugendcafés stand das Spielen, Hören und Besprechen dieser Musik für die Zugehörigkeit zu einer spezifischen sozialen Gruppe, die sich über Professionalismus und Wissen definierte und sich damit nicht nur symbolisch gegenüber Altersgenossen anderer sozialer Hintergründe abgrenzte. Die Distinktion durch Kleidung, Sprache und Verhalten und der latente Bezug zu Amerika waren wiederum kein geheimer Code, den Partei- und Kulturvertreter per se nicht verstehen konnten. „Wenn unsere sowjetischen Studenten improvisieren“, so ein Kritiker in der Sovetskaja Kul’tura von 1962, „kann man sich niemals des Eindrucks erwehren, dass sie bewusst oder unbewusst danach streben, sich selbst als schwarze Jazzmusiker vorzustellen.“12 Es war das Paradigma der Aufklärung des Konsumenten von Kultur, das nicht nur auf ideologische Ähnlichkeiten zwischen den Jazzenthusiasten und der offiziellen sowjetischen Kultur verweist, sondern beide Gruppen auch mit den Denkmustern der liberalen Intelligencija verband. Der Zugang zu deren Kulturarbeit weist ein ähnliches paternalistisches Verständnis auf und deckt sich mit spezifischen (Hg.), The Dilemmas of De-Stalinization. Negotiating Cultural and Social Change in the Khrushchev era. Abingdon/Oxon/New York 2006, S. 101–116. 11 Vgl. Tsipursky, Pleasure, S. 9. 12 Čulaki, M.: Ein einheitlicher ästhetischer Weg,in: Sovetskaja Kul’tura, 08.12.1962.
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Vorstellungen einer kulturellen Hierarchie, die Jazz als Kunstmusik über der Estrada als Volksunterhaltung verortete. Die Relevanz dieses hierarchischen Denkens rührte nicht nur aus der Exegese musikalischer Texte her, sondern war ebenso mit den Erfahrungen verknüpft, die zahlreiche Nachwuchsmusiker bei der Unterhaltung der Bevölkerung auf den Tanzabenden der musikalischen Schattenwirtschaft machten. Die Prägekraft dieses hierarchischen Denkens reicht bis in die Gegenwart, aus der heraus ehemalige Jazzenthusiasten die kulturelle Marginalität des improvisierten Jazz in den 1970er-Jahren anhand der Estradagruppen erklären, deren „Standardisiertheit des Klangs und der Besetzung für die anspruchslosen Besucher der Restaurants einen breiten Korridor in der musikalisch-kommerziellen Tätigkeit öffnete und die Jazzkollektive verdrängte.“13 Diese Gegenüberstellung von Kunst und Kommerz entspricht jener Präferenz von harter Arbeit gegenüber finanzieller Entlohnung, die Donald Raleigh bei vielen von ihm interviewten Vertretern der „Sputnik-Generation“ ausgemacht hat.14 Deutlich werden Elemente dieser Statusgruppenpolitik in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre, als sich der anfänglich liberale Spielraum der Kultur- und Gesellschaftspolitik unter Brežnev langsam verengte. Ein Indiz für eine Gewährung deutlich größerer kultureller Privilegien ist die Schaffung des Jazzjournals Kvadrat in Leningrad, das mit seinen ersten drei Ausgaben eine einmalige Form legalen Samizdats darstellt. Der Leiter des Leningrader Kulturhauses war nach dem Verbot der Zeitschrift in der Lage, die Herausgeber dank persönlicher Beziehungen zum KGB vor strafrechtlichen Folgen zu schützen.15 Im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre konnte Efim Barban in Novosibirsk sogar zwölf weitere Ausgaben des Journals als Samizdat-Publikation herausgeben. Das wohl eindrücklichste Beispiel für partielle Privilegierung der Jazzbewegung ist der segregierte Charakter des Klubs MIR in Moskau. Hier trafen Jazzmusiker mit Komponisten und Vertretern der sowjetischen Medienproduktion im Rahmen einer informellen Verbandsöffentlichkeit zusammen. Ein großer Teil der Veranstaltungen war dezidiert nur Klubmitgliedern zugänglich. In diesem Rahmen konnten auch westliche Filme zum Jazz gezeigt werden, die der allgemeinen Bevölkerung nicht zugänglich waren. Sowohl die Jazz- als auch die Bardenbewegung entwickelten sich erst über die Akkulturation im Komsomol zu Massenphänomenen. Die zunehmende Politisierung und Mehrdeutigkeit der Bardentexte Ende der 1960er-Jahre provozierte ein restriktives Ende dieser Beziehung. Das Moskauer Jazzmilieu fand im städtischen Komponistenverband Unterstützung, während in Leningrad 13 Beličenko, Sergej A.: Institucional’nye osobennosti otečestvennoj džazovoj kul’tury (1922–2006). Ekaterinburg 2007, S. 199. 14 Vgl. Raleigh, Russia’s Sputnik Generation. 15 Interview mit Nathan Lejtes am 01.12.2009.
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die Gewerkschaften die Rolle des Komsomol übernahmen, der sich als Sponsor zunehmend auf die Rockbewegung konzentrierte. Dieser Wandel der institutionellen Patronage spiegelte auch die Veränderungen der sozialen Basis des Jazz wider. Was das Gewähren dieser kulturellen Privilegien im lokalen Kontext möglich machte, war zunächst die geringe Größe der Gruppen, die sich in ihrer Mehrzahl aus angehenden Ingenieuren und Wissenschaftlern rekrutierte. Diese organisierten sich in kleinen Klubs innerhalb ihrer Institute und Universitäten, die Anfang der 1970er-Jahre die deutliche Mehrheit aller Jazzklubs in der Sowjetunion stellten. Die Entwicklung des Altersprofils zeigt, dass es sich in den 1970er-Jahren nicht mehr um eine Jugendkultur handelte. Nicht zuletzt die etablierten sozialen Praktiken verhinderten eine erfolgreiche Rekrutierung jüngerer Musiker wie Alexander Kans Beobachtungen des banalen Versammlungscharakters der Leningrader Jazzklubtreffen gezeigt haben. Die hier untersuchte Generation von Jazzenthusiasten artikulierte keinen gesamtgesellschaftlichen Gestaltungsanspruch. Ihre relative Isolation von der sowjetischen Mehrheitsgesellschaft war durch den Fokus auf Jazz als Kunstmusik selbst gewählt. Sie war nicht das Ergebnis von Repression, sozialem Stigma oder Zensur wie im Fall der Dissidentenbewegung.16 Relativiert wird diese Isolation durch die Bereitschaft des individuellen Musikers, zwischen den Sphären der ernsten Musik und der Estrada zu wechseln. Das Milieu, in dem sich ab den 1960er-Jahren die technischen Eliten der kommenden Dekaden sammelten, versorgte das Kultursystem des Staates mit kompetenten Musikern, Komponisten, Fachwissenschaftlern und Pädagogen. Auch die repräsentative Funktion des modernen Jazz nach außen nutzte der sowjetische Staat in den 1970er-Jahren durch Europatourneen von im Westen als progressiv eingeschätzten Ensembles.17 Die Relevanz dieser Tourneen verdeutlicht die wichtige Rolle, die Jazzmusiker als Repräsentanten und Mittler zwischen Kaltem Krieg und sowjetischer Gesellschaft hatten.
Sowjetische Kultur und Kalter Krieg Die Aufführung von Porgy und Bess durch das amerikanische Ensemble Everyman Opera 1955/56, ausländische Jazzbands auf den Weltjugendfestspielen 1957 in Moskau, die Benny-Goodman-Tournee 1962 sowie zahlreiche Jazzensembles aus west- und osteuropäischen Staaten drängten Musikwissenschaftler, Parteifunktionäre, Komponisten und Jazzenthusiasten, neue Bezüge zwischen den Vereinigten 16 Vgl. Nathans/Platt, Socialist in Form, Indeterminate in Content, S. 319. 17 Vgl. Ritter, Rüdiger: Der Kontrollwahn und die Kunst. Die Macht, das Ganelin-Trio und der Jazz, in: Osteuropa 2010 (11), S. 223–234.
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Staaten von Amerika und der eigenen Kultur herzustellen. Es waren die Kontakte mit der musikalischen Außenwelt, die die kulturpolitischen Eliten zwangen, sich nicht länger allein auf das „Abschirmen der Gesellschaft von ideologisch unerwünschten Folgen der kulturellen Produkte, deren Import sie zugestimmt haben“18, zu beschränken. Die Benny-Goodman-Tournee 1962 unterstreicht die politische Relevanz des Jazz im kulturellen Austausch und dessen ambivalente Wirkung. Hinter der Entscheidung der sowjetischen Seite, Benny Goodman und nicht Louis Armstrong oder Duke Ellington einzuladen, stand auch das Bestreben, dem US-State Department keine Möglichkeit zu geben, sich als Land zu präsentieren, das die virulenten Rassenkonflikte überwunden habe. Doch waren Goodmans Jazzstil und seine musikalischen Fähigkeiten letztendlich wichtiger als seine Hautfarbe. Mit dem von seinen Musikern als altmodisch belächelten Swing und seiner klassischen Ausbildung im Klarinettenspiel war die entscheidende Frage der Inszenierung der Tournee durch die sowjetischen Gastgeber und damit auch die Frage der Repräsentation sowjetischer Kultur nach innen und außen verbunden. Das Politische der Tournee lag somit weniger in einer abstrakten Systemfrage begründet als in der Frage von kultureller Identität einer neuen Einflüssen unterworfenen Gesellschaft. Sowjetische kulturelle Eliten setzten sich nicht nur restriktiv mit westlicher Kultur auseinander, wie in den zahlreichen Presseartikeln deutlich wird, die die Tournee begleiteten. Diese Texte hatten direkten Einfluss auf die kulturellen Leitbilder und Deutungsmuster. Vor der Kontrastfolie von Goodmans Orchester zeichnete Leonid Utesov das Bild eines emotionaleren und tiefsinnigeren Jazz in der Sowjetunion, das sich deutlich auf das populäre Narrativ amerikanischer Oberflächlichkeit bezog.19 Sein Verweis auf eine genuin sowjetische Jazztradition gegenüber der amerikanischen Spielweise floss direkt in die Neubestimmung des Jazz auf dem IV. Plenum des Komponistenverbandes mit ein und öffnete Spielräume für die Ausgestaltung dieser erfundenen Tradition. Goodmans Stil ist auch im Kontext der ästhetischen Auseinandersetzung um die Frage zu verstehen, welcher Jazz eine kulturpolitische Aufwertung erfuhr. Aus Sicht einiger Jazzenthusiasten bekräftigte gerade der von staatlicher Seite akzeptierte Swing-Jazz Goodmans das gesellschaftliche Bild des Genres als Tanzmusik, gegen die sich ihr kulturelles Projekt des Jazz als Kunstmusik ja richtete. Diese Diskussionen um eine ideologisch schlüssige und 18 Gould-Davies, Nigel: The Logic of Soviet Cultural Diplomacy, in: Diplomatic History 27 (2003), S. 193–214, hier S. 211. 19 Vgl. Shiraev, Eric/Zubok, Vladislav: Anti-Americanism in Russia. From Stalin to Putin. New York 2000; Behrends, Jan C.: Erfundene Feindschaft und exportierte Erfindung. Der spätstalinistische Antiamerikanismus als sowjetische Leiterzählung und polnische Propaganda, in: Jan C. Behrends (Hg.), Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert. Studien zu Ost- und Westeuropa, Bonn 2005, S. 159–186.
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interessante Alternative knüpfen damit an Simo Mikkonens Feststellung an, dass weniger das Interesse an ausländischer Kultur als nachlassendes Interesse an der sowjetischen als politische Gefahr gedeutet wurde.20 Was die sechswöchige Tournee für die amerikanische Seite politisch instrumentalisierbar machte, waren weniger die sowjetische ambivalente Einstellung gegenüber dem Jazz als solchem, sondern eher der restriktive Umgang mit den amerikanischen Gästen und dem repressiven Verhalten gegenüber den Fans im lokalen Kontext. Für die Arbeit von Goskoncert war die Tournee der bis dahin größte Testlauf für den administrativen Umgang mit ausländischen Gästen, der hier aber eine starke symbolische Aufladung erfuhr. Das Moskauer Zentrum scheiterte in dieser Hinsicht, da es nicht gelang, die konservativen Parteileitungen in Soči oder Kiev in ihrem repressiven Vorgehen gegen jede Art zwischenmenschlicher Begegnungen oder offener Sympathiebekundungen für das Orchester zu kontrollieren. Zum Leidwesen der Führung von Goskoncert und Parteizentrale gelang es der amerikanischen Presse, genau durch diese Ereignisse das Bild zu generieren, die sowjetische Seite stehe dem Jazz und den mit ihm und dem kulturellen Austauschabkommen verbundenen Werten letztlich ablehnend gegenüber. So konnte – trotz des sowjetischen Wissens um die politische Instrumentalisierbarkeit – der Jazz zum Indikator für einen totalitären Staat gemacht werden. Das direkte Zusammentreffen mit amerikanischen Jazzmusikern führte im Kreis der Jazzenthusiasten zu einer ambivalenten, aber dennoch selbstbewussten Auseinandersetzung. Dazu gehört die auch offen formulierte Enttäuschung über die US -amerikanische Entscheidung, Goodman und keinen modernen Vertreter des Bebops geschickt zu haben. Das direkte Aufeinandertreffen mit amerikanischen Musikern 1962 hingegen war für viele Teilnehmer der informellen jam sessions zunächst ein Schockerlebnis, da es die offensichtliche Diskrepanz zwischen den Spielfähigkeiten der Gäste und den eigenen offenlegte. Diese Begegnungen kreisten um den Jazz als Form von Kommunikation und als verbindendes Thema. Ihr politischer Charakter erwuchs mit Blick auf die kurze Dauer und vorhandene Sprachschwierigkeiten aus ihrer nachträglichen Interpretation durch die Akteure. Die meist positiven, zwischenmenschlichen Beziehungen mussten im Systemkonflikt nachträglich gedeutet und mit Sinn versehen werden. Besonders zur Geltung kam hier das Narrativ eines kurzen und freien Zusammentreffens von Menschen durch das Medium Jazz, mit dem ohne ästhetische Restriktionen der Systemkonflikt für kurze Zeit überwunden werden konnte.
20 Vgl. Mikkonen, Simo: Stealing the Monopoly of Knowledge? Soviet Reactions to U.S. Cold War Broadcasting, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 11 (2010), S. 771–805, hier S. 784.
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Diese besonders auf amerikanischer Seite populäre Deutung bot eine scheinbar neutrale, weil über den politischen Programmen beider Supermächte stehende Interpretation des Jazz an. Diese verknüpfte aber implizit ästhetische mit politischer Freiheit und erwies sich als anschlussfähig an moderate Stimmen in der US -amerikanischen Diskussion um den Sinn des kulturellen Austauschs, für die Musik ein Mittel der Förderung eines gegenseitigen Verständnisses aber auch der Einflussnahme blieb. A shared addiction to jazz, high technology and social security is no guarantee of peace. But a dialogue about the nature of man, art, science, government, history and progress would illuminate the basic issues that really divide us. Let us press in every possible way for that kind of communication with the Soviet people. There lies our best hope of influencing the evolution of Soviet society in a sane and humane direction.21
Vom Jazz als Werkzeug dieser Politik konnten Vertreter des Moskauer Jazzmilieus in den 1960er-Jahren profitieren. Vertreter der amerikanischen Botschaft in Moskau besuchten nicht nur die Jugendcafés der Hauptstadt, sondern versorgten deren Anhänger über die Bestellung auf vorher kursierenden Listen auch mit den neuesten Schallplatten US-amerikanischer Künstler. Das Jahr 1962 stellt in dieser Beziehungsgeschichte eine mehrfache Zäsur dar. Die erste internationale Anerkennung des neuen sowjetischen Jazz beim Jazz-Jamboree in Warschau, die jam session mit Goodmans Musikern in Leningrad und die erstmalige Veröffentlichung sowjetischer Jazzkompositionen junger Nachwuchsmusiker in den USA förderte das Selbstbewusstsein innerhalb des Jazzmilieus und wurde in Teilen von den kulturellen Eliten aufgegriffen, die darin Argumente für eine weitere Förderung durch den Komponistenverband und den Komsomol sahen. Amerika als Herkunftsland des Jazz blieb trotz des gestiegenen Selbstbewusstseins zentrales Referenzobjekt des Milieus. Schon die Bezeichnung der jeweiligen Hauptstraße einer sowjetischen Großstadt als „Broadway“ seit den späten 1940er-Jahren durch die Stiljagi stand für diese Nähe. Die zusätzlich symbolische Aufladung von Orten und Ereignissen in den 1960er-Jahren, wie die Metapher von Leningrad als „New Orleans an der Neva“ oder die Bezeichnung des Jazzfestivals von Tallinn als „sowjetisches Newport-Festival“22, verweist aber auch darauf, dass das bildungsbeflissene Milieu, anders als Dissidenten in Literatur und ernster Musik, keine positiven historischen Anknüpfungspunkte aus der Zeit vor der Revolution besaß. 21 Hunt, George P.: Editorial. Why We Must Put Holes in the Iron Curtain, in: Life Magazine, 13.09.1962, S. 4. 22 Menches, 10 Jahre D58, S. 13.
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Die Wirkung des Kalten Kriegs und des kulturellen Austauschs auf dieses Milieu zeigte sich langfristig vor allem darin, dass der Jazz sowohl seinen Anhängern als auch Gegnern ein attraktives Narrativ lieferte, die dargestellten, teilweise komplexen Konfliktlinien vereinfachend zu deuten. Gegensätze, denen Altersunterschiede, Spielqualifikation oder Karrierefragen zugrunde lagen, konnten zeitgenössisch oder retrospektiv als politische Auseinandersetzungen zwischen Regime und Künstler stilisiert werden. Durch die Erhöhung von Konflikten um ästhetische Mittel zu Fragen politischer Freiheit wurden die hier untersuchten generationellen Antagonismen, die sich häufig um die Spielweise und Frage der Improvisation entzündeten, zu einem Teil einer politischen Auseinandersetzung. Dieses Narrativ als Importgut des Kalten Krieges konnte in der politisch und kulturell ambivalenten Epoche der 1950er- und 1960er-Jahre für die einzelnen Akteure sinnstiftend wirken. Im Rückblick erlaubt es den Džazydesjatniki die Deutung, auf der richtigen Seite gestanden zu haben. In der Interpretation sowjetischer Kultur von außen verführt es dazu, von den gedachten politischen Implikationen des Jazz auf einen per se politischen Charakter aller kulturellen, ästhetischen und generationellen Konflikte zu schlussfolgern. Erst dieses Narrativ aber versöhnte das den Jazzenthusiasten von Anfang an innewohnende elitäre Kulturverständnis mit dem Anspruch, zur progressiven kulturellen und technischen Elite der sowjetischen Zukunft zu gehören, die sich in der widersprüchlichen Gegenwart der 1950er- und 1960er-Jahren erst finden musste.
Quellen
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PER SON EN R EGIST ER
Apostolov, Pavel 218, 408–411, 436 Armstrong, Louis 309, 440–441, 469, 487 Bacholdin, Konstantin 11, 223, 296, 326, 337, 359, 379, 423, Barzilovič, Nikolaj 133, 169–171, 178, 259, 477, Batašev, Aleksej 30, 231, 234, 305, 307–314, 318, 328, 340, 348, 359–360, 372–375, 444, 459, 480 Berija, Lavrentij 84 Bičul’, A. 261–266, 272, 477 Brežnev, Leonid 228, 291, 485, Catherman, Terrence 446–449, 452–455, 459, 469 Chačaturjan, Aram 312, 316, 341, 402, 419 Chrennikov, Tichon 210, 223, 299, 340 Chruščev, Nikita 13, 18, 131, 148, 161, 215, 224, 228, 274, 279, 284–285, 291, 317, 320, 427–430, 433, 440, 446, 451–452, 457 Cfasman, Aleksandr 41–43, 215, 219, 223–224, 226, 230, 481 Crow, Bill 444, 446, 453–455, 457, 459–463 Isaak, Dunaevskij 38–40, 50, 136, 208– 210, 215, 219, 228–229, 233, 255, 386, 396, 399 Ellington, Duke 206, 319, 386, 398, 412, 414, 421, 428–430, 440–441, 443, 469, 487 Ėšpaj, Andrej 223, 316, 327, 341–344 Feather, Leonard 452, 465–467, 473 Fejertag, Vladimir 146, 257, 259–260, 271, 305–306, 322–323, 326–328, 370–371, 373, 377, 381, 386–387, 392 Furceva, Ekaterina 98, 145, 172, 451, 453
Garanjan, Georgij 296, 359, 368, 397, 423–424, 426, 480 Gel’man, Vladimir 116, 176, 342–343, 345 Gershwin, George 206, 213, 428, 435 Goodman, Benny 30, 33, 233, 297, 301, 307, 318, 386, 427–432, 441–453, 456–463, 465–466, 468–474, 486–489 Gor’kij, Maksim 38, 190, 194, 207–208, 215, 220–221, 357, 370, 412, Gorodinskij, Viktor 194, 211, 412 Gološčekin, David 264, 272, 396 Gol’štejn, Gennadij 264–265, 272, 319, 385, 396, 431, 462–463, 465, 467 Ignat’eva, Marina 215, 217–219 Konen, Valentina 197–200, 210–211, 230, 232, 315–316, Konstantinov, S. 444–452, 454–456, 459, 467 Kozlov, Aleksej 9, 242–247, 252–257, 269, 271, 297–298, 303, 308, 315, 331, 337–338, 342–345, 357, 376, 389–392 Kull’, Michail 240, 243, 252, 262, 337, 345, 347, 350 Lejtes, Natan 30, 322, 324, 387 Leščenko, Petr 82–83, 87–88, 94, 96, 209, Ljudvikovskij, Vadim 204, 245, 341–342, 347, 396, 424, Lukjanov, German 245, 312, 345–346, 373, 392 Lundstrem, Oleg 10, 19, 126, 141, 158, 178, 223, 225, 229, 233, 272, 359, 379, 395–426, 479, 481 Michajlov, Nikolaj 141, 172–174, 177, 408, 411 Minch, Nikolaj 43, 95, 223, 226
524 Personenregister
Muradeli, Vano 70, 72, 190, 223, 316, 327, 341, 348–349, 377 Nisman, Grigorij 261–263, 265, 272, 380 Omel’čenko, Konstantin 69, 71, 76, 79, 83–85, 87 Pereversev, Leonid 191, 231, 309, 313, 340, 360, 372, 470, 479 Petrov, Arkadij 231, 309, 313, 340, 359– 360, 372–373, 391 Ponomarenko, Pantelejmon 86, 89, 175, 395 Renskij, Boris 43, 86, 140, 165, 395, 407 Rosner, Ėddi 19, 43, 46, 76, 81, 89, 123, 126, 144, 157–158, 165, 175–176, 178, 223, 229, 245, 341, 385, 395–397, 405–407, 422 Sakun, Vadim 225, 229, 303, 417, 465, 474 Saul’skij, Jurij 203–207, 210, 214–215, 219, 223, 225, 232, 245, 267, 296, 300, 327, 340, 343, 396, 415, 422–423, 480–481 Šostakovič, Dmitrij 41, 65, 71–72, 145, 192, 223–224, 228, 234, 374, 377, 402–403, 419 Sherrill, Joya 448, 452, 469
Suslov, Michail 76, 83–84, 165, 172 Tovmjasan, Andrej 226, 243–245, 303, 368, 431, 465 Uchov, Dmitrij 419–421, 480 Utesov, Leonid 38–41, 43, 71, 136, 139, 142, 178, 196, 202–210, 214, 218–226, 228–229, 232–233, 245, 251–252, 255, 297, 301, 341, 386, 395–396, 403, 406–407, 424–425, 427, 432, 471– 472, 478, 481, 487 Vajnštejn, Iosif 222, 226, 257, 261, 264– 266, 272, 319, 477 Vartanjan, Zaven 141–142, 147, 159, 371 Vasjutočkin, Georgij 305, 317, 319, 352, 386 Vermenič, Jurij 354–356, 373, 480 Vicharev, Jurij 9, 317–319, 322, 336, 347, 352, 386, 443, 462–464, 470, 473 Vinarov, Rostislav 331–332, 341, 344, 346, 348–349, 353–354, 367, 392 Parnach, Valentin 36, 41 Zubov, Aleksej 337, 359, 389, 423–424
S AC H R E G I S T E R
Amateur 8–9, 11, 54, 158–159, 236, 238, 243, 244, 250–253, 257, 262, 294– 296, 321, 347, 359, 370, 373–374, 379, 384, 410, 421, 423–424, 437, 464, 480 Aprelevskij–Werke 93–95 Artel‘ 87, 90, 94–96 Außenhandel 89, 91, 101 Bebop 12, 29, 244, 247, 249, 255, 308, 364, 432, 442–443, 470, 488 Birža 138, 156, 175, 235–255, 258–259, 266–273, 366–367, 377, 423, 479, 482 Bürokratie 49, 69, 83, 103, 115, 123, 128, 132, 134–135, 145, 180, 182, 207, 210, 218, 244, 258, 283, 292, 297, 308, 316, 331, 398, 415, 477, 483 CDRI 214–215, 218, 233, 296–297, 350, 368, 423 Chaltura 111, 157–158, 237, 246, 249– 259, 263, 269–270, 275, 308, 337, 350, 366, 377, 389, 479, 482 Chor 50, 56, 107, 124, 154, 167–168, 199, 214, 294–295, 410, 429, 439 Cool Jazz 7, 12, 470, 475 ČSSR 91, 101, 327, 420 DDR 27, 91, 101, 194, 215, 384, 390, 440 Dissens/Dissidenten 9–10, 12, 21–24, 52, 235, 355–357, 486, 489 Distinktion 12, 17, 19–20, 356, 358, 363–364, 484 Dixieland 29, 366, 384–385, 388 Družiniki 254, 279, 337, 376, 453–454 Entstalinisierung 11–13, 164, 170, 175, 193, 279, 478 Erziehung 35, 50–51, 79, 86, 98, 131, 155, 184, 193, 195, 200, 220, 227, 236, 277, 281, 285–286, 309, 325, 334, 390, 410
Estnischen Sowjetrepublik/ESSR 44, 167–168 Estrada 13–15, 18–19, 29–30, 35, 38–43, 45, 50–60, 63, 71, 73–78, 85, 91–95, 99–102, 105, 111–113, 116–124, 129–140, 143–144, 148, 155–159, 161–163, 169– 171, 178, 182–185, 187–191, 200–206, 214–219, 222–233, 242, 251, 263–264, 299–300, 327, 369, 374, 395–397, 406, 415, 419–420, 424, 426, 475– 480, 485–486 Experten 14, 55, 100, 186, 189–193, 218, 222–223, 227–234, 275–276, 300– 302, 305, 315, 352, 371, 373, 384, 390, 405, 415, 425–426, 431, 476–478 Festival 112, 213–217, 297–300, 304, 318, 348, 351, 364, 410, 484 Folklore, Volksmusik 44, 54, 94, 102– 103, 113, 130, 133, 152–154, 166, 168, 178–179, 186, 195, 207, 214, 294, 299, 370, 402, 406, 419, 436, 479 Glavlit 62–88, 91, 97–100, 144–146, 250, 476 Glavrepertkom 62–76, 81–83, 95, 132, 250 Hochkultur 100, 165, 201, 275, 316, 328, 370, 429 Improvisation 19, 33, 40, 47, 207, 211, 217, 220–229, 232, 246, 249, 252, 257, 269, 271, 377–380, 416, 419, 421– 422, 432, 443, 449, 471, 481–482, 490 Instrumentalmusik 12, 63–64, 81, 198– 199, 228 Intelligencija 18, 24–25, 41, 89, 224, 228, 287, 293–294, 296, 311, 313, 333, 355–356, 380, 389, 413, 421, 484
526 Sachregister
Izvestija 31–32, 41, 190–191, 411 Jam Session 246, 308–310, 318, 357, 368, 390, 460, 463, 468, 484, 488–489 Jazz Jazzenthusiast 9, 16, 19, 23, 26, 28, 33, 47, 55, 222, 224, 227–234, 238, 246, 269–276, 298, 304–307, 316, 322, 326–329, 336, 340–342, 347–360, 363–365, 369, 373, 377, 380, 384, 388–393, 421, 426, 431, 461, 470, 478–490 Jazzfestival 9, 177, 222, 230, 275, 302– 304, 307, 316, 318, 320, 323, 326, 328, 332, 340–341, 347, 351–352, 361, 377, 381, 384–385, 390, 422, 480, 489 Jazzmusiker 10, 21, 28, 41–42, 235, 243– 246, 258–259, 261, 264, 267, 269, 271–272, 307, 311, 316, 327, 336–340, 345, 349, 353–356, 365–368, 377–379, 384, 419, 425, 430–432, 444, 459, 464–466, 472–473, 480, 484–488 Jazzorchester 19, 40–44, 89, 95, 124, 126, 140–141, 165, 194, 209, 225, 257, 260, 380, 395–414, 421–425, 427–430 Jazzklub 22, 273–276, 300–301, 304– 330, 350–357, 370–374, 386–387, 459–462, 482–483, 486 Journalist 32–33, 322, 359, 381, 419–421, 427, 430, 445, 452, 457, 464, 468 Jugend Jugendcafé Café Aelita 315–316, 330, 333–337, 340, 353, 375 Cafè Molodežnoe 222, 291, 302, 315– 317, 329–354, 362, 367–368, 375–376 Café Sinjaja Ptica 316, 330, 333–334, 337, 353, 375 Melodija i Ritm/MIR 275, 348 Jugendklub 222, 229, 273–274, 290, 307–311, 320, 339, 348, 358–360,
Jugendkultur 9–10, 247, 288, 291, 486 Jugendliche 19–21, 36, 131, 152, 214, 216, 239, 247, 251, 254, 268, 274–295, 297, 305–306, 309, 314, 319–321, 324–327, 334, 339, 350–352, 364, 376, 390, 429, 440, 482–484 Jugendpolitik 21, 274–276, 282–285, 288–305, 325, 329, 335, 349–354, 440, 483 Kalter Krieg 9, 12, 20, 25–28, 59–61, 69, 99, 101, 183, 190, 193, 212, 274, 277, 282, 303, 338, 413, 427–430, 441, 466, 468, 490 Kazan’ 401–405, 425 KGB 247–248, 280–281, 307, 319, 353, 439, 485 Kiev 96, 156, 178, 427–428, 452, 454– 456, 488 Kino 18, 40–41, 45, 49, 62–63, 78, 82–85, 93, 108, 110, 117, 124, 142–144, 176, 185, 200, 242, 250, 255, 284, 373, 416 Klassische Musik 50, 70, 105, 120, 136, 151, 167, 180, 214, 350, 370, 374 Komponistenverband 9, 14, 25, 41, 49–50, 56, 70, 75, 106, 109–110, 113, 136, 141, 169, 190–193, 197–201, 204, 206, 210, 218, 222, 224–230, 244– 245, 258, 266, 275, 299, 302–303, 307–310, 314–317, 326–329, 340–341, 346–353, 370–371, 374–375, 379, 391, 405, 416–422, 465, 477–479, 487 Komsomol/VLKSM 9–11, 21, 25, 36, 55, 87, 157, 159, 185, 210, 214, 222, 237, 247, 254, 257, 260, 273–336, 340– 359, 364–365, 369–371, 374–377, 387, 391, 412, 465, 470, 477, 479, 483–489 Konservatorium 121, 197, 262–264, 272, 312, 327–328, 341, 359, 402–404, 409, 416, 424, 426, 469
Sachregister 527
Konzertorganisation Gastrol’bjuro 108, 112, 147, 150–152, 402–405 Lenėstrada 107, 110, 151, 160, 264 Mosėstrada 107, 110, 115–116, 125, 133, 135, 151, 163, 169–171, 175–177, 185, 187, 242, 259 Moskoncert 129, 163 MOMA 242, 251, 267 OMA 110, 116, 256, 260–265, 340–346, 371 Roskoncert 109, 163 VGKO 108–109, 117, 127–128, 140, 147, 153–156, 162, 165–168, 177–179, 186, 260–261, 340–345, 406–412, 426, 436, 472 Kulturhaus/Kulturpalast 11, 54–55, 105– 106, 111, 146, 152, 157, 160, 229–230, 251–253, 261, 284, 295–296, 305–311, 314–320, 324–326, 350–355, 359— 363, 370–371, 383, 401, 485 Kulturministerium 54, 57, 82–89, 92, 97–100, 105, 108–128, 132–162, 167– 170, 174–181, 185–189, 202–204, 218, 227, 240, 248–249, 267, 284, 287, 316, 345, 371, 403–405, 410, 413, 417, 433, 437, 439, 448, 456, 477–479 Künstlerrat 97, 140–146, 157, 185, 265, 341–347, 353 Kunstmusik/Ernste Musik 9, 12, 17, 55, 102, 153, 224, 227, 229, 257, 309, 351, 369, 375, 384, 392, 470, 485–487 Kvadrat (Klub) 317, 323, 328, 352, 366, 387, 389 Kvadrat (Zeitschrift) 320–323, 384, 392, 385 Laientätigkeit 16, 68, 73, 76, 111, 153, 158, 210, 218, 236, 263, 271, 276, 292–296, 299, 304, 321, 324–326, 338–339, 349, 355, 477–479
Lektoren 16, 22, 227–228, 274, 305–307, 313, 317, 319–322, 340, 358, 369–371, 387–388, 470, 480 Leningrad 37, 40, 43–44, 56, 87, 95–96, 104–105, 107–108, 112, 117–119, 138– 140, 146, 148–150, 160–161, 166, 177– 178, 194, 213, 216, 222, 239, 247, 251, 254, 257, 259–266, 268, 272, 274–275, 292, 301–307, 317–328, 339–340, 352, 358, 366, 370–371, 380–393, 406, 422, 436–437, 448–449, 461–464, 472, 485–486, 489 Leserbrief 23, 32, 194–195, 208, 216–218, 412 Medien 13–16, 33, 40, 47–57, 61–66, 86–99, 300, 302, 354, 410, 418–420, 437, 456, 468, 476, 479 Melodija 53, 61, 80, 98–99, 109, 327, 348, 354, 392, 424, 479–480 Mittelklasse 17, 283, 356–358, 363–364, 415–416, 426, 481, 483 Mobilisierung 36, 39, 42–45, 108, 152, 277–278, 293, 295, 383, 463 Moskau 7–8, 37, 52, 56, 68, 77–81, 94–96, 105, 110, 116–118, 121–123, 127–128, 133–135, 140–143, 149–163, 166, 169–170, 175–181, 200, 213–214, 218, 222, 224–230, 240–245, 250–251, 256–258, 273–276, 286, 291, 296–304, 307–317, 329–349, 356, 359, 371–380, 381–383, 385–386, 401–405, 428, 438, 446, 449–451, 485, 488–489 Musikmarkt 23, 47–57, 60, 94, 96, 102, 109, 121, 127, 164, 176, 182–183, 236–237, 242, 257, 266–268, 346, 476–482 Muzykal’naja Žizn’ 191, 372, 419 NEP 38, 63–64, 239, 246, 283 Neuland 108, 112, 152, 167, 182, 278 Odessa 29, 39, 96, 207, 220, 302, 432
528 Sachregister
Öffentlichkeit 7, 11, 14, 25, 32, 49, 112, 189–193, 222, 237, 262, 268, 275, 290, 308–312, 329, 350–354, 367–368, 372, 431, 442, 458, 473, 478, 484–485 Organisatoren 16, 54, 120, 125, 128, 141, 153–156, 164, 176, 240–243, 274–275, 302, 317–318, 321, 352–353, 358, 387, 392, 450–454, 477–479 Oper, Opernmusik 10, 14, 35, 41, 70, 73, 106, 120, 137, 145, 191, 199, 212–213, 369, 434–436 Peripherie 52, 56, 77, 84, 100, 112, 117, 140–141, 149, 152, 158–162, 173–175, 179, 185–187, 381, 395, 398, 405, 410, 425 Philharmonie 105, 107–109, 113, 119, 129, 144, 146–157, 162–168, 179–180, 186– 188, 303, 388, 404, 447 Planwirtschaft 16, 53, 96, 188, 236, 241 Polen 51, 215, 303, 417, 420, 439 Porgy und Bess 211–213, 428, 435, 486 Pravda 32, 41, 138, 152, 192, 201 Prostojnik 127–130, 166, 177, 272 Radio 10, 16, 26, 40–43, 48–49, 52–53, 61, 67–68, 85–97, 101, 108–109, 199, 238, 306, 351, 357, 370, 373, 390, 403, 429, 435, 439, 446, 473 Repertoire 40, 44–45, 60, 62–85, 91–92, 96–97, 106, 110–116, 131–149, 154, 157, 169, 180–188, 204, 214–217, 236, 239– 240, 248–262, 265–267, 316, 338, 343–347, 412, 428, 436–439, 442, 455 Rock/Rock ’n’ Roll 18, 24, 146, 221, 230, 239, 288, 301, 304, 339, 373–377, 392, 440, 442, 483, 486 RSFSR 104, 108, 147, 154, 158, 163, 166, 179–180, 186, 397, 405, 408, 456 Rückständigkeit 8, 28–29, 62, 210, 221, 390, 453, 464, 473
Schallplatte 10, 15–16, 37, 48–50, 52–55, 60–61, 66–67, 73–75, 78–82, 85–99, 135, 238, 255, 268, 311, 347–348, 357, 438, 476 Schattenwirtschaft 16, 52–56, 83, 125, 138–139, 164, 176, 186, 203–204, 235– 238, 243, 249, 251–256, 266–268, 271–272, 296, 379, 423, 477, 482 Šestidesjatniki 25, 270, 351, 355, 359, 389 Sovetskaja Kul’tura 32, 132, 170, 191, 202, 205, 207, 212, 215, 219, 230, 234, 339, 427, 458, 469–470, 484 Sovetskaja Muzyka 32, 132, 191, 197, 199, 203, 205, 207–208, 222, 224, 226, 228, 233, 315, 402, 426, 479 Sozialistischer Realismus 14, 38–40, 48, 173, 199, 215, 218, 294, 343, 358, 378, 391, 478 (Spät)stalinismus 9, 11–12, 14–15, 39, 43, 45, 48–49, 55, 59–60, 74–75, 88, 96, 99–101, 132–133, 165, 176, 183, 185, 190–192, 210, 223, 226, 232, 235, 251, 258, 269, 278–280, 282–286, 358, 373, 381, 390–391, 401, 404, 412–413, 457, 472, 476–479 State Department 27, 427–432, 435, 440–447, 451, 453, 457, 459–460, 468–469, 487 Stiljagi 9, 21, 183, 209, 215, 244–248, 280–281, 295, 297, 358, 363–364, 390, 489 Tallinn 83–84, 104, 124, 291, 304, 328– 329, 384, 390, 472 Tanzplatz 10, 54, 82, 105–106, 110–111, 124, 157, 200, 235, 238, 248–257, 374–375, 438 Tanzmusik 37, 55, 86–88, 194, 207, 230, 262, 301, 333, 353, 375, 392, 470–471, 483, 487
Sachregister 529
Tarifizierung 122, 124, 128, 130, 146, 173– 175, 180–181, 188, 240–241, 263–266, 271 Tauwetter 10–11, 15, 23, 32–33, 59–60, 86, 89, 103, 112, 131, 144, 175, 177, 182, 193, 201, 208, 218, 235, 250, 274, 283, 285, 305, 330, 358, 367, 389, 393, 427–428 Tonband 61, 90–94, 241, 324, 357, 370, 372, 452–454, 473 Tournee/Gastspiel 26–28, 71, 74, 77, 99, 108–109, 112, 139–140, 149–154, 161, 167–168, 171, 178, 318, 384, 406–408, 417, 427–439, 441–474, 486–488 Transfer 25–26, 48, 60, 78, 101, 142, 181, 187, 229 Unterhaltungsmusik 10, 15–18, 36, 38, 47–57, 59–60, 63, 78, 81, 88, 93, 102–116, 123, 126, 131, 134–137, 141– 142, 148, 163–164, 167–168, 183–187, 196–198, 205, 232–233, 246–247, 257, 259, 267, 350, 397, 405, 428, 431, 439, 440, 476–477 USA /Vereinigte Staaten von Amerika 20, 26–27, 37, 48, 193, 212, 228, 356,
400, 414, 428–434, 439–441, 447, 457, 463–465, 469, 471, 489 VI. Weltjugendfestspiele 213–214, 216– 217, 219, 274, 286, 296–297, 305, 350, 364, 410, 423, 431, 438, 461, 484 Voice of America 26, 101, 244, 373, 429, 439, 446, 473, 482 Vortrag/Vortragskonzerte 9, 112, 179, 203, 230–232, 274–275, 282–283, 305–308, 311–314, 318–325, 330, 348, 351, 370–377, 483–484 Vulgarität 94, 138–139, 181, 216, 219, 248 Zensur 13–15, 47, 55–56, 59–85, 97, 99–101, 114, 137, 146, 151, 250, 476, 486 Zentralkomitee/ZK 10, 13, 15, 32, 50, 54, 56, 66, 69–72, 76, 79, 82–88, 90, 92, 94, 96–99, 101, 112, 125, 145, 165, 171–174, 177, 190, 219, 247, 250, 283, 285–286, 289–291, 298–299, 302–304, 336, 349, 371 405, 408–409, 436–437, 439–440, 444, 450, 476 Zirkus 66, 72–73, 116, 137, 169–171
Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde 2016 als Dissertation der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg verteidigt. Zahlreiche Menschen begleiteten ihre Entstehung, denen hier gedankt werden soll. Mein Doktorvater Dietmar Neutatz hat das Thema und dessen Wandlungen von Anfang an mit Offenheit und Neugier begleitet und bis zur endgültigen Abgabe des Textes geduldig unterstützt. Dafür danke ich ihm sehr. Klaus Gestwa aus Tübingen und Wolfgang Hochbruck aus Freiburg haben dankenswerterweise kritische und kenntnisreiche Gutachten verfasst, von denen die vorliegende Fassung sehr profitiert hat. Joachim von Puttkamer glaubte an die Möglichkeiten, aus einer Magisterarbeit zum Thema mehr machen zu können und verdeutlichte mir während des Studiums in Jena, was das Sprechenlassen von Quellen bedeuten kann. Dafür stehe ich in seiner Schuld. Den Herausgebern danke ich für die Aufnahme in die Reihe „Geschichte Osteuropas“ des Böhlau Verlags. Dessen kompetente und geduldige Mitarbeiterinnen, Frau Rheker-Wunsch, Frau Doepner, Frau Roßberg und Frau Lehmann halfen geduldig und unermüdlich, aus dem Text ein Buch zu machen. Die Stiftung der VG-Wort hat die Publikation großzügig unterstützt. Großer Dank gebührt Ulrich Herbert und Jörn Leonhard für die Aufnahme in die FRIAS School of History in Freiburg, wo ich Raum, Zeit und Ressourcen erhielt, um das Projekt zu entwickeln und vier umfangreiche Archivaufenthalte zu realisieren. Von ihren kritischen Anmerkungen zur entstehenden Gliederung habe ich ebenso profitiert wie von zahlreichen Gesprächen mit anderen Gastwissenschaftlern der Freiburg School of History zwischen 2008 und 2012, denen auf diesem Wege ebenfalls gedankt sei. Ohne die kritischen Nachfragen und diskutierten Alternativen in den Kolloquien in Jena, Bremen, München, Gießen, Düsseldorf, Berlin, Tübingen und Basel wäre das Buch in der vorliegenden Form nicht entstanden. Deren Teilnehmern sei dafür herzlich gedankt. Die Geduld und Fachkompetenz der Archivare und Bibliotheksmitarbeiter in Russland und Estland machten die Arbeit zu einem scheinbar disparaten Thema in den Tiefen und Untiefen des sowjetischen Aktenmeeres erst möglich. Stellvertretend für sie alle danke ich Galina Michailovna aus dem RGASPI in Moskau. Ihr mit einem Augenzwinkern gegebener lakonischer Hinweis, dass es kein sowjetisches Jazzministerium gegeben habe, half mir nach einer ersten Welle der Ernüchterung, geduldig zu bleiben. Das Buch wäre eine wenig spannende Geschichte der sowjetischen Kulturbürokratie geblieben, hätten mir Menschen wie Kiryll Moškov in Moskau und Tiit Lauk in Tallinn nicht wichtige Hinweise gegeben und erste Kontakte zu den Jazzenthusiasten der damaligen Zeit hergestellt. Erst deren Geschichten und Privatarchive machten dieses Buch zu einem Jazz-Buch. Ich danke daher Aleksej Batašev, German Lukjanov, Andrej Tovmjasan, Aleksej Kuznecov,
532 Danksagung
Michail Okun, Rostislav Vinarov und Michail Kull‘ in Moskau, Vladimir Fejertag, Gregorij Vasjutočkin und Natan Lejtes in Piter sowie Heinrich Schulz und Walter Ojakäär in Tallinn für ihre Bereitschaft, mir Einsicht in ihre einzigartige Welt zu geben. Ich hoffe, ihren Geschichten hier einen angemessenen Platz gegeben zu haben und bedauere sehr, dass einige von ihnen das Erscheinen des Buches nicht mehr erleben können. Marina Bendet hat mich seit 2005 immer wieder in die Tiefen des russischen Kaninchenbaus geführt und ihr Petersburg mit mir geteilt. Simon Huxtable und Sören Urbansky haben mir mit Zuspruch und produktiven Diskussionen zwei einzigartige Moskauer Archivsommer ermöglicht. Boris Belge, der ersten Hälfte des osteuropäischen „Musikantenstadls“, und Alexandra Oberländer danke ich für Skepsis, Neugier und Zuspruch während der (Um-)Wege zum fertigen Text. Ihre Kritik, ihr Humor und das gemeinsame Nachdenken über die autoritären Ränder Europas machen Anna Catharina Hofmann und Andrés Antolin Hofrichter zu den eigentlichen Paten dieses Buches. Julia Herzberg, Laura Ritter, Iannis Carras, Lena Radauer, Kai Achim Klare, Martin Bemmann, Helke Rausch und Peter Kaiser haben im Freiburger Bermudadreieck zwischen Schreiben, Lehre und Familie für Motivation und Abwechslung gesorgt und immer wieder Teile des Manuskripts kritisch begutachtet. Ohne die therapeutische Wirkung des Spielens von Musik wäre das Schreiben über Musik viel weniger erfreulich gewesen, wofür ich in der Schuld bei den drei Köchen der „Sound Souljanka“ Philipp Hüller, Sebastian Strauch und Michael Gröll stehe. Für die sorgsame und umsichtige Redaktion des Textes danke ich Mirko Schwagmann und Valentina Escherich. Der sicher größte Dank gebührt meiner Familie, der ich dieses Buch widme, allen voran meinen Söhnen Johann und Louis und meiner Frau Cordula, deren Geduld, Unterstützung und Ablenkung nötig waren, um dieses Buch so fertig zu stellen, wie es jetzt ist. Ich danke meinen Brüdern Jakob und Wolfram, meiner Mutter und besonders meinem Vater, dessen AMIGA-LP von Rolf Kühns „Solaris“ ich anfing zu zerkratzen, bevor ich wusste, was sie wirklich bedeutet.