Deliktstypen des Präventionsstrafrechts - zur Dogmatik »moderner« Gefährdungsdelikte [1 ed.] 9783428499472, 9783428099474

Ein sich präventiv legitimierendes "modernes" Strafrecht kann, will es den Erwartungen gerecht werden, nicht e

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German Pages 388 Year 2000

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Deliktstypen des Präventionsstrafrechts - zur Dogmatik »moderner« Gefährdungsdelikte [1 ed.]
 9783428499472, 9783428099474

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WOLFGANG WOlll...ERS

Deliktstypen des Präventionsstrafrechts zur Dogmatik "moderner" Gefährdungsdelikte

Strafrechtliche Abhandlungen . Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser em. ord. Professor der Rechte an der Universität Hambwg

und Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensbwg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 126

Deliktstypen des Präventions strafrechts zur Dogmatik "moderner" Gefährdung sdelikte

Von

Wolfgang Wohlers

Duncker & Humblot . Berlin

In die Reihe aufgenommen als Habilitationsschrift, gedruckt mit Unterstützung der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wohlers, Wolfgang: Deliktstypen des Präventionsstrafrechts - zur Dogmatik "moderner" Gefährdungsdelikte / von Wolfgang Wohlers. Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Strafrechtliche Abhandlungen; N.F., Bd. 126) Zugl.: Basel, Univ., Habil.-Schr., 1999 ISBN 3-428-09947-8

Alle Rechte vorbehalten

© 2000 Duncker & Humb10t GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-09947-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Für Antje

Vorwort Das der vorliegenden Abhandlung zugrunde liegende Manuskript wurde im Sommer 1998 abgeschlossen und die Arbeit im Frühjahr 1999 von der Juristischen Fakultät der Universität Basel als Habilitationsschrift angenommen. Literatur und Rechtsprechung sind im wesentlichen auf dem Stand August! September 1998. Einzelne, nach Abschluß des Manuskripts erschienene Veröffentlichungen konnten für die Drucklegung noch in den Fußnoten berücksichtigt werden - so unter anderem die thematisch unmittelbar einschlägige Habilitationsschrift von Frank Zieschang: Die Gefährdungsdelikte. Mein Dank geht an erster Stelle an meinen akademischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Kurt Seelmann. Er hat die Entstehung der Arbeit von der Idee über die ersten Versuche der Umsetzung bis zur Fertigstellung zunächst in Hamburg und dann von Basel aus mit großem Engagement begleitet. Seine stets konstruktive und ermutigende Kritik hat ohne Frage ganz entscheidend zum Gelingen des Projekts beigetragen. Auch die mit dem Wechsel von Hamburg nach Basel entstandenen organisatorischen Erschwernisse sind im Ergebnis durch die mit der Berücksichtigung einer anderen Rechtsordnung einhergehende Erweiterung des Blickfeldes mehr als aufgewogen worden. Zu danken habe ich des weiteren der Familie Seelmann für die während meiner Forschungsaufenthalte in Basel gewährte Gastfreundschaft, Herrn Prof. Dr. Ulrich Schroth für die sehr zügige Erstellung des Zweitgutachtens sowie meinem Vater für die Unterstützung bei der Korrektur der Druckfahnen. Die Freiwillige Akademische Gesellschaft Basel hat die Drucklegung des Werks mit einem großzügigen Druckkostenbeitrag gefördert - auch hierfür bedanke ich mich ganz herzlich. Gewidmet ist das Buch meiner Frau. Sie hat die Entstehung der Arbeit von Anbeginn mit großem Interesse verfolgt und mich trotz umfangreicher eigener Verpflichtungen nicht nur moralisch, sondern auch in technischer Hinsicht wesentlich unterstützt - vielen Dank für alles. Hamburg, im Oktober 1999

Wolfgang Wohlers

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

Gegenstand und Gang der Untersuchung

21

I. Einführung in die Problemstellung........................................... .. ....

21

H. Gang der Untersuchung ...........................................................

25

2. Kapitel

Die Krise des "modemen" Strafrechts

29

I. Die Unterscheidung des "klassischen" und "modernen" Strafrechts ......... . ......

29

I. Charakteristika des Strafrechts "klassischer Prägung" ............ . . . . . . . . . . . . . . .

31

2. Charakteristika des "modernen" Strafrechts. . .. . . . . . . ... . . . .. . . .. . . . . . . . . . .. . . . .

33

H. Die Orientierung des Strafgesetzgebers an präventiven Zielsetzungen. . . . . . . . . . . . . .

36

III. Der gesellschaftliche Hintergrund der präventiven Orientierung des Gesetzgebers. .

39

IV. Das Legitimitätsdilemma "moderner" Strafrechtsnormen ............... . ..........

43

I. Vollzugsdefizite als Indiz der Krise des "modernen" Strafrechts. . . . . . . . . . . . . . . . .

43

2. Unvereinbarkeit von Regelungsziel und Zurechnungsstruktur "moderner" Strafrechtsnormen ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

3. Kapitel

Voraussetzungen und Problematik einer Integration strafrechtlicher Normen in ein Gesamtsystem staatlichen Risikomanagements

47

10

Inhaltsverzeichnis 4. Kapitel

Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht

49

I. Die Heterogenität der "Frankfurter Schule" .......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

11. Kernstrafrecht und Prävention .....................................................

54

1. Die Notwendigkeit einer kumulativen Legitimation strafrechtlicher Normen. . . .

54

2. Strafgesetzgebung als Handeln unter Ungewißheit ......... . . . . . . . .. . . . .. . . . . . . .

57

111. Der Rekurs auf einen vorpositiv-verbindlichen Begriff des Verbrechens............

61

I. Die Konzeption des Verbrechens als "absolute" Untat ..........................

61

2. Die Abgrenzung des crimen publicum vom crimen privatum............. . ......

61

3. Die Geschichtlichkeit des Strafrechts ...........................................

65

a) Die wertende Bestimmung strafrechtlicher Schutzgüter .....................

65

b) Festlegung der Art und Weise des strafrechtlichen Schutzes .................

69

IV. Ablösung strafrechtlicher Normen durch andere Instrumente zur Regelung sozialer Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

1. Subsidiarität strafrechtlicher Normen gegenüber nicht-repressiven Instrumenta-

rien ................................... ....................... ..................

71

a) Das Verhältnis von Repression und Prävention ..............................

71

b) Konsequenzen für das "moderne" Strafrecht? ........................ . ......

75

2. Substitution kriminalstrafrechtlicher Normen durch andere Formen repressiven Zwangs........................................................................

78

a) Das "Interventionsrecht" ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

b) Die Herabstufung von Kriminalstraftaten zu Ordnungswidrigkeiten.........

79

aa) Das Ordnungswidrigkeitenrecht als ein formal eigenständiges Rechtsgebiet ..................................................................

81

bb) Die Abgrenzung von Kriminal- und Ordnungsunrecht ..................

84

(I) Die Lehre vom Verwaltungsunrecht (Goldschmidt) ................

84

(2) Die Abgrenzung von Kultur- und Verwaltungs schaden (WoIO . . . . . .

85

(3) Die Unterscheidung sittlich indifferenter und sozialethisch mißbilligenswerter Normverstöße ........................................

87

(4) Die Unterscheidung personaler und überindividueller Interessen...

89

(a) Die sog. Schmidt'sche Formel... ... . ..... .... .. . . . .. . . . ... . .. .

89

(b) Die personale Rechtsgutslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Inhaltsverzeichnis (5) Die Lehre vom Verbrechen als Verletzung des rechtlich konstituierten Basisvertrauens (Wolff) .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 97

(6) Kriminal- und Ordnungsunrecht als graduell abgestufte Unrechtsformen ............................................................ 100 (7) Der gemischt qualitativ-quantitative Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. \02 (8) Die Angemessenheit der angedrohten Sanktion als Zuordnungskriterium ............................................................. \05 V. Zwischenergebnis ................................................................. 109

5. Kapitel

Analyse des "modernen" Strafrechts

110

I. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes ..................................... 110

11. Das Umweltstrafrecht ............ . ............ . ................................... 111 I. Das bundesdeutsche Umweltstrafrecht . . . .. . . . . . . . . .. . . . ... . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . I \I

a) Die Genese des Umweltstrafrechts als Teil des Nebenstrafrechts ............ 111 b) Die Verlagerung einzelner Normen in das StGB ........... . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 2. Das UmweItstrafrecht der Schweiz .............................................

115

3. Charakteristika des "modernen" UmweItstrafrechts ............... . .......... . .. 118 a) Die symbolische Funktion umweItstrafrechtlicher Normen .................. 119 aal Grundlagen der Begriffsbildung ........................................ 119 bb) Der symbolische Gehalt umweltstrafrechtlicher Normen............... 120 cc) Der symbolische Gehalt umweItstrafrechtlicher Gesetzgebung ......... 122 b) Die materielle Legitimität der Straftatbestände des UmweItstrafrechts ....... 126 4. Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität umweItstrafrechtlicher Normen ............................................................................ 127 a) Rechtsgüterschutz im geltenden bundesdeutschen Umweltstrafrecht . . . . . . . .. 128 b) Umweltstrafrechtliche Normen als Problem der Rechtsgutstheorie .......... 130 aal Der Stand der Diskussion .............................................. 130 bb) Strafrechtlicher Schutz ökologischer Werte als Zweck an sich .......... 132 cc) Strafrechtlicher Schutz der Entscheidungsprärogative der Verwaltung .. 135 dd) Strafrechtlicher Schutz der Umwelt als Teil der Gewährleistung des status positivus ........................................................... 139

12

Inhaltsverzeichnis 5. Zurechnungsprobleme im Anwendungsbereich umweltstrafrechtlicher Normen 140 a) Die verwaltungsakzessorische Ausgestaltung umweltstrafrechtlicher Normen ........................................................................ 140 b) Die Erfassung bagatellartiger Umweltbelastungen .......................... 141 aa) Legitimation der Pönalisierung im Hinblick auf den Gesamtschaden? .. 142 bb) Legitimation der Pönalisierung im Hinblick auf die Einzelhandlung? ... 143 6. Zwischenergebnis ................................. . ............................ 145

Ill. Das "moderne" Wirtschaftsstrafrecht .... ... ...... ... ......... ...... ........ ... .... 146 I. Die Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes .............................. 146 2. Die Gesetze zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität....................... 148 a) Die Überführung von Straftatbeständen aus dem Nebenstrafrecht in das Kernstrafrecht .............................................................. 150 b) Die Anpassung strafrechtlicher Normen an das sich wandelnde gesellschaftliche Umfeld ............................................................... 151 c) Die Schaffung von Straftatbeständen im Vorfeld des Betruges........ . ...... 154 aa) Ursachen der Vorverlagerung des Strafbarkeitsbereiches ............... 154 bb) Die Legitimation der Vorverlagerung des Strafbarkeitsbereiches ........ 157 (1) Der Subventionsbetrug (§ 264 dStGB) .............................

157

(2) Der Kapitalanlagebetrug (§ 264a dStGB) .......................... 157 (3) Der Kreditbetrug (§ 265b dStGB) .................................. 158 cc) Die Legitimation über den Schutz individueller Vermögensinteressen .. 159 dd) Die Legitimation über den Schutz überindividueller Interessen ......... 164 (1) Der Einwand der systemwidrigen Differenzierung................. 164 (2) Die Legitimität des strafrechtliche Schutzes von Institutionen und Funktionszusammenhängen des Wirtschaftsverkehrs .......... . . . .. 165 ee) Die Strafwürdigkeitslehre (Ouo) ........................ .. ............. 166 (1) Allgemeine Würdigung der Konzeption. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

(2) Die Anwendung auf wirtschaftsdelinquente Verhaltensweisen ..... 171 (a) Der Subventionsbetrug (§ 264 dStGB) ......................... 173 (b) Der Kapitalanlagebetrug (§ 264a dStGB) ........ . . . ........... 174 (c) Der Kreditbetrug (§ 265b dStGB) ............................. 175 ff) Zwischenergebnis......................................................

176

Inhaltsverzeichnis

13

IV. Das Betäubungsmittelstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 1. Genese und Struktur des Betäubungsmittelstrafrechts ........................ . .. 178 a) Die Ursachen der Reform des Betäubungsmittelstrafrechts .................. 178 b) Die Ausweitung des Anwendungsbereichs des Betäubungsmittelstrafrechts 179 c) Instrumentarien zur einzelfallbezogenen Korrektur des Strafbarkeitsbereiches ........................................................................ 185 2. Die Legitimation der Pönalisierung des Umgangs mit Betäubungsmitteln ....... 190 a) Das Rechtsgut der "Volksgesundheit" ....................................... 190 b) Die personale Integrität des Drogenkonsumenten ................. . ......... 192 c) Die Beeinträchtigung von Gemeinschaftsinteressen ......................... 196 aal Die Bekämpfung der mit dem Rauschmittelkonsum einhergehenden Kriminalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 bb) Die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 199 d) Zwischenergebnis .......................................................... 202 V. Strafrechtsnormen zur Abwehr des mißbräuchlichen Umgangs mit moIekularbiologisehen und gentechnologischen Verfahren ........................................ 203 I. Das bundesdeutsche Gentechnikgesetz (GenTG) ................................ 204 2. Das bundesdeutsche Embryonenschutzgesetz (ESchG) ......................... 206 3. Der Entwurf eines schweizerischen Fortpflanzungsmedizingesetzes (FMedG) .. 207 4. Legitimation der Strafnormen

207

VI. Zwischenergebnis .................................. . .......................... . ... 212

6. Kapitel

Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität strafrechtlicher Normen

213

I. Einleitung. . .. . .. . .. .. ....... . ... . ..................................... . ............ 213

11. Rechtsgüterschutz als Funktion strafrechtlicher Normen ... . ............ . .......... 215 111. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie ............................... 218 I. Die Unterscheidung von Individual- und Universalrechtsgütern ................. 221 2. Die Substanzhaltigkeit von Rechtsgütern ................................... . ... 223

14

Inhaltsverzeichnis 3. Die Anbindung der Rechtsgutstheorie an die Gesellschaftstheorie . . . . . . .. . . . . . .. 229 a) Das gesellschaftliche Umfeld als Kriterium strafschutzwürdiger Rechtsgüter

230

aal Das Seiende als Basis des Seinsollenden (v. Liszt) . . . . ... . . . . . ... . . . . . .. 230 bb) Die sozialwissenschaftlich "aufgeklärte" Rechtsgutstheorie ............ 237 b) Normative Maßstäbe zur Bestimmung des legitimen Anwendungsbereichs strafrechtlicher Normen ................................................... " 241 aal Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz .................................... 241 bb) Verfassungsrechtliche Pönalisierungsgebote ............................ 242 cc) Die verfassungsrechtliche Werteordnung als Maßstab zur Legitimation strafrechtlichen Zwangs .............................................. " 245 dd) Die Verfassungsrechtsordnung als Maßstab zur Begrenzung des Anwendungsbereichs strafrechtlicher Normen ............... . . . . . . . . . . . . . . . . .. 249 IV. Grenzen der Strafgewalt im pluralistischen Staat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 253 I. Die grundsätzliche Formulierung des Ansatzes bei John Stuart Mill . . . . . . . . . . . .. 254 2. Die Ausdifferenzierung des Ansatzes durch Joel Feinberg ...................... 256 3. Die Rezeption der Konzeption in der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft

259

4. Kriterien zur Bestimmung strafrechtsfreier Sphären. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 262 a) Der "echte" Strafrechtsmoralismus ................................. :....... 264 aal Die Bezugnahme auf ein zeitlos-gültiges Sittengesetz .................. 264 bb) Der Schutz zentraler Wertvorstellungen als Schutz der Gesellschaft .... 266 b) Der "unechte" Strafrechtsmoralismus ....................................... 269 aal Moralwidriges Verhalten als Beeinträchtigung des öffentlichen Friedens 269 bb) Moralwidriges Verhalten als Beeinträchtigung von Interessen .......... 272 c) Das systemkritische Potential der Konzeption............................... 275 V. Zwischenergebnis ............................... . ................................. 279

7. Kapitel Grenzen des Gefahrdungsstrafrechts

281

I. Dogmatik der Gefahrdungsdelikte ................................................. 281 1. Die konkreten Gefährdungsdelikte .. .. . . . . . . . . . .. . .. . .. . .. . . .. .. . . . . . .. . . . .. . . .. 284

2. Die abstrakten Gefährdungsdelikte ............................................. 286 a) Abstrakte Gefährdungsde1ikte und Rechtsgüterschutz ....................... 287 b) Abstrakte Gefahrdungsdelikte als Selbstzwecknormen (Kindhäuser) ........ 292

Inhaltsverzeichnis c) Ansätze zur Ausdifferenzierung der abstrakten Gefährdungsdelikte

15 296

aa) Das Eignungsdelikt als Deliktstypus zwischen abstraktem und konkretem Gefährdungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 297 bb) Modelle zur Kategorisierung der abstrakten Gefährdungsdelikte . . . . . . .. 299 cc) Maßstäbe zur Unterscheidung legitimer und illegitimer abstrakter Gefährdungsdelikte ....................................................... 302 11. Abstrakte Gefährdungsdelikte als Typen der Risikoschaffung ...................... 305 1. Einführung..................... .................................................. 305

2. Die Systematik im Überblick ................................................... 307 3. Das konkrete Gefährlichkeitsdelikt ............................................. 311

4. Das Kumulationsdelikt ......................................................... 318 a) Die grundsätzliche Legitimität der Pönalisierung von Kumulationsbeiträgen

318

b) Die Beschränkung auf realistischerweise zu erwartende Kumulationseffekte

322

c) Das Kriterium des minimalen Eigengewichts ............................... 324 5. Das Vorbereitungsdelikt ........................................................ 328

8. Kapitel

Schlußbetrachtung

338

Literaturverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 344

Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 383

Abkürzungsverzeichnis a.A.

anderer Ansicht

a. a.O.

am angegebenen Ort

AbfG abI. Abs. a.F. AFG AMG AngVersG Anm. AO ARSP Art. AT AtG BayObLG BB BB!. Bd. Bespr. BG BGB!. BGE BGH BGHSt BlmSchG BJM BNatSchG BR-Drucks. BSeuchG BT BT-Drucks. BtmG BtmStrafR BV

Abfallgesetz

= ablehnend(er) Absatz

alter Fassung

= Arbeitsförderungsgesetz

Arzneimittelgesetz Angestelltenversicherungsgesetz

= Anmerkung

= Abgabenordnung = Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie = Artikel

Allgemeiner Teil

= Atomgesetz

= Bayerisches Oberstes Landesgericht Betriebsberater Bundesblatt Band Besprechung Bundesgericht Bundesgesetzblatt Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen

= Bundes-Immissionsschutzgesetz Basler Juristische Mitteilungen

= Bundesnaturschutzgesetz Bundesratsdrucksache

= Bundesseuchengesetz = Besonderer Teil

Bundestagsdrucksache Betäubungsmittelgesetz Betäubungsmittelstrafrecht Bundesverfassung

Abkürzungsverzeichnis BVerfG BVerfGE bzw. ChemG dBtmG ders.

d. h. Diss. DJT DÖV dStGB DVBl. Ebd. EDV EGMR EGStGB Einl. ESchG

f(0. FMedG Fußn. GA GenTG GewO GG ggf. GSchG GWB h.M.

i.d.R. i.d.S. i.e. JA JR

17

= Bundesverfassungsgericht

= Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

= beziehungsweise

= Chemikaliengesetz

= Betäubungsmittelgesetz (Bundesrepublik Deutschland) = derselbe = das heißt

= Dissertation

= Deutscher Juristentag

= Die Öffentliche Verwaltung = Strafgesetzbuch (Bundesrepublik Deutschland) = Deutsches Verwaltungsblatt

= Ebenda

= Elektronische Datenverarbeitung

= Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte = Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch = Einleitung

= Embryonenschutzgesetz

= folgende

= Fortpflanzungsmedizingesetz = Fußnote

= Goltdammer's Archiv für Strafrecht = Gentechnikgesetz = Gewerbeordnung = Grundgesetz = gegebenenfalls = Gewässerschutzgesetz

= Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen = herrschende Meinung

= in der Regel

= in diesem Sinne = im einzelnen

= Juristische Arbeitsblätter = Juristische Rundschau

JuS

= Juristische Schulung

JZ KJ KK-OWiG KO KrimJ krit. KritV

= Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung

2 Wohler.

= Juristenzeitung = Kritische Justiz = Karlsruher Kommentar zum Ordnungswidrigkeitengesetz = Konkursordnung = Kriminologisches Journal = kritisch(er)

18 LH lit. LK LMBG MDR MedR MschrKrim m.w.N. NF n.E

Abkürzungsverzeichnis

= Lehrheft = littera = Leipziger Kommentar = Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz Monatsschrift für Deutsches Recht

= Medizinrecht = Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform = mit weiteren Nachweisen

= Neue Folge

neuer Fassung

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NK

Nomos Kommentar Nummer

Nr. NStZ NStZ-RR NVwZ ÖJZ öStGB OLG OpiumG OrgKG OWiG PflanzenschG Rdnr. RGB!. RGSt RiStBV RKnappschaftsG Rspr. RStGB RVO

S. SchI HA schwBetmG schwStGB SchwStGB SchwStrafR SJZ SKStGB s.o. sog.

= Neue Zeitschrift für Strafrecht

= Neue Zeitschrift für Strafrecht -

Rechtsprechungsreport

= Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

= Österreichische Juristenzeitung

= Strafgesetzbuch (Österreich) = Oberlandesgericht

= Opiumgesetz = Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität = Ordnungswidrigkeitengesetz = Pflanzenschutzgesetz = Randnummer Reichsgesetzblatt = Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen = Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren = Reichsknappschaftsgesetz = Rechtsprechung Reichsstrafgesetzbuch Reichsversicherungsordnung Seite Schleswig-Holsteinische Anzeigen Betäubungsmittelgesetz (Schweiz) Strafgesetzbuch (Schweiz) Schweizerisches Strafgesetzbuch = Schweizerisches Strafrecht = Schweizerische Juristenzeitung Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch siehe oben sogenannte

=

= = = = =

=

Abkürzungsverzeichnis SPD SprengG std. StGB StrafR StrÄG StRG StSG StV StVG SüdJZ Teilbd. TierschG UPR USG vgl. Vorbem. Vol. vs. WaffG WeinG WHG WiKG WiStG wistra WiVerw w.N.b. WStG

z. B.

ZBIV ZfW Ziff. ZRP ZSR ZStR ZStW

2"

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

= Gesetz über explosionsgefährliche Stoffe ständige

= Strafgesetzbuch Strafrecht

= Strafrechtsänderungsgesetz Strafrechtsreformgesetz

= StrahlenschutzgeselZ = Strafverteidiger = Straßenverkehrsgesetz = Süddeutsche luristenzeitung

= Teilband

= Tierschutzgesetz

= Umwelt- und Planungsrecht = Umweltschutzgesetz = vergleiche = Vorbemerkungen = Volume = versus = Waffengesetz = Weingesetz

=

Wasserhaushaltsgesetz = Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität Wirtschaftsstrafgesetz = Zeitschrift für Wirtschaft. Steuer. Strafrecht = Wirtschaft und Verwaltung = weitere Nachweise bei = Wehrstrafgesetz zum Beispiel Zeitschrift des Bernischen luristenvereins = Zeitschrift für Wasserrecht Ziffer = Zeitschrift für Rechtspolitik = Zeitschrift für Schweizerisches Recht = Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht = Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

=

= = =

19

J. Kapitel

Gegenstand und Gang der Untersuchung I. Einführung in die Problemstellung Die aktuellen Entwicklungen der Strafrechtsordnungen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz zeigen vorbehaltlich der in einzelnen Detailfragen bestehenden Divergenzen eine in der Grundtendenz weitgehende Übereinstimmung dahingehend, daß das Strafrecht in zunehmendem Maße als ein Instrument staatlicher Sozialkontrolle verstanden wird, dessen Anwendung - zumindest auch, wenn nicht sogar in erster Linie - der präventiven Beeinflussung bzw. Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungen dienen soll. Als bestimmende Faktoren dieser Entwicklung sind im wesentlichen drei gesellschaftliche Phänomene zu benennen: Zum ersten sind die modemen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts mit neuartigen, als Folge des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses entstandenen Technologien konfrontiert, die - wie z. B. die Nutzung der Kernkraft oder die Gentechnologie - ein Gefahrenpotential aufweisen, das insbesondere im Hinblick auf die weder räumlich noch zeitlich eingrenzbaren möglichen Schadensfolgen als qualitativ und quantitativ neuartig zu bewerten ist. Zweitens ist offenbar geworden, daß bereits die mit dem Einsatz herkömmlicher Technologien verbundenen Eingriffe in die Umwelt ein derartiges Ausmaß erreicht haben, daß die Gefahrdung der natürlichen Lebensgrundlagen als nicht mehr nur theoretische Möglichkeit angesehen werden muß. Drittens ist ein offenbar fortschreitender Verlust an gesamtgesellschaftlich akzeptierten Werten und Verhaltensmustern zu konstatieren, eine Entwicklung, die sich nicht zuletzt in der zunehmenden Etablierung gesellschaftlicher Subkulturen niederschlägt. Lösungen für die skizzierten Problemlagen erhofft sich der Gesetzgeber nicht zuletzt von einem Einsatz strafrechtlicher Mittel. Strafrechtliche Sanktionen sollen der Bekämpfung von umweltschädigenden und wirtschaftsdelinquenten Verhaltensweisen dienen. Der Konsum verbotener Rauschmittel soll mit den Mitteln des Strafrechts unterbunden werden. Strafrecht soll den Einsatz potentiell als bedrohlich empfundener neuartiger Technologien in einem als vertretbar erscheinenden Rahmen halten. Wahrend die Gesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland auf diesem Wege bereits sehr weit fortgeschritten ist, d. h. strafbewehrte Verbotsnormen für alle oben genannten Bereiche geschaffen worden sind, befinden sich entsprechende Reformvorhaben in der Schweiz teilweise noch im Gesetzge-

22

1. Kap.: Gegenstand und Gang der Untersuchung

bungsverfahren I oder sogar in der Vorphase zum eigentlichen Gesetzgebungsverfahren? Die vorliegende Untersuchung soll der Frage nachgehen, unter welchen Voraussetzungen strafrechtlicher Zwang legitimerweise als ein Mittel zur Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse eingesetzt werden kann. Das dringende Bedürfnis an einer Aufarbeitung dieser Fragestellung resultiert aus dem Umstand, daß sich die Versuche einer strafrechtlichen Lösung der aufgezeigten Problem lagen in der Praxis als weitgehend wirkungslos erwiesen haben. Gerade in den Bereichen, in denen der Gesetzgeber mit der Androhung strafrechtlichen Zwangs explizit präventive Wirkungen erzielen wollte, sind in der Rechtswirklichkeit allenfalls marginale Wirkungen festzustellen. Gemessen an den hochgesteckten Erwartungen ist die im wesentlichen durch Vollzugsdefizite geprägte Rechtswirklichkeit des Umwelt-, Wirtschafts- und Betäubungsmittelstrafrechts ein Indiz dafür, daß mit den de lege lata existenten Straftatbeständen das selbstgesetzte Ziel einer präventiv ausgerichteten Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungen offenbar nicht erreicht werden kann. Zur Auflösung des Dilemmas einer präventiv orientierten, gemessen an den insoweit hochgesteckten Erwartungen in die verhaltenslenkende Wirkung aber eindeutig ineffektiven Strafrechtsordnung, sind in der kriminalpolitischen Diskussion bisher im wesentlichen zwei - einander wechselseitig ausschließende - Lösungsansätze entwickelt worden: Zum einen wird die Forderung erhoben, die einer effektiven Bekämpfung sozialer bzw. gesellschaftlicher Probleme hinderlichen tradierten Regeln der Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit zu modifizieren, d. h., die überkommenen Muster der Zurechnung personaler Verantwortlichkeit durch Zurechnungsstrukturen zu ersetzen, die es ermöglichen sollen, vorausschauend, schnell und flexibel auf sich wandelnde Risikopotentiale zu reagieren. Andere Autoren halten das Strafrecht für ein seinem Wesen nach zur vorausschauenden Beeinflussung gesellschaftlicher Entwicklungen und Problem lagen grundsätzlich ungeeignetes Instrument und befürworten deswegen die Beschränkung des Einsatzes strafrechtlicher Instrumente auf einen engen Bereich der vergeltenden Reaktion bei Beeinträchtigungen gewichtiger Freiheitsinteressen. Beide Ansätze werfen Fragen auf, die es als sehr zweifelhaft erscheinen lassen, ob auf den vorgeschlagenen Wegen eine überzeugende Lösung gefunden werden kann. Der auf einen Verzicht präventiver Funktionen abzielende Ansatz ist zunächst der Schwierigkeit ausgesetzt, den im Hinblick auf die Legitimation staatlichen Strafens unbedenklichen Kembereich des Strafrechts zu beschreiben. Die Forderung, an einer auf die Beeinträchtigung gewichtiger Freiheitsinteressen beschränkten, der Zurechnung individueller Verantwortlichkeit verpflichteten StrafI Vgl. die Botschaft zu einem Bundesgesetz über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung (Fortpflanzungsmedizingesetz, FMedG), in: BBI. 1996111,205. 2 Vgl. den von Jenny und Kunz erarbeiteten "Bericht und Vorentwurf zur Verstärkung des strafrechtlichen Schutzes der Umwelt".

I. Einführung in die ProblemstelIung

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rechtsordnung ,,klassischer" Prägung festzuhalten, setzt voraus, daß es Kriterien gibt, anhand derer entschieden werden kann, welche konkreten Verhaltensweisen diesem Kernstrafrecht unterfallen sollen. Der Verweis darauf, daß es Rechtsgutsbeeinträchtigungen gebe, auf die "notwendigerweise" mit repressiver Vergeltung reagiert werden müsse (Naucke) bzw. bei denen der Verzicht auf Strafe "schwer denkbar sei" (Prittwitz), beschreibt ein gesellschaftliches Phänomen, ohne dieses erklären oder gar legitimieren zu können. Die in diesem Zusammenhang anklingende Vorstellung eines Strafrechts, das allein der Schuldvergeltung dient, wäre gewichtigen Bedenken ausgesetzt. Eine Gesellschaft, die die Existenz staatlicher Gewalt nicht als Selbstzweck versteht, kann staatliches Zwangshandeln allein durch positive Folgen legitimieren. Vor diesem Hintergrund sind dann aber Funktionalisierungen strafrechtlicher Nonnen nicht per se illegitim - im Gegenteil: der Verzicht auf eine Rechtfertigung staatlichen Strafens durch positive Folgen müßte als ein rechtskultureller Rückschritt angesehen werden. Andererseits: Auch wenn sich das Strafrecht einer Mitwirkung an der Aufgabe, die grundlegenden Bedingungen des gesellschaftlichen Miteinanders zu etablieren bzw. zu gewährleisten, nicht ohne weiteres verweigern kann und es angesichts des von bestimmten gesellschaftlichen Phänomenen ausgehenden Problemdrucks sogar als naheliegend erscheinen muß, daß gerade das Strafrecht, als das gewichtigste Zwangsmittel im Instrumentarium staatlicher Sozialkontrolle, die insoweit erforderlichen präventiven Funktionen mitzutragen hat, müßte ein konsequentes Präventionsstrafrecht einschneidende Modifizierungen der überkommenen Muster der Zurechnung personaler Verantwortlichkeit zur Folge haben. Sollen strafrechtliche Nonnen in ein Gesamtsystem der staatlichen Lenkung und Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungen integriert werden, mit dem schnell und flexibel auf sich wandelnde Risikopotentiale reagiert werden kann, wäre es geradezu unangemessen und sinnlos, erst auf bereits eingetretene Beeinträchtigung von Rechtsgütern mit Strafe zu reagieren, statt dafür zu sorgen, daß es gar nicht erst zu Rechtsgutsverletzungen kommt. Aufgabe des Strafrechts müßte es sein, das Verhalten der Rechtssubjekte so zu beeinflussen, daß bereits potentielle Gefahrensituationen ausgeschlossen werden. Sollen bestimmte Verhaltensweisen mit den Mitteln des Strafrechts unterbunden bzw. das Einhalten bestimmter, für das Funktionieren anonymer Handlungszusammenhänge unverzichtbarer Verhaltensweisen strafrechtlich garantiert werden, dann muß der Gesetzgeber notwendigerweise auf Tatbestände zurückgreifen, die nicht an die Schädigung bzw. konkrete Gefährdung eines bestimmten Handlungsobjektes anknüpfen, sondern sich in der bloßen Beschreibung von Verhaltensweisen erschöpfen, die allein aufgrund ihres abstrakten Störpotentials unterbleiben sollen. Beispielhaft: Eine Rechtsordnung, die umweltschädigende Verhaltensweisen und den Umgang mit bestimmten Stoffen oder Technologien mit den Mitteln des Strafrechts effektiv unterbinden oder das geordnete Funktionieren wirtschaftlicher Handlungsabläufe strafrechtlich garantieren will, kann aus rechtstechnischer Sicht nicht darauf verzichten, Verhaltensweisen allein aufgrund ihrer potentiellen Gefährlichkeit zu pönalisieren.

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1. Kap.: Gegenstand und Gang der Untersuchung

Selbst wenn man unterstellen würde, eine auf präventiv-funktionale Wirkung ausgerichtete Strafrechtsordnung wäre tatsächlich in der Lage, das selbstgesteckte Ziel der Steuerung der gesellschaftlichen Entwicklung zu erreichen, bliebe doch die Aufgabe, die Legitimität dieser Strafrechtsordnung zu begründen. Maßgebend wäre hier, daß mit der externen Konstituierung von Handlungsabläufen gleichzeitig auch individuelle Freiheitssphären festlegt werden, was wiederum bedeutet, daß in dem Maße, in dem Verhaltensweisen unterbunden werden, eine Reduzierung personaler Freiheit die Folge ist. Hieraus folgt, daß strafbewehrte Verhaltensnormen nicht allein mit der Erwägung begründet werden können, daß eine auf effektiven Rechtsgüterschutz ausgerichtete Strafrechtsordnung auf entsprechende Straftatbestände nicht verzichten kann. Entscheidend ist, ob die unter funktionalen Gesichtspunkten als probat erscheinende Pönalisierung potentiell rechtsgutsgefährlicher Verhaltensweisen im Hinblick auf die "berechtigten Freiheitsansprüche des Individuums" (Schünemann) als legitim begründet werden kann. Letztlich geht es darum, ob man "dazu geneigt ist, um der Freiheit willen auf ein möglicherweise wirksames Instrumentarium zur langfristigen Sicherung von Leib und Leben zu verzichten oder aber, ob man um eben dieser Sicherung willen tradierten Vorstellungen von Freiheitsschutz durch das Recht verabschiedet". 3 Arnold Koller hat die Problematik 1992 in seinem Festvortrag zum Thema "Die Zukunft des schweizerischen Strafrechts" prägnant wie folgt zusammengefaßt: ,,Das ,klassische' Strafrecht mit seinen klar umgrenzten Rechtsgütern, der Einzeitäterperspektive und vor allem dem individuellen Schuldvorwurf vermag zahlreichen neuen Herausforderungen sehr wohl zu begegnen. Auf der anderen Seite darf nicht übersehen werden, dass bestimmte Bedrohungen sich den eben erwähnten Kriterien ganz oder weitgehend entziehen. Sei es, dass ein eindeutig begrenztes Rechtsgut nicht auszumachen ist, sei es, dass der individuelle Schuldvorwurf ins Leere stösst. Fest steht indes, dass unser Strafrecht nicht auf seine rechtsstaatlichen Fundamente verzichten darf...4

Die bisherigen Versuche, die Problematik der Legitimität bzw. Illegitimität des modemen Präventionsstrafrechts zu bewältigen, sind weitgehend durch das Bemühen geprägt, den legitimen Anwendungsbereich strafrechtlicher Normen über das Instrumentarium der Rechtsgutstheorie zu bestimmen, wobei dann zum einen über den Bereich strafrechtswürdiger Rechtsgüter und zum anderen um die Frage gestritten wird, inwieweit auch Verhaltensweisen im Vorfeld der konkreten Beeinträchtigung grundsätzlich strafrechtswürdiger Rechtsgüter pönalisiert werden dürfen. Stratenwerth, der in mehreren Publikationen den Erkenntniswert der Rechtsgutstheorie angezweifelt hat,5 hat in seinem Einführungsreferat auf der Strafrechtslehrertagung 1993 in Basel seinerseits die Forderung erhoben, die Möglichkeiten auszuloten, die tradierten Grundsätze der Zurechnung strafrechtlicher VerantwortSeelmann, Natur, S. 289. Koller, ZStR 109 (1992), 338, 341. 5 Vgl. Stratenwerth, Rektoratsrede, S. 9 ff.; ders., ZStR 1997,86,92 f.; ders., SchwStrafR AT I, § 3 Rdnrn. 6 f. und insbesondere: ders., Festschrift für Lenckner, passim. 3

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11. Gang der Untersuchung

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lichkeit mit dem Ziel zu modifizieren, die präventive Wirksamkeit strafrechtlicher Normen zu erhöhen. Allerdings hat auch Stratenwerth sowohl in seinem Referat auf der Strafrechtslehrertagung als auch bei anderen Gelegenheiten lediglich herausgearbeitet, daß nach Wegen zu suchen sei, wie das Strafrecht ohne Verlust rechtsstaatlich unverzichtbarer Zurechnungsgrundsätze einen Beitrag zur Zukunftssicherung leisten könne. Wie die Modifizierungen der tradierten Zurechnungsregeln aussehen könnten, läßt er letztlich ebenso offen6 wie Priuwitz, der sich sowohl in seiner monografischen Auseinandersetzung mit dem Strafrecht der Risikogesellschaft als auch in seinem Referat vor dem 15. Strafverteidigertag 1991 in Berlin ebenfalls auf Andeutungen beschränkt hat. 7 Mit der vorliegenden Untersuchung soll die von Stratenwerth und Prittwitz angerissene Problematik mit einer doppelten Zielsetzung aufgegriffen werden: Zum einen soll aufgezeigt werden, daß die Rechtsgutstheorie herkömmlicher Prägung die Aufgabe, den legitimen Anwendungsbereich strafrechtlicher Normen abzustecken, tatsächlich nicht zu erfüllen vermag. Zum zweiten soll sich die Untersuchung der - bedingt durch die Fixierung auf das Rechtsgutsparadigma - bisher weitgehend vernachlässigten Frage widmen, welche Bedeutung den Tatbestandsstrukturen strafrechtlicher Normen im Hinblick auf die Legitimität strafrechtlichen Zwangs zukommt. Hier wird zu zeigen sein, daß die bisherige Unterscheidung zwischen Verletzungsdelikten auf der einen Seite und konkreten bzw. abstrakten Gefahrdungsdelikten als Vorfeldtatbeständen zu den Verletzungsdelikten auf der anderen Seite zu undifferenziert ist, um die im Hinblick auf die Legitimität strafrechtlichen Zwangs maßgeblichen Aspekte zu erfassen. Letztlich soll die Untersuchung die These belegen, daß die Legitimität des modemen Präventionsstrafrechts nur auf der Grundlage einer ausdifferenzierten Aufarbeitung der im de lege lata geltenden Strafrecht vorzufindenden Deliktstypen beurteilt werden kann.

11. Gang der Untersuchung Ausgangspunkt der Untersuchung ist die im kriminalpolitischen Diskurs - insbesondere von den Frankfurter Strafrechtslehrern Peter-Alexis Albrecht, Winfried Hassemer, Wolfgang Naucke und ihren Schülern - vertretene These, derzufolge das Erscheinungsbild der geltenden Strafrechtsordnung wesentlich dadurch gekennzeichnet sein soll, daß neben das rechtsstaatlichen Prinzipien verpflichtete, auf die gerechte Ahndung gewichtiger Freiheitsverletzungen gerichtete Strafrecht "klassischer" Prägung ein auf die Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungen ab6 Vgl. Stratenwerth ZStW 103 (1993),679,691 ff.; ders., Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 357 ff.; ders., Rektoratsrede, S. 15 ff. 7 Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 383 ff.; ders. StV 1991,435,437 ff.

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1. Kap.: Gegenstand und Gang der Untersuchung

zielendes "modernes" Strafrecht getreten sei. Im Anschluß an eine Darstellung der - weitgehend unstreitigen - Analyse des Ist-Zustandes der Strafrechtsordnung (2. Kapitel) werden in den bei den folgenden Kapiteln die vorgeschlagenen Wege zur Lösung der Problematik des "modernen" Strafrechts dargestellt und gewürdigt: die konsequente Funktionalisierung der Strafrechtsordnung einerseits (3. Kapitel) und die Vorschläge zur Rückführung des Strafrechts auf ein Kernstrafrecht "klassischer" Prägung andererseits (4. Kapitel). Die Auseinandersetzung mit den zur Lösung der Legitimitätsprobleme des modernen Präventionsstrafrecht propagierten Ansätzen wird einerseits ergeben, daß Strafrechtsnormen notwendigerweise gesellschaftliche Funktionen erfüllen müssen, da sie ansonsten als ein unverhältnismäßiger staatlicher Zwangsmitteleingriff dem Verdikt der V~rfassungswidrigkeit unterfallen würden. Andererseits wird sich zeigen, daß die Funktionalität einer Strafrechtsnorm allein deren Legitimität ebenfalls nicht zu begründen vermag. Auch die unter funktionalen Gesichtspunkten als probates Mittel erscheinende Pönalisierung bestimmter Verhaltensweisen darf die personale Freiheitssphäre des Einzelnen nur so einschränken, daß die "berechtigten Freiheitsansprüche des Individuums" gewahrt bleiben. Der Beitrag, der von strafrechtlichen Normen zur Lösung der anstehenden gesellschaftlichen Probleme zu erwarten ist, hängt damit - wie insbesondere von Stratenwerth und Prittwitz bereits zutreffend hervorgehoben wurde - entscheidend davon ab, inwieweit tradierte Grundsätze der Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit ohne Aufgabe rechtsstaatlich unverzichtbarer Freiheitssicherungen modifiziert werden können. Im 5. Kapitel wird der Frage nachgegangen, welche Besonderheiten in der Zurechnungsstruktur der Straftatbestände des "modernen" Strafrechts festzustellen sind. Zu diesem Zweck werden einzelne, gemeinhin als zentrale Materien des "modernen" Strafrechts angesehene Teilbereiche der Strafrechtsordnung analysiert: das Umweltstrafrecht, das (moderne) Wirtschaftsstrafrecht und das Betäubungsmiuelstrafrecht. Außerdem werden die in jüngster Zeit als Reaktion auf Entwicklungen im Bereich der Molekularbiologie, Gentechnologie und Fortpflanzungsmedizin bereits geschaffenen (Bundesrepublik Deutschland) bzw. im Gesetzgebungsverfahren befindlichen (Schweiz) Strafnormen in die Untersuchung einbezogen. Die Analyse wird ergeben, daß die Normen des "modernen" Strafrechts typischerweise nicht personale Interessen als solche, sondern vielmehr die Voraussetzungen zur Entfaltung personaler Freiheit gewährleisten sollen, wie z. B. die Erhaltung der lebensnotwendigen Umweltbedingungen, die Funktionsfähigkeit bestimmter Teilbereiche der Wirtschaftsordnung oder die Wahrung des gesellschaftlichen Grundkonsenses. Als Ergebnis der Analyse verbleiben zwei Problemstellungen: Zum einen bleibt zu klären, welche kollektiven Interessen strafschutzwürdig bzw. anhand welcher Kriterien strafschutzwürdige von nicht strafschutzwürdigen Interessen abzugrenzen sind. Des weiteren stellt sich die Frage, "wie" Kollektivinteressen legitimerweise strafrechtlich zu schützen sind. Die Analyse wird insoweit ergeben, daß die Straftatbestände des "modernen" Strafrechts einerseits eine Vorverlegung des Strafbarkeitsbereichs in den Gefährdungsbereich zur Folge haben, daß aber andererseits re-

11. Gang der Untersuchung

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lativ unklar ist, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen diese Vorverlegung als legitim anzuerkennen ist. Im 6. Kapitel wird der Frage nachgegangen, welche Interessen legitimerweise als strafschutzwürdig anerkannt werden können. Die Untersuchung soll zum einen zeigen, daß die Bemühungen der Strafrechtswissenschaft, den sachlichen Gehalt strafwürdigen Verhaltens und hieraus resultierend Bindungen des Gesetzgebers bei der Schaffung strafrechtlicher Normen aus der Rechtsgutstheorie heraus zu entwikkein, einen allenfalls eingeschränkten Erkenntnisgewinn versprechen. Die Untersuchung wird zeigen, daß die der Rechtsgutstheorie selbst zukommende Funktion allein darin besteht, den Gesetzgeber zu verpflichten, das von ihm mit einem Straftatbestand angezielte Schutzinteresse offenzulegen. Ob es sich hierbei dann um legitime oder illegitime Interessen handelt, kann nicht aus dem Rechtsgutsbegriff selbst abgeleitet werden, sondern ist anhand von normativen Kriterien zu entscheiden, die von außen an die Rechtsgutslehren herangetragen werden müssen. Auch eine derart normativ aufgeladene Rechtsgutstheorie kann allerdings nur entscheiden, "ob" ein Interesse - bzw. genauer: das hinter dem Interesse stehende "Etwas" - für sich gesehen strafschutzwürdig ist oder nicht. Da Straftatbestände die ihnen zugrundeliegenden Schutzgüter regelmäßig nicht umfassend, sondern von vornherein nur gegen bestimmte Beeinträchtigungen schützen, ist auch eine normativ aufgeladene Rechtsgutstheorie darauf beschränkt, Strafrechtsnormen zu falsifizieren, d. h., die Strafrechtsnormen zu delegitimieren, mit denen ein vor dem Hintergrund der normativen Grundlage einer Gesellschaft illegitimes Interesse verfolgt wird. Erweisen sich die vom Gesetzgeber verfolgten Interessen dagegen als grundsätzlich schutzwürdig, kann die Rechtsgutstheorie die Frage nach der Legitimität der in Frage stehenden Strafnorm nicht beantworten. Entscheidend ist dann, ob die vom jeweiligen Straftatbestand konkret erfaßten Verhaltensweisen im Hinblick auf das dem Straftatbestand zugrundeliegende Schutzgut legitimerweise pönalisiert werden dürfen. Die Problematik des "Wie" des strafrechtlichen Schutzes betrifft neben Problemstellungen die, wie z. B. die Frage der Versuchsstrafbarkeit und der Fahrlässigkeitshaftung, dem Allgemeinen Teil zuzurechnen sind, in besonderem Maße die Frage nach der Deliktsstruktur. Ersichtlich muß es einen Unterschied machen, ob ein Straftatbestand Verhaltensweisen erfaßt, die unmittelbar zu einer Beeinträchtigung des jeweils geschützten Interesses führen, oder aber Verhaltensweisen pönalisiert werden, bei denen dies noch nicht bzw. nicht notwendigerweise der Fall ist. Übersetzt in die gängigen Kategorien der Strafrechtsdogmatik ist damit die Unterscheidung von Verletzungs- und Gefährdungsdelikten angesprochen. Berücksichtigt man, daß die Straftatbestände des "modemen" Strafrechts durchgängig als Gefährdungsdelikte aufzufassen sind (5. Kapitel), hängt die Legitimität des "modemen" Strafrechts entscheidend von den Grenzen ab, die einer "legitimen" Ausdehnung des Gefährdungsstrafrechts in den VorfeIdbereich realer Rechtsgutsbeeinträchtigungen gesetzt sind.

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1. Kap.: Gegenstand und Gang der Untersuchung

Die Frage nach den Grenzen des (legitimen) Gefährdungsstrafrechts ist Gegenstand des 7. Kapitels. Zielsetzung ist es, zu zeigen, daß die Bewertung der Deliktsstrukturen der Straftatbestände des "modernen" Strafrechts eine ausdifferenzierte Neukategorisierung der Deliktsgruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte zur Voraussetzung hat. Im Ergebnis wird vorgeschlagen, innerhalb der Deliktsgruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte drei Deliktstypen zu unterscheiden, nämlich: konkrete Gefährlichkeitsdelikte, Kumulationsdelikte und Vorbereitungsdelikte. Sodann wird der Versuch unternommen, Kriterien zu entwickeln, anhand derer die Legitimität des Einsatzes der jeweiligen Deliktstypen bewertet werden kann. Im abschließenden 8. Kapitel werden die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung beispielhaft analysierten Teilbereiche der Strafrechtsordnung an den im 6. und 7. Kapitel der Untersuchung gewonnenen Maßstäbe gemessen. Die insoweit eher skizzenhaften Überlegungen sollen aufzeigen, weIche Fragestellungen im Rahmen einer Einzelnormanalyse der Normen des Umwelt-, Wirtschafts- und Betäubungsmiuelstrafrechts sowie der Straftatbestände des modernen Fortpflanzungs-Medizinrechts zu behandeln wären und auf weIche Problemstellungen es hierbei - im Hinblick auf die Legitimität dieser Strafnormen - entscheidend ankommen wird. Die ins Detail gehende Ausführung des Programms würde den Rahmen einer Einzeluntersuchung sprengen; die vorliegende Untersuchung versteht sich insoweit als Versuch, eine Grundlage für Arbeiten zu entwickeln, die sich der speziellen Bewertung einzelner Normen widmen.

2. Kapitel

Die Krise des "modernen" Strafrechts I. Die Unterscheidung des "klassischen" und "modernen" Strafrechts Die in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Ende des 2. Weltkrieges einsetzenden Bemühungen um eine grundsätzliche Reform des materiellen Strafrechts waren hinsichtlich der Überarbeitung des Allgemeinen Teils des StGB mit dem Inkrafttreten des 2. StRG' zum Abschluß gekommen. Eine über die bereits vor dem Inkrafttreten des 2. StRG durch das 1., 3. und 4. StRG2 bewirkte Teilentkriminalisierung des Sexualstrafrechts sowie der Landfriedens- und Demonstrationsdelikte hinausgehende umfassende Reform auch des Besonderen Teils sollte weiteren EinzeIgesetzen vorbehalten bleiben,3 die ihrerseits den wesentlichen Teil der Strafrechtsreform der 70er, 80er und 90er Jahre ausmachen. Anders als noch in den 50er und 60er Jahren hatten die Bemühungen des Gesetzgebers um die Reform des Besonderen Teils des Strafrechts ab den 70er Jahren allerdings nicht mehr in erster Linie die Entkriminalisierung zum Ziel, sondern waren vielmehr ausgerichtet auf die Ausweitung des strafrechtlich relevanten Bereichs abweichenden Verhaltens. 4 Festzustellen ist, daß der in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen entstandene - häufig massenmedial erzeugte, jedenfalls aber verstärkte - Problemdruck nahezu automatisch kriminalpolitischen "Handlungsbedarf' zu erzeugen scheint, der sich dann mehr oder weniger unvermittelt in Reformen der Strafrechtsordnung niederschlägt. Stichwortartig kann an dieser Stelle auf die Verschärfung des politischen Strafrechts als Reaktion auf linksterroristische und neofaschistische Aktivitäten, auf die Entstehung bzw. Ausweitung des Betäubungsmittel-, Umwelt- und Wirtschaftsstrafrechts sowie - als prägnante Beispiele aus jüngerer Zeit - auf die Bemühungen um die Bekämpfung der "Organisierten Kriminalität" und die Kontrolle der wissenschaftlichen Forschung durch die Straftatbestände des Gentechnikgesetzes (GenTG) und des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) verwiesen werden. Gesetz vom 4. 7.1969, BGB\.I, S. 717. Gesetz vom 25. 6. 1969, BGB\. I, S. 645; Gesetz vom 20. 5. 1970, BGBI. I, S. 505 und Gesetz vom 23. 11. 1973, BGB\. I, S. 1725. 3 Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 4 Rdnr. 26. 4 Eser, Festschrift für Maihofer, S. 130 ff.; Hirsch, Gedächtnisschrift für H. Kaufmann, S. 150/151, 160. J

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2. Kap.: Die Krise des "modernen" Strafrechts

Für die Schweiz ist eine Zweiteilung der Reformbemühungen festzustellen. Zum einen ist das 1942 in Kraft getretene, aus dem Jahre 1937 stammende StGB einer kontinuierlichen Reform unterzogen worden. Im Anschluß an die schwerpunktartig auf den Allgemeinen Teil abzielende 2. Teilrevision durch das Bundesgesetz vom 18. März 1971 5 sind anschließend verschiedene Bereiche des Besonderen Teils überarbeitet worden. 6 Zum zweiten ist aber auch für die Schweiz eine Tendenz zum Einsatz des Strafrechts als Instrument des gesellschaftlichen Krisenmanagements zu konstatieren. 7 Gegenstand der Intervention sind hier - ebenso wie in der Bundesrepublik Deutschland - die Gebiete des Umwelt-, Wirtschaftsund Betäubungsmittelstrafrechts sowie die Reaktion auf neuartige Bedrohungsphänomene wie insbesondere die "organisierte Kriminalität" und neuartige Entwicklungen im Bereich der Molekularbiologie und Gentechnik. Ebenfalls in Parallele zur Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland favorisiert auch der Schweizer Gesetzgeber auf diesen Gebieten tendenziell eher nebenstrafrechtliche Lösungen. 8 In der Strafrechtswissenschaft ist die kontinuierlich fortschreitende Ausweitung des strafrechtlich relevanten Bereichs abweichenden Verhaltens als Faktum unstreitig; kontrovers ist, ob mit der quantitativen Zunahme strafrechtlicher Normen gleichzeitig auch ein qualitativ neuartiges Strafrecht entstanden ist. Gemäß einer wesentlich durch Arbeiten der Frankfurter Strafrechtslehrer Peter-Alexis Albrecht, Winfried Hassemer und Wolfgang Naucke getragenen Analyse soll das aktuelle Erscheinungsbild der de lege lata geltenden Strafrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland wesentlich durch ein Nebeneinander von "klassischem" und "modernem" Strafrecht geprägt sein. Neben das rechtsstaatlichen Prinzipien verpflichtete, auf die gerechte Ahndung gewichtiger Freiheitsverletzungen gerichtete Strafrecht ,,klassischer" Prägung sei - so die These - ein auf die Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungen abzielendes "modemes" Strafrecht getreten. Insgesamt gesehen habe sich das Strafrecht damit zu einem unter dem Paradigma präventiver Zweckmäßigkeit stehenden, der Durchsetzung beliebiger politischer Zwecksetzungen dienenden Instrument staatlicher Krisensteuerung entwickelt. 9 Die durch die kriminalpolitische Orientierung an präventiven Steuerungsansprüchen bedingte kontinuierliche Kapazitätsausweitung des Strafrechtssystems führe im Ergebnis zu einer flächendeckenden Pönalisierung ganzer Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und habe eine Auflösung bzw. Flexibilisierung der im Hinblick auf das Ziel eines 5 Vgl. hierzu Schultz, ZStR 99 (1982), 1,5 ff.; ders., ZStW 97 (1985), 371 ff.; ders., ZStR 109 (1992), 3, 8 f. 6 Vgl. Heine, Landesbericht, S. 703 ff., 721 ff.; Heine/Hein, Landesbericht, S. IOIO ff.; Heine/Roulet, Landesbericht, S. 1285; Schultz, ZStR 99 (1982), 1, 19 ff.; ders., ZStW 97 (1985),371,378 ff.; ders., ZStR 109 (1992),3,9 ff. 7 Heine/Roulet, Landesbericht, S. 1281. 8 Vest, Landesbericht, S. 674. 9 Vgl. Hassemer, ZRP 1992, 378, 379 ff.; ders., Produktverantwortung, S. 4 ff.; ders., NStZ 1989,553,558; Naucke, KritV 1993, 135, 154 ff.; ders., KritV 1990,244,253 ff.

I. Die Unterscheidung des "klassischen" und "modernen" Strafrechts

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effizienten Krisenmanagments hinderlichen Zurechnungsstrukturen des "klassischen" Strafrechts zur Folge. 10

1. Charakteristika des Strafrechts "klassischer" Prägung Die Gegenüberstellung eines ,,klassischen" und eines "modernen" Strafrechts wirft die Frage auf, was den Gehalt des "klassischen" Strafrechts ausmachen soll und durch welche Kriterien sich das "moderne" Strafrechts vom ,,klassischen" Strafrecht unterscheiden läßt. Den Begriff des "klassischen" Strafrechts verbinden sowohl Hassemer als auch Naucke - im Grundansatz übereinstimmend - mit dem im Verlauf des 18. und 19. Jahrhundert in Anlehnung an die Philosophie der Aufklärung und des deutschen Idealismus entwickelten Modell einer Strafrechtsordnung. Hassemer unterscheidet im wesentlichen drei Phasen in der Entwicklung des staatlichen Strafrechts: Am Anfang der historischen Entwicklung steht seiner Auffassung nach eine auf naturrechtlichen Vorstellungen basierende Strafrechtskonzeption. Die mit naturrechtlichen Vorstellungen verbundene Ableitung der Rechtsordnung aus verbindlich vorgegebenen höheren Rechtsprinzipien sei als Folge der Erkenntniskritik der idealistischen Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts obsolet und durch die Vorstellung von der Existenz eines Sozialvertrages als Grundlage des gesellschaftlichen Miteinanders ersetzt worden. Normative Grundlage dieses Sozi al vertrages sei die Gleichmäßigkeit und Wechselseitigkeit eines allgemeinen Freiheitsverzichts als Grundlage einer Freiheitsverbürgung für alle. Das Strafrecht dieser - von Hassemer als ,,klassisch" bezeichneten - Phase der Strafrechtsentwicklung habe allein die Funktion gehabt, die sozialvertraglichen Vereinbarungen durch eine Absicherung des horizontal vereinbarten Freiheitsverzichts zu stabilisieren ll. Aus der Funktion des ,,klassischen" Strafrechts als Instrument der Gewährleistung bürgerlicher Freiheit leitet sich nach Hassemer zum einen der Grundsatz der Subsidiarität des Strafrechts als letztes Mittel gesellschaftlicher Problemlösung und zum anderen die Konzentration auf den Schutz von Individualrechtsgütern ab. Universalrechtsgüter seien im "klassischen" Strafrecht nur in dem Maße als legitimer Schutzgegenstand strafrechtlicher Verbote in Betracht gekommen, als ihr Schutz Voraussetzung für die freiheitsverbürgende Weiterexistenz des Gesellschaftskonsenses gewesen sei. 12 10 Peter-Alexis Albrecht, KritV 1986,55,81; ders., StV 1994,265,266,269; Appel, Verfassung, S. 35 f.; Hassemer ZRP 1992, 378, 381; ders. NStZ 1989,553,557; vgl. auch Krauß KritV 1993, 183, 193; Müller-Dietz, Festschrift für R. Schmitt, S. 98; ders., Festschrift für Triffterer, S. 677 f.; Vormbaum, ZStW 107 (1995), 734, 737 ff. 11 Hassemer, ZRP 1992, 378, 379; ders., Produktverantwortung, S. 4 ff.; ders., Theorie, S. 29 ff.; ders., ARSP-Beiheft 44 (1991), 130, 137. 12 Hassemer, ZRP 1992, 378, 380.

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2. Kap.: Die Krise des "modernen" Strafrechts

Naucke sieht die Entstehung des von ihm mit dem Adjektiv "rechtsstaatlieh" versehenen Strafrechts darin begründet, daß das bis in das 18. Jahrhundert hinein als Machtmittel des absoluten Staates mißbrauchte, durch seine Brutalität und politische Verfügbarkeit diskreditierte Strafrecht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus einer aufwendig geführten rechtsphilosophischen Debatte heraus in seinen Grundlagen reformiert worden sei. Kern der Philosophie der Aufklärung sei zum einen die Erkenntnis des Freiheitsstatus des Bürgers als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft und zum anderen die Einsicht in die beständige Gefahrdung dieser Grundfreiheit durch das Verhalten anderer sowie die Machtausübung des Staates gewesen. Freiheitsverletzungen seien als Verbrechen erkannt und die Aufgabe des Staates darin gesehen worden, auf diese Verbr~chen mit Strafe zu reagieren. 13 Das "philosophisch richtige Strafrecht" sei - so Naucke - "die Summe der Regeln, die gegen die Machtausübung durch den Straftäter und gegen die Machtausübung durch den Staat, also gegen Straftat und Strafe schützen. Diese Summe von Regeln, die gegen Macht schützen, ist das rechtsstaatliehe Strafrecht.,,14 Seinem klassischen Konzept nach beschränke sich das so legitimierte Strafrecht "auf die Repression schweren Unrechts an der Freiheit der Person und der Gemeinschaft. Konkret: das Kriminalrecht sieht die Repression der Gewaltdelikte gegen die Person, die Freiheit und das Vermögen und die gewaltsame Verunsicherung der Grundlagen der individuellen Freiheit, nämlich Staat und Gesellschaft, als seine Zuständigkeit an. Alle anderen Sanktionsnotwendigkeiten, die in einem Gemeinwesen verspürt werden mögen, gehören nach diesem Konzept in das Polizeirecht.,,15 Das rechtsstaatliehe Strafrecht sei hart profiliert, es beinhalte einerseits eine "strenge strafende Reaktion auf die Überwältigung der Freiheit eines anderen, (und andererseits eine) strenge juristische Kontrolle dieser Reaktion selbst.,,16 Die kriminalstrafrechtliche Sanktion der Strafe sei ausschließlich als Reaktion auf die Verletzung gewichtiger Rechtsgüter zu legitimieren,17 insoweit aber gleichzeitig auch unverzichtbar l8 und damit kriminalpolitischen Zweckmäßigkeitserwägungen entzogen. 19 Was strafwiirdig sei, werde nicht beschlossen, sondern "erkannt", d. h.: strafwürdig seien die jeder konkreten Gesellschaftsform vorgegebenen Mindestregeln der Verfassung der allgemeinen Freiheit. 20

Naucke, KritV 1993, 135, 137, 154, 157. Naucke, KritV 1993, 135, 137; vgl. auch ders., KritV 1990, 244, 254. 15 Naucke, KritV 1993, 135, 143; ders., KritV 1990,244,247; vgl. auch Kargi, Rechtsgüterschutz, S. 60. 16 Naucke, KritV 1993, 135, 139; ders., Wechselwirkung, S. 20 ff. 17 Naucke, Wechselwirkung, S. 20, 33,35 f. 18 Naucke, Wechselwirkung, S. 37 f. 19 Naucke, Wechselwirkung, S. 35 ff.; ders., Aushöhlung, S. 485. 20 Naucke, Aushöhlung, S. 485. 13 14

I. Die Unterscheidung des "klassischen" und "modernen" Strafrechts

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2. Charakteristika des "modernen" Strafrechts Das "modeme" Strafrecht hat nach Auffassung bei der Autoren mit den Traditionen des auf die Gewährleistung bürgerlicher Freiheit abzielenden "klassischen" Strafrechts gebrochen. Nach Einschätzung Hassemers hat sich das "modeme" Strafrecht zu einem Mittel gesellschaftlicher Steuerung und zu einem Instrument der Volkspädagogik entwickelt. 21 Entscheidend für diese Entwicklung sei ein Orientierungswechsel vom Paradigma der Strafgerechtigkeit zum Paradigma der Prävention gewesen. Wahrend Folgenorientierung in der Phase des "klassischen" Strafrechts allenfalls ein ergänzendes Kriterium richtiger Gesetzgebung gewesen sei, sei es das alles beherrschende Ziel des "modemen" Strafrechts, bestimmte externe Erfolge zu erreichen. 22 Als Folge dieses Paradigmawechsels sei das Strafrecht nicht mehr ultima ratio, sondern in zunehmenden Maße prima ratio des Gesetzgebers. 23 Der Topos des Rechtsgüterschutzes habe sich von einer negativen Schranke zu einem verpflichtenden Kriterium der Pönalisierung entwickelt. 24 Naucke vertritt die Auffassung, das de lege lata geltende Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland lasse allenfalls noch den Grundriß eines rechtsstaatlichen Strafrechts erkennen. Tatsächlich entspreche das auf den Fundamenten eines rechtsstaatlichen Konzeptes errichtete Strafrecht diesen Vorgaben aber nicht mehr. 25 Ausschlaggebend hierfür ist seiner Auffassung nach eine politisch motivierte Entgrenzung des Strafrechts. Zwar sei das allein auf die Gewährleistung des Freiheitsstatus des Bürgers abzielende, rechtsstaatlieh bzw. rechtsphilosophisch "richtige" Strafrecht nicht nur philosophisches bzw. strafrechtsdogmatisches Konzept geblieben, sondern im 19. Jahrhundert auch in die Rechtswirklichkeit umgesetzt worden,z6 etwa durch das von Feuerbach konzipierte Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 27 sowie weitere, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlassene Strafgesetzbücher?S Parallel zur Entwicklung der Rechtsstaatlich21 Hassemer. ZRP 1992.378.380; ders .. NStZ 1989.553.558; ders .• Einführung. S. 275; vgl. auch Müller-Dietz. Festschrift für R. Schmitt. S. 98 ff.; Weigend, Festschrift für Triffterer. S. 708. 22 Hassemer. ZRP 1992.378.380; ders .• JuS 1987.257.260 f. 23 Hassemer. ZRP 1992. 378. 381; ders .. JuS 1992. 110. 113; ders., ARSP-Beiheft 44 (1991). 130. 138; ders .. Strafrechtswissenschaft. S. 299; ders., Festschrift für. E. A. Wolff. S. 118/119; vgl. auch Jung. GA 1996.507.515; Stächelin, Untermaßverbot. S. 275. 24 Hassemer. NStZ 1989.553.557; ders .• ZRP 1992.378. 380; ders .• Sozialtechnologie. S. 331; vgl. auch Hohmann. Rechtsgut. S. 163 ff.; Park. Vermögensstrafe. S. 138; Stächelin. Strafgesetzgebung. S. 42 ff.; Vormbaum. ZStW 107 (1995). 734. 758; Weigend. Festschrift für Triffterer. S. 708 f. sowie bereits Volk. JZ 1982. 85. 88; Kunz. Bagatellprinzip. S. 27 f. 25 Naucke, KritV 1990, 244, 253. 26 A. A. Hassemer. ZRP 1992, 378, 379; ders., Grundlinien, S. 89 f.; Lüderssen, Einleitung, S. 65; vgl. auch Stächelin, Untermaßverbot, S. 269. 27 Naucke. Entwicklungen. S. 25. 28 Naucke. KritV 1990,244,250/251.

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2. Kap.: Die Krise des ,,modernen" Strafrechts

keit sei allerdings - beginnend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - eine auf "Zermürbung" des strafrechtlichen Rechtsstaates abzielende Entwicklung festzustellen. Insgesamt gesehen sei neben das rechtsstaatliche Hauptstrafrecht ein sich stetig ausdehnendes, parteilich-politisch orientiertes, rechtsstaatswidriges Nebenstrafrecht getreten. 29 Dieses Strafrecht habe nicht die Aufgabe gehabt, die Freiheit des Bürgers zu schützen, sondern habe Vorteile bewahren sollen, deren Gefährdung aufgrund eines in einem stetigen Wandelungsprozeß begriffenen, politisch-pragmatischen Kalküls als Sozialstörung aufgefaßt worden sei. Angesichts der Schwierigkeiten, vor dem Hintergrund politisch-pragmatischer Erwägungen den Kreis legitimerweise schützenswerter Rechtsgüter zu bestimmen bzw. zu begrenzen, habe sich das Strafrecht insgesamt gesehen in der Folgezeit wieder zu einem Instrument beliebig gehandhabter, parteilich-politischer Machtausübung entwickelt. 30 Das auf die Funktion inhaltlich unbegrenzter, politisch-pragmatisch gehandhabter Prävention von Sozialstörungen bezogene Strafrecht habe seine eigenständige Kontur verloren und sei auf den Stand der Zeit vor dem 18. Jahrhundert zurückgefallen. 3J Mit der Entgrenzung des politisch unabhängigen, auf die Repression schweren Unrechts beschränkten rechtsstaatlichen Strafrechts rücke das Strafrecht - so die Einschätzung Nauckes - wieder in die Nähe polizeilicher Ordnungsmechanismen. Als Folge dieser Entwicklung verlagere sich das strafrechtliche Denken von professioneller Rechtsstaatlichkeit zu kriminal politischer Phantasie und zu herbeigesehnten Präventionserfolgen. 32 Die mit der Ausrichtung auf präventive Zielsetzungen verbundene Ausdehnung des strafrechtlichen Zugriffs auf den Bereich weniger schwerwiegender Normverstöße 33 führe zwangsläufig zu einem Verlust an rechtsstaatlicher Förmlichkeit. 34 Ursprünglich rechtsstaatliche Maximen - wie etwa das Gesetzlichkeitsprinzip oder das Analogieverbot - seien zu rein formalen, einer beliebigen inhaltlichen Ausfüllung zugänglichen Prinzipien verkommen. 35 Im Ergebnis sei die Strafrechtsordnung de lege lata damit weder in der Lage, schweres Unrecht - d. h. schwere Beeinträchtigungen der individuellen Freiheitssphäre - theoretisch angemessen hervorzuheben und praktisch verhältnismäßig zu bestrafen,36 noch seien Grenzen strafwürdigen Verhaltens erkennbar. Das Kemstrafrecht, vor allem aber das Nebenstrafrecht wuchere ohne Grenzen und durchdringe alle gesellschaftlichen Bereiche. Die Unterschiede zwischen Strafrecht, OrdnungswidrigkeiNaucke, KritV 1990,244,251 f.; ders., KritV 1993, 135, 144, 157. Naucke, KritV 1993, 135, 154 ff.; ders., KritV 1990,244,254 f. 31 Naucke, KritV 1993, 135, 157/158. 32 Naucke, KritV 1993, 135, 136. 33 Vgl. Naucke, Wechselwirkung, S. 20 ff. 34 Vgl. hierzu i.e. Naucke, Wechselwirkung, S. 23 ff. 35 Vgl. i.e. Naucke, JuS 1989,862,865 ff. (zum Gesetzlichkeitsprinzip) und ders., KritV 1990,244,253 (zum Analogieverbot). 36 Naucke, KritV 1993,135,139; vgl. auch KargI, Rechtsgüterschutz, S. 62 ff. 29

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I. Die Unterscheidung des "klassischen" und "modernen" Strafrechts

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tenrecht und polizeilicher Gefahrenabwehr würden immer undeutlicher. 37 "Der Begriff und das Wort des Unrechts verschwinden aus dem juristischen Bereich. Unrecht wird umstilisiert: zuerst zu abweichendem Verhalten, dann zu Konflikt, schließlich, das vorläufige Ende der Entwicklung, zur Krise.,,38 Auch Hassemer beanstandet, daß die von ihm mit dem Stichwort "Kapazitätsausweitung" gekennzeichnete Entwicklung im Ergebnis dahin führe, daß das Strafrecht nur noch in einem laufend an Gewicht verlierenden Kernbereich Reaktionsmittel auf schwerste Verletzungen der Freiheitsinteressen des Bürgers bleibe, sich ansonsten aber zu einem flankierenden Instrument der Innenpolitik entwickelt habe. 39 Die Ablösung der Strafgerechtigkeit durch die Prävention als Paradigma der Strafrechtsentwicklung und die damit verbundene Orientierung an externen Folgen begründet seiner Auffassung nach die strafgrundsätzliche Bedeutung, die nunmehr empirischen Erfolgen des Strafrechts zukomme. 4o Die Orientierung an externen Folgen will Hassemer - insoweit anders als Naucke - zwar nicht grundsätzlich in Frage stellen;41 problematisch ist seiner Auffassung nach aber die Art und Weise, in der die überkommenen Prinzipien des rechtsstaatlichen Strafrechts ,,klassischer" Prägung als "altbacken" und im Hinblick auf die angestrebte effektive Kriminalpolitik hinderlich beiseitegeschoben würden. 42 Hierbei werde verkannt, daß die formalisierten und starren Grundsätze und Prinzipien des klassischen Strafrechts ein unverzichtbares, die Freiheit des Bürgers vor ungerechtfertigten Belastungen schützendes Korrektiv einer nach Effektivität strebenden Kriminalpolitik sei. 43 Darüber hinaus führe der unreflektierte großflächige Einsatz des Strafrechts zur Verfolgung präventiver Zielsetzungen dazu, daß das Strafrecht angesichts unübersehbarer Vollzugsdefizite in zunehmendem Maße als ein Gesetz mit rein symbolischem Charakter erscheinen müsse. 44 Wahrend Naucke zwar den Gegensatz eines - zumindest seiner Konzeption nach - rechtsstaatlieh orientierten Hauptstrafrechts und eines parteilich-polititischen rechtsstaatswidrigen Nebenstrafrechts betont, im Ergebnis dann aber doch dahin tendiert, der Strafrechtsordnung als Ganzes zu attestieren, sie sei zu einem polizeilichen Funktionen verpflichteten Instrument bloßer Machtausübung verkommen, 37 Naucke, KritV 1993, 135, 143 ff.; ders., KritV 1990,244,253; vgl. auch Müller-Dietz, Festschrift für R. Schmitt, S. 101. 38 Naucke, KritV, 1986, 189, 199/200. 39 Hassemer, ZRP 1992, 378, 381; ders., NStZ 1989,553,558; ders., Sozialtechnologie, S. 329; vgl. auch F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 66 ff. 40 Hassemer, JuS 1987, 257, 265; ders. NStZ 1989, 553, 556; ders., Sozialtechnologie, S. 331; vgl. auch Müller-Dietz, Festschrift für R. Schmitt, S. 103; zur Prävention als neues Paradigma der Kriminalpolitik vgl. auch Park, Vermögensstrafe, S. 140 ff. 41 Hassemer, JuS 1987,257,264; ders., Einführung, S. 276. 42 Hassemer, Einführung, S. 274. 43 Hassemer, JuS 1987, 257, 264; ders., Einführung, S. 276. 44 Vgl. hierzu i.e. Hassemer, NStZ 1989,553 ff.; ders., JuS 1992, 110, 112 f.; ders., KritV 1993, 198, 203.

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2. Kap.: Die Krise des "modernen" Strafrechts

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benennt Hassemer konkret bestimmte Teilbereiche, innerhalb derer sich der kriminalpolitische "Handlungsbedarf' in der Entstehung "modemen" Strafrechts niedergeschlagen habe: "Das zentrale Gebiet strafgesetzlicher Neuerungen ist der Besondere Teil, sowohl im StGB als auch im Nebenstrafrecht. Reformen bestehen hier nicht in einer Rücknahme von Strafdrohungen, sondern in deren Erweiterung oder Neuschaffung. Die zentralen Gebiete strafgesetzlicher Neuerungen sind: Umwelt, Wirtschaft, Datenverarbeitung, Drogen, Steuer, Außenhandel, überhaupt: ,organisierte Kriminalität'. ,,45 Die Gebiete, auf die sich das "modeme" Strafrecht konzentriere, hätten "sämtlich mit dem einzelnen Bürger, dem Individuum, nur mittelbar zu tun. Unmittelbar sind sie Institutionen der Gesellschaft oder auch des Staates. Der Rechtsgüterschutz wird im modemen Strafrecht zum Institutionenschutz. " Diese Rechtsgüter seien keine Individual- sondern vielmehr "Universalrechtsgüter", die der Gesetzgeber zum einen "vage und großflächig" formuliere und darüber hinaus über den Rückgriff auf die Deliktsform der "abstrakten Gefährdungsdelikte" in einer Weise strafrechtlich absichere, die nicht nur die tradierten Strukturen der Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit auflöse und den Bereich strafrechtlich relevanten Verhaltens erweitere, sondern letztlich den eigenständigen Charakter strafrechtlich relevanten Unrechts in Frage stelle. 46

11. Die Orientierung des Strafgesetzgebers an präventiven Zielsetzungen Daß der Gesetzgeber strafrechtliche Normen tatsächlich als ein Instrument staatlicher Sozialkontrolle versteht, durch dessen Einsatz gesellschaftliche Entwicklungen gesteuert und Fehlentwicklungen korrigiert werden sollen, zeigt sich schon im Titel der meisten bundesdeutschen Änderungsgesetze: "Gesetz zur Bekämpfung ... ,,47 Eine weitere Bestätigung ergibt sich aus einem kurzen Blick in die Entwurfsbegründungen der in den letzten Jahrzehnten erlassenen Gesetze zur Reform des Wirtschafts-, Umwelt- und Betäubungsmittelstrafrechts: Mit dem I. und 2. WiKG wollte der bundesdeutsche Gesetzgeber einen Beitrag zur "wirksameren Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität,,48 leisten. Ziel der Reform war sowohl "ein wirksamerer Strafrechtsschutz als auch eine Verbesserung vorbeugender Maßnahmen".49 Auch in der Schweiz soll die Revision des Vermögens- und Urkundenstrafrechts, die am I. Januar 1995 in Kraft getreten ist, "die traditionellen VorHassemer, ZRP 1992, 378, 381; ders., Strafrechtswissenschaft, S. 298. Hassemer, ZRP 1992, 378, 381 f.; ders., Strafrechtswissenschaft, S. 299; vgl. auch Park, Vermögensstrafe, S. 130 f., 137 ff. 47 Vgl. Hettinger, NJW 1996,2263,2264; Kempf, NJW 1997, 1729, 1731. 48 BT-Drucks. 10/318, S. I. 49 BT-Drucks. 7/3441, S. I; 7/5291, S. I. 45

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H. Die Orientierung des Strafgesetzgebers an präventiven Zielsetzungen

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schriften des Vermögensstrafrechts stärker auf den Kampf gegen die Wirtschaftskriminalität ausrichten. ,,50 Die Wirksamkeit der für die Bundesrepublik Deutschland mit dem 18. StrÄG angeziehen Reform der Straftatbestände zur Bekämpfung der Umwehkriminalität war zwar von den im Gesetzgebungsverfahren angehörten Sachverständigen bezweifelt worden,51 und auch der amtierende Justizminister Vogel hatte in den Plenarberatungen des Bundestages hervorgehoben, daß ,,keine sensationellen Effekte" zu erwarten seien. 52 Der Gesetzgeber ging aber dennoch davon aus, mit dem Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität Möglichkeiten geschaffen zu haben, sowohl schwerwiegenden Schädigungen und Gefährdungen der Umwelt wirksamer begegnen zu können als auch die Durchsetzbarkeit umweltverwaltungsrechtlicher Regelungen zu erleichtern. 53 Die Erwartungen an die nochmalige Reform des Umweltstrafrechts durch das 2. Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität, mit dem in der Bundesrepublik Deutschland nach Einschätzung des damaligen Bundesjustizministers Kinkel das "schärfste Umweltstrafrecht der Welt" etabliert worden war, waren wiederum auf eine nochmalige Intensivierung der präventiven Wirkung gerichtet. 54 Auch in der Schweiz zielt die in Aussicht genommene Reform des Umweltstrafrechts auf eine "Verstärkung des strafrechtlichen Schutzes der Umwelt" ab. 55 Auch die Reform des Betäubungsmittelstrafrechts wurde in bei den Ländern von Präventionserwartungen getragen. Nach den Vorstellungen des bundesdeutschen Gesetzgebers hatte der Rauschgiftkonsum und die Rauschgiftkriminalität Ende der sechziger Jahre in einem ungewöhnlichen und besorgniserregenden Maße zugenommen. Zielsetzung des Gesetzgebers war es, "aus dem Opiumgesetz ein wirkungsvolles Instrument zur Kontrolle des Verkehrs mit Rauschgiften und zur Bekämpfung der Rauschgiftsucht zu machen.,,56 Die Novellierung des Opiumgesetzes diene dem Ziel, "der Rauschgiftwelle in der Bundesrepublik Deutschland Einhalt zu gebieten und damit große Gefahren für den Einzelnen und die Allgemeinheit abzuwenden.,,57 Auch in der Schweiz sah sich der Gesetzgeber veranlaßt, dem "in beängstigendem Ausrnass angestiegenen Missbrauch von Betäubungsmitteln und Halluzinogenen in wirksamer Weise entgegenzutreten und sowohl die Ursachen als auch die Auswirkungen dieser Erscheinung in sinnvoller und erfolgversprechender Weise zu bekämpfen.,,58 50 Botschaft über die Aenderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärgesetzes vom 24. April 1991, BBI. 1991 II, 969, 971. 51 Vgl. Krüger, Entstehungsgeschichte, S. 161. 52 Vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 201. Sitzung der 8. Wahlperiode, Mittwoch 13.2. 1980, S. 16041 (B). 53 Vgl. BT-Drucks. 8/2382, S. I; 8/3633, S. 19,21. 54 Vgl. Möhrenschlager, NStZ 1994,512,513; Schmidt/Schöne, NJW 1994,2514,2519. 55 So der Titel des von Jenny und Kunz erarbeiteten Berichts und Vorentwurfes. 56 BR-Drucks. 665/70 (neu), S. 7. 57 BR-Drucks. 665/70 (neu), S. 6.

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2. Kap.: Die Krise des "modernen" Strafrechts

An den so formulierten Zielsetzungen wurde auch in der Folgezeit festgehalten. In der Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung zur Neuordnung des deutschen Betäubungsmittelrechts vom 9. November 1979 wird hervorgehoben: .,Der ständige Anstieg der Rauschgiftdelikte zwingt. zum Schutze der Volksgesundheit und der sozialen Interessen der Gesellschaft als äußerste Maßnahme auch verschärfte strafrechtliche Vorschriften gegen diese Kriminalität zu erlassen.,,59 ..Die Verbrechenstatbestände ... sollen ... (Maßnahmen gegen) bestimmte Arten von Rauschgiftdelikten als besonders gefährliche und verabscheuungswürdige Angriffe gegen das Schutzgut .. Volksgesundheit" ermöglichen".60 Festzustellen ist allerdings eine gewisse Akzentverlagerung: Der Topos der Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels hatte im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum BtmG 1971 noch eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Im Allgemeinen Teil der Gesetzesbegründung war er nur beiläufig erwähnt worden. 61 Die Notwendigkeit. für bestimmte besonders schwere Fälle einen Strafrahmen von einem bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe vorzusehen. war zwar auch damals bereits damit begründet worden. diese Regelung bilde ..ein wichtiges Instrument. namentlich zur Bekämpfung illegaler Händler.,,62 Bei den nachfolgenden. auf eine verschärfte Repression abzielenden Novellierungen des BtmG rückt die zunächst mit dem Begriff des ..aus Gewinnstreben handelnden Großtäter(s),,63 und sodann mit dem Schlagwort der ..Bekämpfung der Organisierten Kriminalität,,64 umschriebene Zielsetzung zunehmend in den Vordergrund. Gleiches gilt für den Topos der Umsetzung internationaler Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland. der im Gesetzgebungsverfahren zum BtmG 1971 noch eher den Charakter einer lediglich unterstützenden Hilfsargumentation hat. 65 der aber in der Folgezeit ebenfalls eigenständiges Gewicht erhält und auch zur Begründung strafverschärfender Neufassungen des BtmG herangezogen wird. 66 In jüngster Zeit hat sich das Bemühen des bundesdeutschen Gesetzgebers. gesellschaftliche Entwicklungen prospektiv mittels strafbewehrter Verhaltensverbote bzw. durch ordnungsrechtliche Kodifizierungen und deren (neben-)strafrechtliche Absicherung zu steuern. in der Bundesrepublik Deutschland unter anderem im 58 Vg\. die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Änderung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel, in: BB\. 1973 I, 1348, 1350. Auch in der Literatur findet sich die Fonnulierung der "flutartigen Drogenwelle", vg\. Hug-Beeli, ZStR 115 (\997), 249,250; Schultz, SJZ 68 (\972), 229. 59 BR-Drucks. 546/79, S. 35. 60 BR-Drucks. 546/79, S. 37. 61 BR-Drucks. 665/70 (neu), S. 5/6. 62 BR-Drucks. 665/70 (neu), S. 8. 63 BR-Drucks. 546/79, S. 35, 37. 64 Vg\. BT-Drucks. 12/989, S. 20 f., 30; 12/2720, S. 2. 65 Vg\. BR-Drucks. 665170 (neu), S. 3, 16. 66 Vg\. BR-Drucks. 546179, S. 23; BT-Drucks. 12/3533, S. 10.

III. Der gesellschaftliche Hintergrund der präventiven Orientierung des Gesetzgebers 39

Gentechnikgesetz67 und im Embryonenschutzgesetz68 niedergeschlagen. Beide Gesetze sollen der wissenschaftlichen Forschung verbindliche Grenzen setzen, um so einerseits die Vorteile der wissenschaftlichen Entwicklung nutzen zu können, andererseits aber etwaigen Fehlentwicklungen bzw. Mißbräuchen bereits im Vorfeld ihres Auftretens entgegenzuwirken. 69 Die Zwecksetzung des Gentechnikgesetzes besteht zum einen darin, Leben und Gesundheit von Menschen, Tieren, Pflanzen sowie die sonstige Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge und Sachgüter vor möglichen Gefahren gentechnischer Verfahren und Produkte zu schützen bzw. dem Entstehen solcher Gefahren vorzubeugen (§ 1 Nr. 1 GenTG). Konkret soll das Gesetz einen rechtlichen Rahmen für die Erforschung, Entwicklung, Nutzung und Förderung der wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der Gentechnik schaffen (§ 1 Nr. 2 GenTG).7o Mit dem Embryonenschutzgesetz will der Gesetzgeber der Anwendung bestimmter, durch den wissenschaftlichen Fortschritt technisch möglich gewordener bzw. zukünftig möglich werdender biogenetischer Verfahren entgegenwirken, insbesondere "jeder Manipulierung menschlichen Lebens bereits im Vorfeld begegnen.'.71

IH. Der gesellschaftliche Hintergrund der präventiven Orientierung des Gesetzgebers Die Diskussion der Ursachen für die offenbar ständig zunehmende präventive Orientierung des Strafgesetzgebers wurde in den letzten Jahren wesentlich durch Bemühungen um die Rezeption einer im Anschluß an Arbeiten des Soziologen UIrich Beck unter dem Stichwort der "Risikogesellschaft" bekannt gewordenen Erklärungsansatzes geprägt. Gegenstand des kriminalpolitischen Diskurses war die Frage, ob der "Risikogesellschaft" ein "Risikostrafrecht" korrespondiert bzw. die im soziologischen Schrifttum mit dem Begriff der Risikogesellschaft umschriebenen gesellschaftlichen Phänomene eine grundsätzliche Neubestimmung der Funktion(en) strafrechtlicher Normen erforderlich machen. In seiner Untersuchung zum Thema "Strafrecht und Risiko" hat Prittwitz72 den Versuch unternommen, die für den kriminalpolitischen Diskurs relevanten Ergeb67 Gesetz zur Regelung der Gentechnik vom 20. 6. 1990, BGBI. I, S. 1080, Inkraftgetreten am I. 7. 1990. 6K Gesetz zum Schutz von Embryonen vom 13. 12. 1990, BGBI. I, S. 2746, Inkraftgetreten am I. I. 1991. 69 H.-L. Günther, ZStW 102 (1990), 269, 273 f.; Arthur Kaufmann, Festschrift für Oehler, S.653. 70 Vgl. BT-Drucks. II 15622, S. I, 19 ff. 7\ BT-Drucks. 11/5460, S. I. 12 Strafrecht und Risiko, S. 49 ff.; vgl. daneben auch noch Hilgendorf, Strafrechtliche Produzentenhaftung, S. 17 ff. sowie die kritische Rezension beider Untersuchungen durch Kuhlen, GA 1994, 347 ff.

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2. Kap.: Die Krise des "modernen" Strafrechts

nisse der soziologischen Forschung zu einem Gesamtentwurf der "Risikogesellschaft" zusammenzuführen. Wesentliche Charakteristika der "Risikogesellschaft" sieht er darin, daß das Vorhandensein qualitativ und quantitativ neuartiger Großrisiken sowie eine gleichzeitig abnehmende Fähigkeit der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft, die mit menschlichen Verhalten bzw. gesellschaftlichen Entwicklungen denknotwendig verbundenen Risiken zutreffend einzuschätzen, eine umfassende gesellschaftliche Verunsicherung und ein hieraus resultierendes, zunehmendes Bedürfnis nach normativer (Rück-)Versicherung begründen73 • Im Anschluß an Arbeiten Becks und Perrows beschreibt Prittwitz zunächst die als Nebenfolgen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses entstandenen Großrisiken, wie z. B. die Nutzung der Kernkraft oder der Gentechnologie, als Hochrisiko-Systeme, deren Komplexität schon allein aufgrund des nicht auszuschließenden Faktors menschlichen Versagens unabweislich zu Unfällen führen müsse. Da das Katastrophenpotential dieser Störfälle im Hinblick auf die Auswirkungen für außerhalb des Systems stehende unbeteiligte Personen und zukünftige Generationen weder räumlich noch zeitlich eingrenzbar sei, seien diese Risiken als qualitativ neuartige Großrisiken zu verstehen74 . Die durch diesen Befund begründete Charakterisierung der Risikogesellschaft als "Gefahrgesellschaft" verbindet Prittwitz mit den Erkenntnissen der von ihm als "traditionelle Risikoforschung" bezeichneten Untersuchungen über den allgemeinen menschlichen bzw. gesellschaftlichen Umgang mit Risiken. Die wesentlichen Ergebnisse dieser Untersuchungen bestehen seiner Auffassung nach darin, daß der Mensch mit der objektiv zutreffenden Einschätzung von Risiken überfordert sei. Dies gelte insbesondere dann, wenn es um kleine Wahrscheinlichkeiten oder um die Folgenabschätzung bei komplexem Systemen gehe. Die zunehmende Komplexität und Ausdifferenzierung des gesellschaftlichen Systems begründe Befürchtungen und Verunsicherungen, die zum Teil berechtigt, zu einem anderen Teil aber auch - gemessen am Rationalitätsstandard der naturwissenschaftlichen Experten irreal seien. 75 Gestützt auf sozialpsychologische Untersuchungen 76, insbesondere aber in Anlehnung an Arbeiten Evers und Nowotnys,77 interpretiert Prittwitz die Risikogesellschaft als eine Gesellschaft, deren Reaktion auf tatsächliche oder vermeintliche Gefahren von dem Versuch geprägt sei, die real existierenden bzw. an73 Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 77 ff., 167 f.; ders. StV 1991,435,438; vgl. auch Callies NJW 1989, 1338; Kindhäuser, Universitas 1992,227,228 f.; Müller-Dietz, Funktionen, S. 97; kritisch zum Ansatz Prittwitz Kuhlen, GA 1994,347,352; vgl. auch ders., a. a. 0., S. 357 f. zum Begriff des Risikostrafrechts. 74 Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 50 ff.; vgl. auch Heine, Verantwortlichkeit, S. 61 ff.; Hilgendorf, Strafrechtliche Produzentenhaftung, S. 23 ff.; Preuß KritV 1989,3,8 f.; Schulz, Kausalität, S. 75 f. 75 Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 65 ff., \03 ff.; vgl. auch F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 54 ff. 76 Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. \07 ff. 77 Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 62 ff.

III. Der gesellschaftliche Hintergrund der präventiven Orientierung des Gesetzgebers 41

genommenen Gefahren in Risiken umzudefinieren und diese Risiken - unter Zurückdrängung der Kategorie des "Unglücks" - bestimmten Verursachem zuzuordnen. 78 Die von Prittwitz vorgetragene Analyse des gesellschaftlichen Ist-Zustandes stößt soweit ersichtlich im Schrifttum auf keinen grundsätzlichen Widerspruch. 79 So ist z. B. auch F. Herzog der Auffassung, daß die Entstehung und Entwicklung der von ihm unter dem Begriff des "Gefährdungsstrafrechts" zusammengefaßten Kategorien strafrechtlicher Normen "zumindest teilweise als eine Reaktion auf gesellschaftliche Orientierungsunsicherheiten angesichts von Innovationen, Komplexitätszuwächsen, Strukturwandel, Umbrüchen sei es im ökonomischen oder technologischen Bereich, in der kulturellen Ordnung oder im ethisch-moralischen und politischen Grundkonsens interpretiert werden kann. ,,80 Angesichts eines Verlustes an Verläßlichkeit der Absicherungen des Daseins und anderer traditioneller gesellschaftlicher Bezüge und angesichts einer Auflösung der werthaft-individuellen inneren Überzeugungen und Daseinsperspektiven läßt sich die Ausweitung der strafrechtlichen Sozialkontrolle auf den Bereich von Ordnungsgefährdungen nach Ansicht Herzogs mit der Auflösung von Selbstgewißheit und Vertrauen, mit "diffusen" Ängsten und erhöhten Sicherheitsbedürfnissen und der Notwendigkeit einer Kompensation der verlorengegangen Innenlenkung durch ein auf staatlicher Normsetzung und zwangsweiser Normdurchsetzung basierendes Modell gesellschaftlicher Außen lenkung erklären. 81 Im Gegensatz zu Prittwitz versteht Herzog diese Entwicklung allerdings nicht als ein Phänomen, das erstmalig mit dem Umbruch der Industriegesellschaft zur Hochtechnologiegesellschaft aufgetreten ist. Seiner Auffassung nach müssen bereits die Reichspolizeiordnungen der Jahre 1530, 1548 und 1570 als ein, angesichts entgegenstehender wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Realitäten allerdings faktisch untauglicher und nur als symbolische Handlung zu interpretierender Versuch des Gesetzgebers angesehen werden, auf einen gesellschaftlichen Strukturwandel bzw. gesellschaftliche Auflösungserscheinungen mit strafrechtlichen Sanktionsdrohungen zu reagieren. 82 Andere Autoren haben darauf hingewiesen, daß bereits in den Rechtsordnungen der Industriegesellschaften des 19. Jahrhundert Strafrechtsnormen festzustellen seien, die dem von Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 378 ff.; vgl. auch Frehsee, StV 1996,222,227. Auch die Kritik von Kuhlen, GA 1994,347,360 f. bezieht sich weniger auf die Einze1aussagen als vielmehr auf den von Kuhlen als nicht hinreichend aussagekräftig kritisierten Versuch Prittwitz, ein Gesamtmodell der Risikogesellschaft zu entwickeln. 80 F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 54; vgl. auch Hohmann, Rechtsgut, S. 154; Lüderssen StV 1987,163, 171. 81 F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 58, 69; vgl. auch Kindhäuser, Universitas 1992,227,233; Vormbaum, ZStW 107 (1995), 734, 740 f. 82 F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 74 ff.; vgl. auch Hilgendorf, Strafrechtliche Produzentenhaftung, S. 89 ff. mit dem Beispiel des mittelalterlichen Lebensmittelstrafrechts sowie auch Weber, in: Arzt/Weber, StrafR BT, LH 2, Rdnr. 46 f. Ablehnend zu den Thesen Herzogs: Kratzsch JuS 1994, 372, 374 f., dessen Polemik allerdings in der Sache nicht zu überzeugen vermag. 78 79

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2. Kap.: Die Krise des "modernen" Strafrechts

Prittwitz als "Risikostrafrecht" bezeichneten "modemen" Strafrecht strukturell entsprechen. 83 Daß es sich bei den Straftatbeständen des "modemen" Strafrechts um einen an das Entstehen der "Risikogesellschaft" gebundenen völlig neuartigen Typus strafrechtlicher Normen handeln soll, kann nach alledem mit guten Gründen angezweifelt werden. Die Erkenntnis, daß die Wurzeln des an präventiv-funktionalen Zielvorstellungen orientierten "modemen" Strafrechts zumindest bis in das 19. Jahrhundert zurückreichen, spricht dafür, das Entstehen des "modemen" Strafrechts als den Versuch zu interpretieren, strafrechtliche Normen in ein instrumentelles Konzept präventiver staatlicher Lenkung und Steuerung gesellschaftlicher Prozesse zu integrieren. Die Vertreter dieses Erklärungsansatzes gehen davon aus, daß vorindustrielle Gesellschaftsformen mit strafrechtlichen Normen keinerlei präventiv-instrumentellen Zielsetzungen verbunden, sondern allein repressive Vergeltung geübt haben. Steuerungswirkungen seien von strafrechtlichen Normen nur insoweit ausgegangen, als das Strafrecht bestimmte grundlegende Erwartungsstrukturen, das "ethische Minimum" einer in sich gefestigten gesellschaftlichen Werteordnung, abgesichert und so einen an strenge materielle und formelle Voraussetzungen geknüpften formalen Rahmen für die Entfaltung gesellschaftlicher Autonomie gesetzt habe 84 • Als Folge des technischen, ökonomischen und sozialen Wandels sei dieser Staatsentwurf um eine sozialstaatliche Komponente ergänzt und das statisch auf die Sicherung des Freiheitsanspruches des Einzelnen ausgerichtete Formalrecht durch ein dem intervenierenden Sozialstaat adäquates, an materialen Ordnungs- und Gestaltungszielen orientiertes regulatorisches Recht abgelöst worden. Entsprechend dem Wandel von einem repressiv-limitierenden zu einem präventiv-gestaltenden Steuerungsmodell sei es zu einer Umorientierung auch im Hinblick auf die Funktion des Strafrechts gekommen: "Das ehemals reaktiv punktuell - also limitierend - wirkende Formalrecht hat sich in ein prospektiv intendiertes, material-zweckrationales Präventivrecht gewandelt. ,,85 Folge der Entwicklung weg von der dem repressiv-limitierenden Modell entsprechenden fallweisen Reaktion auf abweichendes Verhalten hin zu einer - tendenziell flächendeckenden - Prävention gesellschaftlicher Instabilitätszonen sei eine "Verschiebung der Kontrolle von der kriminellen Handlung zur kriminogenen Situation, vom pathologischen Fall, den man einschließt, zur pathogenen Situation, die man überwacht.,,86 Im Ergebnis wandele sich der freiheitliche Rechtsstaat zum sozial-autoritären Sicherheitsstaat 87 , dessen 83 Vgl. Kuhlen, GA 1994, 347, 358. 366; Naucke, KritV 1993, 135, 144 m. w. N.; vgl. auch Schünemann, GA 1995, 201, 212, der auf die in den Strafgesetzbüchern der Aufklärungszeit enthaltenen abstrakten Gefahrdungsdelikte verweist. 84 Peter-Alexis Albrecht, KritV 1988, 182, 183; Krauß, KritV 1993, 183, 184, 193. KS Peter-Alexis Albrecht, KritV 1988, 182. 184; vgl. auch ders., KritV 1986,55,58; ders .• StV 1994,265,266. K6 Peter-Alexis Albrecht, KritV 1988, 182.202/203; vgl. auch ders., StV 1994,265.266; Krauß. KritV 1993, 183. 193; Bussmann, in: Kriminalsoziologische Bibliografie, Heft 65, S. 4 f., 15.

IV. Das Legitimitätsdilemma "moderner" Strafrechtsnormen

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durch ein "Grundrecht auf Sicherheit" legitimiertes Credo darin bestehe, durch den instrumentellen Einsatz strafrechtlicher Normen zur Lenkung und Steuerung gesellschaftlicher Prozesse Sicherheit zu produzieren bzw. Ruhe und Ordnung zu gewährleisten. 88

IV. Das Legitimitätsdilemma "moderner" Strafrechtsnormen 1. Vollzugsdefizite als Indiz der Krise des "modernen" Strafrechts Die Einschätzung, daß sich das Strafrecht - insbesondere die als Musterbeispiele des "modemen" Strafrechts verstandenen Bereiche des Betäubungsmittel-, Umwelt-und Wirtschaftsstrafrechts - derzeit in einer Krisensituation befindet oder doch zumindest darauf zusteuert, ist weit verbreitet. Das wesentliche Indiz für diesen Befund wird gemeinhin darin gesehen, daß sich das "modeme" Strafrecht als ungeeignet erwiesen hat, den Erwartungen an die präventive Wirksamkeit der neu geschaffenen Straftatbestände zu genügen. 89 Anknüpfungspunkt dieser Einschätzung ist die Diskrepanz zwischen den Erwartungen an die präventive Wirksamkeit des modemen Betäubungsmittel-, Umweltund Wirtschaftsstrafrechts einerseits und den in der Rechtswirklichkeit festzustellenden allenfalls marginalen Wirkungen bei der ,,Bekämpfung" der Betäubungsmittel-, Umwelt- und Wirtschaftsdelinquenz andererseits, die jedenfalls den öffentlich verbreiteten Erwartungen an die präventive Wirkung des Einsatzes strafrechtlicher Normen in keiner Weise entspricht. Gerade dort, wo der Gesetzgeber - wie z. B. im Wirtschafts- und Umweltstrafrecht - den Versuch unternommen bzw. durch die öffentliche Verbreitung entsprechender Ankündigungen die Erwartung erzeugt hat, Verhaltensänderungen durch die Androhung strafrechtlicher Sanktionen durchzusetzen, oder - wie insbesondere im Betäubungsmittelstrafrecht - gesellschaftliche Mißstände allein mit den Mittel strafrechtlicher Repression behoben werden sollen, sind, gemessen an der in den Gesetzgebungsverfahren deutlich gewordenen Erwartungshaltung, geradezu eklatant erscheinende Vollzugsdefizite festzustellen. 90 Sowohl im Bereich des Umweltstrafrechts als auch in Teilbereichen des Wirtschaftsstrafrechts stehen einem als nicht unerheblich eingeschätzten Dunkelfeld91 Callies, NJW 1989, 1338 f.; Krauß, KritV 1993, 183, 185. Krauß, StV 1989,315,317 f.; Heine, JZ 1995, 651, 653; Hesse, Schutzstaat, S. 118. 89 Nestler. Grundlagen. Rdnr. 285 weist zutreffend darauf hin, daß sich das Präventionsstrafrecht an seiner eigenen Zielsetzung messen lassen muß. 90 Vgl. Peter-Alexis Albrecht. KritV 1993, 163; Hassemer, ZRP 1992, 378, 382; Seelmann, KritV 1992,452,455. 87

K8

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2. Kap.: Die Krise des "modernen" Strafrechts

eher als marginal zu bezeichnende Verurteilungszahlen gegenüber. 92 Im Bereich der Umweltdelikte ist die Anzahl der angezeigten Straftaten zwar drastisch gestiegen, der Großteil der eingeleiteten Verfahren wird aber eingestellt, die restlichen Verfahren enden regelmäßig mit Geldstrafen im unteren Bereich. 93 Im Betäubungsmittelstrafrecht sind die Verurteilungsziffern zwar absolut gesehen nicht unerheblich. 94 Abgesehen davon, daß aber auch in diesem Bereich von einem die Verurteilungszahlen weit übersteigenden Dunkelfeld auszugehen ist,95 wird die Annahme eines Vollzugsdefizits hier insbesondere daraus hergeleitet, daß die laufend intensivierte strafrechtliche Bekämpfung des Rauschmittelgebrauchs offensichtlich in keiner Weise geeignet zu sein scheint, die vom Gesetzgeber benannten Ziele zu erreichen, nämlich: den Konsum von Betäubungsmitteln einzudämmen bzw. die Strukturen des illegalen Rauschgifthandels zu zerschlagen. 96 Strafrechtlich erfaßt wird soweit ersichtlich allein die Ebene der Endverbraucher und der meist selbst abhängigen - kleinen Straßendealer; die mittleren bzw. oberen Ebenen des illegalen Rauschgiftmarktes bleiben demgegenüber weitgehend unbehelligt. 97 Insoweit besteht wiederum eine Parallele zur Verfolgung der Umweltkriminalität, wo ebenfalls überwiegend individuell-spontan begangene Umweltbeeinträchtigungen im Bagatellbereich,98 nicht aber gewerblich bzw. industriell verursachte Umweltbeeinträchtigungen größeren Umfangs geahndet werden. 99 Auch im Bereich Vgl. Eisenberg, Kriminologie, § 44 Rdnr. 12 m. w. N., § 46 Rdnr. 58. Vg!. Peter-Alexis Albrecht, KritV 1988, 182, 191, 197; Eisenberg, Kriminologie, § 47 Rdnrn. 26 ff., 58 ff.; Heine/Meinberg, Gutachten, D 86; Kaiser, Kriminologie, §§ 74, 76; Kindhäuser, Festschrift für Helrnrich, S. 984; Kloepfer 1Vierhaus, Umweltstrafrecht, Rdnrn. 188, 190; Schall, NJW 1990, 1263 f. 93 Albrecht/Heine/Meinberg, ZStW 96 (1984), 943, 961 ff.; Dölling, ZRP 1988,334 f.; Eisenberg, Kriminologie, § 47 Rdnrn. 58,61; Heine, Verantwortlichkeit, S. 80; Heine/Meinberg, Gutachten, D 73 ff., 91 ff.; Heine, Vollzugsdefizite, S. 11 ff.; Hümbs-Kruschel Krusche, Umweltbelastungen, S. 203 ff., 225 ff., 241 ff.; Jenny 1Kunz, Bericht, S. 6 ff.; Kaiser, Kriminologie, § 76 Rdnr. 5; Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 98 f.; Kloepfer/Vierhaus, Umweltstrafrecht, Rdnrn. 191 f.; Meinberg, Rechtstatsachen, S. 215 ff.; Müller-Tuckfeld, KritV 1995,69,71; Rüther, KritV 1993,227,231; Stumm, plädoyer 6/1986, 9 ff.; VestlRonzani, Landesbericht, S. 482 ff.; Vierhaus, ZRP 1992, 161. 94 Vg!. Eisenberg, Kriminologie, § 45 Rdnr. 132; Heine, Betäubungsmittelstrafrecht, S.594ff. 95 Exakte Daten sind nicht verfügbar, vg!. Eisenberg, Kriminologie, § 45 Rdnrn. 133 ff. 96 Peter Albrecht, Betäubungsmittelstrafrecht, Ein!. Rdnr. 44; ders., plädoyer 1/1990, 26; Heuinger, Entwicklungen, S. 14; Nestler, Grundlagen, Rdnrn. 289 ff. 97 Peter Albrecht, plädoyer 1/1990, 26; Eisenberg, Kriminologie, § 45 Rdnr. 131; Hassemer, KritV 1993, 198,203; ders., JuS 1992, 110, 113; Jenny, Drogenpolitik, S. 171; Köhler, ZStW 104 (1992), 3, 10; KrauB, KritV 1993, 183, 193; Kreuzer, Festschrift für Miyazawa. S. 180; Schneider, StV 1992,489,490. 98 Vgl. Eisenberg, Kriminologie, § 47 Rdnr. 64; Heine, Verantwortlichkeit, S. 80 ff.; Heine/Meinberg, Gutachten, D 79 f.; Hümbs-Krusche/Krusche, Umweltbelastungen, S. 128 ff.; dies., ZRP 1984,61,62 ff.; Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 98 ff.; Kloepferl Vierhaus, Umweltstrafrecht, Rdnrn. 183, 202 f.; Kunz, recht 1/1990, 15, 17; Meinberg, Rechtstatsachen, S. 218 f.; Ronzani, Erfolg, S. 64, Rüther, KritV 1993, 227, 231. 91

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IV. Das Legitimitätsdilemma "moderner" Strafrechtsnormen

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der Wirtschaftskriminalität werden in der Praxis vornehmlich Fälle der Klein- und Mittelkriminalität erfaßt. 100 Zumindest in ihrer derzeitigen Ausgestaltung haben sich die Normen des Umwelt-, Betäubungsmittel- und Wirtschaftstrafrechts damit als weitgehend ungeeignet erwiesen, die in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen, d. h. die jeweiligen gesellschaftlichen Probleme zu bewältigen bzw. in nennenswertem Umfang zu deren Bewältigung beizutragen. 101 Indes: Trotz dieses nicht zu bestreitenden Befundes wäre es verfehlt, die an Vollzugsdefiziten festgemachte Krise als ein Problem nur des "modernen" Strafrechts zu interpretieren. 102 Bei näherer Betrachtung ist nämlich nicht ersichtlich, mit welcher Berechtigung das Verdikt der Ineffizienz gerade auf die Bereiche beschränkt werden kann, die gemeinhin unter den Oberbegriff des "modernen" Strafrechts subsumiert werden. Ein empirischer Beleg dafür, daß etwa die §§ 211 ff. dStGBI Art. 111 ff. schwStGB einen signifikanten Beitrag zur Eindämmung von Tötungshandlungen leisten, existiert ebensowenig wie umgekehrt ein Beleg dafür, daß die Abschaffung der § 324 dStGB I Art. 70 GSchG nicht noch eine Zunahme von Gewässerverschmutzungen zur Folge hätte. 103 Würde man an die § 242 dStGB I Art. 139 schwStGB die gleichen Maßstäbe anlegen, mit denen man die Ineffektivität etwa der § 29 dBtmG I Art. 19 schwBetmG begründen will, stände auch die Ineffektivität der § 242 dStGB I Art. 139 schwStGB außer Frage. 104 Ebensowenig wie § 29 dBtmG ein geeignetes Instrument zur Eindämmung des Konsums illegaler Rauschmittel zu sein scheint, kann in § 242 dStGB ein geeignetes Mittel zur faktischen Eindämmung von Laden- und Fahrraddiebstählen oder Kfz-Aufbrüchen gesehen werden. 105

2. Unvereinbarkeit von Regelungsziel und Zurechnungsstruktur "moderner" Strafrechtsnormen Die wesentliche Ursache für die als mangelhaft erscheinende Effektivität strafrechtlicher Normen wird man darin sehen müssen, daß das auf den tradierten Prin'J9 Vgl. Peter-Alexis Albrecht, KritV 1988, 182, 191; Breuer, JZ 1994, 1077, 1080; Jennyl Kunz, Bericht, S. 6 ff.; Kindhäuser, Festschrift für Helmrich, S. 984; Kloepfer/Vierhaus, Umweltstrafrecht, Rdnrn. 204, 206; Meinberg, ZStW 100 (1988), 112, 122 ff.; Meurer, NJW 1988, 2065, 2071; Müller-Tuckfeld, Abschaffung, S. 469; ders., KritV 1995,69,72; Ronzani, Erfolg, S. 64/65. UW) Vgl. Peter-Alexis Albrecht, KritV 1988, 182, 194 f.; Bussmann, in: Kriminalsoziologische Bibliografie, Heft 65, S. 3. JOI Vgl. Heine/Meinberg, Gutachten, D 97 f.; Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 245, 369 f. 102 Vgl. Kuhlen, GA 1994,347,363 ff. J03 Kuhlen, GA 1994,347,364 ff.; Schall, wistra 1992, 1,2 f. 104 Nestler, Grundlagen, Rdnr. 294. lOS Vgl. Kuhlen, GA 1994,347,363.

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2. Kap.: Die Krise des .. modernen" Strafrechts

zipien individuell-schuldhafter Erfolgszurechnung basierende Modell der Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit instrumentell gesehen überfordert ist, wenn es darum geht, Probleme zu bewältigen, die das Resultat hochkomplexer gesellschaftlicher Verursachungszusammenhänge sind. Störungen der sozialen Ordnung, die auf grundlegenden Systemwidersprüchen beruhen, kann ebensowenig mit der Zuschreibung individualisierter Verantwortlichkeit begegnet werden wie Schäden bzw. Risiken, die auf personell nicht eindeutig abgrenzbare Verursachungsbeiträge zurückzuführen sind. 106 Der Versuch, mit Strafrechtsnormen, die ihrer grundsätzlichen Struktur nach (immer noch) in Anlehnung an die traditionellen Grundsätze des Schuldstrafrechts ,,klassischer" Prägung konzipiert werden, präventive Zielsetzungen verfolgen zu wollen, führt in ein Dilemma, das PeterAlexis Albrecht zutreffend mit den Worten zusammengefaßt hat, "daß einerseits die strikt kontextfreie Anwendung von rechtlichen Regeln in Widerspruch zu Forderungen nach einer effizienz- und wirkungsorientierten Rechtsprechung gerät ... (und) andererseits eine effizienz- und wirkungsorientierte Anwendung dieser Regeln schwierig iSt.,,107 Die Problematik des "modemen" Strafrechts besteht nun darin, das Dilemma einer an präventiven Zielsetzungen orientierten, gemessen an den insoweit bestehenden Erwartungen in die verhaltenslenkende Wirkung aber notwendigerweise ineffektiven Strafrechtsordnung in der einen oder anderen Richtung auflösen zu müssen: Entweder müssen die einer effektiven Bekämpfung sozialer bzw. gesellschaftlicher Probleme hinderlichen tradierten Regeln der Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit so modifiziert werden, daß die überkommenen Muster der Zurechnung personaler Verantwortlichkeit durch Zurechnungsstrukturen ersetzt werden, die es ermöglichen, vorausschauend, schnell und flexibel auf sich wandelnde Risikopotentiale zu reagieren; 108 oder es muß anerkannt werden, daß das Strafrecht ein seinem Wesen nach zur prospektiven Beeinflussung gesellschaftlicher Entwicklungen und Problemlagen weitgehend ungeeignetes Instrument ist, was dann allerdings ein Argument dafür sein könnte, den Einsatz strafrechtlicher Instrumente von vornherein auf einen relativ engen Bereich der vergeltenden Reaktion bei Beeinträchtigungen gewichtiger Freiheitsinteressen zu beschränken bzw. zurückzuführen.

106 Peter Albrecht, plädoyer 1/1990,26,27; Peter-Alexis Albrecht, StV 1994,265,267; ders., KritV 1988, 182, 191/192; ders., KritV 1993, 163, 171; Bussmann, in: Kriminalsoziologische Bibliografie, Heft 65, S. 5; Hassemer NStZ 1989, 553, 558; Heine, NJW 1990, 2425, 2426; ders., Grundfragen, S. 69; J.C. Müller, KrimJ 1993, 82, 85/86; Prittwitz, StV 1991,435,440; Ronzani, Erfolg, S. 10 f. und passim, insbesondere S. 146 ff. 107 Peter-Alexis Albrecht KritV, 1986, 55, 68. 108 Vgl. Heine, JZ 1995, 651, 653; Hesse, Schutz staat, S. 93/94; Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 174 f., 263.

3. Kapitel

Voraussetzungen und Problematik einer Integration strafrechtlicher Normen in ein Gesamtsystem staatlichen Risikomanagements Sollen strafrechtliche Nonnen in ein Gesamtsystem der staatlichen Lenkung und Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungen integriert werden, hat dies zur Konsequenz, daß strafrechtliche Verbote nicht mehr nur als das letztes Mittel (ultima ratio) zur Stabilisierung der sich aus den bestehenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ergebenden sozialen Werte verstanden werden können, sondern vielmehr als Instrumente zu begreifen wären, mit denen die Bewertung bestimmter Verhaltensweisen als "sozialschädlich" nicht nur nachvollzogen, sondern auch erzeugt werden kann, gegebenenfalls sogar erzeugt werden muß. 1 Sollen strafrechtliche Nonnen zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsgüterschutzes beitragen,2 indem sie als Teil eines Gesamtsystems staatlicher Gefahrenabwehr andere Regelungs(sub)systeme, wie z. B. das Polizei- oder Zivilrecht, ergänzen und deren Regelungskapazität verstärken,3 erscheint es als geradezu sinnwidrig, erst auf bereits eingetretene Rechtsgutsverletzungen mit Strafe zu reagieren, statt dafür zu sorgen, daß es gar nicht erst zu konkreten Rechtsgutsverletzungen kommt. 4 Aufgabe des Strafrechts müßte es dann sein, das Verhalten der Rechtssubjekte so zu beeinflussen, daß bereits potentielle Gefahrensituationen ausgeschlossen werden. 5 Das entscheidende Kriterium für die Ausgestaltung einer auf faktischen Rechtsgüterschutz abzielenden Strafrechtsordnung hätte die Orientierung an der Art der zu regelnden Kausalprozesse zu sein. Entscheidend wäre, ob der Eintritt von Rechtsgutsbeeinträchtigungen vom Zufall abhängt oder durch das eigenverantwortliche Verhalten der Rechtssubjekte beeinflußbar bzw. beherrschbar ist. Geht man davon aus, daß strafrechtlich relevantes Unrecht bereits dann vorliegt, wenn der zukünftige Eintritt einer Rechtsgutsbeeinträchtigung nur noch vom Zufall abhängig ist, bedeutet dies: Ausschließlich und allein auf die Verantwortlichkeit des Vgl. Ttedemann / Kindhäuser, NStZ 1988, 337, 340. Kratzsch, Verhaltenssteuerung, S. 92, 119; ders., JuS 1994, 372, 376/377; vgl. auch Schünemann, GA 1995,201,213. 3 Vgl. Kratzsch, Verhaltenssteuerung, S. 262 ff. 4 Vgl. Weber, ZStW-Beiheft 1987, 1,2; Weigend, Festschrift für Triffterer, S. 709. 5 Kratzsch, Verhaltenssteuerung, S. 92 f., 265; ders., GA 1989,49, 55 f. I

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3. Kap.: Integration strafrechtlicher Normen in staatlichen Risikomanagements

einzelnen Täters darf das Strafrecht nur dort abstellen, wo dieser tatsächlich bis zum Moment der eigentlichen Rechtsgutsverletzung selbst noch in der Lage ist, den Eintritt einer Rechtsgutsbeeinträchtigung durch eigenverantwortliches Verhalten zu verhindern. Nur in diesem Bereich kann das klassische Erfolgsdelikt als der im Hinblick auf das Ziel der Gefahrenabwehr angemessene Deliktstypus angesehen werden. Überall dort, wo der einzelne Täter mit der Verhinderung des Erfolgseintritts überfordert ist, der zukünftige Eintritt einer Rechtsgutsbeeinträchtigung mithin allein vom Zufall abhängen würde, ist durch eine entsprechende Ausgestaltung des Normensystems sicherzustellen, daß diesen Verhaltensweisen durch entsprechende Verbote entgegengewirkt wird. Regelungsinstrument zur Beherrschung des Zufalls ist das Gefährdungsdelikt. Für die Situation~n, in denen der Eintritt einer Rechtsgutsbeeinträchtigung noch durch das Verhalten einzelner Personen (auch des potentiellen Opfers) abgewendet werden kann, erscheint das konkrete Gefährdungsdelikt als angemessener Deliktstypus, weil hier der Eintritt einer Rechtsgutsbeeinträchtigung erst mit dem Eintritt einer Situation, bei der die zunächst noch bestehenden Abwehrmöglichkeiten nicht mehr gegeben sind wesentlich vom Zufall abhängt. Gefahrensituationen, die entweder aufgrund multipler Kausalzusammenhänge bereits von vornherein individuell nicht beherrschbar sind, oder die aus Handlungsabläufen entstehen, die wegen gänzlich fehlender oder doch zumindest eingeschränkter individuell-zwischenmenschlicher Kontakte weitgehend anonym ablaufen, kann dagegen von vornherein allein durch generell-abstrakte Verhaltensverbote entgegengewirkt werden. 6 Sollen bestimmte Verhaltensweisen mit den Mitteln des Strafrechts unterbunden bzw. die Einhaltung bestimmter Verhaltensweisen strafrechtlich garantiert werden, die für das Funktionieren anonymer Handlungszusammenhänge notwendig sind, muß der Gesetzgeber also zwangsläufig auf Tatbestände zurückgreifen, die nicht an die Schädigung bzw. konkrete Gefährdung eines bestimmten Handlungsobjektes anknüpfen, sondern sich in der bloßen Beschreibung von Verhaltensweisen erschöpfen, die aufgrund ihrer generellen Unbeherrschbarkeit unterbleiben sollen.? Indes: Selbst wenn man unterstellen würde, daß eine auf funktionale Wirkung ausgerichtete Strafrechtsordnung tatsächlich in der Lage wäre, das selbstgesteckte Ziel eines effektiven Rechtsgüterschutzes zu erreichen,8 darf doch andererseits nicht übersehen werden, daß durch die externe Konstituierung von Handlungsabläufen gleichzeitig auch individuelle Freiheitssphären festgelegt werden und in dem Maße, in dem Verhaltensweisen zum Schutz bestimmter Güter unterbunden werden, die personale Freiheit eingeschränkt wirdY Angesichts dessen, daß die Frage der 6 Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 41 ff.; Jakobs, StrafR AT, 6/ 86a; Kratzsch, Verhaltenssteuerung, S. 119 ff., 269, 274 ff., 283 ff., 358 ff.; ders., Festschrift für Oeh1er, S. 68 f.; ders., GA 1989,49,67 ff.; ders., JuS 1994,372,378; Schünemann, GA 1995,201,212 f. 7 Vgl. Jakobs, StrafR AT, 6/86a; ders., ZStW 97 (1985), 751, 767 ff.; vgl. auch Appel, Verfassung, S. 573. K Kritisch insoweit Stratenwerth ZStW 105 (1993), 679, 690 f.; Prittwitz, Risiken des Risikostrafrechts, S. 57.

3. Kap.: Integration strafrechtlicher Normen in staatlichen Risikomanagements

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Legitimität einer Regelung von der der Funktionalität einer Regelung zu trennen ist,lO können strafbewehrte Verhaltensgebote bzw. -verbote nicht allein mit der Erwägung legitimiert werden, daß eine auf effektiven Rechtsgüterschutz ausgerichtete Strafrechtsordnung auf entsprechende Straftatbestände nicht verzichten kann. Entscheidend ist, ob die unter funktionalen Gesichtspunkten als probat erscheinende Pönalisierung potentiell!! rechtsgutsgefährlicher Verhaltensweisen im Hinblick auf die ..berechtigten Freiheitsansprüche des Individuums,,!2 als (noch) legitim begründet werden kann,!3 eine Entscheidung, die ersichtlich maßgebend von den Kriterien abhängig ist, anhand derer die ,.Berechtigung" eines Freiheitsanspruches bestimmt wird. Daß es entscheidend darauf ankommt, weIcher Stellenwert der personalen Freiheitssphäre des Einzelnen zuerkannt wird, läßt sich beispielhaft an der von Kratzsch entwickelten, auf einen ..optimalen" Rechtsgüterschutz!4 abzielenden Konzeption einer Strafrechtsordnung zeigen. Die Bedeutung, die dem von Kratzsch als ..materielle(n) Richtpunkt aller strafrechtlichen Regelungen" und als ..das materielle Endziel des Strafrechts" hervorgehobenen ..Rechtszustand, bei dem jedem Menschen nach Maßgabe des Gleichheitsprinzips" ein .. Grundbestand an elementaren Freiheitsrechten mit entsprechenden Herrschaftsraum und der Möglichkeit der Selbstbestimmung (Autonomieprinzip)" zukommen soll, wird in seiner praktischen Bedeutung weitgehend dadurch entwertet, daß bereits ..der Verstoß gegen das allgemeine Schädigungsverbot, das Verursacherprinzip und, soweit Gefährdungsdelikte in Frage stehen, das Prinzip der Risikoerhöhung" dazu führen soll, daß ..derjenige die Aufgaben, Kosten und Risiken des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes zu übernehmen (hat), der mit einer Tat in die geschützte Rechtssphäre eines anderen eindringt und damit das ursprüngliche Gleichgewicht in den Rechtsbeziehungen zwischen den Bürgern stört.,,!5 Wenn im Hinblick auf die an9 Dworkin, Bürgerrechte, S. 424; Feinberg, Vol. I, S. 207 f.; Jakobs, StrafR AT, 2/25b; ders., ZStW 97 (1985),751,771; Kindhäuser, Gefährdung, S. 178, 182, 185; Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 200 f. 10 Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 363. II Und damit notwendigerweise auch die Erfassung von Verhaltensweisen, die im konkreten Einzelfall keine spezielle Verletzungsrelevanz aufweisen (vgl. Graul, Gefährdungsdelikte, S. 150 f.; Kindhäuser, Gefährdung, S. 231 ff.) bzw. deren Sozialschädlichkeit nicht feststeht, sondern deren Unschädlichkeit nur nicht erwiesen ist (vgl. Kindhäuser, Gefahrdung, S. 283; A.H. Meyer, Gefahrlichkeitsdelikte, S. 181 ff.; Tiedemann/Kindhäuser, NStZ 1988, 337, 340). 12 Schünemann, GA 1995,201,213. Daß das Konzept der Person einer Funktionalisierung des Strafrechts Grenzen setzt, betonen auch Cattaneo, Aufklärung, S. 35 ff. unter Hinweis auf Naucke sowie Dworkin, Bürgerrechte, S. 36 f. unter Hinweis auf Hart; vgl. auch NolI, Festschrift für Mayer, S. 220 f. 13 Engisch, Gerechtigkeit, S. 231, 242; Lewisch, Verfassung, S. 316; Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 204; Zippelius, Gerechtigkeit, S. 82, 86. 14 Kratzsch, Festschrift für Oehler, S. 67/68. 15 Kratzseh, Verhaltenssteuerung, S. 351 ff., ders., GA 1989, 49, 55; ders., Festschrift für Oehler, S. 69 ff.; ders., JuS 1994,372,377.

4 Wohler.

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3. Kap.: Integration strafrechtlicher Normen in staatlichen Risikomanagements

gestrebte Optimierung des Rechtsgüterschutzes bereits die Erhöhung des Gefährdungsrisikos für außerhalb der eigenen Rechtssphäre liegende Rechtsgüter als ausreichende Legitimation verstanden wird, strafrechtliche Verantwortlichkeit zu begründen,16 ist nicht ersichtlich, daß sich ein vom Gesetzgeber als geeignete und erforderliche Maßnahme der Gefahrenabwehr angesehenes strafbewehrtes Verhaltensgebot überhaupt noch als illegitim erweisen kann. 17 Der Beitrag, der von strafrechtlichen Normen zur Lösung der anstehenden gesellschaftlichen Probleme zu erwarten ist, hängt nach alledem davon ab, ob bzw. inwieweit tradierte Grundsätze der Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit ohne Aufgabe rechtsstaatlieh unverzichtbarer Freiheitssicherungen so modifiziert werden können, daß die präventive Wirksamkeit des Strafrechts gesteigert wird. In der aktuellen kriminalpolitischen Diskussion ist die Notwendigkeit einer derartigen Modifizierung der Fragestellung insbesondere von Stratenwerth und Prittwitz herausgearbeitet worden. Stratenwerth hat unter anderem in seinem Einführungsreferat auf der Strafrechtslehrertagung 1993 in Basel 18 die Forderung erhoben, nach Wegen zu suchen, wie das Strafrecht ohne Verlust rechtsstaatlieh unverzichtbarer Zurechnungsgrundsätze einen Beitrag zur Zukunftssicherung leisten könne. Wie die Modifizierungen der tradierten Zurechnungsregeln aussehen könnten, ist bei ihm allerdings ebenso offengeblieben wie bei Prittwitz, der sich sowohl in seiner Habilitationsschrift als auch in einem Referat vor dem 15. Strafverteidigertag 1991 in Berlin auf einige Andeutungen beschränkt hat,19 der aber - insoweit wohl anders als Stratenwerth - die Möglichkeit einer entsprechenden Modifizierung im Ergebnis doch eher skeptisch beurteilt. 20

te.

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Kratzsch, Verhaltenssteuerung, S. 360 sowie die Nachweise in der vorstehenden Fußno-

17 F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 39 f.; vgl. auch Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 363 f. 18 Vgl. Stratenwerth ZStW 103 (1993), 679, 691 ff.; ders., Festschrift für A. Kaufmann, S. 357 ff.; ders., Rektoratsrede, S. 15 ff. 19 Vgl. z. B. Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 383 ff.; ders., StV 1991,435,437 ff. 20 Vgl. Prittwitz, Risiken des Risikostrafrechts, S. 50/51.

4. Kapitel

Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht I. Die Heterogenität der "Frankfurter Schule" Die Auffassung, ein Verzicht auf instrumentelle Funktionen und die Beschränkung auf den Bereich repressiver Vergeltung gewichtiger Freiheitsverletzungen sei keine Verweigerung einer notwendigen Anpassung des Strafrechts an gewandelte gesellschaftliche Verhältnisse, sondern müsse vielmehr als das Ergebnis einer notwendigen Rückbesinnung auf das für eine freiheitlich-rechtsstaatliche Gesellschaft allein legitime Modell einer Strafrechtsordnung interpretiert werden, ist in der aktuellen kriminalpolitischen Diskussion insbesondere von den Frankfurter Strafrechtslehrern Peter-Alexis Albrecht, Winfried Hassemer und Wolfgang Naucke artikuliert worden. Wie oben bereits dargelegt wurde, I sind Hassemer und Naucke in ihren Analysen der Strafrechtsentwicklung der letzten 200 Jahre zu im wesentlichen übereinstimmenden Ergebnissen gelangt. Albrecht will zwar die bei Hassemer und Naucke vorzufindende "idealistische rechtsphilosophische Grundorientierung" durch eine steuerungstheoretische Sichtweise ersetzen, um so die "gesellschaftstheoretische Abstinenz" juristisch-dogmatischer Modellbildungen zu vermeiden. 2 In der Sache selbst fUhrt seine Interpretation der historischen Entwicklung allerdings zu identischen Resultaten. Auch Albrecht sieht den wesentlichen Aspekt der Strafrechtsentwicklung darin, daß die ursprüngliche Funktion repressiv-vergeltender Strafrechtsanwendung allein darin bestanden habe, die Freiheit des einzelnen zu schützen, indem bestimmte Erwartungsstrukturen abgesichert wurden und so ein formaler Rahmen fUr die Entfaltung gesellschaftlicher Autonomie entstand. Als Folge des einsetzenden technischen, ökonomischen und sozialen Wandels sei das statisch-repressive Formalrecht des liberalen Staates dann durch das dem intervenierenden Sozialstaat adäquate, an materiellen Ordnungs- und Gestaltungsvorstellungen orientierte regulatorische Recht abgelöst worden. 3 Auch wenn Albrecht, Hassemer und Naucke sowohl in der Analyse der Strafrechtsentwicklung als auch in der (negativen) Einschätzung des derzeitigen Zustands der Strafrechtsordnung4 zu weithin übereinstimmenden bzw. miteinander I

2

3



Vgl. oben S. 29 ff. Vgl.Peter-Alexis Albrecht, KritV 1988, 182. Peter-Alexis Albrecht, KritV 1988, 182, 183 f.; ders., StV 1994,265,266.

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4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kemstrafrecht

kompatiblen Ergebnissen kommen, steht der von Schünemann 5 vorgenommenen Zusammenfassung zu einer "Frankfurter Schule" der Umstand entgegen, daß die zur Korrektur der übereinstimmend konstatierten (Fehl-)Entwicklung propagierten Lösungswege nicht unerheblich voneinander abweichen: So befürworten zwar sowohl Hassemer als auch Naucke die Beschränkung auf einen Kernbereich strafbewehrter Verbotsnormen, mit denen alIein die Verletzung fundamentaler Rechtsgüter zu sanktionieren sei. Während aber Naucke insoweit auf einen in Anlehnung an Ausführungen Kants definierten Bereich jeder GeselIschaftsform vorgegebener und daher zeitlos strafwürdiger schwerer Freiheitsverletzungen rekurriert, 6 wilI Hassemer entscheidend darauf abstelIen, ob die in Frage stehenden Strafnormen dem Schutz der in einer konkreten geschichtlich gewachsenen Situation als unabdingbare Entfaltungsbedingungen der geselIschaftlichen Existenz des Menschen dienen. Neben den seiner Auffassung nach in erster Linie strafwürdigen Beeinträchtigungen von Individualrechtsgütern (insbesondere den "klassischen" Individualrechtsgütern, wie z. B. Leben, Leib, Freiheit, Eigentum) will er Beeinträchtigungen bestimmter Universalrechtsgüter dann als strafrechtswürdig anerkennen, wenn sich diese präzis umschreiben und entsprechend den Individualrechtsgütern funktionalisieren lassen.? Die Bewältigung geselIschaftlicher Konfliktsituationen, die sich nicht in der Verletzung von Rechtsgütern niederschlage, die Teil der so definierten fundamentalen Freiheitssphäre des Einzelnen sind, sol1 durch das Ordnungswidrigkeitenrecht bzw. - de lege ferenda - einem an Präventionsbedürfnissen orientierten, mit weniger intensiven Sanktionen ausgestatteten und deshalb einer flexibleren Ausgestaltung der Zurechnungsvoraussetzungen zugänglichen, zwischen Zivil- und öffentlichem Recht angesiedelten "Interventionsrecht" vorbehalten bzw. - wie etwa das "Drogen problem" - durch andere gesel1schaftliche Maßnahmen der Konfliktregulierung bewältigt werden. 8 Im Gegensatz zu Hassemer und Naucke, die jedenfal1s einen Kernbereich strafrechtlicher Normen ausdrücklich als legitim anerkennen und dessen Beibehaltung befürworten, geht es Peter-Alexis Albrecht soweit ersichtlich vornehmlich darum, die Notwendigkeit einer umfassenden Entkriminalisierung, d. h. des Rückzugs 4 Vgl. insoweit auch die Beiträge in dem vom Frankfurter Institut für Kriminalwisenschaften 1995 unter dem programmatischen Titel "Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts" herausgegebenen Sammelband. S Schünemann, GA 1995,201 ff.; vgl. auch Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 29; Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 215; vgl. aber die abweichende Selbsteinschätzung bei PeterAlexis Albrecht, Festschrift für E. A. Wolff, S. I. 6 Ablehnend hierzu bereits Kindhäuser, GA 1989,493,505. 7 Hasserner, ZRP 1992, 378, 383; ders., KritV 1993, 198, 208; ders., Grundlinien, S. 90 ff.; vgl. auch Hohmann, GA 1992,76,79; Vormbaum, ZStW \07 (1995), 734, 752. 8 Hasserner, ZRP 1992, 378, 383; ders., KritV 1993, 198, 206 ff.; vgl. auch Hohmann, Rechtsgut, S. 209 ff.; F. Herzog, ZStW \05 (\993), 727, 749 ff.; Kindhäuser, Universitas 1992,227, 234 sowie Naucke, Wechselwirkung, S. 38 ff., der allerdings auch auf die Gefahr hinweist, daß lediglich die Mittel der Unterdrückung umetikettiert und in ihrer Anwendung entgrenzt werden (GA 1984, 199,2\0 f.).

1. Die Heterogenität der "Frankfurter Schule"

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strafrechtlicher Reaktion zugunsten anderer Formen staatlicher Reaktion auf abweichendes Verhalten zu begründen. Die Illegitimität des Versuchs, strafrechtliche Normen als Instrument zur Bewältigung gesellschaftlicher Störungen einzusetzen, ergibt sich für ihn daraus, daß die Strafwürdigkeit der zugrundeliegenden Verhaltensweisen nicht exakt, überzeugend und konsensgetragen normiert und kodifiziert werden könne. Kein "rechtsstaatliches Strafrecht mit seinen notwendig komplexen Verfahrenssicherungen kann wirtschaftliche Auswüchse und Fragwürdigkeiten, schon gar nicht strukturelle System widersprüche und jedwede sozialschädliche Verhaltensweise bewältigen." Hier sei die "Kärrnerarbeit dem Wirtschafts-, Subventions-, Sozial- und öffentlichen Recht zuzuweisen." Das Strafrecht könne "im Hintergrund ... die Grundwerte der Gesellschaft ... stilisieren und ... manifestieren". Es sei aber "nicht dazu bestimmt, die soziale Kontrolle der marktwirtschaftlichen Ordnung zu gewährleisten." Dafür sei "das strafrechtliche Schwert nicht geeignet und - sehr bewußt - stumpf gehalten." Zugriffs- und Verführungssituationen der Finanz- und Subventionsmärkte müßten diese selbst mit wirtschaftsrechtlichen und wirtschaftspolitischen Steuerungsinstrumenten regulieren. Insbesondere in der Grauzone ökonomischer Übervorteilung vermöge der strafrechtliche Unrechtsbegriff keine verbindlichen Konturen zu setzen. Umso mehr sei der Gesetzgeber gefordert, hier verantwortliche Arbeit auf anderen Rechtsgebieten zu leisten. Auch die am wirtschaftlichen Verkehr Beteiligten hätten gesteigerte Kontroll- und Überwachungspflichten. Das Strafrecht hingegen müsse "im eigenen Interesse auf das Prinzip der Subsidiarität verwiesen werden.,,9 Als Fazit seiner Überlegungen propagiert Albrecht den durch materiellrechtliche Entkriminalisierung umzusetzenden "Rückzug des Strafrechts aus dem allumfassenden Steuerungs anspruch" und die "Hinwendung zu adäquaten Steuerungsformen und angemessenen rechtlichen Steuerungsmedien, die das Zivilrecht, das öffentliche Recht und das Sozialrecht bereithalten ... 10 Festzuhalten bleibt: Während Albrecht einen - letztlich vollständigen 11 - Verzicht auf strafrechtliche Normen zugunsten zivilrechtlicher und verwaltungsrechtlicher Steuerungsmechanismen befürwortet, geht es Naucke um eine Rückführung und Beschränkung des Kriminalstrafrechts auf ein Mittel der Reaktion bei Beein9 Peter-Alexis Albrecht, KritV 1993, 163, 171; vgl. auch ders., KritV 1988, 182, 192 f., 197 f .. 205 ff.; Frehsee, StV 1996, 222, 229; Hilgendorf, Strafrechtliche Produzentenhaftung, S.42. 10 Peter-Alexis Albrecht, KritV 1993,163, 180; ders. StV 1994,265,273; ders., Formalisierung, S. 256, 266; vgl. auch Vormbaum, ZStW 107 (1995), 734, 759 f. 11 Berücksichtigt man, daß Albrecht sowohl die Legitimation strafrechtlicher Normen durch den Gedanken des Schuldausgleichs ,jenseits seines pragmatisch-limitierenden Zwecks" als "Metapher rur strafrechtliche Festschriften" (KritV 1988, 182,205) als auch die Legitimation durch (general-)präventive Zielsetzungen als eine sich jeder empirischen Erfolgsbilanzierung entziehende "terminologische WundeIWaffe" (StV 1994, 265 f.; KritV 1993, 163. 164) velWirft, stellt die Forderung nach Abschaffung instrumentell gesehen ineffektiver Strafrechtsnormen letztlich nichts anderes dar als die verklausulierte Forderung nach gänzlicher Abschaffung des Strafrechts.

4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kemstrafrecht

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trächtigungen der jeder Gesellschaftsfonn vorgegebenen, zeitlos gültigen Mindestregeln alltäglicher Freiheit. Hassemer verbindet Elemente bei der Ansätze: Er propagiert die Beschränkung des Strafrechts auf den Schutz von Individualrechtsgütern sowie überindividueller Rechtsgüter, die sich personal funktionalisieren lassen. Nonnen, die dem Schutz nicht personal funktionalisierbarer und deshalb nicht kriminalstrafwürdiger überindividueller Interessen dienen, sollen durch zivil- und verwaltungsrechtliche Steuerungsmechanismen ersetzt, aus dem Kriminalstrafrecht in das Ordnungswidrigkeitenrecht abgedrängt oder aber in einem de lege ferenda zu schaffenden sog. "Interventionsrecht" zusammengefaßt werden. Systematisieren lassen sich diese Vorschläge insoweit, als zu unterscheiden ist zwischen der Forderung, Strafrechtsnonnen durch andere Regelungsinstrumente zu ersetzen, weil diese eher geeignet erscheinen, die zugrundeliegenden Probleme zu lösen (Albrecht, Hasserner) und der Forderung, den Anwendungsbereich strafrechtlicher Nonnen auf den unter nonnativen Gesichtspunkten angemessenen Bereich wirklich kriminalstrafwürdiger Verhaltensweisen zurückzuführen (Hasserner, Naucke).

11. Kernstrafrecht und Prävention 1. Die Notwendigkeit einer kumulativen Legitimation strafrechtlicher Normen Will man mit Hassemer und Naucke an einem Kernbestand legitimer Strafrechtsnonnen festhalten, bedarf es Kriterien, anhand derer entschieden werden kann, welche konkreten Verhaltensweisen diesem Kernstrafrecht unterfallen (sollen). Der Verweis darauf, daß es Rechtsgutsbeeinträchtigungen gebe, auf die notwendigerweise mit repressiver Vergeltung reagiert werden müsse (Naucke), bzw. bei denen der Verzicht auf Strafe "schwer denkbar sei,,12, beschreibt ein gesellschaftliches Phänomen, ohne dieses erklären oder gar legitimieren zu können. Da sowohl die durch die Strafandrohung bewirkte Einschränkung der personalen Freiheitssphäre als auch die Bestrafung selbst ein Übel darstellt, das in die grundrechtlich geschützte Freiheitssphäre des Nonnadressaten bzw. Bestraften eingreift, müßte sowohl die Strafandrohung als auch die Bestrafung als eine mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht mehr vereinbare und deshalb verfassungswidrige staatliche Maßnahme angesehen werden, wenn dieser Eingriff zweckfrei erfolgen sollte. 13 In einer Gesellschaft, die die Existenz staatlicher Gewalt nicht als Selbstzweck anerkennt, kann auch Strafgesetzgebung kein Selbstzweck sein, sondern muß sich - wie jedes andere staatliche Handeln mit Eingriffscharakter auch - als 12 \3

Prittwitz, StV 1991, 435, 440. Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 133.

11. Kernstrafrecht und Prävention

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gesellschaftlich zweckvolles Handeln legitimieren. 14 Daß strafrechtliche Normen kein Selbstzweck sein können, ist heute denn auch unstreitig. Im Gegensatz zu den Verfechtern der noch bis in die 70er Jahre dieses Jahrhundert hinein vertretenen (angeblich) zweckfrei-absoluten Straftheorien, 15 die sich bei näherem Hinsehen allerdings durchgängig als auf die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen status quo abzielende, verdeckt-relative Ansätze erweisen,16 gehen die Vertreter moderner, ihrem eigenen Selbstverständnis nach absoluter Straftheorien davon aus, daß der mit dem Institut der staatlichen Strafe herbeizuführende Tatschuldausgleich kein Zweck in sich ist, sondern vielmehr durch die Bestrafung das durch die Straftat gestörte Rechtsgleichheitsverhältnis wiederhergestellt werden soll.17 Die Problematik absoluter Straftheorien besteht nun darin, daß aus dem Gerechtigkeitsgedanken zwar der Satz abgeleitet werden kann, daß Unrechtstaten im Interesse der Rechtsgleichheit zu bestrafen sind,18 daß aber unter Bezugnahme auf den Gerechtigkeitsgedanken allein weder gezeigt werden kann, daß eine bestimmte Verhaltensweise zu Recht als Unrechtstat anzusehen ist,19 noch - umgekehrt - begründet werden kann, warum nicht konsequenterweise jede Normübertretung Strafe nach sich ziehen muß. 20 Da aber unstreitig nicht jede Normübertretung Anlaß zur Anwendung strafrechtlichen Zwangs sein soll, kann die Legitimität bestimmter Straftatbestände nicht allein mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Wiederherstellung des Rechtsgleichheitsverhältnisses begründet werden. Soll der Anwendungsbereich strafrechtlicher Normen begrenzt werden, muß nachgewiesen werden (können), daß sich eine bestimmte Verhaltensweise als ein mit dem bürgerlichen Zustand unvereinbarer Eingriff in fremde Freiheitssphären darstellt, was ersichtlich ohne Bezugnahme auf die konkreten gesellschaftlichen Zustände und die sich hieraus ergebenden Bedürfnisse des Einzelnen gar nicht entschieden werden 14 Vgl. Frehsee, StV 1996,222,228; Gallas, Grenzen, S. 3; Jakobs, Schuldprinzip, S. 7; Lagodny, Strafrecht, S. 305; Lüderssen, Abschaffen, S. 106, 135; Müller-Dietz, Festschrift für Jescheck, S. 815; Schmidhäuser, Festschrift für E. A. Wolff, S. 453; Schünemann, Stellenwert, S. 115. 15 Besonders prägnant die Formulierung Maurachs von der "zweckgelösten Majestät" der Vergeltungsstrafe (vgl. Maurach, Deutsches Strafrecht, S. 77). 16 Vgl. Frommei, Präventionsmodelle, S. 104 ff., 113 f.; Hassemer, Strafziele, S. 49 ff.; Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention, S. 26 ff.; Naucke, Einfluß, S. 42; Papageorgiou, Schaden, S. 53 f. Daß hinter der Funktionsbestimmung des Strafrechts stets ein bestimmtes Staatsverständnis steht, betonen Cornelia Bohnert, Straftheorie, S. 183 f. und passim sowie Müller-Dietz, Festschrift für Jescheck, S. 813. 17 Vgl. Köhler, Zusammenhang, S. 37 ff.; ders., Begriff der Strafe, S. 9 ff.; ders., StratR AT, S. 43,48 ff.; E.A. Wolff, ZStW 97 (1985), 786, 818 ff.; vgl. auch Frisch, Schwächen, S. 141. 18 V gl. insoweit Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, S. 288; Neumann / Schroth, Theorien, S. 15 f.; E.A. Wolff, ZStW 97 (1985), 786, 820/821. 19 Vgl. Papageorgiou, Schaden, S. 29,37 ff.; Noll, Festschrift für Mayer, S. 229. 20 Vgl. Armin Kaufmann, Aufgabe, S. 266; Naucke, Einfluß, S. 41/42 Fußn. 61; Papageorgiou, Schaden, S. 48 f.

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4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht

kann. 21 Eine Beschränkung der strafrechtlichen Ahndung auf bestimmte Normverstöße kann nur dann als plausibel anerkannt werden, wenn neben der Wiederherstellung des Rechtsgleichheitsverhältnisses der Schutz bestimmter Handlungsoptionen als ein weiterer (kumulativ notwendiger) Begründungstopos anerkannt wird. Straftatbestände bedürfen mithin einer doppelten Legitimation: 22 Einerseits muß der in der Strafandrohung und Strafverhängung liegende Eingriff in die Freiheitssphäre des Einzelnen diesem gegenüber als eine mit dem Gerechtigkeitsgedanken vereinbare Einschränkung seiner Freiheit legitimiert werden können. Andererseits muß - nicht alternativ, sondern kumulativ - die Legitimation des staatlichen Zwangseingriffs selbst begründet werden. Straftatbestände erweisen sich (nur) dann als legitim, wenn sich die Verhängung einer angedrohten Sanktion als ein gesellschaftlich sinnvoller und gleichzeitig im Hinblick auf das Verhalten des Täters diesem gegenüber als gerecht erscheinender Eingriff begründen läßt. Vor diesem Hintergrund sind Funktionalisierungen strafrechtlicher Normen dann aber nicht als per se illegitim,23 im Gegenteil: der Verzicht auf eine Rechtfertigung staatlichen 21 Hieraus folgt im übrigen auch, daß der Satz Kants: "Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ" jedenfalls nicht auf bestimmte Strafnormen abzielen kann, die aufgrund ihres notwendigen Bezuges auf bestimmte empirische Gegebenheiten notwendigerweise nur als hypothetische Imperative im Sinne der von Kant verwendeten Begrifflichkeiten aufgefaßt werden können (vgl. auch Papageorgiou, Schaden, S. 78). Die Auffassung, daß entgegen tradierter Auffassungen letztlich weder Kant noch Hegel als Vertreter reiner Vergeltungstheorien angesprochen werden können, findet im Schrifttum zunehmend Unterstützung: vgl. Bielefeldt, GA 1990, 108 ff.; Armin Kaufmann, Aufgabe, S. 266 ff.; Mayer, Festschrift für Engisch, S. 69 ff.; Schild, Festschrift für E. A. Wolff, S. 434 ff.; Seelmann, Anerkennungsverlust, S. 22 ff. (zu Hegel) und S. 127 ff. (zu Kant). Während Hegels Lehre zumindest einige Elemente enthält, die nach heutigem Verständnis als Elemente einer präventiv orientierten Strafzwecklehre angesprochen werden müssen (vgl. Seelmann, a. a. O. sowie insbesondere Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention, S. 281 ff. m. w. N. zum Streitstand), stellt sich im Hinblick auf die Lehre Kants das Problem, daß Kant die Frage, woraus sich die Berechtigung des Staates zum Strafen herleitet, zumindest nicht ausdrücklich beantwortet hat (vgl. Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, S. 220, 227 ff., 243). Mit den Ausführungen zum Strafrecht in der Metaphysik der Sitten hat Kant nicht eine strikt-absolute Straftheorie positiv begründet, sondern sich darauf beschränkt, die Möglichkeit einer rein präventiv ausgerichteten Strafbegründung zu widerlegen (vgl. Cattaneo, Strafrechtsphilosophie, S. 326, 329; ders., Aufklärung, S. 43 f.; Papageorgiou, Schaden, S. 26 ff.; a.A. Höffe, Kriminalstrafe, S. 364 f.; vgl. auch Oberer, Strafrechtslehre, S. 401 ff., der die positive Begründung der Strafberechtigung aus der Lehre Kants vom höchsten Gut ableiten wiII; zustimmend insoweit Kindhäuser, GA 1989,493,504; kritisch demgegenüber Brandt, Gerechtigkeit, S. 449 ff., der die Auffassung vertritt, die Notwendigkeit der Strafe als Folge der Normverletzung leite sich daraus her, daß das Gesetz die Handlung notwendigerweise mit einer Strafe verbinde um die Gerechtigkeit zu wahren. Daraus folge dann, daß sich der Tater mit seiner Handlung notwendigerweise auch die Strafe zuziehe). 22 Gallas, Grenzen, S. 4; Maurach I Zipf, StrafR AT, Teilbd. I, § 7 Rdnr. 1; Hart, Recht, S. 66 ff.; Armin Kaufmann, Aufgabe, S. 265, 274 f.; Neumann, Kritik, S. 150; Papageorgiou, Schaden, S. 56; Rawls, Regelbegriffe, S. 137 f.; Schild, Festschrift für E. A. Wolff, S. 434 ff. 23 Hilgendorf, Strafrechtliche Produzentenhaftung, S. 45 f.; Prittwitz, StV 1991,435,437; Lüderssen, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 489.

11. Kernstrafrecht und Prävention

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Strafens auch über die aus der Anwendung strafrechtlichen Zwanges resultierenden positiven Folgen für den einzelnen Bürger bzw. die Gesellschaft müßte letztlich als ein rechtskulturel1er Rückschritt angesehen werden?4

2. Strafgesetzgebung als Handeln unter Ungewißheit Erkennt man an, daß sich strafrechtliche Nonnen jedenfalls auch über positive Folgen der Anwendung strafrechtlichen Zwanges legitimieren müssen, stel1t sich das Problem, daß die Ergebnisse empirischer Forschung derzeit weder die präventive Wirksamkeit noch die Unwirksamkeit strafbewehrter Verhaltensverbote zu belegen vennögen. Relativ eindeutig dürfte allein der Befund sein, daß angesichts der gesel1schaftlich vorherrschenden Einstellungen gegenüber "Vorbestraften" und unter den derzeit im Strafvol1zug herrschenden Bedingungen von einer resozialisierenden Wirkung der Vol1streckung von (Freiheits-)Strafen nicht ausgegangen werden kann. 25 Ob die Androhung und Verhängung von Strafen ein geeignetes Mittel ist, andere von der Begehung von Straftaten abzuhalten (negative Generalprävention) bzw. zu nonnkonfonnen Verhalten zu veranlassen (positive Generalprävention), ist dagegen weitgehend ungeklärt. Eine abschreckende Wirkung der Strafandrohung erscheint für die Fälle nicht unplausibel, in denen das Verhalten des Täters nicht allein emotional gesteuert, sondern zumindest auch rational kalkuliert wird. Auch im Hinblick auf den kalkulierenden Täter kann die verhaltenssteuemde Wirkung anderer Faktoren indes weder ausgeschlossen noch im einzelnen gewichtet werden, so daß eine - gemessen an den Maßstäben der empirischen Sozialforschung - konsensfähige Bewertung der abschreckenden Wirkung strafrechtlicher Zwangsanwendung nicht existiert. 26 Gleiches gilt für das Konzept der positiven Generalprävention: Es erscheint plausibel, anzunehmen, daß die Strafandrohung und Strafverhängung die Bevölkerung in ihrem Glauben an die Legitimität bestimmter Verhaltensgebote und -verbote bestätigt und so eine dispositionel1e Nonnbindung bestärkt, die Basis und Grundlage des Einzelnen bei Entscheidungen über situative Nonnbefolgung ist. 27 Die durch die Beobachtung des Al1tagslebens 24 Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 376 f.; ders., StV 1991,435,437; Hassemer, Sozialtechnologie, S. 332; ders., JuS 1987,257,264; vgl. auch Lüderssen StV 1987, 163, 172 f.; Stratenwerth, SchwStrafR AT I, § 3 Rdnrn. 12, 14. 25 V gl. Baratta, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 407/408; Bock, JuS 1994, 89, 94 f.; Lehne, KrimJ 1994,210,213; Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention, S. 81 ff.; Noll, Festschrift für Mayer, S. 222/223; w.N.b. Schöch, Festschrift für Jescheck, S. 1082; zu den methodischen Problemen der empirischen Forschung in diesem Bereich vgl. Eisenberg, Kriminologie, § 15 Rdnrn. 13 ff.; Göppinger, Kriminologie, S. 159 ff., 627 ff., jeweils m. w. N. 26 Vgl. Bock, JuS 1994,89,95 f.; Dölling, ZStW 102 (1990), 1,5 ff.; Kaiser, Kriminologie, § 31 Rdnr. 34; Lehne, KrimJ 1994,210,213 f.; Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention, S. 100 ff.; Schöch, Festschrift für Jescheck, S. 1085, 1098 ff.; Schumann, Beweisbarkeit, S.18.

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4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kemstrafrecht

bestätigte Grundannahme des gesellschaftlichen Miteinanders, daß Personen zumindest in gewissen Grenzen zweckrational handeln und folglich dazu neigen, für sie negative Folgen ihre Verhaltens zu vermeiden, läßt es zwar als plausibel erscheinen, daß auch die Androhung staatlich verhängter Strafen dazu beitragen kann, daß Verhaltensnormen beachtet werden. 28 Da aber auch andere Faktoren für die Norminternalisierung von Bedeutung sind,29 die behauptete Normstabilisierungsfunktion latenten Charakter hat30 und darüber hinaus nicht auf kurzfristige, sondern auf langfristige Veränderungen der dispositionellen Normbefolgungsmuster abzielt,3! kann auch die normstabilisierende Wirkung strafrechtlicher Normen mit einer den Maßstäben der empirischen Sozialforschung entsprechenden Sicherheit weder als nachgewiesen noch als widerlegt angeseh~n werden. 32 Angesichts des in eine non-liquet-Situation einmündenden Standes der empirisch-sozialwissenschaftlichen Forschung kann einerseits die Annahme einer die präventiv wirkenden Normprogramme ergänzenden Wirkung strafrechtlicher Normen nicht allein deshalb beiseitegeschoben werden, weil sie erfahrungswissenschaftlich nicht zu belegen ist. 33 Andererseits darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß es sich - angesichts des fehlenden Nachweises entsprechender Wirkungen um nicht mehr als eine Vermutung handelt, Strafgesetzgebung also nach alledem eine Form des Handeins unter Ungewißheit ist. 34 Die in diesem Zusammenhang gelegentlich vertretene These, der Gesetzgeber sei nach dem Grundsatz "in dubio pro libertate" gehindert, eine Verhaltensweise zu pönalisieren, wenn Zweifel an der Tauglichkeit des Einsatzes strafrechtlichen Zwanges bestehen,35 ist zurückzuweisen, da hier verkannt wird, daß nicht nur die 27 Vgl. Baunnann, GA 1994,368,374 ff. sowie 380 f.; DölIing, ZStW 102 (1990), 1,9 ff.; Kuhlen, GA 1994, 347, 365; ders., Anmerkungen, S. 57 f.; skeptisch aber Lüderssen, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 490. 28 Bock, JuS 1994, 89, 99; Gallas, Grenzen, S. 10 /11; Hoerster, GA 1970, 272, 274; Kaiser, Kriminologie, § 31 Rdnr. 44; Kuhlen, GA 1994,347,364 f.; Schmidhäuser, Festschrift für E. A. Wolff, S. 445 f. 29 Baunnann, GA 1994, 368, 372 f.; Eisenberg, Kriminologie, § 41 Rdnrn. 3 ff.; Kaiser, Kriminologie, § 31 Rdnrn. 37 f. 30 Zur Problematik der Latenz der angestrebten Nonnstabilisierungsfunktion vgl. i.e. Bock, JuS 1994, 89, 97 f.; ders., ZStW 103 (1991), 636, 651 ff. 31 Vgl. Bock, JuS 1994,89,98; ders., ~tW 103 (1991), 636, 654 f.; DölIing, ~tW 102 (1990), I, 18 f. 32 Eisenberg, Kriminologie, § 15 Rdnrn. 11 ff., § 41 Rdnrn.6, 11 ff.; Göppinger, Kriminologie, S. 179,624; Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention, S. 115 ff.; vgl. aber auch Schumann, Beweisbarkeit, S. 19 ff., der eine empirische Verifizierung für notwendig und im Grundsatz auch möglich erachtet. 33 Dölling, ~tW 102 (1990), 1,20; Göppinger, Kriminologie, S. 179. 34 Schulz, StV 1994,38,42. 35 Vgl. z. B. Hassemer, Theorie, S. 200; ders .. Strafrechtsdogmatik, S. 120; Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 123 sowie ausführlich und differenzierend ders., Festschrift für Klug, S. 91 ff. m.w.N.

11. Kernstrafrecht und Prävention

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posItIve Pönalisierungsentscheidung, sondern auch die Entscheidung, von einer Pönalisisierung Abstand zu nehmen, Auswirkungen auf die personale Freiheit des Bürgers hat. 36 Eine Strafrechtsnorm ist dann legitim, wenn sich aus dem vom Gesetzgeber vorzunehmenden Abwägungsprozeß heraus begründen läßt, daß die mit der Strafandrohung bzw. -verhängung verbundenen Einschränkungen der personalen Freiheitssphäre im Hinblick auf die zu vermutenden positiven Folgen der Pönalisierung einer Verhaltensweise als ein gerechtfertigter staatlicher Zwangseingriff erscheint. 37 Grundsätzlich bedarf gerade ein strafbewehrtes Verbot einer empirischen Basis, die über den bloßen Verdacht der Sozialschädlichkeit hinausgehen muß. 38 Beispielhaft: Angesichts des unstreitig hohen Wertes der Rechtsgüter der personalen Integrität und vor allem des Lebens wäre es - vorbehaltlich der hier zunächst ausgeblendeten Problematik der bewußten Selbstgefährdung39 - nicht sachgerecht, das Verbot des Umgangs mit einem bestimmten Rauschmittel nicht bereits auf den durch bestimmte Tatsachen gegründeten Verdacht der Gefährlichkeit stützen zu dürfen. 4o Begründen bestimmte Tatsachen die Annahme, ein bestimmtes Rauschmittel sei geeignet, das Leben und / oder die personale Integrität eines potentiellen Konsumenten in einem Maße zu gefährden, das signifikant über das Maß an Gefährdung hinausgeht, das grundsätzlich mit der (exzessiven) Einnahme mehr oder weniger jeden Genußmittels verbunden ist, wird man dem Gesetzgeber die Befugnis nicht absprechen können, den Umgang mit diesem Rauschmittel unter Strafe zu stellen. Andererseits: Wird der Gefährlichkeitsverdacht in der Folgezeit widerlegt oder auch nur nicht bestätigt, begründet dies die Illegitimität des Festhaltens an der weiteren pönalisierung. 41 Die unter anderem den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofes zur Strafbewehrung des Umgangs mit Cannabisprodukten implizit zugrundeliegende Prämisse, wonach der 36 Treffend hierzu der Hinweis von H.-L. Günther (JuS 1978, 8, 10), die Fragestellung müsse richtigerweise nicht lauten: "Im Zweifel für die Freiheit", sondern vielmehr "Im Zweifel für wessen Freiheit"; zustimmend Lagodny, Strafrecht, S. 13; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 194/195; vgl. auch Appel, Verfassung, S. 412 ff. 37 Vgl. H.-L. Günther, JuS 1978,8,10. 38 Böllinger, KJ 1991,393,398 f.; vgl. auch Eisenberg, Kriminologie, § 23 Rdnr. 39; Forster, ZSR NF 114 (1995), 11, I, 52 f.; Lagodny, Strafrecht, S. 176 f., 518; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 184, 198 ff. Vgl. auch Schroeder, Festschrift für Miyazawa, S. 534 ff., 545, speziell zu den unzureichend aufgeklärten Hintergründen des bundesdeutschen Embryonenschutzgesetzes. 39 Vgl. hierzu unten S. 192 ff. 40 Böllinger, KJ 1991, 393, 399; vgl. auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 328; Jäger, Festschrift für Klug, S. 94 ff.; Lagodny, Strafrecht, S. 173 ff.; Rudolphi, in: SKStGB, Vor § I Rdnr. 11 a. 41 Eisenberg, Kriminologie, § 23 Rdnr. 49; H.-L. Günther, JuS 1978, 8, 11; Schneider, StV 1992,514,515; vgl. auch die abweichende Meinung des Bundesverfassungsrichters Sommer (BVerfGE 90,145,221). Allgemein zur Pflicht des Gesetzgebers, eine Nachkontrolle durchzuführen: Appel, Verfassung, S. 588; NolI, Gesetzgebungslehre, S. 146 ff.; Peine, Systemgerechtigkeit, S. 136; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 200 ff.

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4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht

Gesetzgeber erst dann verpflichtet sein soll, eine ursprünglich auf einen Gefährlichkeitsverdacht gestützte Pönalisierung zurückzunehmen, wenn der Gefährlichkeitsverdacht eindeutig widerlegt sei, vermag nicht zu überzeugen. 42 Bezogen auf die Problematik des "modemen" Strafrechts bleibt im übrigen festzuhalten: Soweit die Forderung nach einer Abschaffung des Umwelt-, Wirtschaftsund Betäubungsmittelstrafrechts mit der "Ineffektivität" dieser Normen begründet werden soll, ergibt sich wiederum das Problem, daß eine Beschränkung der so begründeten Forderung auf die im Vordergrund der aktuellen kriminalpolitischen Diskussion stehenden Teilbereiche der Strafrechtsordnung angesichts des Erkenntnisstandes zur präventiven Wirksamkeit strafrechtlicher Normen als weitgehend willkürlich erscheinen muß. Unstreitig ist, daß die Straftatbestände des "modernen" Umwelt-, Wirtschafts- und Betäubungsmittelstrafrechts die in sie gesetzten präventiven Hoffnungen nicht erfüllt haben. Andererseits ist aber auch nicht erwiesen, daß z. B. ein Verzicht auf das "modeme" Umwelt- und Betäubungsmittelstrafrecht die bestehenden gesellschaftlichen Probleme eher noch verschärfen würde, also eine signifikante Zunahme umweltgefährdender Verhaltensweisen bzw. eine weitere Zunahme des Rauschmittelkonsums 43 die Folge einer Entkriminalisierung wäre. Letztlich folgt hieraus: Die Legitimität von Straftatbeständen kann nicht en bloc verhandelt werden. Die Klassifizierung bestimmter Bereiche der Strafrechtsordnung unter dem Schlagwort des "modemen" Strafrechts bleibt insoweit ohne jeden Erkenntnisgewinn. Entscheidend ist, ob sich konkrete Straftatbestände als gerechtfertigte Einschränkungen der personalen Freiheitssphäre darstellen lassen. Vor diesem Hintergrund kann es dann aber nicht von vornherein ausgeschlossen werden, daß es nicht auch im Bereich umweltgefährdender bzw. wirtschaftsdelinquenter Verhaltensweisen oder im Hinblick auf den Umgang mit bestimmten Stoffen Verhaltensweisen geben soll, die als "Unrechtsspitzen" legitimerweise Strafe nach sich ziehen müssen.

42 Vgl. BVerfGE 45, 187,252; 39, 1,5 sowie BVerfGE 90, 145, 183, wo gesicherte kriminologische Erkenntnisse verlangt werden; BGHSt 38, 339, 342 sowie auch bereits BayObLG, NJW 1969,2297. Auch der Gesetzgeber selbst scheint dieser Auffassung anzuhängen: vgl. BR-Drucks. 546/79, S. 24. In der Literatur stößt die These auf Zustimmung (Gallwas, MDR 1969,892,895; Goerlich, JR 1977,89,90; Roos, Entkriminalisierungstendenzen, S. 210 f.) und Ablehnung (Böllinger, KJ 1991,393,403; ders., KJ 1994,405,408 f., 414; Schneider, StV 1992,514 f.). Allgemein zur Kontrolldichte der Rechtsprechung des BVerfG im Hinblick auf Pönalisierungsentscheidungen des Gesetzgebers: Vogel, StV 1996, 110, 113 f. sowie Lagodny, Strafrecht, S. 173 ff., 318 f.; Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 139 ff.; zur Rechtslage in Österreich vgl. Lewisch, Verfassung, S. 225 ff. 43 Vgl. Joset, ZStR 101 (1984), 152, 159 ff. sowie bereits oben S. 44 f.

III. Der Rekurs auf einen vorpositiv-verbindlichen Begriff des Verbrechens

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III. Der Rekurs auf einen vorpositiv-verbindlichen Begriff des Verbrechens 1. Die Konzeption des Verbrechens als "absolute" Untat Die These, daß es möglich und notwendig sei, das Kriminalstrafrecht auf einen feststehenden Kanon apriori strafrechtswürdiger Verhaltensweisen zu begrenzen, wird in der aktuellen Diskussion insbesondere von Naucke vertreten. Strafrechtswürdig sind seiner Auffassung nach allein die als "absolute Untaten" in ihrem Unrechtsgehalt von der jeweiligen Gesellschaftsform unabhängigen gewaltsamen Beeinträchtigungen des Lebens, der menschlichen Würde, der Gesundheit und der Freiheit. 44 Strafe als Reaktion auf diese "wirklichen Verbrechen" sei kein der Umsetzung von Zweckmäßigkeitserwägungen dienendes vorbeugendes Instrument der Sozialpolitik, sondern habe allein die Funktion, die unantastbare, aber angetastete Ordnung wiederherzustellen, ein Übel mit einem Übel auszugleichen. 45 Nicht der Strafgesetzgeber schaffe die Straftat; was strafwürdig sei, werde nicht beschlossen oder konsentiert, sondern erkannt, und finde dann in der Form des Gesetzes seinen Ausdruck. Wirklich strafwürdig - gleichzeitig aber auch im Sinne eines kategorischen Imperativs zwingend strafbedürftig - seien allein die Verhaltensweisen, die den Bereich personaler Freiheit beeinträchtigen, der für jeden Bürger eines Staates unabdingbar wichtig sei, gleichgültig, welches politische System herrsche. Strafwürdiges Unrecht seien Mißachtungen der Freiheit durch Tötung, Körperverletzung sowie Freiheitsberaubung - Vergewaltigung und Nötigung eingeschlossen. Eine über diesen Bereich der Beeinträchtigung unabdingbarer personaler Freiheit hinausgehende Ausweitung des Strafrechts sei Mißbrauch. 46 Betrug, Urkundenfälschung, betrunkenes Fahren ohne Verletzung anderer, Steuerhinterziehung und Bestechung seien präventionsbedürftige Verhaltensweisen, die zwar eine Intervention des Staates legitimieren könnten, keinesfalls aber eine vergeltende Bestrafung.47

2. Die Abgrenzung des crimen publicum vom crimen privatum Zur Begründung seines Standpunktes stützt sich Naucke auf die von Kant aus der rechtswissenschaftlichen Diskussion des 18. Jahrhunderts übernommene Unterscheidung des kriminalstrafwürdigen "crimen publicum" vom "crimen privatum".4M Kant habe nicht jede Übertretung eines öffentlichen Gesetzes als vergel44

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Naucke, Wechselwirkung, S. 35 f. Naucke, Wechselwirkung, S. 36.

46 Vgl. Naucke, Wechselwirkung, S. 35 ff. sowie - besonders prägnant - ders., Aushöhlung, S. 485. 47 Naucke, Wechselwirkung, S. 38 ff. 4K Vgl. i.e. Naucke, Schi HA 1964,203,206 ff.; ders., Wechselwirkung, S. 40.

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4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht

tungswürdiges Unrecht angesehen, sondern den Begriff der Verbrechen auf die Übertretungen beschränkt, "die den, welcher sie begeht, unfähig macht, Staatsbürger zu sein.,,49 Über diese allgemeine Umschreibung hinaus habe Kant den Bereich der mit Strafe zu vergeltenden Verhaltensweisen nach der objektiven und subjektiven Seite hin positiv bestimmt bzw. gegen nicht-strafwürdiges Verhalten abgegrenzt: In subjektiver Hinsicht habe Kant alle fahrlässigen Taten aus dem Verbrechensbegriff ausgeschieden. 5o Auf der objektiven Seite habe Kant das öffentliche Verbrechen (crimen publicum) vom Privatverbrechen (crimen privatum) unterschieden, wobei er allein die öffentlichen Verbrechen als mit Strafe zu vergeltende Verhaltensweisen angesehen habe. 51 Öffentliches Verbrechen sei eine Tat nach Kant dann, wenn "das gemeine Wesen und nicht bloß eine einzelne Person dadurch gefährdet wird.,,52 Als Privatverbrechen und damit nicht-strafwürdige Verhaltensweisen habe Kant "Veruntreuungen, d.i. Unterschlagung der zum Verkehr anvertrauten Gelder oder Waren (und) Betrug im Kauf und Verkauf bei sehenden Augen des anderen,,53 bezeichnet. Zur positiven Bestimmung des Begriffs des crimen publicum habe Kant "falsch Geld oder Wechsel machen, Diebstahl und Raub",54 Mord und Totschlag,55 Körperverletzung,56 Notzucht,57 Päderastie,58 Hoch- und Landesverrat59, Beleidigung60 und schließlich ein al1gemeines Verbrechen der "Bestialität" benannt. 61 Naucke hält die auf Kant zurückgehende Beschränkung des Kriminalunrechts für im Grundsatz überzeugend und auch in den Einzelheiten für weitgehend zutreffend. Unter Bezugnahme auf die von Kant als allgemeine Definition des öffentlichen Verbrechens verstandene Bezeichnung als "Verletzung der Staatssicherheit" will Naucke einen Diebstahl aber nur und erst dann als ein strafwürdiges Verbrechen anerkennen, wenn es sich nicht um einen geringfügigen, sondern um einen großangelegten Diebstahl handelt62 . Andererseits hält er auch eine Ausweitung des von Kant beschriebenen Anwendungsbereichs in bestimmten engen Grenzen für denkbar, wobei er als Beispiel die vorsätzliche Brandstiftung nennt. 63 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 452. Naucke, SchlHA 1964,203,207. 51 Naucke, SchlHA 1964,203,207/208. 52 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 452. 53 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 452; zur Einordnung des Betrugs vgl. Kühl, Festschrift für Spendei, S. 96. 54 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 452, 454. 55 Ebd., S. 454 f., 458 f. 56 Ebd., S. 454. 57 Ebd., S. 488. 58 Ebd., S. 488. 59 Ebd., S. 455. 60 Ebd., S. 454. 61 Ebd., S. 488 62 Naucke, SchlHA 1964,203,208. 49

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111. Der Rekurs auf einen vOipositiv-verbindlichen Begriff des Verbrechens

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Der Standpunkt, bestimmte Verhaltensweisen könnten - und müßten - völlig unabhängig von jeder Berücksichtigung des gesellschaftlichen Umfeldes als apriori strafwürdige Verbrechen erkannt werden, würde es ermöglichen, die Berücksichtigung der geschichtlich gewachsenen Gesellschafts- und Verfassungsordnung im Rahmen von Pönalisierungsentscheidungen für irrelevant zu erklären und die hierdurch bedingte Notwendigkeit wertender Entscheidungen des Gesetzgebers zu bestreiten. Das Bemühen, Beurteilungsspielräume des Gesetzgebers dadurch zu minimieren, daß nicht nur die Begriffs- und Prinzipienbestimmung, sondern darüber hinausgehend die Ableitung des positiven Strafrechts ausschließlich auf rechtsphilosophische Erwägungen gestützt werden soll, ist allerdings durchgreifenden Bedenken ausgesetzt. Naucke selbst erkennt an, daß die aus dem römischen Recht stammende Abgrenzung zwischen öffentlichen Verbrechen und Privatverbrechen in der praktischen Umsetzung keine durchgängig überzeugenden Ergebnisse erbracht hat und manche Zuordnung letztlich mehr oder weniger willkürlich erfolgt ist. 64 Vor diesem Hintergrund muß es als problematisch angesehen werden, daß Kant den Maßstab für die Einordnung als öffentliches Verbrechen nicht hinreichend präzisiert, sondern bereits offengelassen hat, ob die Unfähigkeit, nach Begehung einer Tat noch Staatsbürger zu sein bzw. die Gefährdung des ganzen Staatswesens als Gegensatz zur bloßen Gefährdung einer einzelnen Person allein im Hinblick auf die konkret in Frage stehende Tat zu beurteilen sein soll oder es darüber hinaus - oder statt dessen - darauf ankommen soll, welche Auswirkungen sich für das Gemeinwesen ergeben würden, wenn alle Mitglieder einer Gemeinschaft unter den gegebenen Umständen so handeln würden, wie es der Täter getan hat. 65 Wenn das wesentliche Charakteristikum des crimen publicum darin zu sehen ist, daß "das gemeine Wesen und nicht bloß eine einzelne Person dadurch gefährdet wird", kann dies so interpretiert werden, daß es um die Beeinträchtigung der Gemeinschaft als Friedensordnung geht. Dann könnte aber praktisch jeder Bruch der Rechtsordnung als crimen publicum und damit strafwürdig verstanden werden, jedenfalls wäre aber nicht ohne weiteres einsichtig, warum der Diebstahl als crimen publicum, Betrug und Unterschlagung dagegen als crimen privatum einzustufen sein sollen.66 Soll es dagegen auf die von der Tat unmittelbar ausgehende Beeinträchtigung der Sicherheit der staatlich verfaßten Gemeinschaft ankommen, wäre wohl die Einstufung der Geld- und Wechsei fälschung als öffentliches Verbrechen nachvollziehbar, nicht aber die Einordnung des Mordes;67 und auch die Einstufung des Diebstahls als crimen publicum könnte mit der Erwägung in Frage gestellt werden, daß ein einzelner Diebstahl für Naucke, SchIHA 1964,203,209. Naucke, SchIHA 1964, 203, 208; vgl. auch Kindhäuser, Gefährdung, S. 158 f.; ders., GA 1989,493,505; Oberer, Strafrechtslehre, S. 412. 65 Forschner, Kant, S. 394 Fußn. 12. 66 Kühl, Festschrift für Spendei, S. 97. 67 Oberer, Strafrechtslehre, S. 411. 63

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4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht

sich gesehen eher als ungeeignet erscheint, das Eigentum aller unsicher zu machen.68 Unabhängig davon, welchen Maßstab man letztlich anlegen will, wird man entgegen der Auffassung Nauckes ohne Berücksichtigung empirisch-pragmatischer Erkenntnisse nicht auskommen können. Bereits die von Kant als Beispiel eines öffentlichen Verbrechens genannte Geld- und Wechselfälschung ist offensichtlich nicht ohne Bezugnahme auf bestimmte Gesellschaftsformen - nämlich solche, die über eine entwickelte Wirtschaftsordnung verfügen - als strafwürdiges Verhalten zu "erkennen". Noch deutlicher wird dies, wenn man mit Naucke die Abgrenzung des (strafwürdigen) großen Diebstahls vom (nicht-strafwürdigen) kleinen Diebstahl für notwendig erachten wollte. Auch die gerade· im Hinblick auf die von Naucke propagierte Unterscheidung zwischen einfachen und großangelegten Diebstahlstaten in besonderer Weise relevante Frage, unter welchen Umständen ein Diebstahl geeignet erscheint, das Eigentum aller unsicher zu machen, kann ersichtlich nicht ohne Berücksichtigung der zugrundeliegenden gesellschaftlichen Verhältnisse beurteilt und entschieden werden. 69 Hier ist einerseits zweifelhaft, ob ein einzelner - auch: großangelegter - Diebstahl für sich gesehen überhaupt geeignet sein kann, das Eigentum aller unsicher zu machen. Wird dies bejaht, ist dann andererseits wiederum nicht ohne weiteres - jedenfalls nicht ohne Bezugnahme auf bestimmte gesellschaftliche Bedingungen - einsichtig zu machen ist, warum nur ein großangelegter Diebstahl geeignet sein soll, diesen Effekt zu erzielen. 7o Schließlich würde sich abschließend die Frage stellen, wann ein Diebstahl als "großangelegt" anzusehen ist. Soll entscheidend sein, daß ein Gemeinwesen durch eine Tat dieser Art insgesamt verunsichert wird, wird man diese Frage nicht entscheiden können, ohne die zeitlich und räumlich konkreten Gegebenheiten des gesellschaftlichen Umfeldes zugrunde zu legen. 7 ) Wenn Naucke schließlich Angriffe auf die vermögensrechtliche Freiheitssphäre des Einzelnen nur dann als strafwürdige öffentliche Verbrechen gelten lassen will, wenn diese durch einen Gewahrsamsbruch gekennzeichnet sind (Diebstahl und Raub), und Verhaltensweisen, bei denen es an einem Gewahrsamsbruch fehlt (Betrug und Unterschlagung) als nicht strafwürdige Privatverbrechen versteht, zeigt sich, daß die Strafwürdigkeit von Verhaltensweisen nicht allein aus der Beeinträchtigung der personalen Freiheitssphäre abgeleitet werden kann, sondern auch die Art Seelmann, Anerkennungsverlust, S. 127 f. Vgl. Seelmann, Anerkennungsverlust, S. 127 f. 70 Vgl. Höffe, Kriminalstrafe, S. 373; Oberer, Strafrechtslehre, S. 411. 71 V gl. H. Mayer, Festschrift für Engisch, S. 61, der darauf hinweist, daß in den zu Lebzeiten Kants geltenden Strafgesetzbüchern nur der besonders qualifizierte Diebstahl - etwa der Diebstahl einer Sache mit einem Wert über 20 Goldgulden (= Wert von I - 2 Stück Großvieh) - als Teil des Kriminalrechts im engeren Sinne angesehen wurde. Vor diesem Hintergrund mag die von Naucke angestrebte Abgrenzung des großangelegten Diebstahls bei Kant implizit vorausgesetzt sein. Grundlage wäre dann aber nicht ein apriori geltender Grundsatz, sondern die Übernahme einer geschichtlich gewachsenen Zuordnung. 68 69

IIl. Der Rekurs auf einen vorpositiv-verbindlichen Begriff des Verbrechens

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und Weise der Beeinträchtigung von Bedeutung ist. Im Ergebnis zeigt sich damit dann aber auch an dieser Stelle, daß dem "Erkennen" von "wirklichen Verbrechen" bestimmte Wertungen vorausgehen müssen bzw. vorausgegangen sind. Die Annahme, daß der Einordnung bestimmter Delikte als crimen publicum bzw. crimen privatum allein apriori geltende Wertungen zugrunde liegen, würde letztlich wohl auch der Lehre Kants widersprechen, nach der bei der praktischen Umsetzung allgemeiner Regeln notwendigerweise das konkrete gesellschaftliche Umfeld zu berücksichtigen und insoweit auf empirische Erkenntnisse zurückzugreifen ist. 72

3. Die GeschichtIichkeit des Strafrechts a) Die wertende Bestimmung strafrechtlicher Schutzgüter Die These, daß es sich bei den Normen des (Kern-)Strafrechts um "absolute Untaten" handeln müsse, findet eine scheinbare Bestätigung darin, daß es elementare Bedingungen menschlicher Existenz gibt, die - wie z. B. Leben und körperliche Integrität - jedenfalls dem Grunde nach nicht zur Disposition stehen können und deren Beeinträchtigung aus diesem Grund auch stets und in allen Gesellschaftsordnungen als strafwürdig anerkannt worden ist. Die Tötung eines Menschens ist denn wohl auch die Untat, bei der das Prädikat des "Absoluten" noch am ehesten angemessen erscheint. 73 Selbst hier ist aber zu konstatieren, daß das - vorbehaltlich etwaiger Sonderfälle, wie z. B. Notwehrlagen i. S. d. § 32 dStGB I Art. 33 schwStGB74 - grundsätzlich geltende Tötungsverbot de lege lata (vgl. §§ 211 ff. dStGB I Art. 111 ff. schwStGB) allein für den geborenen Menschen gilt, während zwar gezeugte, aber noch nicht geborene menschliche Lebewesen bis zum Zeitpunkt der Nidation strafrechtlich gar nicht und danach - bis zur Geburt - einen in sich nochmals gestuften, eingeschränkten strafrechtlichen Schutz erfahren (§§ 218 ff. dStGBI Art. 118 ff. schwStGB).75 Die Begrenzung des absoluten Lebensschutzes auf den Bereich zwischen Geburt76 und Tod mag in früheren Zeiten als ein aus der "Natur der Sache" folgendes Faktum erschienen sein. Der fortschreitende naturwissenschaftliche Erkenntnisstand zwingt indes zu der Erkenntnis, daß sowohl Endzeitpunkt als auch Anfangszeitpunkt des strafrechtlichen Lebensschutzes nicht als ein Faktum "erkannt", sondern aufgrund normativer Wertungen festgelegt werden muß. 77 72 Höffe, Zeitschrift für Philosophische Forschung, Bd. 31, 1977, 354, 369; ders., Kriminalstrafe. S. 339 ff.; Kühl, GA 1977,353,361 f.; Pogge, Imperative, S. 178 f. 73 Papageorgiou, Schaden, S. 172/173. 74 V gl. AppeI. Verfassung, S. 325; Eser, in: Günther 1Keller, S. 285; Keller, in: Günther 1 Keller, S. 119 f. 75 V gl. Eser, in: Schönke 1 Schröder, Vorbem. § § 218 ff. Rdnrn. 33 ff. 76 Entscheidend ist nach herrschender Meinung das Einsetzen der Eröffnungswehen; vgl. Eser, in: Schönkel Schröder, Vorbem. §§ 211 ff. Rdnr. 13; Trechsel, SchwStGB, Vor Art. 111 Rdnr.3.

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4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht

Hinsichtlich der Festlegung des Anfangszeitpunktes des strafrechtlichen Lebensschutzes besteht heute Einigkeit dahingehend, daß ab dem Zeitpunkt der Verschmelzung von Samen und Eizelle artspezifisch menschliches Leben vorliegt und damit bereits die befruchtete Eizelle und erst recht auch der Embryo und der Fötus als individuelles, der Gattung homo sapiens zugehöriges Leben aufzufassen sind. 78 Fraglich ist aber, ob befruchtete Eizellen, Embryonen und Föten hinsichtlich des für sie geltenden Lebensschutzes berechtigterweise anders behandelt werden können bzw. anders behandelt werden müssen als geborene Menschen. Wahrend einige Autoren bereits die befruchtete Eizelle aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Gattung homo sapiens als ,,Menschen" ansprechen und damit den Beginn des menschlichen Lebensschutzes mit dem Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei und Samen ansetzen müssen,19 wollen andere Autoren den Zeitpunkt der Menschwerdung abweichend festsetzen, nämlich mit der Nidation,8o der Entwicklung des Zentralnervensystems,81 der Lebensfähigkeit außerhalb des Mutterleibes,82 der Geburt 83 oder der Entwicklung eines individuellen Überlebensinteresses. 84 An dieser Stelle kann und soll nicht zu der Frage Stellung ge77 Hilgendorf, NJW 1996, 758, 759; ders., NJW 1997, 3074, 3075; Hoerster, Abtreibung, S. 65 ff.; ders., JR 1995,51; Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 182; Merke!, JZ 1996, 1145, 1154; Papageorgiou, Schaden, S. 291; Sternberg-Lieben, JA 1997,80,87; Taupitz, JuS 1997, 203,207. A.A. Weiß, JR 1992, 182, 183; ders., GA 1995,373,376; ders., NJW 1996,3064, dessen Behauptung, der Begriff "Mensch" sei kein hochgradig unbestimmter Begriff, weil jeder wisse, was gemeint sei und was nicht, angesichts des nachfolgend zu skizzierenden Streitstandes allerdings nur mit Erstaunen zur Kenntnis genommen werden kann. 78 Vgl. nur Hruschka, JZ 1991,507; Trechsel, SchwStGB, Vor Art. 118 Rdnr. 2 sowieais Protagonisten entgegengesetzter Standpunkte in der Frage des Lebensrechtes Nichtgeborener - Hoerster, Abtreibung, S. 24 ff. sowie Singer, Ethik, S. 118 einerseits und Tröndle, NJW 1991,2542 andererseits. 79 H.-L. Günther, GA 1987,433,436 f.; Gröner, in: Günther/Keller, S. 306; Hösle, Staat, S. 37 ff.; Keller, in: Günther/Keller, S. 112 ff., 195; Rilinger, GA 1997,418,420; Tröndle, NJW 1991,2542 f.; Graf Vitzthum, JZ 1985, 201, 208; ders., in: Günther/Keller, S. 71 ff.; Weiß, JR 1992, 182, 183; ders., GA 1995, 373, 377 f.; ders., NJW 1996,3064,3065. Weiß will aus diesem Standpunkt die grundsätzliche Anwendbarkeit der §§ 211 ff., 223 ff. StGB bei pränatalen Einwirkungen herleiten, wobei er die §§ 211 ff. de lege lata im Hinblick auf § 218 StGB für gesperrt hält (vgl. Weiß, GA 1995,373,376 f.). Kritisch zur Gleichsetzung des Begriffs ,,Mensch" mit dem Begriff "menschlichen Wesen" unter Bezugnahme auf das Kriterium der Spezieszugehörigkeit: Fechner, JZ 1986,653,658; Hilgendorf, NJW 1996, 758,761; Jerouschek, JZ 1989,279,280 f.; Arthur Kaufmann, Festschrift für Oehler, S. 655 sowie insbesondere Hoerster, JZ 1991,503,504; ders., Abtreibung, S. 55 ff.; kritisch zu dem von Hoerster erhobenen "Speziesismus"-Vorwurf: Hruschka, JZ 1991, 507, 508; Stürner, JZ 1991,505,506. 80 Zippelius, Gerechtigkeit, S. 329; w.N.b. Sternberg-Lieben, JuS 1986, 673, 677; Viefhues, GA 1991,455,458. 81 Hofmann, Festschrift für Krause, S. 119; Merkei, JZ 1996,1145,1152; vgl. auch Viefhues, GA 1991,455,456 m. w. N. 82 Vgl. die Nachweise bei Sternberg-Lieben, JuS 1986,673,677; Viefhues, GA 1991,455, 457; ablehnend hierzu: Singer, Ethik, S. 182 ff. 83 Vgl. Singer, Ethik, S. 181 f., der diesen Standpunkt allerdings selbst ablehnt.

III. Der Rekurs auf einen vOl1'ositiv-verbindlichen Begriff des Verbrechens

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nommen werden, weIche der oben genannten Auffassungen vorzugswürdig erscheint. Festzuhalten bleibt aber, daß der Zeitpunkt der Menschwerdung artspezifisch menschlicher Lebewesen eine von nonnativen Erwägungen getragene Wertung darstellt,85 die es im übrigen, jedenfalls dann, wenn man nicht jedes artspezifisch menschliche Wesen per se mit dem absolut geschützten Menschen gleichsetzt, auch nicht von vornherein ausschließt, einen nach Entwicklungsstufen abgestuften Rechtsstatus für eine adäquate Lösung zu halten. 86 Daß der Begriff "Mensch" ein nonnativer und kein deskriptiver Begriff ist, zeigt sich im übrigen auch an der Auseinandersetzung über den Endzeitpunkt des menschlichen Lebensschutzes. Unstreitig ist, daß der Lebensschutz mit dem Zeitpunkt des Todes endet. Fraglich ist aber, wann ein Mensch tot ist. Ursprünglich ist der Todeseintritt mit dem Versagen von Herz und Kreislauf gleichgesetzt worden. Entwicklungen im Bereich der Reanimations- und Transplantationsmedizin haben dann sowohl das Abstellen auf ein Kreislaufversagen als auch auf den sog. Herztod als eine nicht sachgerechte Zäsur erscheinen lassen. 87 Herrschend ist heute das Ab84 So Singer, Ethik, S. 232 ff. sowie Hoerster, JuS 1989, 175 ff.; ders., ARSP 1990, 255 ff.; ders .. Universitas 1991, 19 ff.; ders., Abtreibung, S. 19 ff., 69 ff.; ders., Neugeborene, S. 12 ff., der davon ausgeht, daß das Neugeborene ein entsprechendes Überlebensinteresse nicht vor dem 4. Lebensmonat entwickelt (vgl. Hoerster, Neugeborene, S. 21 f.; ders., Abtreibung, S. 79 ff.; vgl. auch Singer, Ethik, S. 197), der aber - wegen der Unsicherheit im Einzelfall aus "pragmatischen Gründen" im Rahmen einer rechtlichen Regelung dann doch auf den Zeitpunkt der Geburt abstellen will; vgl. Hoerster, JZ 1991,503 f.; ders., GA 1992,245,248; ders., Abtreibung, S. 128 ff.; ders., Neugeborene, S. 23 ff.; vgl. auch Singer, Ethik, S. 222). Für eine Beschränkung auf personale Wesen - unter Ausschluß von Föten und Säuglingen als selbständige Interessenträger auch Papageorgiou, Schaden, S. 185 ff. Demgegenüber will Merkei, in: Hegselmann/Merkel, S. 110 eine ,,minimale Fähigkeit zur subjektiven Empfindung der eigenen Existenz" ausreichen lassen. 8S Fechner, in: Günther I Keller, S. 49 f. 86 Vgl. z. B. Dreier, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Art. I I Rdnr. 51; Eser, Neuartige Bedrohungen, S. 33 f., 40 ff.; ders., in: Günther I Keller, S. 122 ff.; Günther, in: Günther IKeller, S. 138 f.; Hilgendorf, MedR 1994,429,430 ff.; ders., MedR 1995,396; ders., NJW 1996, 758,761; Jung, ZStW 100 (1988), 3, 32 ff.; Arthur Kaufman, JZ 1987,837,845; Loseh, NJW 1992,2926,2930 f.; Singer, Ethik, S. 197; Stemberg-Lieben, JuS 1986,673,677; Zippelius, Gerechtigkeit, S. 331 f.; kritisch hierzu Hoerster, Abtreibung, S. 47 ff.; ders., MedR 1995,394 f.; ders., NJW 1997,773,774, der allerdings selbst auch den ,.Respekt vor individuellem menschlichen Leben" als einen für die Beurteilung der Schutzwürdigkeit noch nicht geborener menschlicher Lebewesen relevanten Gesichtspunkt anerkennt (Hoerster, Abtreibung, S. 109 f.). Der Unterschied zu dem z. B. von Günther und Jerouschek vertretenen Ansatz, die grundsätzliche Schutzwürdigkeit des Embryos aus einer Ausstrahlungswirkung der Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. I Abs. I GG als Teil der objektiven Werteordnung abzuleiten (vgl. H.-L. Günther, GA 1987,433,436; Jerouschek, JZ 1989,279,284 f.), besteht damit nicht im Ansatz, sondern darin, daß Hoerster zu anderen Abwägungsergebnissen gelangt, weil er die Interessen der Schwangeren höher gewichtet als das öffentliche Interesse an der Achtung des Respekts vor individuellem menschlichen Leben (vgl. Hoerster, Abtreibung, S. 112 f.). 87 Vgl. Eser, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 211 ff. Rdnr. 16; Geilen, Festschrift für Heinitz, S. 380 f.; Höfling, JZ 1995,26,28; Spiuler, JZ 1997,747,748; Stemberg-Lieben, JA 1997,80, 81 f.; Stratenwerth, Festschrift für Engisch, S. 531 ff.



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4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht

stellen auf den sog. Himtod, d. h. den irreversiblen Ausfall der Gehirnfunktionen. 88 Abgesehen davon, daß auch hier zu klären bleibt, ob der Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen (sog. Gesamthirntodkonzept) oder aber der Ausfall der höheren Gehirnfunktionen maßgebend sein soll,89 hat die durch die modeme Intensivmedizin eröffnete Möglichkeit, den Körper himtoter Menschen über nicht unerhebliche Zeiträume hinweg am endgültigen Absterben zu hindern, die Frage aufgeworfen, ob man nicht - um der Gefahr entgegenzuwirken, daß Gehimtote als "Ersatzteillager" mißbraucht werden - auf den unwiderruflichen Ausfall aller Organe abstellen sollte (Hirn-Herz-Kreislauftod)90 oder andersherum - im Interesse etwaiger Organempranger - bereits der alsbaldig zu erwartende Eintritt des Gesamthirntodes als Todeszeitpunkt angenommen werden sol1.91 Auch hier zeigt sich: der Tod ist kein Ereignis, das erfahrungswissenschaftlieh "erkannt" werden kann, sondern eine Zäsur, die aufgrund normativer Maßstäbe gesetzt wird92 und bei der - wiederum auch die Möglichkeit eines gestuften Schutzes nicht von vornherein ausgeschlossen ist. 93 Der Notwendigkeit normativer Zäsuren kann schließlich auch nicht mit der Erwägung die Spitze genommen werden, daß das legitime Strafrecht auf einen Kernbereich stets und immer als Untaten aufgefaßter Verhaltensweisen begrenzt werden müsse bzw. begrenzt werden könne. Ein Blick in die Rechtsgeschichte zeigt schnell, daß selbst die aus heutiger Sicht zum Kernbestand der weitgehend konsentierten Wertungen zu zählende Zäsur der Geburt als Beginn des Tötungsverbotes in anderen Epochen anders gesehen wurde 94 und gerade zu Beginn der Neuzeit das 88 Vgl. Eser, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 211 ff. Rdnr. 18; Hurtado Pozo, Partie speciale, Rdnrn. 35 ff.; Maurach I Schroeder I Maiwald, StrafR BT I, § I Rdnr. 12; Taupitz, JuS 1997, 203, 207; Trechsel, SchwStGB, Vor Art. 111 Rdnr. 4, jeweils m. w. N.; kritisch zum Hirntodkonzept als "Ausdruck eines reduzierten Menschenbildes" z. B. Höfling, JZ 1995,26,32. 89 Vgl. Spiuler, JZ 1997,747,749 f.; Sternberg-Lieben, JA 1997,80,82 ff. !IO Vgl. Höfling, JZ 1995,26,30; Sternberg-Lieben, JA 1997,80,85; Taupitz, JuS 1997, 203,207, jeweils m. w. N. Ablehnend hierzu: Eser, in: Schönkel Schröder, Vorbem. §§ 211 ff. Rdnr. 18. 91 So Dencker, NStZ 1992,311,314 f.; a.A. Joerden, NStZ 1993,268,269 f. 92 Eser, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 211 ff. Rdnr. 18; Geilen, Festschrift für Heinitz, S. 385 ff.; Keller, ZStW 107 (1995), 457, 470 ff.; Merkel, in: Hegselmann/Merkel, S. 88 ff. 93 Vgl. hierzu Spittler, JZ 1997,747,751. 94 V gl. Fechner, in: Günther I Keller, S. 44; Hruschka, JZ 1991, 507, 508 sowie i.e. Jerouschek, Lebensschutz, S. 12 ff., 26 ff., 276 ff.) mit dem Hinweis darauf, daß in antiken Gesellschaften Neugeborene erst mit der Annahme durch den Vater zu Mitgliedern der Gesellschaft wurden. Die im Mittelalter einsetzende Bewertung der Abtreibung als Untat ist zunächst wesentlich durch christlich-kirchliche Einflüsse geprägt (vgl. Jerouschek, Lebensschutz, S. 30 ff., 62 ff.; Singer, Ethik, S. 121 f., 223 f.). Die in den letzten Jahrzehnten in der Bundesrepublik Deutschland gescheiterte und in anderen europäischen Ländern durchgesetzte sog. Fristenlösung ist in der Sache nichts anderes als die Rückkehr zu der auf dem Sukzessivbeseelungsdogma beruhenden gemeinrechtlichen Rechtszustand (vgl. hierzu i.e. Jerouschek, Lebens-

III. Der Rekurs auf einen vorpositiv-verbindlichen Begriff des Verbrechens

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Abtreibungsverbot nicht auf die Menschqualität des noch nicht geborenen Fötus, sondern auf das öffentliche Interesse des Staates an der Mehrung der Bevölkerung gestützt wurde. 95

b) Festlegung der Art und Weise des strafrechtlichen Schutzes Des weiteren darf nicht verkannt werden, daß bei Pönalisierungsentscheidungen - abgesehen möglicherweise von Tötungs- und Körperverletzungsdelikten 96 - stets auch entschieden werden muß, "wie", d. h. gegen welche Art von Beeinträchtigungen ein Rechtsgut in welcher Weise strafrechtlich geschützt werden soll. Daß zumindest die Entscheidung über das "Wie" des Strafrechtsschutzes den Stand und Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht außer acht lassen darf, läßt sich plastisch am Fall der Gebrauchsanmaßung an einem Pferd demonstrieren, eine Verhaltensweise deren soziale Bedeutung und Strafwürdigkeit maßgebend davon abhängt, ob es sich bei einem Pferd um ein überlebenswichtiges Arbeits- oder Transportmittel oder aber um ein Tier handelt, dessen Verfügbarkeit allein im Rahmen der Freizeitgestaltung von Bedeutung ist. 97 Ein weiteres Beispiel ist die Entwicklung des Waren- und Geldverkehrs: Die mit der Einführung des Münzgeldes entstandenen besonderen Deliktsfonnen der Münzverringerung 98 haben mit der Einführung des Papier- und Giralgeldes ihre Bedeutung verloren bzw. sind durch andere Deliktsfonnen abgelöst worden. 99 Die zunehmend komplexer ausgestalteten Wirtschaftsabläufe haben nicht nur neuartige Möglichkeiten des Zugriffs auf das Eigentum und Vennögen anderer geschaffen,lOo sondern auch die besondere Bedeutung des Schrift- und Beweisverkehrs mit Urkunden begründet. 101 In gleicher Weise hat die technische Entwicklung sodann die Problematik der Einbeziehung von Fotokopien 102 und technischen Aufzeichnungen 103 in den althergebrachten Urkundenbegriff begründet. Hinzuweisen ist schließlich auf die mit der Einführung der Computertechnologie verbundenen schutz, s. 136 ff., 279; Maurach I Schroeder I Maiwald, StrafR BT, Teilbd. I, § 5 Rdnrn. 9, 13). 95 Vgl. Jerouschek, Lebensschutz, S. 208, 231, 285 sowie S. 261 f. unter Hinweis auf die entsprechenden Positionen Feuerbachs und Mittennaiers. 96 Vgl. Gallas, Grenzen, S. 12. 97 Hasserner, Theorie, S. 150; vgl. auch Köhler, StrafR AT, S. 36. 98 Vgl. Radbruch/Gwinner, Geschichte, S. 258 ff. 99 R. Hasserner, Schutzbedürftigkeit, S. 27. 100 Vgl. hierzu: Hasserner, Theorie, S. 234 ff. 101 Hasserner, Theorie, S. 129; Hohmann, Rechtsgut, S. 141; M. J. Wonns, Bekenntnisbeschimpfung, S. 63. 102 Vgl. Hasserner, Theorie, S. 106 ff. 103 Zaczyk, Unrecht, S. 178.

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4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht

Auswirkungen auf den Ablauf des Wirtschaftsverkehrs und hieraus resultierend der Ausgestaltung der Eigentums- und Vermögensdelikte. 104 Andere technische Entwicklungen - vom Straßenverkehr lO5 bis hin zu gentechnischen Eingriffen in das Erbgut - haben neuartige Gefährdungen für Leib und Leben begründet. Schließlich haben Veränderungen des gesellschaftlichen Bewußtseins dazu geführt, daß die Einschätzung der von bestimmten Verhaltensweisen ausgehenden Bedrohung revidiert wurde, mit der Folge, daß sich bestimmte Delikte - wie z. B. Zauberei und Hexerei - vor dem Hintergrund des aktuellen gesellschaftlichen Bewußtseins als auf fehlerhaften Annahmen aufbauende Scheinprobleme erwiesen haben und folgerichtig beseitigt worden sind. 106 Welche Verhaltensweisen als strafwürdiges Kriminalunrecht anzusehen sind, kann nach alledem nicht aus dem gesellschaftlichen Nichts heraus "erkannt" werden. Konkrete Straftatbestände sind das Ergebnis sinnstiftender Interpretation wahrgenommener gesellschaftlicher Wirklichkeit. Sie werden in einem Verfahren konstituiert, das als ein durch gewachsene soziale Werterfahrungen determinierter und damit vom Kontext geschichtlicher Werterfahrung abhängiger Prozeß zu sehen ist. 107 Wegen der Anbindung an die Bedingungen der Vergesellschaftung kann es keinen absoluten, sondern nur einen relativen, d. h. einen innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen Systems gültigen Verbrechensbegriff geben. 108 Auch das Strafrecht kann sich der "Geschichtlichkeit des Rechts,,109 nicht entziehen. I 10

Vgl. im einzelnen hierzu unten S. 151 ff. Vgl. Hassemer, Theorie, S. 147/148; Hohmann, Rechtsgut, S. 113; Köhler, StrafR AT, S. 36; Zaczyk, Unrecht, S. 179. 106 Vgl. Hassemer, Theorie, S. 128 f., 222 f.; Zaczyk, Unrecht, S. 180. Die Annahme, es handele sich beim Phänomen der Hexerei und Zauberei um das Ergebnis einer auf irrationalen Prämissen beruhenden Weitsicht ist allerdings nur und erst aus heutiger Sicht zutreffend (vgl. Coing, Rechtsphilosophie, S. 166). 107 Frisch, Festschrift für Stree/Wessels, S. 72; Hassemer, Theorie, S. 106 ff., 124 ff., 147 ff., 227 ff.; ders., Grundlinien, S. 92; ders., in: NK, Vor § I Rdnr. 283; Hohmann, Rechtsgut, S. 112 ff.; Köhler, StrafR AT, S. 36; Marx, Definition, S. 46; Stratenwerth, StrafR AT, Rdnr. 56; ders., SchwStrafR AT I, § 2 Rdnr. 12; M. J. Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 62 ff.; Zaczyk, Unrecht, S. 165 ff. 108 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 209 f.; Frisch, Festschrift für Stree/Wessels, S. 71 f.; Hurtado Pozo, Partie generale, Rdnm. 37 f.; Kunz, Bagatellprinzip, S. 134, 144; Stratenwerth, Strafrechtsreform, S. 21 f.; ders., StrafR AT, Rdnr. 56; ders., SchwStrafR AT I, § 2 Rdnr. 12; Zipf, Kriminalpolitik, S. 92. 109 Vgl. allgemein: Coing, Rechtsphilosophie, S. 159 ff., 178; Arthur Kaufmann, Geschichtlichkeit, S. 4 und passim. 110 Gallas, Grenzen, S. 16 f.; Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnr. 456; Zaczyk, Unrecht, S. 178 ff. 104 105

IV. Ablösung strafrechtlicher Normen

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IV. Ablösung strafrechtlicher Normen durch andere Instrumente zur Regelung sozialer Konflikte 1. Subsidiarität strafrechtlicher Normen gegenüber nicht-repressiven Instrumentarien a) Das Verhältnis von Repression und Prävention Dogmatischer Ansatzpunkt der von Hassemer, insbesondere aber von Peter-Alexis Albrecht propagierten "Hinwendung zu adäquaten Steuerungsformen und angemessenen Steuerungsmedien, die das Zivilrecht, das öffentliche Recht und das Sozialrecht bereithalten",1\1 ist der im Grundsatz allgemein anerkannte subsidiäre Charakter strafrechtlicher Normen. Der wesentliche Gehalt des Subsidiaritätsprinzips wird gemeinhin darin gesehen, daß Strafrechtsnormen als das gewichtigste Instrument staatlicher Sozialkontrolle nur dann zur Anwendung kommen sollen, wenn andere Instrumente zur Regelung eines sozialen Kontaktes nicht zur Verfügung stehen. JJ2 Als zur Regelung sozialer Konflikte vorrangig in Betracht zu ziehende Instrumente gelten unter anderem Maßnahmen der polizeilichen Gefahrenabwehr, öffentlich-rechtliche Fürsorgemaßnahmen, Selbstschutzmaßnahmen des (potentiellen) Opfers unter Einschluß des Gebrauchmachens von zivilrechtlichen Ersatzansprüchen sowie schließlich Formen der informellen Sozialkontrolle. JJ3 Im Hinblick auf die als wesentliche Teilbereiche des "modemen" Strafrechts im Vordergrund der Kritik stehenden Normen des Umwelt-, Wirtschafts- und Betäubungsmittelstrafrechts sind eine Vielzahl alternativer Instrumentarien benannt worden. So wird beispielsweise vorgeschlagen, umweltstrafrechtliche Normen durch marktorientierte Steuerungsmodelle zu ersetzen, die sich an der Höhe der verursachten Emissionen orientieren und deren Zielsetzung darin bestehen soll, Maßnahmen zum Umweltschutz über die Androhung sonst eintretender finanzieller Nachteile zu erzwingen. 1\4 Andere Autoren befürworten eine Verschärfung des ziVgl. oben S. 51 ff. BVerfGE 39, 1,47; Graven, L'infraction, S. 9 ff.; H.-L. Günther, JuS 1978,8, 11; R. Hasserner, Schutzbedürftigkeit, S. 19 ff.; Arthur Kaufmann, Festschrift rur Henkel, S. 102; Maurach/Zipf, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 13; Roos, Entkriminalisierungstendenzen, S. 215 f.; Roxin, JuS 1966,377,382; ders., StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 28; Rudolphi, in: SKStGB, Vor § I Rdnr. 14; Stratenwerth, SchwStrafR AT I, § 3 Rdnr. 12; Trechsel/Noll, StrafR AT I, S. 25 f.; vgl. auch Haffke, KritV 1991, 165 f. Hintergrund dieses Ansatzes ist die verfassungsrechtliche Verankerung des Subsidiaritätsprinzips als Teil des verfassungsrechtlich fundierten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Zu den sich aus der verfassungsrechtlichen Ausgangsssituation Österreichs ergebenden Abweichungen vgl. Lewisch, Verfassung, S. 227 ff. 1I3 Vgl. z. B. Maurach/Zipf, StrafR AT, 1. Teilbd., § 2 Rdnr. 12 sowie ausführlich: Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 137 ff. 1I4 Peter-Alexis Albrecht, KritV 1988, 182, 192; Hasserner, Neue Kriminalpolitik 1989, 46,49; Hohmann, Rechtsgut, S. 210 ff.; Meurer, NJW 1988,2065,2071; Rüther, KritV 1993, 227,244; Schall, wistra 1992, 1,7 ff.; kritisch hierzu: Heine/Meinberg, GA 1990, 1,6 f. 1I1

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4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kemstrafrecht

vilrechtlichen Haftungssystems. 115 Zu denken wäre weiterhin an eine stärkere Betonung ökologischer Gesichtspunkte im Rahmen des Umweltverwaltungsrechts sowie die Etablierung organisierter "Gegenmacht" durch eine stärkere Beteiligung gesellschaftlich relevanter Gruppen an umweltrelevanten Entscheidungsfindungsprozessen. 116 Des weiteren werden Maßnahmen im Bereich der Umwelt- und Wirtschaftsstrukturpolitik sowie Sozial- und Gesundheitspolitik gefordert, durch die die Ursachen der entsprechenden Problemstellungen angegangen werden. 117 Insbesondere im Hinblick auf das Wirtschaftsstrafrecht wird darüber hinaus auf die Selbstverantwortlichkeit der Teilnehmer des Wirtschaftsverkehrs verwiesen. 118 Schließlich werden Maßnahmen der sog. technischen Prävention propagiert; beispielsweise soll über die Einführung von Meldepflichten bei bestimmten fiskalpolitisch relevanten Vorgängen die Begehung von Steuerstraftaten, durch die Einführung von Wegfahrsperren oder anderer technischer Mittel die Begehung von Kraftfahrzeugdiebstählen und über die Rotation von Behördenmitarbeitern und / oder die Einführung von Kontrollausschüssen die Begehung von Korruptionsdelikten wesentlich erschwert, vielleicht sogar weitgehend unmöglich gemacht werden. 119 Implizit liegt diesen Vorschlägen die Prämisse zugrunde, daß sowohl umweltschädigende als auch wirtschaftsdelinquente Verhaltensweisen wie auch der Umgang mit bestimmten Suchtstoffen als Verhaltensweisen unerwünscht sind und unerwünschte Konsequenzen nach sich ziehen. Daß vor diesem Hintergrund sowohl Maßnahmen der technischen Prävention als auch die auf die Bewältigung gesellschaftlicher Probleme abzielenden strukturpolitischen Entscheidungen unabhängig von jeder präventiv oder repressiv ausgerichteten normativen Regelung als notwendige Instrumente der Bewältigung sozialer Konflikte anzusehen sind, sollte unstreitig sein. Zweifelhaft erscheint dagegen, daß Maßnahmen der technischen Prävention oder aber präventiv bzw. restitutiv konzipierte Normprogramme repressive Normen überflüssig machen. Im Hinblick auf Maßnahmen der technischen Prävention ist anzumerken, daß derartige Maßnahmen regelmäßig nicht die den jeweiligen sozialen Konflikten zugrundeliegenden Ursachen beseitigen, sondern vielmehr darauf abzielen, konkrete Begehungsweisen zu erschweren oder zu unterbinden. Konkret bedeutet dies, daß Maßnahmen der technischen Prävention die Begehung von Straftaten nur bis zu 115 Schall, wistra 1992, 1, 7 sowie Hohmann, Rechtsgut, S. 213 ff., der allerdings seIbst einräumt, daß die Verschärfung des zivilrechtlichen Haftungssystems den Einsatz strafrechtlicher Zwangsmittel nicht vollständig zu ersetzen vermag (a. a. 0., S. 217); vgl. auch Tuchtfeldt, ZStR 94 (1977), 214, 226 ff., der hierin ,.flankierende Maßnahmen" sieht. 116 Rüther, KritV 1993,227,244; vgl. auch F. Herzog, ZStW 105 (1993), 727, 749 f., bezogen auf die Kontrolle gentechnischer Forschung. 117 Vgl. Peter-Alexis Albrecht, KritV 1988, 182, 192 und 198; Hassemer, KritV 1993, 198,211 f.; ders., StV 1994, 333, 337. 118 Vgl. z. B. Kindhäuser, Legitimität, S. 133. 119 Vgl. Peter-A1exis Albrecht, KritV 1988, 182, 199; Dölling, Gutachten, C 44 ff.; Hassemer, StV 1994, 333, 336; Ransiek, StV 1996,446,451/452,453.

IV. Ablösung strafrechtlicher Normen

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dem Zeitpunkt zu unterbinden vermögen, bis zu dem sich die Täter den neuen Gegebenheiten angepaßt haben, was regelmäßig entweder in der Art geschieht, daß sich die Begehungsweisen oder aber die Angriffsobjekte verändern. 120 Weiterhin darf nicht verkannt werden, daß durch Maßnahmen der technischen Prävention zwar einerseits das Ziel des "target hardening" erreicht werden kann, daß hiermit aber als unerwünschte Nebenfolge zwangsläufig auch Einschränkungen der personalen Freiheitssphäre verbunden sind, wenn der private Lebensraum zur Festung und im Extremfall zum selbstgeschaffenen Gefängnis des potentiellen Opfers wird. 121 Zweifel daran, daß die Regelung sozialer Konflikte allein durch zivilrechtliche Normprogramme sachgerecht erfolgen kann, leiten sich zunächst aus dem Umstand ab, daß die diesen Normprogrammen überantwortete Reaktion auf bestimmte soziale Konflikte notwendigerweise sowohl von den individuellen Integritäts- und Rehabilitierungsinteressen des betroffenen einzelnen als auch von dessen persönlicher Durchsetzungsmacht abhängig iSt. 122 Zivilrechtliche Normprogramme allein erscheinen damit dann als unzureichend, wenn es um Konflikte geht, bei denen entweder ein als Schaden einer konkreten Person zu definierender Erfolg nicht vorliegt, was insbesondere bei im Umweltbereich auftretenden sog. Langzeit- und Summationsschäden der Fall sein kann,123 wenn es um die Regulierung von Konflikten geht, bei denen die Durchsetzung einer Rechtsposition den Einzelnen überfordern würde 124 oder bei denen eine Reaktion im öffentlichen Interesse unabdingbar erscheint und deswegen nicht von der persönlichen Bereitschaft des - möglicherweise nur zufällig bzw. stellvertretend - betroffenen Einzelnen abhängig sein sol1. 125 Hinzu kommt, daß ein allein auf die Restitution beschränktes Normensystem die Problematik aufwirft, daß es schon aufgrund faktisch bestehender Entdekkungs- und Vollzugsdefizite geradezu rational wäre, zumindest die Option wahrzunehmen, andere Personen zu schädigen. 126 120 Vgl. Kaiser, Kriminologie, § 31 Rdnrn. 27 f., insbesondere zu den Auswirkungen der Maßnahmen zur technischen Prävention beim Bankraub; tendenziell optimistischer dagegen: Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 140. 121 Sessar, MschrKrim 1997, 1, 16 f. 122 Albrechtl Heinel Meinberg, ZStW 96 (1984), 943, 947; Heine/Meinberg, GA 1990,1, 9. 123 Vgl. Hefendehl, GA 1997, 119, 134; Heine/Meinberg, GA 1990, 1,9; Schall, wistra 1992, 1,9; Stratenwerth, ZStW 105 (1993),679, 687 f. 124 Vgl. E. Brandt, Bedeutung, S. 149 sowie Roos, Entkriminalisierungstendenzen, S. 56 mit dem Hinweis darauf, daß Rechtsgüterschutz nicht zu einer allein für den sozial Bessergestellten erreichbaren Ware werden darf. 125 Vgl. Amelung, JZ 1983,617,618; Hefendehl, GA 1997, 119, 126. 126 Niggli, ZStR 111 (1993), 236, 248 ff.; Rehberg. Strafrecht I, S. 4. Soweit - um diesem Einwand den Boden zu entziehen - die Integration pönaler Elemente in das zivilrechtliehe Haftungssystem befürwortet wird (vgl. Rosengarten, NJW 1996, 1935, 1937 f.; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 147 ff.), würde dies auf eine bloße Umetikettierung hinauslaufen. Darüber hinaus wäre die Gefahr gegeben, daß von der nun nicht mehr als "Strafe", sondern als

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4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kemstrafrecht

Im Hinblick auf die geforderte stärkere Verankerung bzw. Betonung bestimmter Werte in verwaltungsrechtlichen Normprogrammen ist festzustellen, daß selbst die Befürworter der Anhebung ökologischer Standards davon ausgehen, daß die Verhandlungs- und Konsensorientierung der Umweltverwaltung die Durchsetzung der für notwendig erachteten Maßnahmen des Umweltschutzes in Frage stellt und deswegen ein unter ökologischen Gesichtspunkten verschärftes Umweltverwaltungsrecht zu seiner Durchsetzung und Absicherung unstreitig der Ergänzung und Absicherung durch strafrechtliche Normen bedarf. 127 Gleiches gilt für den Vorschlag, die Interessen betroffener gesellschaftlicher Gruppen bzw. der Gesellschaft als Ganzes durch die Teilhabe gesellschaftlich relevanter Gruppen am Prozeß der Entscheidungsfindung zu gewährleisten. Wenn selbst die Be.fürworter prozedural geregelter Muster der Konfliktbewältigung davon ausgehen, daß zumindest die Teilnahme und loyale Mitwirkung an diesem Verfahren der Entscheidungsfindung durch staatlichen Zwang und damit auch durch stratbewehrte Verhaltensgebote sicherzustellen ist,128 wird deutlich, daß die präventiven die repressiven Normprogramme nicht ersetzen, sondern nur den Vorrang bekommen sollen. Das Legitimitätsproblem ist damit allerdings nicht gelöst, sondern nur verschoben: kann es legitim sein, die (loyale) Mitwirkung an einem Verfahren zu erzwingen, dessen Zielsetzung selbst mit strafrechtlichen Mitteln nicht erzwungen werden darf? Schließlich darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Einsatz präventiv ausgerichteter Instrumentarien nicht ausschließen kann, daß es nicht doch - zumindest in Einzelfällen - zu Beeinträchtigungen oder Störungen der jeweils geschützten Interessen kommen wird. 129 Wenn nun aber die Beeinträchtigung bestimmter Interessen als "eigentlich" strafwürdig erscheint, würde die Entscheidung, die Stratbedürftigkeit zu verneinen, weil ein sozialer Konflikt grundsätzlich auch auf andere Weise geregelt werden kann, voraussetzen, daß die Beeinträchtigung "eigentlich" strafschutzwürdiger Interessen dann hinnehmbar ist, wenn es sich um quantitativ nicht ins Gewicht fallende Größen handelt. Abgesehen davon, daß unklar ist, ab wann und unter welchen Voraussetzungen die Beeinträchtigung bestimmter Interessen als nicht mehr relevant anzusehen ist, kann dieser Ansatz zumindest dann nicht überzeugen, wenn es um Beeinträchtigungen personaler Belange bestimmter Individuen oder aber um gewichtige überindividuelle soziale Belange geht. Da die Entscheidung, ob man die beim Einsatz präventiv ausgerichteter Instrumentarien verbleibenden Restrisiken aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive hinnehmen Teil des rechtsstaatlich grundSätzlich unbedenklich erscheinenden "Schadensersatzes" verstandenen Sanktion unreflektiert und in weiterem Umfang Gebrauch gemacht werden würde, als dies der Fall wäre, wenn "Strafen" angedroht werden (a.A. Lüderssen, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 496 f., dessen Forderung nach einem "obrigkeitlich ausgestalteten Zivilprozess" (Einleitung, S. 107) in den Konsequenzen weitgehend dunkel bleibt). 127 Peter-Alexis Albrecht, KritV 1988, 182, 192; Heine/Meinberg, GA 1990, I, 8 ff.; Schall, wistra 1992, \, 9. 128 Vgl. Z. B. F. Herzog, ZStW \05 (1993), 727, 750 f. 129 Vgl. H.-L. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 193/194.

IV. Ablösung strafrechtlicher Normen

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kann oder sogar hinnehmen muß, jedenfalls auch von der Wertigkeit des geschützten Interesses mitbeeinflußt wird, ist zu konstatieren, daß präventiv und repressiv wirkende Maßnahmen jedenfalls im Hinblick auf den Schutz gewichtigerer Interessen von vornherein gar nicht im Verhältnis des "entweder-oder", sondern vielmehr in dem des "sowohl-als-auch" stehen. 130 Daß die Streichung von Strafrechtsnormen im übrigen nicht zwingend mit einem Zuwachs an personaler Freiheit gleichgesetzt werden kann,131 zeigt sich daran, daß ein sozialer Konflikt stets durch andere Maßnahmen als den Einsatz strafrechtlichen Zwanges bewältigt werden kann - nötigenfalls eben durch den Abbruch sozialen Kontaktes. 132 Abgesehen davon, daß dies letztlich zu einem im Hinblick auf die Freiheitssphäre des Einzelnen möglicherweise inakzeptablen Rückzug in einen als Festung ausgestalteten privaten Lebensraum führen könnte, ist anzumerken, daß der Wegfall strafbewehrter Verhaltensnormen die Möglichkeiten sozialer Interaktion nur theoretisch für alle Mitglieder der Gesellschaft erweitert, tatsächlich aber nur denjenigen zugute kommt, die faktisch in der Lage sind, von diesem Freiheitsangebot - nötigenfalls auch gegen den Willen anderer - tatsächlich Gebrauch zu machen. 133 Vor diesem Hintergrund bedarf der Satz, daß Strafrechtsnormen im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip erst dann zur Anwendung kommen dürfen, wenn andere Instrumente zur Regelung eines sozialen Konfliktes nicht zur Verfügung stehen, einer einschränkenden Ergänzung dahingehend, daß als Alternativen zur Anwendung strafrechtlichen Zwanges allein solche Maßnahmen in Betracht kommen können, deren Auswirkungen die Personen treffen, denen legitimerweise die Konsequenzen der Bewältigung des sozialen Konfliktes aufgebürdet werden kann. 134

b) Konsequenzen für das "moderne" Strafrecht? Selbstschutzmöglichkeiten potentieller Opfer kommen als eine repressive Maßnahmen ausschließende Alternative zur Bewältigung eines sozialen Konfliktes dann in Betracht, wenn das potentielle Opfer entweder über ausreichende Selbstschutzmöglichkeiten verfügt, die es realisieren kann, ohne hierdurch gewichtige eigene Interessen zu beeinträchtigen, bzw. dann, wenn die Integrität der betroffenen Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht I, S. 79; Weber, ZStW 96 (1984), 376, 379 f. Treffend hierzu bereits H.-L. Günther, JuS 1978,8, 10; vgl. auch Appel, Verfassung, S. 412 ff.; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 101/102, 133 ff.; tendenziell a.A. wohl Prittwitz, Das deutsche Strafrecht, S. 396. 132 Vgl. R. Hasserner, Schutzbedürftigkeit, S. 25 f.; Jakobs, StrafR AT, 2/27; Prittwitz, Das deutsche Strafrecht, S. 396. 133 Vgl. Vormbaum, ZStW 107 (1995), 734, 749. 134 Jakobs, StrafR AT, 2/27; vgl. auch Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 129 ff., der darauf hinweist, daß auch die nicht intendierten Nebenfolgen einer Pönalisierung zu beachten sind. 130 131

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4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht

Interessen des Opfers aus anderen Gründen - unter nonnativen Gesichtspunkten 135 - als nicht schutzwürdig erscheint. 136 Selbst wenn dem Opfer der eigenverantwortliche Schutz seiner Interessen grundsätzlich zugemutet werden kann, erscheinen Straftatbestände jedenfalls dann nicht als illegitim, wenn sie (allein) die Fallgestaltungen erfassen, in denen der Tater die dem Opfer legitimerweise zumutbaren Selbsthilfemaßnahmen unterläuft. 137 Ein Beispiel hierfür ist der Straftatbestand des Betruges (§ 263 dStGB / Art. 146 schwStGB), durch den die durch Tauschung, nicht aber die durch bloße - täuschungsfreie - Überredung herbeigeführte Selbstschädigung im Vermögensbereich unter Strafe gestellt wird. I38 Der Ansatz, den Einsatz strafender Sanktionen durch Maßnahmen des Selbstschutzes nicht nur zu ergänzen, sondern zu ersetzen, kann nach alledem nur in einem sehr eingeschränkten Umfang auf das Subsidiaritätsprinzip gestützt werden. Als ein Beispiel für die Fallgestaltungen, in denen die Einführung einer Strafrechtsnorm eine Freiheitsbeschränkung nicht nur für den "Tater", sondern auch für das "Opfer" bedeutet, 139 kann auf den Straftatbestand des Scheck- und Kreditkartenmißbrauchs (§ 266b dStGB) verwiesen werden, der den faktisch ohne weiteres zum Selbstschutz fähigen Kreditinstituten letztlich gegen deren erklärten Willen vom Gesetzgeber geradezu aufgezwungen wurde. 140 Im Hinblick auf Maßnahmen des präventiven Verwaltungszwanges hat der Gesetzgeber abzuwägen, welche Belastungen welchen Personen und / oder Institutionen zur Vermeidung unerwünschter Konsequenzen bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen aufgebürdet werden dürfen. Die Argumentation, der angedrohte strafrechtliche Zwang treffe "nur" etwaige Normbrecher, während tatsächlich flächendeckende Maßnahmen des präventiven Verwaltungszwanges, wie z. B. Auskunfts- und Meldepflichten, auch die sich nonnkonform verhaltende Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft in ihrem Freiheitsstatus einschränken,141 vernachläs135 Zur Notwendigkeit einer normativen Bewertung vgl. R. Hassemer, Schutzbedürftigkeit, S. 32 ff., 72. 136 Vgl. E. Brandt, Bedeutung, S. 149; Kratzseh, Verhaltenssteuerung, S. 365; ders., Festschrift für Oeh1er, S. 75 f.; Schünemann, Festschrift für Faller, S. 262; ders., NStZ 1986,439; ders., Festschrift für R. Schmitt, S. 128. 137 H.-L. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 194; A. Worms, An1egerschutz, S. 288 ff.; Weber, NStZ 1986,481,486. 138 Vgl. R. Hassemer, Schutzbedürftigkeit, S. 43 ff.; Kratzseh, Festschrift für Oehler, S. 73. 139 Vgl. Kratzseh, Verhalte~ssteuerung, S. 364. 140 Vgl. hierzu einerseits Haffke, KritV 1991, 165, 167 ff. und andererseits Lagodny, Strafrecht, S. 352 f., 356 ff. Zur entsprechenden Problematik bei Art. 148 schwStGB vgl. Schubarth, ZStW 92 (1980), 80, 92 ff. 141 Vgl. hierzu die kontroversen Stellungnahmen von Appel, Verfassung, S. 402 f., 407 f., 542 ff.; Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 291 f.; Heinz, GA 1977, 193, 198; F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 119 ff.; Lagodny, Strafrecht, S. 345 ff.; Otto, ZStW 96 (1984),339,362; ders. MschrKrim 1980,397,404; Tiedemann, ZStW 87 (1975), 253, 266 f.; ders., Strafrecht, S. 463 f.; ders., Festschrift für Stree/Wessels, S. 531; Volk. JZ 1982, 85, 88; Weber, ZStW 96 (1984), 376, 380 f.

IV. Ablösung strafrechtlicher Normen

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sigt den spezifischen Charakter und das unterschiedliche Gewicht der jeweils in Rede stehenden Beeinträchtigungen. Ebensowenig wie allein die bloße Anzahl der von der Regelung eines sozialen Konfliktes Betroffenen entscheidend sein kann, kann das Gewicht der in der Bestrafung liegenden Einschränkung der Rechtssphäre durch die Erwägung marginalisiert werden, daß diese "nur" einen Normbrecher treffe. Entscheidend ist, ob es der Mehrheit l42 zugemutet werden kann bzw. sogar zugemutet werden muß, bestimmte Einschränkungen einer zunächst als umfassend gedachten (vorgesellschaftlichen) Freiheitssphäre als Ausdruck immanenter Grenzen der gesellschaftlich konstituierten Freiheitssphäre des Einzelnen hinzunehmen. Unabhängig hiervon ist die Legitimität der in der Strafandrohung und Bestrafung liegenden Beschränkung der Freiheitssphäre des ,,Normbrechers" zu bewerten. Angesichts der schwerwiegenden Konsequenzen der Strafverhängung wird es regelmäßig naheliegen, in erster Linie präventive Maßnahmen zu ergreifen. Einem die präventiven Maßnahmen sinnvoll ergänzenden Einsatz eines für sich gesehen legitimierbaren strafrechtlichen Zwanges steht das Subsidiaritätsprinzip aber jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die Pönalisierung einen über die Wirkung präventiver Maßnahmen hinausgehenden bzw. diese ergänzenden Beitrag zu leisten vermag. 143 Im Ergebnis bleibt festzuhalten: Der Einsatz repressiv und präventiv ausgerichteter Instrumentarien der sozialen Kontrolle steht nicht im Verhältnis des "entweder-oder", sondern in dem des "sowohl-als-auch".I44 Die Entscheidung über die Anwendung strafrechtlichen Zwangs wird nicht dadurch präjudiziert, daß auch andere Instrumente der sozialen Kontrolle zur Verfügung stehen. Der Einsatz strafrechtlichen Zwanges muß aus sich selbst heraus als legitim begründet werden können und kann nicht durch alternative zivil- oder öffentlich-rechtliche Instrumentarien bzw. deren Fehlen präjudiziert werden. 145 Die unter Hinweis auf deren angebliche "Ineffektivität" erhobene Forderung nach Abschaffung strafrechtlicher Normen kann nach alledem nicht auf den subsidiären Charakter des Strafrechts gegründet werden, sondern müßte auf das dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz immanente Verbot ungeeigneter oder unangemessener Zwangsausübung durch die öffentliche Gewalt gestützt werden. Daß die Möglichkeit, mit strafrechtlichen Normen präventive Wirkungen zu erzielen, derzeit nicht ohne weiteres verneint werden kann und die insoweit bestehenden Bedenken im übrigen kein spezielles Problem des sog. "modemen" Strafrechts darstellt, ist bereits dargelegt worden. 146 Die Problematik des unangemessenen Eingriffs kann 142 Vgl. auch Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 151 f., mit dem zutreffenden Hinweis darauf, daß es auch darum gehe zu klären, ob eine bestimmte Regelung der Gesellschaft als solcher zuzumuten ist. 143 Vgl. Grünwald, ZStW 83 (1971), 265 f.; Rudolphi, ZStW 83 (1971),133 ff. 144 Vgl. auch Lagodny, Strafrecht, S. 348,350 f. 145 Vgl. Gallas, Grenzen, S. 11 f. A.A. wohl Hamm, KritV 1993,213,215, der die Auffassung vertritt, daß das Strafrecht überall dort, wo Schadensersatz den Rechtsfrieden nicht vollständig wiederherstellen könne, die Aufgabe der kontrollierten Sozialkontrolle habe. 146 Vgl. oben S. 60.

4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kemstrafrecht

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nur im Hinblick auf konkrete Straftatbestände und nur unter Heranziehung normativer Maßstäbe beurteilt werden. Daß sich insoweit im Hinblick auf einige der dem "modernen" Strafrecht zugerechneten Straftatbestände besondere oder neuartige Probleme ergeben können, ändert nichts daran, daß die Legitimität dieser Straftatbestände aus sich selbst heraus begründet werden muß.

2. Substitution kriminalstrafrechtlicher Normen durch andere Formen repressiven Zwangs Das im Subsidiaritätsprinzip verankerte Verbot des übermäßigen Einsatzes staatlichen Zwangs umfaßt das Gebot, Zuwiderhandlungen gegen bestimmte Verhaltensgebote bzw. -verbote nur dann kriminalstrafrechtlich zu ahnden, wenn keine milderen Mittel der Repression zur Verfügung stehen. In der aktuellen Diskussion um die Berechtigung der kriminalstrafrechtlichen Ahndung wirtschaftsdelinquenter sowie umweltschädigender Verhaltensweisen wird diesbezüglich zum einen eine Verlagerung der Normen des Wirtschafts- und Umweltstrafrechts in das Ordnungswidrigkeitenrecht und zum anderen die Überführung in ein neuartiges, zwischen Zivil- und öffentlichem Recht angesiedeltes sog. "Interventionsrecht" propagiert.

a) Das "Interventionsrecht" Der von Hassemer entwickelte Vorschlag, Strafrechtsnormen mit präventiv-instrumentellen Funktionen de lege ferenda aus dem Kernstrafrecht auszugliedern und in einem gesonderten "Interventionsrecht" zusammenzufassen, soll im wesentlichen zwei Vorteile bieten: Zum einen soll der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der "Interventionstatbestände" nicht mehr zwingend an die Zurechnungsregeln des Kernstrafrechts gebunden sein, könnte der Normeffektivität also ein größeres Gewicht einräumen. Zum zweiten soll das verbleibende Kernstrafrecht von instrumentellen Funktionen entlastet und so aus seinem legitimatorischen Dilemma befreit werden. 147 Einer vertieften Auseinandersetzung mit diesem Ansatz steht der Umstand entgegen, daß Hassemer das von ihm propagierte "Interventionsrecht" bisher weder in seinen Zurechnungsstrukturen noch in seinen Rechtsfolgen konkret beschrieben hat,148 eine Auseinandersetzung mit seinem Standpunkt mithin notwendigerweise weitgehend spekulativen Charakter hätte. Die Annahme Stratenwerths, daß das Hasserner, ZRP 1992,378,383. Vgl. die diesbezügliche Kritik bei A1wart, 'ZBtW 105 (1993), 752, 754; Lagodny, Strafrecht, S. 417; Schmidt/Schöne, NJW 1994,2514,2517; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 156. 147 148

IV. Ablösung strafrechtlicher Normen

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von Hassemer propagierte "Interventionsrecht" letztlich auf eine qualifizierte Art von Verwaltungsstrafrecht bzw. Ordnungswidrigkeitenrecht hinauslaufen und im Ergebnis zu genau den Tatbeständen führen würde, die zuvor aus dem (Kern-) Strafrecht ausgeschlossen wurden,I49 erscheinen allerdings nicht aus der Luft gegriffen. Insbesondere dann, wenn - was soweit ersichtlich den Intentionen Hassemers entsprichtiSO - im "Interventionsrecht" an Sanktionen mit strafendem Charakter festgehalten wird, wären die Legitimitätsprobleme des Strafrechts lediglich in ein anders bezeichnetes Rechtsgebiet verlagert worden. Die rechtsstaatlichen Bedenken, die gegen die instrumentelle Funktion strafrechtlicher Normen geltend gemacht werden, können indes nicht dadurch ausgeräumt werden, daß eine strafende Sanktion als Sanktion suis generis definiert und quantitativ abgemildert wird. Dies insbesondere dann nicht, wenn der Abmilderung der Sanktionen eine Abschwächung von Verfahrensgarahtien und eine Flexibilisierung der Zurechnungsvoraussetzungen gegenüberstehen SOll.151

b) Die Herabstufung von Kriminalstraftaten zu Ordnungswidrigkeiten Der Eindruck, die von Hassemer erhobene Forderung nach einer Beschränkung des Kernstrafrechts ziele weniger auf eine Entkriminalisierung als vielmehr auf eine Abmilderung des repressiven Zugriffs, findet eine Bestätigung darin, daß Hassemer alternativ zu der wohl eher als Langzeitperspektive zu verstehenden Forderung, die als illegitim angesehenen Strafnormen in einem de lege ferenda erst noch zu schaffenden "Interventionsrecht" zu konzentrieren, die Forderung erhebt, strafrechtliche Normen mit präventiv-instrumentalen Funktionen unter Abmilderung der Strafrahmen in das Nebenstrafrecht oder in das Ordnungswidrigkeitenrecht zu überführen. 152 Aufgegriffen und pointiert vertreten wird dieser Ansatz in der Dissertation seines Schülers Hohmann, in der dieser die These entwickelt und verteidigt, die Straf149 Stratenwerth, 'ZBtW Bd. 105 (1993),679,687 f.; ders., in der Einleitung zu: Ronzani, Erfolg und individuelle Zurechnung im Umweltstrafrecht. Vgl. aber auch Hassemer, Strafrechtswissenschaft, S. 310: "Interventionsrechts ... ohne Zurechnungsprobleme, ohne Schuldvoraussetzungen, ohne penibles Verfahren - aber dann auch ohne Strafen". 150 So zumindest auch die Einschätzung von Lüderssen, Abschaffen, S. 11; vgl. auch Lagodny, Strafrecht, S. 350,417. 151 Hirsch, Bekämpfung, S. 28; Lüderssen, Abschaffen, S. 11; vgl. auch Appel, Verfassung, S. 596; Kühl, Rechtsgüter, S. 257. Die gleichen Bedenken müssen dann allerdings auch für einen Vorschlag Lüderssens (StV 1997, 318, 320) gelten, der eine auf fiktiven Größen beruhende Schadensberechnung bei Wettbewerbskartellen für Straftatbestände des Kriminalstrafrechts ablehnt und stattdessen eine entsprechende Regelung im Ordnungswidrigkeitenrecht befürwortet. 152 Hassemer, ZRP 1992, 378, 383; kritisch insoweit: Vormbaum, ZStW 107 (1995), 734, 752 ff. 153 Hohmann, Rechtsgut, S. 196; ders., GA 1992,76,84.

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4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht

tatbestände des geltenden Umweltstrafrechts seien zwar für sich gesehen - als Verbotsnormen - nicht zu beanstanden,153 illegitim sei aber die Zuordnung dieser Normen zum Kernstrafrecht des StGB. Grundlage der Argumentation Hohmanns ist die von Hassemer entwickelte Konzeption der sog. personalen Rechtsgutslehre, aus der Hohmann die Maxime ableitet, Normen des Kernstrafrechts dürften allein dazu dienen, die in einer konkret-historischen Situation als Voraussetzungen und Bedingungen der personalen Entfaltung der einzelnen Mitglieder einer Sozietät erkannten realen Gegebenheiten vor Beeinträchtigungen zu schützen. 154 Werde durch eine Verhaltensweise ein die individuelle Freiheitssphäre konstituierendes Individualrechtsgut beeinträchtigt, soll die entsprechende Verbotsnorm ein legitimer Bestandteil des Kernstrafrechts sein. Werden dagegen - wie nach Auffassung Hohmanns beispielsweise im Bereich des Umweltstrafrechts - lediglich Gefährdungen im Vorfeld der Beeinträchtigung von Individualrechtsgütern abgewehrt oder aber die gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen für eine freie personale Entfaltung des Bürgers geschützt, seien die entsprechenden Normen mit einem abgemilderten Strafrahmen auszustatten und im Nebenstrafrecht anzusiedeln bzw. in das Ordnungswidrigkeitenrecht zu überführen. 155 Der Gehalt des Vorschlags, als illegitim empfundene Normen des Kernstrafrechts in Ordnungswidrigkeitentatbestände umzuwandeln, hängt entscheidend von dem Verhältnis ab, in dem Kriminalstrafrecht und Ordnungsrecht zueinander stehen: 156 Handelt es sich um zwei wesensmäßig verschiedene Unrechtsbereiche, wäre die Überführung der wesensmäßig dem Ordnungsunrecht zugehörigen, de lege lata aber (rechtsirrigerweise) dem Kriminalstrafrecht zugeordneten Tatbestände in das Ordnungswidrigkeitenrecht ein zwingendes Gebot sachlich richtiger Rechtsgestaltung. 157 Besteht ein wesensmäßiger Unterschied zwischen bei den Unrechtsbereichen, ist das Abgrenzungskriterium aber so gestaltet, daß die Zuordnung der umstrittenen Tatbestände zum Kriminalstrafrecht nicht in Frage gestellt wird, wäre die Forderung nach einer Umwandlung der betreffenden Straftatbestände in Ordnungswidrigkeitentatbestände dagegen abzulehnen. Sollte sich schließlich erweisen, daß ein wesensmäßiger Unterschied gar nicht besteht, würde sich die geforderte Umwandlung als eine Forderung erweisen, deren kriminalpolitische Berechtigung zwar nicht abschließend widerlegt wäre, die andererseits aber auch nicht Hohmann, Rechtsgut, S. 66 ff.; ders., GA 1992,76,77 ff. Hohmann, Rechtsgut, S. 142 ff., 187, 198 ff.; ders., GA 1992,76,85 f.; a.A. Baumann. ZfW 1973,63,67, der der Auffassung ist, daß zumindest die Nonnen des Umweltstrafrechts, die sich gegen nicht allein bagatellartige Verhaltensweisen richten, legitimerweise dem Kemstrafrecht angehören, weil der Schutz der Rechtsgüter Leben und Gesundheit zum "Kernbereich des echten Kriminalstrafrechts gehört." 156 Vgl. Seelmann, Strafrecht, S. 193. 151 Für die Schweiz, die eine dem bundesdeutschen Recht entsprechende fonnale Trennung zwischen Ordnungswidrigkeiten einerseits und Kriminalstraftaten andererseits nicht kennt (vgl. Riklin, StrafR AT, § 1 Rdnm. 23 ff.; Stratenwerth, SchwStrafR AT I, § 2 Rdnm. 39 ff.), müßte dies gegebenenfalls dann die Forderung nach Einführung einer entsprechenden Unterscheidung begründen. 154 155

IV. Ablösung strafrechtlicher Normen

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mit dem Argument vertreten werden könnte, eine andere Lösung sei mit dem Gebot sachlich richtiger Rechtsgestaltung unvereinbar.

aa) Das Ordnungswidrigkeitenrecht als ein fonnal eigenständiges Rechtsgebiet

Die Tendenz, bestimmte, als nicht hinreichend gewichtig empfundene Delikte aus dem Kernbereich des eigentlichen Kriminalstrafrechts auszuscheiden, bildet eine kriminalpolitische Konstante der Strafrechtsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte. 158 Wahrend für den absolutistischen Staat die Kriminalitätsbekämpfung und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung noch Teil der dem Staat insgesamt obliegenden polizeilichen Aufgaben war, wurde die Gleichsetzung von Kriminalunrecht und Ordnungs unrecht als Folge der Aufklärung in zunehmendem Maße als zweifelhaft empfunden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde in einigen süddeutschen Partikularstaaten das sog. Polizeistrafrecht in eigenständigen Kodifikationen zusammengefaßt und damit auch äußerlich vom Kriminalstrafrecht abgesetzt. 159 Die sich so andeutende Entwicklung hin zu einem eigenständigen Rechtsgebiet wurde allerdings zunächst wieder unterbrochen, als der Gesetzgeber die Polizeidelikte 1871 im Rahmen der Kodifizierung eines reichseinheitlichen Strafgesetzbuches als Übertretungen in das RStGB einstellte und diese damit neben Verbrechen und Vergehen als eine in materieller Hinsicht l60 nur quantitativ abgeschichtete dritte Form des Kriminalunrechts etablierte. 161 Die unmittelbaren Wurzeln des bundesdeutschen Ordnungswidrigkeitenrechts liegen nicht in den partikularstaatlichen Polizeistrafgesetzbüchern, sondern in den erstmalig während des 1. Weltkrieges im Verordnungswege geschaffenen Befugnissen der Exekutive zur eigenständigen Ahndung von Zuwiderhandlungen gegen die zur Umsetzung der angeordneten Zwangsbewirtschaftung erlassenen Regeln und Maßnahmen. Die Tendenz, Verwaltungsbehörden mit eigenständigen Befugnissen zur Ahndung bestimmter - vornehmlich wirtschaftsdelinquenter - Verhaltensweisen auszustatten, fand in den wirtschaftlichen Krisenjahren der Weimarer Republik und vor allem während der nationalsozialistischen Herrschaft eine Fortsetzung. Bedingt durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Wiederaufbaus nach dem Ende des 2. Weltkrieges wurde die effiziente Ahndung weniger gewichtig erscheinender bzw. massenhaft auftretender wirtschaftsdelinquenter Verhaltens15S

Vg!. Göhler, OWiG, Ein!. Rdnr. 2; Seelmann, Strafrecht, S. 192.

R. v. Hippe!, Strafrecht Bd. I, S. 327 ff., 349; Michels, Handlung, S. 13 f. 160 In verfahrensrechtlicher Hinsicht ergaben sich Besonderheiten daraus, daß Übertretungen im Wege des Strafverfügungsverfahrens verfolgt werden konnten; vg!. hierzu: Bohnert, in: KK-OWiG, Ein!. Rn. 7 f.; ders., Jura 1984, 11, 13. 161 R. v. Hippe!, Strafrecht Bd. I, S. 349; ders., Strafrecht Bd. 2, S. 105; Bohnert, in: KKOWiG. Ein!. Rdnrn. 5 f.; ders., Jura 1984. 11, 12; vgl. auch die Darstellung der Beratungen zum RStGB bei Michels, Handlung, S. 14 f. 159

6 Wohler.

4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht

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weisen durch die Verwaltungsbehörden dann auch nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft als eine praktische Notwendigkeit empfunden. 162 Das unmittelbar nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zunächst noch im Vordergrund stehende Bemühen, die im totalitären Staat ausgeuferte Ahndungsbefugnis der Verwaltungsbehörden auf ein mit dem rechtsstaatlichen Gewaltenteilungsprinzip zu vereinbarendes Maß zurückzuführen,163 verlor alsbald an Bedeutung. Festzustellen ist eine in den 50er Jahren einsetzende und bis zum heutigen Tage anhaltende Tendenz zur kontinuierlichen Ausdehnung des Ordnungs(widrigkeiten)rechts neben und auch zu Lasten des eigentlichen Kriminalstrafrechts. 164 Ausschlaggebend für diese Entwicklung waren in erster Linie pragmatische Gründe, insbesondere das Bedürfnis, die Strafjustiz von der Beschäftigung mit minder gewichtigen Normverstößen zu entlasten, um so die gewichtigeren Deliktsbegehungen mit dem vorhandenen Bestand an Personal- und Sachmitteln bewältigen zu können bzw. diesen nicht im Gleichschritt mit der Zunahme der Kriminalität aufstocken zu müssen. 165 Im Ergebnis hat sich das Ordnungswidrigkeitenrecht derzeit zu einem Sammelbecken heterogener Verhaltensweisen entwickelt, deren gemeinsamer Nenner allein darin besteht, daß es sich um Normverstöße handelt, bei denen zwar auf eine repressive staatliche Reaktion nicht verzichtet werden soll, bei denen aber eine kriminalstrafrechtliche Ahndung nach Auffassung des Gesetzgebers nicht erforderlich bzw. unangemessen erscheint. 166 Gesetzestechnisch ist die Entwicklung des Ordnungswidrigkeitenrechts zu einem - zumindest in formaler Hinsicht - eigenständigen Rechtsgebiet entscheidend durch das Ordnungswidrigkeitengesetz vom 25. März 1952 und das Reformgesetz vom 24. Mai 1968 vorangetrieben und schließlich mit der Abschaffung der 1871 eingeführten Kategorie der Übertretungen durch das EGStGB vom 2. März 1974 im wesentlichen abgeschlossen worden. 167 Unterschiede zum Kriminalstrafrecht bestehen in erster Linie in verfahrensrechtlicher Hinsicht: Bei Ordnungswidrigkeiten gilt - anders als im Strafverfahren (§ 152 dStPO) - nicht das Legalitäts-, sondern das Opportunitätsprinzip (§ 47 OWiG); die Verfolgung der OrdnungswidrigVg\. Eb. Schmidt, Festschrift für Amdt, S. 415 ff. Vg\. hierzu Bohnert, in: KK-OWiG, Ein\. Rn. 16 ff., 24 ff.; ders., Jura 1984, 11, 15 ff.; Michels, Handlung, S. 16; Eb. Schmidt, SüdJZ 1948, 225, 227 f.; ders., SüdJZ 1948,569, 571; ders., SüdJZ 1949,665,669 f.; ders., Festschrift für Arndt, S. 416 ff.; Tiedemann, ÖJZ 1972, 285, 286 f. 164 Vg\. Bohnert, in: KK-OWiG, Ein\. Rdnr. 39; ders., Jura 1984, 11, 18; Göhler, JZ 1968, 583; H.-L. Günther, Ordnungswidrigkeiten, S. 385 f.; Lang-Hinrichsen, Festschrift für H. Mayer, S. 57 ff.; Mattes, Untersuchungen, S. 50, 53 ff.; Tiedemann, ÖJZ 1972,285,288; Weber, ZStW 92 (1980), 313, 319 ff. 165 Eb. Schmidt, JZ 1969,401; Tiedemann, ÖJZ 1972,285,288; vg\. auch Appel, Verfassung, S. 91 ff. 166 H.-L. Günther, Ordnungswidrigkeiten, S. 388 f.; Lang-Hinrichsen, Festschrift für H. Mayer, S. 62. 167 Vg\. Bohnert, in: KK-OWiG, Ein\. Rdnm. 36 ff., 41 ff. 162 163

IV. Ablösung strafrechtlicher Nonnen

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keiten obliegt nicht der Staatsanwaltschaft, sondern den für einen Sachbereich zuständigen Verwaltungsbehörden (§§ 35 ff. OWiG); die Strafjustiz wird mit Ordnungswidrigkeiten in der Regel nur dann beschäftigt, wenn der Betroffene gegen den von der Verwaltung erlassenen Bußgeldbescheid Einspruch einlegt (§§ 67 ff. OWiG); die verfahrensrechtlichen Absicherungen des Betroffenen sind gegenüber dem bei Kriminaldelikten zur Anwendung kommenden Verfahrensrechts nicht unwesentlich beschränkt. 168 In seiner materiellrechtlichen Struktur entspricht das Ordnungswidrigkeitenrecht dagegen weitgehend dem Kriminalstrafrecht: 169 Sowohl das Kriminalstrafrecht als auch das Ordnungswidrigkeitenrecht verhängen als Reaktion auf die Übertretung bestimmter Verhaltensnormen eine repressive Sanktion. Die Ordnungswidrigkeitentatbestände entsprechen in ihrer Struktur weitgehend den Straftatbeständen des Kriminalstrafrechts. 170 Unterschiede bestehen allerdings in der Sanktion selbst. Während im Kriminalstrafrecht neben der Geld- l7l auch Freiheitsstrafe verhängt werden kann, kennt das Ordnungswidrigkeitenrecht als Hauptsanktion allein die Geldbuße (§ 17 OWiG)172, die allerdings - anders als im Kriminalstrafrecht - auch gegen juristische Personen verhängt werden kann (§ 30 OWiG). Anders als das Kriminalstrafrecht (§ 43 dStGB) kennt das Ordnungswidrigkeitenrecht auch keine Ersatzfreiheitsstrafe (vgl. aber § 96 OWiG: Erzwingungshaft). Schließlich wird die Geldbuße nicht im Bundeszentralregister 173 vermerkt und hat im Gegensatz zur Kriminalstrafe nicht die Konsequenz, daß der Betroffene als vorbestraft gilt. De lege lata unterscheiden sich das Kriminal- und Ordnungs unrecht damit durch die angedrohte Sanktion: Hat der Gesetzgeber als Sanktion eine Geldbuße vorgesehen, handelt es sich um eine Ordnungswidrigkeit (vgl. § 1 Abs. 1 OWiG), hat er dagegen eine Strafe angedroht, handelt es sich um eine Straftat. 174 Diese rein formale Abgrenzung kann indes nicht die Frage beantworten, warum auf bestimmte Normbrüche mit Strafe zu reagieren ist, während andere Normbrüche eine GeldbuVg!. §§ 71 ff. OWiG, insbesondere §§ 72, 74, 77, 77a, 78 OWiG. Bohnert, in: KK-OwiG, Ein!. Rdnrn. 3, 161, Vor § I Rdnr. 10; Göhler, OWiG, Vor § I Rdnr. 10; Mitsch, Ordnungswidrigkeiten, Teil I § 3 Rdnr. 4, Teil 11 § 2 Rdnr. 2. 170 Im OWiG hat der Gesetzgeber allerdings das sog. Einheitstätersystem etabliert (§ 14 OWiG). 171 Im Rahmen von 10,- DM (§ 40 dStGB) bis zu 7.2000,- DM (§ 40 dStGB i.V.m. § 54 Abs. 2 Satz 2 dStGB). 172 Grundsätzlich in einem Rahmen von 10,- DM bis 2000,- DM, bei entsprechender spezialgesetzlicher Anordnung aber auch weit darüber hinaus. 173 Die Eintragungen in das Gewerbezentralregister (§§ 149 GewO) und das Verkehrsregister (§ 28 StVG) dienen anderen Zwecken (Göhler, OWiG, Vor § I Rdnr. 9). 174 Bohnert, in: KK-OWiG, Ein!. Rdnr. 3; Göhler, OWiG, Ein!. Rdnr. 9; Jakobs, StrafR AT, 3/6; Jescheck, in: LK, Ein!. Rdnr. I I; Maurach I Zipf, StrafR AT, Teilbd. I, § I Rdnr. 32; Mitsch, Ordnungswidrigkeiten, Teil I § 3 Rdnr. 4; Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 171 18; Schmidhäuser, StrafR AT, 8/105. 168

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4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht

ße nach sich ziehen sollen. 175 Gerade im Hinblick darauf, daß zum einen die Sanktionen ihrer Art und ihrem Gewicht nach verschieden sind und zum anderen der Adressatenkreis des Ordnungswidrigkeitenrechts im Gegensatz zum Strafrecht auch juristische Personen direkt erfaßt (§ 30 OWiG), bedarf es einer an materiellen Kriterien orientierten sachgerechten Abgrenzung beider Rechtsgebiete, 176 die dann auch dem Gesetzgeber als kriminalpolitisches Leitbild dienen kann. 177

bb) Die Abgrenzung von Kriminal- und Ordnungsunrecht Zur Abgrenzung des Kriminal- vom Ordnungsunrecht sind im wesentlichen drei Auffassungen entwickelt worden: 178 Die Vertreter der sog. aliud-Theorien behaupten einen qualitativen Unterschied zwischen Kriminal- und Ordnungsunrecht, der entweder aus einem unterschiedlichen Charakter der jeweils geschützten Rechtsgüter oder aber aus einem unterschiedlichen sozialethischen Unwertgehalt von Kriminalstraftat und Ordnungswidrigkeit abgeleitet wird. Andere Autoren halten Kriminal- und Ordnungsunrecht für graduell abgestufte Unrechtsformen, mit der Konsequenz, daß die Abgrenzung allein nach quantitativen Kriterien erfolgen kann und wesentlich dem Ermessen des Gesetzgebers obliegt. Neben diesen beiden Auffassungen hat sich in den letzten Jahrzehnten ein dritter, vor allem durch die Rechtsprechung des BVerfG begründeter Ansatz etabliert, der Elemente der qualitativen Abgrenzungslehren mit denen der Lehre von der quantitativen Abschichtung verbindet. Die Vertreter der sog. gemischt qualitativ-quantitativen Theorie gehen davon aus, daß einerseits qualitativ voneinander abgrenzbare Kembereiche des Kriminal- und des Ordnungsunrechts existieren und es andererseits einen Grenzbereich zwischen beiden Unrechtsformen gibt. Soweit eine Verhaltensweise einem der bei den Kembereichszonen zuzurechnen ist, soll die Ausgestaltung als Ordnungswidrigkeit bzw. Kriminalstraftat zwingend sein. Bei den dem Grenzbereich zugehörenden Verhaltensweisen soll der Gesetzgeber dagegen nach pragmatischen Gesichtspunkten darüber entscheiden dürfen, ob ein Delikt als Kriminalstraftat oder als Ordnungswidrigkeit ausgestaltet wird.

(I) Die Lehre vom Verwaltungsunrecht (Goldschmidt) Basis des modemen rechtswissenschaftlichen Diskurses zur Frage der Abgrenzung des Kriminal- vom Ordnungsunrecht sind Arbeiten, die James Goldschmidt 175 Jescheckl Weigend, StrafR AT. S. 58 f.; Paulduro. Verfassungsgemäßheit. S. 18; vgl. auch Gallas. Grenzen. S. 2 bzgl. der grundsätzlichen Entscheidung zur Pönalisierung von Verhaltensweisen. 176 Mitsch, Ordnungswidrigkeiten. Teil I § 3 Rdnr. 6. 177 Maurach I Zipf. StrafR AT. Teilbd. I, § I Rdnr. 33. 178 Vgl. auch den Überblick bei Paulduro. Verfassungsgemäßheit. S. 18 ff.

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zu Beginn des 20. Jahrhunderts veröffentlicht hat. 179 Der von Goldschmidt selbst entwickelte Ansatz, Kriminal- und Ordnungsunrecht danach abzugrenzen, daß das Kriminalstrafrecht die der Abgrenzung und Sicherung der Individualsphäre dienenden Rechtsgüter schützt, während das - von Goldschmidt als Verwaltungsunrecht bezeichnete - Ordnungswidrigkeitenrecht die zur Förderung des über das individuelle Dasein hinausgehenden allgemeinen Wohls dienenden sog. Verwaltungsgüter schützen soll, gilt heute allerdings als überholt. 18o Die diesem Ansatz zugrundeliegende, einem spätliberalen Staatsverständnis verhaftete Annahme eines Gegensatzes von Rechts- und Verwaltungsordnung kann im sozialen Rechtsstaat moderner Prägung nicht aufrechterhalten werden,181 da hier alle Zwecke der staatlichen Gemeinschaft und damit auch die Förderung der öffentlichen Wohlfahrt Rechtszwecke und im übrigen staatliche Daseinsvorsorge und Freiheitssicherung auch bereits rein faktisch nicht mehr voneinander zu trennen sind. 182 (2) Die Abgrenzung von Kultur- und Verwaltungsschaden (Wolf) Die fortdauernde Bedeutung des Goldschmidt'schen Ansatzes für die heutige Diskussion hat ihre Ursache darin, daß andere Autoren seine Überlegungen aufgegriffen und - unter Betonung jeweils unterschiedlicher Elemente seiner Lehre weitergeführt haben. Zu nennen ist hier zunächst Erik Wolf, der die Lehre Goldschmidts zu Beginn der 30er Jahre aufgegriffen und in wertphilosophischer Einkleidung refonnuliert hat. Ausgangspunkt der Überlegungen Wolfs ist die Prämisse, daß Basis einer Abgrenzung nicht die Seinssphäre, sondern nur die Sinnsphäre sein könne. 183 Entscheidend ist für Wolf, daß der Staat unter wertphilosophisehen Gesichtspunkten in den Rechtswert, den Machtwert und den Wohlfahrtswert zu gliedern sei. 184 Der Rechtswert werde im gewaltengeteilten Staat von der Justiz vertreten, der Wohlfahrtswert von der Verwaltung. Das - von Wolf als Justizstrafrecht bezeichnete 185 - Kriminalstrafrecht ziele auf Herstellung 179 Grundlegend: Goldschmidt, Verwaltungsstrafrecht, S. 529 ff.; w.N.b. Wolf, Festgabe für Frank, S. 518 Fußn. 2. 180 Vg!. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 117 ff., 289 f. 181 Tatsächlich hat auch Goldschmidt selbst die These einer strikten Trennung von Rechtsordnung und Verwaltungsordnung in späteren Arbeiten modifiziert (vg!. Wolf, Festgabe für Frank, S. 551, 557). Auch in diesen Arbeiten hielt Goldschmidt indes daran fest, daß der Verwaltung ein justizfreier Raum (innerhalb der Rechtsordnung) verbleibt (vg!. Wolf, Festgabe für Frank, S. 559). 182 Bohnert, in: KK-OWiG, Ein!. Rdnrn. 80,94; Jescheck, JZ 1959,457,461; Krümpelmann. Bagatelldelikte. S. 166 ff.; Kunz, Bagatellprinzip, S. 149 f.; Mattes, ZStW 82 (1970), 25, 27; Michels, Handlung, S. 74 f.; Seelmann, Strafrecht, S. 196; Tiedemann, ÖJZ 1972, 285.290; Weber, ZStW 92 (1980). 313. 315 f.; Welzel, JZ 1957,130,132. 183 Wolf. Festgabe für Frank, S. 520/521. 184 Ebd., S. 521. 185 Ebd., S. 518.

4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kemstrafrecht

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von Gerechtigkeit ab,186 während das - wie bei Goldschmidt als Verwaltungsstrafrecht bezeichnete - Ordnungsstrafrecht die Interessen der wohlfahrtsorientierten Staatsverwaltung schützen soll. 187 Die Frage, weIche Verhaltensweisen als Beeinträchtigungen von Rechts- bzw. Verwaltungsgütern durch das Kriminal- und Verwaltungsstrafrecht zu ahnden sind, ist nach Wolf aus dem Rechts- und Wohlfahrts wert abzuleiten. Da der auf die Herstellung von Gerechtigkeit abzielende Rechtswert nur formellen Charakter habe, müssen die vom Kriminalstrafrecht zu schützenden Rechtsgüter aus Wertnormen abgeleitet werden, die Wolf im Anschluß an die Kulturnormenlehre M.E. Mayers 188 mit den das ethische Minimum einer Gesellschaft darstellenden Kulturnormen gleichsetzt. Kulturnormen sind nach Wolf nur langfristig und im Rahmen der Wandlung des staatsphilosophischen Denkens Veränderungen zugänglich, während die auf eine Förderung der Wohlfahrt abzielenden Zwecksetzungen situationsbezogen und damit einer fortlaufenden Veränderung unterworfen sind, mit der Folge, daß auch die entsprechenden Rechtsregelungen nur mit einem temporären Charakter ausgestattet seien. 189 Zu der Frage, wann konkret ein Kulturschaden vorliegt, äußert sich Wolf nicht direkt. Das Vorliegen eines lustizdeliktes ist für ihn aber an die "Verletzung individueller Belange" bzw. an einen ,,Angriff auf eine Individualperson" gekoppelt. Wahrend bei einem lustizdelikt die Schädigung einer Person oder einer Sache essentieller Bestandteil des Tatbestandes sei, soll die Besonderheit des mit dem Verwaltungsdelikt verbundenen Verwaltungsschadens "in der Unbezogenheit auf eine individuelle Person oder Sache, in der Immaterialität des Verletzungserfolges und in der Nichterfüllung einer konkretisierten (im Einzelfall und für den Einzelfall befohlenen) staatlichen Aufgabe" liegen. 190 Wahrend Tater, die gegen kriminalstrafrechtlich zu schützende Kulturnormen verstoßen, der inneren ethischen Überzeugung der Rechtsgemeinschaft zuwiderhandeln und damit einen Kulturschaden bewirken, beeinträchtigen Verwaltungsdelikte allein kulturindifferente Verwaltungsinteressen. Der Verwaltungsschaden erschüttere zwar das objektive Rechtsbewußtsein, ein ethischer Vorwurf sei aber anders als bei der Bewirkung eines Kulturschadens - nicht zu erheben. 191 Hieraus ergebe sich ein Unterschied im Wesen der lustiz- und Verwaltungsstrafe: Die Verwaltungsstrafe habe den Sinngehalt eines Zuchtmittels. Deshalb sei "mit der Verurteilung wegen eines Verwaltungsdeliktes auch keine capitas deminutio verbunden, wie sie der Verurteilung wegen eines Kriminalverbrechens immanent ist. Geht es doch hier nicht um die Mißbilligung eines Gesellschaftsfeindes oder rechtsindiffe186 187 188 189 190 191

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 523. S. 521/522, 536. S. 541 ff. S. 542 f. S. 566, 568. S. 520, 525 f., 565 ff.

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renten Kulturgenossen, der zum Staatsbürger und Rechtsgenossen erst erzogen werden soll, sondern um einen sozialnachlässigen, staatsindolenten Rechtsgenossen, der zur Aktivierung seiner Rechtspersonalität angehalten und aufgerufen werden soll. Die (Verwaltungs-)Strafe wirkt deshalb auch nicht als Pflichtensteigerung, sondern als Pflichtenmahnung.,,192 Aus heutiger Sicht ist gegen den von Wolf vertretenen Ansatz einzuwenden, daß in einem Rechtsstaat moderner Prägung nicht nur die Justiz, sondern auch die Verwaltung die Aufgabe hat, an der Verwirklichung einer an der Idee der Gerechtigkeit orientierten Sozialordnung mitzuwirken. 193 Die wertphilosophisch eingekleidete Reformulierung der Goldschmidt'schen These einer Trennung der Sphären von Justiz und Verwaltung hat in der Diskussion nach 1945 denn auch - soweit ersichtlich - keine Vertreter mehr gefunden. 194

(3) Die Unterscheidung sittlich indifferenter und sozialethisch mißbilligenswerter Normverstöße

Im Vordergrund der Diskussion steht nun die ebenfalls bereits bei Goldschmidt 195 thematisierte, in ihrer grundlegenden Bedeutung aber insbesondere von Wolf betonte Unterscheidung zwischen sittlich indifferenten bloßen Regelverletzungen einerseits und Verstößen gegen elementare Rechtsnormen andererseits, auf die mit einer sozialethischen Mißbilligung zu reagieren sei. Die Berechtigung dieser Abgrenzung des Ordnungsunrechts vom Kriminalunrecht ist in der Literatur zwar bis zum heutigen Tage umstritten geblieben,l96 hat aber unter anderem auch die Rechtsprechung des BGH 197 und des BVerfG 198 beeinflußt. Problematisch an diesem Ansatz ist zum einen, daß Rechtsordnung und Sittenordnung nicht gleichgesetzt werden dürfen, insbesondere Rechtspflichten nicht direkt (unvermittelt) aus der Sittenordnung abgeleitet werden können. 199 Im übrigen ist festzustellen, daß es eine vorgegebene sozialethische Werteordnung, an die ohne weiteres angeknüpft werden könnte, gar nicht gibt,200 das Grenzkriterium der Ebd., S. 585. Jescheck, JZ 1959,457,461; H. Mayer, StrafR AT, § 11 V. 2.; Michels, Handlung, S. 29; Mattes, Untersuchungen, S. 139 ff. 194 Ausdrücklich ablehnend insbesondere Mattes, Untersuchungen, S. 206 ff. 19S Goldschmidt, Festgabe für Koch, S. 422 ff. 196 Zustimmend z. B. Maurach/Zipf, StrafR AT, Teilbd. I, § 1 Rdnr. 39; Stratenwerth, StrafR AT, Rdnr. 50; ablehnend: Appel, Verfassung, S. 220 ff.; Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 50; Schmidhäuser, StrafR AT, 8/105. 197 BGHSt 11,263,264. 198 BVerfGE 9, 167, 171. 199 Mattes, Untersuchungen, S. 216 ff.; ders., ZStW 82 (1970), 25, 28 ff.; Schoreit, GA 1967.225.229. 200 Vgl. Kunz. Bagatellprinzip, S. 151 f.; Mattes, Untersuchungen, S. 176 ff. 192 193

4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht

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Sozialethik mithin unsicher bleibt,201 was wiederum der maßgebende Grund dafür sein dürfte, daß die Maßstäbe, anhand derer sittlich bzw. sozialethisch indifferente von sittlich bzw. sozialethisch mißbilligenswerten Verhaltensweisen abgegrenzt werden sollen, bis heute unklar und umstritten geblieben sind. So haben insbesondere Richard Lange und Hans Gerhard Michels die Auffassung vertreten, daß das Kriminalunrecht Verstöße gegen Normen erfasse, die dem Gesetzgeber vorgegeben sind und von ihm (nur) anerkannt werden, während das Ordnungsunrecht Verstöße gegen vom Gesetzgeber selbst neu errichtete Gebote und Verbote erfasse. Der Unrechtsgehalt eines Verstoßes gegen eine Ordnungsnorm erschöpft sich ihrer Auffassung nach in der durch die bloße Zuwiderhandlung gegen staatlich aufgestellte Verbotsnormen begründeten formellen Rechtswidrigkeit, während ein Verstoß gegen die durch das Kriminalstrafrecht geschützten vorpositiven Rechtsgüter ein sozialethisches Unwerturteil nach sich ziehen soll?02 Gegen diesen Ansatz ist zunächst einzuwenden, daß jede staatlich gesetzte Rechtsnorm dem Zweck dienen muß, das gesellschaftliche Miteinander nach den Maßstäben sozialer Gerechtigkeit zu gestalten?03 Verhaltensnormen, denen die aus dieser Zwecksetzung abzuleitende verpflichtende Verbindlichkeit fehlt, könnten auch nicht als sittlich indifferente Ordnungsnormen aufrechterhalten (und als Ordnungswidrigkeiten geahndet) werden, sondern müßten vielmehr gänzlich beseitigt werden?04 Entgegen Michels 205 ist ein sozialethischer Unrechtsgehalt aber selbst bei Verstößen gegen das Rechtsfahrgebot und Geschwindigkeitsbeschränkungen zu bejahen?06 Bei Verstößen gegen Geschwindigkeitsbeschränkungen ergibt sich dies unmittelbar aus dem Gefährdungscharakter, der diesen Verhaltensweisen eigen ist. Beim Rechtsfahrgebot kommt es nicht darauf an, daß die entsprechende Verhaltensnorm ursprünglich einmal willkürlich gesetzt wurde. Maßgebend ist die Bedeutung, die der Norm im Kontext der Gesamtrechtsordnung zukommt. Hier ist es aber so, daß ein Straßenverkehr ohne verbindliche Verhaltensnormen nicht funktionieren kann bzw. erhebliche Gefährdungen der Verkehrsteilnehmer die Folge wären?07 Bohnert, in: KK-OWiG, Ein!. Rdnm. 100 ff.; Tiedemann,.Gutachten, C 37. Lange, JZ 1956,73,79; ders., JZ 1956,519,521 f.; ders., JZ 1957,233,237 f.; Michels, Handlung, S. 46 ff., 52 f., 57, 69 ff., 87. Amelung hat die Lehre Langes und Michels reformuliert. Er hält die Abgrenzung beider Unrechtsbereiche für eine Frage der Gewissensbildung. Entscheidend sei, daß die Tatbestände des Strafrechts an Normen anknüpfen, die von der kulturellen Tradition einer Gesellschaft geprägt werden und die der Mensch im Stadium seiner primären Sozialisierung verinnerliche, während die Ordnungswidrigkeitentatbestände an eine in Legitimitätsvorstellungen wurzelnde Bereitschaft des Normadressaten anknüpfen, staatlichen Befehlen Folge zu leisten (Rechtsgüterschutz, S. 292). 203 Mattes, Untersuchungen, S. 130 ff. 204 Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 173; Kunz, Bagatellprinzip, S. 152; Mattes, ZStW 82 (1970), 25, 29; ders., Untersuchungen, S. 163 ff., 170 ff., 228 ff., 238 f. 205 Michels, Handlung, S. 51 f. 206 Schmidhäuser, StrafR AT, 8/105. 207 Vg!. Mattes, Untersuchungen, S. 166 f., 191 ff., 228 Fußn. 91. 201

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Da sich das gesellschaftliche Umfeld ständig ändert, kann der Auftrag zur sozial gerechten Konstituierung des gesellschaftlichen Miteinanders nicht durch die Bewahrung eines überkommenen Normenbestandes erfüllt werden, sondern muß auch und gerade die als Reaktion auf gewandelte gesellschaftliche Anforderungen vom Gesetzgeber neu geschaffenen Normen mitumfassen. Wenn aber grundsätzlich alle Normen dem materiellen Geltungsgrund der Herstellung sozialer Gerechtigkeit verpflichtet sind, kann weder die Zeitbedingtheit einer Norm noch deren (relative) Neuheit etwas über die sozialethische Relevanz bzw. Indifferenz dieser Norm aussagen. 208 Im übrigen würde eine auf die Geltungsdauer abhebende Zuordnung schon aufgrund dessen, daß ein Grenzwert für den Umschlag einer Unrechtsform in die andere nicht ersichtlich ist, jedenfalls in der praktischen Anwendung auf eine quantitative Abschichtung hinauslaufen,z09 (4) Die Unterscheidung personaler und überindividueller Interessen (a) Die sog. Schmidt'sche Formel

Andere Autoren haben an die ebenfalls bereits bei Goldschmidt und Wolf vorzufindende Unterscheidung zwischen der Beeinträchtigung personaler Lebensinteressen einerseits und der Beeinträchtigung überpersonaler Interessen andererseits angeknüpft. So unterscheidet z. B. Eberhard Schmidt den Bereich der materiellen Lebensinteressen, in dem sich die auf die Erhaltung des Staates und der einzelnen Individuen gerichteten Interessen betätigen, von dem Bereich verwaltungsmäßiger Interessen, der sich aus den Beziehungen zwischen den VerwaItungsbehörden und den einzelnen in ihrer Funktion als Hilfsorgane der Verwaltung ergibt. 2\0 Maßgebend ist für Schmidt, daß Verstöße gegen Verwaltungsinteressen keinen greif- oder meßbaren Rechtsgutsschaden einer einzelnen Person oder einer als personifiziert gedachten Personengesamtheit - etwa der Allgemeinheit oder des Staates - begründen, sondern allein die Gehorsamspflicht des einzelnen Staatsbürgers gegenüber den Verwaltungsbehörden betreffen. Der bloße Ungehorsam gegenüber den Verwaltungsbehörden begründe kein Kriminalunrecht, auf das durch Strafe (und damit zwingend: durch die Strafjustiz) zu reagieren sei, sondern könne als bloße Lässigkeit mit Bußgeldern (und damit: durch die Verwaltung) geahndet werden,zll Mattes, ZStW 82 (1970), 25, 27. So auch ausdrücklich Lange, JZ 1956, 73,77 f.; Michels, Handlung, S. 83 ff.; kritisch hierzu: Mattes, Untersuchungen, S. 21 f., 25. Auch Amelung erkennt im Rahmen seiner Reformulierung des Ansatzes von Lange und Michels an, daß es an einer begrifflich-konkreten Grundlage zur Abgrenzung von Kriminalstraftaten und Ordnungswidrigkeiten fehle und deswegen die Grenze im Wege "legislatorischer Willensentscheidungen" zu markieren sei (Rechtsgüterschutz, S. 294) 210 Eb. Schmidt, Wirtschaftsstrafrecht, S. 20. 211 Eb. Schmidt, Festschrift für Amdt, S. 423 f.; ders., Wirtschaftsstrafrecht, S. 20 f., 26 ff. 208 209

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Bezogen auf die für ihn im Vordergrund stehende Abgrenzung zwischen Wirtschaftsstraftaten und Wirtschaftsordnungswidrigkeiten war nach Eb. Schmidt eine Wirtschaftsstraftat dann anzunehmen, wenn eine Zuwiderhandlung im konkreten Einzelfall nach Umfang oder Auswirkung die Wirtschaftsordnung erheblich beeinträchtigt oder wenn in der konkreten Tat eine besondere, die Wirtschaftsordnung in grundsätzlicher Hinsicht mißachtende Einstellung des Taters deutlich wird?12 Gegen diese in § 6 WiStG 1949213 Gesetz gewordene sog. Schmidt'sche Formel wird geltend gemacht, der Differenzierungsleitsatz werde der von Schmidt selbst propagierten qualitativen Trennung beider Unrechtsbereiche nicht gerecht, weil mit einer auf den konkreten Einzelfall abstellenden Unterscheidung eine Abgrenzung nach Unrechtstypen aufgegeben und damit letztlich nicht nach Qualitäten, sondern nach Quantitäten abgegrenzt werde?14 Die zu Recht gerügte dogmatische Inkonsequenz des Ansatzes dürfte in erster Linie darauf zurückzuführen sein, daß es Schmidt tatsächlich gar nicht so sehr darum ging, eine dogmatisch schlüssige Konzeption zur Abgrenzung des Kriminalunrechts vom Ordnungsrecht zu begründen, sondern darum, die den Verwaltungsbehörden während der nationalsozialistischen Herrschaft - insbesondere im Bereich des Wirtschaftsverkehrs - zugewachsenen umfassenden Ahndungsbefugnisse auf das einem gewaltengeteilten Rechtsstaat angemessene Maß zurückzuführen. 215 Unabhängig hiervon ist zu fragen, ob die von Schmidt aufgegriffene Trennung zwischen der sozialethisch zu mißbilligenden Beeinträchtigung personaler Lebensinteressen einerseits und der sozialethisch indifferenten Beeinträchtigung überpersonaler Interessen andererseits zu überzeugen vermag. Letztlich handelt es sich um eine Abgrenzung, die im Grundansatz auf der Unterscheidung zwischen Individualrechtsgütern und überpersonalen Rechtsgütern aufbaut und die der Sache nach bereits von Feuerbach mit seiner Unterscheidung zwischen Straftaten als Verletzung subjektiver Rechte und Polizeiübertretungen als Verletzungen staatlicher Gebote vertreten wurde. 216 Da bestimmte Verletzungen von Gemeinschaftsinteressen seit jeher dem Kernbereich des Strafrechts zugerechnet werden, haben sich die Vertreter dieses Ansatzes allerdings stets genötigt gesehen, den Staat selbst als eine personifizierte Einheit mit eigenen subjektiven Rechten bzw. individuellen Rechtsgütern zu behandeln. Daß die Beeinträchtigung bestimmter überindividueller Rechtsgüter als kriminalstrafwürdig behandelt wird, stellt dann allerdings die Berechtigung des gesamten Grundansatzes in Frage: 217 Zum einen erscheint es als 212 Eb. Schmidt, SüdJZ 1948.225,231 ff.; ders .• SüdJZ 1948.569.572; ders .• Wirtschaftssstrafrecht, S. 26 f., 33; ders .• JZ 1951, 101, 103. 213 Vgl. auch § 6 WiStG 1952 sowie § 3 WiStG 1954. 214 Bohnert, in: KK-OWiG, Eint. Rdnr. 75; Jakobs, StrafR AT, 3/5; Krümpelmann, Bagatelldelikte. S. 153 f.; Mattes. Untersuchungen. S. 88 ff. 21S Vgl. Eb. Schmidt, Wirtschaftsstrafrecht, S. 9, 25, 31 ff., 58; ders., SüdJZ 1948. 225, 230 f.; ders., JZ 1951. 101. 102/103; ders .• Festschrift für Amdt, S. 419, 425 f.; ders., in: Niederschriften. S. 68. 336. 216 Feuerbach. Lehrbuch. §§ 22.432 f.

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willkürlich, den Staat im Wege einer Fiktion als eine personifiziert gedachte Institution den natürlichen Personen gleichzustellen, nicht aber auch andere gesellschaftliche oder staatliche Institutionen entsprechend zu behandeln. Zum anderen stellt sich die Frage, warum nur bestimmte staatliche Interessen als strafrechtswürdig anerkannt werden sollen. Auch die Fiktion, den Staat als personifiziertes Wesen zu behandeln, ändert nichts daran, daß es sich sowohl bei dem Interesse an der Bestandserhaltung des Staates als auch bei dem Interesse an der Wahrung der Funktionstüchtigkeit seiner Organe und Institutionen sämtlich um überpersonale Interessen handelt. 218 Will man den Bereich kriminalstrafwürdiger Rechtsgutsbeeinträchtigungen nicht auf die Verletzung von Individualrechtsgütern beschränken, fehlt es an begrifflichen Kriterien zur Abgrenzung der kriminalschutzwürdigen überpersonalen Rechtsgüter, was wiederum zur Folge hat, daß auch dieser Ansatz auf eine quantitative Abschichtung hinauslaufen würde. (b) Die personale Rechtsgutslehre

Ein weiteres auf der Unterscheidung individueller und überindividueller Belange aufbauendes Abgrenzungsmodell wird von Hohmann vertreten. Wie bereits oben angedeutet wurde,219 erhebt Hohmann den Anspruch, eine Abgrenzung von Ordnungswidrigkeiten und Kriminalstraftaten aus der von Hassemer entwickelten sog. personalen Rechtsgutslehre ableiten zu können. Nach Hassemer stellt die Lehre vom Rechtsgut das materiale Substrat der Theorie des Verbrechens dar. 220 Die Rechtsgutslehre soll die Faktoren aufzeigen, die menschliches Verhalten als Verbrechen erscheinen lassen 221 und damit Aufschluß über die Frage geben, welche Verhaltensweisen legitimerweise als strafwürdiges Kriminalunrecht angesehen werden können?22 Basis der von Hassemer entwickelten sog. personalen Rechtsgutslehre ist die einem liberalen Staatsverständnis verpflichtete Annahme, daß "der Staat nicht Selbstzweck ist, sondern nur die Entfaltung und Sicherung der Lebensmöglichkeiten von Menschen zu befördern hat,,223 und Strafrechtsgüter deshalb als "strafrechtlich schutzbedürftige menschliche Interessen" zu definieren sind. 224 Hieraus leitet sich dann der für die personale 217 218 219 220 221 222

Vgl. Seelmann, Strafrecht, S. 193. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 289 f. Vgl. oben S. 79 f. Hassemer, Theorie, S. 16. Hassemer, Theorie, S. 133. Hassemer, Theorie, S. 140.

223 Hassemer, Grundlinien, S. 91; vgl. auch Hohmann, Rechtsgut, S. 66 ff.; ders., GA 1992, 76, 77 f. 224 Hassemer, Grundlinien, S. 91; ders., in: NK, Vor § I Rdnr. 287; vgl. auch Hohmann, Rechtsgut, S. 72 f.; ders., GA 1992,76,77 f.: "personale Entfaltungsvoraussetzungen und -bedingungen". Hassemer versteht dieses Grundprinzip der aktuellen normativen gesellschaftlichen Verständigung als das Ergebnis der am Grundgesetz orientierten sozialen Werterfah-

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Rechtsgutskonzeption zentrale Satz ab, daß "die Interessen der Allgemeinheit und des Staates vom einzelnen her zu funktionalisieren" sind?25 Hassemer erkennt an, daß es sich bei dem Menschen um ein vergesellschaftetes Wesen handelt, das seine Interessen und Güter nur in Gemeinschaft mit anderen und damit in gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen wahren und verwirklichen kann?26 Der Schutz dieser Institutionen 227 sei aber nur insoweit als legitim anzuerkennen, "als sie sich als - vennittelte - Interessen des Individuums nachweisen lassen".228 Der Schutz gesellschaftlicher oder staatlicher Institutionen und auch der Schutz von Gütern, die nicht einzelnen Personen als Teil ihrer individuellen Freiheitssphäre zugeordnet werden können, darf demzufolge nur so weit reichen, "als er die Bedingung der Möglichkeit des Personenschutzes ist.,,229 Wegen der nur mittelbaren Bedeutung für die Freiheit der Person sei der Schutz gesellschaftlicher oder staatlicher Institutionen sowie der Schutz von Gütern, die der Zuordnung zu einzelnen Personen entzogen seien, in besonderer Weise legitimierungsbedürftig230 und deshalb beim strafrechtlichen Schutz dieser sog. Uni versalrechtsgüter eine besondere Zurückhaltung geboten. Die Erweiterung des Rechtsgüterschutzes durch Verhaltenskriminalisierungen im Vorfeld der unmittelbaren Beeinträchtigung klassischer Individualrechtsgüter setze zum einen voraus, daß sowohl der Wert des geschützten Rechtsguts als auch die Intensität der Bedrohung als hoch anzusehen seien. 231 Weiterhin müsse die Ausgestaltung der Straftatbestände im Hinblick auf die Strafdrohung "vergleichsweise milde ausfallen" und "die gebotenen Erleichterungen" aufweisen, worunter Hassemer insbesondere den Verzicht auf die Kriminalisierung fahrlässigen Verhaltens und den Verzicht auf eine Versuchsstrafbarkeit versteht. 232 Als eine Konsequenz der von ihm vertretenen Lehre geht Hassemer davon aus, daß die Straftatbestände des Umweltstrafrechts rung (Hassemer, Theorie, S. 231 ff.). Hohmann betont, daß das personale Staats- und Rechtsverständnis im Einklang mit der überwiegenden Zahl der in der zeitgenössischen Philosophie vertretenen Modelle und auch im Einklang mit dem Menschenbild des Grundgesetzes steht (Hohmann, Rechtsgut, S. 69 f.). 225 Hassemer, Theorie, S. 231 ff.; ders., Grundlinien, S. 90, 92; ders., Produktverantwortung, S. 22. 226 Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnr. 281. 227 Hassemer nennt hier beispielhaft: Wirtschaft, Beamtenschaft, Rechtspflege, Versicherungen, Schulen, Militär, Familie (vgl. NK, Vor § I Rdnr. 281). 228 Hassemer, Grundlinien, S. 91 f.; ders., in: NK, Vor § I Rdnr. 275 f.; vgl. auch Hohmann, Rechtsgut, S. 142; ders., GA 1992,76,79. 229 Hassemer, Grundlinien, S. 91. 230 Hassemer, Grundlinien, S. 92; ders., in: NK, Vor § I Rdnr. 281. Daß die Existenzberechtigung kollektiver Rechtsgüter in grundSätzlicher Hinsicht nicht bestritten wird, betont Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 74 ff., 79; ders., Interdependenzen, S. 250 f.; vgl. auch Lüderssen, ZStW \07 (1995), 877, 899. 231 Hassemer, Theorie, S. 207 ff., 219 f. 232 Hassemer, Grundlinien, S. 92; ders., in: NK, Vor § I Rdnr. 280 i.Y.m. Rdnr. 260; vgl. auch Hohmann, Rechtsgut, S. 142 ff.; ders., GA 1992,76,79.

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nicht die Umwelt um ihrer selbst willen schützen, sondern als Medium menschlicher Gesundheits- und Lebensbedürfnisse?33 Die Vorschriften des Umweltstrafrechts leisten "nicht einen Schutz vor direkten Angriffen auf menschliches Leben und menschliche Gesundheit ( ... ), sondern einen Schutz vor solchen Angriffen, die sich gegen die Objekte der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen richten, denen aber letztlich ein indirekter Angriff auf menschliches Leben und menschliche Gesundheit innewohnt".234 Aufbauend auf der personalen Rechtsgutslehre Hassemers vertritt Hohmann die Auffassung, die §§ 324 ff. dStGB seien "zum größten Teil als abstrakte Gefährdungsdelikte bezüglich des Lebens und der Gesundheit des Menschen und nicht, wie überwiegend angenommen, als Verletzungsdelikte in bezug auf die Umwelt bzw. deren einzelne Erscheinungsformen Gewässer, Boden, Luft sowie pflanzliches und tierisches Leben zu qualifizieren.'.235 Hieraus leiten sich für ihn dann weitreichende Konsequenzen ab: Hohmann bejaht zwar die grundsätzliche Notwendigkeit, den Schutz der Umwelt (auch) durch die Pönalisierung bestimmter umweltschädigender Verhaltensweisen sicherzustellen; er erkennt darüber hinaus sogar an, daß es sich bei den §§ 324 dStGB um Normen handelt, deren grundsätzliche Legitimität zu bejahen sei. 236 Weil durch diese Straftatbestände aber "lediglich Gefährdungen menschlichen Lebens und menschlicher Gesundheit und diese bereits weit im Vorfeld pönalisiert werden", sei es geboten, die Strafrahmen der Umweltdelikte abzusenken und auch innerhalb der Umweltdelikte danach abzustufen, ob an eine abstrakte Gefährdung, eine konkrete Gefährdung oder eine besonders hohe Intensität der Gefährdung menschlichen Lebens oder menschlicher Gesundheit angeknüpft werde?37 De lege lata sei bei den §§ 324 ff. dStGB zwar eine Abstufung innerhalb der Deliktsgruppe der Umweltdelikte vorhanden; die Strafdrohungen seien aber dennoch illegitim, da sie sowohl im Vergleich zu den Körperverletzungsdelikten der §§ 223 ff. dStGB als auch im Hinblick auf die strukturell vergleichbaren Normen des Verkehrsstrafrechts unverhältnismäßig hoch seien?3X Weil die erfaßten Verhaltensweisen nur mit wenig Wahrscheinlichkeit zu einer wirklichen Gefahr für menschliches Leben und menschliche Gesundheit führen, seien die Normen - mit Ausnahme der §§ 330, 330a dStGB - nicht im Kernstrafrecht, sondern - ebenso wie die Verkehrsdelikte - bei gleichzeitiger Absenkung der überzogenen Strafrahmen im Nebenstrafrecht bzw. Ordnungswidrigkeitenrecht anzusiedeln. 2w Hassemer, Grundlinien, S. 92; ders., in: NK, Vor § I Rdnr. 279. Hohmann, GA 1992,76,84; vgl. auch Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnr. 280. 235 Hohmann, Rechtsgut, S. 197. 236 Hohmann, Rechtsgut, S. 196; ders., GA 1992,76,84. 237 Hohmann, Rechtsgut, S. 198. m Hohmann, Rechtsgut, S. 198 f. 239 Hohmann, Rechtsgut, S. 199 f.; ders., GA 1992, 76, 85 f.; vgl. auch Hassemer, Grundlinien, S. 93, dessen Hinweis darauf, daß man "die meisten Tabestände aus dem Katalog der 233 234

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Die Frage bleibt, warum Strafnormen, die nicht unmittelbar klassische Individualrechtsgüter schützen, zwingend aus dem Kernstrafrecht in das Nebenstrafrecht bzw. Ordnungswidrigkeitenrecht verlagert werden müssen. Für Hohmann ergibt sich die Antwort auf diese Frage aus der von ihm als Grundprämisse vorausgesetzten Notwendigkeit, Individual- und Kollektivrechtsgüter in ein Verhältnis der Über- / Unterordnung zu setzen, was dann - als Konsequenz der "personalen" Sichtweise - zu der Schlußfolgerung führen soll, daß das Kernstrafrecht auf den Schutz der höherwertigen Individualrechtsgüter beschränkt bleiben müsse. Indes: Worin liegt die Notwendigkeit oder auch nur Plausibilität des von Hohmann im Anschluß an Hassemer behaupteten zwingenden Über- / Unterordnungsverhältnisses von Individual- und Universalrechtsgütern? Warum sollen nicht auch Uni versalrechtsgüter Straftatbestände des Kernstrafrechts legitimieren können? Aus dem Umstand, daß die staatliche Gemeinschaft der Gewährleistung der Freiheit des Einzelnen und damit auch der Schutz von Kollektivrechtsgütern letztlich der Gewährleistung der freien Entfaltung der Gesellschaftsmitglieder zu dienen hat,240 kann nicht abgeleitet werden, daß das Kernstrafrecht auf den Schutz vor Beeinträchtigungen konkreter Individualrechtsgüter beschränkt bleiben muß?41 Auch die Vertreter personaler Rechtsgutskonzeptionen erkennen an, daß die Einbindung in die Gesellschaft einen Teil der Personalität des vergesellschafteten Individuums ausmacht. 242 Grundlage der personalen Entfaltung ist ohne Frage die Anerkennung einer individuellen Freiheitssphäre. Angesichts dessen, daß in einer modernen Gesellschaft aber praktisch keine Freiräume existieren, die es einem Mitglied der Gesellschaft ermöglichen würden, von seiner Freiheit in einer über das forum internum hinausgehenden Art und Weise Gebrauch zu machen, ohne gleichzeitig die Freiheitssphäre anderer Mitglieder der Gesellschaft zu beeinträchtigen bzw. mit deren Freiheitsausübung zumindest potentiell in Konflikt zu geraten,243 müssen neben dem Bestand an individuellen Freiheitsrechten auch die Grundbedingungen gewährleistet werden, die es dem einzelnen überhaupt erst ermöglichen, von seiner - insoweit notwendigerweise nicht schrankenlosen - Freiheit tatsächlich auch Gebrauch machen zu können?44 Wenn aber die freie Entfaltung des einzelnen nicht allein - im Sinne eines status negativus - durch die Frei§§ 324 ff. StGB eher als Verwaltungsunrecht qualifizieren müsse", darauf hindeutet, daß er eine Verschiebung in das Ordnungswidrigkeitenrecht für sachgerecht hält. 240 Hohmann, Rechtsgut, S. 63, 70 f.; vgl. auch bereits Marx, Definition, S. 81. 241 Kritisch hierzu auch Kuhlen, ZStW \05 (1993),697,703 f.; ders., Strafrechtsbegrenzung, S. 92. 242 Hohmann, Rechtsgut, S. 67 f., 70; vgl. im übrigen hierzu: Marx, Definition, S. 32 f., 38 ff., 41 ff. 243 Vgl. Höffe, Gerechtigkeit, S. 325, 331 f., 382; Kersting, Freiheit, S. 50 f. 244 Jenny / Kunz, Bericht, S. 48; Marx, Definition, S. 58 ff.; Rüdiger, Bekämpfung, S. 85/ 86; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 311; Stratenwerth, Festschrift für A. Kaufmann, S. 357 sowie umfassend - unter Anknüpfung an Rawls und Feinberg - Papageorgiou, Schaden, S. 131 ff.

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heit vor Beeinträchtigungen, sondern auch durch die Möglichkeit bestimmt wird, von dieser Freiheit faktisch Gebrauch zu machen, erscheint die Gewährleistung der elementaren Grundvoraussetzungen für die Ausübung von Freiheit (status positivus) als ein für die freie personale Entfaltung elementarer und deshalb grundsätzlich strafschutzwürdiger sozialer Wert. 245 Berücksichtigt man weiterhin, daß bestimmte soziale Gegebenheiten, wie z. B. die Erhaltung der unverzichtbaren Lebensgrundlagen, nicht - wie etwa Eigentum an bestimmten Sachen - einzelnen Individuen, sondern allein der Gemeinschaft der vergesellschafteten Individuen als solcher - unter Einschluß auch zukünftiger Generationen 246 - zugeordnet werden können,247 wird deutlich, daß der möglicherweise der Lebenssituation eines wirtschaftlich unabhängigen Besitzbürgers im gesellschaftlichen Umfeld des 18. und 19. Jahrhunderts adäquat erscheinende Bezug auf den alleinigen Schutz vor Beeinträchtigungen des status negativus 248 jedenfalls dem heutigen gesellschaftlichen Umfeld und den sich hieraus ergebenden Notwendigkeiten, die Möglichkeit freier personaler Entfaltung zu schützen, nicht gerecht zu werden vermag. 249 Im übrigen ist der Standpunkt Hohmanns auch unter Zugrundelegung der Prämissen der personalen Rechtsgutskonzeption als nicht überzeugend zurückzuweisen: Daß sich um den außer Streit stehenden Kernbereich strafrechtswürdiger Individualrechtsgüter (Leben, Leib, Freiheit) eine Vielzahl von Individual- aber auch Univeralsrechtsgütern gruppieren, die - je nach dem Stand der gesellschaftlichen, kulturellen und technischen Entwicklung - elementare Garantien für die Gewährleistung der Rechtssphäre des einzelnen darstellen und deren Beeinträchtigung aus diesem Grunde als strafwürdiges Unrecht anzuerkennen ist, wird nämlich auch von Hassemer nicht in Frage gestellt. 25o Vielmehr werden "schwere und in ihrem Unrechtsgehalt sichtbare Gefährdungen, wie sie etwa unser Strafgesetzbuch in den §§ 306 ff. immer enthalten hat" als integraler Bestandteil des "Kernstrafrechts" an245 Vgl. Hefendehl, GA 1997, 119, 122; Jakobs, ZStW 107 (1995), 843, 856; Kindhäuser, ZStW 107 (1995), 701, 707; Kunz, Bagatellprinzip, S. 28, 150; ders., recht 1/1990, 15; Marx, Definition, S. 54 ff., 58 ff., 79 ff.; Mattes, Untersuchungen, S. 107 ff.; Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 155 f., 185 f., 192, 224; Qtto, Rechtsgutsbegriff, S. 5; ders., Mißbrauch, S. 457; Roxin, JuS 1966,377,381 f.; ders., StrafR AT, Teilbd. 1, § 2 Rdnr. 6; Wolff, Abgrenzung, S. 206/207; M.J. Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 64. 246 Bloy, ZStW 100 (1988), 485, 497; Noll, Universitas 1971, 1021; Schünemann, Festschrift für Triffterer, S. 441 sowie umfassend: Stratenwerth, ZStW 105 (1993), 679 ff. 247 Kareklas, Rechtsgut, S. 95. 248 Vgl hierzu: Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 26 f.; Stratenwerth, Rektoratsrede, S. 9 ff. 249 Kareklas, Rechtsgut, S. 88 f.; Kindhäuser, Rechtsgüterschutz, S. 265; Kratzsch, Verhaltenssteuerung, S. 379; Kunz, recht 1/1990, 15; Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 190; Peine, Systemgerechtigkeit, S. 126 f.; Stratenwerth, ZStW 105 (1993), 679, 689 ff.; vgl. im übrigen auch Hohmann, Rechtsgut, S. 113, 141, 195, der selbst anerkennt, daß die Rechtsgutslehre auf das gewandelte gesellschaftliche Umfeld reagieren muß, wenn sie nicht "anachronistisch" erscheinen wolle. 250 Hassemer, Theorie, S. 147 ff., 192 f., 221 ff.; ders., Grundlinien, S. 92 f.; ders., ZRP 1992,378,383; ders., in: NK, Vor § I Rdnr.281.

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4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kemstrafrecht

erkannt und neben den Brandstiftungsdelikten sollen auch Trunkenheit im Straßenverkehr, gefährliche Eingriffe in den Luftverkehr, die Bildung krimineller Vereinigungen und die Staatsgefährdung Beispiele dafür sein, "wie der Schutz von Rechtsgütern im Vorfeld ihrer Verletzung organisiert werden kann.,,251 Angesichts der allgemein anerkannten erheblichen sozialschädlichen Konsequenzen umweltschädigender Verhaltensweisen 252 stellt sich dann aber die weder von Hassemer noch von Hohmann überzeugend beantwortete Frage, warum gerade die Erhaltung elementarer Umwelt medien ein von vornherein illegitimer Schutzgegenstand (kern-)strafrechtlicher Tatbestände sein soll. Vor dem Hintergrund, daß die von umwelt schädigenden Verhaltensweisen (insgesamt) ausgehende Bedrohungsintensität sehr hoch ist und ständig zunimmt 253 und deshalb diese Verhaltensweisen als in hohem Maße sozialschädlich angesehen werden müssen, kann die Zuordnung umweltschädigender Verhaltensweisen zum Anwendungsbereich der Normen des Kriminalstrafrechts nicht ohne weiteres als unvertretbar angesehen werden. 254 Hohmann hält dem entgegen, der Gesichtspunkt der Sozialschädlichkeit sei nur einer von mehreren Gesichtspunkten, die bei der Kriminalisierung eines Verhaltens zu berücksichtigen seien. Da auch im Ordnungswidrigkeitenrecht für besonders sozialschädliche Verhaltensweisen hohe Geldbußen angedroht werden könnten, müsse für die Frage, wo die Vorschriften des Umweltstrafrechts zu lozieren seien, allein die Intensität der Rechtsgutsgefährdung entscheidend sein?55 Im Anschluß an Hassemer will Hohmann in der Rechtsgutsverletzung eine zwar notwendige, nicht aber eine hinreichende Voraussetzung für die Kriminalisierung einer Verhaltensweise sehen. 256 Die Entscheidung, eine bestimmte Verhaltensweise zu kriminalisieren, könne - so die Argumentation Hassemers - nicht allein anhand des Topos des Rechtsgüterschutzes entschieden werden,257 sondern müsse darüber hinaus vor einer Reihe weiterer Prinzipien Bestand haben. Zu diesen Prinzipien gehöre der Grundsatz der Subsidiarität, der besage, daß strafrechtliche Mittel nur dann am Platze seien, wenn eine andere Reaktion dem Konflikt nicht gerecht werden könne; der Grundsatz der Sozialschädlichkeit, nach dem der Konflikt "uns alle" betreffen müsse und nicht nur Tater und Opfer. Weiterhin dürfe eine Strafdrohung gleich weIcher Art die Fundamente unserer Rechtskultur nicht antasten. Zu beachten seien insbesondere die Grundsätze der Toleranz, der Humanität und der Wahrung der Hassemer, Produktverantwortung, S. 20/21. Vgl. Hassemer, Theorie, S. 234; Jenny / Kunz, Bericht, S. 3; Seelmann, Strafrecht, S.199. 253 Hassemer, Theorie, S. 234. 254 Vgl. Kühl, Rechtsgüter, S. 258; Seelmann, Strafrecht, S. 199 sowie Roy Kunz, Verletzungen, S. 21/22, 28; NolI, Umweltschutz, S. 394. m Hohmann, Rechtsgut, S. 200; in dieser Richtung wohl auch Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 96 ff. 256 Hassemer, Grundlinien, S. 88; ders., Theorie, S. 214 ff.; ders., in: NK, Vor § I Rdnr. 196; vgl. auch Hohmann, GA 1992,76, 80. 257 Hassemer, Grundlinien, S. 87; vgl. auch Stächelin, Untermaßverbot, S. 278 f. 251

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Menschenwürde. Schließlich besage der Grundsatz "in dubio pro libertate", daß Zweifel an der Legitimität einer Kriminalisierung durch den Verzicht auf eine strafrechtliche Regelung zu lösen seien?58 Da die einzelfallbezogene Konkretisierung der genannten kriminal politischen Maximen einen Wertungsakt voraussetze, der keine mit mathematischer Sicherheit begründbaren Ableitungen ermögliche, verbleibe dem Gesetzgeber bei der Definition kriminellen Handeins allerdings notwendigerweise ein erheblicher Entscheidungsspielraum, 259 der sich nicht nur auf das "Ob", sondern auch auf das "Wie" der Kriminalisierung erstrecke. 260 Festzuhalten bleibt, daß die auf die Unterscheidung der Beeinträchtigung individueller und überindividueller Rechtsgüter abstellende Forderung, die Straftatbestände der §§ 324 ff. dStGB unter Abmilderung der Sanktionsrahmen in das Ordnungswidrigkeitenrecht zu überführen, nach alledem auch unter Heranziehung der Maßstäbe der personalen Rechtsgutslehre als eine Forderung erscheint, deren sachliche Berechtigung einer näheren Begründung bedürftig wäre, die aber keinesfalls als ein zwingendes Gebot richtiger Rechtssetzung anerkannt werden kann. 261 (5) Die Lehre vom Verbrechen als Verletzung des rechtlich konstituierten Basisvertrauens (Wolff)

Daß Kriminal- und Ordnungsunrecht als qualitativ selbständige Unrechtsbereiche voneinander abzugrenzen seien, ist auch von Ernst Amadeus Wolff betont worden?62 Ausgehend von der These, Kriminalunrecht sei zu definieren als Verlet258 Hassemer, Theorie, S. 196 ff.; ders., Grundlinien, S. 88; ders., in: NK, Vor § 1 Rdnrn. 202 ff.; Hohmann, Rechtsgut, S. 166 ff.; ders., GA 1992, 76, 80, wo die Illegitimität der Straftatbestände des geltenden Umweltstrafrechts des StGB nicht aus Rechsgutserwägungen sondern daraus abgeleitet wird, daß bei der Ausgestaltung dieser Strafnormen andere strafrechtliche Grundsätze (der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Subsidiaritätsprinzip, das Bestimmtheitsgebot und der Grundsatz "in dubio pro libertate") mißachtet werden, was - wie Hohmann selbst erkennt, a. a. 0., S. 168 - mit der Frage, ob diese Straftatbestände den Vorgaben der (personalen) Rechtsgutslehre entsprechen, nichts zu tun hat. 259 Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnr. 221; Hohmann, Rechtsgut, S. 168. 260 Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnr. 379. 261 Anzumerken ist, daß sich die mit dem Ziel einer Beschränkung des staatlichen Strafens erhobene Forderung nach einer Abdrängung bestimmter Straftatbestände in das Ordnungswidrigkeitenrecht im Ergebnis sogar als kontraproduktiv erweisen kann. Zum einen wird eine Abmilderung der Sanktionen durch einen Verlust an schützenden Verfahrensgarantien erkauft (vgl. Naucke, GA 1984, 199,205; Weigend, Festschrift für Miyazawa, S. 556); zum anderen zeigt sich immer wieder, daß der Gesetzgeber von dem als weniger gewichtig und deshalb offenbar auch als weniger bedenklich angesehenen Instrument des Ordnungswidrigkeitenrechts inflationären Gebrauch macht, was im Ergebnis nicht zu einer Reduktion, sondern zu einer Ausdehnung der staatlichen Repression führt (vgl. Hirsch, ZStW 92 (1980), 218, 243; Lang-Hinrichsen, Festschrift für H. Mayer, S. 62; Mitsch, Ordnungswidrigkeiten, Teil I, § 3 Rn. 16; Vogler, ZStW 90 (1978),132,156; Weber, ZStW 92 (1980), 313, 319 ff.; zu optimistisch daher wohl: Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 154 f.). 262 Wolff, Abgrenzung, S. 157.

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zung des rechtlich konstituierten Basisvertrauens, durch die andere oder der Staat in einer Art verletzt werden, auf die sie sich - in dem von der Rechtsordnung eingeräumten selbstorientierten Dasein - nicht aus eigener Kraft einstellen können,263 versucht Wolff Maßstäbe für die Zuordnung bei Beeinträchtigungen sowohl individueller als auch überpersonaler Belange zu entwickeln: 264 Als Beispiel für den Schutz individueller Belange greift Wolff auf das Straßenverkehrsrecht zurück. Angesichts dessen, daß es sich beim Straßenverkehr um einen Bereich handele, in dem sich die Bürger nur begrenzt aufeinander einstellen und Gefahren nur unzureichend begegnen könnten, seien Regeln zur Ordnung des Straßenverkehrs sowie Zwangsregeln zur Durchsetzung dieser Regeln zu akzeptieren. Verstöße gegen die Regeln des Straßenverkehrs seien dann als Kriminalunrecht aufzufassen, wenn der Täter "ein Mittel einsetzt, das ihm der Art nach unbeherrschbar ist und andere eine solche Gefahr nicht in Kauf nehmen würden.,,265 Während Wolff unter Zugrundelegung dieses Maßstabes "noch gute Gründe für die Berechtigung" sieht, die Trunkenheitsfahrt (§ 316 dStGB) als Kriminaldelikt aufzufassen, soll § 21 Ziff. 2 StVG (Fahren ohne Fahrerlaubnis) eindeutig eine Ordnungswidrigkeit darstellen. 266 Im Hinblick auf den Schutz überindividueller Belange greift Wolff zunächst das Beispiel von Einwirkungen in den Tätigkeitsbereich der Polizei heraus. Kriminalunrecht stelle die Einwirkung in den Tätigkeitsbereich eines staatlichen Organs dann dar, wenn das staatliche Organ "bei ordnungsgemäßer Leistung zur Erfüllung seiner Aufgaben darauf angewiesen ist, solche Angriffe nicht erdulden zu müssen." Vor diesem Hintergrund will Wolff sowohl die Strafvereitelung (§ 258 dStGB) als auch die falsche Verdächtigung (§ 164 dStGB) als Kriminalunrecht auffassen, nicht dagegen das Vortäuschen einer Straftat (§ 145d dStGB). Es sei "kein rationaler Grund ... zu finden, warum der Einzelne jeder anderen noch so wichtigen staatlichen Stelle straflos Arbeit bereiten kann, nicht aber der Polizei".267 Bezogen auf Delikte im Zusammenhang mit der öffentlichen Ordnung sei Kriminalunrecht erst dann gegeben, wenn der Angriff die Möglichkeiten der staatlichen Organe, die Erhaltung der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten, so vermindere, "daß eine ordentliche, auf das Allgemeine ausgerichtete Staatsführung in ihren normalen Tätigkeiten sich darauf nicht oder nur als Krisenleistung einstellen kann", was beispielsweise beim Landfriedensbruch nicht der Fall sei. 268 Demgegenüber wäre das Gründen und die Unterhaltung von Vereinigungen, die auf die Destabilisierung des Gemeinwesens durch Angriffe auf Schaltstellen und Schlüsselpersonen des Gemeinwesen abzielen, als Kriminalunrecht aufzufassen?69 Gleiches gelte schließ263 264

Wolff, Abgrenzung, S. 212 f.; vgl. auch bereits ders., ZStW 97 (1985), 787, 819. Vgl. Wolff, Abgrenzung, S. 218 ff.

265 Wolff, Abgrenzung, S. 218 f. Der Sache nach handele es sich um schwere, konkret beschriebene Sorgfaltspflichtverletzungen, a. a. 0., S. 220. 266 Wolff, Abgrenzung, S. 220. 267 Wolff, Abgrenzung, S. 220 f. 268 Wolff, Abgrenzung, S. 221. 269 Wolff, Abgrenzung, S. 223.

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lieh für die Verletzung der Hilfspflicht in Unglückssituationen, in denen weder der einzelne selbst sich helfen könne, noch die zur Hilfeleistung bestellten Träger staatlicher Gewalt zur Stelle seien. 27o Die von Wolff selbst gegebenen Beispiele belegen indes, daß auch seine Lehre eine begrifflich scharfe Abgrenzung bei der Unrechtsbereiche nicht zu bieten vermag: Zunächst bleibt stets zu klären, ob das jeweils verletzte Interesse Bestandteil des grundlegenden Anerkennungsverhältnisses ist, was angesichts des hohen Abstraktionsgrades dieses Kriteriums bereits nicht unerhebliche Wertungsspielräume eröffnet. Darüber hinaus kann aber auch die weitere Frage, ob sich der betroffene einzelne bzw. das betroffene staatliche Organ auf diese Art der Verletzung einstellen kann, ebenfalls nur bewertend gelöst werden, was letztlich dahin führt, daß es gar nicht darum geht, ob sich der Betroffene auf die Art der Verletzung einstellen ,,kann", sondern vielmehr darum, ob er sich - bei wertender Betrachtung - auf diese Art der Verletzung einstellen muß bzw. einzustellen hat. 271 Im Hinblick auf das von Wolff herangezogene Beispiel des Straßenverkehrsrechts muß also zum einen die Bedrohungsintensität der jeweils in Frage stehenden Verhaltensweise bewertet und zum anderen entschieden werden, ob andere eine solche Gefahr in Kauf nehmen würden. Mit anderen Worten: Die Verhaltensweise selbst und die mit ihr verbundene Gefahrensituation sind jeweils auf einer Skala einzuordnen, die sich zwischen den Polen "beherrschbar" und "unbeherrschbar" sowie "tolerabel" und "intolerabel" erstreckt. Erst die Gesamtbetrachtung der vorangegangenen Bewertungen ergibt dann die endgültige Zuordnung zum Kriminaloder Ordnungsunrecht, die ersichtlich nicht mehr als das Ergebnis einer begrifflich-qualitativen Abgrenzung interpretiert werden kann. Die von Wolff vorgenommene Zuordnung der von § 316 dStGB erfaßten Verhaltensweisen zum Bereich des Kriminalunrechts und der von § 21 StVG erfaßten Verhaltensweisen zum Bereich des Ordnungsunrechts ist keinesfalls zwingend. 272 Für die weiteren von Wolff herangezogenen Beispiele gilt nichts anderes. Sowohl die Frage, welche Beeinträchtigungen bei der Durchführung ihrer Aufgaben staatliche Organe "nicht erdulden ... müssen" als auch die Frage, ob bestimmte Verhaltensweisen die Möglichkeiten staatlicher Organe, die Erhaltung der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten, so vermindern, "daß eine ordentliche, auf das Allgemeine ausgerichtete Staatsführung in ihren normalen Tätigkeiten sich darauf nicht oder nur als Krisenleistung einstellen kann",273 setzen komplexe Bewertungen voraus, was dazu führt, daß für die Abgrenzung beider Unrechtsbereiche jedenfalls in der praktischen Umsetzung die aliud-These nicht durchgehalten werden kann und einer gleitenden Bewertung des Unrechtsgehalts weichen muß?74 Wolff. Abgrenzung, S. 223. Vgl. Wolff, ZStW 97 (1985), 787, 819: Verbrechen als Verletzung des "festgelegten" öffentlichen Basisvertrauens. 272 Vgl. hierzu unten S. 315 ff. 273 Richtigerweise müßte es auch hier wieder heißen: " ... einstellen muß." 270 271

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(6) Kriminal- und Ordnungsunrecht als graduell abgestufte Unrechtsfonnen

Als Ergebnis der bisherigen Betrachtung bleibt festzuhalten: Die Versuche, Kriminalunrecht und Ordnungsunrecht als wesensverschiedene Unrechtsbereiche voneinander abzugrenzen, müssen sämtlich als gescheitert angesehen werden. Entweder lassen sich die vorgeschlagenen Abgrenzungskriterien mit grundlegenden Prämissen des modemen Rechtsstaatsdenkens nicht vereinbaren (Goldschmidt, Wolf) oder sie laufen darauf hinaus, daß unter dem Deckmantel eines angeblichen Wesensunterschiedes 275 letztlich doch nach quantitativen Maßstäben abgegrenzt wird. Aus dem Fehlen begrifflich faßbarer Kriterien zur qualitativ-wesensmäßigen Unterscheidung bei der Unrechtsbereiche ist von einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Autoren der Schluß gezogen worden, daß es sich beim Kriminal- und Ordnungsunrecht um nur quantitativ abzuschichtende Unrechtsabstufungen handeln könne. 276 Als Konsequenz dieses Ansatzes wird die Auffassung vertreten, daß es Aufgabe des Gesetzgebers sei, den Anwendungsbereich des Kriminalstrafrechts abzugrenzen. 277 Dieser Ansatz erscheint zunächst plausibel. Er trägt einerseits dem Umstand Rechnung, daß ein qualitatives Abgrenzungskriterium zur durchgängigen begrifflichen Unterscheidung von Kriminal- und Ordnungsunrecht bisher nicht gefunden wurde; darüber hinaus verträgt er sich mit dem de lege lata zu konstatierenden heterogenen Gesamtbild des Rechts der Ordnungswidrigkeiten. Soweit die Notwendigkeit einer quantitativen Abgrenzung allerdings darauf gestützt werden soll, daß das Ordnungsunrecht de lege lata keine einheitliche Materie darsteIle, die anhand eines begrifflichen (Abgrenzungs-)Kri teri ums definiert werden könne,278 oder die Un274 Soweit Wolff davon auszugehen scheint, daß der Gesetzgeber davon absehen kann, Kriminalunrecht als solches zu ahnden, und stattdessen eine Ausgestaltung als Ordnungswidrigkeit zu wählen (vgl. Wolff, Abgrenzung, S. 219), ist auch dies mit seinem Grundansatz einer qualitativ-begrifflichen Abgrenzung beider Unrechtsbereiche nicht ohne weiteres zu vereinbaren. m Im einzelnen: Verletzung gesellschaftlich vorgegebener Verhaltensregeln als Gegensatz zur bloßen Zuwiderhandlung gegen staatlich gesetzte Regeln; sozialethisch indifferente gegen sozialethisch zu mißbilligende Regelverstöße; Verhaltensweisen, auf deren Kompensation der Einzelne oder staatliche Organe sich einstellen können bzw. einstellen müssen oder nicht einstellen können bzw. einstellen müssen. 276 R. v. Hippe\, Strafrecht, Bd. 2, S. 118 m. w. N. aus dem älteren Schrifttum; Appel, Verfassung, S. 506; Baumann, ZfW 1973,63,66/67; Hirsch, ZStW 92 (\980), 218, 242; Jescheck, JZ 1959,457,461; H. Mayer, StrafR AT, S. 72; Sax, Grundsätze, S. 922 f.; Schmidhäuser, StrafR AT, 8/105; Tiedemann, ÖJZ 1972,285,290; Weber, ZStW 92 (\980),313, 316 ff.; Weigend, Festschrift für Miyazawa, S. 556; Welzel, JZ 1956,238,240 f.; ders., JZ 1957,130,131 f. 277 Göhler, OWiG, Vor § I Rdnr. 7; ders., JZ 1968,583,586; Hirsch, Bekämpfung, S. 20; Hack, Probleme. S. 131 f.; Rehberg, Strafrecht I. S. 5; Stratenwerth. StrafR AT, Rdnr. 42; ders., SchwStrafR AT I, § 2 Rdnr. 40; Tiedemann, Gutachten, C 38; Trechsell Noll. StrafR AT!, S. 31. 278 SO Z. B. Jescheck I Weigend, StrafR AT, S. 58; Jescheck. JZ 1959,457,461 f.

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möglichkeit einer qualitativen Abgrenzung damit begründet werden soll, daß für die geltende Rechtsordnung eine qualitative Verschiedenheit von Kriminaldelikten und Ordnungswidrigkeiten nicht durchgängig zu belegen sei,279 vermag dies nicht zu überzeugen. Auch wenn der Gesetzgeber praktisch so verfährt und die Rechtslage de lege lata folgerichtig nur so zu erklären ist,28o wäre es doch zirkelhaft, aus der Analyse der de lege lata bestehenden Rechtsordnung die materielle Legitimation eben dieser Rechtsordnung ableiten zu wollen. Die Notwendigkeit externer Abgrenzungsmaßstäbe ergibt sich schon daraus, daß der Gesetzgeber selbst auf externe Maßstäbe angewiesen ist, wenn er zu entscheiden hat, ob neu zu schaffende Sanktionstatbestände als Straftatbestand oder als Ordnungswidrigkeit ausgestaltet werden sollen. Eben diese (externen) Maßstäbe können und müssen dann aber auch herangezogen werden, wenn die vom Gesetzgeber vorgenommene Abgrenzung beider Unrechtsbereiche auf ihre materielle Berechtigung hin untersucht wird. Der Verzicht auf die Konkretisierung externer Abgrenzungsmaßstäbe würde die Abgrenzung dem Gesetzgeber überantworten, dessen Entscheidungen einer externen Kontrolle weitgehend entzogen und damit selbst im Hinblick auf systemimmanente Fehlleistungen nur eingeschränkt überprüfbar wären. Entgegen Eberhard Schmidt kann dies nicht mit den Hinweis darauf für unbedenklich erklärt werden, daß man es dem Gesetzgeber eines Rechtsstaates zutrauen dürfe, die immer erneut zu lösende Aufgabe der materiellen Unterscheidung zwischen Straftat und Ordnungswidrigkeit gewissenhaft zu prüfen?8) Abgesehen davon, daß schon die verbreitete - und zum Teil auch in der Sache sehr scharfe - Kritik an den im Einzelfall vom bundesdeutschen Gesetzgeber vorgenommenen Zuordnungen 282 die Berechtigung dieser Einschätzung als zweifelhaft erscheinen läßt, kann es nicht überzeugen, den Verzicht auf Maßstäbe zur Kontrolle der materiellen Berechtigung gesetzgeberischer Entscheidungen durch den Hinweis auf den zu vermutenden guten Willen des Gesetzgebers legitimieren zu wollen. Soll es sachgerecht sein, einerseits einen qualitativen Unterschied von Kriminal- und Ordnungsunrecht zu leugnen und andererseits die jeweiligen Delikte in zwei grundlegend voneinander abweichenden Verfahrensarten zu verfolgen und mit unterschiedlichen Sanktionen zu ahnden, kann die Zuordnung nicht dem Belieben des Gesetzgebers überantwortet werden. Der mit der Zuordnung verbundenen unterschiedlichen Sanktion bzw. staatlichen Reaktion muß eine entsprechende Abgrenzung von Kriminal- und Ordnungsunrecht korrespondieren. 283 279 So z. B. Göhler, Vor § I Rdnrn. 4 f.; Jakobs, StrafR AT, 3/8; Lang-Hinrichsen, JZ 1970,796. 280 Vgl. Mattes, Untersuchungen, S. 75 ff. 281 Eb. Schmidt, Festschrift für Arndt, S. 431; ders., JZ 1951, 101, 103; vgl. auch Michels, Handlung, S. 83 ff. 282 Beispielhaft sei hier auf die Zuordnung der § 264 Abs. 3 dStGB, § 21 StVG zum Bereich des Kriminalunrechts und der §§ 38 f. GWB zum Bereich des Ordnungsunrechts verwiesen, vgl. Weber, ZStW 92 (1980), 313, 317; Müller-Dalhoff, Abgrenzung, S. 51 ff.; Tiedemann, Gutachten, C 38.

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(7) Der gemischt qualitativ-quantitative Ansatz

Das Dilemma, daß einerseits die Vertreter der aliud-Theorien nicht in der Lage sind, Abgrenzungskriterien zu benennen, anhand derer eine begrifflich-konkrete Unterscheidung von Kriminal- und Ordnungsunrecht erfolgen kann, und andererseits eine rein quantitative Abgrenzungstheorie die Zuordnung bestimmter Verhaltensweisen letztlich dem Belieben des Gesetzgebers überantwortet, damit aber auch die sachliche Berechtigung der qualitativ unterschiedlichen Art und Weise der staatlichen Reaktion in Frage stellt, dürfte der maßgebliche Grund dafür sein, daß heute die Tendenz vorherrschend ist, qualitative und quantitative Kriterien zu kombinieren. Die Vertreter des sog. gemischt qualitativ-quantitativen Ansatzes gehen davon aus, daß sowohl das Kriminalstrafrecht als auch das Ordnungswidrigkeitenrecht dem Rechtsgüterschutz dienen. Das Ordnungswidrigkeitenrecht sei aber dadurch gekennzeichnet, daß es weniger gefährliche Verhaltensweisen bzw. weniger schwerwiegende Beeinträchtigungen der geschützten Handlungsobjekte zum Gegenstand habe. Außerdem fehle es an jenem hohen Grad von Verwerflichkeit der Tätergesinnung, der allein das der Kriminalstrafe anhaftende schwere sozialethische Unrechts urteil rechtfertigen könne. Im Ergebnis bedeute dies, daß es einerseits einen Kernbereich sozialethisch verwerflicher Verhaltensweisen gebe, der einer Behandlung als bloßes Ordnungsunrecht nicht zugänglich sei, und andererseits einen Kernbereich bloßen Ordnungsunrechts, der wiederum nicht als Kriminalunrecht behandelt werden dürfe. Außerhalb dieser Kernbereiche soll der Gesetzgeber dagegen nach pragmatischen Gesichtspunkten darüber entscheiden können, ob eine bestimmte Verhaltensweise als Straftat oder als Ordnungswidrigkeit auszugestalten sei. 284 Die Bedeutung, die dem gemischt qualitativ-quantitativen Ansatz derzeit zukommt, beruht nicht zuletzt darauf, daß er maßgebend vom BVerfG entwickelt wurde und seitdem der Rechtsprechung dieses Gerichts zugrunde liegt. Das BVerfG geht davon aus, daß es einen Kernbereich des Strafrechts gibt, der dem Zugriff des Gesetzgebers entzogen ist. Zu diesem Kernbereich gehören "alle bedeutsamen Unrechtstatbestände"?85 Weiterhin gehören zum Bereich des Strafrechts "auch alle Schoreit, GA 1967,225; vgl. auch Eb. Schmidt, JZ 1969,401,402. Baumann/Weber/Mitsch, StrafR AT, § 4 Rdnr. 16; Göhler, OWiG, Vor § I Rdnrn. 7 f.; Jakobs, StrafR AT, 3/7 f., 10; Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 59; Jescheck, in: LK, Einl. Rdnr. 11; Maurach/Zipf, StrafR AT, Teilbd. I, § 1 Rdnrn. 32, 35; Mitsch, Ordnungswidrigkeiten, Teil I § 3 Rdnrn. 11, 14; Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnm. 51 f.; vgl. auch Müller-Dalhoff, Abgrenzung, S. 241 f., der wiederum darauf abstellen will, daß die gemischt qualtitativ-quantitative Theorie der Rechtswirklichkeit am nächsten komme und durch die gegenwärtige Rechtslage eine solche Festigkeit erlangt habe, daß grundSätzliche Zweifel an ihr nicht mehr angebracht seien. Umstritten ist, ob bei Zugrundelegung des gemischt qualitativ-quantitativen Ansatzes bestimmte Verhaltensweisen, die - wie z. B. der Diebstahl - grundSätzlich dem Kernbereich zugeordnet werden, hinsichtlich bagatellartiger Begehungweisen als Ordnungswidrigkeiten ausgestaltet werden können (bejahend: Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 51; verneinend: Jakobs, StrafR AT, 3/10). 283

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minder gewichtigen strafrechtlichen Unrechtstatbestände, wenn und solange sie durch Kriminalstrafe geahndet werden".286 Derartige minder gewichtigen strafrechtlichen Tatbestände könne der Gesetzgeber aber in Ordnungswidrigkeiten, die durch Buße geahndet werden, umwandeln?87 Schließlich soll es einen Bereich reiner Ordnungswidrigkeiten geben, der nach Auffassung des BVerfG Gesetzesübertretungen umfaßt, die nach allgemeinen gesellschaftlichen Auffassungen nicht als kriminalstrafwürdig gelten. 288 Der Unterscheidung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten liegt nach Auffassung des BVerfG eine differenzierende Bewertung des sozialethischen Unwertgehaltes der zugrundeliegenden Verhaltensweisen zugrunde. 289 ,,Aufgabe des Strafrechts ist es, die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen. Was zweifellos in den Kembereich des Strafrechts gehört, läßt sich an Hand der grundgesetzlichen Werteordnung mit hinreichender Bestimmtheit ermitteln. Mit der gleichen Bestimmtheit läßt sich sagen, daß gewisse, minder gewichtige, überkommene strafrechtliche Tatbestände aus diesem Kembereich herausfallen. Schwieriger ist es, die exakte Grenzlinie zwischen dem Kembereich des Strafrechts und dem Bereich der bloßen Ordnungswidrigkeiten zu ziehen, zumal in diesem Grenzbereich die in der Rechtsgemeinschaft herrschenden Anschauungen über die Bewertung des Unrechtsgehaltes einzelner Verhaltensweisen in besonderem Maße dem Wechsel unterworfen sind. ,,290 Im Grenzbereich zwischen Kriminalunrecht und Ordnungsunrecht bestehen nach Auffassung des BVerfG dagegen nur graduelle Unterschiede. Hier sei es Sache des Gesetzgebers, die exakte Grenzlinie unter Berücksichtigung der jeweiligen konkreten historischen Situation im einzelnen verbindlich und im Einklang mit der verfassungsrechtlichen Werteordnung festzulegen. Das Bundesverfassungsgericht könne die diesbezüglichen Entscheidungen des Gesetzgebers nur daraufhin überprüfen, ob sie im Einklang mit der verfassungsrechtlichen Werteordnung stehen und den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen und den Grundentscheidungen des Grundgesetzes entsprechen. 291 Diese Prüfung habe sich "nicht an einem engen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auszurichten; vielmehr ist dem Gesetzgeber ein nicht unerheblicher Spielraum eigenverantwortlicher Bewertung einzuräumen".292 BVerfGE 22, 49, 81; 22, 125, 1321133; 23, 113, 126; 42, 272, 289. BVerfGE 22, 49,81; 23,113,126. 287 BVerfGE 22, 49, 81; 22,125,133; 23,113,126; 27,18, 288 BVErfGE 8,197,207; 9,167,172; vgl. hierzu auch Lagodny, Strafrecht, S. 422/423: Verletzungen verwaltungsrechtlicher Auflagen; leichtere Verstöße gegen Verkehrsregelungen. 289 BVerfGE9, 167, 172; 27,18,29. 290 BVerfGE 27, 18,29 f. 291 BVerfGE 27, 18, 30; 37,201,212; 42, 272, 289; 51, 60, 74; 80, 282, 286; 90, 145, 173. 292 BVerfGE 80, 282, 286; a.A. der Verfassungsrichter Sommer in seinem Minderheitsvotum in BVerfGE 90, 145, 213 ff.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei ein Verfassungsgrundsatz, dessen Einhaltung durch den Gesetzgeber das BVerfG zu überwachen habe, was notwendigerweise eine eigene wertende Entscheidung des BVerfG erforderlich mache. 285

286

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4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht

Vordergründig scheint der gemischt qualitativ-quantitative Ansatz gegenüber einer rein quantitativen Abgrenzung beider Unrechtsbereiche den Vorteil zu bieten, daß beide Unrechtsformen in ihren Kernbereichen qualitativ unterschieden werden und damit eindeutig voneinander abgrenzbar sind, was dann zur Folge hat, daß das einer an rationalen Kriterien orientierten externen Kontrolle weitgehend entzogene gesetzgeberische Ermessen allein im Grenzbereich zwischen beiden Unrechtsformen zum Tragen kommt. Tatsächlich ist es aber so, daß eine hinreichend präzise Bestimmung der Kernbereiche bisher aussteht. Der Rechtsprechung des BVerfG ist allein zu entnehmen, das Beeinträchtigungen der Unverletzlichkeit menschlichen Lebens zum Kernbereich des Kriminalunrechts zu rechnen sind,293 während z. B. die Regelung des Bagatelldiebstahls, das Fahren ohne Fahrerlaubnis und die Art und Weise der repressiven Reaktion auf Sitzdemonstrationen bereits dem Grenzbereich zugerechnet werden.2 94 Darüber hinaus verweist das BVerfG darauf, daß es sich bei den dem Kriminalunrecht zuzurechnenden Normverstößen um die "Verletzung elementarer Werte des Gemeinschaftslebens" handeln müsse, die über ihr bloßes Verbotensein hinaus "in besonderer Weise sozialschädlich" seien und deren Verhinderung daher für das geordnete Zusammenleben der Menschen "besonders dringend" ist. 295 Wenn aber die Zuordnung zum Kern- oder Grenzbereich nicht randscharf möglich ist,296 bleibt notwendigerweise die Abgrenzung insgesamt unscharf. Die Dreiteilung der Unrechtsmaterie in zwei Kernbereiche und einen Grenzbereich bringt damit im Ergebnis keinen Gewinn gegenüber einer rein quantitativen Abgrenzung, sondern verschleiert lediglich die Tatsache, daß die Zuordnung letztlich doch dem an quantitativen Erwägungen orientierten Ermessen des Gesetzgebers überantwortet bleibt. Soweit sich das BVerfG zu den Kriterien äußert, anhand derer sich der Gesetzgeber bei der Zuordnung eines Normverstoßes zum Kriminal- oder Ordnungsunrecht orientieren kann, greift es auf die Summe der von den Vertretern der aliudTheorien entwickelten Abgrenzungskriterien zurück. Ordnungswidrigkeiten sind nach Auffassung des BVerfG Verstöße gegen Verhaltensnormen, bei denen der Schuldvorwurf "die Sphäre des Ethischen nicht erreicht. Dem Tater wird - der Idee nach - nicht Auflehnung gegen die staatliche Rechtsordnung in einem grundsätzlichen, mit fehlerhafter Persönlichkeitshaltung zusammenhängenden Sinne zur Last gelegt; demgemäß fehlt der Geldbuße der Ernst der staatlichen Strafe. Es liegt bloßer Ungehorsam gegen ,technisches', zeit- und verhältnisbedingtes Ordnungsrecht der staatlichen Verwaltung vor, auf den diese mit einer scharfen ,Pflichtenmahnung' (Erik Wolf) antwortet."297 293 BVerfGE 88,203,257. 294 BVerfGE 50, 205, 213; 51, 60, 74; 73, 206, 248; zustimmend Lagodny, Strafrecht, S.448. 295 BVerfGE 50, 205, 213; 88, 203, 258; umfassende Nachweise der Rechtsprechung des BVerfG bei Lagodny, Strafrecht, S. 420 ff.; kritisch zur Rechtsprechungslinie des BVerfG: Appel, Verfassung, S. 63 ff., 198 ff. 296 Jakobs, StrafR AT, 3/1,10.

IV. Ablösung strafrechtlicher Nonnen

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In ähnlicher Weise greifen auch andere Vertreter des qualitativ-quantitativen Ansatzes mehr oder weniger offen die von den Vertretern qualitativer Abgrenzungslehren entwickelten Kriterien auf, interpretieren bzw. verwenden diese aber als quantifizierbare Kriterien. So meint Jakobs, die Nähe zu sozialadäquatem Verhalten oder die bagatellhaften Konsequenzen eines Verhaltens sprächen für eine Regelung im Ordnungswidrigkeitenrecht. Gleiches gelte für Verstöße gegen Verhaltensnormen, die "auswechselbare" Staatsziele schützen, während bei der Beeinträchtigung "fixer" Staatsziele Straftaten vorliegen sollen. 298 Andere Autoren sehen das maßgebliche Kriterium der graduellen Abschichtung im sozialethischen Unwertgehalt eines Normverstoßes, der wiederum anhand der Wertigkeit des betroffenen Rechtsguts, der Intensität und des Grades der Rechtsgutsbeeinträchtigung sowie der Verwerflichkeit der Tatergesinnung zu bestimmen sei. 299 Zusammenfassend ist eine angesichts des im Ansatz so kontrovers erscheinenden Meinungsstandes doch überraschend weitgehende Übereinstimmung dahingehend festzustellen, daß Kriminal- und Ordnungsunrecht letztlich nach quantitativen Maßstäben voneinander abzugrenzen sind. Bei den Vertretern qualitativer Abgrenzungslehren wird dieser Umstand zwar im Grundsatz geleugnet, in der praktischen Durchführung dieser Lehren sind aber Konzessionen an quantitative Abgrenzungsmaßstäbe festzustellen, die den behaupteten qualitativen Unterschied bei der Unrechtsbereiche durchgreifend in Frage stellen. Auch der qualitativ-quantitative Ansatz hat sich in der praktischen Durchführung als eine verdeckt-quantitative Abgrenzungsmethode erwiesen. (8) Die Angemessenheit der angedrohten Sanktion als Zuordnungskriterium Nachdem sich eine qualitative Abgrenzung der Unrechtsbereiche als undurchführbar erwiesen hat, verbleibt als potentielles Kriterium für die Zuordnung die Anknüpfung an die Sanktion. In der modemen Literatur wird insoweit die - wiederum auf Goldschmidt und Wolf zurückgehende - These vertreten, daß Kriminalstrafe und Geldbuße wesensverschiedene Sanktionen seien. Der Kriminalstrafe sei ein sozialethischer Tadel wesensimmanent, während die Geldbuße eine bloße Pflichten mahnung darsteIle. 3OO Auch das BVerfG vertritt die Auffassung, daß nur die Kriminalstrafe eine mit einem ethischen Schuldvorwurf verbundene echte StraBVerfGE 9,167,171. Jakobs, StrafR AT, 3/9. 299 H.-L. Günther, Ordnungswidrigkeiten, S. 390 ff.; Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 59; Mitsch, Ordnungswidrigkeiten, Teil I § 3 Rdnr. 10; Müller-Dalhoff, Abgrenzung, S. 220 ff. 300 Göhler, OWiG, Vor § I Rdnr. 9; Maurach/Zipf, StrafR AT, Teilbd. 1, § I Rdnr. 39; Eh. Schmidt, SüdJZ 1948,225,234 f.; ders., Wirtschaftsstrafrecht, S. 39 ff.; Steindorf, in: KKOWiG, § 17 Rdnrn. 5 ff.; Stratenwerth, StrafR AT, Rdnr. 43; kritisch hierzu Appel, Verfassung, S. 91 f. 297 298

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4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht

fe sei. 30l Der Buße des Ordnungswidrigkeitenrechts fehle der "Ernst der staatlichen Strafe". Mit der an die Ordnungswidrigkeit geknüpften Sanktion sei lediglich eine "nachdrückliche Pflichtenmahnung" bezweckt. 302 Das BVerfG erkennt an, daß sich Geldbuße und Geldstrafe in finanzieller Hinsicht für den Betroffenen gleichermaßen nachteilig auswirken. 303 Der maßgebende Unterschied sei aber nicht das Gewicht, mit dem "die Geldstrafe in das Vermögensrecht des Betroffenen eingreift. Wesentlich ist das mit der Festsetzung einer Geldstrafe als Kriminalstrafe notwendig verbundene Unwerturteil, der Vorwurf einer Auflehnung gegen die Rechtsordnung und die Feststellung der Berechtigung dieses Vorwurfs.,,304 Andererseits hält das BVerfG aber auch die Eintragung als Vorstrafe und die Möglichkeit der Umwandlung in eine Freiheitsstrafe für Merkm(!le und Wirkungen, die der Kriminalstrafe eigentümlich sind, und die - im Hinblick auf die Verhängung durch den Richter bzw. die Verwaltungsbehörde - unterschiedliche Behandlung von Kriminalstrafe und Buße rechtfertigen sollen. 305 Indes: Da sich die Prämisse, daß es sich bei Kriminal- und Ordnungsunrecht um zwei wesensverschiedene Unrechtsbereiche handeln soll, als unzutreffend erwiesen hat, kann hieraus eine wesensmäßige Andersartigkeit von Kriminalstrafe und Geldbuße nicht abgeleitet werden. 306 Entscheidend ist, ob "Kriminalstrafe" und "Geldbuße" für sich gesehen als wesensverschiedene Sanktionen angesprochen werden können. Das Wesen der Kriminalstrafe wird maßgeblich durch zwei Momente geprägt: Die Strafe ist ein Übel, das einer Person als Konsequenz eines Normverstoßes zugefügt wird (Strafe als Übelszufügung), und sie ist Ausdruck der Mißbilligung, daß der Täter der ihm obliegenden Verantwortung für die Einhaltung der Rechtsordnung nicht gerecht geworden ist (Strafe als Tadel).307 Beide Momente treffen indes auch auf die Geldbuße zu: Auch die Geldbuße ist ein Übel, das als Reaktion auf einen schuldhaft begangenen Verstoß gegen eine sanktionsbewehrte Verbotsnorm auferlegt wird. 308 Ebensowenig wie die Kriminalstrafe gleicht 301 BVerfGE 22, 49, 79; 22, 125, 132; 25, 269, 286; 42, 272, 288; 88, 203, 258; 90, 145, 173,200,213. 302 BVerfGE 22, 49, 79; 27,18,33; 42, 272, 288/289; vgl. auch BGH, NJW 1993,3081, 3083. 303 BVerfGE 27,18,33; 42, 272, 290 304 BVerfGE 22, 49,80; 27,18,33; 27,36,40; 43,101,105. 305 BVerfGE 22, 49,80; vgl. auch BVerfGE 8, 197,207; 9, 167, 172,27,36,40 wo aber zusätzlich auch auf den "geringeren Unrechtsgehalt" und den "Grad des ethischen Unwertgehalts" abgestellt wird; in anderen Entscheidungen des BVerfG stehen diese Kriterien gänzlich im Vordergrund, vgl. BVerfGE 42, 272, 288 f. 306 Vgl. hierzu i.e. Mattes, Untersuchungen, S. 253 ff., insbesondere S. 272 ff., 289. 307 Androulakis, 'Z1)tW 108 (1996), 300, 303 ff.; Baumann 1Weber 1Mitsch, StrafR AT, § 34 Rdnrn. I f.; Duff, Prävention, S. 189 ff.; Gallas, Grenzen, S. 4; v. Hirsch, Tadel und Prävention, S. 103 ff.; Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 65; Jescheck, in: LK, Einl. Rdnr. 23; Hörnle/Hirsch, GA 1995, 261, 265 ff.; Kindhäuser, GA 1989, 493; Neumann/Schroth, Theorien, S. 6 ff.; Schmidhäuser, Sinn der Strafe, S. 34 ff.; ders., StrafR AT, 217; Welzel, Strafrecht, § 32 I.I.a.

IV. Ablösung strafrechtlicher Normen

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die Geldbuße die durch die konkrete Tat bewirkten Schäden aus, sondern dient wie jede repressive staatliche Reaktion - allein dem Ausgleich des durch die Tat bewirkten Geltungsschadens für die übertretene Verhaltensnorm bzw. der Wiederherstellung des Geltungsanspruchs der Rechtsordnung. 309 Ihrem Wesen nach ist die Geldbuße damit aber eine Strafe310 bzw. wie die Strafe eine repressive staatliche Sanktion und nicht etwa ein Mittel des Verwaltungszwanges. 311 Andererseits: Auch wenn es für den Betroffenen damit zunächst als mehr oder weniger gleichgültig erscheinen könnte, ob ihm eine den Rechtstadel ausdrückende Vermögenseinbuße unter der Flagge ,,(Geld-)Strafe" oder aber der ,,(Geld-)Buße" auferlegt wird, ist doch zu berücksichtigen, daß die Sanktionen des de lege lata geltenden Ordnungswidrigkeitenrechts zum einen in objektiver Hinsicht grundsätzlich von geringerem Gewicht sind als die Sanktionen des Kriminalstrafrechts 312 und auch der mit der Verhängung einer Buße verbundene Diskriminierungseffekt weniger schwer wiegt als der einer Kriminalstrafe,313 was insbesondere darin zum Ausdruck kommt, daß nur die kriminalstrafrechtliche Sanktion den Täter in den rechtlichen Status eines "Vorbestraften" versetzt. 314 Die de lege lata bestehenden Unterschiede in der Ausgestaltung der Sanktionen ändern zwar nichts daran, daß es sich sowohl bei der Kriminalstrafe als auch bei der Geldbuße des Ordnungswidrigkeitenrechts ihrer Rechtsnatur nach um repressive staatliche Sanktionen handelt. 315 Sie sind aber ein Indiz dafür, daß die Abgrenzung der bei den ihrem Wesen nach nicht qualitativ unterscheidbaren Unrechtsbereiche insoweit nach quantitativen Maßstäben zu erfolgen und hierbei das Maß des Unrechtsgehalts der Tat dem Gewicht der Sanktion zu entsprechen hat. Wenn es sich aber beim Kriminalstrafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht um zwei nur graduell unterscheidbare Unrechtsbereiche handelt, deren Abgrenzung nach dem Prinzip der Subsidiarität zu erfolgen hat, bedeutet dies, daß die Ausgestaltung als Ordnungswidrigkeit dann geboten ist, wenn auch die mildere Art der repressiven Sanktionierung den mit dieser staatlichen Reaktion auf einen Normbruch verfolgten Sinn und Zweck zu erreichen vermag. 316 Entscheidend wäre hiernach, welches 308 BVerfGE 20,323,331; Göhler, OWiG, Vor § I Rdnr. 10; Schoreit, GA 1967,225,232; Weber, ZStW 92 (\ 980), 313, 315; Mattes, Untersuchungen, S. 290, 292 f.; Michels, Handlung, S. 33. 309 Mattes, ZStW 82 (\970), 25, 30; ders., Untersuchungen, S. 288 f. 310 Appel, Verfassung, S. 505; Bohnert, in: KK-OWiG, Einl. Rdnr. 81; H. Mayer, StrafR AT, S. 71 f. 311 Mattes, Untersuchungen, S. 290; Michels, Handlung, S. 33. 312 Vgl. Mitsch, Ordnungswidrigkeiten, Teil 111, § I Rdnr. 4, der davon spricht, daß die Sanktionen des Ordnungswidrigkeitenrechts "weniger Druck" erzeugen. 313 Mitsch, Ordnungswidrigkeiten, Teil III, § I Rdnr. 3. 314 Vgl. Lagodny, Strafrecht, S. 437; Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 49. 31S Mattes, Untersuchungen, S. 298. 316 Appel, Verfassung, S. 506 f., 554 ff.; Lagodny, Strafrecht, S. 146; Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 49; Schmidhäuser, StrafR AT, 8/105 f.

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4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht

Maß an diskriminierender Wirkung der Sanktion dem Gesetzgeber aufgrund der von ihm vorgenommenen kriminalpolititschen Bewertung der Tat als angemessen erscheint. 317 Bezogen auf die Abdrängung bestehender Straftatbestände aus dem Kriminalstrafrecht in das Ordnungswidrigkeitenrecht bedeutet dies: Geboten ist die Umwandlung von Straftatbeständen in Ordnungswidrigkeiten nur dann, wenn es sich um Verhaltensweisen handelt, auf die aufgrund eines geringen Unwertgehaltes angemessen mit den weniger gewichtigen Sanktionen des Ordnungswidrigkeitenrechts zu reagieren iSt. 318 Der im Hinblick auf die notwendige Abschichtung graduell zu unterscheidender Unrechtsbereiche zunächst naheliegende Versuch, die Abgrenzung des Anwendungsbereiches des Kriminalstrafrechts nach unten hin durch ein Bagatellprinzip zu strukturieren, hat zu keinen praktisch handhabbaren Maßstäben geführt. 319 Als weiterführend könnte sich aber der von E.A. Wolff entwickelte Vorschlag erweisen, danach zu unterscheiden, ob es sich um Normverstöße handelt, auf deren Bewältigung sich die betroffenen Individuen bzw. gesellschaftlichen Gruppierungen oder staatlichen Stellen aus eigener Kraft einstellen müssen, oder ob es sich um Normverstöße handelt, bei denen dies nicht oder nur als Krisenleistung erwartet werden kann. Wie bereits oben dargestellt wurde,32o setzt die Anwendung dieses Maßstabes komplexe Bewertungen voraus: Die Entscheidung, ob bei normativer Betrachtung erwartet werden kann, daß die von einem Normverstoß Betroffenen diesen aus eigener Kraft bewältigen, ist von mehreren Faktoren abhängig: Bedeutsam ist zunächst, die Qualifikation des konkret betroffenen Interessenträgers. Die Selbstschutzfähigkeiten von einzelnen natürlichen Personen, Vereinigungen mehrerer natürlicher Personen und staatlichen Stellen unterscheiden sich nicht nur rein faktisch, sondern müssen - wie von E.A. Wolff in der Sache auch bereits praktiziert - auch in normativer Hinsicht mit verschiedenen Maßstäben gemessen werden. Darüber hinaus ist zum einen die Bedeutung und der Stellenwert des beeinträchtigten Interesses zu gewichten und zum anderen die Art und Weise des konkret in Frage stehenden rechtsgutsschädigenden Eingriffs in die Abwägung einzubeziehen. Die im Hinblick auf die Produktion überprüfbarer Er317 Seelmann, Strafrecht, S. 197 f.; vgl. auch Tiedemann, ÖJZ 1972,285,290 sowie Kindhäuser, Gefährdung, S. 343 ff.; Kuhlen, GA 1986,398,406; Lagodny, Strafrecht, S. 359 sowie Kunz, Bagatellprinzip, S. 159 ff., der einerseits auf gesellschaftlich existente Strafbedürfnisse abstellen will, der andererseits aber dem Gesetzgeber die Berechtigung zuspricht, diesen Strafbedürfnissen nicht stets nachzugeben (a. a. 0., S. 163 ff.). 318 Voraussetzung ist aber stets, daß es sich um Verhaltensweisen handelt, bei denen die Legitimität einer repressiven staatlichen Reaktion im Grundsatz außer Frage steht. Soweit nicht nur das Gewicht der repressiven Sanktion, sondern die grundsätzliche Legitimität der Kriminalisierung dieser Verhaltensweisen in Frage steht, wäre die Abdrängung in das Ordnungswidrigkeitenrecht keine Lösung der Problematik, da sich nur das Gewicht, nicht aber der Charakter der repressiven Ahndung ändern würde; vgl. Weigend, Festschrift für Miyazawa, S. 556 (bzgl. straßenverkehrsrechtlicher Verstöße). 319 Vgl. Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 149 ff.; Kunz, Bagatellprinzip, S. 156 ff., 189 ff. 320 Vgl. oben S. 97 ff.

V. Zwischenergebnis

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gebnisse wünschenswerte weitergehende Strukturierung des Abwägungsprozesses sollte über die Ausdifferenzierung der genannten Kriterien zu erreichen sein. Bei der Bestimmung der Wertigkeit der betroffenen Interessen können die im Rahmen der Rechtsgutstheorie und im Zusammenhang mit den Abwägungsfragen beim rechtfertigenden Notstand entwickelten Maßstäbe der Gewichtung von Interessen fruchtbar gemacht werden. 321 Für die Bewertung der Art und Weise des schädigenden Eingriffs fehlt es derzeit noch an verwertbaren Erkenntnissen. Die an die Unterscheidung zwischen Erfolgs- und Gefährdungsdelikten anknüpfenden Erwägungen Hassemers und Hohmanns weisen in die richtige Richtung, sind aber zu holzschnittartig. Weiterführende Erkenntnisse dürften eine ausdifferenzierte Neukategorisierung der verschiedenen Deliktstypen des Gefährdungsstrafrechts zur Voraussetzung haben.

v. Zwischenergebnis Die Auseinandersetzung mit den zur Lösung der Legitimitätsprobleme des modemen Präventionsstrafrecht bisher entwickelten Ansätze hat deutlich gemacht, daß es verfehlt wäre, die Problematik auf eine Entscheidung "zwischen Funktionalismus und ,alteuropäischem' Prinzipiendenken,,322 zurückführen zu wollen. Die obigen Ausführungen haben einerseits ergeben, daß Strafrechtsnormen notwendigerweise gesellschaftliche Funktionen erfüllen müssen, da sie sonst als ein unverhältnismäßiger staatlicher Zwangsmitteleingriff dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit unterfallen würden. 323 Andererseits hat sich gezeigt, daß die Funktionalität einer Strafrechtsnorm allein deren Legitimität ebenfalls nicht zu begründen vermag. Auch die unter funktionalen Gesichtspunkten als probates Mittel erscheinende Pönalisierung bestimmter Verhaltensweisen darf die personale Freiheitssphäre des einzelnen nur so einschränken, daß die "berechtigten Freiheitsansprüche des Individuums" gewahrt bleiben. 324 Der Beitrag, der von strafrechtlichen Normen zur Lösung der anstehenden gesellschaftlichen Probleme zu erwarten ist, hängt wie insbesondere von Stratenwerth und PriUwitz bereits zutreffend hervorgehoben - entscheidend davon ab, inwieweit tradierte Grundsätze der Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit ohne Aufgabe rechtsstaatlich unverzichtbarer Freiheitssicherungen so modifiziert werden können, daß die präventive Wirksamkeit des Strafrechts gesteigert wird. Mit anderen Worten: Entscheidend ist, welche Deliktstypen legitimerweise im (Kriminal-)Strafrecht zur Anwendung kommen dürfen. Vgl. auch die Abwägungskriterien bei Feinberg, Vol. I, S. 203 ff.. 216 f. So aber das Generalthema der im Mai 1995 in Rostock abgehaltenen Strafrechtslehrertagung. 323 Vgl. oben S. 54 ff. 324 Vgl. oben S. 47 ff. 321

322

5. Kapitel

Analyse des "modernen" Strafrechts I. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Nachfolgend soll der Frage nachgegangen werden, was das "modeme" Strafrecht seinem Wesen nach ausmacht und welche Besonderheiten in der Zurechnungsstruktur der Straftatbestände des "modemen" Strafrechts festzustellen sind. Da eine umfassende Aufarbeitung des Phänomens des "modemen" Strafrechts im Rahmen einer einzelnen Untersuchung schon aus Kapazitätsgrunden nicht geleistet werden kann, muß die Analyse von vornherein darauf beschränkt werden, Tendenzen und Ergebnisse der jüngeren Strafrechtsreform beispielhaft zu verdeutlichen. Die Auswahl der in die Untersuchung einbezogenen Teilbereiche orientiert sich weitgehend an den von Hassemer als zentral benannten Bereichen des "modemen" Strafrechts: ,,Das zentrale Gebiet strafgesetzlicher Neuerungen ist der Besondere Teil, sowohl im StGB als auch im Nebenstrafrecht. ( ... ) Die zentralen Gebiete strafgesetzlicher Neuerungen sind: Umwelt, Wirtschaft, Datenverarbeitung, Drogen, Steuer, Außenhandel, überhaupt: ,organisierte Kriminalität·... l

Angesichts dessen, daß alle der von Hassemer als zentrale Gebiete des "modernen" Strafrechts hervorgehobenen Bereiche entweder noch heute Teil des sog. Nebenstrafrechts sind oder aber die heute im Kernstrafrecht angesiedelten Straftatbestände aus dem Nebenstrafrecht in das StGB übernommen wurden, muß die Analyse die Entwicklung im Nebenstrafrecht einbeziehen. Beispielhaft soll insoweit die Entwicklung und Struktur des Betäubungsmittelstrafrechts aufgearbeitet werden. Als weitere Beispiele rur eine auf die "Pönalisierung ganzer Bereiche des gesellschaftlichen Lebens" abzielende Reform (auch) im Bereich des Kernstrafrechts werden die auf die Bekämpfung umweltschädigender und wirtschaftsdelinquenter Verhaltensweisen abzielenden Bemühungen analysiert. Schließlich soll - insoweit über die von Hassemer beispielhaft benannten Bereiche hinausgehend - auf die in jüngster Zeit als Reaktion auf Entwicklungen im Bereich der Molekularbiologie, Gentechnologie und Fortpflanzungsmedizin in der Bundesrepublik Deutschland geschaffenen bzw. in der Schweiz im Gesetzgebungsverfahren befindlichen Straftatbestände eingegangen werden. 1

Hassemer, ZRP 1992, 378, 381.

11. Das Umweltstrafrecht

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11. Das Umweltstrafrecht 1. Das bundesdeutsche Umweltstrafrecht a) Die Genese des Umweltstrafrechts als Teil des Nebenstrafrechts Die bis in die 60er Jahre dieses Jahrhunderts sowohl von der Masse der Bevölkerung als auch von der weitaus überwiegenden Mehrzahl der politischen Entscheidungsträger als weitgehend selbstverständlich hingenommene unbegrenzte Verfügbarkeit der Umweltmedien Wasser, Luft und Boden hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem Problemfeld von elementarer gesellschaftspolitischer Brisanz entwickelt. Die wachsende Bedeutung, die dem Schutz der natürlichen Umwelt zugemessen wurde, schlug sich zu Beginn der 70er Jahre in der Neukodifizierung bzw. Reform von ca. 600 Gesetzen und Verordnungen nieder, deren vornehmliches Ziel darin bestand, den zuständigen Verwaltungsbehörden eine vorausschauend-planende Bewirtschaftung sowie den präventiv-kontrollierenden Schutz einzelner Umweltmedien zu ermöglichen. 2 In die als gewichtiger angesehenen Kodifizierungen des Umweltrechts wurden durchgängig Normen eingestellt, durch die Zuwiderhandlungen gegen die in den jeweiligen Gesetzen statuierten Handlungsnormen bzw. mit denen verwaltungsrechtlich nicht genehmigte Beeinträchtigungen der jeweils geschützten Umweltmedien unter Strafe gestellt bzw. als Ordnungswidrigkeitentatbestände ausgestaltet wurden? Strafrechtlich geahndet werden sollten insbesondere Gewässerverunreinigungen, bestimmte Formen des Umgangs mit Abfällen sowie Luftverunreinigungen. Gewässerverunreinigungen waren zwar bereits 1957 durch das Wasserhaushaltsgesetz unter Strafe gestellt worden. 4 Zielsetzung des WHG 1957 war es aber noch gewesen, Gewässer als Nahrungsmittel, Rohstoff und Betriebsmittel zu erhalten. 5 Im Rahmen einer Bewirtschaftungskonzeption wurde die strafrechtliche Verantwortlichkeit an die Verletzung bestimmter Rechtsnormen des WHG gebunden, die den Schutz der Gewässer gegen Verunreinigungen oder sonstige nachteilige Veränderungen ihrer Eigenschaften geWährleisten sollten. 6 Die Beschränkung der ein2 Albrecht/Heine/Meinberg, ZStW 96 (1984), 943, 945; Heine/Meinberg, Gutachten, D 18; vgl. auch den Überblick über die Gesetzgebungstätigkeit bei Herrmann, ZStW 91 (1979), 281,284 f. sowie Triffterer, Umweltstrafrecht, S. 16,42 ff. 3 Vgl. den Überblick über die gesetzgeberische Tätigkeit bei Triffterer, ZStW 91 (1979), 309,314 ff. Die Ausgestaltung als Ordnungswidrigkeit wurde insbesondere zur Absicherung spezialgesetzlich begründeter Verhaltenspflichten gewählt; vgl. insoweit Herrmann, ZStW 91 (1979), 281, 294 f. sowie i.e. Leibinger, Beiheft zu ZStW 90 (1978), 69, 74 ff. 4 V gl. § 38 des Gesetzes zur Ordnung des Wasserhaushaltes (Wasserhaushaltsgesetz WHG) vom 27. 7. 1957, BGBI. I, S. 1110, in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 19. 2. 1959, BGBI. I, S. 37. 5 BT-Drucks. 1I/20n, S. 15. 6 BT-Drucks. 1I/2072, S. 44.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

schlägigen Tathandlungen auf die Verletzung der wasserrechtlichen Verbote des Einbringens bzw. Einleitens und des Lagerns bzw. Ablagerns von Stoffen sowie des Beförderns von Flüssigkeiten und Gasen durch Rohrleitungen wurde im Rahmen der Neufassung des WHG 19767 zugunsten des alleinigen Abstellens auf den Handlungserfolg der Gewässerverunreinigung aufgegeben. 8 Weiterhin wurde auf das Erfordernis einer "schädlichen" Verunreinigung verzichtet (§ 38 WHG 1976).9 Zielsetzung des Gesetzgebers war es nun nicht mehr, die Inkriminierung von Beeinträchtigungen im Bagatellbereich auszuschließen \0 und nur "die wirklich schwerwiegenden Angriffe ... gegen die Reinheit des Wassers,,11 zu erfassen; pönalisiert werden sollten künftig "alle Fälle, in denen Gewässer schädlich verunreinigt werden".12 Wurde durch die unbefugte Verunreinigung eines Gewässers das Leben oder der Gesundheit eines anderen, Sachen von bedeutendem Wert, die öffentliche Wasserversorgung oder eine staatlich anerkannte Heilquelle gefährdet, war ein Qualifikationstatbestand einschlägig (§ 39 WHG 1976).13 Unzulässige Abfallbeseitigungen wurden 1972 unter Strafe gestellt (§ 16 AbfG 1972),14 wobei die Strafbarkeit an den Umgang mit bestimmten gefährlichen Stoffen unter Verstoß gegen die Verbote des § 4 AbfG sowie an das Betreiben einer Anlage unter Verstoß gegen § 7 AbfG anknüpfte und eine konkrete Gefährdung von Leib und Leben bzw. die konkrete Gefahr der Kontaminierung von Lebensmitteln zur Voraussetzung hatte. Als Folge der durch verschiedene Giftmüllskandale erwiesenen Ineffektivität der bestehenden RegeJung l5 wurde der zunächst als konkretes Gefährdungsdelikt ausgestaltete Straftatbestand 1976 16 in ein abstraktes Gefährdungsdelikt umgewandelt, das den unsachgemäßen Umgang mit gesundheitsgefährlichen Abfallstoffen sowie das Betreiben einer Abfallbeseitigungsanlage ohne die erforderliche Genehmigung unter Strafe stellte (§ 16 AbfG 1977). Die Le7 Durch das 4. Gesetz zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes vom 26. 4. 1976, BGBI. I, S. I 109; vgl. hierzu Riegel, NJW 1976, 783 ff. In der Literatur waren entsprechende Forderungen erhoben worden, vgl. z. B. Kohlhaas, ZfW 1974, 331, 340. 8 BT-Drucks. 7/888, S. 21; 7/1088, S. 20. 9 Zu § 38 WHG in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. 12. 1976, BGBI. I, S. 3017, vgl. Laufhütte/Möhrenschlager, ZStW 92 (1980), 912, 924 Anm. 49; Leibinger, Beiheft zu ZStW 90 (1978), 69, 74 f. m. w. N.; Riegel, NJW 1976,783,784 f.; Triffterer, Umweltstrafrecht, S. 43 f.; Wernicke, NJW 1977, 1662, 1663. 10 Vgl. BT-Drucks. 11/2072, S. 15. 11 V gl. den schriftlichen Bericht des 2. Sonderausschusses - Wasserhaushaltsgesetz - über den Entwurf eines Gesetzes zur Ordnung des Wasserhaushalts, BT-Drucks. 11 13536, S. 15. 12 BT-Drucks. 7/888, S. 12. 13 Vgl. hierzu: Wernicke, NJW 1977, 1662, 1666 ff. 14 Gesetz über die Beseitigung von Abfällen (Abfallbeseitigungsgesetz - AbfG) vom 7.6. 1972, BGBI. I, S. 873. 15 Vgl. BT-Drucks. 7/2593, S. 10 unter Hinweis auf die in der Praxis aufgetretenen Nachweisschwierigkeiten; Krüger, Entstehungsgeschichte, S. 100 f.; Laufhüttel Möhrenschlager. ZStW 92 (1980). 912, 953; Steindorf. in: LK, § 326. Entstehungsgeschichte Rdnr. 3. 16 Gesetz vom 21. 6.1976, BGBI. I, S. 1601.

11. Das Umweltstrafrecht

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gitimität der Ausgestaltung als abstraktes Gefährdungsdelikt wurde aus der besonderen Gefahrenträchtigkeit der inkriminierten Verhaltensweisen und aus der hohen Wertigkeit der zu schützenden Rechtsgüter - Leben und Gesundheit der Bürger hergeleitet. 17 In Fällen einer konkreten Gefährdung von Leib, Leben oder Sachen von bedeutendem Wert war wiederum ein Qualifikationstatbestand einschlägig (§ 16 Abs. 3, 4 AbfG 1977).18 Für den unbefugten Umgang mit Kernbrennstoffen und sonstigen radioaktiven Stoffen wurden mit den §§ 45 ff. des Atomgesetzes eigenständige Straftatbestände geschaffen. 19 Im Bereich des Immissionsschutzrechts wurden die ursprünglich in der GewO enthaltenen Strafbestimmungen im Jahre 1974 durch die §§ 63 f. BImSchG 20 abgelöst. Auch die §§ 63 f. BImSchG knüpften an die Verletzung bestimmter Betreiberpflichten an. Unter Strafe gestellt wurden das Betreiben einer genehmigungsbedürftigen Anlage ohne Genehmigung sowie Zuwiderhandlungen gegen bestimmte durch Rechtsverordnungen oder aufgrund von Rechtsverordnungen durch Verwaltungsakte ergangener Anordnungen, wobei - dem Zuge der Zeit entsprechend auf das Erfordernis einer konkreten Gefährlichkeit des Anlagenbetriebs verzichtet wurde (§ 63 BImSchG 1974). Soweit es zu einer konkreten Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit eines anderen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert kam, wurden diese Fälle durch einen Qualifikationstatbestand erfaßt (§ 64 BImSchG 1974).2 1

b) Die Verlagerung einzelner Nonnen in das StGB 1980 wurden einige der bisher verstreut im Nebenstrafrecht angesiedelten Straftatbestände des Umweltstrafrechts durch das 18. StrÄG 22 in das StGB überführt und als §§ 324 ff. dStGB in einem eigenen Abschnitt zusammengefaßt. 23 Zielsetzung des Gesetzgebers war es, die bestehenden strafrechtlichen Bestimmungen zu harmonisieren und bestehende Ahndungslücken zu schließen, um so umfassende BT-Drucks. 7/2593, S. 10. Zu § 16 des Abfallbeseitigungsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. I. 1977, BGB\. I, S. 41, vg\. Triffterer, Umweltstrafrecht, S. 49 f. 19 Zu den Strafvorschriften des Gesetzes über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz - AtG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. 10. 1976, BGB\. I, S. 3053, vgl. Triffterer, Umweltstrafrecht, S. 50 f. 20 Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (Bundes-Immissionsschutzgesetz BlmSchG) vom 15.3. 1974, BGB\. I, S. 721. 21 Vg\. Triffterer, Umweltstrafrecht, S. 47 f. 22 Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität vom 18. März 1980, BGB\. I, S. 373. 23 Zu den auch heute noch im Nebenstrafrecht befindlichen Strafvorschriften vg\. die Übersicht bei Kloepfer/Vierhaus, Umweltstrafrecht, Rdnr. 5; Steindorf, in: LK, Vor § 324 Rdnr.7g. 17 18

8 Wohlers

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

strafrechtliche Sanktionsmöglichkeiten zu schaffen, mit denen schwerwiegenden Schädigungen und Gefährdungen der Umwelt wirksamer entgegengetreten werden sollte, als dies nach der bisherigen Rechtslage möglich war. Die Überführung der Nonnen in das StGB zielte darauf ab, "den sozialschädlichen Charakter solcher Taten verstärkt in das öffentliche Bewußtsein der Allgemeinheit zu bringen" und sollte die präventive Wirkung des Umweltstrafrechts erhöhen. 24 Ein neues Aufgabenfeld wurde dem Strafrecht durch die §§ 324 ff. dStGB 1980 mithin nicht erschlossen; beabsichtigt war allein eine Intensivierung der Strafverfolgung, die im wesentlichen über die Erweiterung der Versuchsstrafbarkeit und die Verschärfung von Strafandrohungen erreicht werden sollte: 25 Die "unbefugte" Verunreinigung von Gewässern war bereits durch § 38 WHG 1976 unter Strafe gesteIlt worden. Im Rahmen der Umwandlung des § 38 WHG in den § 324 dStGB wurde lediglich der Strafrahmen verschärft und die Versuchsstrafbarkeit erweitert. 26 Die durch § 325 dStGB 1980 erfaßten Luftverunreinigungen und Lännbelästigungen waren bereits durch die §§ 63 f. BImSchG unter Strafe gestellt. Abweichend von den §§ 63 f. BImSchG wurde im Hinblick auf die diesbezüglich aufgetretenen Nachweisschwierigkeiten auf das Tatbestandsmerkmal des konkreten Schadens bzw. der konkreten Gefahr verzichtet. Gefordert war nun, daß die Verhaltensweise generell geeignet war, einen Schaden herbeizuführen?7 Vorläufer des die unbefugte Abfallbeseitigung erfassenden § 326 dStGB 1980 waren die § 16 AbfG und § 45 AtG?8 Wiederum wurde der Strafrahmen angehoben und zusätzlich der Begriff des Abfalls erweitert?9 Die Ausgestaltung als abstraktes Gefährdungsdelikt war hier bereits durch die Neufassung des AbfG im Jahre 1976 eingeführt worden. Die §§ 327, 328 dStGB 1980 haben Vorläufer in den § 45 AtG, § 63 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG und § 16 Abs. 1 AbfG. 3o Anders als die Vorgängernonnen 24 BT-Drucks. 8/2382, S. 1,9 ff.; 8/3633, S. 19,21; vgl. auch Sack, NJW 1980, 1424. Die Verlagerung in das Kernstrafrecht war auch in der strafrechtsdogrnatisch-kriminalpolitisehen Diskussion der 70er Jahre mehrheitlich befürwortet worden, vgl. Laufhütte/Möhrenschlager, ZStW 92 (1980), 912 f. m. w. N. in Fußn. 3; kritisch hierzu: Steindorf, in: LK, Vor § 324 Rdnr. 4 m. w. N. 25 Perschke, wistra 1996, 161; Vgl. auch Heine 1Meinberg, Gutachten, D 19, die anmerken, daß "kein prinzipieller Mangel an Strafnormen" bestanden habe. 26 BT-Drucks. 8/2382, S. 13 ff.; vgl. auch Bottke, JuS 1980,539,540; LaufhüttelMöhrenschlager, ZStW 90 (1980), 912, 928 ff.; Sack, NJW 1980, 1424 f.; Tiedemann, Neuordnung, S. 15, 19 f.; Triffterer, Umweltstrafrecht, S. 43 ff. 27 BT-Drucks. 8/2382, S. 15 f.; vgl. auch Bottke, JuS 1980,539,540; Laufhütte 1Möhrenschlager, ZStW 92 (1980), 912, 940 ff.; Tiedemann, Neuordnung, S. 16, 20 ff.; Triffterer, Umweltstrafrecht, S. 47 ff. 28 Vgl. Sack, NJW 1980, 1424, 1426. 29 BT-Drucks. 8/2382, S. 16 ff.; vgl. auch Bottke, JuS 1980,539,541; Laufhütte/Möhrenschlager, ZStW 92 (1980), 912, 953 ff.; Tiedemann, Neuordnung, S. 16,20 f.; Triffterer, Umweltstrafrecht, S. 49 ff. 30 Vgl. Sack, NJW 1980, 1424, 1427; Steindorf, in: LK, § 327, Entstehungsgeschichte Rdnr.l.

11. Das Umweltstrafrecht

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wurden auch die §§ 327, 328 dStGB 1980 nicht mehr als konkrete Gefahrdungsdelikte ausgestaltet. Gleiches gilt für den § 329 dStGB 1980, der an die Stelle des § 63 Abs. I BImSchG trat. 31 Die bisher in den jeweiligen Spezialgesetzen geregelten Qualifikationstatbestände für die Fälle der konkreten Gefährdung von Leib, Leben oder fremden Sachen von bedeutendem Wert wurden in § 330 dStGB zusammengefaßt. 32 Die einzige durch das 18. StrÄndG neu geschaffene Vorschrift des § 330a dStGB ist keine dem Umweltstrafrecht im engeren Sinne zuzurechnende Strafnonn, sondern ein die Herbeiführung (konkreter) Lebens- und Leibesgefahren inkriminierender Straftatbestand. 33 Durch das Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität34 wurde die mit dem 18. StrÄG eingeleitete Refonn des Umweltstrafrecht mit gleicher Zielrichtung fortgesetzt. 35 Als wesentliche Neuerungen wurden ein eigenständiger Straftatbestand zum Schutz des Bodens (§ 324a dStGB) geschaffen und der § 325 dStGB 1980 in zwei Tatbestände aufgespalten: § 325 dStGB n.F. dient dem Schutz der Luft als Umweltmedium, während die Verursachung von Länn, Erschütterungen und nichtionisierenden Strahlen nunmehr durch § 325a dStGB erfaßt werden soll.36

2. Das Umweltstrafrecht der Schweiz Anders als das Umweltstrafrecht der Bundesrepublik Deutschland ist das geltende Umweltstrafrecht der Schweiz auch heute noch in seiner Gesamtheit Teil des Nebenstrafrechts. 37 In Umkehrung des für die Bundesrepublik Deutschland festzustellenden Trends hin zu einer kernstrafrechtlichen (Teil-)Lösung wurde in der Schweiz sogar der ursprünglich im Kernstrafrecht angesiedelte Straftatbestand der Tierquälerei (Art. 264 schwStGB) in das Tierschutzgesetz überführt. 38 Die in der Literatur befürwortete39 Überführung bestimmter Straftatbestände des UmweltVgl. Sack, NJW 1980, 1424, 1427 f. Vgl. Sack, NJW 1980, 1424, 1428 f.; Steindorf, in: LK, § 330 Rdnr. 1. 33 Steindorf, in: LK, § 330a Rdnrn. 1 f. 34 Einunddreißigstes Strafrechtsänderungsgesetz vom 27. 6. 1994, BGBI. 1, S. 1440. 3S Vgl. Möhrenschlager, NStZ 1994, 512, 514; zum Gesetzgebungsverfahren vgl. auch: Steindorf, in: LK, Vor § 324 Rdnrn. 8a ff. 36 Vgl. i.e. Breuer, JZ 1994, 1077, 1081 f., 1087 f.; Möhrenschlager, NStZ 1994,512, 516 ff.; Schmidtl Schöne, NJW 1994,2514,2517 f. 37 Ronzani, Erfolg, S. 5. Zur geschichtlichen Entwicklung des Umweltstrafrechts in der Schweiz vgl. den Überblick bei Alkalay, Umweltstrafrecht, S. 18 ff. sowie Vest/Ronzani, Landesbericht, S. 391 ff. 3S Vgl. Schultz, ZStR 99 (1982), 1,9; ders., ZStW 97 (1985), 371, 378; kritisch hierzu im Hinblick auf die in der Verlegung in das Nebenstrafrecht liegende Abwertung des Tierschutzes - Vogel-Etienne, Tierschutz, S. 232. 39 Vgl. Z. B. Roy Kunz, Verletzungen, S. 79; Vest/Ronzani, Landesbericht, S. 487. 31

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

strafrechts in das Kernstrafrecht dürfte nun aber wohl für die Zukunft zur Entscheidung anstehen. 4o De lege lata bedrohen die Straftatbestände des Umweltstrafrechts der Schweiz als Annexbestimmungen Zuwiderhandlungen gegen bestimmte Normen des Umweltverwaltungsrechts mit Strafe. 41 Neben den Strafbestimmungen einiger Spezialgesetze - verwiesen sei hier insbesondere auf die Art. 70 ff. des Gewässerschutzgesetzes (GSchG),42 Art. 43 ff. des Strahlenschutzgesetzes (StSG)43 und Art. 29 ff. des Atomgesetzes 44 - sind in diesem Zusammenhang die Art. 60 f. des Umweltschutzgesetzes (USG) von Bedeutung, mit denen Verstöße gegen Verhaltensnormen pönalisiert werden, die entweder in dem am 1. Januar 1985 in Kraft getretenen Umweltschutzgesetz selbst, in anderen umwelt(verwaltungs)rechtlichen Gesetzen oder aber auf gesetzlicher Grundlage im Verordnungswege statuiert werden. 45 Erfaßt werden Zuwiderhandlungen gegen bestimmte Normen des Umweltverwaltungsrechts. Zusätzlich zu diesen, gemeinhin als abstrakte Gefahrdungsdelikte interpretierten Grundtatbeständen46 finden sich regelmäßig Qualifikationstatbestände, die eingreifen, wenn es zu einer "schweren" Gefahrdung von Menschen oder bestimmten Umweltmedien gekommen ist. 47 40 Jenny und Kunz treten in dem Bericht und Vorentwurf zur Verstärkung des strafrechtlichen Schutzes der Umwelt für eine Zweiteilung der umweltstrafrechtIichen Normen ein. Die an die Mißachtung bestimmter Normen des Umweltverwaltungsrechts anknüpfenden strafrechtlichen Annexbestimmungen sollen ihrer Auffassung nach im Nebenstrafrecht verbleiben. Die neu einzuführende Deliktsgruppe der Tatbestände mit originär ökologischem Rechtsgutsbezug soll dagegen - zur Beförderung eines gesellschaftlichen Wertewandels - in das Kernstrafrecht eingestellt werden; vgl. i.e. Jenny I Kunz, Bericht, S. 55 ff. 41 Jenny I Kunz, Bericht, S. 15; Ronzani, Erfolg, S. 5 f.; Vest I Ronzani, Landesbericht, S.399,447 42 Vgl. hierzu: Heine/Roulet, Landesbericht, S. 1292. 43 Vgl. hierzu: Vest, Landesbericht, S. 686. 44 Vgl. hierzu: Jenny/Kunz, Bericht, S. 44 ff.; Vest/Ronzani, Landesbericht, S. 429 ff.; Vest, Landesbericht, S. 686; zur Entstehungsgeschichte und zu den (Gefahrdungs-)Straftatbeständen des schweizerischen Atomgesetzes vgl. Frey, ZStR 78 (1962), 70, 74 ff. 45 Alkalay, Umweltstrafrecht, S. 15 ff., 46; Ettler, Kommentar USG, Vorbemerkungen zu Art. 60-62 Rdnrn. 4 ff.; Art. 60 Rdnr. I, Art. 61 Rdnr. 1. Da insbesondere die in Bezug genommenen Verordnungen zum Teil erst noch erlassen werden mußten (vgl. im einzelnen Alkalay, Umweltstrafrecht, S. 38 ff.; Heinel Spalinger, Landesbericht, S. 1353 f.; Heinel Hein, Landesbericht, S. 1015) standen die entsprechenden Strafnormen längere Zeit lediglich auf dem Papier (Jenny I Kunz, Bericht, S. 15). 46 V gl. Jenny I Kunz, Bericht, S. 17 ff. zu Art. 60 Abs. I erster Halbsatz, 61 USG sowie Jenny I Kunz, Bericht, S. 32 ff. zu Art. 70 lit. c-g, 71 GSchG. 47 Vgl. Jenny I Kunz, Bericht, S. 28 ff. zu Art. 60 Abs. I zweiter Halbsatz USG. Als problematisch hat sich die Auslegung des Begriffs der ..schweren Gefahr" erwiesen (vgl. hierzu: Alkalay, Umweltstrafrecht, S. 76 f.; Vest I Ronzani, Landesbericht, S. 399,448). Das GSchG in der geltenden Fassung aus dem Jahre 1991 enthält - anders als das GSchG in der Fassung aus dem Jahre 1971 - einen entsprechenden Qualifikationstatbestand nicht, was in der Literatur als ein Mangel angesehen wird; vgl. Jenny I Kunz, Bericht, S. 33; Vestl Ronzani, Landesbericht, S. 424.

II. Das Umweltstrafrecht

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Tatbestände, in denen die Beeinträchtigung bestimmter Umweltmedien für sich gesehen pönalisiert wird, finden sich allein im Gewässerschutzgesetz (Art. 70 Abs. 1 lit. a und b GSchG).48 Am Anfang der Entwicklung steht hier der noch rein verwaltungsakzessorisch ausgestaltete Art. 15 des Gewässerschutzgesetzes aus dem Jahre 1955, der sich in der praktischen Anwendung als weitgehend ineffektiv erwiesen hatte, weil er an die Zuwiderhandlung gegen Verhaltensnonnen gebunden war, die ihrerseits zu allgemein gehalten waren. 49 Mit der Revision des Gewässerschutzgesetzes im Jahre 1971 sollten unter anderem auch verschärfte Sanktionsnonnen geschaffen werden. 50 Neben der - aus generalpräventiven Gründen für notwendig erachteten 51 - Anhebung der Strafandrohungen wurde auch die Struktur des Tatbestands verändert. Art. 37 GSchG 1971 pönalisierte nunmehr in Abs. 1 Unterabsatz 1 das Einbringen von Stoffen, die "geeignet sind", eine Gewässerverunreinigung hervorzurufen. In Abs. 1 Unterabsatz 2 wird das Ablagern oder Versickernlassen von Stoffen außerhalb eines Gewässers erfaßt, soweit dadurch die Gefahr einer Verunreinigung des Wassers geschaffen wird. In Abs. 1 Unterabsatz 3 werden schließlich ungenehmigte Grabungen zur Ausbeutung von Kies, Sand und anderen Materialien erfaßt. 52 Während die Straftatbestände der Unterabsätze 3 und 2 unstreitig als abstrakte bzw. konkrete Gefährdungsdelikte interpretiert wurden,53 bestand keine Einigkeit darüber, ob es sich bei dem Straftatbestand des Unterabsatzes 1 um ein konkretes Gefährdungsdelikt oder aber um ein Erfolgsdelikt handelte. 54 Mit der Neufassung des Gewässerschutzgesetzes vom 24. Januar 1991 wurde die Gewässerverunreinigung in Art. 70 Abs. 1 lit. a und b geregelt. Erfaßt wird bereits die Herbeiführung einer "Gefahr einer Verunreinigung des Wassers" durch die Zuführung wassergefährdender Stoffe in ein Gewässer (Art. 70 Abs. 1 lit. a GSchG) bzw. das Unterlassen sichernder Maßnahmen durch den Inhaber einer wassergefährdenden Anlage (Art. 70 Abs. 1 lit. b GSchG). In ihrem "Bericht und Vorentwurf zur Verstärkung des strafrechtlichen Schutzes der Umwelt" befürworten Jenny und Kunz die Einführung neuer bzw. weiterer Deliktstatbestände mit originär ökologischem Rechtsgutsbezug. 55 Erfaßt werden sollen zum einen Verhaltensweisen, die "geeignet sind", die Umweltmedien Wasser, Boden und Luft "nicht unerheblich" bzw. "nachhaltig" zu beeinträchtigen; des weiteren Verhaltensweisen, die geeignet sind, "die Gesundheit von Menschen oder Tiere(n), Pflanzen oder andere Sachen von bedeutendem Wert zu schädigen". In der Sache würde eine derartige Refonn das Umweltstrafrecht der Schweiz in weVgl. Jenny I Kunz, Bericht, S. 33, 35 ff. Roy Kunz, Verletzungen, S. 59; Vest/Ronzani, Landesbericht, S. 423 Fußn. 179. 50 Roy Kunz, Verletzungen, S. 67 ff. 51 Vgl. Vest/Ronzani, Landesbericht, S. 423. 52 Zu Art. 37 GSchG 1971 vgl. Roy Kunz, Verletzungen, S. 69 ff.; Piraccini, Vergehenstatbestände, S. 41 ff. 53 Vgl. nur Piraccini, Vergehenstatbestände, S. 106 ff., 111. 54 Vgl. Piraccini, Vergehenstatbestände, S. 101 ff. 55 Vgl. Jenny I Kunz, Bericht, S. 93 ff. 48

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

sentlichen Punkten dem geltenden Umweltstrafrecht der Bundesrepublik Deutschland angleichen. Die Notwendigkeit der vorgeschlagenen Deliktsstruktur begründen Jenny und Kunz mit der Erwägung, der auf die Verletzung von Individualrechtsgütern abstellende ,,klassische" Rechtsgüterschutz müsse durch Gefahrdungsdelikte ergänzt werden. Zu erfassen seien, "originär ökologisch definierte Gefährdungen bestimmter Segmente oder Aspekte der Umwelt im Sinne eines überindividuellen Rechtsgüterschutzes. Während ansonsten üblicherweise die Gestaltungsfortn des abstrakten Gefährdungsdelikts gewählt wird, wo es um Gefahren für Interessen der Allgemeinheit geht, und Gefahren für Rechtsgüter des Einzelnen als konkrete Gefährdungsdelikte vertypt werden, führt der Vorentwurf die dritte Kategorie des potentiellen Gefährdungsdelikts ein, bei dem die Gefahr sich sowohl auf individuelle wie auf überindividuelle Rechtsgüter beziehen kann. Das potentielle Gefährdungsdelikt zeichnet sich dadurch aus, dass bei ihm die generelle Gefährlichkeit der Handlung durch das Erfordernis der ,,Eignung" zur Herbeiführung eines konkreten Erfolges umschrieben wird. Die Kategorie des potentiellen Gefährdungsdelikts stellt für weite Bereiche des Umweltstrafrechts eine angemessene Risikovertypung dar, die einen Mittelweg markiert zwischen einer oft zu engen und damit strafwürdiges Verhalten nicht genügend erfassenden konkreten Gefährdung und einer oft zu weiten Ausdehnung des Strafbarkeitsbereichs bei der abstrakten Gefährdung. Die potentielle Gefährdung verzichtet auf das Erfordernis des Eintritts einer konkreten Gefährdung, die unmittelbar in eine Schädigung umzuschlagen droht. Dadurch wird die Strafbarkeit begründet, bevor gleichsam das Kind über dem Brunnenrand schwebt, und es werden diffizile Beweisprobleme vertnieden. Andererseits stellt die potentielle Gefährdung auf die konkreten Umstände der Handlungssituation ab, aus denen sich eine generelle Schädigungseignung der Handlung ergeben muss, und verlangt damit mehr als die abstrakte Gefährdung. ,,56

3. Charakteristika des "modernen" Umweltstrafrechts Die Entstehungs- und Refonngeschichte des Umweltstrafrechts bestätigt zunächst die These, daß die Ausweitung des Bereichs strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen tendenziell eher im Nebenstrafrecht als im Kernstrafrecht stattfindet. Trotz der in der Bundesrepublik Deutschland stattgefundenen Verlagerung einiger Straftatbestände in das Kernstrafrecht, befindet sich auch dort die Mehrzahl der Straftatbestände des Umweltstrafrechts immer noch im Nebenstrafrecht. 57 Weiterhin ist festzuhalten, daß die Refonneingriffe regelmäßig darauf abzielten, die präventive Wirkung umweltstrafrechtlicher Nonnen zu stärken, indem über eine Modifizierung und Reduzierung der Strafbarkeitsvoraussetzungen die Möglichkeit der Anwendung strafrechtlichen Zwangs ausgeweitet bzw. erleichtert wurde. Die Überführung einiger Nonnen aus dem Nebenstrafrecht in das Kernstrafrecht sollte die generalpräventive Wirkung umweltstrafrechtlicher Nonnen verstärken. Jenny / Kunz, Bericht, S. 96 f. Vgl. z. B. die §§ 63 ff. BSeuchG, §§ 51 f. LMBG, § 51 PfIanzenschG, §§ 40, 42 SprengG, § 17 TierschG; § 27 ChemG; § 30 BNatSchG. 56 57

11. Das Umweltstrafrecht

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a) Die symbolische Funktion umweltstrafrechtlicher Normen Ob der Überführung umweltstrafrechtlicher Normen in das Kernstrafrecht tatsächlich ein generalpräventiver Effekt beizumessen ist, erscheint zumindest zweifelhaft. Da weite Teile der Bevölkerung keine konkreten Kenntnisse über den Bereich strafbarer Verhaltensweisen haben, vielmehr die mehr oder weniger undifferenzierte Meinung vorherrschend zu sein scheint, daß unrechtmäßiges Verhalten auch strafbar ist - wobei dann mangels entsprechender Kenntnisse auch nicht zwischen dem StGB und den Gesetzen des Nebenstrafrechts differenziert werden kann -, wird man einen generalpräventiven Effekt nicht von der Verlagerung bestimmter Normen in das StGB erwarten können, sondern wird vielmehr davon ausgehen müssen, daß - wenn überhaupt - der Öffentlichkeitswirkung des Gesetzgebungsverfahrens selbst ein generalpräventiver Effekt zukommen kann. Dieser Befund dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, daß gerade das Umweltstrafrecht nach verbreitet vertretener Auffassung als ein Beispiel "symbolischer" Strafgesetzgebung angesehen wird. 58 aa) Grundlagen der Begriffsbildung

Die Charakterisierung einer Rechtsnorm als "symbolisch" bezieht ihren Bedeutungsgehalt aus dem Gegensatz zu den "instrumentellen" Funktionen des Rechts. 59 Ansatzpunkt und Grundlage dafür, strafrechtliche Normen als "symbolisch" zu etikettieren, ist die Prämisse, strafrechtliche Normen hätten die (instrumentelle) Funktion, unerwünschte Verhaltensweisen zu unterbinden bzw. abweichendes Verhalten zu sanktionieren, um so bestimmte Normansprüche faktisch durchzusetzen. 60 Die Diskrepanz zwischen der vorausgesetzten faktischen Wirkungsrelevanz einerseits und den offenkundigen und zum Teil auch erheblichen Vollzugsdefiziten bei der "Umsetzung" strafrechtlich geschützter Normansprüche andererseits begründet dann den Schluß, daß Strafrechtsnormen angesichts ihrer instrumentellen Ineffektivität lediglich symbolische Bedeutung haben können. 61 Bei strafrechtlichen Normen stellt sich allerdings das Problem, daß Straftatbeständen stets vom Gesetzgeber für schutzwürdig erachtete Werte zugrunde liegen, strafrechtliche Verbotsnormen also stets Wertansprüche symbolisieren. 62 Die ledig58 Vgl. Peter-AIexis Albrecht, KritV 1988, 182, 188 ff.; Hassemer, NStZ 1989,553,554; ders., Neue Kriminalpolitik 1989,47; Hegenbarth, ZRP 1981,201,202; Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 111 ff.; Kindhäuser, Universitas 1992,227,233; Müller-Tuckfeld, Abschaffung, S. 475 f.; Seelmann, KritV 1992,452,460; Voß, Gesetzgebung, S. 28, 74. 59 Hegenbarth, ZRP 1981,201; Kindermann, Gesetzgebung, S. 222. !iO V gl. Hassemer, NStZ 1989, 553, 556. 61 Hassemer, ZRP 1992,378,382; vgl. auch J.C. Müller, KrirnJ 1993,82,86 f. 62 Vgl. Hassemer, NStZ 1989,553,554 ff.; Pritwitz, Strafrecht und Risiko, S. 255; Seelmann, KritV 1992,452,461 ff.; Voß, Gesetzgebung, S. 46 f.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

lich für einige ausgewählte Strafnormen benutzte Etikettierung als "symbolische" Norm bedarf vor diesem Hintergrund einer inhaltlich begründeten Abgrenzung dieser Normen von den sonstigen "normal-symbolischen" Strafnormen. 63 Um die Berechtigung der Unterscheidung zu untersuchen, ist auf die in der Literatur entwickelte Typologie der symbolischen Gesetzgebung zurückzugreifen. Im Hinblick auf Strafnormen werden im wesentlichen drei Fallgruppen unterschieden: Normen mit Appellcharakter, gesetzgeberische Wertbekenntnisse und gesetzgeberische Ersatzreaktionen. 64 Die Kategorien symbolischer Normen unterscheiden sich im Grundsatz dadurch, daß der symbolische Gehalt einer Norm entweder aus der Norm selbst (gesetzgeberische Wertbekenntnisse; Normen mit Appellcharakter) oder aber aus dem der Norm zugrundeliegenden Gesetzgebungsverfahren abgeleitet wird (gesetzgeberische Ersatzreaktionen).

bb) Der symbolische Gehalt umweltstrafrechtlicher Normen

Unter gesetzgeberischen Wertbekenntnissen werden Normen verstanden, die der Gesetzgeber zu dem Zweck erläßt, in bekenntnishafter Weise einer Wertentscheidung normativen Ausdruck zu verleihen, ohne gleichzeitig das Ziel zu verfolgen, gesellschaftliche Verhaltensweisen beeinflussen bzw. steuern zu wollen. 65 Ein typisches Beispiel eines gesetzgeberischen Wertbekenntnisses wird in der Regelung der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs (§§ 218 ff. dStGB) gesehen. 66 Begründet wird diese Zuordnung damit, daß es dem Gesetzgeber angesichts der Ineffektivität eines strafbewehrten Abtreibungsverbotes nicht um die effektive Durchsetzung des Normbefehls, sondern allein darum gegangen sei, öffentlichkeitswirksam in einem moralischen Streit Stellung zu beziehen, in dem es vordergründig um die ethischen Prinzipien der Selbstbestimmung der Frau über ihre Nachkommenschaft einerseits und die Bekräftigung des Verbots, "werdendes Leben zu töten" andererseits gegangen sei,67 letztlich aber um die Rolle der Frau in der Gesellschaft.68 Als weiteres Beispiel figuriert der Straftatbestand des Völkermords (§ 220a dStGB). Der symbolische Charakter dieser Norm wird daraus abgeleitet, daß ihr instrumenteller Einsatz von vornherein kaum zu erwarten sei, so daß sich die Bedeutung der Norm darin erschöpfe, zu dokumentieren, daß man aus der Geschichte gelernt habe. 69

V gl. Kindermann, Gesetzgebung, S. 229. Vgl. Voß, Gesetzgebung, S. 26 ff.; Hassemer, NStZ 1989, 553, 554. 65 Voß, Gesetzgebung, S. 26 f.; NolI, Gesetzgebungslehre, S. 157. 66 Vgl. Hassemer, NStZ 1989,553,554; Hegenbarth, ZRP 1981, 201, 202; Schmehl, ZRP 1991,251,252. 67 Blankenburg, ARSP 1977, 31, 42; Voß, Gesetzgebung, S. 154 ff. 68 V gl. Voß, Gesetzgebung, S. 203 ff. 69 Hassemer, NStZ 1989, 553, 556; Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 256. 63

64

11. Das Umweltstrafrecht

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Anders als bei den gesetzgeberischen Wertbekenntnissen soll bei Nonnen mit Appellcharakter zwar grundsätzlich beabsichtigt sein, auf das faktische Verhalten der Gesellschaftsmitglieder einzuwirken. Diese Beeinflussung soll aber nicht direkt und durch den instrumentellen Einsatz der Nonn bewirkt werden; beabsichtigt seien vielmehr Bewußtseinsveränderungen, die zukünftig - in der Regel erst auf längere Sicht - zu autonomen Verhaltensänderungen führen sollen. 7o Als ein typisches Beispiel gilt hier neben einigen Straftatbeständen des "modemen" Wirtschaftsstrafrechts71 in erster Linie das Umweltstrafrecht: 72 Mit der Überführung der entsprechenden strafbewehrten Verbote aus den Gesetzen des Nebenstrafrechts in das StGB habe der Gesetzgeber das Bewußtsein für die Gefährlichkeit und Sozialschädlichkeit umweltgefährdenden Verhaltens stärken wollen, um so allmähliche Bewußtseins- und Verhaltens änderungen zu bewirken. 73 Die Beispiele zeigen, daß der gemeinsame Charakter gesetzgeberischer Wertbekenntnisse und Nonnen mit Appellcharakter darin besteht, eine Wertentscheidung des Gesetzgebers zu dokumentieren und ihr nonnativen Ausdruck zu verleihen. Der Unterschied beider Nonntypen liegt allein darin, daß bei reinen gesetzgeberischen Wertbekenntnissen ein gesellschaftlich bereits akzeptierter Wert symbolisiert wird, während bei Nonnen mit Appellcharakter die der gesetzgeberischen Wertentscheidung zugrundeliegende Wertvorstellung in der Gesellschaft erst begründet oder aber bestärkt werden soll. Die sachliche Berechtigung der Unterscheidung beider Nonntypen ist allerdings zumindest für den Bereich des materiellen Strafrechts zu bezweifeln. Angesichts der Schwierigkeiten, verläßliche empirische Daten über die gesellschaftliche Akzeptanz bestimmter Wertvorstellungen zu ennitteIn, läuft die Zuordnung eines Straftatbestandes zu einer der beiden Kategorien darauf hinaus, daß sich der Zuordnende entweder an den im Gesetzgebungsverfahren geäußerten Vorstellungen oder Einschätzungen orientiert oder aber seine persönlichen Vorstellungen zugrundelegt. In jedem Fall handelt es sich um eine mehr oder weniger willkürliche Zuordnung. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß die instrumentelle Aktualität einer Nonn von ihrem gesellschaftlichen Umfeld abhängig ist, das wiederum selbst Wandlungen unterliegt. Deutlich wird dies, wenn man sich vor Augen führt, daß selbst eine stets als rein theoretisches Wertbekenntnis eingeschätzte Nonn wie der § 220a dStGB (V6Ikennord) unter bestimmten Voraussetzungen - hier durch die mit den kriegerischen Auseinandersetzungen der verschiedenen Volksgruppen im ehemaligen Jugoslawien verbundenen Kriegsverbrechen - praktische Anwendungsrelevanz erfahren kann. 74 Voß, Gesetzgebung, S. 28 Vgl. hierzu Bussmann, KritV 1989, 126, 127 f. 72 Hassemer, NStZ 1989,553,554; Hegenbarth, ZRP 1981,201,202. 73 Peter-Alexis Albrecht, KritV 1988, 182, 188; Voß, Gesetzgebung, S. 28, 74. 74 Vgl. BayObLG, NJW 1998,392 mit Bespr. Ambos, NStZ 1998,138; vgl. auch Ambos/ Ruegenberg, NStZ-RR 1998, 161, 170 mit Hinweis auf eine weitere Entscheidung des OLG Düsseldorf. 70 71

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

Darüber hinaus bestehen aber auch aus normativer Sicht Bedenken, allein bestimmte Normen des materiellen Strafrechts als "symbolisch" zu etikettieren und damit implizit einen sachlichen Unterschied zu anderen Strafnormen zu behaupten. Zu beachten ist, daß die unmittelbare Funktion strafrechtlicher Normen darin besteht, bestimmte gesetzgeberische Wertentscheidungen zu symbolisieren und die Grundlage für die repressive Ahndung etwaiger Verstöße gegen diese Normansprüche zu schaffen. Angesichts der derzeit - und aufgrund der bestehenden Schwierigkeiten bei der Beurteilung präventiver Wirkungen wohl auch zukünftig - fehlenden empirischen Daten kann die präventive Funktion strafrechtlicher Normen allenfalls qualitativ begründet, nicht aber quantitativ nachgewiesen werden. 75 Wegen des Fehlens hinreichender empirischer Daten über die tat~ächliche gesellschaftliche Verbreitung abweichenden Verhaltens, haben Aussagen zum "symbolischen" Charakter bestimmter Strafnormen, zumindest dann, wenn ein signifikanter Unterschied zu anderen Strafnormen behauptet werden soll, eher den Charakter eines Glaubensbekenntnisses als den einer empirischen Aussage. 76 Da grundsätzlich allen Strafnormen eine symbolische Funktion zukommt, ist die Etikettierung eines Straftatbestandes als symbolische Norm mithin einerseits eine Selbstverständlichkeit, andererseits aber irreführend, wenn und soweit mit dieser Bezeichnung ein grundSätzlicher Unterschied zu anderen nicht-symbolischen Strafnormen behauptet werden soll.77

cc) Der symbolische Gehalt umweltstrafrechtlicher Gesetzgebung

Die Erkenntnis, daß grundsätzlich alle Strafnormen zumindest auch symbolische Funktionen haben, legt die Annahme nahe, daß die Behauptung eines nur symbolischen Gehalts bestimmter Strafrechtsnormen tatsächlich gar nicht auf diese Normen selbst abzielt, sondern lediglich als ein Schlagwort dient, an dem Standpunkte festgemacht werden sollen, die eigentlich auf einer ganz anderen Ebene angesiedelt sind. Der Umstand, daß die Typologie der symbolischen Gesetzgebung mit den sog. gesetzgeberischen Ersatzreaktionen eine Fallgruppe entwickelt hat, die ausdrücklich auf die Gesetzgebung abstellt, legt die Annahme nahe, daß es sich bei dieser Ebene um die Strafrechtsgesetzgebung an sich und die ihr zugrundeliegende Kriminalpolitik handelt. Wahrend der symbolische Gehalt gesetzgeberischer Wertbekenntnisse bzw. Normappelle aus den jeweiligen Normen selbst abgeleitet wurde, soll der symbolische Gehalt gesetzgeberischer Ersatzreaktionen durch die dem GesetzgebungsverVgl. hierzu bereits oben S. 57 ff. Vgl. Hegenbarth, ZRP 1981, 201, 204. 77 Vgl. Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 23. Daß Unterschiede im Verhältnis des symbolischen bzw. präventiven Gehalts keinen Unterschied qualitativer, sondern lediglich quantitativer Art begründen, erkennt auch Hassemer an; vgl. Hassemer, NStZ 1989, 553, 556. 75

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11. Das Umweltstrafrecht

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fahren zugrundeliegenden Motive und Intentionen begründet werden. Der grundsätzliche Unterschied zu den anderen Typenmustern symbolischer Gesetze wird darin gesehen, daß die symbolische Funktion einer Norm hier nicht offengelegt, sondern im Gesetzgebungsverfahren vielmehr eine instrumentelle Funktion der Norm vorgetäuscht werde. 78 Tatsächlich würde das gesamte Gesetzgebungsverfahren allein dem Ziel dienen, Systemvertrauen zu erzeugen bzw. zu stabilisieren. Das gemeinsame Merkmal gesetzgeberischer Ersatzreaktionen liege darin, daß Normen geschaffen werden, deren Ineffektivität zur Bewältigung der dem Gesetzgebungsverfahren zugrundeliegenden gesellschaftlichen Krisensituation dem Gesetzgeber bewußt sei, die aber dennoch erlassen werden, um entweder die Handlungsfahigkeit bzw. Handlungskompetenz des Gesetzgebers unter Beweis zu stellen oder aber einem Handlungsdruck nachzugeben, der ansonsten dazu zwingen würde, andere Maßnahmen zu ergreifen, die aus sonstigen, in der Regel fiskalischen Gründen als nicht wünschenswert angesehen werden. 79 Unterschieden wird gemeinhin zwischen sog. Alibigesetzen einerseits und Kompromißgesetzen andererseits. Der spezifische Charakter der Alibigesetzgebung soll darin liegen, daß sich die verschiedenen am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Akteure und Institutionen entweder darin einig sind, ein Gesetz mit einem bestimmten, funktional ineffektiven Inhalt zu schaffen oder aber ein Akteur des Gesetzgebungsverfahrens seine diesbezügliche Intention durchzusetzen vermag. Demgegenüber soll die instrumentelle Ineffektivität der gesetzlichen Regelung bei sog. Kompromißgesetzen darauf beruhen, daß ein im Hinblick auf die angestrebten Funktionen der Norm sinnvoller Ausgleich zwischen den verschiedenen, im Gesetzgebungsverfahren wirksam werdenden Interessen und Auffassungen nicht gefunden und dieser Dissens durch einen Formelkompromiß - in der Regel durch Generalklauseln bzw. offene Rechtsbegriffe - zugedeckt wird. Die Entscheidung darüber, ob überhaupt und gegebenenfalls in welcher Art und Weise die mit der gesetzlichen Regelung angezielte Funktion erreicht wird, bleibt dann anderen Institutionen - bei Strafrechtsnormen in der Regel den Strafverfolgungsorganen - überlassen. 8o Als Beispiel strafrechtlicher Alibigesetzgebung wird - bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland - neben der Novellierung des Betäubungsmittelstrafrechts81 in erster Linie auf die Terrorismusgesetzgebung der 70er und 80er Jahre verwiesen. 82 Der Gesetzgeber habe mit der im Hinblick auf eine instrumentelle BewältiHassemer, NStZ 1989, 553, 556; Seelmann, KritV 1992,452,461. Peter-Alexis Albrecht, StV 1994, 265, 267; Amelung, ZStW 92 (1980), 19, 54 ff.; Hegenbarth, ZRP 1981,201; Kindermann, Gesetzgebung, S. 234; Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 258; Schmehl, ZRP 1991,251,253. RO Vgl. NolI, Gesetzgebungslehre, S. 158; Schmehl, ZRP 1991,251,253; Voß, Gesetzgebung, S. 31 ff. R) V gl. insoweit: Kreuzer, Festschrift für Miyazawa, S. 185, sowie i.e. unten S. 178 ff. R2 Hassemer, NStZ 1989, 553, 554; Voß, Gesetzgebung, S. 146 f., 197 ff. 7H

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

gung des Terrorismusproblems ineffektiven Verschärfung bestehender Strafdrohungen sowie der Neuschaffung zusätzlicher Straftatbestände einem in der Bevölkerung bestehenden Gefühl der Bedrohung entgegenwirken und angesichts einer verbreiteten öffentlichen Empörung Handlungsfähigkeit demonstrieren und so Systemvertrauen schaffen wollen. 83 Genannt werden aber auch die Neufassung des Straftatbestandes der Volksverhetzung (§ 130 dStGB) in den Jahren 1960 und 1985, denen jeweils antisemitische und neonazistische Ausschreitungen vorausgegangen waren. Ziel dieser - angesichts der bestehenden gesetzlichen Regelungen weitgehend überflüssigen - gesetzgeberischen Initiativen sei es gewesen, den Willen des Gesetzgebers zu demonstrieren, einem Auftreten neofaschistischer Bewegungen entgegenzutreten. Gleichzeitig habe der Gesetzgeber so ein Ventil geschaffen, mit dem er dem Druck ausweichen konnte, die tatsächlichen gesellschaftlichen Ursachen der Ausschreitungen sowie die im Bereich der Strafverfolgungsorgane liegenden Ursachen der inadäquaten staatlichen Reaktion hierauf aufzuarbeiten. 84 Als weitere Beispiele einer vor allem außenpolitisch motivierten Alibigesetzgebung geiten die anläßIich der drohenden Verjährung für die während des 3. Reiches begangenen Mordtaten beschlossene, im Hinblick auf die einer Verfolgung etwaiger noch lebender Täter allerdings erkennbar ineffektive Aufhebung der Verjährungsvorschrift für Mord im Jahre 197985 sowie die - von anderen Autoren der Fallgruppe gesetzgeberischer Wertbekenntnisse zugeordnete - Schaffung des Straftatbestandes des Vdlkermords (§ 220a dStGB) im Jahre 1954.86 Mit der Begründung, der Gesetzgeber benutze umweltstrafrechtliche Normen als eine - zumindest vordergründig - billige Ersatzmaßnahme für die aus verschiedenen - insbesondere ökonomischen, fiskalischen und wahltaktischen - Gründen letztlich gar nicht gewollte effektive Bekämpfung der systembedingten Ursachen der Umweltzerstörung, könnte auch das UmweItstrafrecht in die Kategorie der Alibigesetzgebung eingeordnet werden. 87 In der Literatur wird das - von anderen Autoren der Fallgruppe der Normen mit Appellcharakter zugerechnete - Umweltstrafrecht allerdings in erster Linie als strafrechtliches Beispiel für ein faktisch ineffektives Kompromißgesetz bezeichnet. 88 Daß die bestehenden Normen des Umweltstrafrechts ungeeignet sind, umweltgefährdendem Verhalten effektiv entgegenzuwirken, wird auf eine unzureichende Ausgestaltung dieser Normen zurückgeführt. Ursächlich hierfür sei der Umstand gewesen, daß die Probleme einer praktischen Umsetzung der Verbotsnormen aufgrund unüberbrückbarer Meinungs83 Hassemer, NStZ 1989,553,554; Kindermann, Gesetzgebung, S. 234 f.; NoH, ZSR NF 100 (1981),347,361 f.; Voß, Gesetzgebung, S. 146, 199. 84 Amelung, ZStW 92 (1980),19,60; Kindermann, Gesetzgebung, S. 237. 8S Hassemer, NStZ 1989,553,554; Voß, Gesetzgebung, S. 102, 138. 86 Amelung, ZStW 92 (1980),19,56; Hassemer, NStZ 1989,553,554. 87 In diese Richtung argumentiert beispielsweise Lehne, KrimJ 1994,210,220. 88 Peter-Alexis Albrecht KritV 1988, 182, 188 ff.; Hassemer, NStZ 1989, 553, 554; ders., Neue Kriminalpolitik, 1989,47; Kindhäuser, Universitas 1992,227,233; MüHer-Tuckfeld, Abschaffung, S. 475 f.; vgl. auch Seelmann, KritV 1992,452,460.

11. Das Umweltstrafrecht

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gegensätze nicht bereits im Gesetzgebungsverfahren selbst gelöst wurden, sondern den mit dem Gesetzesvollzug beauftragten Stellen überantwortet und damit an Stellen delegiert wurden, die aus fiskalischen und ökonomischen Gründen heraus an einer strikten Durchsetzung strafrechtlicher Verbote gar nicht interessiert seien. 89

Auch im Hinblick auf die Fallgruppe der gesetzgeberischen Ersatzreaktionen ist zunächst wiederum auf die Problematik fehlender empirischer Belege zu verweisen. Abgesehen von den bereits aus der Methodenlehre bekannten Schwierigkeiten, die einem Gesetzgebungsakt zugrundeliegenden Intentionen und Motive aufzuklären,90 stellt sich im Hinblick auf den Vorwurf eines täuschenden Verhaltens des Gesetzgebers das weitere Problem, etwaige Motive und Intentionen daraufhin zu prüfen und zu bewerten, ob diese tatsächlich gegeben waren oder nur vorgetäuscht wurden. 91 Auch wenn man mit einer verbreiteten Auffassung in der Literatur allein auf die einer Norm zukommenden Funktionen abstellt und das Kriterium symbolischer Gesetzgebung darin sehen will, daß der Gesetzgeber Normansprüche statuiere, ohne gleichzeitig auch die objektiv notwendigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß diese Ansprüche auch erfüllt werden können,92 ändert dies nichts daran, daß die Bestimmung der - wie auch immer zu ermittelnden - manifesten und / oder latenten Funktionen sowie die Auswahl der für die Bewertung maßgeblichen Funktionen ein Akt der Wertung bleibt. 93 Angesichts der empirisch weder zu verifizierenden noch zu widerlegenden Annahmen präventiver Wirksamkeit bzw. Unwirksamkeit strafrechtlicher Normen kommt den entsprechenden Etikettierungen kein eigenständiger argumentativer Gehalt zu. Die nach alledem verbleibende Funktion des Diskurses um den symbolischen Charakter des "modernen" Strafrechts dürfte darin liegen, im Streit um eine expansive oder restriktive Kriminalpolitik die eigentlichen Sachfragen hinter einem schon beinahe demagogisch anmutenden Schlagabtausch zu verbergen. Es erscheint angezeigt, auf die abwertende Kennzeichnung bestimmter Straftatbestände als bloß "symbolische" Normen zu verzichten, und sich stattdessen auf die Frage der materiellen Legitimität der entsprechenden Strafrechtsnormen zu konzentrieren.

Blankenburg, ARSP 1977, 31, 45 ff. Vgl. Hassemer, NStZ 1989,553,555; Kindermann, Gesetzgebung, S. 225 ff.; Voß, Gesetzgebung, S. 55 ff. 91 Vgl. Voß, Gesetzgebung, S. 32, mit dem Hinweis darauf, daß auch nicht nachgewiesen sei, daß der Gesetzgeber an die instrumentelle Wirksamkeit der Terrorismusgesetzgebung nicht geglaubt habe. Darüber hinaus ist bei der Schaffung der §§ 324 ff. dStGB die Zielsetzung der Bewußtseinsänderung nicht etwa versteckt, sondern ganz offen vertreten worden, vgl. J.C. Müller, KrimJ 1993,82,92, sowie oben S. 37. 92 Kindermann, Gesetzgebung, S. 227 f.; Blankenburg, ARSP 1977,31,43; Schmehl, ZRP 1991,251. 93 Kritisch auch: Voß, Gesetzgebung, S. 74 ff. 89 90

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

b) Die materielle Legitimität der Straftatbestände des Umweltstrafrechts Im Hinblick auf den als strafrechtlich relevant definierten Bereich umweltschädigender Verhaltensweisen ist als das wesentliche Ergebnis der Reform eine durch die Modifizierung der Strafbarkeitsvoraussetzungen bedingte grundlegende Veränderung der Deliktsstruktur der Straftatbestände des bundesdeutschen Umweltstrafrechts festzustellen. Wie dargelegt,94 waren die Straftatbestände des Umwelt(neben)strafrechts zunächst so konzipiert, daß nur der Verstoß gegen bestimmte verwaltungsrechtliche Ge- oder Verbote als strafbar definiert wurde - und dies auch nur dann, wenn es zu einer konkreten Gefährdung von Leib, Leben oder Sachen von bedeutendem Wert gekommen war. In der Folgezeit wurde zum einen die Beschränkung auf bestimmte Tathandlungen gelockert, vor allem aber auf das mit nicht unerheblichen Nachweisschwierigkeiten behaftete und den Strafbarkeitsbereich erheblich einschränkende Erfordernis einer konkreten Gefährdung bestimmter Rechtsgüter verzichtet, mithin vom Typus her als abstrakt gefährlich definierte Verhaltensweisen als solche unter Strafe gestellt. 95 Begründet wurde die Reduzierung der Strafbarkeitsvoraussetzungen mit der in der praktischen Anwendung erwiesenen Ineffektivität der Normen. 96 Bedenken dahingehend, daß die Reduzierung der Strafbarkeitsvoraussetzungen möglicherweise zu einer illegitimen Pönalisierung führen könnte, sind soweit ersichtlich allein im Rahmen der Beratungen des Rechtsausschusses des Bundestages artikuliert worden. Die im Bericht des Rechtsausschusses nur kurz erwähnten Bedenken einer Minderheit, "das Rechtsinstitut der abstrakten Gefährdungsdelikte in diesem Umfang im Bereich des Umweltschutzes einzusetzen",97 sind von der Mehrheit allerdings nicht geteilt worden - im Gegenteil: "Die Mehrheit begrüßt es auch, daß der Entwurf, wie bereits zum Teil das geltende Recht, die Tatbestände, soweit wie möglich, als abstrakte Gefahrdungsdelikte ausgestaltet. Erfahrungen mit früheren gesetzlichen Regelungen und gleichartige Erfahrungen im Ausland hätten gezeigt, daß ein effektiver strafrechtlicher Umweltschutz durch konkrete Gefahrdungsdelikte regelmäßig nicht zu erreichen sei. Der Verzicht auf den oft äußerst schwierigen Nachweis einer konkreten Gefährdung oder Schädigung ermögliche es auch, das Problem der kumulativen Umweltbelastung sachgerecht zu lösen. Beim abstrakten Gefahrdungsdelikt werde nämlich lediglich ein bestimmtes Verhalten unter Strafe gestellt, ohne daß es auf den Eintritt einer Gefahr oder eines Schadens ankomme. Beim abstrakt-konkreten Gefahrdungsdelikt reiche die generelle Kausalität aus. Erleichtert werde damit auch der Nachweis tatbestandsmäßigen Verhaltens. Die Mehrheit ist der Auffassung, daß allein diese weitgehende Ausgestaltung der Tatbestände der Bedeutung des Rechtsguts gerecht werde.,,98 Vgl. oben S. 111 ff. 95 Vgl. Heine, Vollzugsdefizite, S. 22; Weigend, Festschrift für Triffterer, S. 696 f. sowie ausdrücklich BT-Drucks. 8/2382, S. 19 f. bzgl. der §§ 327, 328 dStGB. 96 Vgl. z. B. BT-Drucks. 8/2382, S. 16/17 bzgl. § 326 dStGB. 97 BT-Drucks. 8/3633, S. 22. 94

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Blickt man auf die Strafrechtswissenschaft, ist festzustellen, daß sowohl die Frage der grundsätzlichen Strafwürdigkeit umweltschädigender Verhaltensweisen als auch die Auseinandersetzung mit der Ausgestaltung dieser Straftatbestände erst mit der Überführung einiger dieser Tatbestände in das StGB zu einer Thematik wurde, die auch außerhalb eines kleinen Kreises von Spezialisten für erörterungswürdig erachtet wurde. 99 Ein positiv zu bewertender Effekt der Überführung einiger Normen des Umwelt(neben)strafrechts in das StGB dürfte damit jedenfalls darin zu sehen sein, daß die - von einigen Autoren 100 mit dieser Verlagerung als Hoffnung verknüpfte - "verstärkte wissenschaftliche Beschäftigung und Durchdringung" dazu beitragen kann, daß diese, ihrer Struktur nach für das Nebenstrafrecht geradezu prototypisch anmutenden Tatbestände zum Gegenstand strafrechtswissenschaftlicher Forschung geworden sind.

4. Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität umweltstrafrechtlicher Normen Festzuhalten ist, daß sich die Strafrechtswissenschaft einer eingehenden Diskussion der sich aus der Modifizierung bzw. Reduzierung der Zurechnungsvoraussetzungen ergebenden Veränderung der Deliktsstrukturen umweltstrafrechtlicher Normen bisher weitgehend entzogen und sich stattdessen auf die Erörterung der Frage konzentriert hat, welche Rechtsgüter durch die Straftatbestände des Umweltstrafrechts geschützt werden sollen bzw. legitimerweise geschützt werden können. Der Ansatz, strafrechtliche Normen über den Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes zu legitimieren, ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts soweit ersichtlich erstmalig von Birnbaum entwickelt worden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere durch Arbeiten Bindings, hat sich in der deutschen Strafrechtswissenschaft dann die Auffassung etabliert, daß der Kern bzw. das materiale Substrat strafbarer Handlungen in der Beeinträchtigung (Verletzung oder Gefahrdung) eines Rechtsguts liege, die Aufgabe des staatlichen Strafrechts mithin im Rechtsgüterschutz zu sehen sei. 101 Als Konsequenz der besonderen Bedeutung, die dem Rechtsgutsgedanken in der Strafrechtswissenschaft derzeit beigemessen wird, soll es für die Legitimität von Strafrechtsnormen wesentlich darauf ankommen, ob die BT-Drucks. 8/3633, S. 21/22. Kritisch zur stiefmütterlichen Behandlung des Nebenstrafrechts durch die Strafrechtswissenschaft - bezogen auf das Betäubungsmittelstrafrecht - Peter Albrecht, BtmStrafR, Ein\. Rdnr. 8; Kreuzer, Festschrift für Miyazawa, S. 178. 100 Laufhütte/Möhrenschlager, ZStW 92 (1980), 912, 914; Tiedemann, Neuordnung, S. 18/19; kritisch hierzu: Steindorf, in: LK, Vor § 324 Rdnr. 4. 101 Hurtado Pozo, Partie generale, Rdnrn. 31 ff. m. w. N. Zur Dogmengeschichte der Rechtsgutstheorie vg\. i.e. die umfassenden Arbeiten von Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft; Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens; Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs "Rechtsgut". 98 99

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

jeweils in Frage stehenden Straftatbestände dem Schutz eines als strafwürdig anzuerkennenden Rechtsgutes dienen. Der durch die Ausgestaltung der Zurechnungsvoraussetzungen bedingten Deliktsstruktur wird demgegenüber eine al1enfal1s nachrangige Bedeutung zugestanden, die sich im wesentlichen darin erschöpfen sol1, die Art und Weise der über den Rechtsgutsgedanken als grundsätzlich legitim erwiesenen Anwendung strafrechtlichen Zwangs technisch auszugestalten. 102 a) Rechtsgüterschutz im geltenden bundesdeutschen Umweltstrafrecht

Die Suche nach "dem" Rechtsgut der de lege lata gelt~nden Straftatbestände des bundesdeutschen Umweltstrafrechts ergibt, daß die §§ 324 ff. dStGB selbst eine in sich konsistente Rechtsgutskonzeption nur bedingt erkennen lassen. 103 Zwar war in der Begründung des Entwurfs hervorgehoben worden: "Der Lebensraum und die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen - und zwar sowohl des einzelnen Menschen, als auch der gesamten Bevölkerung - verdienen den strafrechtlichen Schutz und die Beachtung, die im Kernbereich des Strafrechts zum Schutze der klassischen, insbesondere individualrechtlichen Rechtsgüter seit langem selbstverständlich sind. Der strafrechtliche Schutz darf sich nicht allein auf den Schutz menschlichen Lebens und menschlicher Gesundheit vor den Gefahren der Umwelt beschränken; er muß auch den Schutz elementarer Lebensgrundlagen wie Wasser, Luft und Boden als Bestandteile menschlichen Lebensraumes einbeziehen und solche ökologischen Schutzgüter auch als Rechtsgüter anerkennen. Die Tatbestände des Lebens- und Gesundheitsschutzes im Strafgesetzbuch, mit denen auch Fälle von umweltschädigendem Verhalten geahndet werden können, reichen nicht aus. Eine Ergänzung und Erweiterung des Strafrechts, wie dies zunehmend schon in den verwaltungsrechtlichen Umweltschutzgesetzen, insbesondere in den letzten Jahren vorgenommen wurde, ist daher unumgänglich. " 104

Ergänzend hierzu war in der Begründung zur Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses ausgeführt worden: "Durch den Gesetzentwurf werden die wichtigsten Straftatbestände gegen die Umwelt aus dem Nebenstrafrecht in das Strafgesetzbuch übernommen. Damit soll mehr als bisher der sozialschädliche Charakter von Umweltstraftaten in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt werden. Denn der Schutz von Wasser, Luft, Boden usw. ist für die Erhaltung des Lebensraumes unabdingbar und hat einen hohen Stellenwert. Daher kann kein Zweifel bestehen, daß die ökologischen Schutzgüter Rechtsgüter sind, die den klassischen, mehr individuellen Rechtsgütern des Strafgesetzbuches, wie Leben, Gesundheit, Eigentum gleichwertig sind. Diese Gleichstellung wird deutlicher, wenn die Straftatbestände zum Schutz der Umwelt in das Kernstrafrecht des Strafgesetzbuches eingestellt werden. Damit kommt auch das staatliche Unwerturteil verstärkt zum Ausdruck."IOS Näher hierzu unten Kapitel 6 und 7. Die unübersichtliche und uneinheitliche Struktur des Umweltstrafrechts ist bereits für den im wesentlichen durch das 18. StrÄG geschaffenen Rechtszustand beanstandet worden; vgl. Maurachl Schroeder 1Maiwald, StrafR BT, Teilbd. 2, § 58 Rdnrn. 12 ff. 104 BT-Drucks. 8/2382, S. 91 10. 102

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Der in den Gesetzgebungsmaterialien zum Ausdruck kommende Wille, durch die §§ 324 ff. dStGB (i.d.F. des 18. StrÄG) "die besonders wichtigen umweltrelevanten Bereiche", "vor allem die Gewässer, Luft, Boden sowie ökologisch besonders bedeutsamen Bestandteile des Naturhaushaltes" strafrechtlich zu schützen, 106 hat dann aber im Gesetz selbst nur eingeschränkt Niederschlag gefunden. 107 Zwar werden Umweltmedien im Zusammenhang mit der Beschreibung des tatbestandlichen Verhaltens erwähnt. Konzipiert waren die Straftatbestände des Umweltstrafrechts aber entweder als Gefährdungsdelikte mit der alleinigen Schutzrichtung "Leben und Gesundheit des Menschen" oder aber mit der Zielsetzung sowohl ökologisch als auch anthropologisch orientierten Rechtsgütern Schutz zu gewähren. 108 Die Tendenz, Umweltgüter als eigenständige Rechtsgüter zu schützen, wurde konsequent allenfalls in § 324 dStGB für den Bereich des Gewässerschutzes verwirklicht. 109 Insgesamt gesehen stand damit bei den §§ 324 ff. dStGB (a.F.) eher der Individualgüterschutz im VordergrundY o Die Neufassung der §§ 324 ff. dStGB durch das 31. StrÄG vom 27. 6. 1994 111 hat an diesem Zustand in grundsätzlicher Hinsicht nichts geändert. 112 Auch jetzt sind im wesentlichen drei mehr oder weniger unverbunden nebeneinander stehende Strukturprinzipien zu erkennen: Zum einen sollen bestimmte Umweltmedien geschützt werden; 113 zum anderen werden bestimmte Tätigkeiten 114 und schließlich wird noch der Umgang mit bestimmten Stoffen 115 unter Strafe gestellt. Die Straftatbestände, die auf den Umgang mit bestimmten, als gefährlich eingestuften Stoffen abstellen, dienen in erster Linie dem Schutz von Individuairechtsgütern. Bei den §§ 328 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, 330a dStGB ergibt sich dies daraus, daß vorausgesetzt wird, daß durch den Umgang mit den dort genannten Stoffen entweder Gesundheit, Leib oder Leben eines anderen oder aber für den Täter fremde Sachen gefährdet werden. Die Bezugnahme auf den Schutz konkreter Individualrechtsgüter ist bei § 328 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 dStGB (Umgang mit Kernbrennstoffen) zwar nicht ausdrücklich ausgesprochen. Aus dem Zusammenhang mit § 328 Abs. I Nr. 2, Abs. 3 dStGB dürfte aber herzuleiten sein, daß bei der AusgeBT-Drucks. 8/3633, S. 19. Vgl. BT-Drucks. 8/2382, S. 10 f. 107 Vgl. i.e. Breuer, NJW 1988,2072,2074 ff. 108 Vgl. Rengier, NJW 1990,2506,2511 f. zu §§ 325, 326 dStGB a.F. 109 V gl. Kareklas, Rechtsgut, S. 117 f. 110 So auch die Einschätzung von Kareklas, Rechtsgut, S. 169 f. 111 Einunddreißigstes Strafrechtsänderungsgesetz - Zweites Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität - (31. StraÄndG - 2. UKG), BGBI. 1994, Teil I, S. 1440 ff. 112 So auch Breuer, JZ 1994, 1077, 1081 ff., 1088. 113 § 324: Gewässer; § 324a: Boden; § 325: Luft; § 329: Schutzgebiete. 114 §§ 325a, 329 Abs. 1 Satz I: Verursachung von Lärm, Erschütterungen und nichtionisierenden Strahlen; § 326: Abfallbeseitigung; § 327: Betreiben bestimmter Anlagen. 11S § 328: Umgang mit radioaktiven Stoffen, Gefahrstoffen i. S. d. Chemikaliengesetzes und gefährlichen Gütern; § 330a: Freisetzen von Giften. lOS

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9 Wohler.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

staltung des Tatbestands die Auffassung zugrunde lag, daß der Umgang mit Kernbrennstoffen per se eine (abstrakte) Gefahrdung der oben genannten Individualrechtsgüter beinhaltet. Durchbrochen wird das Prinzip, Individualrechtsgüter im Vorfeld einer Verletzung zu schützen, dadurch, daß in § 328 Abs. 3 dStGB auch eine Gefahrdung von "ihm (dem Tater) nicht gehörenden Tiere(n)" unter Strafe gesteilt wird. Aus der Abweichung von der Formulierung "oder fremde Sachen" ergibt sich, daß hier auch die Gefahrdung von herrenlosen Tieren ausreichen SOIl.116 Die Tatbestände, die bestimmte Tatigkeiten unter Strafe stellen, dienen teilweise dem Individualgüterschutz (§§ 325a Abs. 1, Abs. 2, 326 Abs. 1 Nr. 1-3 dStGB), teilweise dem Schutz von Umweltmedien bzw. Bestandteilen der Natur (§ 326 Abs. 1 Nr. 4 dStGB) und teilweise der Gewährleistung der Dispositions- und Entscheidungsbefugnis der zuständigen Genehmigungsbehörden (§ 327 dStGB).ll7 Darüber hinaus werden auch wieder ökologische Rechtsgüter geschützt, nämlich herrenlose Tiere (§ 325a Abs. 2 dStGB) und Schutzgebiete (§ 329 Abs. 1 Satz 1 dStGB). Bei den Straftatbeständen, die auf bestimmte Schutzobjekte abstellen, werden bestimmte Umweltmedien, 118 aber auch Individualrechtsgüter geschützt (§§ 324a Abs. 1 Nr. 1,325 Abs. 1, Abs. 2 LY.m. Abs. 4 dStGB). Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Das geltende bundesdeutsche Umweltstrafrecht scheint sowohl auf den Schutz klassischer Individualrechtsgüter abzuzielen, als auch auf den Schutz bestimmter UmweItmedien, wobei es sich zum Teil um elementare Lebensgrundlagen der Menschheit handelt (Wasser, Boden, Luft) zum Teil aber auch ökologische Werte geschützt werden sollen, bei denen der Bezug auf den Schutz elementarer Lebensgrundlagen der Menschheit nicht ohne weiteres ersichtlich ist. Bei einigen Strafttatbeständen stellt sich darüber hinaus die Frage, ob sie letztlich nicht bloßen Verwaltungsungehorsam als solchen unter Strafe stellen.

b) UmweltstrafrechtIiche Normen als Problem der Rechtsgutstheorie aa) Der Stand der Diskussion

Das oben skizzierte, relativ heterogen erscheinende Bild des geltenden bundesdeutschen Umweltstrafrechts findet eine Entsprechung in der Auseinandersetzung 116

Vgl. - zu parallel gelagerten Problemstellungen - Steindorf, in: LK, § 325 Rdnr. 12;

§ 325a Rdnr. 23.

ll7 So z. B. Tröndle, StGB, § 327 Rdnr. 1 sowie - zu § 327 StGB a.F. - Maurach I Schroeder/Maiwald, StrafR BT, Teilbd. 2, § 58 Rdnr. 20; Rengier, NJW 1990,2506,2513; Horn, Natur + Recht 1988,63,64; ders., NJW 1988,2335,2337; ders., in: SKStGB, § 327 Rdnr. 1. 118 §§ 324, 324a Abs. 1 Nr. 1: Wasser; § 324a Abs. 1 Nr. 2: Boden; § 325 Abs. 2: Luft; §§ 324a Abs. 1 Nr. 1, 325 Abs. 1: Flora und Fauna; § 329 Abs. 2, Abs. 3: Schutzgebiete. Durch die Legaldefinition in § 325 Abs. 4 dStGB bekommt der Schutz der Luft in § 325 Abs. 2 dStGB allerdings auch einen individualschützenden Charakter.

H. Das Umweltstrafrecht

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über die Frage, weIche Rechtsgüter überhaupt legitimerweise Schutzgut von Straftatbeständen des Umweltstrafrechts sein können. Im wesentlichen sind hier vier Auffassungen zu unterscheiden: Von einigen Autoren wird eine sog. (rein) ökologische Sichtweise vertreten. 1l9 Rechtsgut des Umweltstrafrechts sind nach dieser Auffassung die Umwelt und die ihr angehörenden Umweltgüter um ihrer selbst willen. Die Umwelt bzw. deren Bestandteile, insbesondere: Boden, Luft, Wasser, Flora und Fauna, werden als eigenständige Schutzgüter angesehen, unabhängig davon, ob ihr Schutz den Lebensbedingungen des Menschen dienlich ist oder nicht. 120 Im Gegensatz hierzu wurde - insbesondere von den Verfassern des Alternativentwurfes zum Strafgesetzbuch - eine rein anthropozentrische Sichtweise vertreten. 121 Schutzgut umweltstrafrechtlicher Normen sind nach dieser Auffassung allein die klassischen Individualrechtsgüter des Menschen, also insbesondere Leben und Gesundheit. 122 Die Umweltmedien (Luft, Boden, Wasser, Flora und Fauna) sind allein deshalb und nur in dem Maße schutzwürdige Handlungsobjekte strafrechtlicher Verbotsnormen, als diese dem Schutz menschlichen Lebens und menschlicher Gesundheit vor den Gefahren der Umwelt dienen. Diese, zwischenzeitlich in der aktuellen Diskussion weitgehend nicht mehr vertretene Auffassung, hat jüngst durch die von Hohmann propagierte Anwendung der personalen Rechtsgüterlehre Hassemers eine Renaissance erfahren. 123 Insbesondere von Verwaltungsrechtlern wird die Auffassung vertreten, daß im Hinblick auf die Notwendigkeit, umweltstrafrechtliche Normen auf die jeweils zugrundeliegenden umweltverwaltungsrechtlichen Vorgaben abzustimmen (Stichwort: Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts), als Rechtsgut umweltstrafrechtlicher Normen allein die behördlich verwaltete Umwelt in Betracht kommen könne. Schutzgut der Umweltstrafnormen soll hiernach z. B. der von den VerwaJtungsbehörden definierte Zustand eines Gewässers sein 124 bzw. die Dispositionsbefugnis der Wasserbehörden, den Wasserhaushalt zum Wohle der Allgemeinheit und im Einklang damit zum Nutzen der einzelnen Bürger in optimaler Weise zu ordnen und zu bewirtschaften. 125 Zu den ethischen Grundlagen vgl. die Darstellung bei Hohmann, Rechtsgut, S. 74 ff. Arzt, Kriminalistik 1981, 117, 120; Ettler, Kommentar USG, Vorbemerkungen zu Art. 60-62 Rdnr. I; Maurach/Schroeder/Maiwald, StrafR BT, Teilbd. 2, § 58 Rdnr. 19; Schünemann, Festschrift für Triffterer, S. 452 f.; Weber, in: Arzt/Weber, BT, LH 2, Rdnrn. 356 f. und wohl auch Krey, StrafR BT I, Rdnr. 813. 121 Alternativ-Entwurf, S. 49; vgl. hierzu auch: Backes, JZ 1973,337, 340 f.; Baumann, ZfW 1973,63,70 ff.; Kareklas, Rechtsgut, S. 92 ff. 122 Vgl. z. B. Baumann, ZfW 1973,63,67; Schmidhäuser, StrafR BT, 15/47. 123 Vgl. Hohmann, Rechtsgut, S. 179 ff., 195; ders., GA 1992,76,84. 124 Vgl. z. B. Papier, Natur + Recht 1986, 1,2 f. 125 So Wachenfeld, Minimierungsgebot, S. 48 ff., unter Bezugnahme auf Rudolphi, NStZ 1984, 193, 195, der dieser Auffassung allerdings wohl nicht ohne weiteres zugerechnet werden kann. 119

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

Im strafrechtlichen Schrifttum herrschend ist eine als ökologisch-anthropologisch bezeichnete Sichtweise. Die Bestandteile der natürlichen Umwelt, also: Luft, Boden, Wasser, Flora und Fauna, werden einerseits - im Anschluß an die oben zitierten Materialien zum 18. StrÄG 126 - als eigenständige Rechtsgüter anerkannt. Andererseits sollen die ökologischen Rechtsgüter nicht um ihrer selbst willen geschützt werden, sondern als Bestandteile des menschlichen Lebensraumes und als Garanten für den Fortbestand der elementaren Lebensgrundlagen des Menschen als Gattung. Hieraus folgt dann, daß der Schutz einer bestimmten Pflanzen- oder Tierart nicht damit begründet werden kann, daß diese Art um ihrer selbst willen erhalten bleiben soll. Strafrechtswürdig ist der Schutz nur dann, wenn die Weiterexistenz dieser Art den Lebens- und Überlebensinteressen des Menschen entspricht. 127

bb) Strafrechtlicher Schutz ökologischer Werte als Zweck an sich

Die mit einer rein ökologischen Sichtweise notwendigerweise verbundene Annahme, der belebten und unbelebten Natur als solcher, einzelnen Bestandteilen der Natur bzw. natürlichen Umwelt ständen eigene Rechte zu, steht in Widerspruch zu der de lege lata geltenden Rechtsordnung, die grundsätzlich allein Menschen und die in gleicher Weise am Rechtsverkehr teilnehmenden juristischen Personen, nicht aber Tiere, Pflanzen oder Bestandteile der unbelebten Natur als Träger von Rechten anerkennt. 128 De lege ferenda wäre es zwar rein rechtstechnisch gesehen ohne weiteres denkbar, den Kreis der Träger von Rechten auszuweiten. 129 Eine Rechtsordnung, die auch Naturbestandteile als Träger eigener Rechte anerkennt, wäre aber nicht nur mit dem herrschenden anthropozentrischen Welt- und Gesellschaftsbild nicht zu vereinbaren; 130 sie würde darüber hinaus das grundlegende Problem heraufbeschwören, Rechtssubjekte anerkennen zu wollen, ohne diese gleichzeitig auch als Adressaten korrespondierender Rechtspflichten in Anspruch nehmen zu Vgl. BT-Drucks. 8/2382, S. \, 9 ff.; 8/3633, S. 19. Bloy ZStW 100 (\ 988),496,498; ders., JuS 1997,577,578 ff.; eramer, in: Schönkel Schröder, Vorbem. §§ 324 ff. Rdnr. 8; Jenny 1Kunz, Bericht, S. 49; Kühl, Rechtsgüter, S. 261 ff.; ders., in: Lackner, Vor § 324 Rdnr. 7; Meurer, NJW 1988,2065,2067; Rengier, NJW 1990,2506,2515; Rogall, Festschrift Universität Köln, S. 511 f.; Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 22; Steindorf, in: LK, Vor § 324 Rdnrn. 12 ff., 18; Tröndle, StGB, Vor § 324 Rdnr. 3; Wesseis, StrafR BTl, Rdnr. 1019; vgl. auch BGH JR 1987,470,472 mit zust. Anm. Schmoll er und Anm. Rudolphi, NStZ 1987, 324, 325 f. 128 Vgl. Hohmann, Rechtsgut, S. 93 f., 101 f.; Müller-Tuckfeld, Abschaffung, S. 462; VG Hamburg, NVwZ 1988, 1058. 129 Vgl. Birnbacher, Natur, S. 122; Leimbacher, Rechte, S. 59 ff.; ders., Universitas 1994, 106,114 f. 130 Vgl. Kareklas, Rechtsgut, S. 10 ff., 114; Hohmann, Rechtsgut, S. 110. Auch der Ansatz, "Rechte" aus "Interessen" abzuleiten, kann allenfalls "Tier-Rechte" begründen, scheitert aber bei nicht empfindungsfähigen Bestandteilen der Natur, vgl. Birnbacher, Natur, S. 71; Schöne-Seifert, Rechte, S. 79. 126 127

II. Das Umweltstrafrecht

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können. 13l Im Ergebnis würde die Rechtsordnung damit die Funktion verlieren, grundlegende Regelungen für die soziale Kooperation originär-moralischer Subjekte l32 zu begründen. 133 Der Versuch, die Rechtsordnung über die Regelung des sozialen Miteinanders hinaus zu einer auch die ökologisch-naturwissenschaftliche Weltordnung umfassenden Gesamtregelung weiterzuentwickeln, würde im übrigen auch die Grenzen dessen sprengen, was eine von Menschen gesetzte Ordnung überhaupt zu leisten vermag. Eine ökologische Rechtsordnung müßte, wollte man nicht den von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuch unternehmen, die Entwicklung der Welt zum Stillstand zu bringen, um so den status quo zu konservieren, zunächst einmal Maßstäbe für die Bewertung bestimmter Entwicklungen besitzen. Aufgrund des notwendigerweise nur unzureichenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisstandes der Menschheit und der Unmöglichkeit, den Faktor ,.Mensch" - auch nur gedanklich - aus dem Prozeß der Entwicklung des Planeten Erde herauszurechnen, 134 wäre es bereits rein praktisch unmöglich, abschließende Entscheidungen darüber zu treffen, ob bestimmte, großräumig ablaufende Entwicklungen als Teil der natürlichen Entwicklung schützenswert wären, oder aber bekämpft werden müssen, weil es sich um unnatürliche Eingriffe in die natürliche Entwicklung handelt. 135 Da man nicht mit der Natur, sondern nur über diese kommunizieren kann,136 ist es unabdingbar, daß der Mensch bzw. die für die Rechtsetzung zuständigen Organe der menschlichen Gesellschaft definieren, welche Rechte der Natur bzw. einzelnen (ggf. welchen?)137 Bestandteilen der Natur zukommen und wie notwendigerweise 131 Zur notwendigen Korrespondenz von Rechten und Pflichten vgl. Krawietz, Festschrift für Stree/Wessels, S. 34; a.A. Leimbacher, Rechte, S. 50 f. In älteren Rechtsordnungen war diesem Grundsatz dadurch Rechnung getragen worden, daß beispielsweise auch Tiere als Adressaten von (Rechts-)Pflichten behandelt und folgerichtig unter anderem "bestraft" werden konnten, vgl. Höffe, Moral, S. 219 f.; Vogel-Etienne, Tierschutz, S. 78 ff., wo allerdings in Abrede gestellt wird, daß hierbei die Vorstellung der Rechtssubjektivität der Tiere maßgebend war. 132 Zu den Mindestvoraussetzungen für die Anerkennung originärer moralischer Subjekte vgl. beispielsweise Papageorgiou, Schaden, S. 197 ff.; Rawls, Theorie, S. 548 ff. 133 Vgl. Hirsch, Bekämpfung, S. 16; Roxin, JuS 1966,377,381; ders., StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 9; Rudolphi, Festschrift für Honig, S. 159 f.; ders., in: SKStGB, Vor § I Rdnr. I. Einzuräumen ist, daß nach der hier vertretenen Auffassung die Legitimation des Straftatbestands der Tierquälerei allenfalls als eine Ausnahmevorschrift zu begründen ist, vgl. hierzu die Diskussion bei Merke\, Strafrecht, S. 285 ff., 310, der dafür eintritt, das "Dogma, Strafrecht dürfe ausschließlich menschliche Interessen oder Bedingungen menschlichen Soziallebens schützen" insoweit zu modifizieren. 134 Vgl. Höffe, Moral, S. 105 f.; Saladin, recht 1/1989, I: Der Mensch habe schon immer in die Natur eingegriffen; neuartig seien allein die Art und Weise sowie das Ausmaß der Eingriffe. 135 Vgl. Fetscher, Festschrift für Maihofer, S. 146: Es könne nur darum gehen, Eingriffe in die Natur zu steuern, nicht aber darum, diese zu unterlassen. 136 Krawietz, Festschrift für Stree/Wesels, S. 34 sowie - aus diskursethischer Perspektive - Ott, Begründung, S. 327 f.: Es handele sich um "advokatorische Diskurse", die Natur habe die Rolle eines "moral patient" inne.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

auftretende Konflikte zwischen den Rechtspositionen der Natur und Rechtspositionen natürlicher oder juristischer Personen zu lösen wären. 138 Es geht also nicht um Rechte der Natur, sondern vielmehr um die Verantwortlichkeit des Menschen für die Natur. 139 Ökologische Schutzgegenstände werden nicht als naturgegeben vorgefunden, 140 sondern nach spezifischen Standards normativ definiert. 141 Vor diesem Hintergrund muß es dann aber auch im Hinblick auf den Schutz der Umwelt dabei bleiben, daß die Rechtsordnung nicht als Instrument zur Durchsetzung bestimmter Moralvorstellungen, sondern allein dazu dienen darf, die in einer konkreten geschichtlichen Entwicklungsstufe notwendigen Voraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenleben einzelner Individuen durch die Errichtung einer Zwangsordnung zu gewährleisten. Der Sinn und Zweck umweltstrafrechtlicher Normen darf sich dann aber nicht darin erschöpfen, bestimmte, moralisch determinierte Wertvorstellungen um ihrer seIbst willen umzusetzen, sondern muß vielmehr darin gesehen werden, die für den Menschen als Bestandteil der Gattung homo sapiens notwendigen Umweltbedingungen - in dessen aufgeklärtem Selbstinteresse 142 - vor Beeinträchtigungen zu schützen. 143 Der Einwand, der Mensch sei als Teil der Schöpfung zwingend darauf angewiesen, daß die Natur in ihrer ineinander verwobenen Gesamtheit erhalten bleibe, läßt außer acht, daß die Existenz der menschlichen Gemeinschaft das Aussterben unzähliger Pflanzen- und Tierarten überlebt und auch das als Teil der Gesamtentwicklung anzusehende Verhalten der Mensch131 Vgl. hierzu Hohmann, Rechtsgut, S. 98, der zu Recht darauf hinweist, daß etwa auch das Aids-Virus bzw. das Pocken virus entsprechende "Rechte" haben könnten bzw. haben müßten; vgl. auch Arthur Kaufmann, Festschrift für Spende!, S. 63 ff.; Schreiber, Herausforderung, S. 15. 138 Fetscher, Festschrift für Maihofer, S. 141 f.; Hohmann, Rechtsgut, S. 95 ff.; Kareklas, Rechtsgut, S. 15 f.; Kindhäuser, Festschrift für Helrnrich, S. 970 f., 978 f.; Kühl, Rechtsgüter, S. 261; Lüderssen, zitiert nach; Vitt, ZStW 105 (1993), 803, 807; Müller-Tuckfeld, Abschaffung, S. 462; Schreiber, Herausforderung, S. 14; vgl. auch Singer, Ethik, S. 173 ff. 139 Krawietz, Festschrift für Stree 1Wesseis, S. 37; vgl. auch Leimbacher, Universitas 1994,106,111/112; Vogel-Etienne, Tierschutz, S. 172 f. 140 Vgl. Stratenwerth, Rektoratsrede, S. 13, mit dem zutreffenden Hinweis darauf, daß es so etwas wie eine "unberührte" Natur nie gegeben hat; ders., ZStW 105 (1993), 679, 683; vgl. auch Schreiber, Herausforderung, S. 15, sowie Krawietz, Festschrift für Stree 1 Wesseis, S. 32: "naturalistischer Fehlschluß". 141 Keller, ZStW 107 (1995), 457, 476 Anm. 71; Tiedemann, Neuordnung, S. 28. 142 Vgl. Birnbacher, Natur, S. 132 ff.; Geddert-Steinacher, Umweltschutz, S. 35; Höffe, Moral, S. 211 ff.; Schreiber, Herausforderung, S. 15; Vest/Ronzani, Landesbericht, S. 443 m. w. N. 143 Bloy, JuS 1997,577,579 f.; vgl. auch Singer, Ethik, der zutreffend darauf hinweist, daß erstens auch eine anthropozentrische Sichtweise den Schutz der Natur verlangt (a. a. 0., S. 340 f., 346 f.) und es - zweitens - auch den Vertretern ökologischer Konzeptionen in der Sache letztlich darum gehe, eine stärkere Betonung ökologischer Aspekte gerade gegenüber ökonomischen Belangen durchzusetzen (a. a. 0., S. 350 ff.). Daß diese Einschätzung wohl zutreffend ist, zeigt sich beispielhaft an den Ausführungen von Leimbacher, Rechte, S. 112 ff. und passim; vgl. auch Tribe, Plastikbäume, S. 56 ff.

11. Das Umweltstrafrecht

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heit notwendigerweise zu Eingriffen in den Ablauf der Entwicklung des Planeten Erde führen muß, was wiederum auch zukünftig zum Verschwinden weiterer Spezies bzw. zu einer mehr oder weniger grundlegenden Umgestaltung der unbelebten Natur führen muß und führen wird. l44 Herzustellen wäre der strafbewehrte Verbotsnormen legitimierende Sozialbezug nur dadurch, daß man die belebte Natur als überlebensnotwendige Genquelle bzw. die unbelebte Natur als in ihrer Gesamtheit unverzichtbaren Lebensraum der Menschheit anerkennen würde. 145 Diese Sichtweise wäre dann aber schon nicht mehr ökologisch, sondern anthropozentrisch ausgerichtet. 146

ce) Strafrechtlicher Schutz der Entscheidungsprärogative der Verwaltung

Argumentativer Ansatzpunkt der Vertreter der sog. administrativen Sichtweise, die das Rechtsgut etwaiger Umweltstrafnormen im Schutz der behördlich verwalteten Umweltgüter sehen wollen, ist die Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts. Mit Ausnahme des § 330a dStGB werden die von den Straftatbeständen des bundesdeutschen Umweltstrafrechts erfaßten Verhaltensweisen jeweils unter Bezugnahme auf Regelungen des Umweltverwaltungsrechts bestimmt. So muß der Täter "unter Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten" (§§ 324a, 325, 325a, 326 Abs. 3 dStGB), "außerhalb einer ... zugelassenen Anlage oder unter wesentlicher Abweichung von einem vorgeschriebenen oder zugelassenen Verfahren" (§ 326 Abs. 1 dStGB) oder "entgegen einem (vollziehbaren) Verbot" bzw. "ohne die erforderliche Genehmigung" (§§ 326 Abs. 2, 327, 328, 329 dStGB) gehandelt haben. Trotz der unterschiedlichen Formulierungen stimmen diese Einschränkungen des Strafbarkeitsbereiches der Sache nach im wesentlichen überein, da sich gemäß § 330d Nr. 4 dStGB eine "verwaltungsrechtliche Pflicht" aus Rechtsnormen, gerichtlichen Entscheidungen, öffentlich-rechtlichen Verträgen und insbesondere Verwaltungsakten ergeben kann. Bei § 324 dStGB fehlt eine entsprechende Beschränkung des Bereichs strafbaren Verhaltens, so daß grundsätzlich erst einmal jede Verhaltensweise erfaßt ist, durch die "ein Gewässer verunreinigt oder sonst dessen Eigenschaften nachteilig verändert" wird. Widersprüche zu den Wertungen der Primärrechtsordnung werden hier dadurch vermieden, daß eine verwaltungsrechtliche Genehmigung die Strafbarkeit ausschließt, weil das Verhalten des Taters, wenn es durch eine entsprechende verwaltungsrechtliche Bewilligung oder Erlaubnis gedeckt wird, nicht als "unbefugt" anzusehen ist. Unabhängig davon, ob die Verwaltungsrechtskonformität des potentiell strafbaren Verhaltens bereits die Tatbestandsmäßigkeit ausschließt oder aber einen Recht144 Daß Ausmaß der aktuellen Umweltprobleme und auch das Tempo des Artensterbens sind kein qualitativ. sondern vielmehr ein quantitativ "neues" Problem, vgl. Höffe, Moral, S. 111 ff. 145 In dieser Richtung wohl Rengier NJW 1990, 2506, 2514. 146 Steindorf, in: LK, Vor § 324 Rn. 13; vgl. auch Feinberg, Rechte der Tiere, S. 158.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

fertigungsgrund darstellt 147 und unabhängig davon, ob auf die nonnative Rechtslage (Verwaltungsrechtsakzessorietät) oder auf die durch Einzelentscheidungen der Verwaltung entstandene Rechtslage (Verwaltungsaktsakzessorietät) abzustellen ist,148 macht die Abhängigkeit des Umweltstrafrechts von den Vorgaben des Umweltverwaltungsrechts dieses in seiner Effektivität von den zugrundeliegenden verwaltungsrechtlichen Regelungen und der diese Regelungen umsetzenden Verwaltungspraxis abhängig. 149 Offensichtlich ist dies insbesondere dort, wo nur das Handeln entgegen einer verwaltungsrechtlichen Anordnung den Tatbestand erfüllt, oder das Innehaben einer Genehmigung ein tatbestandsmäßiges Verhalten oder aber die Rechtswidrigkeit ausschließt. Ist im ersten Fall eine verwaltungsrechtliche Verbotsverfügung nicht erlassen bzw. im zweiten Fall eine verwaltungsrechtlich gesehen rechtswidrige Genehmigung erteilt worden, werden von der im Umwe1t147 Während eine Genehmigung bei § 324 dStGB nahezu unstreitig als ein die Rechtswidrigkeit umweltschädigenden Verhaltens ausschließender Rechtfertigungsgrund angesehen wird (Cramer, in: Schönke/Schröder, Vorbern. §§ 324 ff. Rdnr. 11 f.; Horn, in: SKStGB, Vor § 324 Rdnr. 12; § 324 Rdnr. 6; Steindorf, in: LK, § 324 Rdnr. 72 ff.; Tröndle, StGB, Vor § 324 Rdnr. 4b; § 324 Rdnr. 7; vgl. aber auch Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 37, der zumindest für bestimmte Fallgruppen eine Zuordnung des Merkmals zum Tatbestand befürwortet; w.N. zu abweichenden Ansichten bei Heine/Meinberg, Gutachten, D 46 Fußn. 90; gleiches muß im Hinblick auf das in § 326 dStGB enthaltene Merkmal des "unbefugten" HandeIns gelten; vgl. Steindorf, in: LK, § 326 Rdnr. 133), wird das Verhalten "unter Verletzung verwaltungsrechtIicher Pflichten" bei den §§ 324a ff. StGB von der h.M. durchgängig als ein Merkmal des objektiven Tatbestands verstanden (Cramer, in: Schönke I Schröder, Vorbem. §§ 324 ff. Rdnr. 13; Kühl, in: Lackner, § 325 Rdnr. 5; Scheele, Bindung, S. 31 f.; Steindorf, in: LK, § 325 Rdnr. 26; Tiedemann/Kindhäuser, NStZ 1988, 337, 342 f.; Tröndle, StGB, § 330d Rdnr. 5, Vor § 324 Rdnr. 4b; Wimmer, JZ 1993,67,68; Winkelbauer, Verwaltungsakzessorietät, S. 20 ff.; a.A. Lenckner, Festschrift für Pfeiffer, S. 40 ff.; Horn, UPR 1983,362, 366, die für eine Einordnung als objektive Bedingung der Strafbarkeit eintreten), während andere Autoren danach unterscheiden wollen, ob ein Tatbestand auch ohne Rekurs auf die Verletzung verwaltungsrechtIicher Pflichten einen ausreichend substantiierten Unrechtssachverhalt umschreibt, oder aber das Handeln gegen ein Verbot bzw. ohne Genehmigung als Indikator für die strafwürdige Sozialschädlichkeit unverzichtbar erscheint (Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 27 ff.; Rengier, ZStW 101 (1989),874,878 f.). Letztlich dürften beide Auffassungen zu keinen wesentlich abweichenden Ergebnissen führen. Maßgebend hierfür ist, daß man einen auf die Verletzung verwaltungsrechtIicher Pflichten verzichtenden Unrechtssachverhalt im Bereich umweltschädigenden Verhaltens nur dann als in sich hinreichend substantiiert wird ansehen können, wenn die zugrundeliegende Verhaltsensweisen von der Primärrechtsordnung per se mißbilligt, mithin verwaltungsrechtlich einem repressiven Verbot (mit Befreiungsvorbehalt) unterworfen werden. Gehört eine Verhaltensweise dagegen dem Bereich der grundrechtlich geschützten, aber einem präventiven Kontrollvorbehalt der Verwaltung unterworfenen Freiheitssphäre an, dürfte die Verletzung verwaltungsrechtIicher Pflichten regelmäßig ein für die Sozialschädlichkeitswertung unverzichtbarer Indikator sein. 148 Zu dieser Unterscheidung vgl. Breuer DÖV 1987, 169, 179; ders., NJW 1988,2072, 2078; ders., JZ 1994, 1077, 1083 f.; Bergmann, Strafbewehrung, S. 21 ff., 34 ff.; Jennyl Kunz, Bericht, S. 58 f.; Rogall, GA 1995,299,302 f.; Scheele, Bindung, S. 19 ff.; Vest/Ronzani, Landesbericht, S. 463. 149 Die Vollzugsdefizite des Umweltstrafrechts sind insoweit (auch) durch die normative Struktur des Umweltstrafrechts bedingt, vgl. Kunz, recht 1/1990, 15, 17.

11. Das Umweltstrafrecht

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verwaltungsrecht kodifizierten Primärrechtsordnung nicht gebilligte Beeinträchtigungen der Umwelt durch rechtsfehlerhaftes Verhalten der Verwaltung straflos gestellt. Die Abhängigkeit besteht aber auch dort, wo das tatbestandliche Verhalten einen Verstoß gegen bestimmte umweltrechtliche Regelungen (i.d.R.: gegen Rechtsverordnungen) voraussetzt. Werden z. B. die von den Umweltstrafnormen in bezug genommenen Rechtsverordnungen nicht entsprechend den (natur)wissenschaftlichen Erkenntnissen auf den jeweiligen "Stand der Technik" aktualisiert, sind wiederum Verhaltensweisen, die der Sache nach inakzeptabel erscheinen, aufgrund von Versäumnissen der Exekutive oder, soweit es sich um Verweisungen auf gesetzliche Regelungen handelt, der Legislative straflos gestellt. Im strafrechtlichen Schrifttum wird die Verwaltungsakzessorietät von einigen Autoren als das entscheidende Hindernis für ein effektives Umweltstrafrecht gesehen. 150 Die Notwendigkeit der Verwaltungsakzessorietät umweltstrafrechtlicher Normen ergibt sich aber zwingend daraus, daß in hochindustrialisierten Gesellschaften wie denen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz auf viele unstreitig umweltschädigende Verhaltensweisen nicht verzichtet werden kann, weil diese entweder - wie z. B. die Energiegewinnung - für die Gesamtgesellschaft oder aber - wie z. B. der individuelle Kraftfahrzeugverkehr 151 - nach der (noch) vorherrschenden gesellschaftlichen Anschauung im Hinblick auf die Freiheitssphäre des einzelnen Gesellschaftsmitglieds unverzichtbar sind. Wenn aber ein umfassendes Verbot sämtlicher oder aber bestimmter umweltschädigender Verhaltensweisen angesichts des gegebenen gesellschaftlichen Umfelds nicht möglich ist, können von vornherein allein die nach der Primärrechtsordnung unzulässigen Beeinträchtigungen der Umweltmedien als strafwürdig definiert werden, wobei das Strafrecht dann, um das Entstehen einer in sich widersprüchlichen Gesamtrechtsordnung zu verhindern,152 zwingend die insoweit durch das jeweils einschlägige Zivil- und Verwaltungsrecht bereits vorgegebenen Wertungen zu berücksichtigen hat. 153 Eine Bestimmung der Strafwürdigkeitsgrenzen ohne ausdrückliche Inbezugnahme der verwaltungsrechtlichen Vorgaben könnte allenfalls bei schwerwie150 Vgl. z. B. Kühl, in: Lackner, Vor § 324 Rdnr. 3; Schall, wistra 1992, 1,4; ders., NJW 1990,1263,1265 f. 151 Vgl. Alkalay, Umweltstrafrecht, S. 31. 152 Dies ist der unstreitige Kerngehalt des Topos "Einheit der Rechtsordnung"; vgl. Rogall, GA 1995,299,308 f.; Scheele, Bindung, S. 65 f. m. w. N. 153 Appel, Verfassung, S. 431 ff.; Backes, ZRP 1975,229; Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 7 ff., 34 ff.; Breuer, NJW 1988, 2072,2078; Heine/Meinberg, GA 1990, 1, 13/14; Heine, NJW 1990, 2425,2426; Jenny 1Kunz, Bericht, S. 53 f.; Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 85 ff.; Kindhäuser, Festschrift für Helrnrich, S. 979 f.; Kuhlen, ZStW 105 (1993), 697, 709; Meurer, NJW 1988, 2065, 2068/2069; Rogall, Festschrift Universität Köln, S. 521; Scheele, Bindung, S. 25 f.; Schünemann, Festschrift für Triffterer, S. 443/444; Vest/Ronzani, Landesbericht, S. 463; vgl. auch Hassemer, Festschrift für Lenckner, S. 114 f., der allerdings der Auffassung ist, die "auf den Feldern des modernen Strafrechts vermutlich unausweichliche" VerwaItungsakzessorietät bedrohe "die Geltung strafrechtlicher Normen überhaupt".

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

genden umweltbeeinträchtigenden Verhaltensweisen in Betracht kommen, die wie etwa die de lege lata von § 330a dStGB erfaßten Verhaltensweisen - von vornherein und prinzipiell nicht erlaubnisfähig sind bzw. sein können. 154 Eine weitergehende genuin strafrechtliche Bestimmung strafwürdiger umweltschädigender Verhaltensweisen erscheint weder durchführbar noch - aus den oben genannten Erwägungen heraus - überhaupt erstrebenswert. 155 Trotz dieses Befundes wäre es aber verfehlt, das Rechtsgut umweltstrafrechtlicher Normen im Schutz der behördlich verwalteten Umweltgüter sehen zu wollen. Maßgebend hierfür sind zwei Erwägungen: Wenn das Rechtsgut umweltstrafrechtlicher Normen nicht in der Gewährleistung der für die Fortexistenz der für die Gattung homo sapiens notwendigen Umweltbedingungen, sondern vielmehr darin gesehen wird, die Entscheidungsprärogative der Exekutive bei der Bewirtschaftung von Umweltmedien sicherzustellen, wäre das geschützte Rechtsgut letztlich der Gehorsam gegenüber der Verwaltung. Da aber die Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen durch die Verwaltung kein Selbstzweck ist, sondern der Erhaltung der unverzichtbaren Lebensgrundlagen dienen soll, erscheint es sachgerecht, auch einen etwaigen strafrechtlichen Umweltschutz auf diesen Endzweck selbst zu beziehen. 156 Darüber hinaus wären Umweltgüter, die die Verwaltung nicht einem konkreten Regime unterstellt hat, aus dem strafrechtlichen Schutz entlassen,157 es sei denn, man würde - was dann allerdings die Inkonsequenz der administrativen Rechtsgutsdefinition offenbaren würde l58 - in diesen Fällen ersatzweise auf einen wie auch immer definierten "Naturzustand" abstellen.

154 Heine/Meinberg, GA 1990, 1, 13, 17 f.; Meinberg, 'ZStW 100 (1988), 112, 155; RogaB, Festschrift Universität Köln, S. 523; SchaB, wistra 1992, 1,4; Scheele, Bindung, S. 261 27; Tiedemann/Kindhäuser, NStZ 1988, 337, 342. Vgl. auch Alkalay, Umweltstrafrecht, S. 9/10 sowie Kunz, recht 1/1990, 15, 18: Ein etwaiger Verzicht auf die verwaltungsakzessorische Ausgestaltung müßte durch den Rückgriff auf konkrete Gefährdungsdelikte kompensiert werden. 155 A.A. Schünemann, wistra 1986,235,239 f.; ders., Festschrift für Triffterer, S. 444 ff. Sein Vorschlag, danach zu unterscheiden, ob die jeweils zugrundeliegende Verfügung mit Wirkung ex tunc oder nur ex nunc zurückgenommen werden könne (wistra 1986, 235, 240), verkennt, daß zivil- und öffentlich-rechtliche Rückwirkungsfiktionen für das Strafrecht ohne Bedeutung sind (so zutreffend: Rengier, 'ZStW 101 (1989),874,891; vgl. auch Scheele, Bindung, S. 38 ff., 43). Schünemann will den Bedenken gegen die Konsequenzen seines Standpunktes auf der subjektiven Ebene Rechnung tragen (vgl. Schünemann, Festschrift für Triffterer, S. 447 f.) Auch die im Schrifttum im Hinblick auf die Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. z. B. SchaB, NJW 1990, 1263, 1266; ders., wistra 1992, 1,5) greifen im Ergebnis nicht durch; vgl. BVerfGE 75, 329 ff. sowie aus der Literatur insbesondere Kühl, Festschrift für Lackner, S. 829 ff. 156 Vgl. Bloy, JuS 1997,577,578; Kuhlen, 'ZStW 105 (1993),697,705. 157 Kareklas, Rechtsgut, S. 105; RogaB, Festschrift Universität Köln, S. 511. 158 Kareklas, Rechtsgut, S. 105 Fußn. 50; Kasper, ErheblichkeitschweBe, S. 65; Rengier, NJW 1990, 2506, 2509; Wachenfeld, Minimierungsgebot, S. 47 f.

11. Das Umweltstrafrecht

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dd) Strafrechtlicher Schutz der Umwelt als Teil der Gewährleistung des status positivus

Gemeinsamer Ausgangspunkt der ökologisch-anthropologischen und der rein anthropologischen Auffassung zur Bestimmung des von den Straftatbeständen des Umweltstrafrechts geschützten Rechtsgutes ist die Prämisse, daß die Aufgabe des Strafrechts darin besteht, die notwendigen Voraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenleben freier Individuen zu gewährleisten. Strafrechtswürdige Rechtsgüter sind hiernach die angesichts des jeweils historisch gewachsenen sozialen Umfeldes als unverzichtbare Bedingungen personaler Entfaltung der Rechtsordnung vorgegebenen sozialen Werte. 159 Daß der Schutz der für die Fortexistenz der Gattung homo sapiens notwendigen Umweltmedien (Wasser, Luft, Boden) sowie der nichtmenschlichen biotischen Elemente des Naturhaushaltes kein sittlich-moralischer Selbstzweck ist, sondern angesichts der in der heutigen Gesellschaft bestehenden Gefährdungen der Erhalt dieser unverzichtbaren natürlichen Ressourcen eine soziale Aufgabe von hohem Rang darstellt, wird - soweit ersichtlich - allgemein anerkannt. 160 Wie bereits oben dargelegt, stellt neben der Abwehr von Eingriffen in die personale Freiheitssphäre auch die Gewährleistung der Grundvoraussetzungen für die Ausübung personaler Freiheit - und damit auch der Schutz der elementaren Umweltmedien - ein legitimes Ziel strafrechtlicher Nonnen dar. 161 Da die Straftatbestände des Umweltstrafrechts damit aber nicht dem Schutz der personalen Freiheitssphäre konkreter Personen zuzurechnender individueller Interessen dienen, sondern vielmehr auf die Gewährleistung überindividueller (kollektiver) Interessen abzielen, wird man das geschützte Rechtsgut nicht erst im (mittelbaren) Schutz der Individualrechtsgüter Leben, Leib und Gesundheit vor Beeinträchtigungen zu sehen haben, sondern muß das kollektive Interesse am Fortbestand der für die Existenz menschlicher Individuen unverzichtbaren Umweltbedingungen als ein eigenständiges kollektives Rechtsgut anerkennen. 162

Vgl. die Nachweise oben S. 132, Fußnote 127. Vgl. als Vertreter der ökologisch-anthropologischen Rechtsgutstheorie: Bloy, ZStW 100 (1988),485,496; Kareklas, Rechtsgut, S. 97; Kuhlen, ZStW 105 (1993),697,705; NoH, Universitas 1971, 1021 f.; als Vertreter der personalen Rechtsgutslehre: Hohmann, Rechtsgut, S. 196; ders., GA 1992, 76, 84. 161 Vgl. oben S. 94 ff. 159 160

162

Vgl. auch Zaczyk, Unrecht, S. 174: Umwelt als ein Element der vermittelten Freiheit.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

5. Zurechnungsprobleme im Anwendungsbereich umweltstrafrechtIicher Normen a) Die verwaltungsakzessorische Ausgestaltung

umweltstrafrechtlicher Normen

Die obigen Ausführungen haben ergeben, daß den Nonnen des Umweltstrafrechts mit der Sicherung der für das Überleben der Gattung homo sapiens notwendigen Umweltbedingungen eine für sich gesehen legitime Zielsetzung zugrunde liegt. Als problematisch erweist sich weniger das den Straftatbeständen des geltenden Umweltstrafrechts zugrundeliegende Rechtsgut als solches, als vielmehr die sich aus der - wie oben dargelegt: notwendigen - verwaltungsakzessorischen Ausgestaltung dieser Straftatbestände ergebende Einschränkung des Anwendungsbereichs umweltstrafrechtlicher Nonnen. Diese führt einerseits dazu, daß die Straftatbestände des geltenden Umweltstrafrechts ihrer Struktur nach Beeinträchtigungen im Bagatellbereich und / oder Fälle erfassen, bei denen sich das Unrecht der strafrechtlich erfaßten Handlungen in der bloßen Nichtbeachtung vorgeschalteter Genehmigungsverfahren erschöpft,163 während andererseits - wiederum als Folge der notwendigen verwaltungsakzessorischen Ausgestaltung - ein nicht unerheblicher Anteil umweltschädigender Verhaltensweisen dem strafrechtlichen Zugriff bereits im Ansatz dadurch entzogen ist, daß entweder eine Genehmigung vorliegt oder aber ein verwaltungsrechtlich gesehen materiell rechtmäßiges Verbot nicht erlassen wurde. Hieraus folgt, daß die Nonnen des Umweltstrafrechts sich dadurch von anderen Strafnonnen unterscheiden, daß sie nicht erst aufgrund faktischer Vollzugsdefizite, 164 sondern bereits aus strukturellen Gründen notwendigerweise darauf beschränkt sind, die jeweiligen Schutzgüter nicht umfassend, sondern allein vor den nach der Primärrechtsordnung unzulässigen Beeinträchtigungen zu schützen. 165 Bedenken erweckt der bereits im Ansatz eingeschränkte Zugriff des Umweltstrafrechts zunächst deshalb, weil gerade die prima vacie besonders gewichtig erscheinenden industriellen Inanspruchnahmen bzw. Belastungen von Umweltmedien in der Regel durch entsprechende verwaltungsrechtliche Genehmigungen straflos gestellt werden. 166 Indes: Die Beschränkung auf verwaltungsrechtlich unzulässige Belastungen der Umwelt ist - wie oben gezeigt wurde - unumgehbar. Die Frage, ob es angemessen ist, bestimmte Umweltbelastungen strafrechtlich zu verfolgen, wenn andere (verwaltungsrechtlich erlaubte) von vornherein nicht verfolgbar sind, Kareklas, Rechtsgut, S. 108 f.; Müller-Tuckfeld, KritV 1995,69,91. Zu den Beweisschwierigkeiten vgl. etwa NolI, Umweltschutz, S. 397 f. 165 So die zutreffende Analyse von Kuhlen ZStW 105 (1993), 697, 709 ff.; vgl. auch NolI, Umweltschutz, S. 399. 166 Vgl. F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 150, der im Hinblick auf den Gewässerschutz das eigentliche Problem in den erlaubten Einleitungen sieht; vgl. auch MüllerTuckfeld, KritV 1995,69, 82 f.; ders., Abschaffung, S. 476 ff.; Duo, Jura 1991, 308, 309. 163

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II. Das Umweltstrafrecht

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beurteilt sich danach, ob ein hinreichend gewichtiges Interesse daran besteht, daß wenigstens die unzulässigen (verwaltungsrechtlich nicht erlaubten) Belastungen unterbleiben. Des weiteren führt die verwaltungsakzessorische Ausgestaltung umweltstrafrechtlicher Normen dazu, daß es - jedenfalls vom Wortlaut der Norm her - nicht darauf ankommt, ob ein bestimmtes Verhalten materiellrechtlich gesehen als verwaltungsrechtlich zulässig anzusehen ist, sondern vielmehr entscheidend sein soll, ob das Verhalten durch formell wirksame ErIaubnisakte der Verwaltung gedeckt ist. Insbesondere dann, wenn man mit einer in der Literatur verbreitet vertretenen Auffassung die bloße Genehmigungsfähigkeit formell-illegaler Verhaltensweisen als strafrechtlich irrelevant erachtet,167 stellt sich mit besonderer Dringlichkeit die Frage, ob die bloße Mißachtung verwaltungsrechtlicher ErIaubnisvorbehalte eine strafrechtliche Ahndung legitimieren kann. Gleiches gilt für die Straftatbestände, die - wie z. B. die §§ 327, 328 dStGB - den bloßen Umgang mit bestimmten Stoffen unter Strafe stellen. Wird hier bloßer Verwaltungsungehorsam um seiner selbst willen gestraft oder gibt es legitime Gründe, derartige Verhaltensweisen unter Strafandrohung zu verbieten?

b) Die Erfassung bagatellartiger UmweItbelastungen

Da zu konstatieren ist, daß es sich bei den, dem strafrechtlichen Zugriff offenstehenden UmweItbelastungen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil um sozialübliche Verhaltensweisen handelt, die im übrigen - jedenfalls für sich gesehen - regelmäßig auch eher dem Bagatellbereich zuzurechnen sind, stellt sich die weitere Frage, ob trotz des Fehlens einer evidentermaßen sozialethisch zu mißbilligenden Unrechtshandlung an der kriminalstrafrechtlichen Ahndung festgehalten werden kann. 168 Zu klären bleibt, ob die erfaßten umweltschädigenden Verhaltensweisen im Hinblick auf den allenfalls minimalen Unrechtsgehalt der jeweiligen Einzelhandlung 169 aus dem Strafwürdigkeitsbereich auszuscheiden sind,170 oder aber im 167 Vgl. eramer, in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 324 ff. Rdnr. 19; Maurach/Schroeder 1 Maiwald, StrafR BT, Teilbd. 2, § 58 Rdnr. 6; Meurer, NJW 1988, 2065, 2068; Rogall, Festschrift Universität Köln, S. 525; Tiedemann/Kindhäuser, NStZ 1988, 337, 343 sowie Tröndle, StGB, Vor § 324 Rdnr. 4d m. w. N. Andere Autoren wollen die Strafbarkeit des formell illegalen Verhaltens dann ausschließen, wenn der Täter materiellrechtlich gesehen einen gebundenen Anspruch auf Erteilung der Erlaubnis hat, vgl. Bloy, ZStW 100 (1988), 485, 506; Schall, NJW 1990, 1263, 1267. Ob gleiches auch dann gelten kann, wenn die Genehmigung im Ermessen der Behörde steht, ist umstritten: ablehnend z. B. Breuer, NJW 1988, 2072, 2079; Papier, Natur + Recht 1986, 1,6; Rengier, ZStW 101 (1989), 874, 902 ff.; bejahend z. B. Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 46 ff. 16M Vgl. Heine, Vollzugsdefizite, S. 18/19; Ronzani, Erfolg, S. 94 ff.; Seelmann, NJW 1990,1257,1260. 169 Vgl. Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 22 ff.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

Hinblick auf die letztlich per saldo doch erheblichen Umweltbelastungen generell oder unter bestimmten Voraussetzungen als strafwürdig anzusehen sindY I aa) Legitimation der Pönalisierung im Hinblick auf den Gesamtschaden ?

In der Literatur wird die Pönalisierung bagatell artiger Umweltverstöße von einigen Autoren jedenfalls für die Fälle als legitim erachtet, in denen der Täter wisse bzw. damit rechne, daß sich sein Verhalten im Zusammenwirken mit dem Verhalten anderer Personen der Summe nach als erheblich darstellen werde bzw. durch den für sich gesehen minimalen Beitrag des Täters die Erheblichkeitsschwelle überschritten werde. 172 Hiergegen spricht zunächst, daß der Ansatz, allein die Personen strafrechtlich haften zu lassen, deren Einzelbeitrag entweder dazu geführt hat, daß eine Vielzahl von Bagatellbeeinträchtigungen im Ergebnis die Erheblichkeitsschwelle überschritten haben bzw. die wirksam geworden sind, nachdem die Erheblichkeitsschwelle bereits überschritten wurde, die strafrechtliche Verantwortlichkeit weitgehend willkürlich verteilt. Da für den Bürger nicht erkennbar ist, ob eine nach normativen Grundsätzen gesetzte Erheblichkeitsschwelle faktisch bereits überschritten ist bzw. durch seinen Minimalbeitrag überschritten werden wird, würde letztlich der Zufall darüber entscheiden, wer die strafrechtliche Verantwortlichkeit für eine bestimmte Umweltschädigung zu tragen hätte. 173 Im übrigen: Eine überzeugendende Begründung, warum allein derjenige haften soll, der zufälligerweise nicht den vorletzten, sondern den Einzelbeitrag geliefert hat, durch den die Erheblichkeitsschwelle dann überschritten wurde, ist nicht ersichtlich, insbesondere deshalb nicht, weil ohne die vorhergehenden Einzelbeiträge ein Überschreiten der Erheblichkeitsschwelle nicht verursacht worden wäre. 174 Will man den Täter nicht für seinen eigenen Bagatellbeitrag, sondern für den über der Erheblichkeitsschwelle liegenden "Gesamtschaden" haften lassen,175 würde sich im übrigen die Frage stellen, ob dies überhaupt möglich ist, wenn die Voraussetzungen für eine Zurechnung fremden Verhaltens gemäß den §§ 25 ff. dStGB nicht gegeben sind, ob also mit anderen Worten das bloße Wissen um das mögliche So z. B. Meurer, NJW 1988,2065,2068. So z. B. Cramer, in: Schönke! Schröder, Vorbem. §§ 324 ff. Rdnr. 10; Hirsch, Bekämpfung, S. 21; Wegscheider, ÖJZ 1983,90,95. 172 Möhrenschlager, WiVerw 1984, 47, 62 ff.; vgl. auch Rogall, Festschrift Universität Köln, S. 520; Saal, Straftat, S. 96; a.A. Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 78 f.; Lenckner, in: Schönke!Schröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 83. 173 Im übrigen: Bedingt durch den systemischen Charakter der hier einschlägigen Schädigungsprozesse wäre faktisch der Nachweis wohl gar nicht zu führen, vgl. Ronzani, Erfolg, S. 43 ff., 49 f. 174 So zutreffend Jakobs und Puppe, zitiert nach: Perron, ZStW 99 (1987), 637, 657 und 659; vgl. auch Feinberg, Vol. 1, S. 228 f.; a.A. Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 168 f., 171 (mit einer Differenzierung zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten). 175 Vgl. z. B. Wegscheider, ÖJZ 1983,90,95. 170 171

11. Das Umweltstrafrecht

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Fehlverhalten anderer Personen eine ausreichende Grundlage dafür sein kann, dem Täter die durch andere Personen verursachten Umweltbeeinträchtigungen als eigenes Unrecht zuzurechnen. 176 Da eine gesetzliche Grundlage für die Verpflichtung des einzelnen, sein Verhalten im Hinblick auf das zu antizipierende Verhalten anderer Personen einzuschränken, nicht ersichtlich ist,I77 wird man eine strafrechtli che Verantwortlichkeit des einzelnen aus der bloßen Mitverursachung des Gesamtschadens nicht ohne weiteres herleiten können. 17S bb) Legitimation der Pönalisierung im Hinblick auf die Einzelhandlung ?

Das Problem der Zurechnung fremdverursachter Unrechtsanteile würde entfallen, wenn man die Strafwürdigkeit der von den Tatbeständen des Umweltstrafrechts erfaßten Verhaltensweisen aus sich selbst heraus begründen könnte. Um eine derartige Begründung hat sich insbesondere Kuhlen bemüht. Ausgangspunkt seines Ansatzes ist die Erkenntnis, daß es sich bei den Straftatbeständen des geltenden Umweltstrafrechts - konkret: des Straftatbestandes der Gewässerverunreinigung (§ 324 dStGB) - weder um Erfolgs- noch um Geflihrdungsdelikte hergebrachter Art handelt, sondern um einen eigenständigen Deliktstyp, den Kuhlen als Kumulationsdelikt bezeichnet. Das Kumulationsdelikt erfaßt Einzelhandlungen, die zwar für sich gesehen das geschützte Umweltmedium weder verletzen l79 noch gefährden können, bei denen andererseits aber eine Verletzung oder Geflihrdung dann nicht auszuschließen ist, wenn nicht durch ein sanktionsbewehrtes Handlungsverbot verhindert wird, daß sich eine Vielzahl anderer entsprechend verhalten. lso Die Legitimität des Kumulationsdeliktes ergibt sich für Kuhlen aus der Notwendigkeit, nicht nur konkret bzw. abstrakt geflihrliche Handlungen durch entsprechende Verhaltensnormen zu verbieten, sondern darüber hinaus auch solche Handlungen, die nur über das Problem der großen Zahl lSI zu einer Geflihrdung führen 176 Ablehnend hierzu Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 75 ff., 87 ff.: Die §§ 324 ff. dStGB würden zu Beteiligungsdelikten umgestaltet, was mit dem geltenden System der Beteiligungsformen nicht zu vereinbaren sei. 177 Vgl. Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 142: Keine GarantensteIlung des ErsthandeInden gegenüber dem Umweltmedium und I oder den anderen handelnden Personen; die Annahme von Ingerenz wäre zirkelschlüssig. 178 Vgl. Bloy, JuS 1997, 577, 583; Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 153 ff., 168 f.; Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 140; Nestler, Grundlagen, Rdnr. 264 f.; Puppe, in: NK, Vor § 13 Rdnr. 77; Samson, ZStW 99 (1987), 617, 628 ff. 179 Geht man - wie es der h.M. entspricht und auch hier vertreten wird, vgl. oben S. 139davon aus, daß § 324 dStGB das Umweltmedium Wasser als notwendige Vorausetzung für die Existenz der Gattung homo sapiens schützen soll, muß sich auch die Definiton des deliktischen Erfolgs an dieser Prämisse orientieren, was zur Folge hat, daß nicht jeder Verursachungsbeitrag für sich gesehen bereits als "Erfolg" zu behandeln ist. Vgl. Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 56 ff. 180 Kuhlen GA 1986,389,399 ff.; ders., ZStW 105 (1993), 697, 716; ablehnend zur Konzeption des "Kumulationsdelikts": Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 241 ff.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

können. Der Egoismus des Einzelnen, der dahin tendiere, die Normbefolgung den anderen Gesellschaftsmitgliedern zu überlassen, selbst aber Verhaltensnormen dann zu mißachten, wenn die Normübertretung für sich gesehen vorteilhaft sei, zwinge dazu, auch diese Verhaltensnormen durch Sanktionsnormen abzusichem. 182 Die weitere Frage, ob als Sanktionsnorm ein Straftatbestand die angemessene Lösung sei, hält Kuhlen für noch nicht abschließend geklärt, er tendiert aber dahin, dies zu bejahen, da angesichts der mit der drohenden Umweltzerstörung verbundenen gewaltigen Gefahren eine moralische Verpflichtung bestehe, dieser Entwicklung mit dem hierzu geeigneten Instrument der Kumulations(strat)tatbestände entgegenzuwirken. Angesichts des hohen Ranges der zu schützenden Rechtsgüter, der mit dem Phänomen der großen Zahl verbundenen gravierenden sozialen Probleme und im Hinblick darauf, daß eine überzeugende materielle Abgrenzung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten bisher nicht gelungen sei, müsse und dürfe der Gesetzgeber sich daran orientieren, daß die Ausgestaltung der Sanktionsnorm als Straftatbestand präventiv wirksamer sei als die Wahl eines Ordnungswidrigkeitentatbestandes. 183 Daß es angesichts der durch den Verzicht auf jeglichen aktuellen Unrechtsgehalt der konkreten Tathandlung l84 bedingten Auflösung der überkommenen Zurechnungs strukturen des traditionellen Strafrechts 185 ausreichen kann, die Legitimität der Pönalisierung für sich gesehen definitionsgemäß ungefährlicher Kumulationsbeiträge allein aus der Zweckmäßigkeit einer derartigen Regelung l86 abzuleiten, erscheint indes zweifelhaft. Kuhlen selbst erkennt an, "daß reine Kumulationsbeiträge schwerlich den Handlungs- und Gesinnungsunwert aufweisen, der ,die schwere moralische Disqualifizierung durch die öffentliche Strafe' erforderlich macht". 187 Diese Erkenntnis wirft dann allerdings nicht nur die von Kuhlen als Möglichkeit in den Raum gestellte Frage auf, ob nicht z. B. eine Herabstufung bloßer Kumulationsbeiträge bei Gewässerverschmutzungen zur Ordnungswidrigkeit angemessen wäre. 188 Zu klären bleibt nicht nur, ob es mildere Möglichkeiten der Sanktionsbewehrung gibt; entscheidend ist, ob eine positive Begründung dafür Vgl. hierzu: Buchanan, Ethics Vol. 76 (1965 -66), 1,6 ff. Kuhlen, GA 1986,389,402; ders., ZStW 105 (1993), 697, 721. 183 Kuhlen, GA 1986,389,405 f. 184 Hierauf beruht der Vorwurf, der Typus des Kumulationsdeliktes verstoße gegen den Schuldgrundsatz (vgl. Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 65 f.; Müller-Tuckfeld, KritV 1995,69,75; ders., Abschaffung, S. 466; Rogall, Festschrift Universität Köln, S. 520) und verkenne den ultima-ratio-Gedanken, weil die entsprechenden Tatbestände letztlich keine Grenze mehr hätten (vgl. Schulz, Kausalität, S. 83 f.) 185 Vgl. See1mann, NJW 1990, 1257, 1260; ders., Natur, S. 286/287. 186 Die im übrigen auch in Frage gestellt werden kann, vgl. Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 65 sowie F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 145 ff., der sich gegen die "unhaltbare Instrumentalisierung des Strafrechts zu Zwecken der Volkspädagogik" wendet. 187 Kuhlen, GA 1986,389,403 ff. 188 Kuhlen, GA 1986,389,408; vgl. auch ders., ZStW 105 (1993), 697, 717. 181

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11. Das Umweltstrafrecht

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gefunden werden kann, daß die repressive Ahndung überhaupt eine sachlich angemessene Reaktion darstellt. 189

6. Zwischenergebnis Geht man von der Prämisse aus, daß die Androhung und Anwendung strafrechtlichen Zwangs dann legitim sein soll, wenn hierdurch elementare Lebensinteressen vergesellschafteter menschlicher Individuen geschützt werden sollen, kann die grundsätzliche Schutzwürdigkeit der für die Fortexistenz menschlicher Lebewesen unabdingbaren Umweltmedien nicht ernsthaft bestritten werden. Die im Schrifttum soweit ersichtlich nicht in Frage gestellte Annahme der grundsätzlichen Schutzwürdigkeit vermag die Frage nach der Legitimität der Straftatbestände des Umweltstrafrechts indes in keiner Weise zu beantworten, sondern bildet erst die Basis, auf deren Grundlage dann die Erwägungen zur Legitimität der Anwendung strafrechtlichen Zwangs aufbauen müssen. Die eigentliche Problematik der Straftatbestände des "modernen" Umweltstrafrechts liegt nicht im Rechtsgut, sondern in der Deliktsstruktur der betreffenden Straftatbestände begründet. 190 Werden Verhaltensweisen als strafwürdig definiert, die überhaupt erst im Zusammenwirken mit anderen - für sich gesehen ebenfalls nicht schädigungswirksamen - Verhaltensweisen zu einer im Hinblick auf die (Fort-)Existenz der Menschheit relevanten Beeinträchtigung der jeweiligen Umweltmedien führen können, handelt es sich um Straftatbestände, die nicht ohne weiteres in das tradierte Schema der strafrechtlichen Deliktstypen eingeordnet werden können. Die Strafwürdigkeit von Kumulationsbeiträgen bedarf einer näheren Begründung, die zum einen entgegen Kuhlen - nicht einfach allein aus der Notwendigkeit abgeleitet werden kann, entsprechende Verhaltensverbote praktisch durchzusetzen, die aber zum anderen - entgegen F. Herzog - auch nicht mit dem pauschalen Verweis auf die Fragwürdigkeit eines Gefährdungsstrafrechts überzeugend widerlegt werden kann. Gleiches gilt im Ergebnis auch für die Straftatbestände des Umweltstrafrechts, bei 189 Bejahend z. B. Ahn, Dogmatik, S. 121, mit dem Hinweis darauf, daß es sich bei der abstrakten Gefährdung um einen nach unten offenen Begriff handele und das tatbestandsmäßige Verhalten des Kumulationsdelikts dem geschützten Rechtsguts bereits "kritisch gegenübersteht". Ablehnend dagegen Brahms, Definition, S. 145, die eine unstatthafte Unrechtsbegründung ex iniuria tertii moniert, sowie Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 61 ff., der die Pönalisierung von Kumulationsbeiträgen für kriminalpolitisch kontraproduktiv und für unvereinbar mit Art. 103 Abs. 2 GG erachtet. Soweit Samson, ZStW 99 (1987), 617, 635, meint, die Konzeption des Kumulationsdelikts laufe darauf hinaus, das Zurechnungsproblem durch eine Veränderung der Erfolgsdefinition überflüssig zu machen, kann dem nicht gefolgt werden. 190 So auch VestlRonzani, Landesbericht, S. 487/488: "Als eine zentrale Grundsatzfrage des Umweltstrafrechts (wie auch anderer Teile des modemen Strafrechts) stellt sich die nach Vorteilen und Risiken von (abstrakten) Gefahrdungsdelikten, bei denen die vereinfachte Zurechnung durch eine Vorverlagerung des Strafrechts erkauft wird."

10 Wohlers

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

denen die bloße Mißachtung eines Erlaubnisvorbehalts als eine für sich gesehen strafwürdige Verhaltensweise definiert wird. Da - wie oben dargelegt 191 - als Rechtsgut dieser Straftatbestände nicht die Funktionsfähigkeit der Umweltverwaltung angesehen werden kann, stellt sich auch hier die Frage, ob und wenn ja wie Straftatbestände mit einer derartigen Deliktsstruktur als legitim angesehen werden können.

111. Das "moderne" Wirtschaftsstrafrecht 1. Die Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Jede rechtsdogmatisch ausgerichtete Untersuchung auf dem Gebiet des Wirtschaftsstrafrechts steht zunächst vor dem Problem, den Untersuchungsgegenstand zu erfassen bzw. sinnvoll zu begrenzen. 192 Ursächlich für die insoweit bestehenden Schwierigkeiten ist der Umstand, daß soweit ersichtlich weder eine konsensfähige Definition des Begriffs der Wirtschaftskriminalität noch des Wirtschaftsstrafrechts existiert. 193 Das Bestreben, wirtschaftsdelinquentes Verhalten als einen gegenüber anderen Teilbereichen abweichenden Verhaltens abgrenzbaren Bereich kriminellen Unrechts zu definieren, hat seinen historischen Ausgangspunkt bei der auf Sutherland zurückgehenden Definition wirtschaftsdelinquenten Verhaltens als "white-collar-crime". 194 Wirtschafts straftaten sollen hiernach Verbrechen sein, die von Angehörigen einer hohen sozialen Schicht im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit begangen werden. 195 Als Grundlage einer materiellrechtlichen Definition ist diese täterorientierte Betrachtungsweise ebenso ungeeignet wie ein strafprozessualkriminaltaktischer Ansatz, demzufolge eine Wirtschafts straftat dann vorliegen soll, wenn im Einzelfall ein sehr ho her Schaden entstanden ist oder besondere Ermittlungs- bzw. Nachweisschwierigkeiten auftreten, vor allem weil der Täter besondere Gestaltungsmöglichkeiten oder Formen des Wirtschaftslebens ausgenutzt bzw. mißbraucht hat. 196 Sollen bestimmte Verhaltensweisen als ein auch in materiellrechtlicher Hinsicht eigenständiger Teilbereich strafrechtlichen Unrechts anerkannt werden, setzt dies voraus, daß die diesbezüglichen Straftatbestände Verhaltensweisen mit einem speVgl. oben S. 135 ff. Vgl. Schubarth, ZStR 90 (1974),384. 193 Vgl. Eisenberg, Kriminologie, § 47 Rdnr. I; Kaiser, Kriminologie, § 74 Rdnrn. I ff., 6; Krauskopf, ZStR 110, 76 ff. 194 Abgedruckt in: Sack / König, Kriminalsoziologie, S. 187 ff. 195 Vgl. hierzu: Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 6 ff.; Kaiser, Kriminologie, § 72 Rdnrn. I ff.; Otto ZStW 96 (1984), 339, 340; Tiedemann, Gutachten, C 27; kritisch Volk, JZ 1982, 85. 196 Vgl. Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 10 ff.; Heinz, System, S. 158 ff. 191

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III. Das "modeme" Wirtschaftsstrafrecht

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zifischen Unrechtsgehalt erfassen.!97 Aus materiellrechtlicher Sicht werden Wirtschaftsdelikte daher gemeinhin definiert als Straftatbestände, die Verhaltensweisen erfassen, die das Funktionieren der geltenden Wirtschaftsordnung insgesamt oder einzelner ihrer Institute beeinträchtigen und damit den Bestand und die Arbeitsweise dieser Wirtschaftsordnung gefährden.!98 Abgesehen von den direkt auf den Schutz bestimmter Institutionen oder Funktionszusammenhänge der Wirtschaftsordnung abzielenden und deshalb noch relativ eindeutig als "Wirtschaftsdelikte im engeren Sinne" anzusprechenden Straftatbeständen!99 bleibt aber auch unter Zugrundelegung dieser Definition zweifelhaft, ob - und wenn ja: welche - Straftatbestände mit indirekten Wirkungen auf den Wirtschaftssektor noch in den Begriff des Wirtschaftsstrafrechts einzubeziehen sind. Beispielhaft sei nur auf die Nonnen des Umweltstrafrechts verwiesen, die von einigen Autoren als Teil des Wirtschaftsstrafrechts verstanden, zunehmend aber als ein rechtsdogmatisch eigenständiger Bereich eingeordnet werden?OO Schließlich können sogar die traditionell als Kembereich des hergebrachten Eigentums- und Vennögensstrafrechts geltenden Straftatbestände - wie insbesondere der Betrug (§ 263 dStGBI Art. 146 schwStGB) wegen ihres zumindest mittelbaren Bezugs auf das Funktionieren der Wirtschaftsordnung als "Wirtschaftsdelikte im weiteren Sinne" verstanden werden. 20 ! Der bundesdeutsche Gesetzgeber hat sich im Rahmen seiner auf die Bekämpfung wirtschaftsdelinquenten Verhaltens abzielenden Refonneingriffe stets an einem - zumindest aus dogmatischer Sicht eher fragwürdigen - weiten Begriff der Wirtschaftsdelikte orientiert, der insbesondere auch die allgemeinen Eigentumsund Vennögensdelikte einbezieht. 202 Eine umfassende Aufarbeitung der Entwick!97 Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 15; atto, Jura 1989, 24, 26; Schubarth, ZStR 90 (1974), 384, 386. 198 Bottke, wistra 1991, I, 4; Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 29 f., 64 ff.; Heinz, GA 1977, 193, 196; atto, ZStW 96 (1984), 339, 342; ders., MschrKrim 1980,397,399/400; ders., Jura 1989,24,26; Tiedemann, Gutachten, C 29; ders., Wirtschaftsstrafrecht 2, S. 50 ff.; ders., JuS 1989,689,691; ders., Tatbestandsfunktionen, S. 67, 69; Weber, ZStW 96 (1984), 376, 378; a.A. Schubarth, ZStR 90 (1974), 384, 389, der eine abstrakte Bestimmung der Straftatbestände, die zu den Wirtschaftsdelikten zu rechnen sind, für unmöglich erachtet. 199 In der Literatur scheint sich die Einteilung des Gesamtbereiches in (I) Strafnormen zum Schutz der Volkswirtschaft, (2) Strafnormen zum Schutz der Betriebswirtschaft, (3) Strafnormen zum Schutz der staatlichen Finanzwirtschaft und (4) Strafnormen zum Schutz der Allgemeinheit und des Verbrauchers durchzusetzen, vgl. atto, ZStW 96 (1984), 339, 351 ff. Auch hier ist aber bei bestimmten Deliktsgrupen - z. B. Verstöße gegen Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften, Umweltdelikte, Steuer- und Zolldelikte - fraglich, ob diese Tatbestände bestimmte Schutzgegenstände wegen ihrer Funktion als Wirtschaftsfaktor erfassen (vgl. Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 65 ff.; atto, ZStW 96 (1984), 339. 353 f.). 200 Vgl. z. B. atto, ZStW 96 (1984), 339, 354 m. w. N. 201 Bottke, Legitimität, S. 109. 202 Heinz, System, S. 160. Dem entspricht es, daß auch in der praktischen Strafrechtsanwendung die überwiegende Mehrzahl der als Wirtschaftsstraftaten eingeordneten Delikte als Betrug i. S. d. § 263 erfaßt werden, vgl. Kaiser, Kriminologie, § 74 Rdnr. 24. 10'

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lung der nicht nur im Strafgesetzbuch selbst, sondern zu einem großen Teil in einer Vielzahl von Gesetzen des Nebenstrafrechts verstreuten Normen des so verstandenen Wirtschaftsstrafrechts kann und soH an dieser SteHe nicht geleistet werden?03 Die sowohl in der Literatur zum Wirtschaftsstrafrecht als auch in den SteHungnahmen zum "modemen" Strafrecht stets hervorgehobene besondere Bedeutung der im Rahmen des 1. und 2. Gesetzes zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (WiKGl04 neu in das StGB der Bundesrepublik Deutschland eingesteHten Straftatbestände, rechtfertigt es, die nachfolgende Analyse beispielhaft auf die durch diese bei den Reformgesetze geschaffenen neuen Straftatbestände des "modemen" Wirtschaftsstrafrechts zu beschränken. Entsprechend bezieht sich die Analyse der Entwicklung des Wirtschaftsstrafrechts in der Schweiz auf die Revision des Vermögensstrafrechts aus dem Jahre 1995. 205

2. Die Gesetze zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität Durch das bundesdeutsche 1. WiKG wurden insbesondere die Straftatbestände des Subventionsbetruges (§ 264 dStGB) und des Kreditbetruges (§ 265b dStGB) neu geschaffen sowie die Konkursdelikte aus der Konkursordnung in das StGB überführt (§§ 283 dStGB). Durch das 2. WiKG wurden einige, zusammenfassend als Computerdelikte bezeichnete Straftatbestände (§§ 202a, 263a, 269, 270, 274 Abs. 1 Nr. 2, 303a, 303b dStGB), der Kapitalanlagebetrug (§ 264a dStGB) sowie der Scheck- und Kreditkartenmißbrauch (§ 266b dStGB) geschaffen und mit § 266a dStGB eine Norm in das StGB eingestellt, die sich gegen die Veruntreuung von Arbeitsentgelten richtet. Die nachfolgende Analyse wird ergeben, daß auch im Hinblick auf diesen Bereich der Strafrechtsreform die bereits im Rahmen der Darlegungen zur Reform des Umweltstrafrechts deutlich gewordenen Tendenzen festzusteHen sind: Der Gesetzgeber hat auch im Hinblick auf die Straftatbestände des Wirtschaftsstrafrechts den Ansatz verfolgt, die präventive Wirkung bestimmter 203 Einen Überblick über die - in ihrer Zuordnung im einzelnen nicht unumstrittenen Deliktsgruppen gibt Heinz, System, S. 167 ff.; vg!. auch Eisenberg, Kriminologie, § 47 Rdnr. 24; Kaiser, Kriminologie, § 74 Rdnrn. 24 ff.; Tiedemann, JuS 1989,689,691 ff. 204 Gesetze vorn 29.7. 1976, BGB!. I, S. 2034 sowie vorn 15.5. 1986, BGB!. I, S. 721. 205 Außen vor bleiben sowohl der 1987 in der Schweiz eingeführte sog. Insiderstraftatbestand (Art. 161 schwStGB) als auch die in der Schweiz und in der Bundesrepublik Deutschland neu geschaffenen Straftatbestände zur Bekämpfung der Geldwäsche (Art. 305bis schwStGB sowie § 261 dStGB). Die Normen sind aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte (vg!. hierzu - bezogen auf die Rechtsentwicklung in der Schweiz -: Ackermann, Geldwäsche, § 5 Rdnrn. 16 ff.; Forster, ZSR NF 114 (1995),11, I, 134 ff., 140 ff.; Heinel Hein, Landesbericht, S. 10 10 f.; Heine I Spalinger, Landesbericht, S. 1369; Schmid, Insiderstrafrecht, S. 57 ff.; Schubarth, Gedächtnischrift für Noll, S. 303 ff.; Trechsell Noll, StrafR AT I, S. 5) zwar kriminalpolitisch hochinteressant, dürften aber - gerade wegen ihres spezifischen Hintergrundes - doch eher ungeeignet sein, Aufschlüsse über die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung interessierenden "allgemeinen" Entwicklungstendenzen zu geben.

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strafrechtlicher Normen dadurch zu verstärken, daß Straftatbestände des Nebenstrafrechts in das Kernstrafrecht überführt wurden. Des weiteren war es sein Ziel, Strafbarkeitslücken zu schließen und Straftatbestände zu schaffen, die den Bereich strafrechtlich relevanter und erfaßbarer Verhaltensweisen in das Vorfeld bereits existenter Straftatbestände ausgedehnt haben. Auch in der Schweiz war die Reform des Vermögensstrafrechts nicht auf die Schaffung spezieller Wirtschaftsstraftatbestände gerichtet. 206 Vielmehr sollten Unstimmigkeiten im bestehenden Vermögensstrafrecht beseitigt sowie auf das gewandelte gesellschaftliche Umfeld, insbesondere das Aufkommen der Computer und des bargeldlosen Zahlungsverkehrs reagiert werden. 207 In der Botschaft über die Aenderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärgesetzes vom 24. April 1991 wird diesbezüglich ausgeführt: "Die vorliegende Revision bezweckt nun insbesondere, die traditionellen Vorschriften des Vermögensstrafrechts stärker auf den Kampf gegen die Wirtschaftskriminalität auszurichten. Zugleich sollen neuere technische und gesellschaftliche Entwicklungen, wie namentlich die elektronische Datenverarbeitung sowie der Check- und Kreditkartenverkehr, weiche die Vorgehensweise heutiger Delinquenten nachhaltig beeinflusst haben, strafrechtlich erfasst werden.,,208 Neben einer Umstellung und Neuordnung der alten Straftatbestände des Vermögensstrafrechts 209 sowie einer Reform der Schuldbeitreibungs- und Konkursdelikte (Art. 163 bis 171 schwStGB) sind zur besseren Erfassung neuartiger Kriminalitätsformen der Urkundenbegriff im Hinblick auf die sog. "Computerurkunde" geändert, mit den Art. 143, 143bis, 144bis, 147 schwStGB spezielle Computerdelikte sowie mit Art. 148 schwStGB ein Straftatbestand des Scheck- und Kreditkartenmißbrauchs geschaffen worden.

206 Die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität wurde und wird als ein in erster Linie prozessuales (insbesondere: Beweis-)Problem angesehen, vg\. Schultz, ZStW 97 (1985), 371, 395; ders. ZStR 99 (1982), 1,24; ders. ZStR 109 (1992),3,17 sowie die Botschaft über die Aenderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes (Strafbare Handlungen gegen das Vermögen und Urkundenfälschung), in: BB\. 1991 11,969,978. 207 Forster, ZSR NF 114 (1995), 11, I, 149 ff.; Heine, Landesbericht, S, 723; Heine/Roulet, Landesbericht, S. 1304 f.; Kunz, ZBJV 132 (1996), 189, 190; Müller, ZStR 113 (1995), I, 4 und 10; Schmid, ZStR 104 (1987), 129; ders., Computer- sowie Check- und Kreditkartenkriminalität, § I Rdnr. I; ders., SJZ 91 (1995), I; Schild Trappe, ZBJV 133 (1997), I; Schultz, ZStW 97 (1985), 371, 394 f.; ders. ZStR 99 (1982), 1,25; ders., ZStR 109 (1992), 3, 17 f.; Trechsell Noll. StrafR AT I, S. 5. 208 BB\. 199111,969,971; vg\. auch bereits Koller, ZStR 109 (1992),338,339: Das neue Vermögensstrafrecht soll "die Voraussetzungen für eine erfolgreichere Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität schaffen". Es soll "in erster Linie die verschiedenen Spielarten der Computerdelinquenz sowie des Kreditkartenmissbrauchs erfassen." 209 Vg\. hierzu die Botschaft über die Aenderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes (Strafbare Handlungen gegen das Vermögen und Urkundenfälschung), in: BB\. 1991 11,969,972 sowie 997 f.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

a) Die Überführung von Straftatbeständen aus dem Nebenstrafrecht in das Kernstrafrecht Beispiele für die bereits im Zusammenhang des Umweltstrafrechts konstatierte Tendenz des bundesdeutschen Gesetzgebers, bereits bestehende Straftatbestände aus dem Nebenstrafrecht in das Kernstrafrecht zu überführen, um ihre präventive Wirkung zu steigern, sind zum einen die durch das 1. WiKG als §§ 283 ff. in das bundesdeutsche StGB eingestellten Konkursdelikte 21O und zum anderen der durch das 2. WiKG geschaffene § 266a dStGB. Die Bankrottdelikte waren 1871 ohne wesentliche konzeptionelle Änderungen aus dem Preußischen Strafgesetzbuch als §§ 281 ff. in das RStGB übernommen und dann mit Wirkung vom 1. 10. 1879 als §§ 209 ff. in die Reichskonkursordnung von 1877 überführt worden. 211 Mit den §§ 283 ff. dStGB wurde dem Strafrecht also kein neues Aufgabenfeld erschlossen, sondern lediglich - vornehmlich mit der Zielsetzung einer Stärkung der generalpräventiven Wirkung 212 - bestehende Straftatbestände aus dem Nebenstrafrecht (§§ 239 f. KO) in das Strafgesetzbuch (rück-)überführt?13 Mit dem durch das 2. WiKG geschaffenen § 266a dStGB wurden die §§ 529, 1428 RVO, § 225 AFG, § 150 AngVersG, § 234 RKnappschaftsG wegen der besonderen Bedeutung, die dem Aufkommen der Mittel für die Sozialversicherung für die Interessen der Versichertengemeinschaft zugemessen wird, in das Strafgesetzbuch eingestellt. Auch hier ging es dem Gesetzgeber im wesentlichen darum, die präventive Wirkung bestimmter, bisher im Nebenstrafrecht "versteckter" Straftatbestände durch eine Überführung in das Kernstrafrecht zu stärken. 214

210 Die Reform der Schuldbeitreibungs- und Konkursdelikte der Art. 163 bis 171 schwStGB stellt sich demgegenüber in erster Linie als der Versuch dar, die entsprechenden Straftatbestände an ein geändertes normatives Umfeld anzupassen, vgl. hierzu i.e. Müller, ZStR 113 (1995), 1,16. 211 Vgl. Kindhäuser, in: NK, Vor §§ 283 bis 283d Rdnr. 15; Tiedemann, in: LK, Vor § 283 Rdnr.38. 212 BT-Drucks. 7/3441, S. 34; vgl. auch die entsprechenden Forderungen von Tiedemann in seinem Gutachten, zum 49. DJT sowie die Beschlüsse des 49. DJT, in: Verhandlungen des 49. DJT, 1972, Bd. I, C 45; Bd. 11, M 200. m Außerdem sollte durch die Modifizierung der §§ 239 f. KO zum einen sichergestellt werden, daß im Falle der Zahlungseinstellung bzw. Eröffnung oder Ablehnung des Konkursverfahrens auch rechtlich neutrale Handlungen zu strafrechtlich relevantem Unrecht führen konnten (vgl. BT-Drucks. 7/3441, S. 19). Zum anderen sollte die Effektivität des Konkursstrafrechts durch eine Ausweitung der Straftatbestände und den Verzicht auf mit Nachweisschwierigkeiten behaftete Tatbestandsmerkma1e (insbesondere: die in § 239 KO vorausgesetzte sog. Gläubigerbenachteiligungsabsicht) gestärkt werden (BT-Drucks. 7/344 I, S. 19 f.). Daß damit der Anwendungsbereich der Konkursdelikte erweitert und die strafrechtliche Verantwortlichkeit im Ergebnis an eingeschränkte Voraussetzungen geknüpft wurde, ist eine Frage, die später aufzugreifen sein wird (vgl. unten Seite 154 ff.). 214 BT-Drucks. 10/318. S. 12.25 ff.

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Zur Bewertung dieser Tendenz der Gesetzgebung kann auf die entsprechenden Ausführungen zum Umweltstrafrecht verwiesen werden. Auch hier gilt: Die vom Gesetzgeber erwarteten präventiven Wirkungen der Verlagerung mögen zweifelhaft und die Vorgehensweise des Gesetzgebers kriminalpolitisch fragwürdig sein; in der Sache selbst kommt es allein darauf an, ob sich die Straftatbestände noch als legitime Einschränkungen der "berechtigten Freiheitsansprüche der Bürger" begründen lassen. Die Antwort auf diese Frage ist dann aber unabhängig davon, ob sich die entsprechende Norm im StGB oder in einem Gesetz des Nebenstrafrechts befindet.

b) Die Anpassung strafrechtlicher Normen an das sich wandelnde gesellschaftliche Umfeld

Die Tendenz, Lücken im bestehenden Strafrechtsschutz zu schließen, kann beispielhaft durch die sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der Schweiz geschaffenen sog. Computerdelikte und den gleichfalls in bei den Ländern eingeführten Tatbestand des Scheck- und Kreditkartenmißbrauchs illustriert werden. Sowohl die durch das 2. WiKG in das bundesdeutsche StGB eingestellten §§ 202a, 263a, 269, 270, 274 Abs. 1 Nr. 2, 303a, 303b dStGB als auch die Art. 143, l43bis, 144bis, 147 schwStGB stellen nichts anderes dar als eine Reaktion des Gesetzgebers auf das Phänomen der sog. "Computerkriminalität". Das Auftreten der "Computerkriminalität" ist seinerseits wieder die Folge eines technischen Wandelungsprozesses, dessen wesentliche Charakteristika darin bestehen, daß Informationen sowohl im privaten Bereich als auch im Wirtschaftsverkehr in zunehmendem Maße nicht mehr in geschriebener Form festgehalten, sondern als Daten abgespeichert und ausgetauscht werden: EDV-Anlagen treten an die Stelle von Buchführungsunterlagen; Vermögenswerte, Warenbestände und (Betriebs-)Geheimnisse werden mittels Computern verwaltet; die Vorbereitung, der Abschluß und die Durchführung von Rechtsgeschäften sind in zunehmendem Maße an den Einsatz von Computern gebunden und von den durch Computer verwalteten und bereitgestellten Informationen abhängig. 215 Ebenso wie der Einsatz von EDV-Anlagen ist auch der Mißbrauch von EDV-Anlagen oder der Zugriff auf Computerdaten nichts anderes als eine Reaktion auf gewandelte technische Verhältnisse: Ein Tater, der sich vor der Einführung der Computertechnologie Informationen dadurch verschafft hat, daß er in schriftlich abgefaßte Unterlagen Einblick genommen bzw. diese an sich gebracht hat, kann diese Informationen nunmehr dadurch erlangen, daß er sich Zugriff auf die EDV-Anlage verschafft, in der diese Informationen abgespeichert sind. Anders als bei schriftlich 215

Vgl. Möhrenschlager, wistra 1986, 128.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

fixierten Informationen kann die Vernichtung computererfaßter Informationen dadurch erfolgen, daß die betreffenden Daten gelöscht werden, ohne daß es einer Beschädigung oder gar Zerstörung des Datenträgers bedarf. Dienstleistungen oder Warenlieferungen können durch eine Computermanipulation erschlichen werden, ohne daß es der Täuschung eines Menschen bedarf. 216 In strafrechtlicher Hinsicht hatte diese Entwicklung die Konsequenz, daß Computerdaten mangels eines sachlichen Substrats von den hergebrachten Straftatbeständen des Eigentums-, Vermögens- und Urkundenstrafrechts nicht in dem Maße erfaßt wurden, wie dies bei schriftlich niedergelegten Informationen der Fall ist: Die mißbräuchliche Inanspruchnahme automatisierter Geschäftskontakte wird von den Straftatbeständen des Diebstahls, des Betrugs und der Untreue ebensowenig erfaßt wie der Tatbestand der Urkundenfälschung die Manipulation an Computerdaten erfassen kann, deren Verläßlichkeit aber im Rechtsverkehr eine immer größere Bedeutung erhalten hat. 217 Sowohl der bundesdeutsche als auch der Schweizer Gesetzgeber hat auf die durch die technische Entwicklung bedingte Ineffektivität des Strafrechts gegenüber computerbezogenen Angriffen auf die Geheimhaltungs-, Eigentums- und Vermögensinteressen der am Rechtsverkehr teilnehmenden natürlichen und juristischen Personen dadurch reagiert, daß er eine Anzahl von Straftatbeständen geschaffen hat, die in Anknüpfung an bestehende Straftatbestände die aufgetretenen Stratbarkeitslücken schließen und den bestehenden Strafrechtsschutz den gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen anpassen sollen.2 18 216 Umfassende Darstellung der einschlägigen Verhaltensweisen bei Sieber, Computerkriminalität und Strafrecht, S. 39 ff., 2/97 ff.; ders., Informationstechnologie und Strafrechtsreform, S. 15 ff.; vg\. auch Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht 2, S. 150 ff. 21? Vg\. - bezogen auf die Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland - BT-Drucks. 10/318, S. 12, 17; BT-Drucks. 10/5058, S. 24 f., S. 33 f.; Bottke, wistra 1991, 1,6; Möhrenschlager, wistra 1986, 128, 130; ders., wistra 1991,321,325 ff.; Sieber, Computerkriminalität, S. 194 ff.; ders., Informationstechnolgie, S. 36 f.; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht 2, S. 154 ff. Zu den entsprechenden Lücken im Bereich des schweizerischen Strafrechts vg\. die Botschaft über die Aenderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärgesetzes vom 24. April 1991, BB\. 1991 11,969,983 ff. sowie Schmid, ZSR NF 104 (1985) 11, 135, 213 f. Das Bundesgericht hatte Computermanipulationen unter bestimmten Voraussetzungen als Betrug bestraft (vg\. BGE 96 IV 185; kritisch hierzu: Stratenwerth, ZStR 98 (1981), 229, 230 f.) und den Begriff der Urkunde auf die sog. "Computerurkunde" ausgedehnt (vg\. BGH III IV 119 ff.; 116 IV 343, 352 f.). Die in der Reformdiskussion umstrittene Frage, ob man auch im Bereich des Urkundenstrafrechts entsprechende Spezialtatbestände zu schaffen habe (so z. B.: Jenny/Stratenwerth, ZStR 108 (1991),197 ff.; Schultz, ZStR 109 (1992), 3,19 ff.) oder aber - entsprechend den Vorgaben der bundesgerichtlichen Rechtsprechung - den Urkundenbegriff des Art. 110 Ziff. 5 schwStGB erweitern solle (so z. B. Schmid, ZStR 109 (1992),98, 101 ff.) hat der Gesetzgeber dahingehend entschieden, daß er der letztgenannten Alternative gefolgt ist (vg\. die Botschaft über die Aenderung des Straggesetzbuches vom 24. April 1991, in: BB\. 199111,969,990 ff.; kritisch hierzu: Forster, ZSR NF 114 (1995) II, I, 150 f.; Kunz, ZBJV 132 (1996), 189, 199 ff.; Stratenwerth, SchwStrafR BT 11, § 35 Rdnrn. 30 ff.; Vest, Landesbericht, S. 682 f.). 218 BB\. 1991 II, 969, 971; Rehberg/Schmid, Strafrecht III, § 13 Ziff. I; Schmid, ZStR 113 (1995), 22, 23; Vest, Landesbericht, S. 678 ff. für die Schweiz sowie BT-Drucks. 10/

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Anders liegt es bei dem im Rahmen des 2. WiKG neu geschaffenen Straftatbestandes des Mißbrauchs von Scheck- und Kreditkarten (§ 266 b dStGB). Vordergründig wollte der Gesetzgeber zwar auch mit diesem Straftatbestand eine durch die Rechtsprechung des BGH219 im Grenzbereich zwischen Betrug und Untreue entstandene Lücke des strafrechtlichen Vermögensschutzes schließen. 22o Zurückzuführen war auch diese Strafbarkeitslücke auf bestimmte Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld, konkret: das Auftreten von Euroscheck- und Kreditkarten als Zahlungsmittel. 221 Anders als bei den Straftatbeständen des Computerstrafrechts wurde mit der Einführung des § 266b dStGB aber nicht nur der Anwendungsbereich bereits bestehender Normen an die technische Entwicklung angepaßt, sondern - je nach Sichtweise - ein spezieller Untreuetatbestand unter Verzicht auf die Strafbarkeitsvoraussetzung der sonst bei § 266 dStGB vorausgesetzten Vermögensbetreuungspflicht bzw. ein betrugsähnliches Delikt unter Verzicht auf die bei § 263 dStGB notwendige Strafbarkeitsvoraussetzung des täuschungsbedingten Irrtums kreiert. Diese Ausweitung des Strafbarkeitsbereiches durch Reduzierung von Strafbarkeitsvoraussetzungen legt es nahe, den § 266b dStGB weniger als eine Folge der Anpassung strafrechtlicher Normen an das gewandelte gesellschaftliche Umfeld, sondern vielmehr als ein Beispiel für die im Anschluß näher zu beleuchtende Tendenz des Gesetzgebers zu interpretieren, den Bereich strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen durch die Reduzierung von Strafbarkeitsvoraussetzungen auszuweiten. Gleiches gilt für den ebenfalls als Reaktion auf die eine Strafbarkeit verneinende Rechtsprechung des Bundesgerichtes222 innerhalb kürzester Zeit 223 geschaffenen Art. 148 schwStGB. Die "Aushilfsfunktion" dieses in seiner Notwendigkeit heftig umstrittenen Straftatbestandes 224 wird insbesondere dar318, S. 11, 16 ff., 31 ff.; 10/5058, S. 1,24,28 ff., 33 ff.; Bottke, wistra 1991, 1,6; Hettinger, Entwicklungen, S. 19; Weber, in: Arzt/Weber, StrafR BT, LH 4, Rdnr. 65 für die Bundesrepublik Deutschland. 219 Konkret war es die Entscheidung BGHSt 33, 244, die den Gestzgeber noch während des bereits laufenden Gesetzgebungsverfahrens zur Schaffung des § 266b dStGB veranlaßte. 220 Vgl. BT-Drucks. 10/5058, S. 32 sowie Haffke, KritV 1991, 165, 167; Hirsch, Gedächtnisschrift für H. Kaufmann, S. 152; Kühl, in: Lackner, § 266b Rdnr. 1; Lenckner, in: Schönke/Schröder, § 266b Rdnr. 1; Ouo, wistra 1986, 150, 151; Ranft, JuS 1988, 673, 674; Schlüchter, 2. WiKG, S. 106 f. 221 Vgl. hierzu - bezogen auf die entsprechende Rechtlage in der Schweiz -: Buser, Straftaten, S. 45 ff., insbesondere S. 107 ff.; Eckert, Erfassung, S. 69 ff.; Schmid, ZStR 104 (1987),129,131 ff.; ders., ZSR NF 104 (1985), 11,135,214 ff. 222 Vgl. BGE 112 IV 79 und hierzu Müller, ZStR 113 (1995), I, 10; Rehberg / Schmid, Strafrecht III, § 20 vor Ziff. I; Schild Trappe, ZBJV 133 (1997), I, 2 ff. 223 Vgl. Killias / Kuhn, Festschrift für Rehberg, S. 192. 224 Vgl. einerseits - kritisch - Buser, Straftaten, S. 118 ff.; Killias/Kuhn, Festschrift für Rehberg, S. 190 m. w. N. sowie andererseits - bejahend - Schmidli, Missbrauch, S. 132 ff. In der Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärgesetzes vom 24. April 1991, BBl. 1991 11, 969, 1024/ 1025 wird darauf abgestellt, "dass diese Instrumente des Zahlungs- und Kreditverkehrs, die aus unserem Alltagsleben nicht mehr wegzudenken sind und die in Zukunft sicherlich eine noch grössere Bedeutung erlangen werden, des strafrechtlichen Schutzes bedürfen."

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

an deutlich, daß er als subsidiär zurücktreten soll, wenn der Tatbestand des Betruges (Art. 146 schwStGB) erfüllt ist. 225

c) Die Schaffung von Straftatbeständen im Vorfeld des Betruges Die Zielsetzung des 1. und 2. WiKG bestand darin, die Voraussetzungen für eine effektivere Bekämpfung wirtschaftskrimineller Verhaltensweisen zu schaffen. Neben der Erhöhung der präventiven Wirksamkeit bereits bestehender strafrechtlicher Normen und der Schließung von Strafbarkeitslücken sollte dieses Ziel insbesondere dadurch erreicht werden, daß auf die in der praktischen Anwendung der bestehenden Straftatbestände aufgetretenen Nachweisschwierigkeiten mit der Schaffung neuer, den praktischen Beweisproblemen Rechnung tragender Straftatbestände reagiert wurde. Wie bereits oben dargelegt,226 müssen sowohl die Ausgestaltung der Strafbarkeitsvoraussetzungen des § 266b dStGB als auch die im Rahmen der Rücküberführung der §§ 283 ff. dStGB in das Strafgesetzbuch vorgenommenen Modifikationen der Strafbarkeitsvoraussetzungen der Konkursdelikte vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung des Gesetzgebers gesehen werden. Die prägnantesten Beispiele dieser, die Reform des "modemen" Wirtschaftsstrafrechts der Bundesrepublik Deutschland wesentlich prägenden Entwicklung sind aber die durch das 1. und 2. WiKG als "abstrakte Gefährdungsdelikte im Vorfeld des Betruges" geschaffenen Sondertatbestände zur Bekämpfung des Subventions-, Kapitalanlage- und Kreditbetruges (§§ 264, 264a, 265b dStGB).227 In der Schweiz gab und gibt es entsprechende Straftatbestände nicht. 228 aa) Ursachen der Vorverlagerung des Strajbarkeitsbereiches

Anlaß für das gesetzgeberische Bemühen, die Bekämpfung wirtschaftsdelinquenter Verhaltensweisen im Rahmen der Subventionserschleichung, des Kapitalanlageschwindels und des Kreditbetruges zu intensivieren, waren bei der praktischen Anwendung des allgemeinen Betrugstatbestandes (§ 263 dStGB) aufgetrete225 Trechsel, SchwStGB, Art. 148 Rdnr. 14; zu Einzelheiten vgl. die Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärgesetzes vom 24. April 1991, in: BBI. 1991 11,969,1025. 226 Vgl. oben S. 150, Fußn. 213, sowie S. 153 f. 227 Hinzuweisen ist darauf, daß der Gesetzgeber mit dem am 20. 8. 1997 in Kraft getretenen Gesetz zur Bekämpfung der Korruption (Gesetz vom 13.8. 1997, BGBI. I, S. 2038) einen weiteren Spezialtatbestand (§ 298 dStGB) geschaffen hat, mit dem sog. Submissionsbetrügereien erfaßt werden sollen; vgl. hierzu: Dölling, Gutachten, C 63/64, 93 ff.; Korte, NStZ 1997,513,516 f.; Kudlich, JuS 1998,378,379; Lüderssen, BB 1996, Beilage 11, S. 3 ff.; Ouo, ZRP 1996, 300, 302 ff. 228 Vgl. Krauß, Festschrift für Vischer, S. 67 ff., der die Einführung eines dem § 264 StGB entsprechenden Tatbestandes der Subventionserschleichung für geboten erachtet.

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ne Schwierigkeiten: 229 Im Hinblick auf die Fälle der mißbräuchlichen Inanspruchnahme von Subventionen ergaben sich diese Schwierigkeiten zum einen aus dem insbesondere wegen der oft unklaren Vergabevoraussetzungen schwierigen Nachweis einer Täuschungshandlung des Subventionsempfängers bzw. eines hiermit korrespondierenden Irrtums der Subventionsbehörde. Darüber hinaus war das Tatbestandsmerkmal des Vermögensschadens problematisch, der - zumindest bei einem Festhalten am wirtschaftlichen Vermögensbegriff - dogmatisch sauber nur über die Anwendung der bereits im Grundsatz umstrittenen sog. Zweckverfehlungslehre konstruiert werden konnte. Schließlich war auch der Nachweis eines vorsätzlichen Verhaltens des Subventionsempfängers regelmäßig mit nicht unerheblichen Problemen verbunden. 23o Auch beim sog. Kapitalanlageschwindel scheiterte die Ahndung über § 263 dStGB sehr häufig am Nachweis eines vorsätzlich-täuschenden Verhaltens des Anbieters der Kapitalanlage sowie am Nachweis eines auf das Verhalten des Anbieters kausal rückführbaren konkreten Vermögensschadens des Kapitalanlegers. 231 Weiterhin konnte der Strafrechtsschutz über den allgemeinen Betrugstatbestand in der Regel erst dann zum Tragen kommen, wenn die Kapitalanleger bereits einen Schaden erlitten und sich die Täter nicht selten dem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden entzogen hatten. 232 Bei der mißbräuchlichen Inanspruchnahme von Krediten bezogen sich die Schwierigkeiten in der praktischen Anwendung des allgemeinen Betrugstatbestandes ebenfalls in erster Linie auf den Nachweis des Vorliegens einer Täuschungshandlung des Kreditnehmers, eines hierdurch bedingten hinreichend konkreten Vermögensschadens des Kreditgebers sowie allgemein auf den Betrugsvorsatz des Kreditnehmers. 233 Der Gesetzgeber hat auf die aufgetretenen Schwierigkeiten dadurch reagiert, daß er bei den neu geschaffenen Sondertatbeständen des Subventions-, Kapitalanlage- und Kreditbetrugs auf die bei der Anwendung des allgemeinen BetrugsUmfassend hierzu: Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 78 ff. Vgl. i.e. BT-Drucks. 7/3441, S. 16 f.; Eberle, Subventionsbetrug, S. 4 ff.; Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 80 ff., 93 f., 96 f., 107 f., 109 ff.; Hack, Probleme, S. 41 ff.; Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 123 ff.; Duo, Jura 1989,24,28; Ranft, JuS 1986,445,449; Samson I Günther, in: SKStGB, § 264 Rdnrn. 3 ff.; Sannwald, Rechtsgut, S. 55 ff.; Tiedemann, ZStW 86 (1976), 897, 910: ders., Wirtschaftsstrafrecht 2, S. 91 ff.; ders., NJW 1986, 3163. 231 Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 98 ff., 153 ff.; Jaath, Festschrift für Dünnebier, S. 590 ff.; A. Worms, Anlegerschutz, S. 176 ff.; ders., wistra 1987,242, 245; Tiedemann, JZ 1986, 865, 872. Zu dem ebenfalls als mangelhaft eingeschätzten Anlegerschutz durch andere strafrechtliche Normen vgl. BT-Drucks. 10/318, S. 21 f.; Möhrenschlager, wistra 1982, 201, 205; Joecks, wistra 1986, 142, 143; A. Worms, Anlegerschutz, S. 196 ff. 232 Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 186 ff.; Tiedemann, JZ 1986, 865, 872. 233 Vgl. BT-Drucks. 7/3441, S. 18; 7/5291, S. 14; Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 82 ff., 97, 102 ff.; Lampe, Kreditbetrug, S. 8 ff.; Duo, Jura 1989,24,29; Tiedemann, Gutachten, C 65 f.; ders., Wirtschaftsstrafrecht 2, S. 58. 229

23D

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

tatbestandes problematischen Tatbestandsmerkmale verzichtet, d. h. die Straftatbestände auf die vorsätzliche - bzw. im Falle des Subventionsbetruges sogar leichtfertige 234 - Abgabe wahrheitswidriger Erklärungen reduziert und damit bereits bloße Täuschungen als solche inkriminiert hat. Abweichend von der Grundnorm des § 263 dStGB hat der Gesetzgeber ganz bewußt auf die Strafbarkeitsvoraussetzungen des Irrtums und des Vermögensschadens verzichtet und mit dem alleinigen Abstellen auf das Merkmal einer Täuschung auch solche Verhaltensweisen als vollendete Delikte unter Strafe gestellt, die bei der Ausgestaltung als Erfolgs(vermögens)delikt i. S. d. § 263 dStGB allenfalls als Versuch strafbar wären. 235 Die Vorgehensweise des Gesetzgebers muß allerdings den Einwand provozieren, daß Schwierigkeiten beim Nachweis bestimmter Tatbestandsmerkmale unstreitig keine hinreichende Legitimation dafür geben, neue, allein auf die faktischen Möglichkeiten des forensischen Nachweises zugeschnittene Straftatbestände zu schaffen?36 Daß es entscheidend darauf ankommt, daß auch der in den Strafbarkeits- bzw. Beweisvoraussetzungen reduzierte Straftatbestand eine als solche strafwürdige Verhaltensweise umschreiben muß,237 wurde auch im Gesetzgebungsverfahren des 1. und 2. WiKG nicht in Frage gestellt. Sowohl im Rahmen der Begründung des Entwurfs zum 1. WiKG als auch des 2. WiKG wird grundsätzlich anerkannt, "daß allein praktische Schwierigkeiten bei der Anwendung des Betrugstatbestandes nicht die Einführung leichter handhabbarer Straftatbestände rechtfertigen. Derartige Reformen sind vielmehr aus rechtsstaatlichen Gründen nur dann vertretbar, wenn vor allem im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut auch das durch Vorfeldtatbestände erfaßbare Verhalten als strafwürdiges Unrecht erscheint. •.238

Analysiert man die Materialien der Gesetzgebungsverfahren im einzelnen, wird indes rasch deutlich, daß die Gründe, aufgrund derer sich der Gesetzgeber als berechtigt ansah, die §§ 264, 264a und 265b dStGB als "verselbständigte VersuchsVgl. § 264 Abs. 3 dStGB. Vgl. Peter-Alexis Albrecht, KritV 1993, 163, 168 ff.; Hassemer, ZRP 1992, 378, 381. 236 Vgl. hierzu die insbesondere gegen § 264 dStGB gerichtete Kritik, es handele sich lediglich um einen Auffangtatbestand für nicht erweisbares vorsätzliches Verhalten und damit letztlich um eine Verdachtsbestrafung (Samson I Günther, in: SKStGB, § 264 Rdnrn. 13, 16 ff.; F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 132 ff.; Hirsch, Bekämpfung, S. 20; Schubarth ZStW 92 (1980), 80, 10 I). Gleiches würde für § 265b dStGB gelten, bei dem vermutet wird, daß die Norm letztlich nur ein Aufhänger sei, der es den Strafverfolgungsorganen ermöglichen soll, Zwangsmaßnahmen zum Nachweis eines Betrugsdeliktes i. S. d. § 263 StGB zu ergreifen, vgl. Duo, Jura 1989,24,31; ders., ZStW 96 (1984),339.364/365; Schubarth, ZStW 92 (1980), 80, 92. 237 Vgl. Lagodny, Strafrecht, S. 313 f.; Lewisch, Verfassung, S. 301; Tiedemann, ZStW 87 (1975), 253, 275 ff.; ders., Wirtschaftsstrafrecht I, S. 87 ff., 112; Weber, ZStW 96 (1984), 376, 390; Weigend, Festschrift für Triffterer, S. 707; A. Worms, Anlegerschutz, S. 272; Zieschang, Gefahrdungsdelikte, S. 366 m. w. N. 238 BT-Drucks. 7/3441, S. 18; 10/318, S. 22. 234 235

III. Das "moderne" Wirtschaftsstrafrecht

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delikte" bzw. "abstrakte Gefährdungsdelikte im Vorfeld des Betruges,,239 auszugestalten, durchgängig rein pragmatischer Natur waren.

bb) Die Legiti11Ultion der Vorverlagerung des Strafbarkeitsbereiches (1) Der Subventionsbetrug (§ 264 dStGB)

Daß es sich bei der Erschleichung direkter Subventionen um sozialschädliches, mit den Mitteln des Strafrechts zu bekämpfendes Unrecht handelt, stand für den Gesetzgeber außer Frage?40 Anlaß, die mißbräuchliche Inanspruchnahme von Subventionen durch § 264 dStGB unter Strafe zu stellen, war die Annahme, daß in einer Vielzahl von Fällen öffentliche Mittel zweckwidrig erlangt und damit volkswirtschaftlich fehlgeleitet werden, was dann wiederum zu nicht unerheblichen Schädigungen führe. 241 Die gegenüber der Regelung in § 263 dStGB 242 zu konstatierende Vorverlagerung und Ausweitung des Strafbarkeitsbereiches auf eine bloße Tauschungshandlung wurde im Gesetzgebungsverfahren nur beiläufig mit dem Hinweis legitimiert, daß niemand gezwungen sei, eine Subvention zu beantragen und für denjenigen, der freiwillig und zu seinem Vorteil eine unentgeltliche Leistung des Staates in Anspruch nehme, die strafrechtliche Absicherung der ohnehin selbstverständlichen Wahrheitspflicht keine unzumutbare Belastung darstelle. 243 Nach Auffassung des Gesetzgebers korrespondiert der unentgeltlichen Inanspruchnahme öffentlicher Gelder eine erhöhte Verantwortlichkeit gegenüber der Allgemeinheit,244 die es als rechtspolitisch geboten erscheinen lasse, den Strafrechtsschutz für die mißbräuchliche Inanspruchnahme direkter Subventionen an die durch die Strafnormen der Abgabenordnung erfaßte Erschleichung indirekter Subventionen in der Form von Steuervorteilen anzugleichen. 245 (2) Der Kapitalanlagebetrug (§ 264a dStGB) Mit der Einführung des Straftatbestandes des Kapitalanlagebetrugs (§ 264a dStGB) wollte der Gesetzgeber zum einen den Anlegerschutz verbessern. Über 239 So bzgl. des § 264 dStGB: BT-Drucks. 7/3441, S. 25; 7/5291, S. 5; bzgl. des § 264a dStGB: BT-Drucks. 10/318, S. 12; bzgl. des § 265b dStGB: BT-Drucks. 7/5291, S. 14. 240 Vgl. BT-Drucks. 7/5291, S. 4 f. 241 BT-Drucks.7/344I,S.15. 242 Vgl. BT-Drucks. 7/3441, S. 15 ff.; 7/5291, S. 3 f. 243 BT-Drucks. 7/5291, S. 4. 244 Vgl. BT-Drucks. 7/5291, S. 8. 245 BT-Drucks. 7/3441, S. 17, 24. Vgl. auch Krauß, Festschrift für Vi scher, S. 69, der die Strafwürdigkeit des Gefährdungsdeliktes der Subventionserschleichung aus der Möglichkeit ableiten will, daß die Vergabebehörde eine Entscheidung treffen könnte, mit der sie den Subventionszweck sachlich verfehle.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

den individuellen Vermögensschutz hinaus sollte aber auch das Vertrauen in die Redlichkeit des Kapitalmarktes gestärkt werden, dessen Funktionsfähigkeit für die Wirtschaftsordnung von wesentlicher Bedeutung sei. 246 Die Notwendigkeit eines in den Bereich der Vermögensgefährdung vorverlegten strafrechtlichen Anlegerschutzes wurde damit begründet, daß die zumeist unerfahrenen Anleger in besonderem Maße schutzbedürftig, die bestehenden strafrechtlichen Normen aber weitgehend ineffektiv seien. 247 Der Gesetzgeber verkenne nicht, "daß praktische Schwierigkeiten bei der Anwendung des Betrugstatbestandes allein die Einführung leichter handhabbarer Straftatbestände nicht rechtfertigen. Solche Tatbestände sind aus rechtsstaatlichen Gründen vielmehr nur dort vertretbar, wo vor allem im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut das durch Vorfeldtatbestände erfaßte Verhalten als strafwürdiges Unrecht erscheint." Dies sei aber vorliegend der Fall: ,,Die Bekämpfung des Versuchs, mit täuschenden Angaben andere zur Anlage ihres Geldes zu veranlassen, dient nämlich nicht nur dem Schutz des individuellen Vermögens. Solche Verhaltensweisen sind vielmehr, wenn sie in einer gewissen Massenhaftigkeit auftreten, geeignet, das Vertrauen in den Kapitalmarkt zu erschüttern und damit das Funktionieren eines wesentlichen Bereichs der geltenden Wirtschaftsordnung zu gefährden. Daß es dem Entwurf gerade auch um den Schutz dieses überindividuellen Rechtsgutes geht, wird durch die Ausklammerung der Individualtäuschung sichtbar. In dieser Beschränkung sieht der Entwurf die Rechtfertigung für die Bestrafung des gefährlichen Verhaltens. ,,248

(3) Der Kreditbetrug (§ 265b dStGB) Anlaß der Regelung des Kreditbetruges (§ 265b dStGB) war die Erwägung, daß die Vergabe von Krediten an Kreditnehmer, denen die Kreditwürdigkeit fehlt und die als Teilnehmer am Wirtschaftsverkehr zu einer Vielzahl anderer Personen in rechtlichen Beziehungen treten, in mehrfacher Hinsicht eine erhebliche Gefahr darstellt: "Der Verlust der Kreditsumme mindert nicht nur das Vermögen des Kreditgebers; er bringt vielmehr auch diejenigen Personen in die Gefahr empfindlicher Vermögensschädigungen, die ihrerseits den Kreditgebern Kredite gewährt haben. Noch gefährlicher ist die Kreditgewährung an nicht kreditwürdige Darlehensnehmer aber für diejenigen Personen, denen der Darlehensnehmer wegen der ihm durch den Kredit verschafften Mittel als kreditwürdig erscheint und die deshalb mit ihm in geschäftliche Beziehungen treten oder Forderungen aus bereits bestehenden Beziehungen stunden. Die Erfahrung zeigt, daß der diesen Personen durch wirtschaftliche Schwierigkeiten des Kreditnehmers entstandene Schaden vermieden werden kann, wenn dem Kreditbewerber der Kredit versagt wird. ,,249 BT-Drucks. 10/318, S. 12. BT-Drucks. 10/318, S. 21 f.; zur Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit des individuellen Anlegers vgl. i.e. A. Worms, Anlegerschutz, S. 245 ff., 274 ff. 248 BT-Drucks. 10/318, S. 22. 249 BT-Drucks.7/344I,S.17. 246 247

III. Das "modeme" Wirtschafts strafrecht

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Die Regelung des § 265b dStGB sei erforderlich, weil sich § 263 dStGB in der Praxis als nicht ausreichend erwiesen habe, den aus der Kreditvergabe an kreditunwürdige Personen resultierenden Gefahren zu begegnen. 25o Auch hier heißt es in der Begründung des Entwurfs, es werde nicht verkannt, "daß allein praktische Schwierigkeiten bei der Anwendung des Betrugstatbestandes nicht die Einführung leichter handhabbarer Straftatbestände rechtfertigen. Derartige Refonnen sind vielmehr aus rechtsstaatlichen Gründen nur dann vertretbar, wenn vor allem im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut auch das durch Vorfeldtatbestände erfaßbare Verhalten als strafwürdiges Unrecht erscheint." Dies sei hier aber der Fall: "Wie die eingangs angestellten Überlegungen bereits ergeben, drohen die durch eine wirtschaftlich unvertretbare Kreditgewährung an Teilnehmer am Wirtschaftsverkehr ausgelösten Gefahren nicht nur dem Vermögen des Kreditgebers, sondern einer Vielzahl von Personen, die mit den Vertragspartnern in rechtlichen Beziehungen stehen. Nehmen solche Vorgänge entsprechende Größenordnungen an, kann der Fehlschlag der Vorhaben des Kreditnehmers zu Erschütterungen der gesamten Wirtschaftsordnung und zu einem Verlust des Vertrauens in ihr Funktionieren führen, dem auch mit strafrechtlichen Mitteln entgegengewirkt werden muß. Wer deshalb als Teilnehmer am Wirtschaftsverkehr Kredite durch Täuschung zu erlangen versucht, handelt bereits im Hinblick auf die damit verbundene generelle Gefahr strafwürdig. ,,251 Im Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsrefonn werden diese Erwägungen wie folgt ergänzt: "Kreditbetrügereien größeren Ausmaßes gefährden jedoch nicht nur die wirtschaftliche Existenz des Kreditgebers, sondern darüber hinaus auch die Kreditwirtschaft als solche und damit die Volkswirtschaft insgesamt. Durch erschlichene Kredite können außer dem Kreditgeber auch dessen Gläubiger in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten mit möglichen weiteren Auswirkungen auf deren Gläubiger. Auch Gläubigern des Kreditnehmers können hierdurch Schäden entstehen, weil bei ihnen infolge der Kreditgewährung ein falscher Eindruck von der Kreditwürdigkeit des Kreditnehmers entstanden ist, der sie zu weiteren Kreditgewährungen veranlaßt hat. Schließlich können sich die nachteiligen Folgen aus erschlichenen Krediten auf die Arbeitnehmer der Betroffenen auswirken.,,252

cc) Die Legitimation über den Schutz individueller Vermögensinteressen Die im Gesetzgebungsverfahren explizit aufgestellte und auch in den oben wiedergegebenen Begründungen zur Legitimität dieser Straftatbestände anklingende Behauptung, es handele sich um "verselbständigte Versuchsdelikte" bzw. "abstrakte Gefährdungsdelikte im Vorfeld des Betruges" setzt voraus, daß die Straftatbestände der §§ 264, 264a, 265b dStGB im Hinblick auf den Topos des Vennö250 BT-Drucks. 7/3441, S. 18; 7/5291, S. 14. m BT-Drucks. 7/3441, S.18. 252 BT-Drucks. 7/5291, S. 14.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

gensschutzes legitimiert werden können. 253 Dieser These ist zu widersprechen. Ausgangspunkt ist hierbei die Erwägung, daß sich der Gesetzgeber an seinen eige253 Das durch § 264 dStGB geschützte Rechtsgut soll nach verbreiteter Auffassung die Planungs- und Dispositionsfreiheit der öffentlichen Hand sein (vgl. Tröndle, StGB, § 264 Rdnr. 3 m. w. N.; vgl. auch Jung, JuS 1976,757,758). Der hiergegen zu Recht erhobene Einwand, daß angesichts der Normgebundenheit staatlichen Hande1ns von einer "Freiheit" im eigentlichen Sinne nicht gesprochen werden könne (vgl. Hack, Probleme, S. 65 f.) und die Planungs- und Dispositionsfreiheit der öffentlichen Hand jedenfalls kein Selbstzweck sei, sondern bestimmten inhaltlichen Zwecken dienen müsse (Hack, Probleme, S. 65 ff.; Lenckner, in: Schönkel Schröder, § 264 Rdnr. 4; Maurach/Schroder/Maiwald, StrafR BT, Teilbd. 1, § 41 Rn. 165; Maiwald, ZStW 96 (1984), 66, 77), führt zu der derzeit wohl herrschenden Ansicht, derzufolge § 264 dStGB das Allgemeininteresse an einer wirksamen und zweckgerechten staatlichen Wirtschaftsförderung schützen soll (Achenbach, JR 1988,251,253; Bottke, wistra 1991, 1,7; Cerny, MDR 1987,271,272; Geerds, Wirtschafts strafrecht, S. 250; Kühl, in: Lackner, § 264 Rdnr. 1; Lenckner, in: Schönke/Schröder, § 264 Rdnr. 4; Otto, Jura 1989,24,29; Tiedemann, Wirtschafts strafrecht 1, S. 109 f.; ders., Wirtschafts strafrecht 2, S. 106; ders., in: LK, § 264 Rdnr. 11; Wesseis, StrafR BT 2, Rdnr. 648). Innerhalb der herrschenden Ansicht ist umstritten, ob zusätzlich auch noch das öffentliche Vermögen geschützt wird (bejahend Jung, JuS 1976, 757,758; Kühl, in: Lackner, § 264 Rdnr. 1; Lenckner, in: Schönke/Schröder, § 264 Rdnr. 4; Schmidt-Hieber, NJW 1980,322, 324; Wesseis, StrafR BT 2, Rn. 648; ablehnend dagegen: Tiedemann, in: LK, § 264 Rdnrn. 13 f.). In der Literatur wird z.T. auch die entgegengesetzte Auffassung vertreten, derzufolge Rechtsgut des § 264 StGB allein das öffentliche Vermögen sein soll (Hack, Probleme, S. 63 ff.; Hirsch, Bekämpfung, S. 18; Maiwald, ZStW 96 (1984), 66,78; Maurach/Schroeder/Maiwald, StrafR BT, Teilbd. I, § 41 Rdnr. 165; Ranft, NJW 1986,3163,3165; Sannwald, Rechtsgut, S. 65; Schmidhäuser, StrafR BT, 11/97). Der mittelbare Schutz der Institution des Subventionswesens als wichtiges Instrument der staatlichen Wirtschaftslenkung ist hiernach ein im Schutz des öffentlichen Vermögens mitenthaltener bloßer Schutzreflex (Hack, Probleme, S. 68, 71; Sannwald, Rechtgut, S. 65). Geschütztes Rechtsgut des § 264a dStGB ist nach h.M. in erster Linie das Vertrauen der Allgemeinheit in den Kapitalmarkt, dessen Funktionsfähigkeit eine entscheidende Voraussetzung für die Entfaltung und Nutzung wirtschaftlicher Produktivkräfte darstelle (BT-Drucks. 101 318, S. 12; Bottke, wistra 1991, I, 8; Cerny, MDR 1987, 271, 272; Cramer, in: Schönkel Schröder, § 264a Rdnr. I; Geerds, Wirtschafts strafrecht, S. 204 ff.; Jaath, Festschrift für Dünnebier, S. 607; Kühl, in: Lackner, § 264a Rdnr. I; Ouo, Jura 1989, 24, 31; Tröndle, StGB, § 264a Rdnr. 4; Weber, NStZ 1986,481, 486; Wesseis, StrafR BT 2, Rdnr. 658). Während einige Vertreter der h.M. der Auffassung sind, daß § 264a dStGB neben der o.g. Zielrichtung auch dem Schutz individueller Vermögensinteressen von Kapitalanlegem dienen solle (Kühl, in: Lackner, § 264a Rdnr. I; Tröndle, StGB, § 264a Rdnr. 4; Weber, NStZ 1986, 481, 486), gehen andere Autoren davon aus, daß allein das Vermögen der Kapitalanleger geschützt werde (Joecks, wistra 1986, 142, 144; Maurach/Schroeder/Maiwald, StrafR BT, Teilbd. 1, § 41 Rdnr. 166; Schlüchter, 2. WiKG, S. 156; Samson/Günther, in: SKStGB, § 264a Rdnr. 7; A. Worms, Anlegerschutz, S. 268, 311; ders., wistra 1987, 242, 245). Der Schutz des redlichen Umgangs miteinander auf dem Kapitalmarkt ist nach dieser Auffassung lediglich Motiv für die Schaffung der Vorschrift gewesen (Samson/Günther, in: SKStGB, § 264a Rdnr. 7). Der durch § 264a StGB bewirkte Vertrauens schutz für den Kapitalmarkt als Institution sei nichts anderes als ein vom Vermögensschutz ausgehender Reflex (Joecks, wistra 1986, 142, 144; A. Worms, wistra 1987,242,245; ders., Anlegerschutz, S. 314 f.; vgl. auch Schlüchter, 2. WiKG, S. 176, die den Kapitalmarkt als Schutzgut mangels einer hinreichenden Abgrenzbarkeit bzw. Bestimmbarkeit ablehnt). § 265b dStGB soll nach allgemeiner Auffassung das Vermögen des einzelnen Kreditgebers schützen (Heinz, GA 1977, 225, 226; Kühl, in: Lackner, § 265b Rdnr. I; Lenckner, in: Schön-

III. Das "modeme" Wirtschaftsstrafrecht

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nen Vernünftigkeitskriterien bzw. Wertungen festhalten lassen muß?54 Hat er ein System geschaffen, muß er dieses entweder folgerichtig weiterentwickeln oder aber durch eine neues - dann auch wieder in sich folgerichtig entwickeltes bzw. zu entwickelndes - System ersetzen. 255 Abweichungen von den für ein System prägenden Leitgesichtspunkten erfordern eine besondere, die differenzierende Regelung legitimierende Begründung?56 Die oben skizzierte Begründung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß - letztlich aus rein pragmatischen Gründen - der Strafrechtsschutz für bestimmte Vermögensmassen vorverlagert wurde, ohne daß der durch diese Sonderbehandlung bestimmter Vermögensträger bedingte Eingriff in die innere Konsistenz des strafrechtlichen Vermögensschutzes auch nur annäherungsweise überzeugend gerechtfertigt wird. Abgesehen davon, daß im Hinblick auf § 264a dStGB die vom Gesetzgeber pauschal behauptete besondere Schutzbedürftigkeit bzw. Schutzwürdigkeit des Kapitalanlegers einer näheren Begründung bedürftig gewesen wäre/57 ist sowohl bei § 264a dStGB als auch bei § 265b dStGB aussschlaggebend, daß anderen Vermögensträgern - und auch den gleichen Vermögensträgern in den Fällen, in denen es um ein Kreditgeschäft bzw. eine Kapitalanlage geht, die von den §§ 264a, 265b dStGB nicht erfaßt werden - ein entsprechend vorverlagerter strafrechtlicher Vermögensschutz nicht gewährt wird. Angesichts dessen, daß im Falle einer gelungenen Tauschung jeder Vermögensträger gleichermaßen hilf- und damit auch schutzke 1Schröder, § 265b Rdnr. 3; Qtto, Jura 1989, 24, 29; Tröndle, StGB, § 265b Rdnr. 6). Umstritten ist, ob sich der Schutzzweck der Norm hierin erschöpft (So z. B. Maurach 1Schroeder/Maiwald, StrafR BT, Teilbd. \, § 41 Rdnr. 166; Samson/Günther, in: SKStGB, § 265b Rdnrn. 2 f.; Schmidhäuser, StrafR BT, 1111 (0) oder auch bzw. möglicherweise sogar in erster Linie das Allgemeininteresse an der Verhütung von Gefahren, die der Wirtschaft im ganzen infolge der vielfältigen Abhängigkeiten von Gläubigem, Schuldnern und Arbeitnehmern aus der ungerechtfertigten Vergabe von Wirtschaftskrediten erwachsen können (vgl. Kühl, in: Lackner, § 265b Rdnr. I), das Kollektivinteresse an der Funktionsfähigkeit des Kredits als Instrument des Wirtschaftsverkehrs (vgl. Lenckner, in: Schönke 1Schröder, § 265b Rdnr. 3; Qtto, Jura 1989,24,29; Tröndle, StGB, § 265b Rdnr. 6) bzw. die Institution der Kreditwirtschaft (vgl. BT-Drucks. 7/3441, S. 18 f.; 7/5291, S. 14, 16; Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 233 ff.; Jung, JuS 1976,757,759; Lampe, Kreditbetrug, S. 37 ff.; Lenckner, in: Schönkel Schröder, § 265b Rdnr. 3; Qtto, Jura 1989, 24, 29; Tiedemann, JuS 1989, 689, 691; ders., in: LK, § 265b Rdnrn. 9 ff.) als (mit-)geschützt anzusehen ist (ablehnend insoweit Heinz, GA 1977,225,226, mit dem Argument, daß es sich nur um eine mittelbare Folge aufgrund der Verflochtenheit der Wirtschaft handele). 254 Starck, in: v.Mangoldt 1 Klein 1Starck, Art. 3 Abs. I Rdnr. 33; vgl. auch Frisch, Festschrift für Stree/Wessels, S. 88 f.; Stratenwerth, StrafR AT, Rdnr. 61. m Lagodny, Strafrecht, S. 472; Peine, Systemgerechtigkeit, S. 229 und passim; Rupp, Gesetzeskontrolle, S. 380; Starck, in: v. Mangoldt 1Klein 1Starck, Art. 3 Abs. I Rdnr. 33; Wendt, NVwZ 1988, 778, 783 und 786. 256 Appel, Verfassung, S. 585 ff.; Gusy, NJW 1988, 2505, 2507 f.; Lagodny, Strafrecht, S. 471; Robbers, DÖV 1988, 749, 755 f.; Rupp, Gesetzeskontrolle, S. 381/382; Schoch, DVBI. 1988,863,878; Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Art. 3 Abs. I Rdnr. 33; Wendt, NVwZ 1988.778.780 f. und 7821783; vgl. auch Peine. Systemgerechtigkeit, S. 53 ff. m Vgl. hierzu A. Worms, Anlegerschutz, S. 245 ff., 274 ff. 11 Wohlers

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

los ist, kann die punktuelle Sonderbehandlung bestimmter Kapitalanleger und Kreditgeber als eine innerhalb des Gesamtsystems des strafrechtlichen Vermögensschutzes legitime Differenzierung nicht begründet werden. Gleiches hat im Ergebnis auch für den Straftatbestand des Subventionsbetrugs (§ 264 dStGB) zu gelten. Die partielle Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes für bestimmte Angriffe auf das Vermögen der öffentlichen Hand läßt sich mit dem Gebot einer in sich stimmigen Ausgestaltung des Systems des strafrechtlichen Vermögensschutzes nicht vereinbaren. 258 Selbst wenn man unterstellen würde, daß die vom Gesetzgeber lediglich postulierte Wahrheitspflicht des Subventionsempfängers gegenüber dem öffentlichen Subventionsgeber tatsächlich besteht, wäre damit nicht zugleich dargetan, daß die bloße Verletzung dieser Wahrheitspflicht ohne weiteres als ein strafwürdiges Verhalten anzusehen ist. Wenn der Gesetzgeber - im Anschluß an entsprechende Ausführungen Tiedemanns 259 - die Strafwürdigkeit des täuschenden Verhaltens des Subventionsempfängers aus einer besonderen Strafwürdigkeit des Angriffs auf das in seiner Schutzfahigkeit beschränkte Vermögen der öffentlichen Hand herleiten will,260 ist dem entgegenzuhalten, daß die geminderte Schutzfähigkeit der öffentlichen Hand bereits faktisch zweifelhaft erscheint. 261 Soweit in der Literatur die Auffassung vertreten wird, bei täuschenden Angriffen auf das öffentliche Vermögen könne auf den Irrtum als Strafbarkeitsvoraussetzung verzichtet werden, weil der Irrtum eines Staatsbediensteten angesichts der Zweckbindung des öffentlichen Vermögens keine adäquate Strafbarkeitsvoraussetzung darstelle,262 ist dem entgegenzuhalten, daß es inkonsequent ist, bei den § 264 dStGB unterfallenden Subventionen den Irrtum eines Staatsbediensteten für verzichtbar zu erachten, während bei allen anderen täuschenden Angriffen auf das öffentliche Vermögen - unter Einschluß der täuschenden Erschleichung von Subventionen, die nicht dem Anwendungsbereich des § 264 dStGB unterfallen an dieser der Sache nach inadäquaten Strafbarkeitsvoraussetzung festgehalten wird. Wenn schließlich der Verzicht auf die Strafbarkeitsvoraussetzung des Vermögensschadens für unschädlich erklärt wird, weil mit dem täuschenden Verhalten des Subventionsempfängers eine Handlung umschrieben sei, die regelmäßig zu einem Vermögensschaden der öffentlichen Hand führen würde,263 ändert dies nichts daran, daß264 das täuschende Verhalten des Subventionsempfängers eben Vgl. Hirsch, Bekämpfung, S. 20. Vgl. Tiedemann, Gutachten, C 49; ders., Wirtschaftsstrafrecht I, S. 87; ders., ZStW 87 (1975), 253, 276. 260 Vgl. BT-Drucks. 7/3441, S. 17,24/25,27; 7/5291, S. 4; ablehnend zu einer Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichen Vermögen Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 246 f. 261 Vgl. F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 130 f. 262 Hack, Probleme, S. 61. 263 Hack, Probleme, S. 62. 264 Dies erkennt letztlich auch Hack an (Probleme, S. 99 ff.). 258

259

III. Das "modeme" Wirtschaftsstrafrecht

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allenfalls regelmäßig zu einem Vermögensschaden der öffentlichen Hand führt,265 andererseits aber eben auch Fälle erfaßt werden, in denen dies nicht der Fall ist. Da aber die Erfassung aller auch nur abstrakt gefährlicher Verhaltensweisen eines Subventionsempfangers nicht durch die besondere Schutzbedürftigkeit der öffentlichen Hand gerechtfertigt werden kann, muß es dabei bleiben, daß auch die Strafwürdigkeit des schlicht täuschenden Verhaltens eines Subventionsempfangers nicht im Hinblick auf das Rechtsgut des (öffentlichen) Vermögens begründet werden kann. 266 Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß weder § 264 dStGB noch die §§ 264a, 265b dStGB über den Topos des Vermögensschutzes legitimiert werden können. Auch wenn die Unterbindung der erfaßten Verhaltensweisen letztendlich dem Vermögensschutz zugute kommt, ändert dies nichts daran, daß die Strafwürdigkeit eines im Hinblick auf die Strafbarkeitsvoraussetzungen reduzierten Straftatbestandes aus sich selbst heraus begründet werden muß. Wird eine bloße Tauschungshandlung pönalisiert, muß bereits die Tauschungshandlung für sich gesehen strafwürdig sein. Da der Gesetzgeber die Grenze des strafwürdigen Verhaltens im Hinblick auf den Schutz des Individualvermögens vor täuschenden Verhaltensweisen aber durch § 263 dStGB bereits in der Weise gezogen hat, daß nicht bereits die bloße Tauschungshandlung für sich gesehen ausreicht, das Verhalten als ein (vollendetes) deliktisches Verhalten zu kriminalisieren, und auch das durch § 264 Abs. 3 dStGB inkriminierte fahrlässige Verhalten im Vermögensstrafrecht keine Parallele hat,267 265 Auf die Schwierigkeiten, in den Fällen des Subventionsbetruges auf der Grundlage des wirtschaftlichen bzw. juristisch-ökonomischen Vennögensbegriffes einen Vennögensschaden i. S. d. § 263 StGB zu begründen, sei an dieser Stelle nur hingewiesen; vgl. hierzu i.e. Geerds, Wirtschaftsstrafrecht. S. 110 ff. 2M Daß die gerade im Hinblick auf § 264 dStGB zu vermutende Intention, den der öffentlichen Verwaltung im Rahmen der Subventionsvergabe ansonsten entstehenden Kontrollaufwand durch strafbewehrte Verhaltensnormen zu reduzieren, um so Verwaltungskosten einzusparen, eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Subventionsempfängers nicht zu begründen vermag, bedarf keiner weiteren Ausführung; vgl. insoweit nur F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 131 f. 267 Die auch im Gesetzgebungsverfahren selbst hervorgehobene Parallele zu den Fällen der Verletzung der Abgabenordnung spricht dafür, daß jedenfalls das durch § 264 Abs. 3 dStGB erfaßte leichtfertige Verhalten - entsprechend § 378 AO - kein Kriminalunrecht darstellt und die leichtfertige Subventionserschleichung deshalb zumindest de lege ferenda als Ordnungswidrigkeitentatbestand ausgestaltet werden müßte (vgl. Hack, Probleme, S. 143 ff.; Samson I Günther, in: SKStGB, § 264 Rdnrn. 12, 15,20). Soweit das Wesen des § 264 Abs. 3 dStGB als Kriminalstraftat in der Literatur mit einer höheren kriminellen Energie desjenigen legitimiert werden soll. der dem Staat vorhandene Mittel entziehe, statt lediglich sein Vermögen dem staatlichen Zugriff vorzuenthalten (Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 314), wird der Gesichtspunkt vernachlässigt, daß § 378 AO im Gegensatz zu § 264 dStGB einen Vermögensschaden des Staates zur Voraussetzung hat (vgL Hack, Probleme, S. 143 ff.). Vgl. im übrigen auch Arzt, Beweisschwierigkeiten, S. 94 f., mit dem zutreffenden Hinweis darauf, daß sich die Überdehnung des Strafbarkeitsbereiches auch dann ergibt, wenn man die Funktion als Verdachtsbestrafung bei möglicherweise vorsätzlich handelnden Tater akzeptieren würde, weil nicht nur der möglicherweise vorsätzlich handelnde Tater, sondern auch der eindeutig (nur) fahrlässig handelnde Täter erfaßt wird.

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würde die Annahme, es handele sich bei den §§ 264, 264a, 265b dStGB um Vermögensdelikte, die hergebrachten Strukturen des strafrechtlichen Vermögensschutzes sprengen. 268

dd) Die Legitimation über den Schutz überindividueller Interessen Nachdem die Legitimation über den Topos des Vermögensschutzes gescheitert ist, stellt sich die Frage, ob es überindividuelle bzw. soziale Belange gibt, die die Pönalisierung der durch die §§ 264, 264a, 265b dStGB erfaßten Tauschungshandlungen als solche zu rechtfertigen vermögen. Auch insoweit finden sich bereits in den Materialien der Gesetzgebungsverfahren verwertbare Ansatzpunkte: Im Hinblick auf § 264a dStGB hat der Gesetzgeber als Schutzgut das Vertrauen in die Institution des Kapitalanlagemarktes genannt,269 bei § 265b dStGB hat er auf die Erschütterungen des Vertrauen in das Funktionieren der gesamten Wirtschaftsordnung verwiesen.2 7o Hierauf aufbauend sind in der Literatur als Schutzgut dieser Normen das Vertrauen bzw. die Funktionsfähigkeit des Kreditwesens und des Kapitalanlagemarktes genannt worden. 271 Entsprechend kann man bezüglich des § 264 dStGB an das Vertrauen in die Integrität bzw. das Funktionieren der staatlichen Wirtschaftsförderung denken.2 72

(1) Der Einwand der systemwidrigen Differenzierung

Gegen die Konzeption, die Legitimation der §§ 264, 264a, 265b dStGB aus dem Gesichtspunkt der Gewährleistung der Funktionsfähigkeit bestimmter Teilbereiche der Wirtschaftsordnung abzuleiten, ist - insbesondere im Hinblick auf die §§ 264a, 265b dStGB - der Einwand erhoben worden, daß diese Straftatbestände unter Zugrundelegung dieser Rechtsgutskonzeption nicht systemgerecht konzipiert wären. Zur Begründung wird darauf verwiesen, daß unter ZugrundeIegung der Konzeption der §§ 264a, 265b dStGB als Straftatbestände zum Schutz der Funktionsfähigkeit bzw. Integrität des Kapitalmarktes bzw. des Kreditwesens als Teilbereich der Gesamtwirtschaftsordnung bzw. als Instrument des Wirtschaftsverkehrs konsequenterweise nicht nur die Anbieter von Kapitalanlagen, sondern auch die Kapitalanleger erfaßt werden müßten, da diese für Störungen des Kapitalmarktes zumindest mitverantwortlich seien?7) Im Hinblick auf § 265b dStGB Hirsch. Gedächtnisschrift für H. Kaufmann. S. 151. BT-Drucks. 10/318. S. 12.22. 270 BT-Drucks. 7/3441. S. 18. 27\ Vgl. die Nachweise oben S. 160. Fußn. 253. m So die h.M .• vgl. z. B. Bottke. wistra 1991. 1.7: Kühl, in: Lackner. § 264 Rdnr. I: Ouo. Jura 1989. 24. 29: Tiedemann. in: LK. § 264 Rdnr. 11: Wesseis. StrafR BT2. Rdnr. 648. jeweils m. w. N. 2bR

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III. Das .,moderne" Wirtschaftsstrafrecht

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wird moniert, daß dann, wenn die Funktionsfähigkeit des Kreditwesens bzw. des Kredits als Instrument des Wirtschaftsverkehrs gewährleistet werden solle, nicht nur der Kreditnehmer, sondern auch der unverantwortlich handelnde Kreditgeber erfaßt werden müsse 274 und es im übrigen nicht auf die Täuschung des Kreditgebers ankommen könne, sondern vielmehr die (volks-)wirtschaftliche Vertretbarkeit des Kreditgeschäfts das maßgebende Kriterium sein müsse. 275 Dem ist entgegenzuhalten, daß es einen Grundsatz, daß Pönalisierungen wirtschafts bezogener Verhaltensweisen stets alle an einem Rechtsgeschäft beteiligten Parteien erfassen müssen, nicht gibt. Insbesondere dann, wenn Anlaß der Pönalisierung ein auf Täuschung der Gegenseite angelegtes Verhalten einer Vertragspartei ist, wird man eine asymmetrische Pönalisierung als eine sachlich angemessene Differenzierung ansehen können. 276 (2) Die Legitimität des strafrechtlichen Schutzes von Institutionen und Funktionszusammenhängen des Wirtschafts verkehrs Wenn der Schutz der Handlungsfähigkeit bestimmter Institutionen bzw. der Integrität bestimmter Funktionszusammenhänge als überindividuelle Belange die PÖnalisierung der durch die §§ 264, 264a, 265b dStGB erfaßten bloßen Täuschungshandlungen legitimieren soll, setzt dies allerdings voraus, daß derartige Schutzgüter überhaupt legitime Schutzgegenstände strafbewehrter Verhaltensnormen sein können. Wie bereits oben dargelegt wurde,277 dienen Strafrechtsnormen dem Schutz der für das Zusammenleben in der Gemeinschaft notwendigen Grundvoraussetzungen menschlicher Koexistenz. Grundlage der personalen Entfaltung des einzelnen ist zum einen die Anerkennung einer individuellen Freiheitssphäre. Angesichts dessen, daß in einer modernen Gesellschaft praktisch keine Freiräume mehr existieren, die es einem Mitglied der Gesellschaft ermöglichen würden, von seiner Freiheit in einer über das forum internum hinausgehenden Art und Weise Gebrauch zu machen, ohne gleichzeitig die Freiheitssphäre anderer Gesellschaftsmitglieder zu beeinträchtigen bzw. mit deren Freiheitsausübung (zumindest potentiell) in Konflikt zu geraten, müssen neben dem Bestand an individuellen Freiheitsrechten aber auch die Grundbedingungen gewährleistet werden, die es dem einzelnen überhaupt erst ermöglichen von seiner - insoweit notwendigerweise nicht schrankenlosen - Freiheit tatsächlich Gebrauch zu machen.

m Vgl. Joecks, wistra 1986, 142, 144; A. Worms, wistra 1987,242,245; ders., Anlegerschutz, S. 314 f. !74 Schubarth, ZStW 92 (1980), 80, 91 f. !7~ Samson I Günther, in: SKStGB, § 265b Rdnr. 2. !76 Vgl. Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 206 f.. 214, 235, 322; Lenckner, in: Schönkel Schröder, § 265b Rdnr. 3. m Vgl. oben S. 94 ff.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

Im Hinblick auf die Kategorie der Wirtschaftsdelikte bedeutet dies: 278 Zu den Grundlagen der personalen Entfaltung gehört auch die Existenz eines Ordnungsrahmens, der es dem einzelnen ermöglicht, sich wirtschaftlich zu betätigen und so seinen Lebensunterhalt sicherzustellen. Da sich die Wirtschaftsordnung im Laufe ihrer Entwicklung zu einem immer komplexer werdenden sozialen System ausdifferenziert hat, könnte die Strafwürdigkeit von Verhaltensweisen, die die Funktionsfähigkeit der Wirtschaftsordnung bzw. bestimmter Abläufe innerhalb der Wirtschaftsordnung beeinträchtigen oder stören, neben dem Schutzgut der Funktionsfähigkeit der Wirtschaftsordnung als solcher auch aus der Beeinträchtigung bestimmter Institutionen, Handlungsabläufe oder Funktionszusammenhänge des Wirtschaftslebens abgeleitet werden. Problematisch hieran ist, daß einerseits unter rein pragmatischen, auf den möglichst effizienten Schutz wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Handlungsabläufe ausgerichteten Gesichtspunkten grundsätzlich jedes neu auftretende Schutzinteresse zur Entstehung eines überindividuellen Rechtsguts führen kann, andererseits aber zu berücksichtigen ist, daß eine schrankenlose Anerkennung von Gemeinwohlinteressen und Gemeinschaftswerten als überindividuelle Rechtsgüter die Gefahr begründen würde, daß der Strafrechtsschutz unangemessen ausgeweitet wird?79 Entscheidend ist damit, anhand welcher Kriterien strafrechtlich als schützenswert anzuerkennende überindividueIle Schutzgüter von strafrechtlich nicht schutzwürdigen Schutzgütern abzugrenzen sind.2 8o

ee) Die Strafwürdigkeitslehre (Otto) Das Bestreben, Pönalisierungsentscheidungen auf rationale Erwägungen zu stützen, setzt voraus, daß es Kriterien gibt, anhand derer die Strafwürdigkeit der Beeinträchtigung bestimmter Schutzgüter intersubjektiv überzeugend beurteilt werden kann. Otto, der in mehreren Publikationen den Versuch unternommen hat, die Strafwürdigkeitslehre als System der den Gesetzgeber bei der Pönalisierung leitenden Erwägungen zu entwickeln, vertritt die These, die Strafwürdigkeit eines Verhaltens finde ihren unmittelbaren Bezug "im sachlichen Gehalt der Strafe". In der Bestrafung komme "eine bewußte und gewollte Mißbilligung der Tat und des Taters zum Ausdruck", sie enthalte damit "ein sozialethisches Unwerturteil". Da die Bestrafung einen schweren Eingriff in Freiheit, Persönlichkeitsentwicklung und Würde des Bestraften zur Folge habe, erfordere die grundgesetzlieh verbürgte Achtung der Freiheit und Würde des Betroffenen, aber auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Strafe nur dort als Reaktion zuzulassen, wo sie unerläßlich sei, um 278 Vgl. Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 279, 283; lescheck, JZ 1959, 457, 458; Quo, Mißbrauch, S. 457; Tiedernann, Tatbestandsfunktionen, S. 119 ff.; ders., Wirtschaftsstrafrecht I,S.139. 279 Vgl. F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 118; Volk, JZ 1982,85,87 f. 2RO Vgl. Hirsch, Bekämpfung, S. 15.

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den Rechtsfrieden zu gewährleisten. Strafwürdig sei ein Verhalten, "das deshalb sozialethisch zu mißbilligen ist, weil es geeignet ist, die sozialen Beziehungen innerhalb der Rechtsgemeinschaft erheblich zu gefährden oder zu schädigen. Bloß lästige oder unerwünschte Verhaltensweisen erreichen diesen Grad der Sozialschädlichkeit oder Sozialgefährlichkeit nicht, es muß sich vielmehr um gravierende Rechtsgutsverletzungen handeln. ,,281 Ob eine Rechtsgutsverletzung so gravierend sei, daß sie eine Pönalisierung erforderlich mache, will Otto in einem Verfahren ermitteln, das sich mit den "sozialethischen Grundentscheidungen der Gesellschaft" sowie den Erkenntnissen "kriminologisch-empirischer Untersuchungen über die realen Möglichkeiten der Verwirklichung dieser Entscheidungen in konkreten Konfliktsituationen" bewertend auseinandersetzen soll. Bei der Bewertung der zu schützenden Rechtsgüter komme der Grundrechtsordnung des Grundgesetzes entscheidende Bedeutung zu. Das Grundgesetz verkörpere in seinem Grundrechtskatalog eine objektive Werteordnung, "in der die wesentlichen sozialethischen Grundentscheidungen den Rang verfassungsrechtlicher Entscheidungen erhalten haben. Je höher der Rang eines Rechtsguts in dieser Wertordnung ist, um so eher wird jede erhebliche Gefährdung oder Verletzung dieses Rechtsguts strafwürdig erscheinen. Je geringer dieser Rang ist, um so mehr wird es angemessen sein, nur einzelne Beeinträchtigungen, denen nämlich eine besonderes Maß an sozialem Unwert zukommt, als strafwürdig einzuordnen, so z. B. wenn die Verletzung eines derartigen Rechtsguts zu einer darüber hinausgehenden weiteren Schädigung eines anderen Rechtsguts, etwa der Freiheit der Willensbildung oder -betätigung, der Vertrauens- oder Gewahrsamssphäre bzw. des individuellen Vermögens führt. Insofern bestimmen Handlungsund Erfolgsunwert die Strafwürdigkeit einer Verhaltensweise.,,282 Die bereits im Zusammenhang mit der Beschränkung des Strafwürdigen auf gravierende Rechtsgutsverletzungen angedeutete Begrenzung des Anwendungsbereiches strafrechtlicher Normen wird durch das die Strafwürdigkeit ergänzende Kriterium der Strafbedürftigkeit nochmals betont. Das Kriterium der Strafbedürftigkeit bringe zum Ausdruck, "daß die Strafe unerläßliches Mittel ist, um die Gesellschaft vor strafwürdigen Rechtsgutsbedrohungen oder -verletzungen zu schützen und die Rechtsordnung zu bewahren". Der Unterschied zur Strafwürdigkeit bestehe darin, daß die Strafwürdigkeit "wesentlich durch die Wertung der Sozialschädlichkeit eines Verhaltens bestimmt wird", während die Strafbedürftigkeit "vorrangig das Zweckmoment staatlicher Strafe" erfasse. Das Zweckmoment der Strafe stehe "der Bestrafung eines strafwürdigen Verhaltens dann entgegen, wenn andere, weniger 28\ Ouo, ZStW 96 (1984),339,347; ders., NJW 1979,681,683; ders., MschrKrim 1980, 397,400 f.; ders., Gedächtnisschrift für Schröder, S. 54 f.; ders., Jura 1989,24,27; vgl. auch Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 286 ff.; Costa-Andrade, Strafwürdigkeit, S. 130; H.-L. Günther, JuS 1978, 8, 12 f.; ders., Strafrechtswidrigkeit, S. 237; Langer, Sonderverbrechen, S. 330; Schmidhäuser, StrafR AT, 2/ 14. 282 Ouo, ZStW 96 (1984),339,347 f.; ders., NJW 1979,681,683; ders., MschrKrim 1980, 397,401; ders., Gedächtnisschrift für Schröder, S. 55 f.

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gravierende Eingriffe als die Pönalisierung des Verhaltens, die einen besseren oder zumindest den gleichen Erfolg versprechen, zur Verfügung stehen,,?83 (l) Allgemeine Würdigung der Konzeption

Den Ausführungen Ottos kann zunächst entnommen werden, daß das maßgebliche Kriterium zur Bestimmung der als Kriminalunrecht zu behandelnden Verhaltensweisen die Strafwürdigkeit sein soll. Der Strafbedürftigkeit kommt allein die Funktion eines Korrektivs zu, anhand dessen die tatsächliche Pönalisierungsbedürftigkeit eigentlich strafwürdiger Verhaltensweisen verneint werden soll, wenn alternativ andere, weniger gravierende, gleichzeitig aber mindestens ebenso wirksame Steuerungsmechanismen zur Verfügung stehen. Die Wirkung, die der Strafbedürftigkeit als ein den Anwendungsbereich strafrechtlicher Normen beschränkendes Kriterium in der praktischen Umsetzung zukommen kann, hängt zunächst davon ab, ob man die vergleichende Bewertung der Eingriffsintensität verschiedener Steuerungsmechanismen auf die Auswirkungen beschränkt, die diese Maßnahmen für die als potentiellen Tater in Betracht kommende Einzelperson haben, oder ob man auf die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen abstellt. Entscheidend wird die Korrekturfunktion der Strafbedürftigkeit aber vor allem dadurch in Frage gestellt, daß keine zivil- oder verwaltungsrechtlichen Präventivmaßnahmen denkbar sind, die es ausgeschlossen erscheinen lassen, daß es nicht doch - zumindest in Einzelfällen - zu Beeinträchtigungen oder Störungen der jeweils geschützten Interessen kommt. 284 Wenn aber bestimmte Verhaltensweisen als "eigentlich strafwürdig" anzusehen sind, würde die Entscheidung, die Strafbedürftigkeit im Hinblick auf alternative Regelungsinstrumentarien zu verneinen, voraussetzen, daß die Beeinträchtigung "eigentlich (straf-)schutzwürdiger" Interessen dann hinzunehmen ist, wenn es sich um nur gelegentlich auftretende Beeinträchtigungen handelt. Ob man das gelegentliche oder seltene Auftreten eigentlich strafwürdiger Verhaltensweisen hinnehmen kann bzw. soll, stellt ein Problem "normativer Verzichtbarkeit" dar,285 hängt also von der Bedeutung und Wertigkeit des geschützten Interesses und damit von der Strafwürdigkeit der in Frage stehenden Verhaltensweise ab, was wiederum bedeutet, daß außerstrafrechtliche Prävention und der Einsatz strafrechtlicher Zwangsandrohungen zumindest dann, wenn es um Beeinträchtigungen gewichtiger Belange geht, nicht im Verhält283 Duo, ZStW 96 (1984),339,348; ders., NJW 1979,681,683; ders., MschrKrim 1980, 397, 403; ders., Jura 1989, 24, 27; ders., Gedächtnisschrift für Schröder, S. 56; vgl. auch Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 291; H.-L. Günther, JuS 1978,8,11 f. Kritisch hierzu Alwart, Strafwürdiges Versuchen, S. 58 ff.: zweckorientierte Erwägungen seien vom Strafwürdigkeitsurteil nicht zu trennen; vgl. auch Romano, Strafwürdigkeit, S. 109. 284 Vgl. H.-L. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 193/194, sowie oben S. 74 f. 285 Vgl. Frisch, Festschrift für Stree/Wessels, S. 78 f.; H.-L. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 194.

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nis des "Entweder-oder" stehen, sondern in dem des "Sowohl-Als-auch",z86 Da der Stratbedürftigkeit nach alledem ein von der Strafwürdigkeitsbeurteilung unabhängiger, eigenständiger Gehalt nicht zukommt, muß der Schutz vor einem unangemessenen und deshalb mißbräuchlichen Einsatz des strafrechtlichen Instrumentariums letztlich allein durch das Kriterium der Strafwürdigkeit geleistet werden. Die Strafwürdigkeit eines Verhaltens soll nach Otto "ihren unmittelbaren Bezug im sachlichen Gehalt der Strafe" bzw. in dem durch die Strafe zum Ausdruck kommenden "sozialethischen Unwerturteil" finden,z87 Die Bedeutung, die dem postulierten Bezug auf den sachlichen Gehalt der Strafe als Kennzeichen kriminellen Unrechts in der Konzeption Ottos zukommen soll, bleibt allerdings weitgehend dunkel. Auch die sozialethische Mißbilligung der Verhaltensweise hat soweit ersichtlich keine eigenständige Bedeutung für die Strafwürdigkeit, die damit letztlich auf nichts anderes als das Ergebnis einer Sozialschädlichkeitsbeurteilung gestützt wird: 288 Weil eine Verhaltensweise (in gravierendem Maße) sozialschädlich ist, ist sie strafwürdig und gleichzeitig bzw. eben deswegen auch sozialethisch zu mißbilligen. 289 Für die Bewertung der Sozialschädlichkeit einer Verhaltensweise will Otto zum einen die "sozialethischen Grundentscheidungen der Gesellschaft" und zum anderen aus "kriminologisch-empirischen Untersuchungen" gewonnene Erkenntnisse heranziehen. 290 Im Hinblick auf die Berücksichtigung kriminologisch-empirischer Erkenntnisse ist zu konstatieren, daß es Erkenntnisse darüber, wie sich beispielsweise bestimmte Verhaltensweisen einzelner Teilnehmer am Wirtschaftsleben auf die Wirtschaftsordnung insgesamt oder die Interessensphäre anderer Teilnehmer am Wirtschaftsleben auswirken, praktisch nicht gibt, so daß die Annahme bzw. Nichtannahme bestimmter Folgewirkungen bestenfalls auf plausibel begründeten Vermutungen basiert. 291 Ähnlich gelagerte Probleme wirft die geforderte Orientierung an den "sozialethischen Grundentscheidungen der Gesellschaft" auf. Zu klären wäre hier zunächst die von Otto nicht näher erörterte Frage, ob die in einer Gesellschaft fak286 Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht I, S. 79; Weber, ZStW 96 (1984), 376, 379 f., sowie oben S. 73. 287 Vgl. auch H.-L. Günther, JuS 1978,8,13. 288 So ausdrücklich Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht I, S. 112, 142; vgl. auch Sieber, Computerkriminalität, S. 264. 289 Vgl. Kunz, Bagatellprinzip, S. 127; A. Worms, Anlegerschutz, S. 270/271. 290 Andere Autoren nennen, ohne daß dies soweit ersichtlich zu einer abweichenden Auffassung führt, als Kriterien der Strafwürdigkeit den Rang des beeinträchtigten Rechtsguts und die Sozialgefahrlichkeit des Angriffsverhaltens; vgl. z. B. Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 288; Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 51. 291 Vgl. H.-L. Günther, JuS 1978,8, \0; Heinz GA 1977, 193, 199 ff.; Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 46 ff. hält eine auf einer Prognose basierende Verdachtspönalisierung für zulässig, bejaht aber andererseits auch eine Pflicht des Gesetzgebers, seine Prognose zu verifizieren (a. a. 0., S. 48 ff.). Vgl. auch oben S. 59 f.

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tisch herrschenden sozialethischen Grundentscheidungen oder aber die in einer Gesellschaft normativ für verbindlich erklärten sozialethischen Grundentscheidungen maßgebend sein sollen. Wollte man auf die faktisch herrschenden sozialethischen Grundentscheidungen abstellen, würde sich die Frage stellen, wann bestimmte sozialethische Anschauungen als für eine Gesellschaft verbindlich anzusehen sind. Klärungsbedürftig wäre hier zunächst, welcher Grad von Zustimmung erforderlich sein soll. Würde man eine allseitige Zustimmung voraussetzen, wären als verbindlich anerkannte sozialethische Anschauungen praktisch nicht mehr vorhanden, jedenfalls aber wohl nicht mehr feststellbar. Würde man auf eine allseitige Zustimmung verzichten, würde sich die Frage stellen, welcher Grad an Zustimmung zu verlangen wäre und wie und wodurch das ausreichende Maß an Zustimmung dokumentiert werden soll, ob also beispielsweise bereits die widerstrebende Anpassung an bestimmte Normen als ausreichend anzusehen ist oder aber eine weitergehende Identifikation - bis hin zur reflektierten Internalisierung einer Norm - erforderlich sein soll.292 Da die sozialethischen Anschauungen durch den sozialen Status und die gesellschaftliche Stellung einer Person zumindest mitbestimmt werden, würde sich darüber hinaus die Frage stellen, ob es allein auf die Zustimmung einer - evtl. qualifizierten - Mehrheit oder aber auf die Zustimmung einer - wie auch immer näher zu definierenden - gesellschaftlich relevanten Gruppe ankommen soll. Sollte man sich auf die Relevanz einer Mehrheitsmeinung bzw. einer gesellschaftlich relevanten Gruppierung verständigen können, wäre schließlich noch zu klären, ob bestimmte sozialethische Grundentscheidungen auch gegen den Willen der in einem besonderem Maße von einer Regelung Betroffenen getroffen werden können und in welchem Maße deren Interessen und Anschauungen berücksichtigt werden müssen. 293 All dies zeigt, daß der Versuch, die in einer Gesellschaft herrschenden sozialethischen Grundentscheidungen zur Richtschnur der Strafwürdigkeitsbewertung zu machen, nicht auf empirische Erkenntnisse gestützt werden kann, sondern auf normative Festsetzungen zurückgegriffen werden muß, letztlich also die für die Ausgestaltung einer konkreten Rechtsordnung einer Gesellschaft verbindliche Verfassungsordnung zum Ausgangspunkt der Strafwürdigkeitsbewertung zu nehmen wäre?94 Die grundlegende Problematik der Strafwürdigkeitslehre wird man nach alledem darin sehen müssen, daß die als Ergänzung bzw. Anreicherung der lückenhaften und abstrakten verfassungsrechtlichen Werteordnung heranzuziehenden Gesichtspunkte in ihrem Gehalt und Gewicht durchaus unklar bleiben,295 was im Ergebnis dazu führt, daß die kriminalpolitische Funktion der Strafwürdigkeit als Kurzformel für die Summe der den Gesetzgeber leitenden kriminalpolitischen und Vgl. Lüderssen, Genesis. S. 216. Grundlegend zur Problematik der empirisch orientierten Anerkennungstheorien Lüderssen. Genesis. S. 143 ff.• insbesondere S. 171 ff. 294 Bottke. Legitimität. S. 113. 295 Vgl. Alwart. Strafwürdiges Versuchen. S. 30/31; Appel. Verfassung. S. 396 ff.; Frisch. Festschrift für Stree/Wessels. S. 80; Volk. ZStW 97 (1985). 871. 894 f. 292 293

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verfassungsrechtlichen Grundsätze zwar im Grundansatz weitgehend außer Streit steht;296 diese Übereinstimmung im Grundsätzlichen ändert aber nichts daran, daß die Strafwürdigkeitsbewertung in der praktischen Anwendung im wesentlichen darauf hinausläuft, daß die Strafwürdigkeit der in Frage stehenden Verhaltensweisen in der Regel lediglich mehr oder weniger pauschal behauptet, nicht aber substantiiert begründet wird. Beispielhaft belegen läßt sich diese These an den Versuchen, die Strafwürdigkeit wirtschaftsdelinquenter Verhaltensweisen zu begründen. (2) Die Anwendung auf wirtschaftsdelinquente Verhaltensweisen

Im Grundansatz sind sich die Vertreter der Strafwürdigkeitslehre darin einig, daß die Strafwürdigkeit wirtschaftsdelinquenter Verhaltensweisen aus den Konsequenzen abgeleitet werden muß, die sich aus den in Frage stehenden Regelverletzungen für den Bestand oder das Funktionieren der Wirtschaftsordnung und ihrer Institutionen ergeben. 297 Die Gewichtung dieser Konsequenzen soll anhand von Wertmaßstäben erfolgen, die einerseits aus verfassungsrechtlich und ethisch-weltanschaulich fundierten Grundprinzipien abgeleitet werden, bei denen aber andererseits auch die Erkenntnisse der Ökonomie sowie die vorstrafrechtliche Ausgestaltung der Rechtsordnung berücksichtigt werden sollen. 298 Die praktischen Maßstäbe, die auf dieser Basis entwickelt und dann im konkreten Einzelfall angelegt werden, differieren allerdings nicht unerheblich: Während Bottke der Auffassung ist, der Unrechtsgehalt von Verstößen gegen die Regeln des Wirtschaftslebens werde "wesentlich durch die abstrakte Gefährdung der sozialen Marktwirtschaft bzw. ihrer konstitutiven Prinzipien oder Elemente, nicht hingegen durch die konkrete Gefährdung eines Individualinteresses bestimmt,,,299 vertritt Otto die Auffassung, daß ein solcher Verstoß erst dann den Unrechtsgehalt einer Kriminalstraftat aufweise, wenn die Regelverletzung entweder unmittelbar das gesamte wirtschaftspolitische Ordnungssystem in Frage stelle oder zu der Regelverletzung ein weiteres, zusätzliches Strafwürdigkeitselement hinzutrete, wie insbesondere die Schädigung oder Gefährdung fremden Vermögens?lO Kriminalstrafwürdiges Unrecht seien - so Otto - nicht "nur Verhaltensweisen, die jene Normen verletzen, die die Wirtschaftsordnung und ihre Institute konstituieren und auf die Schädigung anderer (Allgemeinheit, Verbraucher, Marktbeteiligte) im Sinne einer Minderung der Gesamtvermögensmasse des Betroffenen abzielen", sondern vor allem auch "jene Regelverletzungen, die zugleich auf wirtschaftlich

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402.

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300

Vgl Costa-Andrade, Strafwürdigkeit, S. 131; Volk, ZStW 97 (1985), 871, 872, 898. Vgl. Bottke, wistra 1991, 1,4; ders., Legitimität, S. 115; Otto, MschrKrim 1980,397, Vgl. Bottke, Legitimität, S. 114 ff. Bottke, wistra 1991, I, 4. Otto, ZStW 96 (1984), 339, 357 f., 363.

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zweckverfehlten Mittelaufwand anderer gerichtet sind". Evident sei die Strafwürdigkeit dieser Verhaltensweisen insbesondere dann, "wenn ein derartiges Verhalten im geschäftlichen Verkehr quantitativ massenhaft verwirklicht wird".301 Bei Vermögensgefährdungen bzw. -schädigungen soll es nach Otto auf den Grad der Gefahrdung ankommen: Liegt die Vermögensgefährdung "typischerweise weit entfernt von dem verpönten Verhalten oder ist sie sogar im Regelfall des Verhaltens zweifelhaft, so ist das Verhalten nicht geeignet, das Vertrauen in das Funktionieren der Wirtschaftsordnung und ihrer Institute derart gravierend zu beeinträchtigen, daß es mit Strafe bedroht werden müßte". Hier biete das Ordnungswidrigkeitenrecht sachgerechte Ahndungsalternativen. 302 Geerds vertritt schließlich die Auffassung, der Unrechtsgehalt wirtschaftsdelinquenter Verhaltensweisen sei angesichts der Schwierigkeiten, die Gefährlichkeit dieser Verhaltensweisen in einem System hoher Komplexität überhaupt nachweisen bzw. beurteilen zu können, vom Erfolgs- auf den Handlungsunwert zu verlagern. 303 Als Umstände, die das Verhalten als strafwürdig erscheinen lassen, benennt er zunächst Gefahren für andere durch den (potentiellen) Straftatbestand nicht unmittelbar geschützte Rechtsgüter, die typischerweise von der zu beurteilenden Verhaltensweise ausgehen, wie z. B. Vermögensgefahrdungen oder die Gefahr eines zweckverfehlten Mitteleinsatzes. 304 Weitere Indizien für die Strafwürdigkeit sollen sein: fehlende Selbstschutzmöglichkeiten des Opfers; ein besonders rücksichtsloses Verhalten des Täters, insbesondere die Beeinträchtigung von Institutionen, deren Funktionieren für die Wirtschaftsordnung unerläßlich ist und in deren Funktionsfahigkeit ein besonderes Vertrauen gesetzt wird;305 ein quantitativ massives Vorgehen des Täters;306 die Kontrollmöglichkeiten, die dem Täter verbleiben, um eine Beeinträchtigung zu vermeiden;307 die von einer Verhaltensweise ausgehende Sog- und Ansteckungswirkung. 308 Der Eindruck, daß es sich bei den genannten Kriterienkatalogen um mehr oder wenig beliebige Ansammlungen von Topoi handelt, denen keine die Strafwürdigkeitsbewertung leitende Gesamtsystematik zugrundeliegt, verfestigt sich, wenn man die Anwendung dieser Konzeptionen im konkreten Einzelfall in die Betrachtung einbezieht, was nachfolgend beispielhaft anhand der Bemühungen um die Beurteilung der Strafwürdigkeit der von den §§ 264, 264a, 265b dStGB erfaßten Verhaltensweisen geschehen soll. Otto, ZStW 96 (1984), 339, 360. Otto, ZStW 96 (1984), 339, 363/364; ders., ZRP 1996, 300, 303. 303 Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 289 f.; vgl. auch bereits Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 126; ders., Gutachten, C 48. 304 Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 290. 305 Ebd., S. 46. 306 Ebd., S. 290. 307 Ebd., S. 45 f. 308 Ebd., S. 46. 301

302

III. Das "moderne" Wirtschaftsstrafrecht

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(a) Der Subventionsbetrug (§ 264 dStGB) Wie bereits oben gezeigt wurde, hat der Gesetzgeber die Täuschung bei der mißbräuchlichen Inanspruchnahme von Subventionen durch § 264 dStGB mit dem Ziel unter Strafe gestellt, etwaigen, aus der Fehlleitung öffentlicher Mittel resultierenden volkswirtschaftlichen Schäden entgegenzuwirken. 309 Auch in der Literatur wird die Strafwürdigkeit der mißbräuchlichen Erschleichung von Subventionen zum einen aus den mit dieser Verhaltensweise verbundenen sog. Sog-, Anstekkungs- und Spiralwirkungen abgeieitet 310 und zum anderen auf die qualifizierte Sozial schädlichkeit des auf einen zweckverfehlten Mitteleinsatz der öffentlichen Hand abzielenden Verhaltens verwiesen. 311 Dieser Argumentation ist zunächst entgegenzuhalten, daß es an empirischen Belegen zu den behaupteten Sog-, Anstekkungs- und Spiralwirkungen fehlt 312 und - wie bereits oben dargelegt wurde 313 weder die besondere Schutzwürdigkeit der öffentlichen Hand noch die besondere Sozialschädlichkeit der Beeinträchtigung der Vermögensinteressen der öffentlichen Hand dargetan ist. Bottke meint, die Kriminalisierung der durch § 264 dStGB erfaßten mißbräuchlichen Inanspruchnahme von Subventionen sei legitim, "wenn und soweit sie entweder die allokative Effizienz eines ohne Subventionen in seinem Bestand oder Funktionieren bedrohten Marktes sicherzustellen trachtet (etwa des Agrarmarktes der EG) oder dafür sorgt, daß Leistungen, die auf einem freien Markt nicht zu kostendeckenden Preisen angeboten bzw. nachgefragt werden, im Interesse des Erhaltes öffentlicher Güter (etwa der Natur durch eine ökologisch arbeitende Landwirtschaft) angeboten werden".314 Hiergegen ist einzuwenden, daß die wirtschaftspolitische Funktion bestimmter Subventionen zumindest zweifelhaft ist bzw. mit guten Gründen verneint werden kann 315 und sich gerade im Hinblick auf den von Bottke als Beispiel herangezogenen Agrarmarkt der EG die Frage stellt, ob dieses allein durch Subventionen gewährleistete Marktsystem mit künstlich hoch gehaltenen Preisen gesamtgesellschaftlich gesehen überhaupt ein schützenswertes Gut darstellen kann. Daß der Gesetzgeber befugt ist, Maßnahmen zu ergreifen, um einer mißbräuchlichen Inanspruchnahme staatlicher Leistungen entgegenzuwirken, steht auch dann außer Frage, wenn diese Leistungen in ihrer gesamtgesellschaftlichcn Wirkung fragwürdig erscheinen. Ob es aber legitim ist, etwaige Verstöße gegen ein aufgrund bestimmter politischer Entscheidungen entstandenes Marktsystcm auch dann strafrechtlich zu ahnden, wenn die zugrunde liegende WirtschaftsBT-Drucks. 7/3441, S. 15. Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 307 f., im Anschluß an Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht I, S. 25 f. 311 Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 308 f. 312 Vgl. Eisenberg, Kriminologie, § 47 Rdnr. 17. 313 Vgl. oben S. 162. 314 Bottke, wistra 1991, 1,7. m Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 309 f. 3m 3111

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

politik offenbar unvernünftig erscheint, ist eine andere Frage, die einer gesonderten Begründung bedürfte?16 Daß das Bestehen eines (Teil-)Marktes sichergestellt werden soll, ist keine Begründung, sondern wirft vielmehr die Frage auf, ob das Fortbestehen dieses Teilmarktes als ein strafschutzwürdiges Interesse anzusehen ist. (b) Der Kapitalanlagebetrug (§ 264a dStGB) § 264a dStGB pönalisiert irreführende Angaben durch Anbieter und Vertreiber von Kapitalanlagen. Mit der Einführung des Straftatbestandes wollte der Gesetzgeber zum einen den Anlegerschutz verbessern. Über den individuellen Vermögensschutz hinaus sollte aber auch das Vertrauen in die Redlichkeit des Kapitalmarktes gestärkt werden. 317 Die vom Gesetzgeber implizit vorausgesetzte wirtschaftspolitische Bedeutung eines funktionierenden Kapitalmarktes wird auch in der Literatur nicht in Frage gestellt. 318 Bottke führt insoweit aus, es handele sich um "ein Essential einer freien Marktwirtschaft, nämlich das optimale Funktionieren eines profiteffizienten Kapitalanlagenmarktes, in dem die Kapitalanleger aufgrund von gegenüber einem größeren Kreis von Personen gemachter wahrer Angaben über für die Kapitalanlage erhebliche Umstände die profiteffizienteste Kapitalanlageentscheidung binnen kurzer Zeit (time is money) und ohne sonstig kostenintensive Überprüfung der Wahrheit der gemachten Angaben fällen können". Die Strafvorschrift des § 264a dStGB solle "die Marktwirtschaft auf einem ihrer Teilmärkte, dem Kapitalmarkt, vor einer ineffizienten Vergeudung knapper Ressourcen, hier des Kapitals, schützen und deren optimale Allokation, herausgebildet aufgrund irrtumsfreier individueller Entscheidungen der Marktsubjekte, sicherstellen". 319 Dieser Argumentation ist zunächst wiederum entgegenzuhalten, daß angesichts fehlender empirischer Erkenntnisse sowohl die Annahme einer Beeinträchtigung des Vertrauens der Anleger in das Funktionieren des Kapitalmarktes als auch die These einer Beeinträchtigung der Allokationsfähigkeit des Kapitalmarktes allein auf Vermutungen basieren. 32o Die in der Vergangenheit mehrfach beobachtete Abkehr des Anlegerpublikums von bestimmten, durch unseriöses Geschäftsgebaren in die Schlagzeilen geratenen Anlageformen kann zwar als Indiz für die Notwendigkeit eines strafrechtlichen Schutzes des seriösen Kapitalmarktes gesehen werden;321 es kann aber auch als Beleg dafür dienen, daß die von § 264a dStGB erfaßten mißbräuchlichen Verhaltensweisen überhaupt ungeeignet sind, das Vertrauen der Allgemeinheit in den Kapitalmarkt als Institution in Frage zu stellen, sondern allenfalls das Vertrauen in bestimmte Anlageformen oder -gegenstände. 322 316 317 318 319 320 321 322

Ablehnend z. B. Tiedemann, Festschrift für Stree/Wessels, S. 534 f. BT-Drucks. 10/318, S. 12. Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 318 f. Bottke, wistra 1991, 1,8. Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 209. Ebd., S. 210 ff., 320 f. A. Worms, Anlegerschutz, S. 260 ff., 276, 279, 313 f.

III. Das "modeme" Wirtschaftsstrafrecht

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Dies legt die Vennutung nahe, daß die Annahme eines allgemeinen Vertrauens in den Kapitalmarkt als solchen in der gesellschaftlichen Kommunikationsstruktur überhaupt keine Entsprechung findet, was wiederum den Schluß zuläßt, daß § 264a dStGB auf eine Kommunikationsstruktur abzielt, die in der Wirklichkeit der Anlageberatung keine Rolle spielt. 323 Angesichts dessen, daß eine Beeinträchtigung des Kapitalmarktes als Institution zweifelhaft erscheint, wird die Strafwürdigkeit der von § 264a dStGB erfaßten Verhaltensweisen auch in der Literatur aus dem Umstand abgeleitet, daß das Angriffsverhalten auf den zweckverfehlten Mitteleinsatz des Anlegers abzielt. 324 Dies läuft dann aber im Ergebnis auf nichts anderes als einen vorverlegten Vennögensschutz hinaus, der aus den bereits oben dargelegten Gründen als illegitim erscheint. Des weiteren fehlt es an einer Begründung dafür, warum hier der Schutz gegen jede auch noch so leicht durchschaubare - Lüge der Sphäre des Staates zuzurechnen sein soll und nicht von den Teilnehmern am Wirtschaftsverkehr autonom zu leisten ist. 325 (e) Der Kreditbetrug (§ 265b dStGB) § 265b dStGB pönalisiert unwahre Angaben von Kreditnehmern. Hintergrund der auf betriebsbezogene Kredite beschränkten Regelung war die Erwägung, daß die Vergabe von Krediten an Kreditnehmer, denen die Kreditwürdigkeit fehlt und die als Teilnehmer am Wirtschaftsverkehr zu einer Vielzahl anderer Personen in rechtlichen Beziehungen treten, volkswirtschaftlich gesehen eine erhebliche Gefahr darstellen kann. 326 Die Inkriminierung wahrheitswidriger Angaben im Rahmen eines Kreditantrages soll verhindern, daß es über das massenhafte Auftreten solcher Vorgänge zu Erschütterungen der gesamten Wirtschaftsordnung und zu einem Verlust des Vertrauens in ihr Funktionieren kommt. 327

Wahrend Otto die Strafwürdigkeit der von § 265b dStGB erfaßten Verhaltensweisen mit der Erwägung verneint, daß die täuschenden Angaben hier im Rahmen eines rechtsgeschäftlichen Kontaktes gemacht werden, der seiner Funktion nach gerade darauf angelegt sei, daß der Kreditgeber die Angaben des potentiellen Kreditnehmers prüfe,328 hält Bottke die Kriminalisierung für legitim, "weil der Kredit323 Zaczyk, Gesellschaftsgefahrlichkeit, S. 126 f.; zustimmend: Lüderssen, ZStW 107 (1995), 877, 900. 324 Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 321. 325 Vgl. Kindhäuser, Legitimität, S. 133; ders., ZStW 103 (1991), 398, 400 ff.; a.A. Bottke, Legitimität, S. 121 f.; vgl. aber auch Schlüchter, 2. WiKG, S. 156, mit dem Hinweis darauf, wie eine Beeinträchtigung des Kapitalmarktes schlüssig dargetan werden soll, wenn es schon nicht gelingt, das Vermögen eines einzelnen Anlegers als konkret gefahrdet nachzuweisen. 326 BT-Drucks. 7/3441, S. 17f.; 7/5291, S. 14. 327 BT-Drucks.7/3441,S.18. 328 Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 336 ff.; Otto, ZStW 96 (1984),339,364; ders., Jura 1989,24, 30; vgl. auch Wolff, Abgrenzung, S. 215 f., mit dem Hinweis darauf, daß keine Beinträchtigung des Basisvertrauens vorliege.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

betrug ein wesentliches Essential einer freien Marktwirtschaft, nämlich das Funktionieren des Kreditmarktes, bei übersingulärem Auftreten in Frage stellen würde".329 Diese Ausführungen lenken den Blick darauf, daß es sich bei § 265b dStGB zumindest dann, wenn man auf den Schutz des Kapitalmarktes als solchen abstellt, der durch einen einzelnen Kreditbetrug gar nicht geschädigt werden kann 330 - um einen Straftatbestand handelt, bei dem Verhaltensweisen unter Strafe gestellt werden, die erst dann zu einer Beeinträchtigung des geschützten Rechtsguts beitragen können, wenn sie massenhaft vorgenommen werden. Daß es sich beim Kreditmarkt bzw. bei der Kreditwirtschaft um Institutionen handelt, deren Integrität derartige Pönalisierungen zu legitimieren vermag, bedürfte einer näheren Begründung. 33 ! Zwar wird die volkswirtschaftliche Bedeutung eines funktionierenden Kreditmarktes ebensowenig zu bestreiten sein wie die im Gesetzgebungsverfahren beschworenen, sich aus Kreditbetrügereien größeren Ausmaßes für einzelne Kreditinstitute und infolge weiterer Kettenreaktionen auch gesamtwirtschaftlich ergebenden Auswirkungen?32 Daß die Funktionsfähigkeit des Kreditwesens, nicht aber auch die Funktionsfähigkeit des Immobilienmarktes, zu den rechtlich garantierten Bedingungen der freien Entfaltung des einzelnen gehört, wird man andererseits ebensowenig behaupten können. 333 Im übrigen: Selbst wenn man unterstellt, daß es sich beim Kreditmarkt um ein besonders wichtiges Essential einer freien Marktwirtschaft handelt, bliebe es doch dabei, daß hier die Pönalisierung von Verhaltensweisen zu legitimieren wäre, die für sich gesehen gar nicht in der Lage sind, das zugrundeliegende Rechtsgut zu beeinträchtigen. jj) Zwischenergebnis

Die obigen Ausführungen haben gezeigt, daß die Bemühungen. die Schutzwürdigkeit bestimmter Institutionen oder Funktionszusammenhänge durch den Rückgriff auf Strafwürdigkeitskriterien beurteilen zu wollen. sowohl in den Prämissen als auch in den Ergebnissen weitgehend beliebig bleiben. In der praktischen Umsetzung bekommt der Schutz bestehender gesellschaftlicher Institutionen regelmäßig ein derartiges Eigengewicht. daß letztlich das Seinsollende weitgehend unreflektiert mit dem (angeblich) Soseienden gleichgesetzt wird. Begründungsansätze. die hinausgehen über die mehr oder weniger substantiiert vorgetragene Behauptung der besonderen Bedeutung, die bestimmten Institutionen für die FunktionsfäBottke. wistra 1991. I, 7; ders., Legitimität, S. 122. Vgl. Kindhäuser, Legitimität, S. 129. 33 J Bejahend - allerdings ohne nähere Begründung - Lenckner, in: Schönke / Schröder, § 265b Rdnr. 4. 332 Vgl. auch Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 336. m Kindhäuser, Legitimität, S. 129. 329

330

III. Das ..moderne" Wirtschafts strafrecht

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higkeit der Gesamtgesellschaft zukommen soll, sind trotz der im Ansatz betonten Bedeutung, die den Erkenntnissen der empirischen Wissenschaften zukommen soll, nicht ersichtlich. Im Hinblick auf die Straftatbestände des Subventions-, Kapitalanlage- und Kreditbetrugs (§§ 264, 264a, 265b dStGB) bedeutet dies: Sollen die Pönalisierungsentscheidungen des Gesetzgebers auf ihre Sachgerechtigkeit hin bewertet werden, ist zunächst - als Basis aller weiteren Bewertungsschritte - das jeweils geschützte Rechtsgut zu bestimmen und auf seine Schutzwürdigkeit hin zu untersuchen. Die obigen Ausführungen haben ergeben, daß Schutzgut der §§ 264, 264a, 265b dStGB nicht das Vermögen der öffentlichen Hand oder anderer Vermögensträger sein kann, sondern allein die Funktionsfähigkeit bestimmter Teilbereiche der Wirtschaftsordnung. Im Hinblick auf die Schutzwürdigkeit dieser Teilmärkte ist in der Literatur zu Recht kritisiert worden, daß die Annahmen des Gesetzgebers - insbesondere die behaupteten Sog-, Ansteckungs- und Spiral wirkungen - bisher nicht überzeugend nachgewiesen werden konnten. In gleicher Weise ist zu Recht darauf verwiesen worden, daß die Straftatbestände auf unzutreffenden Prämissen zur Struktur der jeweils erfaßten Kommunikationsvorgänge aufbauen könnten. Aber selbst dann, wenn sich die empirischen Annahmen des Gesetzgebers als zutreffend erweisen sollten, kann hieraus nicht ohne weiteres auf die Legitimität der entsprechenden Straftatbestände geschlossen werden. Vielmehr ergibt sich dann ein weiteres, in der bisherigen Diskussion soweit ersichtlich weitgehend vernachlässigtes Problem: Auch im Hinblick auf die §§ 264, 264a, 265b dStGB ist nämlich zu konstatieren, daß es sich hier - wie auch schon bei den Straftatbeständen des Umweltstrafrechts - um Straftatbestände handelt, die Verhaltensweisen erfassen, die für sich gesehen das dem jeweiligen Straftatbestand zugrundeliegende überindividuelle Rechtsgut gar nicht beeinträchtigen können, deren Strafwürdigkeit also letztlich aus der Erwägung abgeleitet wird, daß das Rechtsgut Schaden nehmen könnte, wenn sich viele oder alle Mitglieder einer Gesellschaft entsprechend verhalten würden. Angesichts dessen, daß der einzelne Tater für das eigenverantwortliche Verhalten anderer Mitglieder der Gesellschaft grundsätzlich nur unter bestimmten, hier nicht gegebenen Voraussetzungen (vgl. §§ 25 ff. dStGB) strafrechtlich verantwortlich zu sein scheint, ist jedenfalls nicht ohne weiteres einsichtig, daß die Strafwürdigkeit einer Verhaltensweise legitimerweise aus den im Falle massenhafter Begehung resultierenden Konsequenzen abgeleitet werden kann. 334

334

Ablehnend z. B. Zaczyk. Gesellschaftsgefährlichkeit, S. 118.

12 Wohlers

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

IV. Das Betäubungsmittelstrafrecht 1. Genese und Struktur des Betäubungsmittelstrafrechts a) Die Ursachen der Reform des Betäubungsmittelstrafrechts Die Pönalisierung des Umgangs mit Rauschmitteln ist kein erstmalig in den letzten Jahren oder Jahrzehnten auftretendes Phänomen "moderner" Strafgesetzgebung. Rechtliche Grundlage des Umgangs mit Betäubungsmitteln war in der Bundesrepublik Deutschland das aus dem Jahr 1929 stammende Opiumgesetz und in der Schweiz das zur Umsetzung des Opiumabkommens aus dem Jahre 1912 erlassene Betäubungsmittelgesetz aus dem Jahre 1924. 335 Beide Gesetze enthielten von vornherein auch strafrechtliche Sanktionen für den unbefugten Umgang mit Betäubungsmitteln, die in der praktischen Strafrechtsanwendung allerdings zunächst von eher marginaler Bedeutung waren?36 Der - jedenfalls in quantitativer Hinsicht überragende Stellenwert, der dem Betäubungsmittelstrafrecht für die praktische Strafrechtspflege derzeit zukommt, ist das Ergebnis der in den 70er Jahren einsetzenden Bemühungen, das gesellschaftliche Problem des zunehmenden Konsums von Betäubungsmitteln mit den Mitteln des Strafrechts zu "bekämpfen". Anlaß der Novellierung des Betäubungsmittelrechts war - übereinstimmend in bei den Ländern - ein nach Einschätzung des Gesetzgebers mit dem Ende der 60er Jahre in ungewöhnlichem und besorgniserregendem Maße zunehmender Rauschmittelkonsum. 337 In der Begründung des aus dem Jahre 1970 stammenden Gesetzesentwurfs zur Novellierung des bundesdeutschen Opiumgesetzes heißt es hierzu: ,,Der Mißbrauch von Rauschgiften, die im Opiumgesetz als Betäubungsmittel bezeichnet werden, droht ein gefährliches Ausmaß zu erreichen. Dieses Phänomen läßt sich nicht mehr als eine vorübergehende Mode deuten und abtun. Einer Seuche gleich breitet es sich mehr und mehr auch in der Bundesrepublik Deutschland aus. Immer weitere Kreise der Bevölkerung werden von dieser Welle erfaßt. In besonderem Maße droht der Jugend Gefahr, oft schon während der Pubertät.,,338 Zielsetzung des Gesetzgebers war es, "aus dem Opiumgesetz ein wirkungsvolles Instrument zur Kontrolle des Verkehrs mit Rauschgiften und zur Bekämpfung der Rauschgiftsucht zu machen".339 Die Novellierung des Opiumgesetzes diene dem Ziel, "der Rauschgiftwelle in der Bundesrepublik Deutschland Einhalt zu gebieten und damit große Gefahren für den Einzelnen und die Allgemeinheit abzuwenden". 340 335 Vgl. hierzu Stämpfli, SJZ 22 (1925/26), 193 sowie Heine, Betäubungsmittelstrafrecht, S. 561; Lüth, ZStR 67 (1952), 474, 475. 336 Vgl. Hug-Beeli, ZStR 115 (1997), 249, 251; Nestler, Grundlagen, Rdnr. 19; Schultz, SJZ 68 (1972), 229; ders., ZStR 113 (1995), 273. 337 Vgl. Hug-Beeli, ZStR 115 (1997), 249, 250 sowie Schultz, SJZ 68 (1972),229, diebezogen auf die Situation in der Schweiz - von "flutartigen Drogenwellen" sprechen. 338 BR-Drucks. 665/70 (neu), S. 5. 339 BR-Drucks. 665170 (neu), S. 7.

IV. Das Betäubungsmittelstrafrecht

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Auch in der Schweiz war der Gesetzgeber der Auffassung, einem "zunehmenden Missbrauch von Halluzinogenen" entgegenwirken zu müssen. 341 Es müsse bezweifelt werden, daß die geltenden rechtlichen Grundlagen ausreichen würden, dem "in beängstigendem Ausrnass angestiegenen Missbrauch von Betäubungsmitteln und Halluzinogenen in wirksamer Weise entgegenzutreten und sowohl die Ursachen als auch die Auswirkungen dieser Erscheinung in sinnvoller und erfolgversprechender Weise zu bekämpfen". Man habe feststeHen müssen, "dass die geltende rechtliche Regelung den inzwischen eingetretenen grundlegenden Veränderungen, d. h. der auch in unserem Lande in weiten Kreisen um sich greifenden WeHe des Betäubungsmittelmissbrauchs, nicht mehr zu genügen vennochte". 342 An anderer SteHe heiBt es dann: "Die missbräuchliche Verwendung von Betäubungs- und Suchtmitteln ist auch in unserem Lande zu einem ernsten und bedeutungsvoHen Problem geworden. Es besteht die Gefahr, dass immer mehr Mitbürger, insbesondere Jugendliche, in ihrer Gesundheit geschädigt werden. Im Zusammenhang damit stehen als Folgeerscheinungen die Zunahme der Kriminalität und schwere wirtschaftliche Schäden. Zahlreiche abhängige Personen werden in jungen Jahren arbeitsunfähig, und die Allgemeinheit hat bedeutende Kräfte und Mittel zur Bekämpfung oder Heilung der Sucht aufzuwenden. In der Bundesrepublik Deutschland zählt man bereits Tausende solcher ,1ungrentner' .,,343

b) Die Ausweitung des Anwendungsbereichs des Betäubungsmittelstrafrechts Rechtstechnisch hat der Gesetzgeber das Ziel, den Konsum bestimmter Betäubungsmittel durch strafbewehrte Verhaltensverbote effizient zu unterbinden, im wesentlichen durch den Rückgriff auf zwei gesetzestechnische Gestaltungsmöglichkeiten zu erreichen versucht: Zum einen werden die vom BtmG erfaBten Betäubungsmittel im Wege einer offenen Verweisung auf eine von der Exekutive im Wege der Rechtsverordnung zu erlassenden - und damit laufenden Ergänzungen zugänglichen - Liste verbotener Rauschmittel definiert (§ 1 dBtmG; Art. 1 Abs. 2 und 3 schwBetmG), was die Möglichkeit eröffnet, die Verbotsmaterie laufend zu aktualisieren, d. h. in der praktischen Umsetzung: durch das Hinzufügen neuer 340 BR-Drucks. 665170 (neu), S. 6. Zu den vergleichbaren Argumentationen des schweizerischen Gesetzgebers vgl. Hug-Beeli, ZStR 115 (1997), 249, 253 sowie 263. 34\ Vgl. die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Änderung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel, in: BBI. 1973 1,1348,1349. 342 Vgl. die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Änderung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel, in: BBI. 1973 I, 1348, 1350. Auch in der Literatur wird von einer "flutartigen Drogenwelle" gesprochen, vgl. Hug-Beeli, ZStR 115 (1997), 249, 250; SchuItz, SJZ 68 (1972), 229. 343 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Änderung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel, in: BBI. 1973 1,1348,1353.

12*

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

Rauschmittel zu erweitern. Während die Rechtsprechung diese Art der Bestimmung der Verbotsmaterie für unbedenklich erachtet,344 wird die Regelung in der Literatur für verfassungswidrig gehalten. 345 Auf eine nähere Auseinandersetzung mit dieser, in ihren grundsätzlichen Bedeutung bereits mehrfach behandelten verfassungsrechtlichen Fragestellung soll im vorliegenden Zusammenhang verzichtet werden. 346 Von Interesse ist im vorliegenden Zusammenhang die zweite Grundkonstante der Reform des Betäubungsmittelstrafrechts: Die Tendenz, möglichst alle, auch nur mittelbar auf dem Umgang mit Betäubungsmitteln bezogenen Verhaltensweisen in den Strafbarkeitsbereich einzubeziehen. 347 Katalogartig ausgestaltete Auflistungen potentieller Tathandlungen finden sich zwar nicht nur in den Betäubungsmittelgesetzen, sondern auch in zahlreichen anderen Straftatbeständen des Nebenstrafrechts. 348 Eine Besonderheit des Betäubungsmittelstrafrechts ist aber die letztlich auf eine totale Pönalisierung abzielende Tendenz des Gesetzgebers, den im Grundsatz bereits in § 10 des bundesdeutschen üpiumgesetzes 349 bzw. Art. 11 des schweizerischen Betäubungsmittelgesetzes 1924 angelegten Tatbestandskatalog 350 im Zuge der weiteren Reform stetig um weitere Tatbegehungsweisen zu ergänzen, um so der Zielsetzung einer "umfassende(n) Kriminalisierung jedes unerlaubten Kontaktes mit illegalen Drogen" möglichst nahe zu kommen. 351

Der Tathandlungskatalog des Art. 11 des schweizerischen BetmG 1924 hatte bereits 1951 und 1968 gewisse Erweiterungen erfahren (Art. 19 schwBetmG).352 Bezeichnend ist hierbei, daß die Tathandlungsalternativen des "Anbauens" und des 344 Vgl. BVerfG, StV 1997,405 f.; BayObLG, NStZ 1995,194. Das BVerfG hatte im Hinblick auf Haschisch einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG zunächst mit der Begründung verneint, daß dieser Stoff bereits bei Erlaß des Gesetzes in die Liste aufgenommen war (vgl. BVerfG, NJW 1992, 107). 345 Vgl. Peter Albrecht, Betäubungsmittelstrafrecht, Einl. Rdnr. 16; Kaschkat, Festschrift für Krause, S. 123 ff. 346 Zum Bedeutungsgehalt des Bestimmtheitsgebotes des Art. 103 Abs. 2 GG, § I StGB vgl. Appel, Verfassung, S. 116 ff.; Eser, in: Schönkel Schröder, § I Rdnrn. 18 ff.; Gribbohm, in: LK, § I Rdnrn. 26 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz 1Dürig, Art. 103 11 Rdnrn. 178 ff., jeweils m. w. N. Zu Art. I schwStGB vgl. NoH, ZStR 72 (1957), 361, 363 ff.; kritisch zur Umsetzung der normativen Postulate Süß, Bestimmtheitsgebot, S. 209 ff. 347 Vgl. Hasserner, JuS 1987,257,258; ders., KritV 1993, 198,203; Köhler, ZStW 104 (1992), 3, 8; Kreuzer, Festschrift für Miyazawa, S. 187 f.; Scheerer, Genese, S. 82 f. 348 Vgl. beispielhaft - bezogen auf die Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland die Tatbegehungskataloge in den §§ 52a ff. WaffG und 95 ff. AMG. 34~ Gesetz vom 10. 12. 1929, RGBII, S. 215. 350 Vgl. hierzu i.e. Stämpfli, SJZ 22 (1925/26), 193, 199. 35\ Peter Albrecht, plädoyer 1/1990,26; ders., BtmStrafR, Einl. Rdnr. 25, Art. 19 Rdnrn. 3,36; Heine, Betäubungsmittelstrafrecht, S. 564, 567 ff.; Joset, ZStR 101 (1984), 152, 155. 352 Vgl. Peter Albrecht, BtmStrafR, Art. 19 Rdnr. 35 sowie die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Änderung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel, in: BBI. 1968 I, 737, 743 f.

IV. Das BetäubungsmitteIstrafrecht

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"Gewinnens" in das Gesetz aufgenommen wurden, um entsprechenden Rechtshilfeersuchen entsprechen zu können. 353 Mit der Pönalisierung von "Finanzierungsoperationen" wurden - auch nach Auffassung des Gesetzgebers 354 - "zwar meist schon als Teilnahmehandlungen" strafbare Handlungen zu einem eigenständigen täterschaftIichen Delikt aufgewertet. Die Revision des Jahres 1975 erweiterte den Tathandlungskatalog dann nochmals, wobei insbesondere auf die Pönalisierung der "öffentlichen Aufforderung zum Betäubungsmittelkonsum" und auf die Pönalisierung des "Konsums" in Art. 19a schwBetmG hinzuweisen ist. 355 Durch Art 19c schwBetmG wird sogar die versuchte Anstiftung zum unbefugten Betäubungsmittelkonsum zu einem eigenständigen Delikt erhoben. Insgesamt gesehen werden für den Bereich des Betäubungsmittelstrafrechts die hergebrachten Grenzen zwischen den Beteiligungsformen der Täterschaft und Teilnahme aufgelöst und die Grenze zwischen strafbarem Versuch und straflosen Vorbereitungshandlungen verwischt. 356 Vor der Reform des Jahres 1975 hatte das Bundesgericht Konsumenten von Betäubungsmitteln zwar nicht wegen des Konsums selbst, wohl aber wegen Vorbereitungshandlungen zum Konsum unter Anwendung des Art. 19 schwBetmG verurteilt, etwa wegen des Erwerbs, des Aufbewahrens oder der Einfuhr von Betäubungsmitteln. 357 In der Literatur war die Legitimität der Pönalisierung des Konsums umstritten 358 und auch im Gesetzgebungsverfahren wurde die Behandlung des Konsums als der "heikelste Punkt" der Reform angesehen. 359 Mit der Revision des Jahres 1975 verfolgte der Gesetzgeber eine doppelte Zielsetzung: "Die Strafbestimmungen sehen eine klarere Regelung der Bestrafung des Konsums als solchen, eine strengere Ahndung des BetäubungsmitteIhandels und eine Milderung bei der Bestrafung des bIossen Konsums vor. ,,360 Die vom Gesetzgeber intendierte Diffem VgI. i.e. die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Änderung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel, in: BBI. 1968 I. 737. 743. 354 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Änderung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel. in: BBI. 1968 I, 737.743. m VgI. Schütz. Strafbestimmungen. S. 31 sowie die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Änderung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel. in: BBI. 1973 H. 1347. 1352. 356 VgI. Peter Albrecht. BtmStrafR. Art. 19 Rdnrn. 7. 115 ff.• 129 ff.; Vest. Landesbericht, S.71O. m VgI. z. B. BGE 95 IV 179 sowie Peter Albrecht, BtmStrafR. Art. 19a Rdnr. I; Heine. Betäubungsmittelstrafrecht, S. 562. 358 Ablehnend z. B. Schultz SlZ 68 (1972). 229 ff., ders .• SlZ 69 (1973), 65 ff.; vgI. auch ders., ZStR 113 (1995), 273, 275; bejahend dagegen Bertschi, SlZ 68 (1972), 369 ff.; Schütz, Strafbestimmungen, S. 63 f.; abwägend: Wartburg, Drogenmissbrauch, S. 312 ff. 35~ VgI. die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Änderung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel, in: BBI. 1973 H, 1347, 1367 sowie Peter Albrecht, BlM 1983,217; ders., BtmStrafR, Art. 19a Rdnr. I; Schultz, ZStR 113 (1995), 273, 274.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

renzierung zwischen Betäubungsmittelhändlem und Betäubungsmittelkonsumenten ist in der Praxis gescheitert,361 was seine wesentliche Ursache darin hat, daß in der Rechtswirklichkeit der ausschließliche Eigenkonsument 362 offenbar eher eine Ausnahmeerscheinung darstellt. 363 In der Bundesrepublik Deutschland hatte die Ausweitung des strafrechtlich relevanten Bereichs unter anderem zur Folge, daß mit dem BtmG 1972 der Besitz von Betäubungsmitteln sowie Mitteilungen über die Möglichkeiten zum unbefugten Umgang mit diesen 364 (§ 29 Abs. 1 Nr. 10 dBtmG) und durch das BtmG 1982 schließlich das Bereitstellen von Geldmitteln (§ 29 Abs. 1 Nr. 13 dBtmG) und die Verherrlichung des unbefugten Umgangs mit Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 Nr. 12 dBtmG) unter Strafe gestellt wurden,365 was letztlich dazu führt, daß auch materiell gesehen eher als Beihilfehandlungen aufzufassende Verhaltensweisen 366 als täterschaftliches Verhalten erlaßt werden. 367 Im übrigen werden de lege lata nicht nur auf den Umgang mit Betäubungsmitteln bezogene Vorbereitungs- bzw. Teilnahmehandlungen unter Strafandrohung gestellt, sondern - zumindest dem Wortlaut der Norm nach - selbst solche Verhaltensweisen, die allein darauf abzielen, der zunehmenden Verelendung schwer Drogenabhängiger entgegenzuwirken. Verwiesen werden kann hier zunächst darauf, daß selbst die Abgabe steriler Einmalspritzen an Betäubungsmittelabhängige durch den § 29 Abs. 1 Satz 2 dBtmG 360 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Änderung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel, in: BBl. 1973 H, 1347,1348. Vgl. auch Peter Albrecht, plädoyer, 3/1983, 7; Killias/Grapendaal, ZStR 115 (1997),94, 101; Schütz, Strafbestimmungen, S. 31; Schultz, ZStR 113 (1995), 273; Weiss, ZStR 95 (1978),191,192. 361 So auch Schultz, ZStW 97 (1985), 371, 403. 362 Die Rechtsprechung gewährt allein dem ausschließlichen Eigenkosmumenten die Privilegierung gemäß den Art. 19a, 19b BetmG (vgl. Peter Albrecht, BtmStrafR, Art. 19a Rdnrn. 18 ff. m. w. N.; Heine/Roulet, Landesbericht, S. 1326; Vest, Landesbericht, S. 710) und behandelt alle auch-Konsumenten als Händler: BGE 102 IV 125; 1181V 202 ff.; 119 IV 180, 183; vgl. auch Heine, Betäubungsmittelstrafrecht, S. 580 f.; Schmid, SJZ 72 (1976), 91 ff.; kritisch hierzu: Peter Albrecht, BJM 1983,217,223; ders., plädoyer 1/1990,26,27; Joset, ZStR 100 (1983),187, 189 f.; ders., ZStR 101 (1984), 152, 156; Weiss, ZStR 95 (\978), 191,203 f. 363 Die Forderung nach einer Entkriminalisierung des Drogenkonsums wird nicht nur in der Literatur erhoben (vgl. z. B. Peter Albrecht, BtmStrafR, Art. 19a Rdnrn. 8 f. m. w. N.; Schultz, ZStR 113 (1995) 273, 278), sondern auch von Expertenkommissionen für die Revision des BetmG unterstützt (vgl. Heine/Hein, Landesbericht, S. 1026; Killias/Grapendaal, ZStR 115 (1997), 94,101). 364 Vgl. BR-Drucks 665170 (neu), S. 13 ff. 365 Vgl. BR-Drucks 546179, S. 35 f. 366 Der Gesetzgeber wollte mit dieser Regelung sicherstellen, daß durch die Pönalisierung des Bereitstellens von Geldmitteln als eigenständiges täterschaftliches Verhalten die Versorgung des illegalen Rauschgiftmarktes mit zusätzlichen Geldmitteln auch dann strafrechtlich geahndet werden kann, wenn die Haupttat (= das Handeltreiben mit Btm) nicht begangen oder versucht wird; vgl. BR-Drucks. 546179, S. 35 f. 367 Hasserner, KritV 1993, 198,203.

IV. Das Betäubungsmittelstrafrecht

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ausdrücklich aus der Tatbestandsalternative des Verschaffens von Gelegenheit zum Verbrauch (§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 dBtmG) ausgenommen werden mußte. 368 Ein weiterer Beleg ist die anhaltende Diskussion um die Strafbarkeit der Einrichtung und Unterhaltung sog. Fixerstuben oder Gesundheitsräume. 369 Verschärft wird die in der Systematik der Gesetze angelegte Nivellierung der Beteiligungsformen in der Bundesrepublik Deutschland durch eine sehr weite Auslegung der in der praktischen Strafrechtsanwendung besonders bedeutsamen Tatbestandsalternativen der Einfuhr und des Handeltreibens i. S. d. § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 dBtmG. 37o Die Alternative des Handeltreibens soll hiernach erfüllt werden durch jede eigennützige, nach den subjektiven Vorstellungen des Täters auf den Umsatz von Betäubungsmitteln abzielende Tätigkeit. 37l Dies hat zur Konsequenz, daß unter anderem auch bereits der bloße Besitz bzw. das Sichverschaffen von Betäubungsmitteln zum Zwecke gewinnbringender Veräußerung als unerlaubtes Handeltreiben i. S. d. § 29 Abs. 1 Nr. 1 dBtmG anzusehen ist,372 was dann wiederum dazu führt, daß sogar die Anwendung der Qualifikationstatbestände der §§ 30 Abs. 1 Nr. 1, 30a dBtmG sowie gemäß § 30c dBtmG die Verhängung einer Vermögensstrafe möglich wird. Weiterhin kann nach dieser Auslegung ein vollendetes Handeltreiben i. S. d. § 29 Abs. 1 Nr. 1 dBtmG selbst dann vorliegen, wenn ein Umsatz bzw. Absatz objektiv gar nicht möglich ist, etwa weil die Betäubungsmittel, um die es dem Täter geht, gar nicht existieren oder von der Polizei bereits sichergestellt wurden. 373 Auch das bloße Anfragen oder Versprechen, Drogen zu liefern oder abzunehmen, fällt unter den Begriff des - vollendeten! - Handeltreibens. 374 Die auch für das BtmG geltende Differenzierung der Beteiligungsformen der §§ 25 ff. dStGB und die im Hinblick auf die gemäß § 29 Abs. 2 dBtmG ange368 Zur Strafbarkeit der Ausgabe von Fixerutensilien, insbesondere Spritzen vgI. Körner, BtmG, § 29 Rdnm. 1016 ff. Zu der in der Grundanlage vergleichbaren Diskussion über die Zulässigkeit einer kontrollierten Abgabe von Heroin vgI. die Kontroverse zwischen Huber, SJZ 88 (1992), 47 ff. und Jenny, plädoyer 2/1992, 44 ff. 369 Hierzu Körner, BtrnG, § 29 Rdnm. 1034 ff.; ders., ZRP 1995,453 ff. m. w. N. Zur Rechtslage in der Schweiz vgI. Schultz, ZStR 106 (1989), 276 ff. 370 VgI. den Überblick bei Nestler, Grundlagen, Rdnrn. 320 ff., 357 ff.; Paul, StV 1998, 623. 371 VgI. BGHSt 43, 158, 161/162 m. w. N.; BGH, StV 1985, 14; 1995, 198 f.; BGH, NSIZ-RR 1996,374. Allerdings betont auch der Bundesgerichtshof, daß "nicht jede Eigennützigkeit" für die Annahme täterschaftlicher Begehung ausreichen soll (BGH, NSIZ-RR 1997, 86). Insbesondere "eine ganz untergeordnete Tätigkeit genügt in aller Regel nicht" (BGH, StV 1995, 198 f.); kritisch zur Rspr.: Kreuzer, Festschrift für Miyazawa, S. 189. 372 VgI. BGH, NSIZ 1993,44,45; 1996,93. 373 BGH, NSIZ 1992,38,39; 1992, 191; 1994,441 mit abI. Bespr. Krack, JuS 1995,585, 586 f.; BGH, NSIZ-RR 1996, 374; BGH, StV 1996,662,663; vgI. auch bereits BGHSt 6, 246,247 zu § 10 Abs. I Nr. 1 OpiumG. 374 VgI. BGH, StV 1992,517 mit krit. Anm. Roxin, 519 f.; vgI. auch Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 26: die Rechtsprechung nähere "sich bedenklich einem Gesinnungsstrafrecht".

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

ordnete Versuchsstrafbarkeit notwendige Abgrenzung des (straflosen) Vorbereitungs- vom Versuchs- und Vollendungsstadium verlieren so jede unrechtssystematische Bedeutung. 375 Sowohl die Abgrenzung der Beteiligungsformen als auch die Abschichtung des Vorbereitungs-, Versuchs- und Vollendungsstadiums haben im wesentlichen nur noch die Funktion, den Strafzumessungsvorgang mit einer dogmatischen Scheinbegründung zu unterfüttern. Mit der Zielsetzung, durch eine umfassende Kriminalisierung jedes unerlaubten Kontaktes mit illegalen Drogen den Umgang mit diesen Stoffen zu unterbinden,376 tendierten auch die Gerichte der Schweiz zunächst dahin, Vorfeldaktivitäten möglichst weitgehend als eigenständige Taten zu erfassen. Des weiteren wurden die Straftatbestände des schweizerischen Betäubungsmittelgesetzes als abstrakte Gefahrdungsdelikte behandelt,377 was insbesondere zur Folge hatte, daß es unbeachtlich war, ob von den Tathandlungen gemäß Art. 19 Ziff. 1 schwBetmG Gefahrdungen für eine oder mehrere Personen ausgingen und ob diese Person(en) bereits vorher Kontakt mit Betäubungsmitteln gehabt hatten - gegebenenfalls: bereits süchtig waren - oder nicht. 378 Ebenso sollte es für die Annahme eines schweren Falles i. S. d. Art. 19 Ziff. 2 lit. a schwBetmG ("wenn ... sich die Widerhandlung auf eine Menge von Betäubungsmitteln bezieht, weIche die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr bringen kann") allein auf die bloße Menge, nicht aber auf die Art und Qualität des Rauschmittels und auch nicht auf die Zahl der konkret belieferten Personen ankommen. 379 Mit dem Beginn der 90er Jahre sind in der Rechtsprechung des Bundesgerichtes allerdings bedeutsame Änderungen in Richtung auf eine restriktivere Anwendung des Betäubungsmittelstrafrechts festzustellen. So werden zum einen die Tatbestandsalternativen im Vorfeldbereich - wie beispielsweise das Anstaltentreffen zum unerlaubten Umgang mit Betäubungsmitteln (Art. 19 Ziff. 1 Abs. 6 schwBetmG) oder die Finanzierung des unerlaubten Verkehrs mit Betäubungsmitteln (Art. 19 Ziff. 1 Abs. 7 schwBetmG) - restriktiver angewandt. Während nach der älteren Linie der Rechtsprechung bereits eine gewöhnliche Darlehensgewährung in Kenntnis des Verwendungszwecks ausreichen sollte und sich sogar die Freier von drogensüchtigen Prostituierten wegen Finanzierung des Verkehrs mit Betäubungsmitteln strafbar machten,38o wird nunmehr jedenfalls die Erfüllung nor375 Kempf, NJW 1997, 1729, 1732; Kreuzer, Festschrift für Miyazawa, S. 189; Nestler, Grundlagen, Rdnr. 357, 360 ff., 364 ff.; Paul, StV 1998,623,624 f. Vg!. auch Harzer, StV 1996, 336, 337, die darlegt, daß die Auslegung des Handeltreibens als Unternehmensdelikt im Ergebnis zur Pönalisierung des "Versuchs des Versuchs des Handeltreibens" führt. 376 Peter Albrecht, plädoyer I! 1990, 26; ders., BtmStrafR, Ein!. Rdnr. 25; Joset, ZStR 101 (1984), 152, ISS. 377 Hug-Beeli, ZStR 115 (1997), 249, 254 ff.; vg!. auch Heine! Spalinger, Landesbericht, S. 1399 f.; Heine! Hein, Landesbericht, S. 1042; Schütz, Strafbestimmungen, S. 60. 378 BGE 118 IV 200, 205. 379 BGE 106 IV 227; 111 IV 31; kritisch hierzu insbesondere Jenny, Beiheft Nr. I zur ZSR, S. 97 ff.; anders jetzt BGE 117 IV 314, 319 ff.

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maler vertraglicher Verpflichtungen gegenüber einem Drogenabhängigen aus dem Stratbarkeitsbereich ausgeschieden. 381 Ein Anstaltentreffen i. S. d. Art. 19 Ziff. 1 Abs. 6 schwBetmG wird nunmehr nur noch dann angenommen, wenn die deliktische Bestimmung der entsprechenden Verhaltensweise dem äußeren Erscheinungsbild nach klar zu erkennen ist; Verhaltensweisen, die ebensogut einem gesetzmäßigen Zweck dienen können - etwa: das Umtauschen von Schweizer Franken in holländische Gulden - werden nicht mehr erfaßt. 382 Im Hinblick auf die Anwendung des schweren Falles (Art. 19 Ziff. 2 schwBetmG) unterscheidet das Bundesgericht nunmehr zwischen harten und weichen Drogen383 und stellt des weiteren nicht mehr auf die bloße Menge des "Stoffes" ab, sondern auf die Menge des Drogenwirkstoffes. 384 c) Instrumentarien zur einzelfallbezogenen Korrektur des Stratbarkeitsbereichs

Das Bestreben, den Anwendungsbereich strafrechtlicher Nonnen im Wege einer katalogartigen Aufzählung strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen möglichst umfassend auszugestalten, hat zwar im Nebenstrafrecht seinen Schwerpunkt, ist aber nicht auf das Nebenstrafrecht beschränkt. Auch im Kernstrafrecht sind Straftatbestände mit zum Teil katalogartig-umfassenden Aufzählungen stratbarer Verhaltensweisen vorzufinden. Alternativ und zum Teil auch ergänzend zur katalogartigen Umschreibung des pönalisierten Verhaltens greift der Gesetzgeber entweder auf die Option generalklauselartig fonnulierter Tatbestandsmerkmale (" ... oder in sonstiger Weise ... ") zurück, die es ennöglichen sollen, erst zukünftig auftretende und deshalb noch nicht typisierbare sozialschädliche Verhaltensweisen zu erfassen 385 , oder er umschreibt den Stratbarkeitsbereich derart vage und weit, daß auch bei diesen "catch-all-Tatbeständen.. 386 - wie z. B. bei § 324 Abs. 1 dStGB: "Wer unbefugt ein Gewässer verunreinigt .....387 - die Möglichkeit einer totalen Pönalisierung zumindest angelegt ist. 388 380 Vgl. Peter Albrecht, BtmStrafR, Art. 19 Rdnrn. 71 Cf.; Heine, Betäubungsmittelstrafrecht, S. 570 f. 381 BGE 121 IV 293; zustimmend hierzu Peter Albrecht, BtmStrafR, Art. 19 Rdnr. 95; kritsch dagegen Hug-Beeli, ZStR 115 (1997), 249, 257 Cf. 382 BGE 117 IV 309, 312 f.; zustimmend bzw. noch weitergehend Peter Albrecht, BtmStrafR, Art. 19 Rdnrn. 124, 127 f.; kritisch Hug-Beeli, ZStR 115 (1997), 249, 257 ff. 383 BGE 117 IV 309, 312 f.; zustimmend Peter Albrecht, plädoyer 4/1992, 28, 29; ablehnend dagegen Hug-Beeli, ZStR 115 (1997), 249, 262 ff. 384 BGE 119 IV 180; vgl. hierzu Vest, Landesbericht, S. 711. 385 Vgl. BT-Drucks. 7/3441, S. 33; 7/5291, S. 18 zu § 283 Abs. I Nr. 8 dStGB. 386 Vgl. Heine, Vollzugsdefizite, S. 22. 387 Kritisch zur mangelhaften Abschichtung der tatsächlich strafwürdigen Verhaltensweisen durch § 324 dStGB Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 125; Rogall, Festschrift Universität Köln, S. 517/518; Ronzani, Erfolg, S. 56 Cf., insbesondere S. 61 f.

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Um der Gefahr entgegenzuwirken, die durch einen konkreten Sach- und Personalmittelbestand in ihrer Verarbeitungskapazität beschränkte Strafrechtspflege faktisch zu überfordern, hat der Gesetzgeber materieHrechtliche Korrektive und prozessuale Instrumentarien geschaffen, die es ermöglichen soHen, in FäHen, in denen dies opportun erscheint, von einem Einschreiten abzusehen. 389 Auf materiellrechtlicher Ebene werden die grundsätzlich auf eine möglichst umfassende Pönalisierung abzielenden Zurechnungsstrukturen durch Korrektive ergänzt, die - wie z. B. das Merkmal der "Unbefugtheit" in § 324 Abs. 1 dStGB oder das Merkmal des "den Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft grob widersprechenden" Verhaltens in § 283 Abs. 1 Nr. 8 dStGB - die Möglichkeit eröffnen, den Strafbarkeitsbereich zumindest in gewissem Umfang wieder. einzugrenzen. Der unbestimmte bzw. wertungsabhängige Charakter sowohl der strafbarkeitsbegründenden als auch strafbarkeitsbegrenzenden Zurechnungselemente führt insgesamt gesehen aHerdings dazu, daß die Entscheidung darüber, welche Verhaltensweisen konkret dem Strafbarkeitsbereich unterfaHen, in weitem Umfang erst bei der Bewertung konkreter Sachverhalte erfolgen kann und damit in erster Linie durch und aufgrund von Entscheidungen der Strafverfolgungsorgane getroffen wird. Die bestimmende RoHe, die den Strafverfolgungsorganen bei der Konkretisierung des Strafbarkeitsbereichs zukommt, beschränkt sich indes nicht mehr nur darauf, wertungsabhängige Elemente der materiellrechtlichen Zurechnungsstruktur auszufüHen, sondern geht weit darüber hinaus. In der Bundesrepublik Deutschland haben sich insbesondere die §§ 153 ff. dStPO zum praktisch wichtigsten Instrument der verfahrensrechtlichen Aussonderung in concreto nicht-strafbedürftiger Tatbestandsverwirklichungen entwickelt,390 die es den Strafverfolgungsorganen nunmehr bis weit in den Bereich der mittleren Kriminalität hinein ermöglichen, entweder bereits von vornherein auf eine Strafverfolgung zu verzichten oder aber das Verfahren gegen Auferlegung von Weisungen oder Auflagen ohne Entscheidung über das Vorliegen einer Straftat zu beenden. 391 Zu verweisen ist außerdem auf die §§ 29 Abs. 5, 31, 31a dBtmG, die für den quantitativ bedeutsamen Bereich der Betäubungsmittelkriminalität weitere Möglichkeiten eröffnen, in BagateHfäHen bzw. als Gegenleistung für eine Kooperation des Beschuldigten mit den Strafverfolgungsbehörden das Verfahren einzusteHen bzw. von einer Bestrafung abzusehen. In der Schweiz existiert eine entsprechende Regelung in Art. 19a Ziff. 2 388 Vgl. BT-Drucks. 8/2382, S. 10 f., 13 sowie Tiedemann, Neuordnung, S. 30 mit dem Hinweis darauf, daß ein "absoluter" Gewässerschutz bereits durch § 38 WHG 1976 etabliert worden war. 389 Vgl. Peter-Alexis Albrecht, KritV 1993, 163, 171 f.; ders., StV 1994,265,269 f.; Hassemer, ZRP 1992, 378, 383. 390 Vgl. Fezer, ZStW 106 (\994), I, 26 f.; Hirsch, Gedächtnisschrift für H. Kaufmann, S. 141, jeweils m. w. N. 39\ So verstehen z. B. Heine/Meinberg, Gutachten, D 92/93 die Rolle der §§ 153, 153a StPO dahingehend, den Strafverfolgungsorganen die Aussonderung von Grenzfällen der Strafwürdigkeit zu ermöglichen, die aufgrund der Weite des § 324 dStGB zu Unrecht in die Verfolgung gelangt sind; vgl. auch Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 125.

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schwBetmG, der vorsieht, daß in leichten Fällen des unbefugten Eigenkonsums das Verfahren eingestellt oder von einer Strafe abgesehen werden kann. Im Ergebnis bedeutet dies: Prozessuale Instrumentarien ersetzen oder ergänzen - als Surrogat für entsprechende materiellrechtliche Beschränkungen - das den Bereich strafbaren Verhaltens nicht mehr abschließend definierende materielle Strafrecht. 392 Die Tendenz, den Anwendungsbereich zu weit gefaßter Straftatbestände nicht durch eine Entkriminalisierung und damit auf der Ebene des materiellen Rechts, sondern über verfahrensrechtliche Instrumentarien auf ihren materiell legitimen Geltungsbereich zurückzuführen, ist vom BVerfG bereits in seiner Entscheidung zur Behandlung des Bagatelldiebstahls 393 nicht beanstandet und dann durch den sog. Cannabis-Beschluß 394 ausdrücklich bestätigt worden. Gegenstand der Entscheidung war die Frage der Verfassungswidrigkeit des § 29 dBtmG, der - auch nach Auffassung des BVerfG - nicht strafbedürftige Fälle der Ein- und Durchfuhr bzw. des Erwerbs und Besitzes geringer Mengen von Cannabisprodukten zum Eigenverbrauch erfaßt. 395 Der hierdurch eigentlich begründete Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot 396 wird nach Auffassung des BVerfG im Ergebnis dadurch kompensiert, daß den Strafverfolgungsorganen über die §§ 153, 153b dStPO, 31a dBtmG die Möglichkeit eröffnet sei, das Strafverfahren in den nicht strafwürdigen Fällen im Wege einer Verfahrenseinstellung zu beenden oder gemäß § 29 Abs. 5 dBtmG von Strafe abzusehen. 397 Der Einsatz verfahrensrechtlicher Bestimmungen als funktionales Äquivalent einer abschließenden materiellrechtlichen Bestimmung des Bereiches strafbaren Verhaltens 398 vermag aus mehreren Gründen nicht zu überzeugen: Es ist widersprüch392 Frisch, Festschrift für Stree 1WesseIs, S. 101; ders., Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 229 f.; vgl. auch Kunz, Bagatellprinzip, S. 90 f. 393 Vgl. BVerfGE 50, 209, 213 f. 394 BVerfGE 90, 145 mit abI. Bespr. Nelles/Velten, NStZ 1994, 366 ff. 395 Vgl. BVerfGE90, 145, 188 und 192. 396 Die von einem wissenschaftlichen Mitarbeiter des BVerfG auf dem 20. Strafverteidigertag vorgetragene Interpretation des Cannabis-Beschlusses, derzufolge nach Auffassung des BVerfG die umfassende Pönalisierung des Umgangs mit Betäubungsmitteln - einschließlich der Tatbestandsaltemativen des Besitzes und des Erwerbs - aus generalpräventiven Gründen legitim sein soll, dürfte mit dem Beschluß selbst nur schwer zur Deckung zu bringen sein; vgl. aber Franke, Strafgewalt, S. 232. 397 BVerfGE 90, 145, 189 ff., 193; vgl. auch BVerfG, NStZ 1995, 37; zur äußerst restriktiven Umsetzung der Vorgaben des BVerfG durch die Strafrechtsprechung vgl. BayObLG, NStZ 1994, 496 f.; OLG Düsseldorf, NStZ 1995, 94,95; OLG Zweibrücken, NStZ 1995, 193, 194; zu den Richtlininen zur Anwendung des § 31a BtmG vgl. Schneider, StV 1994, 390 ff. 39M Vgl. Franke, Strafgewalt, S. 232; grundsätzlich bejahend zur Austauschbarkeit von materiellrechtlichen und verfahrensrechtlichen Lösungen auch Appel, Verfassung, S. 589 f.; Gössel, Festschrift für Dünnebier, S. 135/136; Wolter, Dogmatik, S. 3 ff. sowie Kuhlen, Strafrechtsbegrenzung, S. 95; kritisch hierzu Frisch, Straftat, S. 202 f. mit dem Hinweis darauf, daß dies in der Sache darauf hinauslaufe, "Sachverhalte, die die Schwelle des Kriminalunrechts nicht erreichen, aber in gewisser Weise ahndungsbedürftig erscheinen (Normbe-

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

lieh, wenn der Gesetzgeber ein Verhalten einerseits materiellrechtlich für strafbar erklärt und andererseits darauf setzt, daß die Strafverfolgungsorgane von verfahrensrechtlichen Möglichkeiten Gebrauch machen werden, von einer Verfolgung abzusehen. 399 Darüber hinaus darf nicht vernachlässigt werden, daß die erst während des Strafverfahrens mögliche Korrektur materiellrechtlich zu weit gefaßter Straftatbestände dazu führt, daß der bei materiellrechtlicher Betrachtung letztlich zu Unrecht Beschuldigte zunächst einmal belastenden Ermittlungsmaßnahmen ausgesetzt ist. 4OO Weiterhin ist er der Gefahr ausgesetzt, mit den Kosten seiner Verteidigung und möglicherweise auch mit den Kosten des Verfahrens belastet zu werden. Schließlich bleiben die Möglichkeiten, Rechtsanwendungsgleichheit bzw. die Respektierung der verfassungsrechtlich gebotenen Strafwürdigkeitsgrenzen gegen bzw. durch die Strafverfolgungsorgane durchzusetzen, weit hinter den Möglichkeiten zurück, die eine materiellrechtliche Entkriminalisierung eröffnen würde. 401 Da das Problem der übermäßigen Reichweite von Strafrechtsnormen ein Problem des materiellen Rechts ist, erscheint es nach alledem sachgerecht, auch die Lösung des Problems im materiellen Recht anzusiedeln. 402 Die prozessuale Verfolgungsbeschränkung stellt aber nicht nur die für den betroffenen Bürger gegenüber einer materiellen Tatbestandskorrektur belastendere Alternative dar. Mißachtet wird darüber hinaus auch der Grundsatz, daß es in einer gewaltengeteilten Demokratie Aufgabe des Gesetzgebers ist, den Bereich strafbaren Verhaltens abstrakt-generell abzugrenzen und gesetzlich bestimmt zu bezeichnen. 403 Das Bundesverfassungsgericht selbst betont in ständiger Rechtsprechung, kräftigungsbedürfnisse wecken), in einer relativ einfachen Weise zu erledigen"; vgl. auch Freund, Legitimationsfunktion, S. 60, der die Grenzen des Strafwürdigen im materiellen Recht regeln will und erst jenseits dieser Grenze einen an Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten orientierten Ersatz materieller durch verfahrensrechtliche Regelungen für erwägenswert hält (a. a. 0., S. 60 ff.), wobei er schon der Durchführung des Verfahrens selbst einen Sanktionscharakter zuspricht (a. a. 0., S. 65). Eine am Opportunitätsprinzip orientierte verfahrensrechtliche Einstellungslösung für Fälle des Kleinhandels mit Betäubungsmitteln befürworten Killias I Grapendaal, ZStR 115 (1997), 94, 103 ff.; zum Alternativmodell einer an § 42 öStGB orientierten materiellrechtlichen Lösung vgl. Driendl, ZStR 97 (1980), I ff. 399 Weigend, ZStW 109 (1997), 103, 107. 400 Nach der Einschätzung von Kreuzer, Festschrift für Miyazawa, S. 190, ist dies jedenfalls im Hinblick auf das Betäubungsmittelstrafrecht auch gewollt. 401 Nelles/Velten, NStZ 1994, 366, 367 ff.; Gusy, JZ 1994, 863, 864; Schneider, StV 1994,390,391; Wolter, GA 1996,207,229; vgl. auch bereits Frisch, Festschrift für Streel WesseIs, S. 105; ders., Verwaltungsakzessorietät, S. 126, 132; Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 107 f.; Köhler, ZStW 104 (1992), 3, 40 f.; Naucke, GA 1984, 199, 206; vgl. aber auch Killias/Grapendaal, ZStR 115 (1997),94, 106 f., die der Gefahr der WiIIkürlichkeit durch die Anwendung von Richtlinien begegnen wollen. Vgl. auch Lagodny, Strafrecht, S. 461 ff., mit dem Hinweis darauf, daß de lege lata auch der Richter zu einem ungerechtfertigten Schuldspruch gezwungen werden kann, wenn die Staatsanwaltschaft die Zustimmung zu einer sachlich gebotenen Einstellung des Verfahrens verweigere. 402 Frisch, Festschrift für Stree/Wessels, S. 105; ders., Verwaltungsakzessorietät, S. 134; Weigend, ZStW 109 (1997), 103, 106 m. w. N.; vgl. auch Driendl, ZStR 97 (1980), I, 10.

IV. Das Betäubungsmiuelstrafrecht

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Art. 103 Abs. 2 GG sei die Verpflichtung des Gesetzgebers zu entnehmen, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, daß Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen. Diese Verpflichtung diene - so das Bundesverfassungsgericht einerseits dem rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten, der vorhersehen können soll, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht sei. Darüber hinaus soll sichergestellt werden, "daß nur der Gesetzgeber über die Strafbarkeit entscheidet." Art. 103 Abs. 2 GG enthalte einen strengen Gesetzesvorbehalt, "der es der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt verwehrt, über die Voraussetzungen einer Bestrafung selbst zu entscheiden. ,,404 Wenn aber Straftatbestände entweder über umfassende Tathandlungkataloge oder über generalklauselartig vage umschriebene Tatbestandsmerkmale zunächst einmal uferlos weit gefaßt werden und die "Tendenzangaben,,405 des Gesetzgebers dann erst im Einzelfall und durch Entscheidungen der Strafverfolgungsorgane auf den materiell legitimen Bereich strafwürdigen Verhaltens zurückgeführt werden können, wird der Grundsatz, "daß der Gesetzgeber und nicht erst die Gerichte über die Ahndbarkeit entscheiden",406 mißachtet. 407 Daß sich die Aufgabe des Gesetzgebers nicht darin erschöpfen kann, den äußersten Rahmen des potentiell strafbaren Bereichs zu umschreiben, sondern darüber hinaus die Grenzlinie zwischen strafbarem und nicht-strafbarem Verhalten durch den Gesetzgeber selbst zu bestimmen ist, hat die entscheidungstragende Mehrheit des BVerfG im Cannabis-Beschluß verkannt, wo allein auf die Komponente der Vorhersehbarkeit der Bestrafung - genauer: der Möglichkeit der Bestrafung - abgestellt wird. 408

403 Nelles I Velten, NStZ 1994, 366, 370; Wolter, GA 1996, 207, 229; Frisch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 231; ders. , VelWaltungsakzessorietät, S. 126, 132, 134. Allgemein zur Bedeutung des Prinzips der gewaltengeteilten Demokratie für den Grundsatz der Gesetzesbestimmtheit vgl. Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 5 Rdnr. 20 sowie das Sondervotum des Verfassungsrichters Sommer zum Cannabis-Beschluß des BVerfG, NJW 1994, 1588, 1590 sowie die insoweit zus!. Anmerkungen von Ambos, MschrKrim 1995,47,48 f.; Böllinger, KJ 1994, 405, 408; Kniesei, ZRP 1994, 352, 357; Lüderssen, StV 1994, 508, 509 Fußn. 15; a.A. Lampe, Festschrift für R. Schmitt, S. 93, der dem Richter die Aufgabe zuspricht, auf der Basis des StGB gestaltend in das soziale Leben einzugreifen. 404 BVerfG, NJW 1995,2776,2777; BVerfGE47, 109, 120; 71,103,114; 75,329,341; 87,209,223 f.; 87, 363, 391; BVerfG, NStZ 1989,229,230; vgl. auch Appel, Verfassung, S. 118; Grünwald, ZStW 76 (\964), I, 13 f., 16; Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 116; Krey, Festschrift für Blau, S. 130 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 103 Abs. II Rdnrn. 180, 184. 405 Frisch, VelWaltungsakzessorietät, S. 126. 406 BVerfGE87, 399,411; vgl. auch BVerfGE92, I, 12; BVerfG, StV 1997,407. 407 Vgl. Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 134; Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 108 f., 115 ff. 40K BVerfGE 90, 145, 190 f.; anders das abweichende Votum des Richters Sommer: BVerfGE 90, 145,224.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

2. Die Legitimation der Pönalisierung des Umgangs mit Betäubungsmitteln Auch wenn der Versuch, den Anwendungsbereich der Straftatbestände des BtmG im Wege einer katalogartigen Auflistung strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen möglichst umfassend auszugestalten, weder als eine originäre noch als eine singuläre Schöpfung der modernen Strafgesetzgebung angesehen werden kann, ist doch bereits die aus dem Versuch der totalen Pönalisierung resultierende Auflösung der tradierten Zurechnungsstrukturen ein deutliches Indiz dafür, daß sich Straftatbestände von der Art der § 29 dBtmG / Art. 19 schwBetmG nicht mehr in die tradierten Kategorien der Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit einordnen lassen. Nimmt man weiterhin zur Kenntnis, daß angesichts der ständig variierten legislativen Begründungen, mit denen die stetige Ausdehnung des Strafbarkeitsbereiches legitimiert werden soll, auch das durch die Straftatbestände des Betäubungsmittelstrafrechts geschützte Rechtsgut weitgehend diffus bleibt, liegt die Annahme nahe, daß es überhaupt an einer auf rationalen Erwägungen aufbauenden Legitimation dieser Straftatbestände fehlt.

a) Das Rechtsgut der "Volksgesundheit" In Literatur und Rechtsprechung wird das Konglomerat der im Zusammenhang mit der Pönalisierung des Umgangs mit Rauschmitteln vom Gesetzgeber genannten Motive in der Regel unter dem - gelegentlich auch vom Gesetzgeber selbst verwendeten409 - Oberbegriff "Schutz der Volksgesundheit" zusammengefaßt. 41O Das Bundesgericht führt insoweit aus: ,,Das Ziel der Betäubungsmiuelgesetzgebung besteht darin, die Gesellschaft vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen als Folge von Drogenmissbrauch und der damit zusammenhängenden Driuwirkungen zu schützen. Jeglicher auf Absatz gerichtete Umgang mit Betäubungsmitteln ist der Beginn einer Gefährdung der Gesundheit des potentiellen Verbrauchers und schließlich der Volksgesundheit.,,411

In der Diktion des Bundesgerichtshofes liest sich dies vergleichbar wie folgt: "Schutzgut der betäubungsmiuelrechtlichen Strafnormen sind nicht allein und in erster Linie das Leben und die Gesundheit des einzelnen wie bei den §§ 211 f., 222, 223 ff. StGB. Vielmehr sol\ Schäden vorgebeugt werden, die sich für die Allgemeinheit aus dem verbreiteten Konsum vor allem harter Drogen und den daraus herrührenden Gesundheitsbeeinträchtigungen der einzelnen ergeben (Schutzgut ,Volksgesundheit'; ... )".412 Vgl. BR-Drucks. 546/79, S. 37. 410 Vgl. Peter Albrecht, BtmStrafR, Einl. Rdnr. 29 m. w. N.; Endriß/Malek, Betäubungsmittelstrafrecht, Rdnr. 22; Hirsch, Bekämpfung, S. 17; Hug-Beeli, ZStR 115 (\997), 249, 262; Schütz, Strafbestimmungen, S. 58 f., 64/65. 411 BG, Entscheid vom 3. Juni 1991-215,64 ff., hier zitiert nach: Hug-Beeli, ZStR 115 (\997),249,263. 409

IV. Das Betäubungsmiuelstrafrecht

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Gegen die Verwendung des Begriffs der Volks gesundheit ist einzuwenden, daß von einem über die Summe der Körper der einer Gesellschaft angehörigen jeweiligen Einzelindividuen hinausgehenden, gesonderten "Volkskörper" allenfalls in einem metaphorischen Sinne gesprochen werden kann, die Volksgesundheit mithin nichts anderes ist bzw. sein kann, als eine Bezeichnung für die Summe der Gesundheit der einzelnen Gesellschaftsmitglieder.413 Das Schlagwort des Schutzes der Volksgesundheit ist damit bereits begrifflich ungeeignet, die im Gesetzgebungsverfahren für die Pönalisierung des Umgangs mit Betäubungsmitteln genannten Zielsetzungen adäquat zu erfassen. Eine allein begriffliche Kritik am Schlagwort der Volksgesundheit würde indes zu kurz greifen. Tatsächlich will nämlich auch der Gesetzgeber die Straftatbestände des Betäubungsmittelstrafrechts gar nicht durch den Schutz der Gesundheit eines wie auch immer gearteten "Volkskörpers" legitimieren. Verfolgt werden vielmehr mehrere verschiedene Schutzinteressen, insbesondere: 414 der Schutz des Lebens sowie der personalen (physischen und psychischen) Integrität des Drogenkonsumenten, das Interesse, einer Desintegration der Gesellschaft durch grundsätzlich abweichende Lebensstile entgegenzuwirken, das Interesse, die durch den drogenbedingten Ausfall einzelner Gesellschaftsmitglieder und die zu deren Wiedereingliederung notwendigen Rehabilitierungsmaßnahmen sowie die mit dem Drogenkonsum verbundene Begleitkriminalität, insbesondere in der Form der sog. Beschaffungskriminalität, zu vermeiden, und schließlich das Interesse, die - unter anderem - im Bereich des Drogenhandels tätige "Organisierte Kriminalität" zu bekämpfen und den insoweit von der Bundesrepublik Deutschland - bzw. der Schweiz - eingegangenen internationalen Verpflichtungen zu genügen. Maßgebend ist damit, ob diese im Gesetzgebungsverfahren benannten konkreten Interessen geeignet sind, die Strafnormen zu legitimieren. Die Klärung der Frage, ob die oben genannten Interessen das strafbewehrte Verbot des Umgangs mit Rauschmitteln zu legitimieren vermögen, wird weiterhin dadurch kompliziert, daß - bedingt durch die Tatbestandsstruktur der §§ 29 ff. dBtmG / Art. 19 ff. schwBetmG sowie den durch die Bezugnahme auf die in § 1 dBtmG / Art. 1 schwBetmG genannten Rechtsverordnungen außerordentlich weit gefaßten Anwendungsbereich - weitere Differenzierungen erforderlich sind: Zum einen ist zu trennen zwischen Tatbestandsalternativen, die Verhaltensweisen des Betäubungsmittelkonsumenten selbst betreffen, und solchen, die Verhaltensweisen von Personen erfassen, die anderen Personen den Konsum ermöglichen. Darüber 412 BGHSt 37,179,182 mit zustimmenden Anm. Beulke/Schröder, NStZ 1991, 393, 394 und Rudolphi, JR 1991, 572, 573 f. sowie einer krit. Anm. von Nestler-Tremel, StV 1992, 273,276. 413 Frisch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 216/217; ders., Festschrift für Stree I Wesseis, S. 94; Köhler, MDR 1992,739; ders., ZStW 104 (1992),3,27 f.; Puppe, in: NK, Vor § 13 Rdnr. 174. 414 Vgl. hierzu Peter Albrecht, BtmStrafR, Einl. Rdnm. 30 ff.; Jenny, Drogenpolitik, S. 169; Nestler, Grundlagen, Rdnrn. 24 ff.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

hinaus ist jeweils innerhalb dieser Gruppen nochmals zwischen den verschiedenen Suchtstoffen zu differenzieren, insbesondere zwischen Betäubungsmitteln mit geringem Gefährdungspotential (sog. weiche Drogen) und Betäubungsmitteln mit hohem Gefährdungspotential (sog. harte Drogen).

b) Die personale Integrität des Drogenkonsumenten

Sollen Gefährdungen für das Leben, die Psyche und den Körper des Drogenkonsumenten die Pönalisierung des Umgangs mit bestimmten Rauschmitteln legitimieren, stellt sich zunächst das Problem, das Gefährdungspotential eines konkreten Rauschmittels empirisch zu erfassen. Angesichts der Schwierigkeit, insoweit verläßliche Erkenntnisse zu gewinnen,415 ist auf die bereits oben dargestellten Grundsätze zu verweisen: 416 Einerseits vermag bereits die Vermutung der Gefährlichkeit eine vorbeugende Pönalisierung zu rechtfertigen, andererseits wird die vorläufige Pönalisierung illegitim, wenn die Gefährlichkeitsvermutung entweder falsifiziert oder aber nicht innerhalb eines überschau baren Zeitraumes positiv bestätigt wird. Beispielhaft: Die Pönalisierung des Umgangs mit Cannabisprodukten wird man angesichts dessen, daß die Annahme einer von diesen Produkten ausgehenden Gefahr für Körper und Gesundheit des Konsumenten von den Ergebnissen der empirischen Drogenforschung widerlegt wird oder doch zumindest nicht bestätigt werden konnte, nicht mehr auf den Gesichtspunkt stützen können, daß dies dem Schutz der personalen Integrität potentieller Konsumenten dienen SOll.417 Selbst dann, wenn - wie beispielsweise für Heroin418 - die Gefährlichkeit eines Rauschmittels nachgewiesen ist, folgt hieraus aber noch nicht ohne weiteres, daß die Pönalisierung des Umgangs mit diesem Stoff durch die Zielsetzung, die personalen Rechtsgüter des Konsumenten schützen zu wollen, ohne weiteres begründet werden kann. Zu berücksichtigen ist, daß grundsätzlich niemand von Rechts wegen verpflichtet ist, seinen Körper gesund bzw. sich selbst am Leben zu erhalten, die bloße Selbstgefährdung also kein strafrechtlich relevantes Unrecht darstellt. 419 Vgl. Köhler, ZStW 104 (1992),3,29 ff. Vgl. oben S. 59. 417 So auch: Peter Albrecht, BtmStrafR, Einl. Rdnr. 16; Papageorgiou. Schaden. S. 224 Fußn.370. 418 Der Umstand. daß auch Heroin kontrolliert konsumiert werden kann und von einem großen Anteil der Konsumenten auch tatsächlich kontrolliert konsumiert wird (vgl. Böllinger. KJ 1991, 393, 394 f.; Köhler, ZStW 104 (1992). 3. 11. 34 f.; Nestler, Buffalo Criminal Law Review. Vol. I (1998). 661. 672), ändert nichts daran. daß Heroin als Stoff gefährlich ist (so auch Nestler, Grundlagen, Rdnr. 62). 419 Peter Albrecht. BtmStrafR. Art. 19a Rdnr. 3; Donatsch. ZStR 105 (\988). 361. 365 f.; Haffke. ZStW 107 (1995). 76 I. 775 ff.; Hohmann I Matt. JuS 1993. 370. 373 f.; Jenny. Drogenpolitik. S. 170; Nigglil Amstutz. Drogalkohol 1993.217.221 ff. sowie Nestler. Rechtsgüterschutz. S. 74; ders .• Grundlagen. Rdnrn. 72 ff.. jeweils unter Hinweis darauf. daß die 415

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IV. Das Betäubungsmittelstrafrecht

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Wenn aber der Drogenkonsument seine Gesundheit und auch sein Leben gefährden darf, kann weder die Pönalisierung des Konsums gefährlicher Rauschmittel noch die Pönalisierung der den Eigenkonsum vorbereitenden Verhaltensweisen des Konsumenten im Hinblick auf dessen Selbstgefährdung legitimiert werden. 42o Im Ergebnis dürfte diese These weitgehend unstreitig sein. Die auf den ersten Blick gegenteilige Auffassung des Bundesgerichtshofes, derzufolge der Schutzzweck der Vorschriften des BtmG eine Einschränkung des Prinzips der Selbstverantwortung und damit der Grundsätze der bewußten Selbstgefährdung verlange, basiert auf der Annahme, daß die Straftatbestände des BtmG neben dem Schutz der körperlichen Integrität noch weitere Schutzzwecke verfolgen, die der Disposition des Drogenkonsumenten entzogen sind. 421 Dieser Frage wird weiter unten nachzugehen sein. Festzuhalten bleibt, daß unabhängig davon, welches Gefährlichkeitspotential ein bestimmtes Rauschmittel konkret besitzt, die Pönalisierung von Verhaltensweisen auf der Konsumentenseite jedenfalls nicht auf das Rechtsgut der körperlichen Integrität bzw. des Lebens gestützt werden kann. 422 Der Grundsatz, daß die bewußt und eigenverantwortlich423 eingegangene Selbstgefährdung kein strafrechtlich relevantes Unrecht darstellen kann, hat aber nicht nur Bedeutung für das selbstgefährdende Verhalten des Drogenkonsumenten selbst. Er ist darüber hinaus von Bedeutung für das Verhalten von Personen, die eigenverantwortliche Selbstgefahrdung Teil der durch Art. 2 Abs. I GG geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit ist; demgegenüber die rechtsethische Perspektive betonend: Köhler, ZStW 104 (1992), 3,18 ff. 420 Böllinger. KJ 1991. 393, 405 f.; Frisch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 216; ders., Festschrift für Stree I Wesseis. S. 94; Stratenwerth. SchwStrafR AT I, § 3 Rdnr. 12. 421 BGHSt 37.179,181 f. mit zust. Anm. Rudolphi, JR 1991,572,573 und Beulke/Schröder. NStZ 1991. 393 f.; vgl. auch BGHSt 39, 322, 325; Bertschi, SJZ 68 (1972), 369, 370; eramer. in: Schönke/Schröder, § 15 Rdnr. 155; Frisch, NStZ 1992,62; Nestler, Grundlagen, Rdnrn. 89 ff.; Rudolphi, in: SKStGB, Vor § I Rdnr. 79a. Nestler-Tremel (StV 1992,273,275 und 277) stimmt dem BGH bzgl. der Grundtatbestände des Betäubungsmittelstrafrechts zu, meint aber. die Argumentation könne nicht auf die Qualifikationen übertragen werden, die an die Gefährdung einer individuellen Person anknüpfen (vgl. auch Frisch. NStZ 1992,62; a.A. Otto Jura 1991.443.444). Gänzlich ablehnend Böllinger, KJ 1994,405.409. 422 Ambos. MschrKrim 1995,47.50; Jenny, Drogenpolitik, S. 169/170; Nestler, Rechtsgüterschutz. S. 74; vgl. auch Lenckner. in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 101b; BGE 117 IV 314, 318 ff.; 120 IV 256, 258 f.; a.A. BVerfGE 90,145,174 ff.; BVerfG, StV 1997. 407. Vgl. auch Feinberg, Vol. 3. S. 134 ff., zur paraBel gelagerten Problematik des strafbewehrten Verbots des Fahrens ohne Sicherheitsgurt bzw. Schutzhelm sowie ders., Vol. 4. S. 170, 172 zur Selbstverstümmelung, um sich dem Kriegsdienst zu entziehen sowie zur (einverständlichen) Schlägerei. 423 Zu den insoweit relevanten Abgrenzungskriterien vgl. i.e. BGHSt 36, I, 17; BGH, NStZ 1985.25,26; 1986,266,267; 1994,83; BayObLG, JZ 1997,521,522 mit Anm. Otto; Amelung. NJW 1996,2393 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 162 ff.; ders., NStZ 1992, 1. 3; ders .• NStZ 1992, 62. 63 f.; Kühl, StrafR AT. 4/88 ff.; Nestler, Grundlagen, Rdnrn. 121 ff.• 222 ff.; Otto. Festschrift für Tröndle, S. 169 ff.; umfassend auch: Feinberg, Vol. 3. S. 106 ff.• 113 ff .• 117 ff.• 143 ff. sowie spezieB im Hinblick auf den Btm-Konsum: a.a.0 .. S.120f.• 127ff.,160f. 13 Wohler.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

durch ihr Verhalten anderen Personen den Konsum ermöglichen. Behält der Konsument die freie Entscheidung darüber, ob er ein Rauschmittel konsumieren will oder nicht, kann die strafrechtliche Relevanz des Verhaltens der Personen, die ihm den Konsum ermöglicht haben, nicht auf die Zielsetzung gestützt werden, das Leben bzw. die körperliche Integrität des Konsumenten gegen dessen freien Willen zu schützen. 424 Insoweit kann nichts anderes gelten als im Rahmen der Tötungsund KörperverietzungsdeJikte: 425 Abgesehen von den Fällen der Nötigungs- bzw. Irrtumsherrschaft ist auch ein fremdgefährdendes Verhalten erst dann strafrechtlich relevant, wenn die Entscheidung zur Selbstgefährdung nach den Maßgaben der Strafrechtsordnung keine Entlastung des Dritten bewirken kann, etwa weil der Einwilligende z. B. aufgrund seiner Jugend oder infolge einer - insbesondere: suchtbedingten - Beeinträchtigung seiner Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit habituell bzw. situativ nicht kompetent ist, eine eigenverantwortliche Entscheidung zu treffen. 426 Soweit in der Literatur die Auffassung vertreten wird, daß bei Rauschmitteln mit besonders hohem Suchtpotential - beispielhaft: Heroin - ein umfassendes Verbot umsatz- und abgabeorientierter Verhaltensweisen aufgrund des ihnen innewohnenden unbeherrschbaren Gefahrenpotentials legitim sein soll,427 kann dem nicht gefolgt werden. Der Gesichtspunkt, daß sich Konsumenten bestimmter, mit einem besonders hohen Suchtpotential ausgestatteter Rauschmittel mehr oder weniger 424 Vgl. Frisch, Festschrift für Stree 1Wesseis, S. 95; Nestler-Tremel, StV 1992,273,274; Neumann, GA 1996,36,38 f.; Rudolphi, JR 1991,572,573; ders., in: SKStGB, Vor § I Rdnr. 79a; a.A. Puppe, in: NK, Vor § 13 Rdnr. 173, die aus der positivrechtlichen Pönalisierung des Inverkehrbringens von Betäubungsmitteln auf die Möglichkeit der Zurechnung beim Betäubungsmittellieferanten schließen will. 425 Grundlegend hierzu: BGHSt 32, 262 ff. mit Anm. Kienapfel, JZ 1984,751, Anm. Roxin NStZ 1984,411 und Bespr. Stree, JuS 1985, 179 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 154 ff.; ders., NStZ 1992, 1,6; ders., NStZ 1992,62,63; Nestler, Grundlagen, Rdnrn. 102 ff.; vgl. jetzt aber auch BGHSt 39, 322, 325 f. mit Bespr. Bernsmann/Zieschang, JuS 1995, 775 ff.; a.A. Weber, Festschrift für Spende!, S. 373 ff., der gerade im Gegenteil aus dem Bestehen der Normen des BtmG folgern will, daß auch hinsichtlich der §§ 222,230 eine Zurechnung geboten sei. 426 Böllinger, KJ 1991,393,406; Cramer, in: Schönke/Schröder, § 15 Rdnr. 156; Feinberg, Vol. I, S. 116; ders., Vol. 3, S. !O; Gusy, JZ 1994, 863; Hohmann, MDR 1991, 1117 f.; Köhler, ZStW 104 (1992), 3, 36 f.; Lenckner, in: Schönkel Schröder, Vorbem §§ 13 ff. Rdnr. !OIe; Nestler, Rechtsgüterschutz, S. 75 Fußn. 55; Nestler-Tremel, StV 1992,273,275 Fußn. 29; Papageorgiou, Schaden, S. 225, 228 f.; Rdolphi, in: SKStGB, Vor § I Rdnr. 79b. Daß bei einer Teil-Entpönalisierung des Umgangs mit Betäubungsmitteln Mißbräuche nicht auszuschließen sind, kann eine umfassende Pönaisierung ebenfalls nicht legitimieren; vgl. insoweit: Haffke, ZStW !O7 (1995), 761, 781 f.; Nestler, Rechtsgüterschutz, S. 65. 427 Vgl. Harzer, StV 1996, 336, 337/338 sowie Köhler, ZStW 104 (1992), 3, 38 f., bezogen auf "qualifiziert gefährliche" Drogen wie z. B. Heroin. Der Sache nach muß dieser Standpunkt auch von den Autoren geteilt werden, die aus der auf Hegel zurückgehenden Pflicht ,,Person zu sein" die Legitimität des Selbstmordes ableiten, vgl. z. B. Hösle, Staat, S. 50 ff., der allerdings im Hinblick auf die Pönalisierung des Umgangs mit Betäubungsmitteln auf die gesellschaftlichen Folgekosten verweist; ablehnend: Nestler, Grundlagen, Rdnrn. 206 ff.; ders., Buffalo Criminal Law Review, Vol. 1(1998),661,675 f.

IV. Das Betäubungsmittelstrafrecht

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zwingend in eine konstitutionelle Abhängigkeit begeben, vennag eine Pönalisierung unstreitig nicht zu tragen. Ob man dieses Ergebnis daraus ableitet, daß die Möglichkeit zur (eigenverantwortlichen) Selbstaufgabe Teil bzw. Ausdruck der Autonomie der Person ist,428 oder ob man die Selbstnegation des autonomen Subjekts zwar als vernunftwidrig ansieht, andererseits aber davon ausgeht, daß sich aus derartigen Pflichtverletzungen im Selbstverhältnis keine rechtlich relevante Zwangsbefugnis ableiten läßt,429 kann hierbei offenbleiben. 43o Zu diskutieren bleibt der Gesichtspunkt, daß die Begrenzung der Abgabe (nur) an eigenverantwortliche Konsumenten nicht gewährleistet bzw. im Nachhinein möglicherweise nicht mehr aufgeklärt werden kann. 431 Indes: Bloße Beweisschwierigkeiten können eine Pönalisierung nicht tragen. 432 Eine umfassende Pönalisierung wäre damit allenfalls dann gerechtfertigt, wenn anderenfalls - als Konsequenz einer Situation des vollständigen Beweismittelverlustes - die Rechtsgüter etwaiger nicht eigenverantwortlicher Konsumenten dem beliebigen Zugriff offenstehen würden, was allerdings ersichtlich nicht der Fall ist, da regelmäßig der Konsument auch noch nach der Tat als Zeuge zur Verfügung steht. Sollte sich der Zeuge weigern, an der Aufklärung mitzuwirken, dürfte auch kein Anlaß bestehen, das Strafverfahren durchzuführen - jedenfalls soweit es um den Schutz des personalen Interesses an der Körperintegrität geht. Festzuhalten bleibt: Die - für sich gesehen legitime - Zielsetzung, die körperliche Integrität und das Lebens des Drogenkonsumenten zu schützen, vennag lediglich die Pönalisierung fremdgefahrdender Verhaltensweisen zu legitimieren und auch diese nur insoweit, als der Gefährdete strafrechtlich als eine eingeschränkt kompetente Person anzusehen ist.

428 Vgl. Charlesworth, Leben, S. 42 f.; Feinberg, Vol. 3, S. 71 ff.; Frisch, Selbstbestimmung, S. 117. 120, 124/125, sowie Nestler, Grundlagen, Rdnm. 206 ff., mit dem Hinweis darauf, daB der als Folge des Konsum von Betäubungsmitteln - auch sog. harter Drogen, wie z. B. Heroin - eintretende Freiheitsverlust schon empirisch gesehen nicht mit dem aus einer Selbstversklavung resultierenden Freiheitsverlust gleichgesetzt werden kann, da weder ein vollständiger noch ein irreversibler Freiheitsverlust eintrete. 429 So Köhler, ZStW 104 (1992), \, 21. 430 Eine Fallgestaltung, in der sich die Pflicht, ein bestimmtes Verhalten zu unterlassen, aus einer besonderen Rechtspflicht gegenüber anderen herleitet - wie z. B. bei dem in § 17 WStG erfaBten Verbot der Selbstverstümmelung - liegt hier ersichtlich nicht vor (vgl. Köhler, ZStW 104 (1992), 1,21). Abgesehen davon, würde dieser Ansatz - ebenso wie das von Feinberg, Vol. 3, S. 22/23 vorgeschlagene "garrison model", demzufolge es Situationen geben kann, in denen sich der einzelne der Mitwirkung an der Erhaltung der Gemeinschaft nicht entziehen darf, den Gesichtspunkt des Schutzes personaler Interessen (des Konsumenten) überschreiten. 431 Auf die Unkontrollierbarkeit der Verbreitung und die hieraus resultierenden Gefahren für nicht veranwortungsfahige Konsumenten heben ab: Köhler, ZStW 104 (1992), 1,37 ff.; Roxin. StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 19; vgl. auch Feinberg, Vol. 3, S. 175. 432 Papageorgiou, Schaden, S. 235 FuBn. 385 zur Parallelproblematik bei § 216 dStGB.

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c) Die Beeinträchtigung von Gemeinschaftsinteressen Wie dargelegt, wird die Legitimität des Betäubungsmittelstrafrechts in zunehmendem Maße auf die Erwägung gestützt, der Drogenkonsum solle wegen seiner schädlichen Auswirkungen auf die Allgemeinheit unterbunden werden. 433 Geschützt werde "das Interesse des Staates an der Erhaltung eines gesunden Bürgerstandes und einer lebensfähigen Gesellschaftsordnung, also die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft".434 Gegen die an Gemeinschaftsbelangen orientierte Bestimmung des Rechtsguts der betäubungsmiuelrechtlichen Straftatbestände ist zunächst eingewandt worden, daß ein etatistisch-institutioneller Ansatz das Schutzgut uferlos ausweite und dem Rechtsgutsbegriff so jede limitierende Funktion genommen werde. 435 Darüber hinaus wird der Einwand erhoben, daß in einer freiheitlich konstituierten Gesellschaft von Einzelindividuen losgelöste Interessen des Staates bzw. der Allgemeinheit überhaupt nicht anerkannt werden könnten. 436 Im Hinblick auf den letztgenannten Einwand ist in Erinnerung zu rufen, daß auch eine auf die wechselseitig-allgemeingültige Eröffnung und Einschränkung personaler Freiheitssphären als Basis der äußeren Betätigung von Subjektivität ausgerichtete Konzeption anerkennen muß, daß Handlungsverbote nicht allein auf die Unverletzlichkeit von (personalen) Freiheitsrechtsgütern gestützt werden kann, sondern - was bereits dargelegt wurde 437 - die Gewährleistung freier Subjektivität auch den Schutz bestimmter überpersonaler Rechtsgüter voraussetzt. 438 Gerade in einer modemen Gesellschaft kann die Aufgabe des Staates nicht nur darin bestehen, die Freiheitssphäre des einzelnen gegen Übergriffe seiner Mitbürger bzw. staatlicher Stellen zu schützen (status negativus). Aufgabe des Staates muß es darüber hinaus auch sein, bestimmte Funktionszusammenhänge, die aufgrund der Komplexität der Bedingungen der Vergesellschaftung nicht mehr über ein intersubjektives Vertrauensverhältnis gewährleistet werden können, als Voraussetzungen der Nutzung von Freiheit normativ zu stabilisieren (status positivus).439 Vor diesem Hintergrund können Allgemeininteressen als das gebündelte Interesse aller Bürger an der Gewährleistung der grundlegenden Funktionszusammenhänge gesellschaftlichen Lebens begriffen werden. 440 Festzuhalten ist allerdings - und dies betrifft die Kritik an der uferlosen Weite des Schutzes der Funktionsfähigkeit der Rudolphi, JR 1991, 572, 573 f. Beulke I Schröder, NStZ 1991, 393, 394 m. w. N. 435 Nestler-Tremel. StV 1992, 273, 276; Schneider, StV 1994, 390. 436 Köhler, MDR 1992, 739 f., der hieraus schlußfolgert, das Rechtsgut der betäubungsmittelstrafrechtIichen Tatbestände könne allein personale Qualität haben. 437 Vgl. oben S. 94 ff. 438 Vgl. Beck, Unrechtsbegründung, S. 56 ff., insbesondere S. 60; Köhler, ZStW 104 (1992),3,15 f.; Nestler, Rechtsgüterschutz, S. 71 f. 439 Vgl. oben S. 94 f. sowie Beck, Unrechtsbegründung, S. 84 f. 440 Vgl. oben S. 94,139 sowie Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 152 ff., 185 f., 192,224. 433

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IV. Das Betäubungsmittelstrafrecht

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Gesellschaft -, daß der rechtliche Schutz der Grundvoraussetzungen freiheitlicher Lebensgestaltung auf die gesellschaftlichen Interessen beschränkt bleiben muß, die der Erhaltung bzw. Gewährleistung von Funktionszusammenhängen dienen, die als Grundvoraussetzungen einer freiheitlichen Lebensgestaltung unverzichtbar sind. 441 Die Frage ist nun: Sind die im Hinblick auf die Legitimation der Normen des Betäubungsmittelstrafrechts genannten Zielsetzungen in der Lage, die Pönalisierung des Umgangs mit Betäubungsmitteln zu tragen?

aa) Die Bekämpfung der mit dem Rauschmittelkonsum einhergehenden Kriminalität

Im Hinblick auf die mit dem Drogenkonsum verbundene Beschaffungskriminalität ist anzumerken, daß die Eigentums- und Vermögensinteressen der potentiellen Opfer von Beschaffungsdelikten in strafrechtlicher Hinsicht durch die Straftatbestände des Eigentums- und Vermögensstrafrechts geschützt werden. Betäubungsmitteldelikte als "abstrakte Gefährdungsdelikte im Vorfeld des Diebstahls" würden das insoweit der geltenden Strafrechtsordnung zugrundeliegende System des Eigentums- und Vermögensschutzes sprengen. 442 Das Ziel, durch die Pönalisierung des Umgangs mit Rauschmitteln dem gemeinschädlichen Wirken der den Drogenmarkt beherrschenden kriminellen Organisationen entgegenzuwirken, ist in der Bundesrepublik Deutschland soweit ersichtlich erstmalig im Gesetzgebungsverfahren zum OrgKG ausdrücklich in den Vordergrund gestellt worden. Dies überrascht nicht, da der Topos der "Bekämpfung der Organisierten Kriminalität" überhaupt erst in jüngerer Zeit in der kriminalpolitischen Diskussion hervorgetreten ist, diese Argumentation also weder bei der Schaffung des bundesdeutschen BtmG noch im Rahmen früherer Novellierungen dieses Gesetzes von Bedeutung sein konnte. Auch wenn man konzediert, daß ein Gesetz bedingt durch Veränderungen des gesellschaftlichen Umfelds durch Zielsetzungen legitimiert werden kann, die bei der Schaffung des Gesetzes keine oder nur untergeordnete Bedeutung hatten, ist gerade der Rekurs auf das Schlagwort der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität erheblichen Bedenken ausgesetzt. Problematisch ist zunächst, daß auch heute noch weitgehend unklar ist, was konkret unter dem Begriff der Organisierten Kriminalität zu verstehen ist. 443 Ohne konkrete Vorstellungen darüber, was Organisierte Kriminalität ist und wie ihr begegnet werden kann, ist der Topos der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität letzt441 Diese zu bestimmen, ist das grundlegende Problem präventiv orientierter Strafrechtssysteme (v gl. Beck, Unrechtsbegründung, S. 46 ff., 53; Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 72, 94 f., 137, 142, 165; Stratenwerth, StrafR AT, Rdnr. 58). 442 Vgl. hierzu oben S. 159 ff. sowie Nestler, Grundlagen, Rdnrn. \09 f., 240 ff., mit dem Hinweis darauf, daß das Prinzip der Selbstbestimmung der Zurechnung der (Beschaffungs-) Straftaten beim Hintermann entgegensteht. 443 Vgl. Z. B. die Anlage E Ziff. 2 zu den RiStBY.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

lich nicht mehr als ein Appell an affektbeladene Bedrohungsgefühle. Weiterhin ist anzumerken, daß es widersprüchlich erscheinen muß, Kriminalität, deren (organisierte) Begehung bekämpft werden soll, durch die Pönalisierung bestimmter Verhaltensweisen erst zu schaffen, damit man sie dann bekämpfen kann. 444 Abgesehen von allen sonstigen, mit der Pönalisierung des Umgangs mit Betäubungsmitteln einhergehenden negativen Effekten 445 ist der Verweis auf die Bekämpfung der (organisierten) Drogenkriminalität mithin schlicht zirkelhaft. 446 Geht man davon aus, daß die Organisierte Kriminalität auch auf anderen Gebieten kriminell tätig ist, würde dieser Vorwurf zwar entfallen. Bedenklich wäre dann aber, daß der Umgang mit Drogen pönalisiert wird, weil man bestimmte Personen, die man präsumtiv als besonders gefährliche Kriminelle eingestuft hat, im Hinblick auf ihre sonstigen Aktivitäten nicht zu fassen vermag. Die Grenzen einer tatorientierten Strafwürdigkeitsbestimmung wären hier eindeutig überschritten. 447 Gleiches gilt im Ergebnis für den Topos, wonach das strafbewehrte Verbot des Umgangs mit Rauschmitteln dem Ziel diene, Verpflichtungen zu erfüllen, die die Bundesrepublik Deutschland und die Schweiz durch den Abschluß von internationalen Verträgen und Übereinkommen betreffend die Kontrolle von Suchtstoffen und psychotropen Stoffen eingegangen sind. Abgesehen davon, daß bereits fraglich ist, in weIchem Umfang diesen internationalen Verträgen und Übereinkommen überhaupt eine Verpflichtung zum Erlaß strafbewehrter Umgangsverbote zu entnehmen ist,448 können Verhaltensweisen nicht allein deshalb als sozialethisch zu mißbilligendes Kriminalunrecht angesehen werden, weil sich die Bundesrepublik Deutschland und die Schweiz im Rahmen internationaler Vereinbarungen verpflichtet haben, diesen Verhaltensweisen entgegenzuwirken. 449 Festzuhalten bleibt: Die Zielsetzung, das Phänomen der Organisierten Kriminalität bekämpfen zu wollen, kann die Pönalisierung des Umgangs mit Rauschmitteln nicht legitimieren - und dies unabhängig davon, ob diese Zielsetzung durch innerstaatliche oder supranationale Erwägungen motiviert wird.

Böllinger, KJ 1994, 405, 414; Nestler, Rechsgüterschutz, S. 75/76. Vgl. hierzu Peter Albrecht, BtmStrafR, Einl. Rdnr. 46; Alldridge, Drug dealing, S. 243 f.; Joset, ZStR 101 (1984), 152, 157; Kreuzer, Festschrift für Miyazawa, S. 181 f.; Wartburg, Drogenmissbrauch, S. 317 ff.; Weiss, Beiheft 1 zur ZSR, S. 92. 446 Ambos, MschrKrim 1995,47,50; Gusy, JZ 1994,863,863/864. 447 Vgl. auch Böllinger, KJ 1994,405,415; Nestler, Rechtsgüterschutz, S. 76; Schneider, StV 1994,390; LG Lübeck, StV 1992, 168, 180. 448 Vgl. Ambos, MschrKrim 1995,47,51; Böllinger, KJ 1994,405,410; Joset/ Albrecht, ZSR NF 105 (1986), 1., 243, 245; A. Keller, StV 1996,55,56 ff.; Kuckelsberg, JA 1994, 16, 17 ff.; Scheerer, ZRP 1996,187, 189 ff.; Schneider, StV 1992,489 ff.; ders., StV 1994,390; Schultz, SJZ 68 (1972), 229, 232 ff. 449 Vgl. Böllinger, KJ 1994,405,410; Gusy, JZ 1994,863; Köhler, ZStW 104 (1992), 3, 60 ff.; Stäche1in, Strafgesetzgebung, S. 290 f. 444 445

IV. Das Betäubungsmittelstrafrecht

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bb) Die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft Eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Gesellschaft wird im Zusammenhang mit dem Konsum von Rauschmitteln unter mehreren Gesichtspunkten diskutiert. Zum einen wird abgestellt auf gesellschaftliche Folgelasten, die dadurch entstehen, daß Drogenkonsumenten den Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens nicht mehr gewachsen sind, mit der Folge, daß zum einen die entstehenden Leistungsausfälle in Schule, Ausbildung, Beruf und Familie durch geeignete Maßnahmen kompensiert werden müssen und zum anderen Rehabilitierungsmaßnahmen erforderlich werden. Da diese kostenintensiven Maßnahmen der Gesellschaft zur Last fallen, soll die Gesellschaft berechtigt sein, sich gegen deren Ursachen - den Drogenkonsum - auch mit dem Mittel des Strafrechts zu wehren. Weiterhin wird geltend gemacht, daß der Konsum von Drogen die Persönlichkeitsentwicklung insbesondere von Jugendlichen sowie die soziale Einordnung der Drogenkonsumenten gefährde. Abgesehen davon, daß jedenfalls der Topos des Jugendschutzes ein umfassendes Umgangsverbot von vornherein nicht legitimieren könnte,450 sind auch hier zunächst wieder Bedenken an der Tragfähigkeit der empirischen Annahmen anzumelden. Nach den Ergebnissen der neueren Drogenforschung muß davon ausgegangen werden, daß die meisten Konsumenten weicher und harter Drogen ein sozial unauffälliges Leben führen,451 also weder im Ausbildungs- noch im Arbeitsprozeß ausfallen und von daher auch keiner kostenintensiven Rehabilitierungsmaßnahmen bedürfen. Die Entwicklung abweichender Verhaltensweisen durch einen Teil der Rauschmittelkonsumenten ist damit nicht allein - und wohl auch nicht in erster Linie - auf den Genuß von Rauschmitteln selbst, sondern vielmehr auch und gerade auf gesellschaftliche Ausgrenzungsmaßnahmen zurückzuführen, nicht zuletzt auf die Kriminalisierung des Drogenkonsums selbst, die dazu führt, daß Drogenkonsumenten - gerade dann, wenn sie keiner statushohen und loder finanziell bessergestellten Gruppe der Gesellschaft angehören - in eine Subkultur abgedrängt und den negativen Begleiterscheinungen eines sich entwickelnden schwarzen Marktes ausgesetzt werden. 452 Im übrigen fehlt es an einer Begründung dafür, warum die Folgekosten des Rauschmittelkonsums nicht - wie die Folgen anderer, gesundheitsriskanter Verhaltensweisen, wie z. B. Alkoholkonsum, Rauchen und Extremsportarten, von der Solidargemeinschaft zu tragen sind. 453 450 Vgl. Haffke, ZStW 107 (1995), 761, 782; Nestler, Grundlagen, Rdnrn. 223 ff.; a.A. ohne überzeugende Begründung - Schütz, Strafbestimmungen, S. 61 f. 451 Vgl. Böllinger, KJ 1991,393,394 f.; Köhler, ZStW 104 (1992),3, ll, 34 f.; Nestler, Grundlagen, Rdnr. 212. 452 Vgl. Hassemer, KritV 1993, 198,204 ff.; Köhler, ZStW 104 (1992),3, 10 ff. m Vgl. Peter Albrecht, BtmStrafR, Art. 19a Rdnr. 5; Böllinger KJ 1991,393,406; Feinberg, Vol. 1, S. 24 f.; ders., Vol. 3, S. 92 f, 138 ff.; Haffke, ZStW 107 (1995), 761, 780; Hohmann / Matt, JuS 1993, 370, 372; Jenny, Drogenpolitik, S. 170 sowie Nestler, Grundlagen, Rdnrn. 236 f., mit dem Hinweis darauf, daß die Vernachlässigung sozialer Verpflichtungen

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

Der Gesetzgebungsgeschichte der Betäubungsmittelgesetze der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland sind im übrigen relativ eindeutige Belege dafür zu entnehmen, daß nicht der Drogenkonsum die Ursache war für die Etablierung abweichender gesellschaftlicher Verhaltensmuster, sondern vielmehr der in den vorherrschenden gesellschaftlichen Verhaltensmustern nicht vorgesehene Konsum bestimmter Rauschmittel ein Symbol zu sein scheint, mit dem Gesellschaftsmitglieder - bewußt oder unbewußt - ihren Protest gegen gerade diese etablierten gesellschaftlichen Verhaltensmuster zum Ausdruck bringen. 454 Scheerer hat im einzelnen aufgezeigt, daß die vom Gesetzgeber des Jahres 1970 beschworene, sich angeblich seuchenartig in der Bundesrepublik Deutschland ausbreitende "Rauschgiftwelle" ein Phänomen war, daß von der Politik für die Zwecke eines moralischen Kreuzzuges instrumentalisiert und über die Medien in die Öffentlichkeit transportiert wurde. Entscheidender Auslöser für die unterschiedslose Pönalisierung des Konsums harter und weicher Drogen war die, anders als bei den Rauschmittelkonsumenten früherer Zeiten, im Konsum von Drogen - insbesondere Haschisch - offen manifestierte Nichtanerkennung der herrschenden sozialen Normen. 455 Mit anderen Worten: Auf die Instrumentalisierung des Konsums von Haschisch als Symbol abweichenden Verhaltens erfolgte die Instrumentalisierung des Vorgehens gegen den Konsum von Rauschgiften - insbesondere von Haschisch als Symbol dafür, daß die Nichtanerkennung herrschender Sozialkonventionen von der Gesellschaft weder akzeptiert noch toleriert, sondern vielmehr der Archetyp des selbstüberwachten und selbstkontrollierten Bürgers verteidigt wird. 456 Letztlich führt dies zu der Erkenntnis, daß der Konsum von Rauschmitteln zwar keine reale Gefahr für die Existenz funktionsfähiger gesellschaftlicher Systeme darstellt, wohl aber als Ausdruck einer Ablehnung der herrschenden gesellschaftlichen Konventionen bei der Mehrheit der konventionstreuen Gesellschaftsmitglieder Bedrohungsgefühle weckt. Diese schlagen sich in dem Bedürfnis nieder, einerseits ein weiteres Anwachsen der Protestgruppe zu verhindern und andererseits die Konformität der Gesellschaft dadurch wiederherzustellen, daß die bereits in die Protestgruppe abgewanderten Personen entweder zwangsweise reassimiliert oder, wenn und soweit nicht einmal eine rein äußerliche Wiedereingliederung in die hergebrachten Verhaltensmuster erreicht werden kann, aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Der tatsächliche Grund für die Pönalisierung des Umgangs mit Rauschmitteln ist dann aber nicht die Sozialschädlichkeit des Rauschmittelkonsums als solcher, sondern der im Rauschmittelkonsum - gemessen an den tradierabgesehen von engbegrenzten - und im übrigen: begründungsbedürftigen! - Ausnahmen, wie z. B. dem § 170b dStGB, kein strafrechtlich relevantes Unrecht darstellen kann. 454 Vgl. BayObLG, NJW 1969,2297: Haschisch als "Symbol der Revolte gegen die bestehende Ordnung der Dinge". 455 Vg!. Scheerer, Genese, S. 78 ff., insbes. S. 87 ff. sowie Weiss, Beiheft I zur ZSR, S. 86 ff. 456 Haffke, ZStW 107 (1995), 761, 784 f.; vg!. auch Peter Albrecht, BtmStrafR, Ein!. Rdnr. 47: der verunsicherten Bevölkerung solle das Gefühl der Sicherheit vermittelt werden.

IV. Das Betäubungsmittelstrafrecht

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ten gesellschaftlichen Konventionen - zum Ausdruck kommende abweichende Lebensstil des Rauschmittelkonsumenten,457 der bezogen auf die vorherrschenden sozialen Konventionen als moral widrig erscheint, was dann den Anlaß für eine pönalisierende Ausgrenzung i.S.e. Freund-Feind-Identifikation liefert. 458 Vordergründig scheint eine derartige Bestimmung des Rechtsguts mit dem in der aktuellen kriminalpolitischen Diskussion soweit ersichtlich allgemein anerkannten Grundsatz in Widerspruch zu stehen, daß die Pönalisierung bloßer Moralwidrigkeiten bzw. der Einsatz strafrechtlichen Zwangs zur Durchsetzung von Wertvorstellungen allein um ihrer selbst willen illegitim ist. 459 Die Illegitimität der PÖnalisierung des Umgangs mit Betäubungsmitteln scheint vor diesem Hintergrund keiner weiteren Begründung bedürftig zu sein. Indes: Unstreitig ist allein das Verbot bloße Moralwidrigkeiten zu pönalisieren bzw. Wertvorstellungen ausschließlich um ihrer selbst willen durchsetzen zu wollen. 46o Bei näherer Betrachtung wird aber schnell klar, daß Wertvorstellungen regelmäßig gar nicht nur um ihrer selbst willen geschützt werden. Wie oben am Beispiel des Rechsguts "Leben" bereits angedeutet wurde,461 sind (Straf-)Rechtsgüter das Ergebnis eines durch die Verarbeitung empirischer Erkenntnisse und normativer Wertungen gesteuerten Prozesses gesellschaftlicher Verständigung. Wenn sich aber das Selbstverständnis einer Gesellschaft zumindest auch über Wertvorstellungen determiniert, zeigt dies, daß die Koexistenz von Individuen innerhalb einer Gesellschaft an ein Mindestmaß allgemein anerkannter Wertvorstellungen gebunden ist,462 was dann wiederum dahin führt, daß jedenfalls der Schutz der für eine bestimmte Gesellschaftsform zentralen Wertvorstellungen nicht nur dem Schutz bloßer Moralvorstellungen um ihrer selbst willen, sondern gleichzeitig dem Erhalt der Gesellschaft bzw. des gesellschaftlichen status quo dient. Die Frage, ob - und wenn ja: unter weIchen Voraussetzungen - die Pönalisierung von Verhaltensweisen, die bestimmte Wertvorstellungen manifestieren, als legitim anzuerkennen ist, kann mithin nicht durch einen schlichten Verweis auf das Verbot der Pönalisierung bloßer Moralwidrigkeiten erledigt werden, sondern bedarf einer näheren Untersuchung. 463 457 Peter Albrecht, BtmStrafR, Ein\. Rdnrn. 47 f.; Köhler, 'ZStW 104 (1992), 3, 8; Papageorgiou, Schaden, S. 224 Fußn. 370; vg\. auch Schneider, StV 1992,514,516, der diesen Topos als Grund einer Kriminalisierung offenbar grundsätzlich für legitim hält, im konkreten Zusammenhang mit dem Konsum von Cannabisprodukten aber darauf abstellen will, daß der Drogenkonsum heutzutage kein Symbol der Revolte gegen die bestehende Ordnung mehr sei, nicht zuletzt auch wegen der weiten Verbreitung diesen Verhaltens in der Bevölkerung. 458 Vg\. Haffke, 'ZStW 107 (1995), 761, 787 sowie Papageorgiou, Schaden, S. 230: Es gehe um die Bekämpfung lasterhaften Verhaltens, vergleichbar etwa "abnormalen" Sexualpraktiken. 459 Böllinger, KJ 1991,393,406; Frisch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 217. 460 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 318 ff.; Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 38 f.; Jung, 'ZStW 100 (1988),3, 12; Marx, Definition, S. 84 ff.; Roxin, JuS 1966,377,382; ders., StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 12; Rudolphi, in: SKStGB, Vor § I Rdnr. 10 461 Vg\. oben S. 65 ff. 462 Stratenwerth, StrafR AT, Rdnr. 63.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

d) Zwischenergebnis Die obigen Ausführungen haben gezeigt, daß das geltende Betäubungsmittelstrafrecht schon unter dem Gesichtspunkt der Rechtsgutstheorie gewichtigen Zweifeln ausgesetzt ist. Die Zielsetzung, die körperliche Integrität bzw. das Leben etwaiger Konsumenten zu schützen, hat sich als nicht tragfähig erwiesen. Der Pönalisierung des Umgangs mit Betäubungsmitteln steht nicht nur auf der Konsumentenseite der Grundsatz der Straflosigkeit eigenverantwortlicher Selbstgefährdung entgegen. Auch für die sich als Vorbereitungshandlungen für eine eigenverantwortliche (Selbst-)Gefahrdung von Konsumenten darstellenden Verhaltensweisen auf der Anbieterseite scheidet eine Legitimation über den Topos des Schutzes der körperlichen Integrität der Konsumenten jedenfalls dann aus, wenn hierdurch auch Verhaltensweisen erfaßt werden sollen, die auf den Konsum durch eigenverantwortliche Konsumenten abzielen. Im Ergebnis bedeutet dies, daß eine nicht auf die Abgabe an nicht-eigenverantwortliche Konsumenten beschränkte Pönalisierung des Umgangs mit Suchtstoffen von vornherein nur über den Schutz von Gemeinschaftsinteressen zu legitimieren ist. Insoweit sind zwei denkbare Begründungsstränge voneinander zu trennen. Zum ersten: Sollte es empirisch nachweisbar sein, daß die Konsumenten bestimmter Suchtstoffe nicht mehr in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt eigenverantwortlich zu bestreiten, könnte der weitverbreitete Konsum derartiger Stoffe die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft als solche in Frage stellen und würde damit auch die Interessen der Nichtkonsumenten, an der Gewährleistung der grundlegenden Funktionszusammenhänge des gesellschaftlichen Miteinanders als Basis für eine Entfaltung personaler Freiheit beeinträchtigen. Die Frage ist dann, ob die Interessen der anderen Gesellschaftsmitglieder daran, von etwaigen Zusatzbelastungen als Folge des Ausfalls von Drogenkonsumenten verschont zu bleiben, Relevanz haben kann. 464 Zum zweiten: Das Ausleben des mit dem Konsum von Betäubungsmitteln verbundenen Lebenskonzeption kann andere Mitglieder der Gesellschaft irritieren, stören und möglicherweise mehr oder weniger heftige Abgrenzungs- bzw. Abwehrreaktionen hervorrufen. Die Frage ist, ob - und wenn ja: unter welchen Voraussetzungen - bestimmte Lebenskonzeptionen bzw. die durch sie hervorgerufenen gesellschaftlichen Reaktionen eine Pönalisierung zu rechtfertigen vermögen. Im Hinblick auf beide Begründungsstränge ist weiterhin zu berücksichtigen, daß nicht bereits jede Einzelhandlung für sich gesehen, sondern erst die Summe einer Vielzahl von Einzelhandlungen die befürchteten Beeinträchtigungen herbeizuführen vermag. Hieraus folgt: Auch bei den Straftatbeständen des Betäubungsmittelstrafrechts handelt es sich nicht um Erfolgsdelikte klassischer Prägung, sondern Vgl. hierzu i. e. unten S. 264 ff. Vgl. hierzu Feinberg, Vol. I, S. 221 f.; der., Vol. 3, S. 18 f., der auf dieser Grundlage die Legitimation der Pönalisierung von Duellen und einverständlichen Schlägereien rechtfertigen will, sowie Gräfrath, MiIl, S. 25 bezogen auf die "Helmpflicht" für Motorradfahrer. 463

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V. Molekularbiologische und gentechnologische Verfahren

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vielmehr um Kumulationsdelikte,465 deren Strafwürdigkeit gegebenenfalls aus der Erwägung hergeleitet werden muß, daß es zu schädlichen Konsequenzen kommen könnte, wenn sich eine Vielzahl von Personen - unabhängig voneinander - entsprechend verhalten würde. In besonderer Weise gilt dies für die Verhaltensweisen auf der Anbieterseite, bei denen nicht nur der einzelne "Anbieter" für sich gesehen kein relevantes Risiko zu begründen vermag, sondern darüber hinaus das Verhalten auf der "Anbieterseite" ohne entsprechende Mitwirkungshandlungen auf der Konsumentenseite von vornherein keinerlei Wirkungen zu entfalten vermag. 466

V. Strafrechtsnormen zur Abwehr des mißbräuchlichen Umgangs mit molekularbiologischen und gentechnologischen Verfahren Während in den 70er Jahren die von der Zerstörung bzw. chemischen Vergiftung der Umweltmedien Wasser, Luft und Boden ausgehenden Gefahren im Vordergrund der gesellschaftlichen und kriminal politischen Auseinandersetzung standen, trat beginnend mit den 80er Jahren eine neuartige Gefährdung in den Vordergrund: Die aufgrund von Entwicklungen in der Molekularbiologie sowie Reproduktionsund Gentechnologie nunmehr zumindest in den Bereich des Möglichen gerückte Veränderung von Flora und Fauna sowie des Menschen selbst. Den möglichen Vorteilen dieser Entwicklung - beispielsweise im Bereich der Nahrungsmittelproduktion und bei der Bekämpfung von Umweltschäden und Krankheiten - korrespondiert neben dem Szenario einer durch gentechnisch manipulierte Organismen hervorgerufenen, in ihren Konsequenzen nicht einschätzbaren Veränderung der Umwelt vor allem die Befürchtung, daß die gleichen Erkenntnisse letztlich auch zu manipulativen Eingriffen in die genetische Identität des Menschen führen und damit letztlich die gezielte Züchtung von Menschen mit bestimmten Eigenschaften ermöglichen könnten.467 Die Ambivalenz der antizipierten Entwicklung zeigt sich beispielhaft daran, daß ein elaboriertes genetisches Screening einerseits helfen kann, Krankheiten zu erkennen und zu heilen, andererseits aber auch die Grundlagen für Differenzierungen nach genetischen Potentialen schafft, die von einer Abstufung des Krankenversicherungsschutzes bis zu einer eugenisch motivierten Abtreibungspraxis reichen können. 468 465 So auch: Peter Albrecht, BtmStrafR, Art. 19 Rdnrn. 19 ff.; Nestler, Grundlagen, Rdnr. 265; Wartburg, Drogenmissbrauch, S. 303. 466 Zweifel an der Legitimierbarkeit bei Peter Albrecht, BtmStrafR, Art. 19 Rdnr. 25. 467 Vg!. beispielsweise die Botschaft des Schweizerischen Bundesrates über die Volksinitiative ,,zum Schutz des Menschen vor Manipulationen in der Fortpflanzungstechnologie" vom 26. Juni 1996, BB!. 1996 IlI, 205, insbesondere S. 208, 219, 227. 468 Vg!. H.-L. Günther, in: Günther/Keller, S. 226 ff.; Jung, ZStW 100 (1988),3,36 f.; Arthur Kaufmann, Prometheus, S. 262; Rolf Keller, JR 1991,441,445 f.; Lange, in: Günther / Keller, S. 9, 16 f.; Graf Vitzthum, in: Günther / Keller, S. 68 f.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

In der Bundesrepublik Deutschland hat sich das Bemühen des Gesetzgebers, diese Entwicklung durch ordnungsrechtliche Kodifizierungen und deren (neben-) strafrechtliche Absicherung zu steuern, zum einen in dem der Sache nach zum Umweltrecht469 zu rechnenden sog. Gentechnikgesetz 470 und zum anderen im sog. Embryonenschutzgesetz471 niedergeschlagen. Ziel der gesetzgeberischen Bemühungen war es, der wissenschaftlichen Forschung verbindliche Grenzen zu setzen, um so einerseits die Vorteile der wissenschaftlichen Entwicklung nutzen zu können, andererseits aber etwaigen Fehlentwicklungen bzw. Mißbräuchen bereits im Vorfeld ihres Auftretens entgegenzuwirken. 472 In der Schweiz ist zwar 1992 mit Art. 24novies BVeine verfassungsrechtliche Grundlage geschaffen worden, die den Bund zum Erlaß von Vorschriften für den Bereich der Humangenetik und Fortpflanzungsmedizin ermächtigt 473 und gleichzeitig bereits dezidierte inhaltliche Vorgaben enthält. Der Entwurf eines Bundesgesetzes über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung (Fortpflanzungsmedizingesetz) befindet sich derzeit aber noch im Gesetzgebungsverfahren. 474 Die durch das Fehlen einer bundesgesetzlichen Kodifikation zur Fortpflanzungsmedizin begründete Lücke haben mehrere Kantone durch eigene Regelungen zu schließen versucht. 475 Die in ihrer Grundtendenz sehr restriktiven Regelungen des Kantons St. Gallen und des Kantons Basel-Stadt haben allerdings in zentralen Teilen vor dem Bundesgericht keinen Bestand gehabt. 476

1. Das bundesdeutsche Gentechnikgesetz (GenTG) Die Zwecksetzung des Gentechnikgesetzes besteht zum einen darin, Leben und Gesundheit von Menschen, Tiere, Pflanzen sowie die sonstige Umwelt in ihrem 469 In der Schweiz finden sich die entsprechenden Regelungen im Umweltschutzgesetz (USG). Zu den Strafnormen der Art. 60 Abs. Ilit. e - p USG vg\. Vest, Landesbericht, S. 674, 686f. 470 Gesetz zur Regelung der Gentechnik vom 20.6. 1990, BGB\. I. S. 1080, Inkraftgetreten am 1. 7. 1990. 471 Gesetz zum Schutz von Embryonen vom 13. 12. 1990, BGB\. I, S. 2746, Inkraftgetreten am 1. 1. 1991. 472 H.-L. Günther, ZStW 102 (1990), 269, 273 f.; Arthur Kaufmann, Festschrift für Oehler, S.653. 473 BGE 119 Ia 460, 469. Zur Entstehungsgeschichte vg\. die Botschaft des Schweizerischen Bundesrates zu einem Bundesgesetz über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung (Fortpflanzungsmedizingesetz, FMedG) vom 26. Juni 1996, in: BB\. 1996,205,213. 474 Vg\. die Botschaft des Schweizerischen Bundesrates zu einem Bundesgesetz über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung (Fortpflanzungsmedizingesetz, FMedG) vom 26. Juni 1996, in: BB\. 1996 III, 205 ff. 475 Zum Stand der kantonalen Gesetzgebung vg\. die Botschaft des Schweizerischen Bundesrates zu einem Bundesgesetz über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung (Fortpflan-

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Wirkungsgefüge und Sachgütern vor möglichen Gefahren gentechnischer Verfahren und Produkte zu schützen bzw. dem Entstehen solcher Gefahren vorzubeugen (§ 1 Nr. 1 GenTG). Konkret soll das Gesetz einen rechtlichen Rahmen für die Erforschung, Entwicklung, Nutzung und Förderung der wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der Gentechnik schaffen (§ 1 Nr. 2 GenTG).477 Schwerpunktmäßig regelt das Gesetz das Verfahren zur Genehmigung und Überwachung des Betriebs gentechnischer Anlagen sowie zum Freisetzen und Inverkehrbringen gentechnisch veränderter Organismen. 478 Die Einhaltung der vom Gesetzgeber als wesentlich erachteten Ge- und Verbote des Gesetzes sowie der zur Ausführung des GenTG zu erlassenden Rechtsverordnungen will der Gesetzgeber durch Ordnungswidrigkeiten- und Straftatbestände absichern. 479 Neben den als Ordnungswidrigkeiten tatbestand ausgestalteten Verstößen gegen bestimmte Betreiberpflichten (§ 38 GenTG) enthält § 39 GenTG auch Straftatbestände, die der Gesetzgeber insbesondere aus generalpräventiven Gründen für notwendig gehalten hat. 48o Strafbar macht sich unter anderem, wer gentechnisch veränderte Organismen ohne entsprechende Genehmigung freisetzt oder eine gentechnische Anlage ohne Genehmigung betreibt (§ 39 Abs. 2 GenTG). Werden Leib oder Leben anderer, fremde Sachen von bedeutendem Wert oder Bestandteile des Naturhaushaltes von erheblicher ökologischer Bedeutung gefährdet, macht sich strafbar, wer gentechnische Arbeiten außerhalb einer nach dem GenTG vorgesehenen Anlage durchführt, bestimmten Auflagen der Genehmigungsbehörde oder bestimmten Anzeigepflichten nicht nachkommt sowie bestimmten Rechtsverordnungen zuwiderhandelt (vgl. § 39 Abs. 2 GenTG). Gemäß § 39 Abs. 4 GenTG ist der Versuch und gemäß den Abs. 5 -7 auch fahrlässiges Verhalten unter Strafe gestellt. Im Hinblick auf die Problematik der Legitimität der Straftatbestände des GenTG kann zunächst auf die Ergebnisse der Analyse des Umweltstrafrechts zurückgegriffen werden. Wie dort im einzelnen dargelegt wurde, stellt die Erhaltung der für die Fortexistenz der Menschheit notwendigen Umweltbedingungen ein im Grundsatz strafschutzwürdiges Gemeininteresse dar. Ebenso wie bei den Straftatbeständen des Umweltstrafrechts erweist sich damit auch bei den Straftatbeständen des GenTG nicht das geschützte Rechtsgut als solches, sondern die Art und Weise der Schutzgewährung als problematisch: Parallel zur Ausgestaltung der §§ 327, 328 StGB wird der Sache nach die Mißachtung verwaltungsrechtlicher Erlaubnisvorbehalte pönalisiert. zungsmedizingesetz, FMedG) vom 26. Juni 1996, in: BBl. 1996111,205,210 ff. sowie Wiesenbart, Landesbericht, S. 190 ff. 476 Vgl. BGE 115 la 234; 119 la 460. 477 Vgl. BT-Drucks. 11/5622, S. I, 19 ff. 47H Hirsch 1Schmidt-Didczuhn, ZRP 1989,458; zum Regelungsinhalt i.e. vgl. Fritsch 1Haverkamp, BB 1990, Beilage 31, S. 3 ff.; Hirsch 1 Schmidt-Didczuhn, NVwZ 1990,713,715 ff. 479 Hirsch 1Schmidt-Didczuhn, ZRP 1989,458,462; dies., NVwZ 1990,713,717. 4KO Vgl. BT-Drucks. 11/5622, S. 2, 21.

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

Die Legitimität der Straftatbestände des GenTG setzt zunächst voraus. daß es von der Sache her überhaupt angemessen ist. auf die Mißachtung von Erlaubnisvorbehalten repressiv ahndend zu reagieren. Kann diese Frage bejaht werden. würde sich die weitere Frage stellen. ob bzw. unter welchen Voraussetzungen eine Ausgestaltung als Straftatbestand und nicht als Ordnungswidrigkeitentatbestand sachangemessen erscheint. Bei der Abklärung beider Fragestellungen wird zu berücksichtigen sein. daß anders als bei den Straftatbeständen des Umweltstrafrechts. wo im Grundsatz gesichert erscheint. daß eine massenhafte Begehung der pönalisierten Verhaltensweisen die Umweltbedingungen negativ beeinträchtigen würde. im Hinblick auf die durch die Straftatbestände des GenTG erfaßten Verhaltensweisen eine vergleichbar gesichert erscheinende Erkenntnisgrundlage nicht existiert. Konkret stellt sich damit die Frage. ob es legitim sein kann. die Beachtung von Erlaubnisvorbehalten mit den Mitteln strafrechtlichen Zwangs sicherstellen zu wollen. wenn nur die mehr oder weniger schlüssig begründete bzw. nicht zu widerlegende Vermutung besteht. daß entsprechende Verhaltensweisen negative Auswirkungen auf ein an sich gesehen strafschutzwürdiges Schutzgut haben können.

2. Das bundesdeutsche Embryonenschutzgesetz (ESchG) Mit dem Embryonenschutzgesetz will der Gesetzgeber der Anwendung bestimmter. durch den Fortschritt des naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses technisch möglich gewordener bzw. zukünftig möglich werdender biogenetischer Verfahren entgegenwirken. insbesondere .jeder Manipulierung menschlichen Lebens bereits im Vorfeld begegnen".481 Anders als beim GenTG hat der Gesetzgeber mit dem ESchG keine umfassende ordnungsrechtliche Rahmenregelung für die Anwendung neuer Fortpflanzungstechniken geschaffen. sondern sich darauf beschränkt. die mißbräuchliche Anwendung bestimmter Fortpflanzungstechniken unter Strafe zu stellen. Pönalisiert wird der Einsatz biomedizinischer Verfahren. die entweder eine sog. gespaltene Mutterschaft zur Folge hätten oder mit denen die Grundlagen für eine nicht allein am Ziel der Überwindung von Fertilitätsstörungen orientierte Produktion von Embryonen geschaffen werden (§ 1 ESchG). die fremdnützige Verwendung menschlicher Embryonen (§ 2 ESchG). die Geschlechtswahl durch Auswahl der Samenzellen (§ 3 ESchG). die eigenmächtige Befruchtung (§ 4 ESchG). die künstliche Veränderung menschlicher Keimbahnzellen (§ 5 ESchG). das Klonen (§ 6 EschG) sowie die Chimären- und Hybridbildung (§ 7 ESchG). Schließlich wird durch die §§ 9. 11 ESchG die Anwendung bestimmter Fortpflanzungstechniken einem strafbewehrten Arztvorbehalt unterstellt. 482 BT-Drucks. 11/5460. S. I. Zu Einzelheiten der Regelung vgl. den Überblick bei Deutsch. NJW 1991.721.722; Jung. JuS 1991. 431. 432 f. sowie die Kommentierung in: Keller/Günther / Kaiser. Embryonenschutzgesetz. 481

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3. Der Entwurf eines schweizerischen Fortpflanzungsmedizingesetzes (FMedG) Anders als das bundesdeutsche ESchG ist das FMedG nicht als ein reines Strafgesetz konzipiert, sondern soll in umfassender Weise festlegen, "unter welchen Voraussetzungen die Verfahren der medizinisch unterstützten Fortpflanzung beim Menschen angewendet werden dürfen" (Art. 1 Abs. 1 Entw. FMedG). Die im 4. Kapitel des Gesetzes (Art. 29 ff. des Entwurfs) zusammengefaßten Strafbestimmungen entsprechen inhaltlich allerdings weitgehend den Normen des bundesdeutschen ESchG. Pönalisiert werden sollen: die mißbräuchliche Gewinnung bzw. Verwendung menschlicher Embryonen (Art. 29 bis 32 Entw. FMedG), die Geschlechtswahl (Art. 33 Entw. FMedG), die eigenmächtige Befruchtung (Art. 34 Entw. FMedG), die künstliche Veränderung menschlicher Keimbahnzellen (Art. 35 Entw. FMedG), das Klonen sowie die Chimären- und Hybridbildung (Art. 36 Entw. FMedG). Schließlich sollen durch Art. 37 Entw. FMedG Zuwiderhandlungen gegen bestimmte Regelungen des FMedG als Übertretungen geahndet werden.

4. Legitimation der Strafnormen Daß der Gesetzgeber der Anwendung bzw. Umsetzung der im Rahmen naturwissenschaftlicher Forschung gewonnenen Erkenntnisse Grenzen setzen kann und auch setzen muß, wenn von dieser Gefahren ausgehen, dürfte im Grundsatz unstreitig sein. Problematisch ist aber, in welcher Weise dies geschehen kann, insbesondere, ob insoweit der Einsatz strafrechtlicher Normen als ein legitimes Instrument angesehen werden kann. 483 In der Literatur war die im bundesdeutschen Gesetzgebungsverfahren selbst vollkommen unstreitige Notwendigkeit des Rückgriffs auf strafrechtliche Normen484 vornehmlich mit dem Argument in Zweifel gezogen worden, der Gesetzgeber würde hier Normen zur Regelung von science-fictionSachverhalten schaffen. 485 Indes: Abgesehen davon, daß der Gesetzgeber vor der Grundsätzlich ablehnend z. B. F. Herzog, 'ZStW 105 (1993), 727 ff. Vgl. BT-Drucks. 11/5460, S. 6; 11/5710, S. 10; 11/8057, S. 12 f. Gestritten wurde allein darüber, ob man sich auf die Regelung des strafrechtlich Verbotenen beschränken sollte (so der dann auch im wesentlichen Gesetz gewordene Entwurf BT-Drucks. 11 /5460) oder eine Gesamtregelung aller mit den neuen Fortpflanzungstechniken zusammenhängenden Fragestellungen - unter Einschluß der Regelung des strafrechtlich verbotenen Verhaltens - anzustreben sei (so der Enwurf der SPD-Fraktion, BT-Drucks. 11 /5710, S. 9 f.; für eine umfassendes Gesamtkonzept hatte sich auch der Bundesrat ausgesprochen, vgl. BR-Drucks. 745/90). Darstellungen der Vorgeschichte des Gesetzgebungsverfahrens und des Gesetzgebungsverfahrens selbst finden sich bei Hektor, S. 25 ff., 78 ff.; Rolf Keller, in: Keller / Günther / Kaiser, B III Rdnrn. I ff. 485 Vgl. F. Herzog, 'ZStW 105 (1993), 727; Arthur Kaufmann, Festschrift für Oehler, S. 649 ff., 664/665; ders., Prometheus, S. 271, 273; ders., JZ 1987,837,834 und 845; Graf 483

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Situation stand, daß vor dem Inkrafttreten des ESchG zumindest mit extra korporal erzeugten und nicht auf eine Frau übertragenen Embryonen praktisch nach Belieben verfahren werden konnte,486 vernachlässigt dieser Einwand die Besonderheit des rasanten und in Sprüngen fortschreitenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses, der - wenn er denn vom Gesetzgeber überhaupt gesteuert bzw. in bestimmten Bahnen gehalten werden soll - notwendigerweise dazu zwingt, die zu erwartenden Entwicklungen der naturwissenschaftlichen Forschung vorausschauend zu bewerten und Normen zu schaffen, mit denen das Verhalten der Forschergemeinschaft präventiv gesteuert wird. 487 Die in der Sache entscheidende Frage, ob es angemessen ist, diese Steuerung mit den Mitteln des Strafrechts leisten zu wollen, ist in der Diskussion regelmäßig allenfalls beiläufig behandelt und soweit ersichtlich fast durchgängig bejahend behandelt worden. 488 Interpretiert werden die Straftatbestände des ESchG gemeinhin als Schutznormen im Hinblick auf die personale Würde des Menschen. 489 Analysiert man die Straftatbestände näher, zeigt sich allerdings schnell, daß allein das strafbewehrte Verbot der eigenmächtigen Befruchtung auf den Schutz des Persönlichkeitsrechts und des Selbstbestimmungsrechts des Samenspenders und der Eispenderin abzielt,490 während alle anderen Straftatbestände dazu dienen sollen, das Vitzthum, in: Günther / Keller, S. 77; Schroeder, Festschrift für Miyazawa, S. 533; a.A. z. B. Fechner, JZ 1986,653,661; H.-L. Günther, ZStW 102 (1990), 269, 276; ders., in: Keller/ Günther / Kaiser, B IV. Rdnr. 19; Hofmann, JZ 1986, 253, 254 und im Ergebnis auch Schmid, Festschrift für Hegnauer, S. 436 f., der allerdings zu Recht die Notwendigkeit empirischer Erkenntnisse betont. 486 Vgl. Eser, Neuartige Bedrohungen, S. 8 ff.; ders., in: Günther/Keller, S. 266; H.-L. Günther, in: Günther/Keller, S. 138 f.; Hektor, S. 12 ff.; Jung, ZStW 100 (1988),3,7 f. und 19 f.; Rolf Keller, in: Keller/Günther/Kaiser, B I Rdnrn. 1 ff.; Sternberg-Lieben, JuS 1996, 673,675; zu den diesbezüglichen Regelungen des ärztlichen Standesrechts vgl. Eser, Neuartige Bedrohungen, S. 10 f., Hektor, S. 10 ff. Auch das kurz zuvor erlassene GenTG hat den Bereich der Humangenetik nicht erfaßt, vgl. Rolf Keller, JR 1991, 441, 442 unter Hinweis auf BT-Drucks. 11/5622, S. 23; zur ähnlich unbefriedigenden Rechtslage in der Schweiz vgl. Schmid, Festschrift für Hegnauer, S. 438 f., 447 f. 487 H.-L. Günther, ZStW 102 (1990),269,276 f.; ders., in: Keller/Günther/Kaiser, B IV. Rdnr. 14 ff. 488 Dezidiert ablehnend zum Einsatz strafrechtlichen Zwangs soweit ersichtlich allein F. Herzog, ZStW 105 (1993), 727 ff., dessen Vorschlag, auf ein Verfahren der Selbstkontrolle durch die Forschungsgemeinschaft bzw. Ethikkommissionen zu vertrauen, von anderen Autoren als nicht hinreichende Alternative angesehen wird, vgl. z. B. H.-L. Günther, in: Günther/ Keller, S. 144; Gröner, in: Günther/ Keller, S. 316 f.; Rolf Keller, in: Günther/ Keller, S. 196. Daß dieser Vorschlag das Problem der Legitimität der Anwendung strafrechtlichen Zwangs nicht löst, sondern lediglich verlagert, ist bereits oben (vgl. S. 74) dargelegt worden. 489 Im Entwurf des schweizerischen FMedG wird der intendierte Schutz der Menschenwürde in Art. lAbs. 2 sogar ausdrücklich betont. Vg!. aber auch die Botschaft des Schweizerischen Bundesrates zu einem Bundesgesetz über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung (Fortpflanzungsmedizingesetz, FMedG) vom 26. Juni 1996, in: BB!. 1996 II1, 205, 222 ff., wo richtigerweise der Status dieser Regelung als konkretisierungsbedürftige Progammlinie hervorgehoben wird.

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Festhalten der Gesellschaft an bestimmten, auch für die Forschergemeinschaft als verbindlich gesetzten Wertvorstellungen zu dokumentieren bzw. im Falle der Zuwiderhandlung kontrafaktisch zu bekräftigen. 491 So läßt beispielsweise der Versuch, die Strafbewehrung bestimmter reproduktionstechnischer Verfahren mit der Beeinträchtigung der personalen Würde des betroffenen Embryos zu begründen, außer acht, daß ein Wesen, das ohne den pönalisierten Eingriff gar nicht existent wäre, durch diesen Eingriff kaum in seiner individuellen Rechtssphäre beeinträchtigt sein kann. 492 Tangiert ist nicht die individuelle personale Würde des betroffenen Embryos, sondern die dem Embryo nach den als relevant definierten Wertvorstellungen als artspezifisch menschlichem Wesen zukommende Würde. 493 Nicht die Herstellung von Embryonen, sondern allenfalls deren Verwendung im Rahmen einer sog. verbrauchenden Forschung kann die individuelle Rechtssphäre der betroffenen Embryonen beeinträchtigen. 494 Auch die gezielte Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken verletzt - jedenfalls für sich gesehen - nicht die individuelle Rechtssphäre des Embryos, sondern verstößt gegen die (Wert-)Vorstellung, daß menschliches Leben stets als Selbstzweck zu behandeln ist und nicht zum bloßen Objekt gemacht werden darf. 495 Auch andere reproduktionstechnische Verfahren, wie z. B. das (einverständliche) Klonen oder die (einverständliche) Chimären- oder Hybridbildung tangieren nicht die ,,Menschenwürde,,496 konkreter Wesen, sondern die vorherrschenden Vor490 Vgl. Jung, ZStW 100 (1988),3,26; Rolf Keller, in: Keller/Günther/Kaiser, § 4 Rdnr. 4. Daß diese Norm neben den bereits bestehenden §§ 223, 240 dStGB eher überflüssig ist, zeigt Schroeder, Festschrift für Miyazawa, S. 543. 491 H.-L. Günther, ZStW 102 (1990), 269, 291; ders., in: Günther/Keller, S. 142 f.; Jung, ZStW 100 (1988),3, 15 f.; ders., JuS 1991,431,433; Schroeder, Festschrift für Miyazawa, S. 534 ff.; Seelmann, Festschrift für E. A. Wolff, S. 488 ff. 492 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. I I Rdnr. 58; Feinberg, Vol. 1, S. 99 ff.; ders., Vol. 4, S. 27 ff.; Seelmann, Festschrift für E. A. Wolff, S. 485 f. 493 Vgl. Eser, Neuartige Bedrohungen, S. 37 f.; Fechner, JZ 1986,653,655; Hektor, S. 75; Hofmann, JZ 1986, 253, 259 f. Deutlich wird dies bei Gröner, in: Günther / Keller, S. 308, 310, wo ausgeführt wird, daß es auf die persönliche Einwilligung des Klon-Vorbildes und des Klons nicht ankommen könne, weil Leitidee der Verfassung nicht das Leben an sich, sondern menschenwürdiges Leben sei und hieraus dann abgeleitet wird, daß Leben, das notwendigerweise ohne Verletzung der Menschenwürde nicht möglich sei, nicht zur Entstehung gelangen dürfe. Vgl. auch Hösle, Staat, S. 47: Delikte gegen die Menschenwürde als Handlungen, die sich nicht gegen eine konkrete lebende Person richten, sondern "gegen etwas, das als Symbol des Menschen fungiert, und die dasjenige radikal in Frage stellen, was den innersten Wert des Menschen als Geisteswesen ausmacht". 494 Zur Unzulässigkeit einer "verbrauchenden" Forschung vgl. auch bereits BGE ll9 Ia 460,502 f. 495 Vgl. Z. B. H.-L. Günther, ZStW 102 (1990), 269, 289; Hegnauer, Festschrift für Häfe\in, S. 142; Jung, ZStW 100 (1988), 3, 31/32; Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 319/ 320. 496 Zur Notwendigkeit, diese Leerformel zu konkretisieren, vgl. Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 314, 323 f. sowie Schroeder, Festschrift ftir Miyazawa, S. 540 f. 14 Wohlers

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5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts

stellungen davon, welche Art des Umgangs mit menschlichem Leben gesellschaftlich toleriert werden kann. Erst auf der Basis eines um entsprechende Wertungen angereicherten Menschenbildes kann begründet werden, daß jede Form von Eugenik sittenwidrig und tabu sei,497 genetische Manipulationen das Recht eines Menschen beeinträchtigen, "Produkt eines Zufalls zu sein und um das eigene Schicksal nicht zu wissen",498 daß Klonen menschlicher Lebewesen den Anspruch verletzen soll, "nicht Kopie eines anderen Individuums zu sein, sondern eine eigene, unwiederholbare Persönlichkeit,,499 und deshalb zur Beeinträchtigung des ,,Mindestindividualitätsschutzes" führe,soo daß die Chimären- bzw. Hybridbildung wegen eines Verstoßes gegen ein ,,Demütigungsverbot" abzulehnen sei SO! bzw. zur Durchbrechung "naturgegebener" Grenzen zwischen den Arten führe und so das Wesen und die Einzigartigkeit des Menschen antaste. S02 Als ein letztes Beispiel sei auf das Verbot der Geschlechterwahl verwiesen. Da die geschlechtsspezifisch ausgerichtete Auswahl bereits vor der Befruchtung stattgefunden hat, werden auch hier keine Sachverhalte erfaßt, bei denen bereits befruchtete Eizellen abgetötet werden. s03 Geschützt werden also nicht konkret existente, artspezifisch menschliche Lebewesen, sondern vielmehr "das Menschenbild des genetisch nicht manipulierten Menschen".s04 Festzuhalten bleibt: Bei den Straftatbestände des ESchG und des FMedG geht es nicht um den Schutz individueller Interessen, sondern um die Zuschreibung von Lebensinteressen, ein Prozeß, der seinerseits maßgeblich durch den jeweiligen "weltanschaulichen Standpunkt"SOs bzw. den Horizont gesellschaftlicher Wertvor497 Vgl. Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 I Rdnr. 61; Arthur Kaufmann, Festschrift für Oehler, S. 666. 498 Vgl. Benda, NJW 1985, 1730, 1732; Arthur Kaufmann, JZ 1987, 837, 845/846; ders., Rechtsphilosophie, S. 326 f.; Graf Vitzthum, JZ 1985,201,208. 499 So die Botschaft des Schweizerischen Bundesrates zu einern Bundesgesetz über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung (Fortpflanzungsmedizingesetz, FMedG) vorn 26. Juni 1996, in: BBI. 1996111,205,283. soo Vgl. Benda, NJW 1985, 1730, 1733; Gröner, in: Günther/Keller, S. 307 f.; Arthur Kaufmann, Prometheus, S. 272 f.; ders., JZ 1987, 837, 841; Rolf Keller, Festschrift für Lenckner, S. 480/481: "Dem auf solche Weise erzeugten Menschen würden seine Erbanlagen von anderen zugeteilt, er würde zum Objekt herabgewürdigt, ihm würde die Individualität der menschlichen Persönlichkeit geraubt und menschliches Leben würde instrumentalisiert." SOl Vgl. Arthur Kaufmann, JZ 1987, 837, 841; vgl. auch Gröner, in: Günther/Keller, S. 303 f., 312 ff. S02 V gl. Gröner, in: Günther / Keller, S. 304 S03 Vgl. Rolf Keller, JR 1991,441,443. S04 RolfKeller,JR 1991,441,443. sos Vgl. Zippelius, Gerechtigkeit, S. 329. Bestätigt wird dies, wenn Deutsch, NJW 1991, 721, 723 als Schutzgegenstand der Regelungen des ESchG die Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 und Art. 6 GG als Teil der objektiven Werteordnung des Grundgesetzes versteht und Benda, NJW 1985, 1730, 1733 den Grund für ein Verbot genetischer Untersuchungen darin sieht,

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stellungen determiniert ist. 506 Da aber - jedenfalls in einer pluralistischen Gesellschaft - die einem bestimmten "Konzept der Menschheit"so7 entsprechenden partikularen Vorstellungen von der "Natur des Menschen" bzw. der "Heiligkeit der menschlichen Natur" nicht ohne weiteres Verbindlichkeit beanspruchen dürfen,sos stellt sich die Frage, ob es legitim sein kann, derartige Überzeugungen strafrechtlich zu schützen. Soweit die Notwendigkeit strafbewehrter Verbotsnormen mit der Erwägung begründet werden soll, es gelte einer tiefgreifenden Veränderung des Wertebewußtseins der Gesellschaft entgegenzuwirken,s09 scheint dies zunächst darauf hinzudeuten, daß hier Wertvorstellungen um ihrer selbst willen geschützt werden sollen. Tatsächlich steht aber die Erwägung im Hintergrund, der befürchtete Wandel des Wertebewußtseins werde nicht nur die derzeit herrschenden Wertvorstellungen beseitigen oder an den Rand drängen, sondern könne Konsequenzen haben, die sich letztlich in aktuellen Beeinträchtigungen der Interessen personaler Wesen niederschlagen werden. Beispielhaft sei auf die von Benda als mögliche Folge der pränatalen Diagnose befürchtete gesellschaftliche Nichtakzeptanz Behinderter verwiesen. 510 Weitere Beispiele sind die von Arthur Kaufmann angeführte Möglichkeit einer Produktion von Sklaven oder lebenden Ersatzteillagern im Wege des KlonensSll sowie die von Gröner artikulierte Gefahr einer Aushöhlung der Unantastbarkeit des menschlichen Individuums als Folge eines durch Chimären- und Hybridbildungen zweifelhaft werdenden Status von Individuen als Menschen. 512 daß es die Würde des Menschen in schwerster Weise verletzen würde, wenn entschieden würde. "was krankhafte Abweichung von einer Norm ist, die besagt, wie Menschen beschaffen sein sollten." Tatsächlich ist dann nicht die personelle Würde bestimmter menschlicher Lebewesen, sondern das Menschenbild verletzt, demzufolge alle menschlichen Lebewesen unabhängig von ihrer körperlichen und geistigen in gleicher Weise "wertvoll" sind. S06 Eser, in: Günther / Keller, S. 286 f.; Fechner, in: Günther I Keller, S. 38 f., 48. 507 Vgl. Jung, ZStW 100 (1988),3,34. 508 Vgl. die Botschaft des Schweizerischen Bundesrates zu einern Bundesgesetz über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung (Fortpflanzungsmedizingesetz, FMedG) vorn 26. Juni 1996, in: BBI. 1996 III, 205, 229 f., 277 sowie Arthur Kaufmann, JZ 1987,837,841. Festzustellen ist allerdings, daß im Rahmen der Vorbereitung des Gesetzgebungsverfahrens zur Schaffung des bundesdeutschen Embryonenschutzgesetzes und auch im Gesetzgebungsverfahren selbst de facto auf ein wesentlich moraltheologisch geprägtes Menschenbild zurückgegriffen worden ist, vgl. i.e. Hektor, S. 43 ff., insbes. S. 45, 52 ff., 61 f., 77 und S. 179 ff. Das gleiche Phänomen zeigt sich in der Diskussion um das Abtreibungsverbot, vgl. z. B. Stümer, JZ 1990,709,719; ders., JZ 1991,503,504. Auch die Regelungen in den §§ 218, 218a StGB sind Zugeständnisse an weltanschauliche und ideologische Festlegungen, vgl. Fechner, JZ 1986,653,660; kritisch hierzu: Hoerster, Abtreibung, S. 115 ff.; ders., JZ 1991,503,504. Letztlich stellt sich das Prinzip der ,,Menschenwürde" als das säkularisierte Äquivalent des theologischen Konzepts der "Heiligkeit des menschlichen Lebens" dar, vgl. Neumann, ARSP-Beiheft 44 (1991), 248, 252. 509 Vgl. z. B. Benda, NJW 1985, 1730, 1734. 510 Benda, NJW 1985, 1730, 1734; vgl. auch Seelmann, Festschrift für E. A. Wolff, S. 489. m Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 323, 326. 512 Gröner, in: Günther I Keller, S. 313 ff. 14"

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5. Kap.: Analyse des "modemen" Strafrechts

Klärungsbedürftig ist damit, ob die Anwendung strafrechtlichen Zwangs durch die Zielsetzung legitimiert werden kann, einem Wandel des gesellschaftlichen Wertebewußtseins entgegenwirken zu wollen. Kann die Pönalisierung bestimmter Verhaltensweisen mit der Erwägung legitimiert werden, daß ansonsten eine in ihrem möglichen Endergebnis als negativ zu bewertende Entwicklung eingeleitet wird? Oder mit anderen Worten: Kann die Pönalisierung von für sich gesehen noch nicht als sozialschädlich anzusehenden Verhaltensweisen im Hinblick auf die Gefahr eines zu befürchtenden Dammbruchs legitimiert worden? Für eine Pönalisierung könnte die pragmatische Erwägung sprechen, daß Verhaltensmaßstäbe verteidigt werden müssen, wenn und solange man sie noch hat. 513 Andererseits gilt auch hier: Die pragmatische Notwendigkeit, Straftatbestände mit einer bestimmten Deliktsstruktur auszustatten, weil man ein bestimmtes Ziel erreichen will, vermag nicht zu begründen, daß es richtig und angemessen ist, ein Ziel mit dem Einsatz strafrechtlicher Mittel erreichen zu wollen. 514

VI. Zwischenergebnis Die Analyse der als Beispiele "moderner" Strafgesetzgebung untersuchten Teilbereiche der Strafrechtsordnung hat ergeben, daß die Strafnormen des "modemen" Strafrechts typischerweise nicht personale Interessen als solche, sondern vielmehr die Voraussetzungen der Entfaltung personaler Freiheit gewährleisten sollen, wie z. B. die Erhaltung der lebensnotwendigen Umweltbedingungen, die Funktionsfähigkeit bestimmter Teilbereiche der Wirtschaftsordnung oder die Wahrung des gesellschaftlichen Grundkonsenses. Derartige, dem einzelnen Individuum nur indirekt zugutekommende kollektive Interessen haben sich zwar als grundsätzlich schutzwürdig erwiesen. Es verbleiben aber zwei Problemstellungen: Zum einen bleibt zu klären, welche kollektiven Interessen strafschutzwürdig sind bzw. anhand welcher Kriterien strafschutzwürdige von nicht strafschutzwürdigen Interessen abzugrenzen sind. Des weiteren stellt sich die Frage, "wie" Kollektivinteressen legitimerweise strafrechtlich zu schützen sind. Die Analyse hat insoweit ergeben, daß die untersuchten Straftatbestände jedenfalls keine Erfolgsdelikte klassischer Prägung darstellen. Zu klären ist insbesondere, ob Verhaltensweisen, die nur dann einen Beitrag zu realen Beeinträchtigungen zu leisten vermögen, wenn sich entweder eine Vielzahl von Personen entsprechend verhalten oder aber andere Personen an das Vorverhalten deIiktisch anknüpfen, legitimerweise unter Strafandrohung gesteilt werden dürfen. Vgl. Dworkin, Bürgerrechte, S. 416. Wenn und soweit man zur Begründung entsprechender Strafnonnen auf die Veränderung bzw. Abstumpfung des Wertebewußtseins abheben will, ist zu berücksichtigen, daß es sich nicht um Verletzungsdelikte, sondern um Gefahrdungsdelikte handelt, vgl. Misch, Gefühle, S. 32. 513

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6. Kapitel

Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität strafrechtlicher Normen I. Einleitung Die Analyse ausgewählter Teilbereiche der Strafrechtsordnungen der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland hat gezeigt, daß die Nonnen des "modemen" Strafrechts nur dann auf den Schutz sog. Individualrechtsgüter klassischer Prägung (wie z. B. Leib, Leben, Eigentum) abzielen, wenn bestimmte Verhaltensweisen im Vorfeld der Beeinträchtigung konkreter Individualrechtsgüter pönalisiert werden. Beispielhaft sei hier auf die §§ 327,328 dStGB verwiesen, die den Betrieb gefährlicher Anlagen bzw. den Umgang mit geflihrlichen Stoffen unter bestimmten Voraussetzungen unter Strafe stellen. In der Regel zielen Straftatbestände des "modernen" Strafrechts aber auf den Schutz von Interessen ab, die nicht Bestandteil der unmittelbar-individuellen Rechtssphäre einzelner Personen sind, vielmehr geht es um Belange, an denen grundsätzlich alle Mitglieder der Gesellschaft ein gleichgerichtetes, ganzheitliches (gesamthänderisches) Interesse haben. Beispiele sind das kollektive Interesse an der Erhaltung der für das menschliche Überleben unverziehtbaren Umweltbedingungen (§§ 324 ff. dStGB) sowie das kollektive Interesse an der Funktionsfähigkeit der für die Bedarfsdeckung notwendigen Institutionen der Wirtschaftsordnung (§§ 264, 264a, 265b dStGB). Schließlich hat die Analyse des weiteren ergeben, daß einige Straftatbestände des "modemen" Strafrechts nicht dem Schutz kollektiver Interessen gegenstandsbezogener Art dienen sollen, sondern auf den Schutz bestimmter Wert- bzw. Moralvorstellungen abzielen. Beispielhaft kann insoweit auf die Nonnen des Betäubungsmittelstrafrechts sowie des bundesdeutschen Embryonenschutzgesetzes verwiesen werden, mit denen der Gesetzgeber die Bekämpfung bestimmter Lebensentwürfe bzw. die Stabilisierung eines bestimmten Menschenbildes zu erreichen sucht. Die verbindliche FestIegung der strafrechtlich geschützten Belange kann in einer gewaltengeteilten Demokratie unstreitig allein durch den Gesetzgeber erfolgen. 1 Hiervon zu trennen ist allerdings die Frage, ob es sich bei den de lege lata durch den Gesetzgeber festgelegten bzw. bei den de lege ferenda erwogenen Schutzobjekten um legitimerweise schützenswerte, insbesondere: strafrechtlich I

Vgl. nur M. J. Worrns, Bekenntnisbeschimpfung, S. 79.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

schutzwürdige Belange handelt. Wie bereits oben dargelegt wurde,2 führt die Anwendung strafrechtlichen Zwanges notwendigerweise zu Grundrechtseingriffen, so daß die Freiheit des Gesetzgeber bei der Bestimmung des legitimen Anwendungsbereichs strafrechtlicher Normen von vornherein jedenfalls durch die von der Verfassungsrechtsordnung vorgegebenen Werte und Prinzipien beschränkt ist. 3 Weichen Bindungen der Gesetzgeber bei seinen Pönalisierungsentscheidungen im einzelnen unterliegt, ist allerdings weitgehend ungeklärt. Die Bemühungen der Strafrechtswissenschaft, den materialen Gehalt strafwürdigen Verhaltens zu erfassen, konzentrieren sich derzeit vornehmlich auf die Lehre vom Rechtsgut. Daß sich das materielle Substrat der Straftat aus einer Rechtsgutsbeeinträchtigung ergeben müsse und es folglich Strafvorschriften ohne Rechtsgutsbezug legitimerweise nicht geben dürfe, kann zwar als Grundsatz in nahezu allen Standardwerken des Strafrechts nachgelesen werden. 4 Eine nähere Auseinandersetzung mit dem derzeitigen Stand der Rechtsgutstheorie führt dann allerdings zu einem im Hinblick auf den vorgeblich zentralen Stellenwert dieser Theorie doch überraschenden Befund: Soweit ersichtlich ist es bisher nämlich weder gelungen, einen Kreis strafrechtlich relevanter Rechtsgüter zu bestimmen,5 noch kann - trotz nicht unerheblicher Bemühungen 6 - der Gehalt oder auch nur der Begriff des Rechtsguts selbst als geklärt angesehen werden. 7

Vgl. oben S. 48 f. Jescheck, in: LK, Vor § 13 Rdnr. 8. 4 Vgl. den Überblick über den Meinungsstand bei Stratenwerth, Festschrift für Lenckner, S. 377 m. w. N. in den Fußnoten 3 und 4. Stratenwerth spricht insoweit von einem ,,Dogma". S Roxin, StrafR AT, Teilbd. 1, § 2 Rdnr. 5; Stratenwerth, StrafR AT, Rdnrn. 54,56, 58; Lagodny, Strafrecht, S. 148 ff.; Lüderssen, BB 1996, Beilage 11, S. 6. 6 Zur dogmengeschichtlichen Entwicklung vgl. insbesondere die umfassenden Arbeiten von Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft; Hasserner, Theorie und Soziologie des Verbrechens; Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs "Rechtsgut". 1 Vgl. Appel, Verfassung, S. 344 ff.; Hurtado Pozo, Partie generale, Rdnrn. 32 ff.; Kühl, Rechtsgüter, S. 248, sowie insbesondere die Ausführungen von Stratenwerth, Festschrift für Lenckner, S. 379 ff.; vgl. auch bereits ders., SchwStrafR AT I, § 3 Rdnr. 6 f.; ähnlich pessimistisch Trechsel, in: Trechsell NolI, StrafR AT I, S. 24: ,,Letztlich erweist sich dieser Begriff als inhaltsleer und verzichtbar." Vgl. auch Merkei, Strafrecht, S. 276 mit dem Hinweis darauf, es wäre "eine Art Wunder der logischen Transsubstation, könnte man zwar ansonsten und außerhalb des Rechtsgutsbegriffs nicht sagen, was der Staat bestrafen darf, brauchte aber für eine Antwort auf die Frage nichts weiter als die Einsetzung der Formel vom ,Rechtsgut' in ein entsprechendes Votum pro oder contra." Optimistischer dagegen Eser, Festschrift für Mestmäcker, S. 1011: "immer noch ausstehende endgültige Klärung". 2

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11. Rechtsgüterschutz als Funktion strafrechtlicher Normen

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11. Rechtsgüterschutz als Funktion strafrechtlicher Normen Anlaß, dem herrschenden Rechtgutsparadigma skeptisch gegenüberzustehen, könnte die Erkenntnis sein, daß das Strafrecht zum faktischen Schutz von Rechtsgütern einen allenfalls mittelbaren Beitrag zu leisten vermag. Da die Verhängung einer Strafe voraussetzt, daß eine pönalisierte Verhaltensweise bereits vorgenommen wurde, kann der Einsatz strafrechtlicher Sanktionen aktuelle Rechtsgutsbeeinträchtigungen nicht verhindern, sondern setzt diese im Gegenteil als Anlaß für die Sanktionierung geradezu voraus. Mit anderen Worten: Aufgabe des Strafrechts kann jedenfalls nicht der Schutz von Rechtsgütern vor gegenwärtigen Beeinträchtigungen sein; gerade dann, wenn das Strafrecht real in Aktion tritt, kommt es regelmäßig zu spät. 8 Andererseits kann aber davon ausgegangen werden, daß die Androhung und Verhängung von Strafen - dies ist jedenfalls die grundlegende Prämisse aller präventiv orientierten Strafrechtslehren - einen Beitrag dazu leistet, daß zukünftige Rechtsgutsbeeinträchtigungen unterbleiben, indem nämlich ein Abschreckungseffekt erzielt bzw. die Normgeltung stabilisiert wird. 9 Welzel hat aus diesem Befund die Konsequenz gezogen, daß zumindest die unmittelbare Funktion strafrechtlicher Zwangsanwendung allein in der kontrafaktischen Stabilisierung von Normen gesehen werden könne. Seiner Auffassung nach versucht das Strafrecht Rechtsgüterschutz dadurch sicherzustellen, "daß es die auf Rechtsgüterverletzung abzielenden Handlungen verbietet und bestraft" und hierdurch "die Geltung der positiven sozialethischen Aktwerte" sichere. "Diese in der beständigen rechtlichen (d. h. legalen, nicht notwendig moralischen) Gesinnung wurzelnden Werte rechtmäßigen HandeIns bilden den positiven sozialethischen Hintergrund der strafrechtlichen Normen. Ihre reale Befolgung sichert das Strafrecht dadurch, daß es den bestätigten Abfall von ihnen in den treubrüchigen, zuchtlosen, unehrlichen, unredlichen Handlungen bestraft. Die zentrale Aufgabe des Strafrechts liegt also darin, durch Strafdrohung und Strafe rür den wirklich betätigten Abfall von den Grundwerten rechtlichen HandeIns die unverbrüchliche Geltung dieser Aktwerte sicherzustellen.,,10 Indem das Strafrecht "den wirklich betätigten Abfall von den Grundwerten rechtlicher Gesinnung verfemt und bestraft, offenbart es in der eindrucksvollsten Weise, die dem Staat zur Verfügung steht, die unverbrüchliche Geltung dieser positiven Aktwerte, formt das sozialethische Urteil der Bürger und stärkt ihre bleibende rechtstreue Gesinnung".l1 Dem Strafrecht müsse es "weniger auf das aktuelle positive Ergebnis der Handlung als auf die blei8 Welzel, Strafrecht, S. 3; ders., Festschrift für Gierke, S. 297; vgl. auch Appel, Verfassung, S. 452 ff.; Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 77, 84; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 116. 9 Vgl. i. e. oben S. 57 f. sowie Appel, Verfassung, S. 440 ff., 459 ff. 10 Welzel, Strafrecht, S. 2 (Klammerzusatz im Original). 11 Welzel, Strafrecht, S. 3.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

bende positive Handlungstendenz der Rechtsgenossen ankommen ( ... ) Die Achtung vor den Rechtsgütern (also die Geltung der Aktwerte) zu sichern, ist wichtiger, als im aktuellen Einzelfall ein positives Ergebnis zu erreichen". 12 Soweit Welzel entgegengehalten wird, seine Konzeption begründe die Gefahr des Abrutschens in ein Gesinnungsstrafrecht, 13 kann dem im Ergebnis nicht gefolgt werden. Tatsächlich hat Welzel den Gedanken des Rechtsgüterschutzes nämlich gar nicht verworfen,14 sondern vielmehr versucht, diesen umfassender bzw. tiefergehend zu begründen. Die Stabilisierung von Normansprüchen ist auch für Welzel 15 - jedenfalls dann, wenn man die endgültige Ausgestaltung seiner Lehre in der Zeit nach 1945 zugrundelegt - weder Selbstzweck noch auf den Schutz von Gesinnungen ausgerichtet, sondern Mittel zum Zweck des Rechtsgüterschutzes: Aufgabe des Strafrechts soll sein "der Schutz der elementaren sozialethischen Gesinnungs-(Handlungs-)werte und erst darin eingeschlossen der Schutz der einzelnen Rechtsgüter,,16 bzw. mit anderen Worten: ,,Aufgabe des Strafrechts ist der Rechtsgüterschutz durch den Schutz der elementaren sozialethischen Handlungswerte.,,17 Zur Begründung führt Welzel aus: ,,Nur über die Sicherung der elementaren sozialethischen Handlungswerte ist ein wirklich dauerhafter und durchgreifender Schutz der Rechtsgüter zu erreichen. Durch die umfassendere sozialethische Funktion des Strafrechts wird der Rechtsgüterschutz tiefer und stärker gewährleistet als durch den alleinigen Güterschutzgedanken. Die Aktwerte der Treue, des Gehorsams, der Achtung vor der Person usf. haben den längeren Atem und den weiteren Blick als der bloße Güterschutz. Hinter ihnen tritt der nur aktuelle Nutzen oder Schaden zurück vor dem dauerhaften Gewinn, der in der beständigen rechtstreuen Gesinnung der Bürger liegt." 18 Auch wenn der Vorwurf der Begründung eines Gesinnungsstrafrechts zu Unrecht erhoben wird, muß doch andererseits festgestellt werden, daß Welzel die Voraussetzungen, unter denen Rechtsgüterschutz mit den Mitteln des Strafrechts betrieben werden kann, zwar im Ansatz zutreffend erkannt, daß er aber die aus der Perspektive seines Ansatzes entscheidungserheblichen gesellschaftstheoretischen Welzel, Strafrecht, S. 3. Vgl. z. B. Eser, Duquesne University Law Review 4 (1966), 345, 368; Rudolphi, in: SKStGB, Vor § I Rdnr. 2; MJ. Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 73 f. m. w. N.; vgl. aber auch die relativierende Stellungnahme von Kühl, Unterscheidung, S. 152 ff. 14 Vgl. Bettiol, ZStW 72 (1960), 276, 280; Stratenwerth, ZStR 79 (1963), 233, 239. 15 So auch die Einschätzung von Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnrn. 251 f.; Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 45; kritisch hierzu: Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention, S. 33 f. Hinzuweisen ist darauf, daß Welzel selbst (Strafrecht, S. 80) vor den Gefahren eines Gesinnungsstrafrechts ausdrücklich gewarnt hat. Vgl. im übrigen auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 273 ff. sowie allgemein zur Problematik der Unterscheidung von Gesinnungswerten und Rechtsgütern: Papageorgiou, Schaden, S. 97 f. 16 Welzel, Strafrecht, S. 4. 17 Welzel, Strafrecht, S. 5. 18 Welzel, Strafrecht. S. 4. 12

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11. Rechtsgüterschutz als Funktion strafrechtlicher Normen

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Grundlagen nur unzureichend weiterverfolgt hat. Seine Konzeption erschöpft sich in dem Nachweis, daß Rechtsgüter durch den Einsatz strafrechtlichen Zwanges allenfalls mittelbar geschützt werden können. Maßstäbe bzw. Kriterien zur Bestimmung der als schutzwürdig anzuerkennenden Rechtsgüter können seinen Ausführungen dagegen nicht entnommen werden. 19 Wenn Jakobs die Aufgabe des Strafrechts unter Verzicht auf den Gedanken des Rechtsgüterschutzes mit der kontrafaktischen Stabilisierung von Verhaltensnormen identifizieren will, kann dies nach dem oben Gesagten nur überzeugen, solange man nicht nach der Funktion bestimmter strafrechtlicher Normen, sondern allein nach der Funktion des Strafrechts als Institution fragt. Nur auf dieser Ebene bestehen keine Bedenken, "die Enttäuschungsfestigkeit der wesentlichen normativen Erwartungen ( ... ) als das vom Strafrecht zu schützende Gut (zu) definieren.,,2o Wie von Jakobs selbst zugestanden wird, darf das auf das Strafrecht als Institution bezogene "Strafrechtsgut" der Normgeltung dann allerdings nicht mit dem Rechtsgut als Schutzgegenstand jeweils konkreter Strafrechtsnormen gleichgesetzt werden. 21 Auch wenn man die Funktion strafrechtlicher Normen darin sieht, Verhaltensnormen kontrafaktisch zu stabilisieren, kann die Legitimation konkreter strafrechtlicher Normen nicht allein aus der Funktion der Normstabilisierung abgeleitet werden: 22 Versteht man Normen als Erwartungen, an denen man auch im Falle der Enttäuschung festhalten will und sieht man in der Bestrafung eine Form der Verarbeitung von Enttäuschung auf Kosten des Bestraften, kommt es entscheidend darauf an, wann es legitim ist, auf einen Normbruch gerade mit dem Mittel der Strafe zu reagieren. Anderenfalls wäre ein relevanter Unterschied zwischen der Pönalisierung von Tötungshandlungen einerseits und andererseits einem Straftatbestand, der ein rein symbolisches Handeln unter Strafe stellt (beispielhaft: die Mißachtung staatlicher Symbole), nicht mehr auszumachen. 23 Da aber unstreitig nicht jede Verhaltensnorm unterschiedslos durch Sanktionsnormen abgesichert werden soll, kann die Legitimität konkreter strafrechtlicher Normen nicht ohne Bezug zu dem jeweils geschützten "Etwas" beurteilt werden.

19 Kritisch zur unzureichenden Aufarbeitung der im Grundsatz aufgezeigten gesellschaftstheoretischen Bezüge bei und durch Welzel: Hassemer, Theorie, S. 112 ff.; Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 32 ff. 20 So Jakobs, StrafR AT, 2/2; vgl. auch Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 140 ff. 21 Jakobs, StrafR AT, 217; vgl. auch bereits Welzel, ZStW 58 (1938), 491, 512 Fußn. 30. 22 V gl. auch Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 142, 151. So aber Appel, Verfassung, S. 440 ff., der die Funktion der Strafrechtsnormen darin sieht, die Autorität der normsetzenden Instanz bzw. die Rechtsstellung des Rechtsunterworfenen zur Rechtsgemeinschaft zu verdeutlichen (a. a. 0., S. 464). 23 V gl. Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention, S. 68 mit dem Hinweis darauf, daß funktionalistische Strafrechtslehren zu diesem Zweck der Ergänzung durch eine normative Theorie bedürfen. Appel, Verfassung, S. 442, 491 ff., 558 ff., verweist insoweit auf die Grundrechte und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

111. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie Im Rahmen der Bemühungen um die Rechtsgutstheorie stehen sich im wesentlichen zwei grundsätzlich voneinander abweichende Konzeptionen gegenüber: die systemimmanenten bzw. methodischen Rechtsgutslehren einerseits und die systemkritischen bzw. materialen Rechtsgutslehren andererseits. 24 Die systemimmanenten Rechtsgutslehren tendieren dahin, den Begriff des Rechtsguts mit dem des Interesses bzw. Wertes gleichzusetzen. Sie definieren Rechtsgüter beispielsweise als "Lebensinteressen der Gemeinschaft, denen das Strafrecht seinen Schutz gewährt. ,,25 Das Rechtsgut sei "als ein rechtlich geschützter abstrakter Wert der Sozialordnung zu verstehen, an' dessen Erhaltung die Gemeinschaft ein Interesse hat".26 Die Gleichsetzung der Rechtsgüter mit "geistigen Werten der Sozialordnung"27 eröffnet zwar einerseits die Möglichkeit, alle überhaupt nur denkbaren Straftatbestände in den Anwendungsbereich der Rechtsgutstheorie einzubeziehen, läuft aber andererseits darauf hinaus, den Rechtsgutsbegriff inhaltlich zu entleeren. Eine Rechtsgutstheorie, die - wie es Binding in seiner klassischen Definition formuliert hat - "alles, was in den Augen des Gesetzgebers als Bedingung gesunden Lebens der Rechtsgemeinschaft für diese von Wert ist, an dessen unveränderter und ungestörter Erhaltung sie nach seiner Ansicht ein Interesse hat und das er deshalb durch seine Normen vor unerwünschter Verletzung oder Gefahrdung zu sichern bestrebt ist,,28 zum Rechtsgut erklärt, die also den Begriff des Rechtsguts mit dem der ratio legis gleichsetzt, ist von vornherein auf die deskriptive Systematisierung der geltenden Strafrechtsordnung beschränkt. 29 Die für die Auslegung und Anwendung der de lege lata geltenden Strafrechtsnormen hilfreichen Funktionen der systemimmanenten Rechtsgutstheorie 3o sollen nicht in Abrede gestellt werden. Wenn es aber - wie in der vorliegenden Untersuchung weder um die Systematisierung der de lege lata geltenden Normen noch um die Etikettierung bestimmter dogmatischer Unterscheidungen, sondern vielmehr um 24 Grundlegend hierzu: Hasserner, Theorie, S. 19 ff.; vgl. auch Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 9; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 32 m. w. N. sowie Baratta, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 393 ff., insbesondere S. 398 mit dem Hinweis darauf, daß es sich nicht um zwei voneinander getrennte Bereiche, sondern um "zwei Momente eines Kontinuums" handele. 2S Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 256; Maurach/Zipf, StrafR AT, Teilbd. I, § 19 Rdnr. 4; Schmidhäuser, StrafR AT, 2/30; Wesseis, StrafR AT, Rdnr. 7. 26 Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 257/258; Jescheck, in: LK, Vor § 13 Rdnr. 6; Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 84; Schmidhäuser, Festschrift für Engisch, S. 443/444. 27 Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 259; vgl. auch Wesseis, StrafR AT, Rdnr. 8: "ideelle Sozial werte". 28 Binding, Normen I, S. 353 ff. 29 Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 7. JO Vgl. Hasserner, Theorie, S. 57 ff.; Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 258 f.; Jescheck, in: LK, Vor § 13 Rdnr. 8; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 9; Maurach 1Zipf, StrafR AT, Teilbd. I, § 19 Rdnr. 17.

111. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie

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die Frage geht, ob der Gesetzgeber bestimmten Interessen legitimerweise strafrechtlichen Schutz gewähren darf, können von einer derart inhaltlich entleerten Rechtsgutstheorie ersichtlich keine irgendwie relevanten Aussagen erwartet werden. 3l Grundlegend anders ist dies bei den systemkritischen Rechtsgutslehren, deren Vertreter gerade den Ansatz verfolgen, den Begriff des Rechtsguts mit materiellem Gehalt zu versehen, um so die legitimerweise strafschutzwürdigen von den nicht strafschutzwürdigen Interessen unterscheiden zu können. 32 Daß es Straftatbestände gibt und schon immer gegeben hat, die mit einem inhaltlich aufgeladenen Rechtsgutsbegriff nicht zu erfassen und damit auch nicht zu legitimieren sind,33 wäre nur dann ein von vornherein durchgreifendes Argument gegen diesen Ansatz, wenn man, was aber auf eine petitio principii hinauslaufen würde, bereits im Vorwege von der Legitimität eben dieser Straftatbestände ausgehen wollte. Auch der Hinweis darauf, daß diese Straftatbestände unbeanstandet bzw. in ihrer Legitimität unstreitig seien,34 kann die Suche nach den diese Wertung tragenden Sachgesichtspunkten nicht ersetzen. Für das der vorliegenden Untersuchung zugrundeliegende Erkenntnisinteresse kommt es entscheidend darauf an, ob die systemkritische Rechtsgutslehre den selbstgesetzten Anspruch zu erfüllen vermag, "dem Strafgesetzgeber ein plausibles und verwendungsfähiges Kriterium seiner Entscheidungen an die Hand zu geben und zugleich einen externen PfÜfungsmaßstab für die Gerechtigkeit dieser Entscheidungen zu entwickeln".35 Problematisch ist hier zunächst, daß auch innerhalb der systemkritischen Rechtsgutslehren keine konsensfähigen Kriterien und Maßstäbe zur begrifflichen Konturierung des Rechtsgutsbegriffs ersichtlich sind. Als gesichert kann allein gelten, daß das Rechtsgut nicht mit dem Interesse gleichgesetzt werden darf, das den Gesetzgeber veraniaßt haben mag, eine Strafnorm zu schaffen (bzw. dies zu erwägen), sondern vielmehr mit dem "Etwas", auf das sich dieses Interesse bezieht. 36 Dieses "Etwas" ist von den Vertretern systemkritischer Rechtsgutslehren unter an31 Eser, Duquesne University Law Review 4 (1966), 345, 381; Fischer, Öffentlicher Friede, S. 539 ff.; Frisch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 203; Marx, Definition, S. 14, 19 ff.; Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 174 f.; Rudolphi, Festschrift für Honig, S. 154; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 34; MJ. Worrns, Bekenntnisbeschimpfung, S. 24; tendenziell a.A. Jakobs, StrafR AT, 2/ 12, der einen Rest kritischer Potenz darin sehen will, daß der Gesetzgeber angehalten wird, einen Wert überhaupt zu benennen. 32 Appel, Verfassung, S. 342 f.; Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnr. 261; Rudolphi, Festschrift für Honig, S. 154; einen Überblick über die neueren systemkritischen Ansätze gibt MJ. Worrns, Bekenntnisbeschimpfung, S. 31 ff.; kritisch hierzu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 208 ff.; ders., Sozialschädlichkeit, S. 278, der die Auffassung vertritt, der Rechtsgutsbegriff könne nicht mehr leisten als das, was die systemimmanenten Rechtsgutstheorien erreichen wollen. 33 Vgl. Jakobs, StrafR AT, 2/16 ff.; Stratenwerth, Rektoratsrede, S. 17/18; ders., ZStW 105 (1993), 679, 694; ders., ZStR 115 (1997), 86,92. 34 Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 5. 35 Hassemer, in: NK, Vor § 1 Rdnr.261.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

derem 37 umschrieben worden als "Objekte" oder "Gegenstände,,38, "Zustände,,39, "Gegebenheiten,,4o, "Partizipationschancen,,41 und "Funktionseinheiten,,42. Die begriffliche Vielfalt ist Ausdruck dessen, daß noch weitgehend ungeklärt ist, ob und inwieweit Rechtsgüter einen real-gegenständlichen Bezugspunkt haben müssen. Konkret geht es um die Frage, ob neben körperlich-substanzhaften Objekten von der Art des menschlichen Körpers auch Interaktionszusammenhänge, wie etwa das Subventionswesen, oder gar rein geistige oder ideelle Werte, wie z. B. die Bewahrung eines bestimmten Menschenbildes, legitime Schutzgegenstände strafrechtlicher Nonnen sein dürfen. Zu konstatieren ist, daß der Verzicht auf reale Gegenständlichkeit das kritische Potential der Rechtsgutstheorie tendenziell minimieren würde, während andererseits eine Beschränkung auf gegenständliche Schutzobjekte das kritische Potential des Rechtsgutsbegriffs erhöhen und bei einer Beschränkung auf "handfeste" Rechtsgutsobjekte möglicherweise tatsächlich die von den Kritikern des "modemen" Strafrechts befürwortete weitgehende Beschränkung auf einen relativ kleinen Kreis klassischer Individualrechtsgüter erzwingen könnte. Für die Belange der vorliegenden Untersuchung erscheint es weder erforderlich, die Dogmengeschichte der Rechtsgutstheorie nachzuzeichnen,43 noch ist es notwendig, den aktuellen Meinungsstand zur Klärung des Rechtsgutsbegriffs im einzelnen darzustellen. 44 Als relevant erweisen sich vielmehr zwei relativ klar umrissene Fragestellungen: Kann bzw. muß der Kreis strafschutzwürdiger Rechtsgüter auf eine durch bestimmte Qualifikationen gekennzeichnete, in sich geschlossene Klasse von Gütern beschränkt werden? Inwieweit können bzw. müssen Interessen, die nicht gegenständlich-substanzhaft verkörpert sind, in den Kreis strafschutzwürdiger Rechtsgüter einbezogen werden?

Stratenwerth, Festschrift für Lenckner, S. 379 f. Vgl. auch Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnr. 286; Jakobs, StrafR AT, 2/ 15; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 9; Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 34; Stratenwerth, Festschrift für Lenckner, S. 378; Vogel-Etienne, Tierschutz, S. 122 f., jeweils m.w.N. 38 Marx, Definition, S. 9 f., 62. 39 Otto, Rechtsgutsbegriff, S. 8. 40 Roxin, StrafR AT, Teilbd. 1, § 2 Rdnr. 9. 41 Callies, Theorie, S. 132 ff., 142. 42 Hoyer, Eignungsdelikte, S. 36; Rudolphi, Festschrift für Honig, S .. 163. 43 Vgl. hierzu die bereits oben S. 214 Fußn. 6 genannten Abhandlungen. 44 Vgl. hierzu aus neuerer Zeit die Arbeit von MJ. Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 31 ff. 36

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III. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie

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1. Die Unterscheidung von Individualund Universalrechtsgütern Im Rahmen der Rechtsgutstheorie werden gemeinhin die Subkategorien der Individual- und Universalrechtsgüter unterschieden. 4s Beispiele für Individualrechtsgüter sind das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit und das Eigentum des einzelnen an bestimmten Gegenständen. Beispiele für Universalrechtsgüter sollen sein: der Bestand des Staates und seiner freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die Wahrung von Staatsgeheimnissen, die Rechtspflege, die Unbestechlichkeit von Amtsträgem, die Sicherheit des Geldverkehrs und die Zuverlässigkeit von Urkunden im Rechtsverkehr. 46 Allgemein wird die Unterscheidung nach dem Rechtsgutsträger und - damit zusammenhängend - nach der Dispositionsbefugnis über das Rechtsgut als eine im Hinblick auf die systemimmanenten Funktionen der Rechtsgutstheorie unverzichtbare Differenzierung anerkannt. 47 Insbesondere soll die Differenzierung dem Umstand Rechnung tragen, daß die Einwilligung einer Person in die Beeinträchtigung eines Rechtsguts diesem Vorgang dann - aber auch nur dann - den Unrechtsgehalt nehmen kann, wenn diese Person alleiniger Träger des Rechtsguts ist.48 Keine Einigkeit besteht demgegenüber in der Frage, ob die Unterscheidung von Individualund Universalrechtsgütern darüber hinaus auch für die systemkritische Funktion der Rechtsgutstheorie Bedeutung hat. Während die Vertreter sog. dualistischer Rechtsgutslehren Individual- und Universalrechtsgüter als gleichberechtigte Subkategorien anerkennen,49 konzipieren die Vertreter sog. monistischer Ansätze Rechtsgüter entweder nur vom Staat oder nur vom Individuum her,so was dann zur Konsequenz hat, daß beispielsweise die Vertreter monistisch-personaler Rechtsgutsiehren Universalrechtsgüter als eine eigenständige Kategorie ablehnen bzw. diese "nur insoweit für legitim halten, als sie der personalen Entfaltung des Individuums dienen."sl Vgl. Hurtado Pozo, Partie generale, Rdnr. 29. Vgl. Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 259; Maurach/Zipf, StrafR AT, Teilbd. I, § 19 Rdnr. 11; WesseIs, StrafR AT, Rdnr. 7. 47 Vgl. Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnrn. 269 f.; Jescheck, in: LK, Vor § 13 Rdnr. 6; Maurach/Zipf, StrafR AT, Teilbd. I, § 19 Rdnr. 10; Schmidhäuser, StrafR AT, 2133; M.J. Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 53; kritisch hierzu: Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 178 ff. 4K Daß - zumindest de lege lata - der Umkehrschluß nicht trägt, zeigen die §§ 216, 226a dStGB; vgl. Hassemer, Theorie, S. 83 f. 49 V gl. z. B. Riklin, StrafR AT I, § 4 Rdnr. 4; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 113 ff., 120. 50 V gl. Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnr. 271; Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 17 f. m.w.N. 51 Vgl. Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnr. 271; vgl. auch Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 20 f., mit dem Hinweis darauf, daß hieraus die besondere Legitimationsbedürftigkeit resultiere. Kritisch zur Möglichkeit einer vollständigen Reduzierbarkeit kollektiver Güter auf individuelle Rechte bzw. individueller Rechte auf kollektive Güter: Alexy, Vernunft, S. 253 ff. 45

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

Tatsächlich kann die Unterscheidung von Individual- und Universalrechtsgütern schon deshalb nicht überzeugen, weil die vorgeblich klare Abgrenzung beider Subkategorien bei näherer Betrachtung gar nicht überzeugend durchgeführt werden kann. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist bereits dargelegt worden, daß die personale Freiheitssphäre des einzelnen Individuums neben der Gewährleistung eines bestimmten Güterbestandes (status negativus) auch die Gewährleistung der Grundvoraussetzungen für die Ausübung personaler Freiheit (status positivus) beinhaltet. 52 Hieraus folgt dann aber, daß die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft als Individuen ein kollektives - man könnte auch sagen: gesamthänderisches - Interesse an der Gewährleistung der für die Entfaltung ihrer individuellen Freiheit notwendigen Grundvoraussetzungen haben. 53 Dieser Bezug zur Sphäre des Individuums wird vernachlässigt, wenn die kollektiven Interessen am Bestand derartiger Rechtsgüter entweder als Rechtsgüter der Gemeinschaft oder aber - als Ausdruck einer mehr etatistischen Sichtweise - als Rechtsgüter des Staates gedeutet werden. Berücksichtigt man weiterhin, daß bisher soweit ersichtlich nicht überzeugend begründet werden konnte, daß es sich bei dem Interesse an der Bestandserhaltung des Staates und der Funktionsfähigkeit staatlicher Organe oder gesellschaftlicher Institutionen um eigenständige Interessen des Staates, seiner Organe bzw. gesellschaftlicher Institutionen selbst und nicht vielmehr um das kollektive Interesse der Mitglieder der Gesellschaft handelt, wird man die strikte Trennung zwischen Individual- und Universalrechtsgütern nicht aufrechterhalten können. 54 Wenn aber Lebensgüter des einzelnen stets auch mittelbar Lebensgüter der Gesellschaft sind und gleichzeitig die auf die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft abzielenden Belange zugleich dem einzelnen zugute kommen,55 muß konsequenterweise nicht nur die Konzeption eines Dualismus von Individual- und Universalrechtsgütern als qualitativ verschiedene Rechtsgutskategorien, sondern auch der von den Vertretern der monistisch-personalen Rechtsgutslehre unternommene Versuch einer Hierachisierung von Individual- und Universalrechtsgütern als nicht weiterführend aufgegeben werden. 56 Als Maßstab für eine sachgerecht ausgestaltete systemkritische Rechtsgutstheorie scheidet die Unterscheidung von Individualund Universalrechtsgütern aus. 57 Vgl. i. e. oben S. 94 ff. Vgl. Feinberg, Vol. 1, S. 223; ders., Vol. 4, S. 33; Papageorgiou, Schaden, S. 281; Postema, Ethics, Vol. 97 (1986-1987), 414, 422 f.; Rawls, Theorie, S. 300. Grundlegend zur begrifflichen Bestimmung des kollektiven Guts als "nicht distributiv": Alexy, Vernunft, S. 239 f. 54 So auch Hassemer, Theorie, S. 231 ff.; vgl. auch bereits Marx, Definition, S. 80 ff. 55 Schmidhäuser, StrafR AT, 2/30; vgl. auch Hassemer, in: NK, Vor § 1 Rdnr. 281; Schulz, Strafrecht, S. 236 und der Sache nach wohl auch der von Eser, Festschrift für Mestmäcker, S. \023, vorgeschlagene duale (institutionell-individuelle) Verbrechensbegriff. 56 Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 182; a.A. wohl Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 75 ff. 57 Daß die Differenzierung für die oben angesprochenen systemimmanenten Funktionen mehr zu leisten vermag, als eine rein begriffliche Umschreibung, ist nach dem Gesagten durchaus zweifelhaft, bedarf im vorliegenden Zusammenhang aber keiner Vertiefung. 52 53

III. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie

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2. Die Substanzhaltigkeit von Rechtsgütern Die Frage nach der notwendigen Substanzhaltigkeit des Rechtsguts steht mit der heute unstreitig anerkannten Unterscheidung des Rechtsguts vom Handlungsobjekt in einem nur äußerlichen Zusammenhang. Wahrend das Rechtsgut das "Etwas" ist, auf dessen Erhalt bzw. Schutz sich das Interesse des Gesetzgebers bezieht, ist das Handlungsobjekt der reale Gegenstand, an dem sich die tatbestandsmäßige Handlung vollzieht. 58 Bei einigen Straftatbeständen, wie insbesondere den Tötungs- und Körperverletzungsdelikten, sind Rechtsgut und Handlungsobjekt zwar scheinbar identisch. 59 Selbst bei Individualrechtsgütern klassischer Prägung ist dies aber nicht der Regelfall. So ist beispielsweise beim Diebstahl das Handlungsobjekt (die Sache) nicht mit dem Rechtsgut (der tatsächlichen Herrschaftsbeziehung über die Sache) identisch. Vermeidet man die Gleichsetzung des Rechtsguts mit dem Handlungsobjekt, wird deutlich, daß auch Individualrechtsgüter klassischer Prägung, wie z. B. die beim klassischen Diebstahlstatbestand geschützte Herrschaftsmacht über bestimmte Sachen, nicht selbst gegenständlich-substanzhaft sind, sondern sich auf ein gegenständlich-substanzhaftes Substrat beziehen. 60 Deutlicher wird dies noch bei überindividuellen Rechtsgütern. So ist beispielsweise beim Straftatbestand des Widerstands gegen die Staatsgewalt das geschützte Rechtsgut die ungestörte Vollstreckungstätigkeit der staatlichen Organe, während Handlungsobjekt der einzelne angegriffene Vollstreckungsbeamte ist. Im vorliegenden Zusammenhang geht es nicht um die Differenzierung von Rechtsgut und Handlungsobjekt, sondern allein um die Frage, inwieweit das Rechtsgut selbst, also: das ,,Etwas", auf dessen Schutz sich das Interesse des Gesetzgebers bezieht, substanzhaften Charakter haben muß. Eine Einschränkung des Kreises legitimerweise strafschutzwürdiger Belange könnte sich aus der Erwägung herleiten, daß über den Rechtsgutsbegriff die Strafwürdigkeit von Verhaltensweisen im Hinblick auf die mit diesen Verhaltensweisen verbundenen sozialethischen bzw. sozialschädlichen Auswirkungen bewertet werden soll. Möglich ist diese Bewertung nämlich nur dann, wenn die als Rechtsgüter in Betracht gezogenen Interessen derart konkretisiert sind, daß die Auswirkungen konkreter Verhaltensweisen auf die Integrität des Rechtsguts rational beurteilt werden können. 61 58 Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 14/15; Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 259/260; Maurach/Zipf, StrafR AT, Teilbd. I, § 19 Rdnm. 14 ff.; Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 10; Schmidhäuser, Festschrift für Engisch, S. 444; Stratenwerth, StrafR AT, Rdnrn. 209 f.; VogelEtienne, Tierschutz, S. 124; Wesseis, StrafR AT, Rdnr. 8. 59 Vgl. Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 34; Schmidhäuser, StrafR AT, 2/32. 60 Eser, Duquesne University Law Review 4 (1966), 345, 381/382; Rudolphi, Festschrift für Honig, S. 164; ders., in: SKStGB, Vor § 1 Rdnr. 9; Stratenwerth, Festschrift für Lenckner, S.384. 61 Vgl. Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 17; Kindhäuser, Legitimität, S. 129; Schlüchter, 2. WiKG, S. 4 ff., 42 ff.; MJ. Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 82.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

Unmittelbar einsichtig ist, daß Strafrechtsnormen, die gegenständlich-substanzhaft verkörperte ("handfeste") Rechtsgüter schützen sollen, der Forderung nach feststellbarer Beeinträchtigungskausalität eher zu genügen vermögen als Strafrechtsnormen, die der Desintegration eines Interaktionszusammenhanges entgegenwirken oder gar eine Wertvorstellung vor einem Geltungsverlust bewahren sollen. Daß der Schutz von Individualrechtsgütern klassischer Prägung gemeinhin als unter Legitimitätsgesichtspunkten im Grundsatz unproblematisch angesehen wird, dürfte seine wesentliche Ursache denn auch gerade darin haben, daß die Beeinträchtigung substanzhaft-gegenständlich verkörperter Interessen, wie z. B. des Interesses an der Unversehrtheit des eigenen Körpers oder des Interesses an der ungestörten Verfügbarkeit bestimmter körperlicher Gegen!itände, regelmäßig weitgehend unproblematisch nachvollzogen werden kann. 62 Zwar gibt es auch einzelne Individualrechtsgüter klassischer Prägung, bei denen - wie beispielsweise bei den Rechtsgütern der ,,Ehre,,63 oder der "Willensfreiheit,,64 - die Annahme einer substanzbezogenen Verletzungstauglichkeit nicht unproblematisch ist;65 in der Regel geht die Beeinträchtigung von Individualrechtsgütern aber mit der Beeinträchtigung eines konkret-gegenständlichen Tatobjektes einher, das als Handlungsobjekt den als Rechtsgut zu schützenden werthaften Zustand "verkörpert" und so zumindest die Illusion erzeugt, es gehe darum, konkret-substanzhafte Objekte vor Beeinträchtigungen zu bewahren. 66 Auch die Annahme, der strafrechtliche Schutz überindividueller Belange sei in besonderer Weise legitimierungsbedürftig,67 dürfte weitgehend aus der spezifischen Funktion von Universalrechtsgütern heraus zu erklären sein. Diese besteht nämlich darin, den Schutz bestimmter staatlicher oder gesellschaftlicher Institutionen bzw. bestimmter Funktions- oder Interaktionszusammenhänge zu gewährleisten. Anders als bei Individualrechtsgütern klassischer Prägung kann die Beeinträchtigung überindividueller Rechtsgüter in der Regel nicht an der Beeinträchtigung eines konkreten, gegenständlich faßbaren Angriffsobjekts festgemacht werden, sondern schlägt sich allein in der von vornherein schwer faßbaren Desorganisation problemspezifisch strukturierter gesellschaftlicher Subsysteme nieder. 68 Da auch im Hinblick auf innerhalb hochkomplexer Systeme auftretender Störungen am Grundsatz der individuellen (strafrechtlichen) Verantwortlichkeit für eine Beeinträchtigung festzuhalten ist,69 ist auch und gerade bei überindividuellen Vgl. Stratenwerth, Festschrift für Lenckner, S. 380. Vgl. Ronzani, Erfolg, S. 21 Fußn. 33. M Vgl. Eser, Duquesne University Law Review 4 (1966),345,389. 65 Vgl. Graul, Gefährdungsdelikte, S. 29 ff.; Martin, Strafbarkeit, S. 30; Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 3 f., 47; Saal, Straftat, S. 92 f.; Stratenwerth, Festschrift für Lenckner, S. 380. 62

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Vgl. Stratenwerth, Rektoratsrede, S. 12. V gl. z. B. Hassemer, Grundlinien, S. 92; Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 20 f. 68 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 356; Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 40; Stratenwerth, Festschrift für Lenckner, S. 385 ff.; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht I, S. 85; ders., Tatbestandsfunktionen, S. 123 f. M

67

III. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie

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Rechtsgütern die hinreichende Konturierung des Schutzobjektes eine unverzichtbare Voraussetzung legitimer Strafgesetzgebung. 7o Die Forderung nach Substanzhaftigkeit von Rechtsgütern wird vornehmlich aus älteren Stellungnahmen von Jäger und Roxin herausgelesen. In seiner 1957 veröffentlichten Untersuchung zur Legitimität der Sittlichkeitsdelikte hatte Jäger die Auffassung entwickelt, Rechtsgüter seien "werthafte Zustände, die durch menschliches Handeln verändert und die deshalb auch durch strafgesetzliche Regelungen vor solchen Veränderungen bewahrt werden können. Mit anderen Worten: es sind verletzbare, schützbare Zustände". 71 In seiner 1963 in erster Auflage veröffentlichten Habilitationsschrift hatte Roxin - unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Jäger - Rechtsgüter noch definiert als "abgrenzbare, in der Außenwelt verwirklichte und deshalb durch äußeres Handeln zu beeinträchtigende werthafte Zustände, wie Leben, Gesundheit, Eigentum, Freiheit der Willensbildung, die Funktionsfähigkeit der Staatsorgane und dergleichen. Begriffen, wie denen der Sittlichkeit, des Gemeinwohls, des Volksempfindens, der ethischen Ordnung oder der allgemeinen Menschenwürde ist eine derart anschaulich-greifbare Zuständlichkeit nicht eigen. Es handelt sich deshalb bei ihnen nicht um Rechtsgüter in dem hier angedeuteten Sinne".72 Indes: Daß es sich bei Rechtsgütern tatsächlich nicht um konkrete, sinnlich wahrnehmbare Gegenstände handeln kann, Rechtsgüter also nicht etwas ..Greifbares" sind, wird nicht nur von Jäger73 ausdrücklich anerkannt; auch den Äußerungen Roxins 74 ist zu entnehmen, daß er auf dem Standpunkt steht, daß es sich bei Rechtsgütern eben nicht um dinglich-substanzhafte Gebilde, sondern um beeinträchtigungs fähige reale Gegebenheiten handeln muß, d. h. um Gegebenheiten, die nachvollziehbaren Veränderungen unterworfen werden können. 75 Entscheidend ist damit, wo die Grenze der notwendigen Substanzhaftigkeit strafrechtlich relevanter Rechtsgüter liegt bzw. - anders formuliert - wie weit Rechtsgüter ..vergeistigt" werden dürfen. Erkennt man das Erfordernis der realen Beeinträchtigungsfähigkeit grundsätzlich an, müssen jedenfalls Begriffe höchster Allgemeinheit 76 als Rechtsgüter ausscheiden. Die Wirtschaftsordnung als solche77 kann hiernach ebensowenig ein 69 Geerds, Wirtschaftsstrafrecht. S. 41 ff.; Lampe. Kreditbetrug. S. 39 f.; Schlüchter. 2. WiKG. S. 156; vgl. auch Stratenwerth. ZStW 105 (1993). 679. 686. 70 Hirsch. Bekämpfung. S. 17 ff.; Stratenwerth. Festschrift für Lenckner. S. 388. 71 Jäger. Rechtsgüterschutz. S. 13. n Roxin. Tatherrschaft. S. 413. 73 Jäger. Rechtsgüterschutz. S. 14 f. 74 V gl. oben. Fußn. 72. 75 So auch Ronzani. Erfolg. S. 33 ff.; M.1. Worms. Bekenntnisbeschimpfung. S. 65. 82. 76 Jäger. Rechtsgüterschutz. S. 16 f. spricht - unter Bezugnahme auf Schopenhauer - plastisch von ..hohlen Begriffen". 77 Geerds. Wirtschaftsstrafrecht. S. 280. 283; Tiedemann. Tatbestandsfunktionen. S. 122. Gleiches gilt für die obersten Ziele der Wirtschaftspolitik. wie z. B. Budgetgleichgewicht, Geldstabilität. vgl. Tiedemann. Tatbestandsfunktionen. S. 123 f.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

strafrechtlich relevantes Rechtsgut sein wie der freie bzw. faire Wettbewerb,78 die öffentliche Ordnung,19 der öffentliche Friede,8o die Sittlichkeit,81 die innere Sicherheit 82 oder auch die Umwelt als solche. 83 Demgegenüber wird diesem Erfordernis offensichtlich entsprochen, wenn sich der zu schützende Belang wie etwa beim Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit in einem physisch-kausal verletzbaren konkreten Handlungsobjekt verkörpert. Indes: Da die für das Leben in einer modemen Gesellschaft relevanten Belange nicht überzeugend als eine Anhäufung bzw. ein Bestand gegenständlich verfestigter Güter beschrieben werden können,84 wäre es verfehlt, eine Beschränkung auf konkret-gegenständliche ("handfeste") Rechtsgüter zu verlangen. Auch bei Schutzgütern, die - wie z. B. das "Kreditwesen", der "Kapitalanlagemarkt" oder das "Subventionswesen" - auf ein empirisch feststell bares Substrat konkreter Interaktionszusammenhänge und Handlungsabläufe aufbauen, kann die reale Beeinträchtigungsfähigkeit85 und damit die für die Annahme der Legitimität strafrechtlichen Schutzes grundlegende Beeinträchtigungsfähigkeit nicht von vornherein in Abrede gestellt werden. Zu berücksichtigen ist weiterhin, daß - abgesehen von einigen, die personale Freiheitssphäre unmittelbar konstituierenden Rechtsgütern, insbesondere: Leben und körperliche Unversehrtheit - Rechtsgüter regelmäßig nicht umfassend, sondern nur gegen bestimmte Formen der Beeinträchtigung geschützt werden. Ebenso wie beispielsweise die Straftatbestände zum Schutz des Vermögens nur bestimmte Formen der Beeinträchtigung, nämlich: täuschungsbedingte (§ 263 dStGB / Art. 146 schwStGB), nötigungsbedingte (§ 253 dStGB / Art. 156 schwStGB) und unter Ausnutzung bestimmter Vertrauensstellungen (§ 266 dStGB / Art. 158 schwStGB) bewirkte Vermögensschädigungen erfassen, wird auch überindividuellen Belangen kein umfassender, sondern lediglich ein partieller Strafrechtsschutz gewährt. Wie bereits oben dargelegt,86 schützen z. B. die §§ 264a, 265b dStGB nicht das Kreditwesen als solches bzw. die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes umfassend, sondern nur in einem bestimmten Ausschnitt und in bestimmter Hinsicht, d. h. gegen eine bestimmte Art und Weise der Beeinträchtigung. Konkret: Erfaßt wird allein die Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Kreditmarktes Vgl. Lüderssen, StV 1997,318,320. Vgl. Wolff, Abgrenzung, S. 221 unter Hinweis auf Binding, Normen I, S. 352. 80 Köhler, StrafR AT, S. 33. 81 Binding, Normen I, S. 352/353; vgl. auch: Amelung, Sozialschädlichkeit, S. 275; Forster, ZSR NF 114 (1995),11, 1,50 Fußn. 204; Welzel, ZStW 58 (1939), 511 Fußn. 30; M.J. Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 80. 82 Köhler, StrafR AT, S. 33. 83 Bloy, JuS 1997,577,579 f.; Hirsch, Bekämpfung, S. 16; Jenny/Kunz, Bericht, S. 49; Ronzani, Erfolg, S. 36 ff., 43; Stratenwerth, SchwStrafR AT I, § 3 Rdnr. 9. 84 Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 155 f.; Stratenwerth, Rektoratsrede, S. 17; vgl. auch bereits Welzel, ZStW 58 (1938), 491, 514 f. 85 Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 199. 86 Vgl.obenS.157ff.,174ff. 78 79

111. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie

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bzw. des Kapitalanlagemarktes durch wahrheitswidrige Angaben in Kreditanträgen bzw. durch täuschende Angaben bei der Vermarktung von Kapitalanlagen. Daß insoweit sowohl eine empirische Kontrolle der Schädigungsrelevanz der in Frage stehenden Verhaltensweisen als auch eine Bewertung der Schutzwürdigkeit des betroffenen Interaktionszusammenhangs grundsätzlich möglich ist, wird man nicht in Abrede stellen können 87 - ob sie jeweils gegeben ist, ist eine Frage der Einzelnormprüfung. Als Kandidaten für einen grundSätzlichen Ausschluß aus dem Kreis strafschutzwürdiger Rechtsgüter verbleiben damit vollständig substanzlose Rechtsgüter, wie z. B. Gefühle oder Moral- bzw. Wertvorstellungen. Gemäß einer in der Strafrechtswissenschaft verbreitet vertretenen Auffassung soll eine der wesentlichen Errungenschaften der Rechtsgutstheorie gerade darin liegen, die Illegitimität des strafrechtlichen Schutzes bloßer Moral- oder Wertvorstellungen erwiesen zu haben. 88 Als wesentliche Beispiele wird in diesem Zusammenhang gemeinhin auf die Abschaffung der Delikte der Hexerei und Zauberei sowie - aus neuerer Zeit - auf die Reform des Sexualstrafrechts und hier insbesondere auf die Abschaffung der Delikte verwiesen, die die Sittlichkeit allein um ihrer selbst willen schützen sollten, wie z. B. die Straftatbestände der Sodomie und der Homosexualität. 89 Indes: Bei näherem Hinsehen wird schnell deutlich, daß diese Delikte nicht etwa deshalb beseitigt wurden, weil sie nicht dem Schutz "greifbarer" Rechtsgüter dienten, sondern vielmehr deshalb, weil die zugrunde liegenden Schutzgegenstände als nicht mehr schutzbedürftig angesehen wurden. 90 Die Beseitigung der Delikte der Zauberei und Hexerei war nicht durch die Erkenntnis bedingt, daß es sich um substanzlose Phänome handele, sondern dadurch, daß die Existenz dieser Phänome überhaupt in Frage gestellt wurde. Deutlicher ist dies noch bei den Sittlichkeitsdelikten. Entscheidend war hier nicht die Tatsache, daß es sich bei der Sittlichkeit als solcher und auch bei einzelnen sittlich geprägten Wert- oder Moralvorstellungen um substanzlose Phänome handelt. Entscheidend war die sich seit der Aufklärung zunehmend durchsetzende Überzeugung, daß bestimmte Bereiche des sittlichen Verhal87 Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, daß nur bestimmte Institutionen und Funktionszusammenhänge, nicht aber das "Vertrauen" in die Funktionsfähigkeit von Institutionen oder Funktionszusammenhängen Schutzgut strafrechtlicher Normen sein kann. Abgesehen davon, daß das "Vertrauen" ein in seiner Schädigungsfähigkeit ebensowenig greifbarer Begriff ist wie "die Wirtschaftsordnung", "die Umwelt" oder "die öffentliche Ordnung", ist Grundlage der personalen Existenz nicht das Vertrauen in bestimmte Funktionszusammenhänge, sondern deren Funktionsfähigkeit selbst. Zwar kann diese durch einen Vertrauensverlust in Frage gestelJt werden. Dies ändert aber nichts daran, daß über den Vertrauensschutz letztlich die Verfügbarkeit des Funktionszusammenhanges selbst gewährleistet werden solJ (so zutreffend: DölJing, Gutachten, C 49; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 311). 88 Vgl. nur Roxin, StrafR AT, Teilbd. J, § 2 Rdnr. 11 f. 89 Hassemer, Strafrechtswissenschaft, S. 283 f.; ders., Festschrift für E. A. Wolff, S. 110; Kühl, Rechtsgüter, S. 250 f. 90 Frisch, Festschrift für Stree I Wesseis, S. 72 f.; ders., Strafbarkeitsvoraussetzungen, S.206.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

tens einer staatlichen Reglementierung entzogen sind. 91 Paradigmatisch hierfür ist der sog. Wolfenden Report, in dem das unter dem Vorsitz von Sir John Wolfenden tagende Committee on Homosexual Offences and Prostitution den Standpunkt vertritt: "homosexual behaviour between consenting adults in privat should no longer be a criminal offence" und dies mit dem Argument begründet: "there must remain arealm of private morality and immorality which is, in brief and crude terms, not the law's business".92 Im übrigen darf nicht übersehen werden, daß eine Beseitigung substanzloser Rechtsgüter notwendigerweise auch Straftatbestände erfassen müßte, die - soweit ersichtlich - in ihrer Legitimität unbestritten sind, wie beispielsweise die EhrdelikteY3 Auch wenn man sich auf eine allgemein akzeptierte Definition des Phänomens "Ehre" bisher nicht verständigen konnte,94 daß es sich bei der Ehre um etwas Substanzloses handelt, dürfte unstreitig sein. 95 Nicht die "Ehre" selbst kann in irgendeiner Art und Weise substanzhaft beeinträchtigt werden. Einer Beeinträchtigung zugänglich ist allenfalls der hinter diesem Phänomen stehende soziale Geltungsanspruch bzw. das als Träger des Ehranspruchs in seinem Selbstwertgefühl getroffene Individuum. Wenn trotzdem allgemein an der Berechtigung dieser Straftatbestände festgehalten wird, ist dies ein Indiz dafür, daß es letztlich gar nicht auf eine empirisch nachweisbare substanzhafte Beeinträchtigung ankommt, sondern vielmehr darauf, daß die Annahme einer Beeinträchtigung der vorherrschenden Rationalitätsstruktur einer Gesellschaft entspricht bzw. mit dieser vereinbar ist. 96 Sieht man den Menschen nicht als bloße bio-physikalische Einheit, sondern als ein in sozialen Bezügen stehendes Individuum, wäre es verfehlt, die das Beziehungsgeflecht stützenden Faktoren allein deshalb aus dem Kreis potentiell strafschutzwürdiger Rechtsgüter auszuschließen, weil es sich um substanzlose Phänomene handelt. 97 Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, daß Rechtsgüter weder als Entitäten in der Lebenswelt vorgefunden noch anhand begrifflicher Merkmale positiv umschrieben werden können. Konkret bedeutet dies, daß über den Rechtsgutsbe91 Vgl. Forster, ZSR NF 114 (1995),11, I, 12; Lüderssen, ZStW 107 (1995), 977, 898; Stratenwerth, Rektoratsrede, S. 10 unter Hinweis auf Locke und Humboldt. 92 Wolfenden Report, hier zitiert nach: Devlin, Enforcement, S. 3; vgl. auch Feinberg, Vol. 4, S. 134; Hart, Morality, S. 14/15. 93 Vgl. M.J. Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 52 sowie Zaczyk, Unrecht, S. 199 mit dem zutreffenden Hinweis darauf, daß der gleiche Einwand auch im Hinblick auf Aussagedelikte sowie Delikte gegen die Willensfreiheit (Nötigung und Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung) zu erheben wäre. Zur besonderen Bedeutung der Ehre vgl. auch Rawls, Theorie, S. 479 ff., 590 ff.; ders., Idee, S. 189 ff.: Grundgut der Selbstachtung. 94 Vgl. den Überblick über den Meinungsstand bei Herdegen, in: LK, 10. Auflage, Vor § 185 Rdnrn. 5 ff.; Stratenwerth, SchwStrafR BT I, § 11 Rdnrn. 2 ff. 9~ Keller, ZStW 107 (1995), 457, 475. % Vgl. Hassemer, Theorie, S. 237 f. 97 Vgl. Schulz, Strafrecht, S. 236/237; Zaczyk, Unrecht, S. 199.

III. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie

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griff selbst weder komplexe Lebenszusammenhänge noch die als ordnungstiftende Faktoren einer Gesellschaft dienenden kulturell geprägten Verhaltensnormen noch Gefühlszustände von vornherein als legitime Schutzgegenstände strafrechtlicher Normen ausscheiden müssen. Als Ergebnis der Bemühungen um den Rechtsgutsbegriff verbleibt allein die Erkenntnis, daß Rechtsgüter soweit konkretisiert sein müssen, daß ihre Beeinträchtigung bzw. Nichtbeeinträchtigung durch ein bestimmtes Verhalten nachvollziehbar geprüft werden kann, wobei sich dann allerdings der Prüfungsmaßstab wiederum an der Rationalitätsstruktur der jeweiligen Gesellschaft zu orientieren hat. 98

3. Die Anbindung der Rechtsgutstheorie an die Gesellschaftstheorie Die vorstehenden Ausführungen legen die Vermutung nahe, daß sich die "systemkritische" Funktion der Rechtsgutstheorie im wesentlichen darauf beschränken muß. dem Gesetzgeber gegenüber die - im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Fundierung des Strafrechts auch ohne Bezugnahme auf die Rechtsgutstheorie selbstverständliche - Notwendigkeit zu betonen, die mit einer Pönalisierung verfolgten Zielsetzungen offenzulegen, um so eine Basis zu schaffen, auf der dann die Legitimität der jeweils in Frage stehenden Normen diskutiert werden kann. 99 Will man an der Rechtsgutslehre als einem wesentlichen Prüfstein legitimer Strafgesetzgebung festhalten, 100 muß die an begriffliche Merkmale anknüpfende Rechtsgutslehre verabschiedet und durch einen auf gesellschaftstheoretischer Grundlage neu konzipierten Ansatz ersetzt werden. 101 Die für die Konstituierung von Rechtsgütern maßgebenden Kriterien können nicht dem Rechtsgutsbegriff entnommen werden,102 sondern müssen vielmehr von außen an die Rechtsgutstheorie herangetragen und in diese integriert werden. 103 Rechtsgüter sind deshalb als das Produkt eines wesentlich durch den jeweiligen Bezugsrahmen der gesellschaftlichen Verständigung über die den Bedürfnissen des einzelnen und der Gesamtheit entspre-

98 Vgl. Eser, Duquesne University Law Review 4 (1966), 345, 375 f. (insbesondere zum Stellenwert der individuellen Freiheit); Trechsell Noll, StrafR AT I, S. 25; Stratenwerth, SchwStrafR AT I, § 3 Rdnr. 8. 99 So Killias/Rehbinder, ZBJV 119 (1983), 291,293; vgl. auch Frisch, Festschrift für Stree/Wessels, S. 72; Jakobs, StrafR AT, 2/12; Stratenwerth, SchwStrafR AT I, § 3 Rdnrn. 10 ff. 100 Die systemimmanenten Funktionen der Rechtsgutstheorie stehen außer Streit und sollen auch durch die obigen Ausführungen nicht in Zweifel gezogen werden. 101 Roxin, JA 1980,545,546/547. IO~ Jakobs, StrafR AT. 21 15; vg. auch Frisch, Festschrift für Stree/Wessels, S. 72 f.; ders., Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 205. 103 Jakobs, StrafR AT. 2/22; Stratenwerth, StrafR AT, Rdnrn. 64 ff.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

chende "richtige" soziale Ordnung lO4 determinierten gesellschaftlichen Selektionsprozesses zu verstehen. 105 Entgegen einer verbreitet vertretenen Auffassung ist es damit aber bereits im Ansatz verfehlt, der Rechtsgutstheorie selbst einen liberalen oder autoritären Gehalt zuerkennen zu wollen. I06 Über den liberalen oder autoritären Gehalt einer Strafrechtsordnung entscheidet nicht die Rechtsgutstheorie als solche, sondern vielmehr die wesentlich durch die Verfassungsrechtsordnung zur Geltung gebrachte Konzeption einer Gesellschaft. Als Quellen der für die Bewertung strafrechtlicher Normen bzw. potentiell strafwürdiger Verhaltensweisen relevanten Maßstäbe und Kriterien ist zum einen der Rückgriff auf die in einer konkreten gesellschaftlichen Situation faktisch gegebenen Strukturen (die Systembedingungen) und zum anderen die Orientierung an den für eine Gesellschaft verbindlichen normativen Grundsätzen gefordert worden.

a) Das gesellschaftliche Umfeld als Kriterium strafschutzwürdiger Rechtsgüter aa) Das Seiende als Basis des Seinsollenden (v. Liszt)

Der Ansatz, strafschutzwürdige Rechtsgüter nicht anhand normativer Kriterien zu bestimmen, sondern vielmehr aus dem in einer historisch konkreten Situation gegebenen gesellschaftlichen Umfeld abzuleiten, ist insbesondere durch Franz von Liszt vertreten worden. Von Liszt sah in Rechtsgütern die durch das Recht geschützten Lebensinteressen des einzelnen oder der Gemeinschaft. 107 Rechtsgüter werden seiner Auffassung nach nicht durch die Rechtsordnung erzeugt, sondern durch das Leben. Zu Rechtsgütern werden Interessen zwar erst dadurch, daß ihnen Rechtsschutz gewährt wird, jedoch "wurzeln die Rechtsnormen letzten Grundes in dem Wissen wie in den religiösen, sittlichen und ästhetischen Anschauungen des Staatsvolkes; sie finden hier ihren festen bodenständigen Halt und empfangen hier den Antrieb zur Entwicklung. Das Recht ist eine Kulturerscheinung und unlöslich mit der Gesamtkultur verbunden.,,108 ErkenntnistheoretiVgl. Stratenwerth, StrafR AT, Rdnr. 59. Vgl. Bettiol, ZStW 72 (1960), 276, 283; Eser, Duquesne University Law Review 4 (1966),345,378 f., 394 ff., 413; Forster, ZSR NF 114 (1995),11, 1,47 f.; Frisch, Festschrift für Stree 1 WesseIs, S. 72; Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnrn. 282 ff.; Lampe, Festschrift für Welzel, S. 153 ff.; Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 157 ff.; Rudolphi, Festschrift für Honig, S. 164; Stratenwerth, StrafR AT, Rdnr. 56. 106 So wohl auch Papageorgiou, Schaden, S. 90 Fußn. 46; vgl. aber andererseits auch a. a. 0., S. 92. 107 Vgl. v. Liszt, ZStW 8 (1888),133,138/139. 108 v. Liszt, Lehrbuch, S. 4; vgl. auch ders., Zweckgedanke, S. 147; ders., Handlungsbegriff, S. 223. 104 105

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sehe Basis dieses Ansatzes ist die These, "das Seinsollende (könne) ausschließlich aus dem Seienden abgeleitet werden. Oder genauer gesprochen: Indem wir das Seiende als ein geschichtlich Gewordenes betrachten und danach das Werdende bestimmen, erkennen wir das Seinsollende. Werdendes und Seinsollendes sind insoweit identische Begriffe. Nur die erkannte Entwicklungstendenz gibt uns über das Seinsollende Aufschluß; für unsere menschliche Zwecksetzung bleibt uns nur die Hemmung oder Förderung eines von menschlicher Willkür unabhängigen Entwicklungsganges."I09 Dieser an die Kulturnormenlehre M. E. Mayers anknüpfende Ansatz ist - dies ist heute soweit ersichtlich unstreitig - durchgreifenden Einwänden ausgesetzt: Anzuerkennen ist, daß rechtliche Regelungen stets in historisch gewachsenen Situationen geschaffen werden und notwendigerweise darauf abzielen, ein konkretes soziales Umfeld zu gestalten. Daß das Recht der sozialen Wirklichkeit Rechnung zu tragen hat und der Gesetzgeber deswegen die Erkenntnisse der Wissenschaftszweige, die sich mit der Erforschung der gesellschaftlichen Realität befassen, nicht übergehen darf, wenn er sachgerechte Regelungen treffen will, ist insoweit unstreitig, als der Gesetzgeber gehalten ist, keine Normen zu setzen, die faktisch Unmögliches verlangen bzw. zur Durchsetzung eines bestimmten Zweckes ungeeignete Maßnahmen anordnen würden. 110 Anzuerkennen ist also, daß das geschichtlich-soziale Umfeld die zur Regelung eines konkreten Problems zur Verfügung stehenden Alternativen von vornherein auf die Lösungen beschränkt, die sich in die bestehen· de Rechtsordnung einfügen 11 I und auf der Grundlage der geschichtlich gewachsenen gesellschaftlichen Wertungen, Interessen und Zwecksetzungen überhaupt denk-, diskussions- und durchsetzungsfähig sein können. 112 Daß aus den auf erfahrungs wissenschaftlicher Grundlage gewonnenen Erkennt nissen über die Realität des gesellschaftlichen Miteinanders (den sog. Seinstatsachen) darüber hinaus auch in positiver Hinsicht konkrete Regelungsinhalte (Sol· lensnormen) abgeleitet werden können, kann demgegenüber nicht angenommen werden. Gegen die These von der Ableitbarkeit des Seinsollenden aus dem Seien den, mit der v. Liszt bereits im zeitgenössischen Schrifttum wenig Anklang gefunden hat,1I3 ist zunächst einzuwenden, daß die Annahme, es sei der menschlichen 109 v. Liszt, ZStW 26 (1906),553,556; ders., ZStW 27 (1907), 91, 92 ff.; vgl. auch Feisen berger, ZStW 27 (1907), 460: Aus dem Seienden sei der Zweck zu entnehmen, der dann das Seinsollende setzt; an hand des Zwecks könne aus dem Seienden das Seinsollende erkannt werden; Weinkauff, NJW 1960, 1689, 1696. 110 Coing, Rechtsphilosophie, S. 187 ff.; Engisch, Gerechtigkeit, S. 238 ff.; Habermas. Faktizität und Geltung, S. 394 f.; Noll, Gesetzgebungslehre, S. 98 ff.; Radbruch, Natur der Sache, S. 233 f.; Stratenwerth, Problem, S. 27; Würtenberger, JZ 1955, 1,3. 111 Vgl. Luhmann, Rechtsoziologie, S. 239, 325. 112 Vgl. Forster, ZSR NF 114 (1995),11, I, \03; Luhmann, Rechtssoziologie, S. 126, 140, 298 ff.; Radbruch, Natur der Sache, S. 237; Stratenwerth, SchwStrafR AT I, § 3 Rdnr. 4. 113 Vgl. Mezger, Sein, S. 42 ff. sowie Radbruch ZStW 27 (1907), 246 und 742, jeweils m.w.N.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

Zwecksetzung überlassen, einen von menschlicher Willkür unabhängigen Entwicklungsgang zu hemmen oder zu fördern, bereits in sich widersprüchlich erscheint. Des weiteren ist zu konstatieren, daß v. Liszt eine überzeugende Antwort darauf schuldig geblieben ist, anhand welcher Kriterien zwischen schutzwürdigen und nicht schutzwürdigen (Lebens-)Interessen unterschieden werden soll bzw. unterschieden werden kann. 114 Der Verweis auf die "Kultur" mag vor dem Hintergrund eines rein naturalistischen Weltbildes als ausreichend erscheinen; nachdem sich der an eine derart verkürzte Sicht des sozialen Lebens anknüpfende Erkenntnisoptimismus als geradezu naiv erwiesen hat, wird man differenziertere Ansätze verlangen müssen. 115 Die Annahme, das Seiende könne als solches objektiv erkannt werden, vernachlässigt, daß bereits das Erkennen des Seienden tatsächlich einen durch Wertungen beeinflußten Prozeß der Konstruktion des Seienden darstellt. 116 Versuche, die für die Bewertung des Seinsollenden notwendigen Maßstäbe einer den realen gesellschaftlichen Verhältnissen selbst innewohnenden Ordnung zu entnehmen, sind stets an der Tatsache gescheitert, daß jeder ontologisch ausgerichteten, auf der Natur des Menschen oder der Natur der Dinge aufbauenden Begründung des Rechts Wertungen zugrunde liegen, anhand derer die Natur der Dinge bzw. des Menschen überhaupt erst abgeleitet wird. 1l7 Die als "Natur der Sache" bezeichnete, einem Sachverhalt angeblich immanente innere Ordnung hat sich als Wertung erwiesen, die in einer mehr oder minder langen Tradition geprägt wurde und allein deshalb als die natürliche Ordnung eben dieses Sachverhalts erscheint. \18 Was als ,,Natur" einer Sache erscheint, hängt allein davon ab, welche Sachverhaltsmomente aufgrund einer wertenden Betrachtung aus der Masse der in der Seinssphäre vorfindbaren Fakten als wesentlich herausgehoben werden. 119 Der Rekurs auf die einem Sachverhalt angeblich immanente innere Ordnung führt im Ergebnis dazu, daß die notwendigerweise vorzunehmende Auswahl entweder durch eine auf die Evidenz des Ergebnisses aufbauende bloße Behauptung ersetzt oder 114 Daß die vorgefundenen Interessen "gegeneinander abgewogen" werden müssen, hatte auch v. Liszt nicht in Abrede gestellt; vgl. ders., Zweckgedanke, S. 147. 115 Zur fehlenden inhaltlichen Begrenzung der Liszt'schen Rechtsgutslehre vgl. Le. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 87 ff.; kritisch zur Unbestimmtheit des Liszt'schen Ansatzes auch Jakobs, StrafR AT, 2/13; Papageorgiou, Schaden, S. 93,106. Vgl. auch Bohnert, Straftheorie, S. 33 ff.: v. Liszt habe gar nicht ernsthaft die geschichtliche Entwicklung aufgearbeitet,sondern diese als Folie für die Darstellung seiner rechtspolitischen Ziele genutzt. Bei dem Liszt'schen Ansatz handele es sich um einen teleologischen Ansatz in dem das ,,richtigerweise" zu Sollende tatsächlich normativ gesetzt werde. 116 Lüderssen, Genesis, S. 49, 150. 117 Dreier, Begriff, S. 116; Engisch, Gerechtigkeit, S. 221 f., 230 f., 237 f.; Kaufmann, Beiträge, S. 81; Stratenwerth, Problem, S. 20. 118 Engisch, Gerechtigkeit, S. 237 f., 244 f.; Seelmann, Rechtsphilosophie, § 8 Rdnr. 22. 119 Coing, Rechtsphilosophie, S. 190; Radbruch, Natur der Sache, S. 235; Stratenwerth, Problem, S. 22, 24 f., 27; vgl. aber auch Küpper, Grenzen, S. 35 f.: Der Rekurs auf die Natur der Sache solle nur die vorschnelle Zuflucht zu Wertungen verhindern.

III. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie

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aber die tatsächlich maßgeblichen Wertungen hinter dem Postulat der Erkenntnis einer dem Sachverhalt immanenten Ordnung verborgen werden. 120 Zur Illustrierung kann beispielhaft auf die Bemühungen Maihofers zum Rechtsquellencharakter der ,,Natur der Sache,,121 verwiesen werden. Maihofer vertritt hier die These, daß aus der Seinsstruktur von Lebenssachverhalten Sinnstrukturen abgeleitet werden können. Maßgebend sollen die Erwartungen sein, die die Träger sozialer Lebensrollen 122 an den Anderen als Solchen stellen. Ermittelt werden sollen die Rollenerwartungen dadurch, daß sich der Träger eine Rolle (z. B.: als Sohn) die Frage stellt, was er als Träger der komplementären Rolle des Anderen (im Beispiel: als Vater) von Trägern der anderen Rolle (im Beispiel: als Sohn) erwarten würde. 123 Was konkret von einem "vernünftigen" Träger einer Rolle "berechtigterweise" erwartet werden darf, soll und kann nach Maihofer anhand der Goldenen Regel und des Kategorischen Imperativs ermittelt werden. 124 Hierzu ist anzumerken, daß der Kategorische Imperativ als solcher von Kant nicht als Maßstab zur Ableitung des Seinsollenden verstanden worden ist,125 sondern allein die Auswahl von Verhaltensmaximen ermöglichen soll - und zwar vor dem Hintergrund bestimmter, als feststehend vorausgesetzter gesellschaftlicher Institutionen bzw. menschlicher Interessen. 126 Bei seinen in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zur Erläuterung des Kategorischen Imperativs herangezogenen Beispielen der Selbsttötung aus Lebensüberdruß, 127 des Menschen, der sich dem Vergnügen ergibt, statt an der Entwicklung seiner naturgegebenen Anlagen und Talente zu arbeiten 128 sowie des Menschen, der sich gegenüber der Not anderer gleichgültig verhält,129 setzt Kant voraus, daß es im Interesse des Menschen liege, Selbsttötungen zu unterlassen,130 an der Erweiterung und Verbesserung der 120 Vgl. Dreier, Begriff, S. 117 ff.; GutzwiIler, Lehre, S. 21 f.; E. Kaufmann, JuS 1987, 848,850 f. 121 Maihofer, Archiv für Rechtsphilosophie, Bd. 44 (1958), 145, 163 ff. 122 Maihofer nennt als Beispiele die Rollenpaare Vater und Sohn sowie Lehrer und Schüler. 123 Maihofer, Archiv für Rechtsphilosophie, Bd. 44 (1958), 145, 167. 124 Maihofer, Archiv für Rechtsphilosophie, Bd. 44 (1958), 145, 167 ff. 125 Dieser Gesichtspunkt verliert allerdings an Gewicht, wenn man in dem insoweit wohl einschlägigen allgemeinen Rechtsgesetz der (äußeren) Freiheit (Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, § B) eine spezialisierte Version des Kategorischen Imperativs sieht; vgl. hierzu: Dreier, Recht-Moral-Ideologie, S. 290 ff.; Kersting, Freiheit, S. 26, 128; Kühl, Unterscheidung, S. 142. 126 Engisch, Gerechtigkeit, S. 210; Höffe, Verallgemeinerung, S. 212/213; Pogge, Imperative, S. 190; vgl. auch Maus, Demokratietheorie, S. 267 ff., 283 f., 330 f.: der kategorische Imperativ als Instrument zum Ausschluß bestimmter Maximen. 127 Kant, Grundlegung zur Metaphyik der Sitten, S. 52 128 Ebd., S. 53 f. 129 Ebd., S. 54. 130 Höffe, Kategorischer Imperativ, S. 373 ff.; Hoerster, Kategorischer Imperativ, S. 470 f.; Kelsen, Rechtslehre, S. 370; Welzel, Naturecht, S. 171; kritisch zur Argumentation bei Kant: Papageorgiou, ARSP-Beiheft 51 (1993), 198,203 f.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

naturgegebenen menschlichen Anlagen zu arbeiten, statt nach Vergnügungen zu streben 131 und in Notsituationen Hilfe von anderen Personen zu erhalten. 132 Nicht durch logische Deduktion,133 sondern erst und nur auf der Basis dieser Grundannahmen vermag Kant dann die Selbstwidersprüchlichkeit der in Frage stehenden Maximen und damit deren Unvereinbarkeit mit dem Kategorischen Imperativ zu begründen. 134 Gleiches gilt für das Beispiel der Person, die, um sich aus einer finanziellen Notlage zu befreien, erwägt, sich mit dem falschen Versprechen, dieses zurückzahlen zu wollen, Geld zu leihen,135 sowie das Beispiel desjenigen, der die Maxime verfolgt, sein Vermögen durch alle sicheren Mittel zu vergrößern und der ein ihm anvertrautes Gut in Händen hält (Depositum), dessen Eigentümer verstorben ist und der erwägt, den Besitz - für den keine Beweismittel existieren - dem Erben gegenüber abzuleugnen,136 wo neben der Existenz der Institutionen des Privateigentums und des Geldes die Existenz bestimmter Vertragstypen vorausgesetzt wird. 137 Daß Kant sich bei der Erörterung des Beispiels des lügnerischen Versprechens zunächst darauf beschränkt hat, die Unvereinbarkeit mit dem Kategorischen Imperativ damit zu begründen, daß die Erhebung dieser Maxime zu einem allgemeinen Gesetz das Versprechen (als Institution) und den Zweck, den man mit ihm verfolgen kann, unmöglich machen würde, da niemand mehr einem Versprechen glauben würde,138 und er sich beim Beispiel des Depositums gänzlich auf die Bemerkung zurückzieht, "daß ein solches Prinzip, als Gesetz, sich selbst vernichten würde, weil es machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe",139 hat den bereits von Hegel 140 erhobenen Einwand provoziert, worin denn der Widerspruch liegen solle, 131 Höffe, Kategorischer Imperativ, S. 380 f.; ders., Verallgemeinerung, S. 225; Hoerster, Kategorischer Imperativ, S. 473; Kelsen, Rechtslehre, S. 371; Pogge, Imperative, S. 180. 132 Höffe, Kategorischer Imperativ, S. 383; ders., Verallgemeinerung, S. 225; Hoerster, Kategorischer Imperativ, S. 471 ff.; Kelsen, Rechtslehre, S. 372; Pogge, Imperative, S. 179 f.; vgl. auch Rawls, Theorie, S. 374. 133 Daß es bei den von Kant gebildeten Beispielen nicht um logisch widersprüchliche Regeln geht, steht außer Streit, vgl. nur Dreier, Recht-Moral-Ideologie, S. 302; Höffe, Kategorischer Imperativ, S. 373 ff.; Hoerster, Kategorischer Imperativ, S. 458 ff.; Kelsen, Rechtslehre, S. 369 ff.; Patzig. Ethik, S. 154. 134 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphyik der Sitten, S. 61 ff. sowie Patzig, Ethik, S. 156/157. 135 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 52 f. 136 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 136. 137 Engisch, Gerechtigkeit, S. 209 f.; Kelsen, Rechtslehre, S. 371; vgl. aber auch Zaczyk, Unrecht, S. 144 f. 138 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 53; zu dieser pragmatisch-utilitaristischen Begründung des Nicht-wollen-könnens vgl. auch Hoerster, Kategorischer Imperativ, S. 468 ff. 139 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 136. 140 Hegel, Behandlung des Naturrechts, S. 462; vgl. auch Hoerster, Kategorischer Imperativ, S. 467 f.

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wenn es kein Depositum mehr gäbe. Angesichts dessen, daß grundsätzlich jede Regel mit beliebigem Inhalt zu einem allgemeinen Gesetz erhoben werden kann, wenn und soweit man nur bereit ist, die Konsequenzen aus diesem Gesetz zu tragen,141 müßte die bloße Anwendung des Kategorischen Imperativs in seiner (Grund-)Form als Prinzip der Verallgemeinerung tatsächlich dazu führen, daß sich allein die Maximen als selbstwidersprüchlich erweisen würden, bei denen eine Regel nur im Einzelfall gebrochen werden soll, wie z. B. im Falle eines Diebstahls durch eine Person, die für sich selbst und grundsätzlich an der Institution des Privateigentums festhalten Will. 142 Soll die Ableitung bestimmter inhaltlicher Strukturen des Seinsollenden ermöglicht werden, setzt dies also voraus, daß der Kategorische Imperativ zuvor mit entsprechenden inhaltlichen Grundsätzen aufgeladen wird, was etwa bei Kant über die Formel geschieht, daß der Mensch stets und unter allen Umständen als Zweck an sich zu behandeln sei,143 ein Ansatz, der von anderen Autoren aufgegriffen und vertieft worden ist,l44 der dann aber darauf hinausläuft, daß sich die vordergründig anhand des Kategorischen Imperativs entwickelten Inhalte tatsächlich aus diesem Menschen- oder Weltbild herieiten. 145 Beispielhaft: Beim lügnerischen Versprechen leitet Kant die Unvereinbarkeit der Maxime mit dem Kategorischen Imperativ daraus her, daß sich derjenige, der "ein lügenhaftes Versprechen gegen andere zu tun im Sinne hat, sofort einsehen (muß), daß er sich eines anderen Menschen bloß als mittels bedienen will, ohne daß dieser zugleich den Zweck in sich enthalte. Denn der, den ich durch ein solches Versprechen zu meinen Absichten brauchen will, kann unmöglich in meine Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen und also selbst den Zweck dieser Handlung enthalten." Deutlicher werde der Widerstreit gegen das Prinzip - so Kant - noch bei Angriffen auf Freiheit und Eigentum anderer. Hier leuchte klar ein, daß sich der Täter "der Person anderer bloß als Mittel bediene, ohne in Betracht zu ziehen, daß sie, als vernünftige Wesen, jederzeit zuKelsen, Rechtslehre, S. 369 ff.; Welzel, Naturrecht, S. 169 f. Klesczewski, ARSP-Beiheft 66 (1997), 77, 79; Welzel, Naturrecht, S. 169/170; ders., SüdJZ 1947,409,411 sowie allgemein: Hegel, Behandlung des Naturrechts, S. 459 ff.; ders., Philosophie des Rechts, § 135; Engisch, Gerechtigkeit, S. 211; SeeIman, Rechtsphilosophie, § 8 Rdnr. 23. 143 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 61; vgl. hierzu auch Dreier, RechtMoral-Ideologie, S. 295; Arthur Kaufmann, Problemgeschichte, S. 73; Naucke, Kant, S. 20 f. 144 Vgl. hierzu: Klesczewski, ARSP-Beiheft 66 (1997), 77, 81; Köhler, Fahrlässigkeit, S. 178 ff.; ders., Begriff der Strafe, S. 44 ff.; Wolff, ZStW 97 (1985), 786, 806 ff.; ders., Abgrenzung, S. 162 ff., 178 ff.; Zaczyk, Unrecht, S. 147 ff., 154 ff.; vgl. auch Cattaneo, Aufklärung, S. 261 ff. mit Hinweisen auf Kriminalwissenschaftler des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Zur grundlegenden Bedeutung des Begriffs der (autonomen) Person im Rahmen kantisch geprägter Lehren vgl. auch Rawls, Idee, S. 81 ff.; ders., Politischer Liberalismus, S. 84 ff., 97 ff. und passim, sowie Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 205, 292 ff. bzgl. prozeduraler Theorien. 145 Vgl. H. Mayer, Festschrift für Engisch, S. 56 f.; Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie. 141

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S.200.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

gleich als Zwecke, d.i. nur als solche, die von derselben Handlung auch in sich den Zweck müssen enthalten können, geschätzt werden sollen". 146 Wenn aber die Frage, ob eine Maxime in der praktischen Anwendung als allgemeines Verhaltensgebot tauglich ist, stets auch vom gesellschaftlichen Kontext abhängig ist, in dem sie praktiziert werden soll, verweist dies auf die Notwendigkeit empirischer Erkenntnisse bzw. bestimmter Annahmen zum gesellschaftlichen Umfeld. 147 Bezogen auf den Versuch Maihofers, den Kategorischen Imperativ heranzuziehen, um aus der Seinsstruktur bestimmter Lebenssachverhalte Sinnstrukturen ableiten zu können, führt dies in einen Zirkel: Bei der Anwendung des Maßstabs, anhand dessen die Sinnstruktur eines Lebenssachverhalts ermittelt werden soll, müßte man sich auf eben die Seinsstrukturen stützten, deren Sinnstruktur erst noch ermittelt werden soll. Vor diesem Hintergrund bleibt letztlich offen, wie die von Maihofer geforderte Abgrenzung berechtigter / vernünftiger von unberechtigten / unvernünftigen Erwartungen erfolgen SOll.148 Tatsächlich scheint Maihofer selbst implizit die Grundnorm anzuwenden, daß man sich so verhalten soll, wie es der Vernunft entspricht, was dann aber darauf hinausläuft, daß der wahre Willen "vernünftiger" Personen tatsächlich nicht anders als durch eine Bewertung und Abwägung der jeweils in Frage stehenden kollidierenden Interessen ermittelt und das Ergebnis dieser Bewertung dann als die in der Seinsstruktur des Lebenssachverhalts angelegte Sinnstruktur präsentiert wird. 149 Die These, das Seiende - und anhand dieser Erkenntnis das Seinsollende - objektiv bestimmen zu können, führt letztlich dahin, daß bestimmte kulturelle, geistige oder materielle Gegebenheiten aus der Gesamtheit des Seins als die für die Bestimmung der maßgeblichen Seinsstrukturen herausgegriffen werden, ohne daß der notwendigerweise wertende und damit in gewisser Weise auch voluntaristische Charakter dieses Prozesses offengelegt oder auch nur anerkannt wird. ISO Unver146 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 61/62; vgl. auch Pogge, Imperative, S. 184. Höffe will im Hinblick auf das Beispiel des lügnerischen Versprechens die Selbstwidersprüchlichkeit der Maxime mit der Erwägung begründen, daß dem Versprechen eine Selbstbindungskomponente innewohne, die bei einem lügnerischen Versprechen notwendigerweise zu einem Selbstwiderspruch führe (Höffe, Kategorischer Imperativ, S. 378 f.; ders.,Verallgemeinerung, S. 224, 226 ff.; ebenso: Patzig, Ethik, S. 154). Ob diese Begründung für das Beispiel des lügnerischen Versprechens zu überzeugen vermag, kann hier dahinstehen, da jedenfalls eine Übertragung auf andere Beispiel - insbesondere das des Depositums - nicht möglich erscheint (vgl. Patzig, Ethik, S. 57 f., 154; a.A. Wolff, Abgrenzung, S. 173 f., der offenbar von einer konkludenten Zusicherung der Rückgabe ausgeht). 147 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 40; Dreier, Recht-Moral-Ideologie, S. 303 ff.; Höffe, Kategorischer Imperativ, S. 369; ders., Kriminalstrafe, S. 339 ff.; ders .. Verallgemeinerung, S. 213 f.; Arthur Kaufmann, Problemgeschichte, S. 71; Kühl, GA 1977,353, 361 f.; Pogge, Imperative, S. 178 f.; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 107; vgl. auch Zaczyk. Unrecht, S. 149 ff., 163, 165 ff. 148 Ellscheid, Naturrechtsproblem, S. 238. 149 Dreier, Begriff, S. 81. 150 Vgl. hierzu bereits Mezger, Sein, S. 56 f.; Engisch.ldee, S. 115.

III. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie

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ziehtbare Voraussetzung einer rationalen Gesetzgebung ist es aber, daß die sowohl in die Ennittlung als auch in die Bewertung des Seienden notwendigerweise einfließenden Wertungen offengelegt und damit überhaupt erst einer kritischen Diskussion zugänglich gemacht werden. Der entscheidende Mangel der auf systemtheoretischen Prämissen beruhenden Ansätze zur Strukturierung der (Straf-) Rechtsordnung liegt nach al1edem weniger in der Wertneutralität und hieraus resultierenden inhaltlichen Offenheit systemtheoretischer Ansätze,151 als vielmehr darin, daß der nicht nur aber doch gerade bei den Vertretern systemtheoretisch fundierter Strafrechtsmodel1e vorzufindende Ansatz, "al1ein" darzustel1en, wie die als System verstandene Gesel1schaft strukturiert sei, den bereits bei von Liszt vorhandenen Fehlschluß wiederholt. Daß die sowohl beim Prozeß der Konstruktion der gesel1schaftlichen Realität als auch bei der Bewertung des - angeblich wertfrei ermittelten - Soseins der gesel1schaftlichen Ordnung einfließenden Wertungen nicht offengelegt werden, hat zur Folge, daß das auch bei den Vertretern systemtheoretischer Ansätze notwendigerweise nonnativ begründete Vorverständnis davon, wie eine Gesel1schaft strukturiert sein SOll,152 der Diskussion entzogen wird, was konkret bedeutet, daß entweder die faktisch herrschenden Vorstel1ungen davon, wie eine Gesellschaft strukturiert sein sol1, als gegeben zugrundelegt und gegen Kritik abgeschinnt oder aber unter dem Deckmantel der angeblich wertfreien Erkenntnis des Soseins das eigene nonnativ begründete Vorverständnis der jeweiligen Autoren verschleiert wird. 153 bb) Die sozialwissenschaftlich "aufgeklärte" Rechtsgutstheorie Als Versuch, den v. Liszt'schen Grundansatz der Orientierung an den Gegebenheiten des gesellschaftlichen Gesamtkontextes 154 auf sozialwissenschaftlich aufgeklärter Basis fortzuführen, können insbesondere die zu Beginn der 70er Jahre dieses Jahrhunderts von Amelung und Hassemer vorgelegten Untersuchungen zur Rechtsgutstheorie interpretiert werden. Wahrend Amelung dafür plädiert, die Rechtsgutstheorie durch eine systemtheoretisch ausgerichtete Theorie der Sozialschädlichkeit zu ersetzen, ISS wil1 Hassemer an der Rechtsgutstheorie als Theorie 151 Vgl. hierzu Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnr. 254; Hohmann, Rechtsgut, S. 1301131; Kindhäuser, ZStW 107 (1995), 701, 708 f.; Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 72, 142, 165; Schild, GA 1995, 101, 119. Letztlich wird dies von den Vertretern systemtheoretisch ausgerichteter Strafrechtssysteme auch gar nicht bestritten, vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 359 f., 366; Jakobs, StrafR AT, 1/1,2/25; ders., ZStW 107 (1995), 843, 847 Anm. 10. 152 Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnr. 254; Hohmann, Rechtsgut, S. 127; vgl. auch Jakobs, Nonn, S. 64. 153 Lüderssen, Genesis, S. 89, 150. 154 Der grundlegende Fortschritt des v. Liszt'schen Ansatzes ist deshalb mit Merkel (Strafrecht, S. 282 f.) in der Öffnung des Strafrechtsdenkens hin zu den Sozialwissenschaften zu sehen. 155 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 330 ff.; kritisch hierzu im Hinblick auf den mangelnden Erkenntniswert des Begriffs der Sozialschädlichkeit: Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 22 ff.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

zur Bestimmung des materiellen Substrats strafwürdigen Verhaltens festhalten, betont aber, daß Rechtsgüter nicht im sozialen Umfeld vorgefunden bzw. als etwas Vorgegebenes "erkannt", sondern im Rahmen eines Prozesses gesellschaftlicher Verständigung konstituiert werden müssen. 156 Im Rahmen des für die Konstitution strafrechtlicher Schutzobjekte maßgebenden Kontextbezuges sind nach Auffassung Hassemers nicht nur die gesellschaftlich vorgegebenen Interaktionszusammenhänge zu beachten, sondern darüber hinaus auch tiefenpsychologische Phänomene wie Bedrohungsängste und Tabuvorstellungen. 157 Amelung und Hassemer haben zwar die gesellschaftstheoretische Unzulänglichkeit des v. Liszt'schen Ansatzes aufgezeigt und den Weg gewiesen, auf dem der bei v. Liszt vorhandene blinde Fleck mit Inhalt zu füllen wäre. Gleichzeitig haben sie hierbei aber auch noch deutlicher als v. Liszt selbst das grundlegende legitimatorische Defizit einer rein soziologisch orientierten Theorie strafwürdigen Verhaltens ans Licht gebracht: Ein gesellschaftstheoretisch aufgeklärter Ansatz kann zwar aufzeigen, welche Bedingungen menschlichen Zusammenlebens geschützt werden müssen, um den (Fort-)Bestand eines konkreten gesellschaftlichen Umfeldes sicherzustellen; ebenso können auf dieser Grundlage die gesellschaftlichen Auswirkungen bestimmter Verhaltensweisen mehr oder weniger exakt prognostiziert werden. Der Wert dieser Erkenntnisse bleibt allerdings rein deskriptiv: Allein auf gesellschaftstheoretischer Basis kann weder überzeugend dargetan werden, daß der Fortbestand und nicht etwa die Umwandlung einer konkreten Gesellschaftsfonn in eine andere Gesellschaftsfonn als erstrebenswert anzusehen ist, noch kann entschieden werden, daß bzw. ob einer - aufgrund welcher Kriterien? - als negativ angesehenen Veränderung angemessenerweise gerade mit den Mitteln des Strafrechts entgegenzutreten ist. 158 Um dem Einwand eines Mißverständnisses vorzubeugen, ist darauf hinzuweisen, daß weder Amelung noch Hassemer die Notwendigkeit eines nonnativen Kontroll- und Korrektunnaßstabs verkannt oder auch nur in Abrede gestellt haben. Hassemer ist der Auffassung, der Gesetzgeber habe das Wertebewußtsein der Gesellschaft zwar zu berücksichtigen,159 er sei aber nicht gehalten, die in der Gesellschaft herrschenden Bedrohungsvorstellungen und Tabuvorstellungen ohne weiteres in Pönalisierungsentscheidungen umzusetzen, im Gegenteil: der Gesetzgeber habe die Legitimität der in der Gesellschaft gewachsenen Bestrafungsbedürfnisse anhand nonnativer Maßstäbe zu bewerten und könne trotz eines in der Gesellschaft faktisch gegebenen Bestrafungsverlangens von einer Pönalisierung absehen. 160 Hassemer, Theorie, S. 121 ff. Hassemer, Theorie, S. 130 ff., 160 ff. 158 Vgl. Fischer, Öffentlicher Friede, S. 562 f., 576 ff., 587/588; Papageorgiou, Schaden, S. 94 f.; Schulz, Rechtsgut, S. 274 f.; MJ. Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 75. 159 Hassemer, Theorie, S. 126 ff. 160 Hassemer, Theorie, S. 239 ff.; vgl. auch Kunz, Bagatellprinzip, S. 159 ff., 166 ff.; grundsätzlich kritisch zur Berücksichtigung von Bestrafungsbedürfnissen: Alwart, Strafbares 156 157

III. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie

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Auch Amelung erkennt an, daß die von ihm als Theorie zur Ermittlung der Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens favorisierte soziologische Systemtheorie allein darauf beschränkt ist, die sich als Störungen von Interaktionsprozessen und Beeinträchtigungen individueller Handlungschancen niederschlagenden Folgen bestimmter Verhaltensweisen aufzudecken. 161 Die für die Einordnung der aufgedeckten Konsequenzen als sozialschädlich oder -nützlich unverzichtbaren normativen Bewertungskriterien seien der Systemtheorie extern vorzugeben. 162 Wahrend Hassemer die normative Bewertung als ein von der eigentlichen Rechtsgutskonstitution zu trennendes Problem der "Schutztechnik" versteht,163 will Amelung die Bewertung der Sozialschädlichkeit von Verhaltensweisen unter Rückgriff auf die Verfassungsrechtsordnung vornehmen. 164 Festzuhalten bleibt: Anhand erfahrungswissenschaftlich gewonnener Erkenntnisse über die Struktur einer Gesellschaft kann allenfalls entschieden werden, weIche Verhaltensweisen unterbunden werden müssen, um den Bestand einer Gesellschaftsordnung zu gewährleisten; ob aber die konkrete Struktur der Gesellschaft überhaupt als erhaltenswürdig anzusehen ist, muß anhand von Wertungen entschieden werden, die ihrerseits weder erfahrungswissenschaftlich gewonnen noch begründet werden können. 165 Beispielhaft: Selbst wenn sich erfahrungswissenschaftIich belegen ließe, daß die rechtlichen Regelungen über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Abtreibungen Einfluß darauf hätten, daß Schwangerschaften in größerem oder kleinerem Umfang unterbrochen werden, hängt die Frage, ob Abtreibungen zugelassen oder - möglicherweise auch unter Strafandrohung - verboten werden sollen, davon ab, wie man die erfahrungswissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse über die Auswirkungen der jeweiligen Regelung bewertet, insbesondere davon, welchen Stellenwert man dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren, dem Lebensrecht des Fötus und den Auswirkungen von Schwangerschaftsunterbrechungen auf das Bevölkerungswachstum beimißt. 166

Versuchen, S. 50 ff.; Volk, Z15tW 97 (1985), 871, 895 f.; zum normativen Gehalt der Lehre Hassemers vgl. auch: Kayßer, Abtreibung, S. 27. 161 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 350 ff.; vgl. auch Appel, Verfassung, S. 368. 162 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 359/360, 363 Fußn. 67, 368. 163 Hassemer, Theorie, S. 192 ff., insbesondere S. 213 ff. 164 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 369, 389 f.; ders., Sozialschädlichkeit, S. 278. Kritisch zum - aus seiner Sicht: unzureichenden - Verfassungsbezug bei Amelung: Appel, Verfassung, S. 309. 165 Daß Sollensnormen nicht aus Seinstatsachen abgeleitet werden können, ist bereits durch Hume und Kant im einzelnen dargelegt worden (vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 498 ff.) und steht in der heutigen Diskussion außer Frage, vgl. Höffe, Staat, S. 42; ders., Gerechtigkeit, S. 102 ff.; Papageorgiou, Schaden, S. 247; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 97, 99; Stratenwerth, Strafrechtsreform, S. 21 f.; a.A. Maclntyre, Verlust, S. 75 ff. 166 Bobbio, Begriff, S. 94/95; vgl. hierzu den Überblick bei Kindl, Bewertungsmöglichkeiten, S. 74 ff.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

Andererseits wäre es aber auch verfehlt, die Bedeutung empirischer Erkenntnisse zu unterschätzen: 167 Will man beispielsweise die Strafwürdigkeit der von den §§ 264, 264a, 265b dStGB erfaßten täuschenden Verhaltensweisen angemessen bewerten, setzt dies voraus,168 daß Klarheit darüber herrscht, ob von diesen Verhaltensweisen - wie immer wieder behauptet, aber auch bestritten wird - Sog-, Ansteckungs- und Spiralwirkungen ausgehen. Weiterhin erscheint es unabdingbar, sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob diese Straftatbestände in ihrer Ausgestaltung der wirklichen Kommunikationsstruktur gerecht werden. Sollte sich beispielsweise der Einwand, daß Kapitalanleger bei ihren Anlageentscheidungen entweder gar nicht oder doch nicht allein auf die Angaben der Anbieter vertrauen, als zutreffend erweisen, würde dies dafür sprechen, die Pönalisierung der durch § 264a dStGB erfaßten bloßen Tauschungshandlungen als sachwidrig anzusehen. Letztlich wird man aber auch bei den §§ 264, 264a, 265b dStGB auf eine an normativen Maßstäben orientierte Bewertung der erfahrungs wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse nicht verzichten können. Auch wenn man beispielsweise die volkswirtschaftlichen Folgewirkungen staatlicher Subventionen ermittelt hat, kann doch nur wertend entschieden werden, ob diese Auswirkungen in ihrer Gesamtheit das Subventionswesen im Ergebnis als einen schützens werten Teilbereich der Wirtschaftsordnung erweisen. Selbst wenn man dies bejahen würde, wäre weiterhin zu klären, ob es angemessen ist, diesen Schutz durch die Anwendung strafrechtlichen Zwangs zu realisieren, oder ob man nicht eher auf Maßnahmen der Binnenkontrolle - z. B.: eine verstärkte Kontrolle der Subventionsvoraussetzungen durch die Subventionsbehörde - zurückgreifen soll. Wie oben bereits dargelegt wurde, 169 kann dies nicht durch den Hinweis auf die Subsidiarität strafrechtlicher Normen erledigt werden; stehen alternative Regelungsinstrumente zur Verfügung, muß anhand normativer Kriterien entschieden werden, ob beispielsweise Subventionsbehörden oder Kreditinstitute berechtigterweise auf die Angaben von Antragstellern vertrauen dürfen oder nicht. Gleiches gilt im Hinblick auf die Frage, ob die Anwendung strafrechtlichen Zwangs an Verhaltensweisen anknüpfen darf, von denen für sich gesehen keine das Schutzgut real beeinträchtigenden Wirkungen ausgehen. Als Ertrag der Bemühungen um die gesellschaftstheoretische Fundierung der Strafrechtsordnung bleibt festzuhalten: Die gesellschaftstheoretische Orientierung ist als Basis jeder Pönalisierungsentscheidung unverzichtbar, die ohne vorhergehende Aufklärung der faktischen Zusammenhänge und Auswirkungen von Verhaltensweisen praktisch in der Luft hängen würde. 170 Eine abschließende Entscheidung ist auf dieser Ebene allerdings nur dann möglich, wenn die in Aussicht genommene Strafnorm auf einen Schutzgegenstand abzielt, der sich entweder bei näSo auch Lüderssen. ZStW \07 (1995). 877. 893 ff. Vgl. auch bereits oben S. 157 ff. 169 Vgl. oben S. 71 ff. 170 Vgl. Rudolphi. in: SKStGB, Vor § I Rdnr. 7 sowie umfassend Lüderssen. ZStW \07 (1995).877.893 ff.; Müssig, Rechtsgüterschutz. S. 163 ff. 167

168

III. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie

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herer Betrachtung als gar nicht existent herausstellt oder der so wie beabsichtigt gar nicht geschützt werden kann. Abgesehen von den Fällen der fehlenden Zwecktauglichkeit einer in Aussicht genommenen Pönalisierung wird durch die gesellschaftstheoretische Analyse allein die Basis für eine an normativen Maßstäben orientierte kritische Reflexion geschaffen, die dann den eigentlich entscheidenden Kern der strafrechtlichen Legitimationsproblematik darstellt. 171

b) Normative Maßstäbe zur Bestimmung des legitimen Anwendungsbereichs strafrechtlicher Normen Die Notwendigkeit, die Legitimität strafrechtlicher Normen anhand normativer Maßstäbe zu bewerten, legt es nahe, auf die auch für den Strafgesetzgeber verbindliche Verfassungsrechtsordnung als Inbegriff der normativen Identität einer konkreten Gesellschaft zurückzugreifen. Bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland wäre dann in erster Linie das Grundgesetz der institutionelle Bezugspunkt der strafrechtlichen Legitimationsproblematik. 172 Während einige Autoren den in Art. 20 GG angelegten Rechtsstaats- bzw. Sozialstaatsgrundsatz als Maßstab fruchtbar zu machen suchen, 173 hebt Kratzsch hervor, der soziale Rechtsstaat habe "von Grundrechts wegen" die grundrechtlieh garantierten Freiheiten auch vor Beeinträchtigungen durch Dritte aktiv zu schützen. 174 Ergänzend verweist Kratzsch auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Eine strafrechtliche Sanktionierung bestimmter Verhaltensweisen sei dann zulässig, wenn dies als Mittel zum Schutz von Rechtsgütem notwendig und der Eingriff in das Freiheitsrecht des Individuums erforderlich sei. Darüber hinaus müsse die strafrechtliche Norm das Übermaßverbot beachten; Inhalt und Voraussetzungen strafrechtlicher Normen seien so auszugestalten, daß dem Normadressaten nichts übermenschliches abverlangt werde. 175 aa) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Unstreitig ist das Gebot der Verhältnismäßigkeit - verstanden als Geeignetheit, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit staatlichen Handelns l76 - als ein jegliches staatliches Handeln begrenzendes Prinzip,177 auch bei der Ausgestaltung strafrechtliMüssig, Rechtsgüterschutz, S. 162 f. Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 167 f.; vgl. auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 363 Fußn. 67. 367 ff.; Sax, Grundsätze, S. 912 f.; kritisch hierzu Naucke. Legitimation, S. 158 ff. 173 Vgl. Rudolphi, Festschrift für Honig, S. 159; Thoss, Verhältnis, S. 75 ff.; kritisch: Appe!. Verfassung, S. 308. 174 Kratzsch. Verhaltenssteuerung, S. 92, 119; ders., JuS 1994,372, 376/377. 175 Kratzsch, Verhaltenssteuerung, S. 95 f., 267. 176 Vgl. hierzu i.e. H.-L. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 186 f., 192 ff., 214 ff. 177 R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20, 11. Abschnitt VII, Rdnr. 71; M.Ch. Jakobs, DVBI. 1985,97. 101; Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 109: "straflimitierender Faktor". 171

172

16 Wohler.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

cher Nonnen zu beachten. 178 Ausdruck des auch für strafrechtliche Nonnen geltenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist nach verbreiteter Auffassung insbesondere der Subsidiaritätsgrundsatz, demzufolge auf strafrechtliche Verbotsnonnen nur als letztes Mittel (ultima ratio) staatlichen Zwangs zurückgegriffen werden darf. 179 Abgesehen davon, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz damit bereits im Ansatz als Ennächtigungsgrundlage für staatliche Eingriffsbefugnisse ausscheidet, darf auch seine begrenzende Funktion nicht überschätzt werden. 180 Als ungeeignet erweisen sich nur die Nonnen, die den empirischen (Vor-)Gegebenheiten der Nonnsetzung nicht hinreichend Rechnung tragen. Zumindest dann, wenn man - wie es hier vertreten wird - davon ausgeht, daß strafrechtliche Normen präventive Wirkungen entfalten können, beschränkt sich die Funktion des Kriteriums der Geeignetheit darauf, Strafnonnen zu delegitimieren, die etwas faktisch Unmögliches verlangen bzw. an faktisch nicht gegebene Voraussetzungen anknüpfen. 181 Daß sich das aus dem Gebot der Erforderlichkeit staatlicher Zwangsanwendung abgeleitete Prinzip der Subsidiarität strafrechtlicher Nonnen bei näherem Hinsehen als eine vordergründige Scheinlösung erweist, die nicht darüber hinwegtäuschen kann und darf, daß es letztlich allein auf die Zumutbarkeit der Anwendung strafrechtlichen Zwangs ankommt, wurde bereits oben dargelegt. 182 Schließlich ist zu konstatieren, daß auch die die Nonnsetzungskompetenz des Gesetzgebers beschränkende Funktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes i.e.S. (Zumutbarkeit) letztlich davon abhängig ist, welchen Stellenwert der von staatlicher Bevonnundung freien personalen Freiheitssphäre zugesprochen wird. bb) Veifassungsrechtliche Pönalisierungsgebote

Der in der bundesdeutschen Strafrechtswissenschaft im Anschluß an einige Entscheidungen des BVerfG aufgegriffene Ansatz, strafrechtliche Verbotsnonnen aus 178 BVerfGE 6, 389,433; 39, 1,47; 88, 203, 257 f.; 90, 145, 172 f.; Appel, Verfassung, S. 171 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 77; Gal1was, MDR 1969, 892, 893 Fußn. 7; Groth, NJW 1979,743,744 ff.; H.-L. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 179 ff.; Hektor, Relevanz, S. 159 ff.; Lewisch, Verfassung, S. 194 ff.; Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 108 ff.; Roos, Entkriminalisierungstendenzen, S. 207 f.; Rudolphi, in: SKStGB, Vor § I Rdnrn. 12 ff.; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. \01 ff.; Vogel, StV 1996, 110, 113 ff. 179 Vgl. BVerfGE 39, I, 47; R. Hassemer, Schutzbedürftigkeit, S. 19 ff.; Jakobs, StrafR AT, 2/27; Jescheck, in: LK, Einl. Rdnr. 3; Maurach/Zipf, StrafR AT, 1. Teilbd., § 2 Rdnr. 13; Mül1er-Dietz, Festschrift für Dreher, S. \08 f.; Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnrn. 38 ff.; Rudolphi ZStW 83 (1971), 105, 114 f.; ders., in: SKStGB, Vor § I Rdnr. 14; Schmidhäuser, StrafR AT, 1/5,2/14; weitergehend Brandt, Bedeutung, S. 152, der im Anschluß an Arthur Kaufmann (Festschrift für Henkel, S. 89 ff.) neben der negativen Komponente eine positive Komponente des Subsidiaritätsprinzips betont, die besagen soll, daß der Staat, soweit dies möglich ist, Konfliktregulierungen kleineren sozialen Einheiten zu überlassen hat. 180 Vgl. hierzu Appel, Verfassung, S. 181 ff. 181 Kritisch hierzu Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 123 ff. 182 Vgl. S. 71 ff. sowie Appel, Verfassung, S. 141 ff.

III. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie

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verfassungsrechtlichen Pönalisierungsgeboten abzuleiten, erweist sich bei näherer Betrachtung als ebenfalls nicht weiterführend. Zwar hat das BVerfG mehrfach entschieden, daß der Gesetzgeber zur Erfüllung einer ihm obliegenden staatlichen Schutzpflicht verfassungsrechtlich gehalten sein kann, (auch) das Mittel des Strafrechts einzusetzen, um einen effektiven Lebensschutz sicherzustellen. 183 Aber auch nach Auffassung des BVerfG stehen verfassungsrechtlich begründete Pönalisierungsgebote unter einem zweifachen Vorbehalt: Zum einen muß die zugunsten des Lebens bestehende verfassungsrechtliche Schutzpflicht des Staates unter Berücksichtigung des Maßes der Sozialschädlichkeit der in Frage stehenden Verhaltensweisen gegen kollidierende verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter abgewogen werden; 184 zum zweiten ist der Einsatz des Strafrechts erst dann verfassungsrechtlich geboten, wenn anders ein effektiver Lebensschutz nicht sichergestellt werden kann. 185 Entscheidend ist, daß auch nach Auffassung des BVerfG sowohl die für die Konkretisierung verfassungsrechtlicher Schutzpflichten erforderliche Abwägung mit anderen, ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Werten, als auch die Einschätzung der Wirksamkeit etwaiger alternativ zur Verfügung stehender Maßnahmen unstreitig in erster Linie dem Gesetzgeber obliegt, dem insoweit ein nicht unerheblicher Beurteilungsspielraum zuzubilligen ist. 186 Im Ergebnis bedeutet dies, daß ein verfassungsrechtliches Pönalisierunsgebot allenfalls dann in Betracht kommen kann, wenn die Strafbewehrung das einzige Mittel ist, um eine gravierende Beeinträchtigung "elementarer" bzw. "fundamentaler" Rechtsgüter entgegenzuwirken. 187 Die Frage, wann eine gravierende Beeinträchtigung eines elementaren Rechtsguts gegeben ist, ist nicht einmal in Ansätzen befriedigend geklärt. Tiedemann verweist auf konkret verfassungsrechtlich geBVerfGE 39, 1, 46 f.; 46, 160, 164 f.; 88, 203, 257 f. BVerfGE 39, 1,44 ff.; 88,203,254. 185 BVerfGE 39, 1,47; 88, 203, 257 f.; vgl. auch BVerfGE 46, 160, 164 f.; 77, 170,215; Müller-Dietz, Festschrift für Dreher, S. 108 ff.; Tiedemann, Verfassungsrecht, S. 51. 186 BVerfGE 39, 1,44 ff.; 46, 160, 164; 50, 142, 162; 88, 203, 255; Alexy, Grundrechte, S. 420 ff.; Appel, Verfassung, S. 70 ff.; Eser, in: Schönkel Schröder, Vorbem § I Rdnr. 29; Hassemer, in: NK, Vor § 1 Rdnr. 199; Hermes, Grundrecht, S. 263; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr. 350; Isensee, Sicherheit, S. 39 ff., 46 f.; ders., Handbuch, § 111 Rdnrn. 8, 151 ff.; Klein, NJW 1989,1633,1637 f.; Klein, DVBI. 1994,489,495; Peine, Systemgerechtigkeit, S. 126; vgl. auch Robbers, Sicherheit, S. 204 ff., der die Leitfunktion des Parlaments bei der Zuordnung und Konkretisierung der Schutzrechte betont sowie Unruh, Schutzpflichten, S. 23 f., 74 ff., der hervorhebt, es handele sich um Optimierungsgebote, die der Umsetzung durch Gesetze bedürften. 187 Kriele, JZ 1975, 222; Lang-Hinrichsen, FamRZ 1974, 497, 504; Müller-Dietz, Festschrift für Dreher, S. 114; Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 92; Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 37; Rudolphi, in: SKStGB, Vor § I Rdnr. I; Zipf, Kriminalpolitik, S. 105.; auch insoweit zweifelnd: Appel, Verfassung, S. 68 f. Zur Bedeutung des bereits in BVerfGE 39, I, 51 angedeuteten (vgl. Kriele, JZ 1975, 222, 223; Müller-Dietz, Festschrift für Dreher, S. 115 f.) und nunmehr von BVerfGE 88, 203, 257 f. ausdrücklich als Korrektiv eingeführten sog. "Untermaßverbotes" vgl. die kritischen Stellungnahmen von Starck, JZ 1993, 816, 817 und Hain, DVBI. 1993,982 ff.; kritisch auch Unruh, Schutzpflichten, S. 83 ff. 183

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16'

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

schützte Werte wie z. B. Leben, Gesundheit, Bewegungsfreiheit und Eigentum. 188 Kühl will demgegenüber auf "die elementarsten Voraussetzungen bzw. Manifestationen der äußeren Freiheit" abstellen, wozu er das Leben aber auch die private Verfügungsrnacht über Sachen rechnet. 189 Wolter meint, eine Pflicht zur Strafbewehrung bei der Beeinträchtigung "extremer Menschenwürdepositionen"l90 annehmen zu können. Da zumindest bei Beeinträchtigungen des Rechtsguts Eigentum und auch bei "extremen" (?) Menschenwürdepositionen bereits die Bestimmung des Schutzgegenstandes Wertungen erforderlich macht und angesichts regelmäßig zur Verfügung stehender alternativer Schutzmöglichkeiten die für eine verfassungsrechtlich begründete Pönalisierungspflicht notwendige ,,Ermessensreduzierung auf Null,,191 nur in den seltensten Fällen überhaupt einmal gegeben sein wird, dürfte das verfassungsrechtlich gebotene Strafrecht damit in keinem Fall über die klassischen Straftatbestände zum Schutz des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit und - was aber auch schon zweifelhaft sein kann - des Eigentums hinausreichen. Die über ausdrückliche verfassungsrechtliche Bestimmungen - vgl. etwa Art. 26 Abs. 1 GG - hinausgehende Ableitung konkreter verfassungsrechtlicher Pönalisierungsgebote steht vor dem Problem, daß der verfassungsrechtlich verbürgte Wertekatalog selbst ausfüllungs- und konkretisierungsbedürftig ist, eine verfassungsrechtliche Ableitung mithin im Ergebnis darauf hinausläuft, daß der Verfassung Pönalisierungsgebote entnommen werden, die zuvor erst in den grundrechtlichen Wertekatalog hineininterpretiert wurden. 192 Soweit beispielsweise unter Verweis auf staatliche Schutzpflichten eine verfassungsrechtlich fundierte Pflicht zur Pönalisierung umweltschädigender Verhaltensweisen behauptet wird,193 kann dem bereits deswegen nicht gefolgt werden, weil es insoweit an einer hinreichend konkreten Grundrechtsposition als Basis einer entsprechenden staatlichen Schutzpflicht fehlt. 194 Mittelbar ergeben sich Schutzreflexe zugunsten der Umwelt zwar dann, wenn umweltschädigende Verhaltensweisen verfassungsrechtlich geschützte Werte wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz I GG) oder das Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) beeinträchtigen. 195 Eine über den KernbeTiedemann, Verfassungsrecht, S. 53. Kühl, GA 1977, 353, 364 f. \90 Vgl. Wolter, Menschenrechte, S. 13, der als Beispiel Verhaltensweisen nennt, die auf eine gentechnische Entschlüsselung des Menschen abstellen. \9\ Vgl. Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 149; Robbers, Strafpflichten, S. 152/153. \92 R. Herzog, JR 1969,441,445; vgl. auch Gallwas, MDR 1969,892,894 f. \93 Bottke, JuS 1980, 539, 540; Steindorf, in: LK, Vor § 324 Rdnr. 11; vgl. auch Kühl, Festschrift für Lackner, S. 838 f.; Schmidt 1Schöne, NJW 1994,2514,2516; Kriele, JZ 1975, 222, 224 hatte diese Forderung als Konsequenz der Entscheidung BVerfGE 39, I vorhergesehen. \94 Art. 2 Abs. 2 Satz I GG kann ein umfassendes Grundrecht auf Umweltschutz nicht entnommen werden; vgl. Kunig, in: v. Münch, Grundgesetzkommentar, Art. 2 Rdnr. 71; v. Mangoldtl Klein 1Starck, Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 158; BVerwGE 54,211,219. \88

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111. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie

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reich der Tötungs-, Körperverletzungs- und Eigentumsdelikte hinausgehende Verpflichtung zur Pönalisierung umweltschädigender Verhaltensweisen kann hier aber bereits deswegen nicht in Betracht kommen, weil stets auch andere, nicht von vornherein aussichtslose Alternativmaßnahmen zur Verfügung stehen, so daß jedenfalls die für eine Verpflichtung zur Strafbewehrung erforderliche Ermessensreduzierung nicht gegeben iSt. 196 Daß der Gesetzgeber nunmehr durch Art. 20a GG 197 verpflichtet wird, "die natürlichen Lebensgrundlagen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung" zu schützen, ändert an diesem Befund im Ergebnis nichts. Art. 20a GG konstituiert kein Grundrecht auf Umweltschutz, sondern stellt allein eine Staatszielbestimmung dar,198 die den bundesdeutschen Gesetzgeber zwar einerseits verpflichtet, geeignete Umweltschutzvorschriften zu eriassen,199 die es aber anderseits der politischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überläßt, wie und mit welchen Mitteln er der ihm auferlegten Verpflichtung genügen will 200 und deren wesentliche Funktion damit allein darin besteht, den Wert des Umweltschutzes im Rahmen der Abwägung mit anderen, verfassungsrechtlich geschützten Werten zu stärken. 201

cc) Die verfassungsrechtliche Werteordnung als Maßstab zur Legitimation strafrechtlichen Zwangs Auch wenn der Verfassung direkte Pönalisierungsgebote nicht entnommen werden können, könnte die Verfassungsrechtsordnung dem Strafgesetzgeber doch wenigstens Handlungsorientierung vermitteln. So hat z. B. das BVerfG die Auffassung vertreten, das, was zweifellos in den Kernbereich des Strafrechts gehöre, 195 Vg\. BVerfGE 56. 54, 63; Geddert-Steinacher. Umweltschutz, S. 38; Hofmann. Technik. § 21 Rdnrn. 33. 37 f.; Scholz. in: Maunz I Dürig. Art. 20a Rdnr. 8; Steinberg. NJW 1996, 1985. 1987 ff.; Tsai. Umweltschutzpflicht. S. 183 ff. 196 Klein. NJW 1989. 1633, 1638; vg\. auch Lagodny. Strafrecht, S. 445 ff., der auf die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers verweist; Tsai, Umweltschutzpflicht. S. 209 f .• der auf das sog. Untermaßverbot verweist, im Ergebnis aber auch die Leistungsfähigkeit der grundrechtlich fundierten Schutzpflichtkonstruktion als "nicht sonderlich hoch" veranschlagt. 197 Eingefügt durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 27. 10. 1994, BGB\. I,S.3146. 198 Scholz, in: Maunz I Dürig. Art. 20a Rdnrn. 17 f., 32. 199 Jarras/Pieroth, GG, Art. 20a Rdnr. 7; Scholz. in: Maunz/Dürig, Art. 20a Rdnm. 18, 46; Tsai. Umweltschutzpflicht, S. 125. 200 Jarras/Pieroth, GG, Art. 20a Rdnrn. 4, 7; Schmidt-Bleibtreu I Klein. GG, Art. 20a Rdnr. 4; Sc holz, in: Maunz/Dürig, Art. 20a Rdnrn. 18,35,47; Schröder. DVB\. 1994,835, 837; Steinberg, NJW 1996. 1985. 1991 f.; Tsai. Umweltschutzpflicht. S. 115 ff., 122 ff., 154 ff. 201 Geddert-Steinacher, Umweltschutz, S. 52; Scholz. in: Maunz/Dürig. Art. 20a Rdnm. 41. 47 f.; Schmidt-Bleibtreu/Klein. Grundgesetz, Art. 20a Rdnr. 5; Tsai. Umweltschutzpflicht. S. 88 ff.. 132 ff.; Uhle. DÖV 1993.947.951.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

lasse sich "an Hand der grundgesetzlichen Werteordnung mit hinreichender Bestimmtheit ennitteln." Mit gleicher Bestimmtheit lasse sich sagen, "daß gewisse, minder gewichtige, überkommene strafrechtliche Tatbestände aus diesem Kembereich herausfallen. ,,202 An konkreten Zuordnungen kann der Rechtsprechung des BVerfG allerdings allein entnommen werden, daß Beeinträchtigungen der Unverletzlichkeit menschlichen Lebens zum Kembereich des Kriminalunrechts zu rechnen sind,203 die Regelung des Bagatelldiebstahls dagegen bereits in den Grenzbereich fällt. 204 Darüber hinaus verweist das BVerfG darauf, daß es sich bei den dem Kriminalunrecht zuzurechnenden Normverstößen um die "Verletzung elementarer Werte des Gemeinschaftslebens" handeln müsse, die über ihr bloßes Verbotensein hinaus "in besonderer Weise sozialschädlich" seien und deren Verhinderung daher für das geordnete Zusammenleben der Menschen "besonders dringend" ist. 205 In der Literatur hat insbesondere Sax die strafrechtliche Rechtsgüterordnung als Konkretisierung grundgesetzlicher Wertentscheidungen interpretiert. Die strafrechtlich geschützten Rechtsgüter sollen seiner Auffassung nach als ,,Mittelwerte" die Grundlage für die Entfaltung der sozialethischen Grundwerte (der "Überwerte") des Grundrechtskataloges bilden. 206 Die Problematik dieses Ansatzes besteht darin, daß die verfassungsrechtliche Werteordnung - jedenfalls dann, wenn man sie nicht allein auf die durch den Grundrechtskatalog der Art. 1 ff. GG ausdrücklich geschützten Werte beschränkt 207 und I oder den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgend weit bestimmt 208 - praktisch keinen "wertfreien" Raum offenläßt, sich also ein als Legitimationstopos für eine strafrechtliche Norm verwendungsfähiger verfassungsrechtlich relevanter Wert stets finden läßt. Soll der Anwendungsbereich strafrechtlicher Normen begrenzt werden, kann dies vor diesem Hintergrund nur dann geschehen, wenn man die Aufgabe des Strafrechts - in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - auf den Schutz gewichtiger bzw. elementarer Rechtsgüter beschränkt. 209 202 BVerfGE 27,18,29 f.; vgl. auch BVerfGE 37, 201, 212; 42, 272, 289; 51, 60, 74; 80, 282,286;90,145,173. 203 BVerfGE 80, 203, 257. 204 BVerfGE 50, 205, 213. 205 BVerfGE 50, 205, 213; 88, 203, 258; vgl. auch Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 126 ff. sowie Vogel, StV 1996, 110, 111 ff., der darlegt, daß in der praktischen Umsetzung der restriktive Gehalt dieser Maxime nicht zum Tragen gekommen sei, da das BVerfG bisher praktisch jeden über den Bereich des bloßen Verwaltungs ungehorsams hinausgehenden Gemeinschaftsbelang als strafschutzwürdig anerkannt habe. 206 Sax, Grundsätze, S. 912 f.; kritisch hierzu Appel, Verfassung, S. 372 ff. 207 Die Notwendigkeit der Einbeziehung der außerhalb des eigentlichen Grundrechtskataloges liegenden Wertentscheidungen betont zu Recht Amelung, Rechsgüterschutz, S. 312 f. 208 BVerfGE 6,32,36 ff. und seither std. Rspr., vgl. z. B. BVerfGE 80,137,152 ff. 209 BVerfGE 45, 187,253; 51. 60, 74 f.; 80, 244, 255 f.; 88, 203, 257; 90, 145, 175 sowie 184; vgl. auch die Analyse der Rspr. des BVerfG bei Vogel, StV 1996, 110, 111 ff.

III. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie

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Indes: Selbst für den engeren Bereich der grundrechtlieh geschützten Freiheitsrechte können der Verfassungsrechtsordnung jedenfalls keine unmittelbar umsetzbaren Handlungsdirektiven entnommen werden. Notwendig ist zum einen eine Exegese des verfassungsrechtlich geschützten Wertes selbst - beispielhaft: was umfaßt die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG? Worin konstituiert sich die Freiheit der Person i. S. d. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG? Wann beginnt bzw. endet das menschliche Leben?2\O Zum anderen muß entschieden werden, welche Beeinträchtigungen einer grundrechtlieh geschützten Freiheitssphäre auch unter Berücksichtigung entgegenstehender - in der Regel ebenfalls verfassungsrechtlich geschützter bzw. anerkannter - Werte als strafrechtswürdige Beeinträchtigung etwa des Eigentums i. S. d. Art. 14 GG, der körperlichen Freiheit i. S. d. Art. 2 Abs. 2 GG oder der Willensfreiheit i. S. d. Art. 2 Abs. 1 GG anzusehen sind. Hinzu kommt, daß der notwendigerweise abstrakten Verfassungsrechtsordnung Aussagen über die sozialethische Bewertung einzelner Phänomene des gesellschaftlichen Zusammenlebens regelmäßig nur im Wege einer Exegese entnommen werden können. Verdeutlichen läßt sich dies am Beispiel des bundesdeutschen Wirtschaftsstrafrechts: 211 Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gewährleistet kein konkretes Wirtschaftssystem, sondern konstituiert allein bestimmte Rahmenbedingungen, wie z. B. die Vertragsfreiheit, die Koalitionsfreiheit, die Tarifautonomie, die Berufsfreiheit, das Institut des (sozialgebundenen) Privateigentums und die Möglichkeit der Verstaatlichung?12 Den Art. 2 Abs. I, 9, 11, 12, 14, 15,20 Abs. 1 und 109 GG kann damit zwar die - über Art. 79 Abs. 3 GG verfestigte - Absage sowohl an eine rein liberalistische, jede wirtschaftspolitische Einflußnahme des Staates ausschließende, als auch an eine staatsautoritäre, allein auf dirigistischen staatlichen Eingriffen aufbauende Wirtschaftsordnung, sowie das Bekenntnis zu einer gemischt liberalsozialen Wirtschaftsverfassung entnommen werden, in der einerseits die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit des einzelnen gewährleistet sein soll, andererseits aber auch gegen eine mißbräuchliche Marktbeherrschung eingeschritten werden kann?13 Die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung ist dann aber Aufgabe des Gesetzgebers, dessen grundSätzliche Gestaltungsfreiheit allein durch die bundesstaatliehe Kompetenzverteilung sowie dadurch Grenzen gesetzt werden, daß er den sozialstaatlichen Auftrag, rechtsstaatliehe VerVgl. hierzu bereits oben S. 65 ff. Wirtschaftsdelinquentes Verhalten fällt unstreitig nicht in den durch grundrechtlich fundierte Pönalisierungsgebote gewährleisteten Kernbereichs der für den Bestand der staatlichen Gemeinschaft wesentlichen sozialethischen Grundentscheidungen; vgl. nur A. Worms, Anlegerschutz, S. 270. 212 BVerfGE 4, 7, 17 f.; 50, 290, 336 ff.; Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 369; Arndt, in: Steiner, Abschnitt VII. Rdnr. 39; Badura, JuS 1976,205,208; R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20, 11. Abschnitt VIII. Rdnr. 60; Maunz-Zippelius, Staatsrecht, § 28 I; Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rdnr. 32. 213 Arndt, in: Steiner, Abschnitt VII. Rdnr. 40; R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20, 11. Abschnitt VIII. Rdnm. 60 f.; Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rdnrn. 33 f.; ders., Wirtschaftsordnung, § 18 Rdnrn. 15, 19; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Einl. Rdnrn. 61 ff. 210

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

fassungsgrundsätze und grundrechtliche Freiheitsgewährleistungen zu beachten hat. 214 Konkrete, dem Gesetzgeber verbindlich vorgegebene Aussagen über die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung oder einzelner ihrer Institutionen können dem Grundgesetz unstreitig nicht entnommen werden. 215 Maßgebend für die Beurteilung der Strafwürdigkeit wirtschaftsdelinquenten Verhaltens ist somit eine Bewertung der Sozialschädlichkeit, die zwar durch die verfassungsrechtlich vorgegebene Werteordnung mitgeprägt wird, die aber nicht deduktiv aus der Verfassung abgeleitet werden kann?16 Im Ergebnis bedeutet dies: Die verfassunsrechtliche Ordnung ist zwar ein Leitbild, an dem sich der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Strafrechtsordnung orientieren kann und orientieren muß?17 Bezogen auf die Verfassungsrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland kann diese Orientierung aber allenfalls der Gefahr entgegenwirken, daß der Ausgestaltung der Strafrechtsordnung die Richtigkeitsvorstellungen paternalistisch-absolutistischer, kollektivistischer oder totalitärer Gesellschaftsmodelle zugrunde gelegt werden; verbindliche Handlungsanweisungen für oder gegen die PÖnalisierung bestimmter Verhaltensweisen können der Verfassung dagegen nicht entnommen werden. Maßgebend bleibt stets, aufgrund welcher Kriterien ein konkretes Interesse als so schützenswert erscheint, daß die freiheitsbeeinträchtigenden Wirkungen der Pönalisierung durch den erzielten Rechtsgüterschutz zumindest aufgewogen werden. 218 Daß die Werteordnung der Verfassung tatsächlich "eine verläßliche Richtschnur für die Entscheidung der Frage (bietet), welche Rechtsgüter derart hochrangig sind, daß sie strafrechtlichen Schutz verdienen,,,219 wird man nach alledem bezweifeln müssen. Hinreichend bestimmte Aussagen darüber, was mit den Mitteln des Strafrechts geschützt werden darf oder muß, kann weder dem Katalog der Grundrechte noch dem Rechtsstaats- 220 oder Sozialstaatsprinzip221 in hinreichender Klarheit bzw. in nennenswertem Umfang entnommen werden?22 214 BVerfGE 50,290,337 f.; Badura, JuS 1976,205,208 f.; ders., in: Schmidt-Aßmann, 3. Abschnitt Rdnm. 19 f.; Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rdnr. 32. 215 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 369; Bottke, wistra 1991, 1,3 f.; Dingeldey, InsiderHandel, S. 129; Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 288 f.; Otto ZStW 96 (1984), 339, 356 f.; ders., MschrKrim 1980, 397, 401 f.; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 148 ff.; A. Worms, Anlegerschutz, S. 270. 216 Vgl. hierzu Hassemer, Theorie, S. 234 ff.; Papageorgiou, Schaden, S. 249. 217 Vgl. Woesner, NJW 1966, 1729; Zipf, Kriminalpolitik, S. 103, 106. 218 Vgl. Rudolphi, ZStW 83 (1971), lOS, 115 f. 219 Weber, in: Baumann I Weber I Mitsch, StratR AT, § 3 Rdnr. 12. 220 Vgl. hierzu die letztlich nicht über eine Ansammlung wenig konkreter Leittopoi (Idee der materialen Gerechtigkeit, Achtung personaler Freiheit, Gebot der Toleranz) hinausreichenden Bemühungen um die Konkretisierung des Aussagegehalts des Rechtsstaaatsprinzip bei Rudolphi, Festschrift für Honig, S. 159; kritisch hierzu: Appel, Verfassung, S. 308, 311. Zur Notwendigkeit eines Bezuges auf überpositive Prinzipien vgl. auch Naucke, Legitimation, S. 156 ff., insbesondere S. 158, 168.

III. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie

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Hieran ändert sich auch dann nichts, wenn man mit Jakobs die "Wirklichkeit des sozialen Lebens" und die "verfassungsrechtlichen Normen" als alleinige Maßstäbe der materiellen Legitimität der Strafrechtsordnung zurückweist223 und für eine Anbindung der Zurechnung strafrechtlicher Schuld an die Anerkennung des Menschen als Person und Bürger plädiert: Jakobs leitet aus dem Begriff der Person die Stellung des einzelnen als gleichberechtigter Träger von Rechten her. 224 Aus der mit dem Status als Bürger - einer "freiheitlichen" Gesellschaft - verbundenen Existenz einer der gesellschaftlichen Kontrolle vollständig entzogenen Privatsphäre ergibt sich für ihn, daß auch bei einem über die Privatsphäre hinauswirkenden Verhalten die Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit erst dann zulässig sein kann, wenn und soweit sich der einzelne "aktuell anmaßt, fremde Organisationskreise zu gestalten. ,,225 Kindhäuser hat insoweit zutreffend angemerkt, die von Jakobs eingeführte Kategorie des "Bürgers" verweise der Sache nach allein darauf, daß im Rahmen der Normgenese auch die Grundrechte des Täters hinreichend zu berücksichtigen seien?26 Entscheidend bleibt also auch bei diesem Ansatz, anhand welcher Kriterien bestimmt werden kann bzw. bestimmt wird, was - "in einer freiheitlichen Gesellschaft" - Teil der jeder staatlichen Einwirkung entzogenen Privatsphäre ist bzw. wann - "in einer freiheitlichen Gesellschaft" - eine Anmaßung der Gestaltung fremder Organisationskreise zu konstatieren ist. Daß dies bei einem entsprechenden Vorverständnis zu einer sehr weitgehenden Beschneidung der personalen Freiheit führen kann, zeigt in aller Deutlichkeit die von Kratzsch entwickelte, auf "optimalen Rechtsgüterschutz" abstellende Konzeption einer Strafrechtsordnung. 227 dd) Die Verfassungsrechtsordnung als Maßstab zur Begrenzung des Anwendungsbereichs strafrechtlicher Normen

Auch wenn der Verfassungsrechtsordnung nicht mit hinreichender Klarheit entnommen werden kann, welche Verhaltensweisen in positiver Hinsicht als straf221 Vgl. die diesbezüglichen Bemühungen von Thoss, Verhältnis, S. 75 ff. sowie hierzu die kritische Stellungnahme von Stratenwerth, Strafrechtsreform, S. 19 f. 222 Eser, Festschrift für Mestmäcker, S. 1019; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ \3 ff. Rdnr. 10; vgl. auch Müller-Dietz, Festschrift für R. Schmitt, S. 115, der hierin den Grund für die Wiederbelebung der Bemühungen um rechts philosophische Orientierung sieht. 223 Jakobs, StrafR AT, 1/15 Anm. 15 a.E., 2/1. 224 Jakobs, ZStW 107 (1995), 843, 853 ff.; ders., Schuldprinzip, S. 26 f.; ders., ZStW 101 (1989), 516, 537; vgl. auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 388 ff., der ebenfalls liberale Grenzen des am Sozialschädlichkeitsgedanken orientierten funktional ausgerichteten Strafrechtssystems anerkennen will. 225 Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 755 f., 762. 226 Kindhäuser, Gefährdung, S. 183, 185/186. 227 Vgl. oben S. 49 f.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

schutzwürdig anzusehen sind, könnten der Verfassung doch möglicherweise Kriterien zu entnehmen sein, anhand derer sich entscheiden ließe, daß bestimmte Verhaltensweisen nicht als strafwürdig angesehen werden dürfen. Die Rechtsgutstheorie wird bei einem derartigen Ansatz allerdings nicht mehr als Theorie des materiellen Substrats des Verbrechens, sondern als Ansatz zur Begrenzung der staatlichen Strafgewalt verstanden. Dem entspricht es, wenn Otto formuliert, es gehe "bei der Forderung nach Rechtsgüterschutz in den Deliktstatbeständen um die Forderung an den Gesetzgeber, mit rational nachprütbaren Argumenten den Beweis zu führen, daß er ein sozial wichtiges bonum durch den Deliktstatbestand schützt und daß sich dieser Strafrechtsschutz mit dem Gefüge der Wertentscheidungen der Rechtsgesellschaft in Einklang hält".228 Der Ansatz, dem kriminalpolitischen Ermessen des Gesetzgebers über das Instrument der Rechtsgutstheorie Grenzen zu setzen, wird in der aktuellen Auseinandersetzung insbesondere von Roxin und Rudolphi vertreten: 229 Roxin definiert Rechtsgüter jetzt als "Gegebenheiten oder Zwecksetzungen, die dem einzelnen und seiner freien Entfaltung im Rahmen eines auf dieser Zielvorstellung (= eines auf die Freiheit des einzelnen gegründeten Rechtsstaates) autbauenden sozialen Gesamtsystems oder dem Funktionieren dieses Systems selbst nützlich sind,,?30 Aus diesem, dem Gesetzgeber vorgegebenen Rechtsgutsbegriff leitet sich für Roxin insbesondere das Verbot ab, reine Moralwidrigkeiten oder ideologische Zielsetzungen durch Strafrechtsnormen zu schützen. 231 Des weiteren sollen sich auch Strafvorschriften, die die Ungleichheit unter Menschen begründen oder zur Bestrafung von Meinungsäußerungen führen, als illegitim erweisen. 232 Rudolphi ist der Ansicht, der Gesetzgeber könne "nur solche sozialen Gegebenheiten zum Schutzgut strafrechtlicher Normen erheben, die für die verfassungsgemäße Stellung und Freiheit des einzelnen Bürgers und für unser sich im Rahmen der Verfassung bewegendes Gesellschaftsleben notwendig sind.,,233 Demgegenüber dürfen "all die sozialen Gegebenheiten nicht zu strafrechtlichen Schutzgütern erhoben werden, die für unser sich im Rahmen der Verfassung bewegendes Gesellschaftsleben nicht notwendig sind. Dazu gehören vor allem die moralischen Verhaltensanforderungen, deren Befolgen zur Schaffung oder Erhaltung eines auf der Freiheit und Verantwortung des Individuums basierenden Gesellschaftslebens nicht notwendig ist.,,234 In ähnlicher Weise heißt es an anderer Stelle: "Berechtigt ist der 228 Dtto, Rechtsgutsbegriff, S. 15; vgl. auch Appel, Verfassung, S. 66, 199,330/331 und passim. 229 Vgl. aber auch Amelung, Sozialschädlichkeit, S. 278; Appel, Verfassung, S. 21, 51, 55 ff. und passim; Jescheck, in: LK, Vor § 13 Rdnr. 7; Lagodny, Strafrecht, S. 151 ff., MJ. Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 83. 230 Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 9. 231 Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnrn. 11 f. 232 Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 13. 233 Rudolphi, in: SKStGB, Vor § I Rdnr. 5. 234 Rudolphi, in: SKStGB, Vor § I Rdnr. 5 a.E.

111. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie

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Gesetzgeber zum Erlaß einer Strafnorm nur dann, wenn sie zur Wahrung und Sicherung der Lebensbedingungen unserer auf der Freiheit und Verantwortung der Person basierenden Gesellschaft notwendig ist. Dagegen hat der Staat nicht das Recht, den einzelnen mit Hilfe von Strafdrohungen zu zwingen, bestimmte religiöse, moralische oder sonstige Wertvorstellungen zur Richtschnur seines Verhaltens zu wählen, wenn deren Befolgen keinerlei Funktion für die Schaffung oder Einhaltung eines auf der Freiheit und Verantwortung des Individuums beruhenden gesellschaftlichen Lebens zukommt.,,235 Des weiteren ergebe sich, "daß der Schutz von Universalinteressen nur insoweit legitim ist, soweit er sich als notwendig erweist, um die für eine freie Entfaltung der Bürger notwendigen Voraussetzungen zu sichern. Der Schutz staatlicher Einrichtungen und sonstiger Universalinteressen darf daher nicht um ihrer selbst willen erfolgen.,,236 Die zitierten Passagen lassen deutlich erkennen, daß es sich bei der von Roxin und Rudolphi befürworteten Rechtsgutstheorie um einen verfassungspositivistischen Ansatz handelt. So kann beispielsweise das Verbot, seine Bürger in religiöser Hinsicht zu bevormunden zwar für ein säkulares und pluralistisch verfaßtes Gesellschaftssystem ohne weiteres aus der rein weltlichen Zielsetzung des Staates hergeleitet werden 237 - für ein religiös-fundamentalistisches Staatswesen müßten aber ersichtlich andere Grundsätze gelten. 238 Daß ein an verfassungsrechtlichen Vorgaben orientierter Ansatz dem Strafrecht von vornherein keine zeitlos gültigen, sondern allenfalls die in einer bestimmten historischen Situation für eine konkrete Gesellschaft verbindlichen Grenzen zu setzen vermag, spricht allerdings nicht gegen diesen Ansatz, sondern ist nichts anderes als die zwingende Konsequenz der oben bereits aufgezeigten Geschichtlichkeit des Rechts. 239 Auch dann, wenn man den modemen Verfassungsstaat westlicher Prägung als Positivierung des aufgeklärten Vernunft(rechts)denkens versteht,240 kann die Orientierung an den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht durch einen Rekurs auf ein ethisches Hintergrundkonzept ersetzt bzw. überspielt werden. Anerkanntermaßen können weder aus den von Kant in den §§ Bund C der Einleitung zur Rechtslehre aufgestellten Grundsätzen 241 noch aus den im Zuge vertragstheoretischer Rudolphi, in: SKStGB, Vor § I Rdnr. I. Rudolphi, in: SKStGB, Vor § I Rdnr. I a.E. 237 Vgl. Rudolphi, Festschrift für Honig, S. 160; ders., in: SKStGB, Vor § I Rdnr. I m.w.N. 238 Vgl. hierzu Feinberg, Vol. I, S. 39 Fußn. 2; Charlesworth, Leben, S. 27. Gleiches gilt für eine kommunistische bzw. real-sozialistische Gesellschaft, vgl. Wasek, Moralwidrige Tat, S.375. 239 Vgl. oben S. 65 ff. 240 Alexy, ARSP-Beiheft 44 (1991), 30,43; Haberrnas, Faktizität und Geltung, S. 552; Kaufmann, JuS 1978,361,364; Köhler, StrafR AT, S. 15; Marx, Definition, S. 32133; MJ. Worrns, Bekenntnisbeschimpfung, S. 57 f. 241 "Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt 235

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

bzw. diskursethischer Reformulierungen seiner Lehre 242 entwickelten obersten Rechtsprinzipien direkt konkrete Rechtsnormen deduziert werden. 243 Um für ein konkretes soziales Umfeld Wirksamkeit erlangen zu können, müssen die für sich gesehen zunächst im wesentlichen auf den formalen Grundsatz der Gleichbehandlung beschränkten allgemeinen Rechtsprinzipien 244 zunächst einmal mit den zeitlich-räumlich gegebenen gesellschaftlichen Kontextbedingungen vermittelt werden?45 Die Verständigung über die rechtlichen Grenzen, innerhalb derer Konzepte des Guten verfolgt werden können,246 erfolgt notwendigerweise über bzw. innerhalb der Institution des Staates als der Organisationsform der Gesellschaft. 247 Das wesentliche Ergebnis der normativen Verständigung ist dann die Staatsverfassung?48 Wenn aber die verfassungsrechtliche Ordnung die Ebene des Konkretisierungsprozesses darstellt, auf der erstmalig und grundlegend allgemeine Rechtsprinzipien auf ein gegebenes gesellschaftliches Umfeld hin ausgerichtet werden,249 werden kann." (Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, § B) "Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann etc" (a. a. 0., § C). Der Sache nach entspricht dies dem I. Gerechtigkeitsgrundsatz bei Rawls, vgl. Rawls, Idee, S. 60. Zur Neufassung dieses Satzes vgl. Rawls, Idee, S. 160 f., 203 ff. 242 Als Beispiel einer vertragstheoretischen Reformulierung sei hier auf die von Rawls entwickelte Gerechtigkeitskonzeption verwiesen. Rawls selbst versteht seinen Ansatz als eine Fortführung der Kantischen Lehre, vgl. Rawls, Theorie, S. 12, 27, 283 ff., insbesondere S. 289; ders., Idee, S. 80 ff., 75; ders. Politischer Liberalismus, S. 399: "prozedurale Deutung der Kantischen Lehre". Zu den Unterschieden zwischen beiden Konzeptionen vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, S. 180 ff. sowie Pogge, Rawls, S. 189 ff. Als diskursethische Reformulierung des Kantischen Ansatzes kann auf die Habermas'sche Diskursethik verwiesen werden, vgl. insbesondere: Habermas, Faktizität und Geltung, S. 49 ff.; Kersting, Freiheit, S. 19 f .. 36. Daß es sich bei der Diskurstheorie um eine Reformulierung der Lehre Kants handelt, betont auch Alexy, ARSP-Beiheft 51 (1993), 11, 14 ff. 243 Vgl. Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 275 ff. und auch K. Günther, Möglichkeiten, S. 210: Die Diskursethik könne nicht aus sich selbst heraus bestimmen, "weIche Rechte in weIcher Weise geschützt werden sollen". 244 Vgl. Dworkin, Bürgerrechte, S. 297; Habermas, Faktizität und Geltung, S. 157. Zur Konzeption der "Person" als notwendigem inhaltlichen Fundament prozeduraIer Ansätze vgl. Arthur Kaufmann. Rechtsphilosophie, S. 205, 292 ff. 245 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 157, 193; Höffe, Gerechtigkeit. S. 429; Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 84, 148; Köhler, StrafR AT, S. 17, 36; Rawls, Theorie. S. 224 f.; ders., Idee, S. 62, 163, 211; ders., Politischer Liberalismus, S. 408, 414 sowie beispielhaft S. 457 ff.; Wolff, Abgrenzung, S. 185 ff., 194 ff.; Zaczyk, Unrecht, S. 162/163, 165 ff. 246 Zur Konzeption des Vorrangs des Rechten vor dem Guten vgl. Rawls, Theorie, S. 50, 486 ff., 610 f.; ders., Idee, S. 288 ff., 296 ff., 323 ff., 334; ders., Politischer Liberalismus, S. 266 ff. 247 Höffe, Gerechtigkeit, S. 428 ff.; Wolff, ZStW 97 (1985), 786, 814 ff.; ders., Abgrenzung, S. 202 ff.; Zaczyk, Unrecht, S. 181 ff. 248 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 238; Kersting, Freiheit, S. 212; Köhler, StrafR AT, S. 16,36; Merkei, Strafrecht, S. 280 f.; Zaczyk, Unrecht, S. 184. 249 Vgl. hierzu Rawls, Theorie, S. 30, 224 ff.; ders., Idee, S. 163, 168, 209 ff.; Wittig, ZStW 107 (1995), 251, 273 f.

IV. Grenzen der Strafgewalt im pluralistischen Staat

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dann müssen Maßstäbe zur Bewertung konkreter Normen notwendigerweise der Verfassungsrechtsordnung entnommen werden, d. h. konkret: die Legitimität oder Illegitimität der Pönalisierung einer Verhaltensweise muß zwingend aus der Verfassungsrechtsordnung hergeleitet werden bzw. mit dieser vereinbar sein. Beispielhaft: Wenn die Funktion der staatlichen Rechtsordnung in Umsetzung des neuzeitlichen, wesentlich durch die Philosophie der Aufklärung inspirierten personalen Staats- und Rechtsverständnisses des abendländischen Rechtskreises darin gesehen wird, die Voraussetzungen und Bedingungen zu sichern, die notwendig und erforderlich sind, damit sich der einzelne als ein sozialgebundenes Individuum entfalten kann,25o dann müssen konsequenterweise auch die für die Ausübung staatlicher Strafgewalt verbindlichen Maßstäbe und Grenzen aus der in der Tradition der europäischen Geistesentwicklung verankerten Verfassungsrechtsordnung entnommen werden. Erkennt man weiterhin an, daß es in einer gewaltengeteilten Demokratie dem Gesetzgeber obliegt, die durch die verfassungsrechtliche Ordnung fixierte normative gesellschaftliche Verständigung durch einfachgesetzliche Regelungen zu konkretisieren, können auch die dem Gesetzgeber bei dieser Aufgabe gesetzten Grenzen nur der Verfassungsrechtsordnung entnommen werden. 251 Die Annahme weiterreichender Beschränkungen liefe auf eine Kritik an der Verfassungsrechtsordnung selbst hinaus, die - für sich gesehen - ohne Frage legitim ist, die aber auf eine Abänderung der Verfassungsrechtsordnung abzielen muß und die deshalb im Rahmen der vorliegenden Untersuchung, in der es um die Frage nach der Legitimität der einfachgesetzlichen Normen des Strafrechts geht, nicht weiter verfolgt werden kann?52

IV. Grenzen der Strafgewalt im pluralistischen Staat Wie eben dargelegt, kann die Frage nach den Grenzen des legitimen Anwendungsbereichs strafrechtlicher Normen nur vor dem Hintergrund einer konkreten gesellschaftlichen Konzeption gestellt und nicht in zeitlos-gültiger Art und Weise, sondern ebenfalls nur bezogen auf ein konkretes gesellschaftliches Modell beantwortet werden. Für die vorliegende Untersuchung bedeutet dies: Es ist der Frage nachzugehen, ob und wenn ja welche Grenzen der Anwendung strafrechtlichen Zwangs in einer wesentlich durch die Modellvorstellung einer Gemeinschaft freier 250 Höffe, Gerechtigkeit, S. 284; Arthur Kaufmann, JuS 1978,361,364; Marx, Definition, S. 31 ff.; M.J. Wonns, Bekenntnisbeschimpfung, S. 54 ff. 251 Vgl. Appel, Verfassung, S. 388, 450, 454, 486 f. und passim; Forster, ZSR NF 114 (\ 995), 11, I, 51. Soweit die Verfassung - wie z. B. Art. 24novies BV im Hinblick auf die Regelung der Fortpflanzungsmedizin - sehr dezidierte Detailregelungen enthält, führt dies zwingend zu einer entsprechend weitgehenden Vorfestlegung des Strafgesetzgebers. 252 Zur Bindung an die jeweils übergeordnete Ebene vgl. auch Rawls, Idee, S. 213; ders., Politischer Liberalismus, S. 460.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

und gleicher Rechtsgenossen geprägten, pluralistischenGesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts gesetzt sind. Der damit verfolgte Ansatz, dem Gesetzgeber über die Rechtsgutstheorie Schranken zu setzen, darf nicht als eine bloße Umkehrung des an der verfassungsrechtlichen Werteordnung orientierten Ansatzes zur positiven Bestimmung strafschutzwürdiger Rechtsgüter interpretiert werden. Aus den oben zitierten Ausführungen geht deutlich hervor, daß es auch Roxin und Rudolphi gerade nicht um die Bestimmung von "Werten" geht, die als nicht hinreichend elementar bzw. nicht hinreichend gewichtig anzusehen wären, um eine Pönalisierung rechtfertigen zu können. Der entscheidende Wechsel der Perspektive liegt darin, daß nicht danach gefragt wird, ob eine bestimmte Verhaltensweise hinreichend gewichtige Entfaltungs- und Daseinsbedingungen beeinträchtigt und deshalb mit den Mitteln des Strafrechts bekämpft werden darf; gefragt wird vielmehr danach, ob das in Frage stehende Verhalten als ein legitimer Grund für ein staatliches Eingreifen anerkannt werden kann. Gefragt ist mit anderen Worten nach den Grenzen der dem staatlichen Zugriff offen stehenden Sphäre bzw. - spiegelbildlich - nach den Grenzen eines dem strafrechtlichen Zugriff entzogenen Bereichs privater Lebensgestaltung. 253

1. Die grundsätzliche Formulierung des Ansatzes bei John Stuart Mill Dieser neben dem bereits oben zitierten Wolfenden Report auch in einer Botschaft des Schweizer Bundesrates aus dem Jahre 1985 254 anklingende Ansatz ist bereits 1859 in einer insbesondere im anglo-amerikanischen Rechtskreis wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Art und Weise von John Stuart Mill in seinem Essay On Liberty entwickelt worden?55 Im vierten Kapitel dieses Essays, in dem er die Grenzen der Autorität der Gesellschaft über das Individuum thematisiert, faßt Mill die Problematik knapp und prägnant in drei Fragen zusammen: "Wo ist denn nun also die gerechte Grenze für die Herrschaft des Individuums über sich selbst? Und wo beginnt die Autorität der Gesellschaft? Ein wie großer Teil des menschlichen Lebens sollte dem Individuum, wieviel davon der Gesellschaft vorbehalten bleiben?,,256 Bereits in der Einleitung dieser Schrift hatte Mill die Auffassung vertreten, "daß der einzige Grund, 2S3 Zur rein negativen Funktion der Verfassungsrechtsordnung als Rahmen der Strafgesetzgebung vgl. auch bereits Eser, Duquesne University Law Review 4 (I %6), 345, 400 und 415. 254 Vgl. Stratenwerth, Rektoratsrede, S. 11. 255 Zu den geistesgeschichtlichen Wurzeln des Schadensprinzips vgl. Papageorgiou, S. 101 m.w.N. 256 MiII, Freiheit, S. 103.

IV. Grenzen der Strafgewalt im pluralistischen Staat

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aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Daß der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten ... Nur insoweit sein Verhalten andere in Mitleidenschaft zieht, ist jemand der Gesellschaft verantwortlich."257 Der allein der eigenverantwortlichen Selbstbestimmung unterliegende Bereich umfaßt nach Mill "als erstes das innere Feld des Bewußtseins und fordert hier Gewissensfreiheit im weitesten Sinne, ferner Freiheit des Denkens und Fühlens, unbedingte Unabhängigkeit der Meinung und der Gesinnung bei allen Fragen, seien sie praktischer oder philosophischer, wissenschaftlicher, moralischer oder theologischer Natur. Die Freiheit, Meinungen in Wort und Schrift zu vertreten, scheint unter einen andersartigen Grundsatz zu fallen, da sie zu dem Teil persönlicher Lebensführung gehört, die andere Leute mitbetrifft. Aber da sie fast von gleicher Bedeutung ist wie Gedankenfreiheit selbst, und zum großen Teil auf denselben Gründen beruht, ist sie praktisch untrennbar von ihr. Zweitens verlangt dies Prinzip Freiheit des Geschmacks und der Studien, Freiheit, einen Lebensplan, der unseren eigenen Charakteranlagen entspricht, zu entwerfen und zu tun, was uns beliebt, ohne Rücksicht auf die Folgen und ohne uns von unseren Zeitgenossen stören zu lassen - solange wir ihnen nichts zuleide tun -, selbst wenn sie unser Benehmen für verrückt, verderbt, oder falsch halten. Drittens: aus dieser Freiheit jedes einzelnen folgt - in denselben Grenzen diejenige, sich zusammenzuschließen, die Erlaubnis, sich zu jedem Zweck zu vereinigen, der andere nicht schädigt, unter der Voraussetzung, daß die sich vereinenden Personen voll erwachsen sind und nicht unter Zwang oder veraniaßt durch Vorspiegelungen in eine Verbindung treten.,,258 Das wesentliche Defizit seines Ansatzes besteht darin, daß Mill es unterlassen hat, den Gehalt der selbst in der oben zitierten zentralen Passage nur skizzenhaft entworfenen Grundsätze näher zu bestimmen. 259 Trotz oder auch gerade wegen einiger im weiteren Verlauf seiner Ausführungen angeführter Beispiele bleibt die von ihm befürwortete Abgrenzung der dem staatlichen Zugriff offenstehenden bzw. verschlossenen Sphären weitgehend dunkel. Beispielhaft sei nur darauf verwiesen, daß Mill - ausweislich des obigen Zitats - zwar einerseits die Verderbtheit eines Verhaltens nicht als einen Grund anerkennen will, der die Einbeziehung eines Verhaltens in die Sphäre der Gesellschaft zu rechtfertigen vermag, daß er aber andererseits im weiteren Verlauf seiner Ausführungen Vergehen gegen die Schicklichkeit als Beleidigung der guten Sitten ansieht und ihre Bestrafung ohne weiteres für legitim erachtet. 260 Insgesamt gesehen ist zu konstatieren: Da - was Mill selbst Mill, Freiheit, S. 16 f. Mill, Freiheit, S. 20. 259 So auch Schlenke in seinem Nachwort zu Mill, Freiheit, S. 170; zur Interpretation des Millschen Ansatzes vgl. Hart, Morality, S. 42 f. 260 Mill, Freiheit, S. 135; vgl. hierzu auch J.C. Wolf, Zeitschrift für Philosophische Forschung 44 (1988), 454, 455 f.; kritisch hierzu Feinberg, Vol. I, S. 14 sowie Gräfrath, Mill, 257

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

erkannt hat - das Ausleben einer Lebenskonzeption praktisch immer Auswirkungen auf das soziale Umfeld des Individuums hat, kann es nicht darauf ankommen, daß die Interessenkreise anderer Individuen betroffen sind - dies ist stets der Fall. Entscheidend ist, ob es sich um eine Beeinträchtigung fremder Interessenkreise handelt, die - gemessen an den in der Gesellschaft vorherrschenden Maßstäben sozial unerträglich ist261 und deshalb ein staatliches Eingreifen zu legitimieren vermag. Entscheidend ist also, weIche Grenzen in einer konkreten Gesellschaft dem Zugriff staatlicher Instanzen gesetzt sind. Konkret ist danach zu fragen, ob eine Gesellschaft einen staatsfreien oder doch zumindest strafrechtsfreien Bereich der Lebensgestaltung anerkennt und wie dieser gegebenenfalls ausgestaltet ist. Roxin und Rudolphi scheinen eine derartige Beschränkung der staatlichen Eingriffsbefugnis jedenfalls für Verhaltensweisen annehmen zu wollen, die Ausdruck religiöser, moralischer oder sonstiger Wertvorstellungen sind. Allerdings betonen sie - nach dem oben Gesagten: zu Recht -, daß dies nur für ,,reine" Moralwidrigkeiten gelten könne (Roxin), deren Befolgung also ,,keinerlei Funktion für die Schaffung oder Einhaltung eines auf der Freiheit und Verantwortung des Individuums beruhenden gesellschaftlichen Lebens zukommt" (Rudolphi). Damit stellen sich mehrere Fragen: Wann bzw. unter weIchen Voraussetzungen kann man davon ausgehen, daß ein (moralwidriges) Verhalten keinerlei Auswirkungen auf das auf der Freiheit und Verantwortung des Individuums beruhende gesellschaftliche Leben hat? Wann bzw. unter weIchen Voraussetzungen greifen soziale Kontakte über den dem staatlichen Zugriff entzogenen Bereich der selbstbestimmten Lebensgestaltung hinaus? Liegt eine relevante Beeinträchtigung fremder Interessen bereits dann vor, wenn die in Frage stehende Verhaltensweise mit den Wertvorstellungen anderer Individuen nicht zu vereinbaren ist? Bedarf es möglicherweise einer über die bloße Ablehnung hinausgehenden Beeinträchtigung oder Desorientierung anderer Individuen bzw. einer Desintegration gesellschaftlicher Lebens- und Funktionszusammenhänge?

2. Die AusditTerenzierung des Ansatzes durch Joel Feinberg Um eine differenzierte und auf das pluralistische Gesellschaftsmodell bezogene Aufarbeitung des Mill'schen Grundansatzes hat sich insbesondere der amerikanische Rechtsphilosoph Joel Feinberg bemüht. Seine unter dem Obertitel "The Moral Limits of the Criminal Law" in den Jahren 1984 bis 1988 vorgelegte vierbändige Studie ist der Frage gewidmet: "Wh at sorts of conduct may the state rightly make criminal?,,262 Ausgehend vom Grundwert der Freiheit des Individuums sucht FeinS. 112/113: die eine Ergänzung durch das "Ärgernisprinzip" (offen se principle) für notwendig erachten. 261 Vgl. Jakobs, StrafR AT, 2/22 f. sowie bereits Welzel, ZStW 58 (1938), 491, 516. 262 Feinberg, Vol. I, S. 3; vgl. auch Postema, Ethics Vol. 97 (1986-87),414,415.

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berg nach den für eine liberale Gesellschaft verbindlichen "liberty-limiting princi pies" bzw. "coercion-Iegitimizing principles",263 wobei er neben dem bereits von Mill selbst propagierten Schadensprinzip (harm-principle) als weitere potentielle Kriminalisierungsgründe das Belästigungsprinzip (offense-principle) sowie zwei Formen moralistischer Erwägungen (legal paternalism sowie legal moralism) erörtert. Ziel seiner Untersuchung ist es, den Nachweis zu erbringen, daß in einer liberalen Gesellschaft die Pönalisierung von Verhaltensweisen legitimerweise neben einem elaborierten harm-principle auch auf ein entsprechend ausdifferenziertes offense-principle gestützt werden kann, während paternalistische oder sonstige moralistische Erwägungen eine Pönalisierungsentscheidung in keiner Weise zu tragen vermögen. 264 Methodisch beginnt Feinberg mit dem von ihm als Kriminalisierungsgrund für im Grundansatz unproblematisch erachteten Schadensprinzip (Vol. 1: Harm to Others),265 um sich dann den als schwieriger und kontrovers eingeschätzten Prinzipien zuzuwenden: dem Belästigungsprinzip (Vol. 2: Offense to Others), dem Strafrechtspaternalismus (Vol. 3: Harm to Self) und dem Strafrechtsmoralismus (Vol. 4: Harmless Wrongdoing). Den ersten Band widmet Feinberg einer Aufarbeitung des im Ansatz bereits von Mill (als einzig tragfähige Begründung für eine Einschränkung der personalen Freiheit) postulierten Schadensprinzip (harm-principle). Daß die Schädigung anderer Personen als ein im Hinblick auf die Pönalisierung von Verhaltensweisen relevanter Gesichtspunkt anzuerkennen ist, steht für Feinberg außer Frage. Ausgehend von der Erkenntnis, daß mit der Institution des Strafrechts nicht Schäden als solche verhindert werden können, sondern schädigenden Verhaltensweisen (acts of harming) entgegengewirkt werden soll,266 definiert Feinberg die strafrechtlich relevante Schädigung (harm) als Beeinträchtigung von Interessen (setback of interest), die sich gleichzeitig auch als Verletzung eines Rechts (violation of a person's rights) darstellt. 267 Als strafrechtlich relevante Interessen erkennt Feinberg weder die bloßen Wünsche und Neigungen (passing wants) noch die Zielsetzungen (instrumental wants, focal aims) einer Person an, sondern allein Wohlfahrtsinteressen (welfare interests),268 d. h. Interessen, die gerichtet sind auf die Gewährleistung der Grundvoraussetzungen für die Umsetzung einer eigenständigen Lebensplanung ("basic requisites of a man's well-being,,).269 Werden eine oder mehrere Personen durch ein Verhalten in ihren Wohlfahrtsinteressen beeinträchtigt270 und stellt sich das Verhalten gleichzeitig noch als EinFeinberg, Vol. I, S. 9. Feinberg, Vol. 1, S. 14 f.; vgl. auch Postema, Ethics Vol. 97 (1986-87), 414, 415 f. 265 Vgl. hierzu auch die Rezension von Neumann, ARSP 1986, 118 ff. 266 Feinberg, Vol. I, S. 31. 267 Feinberg, Vol. I, S. 36. 268 Vgl. Feinberg, Vol. I, S. 37 ff. 269 Vgl. Feinberg, Vol. I, S. 37,57; vgl. hierzu 1. C. Wolf, Zeitschrift für Philosophische Forschung 42 (1988), 454, 457 ff. 263

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griff in fremde Rechtspositionen dar, ist zwar eine im Grundsatz strafrechtlich relevante Schädigung gegeben. Einen Automatismus dergestalt, daß aus dem Vorliegen einer strafrechtlich relevanten Schädigung unmittelbar auf die Legitimität der Pönalisierung geschlossen werden muß, weist Feinberg allerdings zurück. Die mit der Pönalisierung einer Verhaltensweise verbundene Einschränkung der Freiheit macht seiner Auffassung nach vielmehr eine Abwägung erforderlich, die er durch mehrere Abwägungsmaßstäbe (mediating maxims) zu strukturieren versucht. 271 Festzuhalten bleibt: Die strafrechtliche relevante Schädigung einer oder mehrerer anderer Personen ist nach Feinberg ein Umstand, der den Gesetzgeber zur Pönalisierung einer Verhaltensweise berechtigen kann, nicht aber zwingend berechtigen muß. Neben dem Schädigungsprinzip (harm-principle) will Feinberg mit dem Belästigungsprinzip (offense-principle) einen weiteren Gesichtspunkt anerkennen, der eine Kriminalisierung grundsätzlich zu rechtfertigen vermag. 2n Mit dem Begriff der "offenses" will Feinberg nicht weniger gewichtige "harms", sondern die von Schädigungen zu unterscheidenden Phänomene der als negativ empfundenen Gefühlszustände (disliked states of mind) erfassen. 273 Feinberg ist der Auffassung, daß das Hervorrufen einer Belästigung unter zwei Voraussetzungen als Grund für eine Kriminalisierung anzuerkennen sei: Zum ersten muß es sich um ein Verhalten handeln, das gleichzeitig auch als Eingriff in fremde Rechte anzusehen ist (wrongful offensive conduct);274 zum zweiten müssen die Interessen des sich-gestört-Fühlenden gegen die Interessen der agierenden Person abgewogen werden. 275 Im dritten und vierten Band seines Gesamtwerkes setzt sich Feinberg dann ausführlich mit den Phänomenen des "legal paternalism" und des "legal moralism" auseinander. Eine paternalistisch begründete Legitimation strafrechtlicher Normen lehnt er als eine mit der Autonomie der Person unvereinbare Erwägung ab. Eine in der Tradition des politischen Liberalismus stehende Gesellschaft dürfe die für ein "gutes" Leben relevanten ,,richtigen" Werte und Ziele nicht von Staats wegen verbindlich vorschreiben, sondern müsse es dem einzelnen überlassen, seine persönliche Konzeption des Guten innerhalb des durch die Freiheit der anderen Bürger gesetzten Rahmens selbst und eigenverantwortlich zu finden. 276 Auch eine eigenständig-moralistische Begründung strafrechtlicher Normen lehnt Feinberg als mit der Autonomie der Person unvereinbar ab. Er erkennt an, daß auf normative Erwägun270 Zur Einbeziehung kollektiver Interessen in die Interessensphäre einer Person vgl. Feinberg, Vol. I, S. 63. 271 Vgl. Feinberg, Vol. I, S. 187 ff., 218 ff. 272 Feinberg, Vol. 2, S. I f. 273 Feinberg, Vol. 2, S. 3 ff. 274 Feinberg, Vol. 2, S. I f., 68. 275 Zu den im Rahmen des Abwägungsprozesses (balancing test) relevanten Topoi vgl. i.e.: Feinberg, Vol. 2, S. 25 ff. 276 Feinberg, Vol. 3, S. 52 ff., insbesondere S. 57 ff.

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gen bei der Bestimmung von strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen nicht verzichtet werden kann?77 Die Berücksichtigung normativer Gesichtspunkte bei der Bestimmung strafrechtlich relevanter Schädigungen (wrongful harms) und Belästigungen (wrongful offenses) könne aber nicht gleichgesetzt werden mit der Durchsetzung partikularer Wertvorstellungen um ihrer selbst willen,278 ein Gesichtspunkt, der für eine dem Grundwert der Autonomie der Person verpflichtete und damit zwingend pluralistisch strukturierte liberale Gesellschaft 279 von vornherein als legitimer Grund für die Kriminalisierung von Verhaltensweisen auszuscheiden habe. 28o

3. Die Rezeption der Konzeption in der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft In der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft ist die Diskussion der Grenzen des legitimen Anwendungsbereichs strafrechtlicher Normen bisher überwiegend in der Binnenperspektive geführt worden, was konkret bedeutet: im wesentlichen unter Zugrundelegung des Rechtsgutsdogmas. 281 Den - soweit ersichtlich ersten Versuch einer vertieften Auseinandersetzung mit der oben skizzierten Konzeption Feinbergs stellt eine 1994 von Konstantinos A. Papageorgiou unter dem Titel "Schaden und Strafe" veröffentlichte Untersuchung dar. Ziel dieser Studie ist es, die Grundzüge einer Theorie der Kriminalisierung in Anknüpfung an die Tradition des wesentlich durch Humboldt und Mill geprägten philosophischen Liberalismus zu entwickeln. Das grundlegende Ideal des politischen Liberalismus sieht Papageorgiou in der Gewährleistung der möglichst umfassenden, von innen geleiteten Entwicklung des Individuums. Voraussetzung einer autonomen Entwicklung des Individuums sei ein Grundbestand an Freiheitsrechten sowie die Gewährleistung eines sozialen Umfeldes, in dem die grundlegenden Voraussetzungen für eine Umsetzung individueller Lebensplanungen gewährleistet werden. 282 Ausgehend von der Erkenntnis, daß das Strafrecht nicht nur eine die 277 Feinberg, Vol. 4, S. 11 f.; vgl. auch die obigen Ausführungen zur normativen Komponente des hann-principle und offense-principle. 278 Feinberg, Vol. 4, S. 12; vgl. auch MacCormick, Disestablishment, S. 220 f. 279 Vgl. Feinberg, Vol. 4, Kapitel 29A. insbesondere S. 108 ff. Zur Abgrenzung des Liberalismus vom Relativismus vgl. auch Feinberg, Vol. 4. S. 305 ff., 333 ff. 280 Feinberg. Vol. 4, S. 67/68. 281 Die Frage. ob die durch Feuerbach entwickelte Konzeption die Möglichkeit einer andersartigen Entwicklung geboten hätte, kann hier dahinstehen, da dieser Ansatz neben der sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts durchsetzenden Variante der Rechtsgutstheorie keine weitergehende strafrechtspraktische oder dogmengeschichtliche Wirkung gehabt hat; vgl. hierzu i.e.: Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 28 ff., 52 ff. 282 Vgl. Papageorgiou, Schaden, S. 256 f., 279.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

Freiheit des einzelnen schützende, sondern auch die Freiheit einschränkende Institution darstellt, sucht Papageorgiou nach Gründen, die eine Pönalisierung von Verhaltensweisen zu rechtfertigen vennögen. Den stärksten und seiner Auffassung nach letztlich auch einzigen Grund zum Kriminalisieren sieht er im sog. Schadensprinzip. Etwaigen anderen Prinzipien (Paternalismus-, Belästigungs- und Moralismusprinzip) mißt Papageorgiou keine eigenständige, sondern nur eine negativ, abgrenzende Funktion zu: diese Prinzipien seien als Abgrenzungstopoi des Schadensprinzips selbst zu verstehen. 283 Den Begriff der Schädigung definiert Papageorgiou zunächst im Anschluß an Feinberg als Beeinträchtigung von Interessen?84 Interessen sind nach Papageorgiou die begründende Basis moralischer und rechtlicher personale~85 Ansprüche und Verpflichtungen?86 Eine in diesem Sinne als Schädigung anzusehende Interessenbeeinträchtigung liege - so Papageorgiou - weder in der Nichterfüllung subjektiver Zwecksetzungen (Wünsche, Neigungen etc.)287 noch in der bloßen objektiven SChlechterstellung,288 noch in der Nichtverwirklichung eines Entwicklungsinteresses (wie z. B. ein guter Musiker oder Sportler zu werden).289 Unter Anlehnung an die Vorarbeiten Feinbergs definiert Papageorgiou den Begriff des strafrechtlich relevanten Schadens zunächst als Beeinträchtigung von Wohlfahrtsinteressen, d. h. als Beeinträchtigung der - in der konkreten Ausgestaltung vom jeweils gegebenen sozialen Umfeld abhängigen 290 - Grundvoraussetzungen zur Verwirklichung individueller Lebensplanungen. 291 Abweichend von der Konzeption Feinbergs, dem er einen zu flachen, allein an der Beeinträchtigung äußerlich verletzbarer, substanzhafter Entitäten orientierten Schadensbegriff vorwirft,292 ersetzt Papageorgiou den Begriff des Wohlfahrtsinteresses letztlich dann durch den des Sicherheitsinteresses. 293 Zwar sollen auch Sicherheitsinteressen eine fundamentale Rolle für das Entwicklungsanliegen der Individuen haben, aber: ,,Ihr Anspruchskern besteht im Gegensatz zu den Wohlfahrtsinteressen nicht in der Leistung eines bestimmten Wohlfahrtsniveaus, sondern lediglich in der symbolisch manifestierbaren Achtung gegenüber gewissen Positionen, deren symbolische Unverbrüchlichkeit (SicherPapageorgiou, Schaden, S. 89 f. Papageorgiou, Schaden, S. 104/105. 285 Personale Wesen sind nach Papageorgiou Wesen, die über Selbstbewußtsein verfügen, die Wirklichkeit rational erfassen und mit anderen durch das Medium der Sprache kommunizieren, sich Ziele setzen und demgemäß auch handeln können (vgl. Papageorgiou, Schaden, S. 107, 185 ff.). 286 Papageorgiou, Schaden, S. 106/107. 287 Papageorgiou, Schaden, S. 111 ff. 288 Papageorgiou, Schaden, S. 116 f. 289 Papageorgiou, Schaden, S. 119 ff., 152. 290 Vgl. Papageorgiou, Schaden, S. 153,215. 291 Vgl. Papageorgiou, Schaden, S. 131 ff. 292 Vgl. Papageorgiou, Schaden, S. 139 ff., 156. 293 Papageorgiou, Schaden, S. 156. 283

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heit) eine notwendige Bedingung zur Konzipierung und Entfaltung eines würdigen Lebens ist. ,,294 Welche Verhaltensweisen als Beeinträchtigung der unerläßlichen Voraussetzungen für die Umsetzung der autonomen Konzeption eines "guten" Lebens als Beeinträchtigung von Sicherheitsinteressen und deshalb als strafwürdig anzusehen seien, lasse sich nicht apriori und ein für allemal sagen, sondern sei "eine Frage des kulturellen Zusammenhangs", wobei auf der Hand liege, daß hier "gewisse quantitative Kriterien, wie etwa die von Winfried Hassemer vorgeschlagenen Kategorien der Häufigkeit einer Interessenverletzung, der Bedarfsintensität des verletzten Guts und der gesellschaftlich wahrgenommenen Bedrohungsintensität der Verletzung ausschlaggebend sein dürften".295 Eine dem normativen Prozeß der Konstituierung von Sicherheitsinteressen vorgegebene inhaltliche Beschränkung will Papageorgou allerdings durch die den Sicherheitsinteressen gegenübergestellte Kategorie der Freiheitsinteressen erreichen. 296 Das Freiheitsinteresse fordere, die im Hinblick auf die Anerkennung der Autonomie der Person als oberster Wert elementaren Bedingungen der Authentizität einer individuellen Lebensplanung zu gewährleisten. 297 Zwar sei auch die konkrete Ausgestaltung des Freiheitsinteresses kontextabhängig; an der grundsätzlichen Notwendigkeit, die Autonomie der Person - verstanden als Urheberschaft über den eigenen Lebensplan - jedenfalls im Grundsatz zu gewährleisten, ändere dies nichts 298 - jedenfalls nicht für eine Gesellschaft, die es grundsätzlich dem einzelnen selbst überlassen will, zu entscheiden, was er unter einem "guten" oder "würdigen" Leben zu verstehen hat?99 Wie bereits oben angedeutet, erkennt Papageorgiou weder das Belästigungsprinzip ("offense-principle,,)3oo noch - insoweit in voller Übereinstimmung mit Feinberg - paternalistische oder moralistische Prinzipien 301 als eigenständige Kriminalisierungsgründe an. Die von Feinberg über das offense-principle erfaßten Belästigungen will Papageorgiou erst und nur dann als Kriminalisierungsgrund anerkennen, wenn hiervon Interessen betroffen werden, die unter normativen Gesichtspunkten als dem Zugriff Dritter entzogene Sicherheitsinteressen anerkannt sind. Beispielhaft nennt er das Interesse an der Achtung der Persönlichkeit (Ehre) und das Interesse an der Herrschaft bzw. Kontrolle über den privaten Bereich (Hausrecht).302 Hinsichtlich paternalistischer bzw. moralistischer Erwägungen vertritt Papageorgiou, Schaden, S. 156. Papageorgiou, Schaden, S. 156/157. 296 Vgl. Papageorgiou, Schaden, S. 158 ff. 297 Vgl. Papageorgiou, Schaden, S. 163 ff. 298 Vgl. Papageorgiou, S. 165 ff. 299 Zum Charakter des Freiheitsinteresses als quasideontologische Sperre gegenüber den konsequentialistischen Sicherheitsinteressen vgl. Papageorgiou, Schaden, S. 159 ff. 300 Papageorgiou, Schaden, S. 263 ff. 301 Zum Paternalismus als Pönalisierungsgrund vgl. Papageorgiou, Schaden, S. 216 ff.; zum Moralismus vgl. a. a. 0., S. 243 ff. 294 295

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

Papageorgiou einen differenzierten Standpunkt: Ausgehend von der Prämisse, daß strafrechtliche Normen nicht die Aufgabe haben (können), empirisch-feststellbare Schäden abzuwenden, sondern vielmehr die für die Identität eine Gesellschaft grundlegenden Wertvorstellungen und Überzeugungen durch symbolische Reaktionen kontrafaktisch stabilisieren sollen,303 kommt er zu dem Ergebnis, daß die Beeinträchtigung von Sicherheitsinteressen nur der äußere Anlaß für das Eingreifen strafrechtlicher Normen darstellt, der eigentliche Grund der Sanktionierung aber darin besteht, die grundlegenden Wertentscheidungen einer als verbindlich postulierten Moralität der Gesellschaft zu schützen. 304 Allerdings gelte auch hier: "Welche Verhaltensweisen nun das symbolische Gewicht einer moralischen Verletzung dieser Wertungen in sich tragen, bleibt freilich eine kontingente Frage (und ein Ergebnis fairen moralischen Arguments).,,305 Vergleicht man die von Papageorgiou selbst als Versuch einer Theorie der strafrechtlichen Moralität verstandene Konzeption mit dem von Feinberg entwickelten System, ergeben sich geringere Differenzen als dies wohl von Papageorgiou selbst angenommen wird. Soweit Papageorgiou gegenüber Feinberg den Vorwurf erhebt, dessen Schadensbegriff vernachlässige die im Hinblick auf die Funktion strafrechtlicher Normen relevanten normativen Aspekte, scheint Papageorgiou zu übersehen, daß die Berücksichtigung normativer Gesichtspunkte in der Konzeption Feinbergs dadurch sichergestellt wird, daß eine strafrechtlich relevante Schädigung erst dann gegeben ist, wenn eine oder mehrere Personen durch ein Verhalten in ihren Wohlfahrtsinteressen beeinträchtigt und gleichzeitig noch in ihren Rechten verletzt werden. Da dies nach Feinberg auch für das offense-principle gilt, unterscheiden sich beide Konzeptionen letztlich allein darin, daß Papageorgiou die normativen Gesichtspunkte in den Begriff des Schadens hineinzieht, während Feinberg diese als eine eigenständige Komponente der strafrechtlich relevanten Schädigung / Belästigung versteht. Zuzugeben ist Papageorgiou, daß die von Feinberg vorgenommene Aufspaltung in zwei Komponenten zu Schwierigkeiten bei der Beeinträchtigung nicht gegenständlich-substanzhafter (Wohlfahrts- bzw. Sicherheits-)Interessen führt, da es hier an einem faktisch beeinträchtigungsfähigen Tatobjekt fehlt.

4. Kriterien zur Bestimmung strafrechtsfreier Sphären Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist es, die Frage zu beantworten, ob in einer modemen pluralistischen. Gesellschaft eine wie auch immer abzugrenzende, 302 Papageorgiou, Schaden, S. 269. In dieser Richtung wohl auch MacCormick, Disestablishment. S. 220; vgl. auch Marshall, Feminism, S. 387: Der durch Pornografie hervorgerufene ,,harm" resultiere aus der Erniedrigung der Frau zum Objekt. . 303 Vgl. Papageorgiou, Schaden, S. 254 f. 304 Vgl. Papageorgiou, Schaden. S. 256 f. 305 Papageorgiou. Schaden, S. 254.

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dem staatlichen Zugriff entzogene (strafrechtsfreie) Sphäre existiert. Es geht also nicht darum, positiv zu begründen, daß und welche Verhaltensweisen legitimerweise durch den Gesetzgeber pönalisiert werden dürfen, sondern darum, ob und wenn ja hinsichtlich welcher Verhaltensweisen eine Pönalisierung von vornherein als nicht gerechtfertigt begründet werden kann. Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, den von Feinberg und Papageorgiou verfolgten Ansatz auf den Kopf zu stellen, d. h.: Es wird nicht zunächst untersucht, welche Prinzipien eine Pönalisierung grundsätzlich zu legitimieren vermögen, um dann hiervon Prinzipien abzugrenzen, die dies nicht vermögen; Ausgangspunkt ist vielmehr die Frage, ob es Prinzipien gibt, die - jedenfalls in einer auf der Autonomie des Individuums aufbauenden pluralistischen Gesellschaft - eine Pönalisierung nicht zu rechtfertigen vermögen. Entscheidend ist dann, ob diese Negativprinzipien tatsächlich zu einer strikten Beschränkung des gesetzgeberischen Ermessens und damit zur Konstituierung einer eingriffsfesten Sphäre führen (können). Als potentielles Negativkriterium drängt sich der Moralismus auf. 306 Wie die vorstehenden Ausführungen gezeigt haben, lehnen nicht nur die Vertreter des auf Mill zurückgehenden harm-principle (Feinberg, Papageorgiou),307 sondern auch die Vertreter der Rechtsgutslehre (Roxin, Rudolphi) eine moralistische Legitimation strafrechtlicher Normen ab. Der Sache nach entspricht dieser Ansatz der maßgebend auf Kant zurückgehenden Unterscheidung von Legalität und Moralität, derzufolge Regelungsgegenstand des Rechts von vornherein allein der Bereich der äußeren Freiheit sein kann. 308 Daß in einer modemen pluralistischen Gesellschaft bloße Gesinnungen, Überzeugungen und Wertvorstellungen nicht allein um ihrer selbst willen pönalisiert werden dürfen, steht also einerseits außer Streit;309 andererseits stellt sich aber die Frage, ob mit dem Verbot der Pönalisierung reiner Moralwidrigkeiten um ihrer selbst willen nicht ein Gegner bekämpft wird, der gar nicht (mehr) existent ist. Jedenfalls die modemen Befürworter der Pönalisierung unsittlicher oder sonstwie moral widriger Verhaltensweisen begründen ihre Forderung nach einer Pönalisierung derartiger Verhaltensweisen nämlich allenfalls noch vordergründig mit der Moralwidrigkeit der Handlungen selbst; neben diese oft wohl eher aus rhetorischen Gründen in den Vordergrund geschobene Argumentation treten dann stets konsequentualistische Argumente: Befürchtet wird eine Beunruhigung der Personen, die von dem unmoralischen Tun Kenntnis erlangen, hieraus möglicherweise resultierende Störungen des öffentlichen Friedens und schlimmstenfalls - eine Desintegration der gesamten Gesellschaft. 310 Auch unter Vgl. Forster, ZSR NF 114 (1995),11., 1,49. Vgl. auch Eser, Duquesne University Law Review 4 (1966), 345, 367 f. 308 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 324, 337; vgl. hierzu: Kersting, Freiheit, S. 97 ff.; Kühl, Unterscheidung, S. 172; ders., Festschrift für Spende!, S. 80 ff. 309 Vgl. statt aller: Graven, L'infraction, S. 4; Riklin, StrafR AT I, § 4 Rdnr. 5 sowie Hurtado Pozo, Partie generale, Rdnrn. 44 f., mit dem Hinweis darauf, daß der Versuch, Moralvorstellungen mit den Mitteln des Strafrechts verbindlich vorzuschreiben, ein tyrannisches System zur Folge habe. 306 307

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

Zugrundelegung der Kantischen Unterscheidung von Legalität und Moralität ist lediglich der direkte Zugriff auf die Gesinnung als solche unstatthafe ll - Verhaltensweisen, die Ausdruck einer Gesinnung sind, und die Grenzen der äußeren Freiheit überschreiten, können dagegen sehr wohl Gegenstand rechtlicher Regelungen sein.

a) Der "echte" Strafrechtsmoralismus Als Beispiel für eine unmittelbar-moralistische Strafrechtsbegründung wird gemeinhin zum einen auf die Entscheidung des Großen Senats des Bundesgerichtshofes vom 17. Februar 1954 zu den Kuppeleidelikten der §§ 180, 181 dStGB a.F. sowie zum anderen auf die Ausführungen verwiesen, mit denen Patrick Devlin 1958 im Rahmen seiner ,,Maccabaean Lectures in Jurisprudence" vor der British Academy die grundsätzliche Legitimität der Pönalisierung moral widrigen Verhaltens verteidigt hat.

aa) Die Bezugnahme auf ein zeitlos-gültiges Sittengesetz

Der Große Senat des Bundesgerichtshofes hatte in der genannten Entscheidung die Frage zu entscheiden, ob der Geschlechtsverkehr zwischen Verlobten als "Unzucht" zu bewerten sei. Der Senat ist der Auffassung, daß grundsätzlich auch der geschlechtliche Verkehr zwischen Verlobten als "Unzucht" anzusehen sei. 312 Zur Begründung beruft er sich auf die Normen des Sittengeseztes. Diese "gelten aus sich selbst heraus; ihre (starke) Verbindlichkeit beruht auf der vorgegebenen und hinzunehmenden Ordnung der Werte und der das menschliche Zusammenleben regierenden Sollenssätze; sie gelten unabhängig davon, ob diejenigen, an die sie sich mit dem Anspruch auf Befolgung wenden, sie wirklich befolgen und anerkennen oder nicht; ihr Inhalt kann sich nicht deswegen ändern, weil die Anschauungen über das, was gilt, wechseln".313 Nach Auffassung des Senats kann es "nicht zweifelhaft sein, daß die Gebote, die das Zusammenleben der Geschlechter und ihre geschlechtlichen Beziehungen grundlegend ordnen und die dadurch zugleich die gesollte Ordnung der Ehe und der Familie (in einem entfernteren Sinne auch die des Volkes) festlegen und verbürgen, Normen des Sittengesetzes sind und nicht bloße 310 Zu den Schwierigkeiten, einen "echten" Strafrechtsmoralisten zu finden vgl. auch Papageorgiou, Schaden, S. 257 ff.; zur Schwierigkeit der Bestimmung "bloßer" Moralwidrigkeiten vgl. Appel, Verfassung, S. 355 f. 311 Vgl. Kühl, Unterscheidung, S. 146 f.; ders., Festschrift für Spende!, S. 84. 312 Etwas anderes soll nur dann gelten, wenn die Verlobten ernsthaft zur Ehe entschlossen sind, der Eheschließung aber zwingende Hindernisse entgegenstehen, die von den Verlobten nicht zu verantworten sind und in absehbarer Zeit nicht behoben werden können; vgl. BGHSt 6,46,54 f. 313 BGHSt 6, 46,52; zustimmend Weinkauff, NJW 1960, 1689, 1691.

IV. Grenzen der Strafgewalt im pluralistischen Staat

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dem wechselnden Belieben wechselnder gesellschaftlicher Gruppen ausgelieferte Konventionsregeln.,,314 Hieraus folgert der Senat sodann: "Die sittliche Ordnung will, daß sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich in der Einehe vollziehe, weil der Sinn und die Folge des Verkehrs das Kind ist. Um seinetwillen und um der personhaften Würde und der Verantwortung der Geschlechtspartner willen ist dem Menschen die Einehe als Lebensform gesetzt. Nur in der Ordnung der Ehe und in der Gemeinschaft der Familie kann das Kind gedeihen und sich seiner menschlichen Bestimmung gemäß entfalten. Nur in dieser Ordnung und in dieser Gemeinschaft nehmen sich die Geschlechtspartner so ernst, wie sie es sich schulden. Gerade weil die naturhaft nächste Beziehung der Geschlechter so folgenreich und zugleich so verantwortungsbeladen ist, kann sie sich nur in der ehelichen Gemeinschaft zweier einander achtender und einander zu lebenslanger Treue verpflichteter Partner sinnvoll erfüllen. Indem das Sittengesetz dem Menschen die Einehe und die Familie als verbindliche Lebensform gesetzt und indem es diese Ordnung auch zur Grundlage des Lebens der Völker und Staaten gemacht hat, spricht es zugleich aus, daß sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich nur in der Ehe vollziehen soll und daß der Verstoß dagegen ein elementares Gebot geschlechtlicher Zucht verletzt."315 Unabhängig davon, daß einige Passagen der Entscheidungsgründe dahingehend interpretiert werden können, daß es dem Großen Senat implizit (auch) um das Wohl des Kindes gegangen sei,316 wird man die Entscheidung letztlich doch so verstehen müssen, daß der Große Senat tatsächlich meinte, auf ein von den sich wandelnden gesellschaftlichen Überzeugungen abgehobenes, zeitlos gültiges (objektives) ,,sittengesetz" zurückgreifen zu können?1? Im Gegensatz zu autoritären bzw. dogmatisch-totalitaristischen Gesellschaften, bei denen sich die (zumindest: partielle) Identität von Recht und Moral als ein bestimmender Teil der gesellschaftlichen Grundstruktur darstellt,318 ist der Ansatz, bestimmte Vorstellungen eines moralisch "richtigen" Verhaltens für die Gesellschaft verbindlich festzuschreiben, für eine pluralistische Gesellschaft, deren moralischer Grundkonsens ja gerade darin besteht, daß - in den Grenzen des Rechten (Rawls) bzw. der äußeren Freiheit (Kant)319 - eine Vielzahl verschiedener Konzeptionen des "Guten" nebeneinander bestehen sollen,32o von vornherein unannehmbar. Hinzu kommt, daß nicht ersichtBGHSt 6, 46, 53; vgl. auch Weinkauff, NJW 1960, 1689, 1691. BGHSt 6, 46, 53 f. 316 Vgl. hierzu Papageorgiou, Schaden, S. 258 f. 317 Bestätigt wird diese Interpretation durch die Entscheidung BGHSt 6, 147, 153, in der der Große Senat die Verpflichtung zur Abwendung eines Selbstmordes ebenfalls aus einem vorgegebenen Sittengesetz abgeleitet hat; vgl. auch Arthur Kaufmann, JuS 1978,361,362. 318 Vgl. Feinberg, Vol. 4, S. 39 Fußn. 2; Arthur Kaufmann, JuS 1978,361,363. 319 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 337. 320 Vgl. Dworkin, Bürgerrechte, S. 439 sowie umfassend Rawls, Idee, S. 364 ff., ders., Politischer Liberalismus, S. 266 ff., der im übrigen auch immer wieder darauf hinweist, daß das Faktums des Pluralismus nicht als Manko aufzufassen ist, sondern als eine zwingende Kon314 315

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

lich ist, wie der konkrete Gehalt des objektiven Sittengesetzes überhaupt bestimmt werden soll. Will man - was der Senat ja ausdrücklich abgelehnt hat - nicht auf die Vorstellungen bestimmter (welcher?) gesellschaftlicher Gruppen abstellen, läuft dieser Ansatz letztlich darauf hinaus, daß die persönlichen Wertvorstellungen des zur Bestimmung der Wert- bzw. Moralvorstellungen berufenen Organe der Legislative bzw. Judikative die für eine Gesellschaft "gültigen" Maßstäbe bestimmen. Die Vorstellung eines zeitlos-gültigen Sittengesetzes ist nicht nur durch die nachfolgende Reform der Sittlichkeitsdelikte in praktischer Hinsicht widerlegt worden; auch der Bundesgerichtshof geht nunmehr davon aus, daß die Vorstellungen darüber, was mit dem Grundbestand der für die Gemeinschaft verbindlichen Wertvorstellungen nicht mehr vereinbar ist, einem Wandel unterliegt?21 Festzuhalten bleibt: Da es ein allgemein und zeitlos gültiges Sittengesetz nicht gibt,322 kann die Pönalisierung von Verhaltensweisen auf diesem Wege nicht legitimitert werden. bb) Der Schutz zentraler Wertvorstellungen als Schutz der Gesellschaft

Ausgangspunkt der Überlegungen Devlins ist die Prämisse, die Koexistenz von Individuen innerhalb einer Gesellschaft sei an ein Mindestmaß allgemein anerkannter Wertvorstellungen gebunden,323 was zur Konsequenz hat, daß zumindest der Schutz der für eine bestimmte Gesellschaftsform zentralen Wertvorstellungen nicht nur dem Schutz von Moralvorstellungen um ihrer selbst willen dient, sondern vielmehr auf den Erhalt des gesellschaftlichen status quo abzielt und aus diesem Grunde - und in diesem Rahmen - als legitim anzusehen sein soll.324 Abgesehen davon, daß dieser Ansatz ersichtlich über den Schutz bloßer Moralwidrigkeiten um ihrer selbst willen hinausgeht, tatsächlich also wohl schon nicht mehr als Versuch der Begründung eines "echten" Strafrechtsmoralismus zu interpretieren ist,325 stellt sich die Frage, anhand welcher Kriterien man schlicht-moralische Positionen von den für eine Gesellschaft zentralen Wertvorstellungen bzw. Überzeugungen abschichten kann, deren Beeinträchtigung öffentliche Interessen sequenz der Bürden der Vernunft (Rawls, Idee, S. 336 ff.; ders., Politischer Liberalismus, S. 127 ff., 134 ff.; vgl. auch Köhler, StrafR AT, S. 16; Wolff, Abgrenzung, S. 185). 321 BGHSt 23, 40, 42 f.; 23, 240, 243; 24, 318, 319; vgl. auch EGMR, NJW 1984,541, 543 sowie Arthur Kaufmann, JuS 1978,361,362. 322 Vgl. Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 34. 323 DevIin, Enforcement, S. 10, 114; vgl. auch Feinberg, Vol. 4, S. 135 f.; Hart, Morality, S. 48, 51; Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 783; ders., Norm, S. 72 f.; Patzig, Ethik, S. 21; Postema, Ethics Vol. 97 (1986-87), 414, 421 ff.; Stratenwerth, StrafR AT, Rdnr. 63. 324 DevIin, Enforcement, S. 7 ff.; vgl. auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 346 f., 378; Frisch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 207; Jung, ZStW 100 (1988), 3,13; Lewisch, Verfassung, S. 224. m Vgl. Dworkin, Bürgerrechte, S. 393 f.; Kleinig, ARSP 65 (1979), 329, 333 sowie insbesondere Devlin, Enforcement, S. 17, wo deutlich wird, daß es DevIin um die Auswirkungen von Verhaltensweisen und nicht um deren Unmoral als solche geht.

IV. Grenzen der Strafgewalt im pluralistischen Staat

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berühren würde. 326 Der gerade in einer demokratisch strukturierten Gesellschaft zunächst naheliegende Rekurs auf das formale Kriterium der Vorstellungen und Überzeugungen der Mehrheit der Bevölkerung führt hier nicht weiter?27 Fraglich ist bereits, ob man die im Hinblick auf konkrete Problembereiche bestehenden Vorstellungen und Überzeugungen einer wie auch immer qualifizierten Mehrheit der Bevölkerung überhaupt mit hinreichender Sicherheit empirisch ermitteln kann. 328 Selbst wenn man dieses Problem praktisch lösen könnte, würde sich zwingend die weitere Frage stellen, unter welchen Voraussetzungen die Mehrheit einer Gesellschaft überhaupt berechtigt bzw. legitimiert ist, ihre partikulären Überzeugungen der Minderheit aufzuwingen. 329 Devlin selbst weicht dieser Problematik dadurch aus, daß er auf ein anderes Kriterium zurückgreift: die Orientierung an einer "common morality", deren Inhalt er mit den Auffassungen und Einstellungen des ,,reasonable man" bzw. der ,,rightminded person" gleichsetzen will. 33o Dem Einwand, daß es sich beim ,,Mann auf der Straße,,33) um ein beliebig manipulierbares Kunstprodukt handelt,332 hat Devlin dadurch zu entkräften versucht, daß er ihn - was aufgrund seiner richterlichen Tätigkeit naheliegend erscheint - mit dem Idealtyp des Geschworenen ("the man in the jury box") identifiziert. 333 Auch diese Erläuterung kann indes nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich hier nur um einen virtuellen Geschworenen handeln kann, so daß auch dieser Ansatz letztlich wieder darauf hinauslaufen würde, daß die subjektiven Wert- bzw. Moralvorstellungen dessen, der eine Entscheidung zu fällen hat, als die für die Gesellschaft "gültigen" Wert- bzw. Moralvorstellungen des "reasonable man" ausgegeben werden. Selbst wenn man sich auf den Standpunkt stellen würde, daß die für die Gesellschaft maßgeblichen Wertvorstellungen und Überzeugungen mit den - wie auch immer festgestellten bzw. festgelegten - vorherrschenden Moralvorstellungen identisch sind, wäre weiterhin erklärungsbedürftig, warum dem Wandel gesell326

39.

Die Notwendigkeit dieser Unterscheidung betont zu Recht Jung, ZStW 100 (1988), 3,

Vgl. Hoerster, ZStW 82 (1970), 538, 547 f. Ablehnend: Hart, Morality, S. 63, 68; vgl. auch Dworkin, Bürgerrechte, S. 219, sowie oben S. 169 f. 329 Kritisch hierzu: Dworkin, Bürgerrechte, S. 219 f., 237 ff.; Feinberg, Vol. 4, S. 52; Hart, Morality, S. 77 ff.; Pawlowski, ARSP-Beiheft 44 (1991),260,267; allgemein zur Problematik der Mehrheitsregel: Rawls, Theorie, S. 392 ff. 330 Devlin, Enforcement, S. 15; vgl. auch S. IX ("average Englishman"). 331 Auch diese Umschreibung wird von Devlin selbst benutzt: Devlin, Enforcement, S. 15 ("the man in the street"); vgl. auch a. a. 0., S. 90: "the ordinary man". 332 Vgl. Ashworth, Principles, S. 43 f.; Charlesworth, Leben, S. 33 f.; Feinberg, Vol. 4, S. 137 f.; Hoerster, ZStW 82 (1970), 538, 540 f. 333 DevIin, Enforcement, S. 15: "For my purpose I should like to call hirn the man in the jury box, for the moral judgement of society must be something about wh ich any twelve men or women drawn at random might after discussion be expected to be unanimous." Vgl. auch a. a. 0., 90 ff. 327 328

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

schaftlicher Wertvorstellungen (mit den Mitteln des Strafrechts) entgegenzutreten ist. Devlin ist der Auffassung, daß eine Gesellschaft das Recht habe, sich gegen Verhaltensweisen zu wehren, die die für die Gesellschaft konstitutiven Wertvorstellungen angreifen und damit - entweder direkt oder als Konsequenz eines über mehrere Stufen der Desintegration verlaufenden Aufweichungsprozesses - letztlich die Existenz der Gesellschaft selbst bedrohen. 334 Auch dieser Gedankengang vermag nicht zu überzeugen: Zum einen ist bereits nicht ersichtlich, daß der von Devlin behauptete Domino-Effekt überhaupt als gegeben angenommen werden kann. 335 Zum zweiten verkennt Devlin, daß die Existenz einer Gesellschaft kein Selbstzweck ist. Sieht man die Funktion einer Gesellschaft aber darin begründet, den Mitgliedern der Gesellschaft einen Rahmen für die Entfaltung ihrer personalen Freiheit zur Verfügung zu stellen, führt weder die Propagierung abweichender Wertvorstellungen noch der faktische Wandel der in einer Gesellschaft vorherrschenden Wertvorstellungen zum Untergang der Gesellschaft, sondern lediglich dazu, daß sich die konkrete Form der Gesellschaft wandelt. 336 Da weder die Gesellschaft als solche noch die Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft als Gruppe einen Anspruch darauf hat, die als das Ergebnis einer historischen Entwicklung gerade bestehende Gestalt einer Gesellschaft - allein um ihrer selbst willen - auf ewig zu konservieren,337 kann sich die Schutzwürdigkeit von Wertvorstellungen nur aus den mit diesen Wertvorstellungen verbundenen Interessen der einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft ableiten. 338 Hieraus folgt: Die Strafwürdigkeit von Verhaltensweisen, die die in einer Gesellschaft bestehenden Wertvorstellungen in Frage stellen bzw. mit diesen nicht konform gehen, muß einerseits notwendigerweise durch eine Bewertung der jeweils in Frage stehenden gegensätzlichen Interessen ermittelt werden;339 andererseits muß die Bewertung des sozialen Wandels als positive oder negative Entwicklung notwendigerweise wieder vor dem Hintergrund der normativen Grundlagen der Gesellschaft erfolgen. 340

Devlin, Enforcement, S. 11, 13 f. Kritisch zu den empirischen Annahmen Devlins insbesondere: Feinberg, Vol. 4, S. 43, 136, 141, Hart, Morality, S. 51 ff.; Kleinig, ARSP 65 (1979), 329, 333; Papageorgiou, Schaden, S. 260 f.; zu den Anforderungen an eine auf Dammbruchargumenten (slippery-slope) basierende Argumentation vgl. Charlesworth, Leben. S. 51; Hegselmann, in: Hegselmann/ Merkei, S. 206 ff. sowie unten S. 324 f. 336 Papageorgiou, Schaden, S. 260 f. 337 Feinberg, Vol. 4. S. 52 ff.; Hart, Morality, S. 50 ff., 69 ff.; ders., Recht, S. 88 ff.; Hoerster, 'Z1ltW 82 (1970), 538, 554 ff.; vgl. auch Postema, Ethics Vol. 97 (1986-87), 414, 432; a.A. wohl Weinkauff, NJW 1960, 1689, 1696. 338 Vgl. Feinberg, Vol. 4, S. 56 ff. 339 Vgl. Frisch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 207 f. 340 Vgl. Feinberg, Vol. 4, S. 65 f. und Postema, Ethics Vol. 97 (1986-87), 414, 438, mit dem Hinweis darauf, daß auch der Liberalismus eine Konzeption von "public morality" darstellt. 334

335

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b) Der "unechte" Strafrechtsmoralismus Die Vertreter "unecht"-moralistischer KriminalisierungsbegfÜndungen wollen moral widriges Verhalten nicht im Hinblick auf eine bestimmten Verhaltensweisen innewohnende Unmoral unter Strafe stellen, sondern über die Pönalisierung den mit diesen Verhaltensweisen einhergehenden, als negativ eingestuften Außenwirkungen entgegenwirken. Moralwidriges Verhalten kann bei anderen Personen Reaktionen in einem Spektrum hervorrufen, das faktisch von einer bloßen (evtl. verblüfften oder auch indignierten) Kenntnisnahme bis hin zu heftigsten Abgrenzungs- und Bekämpfungsbemühungen reichen kann. 341 Für die nachfolgenden Ausführungen sollen zwei - in der sozialen Wirklichkeit regelmäßig ineinander verflochtene - Gesichtspunkte unterschieden werden: 342 Zum einen die Auswirkungen moralwidrigen Verhaltens auf die Interessen von Personen und zum anderen die Auswirkungen, die moralwidriges Verhalten für das gesellschaftliche Miteinander als solches haben kann. aa) Moralwidriges Verhalten als Beeinträchtigung des öffentlichen Friedens

Verbreitet wird die Störung des öffentlichen Friedens als das Kriterium angesehen, anhand dessen die Abgrenzung "reiner" Moralwidrigkeiten von strafrechtlich relevantem (moral widrigen) Verhalten vorzunehmen ist. Bei Roxin heißt es etwa: "Die Verweisung reiner Moralwidrigkeiten aus dem Strafrecht bedeutet nicht, daß nicht auch "Empfindungen" und dergleichen ggf. strafrechtlich geschützt werden dürften. Wer das weltanschauliche Bekenntnis eines anderen öffentlich beschimpft (§ 166), wer Leichtenteile wegnimmt (§ 168) oder öffentlich sexuelle Handlungen vornimmt (§ 183a), stört durch die empörte Erregung, die er dadurch bei dem Betroffenen oder der Allgemeinheit hervorruft, den öffentlichen Frieden, ohne den auch ein freiheitliches soziales System nicht bestehen kann.,,343 Gegen die Annahme, daß es sich bei der empörten Erregung der Betroffenen oder der Allgemeinheit um einen Gesichtspunkt handelt, der für sich gesehen PÖnalisierungsentscheidungen zu legitimieren vermag, sind indes Einwände zu erheben: Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß das bloße Abstellen auf das Faktum der 341 In der Literatur ist verschiedentlich erwogen worden, Gefühle bzw. seelische Zustände als Schutzgut strafrechtlicher Normen anzuerkennen (vgl. Schrag, Gefühl zustände, S. 26; Misch, Gefühle, S. 50; Rüping, GA 1977,299,304 f.). Als problematisch hat sich hierbei erwiesen, daß Gefühle weder standardisiert noch typisiert werden können, weshalb eine Beschränkung auf bestimmte Gefühle unumgehbar ist (vgl. Schrag, Gefühlzustände, S. 120 ff., 124; Misch, Gefühle, S. 50 f.). Dies bedeutet dann aber, daß es nicht um Gefühle an sich, sondern um das hinter den Gefühlen stehende "Etwas" geht. 342 Vgl. zu dieser Unterscheidung auch bereits Schrag, Gefühlszustände, S. 118. 343 Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 12.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

empörten Reaktion die Frage nach der Berechtigung der Empörung abschneiden und damit die Pönalisierungsentscheidungen des Gesetzgebers auf den Nachvollzug - gegebenenfalls auch vollkommen irrationaler344 - gesellschaftlicher Reaktionen reduzieren würde. 345 Dem insbesondere von Hassemer 346 und Jakobs 347 vorgetragenen Argument, ein gewisses Maß an Irrationalität sei als Grundfaktum einer nicht vollständig rationalen Gesellschaft zu akzeptieren und auch bei Kriminalisierungsentscheidungen in Rechnung zu stellen, kann allenfalls als Beschreibung des faktischen Ist-Zustandes anerkannt werden. 348 Im übrigen ist aber daran festzuhalten, daß auch in einer nur unvollkommen rational agierenden Gesellschaft eine Kriminalisierungsentscheidung durch Argumente gestützt werden muß und nicht durch den Verweis auf die faktisch gegebene Empörung einzelner Betroffener oder der Allgemeinheit legitimiert werden kann. 349 Eine derartige Verkürzung der Legitimationsanforderungen würde letztlich den Einwand des naturalistischen Fehlschlusses begründen. 35o Der Umstand, daß neben dem bloßen Faktum der Empörung auch die Berechtigung der Empörung bzw. die nonnative Berechtigung der desorientierenden Wirkung des die Empörung hervorrufenden Verhaltens entgegenzutreten, in die Pönalisierungsentscheidungen miteinbezogen werden muß, macht deutlich, daß der Begriff des öffentlichen Friedens nicht einen Zustand faktischer Ungestörtheit umschreibt, sondern den Zustand des Rechtsfriedens, d. h. der öffentliche Friede ist gestört, wenn Rechte bzw. Rechtspositionen nicht mehr gesichert bzw. in Frage gestellt sind. 351 Der öffentliche Friede hat damit aber keinen eigenständigen argumentativen Gehalt, sondern stellt nichts anderes dar als eine Leerfonnel für die Gesamtheit der in einer Gesellschaft (nonnativ) anerkannten Rechtspositionen. 352 344 Vgl. Papageorgiou, Schaden, S. 264 Fußn. 438 mit dem Hinweis darauf, daß bei diesem Ansatz auch das Verbot von eindeutig gesellschaftlich wertvollen Verhaltensweisen denkbar wäre. 345 Rawls, Theorie, S. 261 weist darauf hin, daß die Stärke von Gefühlen nichts mit Gerechtigkeit zu tun hat, sondern allein für die politische Umsetzbarkeit einer bestimmten Regelung von Bedeutung ist. 346 Hasserner, Theorie, S. 242 ff. 347 Jakobs, StrafR AT, 2/20. 348 Vgl. aber Kunz, Bagatellprinzip, S. 162 ff., der zu Recht darauf hinweist, daß die - im Grundsatz auch von ihm bejahte - Abhängigkeit des Strafgesetzgebers von dem in einer Gesellschaft vorhandenen Strafschutzverlangen keine absolute, sondern eine relative ist. 349 Dworkin, Bürgerrechte, S. 412 ff.; vgl. auch a. a. 0., S. 405, wo Dworkin zu Recht darauf hinweist, daß Empörung einer Grundlage bedarf, um als berechtigt anerkannt zu werden, nicht aber als bloße Faktum selbst Grundlage für normative Schlußfolgerungen sein kann. Zu Tabuverletzungen vgl. auch Feinberg, Vol. 4, S. 21. 350 Treffend Dworkin, Bürgerrechte, S. 390, mit dem Hinweis darauf, daß auch die Moral des größten Pöbelhaufens nicht - aus sich selbst heraus - zur verbürgten Wahrheit werden könne. 351 Vgl. Fischer, NStZ 1988,159,163; ders., GA 1989,445,451. 352 Fischer, Öffentlicher Friede, S. 599 f.; ders., NStZ 1988, 159, 163.

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Maßgebend für die Berechtigung der Pönalisierung kann nicht das bloße Faktum der in der Empörung zum Ausdruck kommenden Störung des inneren Gleichgewichts einzelner Personen bzw. von Gruppen innerhalb der Gesellschaft sein; entscheidend ist, ob die Empörung unter normativen Gesichtspunkten als berechtigt anzusehen ist, was dann zu bejahen ist, wenn durch das die Empörung hervorrufende Verhalten in der Gesellschaft anerkannte Rechtspositionen in einer nicht gerechtfertigten Art und Weise beeinträchtigt werden. 353 Beispielhaft kann insoweit auf eine Entscheidung des Bundesgerichts verwiesen werden, derzufolge Verhaltensweisen, die eine bestimmte religiöse Auffassung beschimpfen oder verspotten erst und nur dann strafrechtsrelevant sind, wenn es sich um schwerwiegende Beleidigungen bzw. Provokationen handelt, nämlich: um "auf Hohn und Schmähung ausgerichtete, durch Form und / oder Inhalt das elementare Gebot der Toleranz (Glaubens- und Kultusfreiheit) verletzende" Verhaltensweisen. 354 Hieraus folgt, daß nicht bereits die im Hinblick auf eine empörte Erregung Dritter oder der Allgemeinheit gegebene Gefahrdung des sozialen Friedens die Annahme strafwürdigen Unrechts zu tragen vermag,355 sondern die mit der Verhaltensweise verfolgten Interessen mit den Interessen anderer Gesellschaftsmitglieder abgewogen werden müssen, in ihren eigenen (abweichenden) Wertvorstellungen und Überzeugungen bzw. in der Integrität ihres Gefühlszustandes nicht beeinträchtigt zu werden. 356 Basis dieses Abwägungsprozesses sind notwendigerweise VorabAnnahmen zum maßgeblichen Grundkonsens der jeweiligen Gesellschaft, insbesondere im Hinblick auf die konkrete Ausgestaltung des Bereichs der jeder staatlichen und damit auch strafrechtlichen Einwirkung entzogenen (Privat-)Sphäre des Bürgers. 357 353 Vgl. Stratenwerth, Festschrift für Lenckner, S. 386; Zipf, NJW 1969, 1944: Friedensschutz als Existenzvoraussetzung für eine pluralistische Gesellschaft, d. h.: das Strafrecht steckt den äußeren Rahmen für weltanschauliche Auseinandersetzungen ab. 354 BG, Urteil des Kassationshofes vom 13. März 1986, in: Blätter für Zürcherische Rechtsprechung, 85 (1986), 97, 113. 355 Vgl. aber Rudolphi, in: SKStGB, Vor § I Rdnr. 11; ders., Festschrift für Honig, S. 165, der - unter Hinweis auf Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 346 ff. - die Pönalisierung von manifesten Verstößen gegen die in einer Gesellschaft tief institutionalisierten Kultumormen im Hinblick auf die Gefahr sonst drohender Selbsthilfemaßnahmen der Bevölkerung für legitim erachtet, gleichzeitig aber flir einen zurückhaltenden Umgang mit den Friedensschutzdelikten eintritt, da diesen die Gefahr immanent sei, daß der Gesetzgeber die Bürger bevormunde. 356 Vgl. Ashworth, Principles, S. 45 ff.; Frisch, in: Festschrift für Stree und WesseIs, S. 73 f.; Marx, Definition, S. 87; MerkeI, Strafrecht, S. 307 f., 420 f.; Schrag, Gefühlzustände, S. 124 f.; vgl auch Wasek, ZStW 99 (1987), 288, 302, der als Maßstab auf ein ,,moralisches Minimum" abstellen will, worunter er die elementaren moralischen Werte versteht, die im allgemeinen in der Gesellschaft nicht in Zweifel gezogen werden und deren Beachtung ohne besondere Entsagungen sowie ohne persönliche Gefahrdungen möglich ist. Kritisch gegenüber einem strafrechtlichen Schutz bestimmter Wertvorstellungen demgegenüber Seelmann, Festschrift für E. A. Wolff, S. 492 f., der nur den Schutz der Orientierungskompetenz als solcher für legitim erachtet. 357 Frisch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 207 f.; Jakobs, StrafR AT, 2121; Rudolphi, Festschrift für Honig, S. 160 f.; vgl. auch Stratenwerth, Festschrift für Lenckner, S. 389 f.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

bb) Moralwidriges Verhalten als Beeinträchtigung von Interessen

In der Strafrechtswissenschaft wird die dem strafrechtlichen Zugriff entzogene Privatsphäre verbreitet mit Aktivitäten "außerhalb der Öffentlichkeit" identifiziert. 358 Paradigmatisch für die Abgrenzung bloßer "private immorality" von strafrechtsrelevanter "public indecency" sind dann Differenzierungen der folgenden Art: "Homosexual intercourse between consenting adults in private is immoral according to conventional morality, but not an affront to public decency, though it would be both if it took place in public.,,359 Indes: Stellt man auf die durch ein mit den konventionellen Moralmaßstäben nicht zu vereinbarendes Verhalten hervorgerufene Empörung ab, läßt sich aus der Unterscheidung zwischen Verhalten in der Öffentlichkeit und Verhalten im Privatbereich ein qualitativer Unterschied nicht herleiten. Hart hat hierzu richtig festgestellt: "For offence to feelings, it may be said, is given not only when immoral activities or their commercial preliminaries are thrust upon unwilling eyewitnesses, but when those who strongly codemn certain sexual practices as immoral learn that others indulge in them in private. Because this is so, it is pointless to attend to the distinction between what is done privately and what is done in public.,,360 Da mit Ausnahme des rein geistigen Selbstgesprächs praktisch jede menschliche Aktivität soziale Auswirkungen hat bzw. - für den Handelnden nicht beherrschbar - haben kann,361 ist es verfehlt, die dem staatlichen Zugriff entzogene Sphäre mit dem gegenständlichen Bereich der eigenen Wohnung gleichzusetzen. Vielmehr muß die strafrechtsfreie Sphäre als die Sphäre verstanden werden, innerhalb derer es dem einzelnen erlaubt ist, sich unabhängig davon, daß sein Verhalten soziale Auswirkungen hat, allein seinen eigenen Wertmaßstäben gemäß zu verhalten. 362 Die Sphäre, innerhalb derer sich der einzelne betätigen kann, ohne die Verhaltenserwartungen Dritter in Rechnung stellen zu müssen, bestimmt sich notwendigerweise anhand normativer Maßstäbe. 363 Die Notwendigkeit einer normativ begründeten Abschichtung strafrechtsrelevanter Beeinträchtigungen von solchen Außenwirkungen, die die Betroffenen entweder eigenverantwortlich verarbeiten müssen oder die den Staat nur zu weniger gewichtigen Maßnahmen berechtigen, leitet sich im wesentlichen aus zwei Gesichtspunkten her: Zum einen hängen die Auswirkungen bestimmter Aktivitäten von einer Reihe kontingenter Faktoren ab. So kann beispielsweise vulgäres oder obszönes Verhalten von Dritten als bloße (unangenehme) Belästigung empfunden werden, es kann aber in Extremfällen auch zu phy358 359

542.

Vgl. z. B. Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 12 a.E. Hart, Morality, S. 45; vgl. auch Ashworth, Principles, S. 46; EGMR. NJW 1984,541,

Hart, Morality, S. 45. Vgl. von Hirsch, Harm Principle, S. 260; Jakobs, ZStW 89 (1977), I, 20; Papageorgiou, Schaden, S. 268 f. 362 Vgl Feinberg, Vol. 4, S. 134; Hart, Morality, S. 47. 363 Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 322 ff. 360

361

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sischem Leiden ("Schockschäden") führen. 364 Zum zweiten haben Verhaltensweisen neben Nahwirkungen auch Fernwirkungen. Beispielhaft: Der exzessive Konsum von Rauschdrogen bzw. anderen Suchtstoffen oder das Nichnragen eines Sicherheitshelmes beim Motorradfahren kann die Arbeitsfähigkeit des Konsumenten einschränken und seine Gesundheit beeinträchtigen. Hierdurch bedingt kann sich die Notwendigkeit von Rehabilitierungsmaßnahmen ergeben, deren Kosten dannneben der Kompensation der aus der Arbeitsunfahigkeit resultierenden (Steuer-) Mindereinnahmen - letztlich auf die anderen Mitglieder der Gesellschaft umgelegt werden. 365 Sowohl die Frage, ob derartige Fernwirkungen von Verhaltensweisen noch als strafrechtsrelevante Beeinträchtigungen Dritter anzusehen sind,366 als auch die weitere Fragestellung, welche seelischen Belastungen den unstreitig strafrechtsrelevanten Schädigungen anderer gleichzustellen sind, muß anhand normativer Maßstäbe entschieden werden, wobei dann im Ergebnis nicht ausgeschlossen ist, daß für Aktivitäten in der Öffentlichkeit andere Maßstäbe gelten als für Verhaltensweisen, die nicht in der direkten Öffentlichkeit stattfinden. 367 Verhaltensweisen, deren Pönalisierung von vornherein - d. h. auch ohne Abwägung der jeweils in Frage stehenden gegenläufigen Interessen - nicht in Betracht kommen kann, können nur solche Verhaltensweisen sein, deren soziale Auswirkungen - vor dem Hintergrund des jeweiligen gesellschaftlichen Grundkonsenses - keinerlei normatives Gewicht zukommt. Im Hinblick auf eine Gesellschaft, die sich als eine dem Grundsatz personaler Autonomie verpflichtete pluralistische definiert, ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, daß für die Identitätsstruktur einer solchen Gesellschaft das Nebeneinander verschiedener Konzepte sinnvoller Lebensgestaltung keinen Mangel darstellt, sondern vielmehr den Grundkonsens widerspiegelt. 368 Hieraus folgt: Dem Interesse des einzelnen, in einer seinen subjektiven Anschauungen entsprechenden homogenen Gesellschaft zu leben, kann von vornherein kein Gewicht zukommen. Der bloße Wunsch, in seinen Wertvorstellungen und Überzeugungen nicht durch abweichende Vorstellungen gestört oder beunruhigt zu werden, ist daher für sich gesehen strafrechtlich irrelevant. 369 AndererVgl. Jakobs, StrafR AT, 7/65. Vgl. Feinberg, Vol. 1, S. 221; ders., Vol. 3, S. 22 f.; von Hirsch, Harrn Principle, S. 275; Kleinig, ARSP 65 (1979), 329, 335 ff.; Papageorgiou, Schaden, S. 221 Fußn. 364. 366 Kritisch hierzu Ashworth, Principles, S. 44, mit dem Hinweis darauf, daß eine Einbeziehung von ,,remote harrn" zu einer enormen Ausdehnung des strafrechtlich relevanten Bereichs führen würde. Indes: Dies ist - jedenfalls für sich gesehen - kein Argument, sondern ein bloßes Faktum. 367 Vgl. Amelung, Rechsgüterschutz, S. 325 f.; DevIin, Enforcement, S. 19; Hart, Morality. S. 47/48; Papageorgiou, Schaden, S. 269/270. 368 Stratenwerth, Strafrechtsreform, S. 26; ders., StrafR AT, Rdnr. 63; vgl. auch Beck, Unrechtsbegründung, S. 102 f., der aufzeigt, daß die vom Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vorgegebene Entscheidung für eine pluralistische Demokratie auch im Bereich politischer Tätigkeit einer Pönalisierung nonkonformer Auffassungen entgegensteht. 369 Vgl. Feinberg, Vol. 4, S. 55 ff., 64; Papageorgiou, Schaden, S. 229 ff.; Rawls, Theorie, S. 490; ders., Politischer Liberalismus, S. 134 ff., 224 f. 364 365

18 Wohlers

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seits ist es aber auch nicht so, daß Verhaltensweisen, mit denen ein bestimmter Lebensstil propagiert und / oder umgesetzt wird, einer Kriminalisierung Stets und unter allen Umständen entzogen sind. Zum einen kann die Propagierung bzw. Umsetzung radikal unduldsamer Ideologien die Vertreter anderer Lebenskonzeptionen in ihren rechtlich anerkannten Interessen beeinträchtigen, wenn und soweit sie darauf abzielen, andere Überzeugungen aktiv kämpferisch auszuschließen. 37o Unabhängig hiervon kann auch die Art und Weise, in der beliebige Wertvorstellungen propagiert werden, bereits für sich gesehen mit den Grundsätzen einer pluralistischen Gesellschaft nicht zu vereinbaren sein. 371 Schließlich können die Folgen der Umsetzung eines Lebensstils andere Personen in ihren Rechten beeinträchtigen: Zum einen führt bereits die Endlichkeit der natürlichen Lebenswelt dazu, daß das Ausleben einer Lebensplanung Ressourcen verbraucht und Platz in Anspruch nimmt, wodurch andere Personen in der Möglichkeit der Entfaltung beeinträchtigt werden (können).372 Zum anderen kann die Umsetzung eines Lebensstils die Interessen anderer Personen dadurch beeinträchtigen, daß sich der einzelne der Mitwirkung an einer Gemeinschaftsaufgabe (beispielhaft: Steuerzahlung) entzieht. Festzuhalten bleibt: Eine Verhaltensweise kann Anlaß zur Pönalisierung geben, wenn die sozialen Auswirkungen des Verhaltens andere Personen in rechtlich geschützten Interessen beeinträchtigen. 373 Ob tatsächlich Anlaß zur Pönalisierung besteht, hängt davon ab, daß die sozialen Auswirkungen der zur Pönalisierung anstehenden Verhaltensweise die Einschränkung der Freiheit des Handelnden auch unter Berücksichtigung seiner Interessen als angemessen erscheinen lassen. 374 Un370 Vgl. Charlesworth. Leben, S. 35; Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 339 ff.; Rawls. Theorie. S. 246 ff.; ders .• Idee. S. 312 ff .• 364 ff.• 381 f.; ders .• Politischer Liberalismus. S. 268 f.. 309. Derartige Verhaltensweisen verlassen den für eine pluralistische Gesellschaft verbindlichen Rahmen des Rechten. da Pluralismus nicht mit Relativismus gleichgesetzt werden darf (vgl. Charlesworth. Leben. S. 10; Feinberg. Vol. 4 .• S. 305 ff .• 333 ff.; Rawls. Idee. S. 312 ff .• 364 ff.). sondern vielmehr - innerhalb bzw. für eine pluralistische Gesellschaft - der tolerante Umgang mit abweichenden Auffassungen seinerseits einen Grundwert darstellt (Charlesworth. Leben. S. 24 f .• 33 ff.; Feinberg. Vol. 4. S. 88. 108 ff.; Höffe. Staat. S. 112 ff.; Rawls. Idee. S. 306 ff.. 388 ff.). Kritisch zur Legitimität der politischen Kommunikationsdelikte im Hinblick auf die grundlegende Bedeutung der Kommunikation für eine freie Gesellschaft beispielsweise Jakobs. ZStW 97 (1985). 751. 781 ff.; grundSätzlich ablehnend auch Köhler. NJW 1985. 2389. 2390 f .• der die Auffassung vertritt. die Inkriminierung betimmter Gesinnungen (auch faschistischer) könne kein legitimer Gegenstand einer Pönalisierung sein ...insofern dadurch nicht tätig-entschlossen die rechtlich-äußere Freiheit anderer beeinträchtigt wird". 371 Erfaßt werden hier zum einen die auf Zwang oder Manipulation beruhenden. den Status des Individuums als autonome Person in Frage stellenden Verhaltensweisen. zum anderen aber auch die Beeinflussung von Jugendlichen oder anderen nicht voll verantwortlichen Personen. vgl. Ashworth. Principles. S. 44 f. 372 Vgl. hierzu Höffe. Gerechtigkeit. S. 325. 331 f.. 382; Kersting. Freiheit. S. 50 f. 373 Papageorgiou. Schaden. S. 269. 374 Vgl. Eser. Duquesne University Law Review 4 (1966).345.396 sowie 414; Feinberg. Vol. 1. S. 202 ff.; ders .. Vol. 2. S. 26 ff.; Trechsel/Noll. StrafR AT I. S. 26.

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ter weIchen Voraussetzungen die Beeinträchtigung bestimmter Interessen eine PÖnalisierung zu rechtfertigen vermag, kann nicht abstrakt entschieden werden, sondern muß für jede in Betracht zu ziehende Strafnorm gesondert geprüft werden. Fälle, in denen eine Abwägung der gegenläufigen Interessen nicht erforderlich ist, dürften im Rahmen praktischer Strafgesetzgebung eher die Ausnahme sein. 375

c) Das systemkritische Potential der Konzeption

Das die Freiheit des Gesetzgebers beschränkende systemkritische Potential einer auf die Abwägung gegenläufiger Interessen abhebenden Konzeption wird durch zwei Faktoren begrenzt: Zum einen - dies ist soeben dargelegt worden - hat in einer endlichen Welt notwendigerweise jede über den Bereich des forum internum hinausgreifende Verhaltensweise soziale Auswirkungen, die - jedenfalls mittelbar - individuelle oder kollektive Interessen anderer Mitglieder der Gesellschaft berühren. Dies hat zur Folge, daß eine per se "strafrechtsfreie" Sphäre praktisch nicht existent ist. Zum zweiten darf nicht verkannt werden, daß dem Gesetzgeber auch im Rahmen des Abwägungsprozesses nicht unerhebliche Freiräume verbleiben. Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, daß die Interessen, die letztlich gegeneinander abgewogen werden sollen, zunächst einmal definiert werden müssen. Ohne Frage hat der Gesetzgeber insoweit kein vollkommen freies Ermessen; bezogen auf eine der Konzeption des autonomen Individuums verpflichtete pluralistische Gesellschaft sind ihm in zweifacher Hinsicht Grenzen gesetzt: Zunächst können nur die Interessen als strafrechtlich relevante Interessen anerkannt werden, die sich innerhalb des normativen Rahmens der Gesellschaft halten. Wie bereits oben dargelegt wurde, hat dies für eine pluralistische Gesellschaft zur Konsequenz, daß Verhaltensweisen, die darauf abzielen, den Pluralismus als Grundstruktur der Gesellschaft zu bekämpfen, von vornherein keinem als legitim anzuerkennenden Interesse dienen können. Ebensowenig ist das Interesse an der Unterdrückung bestimmter Konzeptionen des Guten ein strafrechtlich legitimes Interesse - jedenfalls dann, wenn sich die bekämpfte Konzeption des Guten ihrerseits noch innerhalb des Rahmens der normativen Grundstruktur der pluralistischen Gesellschaft bewegt. Schließlich ist es ebenfalls kein anerkennenswertes Interesse, der eigenen Konzeption des Guten einen ungerechtfertigten Vorteil gegenüber anderen Konzeptionen des Guten verschaffen zu wollen. 376

375 Folgt man der Rechtsprechung des BVerfG. so beschränkt sich der jedem staatlichen Zugriff absolut entzogene "Kernbereich privater Lebensgestaltung" de facto auf Verhaltensweisen ohne jeden Sozialbezug (vgl. Paulduro, Verfassungsgemäßheit. S. 96/97,107,126). 376 Vgl. Papageorgiou, Schaden, S. 229 ff.; Rawls. Politischer Liberalismus, S. 135 f., 224 f., 289; Riklin, StrafR AT I, § 4 Rdnr. 15. sowie oben S. 273 f.

276

6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

Des weiteren resultieren Einschränkungen des gesetzgeberischen Ermessens aus der Konzeption des Bürgers als autonome Person. 377 Konkret bedeutet dies: Die personalen Interessen einer Person dürfen nicht gegen deren Willen geschützt werden. Wenn es darum geht, daß bestimmte Personen im Einzelfall mit einer Beeinträchtigung ihrer Interessen einverstanden sein können, kann dem durch die Zubilligung von Rechtfertigungsgründen angemessen Rechnung getragen werden. Sind dagegen Fallgestaltungen zu entscheiden, in denen es um die Pönalisierung selbstgefahrdenden Verhaltens als solches geht,· steht dem der Grundsatz volenti non fit inuria entgegen. Dies wurde bereits oben im Zusammenhang mit den Vorschriften des Betäubungsmittelstrafrechts im einzelnen ausgeführt. 378 Tatsächlich gehen die Auswirkungen des Grundsatzes aber noch weiter: Wenn es um Interessen anderer Personen geht, die an die des sich selbst Gefährdenden lediglich anknüpfen bzw. auf diesen aufbauen, können auch diese Interessen eine Pönalisierung nicht stützen, da anderenfalls der Grundsatz volenti non fit inuria praktisch ausgehebelt würde. 379 Bezogen auf das Beispiel des Betäubungsmittelstrafrechts bedeutet dies, daß das Interesse der Nicht-Konsumenten, die sozialen Folgen des Drogenkonsums nicht über erhöhte Steuern kompensieren zu müssen, ebensowenig als ein strafrechtlich relevantes Interesse anzuerkennen ist wie das etwaiger Unterhaltsberechtigter an der Gewährleistung der Arbeitsfähigkeit des sich seIbst Gefährdenden. 380 Auch wenn nach alledem von einem vollkommen freien Ermessen des Gesetzgebers keine Rede sein kann: daß ihm bei der Festlegung strafrechtlich relevanter Interessen insgesamt gesehen ein nicht unerheblicher Freiraum verbleibt, kann ebensowenig in Abrede gestellt werden, Hinzu kommt eine weitere Erwägung: Die Notwendigkeit, unendlich vielgestaltige Interessenlagen durch eine relativ überschaubare Zahl allgemeinverbindlicher Normen regeln zu müssen, macht es erforderlich, daß sich der Gesetzgeber sowohl im Hinblick auf die Definition der jeweils betroffenen Interessen als auch im Hinblick auf das Gewicht etwaiger Beeinträchtigungen dieser Interessen an einer - de facto gar nicht existenten - "standard person" und deren "standard interests" bzw. Vgl. oben S. 273 f. sowie Appel, Verfassung, S. 110 f., 517. Vgl.obenS.192ff. 379 Neumann, ARSP 1986, 118, 124; vgl. auch Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 172: Die Pönalisierung selbstgefahrdenden Verhaltens müsse auf Gemeinschaftsbelange gestützt werden, die mit dem durch die Selbstgefährdung betroffenen personalen Interesse nicht "teilidentisch" seien; sowie von Hirsch, Harm Principle, S. 262: Die Interessen müssen für sich gesehen die Kriminalisierung legitimieren können. Vor diesem Hintergrund kann dann z. B. das Interesse daran, daß ein UnterhaItsverpflichteter seine Arbeitskraft möglichst optimal einsetzt, nicht herangezogen werden. Die Rechtsprechung zur Strafbarkeit wegen Unterhaltspflichtverletzungen durch das Herbeiführen der Arbeitsunfähigkeit bzw. des Arbeitsplatzverlustes (vgl. hierzu: Lenckner, in: Schönkel Schröder, § 170b Rdnr. 27; Trechsel, SchwStGB, Art. 217 Rdnr. 13) wird diesen Grundsätzen nicht gerecht. 380 Insoweit a.A. wohl MilI, Freiheit, S. 112. 377

378

IV, Grenzen der Strafgewalt im pluralistischen Staat

277

"standard vulnerabilities" orientiert. 381 Beispielhaft bedeutet dies: Das Interesse des Eigentümers daran, daß die in seinem Eigentum stehenden Sachen nicht - zumindest nicht gegen seinen Willen - beschädigt werden, kann auch dann als ein strafrechtlich relevantes (Standard-)Interesse anerkannt werden, wenn es Personen gibt, die an persönlichem Eigentum kein Interesse haben und I oder die Institution des persönlichen Eigentums ablehnen. Entscheidend ist, daß die Institution des persönlichen Eigentums mit der normativen Grundstruktur der Gesellschaft zu vereinbaren ist,382 was man für eine kapitalistisch orientierte Gesellschaft westlicher Prägung bejahen, für eine kommunistisch bzw. real-sozialistisch orientierte Gesellschaft dagegen verneinen müßte. Weiterhin bedarf es der standardisierten Bewertung etwaiger Beeinträchtigungen. Wiederum beispielhaft: Unabhängig davon, daß verschiedene Menschen ein jeweils unterschiedlich definiertes Interesse daran haben, in ihrer körperlichen Integrität nicht beeinträchtigt zu werden, müssen die Maßstäbe, anhand derer eine strafrechtlich relevante Beeinträchtigung der Körperintegrität zu messen ist, abstrakt festgelegt werden. So kann beispielsweise der Strafrechtsschutz nicht nur auf akut wehrlose Personen beschränkt werden, sondern muß z. B. auch den körperlichen Angriff auf eine wehrhafte Person, etwa einen Kampfsportier, erfassen. Andererseits scheiden bestimmte, subjektiv möglicherweise als nicht unerhebliche Schädigung empfundene Beeinträchtigungen, wie z. B. psychische Verletzungen als Folge des rüden Benehmens einer anderen Person383 oder die den Eigentümerinteressen zuwiderlaufende bloße Verunstaltung der äußeren Gestalt eines Gegenstandes, dann als strafrechtlich relevante Schädigung aus, wenn diese nicht als Teil des jeweils abstrakt definierten (standardisierten) Interesses anerkannt werden. Schließlich müssen auch die Anforderungen an die Intensität einer im Grundsatz verpönten Einwirkung in gewissen Grenzen standardisiert werden. 384 Des weiteren ist zu berücksichtigen, daß sich die Abwägung nur in den wenigsten Fällen auf einen bloßen Vergleich der Wertigkeit der (standardisierten) Interessen und des Ausmaßes der zu erwartenden, in ihrer Bedeutung ebenfalls standardisierten Beeinträchtigungen beschränken kann. Denkbar ist dies von vornherein nur dann, wenn es um die Beeinträchtigung von Interessen geht, denen einerseits ein umfassender und andererseits ein von vornherein allein auf die Abwehr realer Beeinträchtigungen beschränkter Schutz gewährt wird. Da im geltenden Strafrecht, abgesehen von den Rechtsgüter des Lebens und der körperlichen Integrität, gemeinhin keinem Interesse ein umfassender Schutz gegen Beeinträchtigungen ge381 Vgl. Feinberg, Vol. I, S. 188, 192; ders., Vol. 2, S. 33 f.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 128; Papageorgiou, ARSP-Beiheft 51 (1993), 198,210; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 62. 382 Vgl. Eser, Duquesne University Law Review 4 (1966),345,396 f. und 414 f. 383 Zu diesem Beispiel: Feinberg, Vol. 1, S. 188/189. 384 Vgl. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 129 anhand des Beispiels der "Drohung". Zu den insoweit im Hinblick auf einen Gefühlsschutz auftretenden Problemen vgl. Schrag, Gefühlsschutz, S. 120 ff.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

währt wird,385 kommt es neben der Bestimmung des als strafschutzwürdig anerkannten Interesses entscheidend darauf an, in welchem Umfang und gegenüber welchen Angriffsarten Schutz gewährt werden soll.386 Mit anderen Worten: Die Legitimität eines Straftatbestandes kann nicht bereits dann bejaht werden, wenn feststeht, daß mit einer Strafnorm ein für sich gesehen wertvolles ,,Etwas" geschützt werden soll; maßgebend ist vielmehr, ob die vom jeweiligen Straftatbestand konkret erfaßten Verhaltensweisen im Hinblick auf das dem Straftatbestand zugrundeliegende Schutzgut legitimerweise pönalisiert werden dürfen. Beispielhaft: Die Legitimität der §§ 253, 263 dStGB / Art. 146, 156 schwStGB ist nicht an der Frage zu messen, ob das Vermögen ein schützenswertes Rechtsgut ist. Entscheidend ist, ob es legitim erscheint, auf täuschungsbedingte bzw. durch Nötigung mit Gewalt oder Drohung veranlaßte Selbstschädigungen mit dem Mittel strafrechtlicher Sanktionen zu reagieren. Daß die Legitimität eines Straftatbestandes neben der Bewertung des als grundsätzlich strafschutzwürdig anerkannten Interesses - dem "Ob" der Pönalisierungsentscheidung - entscheidend davon abhängt, in welchem Umfang und gegenüber welchen Angriffsarten - also "wie" - diesen Interessen strafrechtlicher Schutz gewährt werden soll, wird zwar im Grundsatz anerkannt. 387 Die Bedeutung des "Wie" des strafrechtlichen Schutzes ist bisher allerdings vornehmlich als Einwand gegen die Rechtsgutstheorie geltend gemacht worden. 388 Von den Vertretern der Rechtsgutstheorie selbst ist das "Wie" des strafrechtlichen Schutzes dagegen als eine neben der Bestimmung des Rechtsguts offenbar eher nachrangig angesehene Fragestellung weitgehend vernachlässigt worden. Allein Hassemer hat die eigenständige Funktion dieser - auch von il)m allerdings bezeichnenderweise mit dem eher abwertenden Begriff der "Schutztechnik" bezeichneten - Problematik einige Aufmerksamkeit gewidmet. Seine diesbezüglichen Ausftihrungen 389 bleiben jedoch in relativ allgemein gehaltenen Ansätzen stecken und beziehen sich dort, wo sie konkreter werden, auf Problemstellungen, die dem Allgemeinen Teil zuzurechnen sind, wie z. B. die Versuchsstrafbarkeit und die Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens. Daß es sich bei der Tatbestandsstruktur selbst um einen im Rahmen des Abwägungsprozesses mit eigenständigem Gewicht ausgestatteten Gesichtspunkt handeln 385 Jakobs, StrafR AT, 2/4, 23; Jenny, ZBJV 124 (1988), 393, 396; A.H. Meyer, Gefährlichkeitsdelikte, S. 180. 386 Eser, Duquesne University Law Review 4 (1966),345,399; Jakobs, StrafR AT, 2/23 f.; Jenny, ZBJV 124 (1988), 393, 397 f.; Maurach 1Zipf, StrafR AT, Teilbd. I, § 19 Rdnr. 7; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 115/116. 387 Jakobs, StrafR AT, 2/23 f.; Maurach/Zipf, StrafR AT, Teilbd. I, § 19 Rdnr. 7 sowie umfassend: Feinberg, Vol. I, S. 187 ff. 388 Vgl. Jakobs, StrafR AT, 2/4, 23; A.H. Meyer, Gefährlichkeitsdelikte, S. 180; Welzel, Strafrecht, S. 5. 389 Hassemer, Theorie, S. 204 ff., 215 f.; Schulz, Rechtsgut, S. 279; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 56.

V. Zwischenergebnis

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könnte, wird demgegenüber nicht vertieft. 39O Tatsächlich muß es aber einen grundlegenden Unterschied machen, ob ein Straftatbestand Verhaltensweisen erfaßt, die unmittelbar zu einer Beeinträchtigung des jeweils geschützten Interesses führen, oder aber Verhaltensweisen pönalisiert werden, die für sich gesehen noch nicht bzw. nicht notwendigerweise zu einer realen Beeinträchtigung des in Frage stehenden Interesses führen. 391 Eine Strafrechtsdogmatik, die sich mit der - gerade im Hinblick auf die Normen des "modemen" Strafrechts - unzureichenden Differenzierung zwischen Erfolgsdelikten einerseits und konkreten sowie abstrakten Gefährdungsdelikten andererseits zufriedengibt, fehlt es bereits an einer der Problematik angemessenen Systematik.

v. Zwischenergebnis Der Versuch, dem Anwendungsbereich strafrechtlicher Normen mit dem Instrumentarium der Rechtsgutstheorie allein Grenzen setzen zu wollen, hat sich als unzureichend erwiesen. Dem Rechtsgutsbegriff selbst fehlt ein eigenständiger materieller Gehalt. Ein kritisches Potential kommt der Rechtsgutstheorie deshalb nur dann und in dem Maße zu, in dem der Rechtsgutsbegriff normativ angereichert wird. Das systemkritische Potential und auch der liberale oder autoritäre Gehalt der Rechtsgutstheorie werden damit aber nicht durch den Rechtsgutsbegriff vorgegeben, sondern hängen von den Maßstäben ab, die von außen an die Rechtsgutslehre herangetragen und in diese integriert werden. Das eigenständige systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie beschränkt sich im übrigen darauf, aus den vom Gesetzgeber mit dem Erlaß einer Strafnorm verfolgten Zielsetzungen diejenigen auszufiltern, die sich vor dem Hintergrund der normativen Verständigung einer Gesellschaft als illegitim begründen lassen. Erweisen sich die Zielsetzungen, die der Gesetzgeber verfolgt als von vornherein illegitim, ist die entsprechende Strafnorm delegitimiert. Wie oben dargelegt, wird man dies bei den Normen des Betäubungsmittelstrafrechts sowie bei den Normen des ESchG und FMedG zumindest in Erwägung zu ziehen haben. 392 Erweisen sich die Zielsetzungen des Gesetzgebers dagegen als grundsätzlich legitim, hängt die Legitimität der in Frage stehenden Strafnormen entscheidend von der sich aus dem Verhältnis der jeweils erfaßten Verhaltensweisen zu dem als Rechtsgut geschützten "Etwas" ergebenden Deliktsstruktur ab. Beispielhaft: Sieht 390 Vgl. aber Schulz, Rechtsgut, S. 279, der eine Bestimmung der "angemessenen Schutzmodi" anmahnt, sowie Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 55; ders., Interdependenzen, S. 246 f., 252 ff.: Abzustellen sei auf die ,.Angriffswege". 391 So auch Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 90; vgl. auch von Hirsch, Harm Principle, S. 262 ff., der eine Ergänzung der "Standard-Harm-Analysis" durch ,,fair-imputative-principles" für erforderlich erachtet. 392 Vgl. oben S. 190 ff., 207 ff.

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6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität

man das Schutzgut der Straftatbestände der Gewässerverunreinigung (§ 324 dStGB I Art. 70 Abs. I lit. a und b GSchG) in der Erhaltung eines für das Überleben der Gatttung homo sapiens notwendigen Umweltmediums, kommt es entscheidend auf die Berechtigung des Gesetzgebers an, Verhaltensweisen zu pönalisieren, die überhaupt erst im Zusammenwirken mit anderen Verhaltensweisen zu einer im Hinblick auf das Überleben der Menschheit relevanten Beeinträchtigung führen können. Um die Problematik der Deliktsstruktur strafrechtlicher Normen - gerade des "modemen" Strafrechts - angemessen bewerten zu können, ist zunächst eine differenzierte Systematik der "Typen der Tatbestandsmäßigkeit" zu entwickeln. 393

393 In der Herangehensweise ist der Ansatz, auf Deliktstypen als Zwischenstufen zwischen den Einzeltatbeständen und dem aHgemeinen Verbrechensbegriff abzusteHen, dem Bemühen Erik Wolfs verpflichtet, aHgemeine Lehren des Besonderen Teils zu entwickeln, vgl. Wolf, Typen der Tatbestandsmäßigkeit, 1931. Kritisch zum Wert der Tatbestandslehre als "Al1gemeiner Teil des Besonderen Teils" Maurach/Zipf, StrafR AT, Teilbd. 1, § 20 Rdnr. 25.

7. Kapitel

Grenzen des Gefährdungsstrafrechts J. Dogmatik der Gefährdungsdelikte In der strafrechtsdogmatischen Diskussion wird der Unterscheidung verschiedener Deliktstypen gemeinhin eine in erster Linie systematisierende Funktion zuerkannt. Der Umstand, daß bestimmte Straftatbestände Verhaltensweisen erfassen, die unmittelbar eine Beeinträchtigung der jeweils geschützten Interessen zur Folge haben, während andere Straftatbestände Verhaltensweisen pönalisieren, die für sich gesehen noch nicht bzw. nicht notwendigerweise zu einer realen Beeinträchtigung der geschützten Interessen führen, schlägt sich vornehmlich in der Unterscheidung von Verletzungs- und Gefährdungsdelikten nieder: Während bei Verletzungsdelikten der Tatbestand Verhaltensweisen erfaßt, die eine direkte Beeinträchtigung des geschützten Interesses zur Folge haben, werden durch Gefährdungsdelikte Verhaltensweisen erfaßt, die nicht zu einer unmittelbaren Beeinträchtigung eines geschützten Rechtsguts(objekts) führen, sondern eine Situation begründen, aus der sich eine Beeinträchtigung entwickeln kann, nicht aber notwendigerweise entwikkeIn muß. 1 Innerhalb der Gefährdungsdelikte werden dann wiederum zwei Tatbestandskategorien unterschieden: Konkrete Gefahrdungsdelikte erfassen die Verhaltensweisen, bei denen das jeweils geschützte Interesse im Einzelfall zwar nicht notwendigerweise real beeinträchtigt, aber doch zumindest konkret gefährdet wird, während abstrakte Gefährdungsdelikte die Verhaltensweisen erfassen, denen "typischerweise die Herbeiführung einer konkreten Gefahr eigen" ist und "deren Strafwürdigkeit auf der generellen Gefährlichkeit der tatbestandsmäßigen Handlung für bestimmte Rechtsgüter beruht".2 Während bei den konkreten Gefährdungsdelikten 1 Vgl. Graven, L'infraction, S. 82 f.; Jescheck, in: LK, Vor § 13 Rdnr. 50; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 129; Maurach/Zipf, StrafR AT, Teilbd. 1, § 20 Rdnr. 29; Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 10 Rdnr. 122; Schroeder, ZStW Beiheft 1982,.1,2 f.; Schwander, ZStR 66 (1951), 440, 441/442; Stratenwerth, SchwStrafR AT I, § 9 Rdnr. 15; Trechsel/Noll, StrafR AT I, S. 68 f. 2 Brehm, JuS 1976, 22; eramer, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 306 ff. Rdnrn. 2 f.; Gallas, Festschrift für Heinitz, S. 183; Jakobs, StrafR AT, 6/78, 86; Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 264; Köhler, StrafR AT, S. 31; Ostendorf, JuS 1982,426; Saal, Straftat, S. 63; Schneider, Jura 1988,460,461; Schröder, ZStW 81 (1969),7; Schünemann, JA 1975,787, 793; Schwander, ZStR 66 (1951), 440, 442 und 450; Stratenwerth, StrafR AT, Rdnr. 212; ders., SchwStrafR AT I, § 9 Rdnr. 15; Trechsel/Noll, StrafR AT I, S. 69; Weber, ZStW

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7. Kap.: Grenzen des Gefahrdungsstrafrechts

die Erfüllung des Tatbestands an den Eintritt der Gefahrensituation im Einzelfall gebunden ist, der Eintritt des Gefahrerfolges also ein Tatbestandsmerkmal darstellt, ist die Gefahrlichkeit der pönalisierten Verhaltensweise beim abstrakten Gefahrdungsdelikt kein Tatbestandsmerkmal, sondern nur Grund bzw. Motiv für die Existenz der Strafnorm? Soweit es um die Bewertung der Legitimität konkreter Straftatbestände geht, wird gemeinhin das Verletzungsdelikt als der normative Grundtypus strafrechtlicher Normen gesehen,4 dessen Einsatz - wenn und soweit ein strafrechtlich schützenswertes Rechtsgut gegeben ist - keiner weitergehenden Legitimation bedürftig erscheint. 5 Diskutiert bzw. problematisiert werden in diesem Bereich allenfalls die von Hassemer als Probleme der "Schutztechnik" benannten Fragestellungen, wie insbesondere die Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes in den Versuchsbereich und die Ausdehnung der Strafbarkeit auf fahrlässiges Verhalten. 6 Gänzlich anders ist dies bei den Gefährdungsdelikten. Der Einsatz konkreter und abstrakter Gefährdungsdelikte wird als in besonderer Weise legitimierungsbedürftig angesehen und im Ergebnis nur dann für legitim erachtet, wenn die Strafnorm auf den Schutz eines als besonders schützenswert erscheinenden Rechtsguts abzielt. 7 Beispielhaft kann insoweit auf den Bericht des Rechtsausschusses zum Entwurf des Gesetzes zur Bekämpfung der Umweltkriminalität verwiesen werden, in dem es heißt: ,,Die Mehrheit ist der Auffassung, daß allein diese weitgehende Ausgestaltung der Tatbestände als abstrakte Gefährdungsdelikte der Bedeutung des Rechtsguts gerecht werde."g Vergleichbare Argumentationsmuster finden sich Beiheft 1987, 1, 21; Welzel, Strafrecht, § 12 11; kritisch hierzu: Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 15 ff. 3 Arzt/Weber, StrafR BT, LH 2, Rdnrn. 44 f.; Baumann/Weber/Mitsch, StrafR AT, § 8 Rdnrn. 42 f.; Brehm, Dogmatik, S. 9; Fischer, GA 1989,445; Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 264; Arthur Kaufmann, JZ 1963, 425, 431; Maurach / Zipf, StrafR AT, Teilbd. 1, § 20 Rdnr. 31; Ostendorf, JuS 1982,426,428 f.; Riklin, StrafR AT I, § 9 Rdnr. 15; Roxin, StrafR AT, Teilbd. 1, § 2 Rdnr. 25, § 10 Rdnr. 123, § 11 Rdnr. 121, 127; Saal, Straftat, S. 63/64; Schmidhäuser, StrafR AT, 8/41, 103; Schneider, Jura 1988, 460, 461; Schroeder, ZStW Beiheft 1982, 1,3; Schünemann, JA 1975,787,793; Tröndle, StGB, Vor § I3 Rdnr. 13a. Abstrakte Gefahrdungsdelikte können sowohl Tätigkeits- als auch Erfolgsdelikte (im formellen Sinne) sein, vgl. Graul, Gefahrdungsdelike, S. 108 ff.; a.A. Arzt, ZStR 107 (1990), 168, 170. 4 Vgl. Ronzani, Erfolg, S. 15 ff. Abgesehen davon, daß es auch im StGB eine nicht unwesentliche Anzahl von Gefahrdungsdelikten gibt (vgl. Cramer, Vollrauschtatbestand, S. 50 f.; Kindhäuser, Gefahrdung, S. 225), entspricht dies dem heutigen Bild der Strafrechtsordnung jedenfalls dann nicht mehr, wenn man das Nebenstrafrecht in die Betrachtung einbezieht, wo die Gefahrdungsdelikte eindeutig dominieren; vgl. Weber, ZStW Beiheft 1987, I sowie Berz, Tatbestandsverwirklichung, S. 53 f.; Schünemann, JA 1975,787,792. S Vgl. z. B. Arzt/Weber, StrafR BT, LH 2, Rdnr. 5; Kindhäuser, Gefährdung, S. 163; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 91. 6 Vgl. insbesondere Hassemer, Theorie, S. 204 f. 7 Vgl. z. B. Hassemer, Theorie, S. 207 f.; A.H. Meyer, Gefahrlichkeitsdelikte, S. 206; kritisch hierzu Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 90. s BT-Drucks. 8/3633, S. 22.

1. Dogmatik der Gefahrdungsdelikte

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aber auch in der Strafrechtsdogmatik. So will beispielsweise Lenckner Kumulationsdelikte wie den § 265b dStGB nur bei einem "besonders qualifizierten Schutzgut" für gerechtfertigt erachten. 9 Dölling ist der Auffassung, die Strafbewehrung von Genehmigungsvorbehalten sei legitim, "wenn die Norm dem Schutz eines Rechtsguts von hohem Rang dient und der Bestand des Rechtsguts in erheblichem Maße von der Befolgung der Norm abhängt". 10 Auch für Lagodny ist das Gewicht der geschützten Interessen von entscheidender Bedeutung: "Für Verbote abstrakter Gefährdung kann man formulieren: Je weniger plausibel das Bestehen einer abstrakt-generellen Gefahr für die ,Gemeinwohlinteressen' als Rechtsgut im grundrechtsdogmatischen Sinne ist, umso größer muß das Gewicht der zu schützenden Rechtsgutsinteressen sein. Nur dann kann den ,Gemeinwohlinteressen ' der Vorrang vor den gegenläufigen abwehrrechtlichen Grundrechtsinteressen eingeräumt werden. Hierauf aufbauend kann man für die Legitimation eines Verbots abstrakter Gefährdung formulieren: Je höher das zu schützende ,Gemeinwohlinteresse' (Rechtsgut), umso eher darf anstelle von Verboten konkreter Gefährdung auf Verbote abstrakter Gefährdung zurückgegriffen werden. Für dessen kriminalstrafrechtliche Sanktionierung ist aber das besondere Gewicht der tangierten Abwehrgrundrechte zu berücksichtigen. Je undifferenzierter und ,großflächiger' die zugrundeliegende Verhaltensvorschrift ist, umso größer wird der Legitimationsdruck für eine gerade kriminalstrafrechtliche Sanktionsvorschrift. "lI Der ausschlaggebende Grund für die unterschiedliche Bewertung von Verletzungs- und Gefährdungsdelikten dürfte der Umstand sein, daß über die Etablierung von Gefährdungsdelikten der durch Verletzungsdelikte erfaßbare Bereich strafrechtlich relevanten Verhaltens in zwei Stufen erweitert wird. 12 Konkrete Gefährdungsdelikte erfassen die Verhaltensweisen, die ein Rechtsgutsobjekt unmittelbar gefährdet haben, bei denen dann aber die Verletzung letztlich doch ausgeblieben ist; abstrakte Gefährdungsdelikte erfassen Verhaltensweisen, bei denen es weder zu einer realen Beeinträchtigung noch zu einer konkreten Gefährdung des geschützten Rechtsgutsobjekts gekommen sein muß. Beispielhaft: Während die §§ 212, 222, 223, 230, 303 dStGB im Falle einer Trunkenheitsfahrt erst dann zur Anwendung kommen, wenn ein anderer Mensch tatsächlich ums Leben gekommen ist oder in seiner körperlichen Unversehrtheit beeinträchtigt bzw. eine fremde Sache beschädigt wurde, greift § 315c dStGB auch dann ein, wenn es "nur" zu einer konkreten Gefährdung eines anderen Menschen bzw. einer fremden Sache (von bedeutendem Wert) gekommen ist. Für die Anwendung des § 316 dStGB braucht es Lenckner, in: Schönke/Schröder, § 265b Rdnr. 4; vgl. auch Ahn, Dogmatik, S. 121. Dölling, JZ 1985, 461, 463. 11 Lagodny, Strafrecht, S. 520, vgl. auch a. a. 0., S. 442, 483. 12 Vgl. auch Ronzani, Erfolg, S. 23, der ein auf den fehlenden äußerlichen Erfolg zurückzuführendes Defizit an corpus-delicti-Funktion konstatiert. Arzt, ZStR 107 (1990), 168, 171 f. meint, dieser Mangel könne durch eine größere Bestimmtheit der Tathandlungsbeschreibung ausgeglichen werden. Die Frage ist aber doch, woraus sich die Legitimität der Pönalisierung der - unterstellt: genau beschriebenen - Verhaltensverbote herleiten soll. 9

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7. Kap.: Grenzen des Gefahrdungsstrafrechts

schließlich nicht einmal zu einer konkreten Gefährdung eines Menschen oder einer Sache gekommen zu sein; hier reicht es bereits aus, daß der Täter das Fahrzeug in fahruntüchtigem Zustand geführt hat. 13 Obwohl der Deliktstypus der abstrakten Gefährdungsdelikte gemeinhin ex negativo definiert wird, d. h.: abstrakte Gefährdungsdelikte (stets) dann vorliegen sollen, wenn der Gesetzgeber weder eine Verletzung noch eine konkrete Gefährdung des durch die Norm geschützten Rechtsguts als tatbestandlichen Erfolg vorgesehen hat,14 versucht man dennoch, auch bei abstrakten Gefährdungsdelikten - wenigstens verbal - den Rechtsgutsbezug aufrechtzuerhalten. Beispielhaft hierfür ist die von Cramer entwickelte Lehre des Stufenverhältnisses von Verletzungs- und Gefährdungsdelikten. Cramer geht davon aus, daß "nicht das Motiv des Gesetzgebers, sondern die von einem Verhalten ausgehende tatsächliche oder potentielle Beeinträchtigung eines Rechtsguts ... für das Verbrechen kennzeichnend (ist). Man wird deshalb die abstrakten Gefährdungsdelikte als eine Vorstufe der konkreten zu bezeichnen haben, als eine Vorstufe nämlich, die - entsprechend dem Verhältnis zwischen konkreter Gefährdung und Verletzung - die Wahrscheinlichkeit einer Rechtsgutsgefährdung in sich trägt. Damit sind die möglichen Beziehungen zwischen den hier in Betracht kommenden Deliktsarten einerseits und dem angegriffenen Rechtsgut andererseits hergestellt: Verletzung bedeutet den Eintritt eines Schadens, konkrete Gefährdung die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung und abstrakte Gefährdung die Wahrscheinlichkeit einer konkreten Gefährdung.,,15

1. Die konkreten Gefährdungsdelikte Der Deliktstypus des konkreten Gefährdungsdelikts ist weder seiner Struktur nach umstritten, noch wird - soweit ersichtlich - die Legitimität konkreter Gefährdungsdelikte in grundsätzlicher Hinsicht in Zweifel gezogen. Zwar ist im einzelnen durchaus ungeklärt, anhand welcher Kriterien das Vorliegen einer "konkreten Gefahr" zu ermitteln ist; 16 dieser Dissens ändert aber nichts an der grundsätzlichen 13 Kindhäuser, Gefahrdung, S. 226 weist zu Recht darauf hin, daß § 316 dStGB aufgrund seiner fonnellen Subsidiarität sogar ausschließlich dann zur Anwendung kommt, wenn es zu einer Gefährdung/Verletzung gerade nicht gekommen ist. 14 Vgl. z. B. Berz, Tatbestandsverwirklichung, S. 57; Graul, Gefährdungsdelikte, S. 140 f.; Kindhäuser, Gefahrdung, S. 225. 15 Cramer, Vollrauschtatbestand, S. 68/69; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 119; in der Sache ähnlich: Ahn, Dogmatik, S. 103; kritisch hierzu: Zieschang, Gefahrdungsdelikte, S. 23 ff., 68 ff. 16 Vgl. hierzu: Arzt/Weber, StrafR BT, LH 2 Rdnrn. 64 ff.; Crarner, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 306 ff. Rdnr. 5; Gallas, Festschrift für Heinitz, S. 177 ff.; Hoyer, Eignungsdelikte, S. 73 ff., 92 ff.; Horn, Gefahrdungsdelikte, S. 31 ff.; ders., in: SKStGB, Vor § 306 Rdnr. 5 ff.; Kindhäuser, Gefährdung, S. 192 ff., 201 ff.; Osten dorf, JuS 1982,426,429 ff.; Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 11 Rdnr. 122 ff.; Schroeder, ZStW Beiheft 1982, I, 11 ff.;

I. Dogmatik der Gefährdungsdelikte

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Übereinstimmung dahingehend, daß die konkrete Gefährdung eines Rechtsgutsobjekts als ein die Anwendung strafrechtlicher Zwangsmittel legitimierender Sachverhalt anerkannt wird. Auch die Autoren, die die Legitimität konkreter Gefährdungsdelikte ohne eine Bezugnahme auf die (besondere) Wertigkeit des vor realen Beeinträchtigungen zu schützenden Rechtsguts begründen wollen, ziehen nicht die grundsätzliche Legitimität dieses Deliktstyps in Zweifel, sondern betonen lediglich die Notwendigkeit einer andersgearteten Begründung. Diese wird darin gesehen, daß die Ungefährdetheit des Rechtsgutsobjekts bereits einen Wert an sich darstellen kann, daß also die Herbeiführung einer "Existenzkrise" für das Rechtsgutsobjekt bzw. die aktuelle "Erschütterung der Daseinsgewißheit" des geschützten Interesses 17 als ein eigenständig neben der Verletzung stehender strafwürdiger "Erfolg"18 angesehen werden kann. Für die Belange der vorliegenden Untersuchung bedarf es einer näheren Auseinandersetzung mit der Deliktsgruppe der konkreten Gefährdungsdelikte nicht, da dieser Deliktstypus für einen an präventiven Zielsetzungen orientierten Gesetzgeber aus zwei Gründen weitgehend bedeutungslos ist: Zum ersten ist zu berücksichtigen, daß das Vorliegen einer konkreten Gefahr - unabhängig von allen insoweit im einzelnen bestehenden Meinungsverschiedenheiten - unstreitig die aktuelle Gefährdung eines Rechtsgutsobjekts zur Voraussetzung hat. Da eine derartige Gefährdungssituation im Hinblick auf überpersonale Schutzgüter allenfalls bei ,,Megaverstößen,,19 denkbar erscheint, bleibt der Anwendungsbereich konkreter Gefährdungsdelikte praktisch gesehen auf den Schutz von Individualrechtsgütern klassischer Prägung beschränkt. Im Hinblick auf den im Rahmen des "modernen" Strafrechts im Vordergrund stehenden Schutz überpersonaler Rechtsgüter muß entweder auf strafbewehrte Gefährdungsverbote verzichtet oder aber auf abstrakte Gefährdungsdelikte ausgewichen werden. 20 Hinzu kommt, daß konkrete Gefährdungsdelikte auch dort, wo sie anwendbar sind, letztlich keine über die Etablierung von Verletzungsdelikten hinausgehende Schröder, ZStW 81 (1969),7,8 ff.; Schünemann, JA 1975,787,793 ff., Wolter, Zurechnung, S. 200 ff.; Zieschang, Gefährdungdelikte, S. 36 ff. 17 Binding, Normen I, S. 372 ff.; Kindhäuser, Gefährdung S. 210 ff., 214/215, 277; vgl. auch bereits Gallas, Festschrift für Heinitz, S. 176; Berz, Tatbestandsverwirklichung, S. 55 f.; Hoyer, Eignungsdelikte, S. 37 f. 18 Daß die konkreten Gefährdungsde\ikte Erfolgsdelikte (im formellen Sinne) sind, ist heute unstreitig, vgl. Arzt, ZStR 107 (1990), 168, 170; Graul, Gefährdungsdelikte, S. 24; Martin, Strafbarkeit, S. 45 ff., Riklin, StrafR AT I, § 9 Rdnr. 17; Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 35 m. w. N. 19 Der Ausdruck wurde geprägt von Hefendehl, JR 1996, 353, 354. 20 Insoweit ist es richtig, daß die abstrakten Gefährdungsdelikte das dem Wesen überindividueller Rechtsgüter entsprechende Mittel der Gesetzestechnik darstellen, vgl. Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht Bd. I, S. 85 f.; ütto, ZStW 96 (1984), 339, 362; kritisch hierzu Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 129 f., der allerdings zu übersehen scheint, daß mit dieser Erkenntnis nicht zwingend auch der Schluß verbunden ist, daß es dann legitim sein muß, abstrakte Gefährdungstatbestände zu schaffen.

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verhaltenssteuernde Funktion aufweisen. 21 Eine eigenständige präventive Relevanz kommt konkreten Gefährdungsdelikten allenfalls in den Fällen zu, in denen trotz der konkreten Gefährdungssituation eine Beeinträchtigung (Verletzung) letztlich ausgeblieben ist. Geht man aber - was im Ergebnis wiederum weitgehend unstreitig ist - von einem Gefahrbegriff aus, bei dem das Ausbleiben der Verletzung letztlich auf Zufall beruht, stellt sich die Frage, welche zusätzliche Wirkung (konkrete) Gefährdungsverbote neben Verletzungsverboten haben sollen bzw. haben können. Auch hier gilt: Will man eine über die Etablierung von Verletzungsverboten hinausreichende Verhaltenssteuerung erzielen, wird man dies nicht über konkrete Gefährdungsdelikte erreichen können, sondern muß abstrakte Gefährdungsdelikte etablieren. 22

2. Die abstrakten Gefährdungsdelikte Die mit der Statuierung abstrakter Gefährdungsdelikte verbundene Ausweitung bzw. Vorverlagerung des Strafbarkeitsbereiches wird gemeinhin im Hinblick auf eine angenommene faktische Verbesserung des Rechtsgüterschutzes als positiv bewertet. 23 Ein weiterer positiver Effekt wird darin gesehen, daß das Verletzungsund konkreten Gefährdungsdelikten anhaftende Zufallsmoment entfällt,24 d. h. die Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit ist bei abstrakten Gefährdungsdelikten nicht von Umständen abhängig, auf die der einzelne Täter keinen Einfluß hat, wie z. B. die Tatsache, ob ihm bei einer nächtlichen Trunkenheitsfahrt ein Passant begegnet oder nicht und ob es aufgrund irgendwelcher Umstände zu einer konkreten Gefährdung bzw. Verletzung von Passanten gekommen ist. Andererseits wird nicht übersehen, daß bei den allein an die Vornahme bestimmter Verhaltensweisen anknüpfenden abstrakten Gefährdungsdelikten - jedenfalls dem Wortlaut der Norm nach - notwendigerweise auch die Verhaltensweisen (mit-)erfaßt werden, bei denen - aufgrund bestimmter, im Tatbestand nicht berücksichtigter Umstände - eine Gefährdung bzw. reale Beeinträchtigung eines Rechtsgutsobjekts im konkreten Einzelfall unwahrscheinlich oder sogar von vornherein ausgeschlossen ist. 25 Beispielhaft sei hier nur auf die gängigen Beispiele einer folgenlosen TrunVgl. Kindhäuser, Gefährdung, S. 163 ff. Kritisch zum "Wert" konkreter Gefährdungsdelikte auch Horn, Gefährdungsdelikte, S. 2ll ff., der deswegen die Etablierung der von Armin Kaufmann und den Verfassern des Alternativentwurfs geforderten "Risikodelikte" befürwortet. 23 Berz, Tatbestandsverwirklichung, S. 55 ff.; Saal, Straftat, S. 71 f. 24 Berz, Tatbestandsverwirklichung, S. 62 ff.; Saal, Straftat, S. 72 f.; Schneider, Jura 1988, 460,462. 25 Vgl. Berz, Tatbestandsverwirklichung, S. 101 ff.; Hoyer, Eignungsdelikte, S. 33 ff.; A.H. Meyer, Gefährlichkeitsdelikte, S. 154 ff.; Saal, Straftat, S. 77 ff.; Schneider, Jura 1988, 460,462; Schünemann, JA 1975,787,797 f.; kritisch gegenüber derartigen Legitimationsversuchen Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 375 ff. 21

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kenheitsfahrt auf einem einsam gelegenen und menschenleeren Feldweg oder die ,.kontrollierte" Inbrandsetzung eines Ferienbungalows außerhalb der Saison verwiesen. Die Legitimation stratbewehrter abstrakter Gefährdungsverbote muß auch und gerade die Berechtigung der Pönalisierung dieser Fallgestaltungen befriedigend erklären (können).26 a) Abstrakte Gefährdungsdelikte und Rechtsgüterschutz Das aus der Etablierung abstrakter Gefährdungsdelikte einerseits und dem Festhalten am Angriffsparadigma der Rechtsgutstheorie als Legitimationsgrundlage strafrechtlicher Normen andererseits resultierende Dilemma hatte einige Autoren zu der Forderung veraniaßt, die Anwendung abstrakter Gefährdungsdelikte jedenfalls fUr die Fallgestaltungen auszuschließen, bei denen Rechtsgutsbeeinträchtigungen sicher ausgeschlossen sind. Den insoweit von Rabl, Schröder und Backmann27 entwickelten Ansätzen zur Reduktion des Anwendungsbereichs abstrakter Gefährdungsdelikte liegt die Prämisse zugrunde, daß eigentlich nur die Verletzung bzw. konkrete Gefährdung eines Rechtsgutsobjekts strafwürdig ist und die Pönalisierung abstrakter Gefährdungen deswegen auf einer Fiktion bzw. Präsumtion der Gefährdung autbauen muß. 28 Während Rabl dem Angeklagten die Möglichkeit eröffnen will, den Gegenbeweis der Ungefährlichkeit zu fUhren,29 soll nach den von Backmann und Schröder entwickelten Konzeptionen das Gericht von Amts wegen die gesicherte Nichtexistenz einer Gefahr zu prüfen haben. 30 Gegenüber diesen Ansätzen ist zunächst der Einwand zu erheben, daß die Gefahrpräsumtion unvermeidbarerweise zu Friktionen mit dem Schuldgrundsatz des materiellen Rechts fUhren muß und darüber hinaus - jedenfalls dann, wenn die Beweislast für das Vorliegen einer Situation hinreichender Ungefährlichkeit dem Angeklagten obliegt - mit elementaren Grundsätzen des Strafverfahrensrechts, namentlich der Amtsaufklärungsmaxime und dem Grundsatz "in dubio pro reo" in Widerspruch gerät. 31 Des weiteren ist zu konstatieren, daß eine konsequente Re26 Die Rechtsprechung des BVerfG ist insoweit eher unergiebig. Den einschlägigen Entscheidungen kann lediglich entnommen werden, daß der Rückgriff des Gesetzgebers auf abstrakte Gefährdungsdelikte nach Auffassung des BVerfG "von Verfassungs wegen keinen Bedenken begegnet" bzw. nicht als "schlechthin verfassungswidrig" angesehen werden muß; vgl. BVerfGE 28, 175, 188; BVerfG, NJW 1977, 2207 sowie hierzu: Lagodny, Straftat, S. 438 ff.; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 96; Vogel, StV 1996, 110, 113. 27 Backmann, JuS 1977,444,447 f.; Rabl, Gefahrdungsvorsatz, S. 19 ff.; Schröder, 'ZStW 81 (1969),7, 16f. 28 So ausdrücklich Schröder, ZStW 81 (\969),7,16; vgl. auch Graul, Gefährdungsdelikte, S. 151 ff.; Arthur Kaufmann, JZ 1963,425,432. 29 Rabl, Gefährdungsvorsatz, S. 21 30 Vgl. Backmann, JuS 1977,444,448; Schröder, ZStW 81 (1969),7,16. 31 Vgl. Brehm, Dogmatik, S. 38 ff.; Graul, Gefährdungsdelikte, S. 232 ff.; Hoyer, Eignungsdelikte, S. 42; Martin, Strafbarkeit, S. 62 ff.; Volz, Unrecht, S. 32 ff.

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duktion des Anwendungsbereichs darauf hinauslaufen würde, abstrakte in konkrete Gefahrdungsdelikte umzufonnen und damit letztlich die eigenständige Deliktsfigur des abstrakten Gefährdungsdelikts aufzugeben - ein Ergebnis, das angesichts der bereits oben dargelegten eingeschränkten präventiven Wirkung konkreter Gefahrdungsdelikte für einen an präventiven Wirkungen interessierten Gesetzgeber eine problematische Lösung darstellen muß. 32 Festzustellen ist allerdings, daß eine konsequente Umsetzung des Ansatzes soweit ersichtlich gar nicht angestrebt wurde. Auch den Befürwortern der Reduktionskonzeptionen ging es stets nur darum, eine Strafbarkeit in den Fällen eindeutiger Ungefahrlichkeit zu verneinen. Darüber hinaus waren die entsprechenden Bemühungen stets nur auf einige wenige abstrakte Gefährdungsdelikte gerichtet, bei denen - wie insbesondere bei § 306 dStGB (a.F.) - eine entsprechende Reduktion des Anwendungsbereichs praktisch durchführbar erschien, während bei anderen abstrakten Gefahrdungsdelikten - wie z. B. Übertretungen von Verkehrsvorschriften und beim unbefugten Besitz von Waffen, Sprengstoff sowie dem Handel mit Rauschgiften - der Beweis des Gegenteils als von vornherein unzulässig angesehen wurde. 33 Der Umstand, daß hinsichtlich der letztgenannten Deliktsgruppe ohne jedes Problembewußtsein eine allein auf pragmatische Notwendigkeiten abstellende, rein funktionelle Begründung als Legitimation akzeptiert wurde,34 zeigt, daß die Konzeption der Gefahrpräsumtion das Legitimitätsdilemma der abstrakten Gefahrdungsdelikte nicht lösen, sondern lediglich punktuell entschärfen sollte. In der strafrechtsdogmatischen Diskussion der letzten Jahre wird die letztlich als inkonsequente Verlegenheitslösung zu interpretierende Präsumtionstheorie denn auch nicht mehr vertreten. 35 Verzichtet man auf die Konstruktion einer Gefahrfiktion bzw. -präsumtion, stellt sich die Legitimation der abstrakten Gefährdungsdelikte nicht als ein Problem des Schuldgrundsatzes dar. Maßgebend ist vielmehr, "ob ein nur abstrakt gefährliches Verhalten unter dem Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes bei Strafe verboten und unter weIchen Voraussetzungen diese Deliktsart als Angriff auf rechtlich geschützte Interessen bewertet werden kann".36 Cramer hat die Auffassung entwikkelt, daß in der abstrakten Gefahrlichkeit einer Verhaltensweise ein Rechtsgutsangriff zu sehen sei, der sich, verglichen mit der unmittelbaren Beeinträchtigung bzw. konkreten Gefahrdung, lediglich als weniger intensiv darstelle. Die Unwertigkeit und hieraus resultierend die Strafwürdigkeit potentiell gefahrlicher Verhaltens32 Ahn, Dogmatik, S. 22; Horn, Gefahrdungsdelikte, S. 21/22; Schünemann, JA 1975, 787,795. 33 Vgl. Schröder, ZStW 81 (1969), 7, 16 f. 34 Vgl. etwa Schröder, ZStW 81 (1969),7, 17. 35 Vgl. die umfassende Aufarbeitung des Meinungsstandes bei Graul, Gefahrdungsdelikte, S.140ff. 36 Vgl. eramer, Vollrauschtatbestand, S. 62, 74 f.; Hoyer, Eignungsdelikte, S. 33 ff.; Martin, Strafbarkeit, S. 82; vgl. auch Berz, Tatbestandsverwirklichung, S. 115 f. und kritisch hierzu Martin, Strafbarkeit, S. 71 f.

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weisen leite sich aus dem Umstand ab, daß auch (nur) potentiell gefährliche Verhaltensweisen ihrer sozialen Bedeutung nach auf die Erschütterung der Daseinsgewißheit gerichtet seien. 37 Gegenüber diesem Ansatz ist von verschiedener Seite der Einwand erhoben worden, Cramer begründe die Unwertigkeit der bloß gefährlichen Handlung nicht aus sich heraus, sondern leite diese in nicht tragfähiger Weise aus einer Beziehung der bloß gefährlichen Handlung zur konkreten Gefährdung ab. 38 Seine Konzeption stelle den untauglichen Versuch dar, beim abstrakten Gefährdungsdelikt einen Erfolg zu begründen. 39 Die Berechtigung dieser - wohl im wesentlichen durch die von Cramer entwickelte und bereits oben zitierte Definition der Deliktstypen40 von ihm selbst provozierten Kritik soll hier nicht weiter verfolgt werden. 41 Ein durchgreifender Mangel seiner Konzeption liegt jedenfalls darin, daß Cramer seine These, generell gefährliche Verhaltensweisen seien ,,ihrer sozialen Bedeutung nach auf die Erschütterung der Daseinsgewißheit gerichtet", weder in ihren Voraussetzungen noch in ihren Konsequenzen näher beleuchtet. 42 Vor diesem Hintergrund bleibt dunkel, ob sich die Strafwürdigkeit aus einer potentiellen oder aktuellen Erschütterung der Daseinsgewißheit in objektiver Hinsicht ergeben soll, oder ob der subjektive Wille, eine Handlung in Kenntnis ihres Potentials zur Erschütterung der Daseinsgewißheit vorzunehmen, ausreichen soll, die Strafwürdigkeit des Verhaltens zu begründen. Andere Autoren haben den Versuch unternommen, den Unwertgehalt abstrakter Gefährdungsdelikte ausdrücklich vom Erfolgsunrecht abzukoppeln und allein über das Verhaltensunrecht zu begründen. So ist beispielsweise Volz der Auffassung, der Unrechts- und Schuldgehalt des abstrakten Gefährdungsdelikts werde durch das Eingehen des mit einer generell gefährlichen Handlung verbundenen Risikos der möglichen Verletzung eines Rechtsguts bestimmt; der Unwert der Verhaltensweise ergebe sich aus der mit der Risikoeingehung verbundenen Pflichtverletzung. 43 Brehm vertritt die Auffassung, strafwürdig sei bereits die in der Mißachtung einer Verhaltenspflicht liegende Pflichtwidrigkeit als solche. 44 Festzustellen ist allerdings, daß es weder Volz noch Brehm gelungen ist, aufzuzeigen, daß und warum die bloße Pflichtwidrigkeit bereits für sich gesehen eine Pönalisierung zu Cramer, Vollrauschtatbestand, S. 65. Volz, Unrecht, S. 49 f.; vgl. auch Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 23 ff., mit dem zutreffenden Hinweis darauf, daß sich die Bezeichnung als abstraktes Gefährdungsdelikt als unpräzise und irreführend erweist. 39 Brehm, Dogmatik, S. 83. 40 Vgl. etwa die Kritik von Arthur Kaufmann, JZ 1963,425,433 an der Definition der abstrakten Gefahr als "Wahrscheinlichkeit der Wahrscheinlichkeit der Verletzung". 41 Vgl. hierzu Ahn, Dogmatik, S. 77; Martin, Strafbarkeit, S. 66 f.; Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 72 f. 42 Kritisch auch Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 167. 43 Volz, Unrecht, S. 143 ff. 44 Brehm, Dogmatik, S. 123 ff. 37

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legitimieren vermag. 45 Auch der Hinweis Brehms, abstrakte Gefährdungsdelikte seien als fahrlässige Versuchsdelikte zu interpretieren,46 führt nicht weiter, sondern verschiebt lediglich die Fragestellung. Entscheidend ist dann, ob und wenn ja aus welchen Gründen bzw. unter welchen Voraussetzungen bereits der fahrlässige Versuch als strafwürdig anzusehen ist. Des weiteren ist zu konstatieren, daß sowohl Volz als auch Brehm ihren eigenen Lösungsansatz nicht konsequent durchhalten, wenn sie beide eine Nichtanwendung abstrakter Gefährdungsdelikte für Fallgestaltungen befürworten, in denen eine tatsächliche Beeinträchtigung des geschützten Rechtsguts von vornherein sicher ausgeschlossen ist.47 Die Umwandlung abstrakter Gefährdungsdelikte in nichtausschließbar-konkrete Gefährdungsdelikte muß gerade angesichts des Ausgangspunktes beider Autoren als verfehlt angesehen werden: Wenn Brehm bereits die Pflichtwidrigkeit für strafwürdig erachtet, stellt sich die von ihm nicht beantwortete Frage, warum dies dann nicht mehr gelten soll, wenn - was hiervon unabhängig ist - ein Verletzungserfolg ausgeschlossen erscheint. 48 Volz scheint diesem Einwand von seinem Ansatz her mit dem Argument begegnen zu können, daß bei bewußter Gefahrvermeidung eben kein Risiko eingegangen werde. Dem ist aber entgegenzuhalten, daß das mit einer Handlung generell verbundene Risiko nicht im Einzelfall ausgeschlossen, sondern allein die Verwirklichung des Risikos verhindert werden kann. 49 Hält man das einer Verhaltensweise immanente, generelle Risiko aber für ausreichend, eine Pönalisierung zu legitimieren, ist nicht ersichtlich, warum dies dann nicht mehr gelten soll, wenn die - wiederum: hiervon unabhängige - Möglichkeit einer konkreten Gefährdung für den Einzelfall ausgeschlossen ist. 50 Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, daß Brehm seine (Einschränkungs-)Konzeption ausschließlich für Delikte wie den § 306 dStGB (a.F.) entwikkelt hat,51 diese aber beispielsweise nicht auf die Normen des Verkehrsstrafrechts ausdehnen will. Bei diesen könne eine Einschränkung wegen erwiesener UngefährIichkeit im Einzelfall nicht in Betracht kommen, weil es sich hier um Normen mit 4S Vgl. Kindhäuser, Gefährdung, S. 252 f. und 259 f., der zu Recht darauf hinweist, daß die Verletzung von Sorgfaltsnormen für sich gesehen nicht ohne weiteres eine Pönalisierung zu legitimieren vermag. 46 Brehm, Dogmatik, S. 137. 47 Brehm begründet die einschränkende Auslegung des § 306 dStGB a.F. mit der Notwendigkeit eines Rechtsgutsbezugs (Dogmatik, S. 126). Volz will in analoger Anwendung der §§ 90a Abs. 6, 158, 186,310 (a.F.) dStGB den Täter wenigstens straffrei stellen, wenn er dem Entstehen der generellen Gefahr bewußt entgegengewirkt hat (Unrecht, S. 162 ff.; kritisch hierzu: Saal, Straftat, S. 81 f. m. w. N.). Für eigentlich angemessen hält er einen Tatbestandsausschluß (Volz, Unrecht, S. 167 f., 170). 48 Vgl. Wolter, Zurechnung, S. 287. 49 Vgl. Wolter, Zurechnung, S. 286; Kindhäuser, Gefährdung, S. 254/255. so Vgl. Kindhäuser, Gefährdung, S. 234 f. mit dem zutreffenden Hinweis darauf, daß die spezielle Verletzungsrelevanz bei den abstrakten Gefährdungsdelikten gerade irrelevant ist und deswegen ein Gegenbeweis der Ungefährlichkeit nicht in Betracht kommen könne. SI Brehm, Dogmatik, S. 138.

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Organisationsfunktion handele, die einen geregelten Zustand konstituieren und erhalten sollen. 52 Woraus sich die Legitimation für diese Differenzierung ergibt, wird von Brehm nicht näher dargelegt. 53 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß den oben skizzierten Konzeptionen keine überzeugenden Kriterien zur Bewertung der Legitimität abstrakter Gefahrdungsdelikte zu entnehmen sind. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, daß letztlich - soweit nicht auf den Gesichtspunkt der besonderen Wertigkeit des Rechtsguts 54 zurückgegriffen wird - rein pragmatisch-funktionelle Erwägungen vorherrschen, die dann jeweils mit mehr oder weniger schlechtem dogmatischen Gewissen vorgetragen werden. 55 Da aber weder das praktische Bedürfnis nach einer ..Großregelung"56 noch die Erleichterung der Strafverfolgung durch Verzicht auf prozessual schwer nachweisbare Tatbestandsmerkmale 57 als eine ausreichende Legitimation anerkannt werden können, bedarf es weitergehender Bemühungen um eine dem eigenständigen Unwertgehalt der jeweils erfaßten Verhaltensweisen angemessene Legitimation. 58 Der Versuch, die Pönalisierung von Verhaltensweisen im Vorfeld einer realen Beeinträchtigung über die Wertigkeit der jeweils geschützten Interessen zu legitimieren, ist zwei Einwänden ausgesetzt: Zunächst ist in Erinnerung zu rufen, daß wie oben bereits im einzelnen dargelegt wurde - die Rechtsgutstheorie handlungsleitende Kriterien für die Bewertung von Straftatbeständen wenn überhaupt nur in einern sehr eingeschränkten Maße bereitzustellen vermag. Angesichts dessen erscheint es dann jedoch als sehr gewagt, in der ..Wertigkeit" eines Rechtsguts den entscheidenden Maßstab für die Ausgestaltung des Bereichs strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen sehen zu wollen. Des weiteren darf nicht verkannt werden, daß Gefahrdungsdelikte per definitionem dadurch gekennzeichnet sind, daß es gerade (noch bzw. doch) nicht zu einer realen Rechtsgutsbeeinträchtigung gekommen ist59 und bei den abstrakten Gefahrdungsdelikten auch die Fallgestaltungen (mit)erfaßt werden, bei denen es nicht einmal zu einer konkreten Gefahrdung gekomBrehm, Dogmatik, S. 139 ff. Kritisch auch Hoyer, Eignungsdelikte, S. 42 ff., der eine Sonderbehandlung unter Rückgriff auf die von Brehm genannen funktionalen Aspekte ablehnt, gerade für die Straßenverkehrsdelikte aber eine Lösung bei ..gründlicher Rechtsgutsanalyse" für möglich erachtet. 54 So wohl- implizit - Cramer, Vollrauschtatbestand, S. 67. 55 Vgl. neben Brehm (s.o. Fußn. 51 f.) noch Graul, Gefährdungsdelikte, S. 151; Arthur Kaufmann, JZ 1963,425,433; Schröder, ZStW 81 (1969),7, 16 f. 56 So aber insbesondere Kratzsch, Verhaltenssteuerung, passim; vgl. auch Martin, Strafbarkeit, S. 55; Saal, Straftat, S. 75 f.: Die Ausweitung des Bereichs strafrechtlich relevanten Verhaltens wird als eine Wohltat für den Normadressaten interpretiert, mit der dem einzelnen die Last einer von ihm selbst gar nicht zu erbringenden Leistung abgenommen werde. 57 V gl. beispielsweise Martin, Straftat, S. 55; kritisch hierzu: Kindhäuser, Gefährdung, S. 239 f. 58 Kindhäuser, Gefährdung, S. 227. 59 Kindhäuser, Gefährdung, S. 227. 52

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men ist, dies möglicherweise sogar von vornherein auszuschließen war. Anders als Verletzungsdelikte sind Gefährdungsdelikte deshalb von vornherein nicht unter dem Gesichtspunkt der Venneidung einer Rechtsgutsverletzung zu legitimieren, sondern bedürfen einer dem spezifischen Unwertgehalt der jeweils erfaßten Verhaltensweise angemessenen eigenständigen Legitimation. 60

b) Abstrakte Gerährdungsdelikte als Selbstzwecknormen (Kindhäuser) Ein Ansatz, abstrakte Gefährdungsdelikte ohne unmittelbare Bezugnahme auf den Gesichtspunkt des Schutzes von Rechtsgütern vor realen Beeinträchtigungen zu legitimieren, ist von Kindhäuser entwickelt worden. Seiner Auffassung nach kommt es für die Legitimation abstrakter Gefährdungstatbestände allein auf die Legitimität der einem abstrakten Gefährdungstatbestand zugrundeliegenden Verhaltensnonn an. Könne die jeweils zugrundeliegende Verhaltensnonn als solche legitimiert werden, ergebe sich die Legitimation der Pönalisierung aus dem Charakter der Sanktionsnonn als Selbstzwecknonn. 61 Ausgangspunkt der Überlegungen Kindhäusers ist die Erkenntnis, daß strafrechtliche Sanktionen nur dadurch einen (mittelbaren) Beitrag zum Rechtsgüterschutz zu leisten vennögen, daß sie die Geltung von Verhaltensnonnen durchsetzen, deren Einhaltung ihrerseits dann den Rechtsgüterschutz bewirkt.62 Deshalb sei zum einen die Legitimität von Verhaltens- und Sanktionsnonnen voneinander zu trennen,63 zum anderen müsse die 'Legitimation der Strafe als Institution von der Legitimität der Pönalisierung bestimmter Handlungen bzw. konkreter Straftatbestände getrennt werden. 64 Die Strafe bzw. das Strafrecht als Institution legitimiere sich aus dem Umstand, daß der Staat sicherstellen müsse, daß sich "Trittbrettfahren" nicht lohne. 6s Da mit dieser Begründung ersichtlich jeder Verstoß gegen eine legitime Verhaltensnonn als strafwürdig erscheinen muß, kann Kindhäuser im Hinblick auf die Auswahl der zu pönalisierenden Verhaltensweisen keine strikten Grenzen benennen, sondern muß sich auf den relativ vagen Hinweis beschränken, daß hier ein "Gebot kriminalpolitischer Zurückhaltung" Geltung beanspruche. 66

60 Kindhäuser, Gefährdung, S. 227; ders., Rechtsgüterschutz, S. 272 f.; vgl. hierzu auch bereits oben S. 215 ff. 61 Kindhäuser, Gefährdung, S. 272 ff. 62 Ebd., S. 132 ff. 63 Ebd., S. 153. 64 Ebd., S. 153/154. 6S Ebd., S. 154 ff.; vgl. zu dieser Argumentation auch: Höffe, Staat, S. 70 ff.; Raw1s, Theorie, S. 300 ff. 66 Kindhäuser, Gefährdung, S. 159.

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Die Legitimation der strafbewehrten Gefährdungsverboten zugrundeliegenden Verhaltensnormen leitet Kindhäuser daraus her, daß die Gewährleistung von Sicherheit im Umgang mit Gütern eine notwendige Voraussetzung für die personale Entfaltung des Individuums darstelle. Die Gewährleistung von Sicherheit sei zum Teil vom Individuum selbst zu leisten. Da aber das einzelne Individuum bestimmte Risiken gar nicht autonom kompensieren könne, müsse die vom einzelnen nicht oder nur unter unverhältnismäßigem Aufwand zu leistende Vorsorge zur ungefährlichen Verfügung über Güter im Rahmen des sozial Adäquaten heteronom kompensiert werden. 67 Bei den abstrakten Gefährdungstatbeständen zugrundeliegenden Verhaltensnormen handele es sich um Verbote, "die zur sorgelosen Verfügung über Güter notwendigen (heteronomen) Sicherheitsbedingungen zu beeinträchtigen".68 Ziel der Verhaltensnormen sei es, den für den rationalen Umgang mit Gütern erforderlichen Zustand an Sicherheit rechtlich zu garantieren. 69 Die Vermittlung begründeter Sorgelosigkeit sei als eine der elementaren Aufgaben des Rechts anzusehen: 70 "Die Vermittlung der Gewißheit, gefahrlos über Güter verfugen zu können, ist legitimer Bestandteil des Rechtsgüterschutzes, wenn Rechtsgüter als Güter definiert werden, die der freien persönlichen Entfaltung dienen.,,71 Sicherheit meine "die Gewißheit künftiger Gefahrlosigkeit im Sinne einer fUr eine rationale Verfügung über Güter ausreichenden Überzeugung vom Ausbleiben gegebenenfalls nicht gezielt abschirmbarer schadensrelevanter Bedingungen und die auf dieser Gewißheit basierende Sorgelosigkeit. Sicherheit ist mit anderen Worten die objektiv begründete Erwartung eines rational urteilenden Subjekts, gefahrlos Güter zur Verwirklichung bestimmter Zwecke einsetzen zu können. Oder kürzer: Sicherheit ist berechtigte Sorgelosigkeit bei der Verfügung über Güter."n Ersichtlich handelt es sich bei dem Topos der Sicherheit um einen konkretisierungsbedürftigen BegrifC3 dessen handlungsleitendes Potential wesentlich davon abhängig ist, daß es gelingt, überzeugende Antworten auf zwei Fragen zu geben: 74 Ebd., S. 279. Ebd., S. 280. 69 Ebd., S. 280 f.; ders., Rechtsgüterschutz, S. 276. 70 Kindhäuser, Gefährdung, S. 284 ff.; kritisch zum "Recht auf Freisein von Furcht" Robbers, Sicherheit, S. 223 ff. 71 Kindhäuser, Gefährdung, S. 287. 72 Ebd., S. 282. 73 Vgl. Martin, Strafbarkeit, S. 74: "leere Begriffshülse". 74 Vgl. hierzu zum einen die ablehenden Stellungnahmen von Ahn, Dogmatik, S. 12; Jakobs, StrafR AT, 6/86 Fußn. 174; Kratzsch, JuS 1994,372,376; A.H. Meyer, Gefährlichkeitsdelikte, S. 151 f.; Roxin, StrafR AT, Teilbd. 1, § 11 Rdnr. 131; Saal, Straftat, S. 87; Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 354 ff., die im Kindhäuserschen Sicherheitsbegriff eine überflüssige und in der Sache gefährliche, weil weitgehend konturlose Paraphrasierung des Rechtsgutsbegriffs sehen; vgl. im übrigen auch die kritische Stellungnahme von Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 202 ff., der den fehlenden Erkenntnisgewinn des Kindhäuserschen Ansatzes aus der Parallelität des Kindhäuserschen Sicherheitsbegriffs mit dem allgemeinen Begriff der NormgeItung ableitet. 67 68

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Welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit ein rationales Subjekt berechtigterweise sorgelos sein kann? Anhand welcher Kriterien ist zu entscheiden, ob diese Bedingungen autonom (durch das Subjekt selbst) oder heteronom (durch die Rechtsordnung) zu gewährleisten sind? Die Problematik der Abgrenzung autonom und heteronom zu gewährleistender Sicherheit erledigt Kindhäuser mit dem knappen Hinweis darauf, daß sich "die Anschauungen über die sozial nützliche Be- und Entlastung des einzelnen mit Risiken ständig (wandeln) und zudem bereichsabhängig sind; insoweit ist ein gewisses Maß an Positivismus durchaus angebracht".75 Darüber hinaus soll aber auch bei der Bestimmung der Bedingungen berechtigter Sorgelosigkeit gelten, daß "die Bedingungen der Sicherheit und dementsprechend Art und Weise ihrer Beeinträchtigung bereichsabhängig (sind). Deshalb scheint es kaum möglich zu sein, Merkmale abstrakt gefährdenden Verhaltens zu benennen, die auf so unterschiedliche Bereiche wie die Sicherheit des Rechtsverkehrs oder die Sicherheit des Bahn-, Luft-, Schiffs- oder Straßenverkehrs, rur technische und soziale Sicherheit oder für die Sicherheit von Lebensbedingungen (Nahrung, Wohnung, Umwelt usw.) gleichermaßen zutreffen.,,76 Im Ergebnis schlägt Kindhäuser vor, die Legitimation abstrakter Gefährdungsverbote in fünf Schritten prüfen: 77 1. Zunächst sei nach dem Zweck der Norm zu fragen, d. h. nach der Art und Weise der Verfügung über Güter, die frei von Sorge erfolgen können soll. 2. Sodann sei der Gegenstand der Sorge zu definieren. Zu klären sei, vor was man bei der in Frage stehenden Verfügung über Güter Furcht haben könne. 3. In einem dritten Analyseschritt sei nach der Berechtigung der Sorge zu fragen. 4. ,,Des weiteren ist unter dem Aspekt der Interessenkoordination zu klären, ob die Schadensvorsorge Sache des einzelnen ist oder ob sie seine Kapazitäten übersteigt bzw. unzumutbar ist." Bei der Entscheidung dieser Frage seien dann nicht nur die sozialen Folgekosten, sondern auch die "normative Verständigung" der Gesellschaft über den Grad des tolerierbaren Mißbrauchs zu berücksichtigen.

5. "Steht fest, daß die Schadensvorsorge dem einzelnen nicht obliegt, für die sorgelose Verfügung über Güter aber erforderlich ist, so ist sie normativ auszugleichen. Mit Blick auf diese normative Kompensation und ihren Zweck, Sorgelosigkeit zu vermitteln, ist im Rahmen des letzten Analyseschrittes der jeweilige Deliktstatbestand auszulegen." Die Sicherung der normativen Kompensation sei Zweck der Sanktionsnorm; diese habe der normativen Garantie Geltung zu verschaffen. Kindhäuser verkennt nicht, daß sowohl die Bestimmung der Bedingungen berechtigter Sorgelosigkeit als auch die Frage, ob die (autonome) Schadensvorsorge 7S 76 77

Kindhäuser, Gefährdung, S. 279. Ebd., S. 281. Ebd., S. 288 f.

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dem einzelnen zumutbar ist, die Substantiierung nonnativer Begriffe erforderlich macht. 78 Als Differenzierungskriterien benennt er die Unterscheidung danach, ob: 1. die gefahrlose Verfügung über ein Gut bestimmten Individuen bzw. Gruppen oder aber der Allgemeinheit gewährleistet wird; 79 2. die gefahrlose Verfügung über Güter durch eine bestimmte Person bzw. Gruppe (spezieller Schutz) oder durch die Allgemeinheit (genereller Schutz) gewährleistet werden S011;80 3. die Disposition über Güter unmittelbar gewährleistet werden soll oder dadurch, daß die Arbeit von Institutionen gesichert wird, die Aufgaben zum Wohle des einzelnen erfüllen;81 4. die zu gewährleistende Sicherheit objekt- oder subjektbezogen ist, d. h.: ob die zu gewährleistende Sicherheit die Zuverlässigkeit nicht-personaler Rahmenbedingungen oder die Verläßlichkeit von Personen betrifft. 82 Es kann und soll nicht bestritten werden, daß die genannten Kriterien bei der Bewertung der Legitimität abstrakter Gefährdungsverbote zu beachten sind. Zu konstatieren ist aber, daß diese Kriterien bei Kindhäuser weitgehend unverbunden nebeneinander stehen: weder werden übergreifende Maßstäbe entwickelt, noch ist eine den Abwägungsprozeß strukturierende Systematik erkennbar. Im Hinblick auf die Frage nach den Grenzen einer legitimen Etablierung abstrakter Gefährdungsverbote bedeutet dies: Insbesondere dann, wenn man Kindhäuser darin folgt, abstrakte Gefährdungsdelikte als Sanktionsnonnen für Selbstzwecknonnen zu halten,83 muß man die von Kindhäuser selbst aufgeworfene Frage, "ob unter der Voraussetzung der Legitimität von Strafe als Sanktion auch die Mißachtung der Normen abstrakter Gefährdungsdelikte mittels Strafe geahndet werden darf',84 zwingend bejahen. Etwaige Einschränkungen des Bereichs strafrechtlich relevanten Verhaltens können sich von vornherein allenfalls noch über das vage Korrektiv eines kriminalpolitischen Kalküls ergeben. 8s Genau an diesem Punkt muß allerdings auch die Kritik ansetzen: Das entscheidende Defizit des Kindhäusersehen Ansatzes liegt in der Prämisse, Sanktionsnormen seien Selbstzwecknonnen. Kindhäuser übersieht, daß die Sphäre personaler 78 Vgl. Kindhäuser, Gefährdung, S. 287, 289, 294 f.; ders., Rechtsgüterschutz, S. 277. Vor diesem Hintergrund erscheint die auf die durch das AbsteHen auf das subjektive Sicherheitsempfinden des einzelnen begründete Gefahr einer uferlosen Ausdehnung der Strafbarkeit verweisende Kritik (vgl. Saal, Straftat, S. 87 m. w. N.) als nicht berechtigt. 79 Kindhäuser, Gefährdung, S. 294. 80 Ebd., S. 294 f. 81 Ebd., S. 310. 82 Ebd., S. 311. 83 Ebd., S. 338. 84 Ebd., S. 339. 85 Ebd., S. 340 ff.

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Verantwortlichkeit nicht schon durch Verhaltensnonnen, sondern erst durch Sanktionsnonnen konstituiert wird - und dies in Abhängigkeit von der Wahl bestimmter Deliktstypen in durchaus differenzierter Art und Weise. 86 Vor diesem Hintergrund bedarf die Pönalisierung abstrakt (generell) gefährlicher Verhaltensweisen einer gegenüber der zugrundeliegenden Verhaltensnonn eigenständigen Legitimierung. 87 Erforderlich ist eine zwei stufige Prüfung, die Frisch - bezogen auf die Problematik der objektiven Zurechnung beim Erfolgsdelikt - wie folgt umschrieben hat: ,,Es geht - zusammengefaßt - darum, in einer Art zwei stufigem Verfahren zu ventilieren, erstens, ob die Mißbilligung bestimmter risikobeladener Verhaltensweisen im Blick auf die Handlungsfreiheit als geeignetes, erforderliches und angemessenes Mittel zur Erhaltung bestimmter Güter erscheint, und zweitens: ob es zur Aufrechterhaltung der Geltungskraft und Unverbruchlichkeit der Norm erforderlich und angemessen erscheint, auf die solchermaßen mißbilligten Risikoschaffungen im Gewand der Erfolgsdelikte mit Strafe zu reagieren. ,,88

Die von Kindhäuser in ihrer eigenständigen Bedeutung verkannte Frage ist also, ob die mit einer strafrechtlichen Verhaltensregulierung verbundenen, je nach Wahl des Deliktstyps unterschiedlich verteilten "Kosten" den ,,richtigen" Adressaten treffen bzw. gerecht unter den potentiellen Regelungsadressaten aufgeteilt sind. Im Hinblick auf die Pönalisierung bestimmter, als generell gefährlich eingeschätzter Verhaltensweisen muß gezeigt werden, daß bereits die bloße Zuwiderhandlung auch dann, wenn im konkreten Einzelfall eine Gefährdung und! oder Beeinträchtigung ausgeschlossen ist - eine Bestrafung zu legitimieren vennag. Diese Frage kann weder über den Hinweis auf eine besondere Wertigkeit der - zumindest in einem bestimmten Bruchteil von Fällen gar nicht gefährdeten - geschützten Rechtsgüter noch durch den Verweis auf ein Grundrecht auf Sicherheit erledigt werden. Erforderlich ist vielmehr eine differenzierte Bewertung der in Frage stehenden Risikotypen. 89 Zu klären ist, ob überhaupt und wenn ja, bei welchen "Typen der Risikoschaffung" eine Pönalisierung zu legitimieren ist.

c) Ansätze zur AusditTerenzierung der abstrakten Gerahrdungsdelikte Die obigen Ausführungen haben ergeben, daß die gemeinhin unter der Bezeichnung "abstrakte Gefährdungsdelikte" zusammengefaßten Straftatbestände ex nega86 Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 197 ff. unter Hinweis auf Jakobs, StrafR AT, 6/77 ff.; vgl. auch Jakobs, Norm, S. 86 f. 87 So richtig Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 204 f. sowie Lagodny, Strafrecht, S. 291 ff.; vgl. auch bereits Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 77 ff. 88 Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 80. 89 Die Notwendigkeit, verschiedene "Typen der Risikoschaffung" zu unterscheiden, betont auch bereits Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 78.

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tivo über das Fehlen einer realen Rechtsgutsbeeinträchtigung bzw. einer konkreten Gefahr für ein Rechtsgut nur höchst unzureichend definiert werden können. Was üblicherweise als "abstrakte Gefährdung" firmiert, ist tatsächlich die "typische" bzw. "generelle Gefährlichkeit der Verhaltensweise". Entgegen einer in der Literatur verschiedentlich geäußerten Auffassung,90 können im übrigen auch schon im geltenden Recht innerhalb der Gruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte ohne weiteres verschiedene Subkategorien generell gefährlicher Verhaltensweisen unterschieden werden, was es geboten erscheinen läßt, eine differenzierte Neukategorisierung dieser Deliktsgruppe anzustreben. 91 aa) Das Eignungsdelikt als Deliktstypus zwischen abstraktem und konkretem Gejährdungsdelikt

Ein erster Versuch, innerhalb der abstrakten Gefährdungsdelikte zu einer Differenzierung zu kommen, läuft darauf hinaus, von den abstrakten Gefahrdungsdelikten mit abschließend festgelegten Merkmalen die Straftatbestände abzugrenzen, bei denen der Gesetzgeber die Strafbarkeit an eine - im einzelnen mit unterschiedlichen Begriffen umschriebene - Eignung zur Gefährdung geknüpft hat. Diese von Schröder92 zunächst noch als abstrakt -konkrete Gefährdungsdelikte, von anderen Autoren als potentielle Gefahrdungsdelikte 93 und heute allgemein als Eignungsdelikte 94 bezeichneten Straftatbestände sollen sich von den "normalen" abstrakten Gefährdungsdelikten dadurch unterscheiden, daß der Gesetzgeber hier nicht eine bestimmte Verhaltensweise schlicht um ihrer selbst willen verboten, sondern sich am Entstehen einer Gefahrenquelle orientiert hat. In Abhängigkeit davon, wie konkret der Gesetzgeber die Maßstäbe vorgibt, anhand derer die Gefahrenquelle als gegeben anzunehmen ist, soll ein Straftatbestand vorliegen, der sich den konkreten oder den "normalen" abstrakten Gefährqungsdelikten annähert. 95 Während Schröder96 die Eignungsdelikte noch überwiegend der Kategorie der konkreten Gefährdungsdelikte zugeordnet und auch Gallas eine Aufteilung in die Kategorien der konkreten und abstrakten Gefährdungsdelikte befürwortet hatte,97 werden EigVgl. z. B. Bohnert, JuS 1984, 182, 187. So auch Ahn, Dogmatik, S. 117 ff.; Hirsch, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 557 f.; Horn, in: SKStGB, Vor § 306 Rdnr. 17; Roxin, StrafR AT, Teilbd. 1, § 11 Rdnr. 127; Schünemann, JA 1975, 787, 798; vgl. auch die Analyse der Deliktsstrukturen einer Reihe von Straftatbeständen des geltenden bundesdeutschen StGB bei Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 206 ff. 92 JZ 1967, 522; ders., ZStW 81 (1969),7,17 ff.; vgl. auch Schünemann, JA 1975,787,793. 93 Tröndle, StGB, Vor § 13 Rdnr. Ba; vgl. auch Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 101 f. 94 Vgl. insbesondere: Hoyer, Eignungsdelikte, passim; ders., JA 1990, 183 ff. 95 V gl. Graul, Gefährdungsdelikte, S. 117 ff. 96 Schröder, ZStW 81 (1969),7,21 f.; ders., JZ 1967,522,523 ff.; kritisch zu der Differenzierung Schröders: Hoyer, Eignungsdelikte, S. 20 ff.; Wolter, Zurechnung, S. 186 tT.; Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 171 ff. 90

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nungsdelikte heute entweder als dritte Kategorie zwischen den abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikten98 oder aber als besondere Gestaltungsform der abstrakten Gefährdungsdelikte interpretiert. 99 Mit den Eignungsdelikten soll der von den Vertretern der Präsumtionstheorien angenommene Verstoß gegen das Schuldprinzip abgemildert und so die "Anstößigkeit abstrakter Gefährdungstatbestände im Hinblick auf das Schuldprinzip" ausgeräumt lOO bzw. der nach Auffassung der Vertreter der generellen Gefährlichkeit notwendige "straflegitimierende Rechtsgutsbezug" hergestellt werden. 101 Problematisch ist dieser Ansatz deshalb, weil anerkanntermaßen von der Feststellung einer generellen Eignung zur Gefährdung nicht auf die tatsächliche Gefährdung im Einzelfall geschlossen werden kann. 102 Zu Recht sieht Hoyer deshalb die Funktion von Eignungsklauseln darin, daß der Gesetzgeber nicht mehr tolerable Gefahrenquellen definiere. 103 Verhaltensweisen, die das Entstehen derartiger Gefahrenquellen zur Folge haben, seien als verletzungsbezogen fahrlässigkeitsvermittlungsfähiges Verhalten strafwürdig. 104 Der Eignungsklausel komme die Funktion zu, den Grenzwert nicht mehr tolerabler Risikosetzungen zu umschreiben. lOS Abgesehen davon, daß sich an dieser Stelle wiederum die Frage erheben würde, welche Risikosetzungen der Gesetzgeber aus welchen Gründen legitimerweise als nicht mehr tolerabel einstufen darf, wird man den von Hoyer entwickelten Ansatz letztlich nicht auf die Eignungsdelikte im formellen Sinne beschränken können, sondern als einen für alle abstrakten Gefährdungsdelikte relevanten Gesichtspunkt begreifen müssen: 106 Der Sache nach geht es darum, zu zeigen, daß bestimmte Verhaltensweisen aufgrund der ihnen innewohnenden Gefährlichkeit bei Strafe verboten sein sollen. Daß es neben den "normalen" abstrakten Gefährdungsdelikten (= generelle Gefährdungsverbote ohne Geeignetheitsklausel) noch die Gruppe 97 Vgl. GaIlas, Festschrift flir Heinitz, S. 181 f.; ablehnend Hoyer, Eignungsdelikte, S. 26 f.; Graul, Gefährdungsdelikte, S. 117 ff.; Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 166 ff. 98 Hoyer, Eignungsdelikte, S. 201; ders., JA 1990, 183; Baumann/Weber/Mitsch, StrafR AT, § 8 Rdnr. 44 und wohl auch Fischer, GA 1989,445, 454. 99 Berz, Tatbestandsverwirklichung, S. 60; Cramer, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 306 ff. Rdnr. 3; GaIlas, Festschrift für Heinitz, S. 175, 183; Horn, in: SKStGB, Vor § 306 Rdnrn. 3, 18; Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 264; Kasper, ErheblichkeitsschweIle, S. 191/ 192; Martin, Strafbarkeit, S. 98 f.; Roxin, StrafR AT, Teilbei. I, § II Rdnr. 135; Saal, Straftat, S. 65; Schroeder, ZStW Beiheft 1982, I, 4; Weber, in: Arzt/Weber, StrafR BT, LH 2, Rdnrn. 80 ff.; vgI. auch BGH, JR 1997,253,253/254 m. w. N. aus der Rspr. des BGH. 100 Vgl. z. B. Weber, in: Arzt/Weber, StrafR BT, LH 2 Rdnrn. 54, 80 ff. 101 Vgl. Hoyer, Eignungsdelikte, S. 37, 47. 102 Cramer, Vollrauschtatbestand, S. 52 f.; zur Problematik der Unklarheit über den Gehalt des "Geeignetheitsmerkmals" vgl. Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 197 ff. 103 Vgl. Hoyer,JA 1990, 183, 186f. 104 Vgl. i.e. Hoyer, Eignungsdelikte, S. 49 f., 55 ff., \07. 105 Kratzsch, Verhaltenssteuerung, S. 279. 106 Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 200 f., 208. Den Darlegungen in JA 1990, 183, 186 ff. ist zu entnehmen, daß dies letztlich wohl auch den Intentionen Hoyers entspricht.

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der Eignungsdelikte im formellen Sinne gibt, wird erklärlich, wenn man berücksichtigt, daß in einigen Fällen die nicht tolerablen Risiken allein durch die Umschreibung bestimmter Verhaltensweisen definiert werden können,107 während bei anderen Verhaltensweisen eine zusätzliche - an jeweils unterschiedlich gefaßte Kriterien gebundene - Gefährlichkeitsprüfung hinzukommen muß. 108 Eine Fortftihrung dieses Ansatzes müßte sich mit der Frage auseinandersetzen, wie weit der Gesetzgeber die Gefahrkriterien zu konkretisieren hat. 109 Des weiteren wäre zu klären, ob eine wie auch immer ausgestaltete Eignungsklausel im Wege der Auslegung auch in die abstrakten Gefährdungsdelikte hineinzulesen ist, die eine solche nicht enthalten. HO Eine Beschäftigung mit diesen Fragestellungen kann an dieser Stelle zurückgestellt werden. Festzuhalten bleibt, daß dieser Ansatz zwar die spezifische Legitimationsbedürftigkeit der Pönalisierung generell gefährlicher Verhaltensweisen aufzeigt, gleichzeitig aber auch deutlich macht, daß der strukturellen Heterogenität der unter dem Sammelbegriff der abstrakten Gefährdungsdelikte zusammengefaßten Deliktstypen hinreichend Rechnung zu tragen ist. bb) Modelle zur Kategorisierung der abstrakten Gefährdungsdelikte

Modelle zur Strukturierung der Deliktsgruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte sind bereits von verschiedenen Autoren vorgelegt worden. Als wirkungsmächtig hat sich insbesondere ein von Schünemann III entwickelter und in seinen wesentlichen Grundzügen unter anderem von WoIter l12 und Roxin l13 übernommener Ansatz erwiesen. Unterschieden werden hiernach im wesentlichen vier Deliktskategorien: 114 Zunächst eine von Schünemann als "fahrlässige Versuchsdelikte" , 115 von Roxin als 107 Volz, Unrecht, S. 148. Diese Auffassung dürfte auch der Entscheidung BGH, JR 1997, 253, 253/254 mit Anm. Sack zugrundezuliegen. 108 Vgl. Berz, Tatbestandsverwirklichung, S. 59 f.; Brehm, Dogmatik, S. 83; Cramer, Vollrauschtatbestand, S. 69 f.; Martin, Strafbarkeit, S. 99 ff.; Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 201 f. sowie Fischer, GA 1989,445,447/448, der in der Eignungsklausel ein "restriktives Tatbestandsmerkmal" sieht. Vgl. Berz, Tatbestandsverwirklichung, S. 59; zu den für die Annahme eines "konkret gefährlichen Zustands" relevanten Umständen und Maßstäben vgl. Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 87 ff. 109 Vgl. Hoyer, JA 1990, 183, 184; Iburg, NStZ 1997,547 m. w. N. 110 Vgl. Hoyer, Eignungsdelikte, S. 200 f.; Saal, Straftat, S. 66 ff. 111 JA 1975,787,798. 112 Zurechnung, S. 276 ff. 113 StrafR AT, Teilbd. 1, § 11 Rdnrn. 128 ff. 114 Wolter unterscheidet mit den "Risikodelikten" (Zurechnung, S. 325 f.; vgl. auch Armin Kaufmann, JZ 1971, 569, 576), den "Prüfstellendelikten" (Zurechnung, S. 320 f.; vgl. auch Armin Kaufmann, JZ 1971,569,576) und den von ihm im Rahmen der Massenhandlungen als zweite Unterkategorie angeführten Verhaltensweisen, bei denen die Kontroll- und Über-

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,,klassische abstrakte Gefährdungsdelikte,,116 und von Wolter als "uneigentlich abstrakte Gefährdungsdelikte,,117 bezeichnete Nonnengruppe, für die beispielhaft der Straftatbestand des § 306 dStGB (a.F.) steht und bei denen in erster Linie die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung des Anwendungsbereichs diskutiert und von der h.M. unter im einzelnen bestrittenen Voraussetzungen bejaht wird. 118 Daneben steht die von Wolter als "eigentliche abstrakte Gefährdungsdelikte,,119 bezeichnete, sonst aber unter dem Begriff der ,,Massenhandlungen" finnierende Deliktskategorie. Hier sollen Verhaltensweisen erfaßt werden, bei denen aus lerntheoretischen Gründen eine Pönalisierung geboten sei. Weil es dem einzelnen Bürger nicht erlaubt werden könne, im Einzelfall über die Verbindlichkeit eines Verbots selbstverantwortlich zu entscheiden, müsse eine einschränkende Auslegung von vornherein ausscheiden. 120 Die eigentlichen abstrakten Gefährdungsdelikte seien deshalb "insofern restriktiv zu handhaben, als für sie nur präzise gefaßte Verhaltensweisen in Betracht kommen, die generell Ursache schwerster Rechtsgutsgefährdungen und -verletzungen sein können".121 Als typisches bzw. klassisches Beispiel gilt die Trunkenheit im Verkehr (§ 316 dStGB). Die dritte Kategorie bilden die sog. Delikte mit vergeistigtem Zwischenrechtsgut. Hier sollen Verhaltensweisen erfaßt werden, bei denen ein durch die sozialen Anschauungen konstituiertes vergeistigtes Zwischenrechtsgut verletzt wird. Als typische Beispiele gelten die Falschaussage- und Bestechungsdelikte. 122 Die vierte wachungsmöglichkeit im Vordergrund steht (Zurechnung, S. 277), drei weitere Deliktskategorien, bei denen aber zweifelhaft ist, ob diesen tatsächlich ein eigenständiger Anwendungsbereich zukommt. Bei den Prüfstellendelikten und den aus Überwachungsgründen pönalisierten Massenhandlungen dürften letztlich die gleichen Verhaltensweisen in Frage stehen. Auch die Risikodelikte wird man verschiedenen anderen Deliktskategorien zuordnen können (vgl. Graul, Gefährdungsdelikte, S. 128 ff.; Horn, Gefährdungsdelikte, S. 213 ff.). l\S JA 1975,787,798. 116 StrafR AT, Teilbd. I, § 11 Rdnr. 128. 117 Zurechnung, S. 278. 118 Vgl. Jakobs, StrafR AT, 6/89 m.w.N. sowie Le. Woher, Zurechnung, S. 278 ff., 292 ff., der es ablehnt, mit Schünemann bereits den untauglichen fahrlässigen Versuch für strafwürdig zu erachten. Zu fordern sei, daß der Täter ein vollumfänglich adäquates Todesrisiko geschaffen habe. Grundsätzlich ablehnend gegenüber einer einschränkenden Auslegung des § 306 dStGB insbesondere Kratzsch, Verhaltenssteuerung, S. II1 ff., 277 ff.; vgl. auch Graul, Gefährdungsdelikte, S. 358 ff., die nur Einschränkungen der Strafbarkeit für zulässig erachtet. 119 Zurechnung, S. 277. 120 Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 11 Rndr. 133; Schünemann, JA 1975,798; Woher, Zurechnung, S. 187,277,319 f.; vgl. auch Jakobs, StrafR AT, 6/88; Ahn, S. 118 ff.; Graul, Gefährdungselikte, S. 154 Fußn. 70; Hoyer, JA 1990, 183, 185; Lagodny, Strafrecht, S. 442, 481; kritisch hierzu: F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 35. 121 WoIter, Zurechnung, S. 303. 122 Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 11 Rdnr. 134; Schünemann, JA 1975,787,793 und 798; Woher, Zurechnung, S. 303, 328 f.; vgl. auch Saal, Straftat, S. 103 ff.; kritisch hierzu Jakobs, StrafR AT, 2/25b a.E.

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und letzte Kategorie bilden dann schließlich die bereits oben angesprochenen Eignungsdelikte. 123 Gegen die skizzierte Kategorienbildung ist einzuwenden, daß das Bedürfnis nach Verhaltenssteuerung mit der Legitimation des Einsatzes strafrechtlichen Zwangs vermengt wird. Insbesondere die Subkategorien der ,,Massenhandlungen" und der "Delikte mit vergeistigtem Zwischenrechtsgut" erschöpfen sich darin, eine aus pragmatischen Gründen für opportun gehaltene Pönalisierung mit einer Scheinbegründung zu legitimieren. 124 Soweit zur Unterscheidung der - in der Terminologie Roxins - ,,klassischen abstrakten Gefahrdungsdelikte" von den ,,Massenhandlungen" wesentlich darauf abgestellt wird, daß bei der einen Kategorie eine einschränkende Auslegung des Anwendungsbereichs geboten und bei der anderen Kategorie ausgeschlossen sei, mag dies eine für den Rechtsanwender relevante Differenzierung sein; bezogen auf die Rolle des Gesetzgebers beschreibt die Begründung, bei den sog. Massenhandlungen sei eine strikte Pönalisierung unabdingbar, einen geradezu klassischen Zirkelschluß: die Legitimität der Norm hängt ja gerade davon ab, daß es legitim ist, die sog. Massenhandlungen allein aufgrund ihrer generellen Gefährlichkeit unter Strafandrohung zu stellen. Der Verweis auf "lerntheoretische" Notwendigkeiten führt ebenfalls nicht weiter, sondern verschiebt allein die Fragestellung. Zu begründen 125 wäre, daß "lerntheoretische" Notwendigkeiten eine Pönalisierung zu tragen vermögen. 126 Die Kategorien der ,,Eignungsdelikte" und der ,,Delikte mit vergeistigtem Zwischenrechtsgut" erschöpfen sich im wesentlichen darin, bestimmte, de lege lata geltende Straftatbestände anhand bestimmter Merkmale in Kategorien zusammenzufassen. Abgesehen davon, daß man - wie bereits oben dargestellt wurde - die 123 Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 11 Rdnr. 135; Schünemann, JA 1975,787,793; Wolter, Zurechnung, S. 321 ff. 124 Vgl. auch F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 34 ff.; Kindhäuser, Gefährdung, S. 269. 125 Eine materielle Begründung für die Strafwürdigkeit von Massenhandlungen will Hoyer daraus herleiten, daß die Integrität des in Frage stehenden Rechtsguts nicht der Beurteilungskompetenz der jeweils handelnden Personen ausgesetzt werden solle (JA 1990, 183, 185). Strafgrund sei - wie auch beim untauglichen Versuch - das sich aus der Möglichkeit von Fehleinschätzungen ergebende Irrtumsrisiko (JA 1990, 183, 186). Die Frage ist aber: Kann dies auch dann gelten, wenn es an dem für den (untauglichen) Versuch konstitutiven subjektiven Bezug auf den Unrechtserfolg fehlt? 126 Kritisch insoweit auch Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 373. Gleiches gilt für einen von Saal entwickelten Ansatz, der danach unterscheiden will, ob durch das abstrakte Gefährdungsdelikt ein Individualrechtsgut oder ein Rechtsgut der Allgemeinheit geschützt werden soll. Während er bei der erstgenannten Kategorie eine Ausscheidung der erwiesenermaßen ungefährlichen Verhaltensweisen aus dem Strafbarkeitsbereich für geboten erachtet, soll dies bei der zweiten Kategorie nicht möglich und (deshalb?) auch nicht geboten sein (Saal, Straftat, S. 90 ff.). Für notwendig erachtet er dann allerdings die Ausgrenzung von Minimalverstößen (Ebd., S. 95 ff., 112 ff.). Daß es legitim ist, die nicht unter die Bagatellklausel fallenden, möglicherweise für Kollektivrechtsgüter gefährlichen Verhaltensweisen unter Strafe zu steilen, wird von Saal dann allerdings nicht begründet, sondern schlicht vorausgesetzt.

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Kategorie der Eignungsdelikte wohl eher nicht als eine unter materiellen Gesichtspunkten eigenständige Deliktskategorie anerkennen kann und die Kategorie der Delikte mit vergeistigtem Zwischenrechtsgut alle bereits oben dargelegten Probleme der Rechtsgutstheorie übernimmt und deshalb allenfalls zu einer sehr randunscharfen Deliktskategorie führen kann,127 bleibt auch hier die eigentliche Legitimationsproblematik offen: Wann bzw. unter welchen Voraussetzungen ist es legitim, auf die Deliktsgruppe der Eignungsdelikte zurückzugreifen? Wann bzw. unter welchen Voraussetzungen darf der Gesetzgeber welchen - wie auch immer bestimmten bzw. konkretisierten - vergeistigten Zwischenrechtsgütern strafrechtlichen Schutz gewähren? Da abstrakte Gefahrdungsdelikte unstreitig eine Ausweitung des Stratbarkeitsbereiches auf Verhaltensweisen zur Folge haben, die weder von Verletzungs- noch von konkreten Gefahrdungsdelikten erfaßt wären, ist maßgebend, ob und wenn ja unter welchen Voraussetzungen es legitim sein kann, eine Verhaltensweise allein aufgrund der ihr innewohnenden generellen bzw. typischen Gefahrlichkeit zu pönalisieren. cc) Maßstäbe zur Unterscheidung legitimer und illegitimer abstrakter Gefährdungsdelikte

In der Strafrechtswissenschaft haben verschiedene Autoren Vorschläge entwikkelt, anhand derer zwischen legitimen und illegitimen Gründen ftir die Schaffung abstrakter Gefahrdungsdelikte unterschieden werden soll. So will beispielsweise Weber 128 die Schaffung abstrakter Gefahrdungsdelikte dann ftir legitim erachten, wenn die Verantwortlichkeit für einen eingetretenen Erfolg trotz stark schadensgeneigtem Verhalten nicht sicher feststellbar 129 bzw. die Feststellung eines Verletzungserfolges schwierig sei 130 oder es darum gehe, die Zufallskomponente auszuschalten. 13l Illegitim soll es dagegen sein, wenn durch abstrakte Gefahrdungstatbestände der präventive Verwaltungszwang gestärkt 132 oder Zugriffsgründe geschaffen werden. 133 Letztlich bleibt aber auch hier wieder offen, warum es legitim sein soll, Straftatbestände zu schaffen, um so die Zufallskomponente auszuschalten oder Feststellungsschwierigkeiten zu umgehen. l34

127 Vgi. F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 34 f. mit dem zutreffenden Hinweis darauf, daß keine Kriterien ersichtlich sind, anhand derer das Vorliegen eines (legitimen) Zwischenrechtsguts geprüft werden kann; in der Sache ähnlich: Zieschang, Gefahrdungsdelikte, S. 371. Wie unten zu zeigen sein wird, wird man diese Deliktskategorie wohl eher über den Begriff des Kumulationsdelikts erfassen können; vgl. Jakobs, StrafR AT, 6/88 sowie Wolter, Zurechnung, S. 328 f. 128 ZStW Beiheft 1987, 1,23 ff. 129 Beispiele: §§ 227 a.F. (= § 231 n.F.), 283 dStGB. 130 Beispiele: §§ 94 ff., 153 ff., 234a Abs. 3, 241a, 324 ff. dStGB; § 95 AMG, §§ 51 f. LMBG, § 67 WeinG. 131 Beispiel: § 316 dStGB.

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Jakobs erkennt an, daß das Bedürfnis nach abstrakten Gefährdungsdelikten von den Voraussetzungen zu trennen ist, unter denen der Erlaß entsprechender Nonnen legitim sein kann. Das Bedürfnis für abstrakte Gefährdungsdelikte leitet sich für ihn aus der Notwendigkeit der Standardisierung von Verhaltensweisen ab. 135 Hinsichtlich der Legitimierung entsprechender Straftatbestände geht er von der Prämisse aus, daß der Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes nicht verabsolutiert werden dürfe, sondern vielmehr - in einer freiheitlichen Gesellschaft - ein dem staatlichen Zugriff entzogener Freiraum des Individuums zu respektieren sei. 136 Dieser Freiraum umfasse neben dem unstreitigen Bereich des forum internum auch die der Privatsphäre des 9ürgers zuzurechnenden Verhaltensweisen, wie z. B. einvernehmliche Kontakte mit anderen Bürgern, sozialadäquates sowie per se unauffälliges externes Verhalten. 137 Legitim könne eine Pönalisierung erst dann sein, wenn sich der Bürger anmaße, fremde Organisationskreise in einer ihm nicht zukommenden Art und Weise zu organisieren. 138 Zur Bewertung der in Frage stehenden Straftatbestände will Jakobs auf drei Tatbestandstypen zurückgreifen: 139 1. Externes Verhalten, das eo ipso störe und bei dem lediglich die Schadensneigung generalisierend bestimmt werde. Beispiele seien hier die Aussagedelikte der §§ 153 ff. dStGB sowie die schwere Brandstiftung gemäß § 306 (a.F.) dStGB. 2. Verhaltensweisen, bei denen die externe Störung generalisierend festgelegt werde. Als Beispiele nennt Jakobs hier neben der folgenlosen Trunkenheitsfahrt (§ 316 dStGB) die §§ 283, 328 dStGB. 3. Verhaltensweisen, die ohne ein nachfolgendes Zutun des Täters oder einer anderen Person überhaupt nicht oder allenfalls minimal gefährlich seien. Beispielhaft seien hier die Straftatbestände der §§ 52 ff. WaffG. Die Legitimation der in die beiden erstgenannten Kategorien einzuordnenden Straftatbestände scheint Jakobs für zumindest im Grundsatz weitgehend unproblematisch zu halten. Da hier das gefährliche Verhalten komplett vollzogen sei, sei die Vorverlagerung der Strafbarkeit nicht größer als beim vollendeten Versuch. 140 Diese ,,kleinstmögliche" Vorverlagerung sei als legitim anzusehen, wenn der Täter sich der Möglichkeit begeben habe, "eine riskante Gestaltung seines OrganisatiVgl. Weber, ZStW Beiheft 1987, 1,30. Beispiele: §§ 129, 129a dStGB. 134 Ablehnend insoweit: Zieschang, Gefahrdungsdelikte, S. 385 f. 135 Jakobs, StrafR AT, 61 86a. 136 Jakobs, StrafR AT, 21 25a, 25b; ders., ZStW 97 (\985), 751, 753 ff. 137 Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 761 f.; kritisch zur mangelnden Klarheit der Abgrenzung: Hirsch, Lampe, Kühl und Tiedemann, zitiert nach: Gropp, ZStW 97 (1985), 919, 922 f., 925 f. und hierzu wiederum die Entgegnung von Jakobs, zitiert nach Gropp, ZStW 97 (1985), 919,928 f. 138 Jakobs, StrafR AT, 2/25a, 6/86a; ders., ZStW 97 (1985), 751, 762. 139 Jakobs, StrafR AT, 61 86a; ders., ZStW 97 (\985), 751, 768 ff. 140 Vgl. Jakobs, StrafR AT, 6/86a, S. 173; ders., ZStW 97 (\985), 751, 769. 132

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7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts

onskreises zu entschärfen,,141 und kein volldeliktisches Verhalten mehr nachfolgen müsse. 142 Anzumerken ist hierzu, daß die Begründung über eine Gleichsetzung mit dem vollendeten Versuch dem Einwand ausgesetzt ist, daß die Pönalisierung generell gefährlicher Verhaltensweisen auch und gerade die Fälle erfaßt, in denen es an der für das Versuchsdelikt charakteristischen subjektiv-finalen Verknüpfung mit einer prospektiv erwarteten Schädigung fehlt. Vor diesem Hintergrund wäre wohl eher die Gleichsetzung mit dem fahrlässigen Versuch angemessen, die dann aber - wie bereits oben angemerkt wurde 143 - die Frage nach der Legitimität der Pönalisierung des fahrlässigen Versuchs aufwirft. In der Sache selbst verbleibt damit der Hinweis auf die durch den Kontrollverlust qualifiziert riskante Gestaltung des eigenen Organisationskreises. Daß es sich hierbei um den auch für Jakobs letztlich entscheidenden Gesichtspunkt handeln dürfte, bestätigen die Ausführungen zu den Straftatbeständen der dritten Kategorie, bei der Jakobs eine problematische Vorverlagerung der Strafbarkeit konstatiert l44 und letztlich eine differenzierende Sichtweise befürwortet: Eine Pönalisierung sei auch hier nur dann legitim, wenn der Tater nicht mehr in der Lage sei, "eine riskante Gestaltung seines Organisationskreises zu entschärfen.,,145 Hervorgehoben wird der Fall, daß "Prototypen von Deliktsmitteln" produziert werden (z. B. Waffen, Falschgeld, gefälschte Pässe, Rauschgift), die von irgendeiner beliebigen Person - auch gegen den Willen des Produzenten - für deliktische Zwecke genutzt werden können. 146 Ein illegitimer Eingriff in den Internbereich des Bürgers liege demgegenüber dann vor, wenn - wie etwa bei § 267 Abs. 1 I. Alt. dStGB 147 - eine Interpretation der Verhaltensweise ohne Rückgriff auf den Planungszusammenhang des Taters überhaupt nicht möglich sei. 148 Jakobs geht davon aus, daß die Legitimation von Straftatbeständen entscheidend von den für die Bestimmung der Sphäre der Verantwortlichkeit des einzelnen Bürgers maßgebenden Kriterien abhängig ist. Sein Versuch, die Sphäre der VerantJakobs, ZStW 97 (1985), 751, 766. Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 769. Soweit Jakobs außerdem noch das Bedürfnis nach Standardisierung betont (vgl. a. a. 0., S. 767; vgl. auch a. a. 0., S. 770 - die an dieser Stelle gegebenen Beispiele passen nicht zu der Kategorie der Vorbereitungshandlungen, sondern gehören in den Zusammenhang der ersten beiden Kategorien), muß dies als eine mit seinem Grundansatz nicht zu vereinbarende Argumentation außer Betracht bleiben. 143 Vgl. oben S. 289 f. 144 Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 769. 145 Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 766. 146 Jakobs, StrafR AT, 6/86a, S. 173; ders., ZStW 97 (1985), 751, 770 f.; vgl. auch Ahn, Dogmatik, S. 123 ff., der die Pönalisierung des unerlaubten Waffenbesitzes für unverhältnismäßig, die Pönalisierung der Ge\dfälschung und des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln dagegen für legitimierbar erachtet. 147 Vgl. insoweit auch Ahn, Dogmatik, S. 122 f., der ebenfalls die Legitimität der Strafnorm verneint. 14M Jakobs, StrafR AT, 6/86a, S. 173/174; ders., ZStW 97 (1985), 751, 758 ff., 771 ff. 141

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11. Abstrakte Gefahrdungsdelikte als Typen der Risikoschaffung

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wortlichkeit durch das Kriterium der unerlaubt riskanten Gestaltung des eigenen Organisationskreises bzw. der - damit verbundenen? - Anmaßung der Gestaltung anderer Organisationskreise zu bestimmen, erscheint ausbaufahig, aber auch ausbaubedürftig. Notwendig dürfte insbesondere eine genauere Ausarbeitung der Kriterien sein, anhand derer zu beurteilen ist, ab wann eine Gestaltung des eigenen Organisationskreises als unerlaubt riskant anzusehen ist. Da praktisch jede Verhaltensweise Auswirkungen auf den sozialen Nah- und/oder Fernbereich des Handelnden hat,149 wird man nicht auf eine faktische Beherrschbarkeit der Folgewirkungen abstellen können, sondern vielmehr Kriterien heranziehen müssen, anhand derer die normativ noch als tolerabel erscheinenden von den nicht mehr hinnehmbaren Risiken unterschieden werden können. Zu berücksichtigen ist dann aber auch, daß generell gefährliche Verhaltensweisen höchst unterschiedliche Risikopotentiale aufweisen: Während das immanente Risiko einiger Verhaltensweisen darin besteht, daß bereits das unbewußte Verhalten anderer Personen das Risiko zur konkreten Gefährdung oder gar Schädigung eines Interesses komplettieren kann - beispielhaft: der Passant betritt die Fahrbahn, auf der sich der alkoholisierte Kraftfahrer nähert -, ist bei anderen Verhaltensweisen ein bewußtes Anknüpfen des Täters oder einer anderen Person notwendig - beispielhaft: die Schädigung kollektiver Rechtsgüter setzt regelmäßig gleichgerichtete Verhaltensweisen einer Vielzahl von Personen voraus. Bei wieder anderen Verhaltensweisen muß der Handelnde selbst oder eine andere Person das "Ergebnis" der Verhaltensweise zum Ausgangspunkt für eine eigene Handlung nehmen. Die entscheidende Fragestellung lautet also: Welches nachfolgende Verhalten welcher Person muß der Täter als Teil des von ihm zu organisierenden Verhaltenskreises mitverantworten und aus diesem Grunde in seine Verhaltensorientierung einbeziehen?lso

11. Abstrakte Gerährdungsdelikte als Typen der RisikoschatTung 1. Einführung Als ein wesentliches Ergebnis der obigen Ausftihrungen bleibt festzuhalten, daß abstrakte Gefährdungsdelikte nicht über das Fehlen einer realen Rechtsgutsbeeinträchtigung und / oder das Fehlen einer konkreten Gefahr für ein Rechtsgutsobjekt definiert werden können. Der gemeinsame Nenner der in dieser Deliktsgruppe versammelten Straftatbestände ist nicht die "abstrakte Gefährdung" eine Rechtsguts, sondern vielmehr die den jeweils in Frage stehenden einzelnen Verhaltensweisen immanente "generelle Gefahrlichkeit". Der Sache nach sind abstrakte Gefähr149

ISO

Hierzu bereits Jakobs, ZStW 89 (1977), 1,20; vgl. auch oben S. 273 f. Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 770; vgl. auch von Hirsch, Hann Principle, S. 266/267.

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7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts

dungsdelikte damit eigentlich gar keine Gefährdungsdelikte, sondern vielmehr ,,Risiko- bzw. Gefährlichkeitsdelikte".151 Die nachfolgend zu entwickelnde Neustrukturierung der gemeinhin in der Kategorie der abstrakten Gefährdungsdelikte zusammengefaßten Straftatbestände knüpft an diese Erkenntnis an. Ziel des hier vertretenen Ansatzes ist es, innerhalb der Gruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte verschiedene "Typen der Risikoschaffung" (Frisch)152 voneinander abzugrenzen, um dann prüfen zu können, ob und unter welchen Voraussetzungen bei Verwendung dieser Deliktstypen der Einsatz strafrechtlicher Zwangsmittel zu legitimieren ist. Die an die Straftatbestände des geltenden Rechts anknüpfende induktive Vorgehensweise könnte den Einwand provozieren, sie wiederhole den oben im Hinblick auf die Strukturierungsmodelle anderer Autoren kritisierten Ansatz, die vom Gesetzgeber für opportun erachteten Pönalisierungsentscheidungen lediglich systematisierend nachzuvollziehen. Diesem Einwand ist zunächst entgegenzuhalten, daß die Erfassung und Strukturierung des Stoffes nicht notwendigerweise die Bewertung präjudizieren muß. Wenn und soweit beide Schritte bewußt voneinander getrennt und insbesondere die Legitimation einer Pönalisierung nicht aus dem Motiv des Gesetzgebers abgeleitet wird, dürfte eine Vermengung mit ausreichender Sicherheit zu vermeiden sein. Des weiteren ist zu konstatieren, daß der erste Schritt der Erfassung und Strukturierung des Stoffes gar nicht anders als induktiv durchgeführt werden kann. 153 Abgesehen davon, daß es nicht durchführbar erscheint, eine Systematik der Deliktstypen sozusagen "am grünen Tisch" zu konstruieren, bietet die Vorgehensweise, sich an den Straftatbeständen des geltenden Rechts zu orientieren, eine Reihe von Vorteilen: Zum ersten kann die amorphe Masse der gemeinhin unter dem Sammelbegriff der "abstrakten Gefährdungsdelikte" zusammengefaßten Straftatbestände aufgespalten und so einer den jeweiligen Besonderheiten Rechnung tragenden Untersuchung zugänglich gemacht werden; zum zweiten wird durch die Herausarbeitung bestimmter Deliktstypen die eigenständige Bedeutung der bei der Bewertung einzelner konkreter Straftatbeslände nicht hinreichend deutlich hervortretenden und deshalb häufig in ihrer Bedeutung vernachlässigten Deliktsstruktur betont. Schließlich spricht für den hier gewählten Ansatz seine Flexibilität: Sollte sich zu einem späteren Zeitpunkt erweisen, daß ein bestimmter Deliktstypus nicht hinreichend berücksichtigt wurde, kann die Gesamtsystematik ohne weiteres entspre-

151 So bereits zutreffend Hirsch, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 549 f., 558 im Anschluß an A.H. Meyer, Gefährlichkeitsdelikte, S. 183 ff.; vgl. auch Horn, in: SKStGB, Vor § 306 Rdnr. 15. 152 Vgl. auch bereits Jenny I Kunz, Bericht, S. 96, die in dem von ihnen als potentielles Gefährdungsdelikt bezeichnete Deliktstyp eine für weite Bereiche des Umweltstrafrechts ..angemessene Risikovertypung" sehen. 153 Vgl. auch die entsprechende Vorgehensweise bei Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 86 ff.

11. Abstrakte Gefährdungsdelikte als Typen der Risikoschaffung

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chend angepaßt werden, ohne daß dies die sonstige Systematik mitsamt der aus ihr gewonnenen Erkenntnisse zwingend entwerten würde. Die ausschließlich dienende Funktion der nachfolgend zu entfaltenden Systematik zeigt sich schließlich auch daran, daß eine randscharfe Zuordnung einzelner Straftatbestände weder beabsichtigt noch notwendig ist. Wenn bei einzelnen Straftatbeständen des geltenden Rechts mehrere der nachfolgend entwickelten Typen der Risikoschaffung kombiniert auftreten, stellt dies nicht die Systematik als solche in Frage, sondern bedeutet nur, daß die Legitimität dieser Straftatbestände im Hinblick auf die durch die kombinierten Deliktstypen in ihrer Gesamtheit repräsentierten Problemstellungen begründet werden muß.

2. Die Systematik im Überblick Im Rahmen einer auf das Kriterium des immanenten Risikopotentials von Verhaltensweisen abstellenden Systematik müssen zunächst in grundsätzlicher Hinsicht zwei Kategorien von Straftatbeständen unterschieden werden: zum einen die Tatbestände, die Verhaltensweisen erfassen, durch die Interessen (Rechtsgüter) unmittelbar beeinträchtigt werden; zum anderen Tatbestände, die Verhaltensweisen erfassen, die für sich allein gesehen ein gegebenes Interesse (Rechtsgut) noch nicht unmittelbar beeinträchtigen. Die erste Kategorie bilden die in herkömmlicher Terminologie als Erfolgsdelikte und konkrete Gefährdungsdelikte bezeichneten Straftatbestände - wenn und soweit sie auf den Schutz personaler Interessen (Individualrechtsgüter) abzielen. Hierbei kann es auch Fälle geben, in denen das Interesse am Bestand bzw. an der Nutzbarkeit personaler Interessen erst durch die Summierung mehrerer, unabhängig voneinander erbrachter Einzelbeiträge verschiedener Personen beeinträchtigt wird. Zur Veranschaulichung kann neben dem von Daxenberger erörterten Beispiel des durch zahlreiche Passanten im Laufe eines Jahres verursachten "Trampelpfades" auf einem Grundstück l54 insbesondere auf das Rechtsgut der ,,Ehre" verwiesen werden: Das Interesse an der Wahrung eines gesellschaftlichen Achtungsanspruches wird erst dadurch real beeinträchtigt, daß dem Rechtsgutsträger von einer als relevant anzusehenden Anzahl von Gesellschaftsmitgliedem der ihm zukommende Achtungsanspruch abgesprochen bzw. dieser in der sozialen Interaktion nicht gebührend beachtet wird. Unter Zugrundelegung der hier zu entwickelnden Systematik handelt es sich bei den Ehrdelikten damit um den Sonderfall eines auf den Schutz eines personalen Interesses abzielenden kombinierten Kumulations- und Vorbereitungsdelikts. 155 Dies alles ändert aber nichts daran, daß im Regelfall perVgl. Daxenberger, Kumulationseffekte, S. ISS. Vgl. auch Keller, ZStW 107 (1995),457,475: Der Mangel an äußerer Gegenständlichkeit der Ehre führe in die Nähe der abstrakten Gefahrdungsdelikte. IS4

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sonale Interessen bereits durch das Verhalten einer einzelnen Person effektiv beeinträchtigt - und das heißt: geschädigt - werden können. 156 Grundlegend anders ist dies bei kollektiven Interessen: Ein auf den Schutz kollektiver Interessen abzielender Einsatz von Erfolgs- und I oder konkreten Gefahrdungsdelikten wäre auf die - aus praktischer Sicht eher irrelevant, wenn nicht sogar absurd anmutende - Pönalisierung von ,,Megaverstößen" (Hefendehl) beschränkt. Beispielhaft: Das Interesse an der Funktionsfähigkeit bestimmter staatlicher Institutionen, wie z. B. der Rechtspflege, der Verwaltung usw., kann schon von vornherein durch das Verhalten einzelner Personen nicht in einer als relevant anzusehenden Art und Weise beeinträchtigt werden. 157 Andere kollektive Interessen, wie z. B. das Interesse an intakten Umweltmedien, können zwar zumindest theoretisch durch ,,Megaverstöße" relevant beeinträchtigt werden. Hier würde sich aber nicht nur die Frage stellen, ob nach derartigen ,,Megaverstößen" überhaupt noch eine Institution zur Verfügung steht, die eine strafrechtliche Ahndung durchsetzen kann, sondern auch, welchem Zweck diese Ahndung dann noch dienen soll. Zu berücksichtigen ist weiterhin, daß derartige ,,Megaverstöße" regelmäßig gar nicht das Werk einer einzelnen Person sind, sondern vielmehr das Ergebnis der Summation einer Vielzahl für sich gesehen irrelevant erscheinender Einzelbeiträge. Sollen kollektive Rechtsgüter vor Beeinträchtigungen katastrophaler Art geschützt werden, müssen die einzelnen Kumulationsbeiträge erfaßt werden, bevor sich diese zu einer ,,Megabeeinträchtigung" summieren können. 158 Hieraus folgt: Ein auf den Schutz kollektiver Rechtsgüter abzielender Gesetzgeber kann sich nicht auf den Deliktstypus des Erfolgsdelikts zurückziehen, sondern muß Verhaltensweisen erfassen, die zwar fur sich gesehen das jeweils betroffene kollektive interesse (Rechtsgut) nicht in relevanter Art und Weise beeinträchtigen können, die aber, wenn und soweit es zu einer Vielzahl gleichgerichteter Handlungen kommt, als Teilbeitrag zu einem ,,Megaverstoß" anzusehen wären. 159 Erfaßt werden müssen damit aber notwendigerweise Verhaltensweisen, die ein kollektives Interesse nicht unmittelbar beeinträchtigen, sondern vielmehr Verhaltensweisen, die zwar mittelbar zu einer Beeinträchtigung führen können, bei denen es aber nicht sicher ist, ob es zu einer derartigen Schädigung tatsächlich kommen wird. Der Schutz 156 Auch in den Fällen der Schädigung eines personalen Interesses als Folge einer Summation für sich gesehen nicht ausreichender Einzelbeiträge bei unbewußtem Zusammenwirken mehrerer Personen stellt sich das Problem der objektiven Zurechenbarkeit des Gesamtschadens. 157 Vgl. Feinberg, Vol. I, S. 11,225,228; Papageorgiou, Schaden, S. 282; Weber, ZStW Beiheft 1987, 1,9 f. mit dem Hinweis darauf, daß auch der Bestand eines Staates nur durch das arbeitsteilige - nicht aber notwendig unter die Voraussetzungen der §§ 25 ff. dStGB fallende - Zusammenwirken mehrerer Personen konkret gefährdet bzw. beeinträchtigt werden kann. 158 Angesichts der ,,Robustheit" kollektiver Güter wäre dieses Ziel aus rein funktionalistischer Sicht bereits dann erreicht, wenn eine Minderheit der Bürger veranlaßt werden könnte, an der Bereitstellung eines kollektiven Gutes mitzuwirken (vgl. Baurrnann, Markt, S. 564). 159 Vgl. Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 124.

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kollektiver Rechtsgüter fällt damit grundsätzlich in den Bereich der zweiten Deliktskategorie. Das gemeinsame Kennzeichen der durch die zweite Deliktskategorie erfaßten Verhaltensweisen liegt darin, daß hier eine reale Beeinträchtigung eines gegebenen Interesses nicht aus der durch den Straftatbestand erfaßten Verhaltensweise allein resultieren kann, sondern der Erfolg erst durch ein weiteres Verhalten des Täters oder einer anderen Person (des Opfers oder eines Dritten) herbeigeführt wird. Bei den Straftatbeständen des geltenden Rechts lassen sich im wesentlichen drei Subkategorien mit jeweils unterschiedlichem Risikopotential unterscheiden: 160 I. Die Verhaltensweisen, deren Gefährlichkeit darauf beruht, daß sie zu Situationen führen, die für den Tater nicht mehr steuerbar sind und die - wenn nur ein entsprechendes Tatobjekt (Rechtsgutsobjekt) in den Einwirkungsbereich des Täters gelangt wäre - ohne weiteres eine konkrete Gefährdung und gegebenenfalls auch eine Beeinträchtigung zur Folge gehabt hätten. 161 Im Anschluß an Hans Joachim Hirsch 162 wird man diese Tatbestände als "konkrete Gefährlichkeitsdelikte" bezeichnen köm~en. 163 Der Sache nach handelt es sich um potentielle Erfolgs- bzw. potentiell-konkrete Gefährdungsdelikte. 164 Der Anwendungsbereich dieses DeIiktstyps ist folgerichtig wiederum auf den Schutz personaler Interessen (Individualrechtsgüter) beschränkt. Charakteristische Beispiele aus dem de lege lata geltenden Strafrecht wären insoweit die folgenlose Trunkenheitsfahrt (§ 316 dStGB) sowie die schwere Brandstiftung (§ 306 dStGB a.F. = § 306a dStGB n.F.). 2. Die Verhaltensweisen, die zwar für sich allein gesehen ein rechtlich geschütztes Interesse nicht zu beeinträchtigen vermögen, die aber im Zusammenwirken mit anderen, gleichgerichteten Verhaltensweisen zu einer relevanten Beeinträchtigung 160 Übereinstimmung in der Sache besteht zu der Kategorisierung bei von Hirsch, Harrn Principle, S. 262 ff. Zieschang unterscheidet im Rahmen seiner Untersuchung vier Subkategorien von nicht-Verletzungsdelikten: konkrete Gefährdungsdelikte, abstrakte Gefährdungsdelikte, potentielle Gefährdungsdelikte und konkrete Gefährlichkeitsdelikte (Gefährdungsdelikte, S. 347). Hinsichtlich der Subkategorie des konkreten Gefährlichkeitsdeliktes besteht eine Parallele zu der vorliegenden Unersuchung. Die der Subkategorie der abstrakten und potentiellen Gefährdungsdelikte zugerechneten Delikte werden in der vorliegenden Untersuchung den Subkategorien der Kumulations- und Vorbereitungsdelikte zugerechnet. Die weitere Subkategorie der konkreten Gefährdungsdelikte ist bereits behandelt worden (vgl. oben S. 284 ff.). 161 Vgl. Hoyer, JA 1990, 183, 187 f.; ders., Eignungsdelikte, S. 97 ff., 107 sowie Martin, Strafbarkeit, S. 83 ff., die in der Etablierung derartiger Gefahrenquellen eine dem Erfolg der konkreten Gefährdung eines Rechtsgutsobjekts strukturell vergleichbare Verursachung eines "abstrakten Gefahrerfolgs" sehen. 162 Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 559; vgl. auch Zieschang, Gefahrdungsdelikte, S. 53 f. 163 Näher zur Bedeutung des Adjektivs "konkret" in diesem Zusammenhang: A.H. Meyer, Gefährlichkeitsdelikte, S. 191 ff.; Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 54 ff. 164 Zum Begriff der potentiell konkreten Gefahr vgl. bereits Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 767 Fußn. 20.

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führen können. Wie bereits oben dargelegt wurde,I65 ist der Hauptanwendungsbereich für diesen, hier in Fortführung der von Kuhlen geprägten Begrifflichkeit als Kumulationsdelikt bezeichneten Deliktstypus der Schutz kollektiver Interessen. Beispiele des geltenden Rechts sind neben den Straftatbeständen zum Schutz von Umweltmedien (§§ 324 ff. dStGB) die auf den Schutz bestimmter Institutionen des Staates (z. B.: Rechtspflege) bzw. gesellschaftlicher Funktionszusammenhänge (z. B.: §§ 264 ff. dStGB) abzielenden Straftatbestände. 3. Die Verhaltensweisen, deren Risikopotential darin besteht, daß entweder der Handelnde selbst oder aber eine andere Person an das Ergebnis der in Frage stehenden Verhaltensweise zur Verwirklichung deliktischer Zwecke anknüpfen kann. Dieser - hier als Vorbereitungsdelikt bezeichnete - Deliktstypus hat im geltenden Recht sowohl im Hinblick auf personale als auch kollektive Interessen Bedeutung. Als Beispiel für das Bemühen, möglichen Beeinträchtigungen personaler Interessen bereits im Vorfeld einer realen Gefährdung entgegenzuwirken, kann auf die Straftatbestände verwiesen werden, die den Umgang mit gefährlichen Stoffen (Chemikalien, Arzneimittel usw.) oder Gegenständen (Waffen, Sprengstoff usw.) unter Strafe stellen. Bei den Straftatbeständen, die bestimmte Verhaltensweisen im Vorfeld der Beeinträchtigung kollektiver Interessen unter Strafe stellen, liegt regelmäßig eine Kombination von Vorbereitungs- und Kumulationsdelikten vor. Beispielhaft: die §§ 146 Abs. 1 Nr. 1 und 2, 149, 152a, 267 Abs. I, 1. und 2. Alt., 275 dStGB erfassen Vorbereitungshandlungen, die nur bzw. erst dann zu einer realen Beeinträchtigung des geschützten kollektiven Interesses führen (können), wenn es in einer relativ großen Zahl von Einzelfällen zu entsprechenden Vorbereitungsund Anknüpfungstaten kommt. Die Einordnung konkreter Straftatbestände in die oben entwickelte Systematik hängt entscheidend von der Auswahl der zur Legitimation des Straftatbestandes herangezogenen Interessen ab. Anschaulich läßt sich dies an den Straftatbeständen des Betäubungsmiuelstrafrechts belegen: Stellt man - unter Vernachlässigung bzw. vorbehaltlich der besonderen Problematik der bewußten Selbstgefährdung - auf den Schutz der körperlichen Integrität des Drogenkonsumenten ab, stellen sich die Straftatbestände, die das Verhalten auf der Anbieterseite erfassen, als Vorbereitungsdelikte zum Schutz eines personalen Interesses dar. Stellt man demgegenüber auf die sozialen Folgekosten des Drogenkonsums ab, handelt es sich - soweit das Verhalten des Konsumenten unter Strafe gestellt wird - um ein Kumulationsdelikt sowie um ein kombiniertes Vorbereitungs- und Kumulationsdelikt, soweit das Verhalten auf der Anbieterseite erfaßt ist. Ein weiteres Beispiel sind die §§ 326, 327, 328 dStGB: Sieht man das geschützte Interesse in der Gewährleistung der körperlichen Integrität einzelner Individuen, handelt es sich bei diesen Straftatbeständen um konkrete Gefährlichkeitsdelikte; stellt man dagegen auf das kollektive Interesse an der Erhaltung der Umweltmedien ab, würde es sich um Kumulationsdelikte handeln. 16S

Vgl. oben S. 308 f.

11. Abstrakte Gefährdungsdelikte als Typen der Risikoschaffung

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Die Anforderungen, die an die Legitimation eines Straftatbestandes zu stellen sind, werden nicht unwesentlich durch die Zuordnung des jeweiligen Straftatbestandes mitbestimmt. 166 Anders als bei den ,,klassischen" Straftatbeständen der ersten Deliktskategorie, deren Legitimation allein eine Abwägung des personalen Interesses des (potentiellen) "Täters" an der Wahrnehmung seiner Handlungsfreiheit mit dem Interesse des (potentiellen) "Opfers" an der Wahrung seiner personalen Interessen zur Voraussetzung hat,167 werfen die für das "moderne" Strafrecht viel bedeutsameren Straftatbestände der zweiten Deliktskategorie eine zusätzliche Problematik auf: Auch wenn sich im Einzelfall erweisen sollte, daß sich das Interesse des "Täters" an der Ausübung seiner Handlungsfreiheit angesichts der seinem Verhalten immanenten Risiken nicht gegen die Interessen der möglicherweise letztlich betroffenen "Opfer" durchsetzen kann, bedarf die Strafbewehrung einer über die Legitimation des Verhaltensverbots hinausgreifenden eigenständigen Begründung, wobei je nach Deliktstypus unterschiedliche Problemstellungen zu bewältigen sind: Bei den konkreten Gefährlichkeitsdelikten stellt sich die Frage, ob und wenn ja unter welchen Voraussetzungen bei Strafe verlangt werden kann, daß potentiell gefährliche Verhaltensweisen unterlassen werden. Bei den Kumulations- und Vorbereitungsdelikten ist zu klären, ob und wenn ja unter welchen Voraussetzungen bei Strafe verlangt werden kann, daß das eigenverantwortliche Verhalten anderer Personen als ein handlungsleitender Faktor antizipiert wird. 168

3. Das konkrete Gerährlichkeitsdelikt Wie oben dargelegt, erfaßt der Deliktstypus des konkreten Gefährlichkeitsdelikts Verhaltensweisen, bei denen eine konkrete Gefährdung bzw. Schädigung nur deswegen ausgeblieben ist, weil sich kein Rechtsgutsobjekt im Einwirkungsbereich des Taters befand. Der Sache nach handelt es sich bei den diesem Deliktstypus angehörenden Straftatbeständen um tatbestandlich vertypte Gefahrsetzungen. 169 Die 166 Vgl. insoweit auch Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 380 ff., der - basierend auf der von ihm vorgenommenen Kategorisierung der Gefährdungsdelikte (vgl. oben Seite 309 FuBn. 160) - die Subkategorie der abstrakten Gefährdungsdelikte als illegitim ablehnt. Die de lege lata existenten abstrakten Gefährdungsdelikte seien entweder in konkrete Gefährlichkeitsoder potentielle Gefährdungsdelikte umzuwandeln (a.a.O. S. 384 f., 389) oder aber in das Ordnungswidrigkeitenrecht zu überführen (a. a. 0., S. 392 f.). Die Subkategorien der konkreten Gefährlichkeits- und potentiellen Gefährdungsdelikte hält Zieschang für legitim, soweit es um den Schutz "besonders bedeutsamer Rechtsgüter" gehe (a. a. 0., S. 388, 389 f.). Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, daß diese Argumentation zu kurz greift. 167 Für die insoweit heranzuziehenden Maßstäbe wird auf die Darlegungen oben am Ende des 6. Kapitels (S. 275 ff.) sowie auf die Darstellung der "Standard-Harm-Analysis" bei von Hirsch, Harm Principle, S. 261 verwiesen. 168 Zur Notwendigkeit einer Ergänzung der Standard-Harm-Analysis durch den Gesichtspunkt der "fair-imputation" vgl. auch bereits von Hirsch, Harm Principle. S. 262 ff. 169 Vgl. Köhler, StrafR AT, S. 148.

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7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts

im Hinblick auf die Legitimität dieses Deliktstypus relevante Frage lautet: Unter welchen Voraussetzungen ist der Gesetzgeber legitimerweise berechtigt, potentiell gefährliche Verhaltensweisen für sich gesehen, d. h. ohne einen - auch nur subjektiven - Bezug zur Schädigung bzw. konkreten Gefährdung eines Rechtsguts(objekts), als verselbständigte Gefahrsetzungen unter Strafandrohung zu stellen? Die Strafrechtswissenschaft hat sich mit dieser Frage bisher eher am Rande beschäftigt. Charakteristisch für die eher beiläufige, die Legitimitätsproblematik weitgehend vernachlässigende Herangehensweise sind Stellungnahmen, in denen die Berechtigung des Gesetzgebers, gefährliche Verhaltensweisen bereits im Vorfeld realer Gefährdungen bzw. Verletzungen zu unterbinden, entweder begründungslos postuliert oder aber mit dem Verweis auf einen effizienteren Rechtsgüterschutz legitimiert wird. Beide Ansätze greifen zu kurz: Wenn beispielsweise Schröder ausführt, es werde "in der Tat kaum zu bestreiten sein, daß der Gesetzgeber legitimiert sein muß, bestimmte Formen menschlichen Verhaltens allein deswegen unter Strafe zu stellen, weil aus ihnen typischerweise Gefahren für rechtlich geschützte Interessen zu resultieren pflegen",170 mag diese Aussage letztlich richtig sein - sie bedarf dann aber einer Begründung, die über den von Schröder gegebenen Hinweis auf die unkontrollierbaren Folgen bestimmter Verhaltensweisen und die Unpraktikabilität einer ausschließlich auf dem Prinzip der konkreten Gefährdung aufbauenden Strafrechtsordnung l71 hinausgehen muß. Dem Ansatz, die Legitimation der Pönalisierung generell gefährlicher Verhaltensweisen im Vorfeld realer Beeinträchtigungen mit dem Gesichtspunkt einer Verbesserung des Rechtsgüterschutzes begründen zu wollen,l72 ist entgegenzuhalten, daß - wie bereits mehrfach betont wurde - die Funktionalität einer normativen Regelung nicht mit deren Legitimität vermengt werden darf. 173 Die Frage bleibt also: Stellt die einer Verhaltensweise immanente generelle Gefährlichkeit einen Umstand dar, der eine Pönalisierung zu legitimieren vermag? Binding war der Auffassung, der Gesetzgeber sei berechtigt, generell gefährliche Verhaltensweisen zu pönalisieren, wenn die nicht zu vermeidende (Mit-)ErfasSchröder, ZStW 81 (1969),7, 16. Vgl. Schröder, ZStW 81 (1969),7, 16, wo neben dem Teilbereich des Straßenverkehrsrechts auf den Rauschgifthandel und auf den Waffenbesitz verwiesen wird. 172 So insbesondere Kratzsch, Verhaltenssteuerung, S. 277 ff. in Umsetzung seiner auf die Optimierung des Rechtsgüterschutzes absteHenden Konzeption; vgl. auch Saal, Straftat, S. 76/77 sowie Lagodny, Strafrecht, S. 440, 442 mit dem Hinweis darauf, daß bestimmte Gemeinwohlinteressen anders gar nicht zu schützen sind. 173 Hoyer, Eignungsdelikte, S. 100 will die Legitimation der vom Eintritt eines Erfolges an einem konkreten Rechtsgutsobjekt unabhängigen Strafnorm damit begründen, daß die Normakzeptanz hier auf andere Weise gewahrt werde, nämlich durch die Beschränkung auf Bereiche, in denen besonders schutzwürdige Rechtsgüter in Frage stehen, sowie durch Androhung und Verhängung relativ niedriger Strafen. Indes: Entscheidend ist, ob die Pönalisierung überhaupt zu legitimieren ist. Diese Frage ist vorrangig und kann weder durch den Verweis auf die grundsätzliche Schutzwürdigkeit eines Rechtsguts noch durch eine Abschwächung der Strafandrohung überspielt werden. 170 171

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sung auch konkret harmloser (Einzel-)Handlungen das angesichts der jeweils zu erwartenden Freiheitsbeschränkungen kleinere Übel darstelle. Als Kriterien für den Abwägungsprozeß nennt er: den Prozentsatz der schädlichen bzw. unschädlichen Handlungen, die Schwere der zu erwartenden Auswirkungen und das hinter der Vornahme der Handlung stehende Bedürfnis. 174 In der Sache übereinstimmend betont auch Feinberg, daß neben der Art und dem Gewicht des zu erwartenden Schadens insbesondere auch die Wahrscheinlichkeit, daß dieser eintritt, zu beachten sei; je gewichtiger der Schaden, desto geringer könne die Wahrscheinlichkeit sein und umgekehrt. Das aus der Zusammenschau von potentiellem Schaden und Wahrscheinlichkeit dcs Eintritts ermittelte Maß an Risiko (degree of risk) sei dann gegen die soziale Wertigkeit des in Frage stehenden Verhaltens abzuwägen. 17s Sowohl Binding als auch Feinberg beschränken sich allerdings darauf, die Erwägungen zu beschreiben, die der Gesetzgeber vernünftigerweise anzustellen hat, wenn er Sorgfaltsmaßstäbe über konkrete Gefährlichkeitsdelikte etablieren möchte. Daß er hierzu überhaupt berechtigt ist, wird dagegen weder von Binding noch von Feinberg näher begründet, sondern - wie von anderen Autoren auch 176 - implizit vorausgesetzt. 177 Jakobs will eine Überschreitung der Untergrenze der strafrechtlich relevanten Risikosetzung dann annehmen, wenn ein Mensch ein Risiko vermeidbar aus seinem Organisationskreis entläßt, ohne zugleich die Revokation des Risikos zu organisieren oder zuvor organisiert zu haben. 178 Ein auf die bloße "Freisetzung" eines Risikos abhebender Ansatz wäre allerdings einem doppelten Einwand ausgesetzt: Zum ersten können - worauf auch und gerade Jakobs selbst immer wieder hingeBindig, Nonnen I, S. 399 f. Feinberg, Vol. 1, S. 190 ff. 176 Vgl. beispielsweise Berz, Tatbestandsverwirklichung, S. 113 f. sowie Cramer, Vollrauschtatbestand, S. 67 f., der eine Pönalisier:ung dann ftir legitim erachten will, wenn eine Verhaltensweise den "Keim der Gefährlichkeit" in sich trägt, d. h. die "naheliegende Möglichkeit einer Gefahr" bzw. die "Wahrscheinlichkeit einer Rechtsgutsgefährdung" begründet. A.H. Meyer, Gefährlichkeitsdelikte, S. 205, verlangt im Anschluß an Schmidhäuser (StrafR AT, 8/31) einen Grad der Gefährlichkeit, der "über den aus der Natur des Miteinander in einer Gesellschaft folgenden Grundbestand an Gefahren hinaus geht". Abgesehen von der fehlenden Behandlung der Grundsatzproblematik ist diesen Ansätzen entgegenzuhalten, daß es ihnen an handhabbaren Maßstäben fehlt. Wann trägt eine Verhaltensweise den "Keim der Gefährlichkeit" in sich? - bzw. welche Verhaltensweise enthält keinen "Keim" der Gefährlichkeit? Wann ist ein Grad an Gefährlichkeit erreicht, der nicht mehr Teil des aus der "Natur des Miteinanders in einer Gesellschaft" resultierenden Risikos ist? 177 Anders Stächelin, der die Auffassung vertritt, die ex ante Festlegung einer Verhaltensweise durch den Gesetzgeber stelle einen Verstoß gegen das Willkürverbot dar, weil auch die Fälle erfaßt werden, in denen eine generell gefährliche Verhaltensweise im Einzelfall beherrscht werden könne (Strafgesetzgebung, S. 95 ff.), dessen Auffassung allerdings auf der im vorliegenden Zusammenhang als petitio principii zurückzuweisenden Prämisse beruht, daß nur eine reale Beeinträchtigung oder konkrete Gefährdung die Existenz einer Strafnonn zu rechtfertigen vennöge (vgl. a. a. 0., S. 97). 178 Vgl. Jakobs, Festschrift ftir Lackner, S. 69 unter Hinweis auf ders., ZStW 97 (1985), 751,761 ff. 174 175

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wiesen hat - jedenfalls in einer hochtechnisierten "modemen" Gesellschaft des späten 20. Jahrhunderts riskante Verhaltensweisen nicht umfassend verboten werden, sondern müssen - zumindest in bestimmten Teilbereichen - als erlaubt eingestuft und entsprechend behandelt werden. 179 Zum zweiten können Risiken nicht nur durch den Urheber selbst, sondern auch durch andere Personen beherrscht werden - daß unter bestimmten Voraussetzungen berechtigterweise erwartet bzw. verlangt werden darf, daß sich andere Personen auf das bestimmten Verhaltensweisen innewohnende Risikopotential einstellen, ist die grundlegende Prämisse der Lehre von der objektiven Zurechnung. 180 Vor diesem Hintergrund verbietet es sich dann aber, das einer Verhaltensweise immanente Risikopotential als solches ohne weiteres als hinreichenden Grund für eine Pönalisierung anzuerkennen. 181 Ein bereits für sich gesehen strafrechtlich relevantes Risiko kann vielmehr erst dann angenommen werden, wenn das einer Verhaltensweise anhaftende Risiko weder durch den Handelnden selbst hinreichend sicher beherrscht noch - im Rahmen zumutbarer Anstrengungen l82 - durch andere Personen kompensiert werden kann. 183 Die Etablierung einer ihrer Art nach unbeherrschbaren und vor dem Hintergrund der normativen Verständigung der Gesellschaft intolerabel erscheinenden Gefahrenquelle stellt eine mit dem allgemeinen Rechtsgleichheitsverhältnis unvereinbare und deshalb strafwürdige Anmaßung von Gestaltungsmacht dar. 184 Die Frage, welche Verhaltensweisen ein entsprechendes Risikopotential aufweisen, kann allein im Rahmen einer Einzelnormprüfung ermittelt werden,185 wobei sich dann empirische und normative Fragestellungen mischen: Zum einen ist zu klären, ob und wenn ja durch wen eine bestimmte Gefahrensituation (noch) beherrschbar ist. Erweist sich eine Gefahrensituation als für sich gesehen unbeherrschbar, ist in normativer Hinsicht zu entscheiden, ob auf die Herbeiführung dieser Situation zu verzichten oder aber das Risiko einer eventuellen Schädigung von den insoweit Betroffenen hinzunehmen ist. Erweist sich eine Gefahrensituation als durch andere Personen als den Handelnden selbst beherrschbar, stellt sich die Frage, ob es diesen Personen zugemutet werden kann oder muß, für eine Kompensation des Risikos Sorge zu tragen. 186 179 Vgl. Cramer, in: Schönkel Schröder, § 15 Rdnr. 144; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 90 ff., 105 f.; Jakobs, StrafR AT, 7/35, 42; ders., 'ZStW Beiheft 1974,6,12 ff. 180 Vgl. Jakobs, StrafR AT, 7/76 f. 181 Vgl. auch bereits Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 72, 105 mit dem Hinweis darauf, daß ein "bei jedwedem Risiko ansetzendes Verhaltensverbot zu einer absoluten Knebelung der Handlungsfreiheit führen" würde. 182 Wie bereits oben Seite 97 ff. in Auseinandersetzung mit dem von E.A. Wolff zur Abgrenzung des legitimen Anwendungsbereichs strafrechtlicher Normen entwickelten Ansatz dargelegt wurde, handelt es sich hierbei um ein normatives Korrektiv; vgl. auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 104 - dort allerdings im Hinblick auf das Verhalten eines potentiellen Täters. 183 Vgl. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 96, 98; Hoyer, Eignungsdelikte, S. 95 ff. 184 Vgl. Wolff, Abgrenzung, S. 219. 185 So auch: Wolff, Abgrenzung, S. 220.

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Die insoweit notwendig werdenden Abwägungen können an dieser Stelle lediglich beispielhaft veranschaulicht werden: Relativ unproblematisch sind die Verhaltensweisen, mit denen oder durch die eine unbeherrschbare Gefahrensituation etabliert wird und bei denen gleichzeitig gewichtige Interessen auf dem Spiel stehen. Beispiele hierfür sind Trunkenheitsfahrten (§ 316 dStGB) und die Inbrandsetzung menschlicher Behausungen (§ 306 Nr. 2 dStGB a.F. = § 306a Abs. 1 Nr. 1 dStGB n.F.). Die von einem fahruntüchtigen Fahrzeuglenker ausgehenden Gefahren können weder von diesem selbst - sonst wäre er nicht fahruntüchtig - noch von anderen Verkehrsteilnehmern beherrscht werden. Auch bei der Inbrandsetzung einer menschlichen Behausung können regelmäßig weder der Brandstifter selbst noch andere Personen eine Gefährdung von Menschenleben mit hinreichender Sicherheit ausschließen. 187 Angesichts dessen, daß es hier um Gefahren für Leib und Leben anderer geht, und nicht ersichtlich ist, welche vor dem Hintergrund der normativen gesellschaftlichen Verständigung als auch nur vergleichbar werthaft anzuerkennenden Interessen für die Vornahme derartig riskanter Verhaltensweisen ins Feld geführt werden sollten, kann die Legitimität der entsprechenden Straftatbestände l88 nicht in Zweifel gezogen werden. Ein Gegenbeispiel soll nach E.A. Wolff der Straftatbestand des Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG) darstellen. Wahrend man - so E.A. Wolff - noch gute Grunde für die Berechtigung der Ausgestaltung der Trunkenheitsfahrt (§ 316 dStGB) als Kriminalstraftat finden könne, sei ,,§ 21 StVG, besonders Ziffer 2, kein 186 Vgl. Jakobs, StrafR AT, 7/35, 42 ff. sowie ders., ZStW Beiheft 1974,6, 13, 15/16, der ebenfalls die Notwendigkeit betont, strafrechtlich irrelevante (erlaubte) von strafrechtlich relevanten (unerlaubten) Risiken im Rahmen einer Abwägung der jeweils in Frage stehenden Interessen abzugrenzen. 187 Soweit in bezug auf die schwere Brandstiftung Einschränkungen des Anwendungsbereichs für die Fälle hinreichender Vorsorge gegenüber einer Gefahrverwirklichung diskutiert wird, dürfte es sich weitgehend um ein Scheinproblem handeln. Wenn in der Literatur eine Reduktion des Anwendungsbereiches der Norm für die Fälle befürwortet wird, in denen der objektiven Sachlage nach "eine Gefahrdung von Menschenleben offensichtlich ausgeschlossen war, und der Täter sich vor der Tat davon in einer jeden Zweifel behebenden Weise Gewißheit verschafft hat," kann dies von vornherein allenfalls "bei kleineren, auf einen Blick überschaubaren Objekten" in Betracht kommen (vgl. Wesseis, StrafR BT 1, Rdnr. 927). Tatsächlich wird man eine hinreichend zuverlässige Abschirmung des Risikopotentials aber selbst für die von BGHSt 26, 121, 125 offengelassene Fallgruppe der Inbrandsetzung von "einräumigen Hütten oder Häuschen" nicht ohne weiteres annehmen können - Voraussetzung wäre hier, daß das Objekt durchsucht und darüber hinaus sichergestellt wird, daß auch nach der Inbrandsetzung niemand in das Objekt hineingelangen kann. Im übrigen: Die in der Literatur befürwortete Reduktion des Anwendungsbereiches würde den Gewaltenteilungsgrundsatz verletzen, vgl. hierzu: Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 94, 97 m.w.N. 188 Soweit es darum geht, etwaigen Sonderfällen gerecht zu werden (beispielhaft: der einzig erreichbare, aber alkoholisierte Arzt wird zu einem Notfallpatienten gerufen), ist dies keine Frage der Tatbestandsmäßigkeit. Etwaige Beschränkungen des Stratbarkeitsbereiches sind hier über die Etablierung von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen zu gewährleisten.

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Vergehen, sondern eine Ordnungswidrigkeit, und das ist so sicher, daß man mindestens Ziffer 2 der Vorschrift für verfassungswidrig halten muß".189 Auf eine nähere Begründung dieser Einschätzung hat Wolff verzichtet, was insbesondere deshalb bedauerlich ist, weil andere Autoren zu einem genau entgegengesetzten Ergebnis gelangen. So ist beispielsweise Lagodny der Auffassung, die Ausgestaltung des Fahrens ohne Fahrerlaubnis als Kriminalstraftat sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Zur Begründung führt er aus: "Kraftfahrzeuge soll man erst führen, wenn staatlicherseits die grundsätzliche Eignung festgestellt ist; es soll nicht darauf ankommen, ob ein Individuum sich selbst in der Lage fühlt, ein Kraftfahrzeug sicher zu führen .... Da es andererseits um die ,Jnanspruchnahme" einer Gefahrenquelle geht, die für Leib und Leben von Verkehrsteilnehmern und Nichtverkehrsteilnehmern sehr erheblich ist, kann auch das "Gemeinwohlinteresse" der Verhaltensvorschrift nicht so gering veranschlagt werden, daß der strafrechtliche Vorwurf nicht legitimiert werden könnte."l90 Entscheidend ist: Kann die Mißachtung der Einschätzungsprärogative der Verwaltung eine Pönalisierung legitimieren? Die Auffassung, bei Verhaltensweisen, die einerseits nicht generell untersagt werden können, weil an ihnen ein anerkennenswertes Interesse besteht, die andererseits aber generell als gefrihrlich anzusehen seien, könne der Gesetzgeber zu Kontrollzwecken zum Erlaubnisvorbehalt greifen und diesen dann auch strafrechtlich absichern, ist weit verbreitet. 191 Will man der Gefahr entgehen, bloßen Verwaltungsungehorsam allein um seiner selbst willen zu ahnden, müssen die in Frage stehenden Verhaltensweisen allerdings einen über den rein formellen Genehmigungsverstoß hinausgehenden materiellen Unwertgehalt aufweisen. Zu bejahen ist dies bei Verhaltensweisen, die nach den vorrangigen Wertungen der Primärrechtsordnung kein Bestandteil der grundrechtlich geschützten Freiheitssphäre des einzelnen sind. Derartige Verhaltensweisen können allenfalls dann als erlaubt angesehen werden, wenn die Verwaltung, der insoweit vom Gesetzgeber die Befugnis erteilt worden ist, die der grundrechtlich geschützten Handlungsfreiheit entzogene Verhaltensweise im Einzelfall und ausgerichtet an den vom Gesetzgeber vorgegebenen Abwägungskrlterien zu gestatten, eine entsprechende Genehmigung auch tatsächlich erteilt hat (sog. repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt).192 Die Benutzung eines Kraftfahrzeuges ist nun allerdings unstreitig Teil der grundrechtlich geschützten Freiheitssphäre, so daß der materielle Unrechtsgehalt des Fahrens ohne Fahrerlaubnis nicht aus einer generellen Unwertigkeit des Fahrzeugführens an sich abgeleitet werden kann. Wolff, Abgrenzung, S. 220. Lagodny, Strafrecht, S. 444. 191 Binding, Normen I, S. 400 f.; Dölling, JZ 1985, 462 f.; Kindhäuser, Gefährdung, S. 320 ff.; SchaH, NStZ 1997,577,580. 192 Insoweit zutreffend: Tiedemannl Kindhäuser, NStZ 1988, 337, 342/343; vgl. auch Martin, Strafbarkeit, S. 96 f.; OLG Köln, wistra 1991,74,75 bzgl. § 327 dStGB. 189

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Zu klären bleibt, was hinsichtlich der Verhaltensweisen gilt, die zwar einerseits als Teil der grundrechtlich geschützten Freiheitssphäre des einzelnen anzusehen sind, die andererseits aber dennoch einem präventiven Erlaubnisvorbehalt unterliegen. Kindhäuser will eine Pönalisierung hier dann für legitim erachten, wenn nur über das Verwaltungsverfahren die für die künftige Gefahrlosigkeit im Umgang mit Gütern notwendigen Erkenntnisse gewonnen werden können, wenn also erst die Prüfung durch die Verwaltung einen Vertrauenstatbestand schaffe, der das Eingehen des Risikos als hinnehmbar erscheinen lasse. 193 Legitim sei die Pönalisierung des Verwaltungsungehorsams dann, "wenn der verwaltungsrechtlichen Gefahrenkontrolle als solcher ein hoher Wert zukommt, was namentlich anzunehmen ist, wenn durch die Gefahrenkontrolle elementaren Ängsten begegnet werden soll.,,194 Gegen diesen Ansatz ist einzuwenden, daß das bloße Abstellen auf subjektive Sicherheitsbedürfnisse kein hinreichend klares Abgrenzungskriterium zu bieten vermag. 195 Ein materieller Unwertgehalt kommt einem Verstoß gegen den Erlaubnisvorbehalt nur dann zu, wenn die entsprechenden Verhaltensweisen überhaupt erst nach vorgängiger behördlicher Kontrolle als noch bzw. schon tolerabel erscheinende Gefahrenquellen anerkannt werden können. 196 Demgegenüber fehlt es an einem materiellen Unwertgehalt, wenn der Genehmigungsvorbehalt allein anderen Zwekken dient, wie insbesondere der Erleichterung der behördlichen Aufgabenerfüllung. 197 Hinsichtlich des Beispiels des Fahrens ohne Fahrerlaubnis dürfte unstreitig sein, daß der Genehmigungsvorbehalt nicht der Erleichterung der behördlichen Aufgabenerfüllung dienen, sondern vielmehr sicherstellen soll, daß nur die Personen ein Kraftfahrzeug führen, bei denen aufgrund der Anforderungen, die an die Erteilung der Fahrerlaubnis geknüpft sind, davon ausgegangen werden kann, daß das hieraus resultierende Risiko hingenommen werden kann. Jedenfalls im Hinblick auf die Tat nach § 21 Abs. 1 Ziff. 1 StVG wird man damit von einem legitimen Gefährlichkeitsdelikt ausgehen müssen. 198 Soweit Wolff in seiner Kritik an § 21 StVG insbesondere die Verfassungswidrigkeit "der Ziffer 2" hervorhebt, kann die Berechtigung dieser Bewertung an dieser Stelle noch nicht entschieden werden. § 21 Abs. 1 Nr. 2 StVG stellt die Überlassung eines Kraftfahrzeugs an einen anderen unter Strafe, der seinerseits die erforderliche Fahrerlaubnis nicht besitzt. § 21 193 Vgl. Kindhäuser, Gefährdung, S. 325 sowie Tiedemann/Kindhäuser, NStZ 1988, 337, 343. Der Sache nach ist dies der Gedanke, der auch hinter den von den Verfassern des Alternativentwurfs vorgeschlagenen Prüfstellendelikten stand, vgl. Horn, Festschrift für Welzel, S. 733 f. sowie die Begründung des Altemativentwurfs, S. 75. 194 Tiedemann I Kindhäuser, NStZ 1988, 337, 343; vgl. auch Kleine-Cosack, Kausalitätsprobleme, S. 180. 195 Kritisch hierzu bereits Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 109 Fußn. 319 a.E. 196 Vgl. Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 109. 197 So auch bereits Weber, ZStW Beiheft 1987, 1,30. 198 Geht man mit dem hier vertretenen Ansatz davon aus, daß sich Kriminalstraftaten und Ordnungswidrigkeiten nicht qualitativ, sondern quantitativ unterscheiden, kann es angemessen sein, das Fahren ohne Fahrerlaubnis als Ordnungswidrigkeit zu ahnden - zwingend ist dies indes nicht.

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Abs. 1 Nr. 2 StVG stellt damit im Rahmen der hier zugrundeliegenden Systematik überhaupt kein konkretes Gerahrlichkeitsdelikt dar, sondern vielmehr ein Vorbereitungsdelikt.

4. Das Kumulationsdelikt Der hier - im Anschluß an die von Kuhlen geprägte Begrifflichkeit - als Kumulationsdelikt bezeichnete Deliktstypus ist im Verlauf der Untersuchung erstmalig im Zusammenhang mit den Straftatbeständen des Umweltstrafrechts hervorgetreten. 199 Im weiteren Verlauf der Untersuchung hat sich dann gezeigt, daß es sich hierbei nicht nur um einen im Rahmen der "modernen" Strafrechtsgesetzgebung immer wieder auftauchenden Deliktstyp handelt, sondern vielmehr um den Deliktstyp, der allgemein mit dem Schutz kollektiver Interessen verbunden ist. Mit dem Kumulationsdelikt sollen Verhaltensweisen erfaßt werden, die zwar für sich gesehen das jeweils geschützte - zumeist: kollektive - Gut in seiner Integrität weder real beeinträchtigen noch auch nur konkret gefahrden können, bei denen aber andererseits eine Beeinträchtigung nicht auszuschließen ist, wenn sich eine Vielzahl von Personen entsprechend verhalten würde. Wie ebenfalls bereits dargelegt wurde,2oo kann die strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht unter Bezugnahme auf den aus der Kumulation der unabhängig voneinander erbrachten Einzelbeiträge (möglicherweise) resultierenden Gesamtschaden begründet werden. Die Frage bleibt: Können Verhaltensweisen, die nur in Kumulation mit dem Verhalten anderer zu Schädigungen führen können, überhaupt legitimerweise pönalisiert werden?201

a) Die grundsätzliche Legitimität der Pönalisierung von Kumulationsbeiträgen Wie bereits oben dargelegt wurde, hatte bereits Kuhlen einerseits anerkannt, "daß reine Kumulationsbeiträge schwerlich den Handlungs- und Gesinnungsunwert aufweisen, der ,die schwere moralische Disqualifizierung durch die öffentliche Strafe' erforderlich macht." Andererseits könne aber - so Kuhlen - angesichts der aus dem Phänomen der großen Zahe02 resultierenden gravierenden sozialen Probleme - wie z. B. der drohenden Umweltzerstörung - gar nicht darauf verzichtet werden, die zur Erhaltung der in Frage stehenden (kollektiven) Güter notwendigen Verhaltensnormen durch Sanktionsnormen abzusichern. 203 Insoweit gilt aber Vgl. oben S. 142 ff. Vgl. oben S. 142 f. 201 So auch: Papageorgiou, Schaden, S. 282. 202 Vgl. hierzu: Buchanan, Ethics, Vol. 76 (1965 - 66), 1, 6 ff. sowie Kuhlen, zitiert nach: Perron, ZStW 99 (1987), 637, 658. 199

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auch hier: Der Versuch, die Legitimität der Pönalisierung von Kumulationsbeiträgen aus der faktischen ,,Notwendigkeit" abzuleiten, Verhaltensnormen durch Sanktionsnormen abzusichern, verwechselt Funktionalität mit Legitimität. Der Hinweis darauf, daß es darum gehe, die schädlichen Konsequenzen zu vermeiden, die eintreten würden, wenn sich alle oder doch eine größere Anzahl von Personen entsprechend verhalten,204 mag das Motiv offenlegen, das den Gesetzgeber veranlaßt (hat), entsprechende Sanktionsnormen zu schaffen. Abgesehen davon, daß auf diesem Wege jedenfalls im Grundsatz die Sanktionsbewehrung jeglichen Verhaltensverbots "legitimiert" werden könnte,20S ist damit aber noch keine Begründung dafür ersichtlich, daß dzr Gesetzgeber diese Zielsetzung legitimerweise gerade mit dem Mittel der Pönalisierung verfolgen darf. Gleiches gilt für die Erwägung, der Egoismus des einzelnen tendiere dahin, die für den Erhalt bestimmter Güter notwendige Normbefolgung den anderen Gesellschaftsmitgliedern zu überlassen, sich selbst aber von der Normbefolgung freizustellen. 206 Abgesehen davon, daß zum einen der umschriebene Verhaltensmodus nicht ohne weiteres auf jede Verhaltensnorm übertragen werden kann,207 und zum anderen die Bereitstellung bzw. Erhaltung kollektiver Güter gar nicht an die durchgängige Mitwirkung sämtlicher Mitglieder der Gesellschaft gebunden ist,20S bleibt festzuhalten, daß diese Argumentation das Problem des sog. "Trittbrettfahrens" allein beschreibt. Die Schlußfolgerung, daß die Absicherung der entsprechenden Verhaltensnormen durch Sanktionsnormen angemessen sei, bedarf einer über funktionalistische Erwägungen hinausgehenden, eigenständigen Begründung. Die nachfolgend zu entwickelnde Begründung der grundsätzlichen Legitimität von Kumulationsdelikten kann an einige Äußerungen Feinbergs anknüpfen. Feinberg ist der Auffassung, Trittbrettfahren ("freeloading") sei "generally thought to be the clearest example of unfair advantage-taking. ,,209 Entscheidend für diese Bewertung sei - so Feinberg -, daß der Trittbrettfahrer seine Mitmenschen ausbeute: "In various cooperative undertakings, each person must do his own share if all are to gain, but it is possible for a person to cheat, not do his share, and thus Vgl. oben S. 143 f. Vgl. insbesondere die oben S. 144 referierten Stellungnahmen von Kuhlen; ebenso: Brehm, JuS 1976, 22, 24; Feinberg, Vol. 1, S. 11; ders., Vol. 4, S. 211, 222; Saal, Straftat, S.96. 205 Vgl. Feinberg, Vol. I, S. 226 sowie Kindhäuser, zitiert nach: Vitt, 'Z}!,tW 105 (1993), 803,810; Samson, zitiert nach: Perron, 'Z}!,tW 99 (1987), 637, 663. 206 Vgl. Brehm, JuS 1976,22,24; Kuhlen, GA 1986,389,402; ders., 'Z}!,tW 105 (1993), 697,721. Näher zur Beschreibung des Phänomens des "Trittbrettfahrens": Baurrnann, Markt, S. 154 ff., 564 ff.; Höffe, Gerechtigkeit, S. 412 ff.; Rawls, Theorie, S. 300 ff., 371, 539; Wittig, 'Z}!,tW 107 (1995), 251, 263. 207 Vgl. Feinberg, Vol. 1, S. 226. 208 Vgl. Baurrnann, Markt, S. 564 f.: Ausreichend ist bereits die loyale Mitwirkung einer Minderheit, im Einzelfall kann ein kollektives Gut rein faktisch sogar durch ein einzelnes Individuum bereitgestellt werden. 209 Feinberg, Vol. 4, S. 183 (Hervorhebung im Original). 203

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take his benefit as "free" only because the others are doing their shares. By cheating, the freeloader exploits the others' cooperativeness to his own benefit. He "takes advantage of them," as we say. If many of his partners did the same, then the result would be hann to the interests of everyone in the group. But when no others do the same, hannful effects of one free-ridermay be so trivial and diluted as to count for nothing. When one rider (only) avoids paying his train fare, the others' shares of the costs of the railroad, reflected in the owner's adjusted prices, may go up only a tiny fraction of a penny because of his nonpayment. But the others have voluntarily foregone the benefits he got in expectation that he would forgo them too. Their grievance is not that their interests were hanned, and surely not that they were morally offended by what he did (They were offended because of the perceived wrong done them; the basis of the wrong was not simply that they were offended.) Their grievance is simply that he took unfair advantage of their trust and profited only because of their forbearance.,,210 An späterer Stelle heißt es dann: "Part of what seems outrageous in the cheating and freeloading cases is that A, who is morally defective, should gain relative to B and others precisely because B and the others are morally superior to hirn. This puts the moral uni verse out of joint: untrustworthiness ist rewarded and honesty is penalized (or at least unrewarded).,,211 The "distinctively offensive element ist not that B has suffered a loss but that A has made a profit. We are not indignant that B must pay an additional penny on his telephone bill, but that A has made a good thing for hirnself out of his nonpayment.,,212 Die Frage ist nun: Kann die Berechtigung zur Pönalisierung von Kumulationsbeiträgen aus dem Gesichtspunkt abgeleitet werden, daß der "Trittbrettfahrer" sich der Mitwirkung an der Erhaltung eines kollektiven Gutes verweigert? Feinberg ist der Auffassung, daß sich die Pönalisierung der hier in Frage stehenden Kumulationsbeiträge über das hann-Prinzip legitimieren läßt: "The hann principle also can be stretched without strain to handle the cases of cheating and freeloading ( ... ) When a cheater takes unfair advantage of the law-abiding forbearance of others to achieve a gain for hirnself, he may not directly cause hann to anyone, but if his conduct were to become common, then it would have immensely hannful consequences for social practices and institutions in which all have a stake. The ultimative rationale of rules proscribing such conduct is to protect us from social hanns be preventing the frequent occurrence of cheating.,,213 Indes: Wie bereits dargelegt wurde, kann der letztlich zu erwartende Gesamtschaden nicht zur Begründung der auf die Mitwirkung an der Bereitstellung und Erhaltung kollektiver Güter abzielenden Verhaltensnormen herangezogen werden. Des weiteren ist festzustellen, daß eine allein an den Umstand der Mißachtung der Verhaltensnorm anknüpfende Le210 2ll

212 213

Feinberg, Vol. 4, S. 13/14. Feinberg, Vol. 4, S. 202. Feinberg, Vol. 4, S. 203. Feinberg, Vol. 4, S. 211, vgl. auch, a. a. 0., S. 222.

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gitimation von Kumulationsdelikten auf eine eigenständige Begründung der Sanktionsnorm verzichten würde, was nach dem hier in Auseinandersetzung mit der von Kindhäuser vertretenen Lehre der Sanktionsnorm als Selbstzwecknorm entwickelten Ansatz abzulehnen iSt. 214 Entscheidend ist, ob die Pönalisierung von Kumulationsbeiträgen stattdessen auf die in der Mitwirkungsverweigerung zum Ausdruck kommende Unmoral (unfair advantage-taking) gestützt werden kann. Feinberg selbst lehnt es ab, Pönalisierungen auf ein "exploitation principle" zu stützen - ein derartiger Ansatz würde seiner Auffassung nach auf eine unstatthafte Form des "legal moralism" hinauslaufen. 215 Auf den ersten Blick scheint dieser Einwand dem oben entwickelten Grundsatz zu entsprechen, daß es für eine modeme pluralistische Gesellschaft unangemessen ist, moralische Standpunkte mit den Mitteln des Strafrechts durchzusetzen. Wie ebenfalls bereits oben dargelegt wurde, beinhaltet dieser Grundsatz aber lediglich das Verbot, bestimmte moralisch begründete Lebensentwürfe (Konzeptionen des Guten) mit den Mitteln des Strafrechts gegen andere partikulare Lebensentwürfe durchzusetzen. Er besagt dagegen nicht, daß es unstatthaft wäre, mit den Mitteln des Strafrechts auf Verhaltensweisen zu reagieren, die den für die pluralistische Gesellschaft verbindlichen Rahmen des Rechten überschreiten. 216 Dieser Rahmen des Rechten ist unstreitig überschritten, wenn konkrete personale Interessen anderer Personen ohne deren Einverständnis beeinträchtigt werden. Für die Mitglieder einer staatlich verfaßten Gesellschaft beschränken sich die Rechtspflichten des einzelnen aber nicht auf die bloße Beachtung des neminem laede, sondern umfassen darüber hinaus die Verpflichtung, an der Gewährleistung des Zustandes mitzuwirken, in dem ,jedem das Seine erhalten werden kann (suum cuique tribuere)".211 Da, wie bereits oben dargestellt wurde,218 die Mitglieder einer modemen pluralistischen Gesellschaft darauf angewiesen sind, daß bestimmte kollektive Güter bereitgestellt und in ihrer Funktionsfähigkeit erhalten werden, stellt das auf die Verweigerung einer fairen Mitwirkung an der Bereitstellung und Erhaltung kollektiver Güter abzielende Trittbrettfahren die Anmaßung einer mit dem Grundsatz gleicher Rechte aller Personen unvereinbaren Rechtsposition dar?19 Vgl. oben S. 295 f. Feinberg, Vol. 4, S. 213 ff. 216 Vgl. hierzu oben S. 273 f. sowie Papageorgiou, ARSP-Beiheft 51 (1993), 198,208 unter Hinweis auf Kant. 217 Kant, Metaphysik der Sitten, Einteilung der Rechtslehre, Abschnitt A: Allgemeine Einteilung der Rechtspflichten, S. 344; vgl. hierzu auch: Kersting, Freiheit, S. 220 ff. Daß die Pönalisierung von Kumulationsbeiträgen an die Verletzung entsprechender (Mitwirkungs-)Pflichten anknüpfen muß, betont bereits Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 124 ff.; vgl. auch von Hirsch, Harm Principle, S. 268. 218 Vgl. oben S. 94 ff. 219 In diese Richtung argumentiert möglicherweise auch Papageorgiou, Schaden, S. 282 ff., der die Legitimation der Pönalisierung von Kumulationsbeiträgen damit begründet, daß der Verlust an individueller Autonomie im Hinblick auf den Bestand einer kollektiven Sicherheitsmoralität hinnehmbar sei. Anderer Ansicht aber wohl Buchanan, Ethics, Vol. 76 (1965214 215

21 Wohler,

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7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts

Erkennt man an, daß die Legitimation strafrechtlicher Sanktionen dem Täter gegenüber in der Wiederherstellung des durch sein Verhalten gestörten Rechtsgleichheitsverhältnisses liegt,22o wird schnell deutlich, daß die Pönalisierung von Kumulationsbeiträgen auf dieser Ebene keinen grundsätzlichen Bedenken ausgesetzt ist. Als problematisch erweist sich damit nicht die Legitimation der Pönalisierung von Kumulationsbeiträgen als solche, sondern vielmehr die Auswahl der konkret zu pönalisierenden Verhaltensweisen. Wie oben bereits dargelegt wurde, bedarf die Etablierung konkreter Straftatbestände einer zweifachen Legitimation: zum einen muß sich die Androhung und gegebenenfalls Verhängung einer Strafsanktion als Maßnahme zur Wiederherstellung des gestörten Rechtsgleichheitsverhältnisses rechtfertigen lassen - wie soeben dargelegt, ist dies vorliegend zu bejahen. Zum zweiten muß sich der mit der Strafandrohung und Sanktionierung verbundene Eingriff als eine gesellschaftlich gesehen sinnvolle und im Hinblick auf das Verhalten des Täters verhältnismäßige Einschränkung seiner grundrechtlich geschützten Freiheitssphäre begründen lassen. 221 Hinsichtlich einer Pönalisierung von Kumulationsbeiträgen sind insoweit zwei Problembereiche von besonderer Relevanz: zum einen kann ein Kumulationsbeitrag nur dann als hinreichend sozialschädlich angesehen werden, wenn die Annahme von Kumulationseffekten hinreichend realistisch ist; zum zweiten stellt sich die Frage, ob ein Kumulationsbeitrag ein bestimmtes minimales Eigengewicht haben muß, wenn er als strafwürdig behandelt werden soll.

b) Die Beschränkung auf realistischerweise zu erwartende Kumulationseffekte Daß die Pönalisierung auf Verhaltensweisen zu beschränken ist, bei denen realistischerweise mit Kumulationseffekten zu rechnen ist, steht zwar im Grundsatz außer Streit. 222 Als problematisch erweist sich aber die Suche nach praktisch handhabbaren Maßstäben. 223 Einen ersten Eindruck der in diesem Zusammenhang auftretenden diffizilen Problemstellungen vermitteln die folgenden Ausführungen Feinbergs: "The legislator must consider not only how many people would refrain from doing certain actions even if those actions were legally permitted, but also why they would refrain. Some types of behaviour are socially harmful if generally 66), 1,9: "The individual is simply reacting to an enviroment in which he finds hirnself, to ,,nature", so to speak, not in any way against his fellow citizens." 220 Vgl. hierzu oben S. 54 ff. 22! Vgl. hierzu oben S. 47 ff., 54 ff. 222 Vgl. Feinberg, Vol. I, S. 226 f.; Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 141; Kuhlen, ZStW 105 (1993), 697, 716 Fußn. 91; J.C. Wolf, Zeitschrift für Philosophische Forschung 42 (1988),454,462/463. 223 Grundsätzlich skeptisch insoweit Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 64; vgl. auch Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 105.

11. Abstrakte Gefahrdungsdelikte als Typen der Risikoschaffung

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done, socially innocuous if done only by a few, and yet such that not many would want to engage in them, or would find it in their interests to do so, even if they were permitted. The harm principle provides no warrant for the prohibition of such conduct. On the other hand, some types of behaviour are harmful if widely done, harmless if done by only a few, and in almost everyone's interest to do; yet even if permitted, these acts would not be done by enough people to cause harm, because many or most people would refrain out of moral scruples or civic spirit from doing what is in their interest. In this example, it is only because many or most people sacrifice their own interests out of higher motives in refraining from doing what ist legally permitted, that the conduct in question is "harmless." If the legislature's application of the harm principle is informed by a sense of justice, the conduct in question will not be permitted.,,224 In grundsätzlicher Hinsicht sind zunächst einmal zwei Kategorien von Prognoseentscheidungen zu unterscheiden: zum einen die Prognose, bei der die Auswirkungen der in Frage stehenden Verhaltensweisen bekannt sind, bei denen es also allein um die Frage geht, wie sicher davon ausgegangen werden kann, daß es zu einer hinreichenden Vielzahl von Einzelbeiträgen kommen wird; zum zweiten die Prognose, bei der bereits unsicher ist, welche Auswirkungen die in Frage stehenden Verhaltensweisen haben werden. Auch wenn eine randscharfe Zuordnung in der Praxis nur in den seltensten Fällen möglich sein wird, lassen sich einzelne Straftatbestände doch zumindest schwerpunktmäßig der einen oder anderen Kategorie zuordnen. Ein Beispiel für die erste Kategorie dürften die Straftatbestände zum Schutz bestimmter Umweltmedien darstellen. Beispielhaft: Daß - und grundsätzlich auch: wie - die Einleitung bestimmter Stoffe in ein Gewässer dessen Eigenschaften verändern kann, ist von den empirischen Wissenschaften hinreichend geklärt. Die Frage ist, ob tatsächlich mit einer Anzahl von Einzelbeiträgen zu rechnen ist, die in der Kumulation das Kollektivgut beeinträchtigen würden. Für die Beantwortung dieser Frage gelten die bereits oben dargelegten Grundsätze, d. h.: die Einschätzungsprärogative liegt einerseits grundsätzlich beim Gesetzgeber; dieser hat aber andererseits kein freies Ermessen, sondern muß sich an den Erkenntnissen der empirischen Wissenschaften orientieren und gegebenenfalls dafür sorgen, daß entsprechende Erkenntnisse gewonnen werden (Verifizierungsverpflichtung).225 Beispiele für die zweite Prognosekategorie sind die Straftatbestände des Subventions-, Kapitalanlage- und Kreditbetrugs (§§ 264, 264a, 265b dStGB). Bei diesen Straftatbeständen ist nicht nur unsicher, ob es überhaupt in einer als relevant anzusehenden Anzahl von Einzelfällen zu entsprechenden Täuschungsversuchen kommen würde. Als problematisch erweisen sich darüber hinaus auch die zur Legitimation dieser Straftatbestände immer wieder ins Feld geführten "Sog-, Anstekkungs- und Spiralwirkungen", für die es bisher soweit ersichtlich ebenfalls an em224 225

21'

Feinberg, Vol. I, S. 226. Vgl. oben S. 60, 239 f.

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7. Kap.: Grenzen des Geflihrdungsstrafrechts

pirischen Belegen fehlt. 226 Noch krasser liegt es bei den Straftatbeständen des bundesdeutschen Embryonenschutzgesetzes. Der zur Legitimation dieser Straftatbestände herangezogene Gesichtspunkt des potentiellen Wertewandels bzw. -verlustes basiert allein und ausschließlich auf der Annahme, die in Frage stehenden Verhaltensweisen könnten einen Dammbruch zur Folge haben, der dann letztlich zu anerkanntermaßen katastrophalen Ergebnissen führen würde (Menschenzüchtung, gesellschaftliche Nichtakzeptanz Behinderter usw.). Empirische Erkenntnisse, die diese Vermutung bestätigen oder widerlegen könnten, sind indes nicht vorhanden. Zu klären ist, welcher Stellenwert derartigen Argumentationsmustern ("Dammbrucherwägungen", "Schiefe-Bahn-Argumentationen") im Rahmen der Legitimation von Pönalisierungsentscheidungen zukommen kann. Für die Berücksichtigung derartiger Argumentationsmuster sprechen zwei Gesichtspunkte: zum einen die Erwägung, daß man Verhaltensmaßstäbe verteidigen muß, wenn und solange man sie noch hat;227 zum anderen der Umstand, daß bestimmte Interessen ein derartiges Gewicht haben können, daß auch bereits geringe Risiken inakzeptabel erscheinen müssen. 228 Andererseits stellt die Argumentation mit ,,Dammbruchgefahren" aber ein nahezu beliebig verwendbares ad hoc-Argument dar, mit dem dann angesichts der grundsätzlich nie auszuschließenden Möglichkeit eines "mißbräuchlichen" Verhaltens das Verbot praktisch jeder technischen Neuerung legitimiert werden könnte. 229 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß die bloße Behauptung eines "Schiefe-Bahn-Effektes" erst dann zu einem "Schiefe-Bahn-Argument" wird, wenn als Beleg für diese Behauptung mehr vorgetragen werden kann "als nur die logische Möglichkeit, daß ... etwas schiefgehen könnte, denn diese logische Möglichkeit besteht überall und jederzeit; n;tan sollte vielmehr mindestens Indizien angeben können und den Mechanismus des Ins-Rutschen-Kommens auf Basis möglichst guter psychologischer und gesellschaftswissenschaftlicher Theorien zu skizzieren versuchen".23o

c) Das Kriterium des minimalen Eigengewichts

Daß einem Kumulationsbeitrag ein bestimmtes minimales Eigengewicht zukommen muß, um strafrechtlich relevant zu sein, steht soweit ersichtlich ebenfalls weitgehend außer Streit. 231 So wird beispielsweise die Auffassung vertreten, der Vgl. Eisenberg, Kriminologie. § 47 Rdnr. 17. Vgl. Dworkin. Bürgerrechte. S. 416. 228 Vgl. Birnbacher, in: Hegselmann I Merkei, S. 41 f. 229 Vgl. Wolf, in: Hegselmann/Merkel. S. 194. Anzumerken ist. daß konsequenterweise nicht nur etwaige Neuerungen, sondern jede wie auch immer geartete Verwendung bestehender technischer Verfahren als potentielle Quelle verwerflicher Mißbräuche und I oder Entwicklungen anzusehen wäre. 230 Hegselmann, in: Hegselmann/Merkel, S. 207 f. 226 227

11. Abstrakte Gefährdungsdelikte als Typen der Risikoschaffung

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Anwendungsbereich des § 324 dStGB werde trotz der vordergründigen Ausgestaltung der Nonn als "catch-all-Tatbestand"232 durch eine dem Tatbestand implizite Erheblichkeitsschwelle eingeschränkt, die bestimmte Minimalverstöße, wie z. B. das ungereinigte Baden in einem Gewässer oder das Einbringen von Flüssigkeiten in minimalen Mengen, aus dem Stratbarkeitsbereich ausgrenze. 233 Als dogmatische Grundlage für den Ausschluß von Minimalverstößen wird gemeinhin auf das sog. Geringfügigkeits- oder auch Bagatellprinzip verwiesen,234 wobei wiederum Einigkeit darin besteht, daß die für den Einsatz strafrechtlicher Sanktionen relevante Geringfügigkeitsgrenze nicht absolut, sondern allenfalls delikts bezogen gesetzt werden kann. 235 Die Frage ist, anhand welcher Kriterien die nicht mehr hinnehmbar erscheinenden Kumulationsbeiträge von den noch tolerabel erscheinenden abgegrenzt werden können. Eine allein auf das quantitative Gewicht des einzelnen Kumulationsbeitrages abstellende Bagatellklausel 236 wäre dem Einwand ausgesetzt, die gerade auf die Erfassung der für sich gesehen irrelevant erscheinenden Kumulationsbeiträge abzielende Tatbestandsstruktur des Kumulationsdelikts zu verfehlen. Bezogen auf das Beispiel der auf den Schutz von Umweltmedien abzielenden Straftatbestände bedeutet dies: die Orientierung an bestimmten - im übrigen gerade im Umweltbereich eher willkürlich anmutenden 237 - Grenzwerten kann nicht überzeugen. 238 Alternativ wird in der Literatur eine Einschränkung des Strafbarkeitsbereichs durch Eignungsklauseln befürwortet. Im Hinblick auf die Straftatbestände des Umweltstrafrechts wird von Rogall und Kuhlen die Beschränkung auf Verhaltensweisen gefordert, denen die Eignung zur Schädigung von Menschen, Tieren oder Pflanzen innewohne. 239 Kasper schlägt - de lege ferenda - vor, den Straftatbestand der Ge231 Vgl. Kuhlen, GA 1986, 389, 407 f.; ders., WiVerw 1991, 181, 199 und 201; ders., ZStW 105 (1993),697,717; Lenckner, in: Schönkel Schröder, Vorbern. §§ 13 ff. Rdnr. 83. 232 So die plastische Kennzeichnung von Heine, Vollzugsdefizite, S. 22. m Vgl. Kasper, Erheblichkeitschwelle, S. 77 ff., der allerdings auch zutreffend darauf hinweist, daß in der praktischen Anwendung des § 324 dStGB die Erheblichkeitsschwelle eher niedrig angesetzt wird, was dahin führt, daß die Einbeziehung bagatellartiger Verhaltensweisen eher die Regel als die Ausnahme darstellt. 234 Vgl. Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 49 sowie Saal, Straftat, S. 112/113, jeweils unter Bezugnahme auf die umfassenden Arbeiten von Kunz und Krümpelmann. 235 Vgl. Brahms, Definition, S. 139 f.; Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 50 ff.; Frisch, Festschrift für Stree/Wessels, S. 106; Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 43 ff.; Krümpelman, Bagatelldelikte, S. 38 ff.; Kunz, Bagatellprinzip, S. 244 f. und passim; Roxin, StrafR AT, Teilbd. 1, § 10 Rdnr. 41; Saal, Straftat, S. 122,124. 236 Vgl. Z. B. Brahms, Definition, S. 142 ff., die im Hinblick auf Gewässerverunreinigungen die Aufstellung von Toleranzwerten im Rahmen von Bewirtschaftungskonzeptionen befürwortet. 237 Vgl. Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 50 Fußn. 80, 52 f.; Ronzani, Erfolg, S. 62, 105 f. 238 Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 134 ff.; Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 189. 239 Rogall, Festschrift Universität Köln, S. 519 f.; Kuhlen, ZStW 105 (1993),697,717 f.; Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 236 ff.

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7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts

wässerverunreinigung so auszugestalten, daß nur die Verhaltensweisen erfaßt werden, denen entweder "die Eignung zur Schädigung der Gesundheit eines anderen gegeben ist" oder aber "eine Schädigung eines Tier- oder Pflanzenbestandes eintritt.,,240 Auch Jenny und Kunz fordern in ihrem Bericht und Vorentwurf zur Revision des schweizerischen UmweItstrafrechts Tatbestände mit Eignungsklauseln. Diese sollen entweder an die Eignung zur "nicht unerheblichen" bzw. "nachhaltigen" Beeinträchtigung eines Umweltmediums oder aber an die Eignung zur Schädigung der "Gesundheit von Menschen oder Tiere(n), Pflanzen oder Sachen von bedeutendem Wert" anknüpfen?41 Anzumerken ist zunächst, daß die vorgeschlagene Orientierung an einer Eignung zur Schädigung von Menschen die entsprechenden Straftatbestände in konkrete Gefährlichkeitsdelikte umgestalten würde. 242 Die mit einer derartigen Umwandlung verbundene Beschränkung des Strafbarkeitsbereichs könnte letztlich aber nur dann überzeugen, wenn Kumulationsbeiträge als solche das Strafrecht grundsätzlich nichts angehen würden. Daß dies nach der hier vertretenen Auffassung nicht der Fall ist, wurde oben dargelegt,243 und wird letztlich auch von vorgenannten Autoren nicht in Frage gestellt, die - alternativ und unabhängig von jeglicher Gesundheitsgefährdung - auch die Schädigung eines Pflanzen- oder Tierbestandes ausreichen lassen wollen. Da aber - wie ebenfalls oben dargelegt wurde244 - der Schutz von Tieren und Pflanzen um ihrer selbst willen kein legitimes Anliegen einer strafrechtlichen Regelung sein kann, ist auch dieses Kriterium gewichtigen Bedenken ausgesetzt. Kasper vertritt die Auffassung, der unverzichtbare Bezug zu den zentralen menschlichen Existenz- und Entfaltungsbedingungen setze eine erhebliche Schädigung voraus, an der es bei der Schädigung einzelner Tiere oder Pflanzen fehle, die aber dann gegeben sei, wenn entweder die Ausrottung einzelner Arten oder aber der Tier- bzw. Pflanzenbestand als solcher bedroht sei. 245 Seine These, eine derartige Schädigung des Tier- oder Pflanzenbestandes sei "ein unwiderlegliches Indiz dafür, daß die Verunreinigung so erheblich war, daß auch menschliche Existenzbedingungen beeinträchtigt wurden und die Tat damit strafwürdig ist,'·246 wird man allerdings nicht ohne weiteres als überzeugend ansehen können: sollen tatsächlich "zentrale menschliche Existenz- und Entfaltungsbedingungen" beeinträchtigt sein, wenn Einleitungen in einen kleinen Teich dazu führen, daß eine dort heimische, an besondere Wasserbedingungen gebundene Fischart ausstirbt? Vgl. Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 200 ff., 211. Vgl. bereits oben S. 117 f. 242 Dies gilt jedenfalls dann, wenn man mit Kasper (Erheblichkeitsschwelle, S. 200 ff. m. w. N. auch zu abweichenden Auffassungen) den Begriff der Gesundheitsbeschädigung mit dem der Gesundheitsbeschädigung i. S. d. § 223 dStGB gleichsetzt. 243 Vgl. oben S. 318 ff. 244 Vgl. oben S. 132 ff. 24S Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 203 ff. 246 Ebd., S. 213. 240

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11. Abstrakte Gefährdungsdelikte als Typen der Risikoschaffung

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Frisch, an dessen Ausführungen247 Kasper anknüpft,248 führt aus, Kumulationsbeiträge seien als strafrechtlich relevant einzustufen, wenn "man (bei entsprechender Möglichkeit) Maßnahmen zur Beseitigung der Störung ergreift oder bei akzeptablen Kosten ergreifen würde. Denn wenn man dies tut (oder tun würde), so belegt dies, daß die entsprechende Beeinträchtigung die in der Gemeinschaft als wünschenswert angesehene Entfaltungsgrundlage getroffen hat. Der Verzicht auf entsprechende Maßnahmen bildet dagegen, wenn er nicht nur durch deren Kosten erzwungen ist, ein gewichtiges Indiz dafür, daß die entsprechende Beeinträchtigung die Existenz- und Entfaltungsbedingungen offenbar nicht tangiert. ,,249 Zu konstatieren ist, daß auf der Grundlage dieses Ansatzes die Orientierung an der Schädigung eines Tier- oder Pflanzenbestandes wohl eher als eine zu hoch gesteckte Erheblichkeitsschwelle anzusehen wäre. Deutlich wird damit allerdings auch, daß die Orientierung an der Schädigung eines Tier- oder Pflanzenbestandes letztlich nichts anderes darstellt als die Festlegung eines normativen Ersatzgrenzwertes. 2SO Im Rahmen der Würdigung der Vorschläge zur Eingrenzung des § 324 dStGB darf im übrigen nicht unberücksichtigt bleiben, daß die Forderung nach einer Beschränkung des Umweltstrafrechts auf die "wirklich gravierenden Verunreinigungen" letztlich - in den Worten Nauckes - nicht auf eine wirkliche, sondern vielmehr nur auf eine scheinbare Entkriminalisierung abzielt. Auch für die Befürworter einer Beschränkung des Kreises strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen steht fest: ,,Der Staat muß auch weiterhin gegen für sich gesehen nicht gravierende und damit nicht strafwürdige Verunreinigungen vorgehen und bestehende (verwaltungsrechtliche) Verbote sanktionieren.,,2S1 Als angemessene Lösung wird die Ahndung als Ordnungswidrigkeit angesehen2s2 und zur Begründung auf die Unterschiede zwischen den Sanktionen der Strafe einerseits und der (ordnungsrechtlichen) Geldbuße andererseits verwiesen: die (Kriminal-)Strafe sei als eine Sanktion mit gravierendem sozialethischen Vorwurf nur für einen engeren Kreis von auch unter sozialethischen Aspekten besonders unerträglichen Verstößen legitimierbar; demgegenüber sei die Geldbuße nicht mit einem ethischen Schuldvorwurf verbunden, sondern werde lediglich als eine nachdrückliche Pflichtenmahnung empfunden, die keine ins Gewicht fallende Beeinträchtigung des Ansehens und des Leumunds des Betroffenen zur Folge habe. 253 Geht man mit der hier vertretenen Auffassung davon aus, daß sich ein qualitativer Unterschied zwischen Kriminalstraftaten und Ordnungswidrigkeiten nicht beVgl. Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 140. Vgl. Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 189 f. 249 Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 141. 250 Zu der entsprechenden Regelung in § 180 Abs. 2 öStGB vgl. Ronzani, Erfolg, S. 67. 251 Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 214. 252 Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 214 ff.; vgl. auch Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 141; Kuhlen, ZStW 105 (1993), 697, 717. m Vgl. Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 139; Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 215. 247

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7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts

gründen läßt, erweist sich die vorgeschlagene Zuordnung gravierender und weniger gravierender Verschmutzungsbeiträge als sachangemessen und geboten - jedenfalls soweit eine Rechtsordnung die Unterscheidung von Kriminalstraftaten und Ordnungswidrigkeiten kennt. Andererseits: Rechtsordnungen, in denen diese Trennung nicht existiert, sind keinesfalls gehalten, die weniger gravierenden Verschmutzungsbeiträge straflos zu stellen - wären diese einer repressiven Ahndung von vornherein nicht zugänglich, käme nämlich auch die Ahndung als Ordnungswidrigkeit nicht in Betracht. 254

5. Das Vorbereitungsdelikt Wie oben dargelegt wurde, liegt das spezifische Risikopotential der hier als Vorbereitungsdelikte bezeichneten Verhaltensweisen darin, daß entweder der Handelnde selbst oder aber eine andere Person an das Ergebnis der in Frage stehenden Verhaltensweise anknüpfen und hieraus dann die Beeinträchtigung eines Interesses resultieren kann. Der Unterschied zum Kumulationsdelikt besteht darin, daß die vorliegend zu untersuchenden Verhaltensweisen keinen unmittelbaren (Teil-)Beitrag zur Schädigung des in Frage stehenden Interesses leisten, sondern lediglich eine Situation schaffen, auf die zu deliktischen Zwecken aufgebaut werden kann. Beispielhaft: Selbst die massenhafte Herstellung falscher Banknoten oder gefährlicher Gerätschaften - wie z. B. Waffen - ist für sich gesehen ungeeignet, irgendwelche rechtlich zu schützenden Interessen real zu beeinträchtigen. Hierfür bedarf es vielmehr bestimmter Anknüpfungshandlungen: Banknoten müssen in den Verkehr gebracht, Waffen müssen benutzt werden. Unter Strafe gestellt ist aber nach geltendem Recht nicht nur das Inverkehrbringen falscher Banknoten bzw. das Benutzen einer Waffe, sondern bereits das bloße Herstellen von Falschgeld (§ 146 Abs. 1 Nr. 1 dStGB I Art. 240 Abs. 1 schwStGB) und sogar Vorbereitungshandlungen zum Herstellen von Falschgeld (§ 149 dStGBI Art. 247 schwStGB); neben dem bloßen (unberechtigten) Besitz einer Waffe ist auch das nicht genehmigte Herstellen, Instandsetzen, Erwerben, Vertreiben und Überlassen von Waffen strafbar (vgl. §§ 52a f. WaffG). Neben einigen weiteren Normen des Kernstrafrechts (vgl. etwa § 267 Abs.l 1. Alt. dStGBI Art. 251 schwStGB)255 finden sich weitere Vorbereitungsdelikte insbesondere in den Gesetzen des Nebenstrafrechts, in denen der Umgang mit bestimmten Stoffen oder Gegenständen unter Strafe gestellt wird. Lediglich beispielhaft sei hier auf die § 29 dBtmG I Art. 19 schwBetmG verwiesen?56 So auch Kuhlen, 'liltW 105 (1993),697,718. Nach Schultz, 'liltR 107 (1990), 68 handelt es sich bei der Urkundenfälschung um ein Vorbereitungsdelikt zum Gebrauch und ein Vor-Vorbereitungsdelikt im Hinblick auf einen etwaigen Betrug. 256 Vgl. Nestler, Rechtsgüterschutz, S. 66 ff. - ebenfalls anhand der Beispiele aus dem Bereich des BtmG und des WaffG; ders., Grundlagen, Rdnr. 244. 254 255

11. Abstrakte Gefährdungsdelikte als Typen der Risikoschaffung

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Die Frage ist nun: Können Verhaltensweisen, die, wie z. B. der bloße Besitz eines als potentiell gefährlich anzusehenden Objektes, für sich gesehen rechtlich relevante Interessen gar nicht zu schädigen vennögen, legitimerweise unter Strafandrohung gestellt werden?2s7 Nach der in der Rechtsprechung und auch im Schrifttum vorherrschenden Meinung können Vorbereitungshandlungen zwar dann, wenn die Anforderungen der §§ 25 ff. dStGB erfüllt sind, eine strafrechtliche Verantwortlichkeit im Hinblick auf einen im konkreten Einzelfall eingetretenen deliktischen Erfolg begründen. Voraussetzung ist hier aber stets ein Handeln in bezug auf den konkret eingetretenen deliktischen Erfolg.2s8 Entscheidend ist damit, ob die Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit auch dann zu legitimieren ist, wenn es an dem von den §§ 25 ff. dStGB vorausgesetzten subjektiven Bezug fehlt. Zu berücksichtigen ist hier, daß die Strafbewehrung, wenn und sOweit sich die Verhaltensweisen, mit denen entweder der Handelnde selbst oder aber andere Personen an die Vorbereitungshandlung anknüpfen, als eigenverantwortliches Handeln darstellen,2s9letztlich darauf hinausläuft, bestimmten Personen die Verantwortlichkeit für die vorweggenommene Abwehr potentiellen deliktischen Verhaltens anderer Personen aufzuerlegen.260 Dem könnte nun allerdings das in der modemen Dogmatik weithin anerkannte Prinzip der Selbst- bzw. Eigenverantwortlichkeit entgegenstehen: Dieses soll- sozusagen als Kehrseite der für das Strafrecht konstitutiven Autonomiefiktion - besagen, daß "der dem einzelnen zugewiesene Verantwortungsbereich und die ihn darin treffenden Verhaltenspflichten in der Weise zu begrenzen sind, daß man sich grundsätzlich nicht darauf einstellen muß, daß andere sich Dritten oder sich selbst gegenüber sorgfaltswidrig verhalten". 261 Hieraus ergebe sich, "daß der Verantwortungsbereich des einzelnen sich grundSätzlich auf sein eigenes Handeln beschränkt und nur unter besonderen Umständen auch dasjenige anderer mitumfaßt. .. Dagegen gibt es grundsätzlich kein Verbot von Handlungen, durch die andere zu sich selbst oder Dritte gefährdendem Verhalten veraniaßt werden können. Denn wie jemand auf mein Verhalten reagiert, unterliegt grundSätzlich allein seiner Verantwortung.,,262 "Soll abweichend von diesem Grundsatz auch sein (= des mittelbaren Mitverursachers) Beitrag als Unrecht angesehen werden, er also Verantwortung oder Mitverantwortung für das Tun eines anderen tragen, so bedarf dies folglich besonderer Gründe",263 die es rechtfertigen können, "den Verantwortungsbereich 257 Lagodny, Strafrecht, S. 321 ff., 335 hält reine Besitzdelikte für verfassungswidrig. weil diese auf eine allein dem Polizeirecht angemessene Zustandshaftung hinauslaufen. 258 Vgl. Cramer, in: Schönke/Schröder, § 15 Rdnr. 148. 259 Fehlt es hieran, kann sich die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Vorbereitungstäters unter dem Gesichtspunkt der mittelbaren Täterschaft ergeben. 260 Vgl. Bloy, Beteiligungsform, S. 138; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 312. 261 Schumann, Handlungsunrecht, S. 5; vgl. auch Cramer, in: Schönke/Schröder, § 15 Rdnr. 148; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 101; ders., Festschrift für Engisch, S. 506. 262 Schumann, Handlungsunrecht S. 6; vgl. auch a. a. 0., S. 42, 69.

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des mitverursachenden Hintermanns auf das Handeln einer anderen Person zu erstrecken" .164 Die Problematik, unter welchen Voraussetzungen der Bereich strafrechtlicher Verantwortlichkeit einer Person das Verhalten anderer Personen mitumfaßt, ist soweit ersichtlich bisher vornehmlich im Hinblick auf die Zurechenbarkeit konkreter deliktischer Erfolge behandelt worden. Zwar werden im Hinblick auf die Pönalisierung von Vorbereitungshandlungen als solche - d. h.: von Pönalisierungen ohne Bezugnahme auf die Mitverursachung einer Schädigung im Einzelfall und ohne Anknüpfung an einen konkreten Planungszusammenhang - nicht ohne weiteres die gleichen Maßstäbe gelten können. Eine Auseinandersetzung mit den im Rahmen der Zurechnungslehren gewonnenen Erkenntnissen dürfte aber dennoch weiterführend sein. Man wird nämlich davon ausgehen können, daß überhaupt nur die Verhaltensweisen, die im Falle eines entsprechenden subjektiven Bezuges zu einer konkreten Rechtsgutsverletzung eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für einen konkret eingetretenen deliktischen Erfolg begründen können, auch als Gegenstand eines eigenständigen Vorbereitungsdeliktes in Betracht kommen können. Ausgangspunkt der Diskussion über die Zurechnung mittelbar bewirkter deliktischer Erfolge ist die Lehre vom Regreßverbot gewesen. Den Vertretern dieser Lehre ging es in erster Linie darum, die These zu begründen, daß jedenfalls eine fahrlässig ermöglichte Vorsatztat eines Zweithandelnden eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Ersthandelnden nicht zu begründen vermöge. 26S Die auf eine Unterbrechung des Kausalzusammenhangs abstellende ursprüngliche Variante der Lehre vom Regreßverbot wird zwar heute soweit ersichtlich allgemein als nicht überzeugend abgelehnt. 266 Andererseits wird aber zunehmend anerkannt, daß die aus dem Gesichtspunkt der Eigenverantwortlichkeit resultierende Beschränkung individueller Verantwortungsbereiche auf die Bewertung sowohl der fahrlässigen als auch der vorsätzlichen Mitwirkung am Vorsatzdelikt eines anderen auswirken muß und unter bestimmten Voraussetzungen eine Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs bewirken kann. 267 Allerdings gilt noch immer das 1981 von StraSchumann, Handlungsunrecht, S. 42. Schumann, Handlungsunrecht, S. 70; vgl. auch Bloy, Beteiligungsform, s. 138; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. IOla; ders., Festschrift für Engisch, 263 264

S.506.

Vgl. Naucke, ZStW 76 (1964), 409 f.; Wehrle, Regressverbot, S. 1 f. Vgl. Bloy, Beteiligungsform, S. 136; Roxin, Festschrift für Tröndle, S. 177 f.; ders. StrafR AT, Teilbd. I, § 24 Rdnr. 27; Wehrle, Regressverbot, S. 23 ff., 31; vgl. auch bereits RGSt 61, 318, 319 f., wo im Hinblick auf die Einschränkung des Verantwortungsbereichs zwar auf das Kriterium der Vorhersehbarkeit des nachfolgenden Handeins einer anderen Person verwiesen wird, wobei dann aber schon ein normativer Ansatz zum Tragen kommt: "bei Anwendung der gebotenen (!) und ... möglichen Aufmerksamkeit" (a. a. 0., S. 321). 267 Vgl. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 233 ff.; Jakobs, ZStW 89 (1977), 1,5 ff.; Naucke, ZStW 76 (1964), 409, 424 ff.; Otto, Festschrift für Maurach, S. 96 ff.; Puppe, in: NK, Vor § 13 Rdnr. 155; Roxin, Festschrift für Tröndle, S. 179 ff.; Rudolphi, in: SKStGB, Vor § 1 Rdnr. 72; Wehrle, Regressverbot, S. 32. 265

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tenwerth gezogene Fazit: "Die weitere Frage, nach welchen Kriterien die Verantwortungsbereiche gegeneinander abzugrenzen sind, ist vorerst allerdings noch wenig geklärt. ,,268 Neben dem Gesichtspunkt der Vorhersehbarkeit des (deliktischen) Handeins anderer Personen werden als Maßstäbe zum einen die Sozialadäquanz des Verhaltens und zum anderen ein sog. Vertrauensgrundsatz diskutiert. Die Lehre von der Sozialadäquanz soll besagen, daß Verhaltensweisen, die sich völlig im Rahmen der normalen, geschichtlich gewachsenen sozialen Ordnung des Lebens bewegen, auch dann eine strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht zu begründen vermögen, wenn sie vom Wortlaut einer Strafnorm mitumfaßt sind. 269 Abgesehen von der völligen Unbestimmtheit dieses Maßstabes - wann ist eine Verhaltensweise "im sozialen Leben gänzlich unverdächtig,,?27o - muß dieser Ansatz jedenfalls daran scheitern, daß zum einen grundsätzlich jede Verhaltensweise in einen deliktischen Sinnzusammenhang integriert werden kann und zum anderen das im Verkehr Übliche nicht zwingend mit dem vom Recht Gewollten identisch sein muß. 271 So kann beispielsweise der Verkauf eines Gegenstandes nicht allein deshalb aus dem Bereich strafrechtlich relevanten Verhaltens ausgeschieden werden, weil die Durchführung von Kaufgeschäften ein für sich allein gesehen sozial unauffälliges bzw. übliches Geschehen darstellt; entscheidend ist vielmehr, wie die Verantwortungsbereiche von Käufer und Verkäufer gezogen werden. Soll der Verkäufer strafrechtlich dafür einzustehen haben, daß mit dem Kaufgegenstand keine deliktischen Pläne verfolgt werden? Im Ergebnis wird die Bestimmung des Verantwortungsbereichs zum einen vom jeweiligen Kaufgegenstand abhängen müssen - der Verkauf einer Schußwaffe kann nicht ohne weiteres dem Verkauf eines Stemmeisens und dieses Geschehen wiederum nicht dem Verkauf eines Schraubenziehers gleichgesetzt werden. Zum anderen muß die Bestimmung der Verantwortungsbereiche anhand normativer Maßstäbe erfolgen, d. h.: es geht um die Abgrenzung der wegen ihrer Unverzichtbarkeit für die Aufrechterhaltung des sozialen Zusammenlebens in einer bestimmten Gesellschaft für unerläßlich erachteten und deshalb erlaubten Risiken von den nicht mehr erlaubten. 272 Noch deutlicher wird die Notwendigkeit einer normativen Abgrenzung, wenn man die Bemühungen verfolgt, die strafrechtliche Irrelevanz bestimmter VerhalStratenwerth, StratR AT, Rdnr. 1164 (Hervorhebung im Original). Vgl. Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 69; Roxin, StratR AT, Teilbd. I, § IO Rdnr. 33; Stratenwerth, StratR AT, Rdnr. 340. 270 Vgl. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 237, 296; Jakobs, StratR AT, 24/14; ders., ZStW 89 (1977), 1,5: Es kommt auf den Kontext an, in dem das Verhalten interpretiert wird. 271 Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 237,296,311; Jakobs, StratR AT, 7/35 f.; Lenckner, Festschrift für Engisch, S. 496. 272 Cramer, in: Schönkel Schröder, § 15 Rdnr. 146; Jakobs, StratR AT, 7/35 f.; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 93; Roxin, StratR AT, Teilbd. I, § IO Rdnrn. 36 ff.; Stratenwerth, StratR AT, Rdnr. 342. 268

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7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts

tensweisen aus einem sog. Vertrauensgrundsatz abzuleiten. Dieser ursprünglich für den Bereich des Straßenverkehrs entwickelte, in der Sache aber für alle Bereiche gefahrträchtiger Verhaltensweisen relevante Grundsatz 273 besagt, "daß jeder Verkehrsteilnehmer auf verkehrsgerechtes Verhalten der anderen ,vertrauen' darf, d. h. sich bei seinem Verhalten nicht auf verkehrswidriges oder unvernünftiges Handeln anderer einzustellen braucht". 274 Auch hier geht es aber nicht um die Anerkennung eines faktisch bestehenden Vertrauens, sondern vielmehr um ein normatives Vertrauendürfen. 275 Einerseits soll der Vertrauens grundsatz nämlich dann nicht eingreifen, wenn der Handelnde zwar auf das verkehrsgerechte Verhalten anderer faktisch vertraut hat, er dies aber aufgrund bestimmter Umstände nicht hätte tun dürfen; andererseits soll es auf ein faktisch gegebenes Vertrauen dann nicht ankommen, wenn der Handelnde zu der Erwartung berechtigt war, der andere werde sich verkehrsgerecht verhalten. 276 Im Ergebnis ist der Vertrauensgrundsatz damit aber nichts anderes als eine Leerformel für die Abgrenzung rechtlich erlaubter gegenüber rechtlich mißbilligten Risikosetzungen. Die Frage, wie die Verantwortungsbereiche verschiedener Personen voneinander abgegrenzt bzw. miteinander koordiniert werden, kann nicht aus dem Vertrauensgrundsatz abgeleitet, sondern muß unter Heranziehung anderweitiger Kriterien entschieden werden. 277 Im Hinblick auf die Zurechenbarkeit konkreter deliktischer Erfolge wird verbreitet die These vertreten, es komme entscheidend auf die Vorhersehbarkeit des (Fehl-)Verhaltens anderer Personen an: pflichtwidrige Schädigungen durch Dritte seien nur dann in Rechnung zu stellen, "wenn dafür im Einzelfall besondere Anzeichen vorhanden sind".278 Beispielhaft kann dieser Ansatz anhand der Problematik des Zugänglichrnachens von Deliktswerkzeugen, insbesondere Waffen, verdeutlicht werden: Das Herumliegenlassen einer geladenen und ungesicherten Waffe soll auch dann keine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen, wenn ein anderer die Waffe "vorsätzlich oder grob fahrlässig - etwa ohne zu prüfen, ob sie geladen ist - auf einen Dritten richtet und abdrückt. ,,279 Anders zu beurteilen sei 273 Cramer, in: Schönke/Schröder, § 15 Rdnr. 151; Graven, L'infraction, S. 217; Rehberg, Strafrecht I, S. 244; Stratenwerth, SchwStrafR AT I, § 16 Rdnr. 49; TrechsellNoll, StrafR AT I, S. 240; Wehrle, Regressverbot, S. 54 ff. 274 Schumann, Handlungsunrecht, S. 7; vgl. auch Puppe, in: NK, Vor § 13 Rdnr. 150; Roxin, Festschrift für Tröndle, S. 1861187; Stratenwerth, SchwStrafR AT I, § 16 Rdnr. 49; Wehrle, Regressverbot, S. 52 f. 275 Bloy, Beteiligungsform, S. 139 f.; Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 144; Jakobs, StrafR AT, 7/51; Stratenwerth, Festschrift für Eb. Schmidt, S. 392 f. 276 Zur Frage, wann dies im einzelnen anzunehmen ist, vgl. Jakobs, ZStW 89 (1977), 1, 14; ders., ZStW Beiheft 1974,6, 16 ff.; ders., StrafR AT, 7/54 ff.; Puppe, in: NK, Vor § 13 Rdnrn. 150, 152; Stratenwerth, Festschrift für Eb. Schmidt, S. 392, 397 ff.; ders., StrafR AT, Rdnrn. 1157 ff.; ders., SchwStrafR AT I, § 16 Rdnrn. 50 ff. 277 Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 237 f. 278 Rudolphi, in: SKStGB, Vor § 1 Rdnr. 73; vgl. auch Puppe, in: NK, Vor § 13 Rdnr. 156 sowie umfassend: Schmoller, Festschrift für Triffterer, S. 227 ff., 239 ff.

11. Abstrakte Gefahrdungsdelikte als Typen der Risikoschaffung

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dagegen der Fall, "in dem ein Jäger in einer Wirtsstube, während ein heftiger Streit im Gange ist, ein geladenes Gewehr an die Wand hängt: Sofern nämlich aufgrund des Streits ein Gebrauchmachen von der Waffe absehbar ist, handelt es sich um einen Fall des Voraussehbaren nachträglichen Fehlverhaltens. ,,280 Die zunächst stringent erscheinende Unterscheidung zwischen konkret vorhersehbarem einerseits und nicht vorhersehbarem Fehlverhalten Dritter andererseits verliert seine Plausibilität spätestens dann, wenn Fälle in die Betrachtung einbezogen werden, deren Zuordnung nicht so offensichtlich iSt. 281 In der Entscheidung RGSt 34, 91, 94 hat der 4. Strafsenat des Reichsgerichts es für hinreichend vorhersehbar gehalten, daß ein an der Garderobe in der Tasche eines Mantels abgegebener geladener Revolver "auf irgend eine Weise in die Hände eines Anderen gelangen, sich dabei entladen und daß in dem mit Menschen gefüllten Raume jemand von dem Geschosse getroffen werden konnte". Die Entscheidung zeigt, daß es weniger auf die faktisch-empirische Vorhersehbarkeit eines konkreten deliktischen Erfolgs ankommt, als vielmehr darauf, daß aus der Herrschaft über eine Gefahrenquelle bestimmte Anforderungen an das Verhalten resultieren. Welche Anforderungen dies im einzelnen sind, richtet sich nach der Art des gefährlichen Gegenstandes bzw. Stoffes. 282 Daß das Herumliegenlassen einer geladenen Schußwaffe völlig unabhängig von einem im Einzelfall konkret naheliegenden Mißbrauch mit den in § 42 WaffG zum Ausdruck kommenden Wertungen zu vereinbaren ist, erscheint durchaus zweifelhaft,283 ist aber jedenfalls eine Frage, die ersichtlich nicht anhand empirischer, sondern vielmehr normativer Maßstäbe zu entscheiden ist. Stratenwerth und auch Jakobs vertreten die Auffassung, daß die Mitwirkung an der Deliktsverwirklichung durch einen anderen nur dann eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Hintermannes begründen soll, wenn das mittelbar verursachende Verhalten gar nicht anders als ein Beitrag zur Durchführung eines Deliktes interpretiert werden kann, wenn also der Charakter der Verhaltensweise als ,,Deliktsbeitrag nicht nur als möglicher, sondern als ihr einzig denkbarer Zweck erscheint".284 Auch Lesch ist der Auffassung, daß es entscheidend darauf anSchmoller, Festschrift für Triffterer, S. 238. Schmoller, Festschrift für Triffterer, S. 238 Fußn. 54; vgl. auch Roxin, Festschrift für Tröndle, S. 194 für die Fälle "erkennbarer Tatgeneigtheit" sowie RGSt 64, 370, 374 m. w. N. und dem Hinweis auf die zwei Fallgestaltungen : ,,Liegenlassen eines Revolvers in einer Verbrecherkaschemme"; "Hängen eines geladenen Gewehrs an die Wand des Wirtshaustanzsaales, wo betrunkene Burschen miteinander im Wortwechsel sind und jeden Augenblick tätlich werden können." 281 Grundsätzlich kritisch zur fehlenden Stringenz der Vertreter der Vorhersehbarkeitslösung auch bereits Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 231 ff. 282 Vgl. hierzu Cramer, in: Schönke/Schröder, § 15 Rdnr. 154; Wehrle, Regressverbot, S. 107 Fußn. 80 sowie OLG Stuttgart, JR 1997,517,518 mit Anm. Gössel. 283 Ablehnend z. B. OLG Stuttgart, JR 1997, 517, 518; vgl. auch Stratenwerth, SchwStrafR AT I, § 16 Rdnr. 55; Wehrle, Regressverbot, S. 107 f.; a.A. BGE 105 IV 332. 279 280

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7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts

komme, ob "ein Verhalten keine andere sozial sinnvolle Erklärung mehr zuläßt, als diejenige, daß eine solidarische Assoziation mit den Organisations akten anderer zur Desavouierung einer ganz bestimmten Norm gewollt ist. Solange ein Verhalten hingegen nach seiner objektiven Erscheinung unter Berücksichtigung des sozialen Kontextes und der Rolle des Akteurs noch sinnvoll als ubiquitär bzw. sozialadäquat interpretiert werden kann, geht den Handelnden der deliktische Ausgang nichts an: Er braucht sich den normverletzenden Verhaltenssinn eines anderen nicht aufdrängen lassen. ,,285 Aus dem Verkauf eines Messers durch den Inhaber eines Haushaltswarengeschäftes resultiere auch dann keine strafrechtliche Verantwortlichkeit, wenn zum Zeitpunkt des Verkaufs vor dem Geschäft eine Schlägerei stattfindet: Das Verhalten des Geschäftsinhabers "ist mit seiner sozialen Rolle sinnvoll erklärbar und auf ein Verhalten des Täters bezogen, das an sich legal ist, sowie auch ohne nachfolgende strafbare Handlungen sozial und individuell sinnvoll bleibt". 286 Andere Stimmen in der Literatur halten eine derartige Einschränkung des Verantwortungsbereichs für nicht sachgerecht, da man im allgemeinen nicht "auf das Ausbleiben einer Vorsatztat vertrauen dürfe, auch wenn Anhaltspunkte für das Gegenteil bestehen. Auch die Ermöglichung oder Erleichterung einer vorsätzlichen Straftat, zu der sich ein anderer erkennbar entschließen könnte, muß die Fahrlässigkeitshaftung begründen".287 Die Sorgfaltspflichtverletzung beginne "nicht erst, wenn die Handlung objektiv keinen anderen Sinn haben kann, als Beihilfe zu einer vorsätzlichen Rechtsverletzung zu leisten".288 "Die Gefahr, Mittel, Gelegenheit oder Motive zu einem Verbrechen zu liefern, unterscheidet sich als Grund von Sorgfaltspflichten durch nichts prinzipiell von der Gefahr, eine Mitursache für einen natürlichen Schadensprozeß zu setzen. Für beide Gefahrenarten gilt, daß das Recht sinnvollerweise nicht jede schlechthin denkbare Vorkehrung gegen sie verlangt; man darf Brötchen oder Pralinenschachteln an potentielle Giftmörder verkaufen, aber auch Autos, Motorräder oder Segelboote an potentielle Unfallverursacher. Gleichwohl gebietet das Recht auch eine gewisse Sorgfalt zur Vorbeugung gegen Verbrechen wie gegen Unglücksfälle. Einen allgemeinen Grundsatz, daß die Verbrechen anderer einen nichts angehen, sofern man nicht vorsätzlich und in Zusammenarbeit mit den Tätern an ihnen teilnimmt, oder daß man unter allen Umständen darauf vertrauen dürfe, daß andere keine Verbrechen begehen, gibt es nicht. ..289 Ob die Kritiker den von Stratenwerth, Jakobs und Lesch vertretenen Ansatz richtig interpretieren, wenn sie davon ausgehen, daß eine strafrechtliche Verant284 Stratenwerth, StrafR AT, Rdnr. 1164; vgl. auch Jakobs, ZStW 89 (1977), 1,23 ff.; jedenfalls im Ergebnis übereinstimmend wohl auch Samson, ZStW 99 (1987), 617, 633. 285 Lesch, ZStW 105 (1993), 271, 285/286. 286 Lesch, ZStW 105 (1993),271,286. 287 Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 574 (Hervorhebung im Original). 288 Puppe, in: NK, Vor § 13 Rdnr. 156. 289 Puppe, in: NK, Vor § 13 Rdnr. 159.

11. Abstrakte Gefährdungsdelikte als Typen der Risikoschaffung

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wortlichkeit nur dann in Betracht kommen soll, wenn der Verursachungsbeitrag objektiv gesehen keinen anderen als einen deliktischen Sinnbezug haben kann, 290 soll hier nicht im einzelnen geprüft werden. Da es weder Verhaltensweisen mit einem ausschließlich deliktischen Sinnbezug noch andererseits Verhaltensweisen gibt, bei denen die Möglichkeit eines deliktischen Sinnbezugs von vornherein ausgeschlossen ist,291 würde sich ein derartiger Ansatz selbst ad absurdum führen. Tatsächlich stellt aber jedenfalls Stratenwerth ausdrücklich darauf ab, daß der deliktische Sinnbezug des in Frage stehenden Verhaltens "nach Lage der Dinge im konkreten Fall" als der "einzig denkbare Zweck erscheint".292 Relevante Unterschiede zu der von P"Jppe und anderen vertretenen Auffassung dürften dann aber letztlich gar nicht mehr bestehen. Eine schlichte Übertragung der bei der Zurechnung konkreter deliktischer Erfolge maßgebenden Grundsätze auf die Problematik der eigenständigen Pönalisierung von (potentiellen) Vorbereitungshandlungen kann nicht in Betracht kommen, da bei letzteren gerade nicht auf die Umstände des konkreten (Einzel-)Falles abgestellt werden kann. Soll die Option der eigenständigen Pönalisierung bestimmter Vorbereitungshandlungen nicht von vornherein aufgegeben werden, ist angesichts der bereits mehrfach hervorgehobenen grundsätzlichen Ambivalenz jeglichen Verhaltens 293 auf die einer Verhaltensweise bestimmungsgemäß zukommende Funktion abzustellen. Legt man diesen Ansatz zugrunde, ergibt sich eine Zweiteilung der in Frage stehenden Verhaltensweisen: 294 Zunächst die Verhaltensweisen, die bei bestimmungsgemäßer Anknüpfung entweder gar keinen oder doch jedenfalls keinen eindeutigen deliktischen Sinnbezug aufweisen und die deshalb einer eigenständigen Pönalisierung von vornherein entzogen sind. Die nie auszuschließende Möglichkeit einer mißbräuchlichen Anknüpfung kann die Pönalisierung nicht rechtfertigen. Sie wäre Ausdruck einer die Handlungsfreiheit unangemessen einschränkenden, mit dem Menschenbild des Grundgesetzes unvereinbaren ,,Mißtrauensgesellschaft" .295 290 So neben Puppe, in: NK, Vor § 13 Rdnr. 156 auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 290 bei und in Fußn. 209; Roxin, Festschrift für Tröndle, S. 190; ders., StrafR AT, Teilbd. 1, § 24 Rdnr. 29. 291 Vgl. Jakobs, ZStW 89 (1977),1,20; ders., StrafR AT, 7/35; Lenckner, Festschrift für Engisch, S. 493; Roxin, Festschrift flir Tröndle, S. 187; ders., StrafR AT, Teilbd. I, § 24 Rdnr. 26; Wehrle, Regressverbot, S. 74. 292 Stratenwerth, StrafR AT, Rdnr. 1164 (Hervorhebung nicht im Original); vgl. auch ders., SchwStrafR AT I, § 16 Rdnr. 55. 293 Einerseits kann der Verkauf von Gegenständen mit einem eher niedrigen Gefährdungspotential (Brötchen, Pralinen etc.) in einen deliktischen Planungszusammenhang integriert werden; andererseits ist es nicht ausgeschlossen, daß ein potentiell gefährlicher Gegenstand zu anderen als deliktischen Zwecken genutzt wird (beispielhaft: der Waffennarr hortet seine ungeladenen Pistolen in einem Tresor). 294 Die nachfolgende Differenzierung lehnt sich an die von Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 280 ff. entwickelte Kategorisierung an. 295 Vgl. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 253,269 f.

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7. Kap.: Grenzen des Gefahrdungsstrafrechts

Anders liegt es dagegen bei Verhaltensweisen, an die bestimmungsgemäß nur zu deliktischen Zwecken angeknüpft werden kann. Da der Vorbereitung deliktischen Handeins ersichtlich kein relevanter sozialer Wert zukommen kann, stellt sich hier die Frage, ob allein die Möglichkeit einer nicht-deliktischen Anknüpfungshandlung die Pönalisierung als illegitim erweist. Beispielhaft: Kann die Produktion und das Zugänglichmachen von Schußwaffen pönalisiert werden, obwohl Fallgestaltungen denkbar sind, in denen eine Waffe sozial werthaftem Handeln dient, wie z. B. dem Selbstschutz gefährdeter Personen? Letztlich wird man die Frage, so wie sie formuliert ist, weder bejahen noch verneinen können. Erforderlich ist eine Ausgestaltung der Strafbarkeitsvoraussetzungen, die derartigen Fallgestaltungen Rechnung trägt. Bezogen auf das obige Beispiel läßt sich dies rechtstechnisch durch die Beschränkung des Strafrechts auf den "unberechtigten" Umgang mit Schußwaffen sicherstellen. Jedenfalls dann, wenn etwaigen sozial werthaften Gebrauchsformen durch eine spezifische Ausgestaltung der Strafbarkeitsvoraussetzungen Rechnung getragen wird, wird man das Verbot des BereitsteIlens von Gegenständen, die ihrer spezifischen Funktion nach in erster Linie als Deliktswerkzeuge in Betracht kommen, als legitim anerkennen müssen. 296 Zu klären bleibt: Steht das Prinzip der Selbstverantwortung der Sanktionierung legitimerweise verbotsfähiger Vorbereitungshandlungen entgegen? Wie bereits oben dargestellt, will Jakobs die Pönalisierung der Produktion und des BereitsteIlens von "Prototypen von Deliktsmitteln" als legitim anerkennen. 297 Nestler geht zwar davon aus, daß das Prinzip der Selbstverantwortung einer Sanktionierung von Vorbereitungshandlungen grundsätzlich entgegensteht, nimmt aber an, daß das Verantwortungsprinzip nicht absolut gilt, sondern "bereichsspezifisch, wie im Schußwaffenstrafrecht, durch eindeutig überwiegende, entgegenstehende Interessen außer Kraft gesetzt werden" kann.298 Indes: Wie im Verlaufe der vorliegenden Untersuchung bereits mehrfach betont wurde, kann die Legitimität einer Strafnorm nicht aus deren Funktionalität abgeleitet werden. Als Sanktionsnorm kann ein Straftatbestand erst dann als legitim angesehen werden, wenn und soweit sich eine sozialschädliche Verhaltensweise darüber hinaus auch noch als Anmaßung einer mit dem allgemeinen Rechtsgleichheitsverhältnis unvereinbaren Rechtsposition darstellt. Bezogen auf das hier in Frage stehende Zugänglichmachen von qualifiziert gefährlichen Gegenständen ist zu berücksichtigen, daß der Umgang mit derartigen Gegenständen nur dann als erlaubt gelten kann, wenn gleichzeitig Sorge getragen wird, daß diese nicht in falsche Hände geraten. 299 Im Falle der Vernachlässigung des insoweit angemessenen Sicherungs- bzw. Organisationssolls kann der Umgang mit qualifiziert gefährlichen Gegenständen nicht mehr als eine im Rahmen des allgemeinen Rechtsgleichheitsverhältnisses liegende Verhaltensweise anSo auch: Nestler, Rechtsgüterschutz, S. 7l. Vgl. Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 770 ff.; ders., StrafR AT, 6/86a; ders., GA 1996, 253,264. 298 Nestler, Grundlagen, Rdnr. 244. 299 Vgl. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 247 f., 253 f., 334, 360 ff. 296

297

11. Abstrakte Gefahrdungsdelikte als Typen der Risikoschaffung

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erkannt werden. Hieraus folgt dann aber nicht nur, daß der Handelnde für die aus etwaigen Anknüpfungstaten resultierenden deliktischen Erfolge verantwortlich gemacht werden kann?OO Als Anmaßung einer ihm nicht zustehenden Rechtsposition kann sein Verhalten darüber hinaus auch Gegenstand einer eigenständigen Sanktionsnorm sein.

300 Vgl. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 250 ff., 334 f. mit dem Hinweis darauf, daß es sich der Sache nach um eine Haftung nach UnterlassensgrundSätzen handelt.

22 Wohlers

8. Kapitel

Schlußbetrachtung Wenden wir uns abschließend wieder der Ausgangsfrage der Untersuchung zu, so ist zunächst festzuhalten, daß der Streit über die Legitimität des "modemen" Strafrechts auf einer bereits im Ansatz verfehlten Prämisse aufbaut. Die als Kennzeichen des "modemen" Strafrechts angesehene "Vorverlegung des Strafrechts in den Gefahrdungsbereich" (Felix Herzog) erhält angesichts der aktuellen kriminalpolitischen Entwicklung zwar einen besonderen Stellenwert, unter dogmatischen Gesichtspunkten handelt es sich hierbei jedoch um eine für jede Strafrechtsordnung grundlegende Problemstellung. In der Sache selbst haben sich alle Bemühungen um eine pauschale Lösung der Problematik als verfehlt erwiesen: Weder kann der Beschränkung des Strafrechts auf den Schutz individueller Rechtsgüter zugestimmt werden, 1 noch hat sich das Geflihrdungsstrafrecht als solches als eine per se illegitime Ausdehnung des Anwendungsbereichs strafrechtlicher Normen erwiesen? Eine Lösung kann mithin von vornherein nicht en bloc erfolgen,3 sondern muß den ebenso beschwerlichen wie unspektakulären Weg der Einzelnormprüfung gehen. 4 Konkret bedeutet dies, daß nicht zu verhandeln ist über die Legitimität des "modemen" Strafrechts, der abstrakten Geflihrdungsdelikte oder auch nur über die Statthaftigkeit der Pönalisierung von generell geflihrlichen Handlungen, von Kumulationsbeiträgen oder von Vorbereitungshandlungen. Zu untersuchen ist vielmehr die Legitimität konkreter Einzelnormen, wobei dann - insoweit wird man der Einschätzung Roxins folgen können - eine Durcharbeitung der einzelnen Tatbestände ergeben wird, daß sich "viele von ihnen als rechtsstaatlich unhaltbar erweisen".5 Der Versuch, auch nur die Straftatbestände der im Rahmen der vorliegenden Untersuchung beispielhaft analysierten Teilbereiche der Strafrechtsordnung einer entsprechenden Einzelnormprüfung zu unterziehen, würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen. Die nachfolgenden skizzenhaften Überlegungen sollen jedoch andeuten, auf welche Fragestellungen derartige Arbeiten zum Umwelt-, Wirtschafts- und Betäubungsmittelstrafrecht sowie zu den Straftatbeständen des I 2

3 4

5

Vgl. oben S. 94 ff., 221 ff. Vgl. oben S. 281 ff. Vgl. hierzu auch bereits oben Seite 51 ff. So auch bereits Roxin, StratR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 26. Ebd.

Schlußbetrachtung

339

ESchG und des in Aussicht genommenen FMedG eingehen müssen und auf welche Problemstellungen es letztlich entscheidend ankommen wird. I. Die Problematik des Umweltstrafrechts liegt nach der hier vertretenen Auffassung ersichtlich nicht im Bereich der Rechtsgutstheorie: die Gewährleistung der überlebensnotwendigen Umweltbedingungen stellt unstreitig ein für jede Gesellschaft sozialwichtiges bonum dar. Zumindest die Gewährleistung der Integrität der wesentlichen Umweltmedien (Wasser, Boden, Luft) muß vor diesem Hintergrund als ein grundsätzlich strafschutzwürdiges Kollektivinteresse anerkannt werden. 6 Das eigentliche Legitimationsproblem liegt in der Deliktsstruktur. Wie gezeigt, handelt es sich bei den entsprechenden Straftatbeständen (beispielhaft: § 324 dStGB) um Kumulationsdelikte, deren Legitimation wesentlich davon abhängt, ob schädigungsrelevante Kumulationseffekte tatsächlich mit hinreichender Sicherheit zu erwarten sind. 7 Hier muß zunächst entschieden werden, was als ein relevanter Kumulationseffekt anzusehen ist; ob derartige Effekte zu erwarten sind, ist dann eine letztlich empirische Fragestellung. 8 Des weiteren ist anhand normativer Maßstäbe zu entscheiden, ob erst Kumulationsbeiträge ab einem bestimmen Eigengewicht als strafrechtlich relevant anerkannt werden sollen, was jedenfalls im Hinblick auf umweltschädigende Verhaltensweisen letztlich wohl zu verneinen ist. 9 Soweit umweltstrafrechtliche Normen nicht bestimmte Umweltmedien, sondern vielmehr einzelne Personen vor Beeinträchtigungen als Folge umweltschädigender Verhaltensweisen schützen sollen (beispielhaft: § 326 Abs. 1 Nr. 1-3 dStGB), handelt es sich der Sache nach um Normen zum Schutz des unstreitig als strafschutzwürdig anerkannten Schutzgutes der Gewährleistung der körperlichen Integrität. Der Deliktsstruktur nach handelt es sich bei diesen Straftatbeständen um konkrete Gefahrlichkeitsdelikte, die nur dann als legitim anerkannt werden können, wenn sie Verhaltensweisen erfassen, deren immanentes Risiko weder durch den Handelnden selbst, noch - im Rahmen zumutbarer Anstrengungen - durch andere Personen hinreichend kompensiert werden kann. 10 Soweit Straftatbestände des Umweltstrafrechts weder an einen realen Beitrag zur Schädigung eines Umweltmediums noch an die Gefahrdung konkreter Individuen anknüpfen, sondern Verhaltensweisen erfassen, bei denen schon die Möglichkeit eines Kumulationsbeitrages ausreichen soll (beispielhaft: Art. 70 Abs. 1 lit. a und b GSchG) oder die bloße Zuwiderhandlung gegen Anordnungen der Umweltverwaltung unter Strafandrohung gestellt wird (beispielhaft: Art. 70 Abs. 1 lit. c g GSchG), erscheint deren Legitimität höchst zweifelhaft. Ebenso wie bei der Gefährdung individueller Rechtsgutsinteressen wird man auch im Hinblick auf die Gefährdung kollektiver Rechtsgüter an die Verursachung einer unbeherrschbaren Vgl. oben S. 94 ff., 139 f. Vgl. oben S. 141 ff., 318 ff. 8 Vgl. oben S. 322 ff. 9 Vgl. oben S. 324 ff. 10 V gl. oben S. 311 ff. 6

7

22'

340

Schluß betrachtung

Gefahrensituation anknüpfen müssen. Art. 70 Abs. 1 lit. a und b GSchG können damit wohl nur dann als legitim anerkannt werden, wenn man sie dahingehend interpretiert, daß eine "unbeherrschbare" Gefahr für eine Verunreinigung eingetreten sein muß. Soweit Art. 70 Abs. I lit. c - g GSchG eine Bestrafung bei Zuwiderhandlungen gegen verwaltungsbehördliche Anordnungen ermöglicht, ohne daß es zu einer derartigen Gefahrensituation gekommen sein muß, ist die Strafwürdigkeitsgrenze nicht erreicht. 2. Im Hinblick auf die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung behandelten Straftatbestände des "modernen" Wirtschaftsstrafrechts ist zu differenzieren: Bei den sog. Computerdelikten haben die hier behandelten Problemstellungen keine praktische Bedeutung, da es nicht um die Vorverlegung des Strafbarkeitsbereiches geht, sondern darum. bestehende strafrechtliche Verbote einem gewandelten gesellschaftlichen Umfeld anzupassen. 11 Auch die Pönalisierung des Scheck- und Kreditkartenmißbrauchs stellt weniger ein Problem der Vorfeldkriminalisierung dar; zweifelhaft ist hier die Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip.12 Anders liegt es bei den in der Bundesrepublik Deutschland neu in das Strafgesetzbuch aufgenommenen "Straftatbeständen im Vorfeld des Betruges". Wie gezeigt, können die Straftatbestände des Subventions-, Kapitalanlage- und Kreditbetruges (§§ 264, 264a, 265b dStGB) allenfalls über das Interesse an der Funktionsfähigkeit bestimmter wirtschaftlicher Institutionen bzw. Funktionszusammenhänge legitimiert werden. 13 Da nicht das Verhalten eines einzelnen, sondern nur das mißbräuchliche Verhalten einer Vielzahl von Personen die Funktionsfähigkeit der jeweiligen Institutionen in Frage stellen kann, handelt es sich auch hier wiederum um Kumulationsdelikte. 14 Die Legitimation dieser Straftatbestände muß in grundsätzlicher Hinsicht angezweifelt werden: Zum einen fehlen überzeugende Belege für die behaupteten Kumulationseffekte, zum anderen kann - insbesondere im Hinblick auf die §§ 264a, 265b dStGB - mit guten Gründen angezweifelt werden, daß die Tatbestände die in der Lebenswirklichkeit vorzufindenden tatsächlichen Handlungsabläufe überhaupt angemessen erfassen. 1S 3. Die Problematik des Betäubungsmittelstrafrechts liegt demgegenüber nach der hier vertretenen Auffassung schwerpunktmäßig im Bereich der Rechtsgutstheorie. Entscheidend ist, daß es an einem legitimen Schutzgegenstand fehlt: Wie oben im einzelnen dargelegt wurde, muß die "Volksgesundheit" als potentielles Rechtsgut von vornherein ausscheiden. 16 Einer Legitimation betäubunsmittelstrafrechtlicher Normen im Hinblick auf den Schutz von Leib und Leben des Betäubungsmittelkonsumenten steht der Grundsatz entgegen, daß Selbstgefährdungen Vgl. oben S. 151 ff. Vgl. oben S. 76, 153 f. 13 V gl. oben S. 159 ff. 14 Vgl. oben S. 176 ff. IS V gl. i. e. oben S. 171 ff. 16 Vgl. oben S. 190 ff. 11

12

Schluß betrachtung

341

kein strafrechtliches Unrecht zu begründen vennögen. 17 Entgegen einer weit verbreiteten Meinung kann das geltende Betäubungsmitte1strafrecht im übrigen weder über die Interessen anderer Personen an der Nichtrealisierung der - eigenverantwortlichen 18 - Selbstgefahrdung des Konsumenten,19 noch durch das gesellschaftliche Interesse an der Verhinderung bzw. Bekämpfung der gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen bzw. Folgeerscheinungen des Drogenkonsums legitimiert werden. 2o Auch der für die reale Entwicklung des Betäubungsmittelstrafrechts wohl letztlich entscheidende Gesichtspunkt, eine bestimmte, als abweichend definierte Lebenskonzeption zu unterdrücken bzw. die Verbindlichkeit eines anderen Ideals zu betonen,21 vennag jedenfalls in einer aufgeklärten und pluralistischen Gesellschaft eine Pönalisierung nicht zu tragen. 22 Soweit man - entgegen der hier vertretenen Auffassung - daran festhalten will, daß die Gesellschaft aufgrund der Folgewirkungen des Umgangs mit Rauschmitteln berechtigt ist, diesen zu pönalisieren, würde sich die Problematik der Deliktsstruktur ergeben: Soweit Verhaltensweisen auf der Konsumentenseite pönalisiert werden, handelt es sich um Kumulationsdelikte, wenn Verhaltensweisen auf der Anbieterseite erfaßt werden, handelt es sich um kombinierte Kumulations-Vorbereitungsdelikte. 23 Das Paradoxe an dem Versuch, den Umgang mit bestimmten Rauschmitteln strafrechtlich "bekämpfen" zu wollen, zeigt sich daran, daß die Legitimation der Pönalisierung - wenn man auf die unerwünschten Folgewirkungen des Konsums abhebt - gerade auf der Anbieterseite einen nochmals erhöhten Aufwand erforderlich machen würde und letztlich daran scheitern müßte, daß die in Frage stehenden Verhaltensweisen erst über die Entscheidung des - eigenverantwortlichen 24 - Konsumenten eine relevante Gefahr begründen können.

4. Auch die Bemühungen um einen strafrechtlichen Schutz vor "mißbräuchlichem" Umgang mit den Möglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin sind bereits auf der Stufe der Rechtsgutsbestimmung erheblichen Bedenken ausgesetzt: Soweit die entsprechenden Straftatbestände des ESchG und des FMedG dem Schutz der Würde des Menschen dienen sollen, kann damit nicht der Schutz der individuellen Rechtssphäre des - beispielsweise geklonten - Individuums gemeint sein; geschützt wird vielmehr eine bestimmte Wertvorstellung, die festlegt, was einen Vgl. oben S. 192 ff. Daß der Gesichtspunkt, nicht-eigenverantwortliche Personen vor Selbstgefährdungen zu schützen, eine - gegenüber dem derzeitigen Rechtszustand allerdings erheblich eingeschränkte - Pönalisierung zu rechtfertigen vermag, wird nicht in Frage gestellt; vgl. hierzu auch bereits oben S. 199, Fußn. 450. 19 Vgl. oben S. 276. 20 Vgl. oben S. 196ff. 21 Vgl. oben S. 199 ff. 22 Hierzu i. e. oben S. 262 ff., insbesondere S. 275 f. 23 Vgl. bereits oben S. 202 f. 24 Soweit man auf die Möglichkeit des Konsums durch nicht-eigenverantwortliche Konsumenten abheben will, ist auf die Ausftihrungen in Fußn. 18 zu verweisen. 17

18

Schlußbetrachtung

342

Menschen ausmacht bzw. ausmachen soll.25 Aus der bisherigen Diskussion dieser Problematik wird nicht deutlich, daß es sich hierbei um mehr handelt als um den Versuch, ein partikulares Weltbild zu schützen, was dann konsequenterweise dazu führen müßte, die Strafschutzwürdigkeit jedenfalls für eine weltanschaulich neutrale Gesellschaft abzulehnen. Im übrigen wäre selbst dann, wenn man davon ausgehen wollte, daß es sich bei dem geschützten ,.Menschenbild" um einen Bestandteil des normativen Grundkonsenses einer Gesellschaft handelt, allenfalls der erste Schritt zur Legitimation dieser Normen getan. Etwaige Mißbräuche der Fortpflanzungsmedizin können - jedenfalls für sich gesehen - weder den Grundkonsens der Gesellschaft noch das diesen Grundkonsens widerspiegelnde Menschenbild in Frage stellen. Tatsächlich geht es den Befürwortern strafrechtlicher Lösungen auch nicht um die konkrete Einzelhandlung, sondern um die Folgewirkungen der als mißbräuchlich definierten Anwendungen der Fortpflanzungsmedizin. Befürchtet wird ein schleichender Werteverlust, der im Ergebnis nachteilige Konsequenzen für das gesellschaftliche Miteinander oder für bestimmte Personengruppen, wie z. B. körperlich oder geistig Behinderte, haben kann. 26 Da ein derartiger Effekt ersichtlich nicht von einem Einzelfall der mißbräuchlichen Anwendung fortpflanzungsmedizinischer Techniken hervorgerufen werden kann und im übrigen zur Voraussetzung hat, daß ein nicht unerheblicher Teil der Mitglieder einer Gesellschaft in seinen Wertvorstellungen beeinflußt wird, handelt es sich bei den in Frage stehenden Strafrechtsnormen wiederum um kombinierte Kumulations-Vorbereitungsdelikte. Die Legitimität dieser Straftatbestände muß schon deshalb als zweifelhaft angesehen werden, weil die entsprechenden Erwägungen über den Status bloßer Behauptungen bzw. Befürchtungen eines ,.Dammbruchs" nicht hinausgehen. Den Anforderungen an realistischerweise zu erwartende Kumulationseffekte genügt dies nicht. 27 Hinzu kommt, daß es gerade in einer auf der Konzeption des Bürgers als autonome Person aufbauenden Gesellschaft widersprüchlich erscheint, diesen Bürger paternalistisch mit den Mitteln des Strafrechts vor einer etwaigen - nicht durch Tauschung und loder Drohung bewirkten - Veränderung seines Welt- oder Menschenbildes bewahren zu wollen. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß sich Grenzen eines noch legitimen Gefährdungsstrafrechts nicht abstrakt benennen lassen. Die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung entwickelte Systematik erhebt aber den Anspruch, ein Instrumentarium für eine differenziertere und damit zumindest tendenziell auch sachlich angemessenere Bewertung einzelner Normen des Gefährdungsstrafrechts zur Verfügung zu stellen: Ausgangspunkt der Bewertung konkreter Einzelnormen ist und bleibt die Bestimmung des durch die Norm geschützten Interesses (Rechtsguts). Die Rechtsgutstheorie selbst ist allerdings von vornherein darauf beschränkt, die vor dem Hintergrund der für eine konkrete Gesellschaft verbindlichen normati~ 26

27

Vgl. oben S. 207 ff. Vgl. oben S. 211 f. Vgl. hierzu oben S. 323 f.

Schlußbetrachtung

343

ven Verständigung illegitimen Schutzinteressen auszufiltern. Erweist sich ein Rechtsgut als grundsätzlich schützenswert, hängt die Legitimität der Norm entscheidend von der Deliktsstruktur ab, die sich wiederum aus dem Verhältnis der jeweils erfaßten Verhaltensweisen zu dem als Rechtsgut geschützten "Etwas" ergibt. Die durch die Deliktsstruktur festgelegte Art und Weise des Schutzes muß sich mit den berechtigten FreiheitsanspfÜchen des Individuums vereinbaren lassen. Letztlich ist die Legitimität konkreter Einzelnormen an den für den jeweiligen Deliktstypus spezifischen Kriterien zu messen, die in der vorliegenden Arbeit für die Deliktstypen des konkreten Gefahrlichkeitsdelikts, des Kumulationsdelikts und des Vorbereitungsdelikts dargelegt wurden. 28

28

Vgl. oben S. 311 ff.

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- Nivellierung der Zurechnungsstrukturen 180 ff. - präventive (Un-)wirksamkeit 44 - prozessuale Beschränkung des Anwendungsbereichs 185 ff. - restriktive Anwendung (in der Schweiz) 184 f. - Schutz der personalen Integrität 192 ff. - Schutz von Gemeinschaftsgütern 196 ff. - Selbstgefährdung 192 ff., 340 f. - Volksgesundheit 190 f. - (als) Wertbekenntnis 200 f. Bodenverunreinigung 115 Bürger (als autonome Person) 249, 276,303 Cannabis-Beschluß (des BVerfG) 187 f. Computerdelikte, Computerkriminalität 149,151 f., 340 crimen publicum, crimen privatum (Abgrenzung von) 61 ff. Dammbruchargumentation 212, 324, 342 Daseinsgewißheit (Erschütterung der -), siehe: Sorgelosigkeit Deliktsstruktur - als eigenständiger Legitimationstopos strafrechtlicher Normen 278 f. - und Präventionsorientierung 45 f. - Veränderung durch Reduzierung der Strafbarkeitsvoraussetzungen 118, 126 f. De1iktstypen (des Präventionsstrafrechts) 281, 306, 307 ff. Effektivitätsdilemma (des ..modernen" Strafrechts) 43 ff. Eigenverantwortlichkeitsprinzip 329, 336 Eignungsdelikte 297 ff., 30 I f. Embryonenschutzgesetz 39, 206, 341 Entkriminalisierung 52 f. Erfolgsdelikt 307

384

Sachwortverzeichnis

fahrlässiger Versuch 290, 299, 304 Feststellungsschwierigkeiten, siehe: Beweisschwierigkeiten Folgenorientierung (des Strafrechts), siehe: Prävention, Orientierung des Gesetzgebers Fortpflanzungsmedizin 203 ff. Fortpflanzungsmedizingesetz 207 Frankfurter Schule 30, 51 ff. Freiheitssphäre (bürgerliche) 52 - als Begrenzung und Korrektiv für staatliche Eingriffe 49,249,303 - status negativus 94,165,196,222,321 - status positivus 94 f., 139, 165, 196,222, 321 Gefährdungsdelikte, siehe auch: abstrakte Gefährdungsdelikte - abstrakt-konkrete 126, 297 - konkrete 118, 281 f., 284 - potentielle 118 Gefahrgesellschaft 40 Generalprävention 57 generelle Gefährlichkeit, siehe: Verhalten Gentechnikgesetz 39, 204 f. Gentechnologie 203 ff. Geschichtlichkeit des Strafrechts 68 ff., 88 f., 231,251 ff. Gesetz der großen Zahl, siehe: Phänomen der großen Zahl Gesinnungsstrafrecht 215 ff. (unerlaubt riskante) Gestaltung fremder Organisationskreise 303 ff., 313 f. Großregelung 291 Grundrecht auf Sicherheit 43 Güterabwägung, siehe: Interessenabwägung Haftung inuria tertii 142 f. Handeln unter Ungewißheit 57 ff. Handlungsobjekt 223 harm principle 254 f., 257 f., 260 ff. Humangenetik 203 ff. in dubio pro Iibertate 58, 97 Individualrechtsgüter, siehe: Rechtsgüter, individuelle Institutionen, siehe: Rechtsgüter Interessen

- -abwägung 99,108 f., 271, 312 ff. - kollektive 308, 319, 339 - personale 307, siehe auch: Rechtsgüter, individuelle - Sicherheits-, siehe: hann principle - Standardisierung von - 276 ff. - Unterscheidung personaler und überpersonaler 89 ff., 98 - Wohlfahrts- , siehe: hann principle Interventionsrecht 78 f. Kapazitätsausweitung, siehe: Ausweitung des Strafrechts Kapitalanlagebetrug 155, 157 f., 160 Fußn. 253,161,174 f., 226 f., 240 kategorischer Imperativ 56 Fußn. 21,233 ff. Kernstrafrecht - Beschränkung auf ein - 33 f., 52, 54 - Lehre vom Kembereich (BVerfG) 102 ff., 245 f. - Verbrechen als absolute Untaten 61 ff. Kollektivgut, siehe: Rechtsgüter, kollektive konkrete Gefährlichkeitsdelikte 306, 309, 311 ff., 339 Konkursdelikte 150 Konzeption des Guten 252, 265, 275 Kreditbetrug 155 f., 158 f., 160 Fußn. 253, 161, 175 f., 226 f., 240, 283 Kriminalstrafe 105 ff. Krise des (modernen) Strafrechts 45 - siehe auch: Vollzugsdefizite Kumulations - -beiträge 144 f., 176, 307 f. - -delikte 143, 145, 177,283,310,318 ff., 340 ff. - -effekte (realistische) 322 ff., 339 f., 342 - Erfassung von Bagatellen 325 ff. - siehe auch: Phänomen der großen Zahl Legitimation staatlichen Strafens 54 ff. Massenhandlungen 300 f. Mensch - Beginn des Menschseins 66 f. - Ende des Menschseins 67 f. - Menschenbild, siehe: Menschenwürde Menschenwürde 208 ff.

Sachwortverzeichnis Molekularbiologie 203 ff. Moralwidriges Verhalten 255 f., 258, 263 ff. Natur der Sache 232 f. naturalistischer Fehlschluß 176 Naturrecht, siehe: Sittengesetz non liquet, siehe: Handeln unter Ungewißheit Normgeltung - empirisch-faktische 43 ff., 57 ff. Normverstoß - sittlich indifferenter 87 ff. - sozialethischer Unwertgehalt 87 ff., 103 öffentlicher Frieden 269 ff. offense principle 257 f., 261 Ordnungs unrecht, siehe: Ordnungswidrigkeitenrecht Ordnungswidrigkeiten(recht) - Abgrenzung zum Kriminalstrafrecht 84 ff. - Entwicklung 81 ff. - Geldbuße 83 f., 106 ff. - qualitative (Abgrenzungs-)Theorie 84 ff. - quantitative (Abgrenzungs-)Theorie 100 f. - gemischt qualitativ-quantitative Theorie 102 - Unterschiede zum Kriminalstrafrecht 82 f. Paternalismus 257 f., siehe auch: Selbstgefährdung Person - als autonomes Individuum 235, 249, 275 ff. - standard person 276 f. personale Freiheit, siehe: Freiheitssphäre Polizeidelikte, siehe: Ordnungswidrigkeitenrecht, Entwicklung Prävention - Orientierung des Gesetzgebers 36 ff., 178 ff. - technische 72 f. Präventionsstrafrecht - 30,35,42 - Beherrschung des Zufalls 47 ff. - Problematik der Deliktsstruktur 45 f. Phänomen der großen Zahl 143 f., 318 prozessuale Äquivalente, siehe: Ausweitung des Strafrechts, prozessuale Korrektive 25 Wohlers

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Rahmen des Rechten 265,321 Rechtsgüterschutz - als Basis des Strafrechts 33, 214 - effektiver, optimaler 47 ff. - mittelbarer durch kontrafaktische Stabilisierung von Erwartungen 215 ff. - und abstrakte Geflihrdungsdelikte 286 ff. Rechtsgut, -güter - als materiales Substrat der Straftat 127 f., 214 - Beeinträchtigung von - 223 f., 281 - Beeinträchtigungsfahigkeit 225 ff. - Begriff 214,218 ff. - empirische Basis 168, 170, 230 ff. - Funktionszusammenhänge als - 165 - Hierachisierung individueller und überindi vidueller 94, 221 f. - Individualrechtsgüter 31, 52, 192 ff., 213, 221 - Institutionen als - 165 - normative Maßstäbe zur Bestimmung 168, 229 ff., 237 ff., 241 ff. - kollektive 213, 308 f., 318 - Menschenwürde als - 208 ff. - Moralvorstellungen als -, siehe: Rechtsgüter, Wertvorstellungen - ökologische 127 ff., 132 ff. - Substanzhaltigkeit von - 220, 223 ff. - überindividuelle 31, 36, 89 ff., 92, 93 ff., 158,164, 196 ff., 221, 224 - Universalrechtsgüter, siehe: Rechtsgüter, überindividuelle - -verletzung, siehe: Rechtsgüter, Beeinträchtigung - Volksgesundheit als - 190 ff. - Wertvorstellungen als - 134, 200 f., 210 f., 213,227,341 f. - Zwischenrechtsgut 300 f. Rechtsgutslehre - dualistische 221 - gesellschaftstheoretische Anbindung 229 ff., 237 ff. - materiale, siehe: systemkritische - methodische, siehe: systemimmanente - monistische 221 - personale 91 ff., 221 - systemimmanente 218 - systemkritische 218 f.

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Sachwortverzeichnis

- verfassungspositivistische 249 ff. Rechtsgutsobjekt 285, 309 - siehe auch: Handlungsobjekt Rechtsgutstheorie, siehe: Rechtsgutslehre RegreBverbot 330 Risikodelikt, siehe: konkretes Geflihrlichkeitsdelikt Risikogesellschaft 39 ff. Risikostrafrecht 39, 42 Risikotypen 118, 296, 306 Sanktionsnorm 292, 295 f., 318 Schadensprinzip, siehe: harrn principle Scheck- und KreditkartenmiBbrauch 76, 149,153,340 Schiefe-Bahn-Argumentation, siehe: Dammbruchargumentation Schmidt'sche Formel 89 ff. Schutzobjekt, siehe: Rechtsgut Schutztechnik, siehe: Angriffswege Sein-Sollens-Problematik 230 ff. Selbstgefährdung (eigenverantwortliche) 192 ff. Selbstverantwortung, siehe: Eigenverantwortlichkeitsprinzip Selbstzwecknorm 292, 295 f., 321 Sicherheit - als Grundrecht 43 - im Umgang mit Gütern 293 ff. Sicherheitsinteressen, siehe: harrn principle Sicherheitsstaat 42 f., 51 Sittengesetz (als PönalisierungsmaBstab) 264f. slippery-slope-Argumentation, siehe: Dammbruchargumentation Sorgelosigkeit (berechtigte) 293 f. Sozialadäquanz 331 Sozialschädlichkeit (als Basis einer Pönalisierung) 59 f., 96, 169,223 Standardisierung - bei der Verhaltenssteuerung 303 - siehe auch: Interessen, Standardisierung von Strafbedürftigkeit 167 f. Strafrecht - klassisches 31 ff. - Legitimation 54 ff. - modernes 30, 33,42, llO

strafrechtsfreie Sphäre - im pluralistischen Staat 253 ff., 262, 271 f. Straftheorie(n) 55 f. Strafwürdigkeit 166 ff. Strafzweck(e) 54 ff. Subsidiarität des Strafrechts 71 ff. - gegenüber anderen Formen repressiven Zwangs 78 ff. - gegenüber dem Verwaltungsrecht 74, 76 f. - gegenüber dem Zivilrecht 73 - wegen Selbstschutzmöglichkeiten des Opfers 75 ff. Subventionsbetrug 155, 157, 160 FuBn. 253, 162 f., 173f., 240 symbolisches Strafrecht 119 ff. - Alibigesetze 123 - gesetzgeberische Ersatzreaktionen 122 ff. - gesetzgeberische Wertbekenntnisse 120, 200f. - KompromiBgesetze 123 - Normen mit Appellcharakter 120 f., 124 systemtheoretisch fundierte Strafrechtsmodelle 237 Systemgerechtigkeit der Strafrechtsordnung 161 ff., 164 ff. Tatbestandsstruktur, siehe: Deliktsstruktur, Deliktstypen Trittbrettfahren 143 f., 292, 319 f., 321 U1tima-ratio-Prinzip 31,47 Umweltstrafrecht - Entwicklung III ff. - Erfassung von Bagatellen 141 ff., 325 ff. - Gewässerverunreinigung III f., ll4, ll6f. - Herabstufung zu Ordnungswidrigkeiten 79 ff., 93 - Intentionen des Gesetzgebers 37, ll3 f., 128 f. - Luftverunreinigung 113 ff. - präventive (Un-)wirksamkeit 43 f. - Problematik des - 339 - UmweItmedien als Rechtsgüter 128 ff. - verfassungsrechtliche Pönalisierungsgebote 244f. - siehe auch: VerwaItungsakzessorietät

Sachwortverzeichnis Ungehorsam (bloßer), siehe: Verwaltungsungehorsam Universalrechtsgüter, siehe: Rechtsgüter, überindividuelle Verfolgungsdefizite, siehe: Vollzugsdefizite Verfahrenseinstellung, siehe: Ausweitung des Strafrechts, prozessuale Korrektive Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 241 f. Verhalten - generell gefährliches 281, 297, 305 - immanentes Risikopotential 303 ff., 309 ff. - typischerweise gefährliches 281, 297 Verhaltensnorm 292, 318 Verhaltenssteuerung durch Strafrecht 30, 285 f. Verlagerung von Strafnormen in das Kernstrafrecht 113 ff. Verifizierungsverpflichtung (des Gesetzgebers) 60 Verletzungsdelikte 282 Vertrauensgrundsatz 332 Verunsicherung (gesellschaftliche) 40 f. Verwaltungsakzessorietät 135 ff., 140 f. Verwaltungsschaden I Verwaltungsstrafrecht/Verwaltungsunrecht 84 ff. Verwaltungsungehorsam, bloßer 130, 141, 145 f., 302, 316ff., 339 Vollzugsdefizite 43 ff.

25'

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Vorbereitungsdelikte 307, 310, 328 ff., 341 f. Vorfeldkriminalisierung 92 Vorhersehbarkeit (des Fehlverhaltens anderer) 332 f. Vorverlegung des Strafrechtsschutzes - durch Gefährdungsdelikte 283 f., 303, 338 - Straftatbestände im Vorfeld des Betruges 154 ff., 340 Wirtschaftskriminalität - Begriff 146 ff. - Ansteckungs-, Sog- und Spiralwirkungen 158 f., 173, 177,323 f. - Sozialschädlichkeit 171 ff. Wirtschaftsstrafrecht - Entwicklung 148 ff. - präventive (Un-)wirksamkeit 43 ff. - zum Schutz individueller Interessen 159 ff. - zum Schutz überindividueller Interessen 165 f. - verfassungsrechtliche Pönalisierungsgebote 247 f. Wohlfahrtsinteressen, siehe: harm principle Zurechnungsprobleme bei anonymen oder komplexen Handlungsstrukturen 45 f. Zwischenrechtsgut, siehe: Rechtsgüter