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German Pages 82 Year 2004
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 938
Demonstrationsfreiheit für Neonazis? Analyse des Streits zwischen BVerfG und OVG NRW und Versuch einer Aktivierung des § 15 VersG als ehrenschützende Norm
Von Ralf Röger
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
RALF RÖGER
Demonstrationsfreiheit für Neonazis?
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 938
Demonstrationsfreiheit für Neonazis? Analyse des Streits zwischen BVerfG und OVG NRW und Versuch einer Aktivierung des § 15 VersG als ehrenschützende Norm
Von Priv.-Doz. Dr. Ralf Röger
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Arbeit wurde gedruckt mit Unterstützung des Vereins zur Förderung der Rechtswissenschaft e. V., Köln
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-11325-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Kapitel Vorgelagerte Entscheidungen und Ereignisse: Brokdorf, Brandenburger Tor und Holocaust-Gedenktag
11
I. Brokdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
II. Brandenburger Tor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Holocaust-Gedenktag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
2. Kapitel Gemeinsamer prozessualer Hintergrund der zwischen OVG NRW und BVerfG strittigen Fälle
16
I. Der verfahrensmäßige Ablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
II. Die Besonderheit der fehlenden Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Kammerentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
3. Kapitel Die zwischen OVG NRW und BVerfG strittigen Fälle und die ergangenen Entscheidungen
21
I. Fackelzug der NPD in Lüdenscheid am 26. 1. 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
II. Deutsch-niederländischer Protestmarsch Herzogenrath-Kerkrade am 24. 3. 2001
23
III. Karsamstags-Demonstration in Ennepetal am 14. 4. 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
IV. „Nationaler Ostermarsch“ in Hagen am 16. 4. 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
6
Inhaltsverzeichnis V. NPD-Demonstration in Essen am 1. 5. 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
VI. Rechtsextremistische Demonstration in Arnsberg am 30. 6. 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
VII. Rechtsextremistische Demonstration in Arnsberg am 13. 4. 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
4. Kapitel Analyse der materiellen Argumente beider Gerichte
33
I. Das Argument von der verfassungsimmanenten Beschränkung der Demonstrationsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
II. Das Argument von der Gefährdung der öffentlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Die Ausfüllung des Begriffs der „öffentlichen Ordnung“ mit Wertvorstellungen der geschriebenen Verfassungsrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
2. Die Ansicht von der Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
3. Die Überlegung zum Gesamtbild der Wertvorstellungen des Grundgsetzes . . . .
47
III. Das Argument von der Sperrwirkung des Parteienprivilegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
IV. Das Argument von der Sperrwirkung des Landesfeiertagsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . .
54
V. Das Argument von der spezifischen Provokationswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
1. Die Zuweisung eines anderen Versammlungstages als „Auflage“ . . . . . . . . . . . . . . .
59
2. Innerer Widerspruch zur „Soldaten-sind-Mörder“-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . .
60
3. Innerer Widerspruch zur These von der Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts
61
4. Die Zuordnung der „Provokationswirkung“ zu Art. 8 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
5. Kapitel Eigener Lösungsvorschlag – Die Aktivierung von § 15 VersG als ehrenschützende Norm
63
I. Die „Provokationswirkung“ als faktisch primär vom Versammlungsinhalt abhängiger Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
II. Die Provokationswirkung als rechtlich Art. 5 GG zuzuordnende Wirkung . . . . . . . . .
64
III. Der um die „Provokationsformel“ angereicherte § 15 VersG in der Schrankentrias des Art. 5 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
Inhaltsverzeichnis
7
1. Der Verlust des Charakters als allgemeines Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
2. Die Aktivierung als „provokationsabwehrendes“ ehrenschützendes Gesetz . . . . .
67
a) § 15 VersG als „Recht der Ehre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) § 15 VersG als „Recht der persönlichen Ehre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
Zusammenfassung
74
I. Zu den Argumenten von BVerfG und OVG NRW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
II. Eigener Lösungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
Einleitung § 15 Abs. 1 VersG1 erlaubt den zuständigen Behörden2, eine Versammlung oder einen Aufzug3 zu verbieten oder von Auflagen abhängig zu machen, wenn „die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist“. Um die verfassungskonforme Auslegung dieser Norm und ihre Anwendung auf Demonstrationen von Neonazis ist seit Jahresbeginn 2001 ein heftiger Streit zwischen der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts4 und dem seit 1. Januar 2001 für Versammlungsrecht zuständigen 5. Senat des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen5 entbrannt. Eigenwilliger Höhepunkt dieses Streites waren die scharfen Worte von Bundesverfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem6 in einem Beitrag für die Frankfurter Rundschau vom 11. Juli 20027 und die nicht minder scharfe Replik des Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts und (kraft Amtes8) Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen, Michael Bertrams9, in Form einer offiziellen Pressemitteilung des OVG NRW vom 15. Juli 200210.
Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz). In Nordrhein-Westfalen sind dies gemäß § 11 POG NRW die Kreispolizeibehörden. 3 Unter einem Aufzug versteht man eine sich fortbewegende Versammlung; hierfür ist heute der Begriff der „Demonstration“ verbreitet. 4 Im Folgenden verkürzt „BVerfG“ benannt. 5 Im Folgenden verkürzt „OVG NRW“ benannt. 6 Wolfgang Hoffmann-Riem ist Mitglied der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts. 7 Wolfgang Hoffmann-Riem, Die Luftröhre der Demokratie. Der Rechtsstaat ist stark genug, um auch die Demonstrationsfreiheit für Neonazis auszuhalten; Frankfurter Rundschau vom 11. Juli 2002, S. 14. 8 § 2 Abs. 2 VGHG NRW: „Der Präsident des Verfassungsgerichtshofs ist der Präsident des Oberverwaltungsgerichts“. 9 Michael Bertrams ist Mitglied des 5. Senats des Oberverwaltungsgerichts Münster. 10 Michael Bertrams, Demonstrationsfreiheit für Neonazis? Pressemitteilung des OVG NRW vom 15. Juli 2002; abrufbar im Internet auf der Homepage des OVG NRW: http: // www.ovg.nrw.de / unter der Rubrik „Pressemitteilungen / Aktuelle Entscheidungen“. Bertrams hat seine Überlegungen zwischenzeitlich in einem jüngst erschienenen Festschriftbeitrag vertieft: Michael Bertrams, Demonstrationsfreiheit für Neonazis? Zur Kontroverse zwischen dem Oberverwaltungsgericht NRW und der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, in: Bernd M. Kraske (Hrsg.), Pflicht und Verantwortung, Festschrift zum 75. Geburtstag von Claus Arndt, 2002, S. 19. 1 2
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Einleitung
Im Folgenden sollen die für das Verständnis des Streits wesentlichen vorgelagerten Entscheidungen und Ereignisse (sub 1), der gemeinsame prozessuale Hintergrund der Streitfälle (sub 2) sowie die sieben publik gewordenen Streitfälle selbst dargestellt werden (sub 3). Anschließend folgt eine umfassende Analyse der von den beiden Gerichten vorgetragenen Argumente (sub 4) sowie der Versuch, einen eigenen Lösungsvorschlag in Form der Aktivierung von § 15 VersG als ehrenschützende Norm zu entwickeln (sub 5).
1. Kapitel
Vorgelagerte Entscheidungen und Ereignisse: Brokdorf, Brandenburger Tor und Holocaust-Gedenktag Um den Streit zwischen den beiden Gerichten zutreffend einzuordnen, bedarf es eines vorgeschalteten Blicks auf einige Ereignisse und Entscheidungen, die prägend sind für diesen Streit: Den Brokdorf-Beschluss des BVerfG vom 14. Mai 1985 und seinen Beschluss zum Holocaust-Gedenktag vom 26. Januar 2001 sowie der mit verwaltungsgerichtlicher Billigung stattfindende Marsch von Neonazis durch das Brandenburger Tor sowie eine entsprechende Demonstration vor dem Brandenburger Tor zu Anfang des Jahres 2000.
I. Brokdorf Der Brokdorf-Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 19851, der die Verfassungsmäßigkeit des Verbots von Demonstrationen gegen die Errichtung des Kernkraftwerks Brokdorf zum Gegenstand hatte, war die erste Entscheidung des Gerichts, die sich explizit mit dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit befasste2; nur vor ihrem Hintergrund können daher die späteren Erörterungen des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich möglicher Verbote rechtsradikaler Versammlungen verstanden werden. In Bezug auf § 15 VersG als Ermächtigungsnorm für Versammlungsverbote, Versammlungsauflösungen und das Abhängigmachen einer Versammlung von Auflagen führt das Gericht aus, dass die unbestimmten Rechtsbegriffe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch das Polizeirecht einen hinreichend klaren Inhalt erhalten haben und daher dem Bestimmtheitsgrundsatz genügen3. Der Begriff der „öffentlichen Sicherheit“ umfasse danach den Schutz der zentralen Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des einzelnen sowie die Unversehrtheit der (geschrie1 BvR 233, 341 / 81, BVerfGE 69, 315. Dass auch keine älteren unveröffentlichten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes zur Versammlungsfreiheit vorliegen, bestätigt das Gericht selbst, wenn es in BVerfGE 69, 315, 344 formuliert: „In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, die sich bislang mit der Versammlungsfreiheit noch nicht befasst hat . . .“. 3 BVerfGE 69, 315, 352. 1 2
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1. Kap.: Vorgelagerte Entscheidungen und Ereignisse
benen)4 Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen; der Begriff der „öffentlichen Ordnung“ erfasse dagegen die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebietes angesehen wird5. Für die verfassungskonforme Anwendung des § 15 VersG sei jedoch zu berücksichtigen, dass die grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit nur dann zurückzutreten habe, wenn eine Güterabwägung unter Berücksichtigung der besonderen Bedeutung des Grundrechtes ergebe, dass dies zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter notwendig sei. Dies fordere zum einen, dass vor einem Versammlungsverbot oder einer Versammlungsauflösung das mildere Mittel der Auflagenerteilung ausgeschöpft werde und es bedeute zum anderen, dass eine bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Allgemeinen nicht für ein Versammlungsverbot oder eine Versammlungsauflösung genüge6. Fasst man diese vom Gericht selbst ausdrücklich als „zwei“ Einschränkungen benannten7 Überlegungen zusammen, so kann man sagen, dass nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts mögliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit vorrangig durch Auflagen und als ultima ratio auch durch Versammlungsverbote bekämpft werden können, Gefahren für die öffentliche Ordnung dagegen regelmäßig nur durch Auflagen.
II. Brandenburger Tor Vor dem Hintergrund dieser versammlungsfreundlichen Grundentscheidung des Bundesverfassungsgerichts überrascht es nicht, dass in der Folgezeit auch rechtsradikale Versammlungen von den zuständigen Verwaltungsgerichten weitgehend gebilligt und nur durch Auflagen in der Art und Weise ihrer Durchführung begrenzt wurden8. Unrühmlicher Höhepunkt des großzügigen Umgangs mit neonazistischen Versammlungen war dann der insbesondere im Ausland auf Unverständnis, ja Entsetzen stoßende Marsch von Neonazis durch das Brandenburger Tor unter Mitführung von Reichskriegsflaggen am 29. Januar 20009, bei dem ein 4 Das Tatbestandsmerkmal der „geschriebenen“ Rechtsordnung wird vom Bundesverfassungsgericht nicht ausdrücklich genannt; es ergibt sich aber aus dem Umkehrschluss zur anschließenden Definition der „öffentlichen Ordnung“ als der Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln. 5 BVerfGE 69, 315, 352. 6 BVerfGE 69, 315, 353. 7 BVerfGE 69, 315, 352. 8 Einen Überblick über den behördlichen und gerichtlichen Umgang mit rechtsradikalen Versammlungen zu Anfang der neunziger Jahre bietet Hans-Joachim Höllein, Das Verbot rechtsextremistischer Veranstaltungen, NVwZ 1994, S. 635.
III. Holocaust-Gedenktag
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vom Berliner Polizeipräsidenten verfügtes Versammlungsverbot vom Verwaltungsgericht Berlin10 und Oberverwaltungsgericht Berlin11 nicht bestätigt, sondern die Versammlung unter Auflagen (Verbot des Mitführens von Landsknechtstrommeln) zugelassen wurde. Ähnlich großes internationales Entsetzen löste nur wenig später eine am 12. März 200012 stattfindende Demonstration der NPD vor dem Brandenburger Tor aus, bei der das vom Polizeipräsidenten Berlin ausgesprochene Versammlungsverbot ebenfalls keinen gerichtlichen Bestand hatte, sondern unter Auflagen (Verbot des Mitführens von Fahnen) gestattet wurde13.
III. Holocaust-Gedenktag Diese Berliner Vorfälle, bei denen Neonazis an symbolträchtigen Tagen den symbolträchtigen Ort des Brandenburger Tores für ihre Veranstaltungen mit Billigung der Verwaltungsgerichte nutzen konnten, rückten die Problematik rechtsradikaler Demonstrationen in den Blickpunkt des öffentlichen und hier auch namentlich des politischen Interesses. Konsequenz auf legislativer Ebene war die Einbringung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Versammlungsgesetzes durch die Fraktion der CDU / CSU vom 27. 11. 200014, der in seiner Problembeschreibung ausdrücklich auf „beschämende Bilder, wie sie z. B. am 29. Januar 9 Die Demonstration fand damit zwei Tage nach dem Holocaust-Gedenktag (27.1.) und einen Tag vor dem Jahrestag der Machtergreifung Hitlers (30. 1. 1933) statt. Zur zeitlichen kam natürlich noch die besondere geographische Symbolträchtigkeit eines Marschs durch das Brandenburger Tor hinzu; insbesondere diese begründete auch das im Ausland festzustellende Entsetzen. 10 VG Berlin, Beschluss vom 28. 1. 2000, VG 1 A 28.00, unveröffentlicht; zitiert nach: Gerd Seidel, Das Versammlungsrecht auf dem Prüfstand, DÖV 2002, S. 283, 288 Fn. 47. 11 OVG Berlin, Beschluss vom 29. 1. 2000, OVG 1 SN 10.00, unveröffentlicht; zitiert nach: Gerd Seidel, Das Versammlungsrecht auf dem Prüfstand, DÖV 2002, S. 283, 288 Fn. 47. 12 Der 12.3. (1938) ist der Jahrestag des deutschen Einmarschs in Österreich; dementsprechend symbolträchtig war das Motto der Veranstaltung „Wir sind ein Volk – nationale Solidarität mit Wien“, das nach Angaben der Veranstalter als Protest gegen die Maßnahmen der Bundesrepublik und anderer Mitglieder der Europäischen Union im Hinblick auf die Regierungsbeteiligung der FPÖ in Österreich zu verstehen sein sollte. 13 OVG Berlin, Beschluss vom 11. 3. 2000, 1 SN 20 / 00, 1 S 3 / 00, NVwZ 2000, S. 1201. Der gegen das Verbot des Mitführens von Fahnen gerichtete Eilantrag des Veranstalters an das BVerfG hatte keinen Erfolg, vgl. BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 12. 2. 2000, 1 BvQ 5 / 00, NVwZ-RR 2000, S. 553. 14 BT-Dr. 14 / 4754 vom 27. 11. 2000. Der Gesetzentwurf wurde vom Deutschen Bundestag abgelehnt, vgl. Plenarprotokoll der 236. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 16. Mai 2002, S. 23546, 23552 D. Auch andere Gesetzentwürfe und Gesetzesanträge zur Änderung des Versammlungsgesetzes hatten bisher keinen Erfolg; erwähnt seien namentlich der Gesetzentwurf der PDS, BT-Dr. 14 / 5127 vom 22. 1. 2001; der Gesetzesantrag des Landes Mecklenburg-Vorpommern, BRats-Dr. 758 / 00 vom 16. 11. 2000 und der Gesetzesantrag des Landes Rheinland-Pfalz, BRats-Dr. 545 / 00 vom 12. 9. 2000.
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1. Kap.: Vorgelagerte Entscheidungen und Ereignisse
2000 um die Welt gingen“, hinweist; Konsequenz auf judikativer Ebene war ein eigentümliches „Zurückrudern“ des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 26. Januar 200115 zu einer geplanten neonazistischen Demonstration am Holocaust-Gedenktag16. In dieser Eilentscheidung bestätigte die 1. Kammer des Ersten Senats die Verfügung der Hamburger Versammlungsbehörde sowie die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts und Oberverwaltungsgerichts Hamburg, dass ein rechtsextremistischer Aufzug am Holocaust-Gedenktag eine Störung der öffentlichen Ordnung darstelle und daher im Wege der Auflage eine Verschiebung der Versammlung um einen Tag angeordnet werden könne. Das Gericht bekräftigte seine schon im Brokdorf-Beschluss getroffene Aussage, dass eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung zwar im Allgemeinen kein Versammlungsverbot, wohl aber eine Auflage rechtfertige, und es führt weiter aus, dass die Anordnung der Verschiebung einer Versammlung um einen Tag zumindest dann eine bloße Auflage sei, wenn der Versammlungszweck nicht ausschließlich oder vorrangig nur an dem vom Veranstalter gewählten Tag erreicht werden könne17. Als eine solche Auflage rechtfertigende Gefährdung der öffentlichen Ordnung benennt das Gericht dann die Wahl eines Veranstaltungstages, dem „ein in der Gesellschaft eindeutiger Sinngehalt mit gewichtiger Symbolkraft zukommt, der bei der Durchführung eines Aufzugs an diesem Tag in einer Weise angegriffen wird, dass dadurch zugleich grundlegende soziale oder ethische Anschauungen in erheblicher Weise verletzt werden“. Im Hinblick auf die Durchführung einer rechtsradikalen Demonstration am Holocaust-Gedenktag bejaht das Gericht dann das Vorliegen dieser Voraussetzung, denn „es leuchtet unmittelbar ein und ist auch verfassungsrechtlich tragfähig, wenn die Versammlungsbehörde der Durchführung eines Aufzugs durch Personen aus dem Umfeld der rechtsextremen ,Kameradschaften‘ an diesem Gedenktag eine Provokationswirkung zumisst und dies als Gefahr einer erheblichen Beeinträchtigung des sittlichen Empfindens der Bürgerinnen und Bürger bewertet“18. So sehr diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf die zuvor erwähnten „beschämenden Bilder“ von durch das Brandenburger Tor marschierenden Neonazis rechtspolitisch verständlich und im Ergebnis begrüßenswert ist, so unklar und offen bleibt jedoch die spezifisch verfassungsrechtliche Begründung für das, was nach Ansicht des Gerichts „unmittelbar einleuchten“ soll: warum rechtsradikale Demonstrationen nur am Holocaust-Gedenktag und anderen symbolträchtigen Tagen, nicht aber grundsätzlich aufgrund der auf ihnen artikulierten Auffassungen provozierend wirken und warum die von der auf einer Versammlung 15 1 BvQ 9 / 01, NJW 2001, S. 1409 = DVBl. 2001, S. 558 = JZ 2001, S. 651 mit Anm. Christoph Enders S. 652. 16 Der Holocaust-Gedenktag findet am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Alliierten am 27. 1. 1945 statt; der 27. 1. wurde 1996 durch Bundespräsident Roman Herzog zum nationalen Gedenktag in Deutschland erklärt. 17 BVerfG, NJW 2001, S. 1409, 1410. 18 BVerfG, NJW 2001, S. 1409, 1410.
III. Holocaust-Gedenktag
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geäußerten Meinung ausgehende Provokation überhaupt eine versammlungsrechtliche Maßnahme nach § 15 VersG rechtfertigt – wo der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts doch in seinem „Soldaten-sind-Mörder“-Beschluss vom 10. Oktober 199519 ausdrücklich betont hat, dass auch die bewusst polemisch und verletzend formulierte, sprich die provozierende Meinungsäußerung am Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG teilnimmt; und dies auch, wenn sie im Rahmen einer Versammlung geäußert wird.
19
BVerfGE 93, 266, 289.
2. Kapitel
Gemeinsamer prozessualer Hintergrund der zwischen OVG NRW und BVerfG strittigen Fälle Bevor nun die einzelnen Streitfälle skizziert werden, anhand derer sich der Streit zwischen OVG NRW und BVerfG in der Folge entwickelte, soll zum besseren Verständnis der verfahrensrechtlichen Abläufe ein genauerer Blick auf den gemeinsamen prozessualen Hintergrund geworfen werden. Denn zumindest dem verfassungsprozessual nicht geschulten Betrachter muss es unverständlich erscheinen, dass sich nordrhein-westfälische Versammlungsbehörden und Verwaltungsgerichte unter Federführung ihres obersten Verwaltungsgerichts in keiner Weise an mehrfache eindeutig abweichende Entscheidungen des BVerfG gebunden fühlen, obwohl doch § 31 Abs. 1 BVerfGG die Bindungswirkung von Verfassungsgerichtsentscheidungen anordnet.
I. Der verfahrensmäßige Ablauf Geprägt ist der verfahrensrechtliche und prozessuale Hintergrund von der regelmäßig zu konstatierenden Eilbedürftigkeit der jeweiligen Entscheidungen, die ihre Ursache darin findet, dass zwischen der erstmaligen behördlichen, vor allem aber der erstmaligen gerichtlichen Befassung mit den jeweils geplanten Demonstrationen und dem von den Veranstaltern vorgesehenen Datum der Veranstaltung oftmals nur wenige Tage liegen. Von daher bewegen sich die verwaltungsgerichtlichen und verfassungsgerichtlichen Entscheidungen durchgängig im Bereich des einstweiligen Rechtsschutzes – die dazugehörigen Hauptsacheverfahren1 finden in aller Regel nicht statt, da die Veranstalter mit dem „einstweiligen“, aber für sie ausreichenden Ergebnis einer bundesverfassungsgerichtlich abgesegneten Demonstration zufrieden sind und die „abgestraften“ nordrhein-westfälischen Versammlungsbehörden und Verwaltungsgerichte keine verfassungsprozessuale Beschwerdemöglichkeit haben. Der verfahrensmäßige Ablauf sah in den relevanten Entscheidungen typischerweise2 wie folgt aus: 1 In Form der verwaltungsgerichtlichen Fortsetzungsfeststellungsklage und der verfassungsgerichtlichen Verfassungsbeschwerde. 2 In der Darstellung wird von dem Regelfall ausgegangen, dass die Veranstalter vor dem VG unterliegen und sie es daher sind, die (vergeblich) das OVG anrufen. Tatsächlich kam es
I. Der verfahrensmäßige Ablauf
17
– Der Veranstalter meldet die rechtsradikale Versammlung oder Demonstration gemäß § 14 Abs. 1 VersG bei der zuständigen Versammlungsbehörde an. – Polizeipräsident oder Landrat als zuständige nordrhein-westfälische Versammlungsbehörde3 erlassen ein Versammlungsverbot nach § 15 VersG und ordnen die sofortige Vollziehung dieses Verbots gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO an; als Begründung für ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung wird auf die offensichtliche Erfolglosigkeit eines Rechtsbehelfs abgestellt. – Der Veranstalter erhebt bei der Versammlungsbehörde Widerspruch gegen die Verbotsverfügung nach §§ 68 ff. VwGO und beantragt beim zuständigen Verwaltungsgericht4 die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eben dieses Widerspruchs gemäß § 80 Abs. 5 VwGO. – Das VG weist den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung durch Beschluss5 ab. – Nach der alten, bis zum 31. 12. 2001 geltenden und die meisten der hier relevanten Demonstrationsfälle erfassenden Rechtslage konnten Beschlüsse des VG nur dann im Wege der Beschwerde vor dem OVG angegriffen werden, wenn eine solche Beschwerde vom OVG zugelassen war, § 146 Abs. 4 VwGO a.F. Also musste der Veranstalter beim VG (das den Zulassungsantrag dem OVG vorlegt) Antrag auf Zulassung der Beschwerde zum OVG stellen, § 146 Abs. 5 u. 6 VwGO a.F. Nach der neuen, ab dem 1. 1. 2002 geltenden Rechtslage6 ist nun eine zulassungsfreie Beschwerde über das VG an das OVG nach §§ 146 Abs. 4, 147, 148 VwGO n.F möglich. – Das OVG NRW weist konsequent die Anträge der Veranstalter auf Zulassung der Beschwerde ab bzw. weist nach der neuen Rechtslage die entsprechenden (zulassungsfreien) Beschwerden zurück. – Der Veranstalter stellt nun nach § 32 BVerfGG im Wege des einstweiligen verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes beim BVerfG Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Verbotsverfügung der Kreispolizeibehörde mit der Begründung, die behördlichen und verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen verkennen den Schutzgehalt der Art. 5 und 8 GG. in Einzelfällen auch vor, dass das VG die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Versammlungsveranstalter wiederherstellte und es dann die Versammlungsbehörde war, die (erfolgreich) das OVG anrief. 3 Gemäß §§ 11, 3 Abs. 1 POG NRW. 4 Im Folgenden kurz: VG. 5 Die Beschlussform ergibt sich dabei unmittelbar aus §§ 80 Abs. 7, 122 Abs. 2 VwGO; eines Rückgriffs auf eine analoge Anwendung von § 123 Abs. 4 VwGO bedarf es nicht. 6 Die zulassungsfreie Beschwerde zum OVG wurde wiedereingeführt durch das Gesetz zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess (RmBereinVpG) vom 20. 12. 2001, BGBl. I S. 3987. 2 Röger
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2. Kap.: Gemeinsamer prozessualer Hintergrund der strittigen Fälle
– Das BVerfG stellt die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Verbotsverfügung – teils unter Auflagen – wieder her nach § 32 BVerfGG; die von den nordrhein-westfälischen Behörden und Gerichten unterbundenen Demonstrationen der Neonazis können dann mit Segen des höchsten deutschen Gerichts stattfinden.
II. Die Besonderheit der fehlenden Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Kammerentscheidungen Entscheidend dafür, dass sich die nordrhein-westfälischen Versammlungsbehörden und Verwaltungsgerichte trotz dieser Einschaltung des BVerfG in ihren jeweils nachfolgenden Entscheidungen über die bundesverfassungsgerichtlichen Vorgaben hinwegsetzen können ist dabei eine prozessuale Besonderheit: Das BVerfG hat nicht durch seinen mit acht Richtern besetzten zuständigen Ersten Senat entschieden7, sondern nach § 93d Abs. 2 BVerfGG durch die aus drei Richtern bestehende 1. Kammer des Ersten Senats8. Der Grund hierfür liegt in der schon angesprochenen besonderen Eilbedürftigkeit der zu treffenden Entscheidungen: Die Anträge auf einstweiligen verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz gingen regelmäßig erst am Vormittag des jeweils von den Veranstaltern vorgesehenen Versammlungstages ein; und diese Versammlungstage lagen regelmäßig an Wochenenden oder Feiertagen – also an Tagen, an denen es anscheinend nur möglich ist, drei der acht Richter des zuständigen Senats am Gerichtsort zu vereinen. Die damit bisher nur vorliegenden Kammerentscheidungen im einstweiligen Rechtschutzverfahren nehmen aber nach einhelliger Auffassung9 nicht an der Bindungswirkung 7 Die Zuständigkeit des Ersten Senats ergibt sich aus § 14 Abs. 1 BVerfGG; die Besetzung der Senate mit jeweils acht Richtern aus § 2 BVerfGG. 8 Die Besetzung der Kammern mit drei Richtern ergibt sich aus § 15a Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; die konkrete personale Besetzung und die Zuständigkeit wird von den jeweiligen Senaten festgelegt. 9 Während die „Gesetzeskraft“ nach § 31 Abs. 2 BVerfGG als stärkste Form der Bindungswirkung unmittelbar erga omnes, also auch gegenüber dem Bürger, wirkt, richtet sich die normale Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG ausschließlich an die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder und alle Gerichte und Behörden. Dabei nehmen nach h.M. auch einstweilige Anordnungen der Senate in ihren tragenden Gründen an dieser Bindungswirkung teil; vgl. Ernst Benda / Eckart Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozessrechts, 2. Aufl. 2001, Rn. 1228; Christian Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 1991, § 18 Rn. 27; zweifelnd hingegen auch schon für einstweilige Senatsentscheidungen Jörg Berkemann, in: Dieter C. Umbach / Thomas Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1992, § 32 Rn. 245 unter Hinweis auf Michael Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen, 1977. Einstweilige Anordnungen der Kammern nehmen dagegen nach soweit ersichtlich einhelliger Auffassung nicht an der Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG teil, da es in § 93d BVerfGG an einer § 93c Abs. 1 Satz 2 BVerfGG entsprechenden ausdrücklichen Gleichsetzung der Kammerentscheidung mit der Senatsentscheidung fehlt. So Karin
II. Besonderheit der fehlenden Bindungswirkung
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nach § 31 BVerfGG teil, so dass sich das OVG NRW in seinen jeweils folgenden Entscheidungen mit inhaltlich zum Teil erweiterten und in schärferem Tonfall vorgetragenen Argumenten über die vorherigen Entscheidungen des BVerfG hinwegsetzen konnte10. Nicht verschwiegen werden soll allerdings, dass das BVerfG den damit eintretenden Autoritätsverlust in prozessualer Hinsicht selbst verschuldet hat: Zum ersten erscheint es schon sehr zweifelhaft, ob man nicht tatsächlich einmal die acht Richter des Ersten Senats vollzählig zur Entscheidungsfindung hätte heranziehen können. Die an Wochenenden oder Feiertagen eintreffenden Anträge auf einstweiligen verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz kamen ja alles andere als überraschend – sie waren vielmehr aufgrund der höchst positiven Erfahrungen der rechtsradikalen Versammlungsveranstalter mit dem BVerfG absehbar, so dass sich die Mitglieder des Ersten Senats durchaus auf die anstehende Eilentscheidung hätten einstellen können. Zum zweiten hätte das Gericht für den Fall, dass tatsächlich nur drei Richter anwesend sind, statt von der Möglichkeit einer Kammerentscheidung auch von der Möglichkeit einer vorläufigen Senatsentscheidung nach § 32 Abs. 7 Satz 1 BVerfGG Gebrauch machen können. Die Anwesenheit von drei Richtern reicht aus, um in den hier anzunehmenden Fällen besonderer Dringlichkeit eine einstimmige Senatsentscheidung durch drei Richter herbeizuführen, die dann gemäß § 32 Abs. 7 Satz 3 BVerfGG einer sich anschließenden bestätigenden oder ablehnenden Überprüfung durch den vollständig besetzten Senat zugänglich ist. Über die Gründe, weshalb sich der Erste Senat auf das autoritätsuntergrabende Wechselspiel nicht bindender einstweiliger Kammerentscheidungen und anschließender abweichender Entscheidungen des OVG NRW einließ, anstatt im Rahmen des § 32 Abs. 7 BVerfGG eine nach h.M.11 bindende einstweilige Senatsentscheidung herbeizuführen, kann nur spekuliert werden. Möglicherweise befürchteten die drei in den Jahren 2001 und 2002 die 1. Kammer des Ersten Senats bildenden Richter12, dass ihre Ansichten im Senat insgesamt keine Mehrheit finden könnten Graßhof, in: Theodor Maunz / Bruno Schmidt-Bleibtreu / Franz Klein / Gerhard Ulsamer, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 93 d Rn. 21; ebenso, wenngleich ohne Begründung Ernst Benda, Kammermusik, schrill, NJW 2001, 2947, 2948; ebenso die bundesverfassungsgerichtliche Praxis, die die Abweichungen des OVG NRW unter diesem Aspekt mit keinem Wort kritisiert hat. 10 Colorandi causa sei bemerkt, dass sich das OVG NRW auch schon einmal von einer bestehenden Bindungswirkung nicht hat beeindrucken lassen, indem es sich über tragende Gründe einer Entscheidung des Zweiten Senats des BVerfG zur Milch-Garantiemengen-VO hinweggesetzt hat. Das BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats) sah hier eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG und gab dem von dem betroffenen Landwirt gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung statt: BVerfG, Beschluss vom 5. 5. 1987, 2 BvR 104 / 87, JuS 1988, 565; verkürzt abgedruckt auch in NJW 1988, S. 249. 11 Siehe dazu die in der vorherigen Anmerkung benannte Literatur. 12 Gemäß Beschluss des Ersten Senats vom 6. 12. 2000 gehörten der 1. Kammer im Geschäftsjahr 2001 die Richter Papier, Steiner und Hoffmann-Riem an; exakt dieselbe Kammerbesetzung findet sich gemäß Beschluss des Ersten Senats vom 5. 12. 2001 auch für das Ge2*
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2. Kap.: Gemeinsamer prozessualer Hintergrund der strittigen Fälle
und es deshalb geschickter sei, den durch § 93d Abs. 2 Satz 1 BVerfGG in Verbindung mit der gerichtsinternen Geschäftsverteilung13 nun einmal gegebenen „ersten Zugriff“ der Kammer zu nutzen, anstatt sich auf das für ihre Rechtsauffassungen eventuell unsichere Terrain einer Senatsentscheidung zu begeben.
schäftsjahr 2002. Im laufenden Geschäftsjahr 2003 hat sich die Kammerzusammensetzung allerdings durch Beschluss des Ersten Senats vom 17. 12. 2002 leicht geändert: Neben den Richtern Papier und Hoffmann-Riem gehört nun die Richterin Haas der 1. Kammer an. 13 Vgl. die in der vorhergehenden Anmerkung angeführten Beschlüsse.
3. Kapitel
Die zwischen OVG NRW und BVerfG strittigen Fälle und die ergangenen Entscheidungen Nach Klärung des gemeinsamen prozessualen Hintergrundes können nun die für den Streit zwischen OVG NRW und BVerfG relevanten Fälle und die zu ihnen ergangenen divergierenden Entscheidungen skizziert werden1. Die wenigen veröffentlichten nicht divergierenden Entscheidungen der Jahre 2001 und 2002, in denen das BVerfG vom OVG NRW bestätigte, zum Schutz der öffentlichen Sicherheit ergangene behördliche Verbote neonazistischer Demonstrationen nicht aufhob2, sollen dabei keineswegs verschwiegen werden; sie bedürfen aber zur Untersuchung der zwischen den Gerichten insbesondere im Hinblick auf das Merkmal der öffentlichen Ordnung strittigen Argumente keiner weiteren Betrachtung.
I. Fackelzug der NPD in Lüdenscheid am 26. 1. 2001 Der NPD-Kreisverband Märkischer Kreis beabsichtigte, am 26. 1. 2001 in Lüdenscheid einen Fackelzug unter Mitführung schwarz-weiß-roter Fahnen und Trommeln zur Feier des 130. Jahrestages der Gründung des Zweiten Deutschen 1 Eine präzise Darstellung der den Streit prägenden Entscheidungen findet sich auch bei Bertrams, Festschrift für Arndt, S. 19, 23 ff. Nicht erwähnt werden dort allerdings die unveröffentlichte Entscheidung des OVG NRW vom 12. 4. 2001, 5 B 496 / 01 nebst der dazugehörigen nur im Internet veröffentlichten Entscheidung des BVerfG vom gleichen Tage, 1 BvQ 20 / 01 sowie die (wohl nach Redaktionsschluss für den Festschriftbeitrag ergangene) unveröffentlichte Entscheidung des OVG NRW vom 10. 4. 2002, 5 B 620 / 02 nebst der dazugehörigen nur im Internet veröffentlichten Entscheidung des BVerfG vom 11. 4. 2002, 1 BvQ 12 / 02. 2 Zum Verbot einer Demonstration der „Sauerländer Aktionsfront“ aus Gründen der öffentlichen Sicherheit OVG NRW, Beschluss vom 10. 8. 2001, 5 B 1072 / 01, DVBl. 2001, S. 1625; zumindest im Ergebnis bestätigt durch BVerfG, Beschluss vom 10. 8. 2001, 1 BvQ 34 / 01, DVBl. 2001, S. 1585. Weiterhin zum Verbot einer Demonstration in der Nähe eines ehemaligen Konzentrationslagers unter dem Motto „Ruhm und Ehre der Waffen-SS“ aus Gründen der öffentlichen Sicherheit: OVG NRW, Beschluss vom 4. 1. 2002, 5 B 12 / 02, NVWZ 2002, S. 737; bestätigt durch BVerfG, Beschluss vom 4. 1. 2002, 1 BvQ 1 / 02, NVWZ 2002, S. 714.
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3. Kap.: Die zwischen OVG NRW und BVerfG strittigen Fälle
Reiches3 durchzuführen. Der zuständige Landrat des Märkischen Kreises verbot diese Versammlung unter Anordnung der sofortigen Vollziehung, der dagegen gerichtete Eilantrag des NPD-Kreisverbandes wurde vom VG Arnsberg abgewiesen4; der Antrag auf Zulassung der Beschwerde scheiterte beim OVG NRW5. Das BVerfG stellt die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des NPD-Kreisverbandes gegen die Verbotsverfügung mit Beschluss vom 26. 1. 2001 (also vom gleichen Tag wie die Entscheidung zum Holocaust-Gedenktag) wieder her6, so dass der Fackelzug stattfinden konnte. Das OVG NRW bewertete die Versammlung aufgrund des gewählten Datums, das über eine Woche nach dem angeblich ausschlaggebenden Jahrestag der Reichsgründung lag, als Verherrlichung des Nationalsozialismus, da „Reichspräsident Paul von Hindenburg dem Reichskanzler Kurt von Schleicher am 26. 1. 1933 die von ihm geforderten Vollmachten verweigerte und damit den Weg für die Machtergreifung Hitlers freimachte“. Daher stehe die Versammlung in einem „eindeutigen, direkten Zusammenhang mit der Machtergreifung Hitlers am 30. 1. 1933“7. Ein solches Bekenntnis zum Nationalsozialismus laufe all jenen grundgesetzlichen Wertvorstellungen zuwider, die Ausdruck einer Abkehr vom Nationalsozialismus sind, und gefährde damit unmittelbar die öffentliche Ordnung im Sinne des § 15 VersG. Wegen der besonderen Symbolkraft des gewählten Datums reichten auch Auflagen (Verbot des Mitführens von Fahnen, Trommeln und Fackeln) als mildere Mittel nicht aus, um die Gefährdung der öffentlichen Ordnung auszuschließen. Und auch aus der Brokdorf-Entscheidung des BVerfG ergebe sich keine andere Bewertung. Zwar könne eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung nach der Rechtsprechung des BVerfG wegen des hohen Stellenwertes der Versammlungsfreiheit grundsätzlich kein Versammlungsverbot rechtfertigen; dieser Ansatz könne aber dann keine Geltung beanspruchen, wenn es um die Verherrlichung des Nationalsozialismus gehe und damit elementare Verfassungsgüter wie die Menschenwürde und demokratische Grundprinzipien unmittelbar gefährdet würden. „Jede andere Entscheidung würde das grundgesetzlich geschützte Wertesystem selbst in Frage stellen und auf eine Relativierung konstitutiver verfassungsrechtlicher Werte hinauslaufen, der das Grundgesetz – wie nicht zuletzt Art. 79 Abs. 3 GG deutlich macht – eine klare Absage erteilt hat“8. 3 Das Zweite Deutsche Reich wurde am 18. 1. 1871 durch die Proklamation des Preußischen Königs Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser im Spiegelsaal des Versailler Schlosses begründet; es endete mit der Abdankung Kaiser Wilhelms II. und der „Ausrufung der Republik“ am 9. 11. 1918. 4 VG Arnsberg, Beschluss vom 24. 1. 2001, 3 L 78 / 01, unveröffentlicht. 5 OVG NRW, Beschluss vom 25. 1. 2001, 5 B 115 / 01, DÖV 2001, S. 649. 6 BVerfG, Beschluss vom 26. 1. 2001. 1 BvQ 8 / 01, NJW 2001, S. 1407. 7 Die wörtlichen Zitate sind hier der juris-Wiedergabe der Entscheidung entnommen, da der Abdruck in DÖV 2001, S. 649 Verkürzungen und sinnentstellende Druckfehler („Rechtskanzler“) enthält. 8 OVG NRW, DÖV 2001, S. 649, 650 am Ende der Entscheidung.
II. Deutsch-niederländischer Protestmarsch am 24. 3. 2001
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Das BVerfG erkannte in seiner einstweiligen Anordnung sehr genau den Schwachpunkt der OVG-Entscheidung, nämlich die Tatsache, dass durchaus beachtliche rechtliche Ausführungen auf den doch sehr tönernen Füßen einer fraglichen Tatsachenfeststellung beruhten: Das BVerfG hielt die Annahme, es handele sich bei der Veranstaltung in Wahrheit um eine Gedenkveranstaltung zur Machtergreifung Hitlers, für nicht nachvollziehbar, denn der 26. 1. und das Ereignis der Vollmachtsverweigerung „spielen in der öffentlichen Erinnerung an die Machtübernahme Hitlers keine erkennbare Bedeutung“, so dass die Wahl dieses Tages keine symbolische Bedeutung habe9. Auf die materiellen Argumente des OVG NRW brauchte das BVerfG damit nicht weiter einzugehen.
II. Deutsch-niederländischer Protestmarsch Herzogenrath-Kerkrade am 24. 3. 2001 Für den 24. 3. 2001 meldeten Neonazis wegen angeblicher Wahlkampfbehinderungen in Kerkrade und im Raum Aachen einen Protestmarsch über die deutsch-niederländische Grenze von Herzogenrath nach Kerkrade und zurück an; die Veranstaltung sollte unter dem Motto stehen „Gegen die Kriminalisierung nationaler Deutscher und Niederländer – Gemeinsamer Protestmarsch“. Der Polizeipräsident Aachen verbot die Veranstaltung unter Anordnung der sofortigen Vollziehung; der dagegen gerichtete Eilantrag blieb sowohl vor dem VG Aachen10 als auch dem OVG NRW11 erfolglos. Das BVerfG stellte unter Auflagen12 die aufschiebende Wirkung wieder her und ermöglichte so die Durchführung des Protestmarsches13. Das OVG vertiefte seine in der „Fackelzug-Entscheidung“ angestellten Überlegungen und führte aus, dass die zur öffentlichen Ordnung gehörenden ungeschriebenen Regeln und Wertvorstellungen insbesondere durch die Wertmaßstäbe des Grundgesetzes geprägt werden. Zu diesen Wertmaßstäben des Grundgesetzes gehöre namentlich das der Völkerverständigung dienende verfassungsrechtliche Friedensgebot (Art. 1 Abs. 2, 24 Abs. 2, 26 Abs. 1 GG), der Grundsatz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) sowie die Strukturprinzipien der Demokratie, des Föderalismus und der Rechtsstaatlichkeit. In diesen Wertmaßstäben manifestiere sich „die nachdrückliche Absage an jegliche Form von Totalitarismus, Rassenideologie und Willkür, wie sie für das auf ,Führer und Gefolgschaft‘ gründende, von Rechtlosigkeit und Missachtung der Menschenwürde geprägte nationalsozialistische UnBVerfG, NJW 2001, 1407, 1408 / 1409. VG Aachen, Beschluss vom 22. 3. 2001, 6 L 202 / 01, unveröffentlicht. 11 OVG NRW, Beschluss vom 23. 3. 2001, 5 B 395 / 01, NJW 2001, S. 2111. 12 Insbesondere Uniformverbot und Verbot des Mitführens von Trommeln und Fahnen (außer der Bundesflagge und den Fahnen der deutschen Bundesländer). 13 BVerfG, Beschluss vom 24. 3. 2001, 1 BvQ 13 / 01, NJW 2001, S. 2069. 9
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3. Kap.: Die zwischen OVG NRW und BVerfG strittigen Fälle
rechtsregime kennzeichnend war‘‘14. Nazistische Grundgedanken seien mit dieser grundgesetzlichen Konzeption von vornherein unvereinbar und ließen sich auch nicht mit den Mitteln des Demonstrationsrechts legitimieren, da durch die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG und das in Art. 20 Abs. 4 GG normierte Widerstandsrecht einer wie auch immer gearteten Durchsetzung dieses Gedankenguts verfassungsrechtlich auf Dauer der Boden entzogen sei. „Dies legt den Schluss nahe, dass Versammlungen, die den oben dargelegten Maßstäben zuwiderlaufen, schon kraft verfassungsimmanenter Schranken vom Schutzbereich der Demonstrationsfreiheit nach Art. 5 I, 8 I GG ausgenommen sind. Jedenfalls muss der auf die Abwehr nationalsozialistischer Bestrebungen gerichteten grundgesetzlichen Werteordnung zumindest bei der Auslegung und bei der Definition des Anwendungsbereiches der öffentlichen Ordnung i.S. des § 15 VersG die verfassungsrechtlich gebotene Geltung verschafft werden“15. Die solchermaßen konkretisierte öffentliche Ordnung werde daher auch unterhalb der Grenze strafbaren Verhaltens durch solche Bestrebungen unmittelbar gefährdet, welche die nationalsozialistische Diktatur oder ihre führenden Vertreter oder Symbolfiguren verherrliche oder verharmlose. Den auf der Basis dieser Überlegungen rechtstatsächlich notwendigen Bezug zum Nationalsozialismus nimmt das OVG NRW dann für den geplanten Protestmarsch an, da der Teilnehmerkreis rechtsextremistisch geprägt sei und die Durchführung des Marsches „insbesondere bei der im Grenzgebiet ansässigen Bevölkerung Assoziationen an den Einmarsch deutscher Truppen in die Niederlande im Mai 1940 [ . . . ] weckt“16. Das BVerfG greift wie schon in der „Fackelzug-Entscheidung“ zuerst einmal die rechtstatsächlichen Bewertungen der Versammlungsbehörde und der Verwaltungsgerichte an und verneint das Vorliegen tragfähiger tatsächlicher Anhaltspunkte für eine den Nationalsozialismus verherrlichende Versammlung. Wenn der Veranstalter im Rahmen seines Selbstbestimmungsrechtes behaupte, dass auf der Veranstaltung kein neonazistisches Gedankengut vertreten werde, dann liege die Beweislast für eine „täuschende Anmeldung“ bei der Verwaltung und es sei nicht etwa eine Obliegenheit des Veranstalters, sich von entsprechenden Vorwürfen zu entlasten17. Im Unterschied zur „Fackelzug-Entscheidung“ geht das BVerfG dann aber auch auf die rechtlichen Argumente des OVG NRW ein und trägt seinerseits umfassende rechtliche Erwägungen zu den Möglichkeiten eines Versammlungsverbotes vor. Es stellt klar, dass der entscheidende Maßstab für die Beurteilung von Maßnahmen, die den Inhalt von Meinungsäußerungen beschränken, nicht das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, sondern das der Meinungsäußerungsfreiheit ist: „Eine Äußerung, die nach Art. 5 II GG nicht unterbunden werden darf, kann auch nicht Anlass für versamlungsbeschränkende Maßnahmen nach Art. 8 II GG sein“18. Und 14 15 16 17
OVG NRW, NJW 2001, S. 2111. OVG NRW, NJW 2001, S. 2111. OVG NRW, NJW 2001, S. 2111, 2112. BVerfG, NJW 2001, S. 2069, 2070.
III. Karsamstags-Demonstration in Ennepetal am 14. 4. 2001
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da die Bürger in der pluralen Demokratie des Grundgesetzes auch frei seien, grundlegende Wertungen der Verfassung in Frage zu stellen, kämen als Grenze der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 2 GG nur Strafgesetze in Betracht, die ausnahmsweise bestimmte geäußerte Inhalte verbieten, wie die §§ 185 ff. StGB (Beleidigung, Verleumdung), § 130 StGB (Volksverhetzung), § 86a StGB (Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen), §§ 90a, 90b StGB (Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole oder von Verfassungsorganen). „Daneben kommen entgegen der Auffassung des OVG zusätzliche ,verfassungsimmanente Grenzen‘ der Inhalte von Meinungsäußerungen nicht zum Tragen“19. Denn zur Abwehr kommunikativer Angriffe auf Schutzgüter der Verfassung seien besondere Strafrechtsnormen geschaffen worden und „die darin vorgesehenen Beschränkungen von Meinungsäußerungen sind jedenfalls im Hinblick auf seit langem bekannte Gefahrensituationen abschließend und verwehren deshalb einen Rückgriff auf die in § 15 I VersG enthaltene Ermächtigung zum Schutz der öffentlichen Ordnung, soweit kein Straftatbestand erfüllt ist. Der Gesetzgeber hat durch die enge Fassung der Straftatbestände zum Ausdruck gebracht, im Übrigen keinen Vorrang des Rechtsgüterschutzes gegenüber Meinungsäußerungen anzuerkennen“20. Das BVerfG kontert also das oberverwaltungsgerichtliche Argument von den verfassungsimmanenten Grenzen der Meinungsfreiheit mit dem Argument einer Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts, nach der ausschließlich strafrechtlich sanktionierte Meinungsäußerungen versammlungsrechtlich unterbunden werden können.
III. Karsamstags-Demonstration in Ennepetal am 14. 4. 2001 Eine für Karsamstag, den 14. 4. 2001 in Ennepetal angemeldete neonazistische Demonstration unter dem Motto „Gegen Kriminalisierung nationaler Patrioten“ wurde vom Polizeipräsidenten Bochum unter Anordnung der sofortigen Vollziehung verboten; das VG Arnsberg lehnte den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des gegen die Verbotsverfügung gerichteten Widerspruchs ab21, das OVG NRW wies den Antrag auf Zulassung der Beschwerde zurück22. Das BVerfG stellt die aufschiebende Wirkung wieder her und erlaubte die Demonstration unter Auflagen23. BVerfG, NJW 2001, S. 2069, 2070. BVerfG, NJW 2001, S. 2069, 2070. 20 BVerfG, NJW 2001, S. 2069, 2071. 21 VG Arnsberg, Beschluss vom 11. 4. 2001, 3 L 430 / 01, unveröffentlicht. 22 OVG NRW, Beschluss vom 12. 4. 2001, 5 B 496 / 01, unveröffentlicht. 23 BVerfG, Beschluss vom 12. 4. 2001, 1 BvQ 20 / 01. Der Beschluss ist soweit ersichtlich in der Fachliteratur nicht veröffentlicht; er findet sich aber in der Rubrik „Entscheidungen“ auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts (www.bverfg.de). 18 19
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3. Kap.: Die zwischen OVG NRW und BVerfG strittigen Fälle
Das OVG NRW versuchte in seiner Entscheidung, den Grundsatz-Konflikt seiner Ansicht von den verfassungsimmanenten Schranken der Meinungs- und Versammlungsfreiheit mit der Ansicht des BVerfG zur Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts zu vermeiden, indem es zuerst einmal den vom BVerfG in seiner Holocaust-Gedenktag-Entscheidung angesprochenen Gedanken von der besonderen Wirkung rechtsradikaler Versammlungen an bestimmten Tagen fruchtbar zu machen versucht: Der angemeldete Aufzug stelle eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung dar, weil er wegen seiner Ausrichtung den auf Frieden und Versöhnung ausgerichteten Charakter des bevorstehenden christlichen Osterfestes24 und des jüdischen Passahfestes25 missachte. Erst danach, gewissermaßen im Sinne einer Hilfsargumentation, lässt sich das OVG NRW erneut auf die Grundsatzdiskussion ein und vertritt die Ansicht, die Verbreitung neonazistischen Gedankengutes rechtfertige an jedem Tag des Jahres ein staatliches Einschreiten zum Schutz der öffentlichen Ordnung, da grundlegende soziale und ethische Anschauungen einer Vielzahl von Menschen verletzt würden. Das BVerfG lässt weder Haupt- noch Hilfsargument gelten: Oster- und Passahfest seien zwar wichtige, in langer Tradition gefestigte Feiertage der Christen und Juden; sie seien aber nicht in gleicher Weise schutzbedürftig wie der HolocaustGedenktag, welcher durch die historische, mit dem Nationalsozialismus verbundene Schuld der Deutschen gegenüber anderen Festtagen herausgehoben sei; ein Rückgriff auf die Überlegungen in der Entscheidung zum Holocaust-Gedenktag sei daher nicht möglich. Auch verkenne das OVG „die Spezialität des Gesetzes über die Sonn- und Feiertage für das Land Nordrhein-Westfalen [ . . . ] gegenüber § 15 VersG [ . . . ]. Diese Spezialregelungen schließen einen Rückgriff auf § 15 VersG insoweit aus, als es um den Schutz von Sonn- und Feiertagen vor öffentlichen Versammlungen geht“26. Und da weder der Karsamstag noch das Passahfest in den §§ 2 und 9 FeiertagsG NRW geschützt seien, komme ein Schutz dieser Tage mit den Instrumenten des Versammlungsrechts nicht in Betracht. Das BVerfG argumentiert hier also – nach seinem in der Entscheidung zum deutsch-niederländischen Protestmarsch aufgestellten Verdikt von einer Sperrwirkung des Meinungs24 Fest der Auferstehung Christi von den Toten. Um sich den engen zeitlichen Zusammenhang zwischen christlichem Osterfest und jüdischem Pessahfest deutlich zu machen, vergegenwärtige man sich, dass Jesus beim letzten Abendmahl mit seinen Jüngern das Pessahfest begeht; vgl. Matthäus 26, 17 ff.; Markus 14, 12 ff.; Lukas 22, 7 ff.; Johannes 13, 1 ff. 25 Zum Pessah (in anderer Schreibweise auch Pessach, Passah oder Pascha) siehe Leo Hirsch, Jüdische Glaubenswelt, 1966, S. 112 ff., der unter anderem ausführt: „Pessach ist das Fest der ungesäuerten Brote der Mazzot, die man im Gedenken an die ungesäuerten Brote unserer Vorfahren ißt: Der Auszug aus Ägypten musste so rasch vollzogen werden, dass zum Säuern und Gährenlassen der Brote keine Zeit mehr blieb. Nun ißt man die ganzen acht Tage des Pessachfestes kein Brot, nur Mazzot, und darf auch nichts Gesäuertes im Haus behalten, so dass eine Umstellung des ganzen Haushaltes erforderlich ist, das größte Reinemachen erfolgt und fast alles Geschirr ausgewechselt werden muss“. 26 BVerfG, Rn. 5 des in der Rubrik „Entscheidungen“ unter www.bverfg.de abrufbaren Entscheidungsabdrucks.
IV. „Nationaler Ostermarsch“ in Hagen am 16. 4. 2001
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strafrechts – mit einer Sperrwirkung des Feiertagsrechts. Anschließend bestätigt das BVerfG dann eben diese Ansicht von der Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts und führt aus, „die im Strafgesetzbuch auch zur Abwehr nationalsozialistischer Bestrebungen geschaffenen Strafnormen (insbesondere §§ 84 ff. StGB) sind abschließend in dem Sinne, dass daneben ein Verbot von Meinungsäußerungen allein wegen ihres Inhalts unter Rückgriff auf das Schutzgut der öffentlichen Ordnung ausgeschlossen ist“27.
IV. „Nationaler Ostermarsch“ in Hagen am 16. 4. 2001 Ein für Ostermontag, den 16. 4. 2001 für die Zeit von 12.00 bis etwa 17.00 Uhr beim Polizeipräsidenten Hagen angemeldeter „Nationaler Ostermarsch – Für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit“ wurde von der Versammlungsbehörde unter Anordnung der sofortigen Vollziehung verboten; das VG Arnsberg28 sowie das OVG NRW29 bestätigten diese Entscheidung. Das BVerfG stellte die aufschiebende Wirkung des gegen die Verbotsverfügung gerichteten Widerspruchs wieder her und ermöglichte so die Demonstration30. Die von OVG NRW und BVerfG vorgetragenen Argumente sind weitgehend identisch mit den Überlegungen, die von beiden Gerichten in den an den jeweils gleichen Tagen ergangenen Entscheidungen zur Karsamstags-Demonstration angestellt wurden31. Das OVG NRW betont unter Bezugnahme auf die „Holocaust-Gedenktag-Entscheidung“ des BVerfG, dass dem Osterfest in einer christlich geprägten Gesellschaft eine besondere Symbolkraft für Frieden, Versöhnung, Hoffnung und Leben zukomme, mit welcher eine neonazistische Versammlung unvereinbar sei32. Unabhängig davon würden durch das Verbreiten neonazistischen Gedankenguts grundlegende soziale und ethische Anschauungen einer Vielzahl von Menschen, namentlich der in Deutschland lebenden ausländischen und jüdischen Mitbürger, an jedem Tag des Jahres verletzt. Da die in den Art. 9 Abs. 2, 18 und 21 Abs. 2 GG als Ausprägung einer wehrhaften Demokratie auch gegen ein Wiederaufleben des Nationalsozialismus vorgesehenen Vorkehrungen in der Verfassungswirklichkeit nur in den seltensten Fällen ihre Schutzwirkung entfalten können, 27 BVerfG, Rn. 8 des in der Rubrik „Entscheidungen“ unter www.bverfg.de abrufbaren Entscheidungsabdrucks. 28 VG Arnsberg, Beschluss vom 9. 4. 2001, 3 L 400 / 01, unveröffentlicht. 29 OVG NRW, Beschluss vom 12. 4. 2001, 5 B 492 / 01, NJW 2001, S. 2113. 30 BVerfG, Beschluss vom 12. 4. 2001, 1 BvQ 19 / 01, NJW 2001, S. 2075. 31 Dies dürfte auch der Grund dafür sein, dass nur die Entscheidungen zum Nationalen Ostermarsch, nicht aber die Entscheidungen zur Karsamstags-Demonstration in der Fachliteratur publiziert wurden. 32 OVG NRW, NJW 2001, S. 2113.
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3. Kap.: Die zwischen OVG NRW und BVerfG strittigen Fälle
müsse dieser Schutz über eine entsprechende Auslegung des § 15 VersG und der Art. 5 Abs. 2, 8 Abs. 2 GG realisiert werden33. Das BVerfG hielt dem zum einen die schon dargestellte Sperrwirkung des Feiertagsrechts entgegen. Zwar sei der Ostermontag in § 2 Abs. 1 Nr. 3 FeiertagsG NRW ausdrücklich geschützt; öffentliche Aufzüge seien aber an diesem Tag gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 lit. a, Satz 4 FeiertagsG NRW nur in der Zeit von 6.00 bis 11.00 Uhr verboten. Da der Aufzug erst um 12.00 Uhr beginnen solle, stehe er zu diesen Regelungen nicht in Widerspruch; ein darüber hinausgehender Rückgriff auf § 15 VersG zum Schutz des Ostermontags vor öffentlichen Versammlungen sei ausgeschlossen34. Auch der Beschluss zum Holocaust-Gedenktag rechtfertige keine andere Bewertung, denn von einem Aufzug am Ostermontag gehe in Anbetracht der Tatsache, dass „das Osterfest traditionell Zeitpunkt auch für Aufzüge, insbesondere für die Ostermärsche der Friedensbewegung“35 sei, keine besondere Provokationswirkung aus. Darüber hinaus bekräftigt das BVerfG seine Ansicht von der Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts.
V. NPD-Demonstration in Essen am 1. 5. 2001 Für den 1. 5. 2001 meldete der NPD-Landesverband Nordrhein-Westfalen eine Versammlung unter dem Motto „Gegen Sozialdumping und Massenarbeitslosigkeit“ in der Innenstadt von Essen an. Der Polizeipräsident Essen verbot die Versammlung unter Anordnung der sofortigen Vollziehung; das VG Gelsenkirchen stellte auf Antrag des NPD-Landesverbandes die aufschiebende Wirkung wieder her36. Auf Antrag der Versammlungsbehörde ließ das OVG NRW die Beschwerde gegen den Beschluss des VG Gelsenkirchen zu und lehnte unter Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung den Eilrechtsschutzantrag ab37. Das BVerfG stellte die aufschiebende Wirkung wieder her, so dass die Demonstration stattfinden konnte38. Die regelmäßige Aufhebung der Entscheidungen des OVG NRW durch das BVerfG schien hier erste Wirkungen zu zeigen, da abweichend von den zuvor dargestellten Fällen das VG Gelsenkirchen als untere Instanz das behördliche Versammlungsverbot nicht bestätigte, sondern die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wiederherstellte. Das VG war abweichend von der Versammlungsbehörde 33 34 35 36 37 38
OVG NRW, NJW 2001, S. 2113. BVerfG; NJW 2001, S. 2075. BVerfG; NJW 2001, S. 2075, 2076. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 30. 4. 2001, 14 L 830 / 01, unveröffentlicht. OVG NRW, Beschluss vom 30. 4. 2001, 5 B 585 / 01, NJW 2001, S. 2114. BVerfG, Beschluss vom 1. 5. 2001, 1 BvQ 22 / 01, NJW 2001, S. 2076.
V. NPD-Demonstration in Essen am 1. 5. 2001
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nicht der Auffassung, dass dem 1. Mai im Bewusstsein der Essener Bevölkerung eine besondere Symbolwirkung zukomme, die angesichts der Geschehnisse zu Zeiten des Nationalsozialismus die Einschätzung rechtfertige, die Durchführung einer NPD-Versammlung an diesem Tage sei eine bewusste, den öffentlichen Frieden störende Provokation39. Das OVG NRW bekräftigt dagegen seine Auffassung, dass sich eine rechtsextremistische Ideologie wir die des Nationalsozialismus unter der Geltung des Grundgesetzes auch mit den Mitteln des Demonstrationsrechtes nicht legitimieren lasse und dass einer entsprechenden verfassungsimmanenten Beschränkung der Demonstrationsfreiheit auch unterhalb der Schwelle strafrechtlicher und verfassungsgerichtlicher Verbots- oder Verwirkungsentscheidungen Rechnung zu tragen sei. Die abweichende Rechtsprechung der 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG teile der Senat ausdrücklich nicht, denn entgegen der Überlegungen des BVerfG gehe es bei neonazistischem Gedankengut nicht um politisch missliebige Meinungen, die vom Grundrecht der Meinungsfreiheit mit geschützt seien, sondern um Anschauungen, denen das Grundgesetz selbst eine klare Absage erteilt habe und die mit grundgesetzlichen Wertvorstellungen schlechterdings unvereinbar seien. „Der Ausschluss gerade dieses Gedankenguts aus dem demokratischen Willensbildungsprozess ist ein aus der historisch bedingten Werteordnung des Grundgesetzes ableitbarer Verfassungsbelang, der geeignet ist, die Freiheit der Meinungsäußerung, bezogen und beschränkt auf dieses Gedankengut, [ . . . ] inhaltlich zu begrenzen. Dieses historische Gedächtnis der Verfassung, das in der ausdrücklichen Erwähnung der zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus erlassenen Rechtsvorschriften in Art. 139 GG seinen weiteren verfassungsrechtlichen Niederschlag gefunden hat, wird übergangen, wenn man das öffentliche Eintreten für nationalsozialistisches Gedankengut [ . . . ] wie jede andere Meinungsäußerung als Ausübung eines für die Demokratie konstituierenden Freiheitsrechts einstuft“40. Von daher komme es – entgegen der Ansicht des VG Gelsenkirchen – auch nicht darauf an, ob es sich beim 1. Mai um einen Tag mit gewichtiger Symbolkraft handele, da die grundgesetzliche Werteordnung an jedem Tag des Jahres gelte. Im Übrigen lasse der vom BVerfG insoweit verwendete Begriff der „spezifischen Provokationswirkung“ per se keinen aus der Werteordnung des Grundgesetzes ableitbaren verfassungsrechtlichen Bezug erkennen. Dass die NPD rechtsextremistische Auffassungen vertrete und „die freiheitlich 41 demokratische Grundordnung des 39 Zur Bewertung der „Symbolwirkung“ einer Demonstration am 1. Mai muss man sich die Historie dieses Tages vor Augen halten: 1888 beschloss die American Federation of Labour, den 1. Mai 1890 als sozialen „Kampftag“ zu begehen, um der Forderung nach einem 8-Stunden-Tag Ausdruck zu verleihen; 1889 dehnte der in Paris tagende Internationale Arbeiterkongress diesen Beschluss auf weitere Länder aus; 1919 wurde der Erste Mai international weitgehend anerkannter Feiertag der Arbeiterbewegung. Unter den Nationalsozialisten wurde der 1. Mai zum „Tag der nationalen Arbeit“ erklärt und für nationalsozialistische Zwecke missbraucht, namentlich als Kulisse für die pathetische Inszenierung von Paraden und Aufmärschen. 40 OVG NRW, NJW 2001, S. 2114.
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3. Kap.: Die zwischen OVG NRW und BVerfG strittigen Fälle
Grundgesetzes überwinden“ wolle, ergebe sich aus der übereinstimmenden und vom OVG NRW geteilten Ansicht von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung im NPD-Verbotsverfahren42. Das BVerfG, das wie dargestellt schon die Postulate von der Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts und der Sperrwirkung des Feiertagsrechts aufgestellt hatte, nahm die Ausführungen des OVG NRW zur Übernahme der von den genannten Verfassungsorganen im NPD-Verbotsverfahren vertretenen Einschätzungen zum Anlass, eine weitere Sperrwirkung zu betonen: die des Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG. „Das Entscheidungsmonopol des BVerfG schließt ein administratives Einschreiten gegen den Bestand einer politischen Partei schlechthin aus, mag sie sich gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung noch so feindlich verhalten. [ . . . ] Sie soll [ . . . ] in ihrer politischen Aktivität von jeder rechtlichen Behinderung frei sein, soweit sie mit allgemein erlaubten Mitteln arbeitet. [ . . . ] Folglich ist es ausgeschlossen, die Grundrechtsausübung der NPD allein mit Rücksicht darauf zu unterbinden, dass die von ihr vertretenen Inhalte vom Bundestag, vom Bundesrat, von der Bundesregierung, von einer Verwaltungsbehörde oder von einem Gericht als verfassungswidrig eingeschätzt werden oder dass ein Verbotsantrag vor dem BVerfG anhängig ist“43. Anschließend geht das BVerfG auf die vom OVG in bewusstem Widerspruch zur Kammerrechtsprechung fortgeführten Überlegungen zur verfassungsimmanenten Beschränkung der Demonstrationsfreiheit ein und wirft seinerseits dem OVG NRW vor, den Gewährleistungsgehalt der Grundrechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu verkennen. Die Kraft eines Rechtsstaates zeige sich gerade auch im Umgang mit seinen Gegnern; von daher könne außerhalb von Art. 18 und 21 GG bestimmten Parteien oder Personen nicht grundsätzlich der Schutz eines Grundrechtes abgesprochen werden. Die grundgesetzliche Absage an den Nationalsozialismus zeige sich gerade auch im Aufbau allgemeiner rechtsstaatlicher Sicherungen wie der Versammlungsfreiheit, die daher auch gegenüber Minderheiten und Gegnern gewahrt werden müssen44.
41 Sic! In der Entscheidungswiedergabe NJW 2001, S. 2114, 2115 ist tatsächlich in verkürzter Form von der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ die Rede und nicht, wie es der Wortlaut der Art. 18, 21 Abs. 2, 91 Abs. 1 GG vorgibt, von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. 42 Verfahren 2 BvB 1 / 01 (Verbotsantrag der Bundesregierung), 2 BvB 2 / 01 (Verbotsantrag des Deutschen Bundestages) und 2 BvB 3 / 01 (Verbotsantrag des Bundesrates). 43 BVerfG, NJW 2001, S. 2076, 2077. 44 BVerfG, NJW 2001, S. 2076, 2077.
VI. Rechtsextremistische Demonstration in Arnsberg am 30. 6. 2001
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VI. Rechtsextremistische Demonstration in Arnsberg am 30. 6. 2001 Eine für den 30. 6. 2001 in Arnsberg angemeldete rechtsextremistische Demonstration wurde vom Landrat Meschede als zuständiger Kreispolizeibehörde verboten. Der Eilantrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des gegen die Verbotsverfügung eingelegten Widerspruchs scheiterte beim VG Arnsberg45; der Antrag auf Zulassung der Beschwerde vor dem OVG NRW war erfolglos46. Die Entscheidung des OVG wurde rechtskräftig, da der Veranstalter abweichend zu den früheren Verfahren auf die Anrufung des BVerfG im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verzichtete und sich auf ein Klageverfahren zur Hauptsache (Fortsetzungsfeststellungsklage bezüglich des behördlichen Versammlungsverbots) beim VG Arnsberg beschränkte47. Das OVG NRW vertieft hier – ohne dass es zu einer Replik des BVerfG kommt – erneut seine Auffassung zur verfassungsimmanenten Beschränkung des Demonstrationsrechtes und zu der daraus erwachsenden Möglichkeit, Versammlungen, die durch ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus geprägt sind, wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung gemäß § 15 Abs. 1 VersG zu verbieten48. Die gegenteilige Auffassung des BVerfG wird erneut ausdrücklich abgelehnt und als argumentativ defizitär kritisiert49. So sei „die von der 1. Kammer für die Beschränkung von Meinungsäußerungen für maßgeblich gehaltene Strafbarkeitsschwelle [ . . . ] bedenklich, weil nicht die Strafgesetze abschließend über die verfassungsrechtlichen Grenzen zulässiger Meinungsäußerungen entscheiden können, sondern stattdessen die Abwägung kollidierender Verfassungsgüter die Grenzen der Strafbarkeit bestimmen“50. Die nach Ansicht des OVG relevanten verfassungsimmanenten Schranken der Meinungsäußerung seien im Schrifttum anerkannt51; das BVerfG bleibe jede Begründung dafür schuldig, wieso diese Schranken ausgerechnet bei der demonstrativen Äußerung neonazistischer Meinungsinhalte unbeachtlich seien52. Und in der Entscheidung zum Holocaust-Gedenktag ziehe das BVerfG selbst eine unterhalb der Strafbarkeitsschwelle angesiedelte „spezifische Provokationswirkung“ als Begründung für eine auf ein Verbot hinauslaufende Verschiebung der Versammlung heran. Im Übrigen stehe die Formel von der verbotsbegründenden „Provokationswirkung“ im Widerspruch zur Rechtsprechung des VG Arnsberg, Beschluss vom 20. 6. 2001, 3 L 715 / 01, unveröffentlicht. OVG NRW, Beschluss vom 29. 6. 2001, 5 B 832 / 01, NJW 2001, S. 2986. 47 Vgl. die Darstellung bei Bertrams, Festschrift für Arndt, 2002, S. 19, 30 Anm. 41. 48 OVG NRW, NJW 2001, S. 2986. 49 OVG NRW, NJW 2001, S. 2986, 2987. 50 OVG NRW, NJW 2001, S. 2986, 2987. 51 Das OVG NRW verweist hier auf Schulze-Fielitz, Art. 5 Rn. 121 ff., in: Horst Dreier, GG, Bd. I, 1996. 52 OVG NRW, NJW 2001, S. 2986, 2987. 45 46
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3. Kap.: Die zwischen OVG NRW und BVerfG strittigen Fälle
Ersten Senats des BVerfG zur Strafbarkeit provozierender Meinungsäußerungen, wie sie namentlich in der „Soldaten-sind-Mörder“-Entscheidung niedergelegt sei53, denn „dass eine Aussage polemisch und verletzend formuliert ist, entzieht sie nicht schon dem Schutzbereich des Grundrechts“54.
VII. Rechtsextremistische Demonstration in Arnsberg am 13. 4. 2002 Eine für den 13. 4. 2002 ebenfalls in Arnsberg angemeldete Demonstration wurde vom Landrat Meschede als zuständiger Kreispolizeibehörde erneut verboten. Abweichend zum vorherigen Sachverhalt gab hier das VG Arnsberg dem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung statt; das OVG NRW hob auf die Beschwerde der Versammlungsbehörde hin diese Entscheidung auf und bestätigte die Verbotsverfügung55. Das BVerfG stellte auf Antrag des Versammlungsveranstalters im Wege der einstweiligen Anordnung die aufschiebende Wirkung des gegen die Verbotsverfügung eingelegten Widerspruchs wieder her, so dass die Demonstration stattfinden konnte56. Das OVG NRW bewertet die Versammlung als Tarnveranstaltung der „Sauerländer Aktionsfront“ und des „Siegener Bärensturms“57 und folgert daraus, dass wie bei früheren Veranstaltungen dieser Organisationen mit Straftaten nach den §§ 86, 86a und 130 StGB zu rechnen und damit ein Versammlungsverbot zum Schutz der öffentlichen Sicherheit zulässig sei. Unabhängig davon könne die Versammlung auch wegen unmittelbarer Gefährdung der öffentlichen Ordnung verboten werden. Das BVerfG teilt unter Darlegung der entsprechenden Gründe die Bewertung der Versammlung als Tarnveranstaltung nicht und stellt weiterhin – unter Hinweis auf seine Ausführungen im Brokdorf-Beschluss58 und die dargestellten vorherigen Kammerentscheidungen – fest, dass ein Versammlungsverbot auf eine bloße Gefahr für die öffentliche Ordnung nicht gestützt werden könne.
BVerfGE 93, 266. BVerfGE 93, 266, 289. 55 OVG NRW, Beschluss vom 10. 4. 2002, 5 B 620 / 02, unveröffentlicht; vgl. aber die Pressemitteilung des OVG NRW vom 10. 4. 2002 zu dieser Entscheidung; zu finden auf der Homepage des Gerichtes: www.ovg.nrw.de in der Rubrik „Presse“. 56 BVerfG, Beschluss vom 11. 4. 2002, 1 BvQ 12 / 02. Der Beschluss ist veröffentlicht auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts www.bverfg.de in der Rubrik „Entscheidungen“. 57 In der Pressemitteilung des OVG NRW vom 10. 4. 2002 ist fälschlicherweise vom „Sauerländer Bärensturm“ die Rede; gemeint ist aber der „Siegener Bärensturm“. 58 BVerfGE 69, 315, 353. 53 54
4. Kapitel
Analyse der materiellen Argumente beider Gerichte Im Folgenden sollen nun die zuvor skizzierten und in chronologischer Reihenfolge präsentierten Argumente der beiden Gerichte näher betrachtet und auf ihre Tragfähigkeit hin untersucht werden; beginnend mit den grundlegenden prinzipiellen Erwägungen und endend mit den spezielleren.
I. Das Argument von der verfassungsimmanenten Beschränkung der Demonstrationsfreiheit Das OVG NRW leitet in seiner Entscheidung zum deutsch-niederländischen Protestmarsch1 aus den Wertmaßstäben des Grundgesetzes, nämlich – dem der Völkerverständigung dienenden Friedensgebot (Art. 1 Abs. 2, Art. 24 Abs. 2 und Art. 26 Abs. 1 GG) – der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) – und den in Art. 20 GG niedergelegten Strukturprinzipien der Demokratie, des Föderalismus und der Rechtsstaatlichkeit
eine nachdrückliche Absage des Grundgesetzes an jede Form von Totalitarismus, Rassenideologie und Willkür ab, wie sie für das nationalsozialistische Unrechtsregime kennzeichnend war. Mit dieser grundgesetzlichen Konzeption seien „nationalsozialistische Grundgedanken von vornherein unvereinbar“ und dementsprechend seien Versammlungen, die den oben dargestellten Wertmaßstäben zuwiderlaufen, „schon kraft verfassungsimmanenter Schranken vom Schutzbereich der Demonstrationsfreiheit nach Art. 5 I, 8 I GG ausgenommen“. Dieser Ansatz des OVG NRW leidet zuerst einmal schon an einer kleineren systematischen Ungenauigkeit: Das OVG verzichtet auf die notwendige präzise Klärung, ob das Verbot einer neonazistischen Versammlung wegen des vertretenen Gedankengutes am Maßstab des Art. 8 oder des Art 5 GG zu messen ist und spricht pauschal von der „Demonstrationsfreiheit nach Art. 5 I, 8 I GG“. Das BVerfG arbeitet hier deutlich präziser, was an späterer Stelle noch gezeigt werden wird, und 1
NJW 2001, S. 2111.
3 Röger
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4. Kap.: Analyse der materiellen Argumente beider Gerichte
stellt bezüglich des auf einer Demonstration vertretenen Gedankengutes zutreffend auf Art. 5 Abs. 1 GG ab. Weiterhin verwischt das OVG NRW in systematischer oder zumindest terminologischer Hinsicht den dogmatischen Unterschied zwischen der Frage, ob ein bestimmtes Verhalten von vornherein aus dem Schutzbereich eines Grundrechtes herausgenommen ist und damit seine staatliche Reglementierung keiner spezifisch grundrechtsbezogenen Rechtfertigung mehr bedarf2 oder ob das Verhalten zwar vom Schutzbereich erfasst, aber kraft rechtfertigungsbedürftiger verfassungsimmanenter Beschränkung reglementiert werden kann. Die Aussage, ein bestimmtes Verhalten sei „kraft verfassungsimmanenter Schranken vom Schutzbereich der Demonstrationsfreiheit . . . ausgenommen“, ist insoweit eigenwillig. Diese – möglicherweise auch nur terminologische3 – Eigentümlichkeit mag jedoch dahinstehen, wenn denn in der Sache die Überlegungen des OVG NRW überzeugen. Hierzu sollen beide Varianten – die der Schutzbereichsausnahme und die der verfassungsimmanenten Schranke – einmal näher betrachtet werden: Das Modell der Schutzbereichsausnahme, also des ausdrücklichen negativen „Herausdefinierens“ eines bestimmten Verhaltens aus dem Schutzbereich eines Grundrechtes, ist die verfassungsrechtliche Ausnahme, die aber gerade dem Versammlungsrecht nicht fremd ist: Das Merkmal der Friedlichkeit und Waffenlosigkeit in Art. 8 Abs. 1 GG wird vom BVerfG in seiner Brokdorf-Entscheidung als „Vorbedingung für die Gewährleistung der Versammlungsfreiheit“ definiert, vice versa wird die unfriedliche Demonstration als „von der Gewährleistung des Art. 8 GG überhaupt nicht erfasst“ angesehen4. Voraussetzung für die Zulässigkeit einer solchen tatbestandlichen Ausgrenzung neonazistischer Versammlungen aus dem Schutzbereich der Demonstrationsfreiheit mit der Folge, dass bei Anwendung des § 15 VersG auf rechtsradikale Versammlungen die besondere Bedeutung der Demonstrationsfreiheit nicht mehr zu beachten wäre5, ist jedoch eine ausdrückliche und klare Verfassungsbestimmung, die in ihrer Deutlichkeit dem Friedlichkeitsund Waffenlosigkeitsvorbehalt in Art. 8 Abs. 1 GG vergleichbar ist6. An einer sol-
2 Davon unberührt bleibt die Frage, ob die staatliche Reglementierung aufgrund des demokratischen Parlamentsvorbehaltes einer normativen Grundlage bedarf. Demokratischer Parlamentsvorbehalt und rechtsstaatlich-grundrechtlicher Gesetzesvorbehalt sind zwei verschiedene Dinge. 3 Auch das BVerfG schwankt insoweit in seinen Formulierungen. Vgl. dazu die zutreffende Kritik von Pieroth / Schlink, Grundrechte, 18. Aufl. 2002, § 6 V Rn. 328: „Mal klingt seine [gemeint: die des BVerfG] Berufung auf kollidierendes Verfassungsrecht mehr nach Begrenzung eines Schutzbereichs, mal mehr nach Rechtfertigung eines Eingriffs.“ 4 BVerfGE 69, 315, 360. 5 Vorbehaltlich ihrer genauen Verortung in Art. 8 und Art. 5. 6 Dies fordert auch Sachs, „Denn heute da hört uns Deutschland . . . ?“ Grenzen der Versammlungsfreiheit in der wehrhaften Demokratie, Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 8. Mai 2002, abgedruckt im Internet unter www.uni-koeln.de / jurfak / lassv / Dokumente / Aktuelles / Versammlungsrede.htm (Stand: 12. 10. 2002) und vor-
I. Das Argument von der Beschränkung der Demonstrationsfreiheit
35
chen Bestimmung fehlt es aber, so dass ein schon tatbestandlicher Ausschluss rechtsradikaler Versammlungen aus dem verfassungsrechtlichen Schutz der Demonstrationsfreiheit nicht angenommen werden kann. Vom systematischen Ansatz her allenfalls vertretbar erscheint daher die Erwägung, die oben genannten Verfassungsnormen mit ihrem der Völkerverständigung dienenden Friedensgebot, ihrem Bekenntnis zur Menschenwürde sowie den Strukturprinzipien der Demokratie, des Föderalismus und der Rechtsstaatlichkeit als verfassungsimmanente Begrenzung eines prinzipiell gegebenen Grundrechtsschutzes anzusehen. Hier übersieht das OVG NRW dann aber das systematische Folgeproblem, dass es höchst strittig ist, ob verfassungsimmanente Schranken überhaupt auf Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt (wie hier Art. 5 Abs. 2 GG) angewendet werden können. Denn die Lehre vom kollidierenden Verfassungsrecht als verfassungsimmanente Beschränkung grundrechtlicher Freiheiten wurde namentlich vom Bundesverfassungsgericht entwickelt in Bezug auf textlich schrankenlos gewährte Grundrechte7; ob und unter welchen Voraussetzungen verfassungsimmanente Schranken auch als Begrenzung solcher Grundrechte herangezogen werden können, die unter einem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt stehen, wird höchst unterschiedlich bewertet. Die eine Ansicht8 lehnt in m.E. systematisch überzeugender Weise eine solche Ausdehnung der Lehre von den verfassungsimmanenten Schranken konsequent ab, da sie weder erforderlich noch zulässig ist. Nicht erforderlich ist sie, weil die einschränkenden Rechtspositionen in dem durch die ausdrückliche Grundrechtsschranke legitimierten Gesetz präzisiert sind; nicht zulässig ist sie, weil eine unmittelbare Ableitung weiterer oder anderer Grundrechtsschranken unmittelbar aus der Verfassung durch den Rechtsanwender (hier: das OVG NRW) eine Umgehung des Willens des Verfassungsgebers darstellt. So sehr bei textlich vorbehaltlos gewährten Grundrechten eine aus Gründen der Einheit der Verfassung unumgängliche Beschränkungsmöglichkeit vonnöten und mit Hilfe verfassungsimmanenter Schranken als ultima ratio9 dogmatisch realisierbar ist, so sehr sind bei schrankengesehen als Beitrag für Grupp / Sachs / Tettinger / Röger (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Joachim Burmeister, 2004. 7 Vgl. zur Entwicklung der Rechtsprechung m. w. N. Sachs, in: Klaus Stern, Staatsrecht Bd. III / 2, 1994, § 81 S. 550 ff. 8 Allgemein zur Unanwendbarkeit der Lehre von den verfassungsimmanenten Schranken auf Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt Pieroth / Schlink, Grundrechte, 18. Aufl. 2002, § 6 V Rn. 330 ff., insbes. Rn. 331; Friedrich Schoch, Staatliche Informationspolitik und Berufsfreiheit, DVBl. 1991, S. 667, 671 f.; zur Unanwendbarkeit verfassungsimmanenter Schranken gerade bei Art. 5 Abs. 1 siehe Herbert Bethge, Art. 5 Rn. 176, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003. 9 Bei der Anerkennung von Verfassungswerten, die eine „verfassungsimmanente“ Beschränkung vorbehaltlos gewährter Grundrechtspositionen erlauben, ist Zurückhaltung geboten, da ansonsten die „verfassungsimmanente Beschränkung“ zur kleinen Münze verkommt, die – wie es Pieroth / Schlink treffend formulieren – „billig zu haben“ ist (Pieroth / Schlink, Grundrechte, 18. Aufl. 2002, § 6 V Rn. 328). Zur Bedenklichkeit der Herleitung verfassungs3*
36
4. Kap.: Analyse der materiellen Argumente beider Gerichte
bewehrten Freiheitsrechten die ausdrücklich normierten Schranken und die in Ausfüllung dieser Schranken erlassenen gesetzlichen Regelungen abschließend und ausreichend, um anderen Verfassungswerten Geltung zu verschaffen10. „Vor diesem systematischen Hintergrund ist es [ . . . ] ausgeschlossen, dass neben Art. 5 II zusätzlich kollidierende Grundrechte Dritter oder andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte zur Begrenzung der Rechte des Art. 5 I herangezogen werden“11. Unter Zugrundelegung dieser verfassungssystematisch überzeugenden Ansicht ist die Auffassung des OVG NRW von der verfassungsimmanenten Beschränkung des in Art. 5 Abs. 2 GG mit einem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt versehenen Grundrechts auf demonstrative Meinungsäußerung per se nicht haltbar. Die gegenteilige und wohl überwiegende Ansicht12 schließt die Anwendung verfassungsimmanenter Schranken auch bei Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt nicht prinzipiell aus. Würde man dieser Ansicht folgen, müsste allerdings folgende kollisionsrechtliche Überlegung beachtet werden: Dogmatische Grundvoraussetzung für die Anerkennung verfassungsunmittelbarer Grundrechtsbegrenzungen ist ein unvermeidlicher Normwiderspruch zwischen der Grundrechtsnorm und der ihr entgegenstehenden anderen Verfassungsnorm13. Ob aber ein solcher Normwiderspruch überhaupt besteht, muss bei einem unter Gesetzesvorbehalt stehenden Grundrecht zuerst einmal durch Anwendung der verfassungsrechtlich ausdrücklich vorgesehenen Schranke und der in einfachgesetzlicher Ausfüllung des Gesetzesvorbehalts erlassenen Normen überprüft werden; allenfalls nachrangig zu diesen einfachgesetzlichen Konkretisierungen kann dann – wenn man dieser Ansicht folgt – noch das letzte Hilfsmittel der verfassungsimmanenten Beschränkung eines Grundrechtes mit Gesetzesvorbehalt herangezogen werden14. Schließt man also immanenter Schranken aus grundgesetzlichen Kompetenzvorschriften siehe das Sondervotum von Mahrenholz und Böckenförde, BVerfGE 69, 1, 57, 59 ff. 10 Herbert Bethge, Art. 5 Rn. 176, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003. 11 Herbert Bethge, Art. 5 Rn. 176, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003 sowie allgemein zur Problematik Pieroth / Schlink, Grundrechte, 18. Aufl. 2002, § 6 V Rn. 330 ff., insbes. Rn. 331; Friedrich Schoch, Staatliche Informationspolitik und Berufsfreiheit, DVBl. 1991, S. 667, 671 f. 12 Die gegenteilige Ansicht von der Anwendbarkeit verfassungsimmanenter Schranken auch auf Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt klingt an bei BVerfGE 66, 116, 136 und wird ausdrücklich vertreten von BVerwGE 87, 37, 46 (sehr kritisch zu dieser Entscheidung Schoch, DVBl. 1991, S. 667, 671, der von einem „rechtsdogmatischen Chaos bislang nicht für möglich gehaltenen Ausmaßes“ spricht); Schmidt-Jortzig, § 141 Rn. 46, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR VI; konkret zur verfassungsimmanenten Beschränkung von Art. 5 Abs. 1 GG siehe Herzog, Art. 5 Abs. I, II Rn. 293, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, GG; SchulzeFielitz, Art. 5 I, II Rn. 121, in: Dreier, GG, Band I, 1996; Jarass, Art. 5 Rn. 65, in: Jarass / Pieroth, GG, 6. Aufl. 2002. 13 Sachs, in: Klaus Stern, Staatsrecht III / 2, § 81, S. 559. 14 Dies wird auch von den Vertretern der Ansicht, dass verfassungsimmanente Schranken auf Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt anwendbar sind, gefordert; vgl. Schulze-Fielitz, Art. 5
II. Das Argument von der Gefährdung der öffentlichen Ordnung
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die Anwendung verfassungsimmanenter Schranken bei dem unter dem ausdrücklichen Schrankenvorbehalt des Art. 5 Abs. 2 GG stehenden Grundrecht der Meinungsfreiheit nicht von vornherein aus, so hätte das OVG NRW aber doch verdeutlichen müssen, wieso die Kollision zwischen der demonstrativen Äußerung rechtsradikalen Gedankenguts und den vom OVG herangezogenen Verfassungswerten nicht unter Anwendung der Schranke des Art. 5 Abs. 2 GG und des als Ausfüllung dieser Schranke interpretierbaren einfachen Rechts gelöst werden kann. Insofern sei an dieser Stelle schon auf den 5. Teil dieser Untersuchung verwiesen, in welchem der Versuch unternommen wird, § 15 VersG als ehrenschützende und damit von der Grundrechtsschranke des Art. 5 Abs. 2 GG getragene Norm zu aktivieren – was dann auch bei Zugrundelegung der Ansicht von der Anwendbarkeit verfassungsimmanenter Schranken auf Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt den unmittelbaren Rückgriff auf die immanenten Verfassungswerte sperren würde. Geht man mit der m.E. systematisch überzeugenderen Ansicht davon aus, dass bei Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt per se kein Raum für die Heranziehung selbständiger, daneben stehender verfassungsimmanenter Schranken verbleibt, so ist die Argumentation des OVG NRW von vornherein unvertretbar.
II. Das Argument von der Gefährdung der öffentlichen Ordnung Das OVG NRW hat seine Entscheidungen wie dargestellt aber nicht nur auf (bedenkliche) verfassungsimmanente Schranken, sondern auch auf das als allgemeines Gesetz von der ausdrücklichen Schrankenregelung des Art. 5 Abs. 2 GG gedeckte Versammlungsgesetz gestützt und ausgeführt: „Jedenfalls muss der auf die Abwehr nationalsozialistischer Bestrebungen gerichteten grundgesetzlichen Werteordnung zumindest bei der Auslegung und bei der Definition des Anwendungsbereiches der öffentlichen Ordnung i.S. des § 15 VersG die verfassungsrechtlich gebotene Geltung verschafft werden“15. Dem OVG NRW ist insoweit beizupflichten, als tatsächlich die verfassungskonforme Interpretation der vom Schrankenvorbehalt des Art. 5 Abs. 2 GG gedeckten Gesetze und hier in Sonderheit die verfassungskonforme Interpretation des § 15 VersG die systematische überzeugende Art ist, um die zuvor skizzierten Wertvorstellungen des Grundgesetzes in die Bewertung der Verbotsmöglichkeiten für rechtsradikale Versammlungen einfließen zu lassen. Dem OVG NRW ist auch insoweit beizupflichten, als es im Rahmen des § 15 VersG auf das Schutzgut der
I. II Rn. 121, in: Dreier, GG, Bd. I 1996; Jarass, Art. 5 Rn. 65, in: Jarass / Pieroth, GG, 6. Aufl. 2002. 15 OVG NRW, NJW 2001, 2111 (deutsch-niederländischer Protestmarsch).
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4. Kap.: Analyse der materiellen Argumente beider Gerichte
öffentlichen Ordnung und nicht das der öffentlichen Sicherheit16 abstellt, da rechtsradikale Versammlungen regelmäßig nicht gegen die einschlägigen Strafrechtsnormen17 verstoßen oder in sonstiger Weise gewalttätig verlaufen – wobei es unerheblich ist, ob die damit begründete Friedlichkeit und Straflosigkeit der Demonstrationen ihre Grundlage in bloßem „politischen Kalkül“ hat, wie zum Teil kritisch vorgetragen wird, denn weder der Friedlichkeitsvorbehalt des Art. 8 Abs. 1 GG noch die Schranke der öffentlichen Sicherheit in § 15 VersG stellt auf die Motivationslage der Versammlungsteilnehmer ab; entscheidend ist, dass es nicht zu Rechtsverstößen insbesondere strafrechtlicher Art kommt18. Wenn die Ausführungen des OVG NRW zum Verbot rechtsradikaler Versammlungen wegen einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung gleichwohl nicht überzeugen können, dann aus folgenden Gründen:
1. Die Ausfüllung des Begriffs der „öffentlichen Ordnung“ mit Wertvorstellungen der geschriebenen Verfassungsrechtsordnung Der erste Einwand muss erneut systematischer Natur sein. Wenn das OVG NRW wie zitiert ausführt, dass der „grundgesetzlichen Werteordnung bei der Auslegung und bei der Definition des Anwendungsbereiches der öffentlichen Ordnung . . . die verfassungsrechtlich gebotene Geltung verschafft werden“ müsse19 und wenn es dies in anderen Entscheidungen mehrfach ergänzt um die Aussage, dass „die jeweils herrschenden Anschauungen [ . . . ] insbesondere geprägt [werden] durch die Wertmaßstäbe des Grundgesetzes“20, so leugnet das OVG NRW die polizeirechtlich tradierte und letztendlich bis auf das Preußische OVG21 rückführbare
16 Nach der gängigen Definition umfasst das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit den Bestand des Staates und seiner Einrichtungen, die Individualrechtsgüter sowie die geschrieben Rechtsordnung insgesamt. 17 Namentlich § 86 StGB (Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen), § 86a StGB (Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) und § 130 StGB (Volksverhetzung). 18 Wesentlich problematischer sind insoweit die oftmals von gewaltbereiten so genannten „autonomen Blocks“ durchsetzten Veranstaltungen linker Gegendemonstranten. 19 OVG NRW, NJW 2001, 2111. 20 OVG NRW, Beschluss vom 25. 1. 2001, 5 B 115 / 01, DVBl. 2001, S. 584; im Entscheidungsabdruck DÖV 2001, S. 649 ist diese entscheidende Passage leider nicht wiedergegeben. In die gleiche Richtung gehen in der Literatur beispielsweise Battis / Grigoleit, Neue Herausforderungen für das Versammlungsrecht?, NVwZ 2001, S. 121, 128: „Vielmehr kennzeichnet die öffentliche Ordnung den Grundkonsens der sich in der Rechtsordnung als der Summe des positiven Rechts niedergeschlagen hat . . .“ (Sic; fehlende Interpunktion im Original). 21 Die Gefahrenabwehrgesetze der Nachkriegszeit knüpfen an relativ fest umrissene Begriffsinhalte des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes von 1931 an. Die Auslegung des dort verankerten § 14 PrPVG entsprach wiederum der langjährigen Rechtsprechung des PrOVG zu
II. Das Argument von der Gefährdung der öffentlichen Ordnung
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saubere Trennung zwischen der öffentlichen Sicherheit als dem Inbegriff der geschriebenen Rechtsordnung und der öffentlichen Ordnung als den ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen unerlässliche Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben innerhalb der Gemeinschaft sind22. Der Begriff der öffentlichen Ordnung stellt auf ungeschriebene gesellschaftliche Vorstellungen ab; eine „verfassungsrechtliche Aufladung“ dieses Begriffs führt dazu, dass sich die Wertvorstellungen, die man den geschriebenen Grundgesetznormen entnehmen zu können glaubt, „wie Mehltau . . . über die auf gesellschaftliche Vorstellungen verweisenden Klauseln“ legen23, die damit ihres eigentlichen Sinns beraubt werden. Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass nur eine Bestimmung der herrschenden (ungeschriebenen) Anschauungen aus der (geschriebenen) Verfassungsordnung heraus eine missbräuchliche Instrumentalisierung der Formel von der öffentlichen Ordnung verhindere, die ansonsten als kleine Münze zur Begründung nahezu beliebiger Wertvorstellungen herhalten könne24. Denn „nach unten hin“ kann der Begriff der öffentlichen Ordnung gegen einen Missbrauch als zu kleine Münze dadurch abgesichert werden, dass man sein Tatbestandsmerkmal der „unerlässlichen Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben“ ernst nimmt25. Beliebige Auffassungen von Kleingruppen, die in einem „provinziellen Kontext“ möglicherweise als „herrschend“ angesehen werden müssen, werden dadurch noch lange nicht zur „öffentlichen Ordnung“, solange nicht nachgewiesen ist, dass ihre Einhaltung tatsächlich „unerlässlich“ für das Zusammenleben der davon Betroffenen ist – ein Nachweis, der bei bloßen „Lästigkeiten“ oder „Ungehörigkeiten“ in aller Regel nicht gelingen dürfte. Und auch „nach oben hin“ besteht ebenfalls nicht die Gefahr einer Pervertierung der öffentlichen Ordnung: Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich in einem entsprechenden subkulturellen, durch besondere persönlich-geographische Verbundenheiten gekennzeichneten Umfeld pervertierte Wertvorstellungen als herrschend durchsetzen26; diese geraten aber – zumindest dann, wenn es um we-
§ 10 II 17 PrALR. Vgl. dazu: Rainer Störmer, Renaissance der öffentlichen Ordnung?, Die Verwaltung 1997 (Bd. 30), S. 233, 244 f. Zur Historie des Polizeibegriffes insgesamt vgl. Bill Drews / Gerhard Wacke / Klaus Vogel / Wolfgang Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1996, S. 1 ff.; zur Historie des Schutzguts der öffentlichen Ordnung dies., a. a. O. S. 245 ff. 22 Vgl. statt vieler Everhardt Franssen, Der Einfluss des Verfassungsrechts auf die Auslegung der polizei- und ordnungsrechtlichen Generalklausel, in: Otto Bachof / Ludwig Heigl / Konrad Redeker (Hrsg.), Verwaltungsrecht zwischen Freiheit, Teilhabe und Bindung. Festgabe aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesverwaltungsgerichts, 1978, S. 201, 203 m. w. N. 23 Hans-Werner Laubinger / Ulrich Repkewitz, Die Versammlung in der verfassungs- und verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, VerwArch Bd. 93 (2002), S. 149, 166 f. 24 Vgl. zu der nicht zu leugnenden ideologischen Anfälligkeit des Begriffs der öffentlichen Ordnung Störmer, Die Verwaltung 1997, S. 233, 256 f. 25 So auch Laubinger / Repkewitz, VerwArchiv 2002 (Bd. 93), S. 149, 165.
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sentliche Wertvorstellungen geht – in Konflikt mit der geschriebenen Rechtsordnung, die bestimmte Verhaltensweisen sanktioniert; gleich ob die Täter von der „sozialen Legitimität“ ihres Verhaltens überzeugt sind oder nicht. Von daher lässt sich der nicht völlig zu leugnenden Gefahr einer „Instrumentalisierung“ der öffentlichen Ordnung in beide Richtungen hin begegnen, so dass es auch insoweit keiner Auslegung der ungeschriebenen Wertmaßstäbe an Maßstab der geschriebenen Werteordnung bedarf und die dadurch eintretende Verwischung der entsprechenden polizeirechtlich tradierten Trennlinie durch das OVG NRW nicht gerechtfertigt ist. Festzustellen ist insoweit, dass diese fehlende Differenzierung zwischen (geschriebener) öffentlicher Sicherheit und (ungeschriebener) öffentlicher Ordnung durch den 5. Senat des OVG NRW allerdings keineswegs neu ist; neu ist lediglich die Anwendung der „Werteformel“ auch auf versammlungsrechtliche Fälle. Die Formel, dass die jeweils herrschenden Anschauungen im Sinne der „öffentlichen Ordnung“ vor allem geprägt seien durch die geschriebenen Wertmaßstäbe des Grundgesetzes, hat der 5. Senat schon mehrfach im Rahmen seiner innergerichtlichen Zuständigkeiten für Sachverhalte des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts27 angewendet, insbesondere in den so genannten „Laserdrome-Entscheidungen“ aus den Jahren 1995 und 200028. Auch in der berühmten Entscheidung zur ordnungsrechtlichen Unzulässigkeit des Hissens der Reichskriegsflagge auf einem im dicht bebauten Stadtbereich liegenden Grundstück aus dem Jahre 1994 findet sich die nämliche Formulierung29. Berufen konnte und kann sich der 5. Senat des OVG NRW dabei auf die eher berüchtigte als berühmte erste Peepshow-Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 198130, bei dem das BVerwG den eigentlich auch am Maßstab von sozialethischen Wertvorstellungen auszulegenden Begriff der „guten Sitten“ („Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“) im Sinne des § 33a Abs. 2 Nr. 2 GewO am Maßstab der Werteordnung des Grundgesetzes ausrichtete. Von daher ist die in der versammlungsrechtlichen Literatur31 kritisierte „Werteformel“ des OVG NRW alles andere als neu; neu ist lediglich ihre Anwendung auf 26 Man denke nur an die vereinzelt aus der Presse bekannt werdenden Sachverhalte, in denen es in satanistischen oder pädophilen Subkulturen zu Körperverletzungs-, Missbrauchs-, und sogar Tötungshandlungen kam, die in den jeweiligen Gruppen als „legitim“ oder sogar geboten angesehen wurden. 27 Vgl. z. B. den Geschäftsverteilungsplan 2000 des OVG NRW, S. 8 Ziff. 8 und 9. 28 OVG NRW, NWVBl. 1995, S. 473, 474; OVG NRW, NWVBl. 2001, S. 94, 95. In diesen Entscheidungen ging es um das ordnungsbehördliche, auf § 14 OBG NRW gestützte Verbot von Laserdromen, in denen Spieler mit pistolenartigen Laserzielgeräten auf feststehende Ziele oder Gegenspieler schießen. 29 OVG NRW, NJW 1994, S. 2909, 2910. 30 BVerwGE 64, 274, 277. 31 Vgl. z. B. Dieter Wiefelspütz, Versammlungsrecht und öffentliche Ordnung, KritV 2002, S. 19, 31; Laubinger / Repkewitz, VerArch 2002 (Bd. 93), S. 149, 166.
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versammlungsrechtliche Fälle. Diese Ausdehnung des Anwendungsbereiches ist nun aber keineswegs auf spektakuläre rechtliche Erwägungen zurückzuführen, sondern schlicht und wenig ergreifend auf die Tatsache, dass mit Wirkung zum 1. 1. 2001 ein geänderter Geschäftsverteilungsplan beim OVG NRW in Kraft trat, der versammlungsrechtliche Sachverhalte nun aus der Zuständigkeit des 11. Senats in die des 5. Senate verweist. Und dass der 5. Senat dann seine aus dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht bekannte Formel auch auf die nun von ihm zu entscheidenden versammlungsrechtlichen Sachverhalte anwendet, kann nicht überraschen – es kann aber zugleich auch nicht überzeugen: Wer die öffentliche Ordnung aus den normierten grundgesetzlichen Wertmaßstäben heraus definiert, verwischt die Grenzen zwischen empirisch zu klärender Tatfrage (Was sind die herrschenden Sozialnormen?)32 und Rechtsfrage (Was sind die in der Verfassung niedergelegten Wertmaßstäbe?). Die schlichte Behauptung, dass die herrschenden sozialethischen Anschauungen im Sinne der öffentlichen Ordnung durch die normierten Wertmaßstäbe der Verfassung geprägt sind, beruht auf einem Fehlschluss vom „Sollen“ aufs „Sein“33, vom theoretischen „Wollen“ des Rechts auf sein faktisches „Wirken“. So problematisch im Einzelfall die Klärung der „Tatfrage“ nach den herrschenden Sozialnormen sein mag34, so wenig können diese aus Gründen der Vereinfachung und praktischeren Handhabbarkeit kurzerhand mit den geschriebenen Sollensvorgaben der geschriebenen Werteordnung gleichgesetzt werden. Dies schließt es selbstverständlich nicht aus, den Begriff der öffentlichen Ordnung von Seiten des Gesetzgebers wegen der Schwierigkeiten seiner inhaltlichen Ausfüllung abzuschaffen – solange der Gesetzgeber wie beispielsweise in § 15 Abs. 1 VersG diesen Begriff aber bewusst verwendet, ist es unzulässig, ihn seitens der Exekutive oder Judikative durch Auslegung am Maßstab der geschriebenen Rechtsordnung praktisch abzuschaffen. Zu bedenken ist weiterhin folgendes: Eine unmittelbare Ableitung der öffentlichen Ordnung aus der Verfassung führt zu der paradoxen Situation, dass die öffentliche Ordnung an höherrangige (nämlich verfassungsrechtliche) Schutzgüter gebunden ist als die (auch das einfache Recht umfassende) öffentliche Sicherheit. Aufgrund der damit einhergehenden Ausschaltung des für die Schaffung der geschriebenen Rechtsordnung zuständigen Gesetzgebers mutieren die grundrechtlichen Wertmaßstäbe zu unmittelbaren polizeirechtlich-exekutiven Eingriffstiteln35. 32 Wobei nicht verkannt werden soll, dass eine nachvollziehbare methodische (beispielsweise demoskopische) Klärung dieser Frage durchaus problematisch sein kann. 33 Störmer, Die Verwaltung 1997, S. 247 und 247. 34 So mag man sich fragen, ob die herrschenden Sozialnormen „aus sich selbst heraus“ erkennbar werden oder ob sie erst im Wege demoskopischer Untersuchungen festgestellt werden können, bei denen sich dann die Frage nach dem für die Verbindlichkeit des Ergebnisses wesentlichen Aspekt des methodischen Vorgehens stellt. 35 Wolfram Höfling, „Bettelfreie“ Innenstadtbereiche? Oder: Von den Untiefen des Polizeiund Straßenrechts, Die Verwaltung 2000 (Bd. 33), S. 207, 211; Störmer, Die Verwaltung 1997 (Bd. 30), S. 233, 251.
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Schließlich darf auch eines nicht übersehen werden: Durch eine aus normierten Wertmaßstäben erfolgende Definition der öffentlichen Ordnung wird nicht nur eine für das deutsche Gefahrenabwehrrecht tradierte und bewährte Aufteilung zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Rechts- und Schutzgütern aufgegeben; es werden darüber hinaus auch Friktionen zu internationalen und europarechtlichen Regelungen provoziert: So differenziert die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)36 sowohl in ihrem Art. 10 (Freiheit der Meinungsäußerung) als auch ihrem Art. 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) zwischen Einschränkungsmöglichkeiten zum Schutze der öffentlichen Sicherheit und solchen zur Aufrechterhaltung der Ordnung37 und Moral38. Und über Art. 6 Abs. 2 EU-Vertrag in Verbindung mit Art. 46 lit. d EU-Vertrag werden diese und andere Grundrechte der EMRK zu justiziablen Größen innerhalb des Gemeinschaftsrechtes – wobei allerdings zu konstatieren ist, dass abweichend zur völkerrechtlichen Anwendung der EMRK mit ihrem Institut der umfassenden Individualbeschwerde gegen staatliche Verletzung der Grundrechte nach Art. 34 EMRK die gewissermaßen „transformierte“ europarechtliche Anwendung des EMRK-Grundrechtsteils ein derzeit noch recht zahnloser Tiger ist, da sie nur gegen Handlungen der Gemeinschaftsorgane (und nicht etwa gegen Handlungen der mitgliedstaatlichen Organe) geltend gemacht werden kann und da die Individualbeschwerde im Gemeinschaftsrecht eher ein Ausnahmedasein fristet39. Ob sich dies im Rahmen eines zukünftigen „Verfassungsvertrages“ der Europäischen Union ändert, bleibt abzuwarten; die im Vorentwurf40 zu erkennende herausgehobene Positionierung der Gemeinschaftsgrundrechte schon im Zweiten Titel des Vertrages vor den institutionellen Regelungen mag insoweit zu Optimismus Anlass geben. Ebenso sei erwähnt, dass auch der für die Bundesrepublik seit 1976 verbindliche Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) vom 19. 12. 1966 in seinen Art. 19 und 21 in Bezug auf die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit zwischen dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung differenziert. Verstöße gegen diesen Pakt werden aber trotz der Existenz einer Individualbeschwerde vor dem Ausschuss für Menschenrechte41 kaum sanktioniert42.
36 Offizieller Titel: Konvention zum Schutze der Menschenrechte und der Grundfreiheiten. Sie wurde von der Bundesrepublik 1952 ratifiziert und ist seit 1953 wirksam. 37 Im englischen negativ formuliert mit „prevention of disorder“. 38 Im englischen: „protection of morals“. 39 Vorgesehen ist sie in Art. 230 Abs. 4 und Art. 232 Abs. 3 EG-Vertrag. 40 Vorentwurf des Verfassungsvertrages vom 28. 10. 2002, CONV 369 / 02. 41 Art. 1 und 2 des Fakultativprotokolls zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte sehen eine (zum innerstaatlichen Rechtsschutz subsidiäre) Individualbeschwerde von Einzelpersonen vor den Ausschuss für Menschenrechte (Art. 28 IPBPR) vor.
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Solche internationalen Regelungen schließen es natürlich nicht aus, dass die Bundesrepublik oder die Bundesländer das in den Vereinbarungen maximal vorgesehene Einschränkungspotential für Versammlungen und Meinungskundgaben nicht voll ausschöpfen und beispielsweise – wie u. a. in NRW geschehen – das Schutzgut der öffentlichen Ordnung aus den Eingriffsnormen des allgemeinen Polizeirechts entfernen. Eine undifferenzierte Vermischung der beiden Schutzgüter widerspricht jedoch den klaren Trennungen, die auch in den genannten internationalen Regelwerken vorgesehen sind. Die Ausfüllung des Begriffs der öffentlichen Ordnung mit den Wertmaßstäben des Grundgesetzes kann daher nicht überzeugen. Wenn das OVG NRW tatsächlich den Begriff der öffentlichen Ordnung im Kampf gegen rechtsradikale Versammlungen hätte fruchtbar machen wollen, dann wäre es gut beraten gewesen, trotz aller nicht zu verkennenden methodischen Schwierigkeiten die auf tatsächlicher Ebene zu konstatierende gesellschaftliche Empörung über neonazistische Umtriebe als Begründung für ein Versammlungsverbot heranzuziehen43.
2. Die Ansicht von der Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts Der systematisch passende Ort für die Einbindung grundgesetzlicher geschriebener Wertmaßstäbe in die Auslegung des § 15 VersG ist stattdessen die öffentliche Sicherheit44, da sie auch die geschriebene Verfassungsrechtordnung mitsamt der in ihr enthaltenen Wertvorstellungen erfasst45. Von daher bleibt zu prüfen, ob die vom OVG NRW an systematisch falscher Stelle vorgetragenen Überlegungen zu den antifaschistischen Grundentscheidungen der Verfassung dann zu überzeugen wüssten, wenn sie systematisch passend im Rahmen der öffentlichen Sicherheit verortet den oben dargestellten Einwendungen des BVerfG aussetzt werden. Das BVerfG hat sich in seinen das OVG NRW aufhebenden Entscheidungen mit der verfassungskonformen Interpretation des § 15 VersG intensiv auseinander42 Rechtsfolge einer Ausschussprüfung ist nach Art. 5 Abs. 4 des 1. Fakultativprotokolls zum IPBPR lediglich eine „Mitteilung der Auffassung“ an den betroffenen Vertragsstaat und die Einzelperson. 43 Laubinger / Repkewitz, VerwArch 2002 (Bd. 93), S. 149, 167 / 168. 44 So auch Christoph Gusy, Rechtsextreme Versammlungen als Herausforderung an die Rechtspolitik, JZ 2002, S. 105, 109. 45 Ob man dabei, wie es Sachs (Rede vor der Berliner Juristischen Gesellschaft, S. 18) vorschlägt, tatsächlich Art. 26 Abs. 1 GG stärker ins Spiel bringen sollte, da die Norm unabhängig von eventuellen Strafdrohungen Handlungen verbietet, die das friedliche Zusammenleben der Völker stören, erscheint zweifelhaft. Zu bedenken ist, dass das einzige in Art. 26 Abs. 1 Satz 1 GG genannte Beispiel immerhin die Vorbereitung der Führung eines Angriffskrieges ist, was die Messlatte für vergleichbare Störungen des friedlichen Zusammenlebens der Völker doch so hoch setzen dürfte, dass sie auf rechtsradikale Demonstrationen kaum anwendbar ist. Im letztgenannten Sinne auch Wiefelspütz, KritV 2002, S. 19, 36.
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gesetzt und eine Vielzahl von Gegenargumenten angeführt, wieso die verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen ein Verbot rechtsradikaler Versammlungen regelmäßig nicht tragen. Überzeugend ist dabei zuerst einmal der Ansatz des BVerfG, anders als das OVG NRW nicht pauschal von einem „Grundrecht der Demonstrationsfreiheit“ mit dem wenig präzisen Klammerzusatz „Art. 5 I, 8 I GG“ zu sprechen46, sondern eine klare Subsumtion des in Rede stehenden tatsächlichen Geschehens unter die Schutzbereiche der Meinungs- oder der Versammlungsfreiheit vorzunehmen, um dann die passenden Schranken zu bestimmen. Das BVerfG stellt zutreffend fest, dass die Versammlungsverbote wegen des rechtsradikalen, neonazistischen Inhaltes der vertretenen Auffassungen ausgesprochen wurden und daher Art. 5 Abs. 1 und 2 GG einschlägig seien; Raum für die Anwendung des Art. 8 GG bleibe nur, soweit sich die Versammlungsverbote auf Gefahren stützten, die gerade durch die gemeinschaftliche Kundgabe der rechtsradikalen Äußerungen entstünden, beispielsweise durch ein einschüchterndes, paramilitärisch wirkendes Verhalten der Versammlungsteilnehmer 47. In Bezug auf den damit als einschlägig qualifizierten Art. 5 GG führt das BVerfG weiter aus, dass der Gesetzgeber gerade für den Bereich der „kommunikativen Angriffe“ auf Verfassungsgüter besondere „allgemeine Gesetze“ im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG erlassen habe, nämlich die einschlägigen Normen des „Meinungsstrafrechts“48. Diese Normen sollen zumindest im Hinblick auf rechtsradikale, sei längerem bekannte Gefahrensituationen eine Sperrwirkung entfalten, die es verbiete, daneben weitere Grenzen der Meinungsfreiheit (sei es über verfassungsimmanente Schranken oder über das Tatbestandsmerkmal der öffentlichen Ordnung) ins Spiel zu bringen49. Zur Untermauerung seiner Ansicht verweist das BVerfG auf eine Fundstelle bei Knemeyer, an der dieser die Ansicht vertritt: „In Bereichen, in denen das Strafgesetzbuch mittlerweile von einer Pönalisierung absieht, insbesondere im Rahmen des Sexualstrafrechts, darf die Polizei nicht einschreiten, weil sonst jede Änderung des Strafgesetzbuchs faktisch – wenn auch nicht durch gerichtliche Pönalisierung – unterlaufen werden könnte“50. Diese Theorie des BVerfG von der „Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts“, mit der sämtliche unterhalb der Strafbarkeitsgrenze ablaufende Meinungsäußerungen unangreifbar werden und die das Tatbestandsmerkmal der „öffentlichen Ordnung“ Vgl. z. B. OVG NRW, NJW 2001, S. 2111 Leitsatz 2. BVerfG, NJW 2001, S. 2069. 48 § 130 StGB (Volksverhetzung); §§ 86 und 86a StGB (Verwendung von Propagandamitteln und Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen); §§ 90a und 90b StGB (Verunglimpfung des Staates, seiner Symbole oder seiner Verfassungsorgane). 49 BVerfG; NJW 2001, S. 2069, 2070 / 2071; BVerfG, NJW 2001, S. 2075 / 2076. 50 Franz-Ludwig Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 9. Aufl. 2002, S. 66 / 67 Rn. 104 (das BVerfG verweist auf die 7. Aufl. 1998, S. 60 Rn. 76; in neuester wie Vorauflage steht wortgleich dasselbe). 46 47
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in § 15 VersG im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 GG rechtlich obsolet werden lässt51, ist in der Literatur52 zu Recht auf deutliche und zutreffende Kritik gestoßen. Strafrecht beschränkt sich auf den normativen Schutz eines ethischen Minimums und ist daher notwendig lückenhaft – die bekannte „fragmentarischen Natur des Strafrechts“53. So ist in einem freiheitlichen Rechtsstaat zwar alles erlaubt, was nicht verboten ist; es ist aber noch lange nicht alles erlaubt, was nicht strafbar ist54. Unzutreffend ist daher die hinter den Überlegungen des BVerfG stehende Auffassung, dass alles, was nicht strafbar ist, auch nicht auf andere Art – z. B. versammlungsrechtlich – sanktioniert werden könne. Auch die vom BVerfG in Bezug genommene These Knemeyers lässt sich als Begründung nicht heranziehen. Selbst die bewusste Entpönalisierung55 beispielsweise des Sexualstrafrechts56 bedeutet ja nur einen Verzicht auf den Einsatz des Strafrechtes als ultima ratio – eine völlige Freistellung von jedweder rechtlichen Verantwortlichkeit in allen denkbaren Rechtsbereichen ist damit nicht verbunden57. Die Unhaltbarkeit der bundesverfassungsgerichtlichen Theorie von einer Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts wird unmittelbar einsichtig, wenn man sie auf andere Bereiche überträgt: Niemand käme auf die Idee, die Nichterteilung einer Baugenehmigung58 wegen Nichteinhaltung bauplanungs- oder bauordnungsrechtlicher Vorschriften am Maßstab des Strafgesetzbuches zu messen und die Genehmigungsverweigerung nur dann für rechtmäßig zu erachten, wenn die Errichtung des geplanten Bauwerkes zu spezifisch strafbewehrten Gefährdungen führen würde. Vielmehr rechtfertigt die Nichteinhaltung bauplanungs- oder bauordnungs51 Lediglich im Hinblick auf Art. 8 GG können besondere Gefahren, die gerade durch die gemeinschaftliche Kundgabe rechtsradikalen Gedankenguts entstehen, auch unterhalb der Grenze der Strafbarkeit zur Begründung einer Auflage herangezogen werden. 52 Ulrich Battis / Klaus Joachim Grigoleit, Die Entwicklung des versammlungsrechtlichen Eilrechtsschutzes – Eine Analyse der neuen BVerfG-Entscheidungen, NJW 2001, S. 2051, 2054; Laubinger / Repkewitz, VerwArch 2002 (Bd. 93), S. 149, 168; Sachs, Rede vor der Berliner Juristischen Gesellschaft S. 15. 53 Die Formel von der fragmantarischen Natur des Strafrechts geht zurück auf Karl Binding; vgl. dazu und zum Bedeutungswandel der Formel näher: Hans-Heinrich Jescheck / Thomas Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 7 II, S. 52: Der fragmentarische und akzessorische Charakter des Strafrechts. 54 Laubinger / Repkewitz, VerwArch 2002 (Bd. 93), S. 149, 168. 55 Eine Situation, die mit der versammlungsrechtlichen Bewertung rechtsextremistischer Demonstrationen, bei denen es an einer bewussten strafrechtlichen Entpönalisierung fehlt, per se kaum vergleichbar ist. 56 Man denke an die Abschaffung der Strafbarkeit homosexueller Handlungen zwischen Männern (§ 175 StGB a.F.). 57 Dementsprechend muss sich beispielsweise die öffentliche Vorführung homosexueller Handlungen ebenso wie die öffentliche Vorführung heterosexueller Handlungen am gewerberechtlichen Maßstab des § 33a GewO messen lassen – die strafrechtliche Entpönalisierung führt keineswegs zu einem „Freibrief“ auch für sämtliche nicht-strafrechtlichen Rechtsbereiche. 58 In Nordrhein-Westfalen auf der Grundlage von § 75 Abs. 1 BauO NRW.
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rechtlicher Vorschriften auch weit unterhalb der Strafbarkeitsgrenze die Ablehnung eines Bauantrages – und dies, obwohl im Hintergrund das hohe Schutzgut des verfassungsrechtlich garantierten Eigentums steht. Insofern ist zwischen Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht auf der einen Seite und Polizei- und Ordnungsrecht auf der anderen Seite strikt zu differenzieren: das erstgenannte sanktioniert repressiv und fragmentarisch begangene Unrechtshandlungen größeren oder kleineren Ausmaßes, das zweitgenannte schützt präventiv und generalklauselartig vor bevorstehenden Rechtsgutsgefährdungen. Eine Sperrwirkung des ersten zu Lasten des zweiten ist nicht anzuerkennen; die vom BVerfG zur Aufhebung der OVG-Entscheidungen im Hinblick auf Art. 5 GG vorgetragene These von der Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts vermag nicht zu überzeugen. Ergänzend sei festgestellt, dass auch die vom BVerfG für den Fall vorgetragenen Überlegungen, dass sich in einer Versammlung spezifische durch die gemeinschaftliche Meinungskundgabe begründete Gefahren abzeichnen, die dann am Maßstab des Art. 8 GG zu messen seien59, zumindest bedenklich erscheinen. Unter Bezugnahme auf seinen Brokdorf-Beschluss60 führt das Gericht aus, dass wegen der besonderen Bedeutung der Versammlungsfreiheit im demokratischen Staat eine Gefährdung der (ungeschriebenen) öffentlichen Ordnung für ein Versammlungsverbot im Allgemeinen nicht genüge; zum Schutz der öffentlichen Ordnung seien lediglich Auflagen zulässig. Die dahinter stehende Überlegung, dass ungeschriebene, nicht von einem demokratisch legitimierten Gesetzgeber stammende Regeln nicht ausreichend für das Verbot einer Versammlung sein können, kann schon deshalb nicht überzeugen, weil das BVerfG damit gerade die demokratisch legitimierte und normativ niedergeschriebene Entscheidung des Versammlungsgesetzgebers missachtet, der das Merkmal der „öffentlichen Ordnung“ bewusst in § 15 VersG aufgenommen und es dort trotz vielfältiger Diskussionen zu diesem Rechtsbegriff61 bis heute dort belassen hat. Im Übrigen hat sich der Verfassungsgeber selbst an zwei Stellen, nämlich in Art. 13 Abs. 7 und Art. 35 Abs. 2 Satz 1 GG, dafür entschieden, die „öffentliche Ordnung“ sogar als Grenze verfassungsrechtlich gewährleisteter Rechtspositionen zu akzeptieren. Das BVerfG hat also auf die fehlsame Subsumtion grundgesetzlicher Wertvorstellungen unter das Merkmal der „öffentlichen Ordnung“ durch das OVG NRW mit der nicht minder fehlsamen Thesen von der Sperrwirkung des Meinungsstrafrechtes (in Bezug auf Art. 5 GG) und einer pauschal abgelehnten „Verbotsgeeignetheit“ der öffentlichen Ordnung (in Bezug auf Art. 8 GG) geantwortet. Im Unterschied zur Mathematik ergibt aber weder im Verwaltungs- noch im VerfassungsBVerfG, NJW 2001, 2069. BVerfGE 69, 315, 353. 61 Die z. B. dazu führten, dass das Schutzgut der öffentlichen Ordnung in den Sicherheitsoder zumindest Polizeigesetzen einiger Bundesländer (nämlich Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Schleswig-Holstein) nicht mehr vorhanden ist. 59 60
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recht Minus mal Minus Plus, so dass der wechselseitige Austausch unzutreffender Argumente auch unter dem Strich nicht zu einem richtigen Gesamtergebnis führt.
3. Die Überlegung zum Gesamtbild der Wertvorstellungen des Grundgesetzes Nach dieser gegenüber beiden Gerichten auszusprechenden Urteils- bzw. genauer Beschluss-Schelte sollen die vom BVerfG in seinen weiteren Entscheidungen vorgetragenen Argumente näher untersucht werden, die – wie zu zeigen sein wird – tatsächlich gegen die vom OVG NRW vorgenommene pauschale Ausgrenzung rechtsradikaler Meinungsäußerungen aus dem Schutz der Verfassung sprechen. Das OVG NRW blieb wie dargestellt in seinen Entscheidungen konsequent bei der Auffassung, dass das öffentliche Auftreten neonazistischer Gruppen und das Verbreiten entsprechenden Gedankenguts grundlegende soziale und ethische Anschauungen einer Vielzahl von Menschen verletze und dass die grundgesetzliche Werteordnung und das „historische Gedächtnis der Verfassung“ derart von einer Abkehr vom Nationalsozialismus geprägt seien, dass neonazistische Auffassungen nicht einfach nur (von Art. 5 Abs. 1 GG geschützte) politisch missliebige Meinungen seien, sondern Meinungen, die außerhalb des Kanons grundrechtlich geschützter Freiheitsrechte stünden und die damit (zumindest) wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung verboten werden könnten62. Dies werde auch durch Art. 139 GG belegt, der die nach dem Krieg zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus ergangenen Rechtsvorschriften ausdrücklich erwähne63. Das BVerfG musste nun aufgrund der gestiegenen Argumentationsdichte des OVG NRW seinerseits nachlegen. Während in der Literatur64 das Argument des in Art. 139 GG offenbar werdenden „historischen Gedächtnisses“ isoliert betrachtet und – in nicht recht überzeugender Weise65 – abgelehnt wurde unter Hinweis auf den Rechtscharakter der Norm als bloßer Übergangsvorschrift, argumentiert das BVerfG umfassender und stellt Art. 139 GG in eine Reihe mit anderen Verfassungsnormen, die ebenfalls eine klare Absage an die nationalsozialistische Ideologie beinhalten, namentlich Art. 18 GG (Verwirkung von Grundrechten) und OVG NRW, NJW 2001, S. 2114; OVG NRW, NJW 2001, S. 2986, 2987. OVG NRW, NJW 2001, S. 2114. 64 So Sachs, Rede vor der Berliner Juristischen Gesellschaft, S. 17. 65 Der bei Sachs anklingenden Auffassung, dass „bloße Übergangsvorschriften“ per se als obsolet oder zumindest als Verfassungsnormen mit geringerer Geltungskraft anzusehen seien, kann nicht vorbehaltlos zugestimmt werden. So fußte auch der brandenburgische Streit um das Schulfach LER verfassungsrechtlich auf Art. 141 GG, also einer Norm, die gemeinhin als Übergangsnorm angesehen wird, die dann aber anlässlich der deutschen Wiedervereinigung wie Phönix aus der Asche aufstieg und auch erfahrene Verfassungsrechtler vor durchaus erhebliche Auslegungs- und Anwendungsprobleme stellt. 62 63
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Art. 21 Abs. 2 GG (Möglichkeiten eines Parteiverbots)66. Es führt dann aus, dass das Grundgesetz nicht nur in den genannten Normen, sondern überhaupt „in dem Aufbau allgemeiner rechtsstaatlicher Sicherungen . . . , deren Fehlen das menschenverachtende Regime des Nationalsozialismus geprägt hatte“, „eine wichtige Garantie gegen ein Wiedererstarken eines Unrechtsstaates“ aufgebaut hat67. Und zu eben diesen rechtstaatlichen Garantien gehöre auch die Versammlungsfreiheit und die Zuerkennung eben dieses Versammlungsrechtes auch an Minderheiten, denen das Grundgesetz bewusst Äußerungsmöglichkeiten garantiere68, denn „die Kraft eines Rechtsstaates zeigt sich auch daran, dass er den Umgang mit seinen Gegnern den allgemein geltenden rechtsstaatlichen Grundsätzen unterwirft“69. Dem ist zuzustimmen. Die in der Ansicht des OVG NRW mitschwingende, zur plakativen Umschreibung der bundesdeutschen wehrhaften Demokratie gern verwendete Formel „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit“ erscheint – wenn man ihren alles andere als rechtsstaatlichen historischen Hintergrund einmal außen vor lässt70 – auf den ersten Blick höchst plausibel. Sie trägt allerdings ein nicht zu unterschätzendes Risikopotential in sich: das der Definitionsmacht über den Begriff „Feind“. Wer definiert, welche Grundgedanken und Meinungsinhalte in der Diktion des OVG NRW „nazistisch“ sind und wann eine Ideologie als auf den Elementen des „Rassismus“, des „Kollektivismus“ und dem „Prinzip von Führerschaft und unbedingtem Gehorsam“ aufbauend anzusehen ist71? Nach Ansicht des OVG NRW obliegt diese Definitionsmacht über das Instrument der „verfassungsimmanenten Schranke“ dem Rechtsanwender in Form der Fachgerichte und sogar der einzelnen Versammlungsbehörde. Das Grundgesetz hat dagegen in seinen Art. 18 Satz 2, 21 Abs. 2 Satz 2 GG die Definitionsmacht darüber, wer tatsächlich als „Feind der Freiheit“ (im Sinne eines Bekämpfens der freiheitlichen demokratischen Grundordnung) anzusehen ist, in die Hände des BVerfG gelegt72 – eine EntBVerfG, NJW 2001, S. 2076, 2077. BVerfG, NJW 2001, S. 2076, 2077. 68 BVerfG, NJW 2001, S. 2076, 2077. 69 BVerfG, NJW 2001, S. 2076, 2077. 70 Die in der politischen Diskussion häufig gebrauchte Formel „Pas de liberté aux ennemis de la liberté“ stammt vom Jakobiner Antoine Saint-Just (1767 – 1794) aus der Zeit der französischen Revolution und war die ideologische Rechtfertigung für die massenweise und weitgehend willkürliche Guillotinierung tatsächlicher oder vermeintlicher „Freiheitsfeinde“ während der Jakobinischen Schreckensherrschaft. Vgl. dazu knapp: Gerd Roellecke, Keine Freiheit den Feinden der Freiheit!, NJW 1993, S. 3306, 3307. 71 So die Formulierung OVG NRW, NJW 2001, S. 2111. 72 Auch das in Art. 20 Abs. 4 GG normierte „Jedermann-Widerstandsrecht“ ändert nichts an dieser prinzipiell monopolisierten Definitionsmacht, da das Widerstandsrecht ob seiner Subsidiarität nur dann als ultima ratio in Betracht kommt, wenn sämtliche anderen Abhilfemöglichkeiten und hier namentlich der verfassungsgerichtliche Rechtsschutz nicht mehr realisierbar sind. Zur Subsidiarität des Widerstandsrechtes vgl. die knappen, aber zutreffenden Ausführungen im Maastricht-Urteil des BVerfG, BVerfGE 89, 155, 180 sub 4. 66 67
II. Das Argument von der Gefährdung der öffentlichen Ordnung
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scheidung, die versammlungsrechtlich ihren Niederschlag in § 1 Abs. 2 VersG findet73 und durch die eine „Grundrechtsverwirkung durch Verwaltungsakt“74 vermieden werden soll. So sehr einerseits aufgrund der Erfahrungen der Weimarer Demokratie die bundesdeutsche Demokratie wehrhaft ausgestattet sein muss, so sehr ist andererseits zu berücksichtigen, dass die Verteidigung grundrechtlicher Wertvorstellungen mit dem Mittel der definitorischen Ausgrenzung bestimmter Meinungsinhalte aus dem Schutz der Verfassung ihrerseits wieder ein erhöhtes Missbrauchsrisiko in sich trägt. Der angemessene Ausgleich zwischen einem aus Gründen der Wehrhaftigkeit notwendigen Bekämpfen tatsächlicher Feinde der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und der aus Gründen demokratischer Rechtsstaatlichkeit notwendigen Eindämmung des Risikos eines „Mundtot-Machens“ missliebiger politischer Strömungen wird vom Grundgesetz in bewusst institutionalisierter Weise dadurch realisiert, dass die Aberkennung grundrechtlich geschützter Rechtspositionen nur in einem normierten Verfahren durch das BVerfG erfolgen kann. Jedes andere Gericht, das sich diese Kompetenz bei aller anzunehmenden Redlichkeit der damit verfolgten Ziele unter Zuhilfenahme definitorischer Ausgrenzungen ebenfalls zu eigen macht, betont in einseitig-verkürzender Weise die „Wehrhaftigkeit“ der Demokratie unter Hintanstellung der für diese Demokratie auch maßgeblichen verfahrensrechtlichen Absicherungen und Monopolisierungen eines verfassungskonformen „Sich-Wehrens“. Festzuhalten bleibt damit, dass das BVerfG dem Versuch des OVG NRW, neonazistischen Versammlungen grundsätzlich den Schutz des Demonstrationsrechtes zu entziehen, mit überzeugender und tragfähiger Begründung entgegengetreten ist. Damit kann das Schutzgut der öffentlichen Ordnung jedenfalls nicht auf der Grundlage der vom OVG NRW vorgetragenen Überlegungen als durch neonazistische Versammlungen per se gefährdet angesehen werden. Dem steht zwar abweichend zur Ansicht des BVerfG keine Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts entgegen, wohl aber die für die Demokratie des Grundgesetzes bestimmende Erkenntnis, dass die Äußerung auch radikaler Auffassungen nicht per se als Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen werden kann.
73 Wobei § 1 Abs. 2 Nr. 4 VersG das Versammlungsrecht auch verbotenen Vereinigungen aberkennt und insoweit als einzige der dort genannten Varianten an eine nicht vom BVerfG, sondern vom zuständigen Bundes- oder Landesministerium des Innern als Verbotsbehörde im Sinne des § 3 Abs. 2 VereinsG getroffene Entscheidung anknüpft. Allerdings zeigt § 3 Abs. 2 VereinsG in Zusammenschau mit § 48 Abs. 2 VwGO (erstinstanzliche Zuständigkeit des OVG zur Entscheidung über Vereinsverbote der Landesinnenministerien) und § 50 Abs. 1 Nr. 2 VwGO (erstinstanzliche Zuständigkeit des BVerwG zur Entscheidung über Vereinsverbote des Bundesinnenministeriums), dass auch in diesen Fällen gerade nicht jedes Fachgericht oder jede untere Behörde über die Verfassungsmäßigkeit eines Vereins entscheiden kann. 74 So die Formulierung von Ulli F. H. Rühl, „Öffentliche Ordnung“ als sonderrechtlicher Verbotstatbestand gegen Neonazis im Versammlungsrecht?, NVwZ 2003, S. 531, 534.
4 Röger
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4. Kap.: Analyse der materiellen Argumente beider Gerichte
Ein eigener Lösungsansatz, wie gleichwohl rechtsextremistischen Versammlungen unter Anwendung des § 15 VersG entgegengetreten werden kann, wird im 5. Teil der Untersuchung vorgestellt. Zuvor sollen jedoch noch die verbleibenden, zwischen den Gerichten ausgetauschten Argumente auf ihre Tragfähigkeit hin untersucht werden. Es bleiben insofern zwei Varianten von Versammlungen anzusprechen, bei denen nach Ansicht des BVerfG die Privilegierung des Versammlungsveranstalters oder die Besonderheit des gewählten Versammlungstages zu einer besonderen normativen Sperrwirkung führen, die unabhängig von den zuvor dargestellten strittigen Argumenten einer versammlungsrechtlichen Verbotsverfügung entgegenstehen sollen.
III. Das Argument von der Sperrwirkung des Parteienprivilegs Die erste Besonderheit betrifft die Fälle, in denen die NPD als Versammlungsveranstalter im Sinne des § 2 Abs. 1 VersG auftritt. Das BVerfG verweist hier auf eine Sperrwirkung des Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG, also auf die ausschließlich beim BVerfG monopolisierte Kompetenz zur Entscheidung darüber, ob eine politische Partei verfassungswidrig ist75. „Das Entscheidungsmonopol des BVerfG schließt ein administratives Einschreiten gegen den Bestand einer politischen Partei schlechthin aus, mag sie sich gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung noch so feindlich verhalten [ . . . ] Die Partei kann zwar politisch bekämpft werden. Sie soll aber in ihrer politischen Aktivität von jeder rechtlichen Behinderung frei sein, soweit sie mit allgemein erlaubten Mitteln arbeitet [ . . . ] Folglich ist es ausgeschlossen, die Grundrechtsausübung der NPD allein mit Rücksicht darauf zu unterbinden, dass die von ihr vertretenen Inhalte vom Bundestag, vom Bundesrat, von der Bundesregierung, von einer Verwaltungsbehörde oder von einem Gericht als verfassungswidrig eingeschätzt werden oder dass ein Verbotsverfahren vor dem BVerfG anhängig ist. Ein Versammlungsverbot kann daher nicht auf die Annahme gestützt werden, dass die von der NPD typischerweise vertretenen Inhalte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung widersprechen“76. Der Präsident des OVG NRW tritt diesen Ausführungen entgegen und betont, dass das OVG lediglich in Bezug auf seine versammlungsrechtliche Gefahrenprog75 Dieser besondere Schutz der Parteien, die im Unterschied zu sonstigen Vereinigungen nicht von der obersten Bundes- oder Landesbehörde (vgl. Art. 9 Abs. 2 GG, § 3 Abs. 2 VereinsG), sondern nur vom BVerfG verboten werden können, wird als „Parteienprivileg“ bezeichnet. Zur Problematik der (auch vom BVerfG beispielsweise in BVerfGE 12, 296, 305; 17, 155, 166 selbst praktizierten) Verwendung des eine sachlich nicht gebotene Bevorzugung suggerierenden Begriffs „Privileg“ auf einen Sachverhalt, bei dem Verschiedenes aus gutem Grund seiner Eigenart nach behandelt wird, vgl. Hans Hugo Klein, Art. 21 Rn. 541, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, GG. 76 BVerfG, NJW 2001, S. 2076, 2077.
III. Das Argument von der Sperrwirkung des Parteienprivilegs
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nose auf die tatsächlichen Erkenntnisse der Antragsteller im NPD-Verbotsverfahren zurückgegriffen habe und diese teile; dies sei keine Missachtung der Sperrwirkung des Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG77. Dass es eine Sperrwirkung des „Parteienprivilegs“ gibt, ist eindeutig und wird auch seitens des OVG NRW anerkannt. Fraglich ist aber, worauf sich diese Sperrwirkung präzise bezieht. Denkbar ist eine Sperrwirkung – in Bezug auf die rechtliche Bewertung einer Partei als verfassungswidrig, – in Bezug auf die rechtliche Bewertung des Parteiverhaltens und der Parteiziele als darauf gerichtet, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden – oder in Bezug auf die Verwertung der tatsächlichen Grundlagen, die (im Rahmen eines Verbotsverfahrens) eine Bewertung der Partei im vorgenannten Sinne erlauben würden.
Eindeutig schon durch den Wortlaut des Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG vorgegeben ist, dass sich die Sperrwirkung auf die Bewertung der Partei als verfassungswidrig bezieht und außer dem BVerfG kein anderes staatliches Organ befugt ist, eine Partei als verfassungswidrig zu bewerten und an diese Bewertung Maßnahmen zu knüpfen78. Darüber hinaus verbietet das „Parteienprivileg“ aber auch die Bewertung des Parteiverhaltens oder der Parteiziele als darauf gerichtet, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden. Denn der Begriff der „Verfassungswidrigkeit“ (auf den sich die Sperrwirkung eindeutig bezieht) ist nichts anderes als eine Zusammenfassung79 der Tatbestandsmerkmale „nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden“, so dass für diese Merkmale nichts anderes gelten kann als für den Begriff der „Verfassungswidrigkeit“ selbst: Die Überprüfung ihres Vorliegens unterliegt dem Monopol des BVerfG. Fraglich ist aber, ob die Sperrwirkung auch die tatsächlichen Umstände erfasst, aufgrund derer das BVerfG in einem Verbotsverfahren über die Verfassungswidrigkeit entscheidet. Die Frage lautet: Unterliegen die Tatsachen, aufgrund derer die Ziele einer Partei ermittelt werden können, und die tatsächlich feststellbaren VerBertrams, Festschrift für Arndt, S. 19, 32. Zur Problematik der Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel in Bezug auf nicht verbotene, aber „verfassungsfeindliche“ Parteien vgl. Jörn Ipsen, Art. 21 Rn. 199 f., in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003. 79 Dazu, dass die „Verfassungswidrigkeit“ keine Rechtsfolge der vorgenannten Merkmale ist, sondern deren Zusammenfassung, vgl. Ipsen, Art. 21 Rn. 166, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003; Rudolf Streinz, Art. 21 Abs. 2 Rn. 239, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 2, 4. Aufl. 2000. 77 78
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4. Kap.: Analyse der materiellen Argumente beider Gerichte
haltensweisen ihrer Anhänger einer „Sperrwirkung“ dahingehend, dass diese faktischen Gegebenheiten auch bei anderen staatlichen Entscheidungen außerhalb eines Verbotsverfahrens unberücksichtigt zu bleiben haben?80 In Bezug auf diese Problematik, die auch als Frage nach dem Vorliegen eines „Anknüpfungsverbots“81 bezeichnet werden kann, ist weder auf Seiten der (bundesverfassungsgerichtlichen) Rechtsprechung noch der Literatur eine einheitliche Linie erkennbar. Während das BVerfG in der genannten versammlungsrechtlichen Kammerentscheidung ein Anknüpfen an die tatsächlichen Gegebenheiten für unzulässig erachtet, hat das Gericht in der bekannten Senatsentscheidung zur Fallgruppe „Radikale im Öffentlichen Dienst“ die Ansicht vertreten, dass bei der im Rahmen des Art. 33 Abs. 5 GG erfolgenden Beurteilung der Persönlichkeit eines Bewerbers auch dann seine Mitgliedschaft in einer auf tatsächlicher Basis als „verfassungsfeindlich“ bewerteten Partei Berücksichtigung finden kann, wenn in rechtlicher Hinsicht die Verfassungswidrigkeit dieser Partei seitens des BVerfG (noch) nicht festgestellt wurde82. Die letztgenannte Auffassung begründet das Gericht mit einer Differenzierung zwischen der von Art. 21 Abs. 2 GG geschützten Freiheit des Bürgers, sich in einer verfassungsfeindlichen Partei zu betätigen, und dem nach Art. 33 Abs. 5 GG vom Beamten geforderten Eintreten für die verfassungsmäßige Ordnung83. In Bezug auf den „Radikalen-Beschluss“ folgt die wohl herrschende Literaturmeinung dem BVerfG84; die andere Ansicht kritisiert dagegen mit durchaus wohlbegründeten Argumenten diesen Beschluss im Besonderen sowie die Bildung der Kategorie der „verfassungsfeindlichen“ Partei im Allgemeinen und moniert eine Missachtung der Sperrwirkung des Art. 21 Abs. 2 GG85. In der hier zu bewertenden Fallkonstellation der NPD-Demonstrationen bedarf nun aber die Frage, ob es ein in allen Rechtsbereichen und namentlich auch im Beamtenrecht anzuerkennendes, aus Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG erwachsendes „Anknüpfungsverbot“ gibt, keiner Entscheidung – es genügt vielmehr, diese Frage ohne Wertungswiderspruch zum Beamtenrecht im Hinblick auf die Besonderheiten des Versammlungsrechtes zu klären. Dabei ist folgendes zu berücksichtigen: Das beamtenrechtliche Kriterium der Eignung nimmt nach Art. 33 Abs. 2 die Gesamt-
80 Eine Situation, die an die Lehre von den strafprozessualen Beweisverwertungsverboten erinnert. Vgl. dazu Ralf Röger, Die Verwertbarkeit des Beweismittels nach § 81 a StPO bei rechtswidriger Beweisgewinnung, 1994, S. 71 ff. 81 Den Begriff des „Anknüpfungsverbotes“ verwendet beispielsweise Rudolf Streinz, Art. 21 Abs. 2 Rn. 217, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 2, 4. Aufl. 2000. 82 BVerfGE 39, 334, 359. 83 BVerfGE 39, 334, 359. 84 Aus der h.M. siehe m. w. N. Klein, Art. 21 Rn. 583, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, GG. 85 Ipsen, Art. 21 Rn. 201 f., in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003; Christoph Gusy, Art. 21 Rn. 142, in: Alternativkommentar zum GG, Bd. 2, 3. Aufl., Loseblatt.
III. Das Argument von der Sperrwirkung des Parteienprivilegs
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persönlichkeit des Bewerbers und dabei als hergebrachten Grundsatz des Beamtentums gemäß Art. 33 Abs. 5 GG auch seine Verfassungstreue in den Blick86. Eine Betrachtung der Gesamtpersönlichkeit lässt es aber vom Ansatz her durchaus vertretbar erscheinen, auch die Mitgliedschaft des Bewerbers in einer bestimmten Partei und daran anknüpfend das tatsächliche Verhalten und die Ziele dieser Partei mit zur Entscheidungsfindung heranzuziehen. Die versammlungsrechtliche Gefahrenprognose nach § 15 Abs. 1 VersG bezieht sich dagegen auf eine konkrete, in Bezug auf eine spezifische Versammlung zu bewertende Rechtsgutsgefährdung, bei der es nicht abstrakt auf die grundsätzliche Einstellung eines Versammlungsveranstalters zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung ankommt87, sondern auf konkret bei einer bestimmten Versammlung zu erwartende Rechtsgutgefährdungen. Von daher muss dem BVerfG – ohne dass es einer allgemeingültigen Definition der Reichweite eines aus Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG erwachsenden „Anknüpfungsverbotes“ in anderen Rechtsbereichen bedarf – vom Ergebnis her zugestimmt werden, dass sich das OVG NRW bei seiner Verbotsentscheidung nicht auf die für das Parteiverbotsverfahren relevante „aktivkämpferische, aggressive Grundhaltung“ der NPD88 berufen konnte, sondern in der Tat hätte nachweisen müssen, dass „darüber hinaus gehende, allgemeinen Gesetzen widersprechende Verhaltensweisen [ . . . ] anlässlich der Durchführung der angemeldeten Versammlung“ zu befürchten sind89. Hätten solche in Bezug auf die konkrete Versammlung anzunehmenden Gefährdungen nachgewiesen werden können, so wäre wohl auch das BVerfG nicht von einer „totalen“ Sperrwirkung des „Parteienprivilegs“ ausgegangen. Denn das Gericht hat ja selbst betont, dass sich eine Partei auch im Versammlungsrecht nur insoweit auf das „Parteienprivileg“ berufen kann, als sie mit „allgemein erlaubten Mitteln“ und ohne Verstoß gegen „allgemeine Gesetze“ handelt90. Ist aber bei einer bestimmten Versammlung aufgrund einer spezifisch für diese Versammlung anzustellenden (und nicht aus einer bestimmten „Grundeinstellung“ des Versammlungsveranstalters abgeleiteten) Gefahrenprognose eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu erwarten, so ist diese Versammlung gerade kein „allgemein erlaubtes Mittel“ der parteilichen Betätigung mehr. Die Sperrwirkung des Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG schützt insofern nur vor einer „pauschalisierenden“ Heranziehung der tatsächlichen oder vermeintlichen Verfassungsfeindlichkeit einer Partei als Versammlungsverbotsgrund; sie stellt der Partei aber auch im Versammlungsrecht keinen „Persilschein“ für Rechtsverletzungen und Verstöße jeglicher Art aus. Dazu Ulrich Battis, Art. 33 Rn. 28 und Rn. 33 ff., in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003. Das BVerfG spricht in NJW 2002, S. 2076, 2077 von den „typischerweise“ vertretenen Inhalten der Partei. 88 OVG NRW, NJW 2002, S. 2114, 2115; Hervorhebung nicht im Original. 89 So die Kritik in BVerfG, NJW 2002, S. 2076, 2077; Hervorhebung nicht im Original. 90 BVerfG, NJW 2002, S. 2076, 2077. 86 87
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4. Kap.: Analyse der materiellen Argumente beider Gerichte
IV. Das Argument von der Sperrwirkung des Landesfeiertagsgesetzes Die zweite Besonderheit betrifft die Fälle, in denen rechtsradikale Demonstrationen an Feiertagen oder in zeitlicher Nähe zu Feiertagen stattfinden und in denen daher das der einfachgesetzlichen Ausgestaltung von Art. 140 GG, Art. 139 WRV dienende Landesfeiertagsrecht mit betroffen ist. In zwei Entscheidungen91 hob das BVerfG die vom OVG NRW ausgesprochenen Verbote neonazistischer Versammlungen, welche am Karsamstag und Ostermontag 2001 stattfinden sollten, mit der Begründung auf, dass das Feiertagsgesetz NRW in seinem § 5 Abs. 1 Satz 1 lit. a eine spezialgesetzliche Regelung zu den Möglichkeiten eines Versammlungsverbotes an Feiertagen enthalte, welche im Falle ihres Nichtvorliegens ein versammlungsrechtliches Verbot der Veranstaltung verbiete. Das BVerfG nimmt also eine Art „Sperrwirkung“ des Landesfeiertagsrechts an, soweit das Versammlungsverbot gerade dem Schutz von Sonn- und Feiertagen dienen soll. Die einschlägige Norm des § 5 Abs. 1 Satz 1 lit. a FeiertagsG NRW lautet: „An Sonn- und Feiertagen sind während der Hauptzeit des Gottesdienstes verboten: öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel und öffentliche Auf- und Umzüge, die nicht mit dem Gottesdienst zusammenhängen“. Als Hauptzeit des Gottesdienstes wird in Abs. 2 Satz 4 der gleichen Vorschrift die Zeit von 6.00 bis 11.00 Uhr definiert. In Bezug auf die für Karsamstag 2001 geplante neonazistische Demonstration, die das OVG NRW wegen Missachtung des Charakters von Oster- und Passahfestes als mit der öffentlichen Ordnung unvereinbar ansah, postulierte das BVerfG einen spezialgesetzlichen Vorrang des Feiertagsgesetzes NRW und stellte fest, dass dort weder der Karsamstag noch das Passahfest als Feiertag geschützt seien und daher ein Versammlungsverbot auch nicht auf § 15 VersG gestützt werden könne. In Bezug auf die für Ostermontag geplante Versammlung, welche ab 12.00 Uhr stattfinden sollte, stellte es in paralleler Argumentation fest, dass zwar der Ostermontag als Feiertag geschützt sei, dass die Versammlung aber erst nach der Hauptzeit des Gottesdienstes beginnen solle und insofern das dies erlaubende Feiertagsgesetz ebenfalls eine Sperrwirkung entfalte, die einem Versammlungsverbot nach § 15 VersG entgegenstehe. Dieses nunmehr dritte „Sperrwirkungsargument“92 des BVerfG kann erneut nicht überzeugen. Schon die Urteilsbegründung in der „Karsamstagsentscheidung“93 ist logisch widersprüchlich: „Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, 91 „Nationaler Ostermarsch“, BVerfG, Beschluss vom 12. 4. 2001, 1 BvQ 19 / 01, NJW 2001, S. 2075 und „Karsamstags-Demonstration“, BVerfG, Beschluss vom 12. 4. 2001, 1 BvQ 20 / 01, veröffentlicht in der Rubrik „Entscheidungen“ unter www.bverfg.de. 92 Nach der abzulehnenden These von einer Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts und der zumindest im hier relevanten Fall zutreffenden These von einer Sperrwirkung des „Parteienprivilegs“. 93 Beschluss vom 12. 4. 2001, 1 BvQ 20 / 01, veröffentlicht in der Rubrik „Entscheidungen“ unter www.bverfg.de.
IV. Das Argument von der Sperrwirkung des Landesfeiertagsgesetzes
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das Verbot könne sich auf eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung stützen, weil der angemeldete Aufzug wegen seiner Ausrichtung den Charakter des bevorstehenden Osterfestes und des Passahfestes missachte, verkennt die Spezialität des Gesetzes über die Sonn- und Feiertage für das Land Nordrhein-Westfalen [ . . . ] gegenüber § 15 VersG. Dieses Gesetz schützt in § 1 und § 2 Abs. 1 Nr. 2 und 3 den Karfreitag und die Ostertage als Sonn- und Feiertage sowie in § 9 bestimmte jüdische Festtage als Feiertage. [ . . . ] Der Karsamstag ist kein Feiertag im Sinne dieses Gesetzes. § 9 sieht für die dort benannten jüdischen Festtage, zu denen das Passahfest ebenfalls nicht gehört, zeitliche und örtliche Versammlungsbegrenzungen vor. Diese Spezialregelungen schließen einen Rückgriff auf § 15 VersG insoweit aus, als es um den Schutz von Sonn- und Feiertagen vor öffentlichen Versammlungen geht. Ein weitergehender Schutz vor Versammlungen bestimmten Typs ist im Gesetz nicht vorgesehen“. Selbst wenn man einmal unterstellt, dass das Feiertagsgesetz NRW tatsächlich einen Rückgriff auf § 15 VersG ausschließen kann, soweit es „um den Schutz von Sonn- und Feiertagen vor öffentlichen Versammlungen geht“ – wieso soll dies dann auch für Karsamstag und das Passahfest gelten, welche ja gerade (was auch das BVerfG sieht) keine Feiertage sind und demgemäß auch nicht vom Feiertagsgesetz erfasst werden? Unabhängig von diesem krassen logischen Widerspruch in der „KarsamstagsEntscheidung“ können die Überlegungen zum Verhältnis von Landesfeiertagsrecht und Versammlungsgesetz auch dann nicht überzeugen, wenn man – wie beispielsweise in der „Ostermontags-Entscheidung“94 – tatsächlich einmal die versammlungsrechtlichen Möglichkeiten nach § 15 VersG von den einschlägigen Regelungen des Feiertagsgesetzes NRW abgrenzen muss. Der systematische Kardinalfehler des BVerfG liegt darin, dass das Gericht die beiden Grundregeln „lex specialis derogat legi generali“ und „lex superior derogat legi inferiori“ nicht in systematisch sauberer Weise zueinander in Bezug setzt. Das Gericht hätte zuerst einmal klären müssen, ob mit § 5 FeiertagsG NRW und § 15 VersG überhaupt zwei Normen gleicher Geltungskraft miteinander kollidieren. Kollidiert wie hier eine landesrechtliche mit einer bundesrechtlichen Norm, so ist die Frage der Spezialität nachrangig zur Frage der Superiorität, also zur Frage, welche Norm unter Berücksichtigung der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung und der Kollisionsregel des Art. 31 GG überhaupt Geltungskraft beanspruchen kann95. Hier sind nun zwei Möglichkeiten denkbar: Betrachtet man die Normierung von Versammlungsverbotsgründen im Versammlungsgesetz des Bundes nicht nur als „ausschnittartig“, sondern abschließend96, so hat der Bund von seiner konkurrieBVerfG, NJW 2001, S. 2075. Laubinger / Repkewitz, VerwArch Bd. 93, S. 149, 168 / 169. 96 Davon, dass das Versammlungsgesetz „eine abschließende Regelung sämtlicher Gefährdungssituationen, die typischerweise von einer Versammlung ausgehen können“, enthält, geht unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des Gesetzes beispielsweise Christoph Enders 94 95
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4. Kap.: Analyse der materiellen Argumente beider Gerichte
renden Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG abschließenden Gebrauch gemacht; für landesgesetzliche Versammlungsverbotsgründe ist kein Raum mehr. Die Frage, ob das mit dem konkurrierenden Bundesrecht unvereinbare Landesrecht über Art. 31 GG oder unmittelbar aus der Gesetzgebungskompetenznorm heraus verdrängt wird, richtet sich dann nach den Zeitpunkten des Inkrafttretens der betreffenden Regelungen. Im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung wird insoweit Art. 31 GG nur dann relevant, wenn Landesrecht schon vor Inkrafttreten des konkurrierenden Bundesrechts in Kraft war, da das Landesrecht dann ursprünglich ohne Kompetenzverstoß erlassen wurde und es zur „Überwindung“ des Landesrechtes der Kollisionsnorm des Art. 31 GG bedarf. Ist dagegen Landesrecht erst nach Inkrafttreten des konkurrierenden, den Rechtsraum gewissermaßen „besetzenden“ Bundesrechts erlassen worden, so ergibt sich die Verfassungswidrigkeit des Landesrechts unmittelbar aus der fehlenden Gesetzgebungskompetenz des Landes gemäß Art. 72 Abs. 1 GG, ohne dass es eines Rückgriffs auf Art. 31 GG bedarf. Da das nordrhein-westfälische Gesetz über Sonn- und Feiertage am 18. Oktober 1951 in Kraft getreten ist97, das Bundesgesetz über Versammlungen und Aufzüge dagegen erst am 7. August 195398, müsste man bei dieser Betrachtung davon ausgehen, dass das nordrhein-westfälische Landesfeiertagsrecht ursprünglich nicht gegen die Kompetenzregel des Art. 72 GG verstieß, sondern erst durch Inkrafttreten des Versammlungsgesetzes des Bundes über Art. 31 GG verdrängt wurde99. In dieser aus: Der Schutz der Versammlungsfreiheit (Teil I); Jura 2003, S. 34, 39. Gleichwohl kommt Enders a. a. O. S. 42 zu dem Ergebnis, dass die landesfeiertagsrechtlichen Regelungen nicht „versammlungsspezifisch“ seien und daher kein Kompetenzverstoß vorliege. Zumindest für die Landesfeiertagsgesetze, die wie das nordrhein-westfälische schon von ihrem Wortlaut her ausdrückliche Versammlungsverbote enthalten, erscheint dieses Ergebnis jedoch in sich wenig schlüssig. 97 Gesetz über die Sonn- und Feiertage vom 16. 10. 1951, GVBl. NRW Nr. 43 vom 18. 10. 1951, S. 127. Das Gesetz tritt nach seinem § 12 am Tage der Verkündung in Kraft; es enthält in seinem § 6 Abs. 1 lit. a auch schon ein Verbot von Versammlungen unter freiem Himmel während der Hauptzeit der Gottesdienste. 98 Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) vom 24. 7. 1953, BGBl. I Nr. 40 vom 27. 7. 1953, S. 684. Das Gesetz tritt nach seinem § 32 14 Tage nach seiner Verkündung in Kraft; es enthält in seinem § 15 Abs. 1 auch schon die Möglichkeit des Verbots von Versammlungen, die die öffentliche Ordnung oder Sicherheit unmittelbar gefährden. 99 Eine unmittelbar schon aus der Kompetenznorm des Art. 72 GG erwachsende Verfassungswidrigkeit des Landesfeiertagsrechts kann auch nicht unter Rückgriff auf Art. 125 GG angenommen werden. Zwar gab es auch schon vorkonstitutionelles Reichsrecht, das sich mit Versammlungen befasste (insbesondere die Verordnungen des Reichspräsidenten zur Erhaltung des inneren Friedens vom 19. 12. 1932, RGBl. I S. 548 und zum Schutz des deutschen Volkes vom 4. 2. 1933, RGBl. I S. 35). Selbst wenn man diese Regelungen – was im Hinblick auf Art. 123 Abs. 1 GG durchaus fraglich ist – als fortgeltend und damit gemäß Art. 125 GG zu Bundesrecht mutiert ansieht, wäre vor dem Inkrafttreten des Versammlungsgesetzes des Bundes ein Konflikt zwischen Landesfeiertagsrecht und als Bundesrecht fortgeltendem vorkonstitutionellen Recht über Art. 31 GG zu lösen gewesen und nicht über unmittelbar Art. 72 GG, da die Verfassungswidrigkeit von Landesrecht sich nur dann unmittelbar aus Art. 72 GG ergeben kann, wenn „der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit [ . . . ] Gebrauch ge-
IV. Das Argument von der Sperrwirkung des Landesfeiertagsgesetzes
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„Spielart“ der Annahme einer abschließenden Regelung von Versammlungsverbotsgründen im Versammlungsgesetz wäre also nicht etwa eine „Sperrwirkung“ des Landesfeiertagsrechtes unter Verdrängung des Versammlungsgesetzes anzunehmen, sondern im Gegenteil die aus Art. 31 GG folgende Nichtigkeit100 der versammlungsbezogenen Regelungen des Landesfeiertagsrechtes101. Die andere „Spielart“ wäre die, in den Verbotsgründen des Versammlungsgesetzes keine in toto abschließende Regelung zu sehen, sondern dem Landesgesetzgeber zumindest insoweit die Möglichkeit zur Normierung ergänzender Verbotsgründe zuzubilligen, als diese keine allgemeinen ordnungspolizeilichen Gründe haben, sondern in Materien der Landeskompetenz (wie dem Schutz der religiösen Betätigung an Feiertagen102) wurzeln103. Bei einer solchen Betrachtungsweise käme es aber ebenfalls nicht zu einer „Sperrwirkung“ des Landesfeiertagsrechts. Wegen der dann zugrunde liegenden unterschiedlichen Regelungsbereiche hätte normsystematisch das Nichteingreifen eines spezifisch „feiertagsbezogenen“ landesrechtlichen Verbotsgrundes keinerlei Einfluss auf die Frage nach dem Vorliegen eines allgemeinen versammlungsrechtlichen Verbotsgrundes. Anders formuliert: Der (positive) Verstoß gegen landesfeiertagsrechtliche Versammlungsbeschränkungen kann nicht nur landesrechtlich (in NRW gemäß § 11 FeiertagsG NRW) als Ordnungswidrigkeit mit einem Bußgeld geahndet werden, sondern kann auch bundesrechtlich wegen Verletzung der öffentlichen Sicherheit unter gehöriger Abwägung der kollidierenden Interessen aus Art. 4 Abs. 1 GG und Art. 8 GG ein Tätigwerden der Versammlungsbehörde nach § 15 VersG erlauben – der (negative) „Nicht-Verstoß“ gegen landesfeiertagsrechtliche Versammlungsbeschränkungen lässt dagegen keinerlei Rückschlüsse zu, ob nicht aus anderen Gründen ein Versammlungsverbot nach § 15 VersG verhängt werden kann. Die Frage, ob die Verbotsgründe des § 15 VersG abschließend und die versammlungsrechtlichen Regelungen des Landesfeiertagsrechts damit verfassungswidrig und nichtig sind, kann also offen bleiben. Sieht man sie als nach Art. 31 GG deromacht hat“. Die Fortgeltung vorkonstitutionellen Rechts gemäß Art. 123 ff. GG ist aber kein „Gebrauch machen“ im Sinne der Kompetenznormen, so dass also auch in einem solchen Falle Art. 31 GG einschlägig ist (so auch Carola Schulze, Art. 125 Rn. 5, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003, die auf Art. 31 GG verweist). 100 Zu den Schwierigkeiten, die die Formulierung „Bundesrecht bricht Landesrecht“ im Hinblick auf die Rechtsfolge des Merkmals „brechen“ aufwirft, vgl. Peter M. Huber, Art. 31 Rn. 13 ff., in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003. 101 Zu diesem Ergebnis tendieren Laubinger / Repkewitz, Verwaltungsarchiv 2002 (Bd. 93), S. 149, 168 / 169 sowie Wolfram Höfling, Art. 8 Rn. 63, in: Sachs, GG, 3 Aufl. 2003. Auch Sachs kritisiert die fehlende Auseinandersetzung mit der Frage nach der Kompetenzverteilung in seiner Anmerkung zum Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 12. 4. 2001, 1 BvQ 19 / 01, JuS 2001, S. 1116, 1117. 102 Die ja materiell dem Schutz der aus Art. 4 GG erwachsenden grundrechtlichen Freiheiten dient. 103 In diese Richtung tendierend wohl Michael Kloepfer, § 143 (Versammlungsfreiheit) Rn. 56, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR VI, 2001.
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4. Kap.: Analyse der materiellen Argumente beider Gerichte
giert an, können sie per se keine Wirkung mehr entfalten, also auch keine „Sperrwirkung“; sieht man sie als aufgrund unterschiedlicher Regelungsansätze kompetenzgemäß neben den bundesrechtlichen Regelungen stehend an, wirken sie zwar, können aber systematisch den Rückgriff auf das „allgemeine“ Versammlungsrecht nicht sperren. Die Argumentation des BVerfG zur „Sperrwirkung“ des Landesfeiertagsrechts ist also nach jeder Betrachtung abzulehnen. Dies kann auch noch durch ein weiteres teleologisches Argument gestützt werden: Der Zweck des Landesfeiertagsrechtes ist es nicht, Versammlungen zu privilegieren und nur unter engeren Voraussetzungen einschränkbar zu machen als Versammlungen an Werktagen. Im Gegenteil sollen die versammlungsrechtlichen Regelungen der Landesfeiertagsgesetze den Feiertag aufgrund seiner besonderen, namentlich religiösen Bedeutung zumindest für die Hauptzeit des Gottesdienstes von Demonstrationen freihalten und ein über den Normalfall des § 15 VersG hinausgehendes Vorgehen gegen Versammlungen ermöglichen, die für sich genommen (wenn sie denn nicht gerade zur Hauptzeit des Gottesdienstes stattfänden) die öffentliche Sicherheit oder Ordnung nicht gefährden. Wer das Landesfeiertagsrecht dagegen mittels einer vermeintlichen Verdrängung des § 15 VersG zur Privilegierung neonazistischer Versammlungen an oder in der Nähe von Feiertagen benutzt, verkennt und verkehrt diesen Schutzzweck. Bemerkenswert ist insoweit, dass die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG in ihrer nur neunzehn Tage später ergangenen Entscheidung104 zur Zulässigkeit einer NPD-Demonstration am 1. Mai 2001, also an einem nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 FeiertagsG NRW geschützten Feiertag, auf jegliche „feiertagsbezogene“ Argumentation verzichtete und die das Versammlungsverbot bestätigende Entscheidung des OVG NRW stattdessen wie dargestellt unter Hinweis auf die Sperrwirkung des Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG sowie auf die auch Rechtsradikalen zukommenden rechtsstaatlichen Verbürgungen aufhob. Diese Zurückhaltung des Gerichtes mag ihren Grund darin haben, dass sich die Kammer der Bedenklichkeit ihrer „Feiertags-Argumentation“ bewusst wurde. Sie kann ihre Ursache allerdings auch darin haben, dass der feiertagsbezogene Ansatz in Bezug auf den 1. Mai als den „Tag des Bekenntnisses zu Freiheit und Frieden, sozialer Gerechtigkeit, Völkerversöhnung und Menschenwürde“105 die Kammer nahezu zwangsläufig hätte dazu führen müssen, ihren eigenen in der Holocaust-Gedenktag-Entscheidung106 vertretenen Ansatz von einer „besonderen Provokationswirkung“ neonazistischer Versammlungen zu verallgemeinern107 – und genau gegen diese Verallgemeinerung hatte sich die Kammer ja in den beiden vorherigen Entscheidungen zu den DemonstraBVerfG, NJW 2001, S. 2076. So der Wortlaut des § 2 Abs. 1 Nr. 4 FeiertagsG NRW. 106 BVerfG, NJW 2001, S. 1409. 107 Insofern weist Sachs in seiner Anmerkung JuS 2001, S. 1118 zutreffend darauf hin, dass der 1. Mai schon dem OVG NRW tragfähigere Ansätze für eine auf die spezifische Provokationswirkung der Versammlung abstellende Argumentation geliefert hätte als der Ostermontag. 104 105
V. Das Argument von der spezifischen Provokationswirkung
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tionen an Karsamstag108 und Ostermontag109 deutlich gesperrt und das OVG NRW belehrt, dass weder dem christlichen Oster- noch dem jüdischen Passahfest ein dem Holocaust-Gedenktag vergleichbarer Schutz zukomme. Es mag insoweit offen bleiben, ob der Verzicht auf die Feiertags-Argumentation in der Entscheidung zur Demonstration am 1. Mai auf Einsicht in die wie dargestellt grundsätzlich fehlende Tragfähigkeit dieses Ansatz zurückzuführen ist oder auf taktisch bedingte Vermeidung des Themas gerade an diesem Feiertag zwecks „Abblockung“ möglicher Tendenzen zur Ausweitung des „Provokations-Argumentes“. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass eine Sperrwirkung der versammlungsrechtlichen Regelungen des Landesfeiertagsrechts gegenüber dem auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG beruhenden Versammlungsgesetz des Bundes nicht anzuerkennen ist.
V. Das Argument von der spezifischen Provokationswirkung Damit ist auch schon das einzige Argument im Meinungsstreit zwischen OVG NRW und BVerfG angesprochen, das seitens des BVerfG für ein Verbot neonazistischer Versammlungen entwickelt wurde: das Argument von der spezifischen Provokationswirkung. Die in der Entscheidung zum Holocaust-Gedenktag als „unmittelbar einleuchtend‘‘110 entwickelte und in der „Karsamstags-“111 und „Ostermontags-Entscheidung‘‘112 als argumentum e contrario aufgegriffene Formel von der spezifischen Provokationswirkung rechtsradikaler Versammlungen am HolocaustGedenktag, welche es zum Schutz der öffentlichen Ordnung ausnahmsweise erlaube, eine behördliche Auflage in Form der Zuweisung eines anderen Demonstrationstages zu erlassen, vermag in seiner vom BVerfG gewählten Begründung nicht zu überzeugen, enthält aber gleichwohl den Schlüssel für einen weiterführenden eigenen Lösungsansatz. Bevor dieser eigene Lösungsansatz dargestellt wird, sollen zuerst einmal die Bedenken präzisiert werden, die diese Formel in der Diktion des BVerfG aufwirft. 1. Die Zuweisung eines anderen Versammlungstages als „Auflage“ Zum ersten erscheint schon zweifelhaft, ob man tatsächlich, wie es das BVerfG tut, die Zuweisung eines anderen Versammlungstages als zum Versammlungsver108 109 110 111 112
1 BvQ 20 / 01, veröffentlicht in der Rubrik „Entscheidungen“ unter www.bverfg.de. 1 BvQ 19 / 01, NJW 2001, S. 2075. BVerfG, NJW 2001, S. 1409. BVerfG, Rubrik „Entscheidungen“ unter www.bverfg.de. BVerfG, NJW 2001, S. 2113.
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4. Kap.: Analyse der materiellen Argumente beider Gerichte
bot milderes Mittel in Form einer so genannten bloßen „Auflage“113 ansehen kann. Ort und Zeit gehören zu den entscheidenden Rahmenbedingungen einer Versammlung; ihre freie Wahl durch den Veranstalter wird vom Schutzbereich des Art. 8 GG mit umfasst114. Die Durchführung einer Versammlung zu einer (wesentlich)115 anderen Zeit oder an einem (räumlich wesentlich) anderen Ort ist regelmäßig nicht in gleicher Weise geeignet, dem demonstrativ vorgetragenen Anliegen der Versammlungsteilnehmer die gleiche gewünschte Aufmerksamkeit zu sichern. Veranstaltungstag, -ort und -gegenstand116 erscheinen als eine zusammengehörende Einheit, deren Beeinträchtigung regelmäßig nicht als bloße „Auflage“ bewertet werden kann. Vielmehr ist die Zuweisung eines anderen Versammlungstages im Regelfall117 als Verbot der ursprünglich beabsichtigten Versammlung mit gleichzeitigem Angebot des „Nichtverbotes“ an einem anderen Tag zu bewerten118 – eine Regelungstechnik, die an das arbeitsrechtliche Institut der so genannten „Änderungskündigung“ erinnert.
2. Innerer Widerspruch zur „Soldaten-sind-Mörder“-Rechtsprechung Weiterhin scheint die Formel von der „spezifischen Provokationswirkung“ in Widerspruch zu der „Soldaten-sind-Mörder“-Rechtsprechung des Ersten Senats119 zu stehen, in welcher das BVerfG ausdrücklich klarstellte, dass auch die bewusst polemisch und verletzend formulierte, also die provozierende Meinungsäußerung 113 Dabei stellen versammlungsrechtliche „Auflagen“ keine Auflagen im Sinne des § 36 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG dar, da eine Auflage im allgemeinen verwaltungsrechtlichen Sinne einen Hauptverwaltungsakt voraussetzt, mit der sie verbunden werden kann. Da die Durchführung einer Versammlung aber genehmigungsfrei ist (weder die bloße Anmeldung der Versammlung noch die Verbotsmöglichkeit der Behörde darf mit einer Genehmigungspflicht des Veranstalters verwechselt werden), fehlt es an einem solchen Hauptverwaltungsakt. Die versammlungsrechtliche „Auflage“ ist daher selbst Hauptverwaltungsakt. 114 Siehe statt vieler Höfling, Art. 8 Rn. 21, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003, m. w. N. 115 Bei einer nur unwesentlichen zeitlichen Verschiebung oder räumlichen Verlagerung kann wohl tatsächlich von einer bloßen „Auflage“ ausgegangen werden. 116 Also Anlass oder „Motto“ der Veranstaltung. 117 Etwas anderes mag dann gelten, wenn die Versammlung in zeitlicher Hinsicht nur unwesentlich verschoben wird oder wenn zwar eine wesentliche Verschiebung stattfindet, diese aber keinerlei Einfluss auf die Öffentlichkeitswirkung der Veranstaltung hat. Letzteres dürfte jedoch in praxi eher selten anzunehmen sein, da eine Demonstration regelmäßig auf besondere Ereignisse Bezug nimmt und daher auch zeitlich in einer bestimmten „Nähe“ zu diesen Ereignissen stattfinden muss, um zu wirken. 118 Laubinger / Repkewitz, Verwaltungsarchiv 2002 (Bd. 93), S. 149, 155 bezeichnen „die behördliche Aufforderung, die Versammlung zu einem anderen Zeitpunkt durchzuführen“, als „ein zwar verkapptes, aber eindeutiges Verbot der geplanten Versammlung und keine bloße Auflage“. 119 Beschluss des 1. Senats vom 10. 10. 1995, BVerfGE 93, 266, 289.
V. Das Argument von der spezifischen Provokationswirkung
61
am Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG teilnimmt und nicht wegen ihrer Provokationswirkung sanktioniert werden kann. Der eigentliche Grund dieser Diskrepanz zwischen versammlungsrechtlicher „Provokationsformel“ und ehrenschutzrechtlicher „Soldaten-sind-Mörder“-Rechtsprechung liegt darin, dass das BVerfG nicht ausreichend klärt, ob die wegen einer besonderen „Provokation“ erfolgende Sanktionierung einer Versammlung tatsächlich am Maßstab des Art. 8 GG oder nicht vielmehr am Maßstab des Art. 5 Abs. 1 und 2 GG zu messen ist – hierauf wird gleich anschließend sub 4 sowie später im Rahmen des eigenen Lösungsansatzes noch eingegangen. 3. Innerer Widerspruch zur These von der Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts Weiterhin setzt sich das BVerfG in einen inneren Widerspruch zu seiner These von der Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts. Diese These kann zwar wie oben dargelegt nicht überzeugen – zumindest das Gericht selbst als Verfechter dieser Ansicht hätte jedoch um eine friktionsfreie Gesamtargumentation bemüht sein müssen. Diese gelingt jedoch nicht: Wenn nach Ansicht des BVerfG eine bestimmte Versammlung wegen ihres Meinungsinhaltes nur durch das Meinungsstrafrecht begrenzt wird, so ist es nicht erklärlich, wieso die Meinungsäußerung an bestimmten Tagen dann doch weit unterhalb der Strafbarkeitsgrenze aufgrund ihrer provokanten Wirkung ein staatliches Eingreifen erlaubt. Auch hier gilt: Dieses Defizit ist letztendlich auf die fehlende verfassungsrechtliche Zuordnung der „Provokationsformel“ im versammlungsrechtlichen Mixtum der Art. 5 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 GG zurückzuführen, was nun noch weiter untersucht werden soll.
4. Die Zuordnung der „Provokationswirkung“ zu Art. 8 GG Das Kernproblem der „Provokationsformel‘‘ in der Lesart des BVerfG ist, dass das Gericht diesen Ansatz in der Entscheidung zum Holocaust-Gedenktag ohne vertiefteren verfassungsrechtlichen Hintergrund mit der bloßen Behauptung vorträgt: „es leuchtet unmittelbar ein und ist auch verfassungsrechtlich tragfähig“120. Zutreffend kritisiert das OVG NRW, die Formel lasse so „einen aus der Werteordnung des Grundgesetzes ableitbaren verfassungsrechtlichen Bezug nicht erkennen“121. Insbesondere erweist es sich als problematisch und wertungswidersprüchlich, dass das BVerfG die wegen der provozierenden Wirkung der Versammlung mögli120 121
BVerfG, NJW 2001, 1409, 1410. OVG NRW, NJW 2001, 2114, 2115.
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4. Kap.: Analyse der materiellen Argumente beider Gerichte
che und einfachgesetzlich auf § 15 Abs. 1 VersG beruhende Sanktionierung der Demonstration am Maßstab des Art. 8 GG misst122. Man muss sich insofern vergegenwärtigen, dass das BVerfG in ständiger und zutreffender Rechtsprechung davon ausgeht, dass versammlungsbeschränkende Maßnahmen nicht stets an Art. 8 Abs. 1 GG zu messen sind: „In rechtlicher Hinsicht ist bedeutsam, dass der Maßstab zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Maßnahmen, die den Inhalt von Meinungsäußerungen beschränken, sich aus dem Grundrecht der Meinungsfreiheit ergibt, nicht aus dem der Versammlungsfreiheit“123. Hätte das BVerfG seine eigenen zutreffenden Überlegungen von der bei versammlungsrechtlichen Maßnahmen stets notwendigen Abgrenzung zwischen Art. 5 und Art. 8 GG ernst genommen, so hätte es sich zuerst einmal Gewissheit darüber verschaffen müssen, ob die Sanktionierung einer als provozierend empfundenen Versammlung am Holocaust-Gedenktag tatsächlich nur am Maßstab des Art. 8 Abs. 1 GG zu messen ist, oder ob nicht vielmehr Art. 5 Abs. 1 GG einschlägig ist. Denn von der Einschlägigkeit des zugrunde liegenden Grundrechtes hängt die verfassungsrechtliche Bewertung der Einschränkbarkeit ab: Wäre die provozierende (öffentliche) Versammlung tatsächlich nur am Maßstab des Art. 8 Abs. 1 GG zu messen, so könnte § 15 Abs. 1 VersG ohne weiteres auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 2 GG als Schranke aktiviert werden. Wäre dagegen Art. 5 Abs. 1 GG der einschlägige Schutzbereich, so würde dies die Folgefrage aufwerfen, inwieweit eine auf § 15 VersG gestützte Maßnahme mit der Grundrechtsschranke des Art. 5 Abs. 2 GG vereinbar ist. Diese Frage übersieht das BVerfG bei seiner verkürzten und verfassungsrechtlich nicht abgesicherten These von der „spezifischen Provokationswirkung“ und verursacht damit zugleich Friktionen zu seiner eigenen, auf Art. 5 Abs. 1 und 2 GG bezogenen „Soldaten-sind-Mörder“-Rechtsprechung sowie seiner ebenfalls auf die Meinungsäußerungsfreiheit bezogenen versammlungsrechtlichen These von der Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts. Untersucht man die Frage nach der präzisen verfassungsrechtlichen Verortung der „Provokationsformel“ dagegen näher, so liefert sie – was im abschließenden Kapitel dieser Untersuchung gezeigt werden soll – durchaus probate Ansätze für eine verfassungskonforme Reglementierung neonazistischer Demonstrationen.
BVerfG, NJW 2001, 1409, 1410 sub c. BVerfG, NJW 2001, S. 2069, 2070 (deutsch-niederländischer Protestmarsch); NJW 2001, S. 2075; ebenso in 1 BvQ 20 / 01 (Karsamstags-Demonstration, veröffentlicht nur unter www.bverfg.de) sowie grundlegend in der Senatsentscheidung BVerfGE 90, 241, 246. 122 123
5. Kapitel
Eigener Lösungsvorschlag – Die Aktivierung von § 15 VersG als ehrenschützende Norm Zuzustimmen ist dem BVerfG darin, dass Demonstrationen neonazistischen Inhaltes an einem Tag wie dem Holocaust-Gedenktag unerträglich provozierend sind. Zu klären bleibt, ob diese Provokationswirkung tatsächlich primär von einem bestimmten Versammlungstag oder nicht doch vorrangig vom Versammlungsinhalt abhängig ist und wie man das nicht zu leugnende provozierende Element dann systemgerecht und unter Beachtung der Schranken der Art. 5 Abs. 2, 8 Abs. 2 GG als Ansatz zur Einschränkung neonazistischer Demonstrationen fruchtbar machen kann.
I. Die „Provokationswirkung“ als faktisch primär vom Versammlungsinhalt abhängiger Effekt Das BVerfG geht wie dargestellt in seinem Beschluss zum Holocaust-Gedenktag davon aus, dass es gerade die Wahl des Versammlungstages ist, die eine neonazistische Demonstration als unerträglich provozierend und damit als mit der öffentlichen Ordnung im Sinne des § 15 Abs. 1 VersG unvereinbar erscheinen lassen kann: „Die öffentliche Ordnung kann betroffen sein, wenn einem bestimmten Tag ein in der Gesellschaft eindeutiger Sinngehalt mit gewichtiger Symbolkraft zukommt, der bei der Durchführung eines Aufzugs an diesem Tag in einer Weise angegriffen wird, dass dadurch zugleich grundlegende soziale oder ethische Anschauungen in erheblicher Weise verletzt werden“1. Diese Fixierung auf den Versammlungstag erscheint bei näherer Betrachtung als die eigentliche Schwachstelle der Entscheidung zum Holocaust-Gedenktag. Dies ergibt sich aus folgender Überlegung: Die Wahl des Versammlungstages kann ebenso wie die Wahl des Versammlungsortes nicht losgelöst vom Inhalt bzw. Motto der Versammlung gesehen werden; alle drei Elemente bilden – zumindest wenn es um „provokante“ Versammlungen geht – eine Einheit. Die provozierende Wir1
BVerfG, NJW 2001, S. 1409, 1410.
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5. Kap.: Eigener Lösungsvorschlag
kung einer rechtsradikalen Demonstration beispielsweise in zeitlicher Hinsicht am Holocaust-Gedenktag oder in räumlicher Hinsicht auf dem Gelände eines ehemaligen Konzentrationslagers liegt ja gerade darin begründet, dass es vom Inhalt her eine neonazistische Veranstaltung ist, die an diesem Tag oder an diesem Ort stattfindet. Es ist stets gerade das Junktim von Versammlungsgegenstand, -ort und -zeit, welches die Provokationswirkung begründet; und hierbei nimmt der Versammlungsinhalt eine herausgehobene Position ein. Eine Reduzierung oder auch nur vorrangige Fokussierung auf das Element „Versammlungstag“ widerspricht der psychologischen Realität im Hinblick auf das, was tatsächlich von Dritten als „provozierend“ empfunden wird und verkürzt die faktische und damit auch die rechtliche Bewertung in unzulässiger Weise. Eine Versammlung beispielsweise zum Thema Völkerverständigung und Weltfrieden würde weder am Holocaust-Gedenktag noch auf dem Gelände eines ehemaligen Konzentrationslagers provozierend wirken – provozierend wird der Aufzug zu dieser Zeit oder an diesem Ort gerade dadurch, dass er von rechtsradikalem Gedankengut geprägt ist. Gleiches gilt im Übrigen auch für linksextremistische Versammlungen an bestimmten Tagen oder Orten: Eine vergleichbare Provokationswirkung käme beispielsweise auch einer Demonstration von RAF-Sympathisanten am Tag2 oder Ort3 der Entführung Hanns-Martin Schleyers zu; eine Demonstration Kölner Bürger gegen terroristische Gewaltakte wäre dagegen am gleichen Tag oder am gleichen Ort alles andere als provozierend.
II. Die Provokationswirkung als rechtlich Art. 5 GG zuzuordnende Wirkung Ist aber in faktischer Hinsicht nicht etwa der bloße Versammlungstag oder -ort, sondern gerade der Versammlungsinhalt das entscheidende Moment für die Annnahme einer provozierenden Wirkung, so ist in rechtlicher Hinsicht jede an dieser Provokationswirkung ansetzende Reglementierung extremistischer, hier namentlich rechtsradikaler Versammlungen eine Reglementierung, die die Versammlung auch und gerade wegen der auf ihr geäußerten Meinung sanktioniert. Es ist die positiv-befürwortende Einstellung zum Nationalsozialismus und damit die auf der Versammlung artikulierte Meinung der Versammlungsteilnehmer, die einen neonazistischen Aufzug am Holocaust-Gedenktag oder auf dem Gelände eines ehemaligen Konzentrationslagers unerträglich provokant macht. Dieses „provozierende“ Element einer Versammlung unterfällt aber in grundrechtlicher Hinsicht – abweichend von der ohne weitere Begründung erfolgten Hanns-Martin Schleyer wurde am 5. 9. 1977 entführt und am 18. 10. 1977 ermordet. Die Entführung Hanns-Martin Schleyers und die Ermordung seines Fahrers Heinz Marcisz sowie der Polizeibeamten Reinhold Brändle, Helmut Ulmer und Roland Pieler fand an der Ecke Friedrich-Schmidt-Straße / Vincenz-Statz-Straße in Köln-Braunsfeld statt. 2 3
III. Der um die „Provokationsformel“ angereicherte § 15 VersG
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schlichten Behauptung des BVerfG im Beschluss zum Holocaust-Gedenktag4 – nicht primär dem Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG, sondern vorrangig dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG entsprechend der oben dargestellten zutreffenden Differenzierung des BVerfG, dass „der Maßstab zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Maßnahmen, die den Inhalt von Meinungsäußerungen beschränken, sich aus dem Grundrecht der Meinungsfreiheit ergibt, nicht aus dem der Versammlungsfreiheit“5. Für die Anwendung des § 15 VersG als einfachgesetzlicher Grundlage entsprechender Verbote „provozierender“ Versammlungen bzw. entsprechender versammlungsrechtlicher Auflagen bedeutet dies aber, dass die Norm schrankenrechtlich nicht auf ihre (unproblematische) Vereinbarkeit mit Art. 8 Abs. 2 GG hin zu überprüfen ist, sondern auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 5 Abs. 2 GG.
III. Der um die „Provokationsformel“ angereicherte § 15 VersG in der Schrankentrias des Art. 5 Abs. 2 GG Die Schrankentrias des Art. 5 Abs. 2 GG erlaubt Einschränkungen der Meinungsfreiheit durch allgemeine Gesetze, zum Schutz der Jugend und zum Schutz der persönlichen Ehre. Fraglich ist, wo innerhalb dieser Schrankentrias § 15 VersG anzusiedeln ist, wenn man ihn unter Verwendung des Tatbestandsmerkmals der öffentlichen Ordnung gegen provozierende neonazistische Demonstrationen in Position bringt. 1. Der Verlust des Charakters als allgemeines Gesetz Die wesentliche Schranke im Rahmen des Art. 5 Abs. 2 GG ist die der allgemeinen Gesetze. Allgemeine Gesetze sind dabei nach der bekannten Formulierung des BVerfG Gesetze, die nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung einer Meinung als solche richten, sondern die vielmehr dem Schutz eines schlechthin ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen6. Für § 15 VersG gilt, dass er grundsätzlich als allgemeines Gesetz in diesem Sinne anzusehen ist, da er aus gefahrenabwehrrechtlichen Gründen die Beschränkung von Versammlungen ohne Rücksicht auf die in den Versammlungen artikulierten Meinungen erlaubt7. BVerfG, NJW 2001, S. 1409, 1410. BVerfG, NJW 2001, S. 2069, 2070 (deutsch-niederländischer Protestmarsch); NJW 2001, S. 2075; ebenso in 1 BvQ 20 / 01 (Karsamstags-Demonstration, veröffentlicht nur unter www.bverfg.de) sowie grundlegend in der Senatsentscheidung BVerfGE 90, 241, 246. 6 Ständige Rechtsprechung, vgl. BVerfGE 7, 198, 209; 62, 230, 243 f.; 71, 162, 175; 71, 206, 215; 93, 266, 291; 97, 125, 146. Zur geschichtlichen Entwicklung dieser Grundrechtsschranke und den Problemen ihrer Anwendung siehe Christian Starck, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 178 ff., in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, 4. Aufl. 1999. 4 5
5 Röger
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5. Kap.: Eigener Lösungsvorschlag
Lässt man nun aber die Provokationswirkung rechtsradikaler Versammlungen, die wie dargestellt gerade durch den auf der Versammlung geäußerten neonazistischen Meinungsinhalt bewirkt wird, über das Tatbestandsmerkmal der öffentlichen Ordnung in § 15 Abs. 1 VersG einfließen, so verliert die Norm ihren Charakter als allgemeines Gesetz. Denn für den Charakter eines allgemeinen Gesetzes kann es nicht darauf ankommen, dass die Norm prinzipiell meinungsneutral angewendet werden kann; entscheidend ist vielmehr, ob sie in ihrer konkreten Anwendung „allgemein“ ist. Zwar wird in der Literatur oftmals nur darauf abgestellt, ob das Gesetz (abstrakt) kein gegen eine bestimmte Meinung gerichtetes Sonderrecht ist; die eventuell spezifisch meinungsgerichtete Normanwendung wird dann nur als Problem der verfassungsmäßigen Anwendung des allgemeinen Gesetzes und nicht als eine die Allgemeinheit des Gesetzes als solche betreffende Problematik angesehen8. Eine solche den Begriff des „allgemeinen“ Gesetzes nahezu uferlos ausdehnende Betrachtung, bei der die anderen beiden Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG in Form des Jugend- und Ehrenschutzes weitestgehend zu Unterfällen der allgemeinen Gesetze degradiert werden, wird jedoch der von Art. 5 Abs. 2 GG selbst vorgegebenen Systematik dreier selbständig nebeneinander stehender Schranken nicht gerecht9. Von daher erscheint es überzeugender, schon für die Frage nach der „Allgemeinheit“ bzw. „Meinungsneutralität“ eines Gesetzes auf dessen fallbezogene Anwendung abzustellen. Daraus folgt dann: Ein Gesetz, das schon ob seines eng gefassten, meinungsspezifischen Wortlautes überhaupt nicht zu einer meinungsneutralen Anwendung geeignet ist, kann von vornherein kein „allgemeines“ Gesetz sein. Ein Gesetz, das wie § 15 VersG grundsätzlich meinungsneutral und damit „allgemein“ ist, kann diesen Charakter hinsichtlich bestimmter Fallgruppen dadurch verlieren, dass es in Bezug auf diese Fallgruppen meinungsspezifisch angewendet wird. Ansätze für eine solche Betrachtung finden sich auch in der Rechtsprechung und Literatur. Das BVerfG nimmt beispielsweise die konkrete Zuordnung einer Norm zu den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG nicht pauschal, d. h. für die Norm als solche vor, sondern stellt auf die konkrete Anwendung ab: So wird die strafrechtliche Norm des § 185 StGB bei Anwendung auf natürliche Personen als in der Schrankentrias zur Kategorie der ehrenschützenden Normen gehörend angesehen, bei Anwendung auf staatliche Einrichtungen dagegen als allgemeines Gesetz10. Und auch 7 BVerwGE 64, 55, 62; Wolfgang Hoffmann-Riem, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 86, in: Alternativkommentar; Rudolf Wendt, Art. 5 Rn. 74 a.E., in: Ingo von Münch / Philipp Kunig, GG, 5. Aufl. 2000. 8 Vgl. hierzu instruktiv Christoph Degenhart, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 70 ff., in: Bonner Kommentar. 9 Zur Selbständigkeit der drei Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG und zur daraus folgenden Unzulässigkeit, den Begriff der allgemeinen Gesetze so auslegen zu wollen, dass er beide oder auch nur eine der anderen Schranken mit umfasst, siehe: Roman Herzog, Art. 5 Abs. I, II Rn. 244 f., in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, GG. 10 BVerfGE 93, 266, 291 („Soldaten-sind-Mörder“).
III. Der um die „Provokationsformel“ angereicherte § 15 VersG
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in der Literatur wird betont, dass im Rahmen der Schrankenprüfung auf die „von diesem Gesetz bzw. seiner Anwendung ausgehenden Folgen“ abgestellt werden müsse11 bzw. dass „Gesetze, die zu einer Beschränkung bestimmter Kommunikationsinhalte ermächtigen“12 (also eine entsprechende Anwendung erlauben), grundsätzlich nicht als allgemein einzustufen sind. Zu weitgehend wäre es, den dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dienenden Generalklauseln ob ihrer weitgehenden und damit auch „meinungsspezifisch“ anwendbaren Eingriffsermächtigungen per se den Charakter eines allgemeinen Gesetzes abzusprechen13. Entscheidend ist vielmehr die in Frage stehende Anwendungsmöglichkeit – und hier verlieren diese Normen dann ihren Charakter als allgemeines Gesetz, wenn sie in Bezug auf bestimmte Fallgruppen meinungsspezifisch angewendet werden. Für § 15 VersG bedeutet dies: Nutzt man § 15 VersG als einfachgesetzliche Grundlage zur Reglementierung rechtsradikaler Versammlungen und begründet dies mit einem aus der Provokationswirkung erwachsenden Verstoß gegen die öffentliche Ordnung, so wird eben gerade nicht mehr auf bloße „Äußerungsmodalitäten“14 abgestellt, sondern auf den Inhalt der neofaschistischen Meinung und die gerade darauf beruhende provozierende Wirkung. Damit wird § 15 VersG meinungsbezogen als Grundlage für Versammlungsverbote oder versammlungsrechtliche Auflagen gegenüber bestimmten, nämlich ob ihres rechtsextremistischen Inhaltes provozierenden Meinungen genutzt und damit in der konkreten fallbezogenen Anwendung seines Charakters als allgemeines Gesetz beraubt. Damit ist noch keine Aussage darüber getroffen, ob ein solcher meinungsbezogener Einsatz von § 15 VersG verfassungsrechtlich zulässig ist – fest steht lediglich, dass Art. 5 Abs. 2 Var. 1 GG als verfassungsrechtliche Beschränkungsermächtigung ausscheidet.
2. Die Aktivierung als „provokationsabwehrendes“ ehrenschützendes Gesetz Da Art. 5 Abs. 2 Var. 2 GG (Jugendschutz) als verfassungsrechtliche Ermächtigung nicht ernsthaft in Betracht kommt, bleibt zu prüfen, ob § 15 VersG bei einer Anwendung auf neonazistische Demonstrationen in einer spezifisch ehrenschützenden Funktion aktiviert werden kann. Dies wird vom Ergebnis her (ohne dass es 11 Wolfgang Hoffmann-Riem, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 48, in: Alternativkommentar, 3. Aufl. (Hervorhebung nicht im Original). 12 Hans D. Jarass, Art. 5 Rn. 5 Rn. 56, in: Hans D. Jarrass / Bodo Pieroth, GG, 6. Aufl. 2002 (Hervorhebung nicht im Original). 13 In diese Richtung wohl Herzog, Art. 5 Abs. I, II Rn. 271 Anm. 1, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, GG; Bethge, Art. 5 Rn. 143a, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003. 14 Zur Reglementierung bloßer „Äußerungsmodalitäten“, die auch bei meinungsbezogenen Regelungen den Charakter eines allgemeinen Gesetzes unberührt lassen können, vgl. Starck, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 183, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, 4. Aufl. 1999.
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5. Kap.: Eigener Lösungsvorschlag
in den Urteilsausführungen expressis verbis benannt wäre) auch praktiziert, wenn beispielsweise das OVG NRW neonazistische Versammlungen wegen eines zu erwartenden Verstoßes gegen Normen des Meinungsstrafrechts verbietet und das BVerfG diese Entscheidungen bestätigt15. Fraglich ist aber, ob eine solche Aktivierung der Norm generell möglich ist – wobei die versammmlungsrechtliche These der 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG von der Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts dem nicht entgegenstehen kann, da sie wie ausführlich dargelegt materiell unhaltbar ist und ihr prozessual keine Bindungswirkung für die Versammlungsbehörden und Fachgerichte zukommt. Zur Prüfung einer möglichen ehrenschützenden Aktivierung des § 15 VersG zur Abwehr provozierender neonazistischer Aufzüge sei nochmals ein Blick auf die für die „Provokationsformel“ maßgebliche Entscheidung des BVerfG zum Holocaust-Gedenktag geworfen. Das BVerfG führt in der Entscheidung aus, die öffentliche Ordnung könne dann betroffen sein, wenn einem bestimmten Tag ein in der Gesellschaft eindeutiger Sinngehalt mit gewichtiger Symbolkraft zukommt, „der bei Durchführung eines Aufzugs an diesem Tag in einer Weise angegriffen wird, dass dadurch zugleich grundlegende soziale oder ethische Anschauungen in erheblicher Weise verletzt werden“16. Die Formulierung von einem „Angriff“ auf grundlegende soziale oder ethische Anschauungen erinnert nun durchaus an die Problematik der so genannten „Schmähkritik“ und legt es nahe, für die Eindämmung besonders unerträglicher rechtsradikaler Versammlungen den Schrankenvorbehalt des Art. 5 Abs. 2 Var. 3 GG in den Blick zu nehmen, also den Schutz der persönlichen Ehre. Es soll dabei nicht geleugnet werden, dass damit keineswegs sicheres Terrain erreicht ist, denn auch die Ehrenschutzrechtsprechung des BVerfG ist nicht frei von Eigentümlichkeiten und Schwächen. So wird der Ehrenschutz in der Judikatur des BVerfG unzutreffender Weise weitgehend von der Schranke der allgemeinen Gesetze aufgesogen und seines eigenständigen Anwendungsbereiches beraubt17. Und auch der die Grenze zur Lächerlichkeit erreichende, wenn nicht gar überschreitende Versuch des Gerichtes, in der auf schlichter Dummheit und fehlender Fremdsprachenkenntnis beruhenden Äußerung „A soldier is a murder“ (statt „murderer“) eine besonders verfremdete und daher nicht ehrverletzende Meinungskundgabe sehen zu wollen18, wirft kein allzu positives Licht auf die Ehrenschutzrechtsprechung des BVerfG. Gleichwohl scheint dieser Weg für die systemgerechte und verfassungskonforme Einfügung eines auf § 15 VersG gestützten Verbots pro15 Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 4. 1. 2002, 5 B 12 / 02, NVwZ 2002, S. 737, bestätigt durch BVerfG, Beschluss vom 4. 1. 2002, 1 BvQ 1 / 02, NVwZ 2002, S. 714; OVG NRW, Beschluss vom 10. 8. 2001, 5 B 1072 / 01, DVBl. 2001, S. 1625, bestätigt durch BVerfG, Beschluss vom 10. 8. 2001, 1 BvQ 34 / 01, DVBl. 2001, S. 1585. 16 BVerfG, NJW 2001, 1409, 1410 (Hervorhebung nicht im Original). 17 Zu recht kritisch Starck, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 195, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, 4. Aufl. 1999; aus der Rspr. vgl. BVerfGE 34, 269, 282. 18 BVerfGE 93, 266 – „Soldaten sind Mörder“-Entscheidung.
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vozierender neonazistischer Versammlungen gangbar, da die Schranke des Schutzes der persönlichen Ehre vom Verfassungsgeber bewusst neben die Schranke der allgemeinen Gesetze gestellt wurde, um über die allgemeinen und damit notwendig meinungsneutralen Gesetze hinaus gerade auch eine gezielte Unterdrückung bestimmter Meinungen zu erlauben, so diese Meinungen dann ehrverletzenden Charakter haben19. Ob § 15 VersG tatsächlich als ehrenschützende Norm aktiviert und mit der Schranke des Art. 5 Abs. 2 Var. 3 GG in Einklang gebracht werden kann, verdient daher der genaueren Prüfung. a) § 15 VersG als „Recht der Ehre“ Zum ersten ist § 15 Abs. 1 VersG sicher keine spezifische Bestimmung zum Schutz der Ehre; die Norm ist vielmehr wie dargestellt primär als meinungsneutrale, nicht ehrenschützende Norm konzipiert. Art. 5 Abs. 2 GG verlangt aber anders als bei der Jugendschutzschranke von der zum Zweck des Ehrenschutzes herangezogenen Norm nicht, dass sie spezifisch „zum Schutz der Ehre“ aufgestellt worden wäre; die dritte Schranke des Art. 5 Abs. 2 GG ist vielmehr „das Recht“ der persönlichen Ehre – und dieses kann auch über eine nicht spezifisch ehrenschützende Norm abgesichert werden. Zwar ist für die Realisierung der Schranke des Art. 5 Abs. 2 Var. 3 GG trotz des nicht eindeutigen Wortlautes – der ungeschriebenes Recht nicht per se ausschließt – eine gesetzliche Grundlage notwendig20, diese kann aber auch in einem prinzipiell allgemeinen Gesetz wie § 15 VersG bestehen, welches in bestimmten Situationen ehrenschützend aktiviert und zur gezielten Unterdrückung bestimmter ehrverletzender Meinungen genutzt wird mit der Folge, dass es insoweit dann verfassungsrechtlich nicht mehr am Maßstab des Art. 5 Abs. 2 Var. 1, sondern am Maßstab des Art. 5 Abs. 2 Var. 3 GG zu messen ist.
b) § 15 VersG als „Recht der persönlichen Ehre“ Zum zweiten müssen Konkretisierungsmaßstäbe entwickelt werden, die der Tatsache gerecht werden, dass Art. 5 Abs. 2 Var. 3 GG nicht „das Recht der Ehre“ als Schranke der Meinungsäußerungsfreiheit zulässt, sondern nur „das Recht der persönlichen Ehre“. Ein Schutz der „Kollektivehre“ als solcher oder einer „institutionalisierten“ Ehre kommt daher auch versammlungsrechtlich nicht in Betracht. Gleichwohl kann auch im Versammlungsrecht der einzelne im Kollektiv durch eine gegen das Kollektiv gerichtete und auf ihn persönlich als Mitglied des Kollektivs 19 Starck, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 192, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Band 1, 4. Aufl. 1999, m. w. N. 20 BVerfGE 33, 1, 16 f.; Jarass, Art. 5 Rn. 62, in: Jarass / Pieroth, GG, 6. Aufl. 2002 m. w. N.
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5. Kap.: Eigener Lösungsvorschlag
durchschlagende Meinungskundgabe in seiner Ehre angegriffen werden. Die im einfachen Recht von der Strafrechtslehre und -rechtsprechung in Bezug auf § 185 StGB entwickelten Kriterien zur so genannten Kollektiv- oder Sammelbeleidigung können insoweit selbstverständlich nicht zwingender Maßstab für die Auslegung einer verfassungsrechtlichen Schranke sein, da stets die Verfassung die Grenzen des einfachen Rechts aufzeigt und nicht umgekehrt. Dies hindert aber nicht, die zur Kollektivbeleidigung entwickelten Grundsätze auch als Anhaltspunkte für die Auslegung des verfassungsrechtlichen Terminus der „persönlichen Ehre“ und die Anerkennung einer versammlungsrechtlich über § 15 Abs. 1 VersG abzuwehrenden „Kollektiv-Provokation“ heranzuziehen. Danach ist es notwendig, dass sich die ehrverletzende Äußerung nicht auf eine unüberschaubare große und daher den einzelnen selbst kaum noch persönlich betreffende Gruppe bezieht; es muss vielmehr eine hinreichend abgrenzbare Gruppe erkennbar sein. Das BVerfG hat dementsprechend in seiner „Soldaten-sindMörder“-Entscheidung zwischen den „Soldaten der Welt“ und den deutschen Bundeswehrsoldaten differenziert. Überträgt man dies nun auf neonazistische „Kollektiv-Provokationen“, so ergibt sich folgendes Bild: Demonstrationen von Neonazis, die an Tagen stattfinden, die entweder antifaschistisch dem Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus gewidmet sind oder die historisch durch besondere nationalsozialistische Ereignisse geprägt sind, welche den Holocaust ermöglichten oder vertieften, oder Demonstrationen, die an Orten stattfinden, an denen nationalsozialistische Verbrechen stattfanden oder an denen solcher Verbrechen gedacht werden soll, sind allesamt durch eine Besonderheit gekennzeichnet: Sie sind nicht nur widerliche, aber in einer freiheitlichen Demokratie hinzunehmende Meinungsäußerungen zugunsten eines rechtsradikalen Systems; sie sind zugleich wegen des gewählten Tages oder Ortes auch eine bewusste Herabsetzung, Demütigung und damit Provokation der an diesem Tag oder Ort besonders geschützten oder besonders verletzten Opfer des Nationalsozialismus, ihrer Angehörigen und der sich mit ihnen verbunden fühlenden. Die Besonderheit derartiger Aufzüge liegt gerade darin, dass die Versammlungsteilnehmer eben nicht nur „positiv“ die eigenen verqueren Anschauungen propagiert wollen, sondern dass sie auch und vorrangig „negativ“ die Ehre und das Ansehen derer, die vom Nationalsozialismus gequält und erniedrigt wurden, in den Schmutz ziehen wollen. Der neonazistische Aufzug, der ausgerechnet an einem derart sensiblen Tag oder Ort stattfinden soll, dient nicht nur der im politischen Meinungskampf hinzunehmenden Artikulation abweichender politischer Anschauungen; er soll auch und gerade die Gefühle derer, die sich den Opfern der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft verbunden fühlen, verletzen. Die dadurch angegriffene Gruppe ist auch nicht unüberschaubar; sie wird vielmehr dadurch zu einem dem Merkmal der „persönlichen Ehre“ gerecht werdenden Kollektiv reduziert, dass eine von (überwiegend) deutschen Neonazis auf deutschem Boden veranstaltete Demonstration die in Deutschland noch lebenden Opfer
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des deutschen Nationalsozialismus sowie ihre Nachkommen und die sich mit ihnen besonders verbunden fühlenden Bürger besonders beleidigt und provoziert. Das dargestellte untrennbare Junktim von Versammlungsort, -zeit und -gegenstand verbietet es insoweit zwar zugunsten der neonazistischen Demonstration, ausschließlich auf den Versammlungsort oder das Datum der Versammlung als vermeintlicher „Äußerungsmodalität“ zu fokussieren und die Einschränkung einer solchen Versammlung als nicht „meinungsbezogen“ und damit als nicht am Maßstab von Art. 5 Abs. 1 und 2 GG zu messend zu bewerten. Durch den besonderen Tag oder Ort bekommt aber die im Vordergrund stehende Meinungskundgabe eine besonders provozierende Wirkung, die es nun zum Nachteil der neonazistischen Demonstration erlaubt, als Rechtfertigung für einen meinungsbeschränkenden Eingriff auf die Schranke der persönlichen Ehre zurückzugreifen. Die einfachgesetzliche Einbruchstelle für den Ehrenschutz in das Versammlungsrecht ist dann das Tatbestandsmerkmal der öffentlichen Ordnung in § 15 Abs. 1 VersG. Allerdings ist es wie dargestellt nicht aufzufüllen aus der geschriebenen Werteordnung des Grundgesetzes und dem historischen Gedächtnis der Verfassung, sonder aus den ungeschriebenen21 unverzichtbaren Wertvorstellungen und dem historischen Gedächtnis der in Deutschland lebenden Gesellschaft und hier besonders der durch provokante neonazistische Demonstrationen angegriffenen ehemaligen Opfer des Nationalsozialismus, ihrer Nachkommen und aller Bürger, die sich mit den Opfern der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft verbunden fühlen. Der empirische Nachweis dieser Wertvorstellungen, die ja als für das gedeihliche Zusammenleben unerlässlich zu qualifizieren sein müssen, um den an das Tatbestandsmerkmal der „öffentliche Ordnung“ zu stellenden Ansprüchen zu genügen, mag im Einzelfall nicht unproblematisch sein; dies wurde ja im 4. Kapitel dieser Untersuchung sub II. 1 erörtert. Aber gerade die Erfahrungen der letzen Jahre zeigen, dass neonazistische Demonstrationen oftmals schon im Vorfeld (nämlich ab Bekanntwerden ihrer Planung) zu öffentlicher Empörung und vehementem Engagement von Bürgern bei der Organisation von Gegenveranstaltungen führten; und dies auch mit nicht unbeachtlichen regionalen Unterschieden. Diese in der Region feststellbaren Reaktionen auf eine bevorstehende neofaschistische Demonstration können aber Tatsachengrundlage für eine Bewertung der in dem betreffenden Polizeibezirk herrschenden Wertvorstellungen sein, wobei insbesondere das angesprochene Junktim von Tag, Ort und Motto der beabsichtigten Veranstaltung und der gerade daraus erwachsende Grad an öffentlicher Entrüstung Maßstab für
21 Da die ungeschriebenen Wertvorstellungen in ein geschriebenes und vom Gesetzgeber ausdrücklich aufgrund seines gesetzgeberischen Willens normiertes Tatbestandsmerkmal einfließen (nämlich das der „öffentlichen Ordnung“ in § 15 Abs. 1 VersG) und nicht etwa „aus sich selbst heraus“ angewendet werden, kann die öffentliche Ordnung ehrenschützend und meinungseinschränkend wirken, ohne dass dies dem Erfordernis des Vorliegens einer geschriebenen gesetzlichen Einschränkungsgrundlage zuwider liefe.
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5. Kap.: Eigener Lösungsvorschlag
die notwendige Beantwortung der Frage sein kann, ob die Demonstration von betroffenen Opfern des Nationalsozialismus, deren Nachkommen und den sich mit ihnen verbunden fühlenden Bürger als ehrverletzend (auch weit unterhalb der Grenze der Strafbarkeit) angesehen wird. Insofern sei klarstellend darauf hingewiesen, dass es wegen der fehlenden Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts für die ehrenschützende Anwendung des § 15 Abs. 1 VersG nicht darauf ankommt, ob seitens der Veranstalter ein „Beleidigungsvorsatz“ oder Ähnliches vorliegt. Inwieweit dann gerade an besonderen Tagen und Orten eher als an anderen Tagen oder Orten von einer entsprechenden Provokationswirkung auszugehen ist, muss im Hinblick auf das angesprochene gesellschaftliche Gedächtnis, die entsprechenden Wertvorstellungen und deren nachvollziehbare Messbarkeit stets im Einzelfall geprüft werden. Es dürfte hier eindeutige Fälle geben, beispielsweise beabsichtigte neofaschistische Versammlungen am Holocaust-Gedenktag oder auf dem Gelände eines ehemaligen Konzentrationslagers; darüber hinaus kommen aber schon alleine in zeitlicher Hinsicht eine Vielzahl von Tagen in Betracht, an denen das nationalsozialistische Unrechtsregime in den zwölf Jahren seines politischen und militärischen Wirkens für den Holocaust (mit-) verantwortliche, den Holocaust erleichternde Handlungen unternommen hat; ergänzt um die Geburts- und Todesdaten bekannter und mit dem Regime identifizierbarer Nationalsozialisten 22. Insofern lässt sich schon bei erster kalendarischer Durchsicht ein grobmaschiges Netz besonders provokanter Versammlungstage über das Kalenderjahr legen, an denen und in deren unmittelbarem zeitlichen Umfeld die Durchführung neonazistischer Versammlungen mit den für ein gedeihliches Zusammenleben unerlässlichen Wertvorstellungen der Gesellschaft regelmäßig unvereinbar und daher zu untersagen sein dürfte – das Neonazitum kann insoweit mit den Waffen seiner eigenen Vergangenheit geschlagen werden. Eine solche im Einzelfall erfolgende Reglementierung neonazistischer Versammlungen kann im Übrigen auch nicht als Verstoß gegen die Schranken-Schranke des Zensurverbotes nach Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG bewertet werden. Die unter Berufung auf das (Vor-)Zensurverbot vereinzelt in der Literatur anzutreffende Auffassung, dass im Bereich des Versammlungsrechtes23 oder gar im gesamten von 22 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit können im Jahreszyklus als Tage mit besonderem faschistischen Hintergrund benannt werden: 30. Januar (1933): Machtergreifung Hitlers; 7. März (1936): Besetzung der entmilitarisierten Zone des Rheinlands; 12. März (1938): Einmarsch deutscher Truppen in Österreich; 15. März (1939): Einmarsch deutscher Truppen in die Tschechoslowakei; 9. April (1940): Besetzung Dänemarks und Norwegens; 20. April (1889): Geburtstag Adolf Hitlers; 10. Mai (1940): Beginn des Westfeldzuges; 17. August (1987): Todestag von Rudolf Hess; 1. September (1939): Überfall auf Polen; 1. Oktober (1938): Einmarsch in die sudetendeutschen Gebiete; 9. November (1938): „Reichspogromnacht“. 23 So Michael Breitbach / Dieter Deiseroth / Ulli Rühl, in: Helmut Ridder / Michael Breitbach / Ulli Rühl / Frank Steinmeier, Versammlungsrecht, 1992, § 15 Rn. 171.
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Art. 5 GG geschützten Kommunikationsbereich 24 präventive Verbote oder Auflagen in toto ausgeschlossen seien, verkennt, dass nicht jede Maßnahme der Gefahrenabwehr schon „Zensur“ darstellt. Denn durch das verfassungsrechtliche Zensurverbot ist „nicht die Gefahrenabwehr, wohl aber ein bestimmtes . . . einschneidendes Gefahrenabwehrverfahren, nämlich das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, verfassungsrechtlich verboten“25. Die im Bereich grundsätzlich erlaubter Verhaltensweisen (wie dem Versammlungsrecht) im Einzelfall erfolgende gefahrenabwehrrechtliche Verhinderung rechtswidrigen Verhaltens stellt insofern keine Zensur dar26. Allerdings darf die Provokationsformel ob des in ihr realisierten Ehrenschutzes nicht uferlos angewendet werden: An Tagen oder Orten, an denen nur noch ein studierter Geschichts- oder Politikwissenschaftler Bezüge zum Nationalsozialismus erkennen oder ableiten kann, aber nicht mehr die dargestellte, in ihrer Ehre zu schützende Personengruppe, ist eine staatliche Sanktionierung neonazistischer Versammlungen mit dem Argument einer besonderen, die öffentliche Ordnung im Sinne des § 15 Abs. 1 VersG verletzenden Provokationswirkung nicht möglich.
24 So Michael Breitbach / Ulli F. H. Rühl, Versammlungsrecht und Zensurverbot, NJW 1988, S. 8 einleitender Absatz. 25 Volkmar Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 13. Auf. 2001, § 12 Rn. 332. Ebenso Hans D. Jarass, in: Hans D. Jarass / Bodo Pieroth, Grundgesetz, 6. Aufl. 2002, Art. 5 Rn. 64: „Keine Zensur ist auch die Untersagung einer Meinungsäußerung durch eine gerichtliche einstweilige Verfügung . . . , da hier kein präventives Verbot vorausgeht“. 26 So im Ergebnis auch die ganz h. M.: BayVGH, BayVBl. 1983, S. 54, 55; Alfred Dietel / Kurt Gintzel / Michael Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, 12. Aufl. 2000, § 15 Rn. 36; Volkmar Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 13. Aufl. 2001, § 12 Rn. 332; Hans D. Jarass, in: Hans D. Jarass / Bodo Pieroth, Grundgesetz, 6. Aufl. 2002, Art. 5 Rn. 64; Herbert Bethge, in: Michael Sachs, Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 5 Rn. 135c; jeweils m. w. N.
Zusammenfassung Die von der 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG und dem 5. Senat des OVG NRW ausgetauschten Argumente zu den Möglichkeiten der Einschränkung rechtsradikaler Versammlungen vermögen in weiten Teilen nicht zu überzeugen. Dies gilt namentlich für den Versuch des OVG NRW, rechtsradikale Aufzüge schon von vornherein aus dem Grundrechtsschutz der Art. 8 Abs. 1, 5 Abs. 1 herauszudefinieren und so den Teufel des Rechtsradikalismus mit dem Beelzebub reduzierter rechtsstaatlicher Garantien auszutreiben. Das BVerfG betont dagegen zutreffend, dass auch die neonazistische Versammlung den vollen grundrechtlichen Schutz genießt; es gibt dann aber ohne Not und unter unzutreffender Anwendung verschiedener „Sperrwirkungs“-Argumente die staatlichen Möglichkeiten des rechtmäßigen Vorgehens gegen die ja nicht schrankenlos geschützten rechtsradikalen Aufzüge preis. Die Problematik, dass in einer freiheitlichen Demokratie auch unliebsame politische Ansichten ein Recht auf öffentliche Artikulation haben, aber der die öffentliche Sicherheit und Ordnung schützende Rechtsstaat zugleich die Pflicht hat, unerträgliche Provokationen seiner Bürger durch das Wiederaufleben faschistischen Gedankenguts zu verhindern, lässt sich systemgerecht lösen, wenn man § 15 Abs. 1 VersG verstärkt als ehrenschützende Norm aktiviert und als Rechtsgrundlage für ein Vorgehen gegen die öffentliche Ordnung unmittelbar gefährdende provokative Aufzüge von Neonazis an besonders sensiblen Tagen oder Orten nutzt. Im Einzelnen können thesenartig folgende Ergebnisse festgehalten werden:
I. Zu den Argumenten von BVerfG und OVG NRW 1. Die Auffassung des OVG NRW, dass rechtsradikale Versammlungen schon vom Schutzbereich der „Demonstrationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1, 8 GG)“ ausgenommen seien, überzeugt mangels einer klaren, in ihrer Deutlichkeit dem „Friedlichkeits- und Waffenlosigkeitsvorbehalt“ des Art. 8 Abs. 1 GG vergleichbaren Grundlage nicht. 2. Das Friedensgebot (Art. 1 Abs. 2, 24 Abs. 2, 26 Abs. 1 GG), die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und die Strukturprinzipien der Demokratie, des Föderalismus und der Rechtsstaatlichkeit (Art. 20 GG) können entgegen dem OVG NRW nicht als verfassungsimmanente Schranke der „Demonstrationsfreiheit“
I. Zu den Argumenten von BVerfG und OVG NRW
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angesehen werden. „Verfassungsimmanente Schranken“ beziehen sich auf schrankenlos gewährte Grundrechte; bei Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt (wie Art. 5 u. 8 GG) ist die verfassungskonforme Interpretation des den Gesetzesvorbehalt ausfüllenden einfachen Rechts der systematisch zutreffende weil die Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers respektierende Anknüpfungspunkt, um verfassungsimmanente Wertpositionen einzubringen. Selbst wenn man aber verfassungsimmanente Schranken auch bei Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt zur Anwendung bringen will, so würde dies kollisionsrechtlich einen Normwiderspruch zwischen Grundrechtsnorm und entgegenstehendem Verfassungswert voraussetzen. An einem solchen Normwiderspruch fehlt es aber, wenn die Wertekollision durch verfassungskonforme Anwendung des auf der vorhandenen Grundrechtsschranke basierenden einfachen Rechts auflösbar ist – genau dies ist aber durch eine „ehrenschützende Aktivierung“ des § 15 Abs. 1 VersG möglich. 3. Der Begriff der „öffentlichen Ordnung“ in § 15 Abs. 1 VersG kann entgegen dem OVG NRW nicht durch geschriebene Wertmaßstäbe des Grundgesetzes ausgefüllt werden, da dies die polizeirechtlich tradierte und auch im internationalen Recht gebräuchliche Trennung zwischen öffentlicher Sicherheit und Ordnung verwischt und in unzulässiger Weise vom rechtlichen „Sollen“ aufs faktische „Sein“ schließt. 4. Eine „Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts“ ist entgegen dem BVerfG bei Art. 5 Abs. 2 GG nicht anzuerkennen, da dies der fragmentarischen, auf den Schutz eines ethischen Minimums beschränkten Natur des Strafrechts widerspricht. 5. Zu den gerade in Abkehr vom nationalsozialistischen Unrechtsstaat errichteten rechtsstaatlich-demokratischen Absicherungen unserer Verfassung gehört unter anderem auch die Versammlungsfreiheit, welche auch dem Gegner des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates zusteht, solange sie nicht in einem formalisierten Verfahren (Art. 18 und 21 GG) durch die dafür vorgesehene Instanz in Form des BVerfG eingeschränkt wird. 6. Die vom BVerfG angenommene „Sperrwirkung des Parteienprivilegs“ kann im Versammlungsrecht insoweit überzeugen, als die versammlungsrechtliche Gefahrenprognose nach § 15 Abs. 1 VersG auf konkrete, die spezifische Versammlung betreffende Rechtsgutsgefährdungen bezogen sein muss, was im Umkehrschluss eine bloße Bezugnahme auf die für ein Parteiverbotsverfahren relevante verfassungsfeindliche Grundhaltung eines Versammlungsveranstalters unergiebig macht. 7. Die vom BVerfG angenommene „Sperrwirkung des Landesfeiertagsrechts“ kann dagegen nicht überzeugen, da sie sich weder mit der auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG beruhenden Kompetenzfrage noch dem Telos des Feiertagsrechts auseinandersetzt.
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Zusammenfassung
8. Auch das Argument von der „spezifischen Provokationswirkung“ neonazistischer Versammlungen überzeugt in der Lesart des BVerfG nicht, da es ohne präzise verfassungsrechtliche Ableitung nur auf Art. 8 GG bezogen wird, ohne dass die nahe liegende Frage nach der Einschlägigkeit von Art. 5 Abs. 1 und 2 GG gestellt würde.
II. Eigener Lösungsvorschlag 1. Wegen der Untrennbarkeit des Junktims „Versammlungsinhalt, -ort, und -tag“ ist eine an der besonderen Provokationswirkung ansetzende Reglementierung neonazistischer Aufzüge nach Maßgabe des § 15 VersG stets eine die Versammlung wegen der in ihr geäußerten Meinungen einschränkende Maßnahme. 2. Rechtlich ist damit aus Sicht der Demonstranten der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG eröffnet, so dass sich aus der Sicht des gegen die Versammlung vorgehenden Staates die Frage nach der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des § 15 Abs. 1 VersG vor dem Hintergrund von Art. 5 Abs. 2 GG stellt. 3. Lässt man die Provokationswirkung rechtsradikaler Versammlungen über das Tatbestandsmerkmal der öffentlichen Ordnung in § 15 VersG einfließen, so verliert die Norm in Bezug auf die entsprechenden Fallgruppen ihren grundsätzlich vorhandenen Charakter als allgemeines Gesetz; Art. 5 Abs. 2 Var. 1 GG scheidet damit als verfassungsrechtliche Beschränkungsermächtigung aus. 4. § 15 VersG kann aber als „provokationsabwehrendes“ ehrenschützendes Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Var. 3 GG aktiviert werden: Demonstrationen von Neonazis an Tagen, die entweder dem Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus gewidmet sind oder die historisch durch besondere den Holocaust ermöglichende oder vertiefende Ereignisse geprägt sind, oder Demonstrationen, die an Orten stattfinden, an denen nationalsozialistische Verbrechen stattfanden oder dieser Verbrechen gedacht werden soll, sind nicht nur in einer freiheitlichen Demokratie hinzunehmende Meinungsäußerungen; sie sind zugleich wegen des gewählten Tages oder Ortes die bewusste Herabsetzung, Demütigung und Provokation aller Opfer des Nationalsozialismus, ihrer Angehörigen und aller sich ihnen verbunden fühlenden Bürger. 5. Die dadurch angegriffene und über Art. 5 Abs. 2 Var. 3 GG, § 15 Abs. 1 VersG zu schützende Gruppe ist auch nicht (was mit dem Schutz der persönlichen Ehre unvereinbar wäre) unüberschaubar; sie ist vielmehr bei von (überwiegend) deutschen Neonazis auf deutschem Boden veranstalteten Demonstrationen auf die Gruppe der in Deutschland lebenden Opfer des Nationalsozialismus und ihrer Angehörigen sowie der hier lebenden und sich mit ihnen besonders verbunden fühlenden Bürger beschränkt.
II. Eigener Lösungsvorschlag
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6. Inwieweit an bestimmten Tagen oder Orten von einer ehrverletzenden Provokation (die wegen fehlender Sperrwirkung des Meinungsstrafrechts auch deutlich unterhalb der Strafbarkeitsschwelle liegen kann) auszugehen ist, muss stets im Einzelfall geklärt werden. An einer Vielzahl von Tagen und Orten, die im Gedächtnis der Bevölkerung einen nationalsozialistischen Bezug aufweisen, wird von einer solchen Provokation ausgegangen werden können; dies zumindest dann, wenn eine geplante Veranstaltung ab ihrem Bekanntwerden zu empirisch belegbarer (und damit für den Begriff der öffentlichen Ordnung einschlägiger) öffentlicher Empörung und vehementen Protesten führt. 7. Die Aktivierung von § 15 Abs. 1 VersG als ehrenschützende und damit von Art. 5 Abs. 2 Var. 3 GG getragene Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit erlaubt damit (im Unterschied zu den bisher von BVerfG und OVG NRW vorgetragenen Argumenten) eine systemgerechte Einschränkung neonazistischer Versammlungen an besonders sensiblen Tagen oder Orten. Neonazistische Versammlungen, die dagegen hinsichtlich ihres Veranstaltungstages und -ortes unauffällig sind, müssen in einem freiheitlichen Rechtsstaat hingenommen werden. Ihnen den gesellschaftlichen Nährboden zu entziehen, ist Aufgabe der Politik und nicht des Verfassungs- oder Versammlungsrechtes.
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